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POTT ITTITIIIICLLLICCEE DZ
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De
Alkoholirage
ei
HERAUSGEGEBEN
im Auftrage der
Deutschen Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus
und der
Internationalen Vereinigung gegen den Alkoholismus
unter Mitwirkung
namhafter Fachleute aller Länder
von
Präsident a.D. Dr. Reinhard Strecker
und Professor Dr. med. h. c. I. Gonser
In der Schriftleitung
Dr. R. Kraut und Dr. J. Flaig
BERLIN-DAHLEM
Verlag „Auf der Wacht“
1925
Internationale
wissenschaftlich - praktische Zeitschrift
Inhalt.
I. Uebersicht.
1. Abhandlungen.
Abel, Fick u. Das ee im Rome. medi-
Zinischer Flochschulleh rer . . ;
Aoki, Der Nationale Antialkoholbund Japans .
vV. Egloffstein , Der Entwurf zum All emeinen deutschen Straf-
gesetzbuch und die Bekämpfung des Trunks . Rare
—, Zeugenaussage und Trunk .
Flai g, ar behördliche Maßnahmen mit Bezug auf den Alkohol
IV—XXXVI) . 20, 138,
Gaupp, Der neue Entwurf eines "Allgemeinen "Deutschen Strafgesetz-
buches und die Alkoholvergehen . Eee
—, Die A erie Wirkungen des Alkohols .
Hei m, Alkohol und Sittlichkeit . u
Juliu sbur ger, Alkohol und Schlaflosigkeit . ;
—, Erwiderung auf die Schrift von Pütter und Hesse: „Bekäm fung des
a BRRDERUENS ohne Gemeindebestimmungsrecht und Trocken-
egung“
—, Zum Entwurf eines Allgemeinen "Deutschen Strafgesetzbuches . `
Kles se, Beziehungen zwischen Alkoholkonsum u. Bl ee
Martell, Zur Geschichte des Branntweins . .
MedicalResearch Council, Alkohol als Arzneimittel .
Merbitz, Alkoholbekämpfung in ‘der höheren Sr AR
Mezger, "Alkohol und Strafrecht . . . i
Muff, Alkohol und Wehrkraft .
Pla nk, Belastung der öffentlichen Finanzen durch die Trunksucht
Pfleiderer, Auch ein Ziel . ;
Polzer, Die "Alkoholfrage an den deutschen Universitäten . .
Reinhards, Gesetz zur Bekämpfung der Trunksucht in Lettland .
Salomon, Die soziale Wirkung des amerikanischen Alkoholverbots
Scharffenberg, Die Schwierigkeiten bei der SEEN eines
Alkoholverbots . . i
Schmölders, Der internationale Kampt gegen die Prohibition .
Seiffert, Erkrankungen des Gefäßsystems alkoholischer Natur . . .
Snell, Eine Denkschrift über die a KEG der “Schaiung, eines
deutschen Trinkerfürsor egesetzes . ;
Stadius, Fünf Jahre Alkoholverbot in Finnland. . 2 22... "65,
Strecker, Die Genfer Konferenz . . . . 2 2 2 En rn.
—, Pädagogik und Strafgesetz . .
Stubbe, Die Schleswig-Holsteinische Landeskirche und der Alkohol .
T uczek, Alkohol und Schule. . :
Weber, Volkswirtschaft und Gemeindebestimmungsrecht .
Weitz, "Alkohol und Gesundheit i
2. Chronik (Pastor Dr. Stubbe, Kiel) S. 35, 98, 160, 224,
3. Mitteilungen.
Aus der Trinkerfürsorge. . . 44, 108, 168, 233,
Ausden Landesversicherungsanstalten. ; 108,
Aus Vereinen. ... 2 s Sy 47, 112, 235,
Verschiedenes:
Der nationale Verband gegen die Schnapsgefahr in der Schweiz —
Jahresversammlung der alkoholgegnerischen Vereine Belgiens in
Antwerpen — Von der holländischen Wanderausstellung — Skan-
dinavische Alkoholstatistik — Die jährliche Ausgabe Japans für
geistige Getränke — Vom jungen Schopenhauer . . .
Alkoholireie Jugendfürsorge — Die Hamburgische Elternkammer —
Die evangelische Frau und die Alkoholfrage — Nachdenkliches
aus. ‚einem gesundheitsbehördlichen Bericht — Edgar Allan Poe .
114
Der Alkoholverbrauch in verschiedenen Ländern — Sinken und
Steigen der Trunksucht in den letzten 12 Jahren im Spiegel der
Aufnahmen in die Krankenanstalten einer deutschen Großstadt —
Von der Durchführung des amerikanischen Alkoholverbots — Ver-
schärfung des isländischen Verbotsgesetzes — Bemerkenswerte
Schlußsätze des Kongresses der Alkoholgegner des britischen
Reiches — Englands Alkoholrechnung und andere englische
Alkoholzahlen vom Jahre 1924 — Vom norwegischen Brannt-
WEINVErDOL s s s oa ar a ee ee ee ae e a
Ottilie Hoffmanns 90jähriger Geburtstag — Weinbau und Weinerte
in den wichtigsten Weinländern 1923 und 1924 — Werbewoche
für ein deutsches Gemeindebestimmungsrechtt — Der zweite
deutsche Alkoholgegnertag — Die schottischen Kirchen und der
Alkohol — Präsident Schober in Wien und das amerikanische
Alkoholverbot — Das allmächtige Alkoholkapital . . . . ..
Tatsachenmitteilungen vom amerikanischen Alkoholverbot — Aus
dem englischen Inselreiche — Die Berliner Gastwirtsmesse —
Ludendorfis Stellung zur Alkoholfrage — Was sollen wir trinken?
Zur Frage: Der Nährwert des Alkohols — Zwei deutsche Uni-
versitätsprofessoren zur Alkoholfrage — Eine Entschließung der
Leipziger Studentenschaft — Der Rektor der Tübinger Univer-
sität an die Altherrenschaften — Aus: Ethik — Glauben — Wissen
4. Besprechungen.
Bogusat, Das Alkoholverbot in den Vereinigten Staaten von Amerika
und seine Folgen — Hercod, Die Prohibition in den Vereinigten
Staaten — Bennet, Der Alkoholschmuggel in den Vereinigten
Staaten von Amerika — Bekenntnisse eines Rumschmugglers —
Taft, Ist das Alkoholverbot ein Schlag gegen die persönliche
Freiheit? — Das Verbrecherviertel von New-York einst und jetzt —
Koller, Das Krankenmaterial der New-Yorker Irrenanstalten mit
besonderer Berücksichtigung der Alkoholikeraufnahmen — Anti-
Saloon League Yearbook 1924 — Paull, Wir und das kommende
Geschlecht — Prof. Dr. Wilbrandt, Alkoholismus als Problem
der Volkswirtschaft (Flaig). . - - 2 rn 00.
Schmidt, Warum haben wir den Krieg verloren? (Brunzlow) —
Riedlin, Das Kochsalz als Gewürz und Krankheitsursache und
seine Beziehungen zur Kultur (Flaig) . ;
5. Schrifttum (Dr. J. Flaig)
ll. Sachverzeichnis.
S. 119, 247,
171
237
301
370.
59
245
307
Abstinente Frauenliga S. 368.
Afrika S. 38, 102, 163, 228, 365.
AktionsausschuB zur Bekämpfung
des Alkoholismus S. 35.
Alkoholkapital S. 244.
Amerika S. 42 f, 55, 59, 76, 107,
166, 174, 224, 230, 243, 301, 368.
Arbeitsgemeinschaft der Gärungs-
gewerbe S. 37, 99.
Armenpflege S. 263.
Arzneimittel S. 147.
Australien S. 38, 98, 102, 163, 228,
365.
Automobilunfälle S. 42,
su join S. 52, 102, 163, 228.
Berliner Gastwirtsmesse S. 305.
Bierbauerei S. 36, 362.
Biersteuer S. 36, 160 f, 204.
Blaukreuzverbände S. 47 f, 362 f.
Bolivien S. 102.
Bornhak S. 370.
Branntwein S. 101, 161, 220.
Branntweinmonopol S. 225, 360.
Brasilien S. 365.
Bratt S. 79.
Braugewerbe S. 100.
Bund deutscher Frauenvereine S. 99,
Canada S. 39, 163, 224, 228.
China S. 163.
Coolidge S. 43.
Dänemark S. 39, 56, 102, 365.
Deutscher Bund evang.-kirchl. Blau-
kreuzverbände S. 48.
Deutscher Frauenbund für alkohol-
freie Kultur S. 235. |
Deutscher Gastwirtetag S. 363.
Deutscher Guttemplerorden S. 42,
236, 362.
Deutscher Hauptverein vom Blauen
Kreuz S. 47
Deutscher Verein gegen den Alko-
holismus S. 226, 300, 336.
Elternkammer S. 115.
England S. 35.
Estland S. 39, 365.
Evangelischer Frauentag S. 115.
PS DeNeBemeinschaft von Frauen
. 37. f
Finnland S. 66, 102, 126, 163, 366.
Frankreich S. 39, 102, 164, 366.
Gastwirtschaften S. 30 f, 361.
Geheimbrennerei S. 162, 360.
Gemeindebestimmungsrecht S. 153,
239, 346 ff.
Gemeinnützige Gasthausgesellschaft
für Rheinland und Westfalen S. 48.
Gemeinnütziger Verein für Milch-
ausschank S. 227.
Genfer Konferenz S. 249.
Getränkesteuer S. 209.
Getreidebrennerei S. 20, 161.
Griechenland S. 103.
Großbritannien S. 39, 103,
179 ff, 228. 303, 366.
Heimstättengesetz S. 138.
Hoffmann, Ottilie, S. 227, 237.
Holland S. 53.
Hopfenernte S. 100.
Intern. Konferenz g. d. A. S. 359.
Intern. Konferenz zur Bekämpfung
des Alkoholschmuggels S. 98.
a Liga der Prohibitionsgegner
224
164,
Intern. Verband von Eisenbahner-
Alkoholgegnervereinen S. 98.
Intern. Bureau z. Bekämpfung des
Alkoholismus in Lausanne S. 113.
Island S. 179.
Italien S. 40, 103, 229,
Japan S. 32, 57, 103, 228.
Jugend S. 21, 91, 101, 114 f, 138 f,
140, 1%, 210 f,
Kirchliches S. 101, 146 f, 162, 227,
363
Konferenz der Kirche Christi S. 359.
a der Antiprohibitionisten
Laquer S. 163.
Lebensdauer S. 34.
Lettland S. 23, 104, 164.
Litauen S. 165.
Londoner Kongreß der nichtinter-
essierten Prohibitionsgegner S. 35.
Ludendorff S. 306.
Methylalkohol S. 22, 38.
Mineralwässer S. 36.
National Temperance League S. 297.
Nationaler Verband gegen die
Schnapsgefahr S. 50.
Neufundland S. 40.
e—a Um mn m a a n a e o ae a mee m an
Niederlande S. 40, 104, 165, 229,
366.
Norwegen S. 35, 40, 54, 104, 183,
229, 367.
Oesterreich S. 41, 104, 165, 229, 243,
267.
Palästina S. 104.
Poe, Edgar Allan S. 118.
Polen S. 41, 105, 367.
Polizeistunde S. 99, 205.
Pcrtugal S. 105.
Quensel S. 163.
Rotes Kreuz S. 102.
Rumänien S. 105, 165, 367.
Rußland S. 105.
Sächsische Landeshauptstelle g. d.
A. S. 112.
Salzgenuß S. 246. |
Schankstättengesetz. S. 99, 161.
Schlaflosigkeit S. 17.
Schmuggel S. 162.
Schnapsverbot S. 21.
Schopenhauer S. 58.
Schottland S. 242.
Schweden S. 41, 57, 105, 165,
367
Schweiz S. 41, 49, 105, 109,
229, 367
Spanien S. 42.
Spritschiebungen S. 161.
Statistisches S. 36, 54, 57, 100, 161,
171 f, 226, 238, 361 f.
Strafrecht 80 ff, 121 ff, 325.
Siudentenschaft S. 373 ff.
Südslavien S. 106, 368.
Trinkerfürsorge S. 37, 44 ff,
168, 233, 271, 294 f.
Trunkenheitsvergehen S. 56.
Trunksuchtsmittel S. 22.
Tschechoslowakei S. 42, 106,
230, 368.
Türkei S. 106, 166.
Ungarn S. 230, 368.
Universitäten S. 309 ff.
Venezuela S. 106.
Verband für Deutsche Jugendher-
bergen S. 37.
Voigt-Diederichs, Frau Helene S. 227.
Wanderausstellung S. 53, 102.
Weinbau S. 35, 5
Weinsteuer S. 204.
Welttagung der abstinenten Frauen
359.
Weltverbotsvereinigun S. 160.
"1a.
Wohlfahrtsgesetz
ee Ani Landesverband
der katholischen alkoholgegne-
rischen Vereine S. 112.
Zeppelinluftschiff S. 35.
Zollkrieg S. 78.
a
Mi
An unsere Leser!
us technischen Gründen war es leider nicht
möglich, den Jahrgang 1924 mit einem 6. Hefte
abzuschließen, wie das ursprünglich beab-
sichtigt und auch angekündigt war. Dazu
kam, daß die Herstellungs- und Vertriebskosten
unserer Zeitschrift im vergangenen Jahre noch
immer die Bezugseinnahmen beträchtlich über-
stiegen. Wir lassen als Ersatz für die unfreiwillige
Kürzung des vorigen Jahrganges das erste Heft
des neuen Jahres in verstärktem Umfange hinaus-
gehen und hoffen, nun, nachdem die mannigfachen
von der Kriegs- und Inflationszeit herrührenden
Hemmungen überwunden zu sein scheinen, in gleich-
mäßigen Abständen 6 Hefte jährlich zu bringen.
Den Lesern, die uns die schweren Jahre hindurch
treu geblieben sind, danken wir herzlich; wir bitten
sie, auch fernerhin unserer Zeitschrift ein freund-
liches Interesse entgegenzubringen und für deren
Verbreitung bei gegebener Gelegenheit zu werben.
Die Herausgeber
und der Verlag der „Alkoholfrage“.
s}
Erkrankungen des Gefäfsystems
alkoholischer Natfur').
Von San.-Rat Dr. Seiffert, sen.
‚. Zahlreicher Art sind die Beobachtungen über das Gefäßsystem.
Sie gaben für das Bild des chronischen Alkoholismus manchen Pinselstrich
und brachten uns manchen erklärenden Zusammenhang. Ein Bierherz
Bollingers, ein Weinherz Mürzingers’?) sind bekannt, ebenso „arteriosklero-
tische Entartungen des Gefäßsystems.‘“ Wie aber steht es mit den An-
langsveränderungen?
Es drängt sich da zunächst eine gewisse Verschieblichkeitder
Herzgrenzen in den Vordergrund der Beobachtung. Wie ich im 1. Teil?)
. ) Beobachtungen aus der Heilanstalt für Alkoholkranke St. Johannes-Haus, Tarno-
vıtz OSchi., von Dr. Seiffert sen. und jun., Beuthen OSchl.
Baer und Laquer: Die Trunksucht und ihre Abwehr (Urban und Schwarzenberg 1907).
Seiffert, Beobachtungen aus der Hellanstalt für Alkoholkranke St. Johannes- Haus,
Taraowitz, 1. in „Die Alkoholfrage“, Berlin-Dahlem, Verlag „Auf der Wacht“ 1922, Heft 3.
Die Alkoholfrage, 1925 1
2 Abhandlungen.
ausgeführt habe, ist die Herzdämpfung sehr oft eingeengt, nicht als Ausdruck
einer wirklichen‘ Verkleinerung des Herzens als vielmehr der Einengung
des Klopfschalles durch die Ueberlagerung überdehnter Lungenränder. Wo
nach einiger Dauer der Entziehungskur die Lungen wieder ihre frühere
Elastizität wiedergewinnen — und das ist bei jüngeren Trinkern meist
noch der Fall —, da verbreitert sich auch allmählich wieder die Herz-
dämpfung. — Dabei ist aber nicht zu übersehen, daß in der größten An-
zahl von Fällen das Herz wirklich vergrößert ist. Nachstehende Tabelle
erläutert das nähere.
Die Herzperkussion ergab bei den 835—840 Fällen, wo sie ausgeführt
war, anfänglich
vV as DE EIER UL AEE VOR INDIEN: zusammen, d.h.auf 100
erbre ng ‚d.h.
des Herzens 21-30 31-40 41-50 51-60 über 60
nach rechts. . 30 107 65 13 2 217 27,29
nach links .. 2 26 38 6 — ' 72 9,06
beiderseits .. 17 75 75 18 1 186 23,39
zusammen | 49 208 1733 37 3 | 45 59,75
Normale Verhältnisse waren nur 320 mal vorhanden, also bei 40,25 % ;
darunter war 128 mal die Dämpfung anfangs durch Lungenschall einge-
engt. — Die Herzverbreiterung betraf zumeist die rechte Kammer, in
zweiter Linie beide; nur bei 9 % der Fälle war die linke allein betroffen. —
Diese Uebersichtszahlen bestätigen unsere im Laufe der Jahre längst ge-
machten Erfahrungen. Sie erweisen aber auch, daß in den jüngeren Jah-
ren die Verbreiterung nach rechts überwiegt, was, wie wir gesehen
haben °), mit der frühzeitigen Schädigung der Lungen zusammenhängt. Erst
mit den 40er Jahren überwiegt die Breitenzunahme nach beiden. Seiten,
edi die nur nach links auch dann noch um die Hälfte geringer
ei
Was die Bedeutung dieser Feststellungen betrifft, so handelt es sich
anfänglich fast durchweg um'eine Erweiterung der Höhle auf Kosten
der Wandung, um eine Dilatation des Herzens. Es ist das ja nur zu
erklärlich, wenn man an die bei den Alkoholikern stets zunehmenden
Widerstände im Gefäßsystem denkt und an die dadurch und durch den
hohen Blutdruck bedingte ungeheure Inanspruchnahme der Herzkraft.
Wie bei den Lungen leidet auch beim Gefäßsystem die Elastizität
frühzeitig. Damit nimmt natürlich die Arterienspannung ab und hat Er-
weiterung der Gefäße mit Blutüberfüllung und Blutstauung zur Folge.
Anderseits wird dadurch der Blutdruck noch erhöht, ganz abgesehen von
seiner zentralen Beeinflussung, die noch nicht allgemein voll anerkannt ist.
Alles Einflüsse, die die Herzarbeit steigern müssen. Solch überreichlicher
Belastung kann aber der Herzmuskel durch Hypertrophie (Zunahme der
Wandstärke) nur dann Rechnung tragen, wenn die Ansprüche nicht zu
plötzlich, zu gewaltig, zu allseitig an ihn herantreten. Je frühzeitiger, je
ausgiebiger der übermäßige Alkoholgenuß eingesetzt hat, je weniger wider-
standsfähig das Individuum ist, je schwerer die Berufsarbeit, je geringer
die Ruhepausen für Erholung von Arbeit und alkoholischer Ueberanstren-
gung, desto weniger kann sich der Herzmuskel der Mehrarbeit anpassen,
desto häufiger kommt es zu einer Ueberdehnung und einfachen Erweite-
rung des Herzens. Leider ist das nur zu oft der Fall. Wir verstehen naci
den Besprechungen im I. Teil?) über die schnelle und ausgedehnte Ver-
minderung der Lungenelastizität und die ihr folgenden emphysematischen
Zustände, nun gut, daß zuerst und vor allem das rechte Herz die größten
Widerstände zu überwinden hat und sich vergrößern muß. Erst später,
wenn Erkrankungen des Verdauungsapparates, vor allem der Leber, des
Seitfert, Erkrankungen des Gefäßsystems alkoholischer Natur. 3
Ausscheidungsapparates der Nieren, ja des Betriebsapparates von Herz
und Gefäßen selber, eintreten, bezüglich Fortschritte machen, beteiligt sich
an der Verbreiterung auch das linke Herz. Das langsamere Eintreten und
Fortschreiten letztgenannter Veränderungen, das viele, individuell ver-
schiedene Einschläge zeigt, bringt es mit sich, daß das linke Herz nicht so
häufig mit einer bloßen Erweiterung der Herzhöhle antwortet, sondern
gleichzeitig mit einer Verdickung seiner Wandung. Diese Hypertrophie
infolge vermehrter Widerstände in den erkrankten Organen ist uns beim
chronischen Alkoholismus schon lange bekannt ?). Das Herz bleibt in diesem
Zustande der Anpassung lange Zeit gut funktionsfähig. Wenn es aber bei
schwerem Alkoholabusus, großer körperlicher Arbeitsbelastung, wenig
widerstandsfähigen Personen schon anfangs, bei allmählich verbrauchten
Reservekräften später, zu einer Erweiterung kommt, ist die Sache stets
xefährlich und führt oft genug plötzlichen Zusammenbruch herbei.
Ist ein solcher Dilatationszustand eingetreten, so
können volle Enthaltsamkeit und Ruhe doch noch, wie
man in der Anstalt häufig genug beobachten kann,
Besserung bringen. Die Dilatation (Erweiterung) geht
zurück, um folgender Hypertrophie (Muskelzunahme)
Platz zu machen.
Zuweilen kann man ein Zurückgehen um 1 bis 2 Querfingerbreiten jeder-
seits beobachten. Am regelmäßigsten ist diese Besserung zur Hypeıtrophie,
wie leicht erklärlich, rechterseits zu beobachten. Geringe Verbreiterungen
verschwinden hier fast durchweg, oft nach kurzer Zeit, schon weit fort-
xeschrittene werden noch erheblich geringer. Die Fälle, in denen die Hyper-
trophien als notwendige Ausgleichsbedingungen dauernd bestehen bleiben,
sind für das rechte Herz fortgeschrittenes Emphysem, für das linke Arterio-
sklerose (Aderstarre), besonders häufig der Aorta (große Körperschlagader).
end chronische Nierenentzündung.
Das maßgebendste für die Ausbildung einer Dilatation bezüglich Hyper-
trophie ist wohl der Blutdruck*), der im allgemeinen bei chronischen
Alkoholikern erhöht ist. Bei akuten Vergiftungszuständen ist er allerdings
auch bei ihnen erniedrigt. Diese lähmende Wirkung ist ja eine ganz all-
semein bekannte Tatsache. Ueber Ausführung der Blutdruckmessungen
und die Bedeutung ihrer Ergebnisse habe ich mich in einer anderen Arbeit °)
ausgesprochen. Ich brauche hier nur zu erwähnen, daß bei unseren Blut-
druckbestimmungen in der Anstalt der von Recklinghausen modifizierte
Riva-Rocci-Apparat mit Hg.manometer unter Anwendung einer 12 cm
breiten, mit Segeltuch auf einer Seite bespannten Gummimanschette mit
Schnalle zur Anwendung gekommen ist. Die Messungen geschahen fast
ausschließlich am rechten Oberarm und erfolgten zumeist morgens zwischen
1% und 9 Uhr, waren also von der Tagesarbeit noch nicht beeinflußt. Bis
zum November 1911 wurden die Minimal- und Maximaldruckwerte pal-
patorisch (durch Pulsbetastung), später auskultatorisch: (Horchen des Puls-
tones) bestimmt (Koratkow®), Fellner *). Es zeigten durchschnitt-
liche Blutdruckmessungen in mm. Hg. gemessen: (s. umst. Tab.)
Was ist zunächst aus den Kurven selber zu ersehen? Sie verlaufen,
obgleich an den verschiedensten Kranken aufgenommen, im großen und
ganzen einander parallel. Es scheinen Fiermit beide Messungsmethoden
ziemlich zuverlässig. Dabei springt aber ein großer Unterschied zwischen den
palpatorisch und den auskultatorisch ermittelten Werten sofort in die Augen.
Letztere sind sichtlich niedriger, was ja schon bekannten Feststellungen
entspricht. Bei Horchteststellung bleiben die systolischen, maximalen Zahlen
um etwa 30, die diastolischen, minimalen um über 50 mm. Hz. zurück.
Auch liegen die palpatorisch gefundenen (systolischen und diastolischen) .
empedi und Schittenhelm, Lehrbuch der klinischen Untersuchungsmethoden 1908.
Seiflert, Biutdruckerhöhung, ein Hinweis auf alkoholische Erkrankung. Selbstverlag
OSchi. 1918. (Eine re eg
% Sahii. Lehrbuch der klinischen Untersuchungsmethoden 1913.
4 Abhandlungen.
a) palpatorisch
61-70 | 71-80 | 81-90 [91-100 [101-1
pa
.—
m
._—
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-.
N
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&
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maximal
minimal
= | maximal
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J
FEO ENR, PEE = SE EE E TE PEA ERA ys. "i EDENO
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zu. |7| | | fel fa) fa) (rla ER 5|s813]35
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b) auskultatorisch
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ô 5 > N
En N n 5 , a j EN U P)
=, F. aT 4 mR TRAC Ar EC F arnor aes .r 5 >.
- $
Seiffert, Erkrankungen des Gefäßsystems alkoholischer Natur. 5
a) palpatorisch
191-2001201-210[211-220]221-230[231-240|241-250 im Durchschnitt mm. Hg.
[1 m I | _—— - Á O N o
150,00 (1 Fall) 176,00 (1 Fall)
Jg JEPE RHEREE EE DE |
EJE E SE E Z E = E = E E E minimal maximal
E ElElEEIE EIE EIE EJE|E
N 4 $ | | | | 121,1 (9 Fälle) | 150,7 (10 Fälle)
6 afi 7 | ataks | I | I | 140,07 (27 Fälle) | 167,44 (34 Fälle)
| 13 59 | 4 rail | ul laf l2 135,50 (61 Fälle) | 164,56 (75 Fälle)
| 9 au Ist Ielzlıl le] | 129,20 (83 Fälle) | 159,09 (99 Fälle)
11 PE EAlil Isl le] l2 142,12 (69 Fälle) | 167,37 (79 Fälle)
6 SE 3 TA re 1 eh: 131,69 (43 Fälle) | 166,82 (51 Fälle)
|3 j3 ız à ala S 1 aro i u“ 135,87 (15 Fälle) | 170,32 (19 Fälle)
-= Sa EA NA 91,67 (3 Fälle) | 137,50 (6 Fälle)
1
215,00 (1 Fall)
RS
E
5 |18 1 12] 2|9| 2|6| |7] jall 134,4 (311 Fälle) | 164,8 (375 Fälle)
b) auskultatorisch
| | 62,83 (6 Fälle) | 148,17 (6 Fälle)
ne E
u mn | mann mn E m E EA FE ers — — — — ——
80,00 (93 Fälle) | 139,11 (93 Fälle)
84,06 (108 Fälle) | 146,29 (108 Fälle)
TE
ri > J
Ju
al
83,63 (96,Fälle) | 143,44 (96 Fälle)
u en ne m a mn | mn m | m Do |
84,41 (49 Fälle) | 152,49 (49 Fälle)
82,0 (19 Fälle) | 146,37 (19 Fälle)
Tas Leon
|
|
|
|
|
|
|
|
89,33 (3 Fälle) | 166,66 (3 Fälle)
118,0 (1 Fall) | 195,0 (1 Fall)
| || 850 (1Faņ | 153,0 (1 Fan)
|
|
|| 82,99 (422 Fäne) | 145,94 (422 Fate)
Abhandlungen,
T!
TGrdphischeDärsteling |
ao deriZählehthtiellel: | TECI
DEESENRURERERIME
ERRANEN
EAE
BESBANERENSE
BE
BANESE
ANEREEE
KERTENA
MESaSTaN
~- ig ©
Je]
Le
a
(systolischer) Höchstdruck,
palpatorisch festgestellt.
aurchschnittl.(diastolischer)
Niedrigstdruck, pal paforisch
festgestellt.
Niedrigstdruck
auskultatorisch festgestel
Me ae
Seiffert, Erkrankungen des Gefäßsystems alkoholischer Natur. 7
Werte näher aneinander, die auskultatorisch gefundenen aber weiter.
Letztere Methode ist empfindlicher und gestattet daher die Feststellung
höherer und niedrigerer Grenzen.
Was nun die Beurteilung der Höhe der gewonnenen Blutdruckzahlen
anlangt, so wollen wir, um ja keine Fehlschlüsse zu machen, lieber die von
einzelnen Auforen angegebenen höheren Blutdruckwerte?) hier als noch
normal zugrunde legen, d. h. palpatorisch etwa 150 mm Hg. Druck als
höchsten systolischen und etwa 120 mm Hg. als höchsten diastolischen noch
normalen Blutdruck ansprechen, auskultatorisch entsprechend 120 bzw.
23 mm. Im allgemeinen rechnen die Aerzte am Krankenbett etwas nied-
rigere Höchstzahlen. Auf jeden Fall sind Werte von über 150 bzw. 120 mm
Hg. Ueberwerte. Trotz dieses Zugeständnisses geht nun aus unseren Kurven
hervor, daß sowohl bei palpatorischer als bei auskultatorischer Unter-
suchung der systolische sowie der diastolische Blutdruck der Trinker er-
höht waren. Die Durchschnittswerte liegen bezüglich des Höchstdruckes
palpatorisch 15, auskultatorisch sogar 25 mm Hg. über den noch als normal
zugestandenen Grenzen von 150 bzw. 120 mm, bezügl. des Niedrigstdruckes
palpatorisch um 14, auskultatorisch um 3 mm Hg. über den entsprechenden
Werten von 120 bzw. 80 mm. In zahlreichen Fällen war natürlich die Er-
höhung eine weit höhere, bis 190 mm. Bilutdrucksteigerungen, wie sie bei
gesunden physiologisch vielleicht jenseits der 50er Jahre zum Ausdruck
kommen, sind bei Trinkern gewöhnlich.
Auffallend ist an unseren palpatorisch ermittelten Kurven der Anstieg
der durchschnittlichen Werte des systolischen und diastolischen Blutdruckes
bis Mitte der 20er Jahre, also gerade bei den jungen Trinkern, von da ab
ein leichtes Sinken bis Mitte der 30er und dann erst ein im ganzen lang-
samer Anstieg bis etwa Anfang der 50er, um plötzlich stark mit 30 bzw.
4 mm abzufallen und sich Ende der 50er und in den 60er Jahren wieder
steil zu erheben. — Dagegen zeigen die auskultatorisch festgestellten Werte
im ganzen einen leichten, kleinen Schwankungen unverworfenen, Anstieg bis
Anfang der 50er Jahre, um sich dann bis Anfang der 60er Jahre stark zu
erheben und schließlich plötzlich wieder abzufallen.
Worauf diese Differenzen beruhen, ist nicht ohne weiteres zu sagen.
Vielleicht erklären sie folgende Erwägungen: Der durch den Manometer
kenntlich gemachte Einschnürungsdruck hat nicht nur den eigentlichen
Blutdruck, sondern auch die Gefäßelastizität zu überwinden, zeigt also die
Summe beider Werte an. Zu einem erhöhten Blutdruck kommt in den
Ser Jahren noch die Ueberwindung großer Elastizität, die für den nach
dem Puls tastenden Finger bis zum Schwinden der Pulswelle größere
Manometerkraft notwendig macht, als sie die Wahrnehmung des eintreten-
den bzw. verschwindenden Pulsgeräusches für das Gehör erfordert. Gegen
Ende der 20er beginnt dann wohl beim Trinker schon ein Nachlassen der
Elastizität der Gefäßwandungen, so daß der Manometerdruck geringer zu
sein braucht, um von Mitte der 30er ab das in der Hauptsache leichte, bei
dem einzelnen Individuum wechselnde, also im Durchschnitt nicht gleich-
mäßige Ansteigen des Blutdruckes anzuzeigen. Schwindet Anfang der 50er
Jahre die Gefäßelastizität ganz, so wirkt das Hindernis der Einschnürung
stärker, das ist: die Pulsweile schwindet leichter und eher, d. h. der vom
Manometer gekündete Blutdruck sinkt schnell, um Mitte der 50er Jahre,
ganz physiologisch, mit zunehmender Gefäßrigidität (Starre) wieder schnell
zu Steigen, während bei der Auskultation, die selber nicht wie die Pal-
pation von der Elastizität beeinflußt ist, die tatsächliche Blutdrucksteigerung
schon Anfang der 50er zum Ausdruck kommt. Ob bei dem auskultatorisch
festgestellten Absinken des Blutdruckes in den 60er Jahren bei nur 2 be-
obachteten Fällen es sich nur um eine Zufälligkeit handelt, ob bei der vor-
handenen Gefäßwandstarre die Tonbildung erleichtert wird, also schon bei
niederem Druck zu Gehör kommt, ob ein beginnender Marasmus den Blut-
druck so sinken ließ, müssen wir dahingestellt sein lassen.
8 Abhandlungen.
Um dieprozentuale Beteiligungder Trinkerindenver-
schiedenen Lebensaltern an der Blutdrucksteigerung
oder -verminderung etwas näher zu würdigen, habe ich die Blut-
üruckwerte in drei Klassen gruppiert, in niedere bis 120 bzw. 80 mm He.
Blutdruck einschließlich, in mittlere, etwa dem normalen Druck ent-
sprechend, von 120—150 bzw. 80—120 mm und sicher angrmale Höchst-
werte über 150 bzw. 120 mm und die betr. Werte in ihrem prozentualen
Verhältnis zu den einzelnen Altersklassen der Trinker in Beziehung ge-
bracht. Nachfolgende graphische Darstellung soll das ersichtlich machen:
(s. neben.- u. umst. Kurven-Tafeln.)
Dabei ergibt sich 1. daß Niedrigstwerte dessystolgischen
Druckes palpatorisch bis zu den 50er Jahren nur in 10% der Fälle vor-
kommen, in den 50er Jahren bis 33%. Auskultatorische Feststellung ergab
nur Mitte der 40er Jahre zu 2% Niedrigstwerte, sonst überhaupt keine, d. h.
niedrige Werte des systolischen Druckes waren bei unseren Trinkern pal-
patorisch ganz gering und auskultatorisch fast gar nicht zu finden.
2. Mittelwerte des systolischen Druckes waren palpa-
torisch in der ersten Hälfte der 20er Jahre bis zu 70 % festzustellen, dann
schwankten sie um 30 %, um Ende der 50er Jahre rapid zu sinken bzw.
zu schwinden. Auskultatorisch schwankten sie um 10%, um nach einem
Abfall in der letzten Hälfte der 30er und ersten Hälfte der 40er Jahre bis
in die erste Hälfte der 50er auf 35 % anzusteigen und alsbald wieder rapid
zu sinken bzw. zu schwinden.
3. Höchstwerte des systolischen Druckes, palpatorisch
bestimmt, stiegen bereits in der 2. Hälfte der 20er Jahre von 30 % auf
über 65 % und hielten sich dann bis Mitte der 50er Jahre auf 60 und 70 %,
um bis Ende der 50er plötzlich auf 35 % zu fallen und sofort wieder steil
auf 95% anzusteigen. Auskultatorisch konnten sie von Anfang an auf
90—100 % festgestellt werden, um in den 50er Jahren auf 67 % zu fallen,
dann sofort schnell auf 100 % zu steigen.
4. Der durchschnittlice Niedrigstwert des diastolischen
Druckes schwankte, palpatorisch festgestellt, zwischen 26 und 44 %.
um in der 2. Hälfte der 50er Jahre rapid zu fallen und zu schwinden.
Auskultatorisch fiel er schon in der 1. Hälfte der 20er Jahre von 85 auf
60%, bis zu den 40er Jahren auf 43%, um nach kurzem Anstieg Anfang
der 50er jäh zu fallen und Anfang der 60er ganz zu schwinden.
5. ‘Der Mittelwert des diastolischen Druckes, palpa-
torisch festgestellt, senkte sich, um 40% schwankend, Mitte der 50er auf
27 %, um dann steil bis Mitte der 60er auf 95 % zu steigen. Auskultatorisch
stieg er bis Mitte der 40er auf 52 %, um nach einem kurzen Abfall in der
ersten Hälfte der 50er auf 37 % sofort steil bis auf 100 % Anfang der 60er
zu steigen.
6. Der Höchstwert des diastolischen Druckes stieg bei
der palpatorischen Feststellung von 10% Mitte der 20er auf 44% Ende
derselben, fiel alsbald wieder auf 25, ia Ende der 30er auf 22 %, um, all-
mählich bis Mitte der 50er auf 33 % steigend, dann steil zu fallen und zu
verschwinden. Auskultatorisch stieg er nie über 5% in der ersten Hälfte
der 50er. Mitte der 20er wies bei der palpatorischen Untersuchung die
Hälfte der Fälle (30—70 %) die mittleren und höchsten systolischen Blut-
druckwerte auf, d. h. die normalen Höchstwerte und darüber weit hinaus-
gehende, nicht mehr normale Höchstwerte; bei der auskultatorischen
Untersuchung waren diese Höchstwerte mit 95 % sogar führend. Auch
in den 60er Jahren waren die anormalen systolischen Höchstwerte bei
beiden Untersuchungsarten überwiegend. Bei der verhältnismäßig geringen
Anzahl von so jugendlichen und alten Fällen wollen wir aber zunächst
dieser Feststellung nicht übergroße Bedeutung zulegen, sondern vielmehr
die Zeit von Anfang der 30er bis Ende der 50er näher betrachten: Da
ergibt sich dann etwa folgende Zusammenstellung:
Seitfert, Erkrankungen des Geläßsystems alkoholischer Natur,
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Abhandlungen.
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Seiffert, Erkrankungen des Gefäßsystems alkoholischer Natur. 11
Es wurden im Alter von 30 bis Ende 50 festgestellt an Blutdruck werten
unserer Trinker:
palpatorisch auskultatorisch
systol.: niedrigste unter 109], fast keine
mittlere um etwa 30 9, um etwa 10°),
höchste etwa 55— 709), über 90°],
diastol.: niedrigste etwa 26—42 °j, über 42—55 0;
mittlere etwa um 40°, über 40—52 r
höchste etwa 22—38 9), bis 59,
d. h. wohl kurz: Weitaus die größte Anzahl der Trinker zeigt höchste
systolische Druckwerte, fast die Hälfte niedrigste diastolische, die Hälfte
mittlere diastolische Werte. Die größere Gleichförmigkeit in den diasto-
lichen Druckwerten wird erklärlich, wenn man erneut an die Elastizität
der Gefäße denkt, die bei der diastolischen Druckfeststellung im ganzen
eine geringere Rolle spielt, weil ja theoretisch der diastolische Druck in
dem Augenblick festgestellt werden soll, wo das Gefäß sich nicht spannt,
wo also der elastische, aktive Spannungsfaktor der Gefäßwand aus-
geschaltet ist; d. h. die Blutdruckwerte können hier gleichmäßiger und
auch um diesen Elastizitätsfaktor niedriger sein, sie zeigen mehr, von der
Geiäßelastizität unabhängigere, Mittelwerte. Immerhin dürften die palpa-
torisch festgestellten ca. 30 % höchster diastolischer Druckwerte darauf
hinweisen, daß auch beim diastolischen Druck noch nicht alle Elastizität
ausgeschaltet ist, und sie sich bei fast % der Trinker noch geltend macht.
Auffallend bleibt, daß in den 50er Jahren sowohl bei palpatorischer, als
bei auskultatorischer Untersuchung die Blutdruckwerte steil abfallen. Die
Erklärung finde ich neben dem Nachlassen der Gefäßelastizität in dem
Versiegen der Reserveherzkräfte..e Dem widerspricht nicht, daß die mitt-
leren diastolischen Druckwerte steigen. Sie bleiben der alleinige Ausdruck
der noch vorhandenen Herzenergie und müssen daher verhältnismäßig
zunehmen.
Zu erwägen wäre noch die Frage, ob etwa die Fälleausnehmend
hohen und niedrigen Blutdruckes uns besonders belehren. Es sind
im ganzen 47 Fälle zu verzeichnen, in deren bald nach Eintritt in die
Anstalt eine Erhöhung des Blutdruckes auf 200 mm Hg. und
darüber beobachtet werden konnte. 19 mal handelte es sich um Steige-
tungen auf 200—210, 12 mal auf 211—220, 7 mal auf 221-230, 6 mal auf
231—240, 2 mal auf 241—250, 1 mal auf 254 mm.
Es waren beteiligt:
4 Fälle zwisch. 20—30 J., d.h. 8,51%), v.47 0d. 4,17°/, von 99 dieser Altersklasse,
17 Fälle zwisch. 31—40 J., d.h. 36,17°,, v.47 od. 4,53°/, von 411 dieser Altersklasse,
16 Fälle zwisch. 41—50 J., d.h. 34,04%), v.47 od. 5,82°/, von 323 dieser Altersklasse,
9 Fälle zwisch. 51—60 J., d.h. 9 9,v.470d. 19,15°/, von 64 dieser Altersklasse,
l Fall zwisch. 61—67 J., d.h. 2,13%, v.47 0d.25, °/, von 4dieser Altersklasse,
d. h. wohl einwandsfrei: Je höher das Alter, desto zahlreicher prozentual
die Fälle stärkster Biutdruckerhöhung.
Beruflich waren von diesen 47 Trinkern
landwirte .. .. 1 ( 2,13°/,) d. i. von den Anstaltspfleglingen dieses Berufes 2,2,
Arbeiter... . . 17 (86,17 °/,) d. i. von den Anstaltspfleglingen dieses Berufes 4,3],
Handwerker . . . 10 (21,28°/,) d. i. von den Anstaltspfleglingen dieses Berufes 5 °
Gewerbetreibende 12 (25,53°/,) d. i. von den Anstaltspfleglingen dieses Berufes 8 °
(darunter 1 Brauer, 1 Gastwirtstellvertreter, 5 Kaufleute, 1 Drogist)
kleinere Beamte 7 (14,89°/,) d. i. von den Anstaltspfleglingen dieses Berufes 8,99],
Dieschwerekörperliche Arbeitistalsogeringerbe-
teilig. Esentspricht dasauch der sonstigen Beobach-
tung,daßbeikörperlicher Anstrengung und Aufenthalt
im Freien der Alkohol weniger verderblich wirk: als
beiStuben- und Geistesarbeit.
12 Abhandlungen.
Zu berücksichtigen ist aber auch, daß Handwerker, Gewerbetreibende.
kleinere Beamte den Tag über mehr Gelegenheit und Anlaß haben und
suchen, dem Alkoholdrang zu genügen, — daher die Beteiligung von
Fleischern, Alkoh.-Gewerbe, Kaufleuten —, endlich, daß im großen und
ganzen die Landwirte und Arbeiter die kräftigeren und gesünderen sind. ,
Wie verhielt sich das Herz- und Gefäßsystem in diesen 47 Fällen?
Bei härtlichem Puls waren Pulsbeschleunigungen, die, wie bei den übrigen
Kranken, nach Arbeitsleistung beträchtlich steigen, wohl in den meisten
Fällen vorhanden, doch nur 6 mal sind Pulsunregelmäßigkeiten dabei ver-
zeichnet (2 mal war der Puls leicht zu unterdrücken, 1 mal leicht un-
regelmäßig, 1 mal ungleich, 1 mal frustran bei leichter Dilatation nach links.
1 mal zeigten sich Extrasystolen. Auch deutlich sklerotische Erschei-
nungen waren 3 mal vorhanden). Die Herz.kraft war in den meisten Fällen
noch eine ausreichende — 16 mal war Hypertrophie der linken Herzkammer
z. T. mit leichter Erweiterung vorhanden, 5 mal war auch die rechte
hypertrophiert. — Sklerotische Erscheinungen waren in allen 47 Fällen
da, 11 mal ausgesprochen, sonst nur durch einen härtlichen Puls angedeutet
ohne deutliche andere Anzeichen.
Was war wohl die Veranlassung zu den ungeheuren Blutdrucksteige-
rungen? Es lag nahe, auf chron. Nierenentzündung zu fahnden; diese
Vermutung bestätigte sich aber nicht. Eine Aussprache darüber bleibt
einer späteren Arbeit überlassen. 5 mal war wohl eine geringe Eiweiß-
absonderung festzustellen (32jähriger Kranker, zuletzt Konzipimt mit einem
palpatorischen Blutdruck von 254 mm Hg., 33jähriger Fleischer mit einen:
solchen von 250 mm, 37jähriger Kaufmann und Destillateur mit einem
solchen von 240 mm, 37jähriger Zinkmeister mit 240 und 38jähriger Kutscher
mit 240 zeigten bei andauernder Kontrolle keine Eiweißspuren; mikroskopische
Untersuchung stand leider nicht zur Verfügung), doch nur einmal konnte
bei einem 43jährigen Glasmacher mit 240 mm Hg. Blutdruck (palpatorisch)
die Diagnose auf chr. Nierenentzündung gestellt werden. — Die Skierose des
Gefäßsystems allein verantwortlich zu machen, ist auch nicht angängix.
zumal sie in 20 Fällen des hohen Blutdruckes nicht deutliche Erscheinungen
machte. Eine andere Vermutung indessen liegt näher. Sind schon an und
für sich die weitaus meisten Alkoholiker infolge der frühzeitig lähmenden
Einwirkung des Alkohols auf die reflektorischen Hemmungszentren im
Gehirn leicht erregbar und in ethischer Beziehung bald minderwertig, so
fällt es bei unseren 47 Kranken auf, daß bei 30 von ihnen starke psychische
Erregbarkeit oder starkes Darniederliegen der seelischen Kräfte zu be-
obachten war, bzw. sich in den Vordergrund drängte auch 2 mal, wo Ver-
änderungen an Herz- und Gefäßsystem sich nicht deutlich geltend machten.
Bei einem großen Teil handelte es sich um Leute, die, früher in guter
wirtschaftlicher Lage, nun keine Existenz mehr hatten, um Leute mit vielem
Berufswechsel, um herabgekommene Arbeiter, um Personen, die mit dem
Strafgesetz in Konflikt gekommen waren, um einzelne Entmündigte. Bei
11 waren delirante Zustände vorhergegangen (1 mal Lues). Der Gedanke
gewinnt da volle Berechtigung, daß der Blutdruck zentral stark beein-
flußt war. Vom Puls kennen wir eine solche dauernde, zentrale Beein-
flussung von jeher; es gibt „nervöse“ Personen, mit dauernd erhöhter Puls-
zahl. Dazu kommt, daß man oft bei späteren Untersuchungen erhöhten
Blutdruck hatte feststellen können, wenn eine starke Erregung des Kranken
vorangegangen war. Selbst während der Untersuchung konnte in ein-
zelnen Fällen beobachtet werden, daß der Blutdruck nach Meinungsdiffe-
renzen zwischen Untersucher und Untersuchtem stieg.
Würdigen wir nur noch, soweit als möglich, die Fälle mit niedrig-
sten Blutdruckwerten einer kleinen Betrachtung. Es handelt sich
im ganzen um 15, darunter 11 auskultatorisch ermittelt. Dem Alter nach
standen.
6 zwischen 20—30 J., d. h. 40 °:, v.15 oder 6,1 °% von 99 dieser Altersklasse,
3 zwischen 31—40 J.. d. h. 20 °% v. 15 oder 0,73%), von 411 dieser Altersklasse,
Seiffert, Erkrankungen des Qefäßsystems alkoholischer Natur. 13
4 zwischen 41—50 J., d. h. 26,6°/ v. 15 oder 1,28°/, von 313 dieser Altersklasse,
? zwischen 51—60 J., d. h. 13,8°/, v. 15 oder 3,13°/, von 64 dieser Altersklasse.
Wenn auch die Zahl dieser Fälle nicht so groß ist, um weitgehende
Schlüsse machen zu können, so bleibt doch auffällig, daß gerade in den
iingsten Jahrgängen (Anfang der 20er) Niedrigstdruck sich häufiger findet;
bei der größeren Elastizität der jugendlichen Gefäße dürfte er sich hier
saom geltend machen. Man kann sich nur denken, daß sie bei gewisser
Veranlagung (Intoleranz) durch den Alkoholgenuß bereits schwer gelitten
kat. Dafür könnte angeführt werden, daß bei 4 dieser 6 Fälle auch eine
Verbreiterung der Herzdämpfung nach rechts festgestellt wurde, d. h. daß
such die Lungenelastizität wahrscheinlich bereits gelitten hatte, wie in der
ersten Arbeit ausgeführt*). Frühzeitig einsetzende Sklerose, für die sich
iM mal d. i. bei */s der Fälle Anzeichen vorfanden, mag die Grundbedingung
scwesen sein. 4 mal waren auch bereits Anzeichen geschwächter Herz-
muskelkraft vorhanden; zu Hypertrophie des link. Ventrikels war es aber
iı keinem der 15 Fälle gekommen. Daß es sich um einen Ausnahmezustand
:andelt, d. h. daB die Intoleranz gegen den Alkohol schon frühzeitig Tribut
iordert, kann auch daraus geschlossen werden, daß vom 30. Jahre ab bei
im Laufe der Jahre physiologisch sich mindernder Elastizität der Geiäße die
diastolischen Mindestdruckzahlen langsam wieder unter Schwankungen stei-
sen: trotzdem stehen sie in den 50eın prozentual noch gegen den Anfang der
Xer zurück. Diese Intoleranz betrifft selbstverständlich auch die Zentral-
organe, wahrscheinlich in erster Linie. Dies tritt bei den 15 Fällen dadurch
in die Erscheinung, daB Gehirnarbeiter prozentual besonders beteiligt
erscheinen, wie folgende Zusammenstellung zeigt: Unter 15 Alkoholikern
mit diastolischen Mindestdruckwerten waren
Landwirte .. .. 1, das ist von den 46 Anstaltspfleglingen dieses Berufes 2,17°],,
Industriearbeiter . 7, das ist von den 395 Anstaltspfleglingen dieses Berufes 1,77°/,,
Handwerker . . . 3, das ist von den 200 Anstaltspfleglingen dieses Berufes 1,5 P],,
Gewerbetreibende 2, das ist von den 150 Anstaltspfleglingen dieses Berufes 1,33°/,,
Studierte(Student.) 2, das ist von den 14 Anstaltspfleglingen dieses Berufes 14,3 °/,.
Die niedrigsten, verzeichneten Blutdruckwerte lagen kaum über 0, so mit
2 mm Hg. Druck bei einem 22jährigen Studenten, mit 15 mm bei einem
jährigen Pferdeführer in der Grube, mit 20 mm bei einem 28jährigen
Arbeiter, mit 25 mm bei einem 47ijährigen Handelsmann. Bei dem Studen-
ten hatte ein ungeheurer Alkoholabusus stattgefunden. Er hatte in der
tzten Zeit vor dem Eintritt durchschnittlich täglich 15 Glas Bier, 1 bis
3 Liter Rotwein, 1 bis 2 Liter Weißwein und dazwischen einige Schnäpse
zetrunken. Bei dem anderen 2ljährigen Studenten hatte in der Haupt-
sache abusus nicotianae vorgelegen.
8 mal war psychische Beteiligung besonders zu erweisen, darunter
+ mal bei den 20jährigen, indem wir psychische Erregbarkeit, Gedächtnis-,
starke Willensschwäche, voraufgegangenes Delirium ausdrücklich ver-
:£ichnet finden.
Zwei Beobachtungen erfordern hier noch eine besondere Hervorhebung.
Es ist bekannt, daß der Rausch den Blutdruck herabsetzt. Das machte sich
auch bei unseren Kranken bez. des Minimaldruckes bemerkbar. Bei drer
dieser im Rauschzustand in die Anstalt gekommenen Kranken stieg der bei
der Einlieferung festgestellte Minimaldruck schon tags darauf. Ferner waı
testzustellen,. daßmitAnhaltenderAbstinenzundBesserung
der Herzkraft der Minimaldruck sich hob, eine Erfah-
tung, die auch zuprognostisch guten Schlüssen heran-
sezogen werden konnte.
A vaenu Schlüssen berechtigt uns die Beobachtung des
ulses
Was zunächst die Zahl der Pulsschläge betrifft, so gelten als normal
vom 15. bis 50. Lebensjahr etwa 70, vom 51. bis 60. etwa 74, vom 6l. bis
14 Abhandlungen.
80. etwa 79, bis zum 90. etwa 80 Schläge’). Um festzustellen, ob und
inwiefern die chronischen Alkoholisten andere Zahlen aufweisen, wurden
zunächst die Fälle der ersten Zeit, als unsere Anstalt in Miechowitz die
Anfangsjahre erlebte, übersichtlich geordnet, zugleich mit den Beobach-
tungen nach Ruhe und Arbeit. Sie sind entschieden die schwierigeren, da
in der ersten Zeit nur schwere und schwerste Fälle der Anstalt zugeführt
wurden. Die Beobachtung geschah noch nicht regelmäßig zu gleicher
Tageszeit und nach gleicher Arbeitsleistung. Dabei ergaben sich durch-
schnittliche Pulszahlen bei Leuten im Alter von:
Jahren in Ruhe nach Arbeit bei Fällen
20— 30 96,17 115,5 12
31—40 87,19 103,47 43 (in 2 Fällen nicht verzeichnet)
41—50 91,42 108,85 26
51—60 99 103 1
Die Zusammenstellung der Zahlen der Tarnowitzer Anstalt ergibt bei
gleicher Reihung folgende Uebersicht:
bei Jahren in Ruhe nach Arbeit (Fälle) gewöhnl.Pulsz. (Fälle)
21—30 90,52 109,43 82 90,16 96
31—40 83,76 102.26 346 83,64 376
41—50 87,24 109.05 258 87,17 279
51—60 89,17 108,88 44 88,21 50
über 60 95,33 103,33 3 98,83 4
im Durchschnitt 89,20 105,58 S. 733 89,60 S.805
21—50 87,18 106,91 686 96,99 751
31—60 86,72 105,05 648 86,84 705
Mit den oben gegebenen physiologischen Zahlen verglichen, liegen die
an den Anstaltskranken gewonnenen Werte weit höher. Bis zum 50. Jahre
zeigen unsere Alkoholiker im Duichschnitt 17 Pulsschläge mehr, als dic
entsprechenden normalen Altersklassen, vom 51. bis 60. Jahre 15, darüber
hinaus 16
Auffallendistdabeiauch hier wieder die höhere Be-
lastung der 20er Jahre, die durchschnittlich 4 Puls-
schläge mehr aufweisenals der Durchschnitt derande-
ren Altersklassen Die Alkoholreaktion ist also auch
hier wie bezügl. des Pulsdruckes bei den jugendlichen
eine größere. Später mag eine gewisse Gewöhnung an
das Gifteintreten.
Im einzelnen ergaben die Krankengeschichten, daß unter 813 Fällen,
wo beim Eintritt in die Anstalt der Puls notiert war, 141 mal, d. h. bei
17,34 % der Fälle, der Ruhepuls 100 und darüber betrug, darunter 12 mal
120 bis 130, 14 mal 130 bis 140, 4 mal 140 bis 146, 1 mal sogar 160. Anderer.
seits lag er 126 mal unter 70 u. z. 105 mal zwischen 70 und 60, 17 mal
zwischen 60 und 50 und 4 mal unter 50. Die Zusammenstellung ergibt ferner
eine erhebliche Pulssteigerung nach geringer Arbeits-
leistung von je 25 Umdrehungen am Gärtnerschen Ergostaten bei eineı
8 pfündigen Belastung desselben, gewöhnlich morgens zwischen 7% bis
9 Uhr nach dem Frühstück beobachtet. Während eine solche minimale
Arbeitsleistung am gesunden Herzen fast spurlos vorübergeht, vermehrte
sich hier die Pulszahl in der Minute z. T. ungeheuerlich, durchschnittlich
um 16, in den 20er Jahren sogar um 19, über. 60 nur um 8. (Er schwankte
nach der Ergostatenarbeit bei 37 verglichenen Fällen in Grenzen von
1—5, 6—10, 11—15, 16—20, 21—25, 26—30, 31—385, 86—40, 41—45 Schlägen
21 24 62 56 55 42 87 21 15 mal `
46—50, 51—55, 56—680, an 66—70, ar ai Schlägen
7 2 3 1 mal;
') Landois: Puls. Eulenburgs Realencyklopädie, IV. Aufl.
Seittert, Erkrankungen des Gefäßsystems alkoholischer Natur. 15
i mal schwankte er um 113, 1 mal 121, 1 mal 128 Schläge, ohne daß be-
sondere Gründe ersichtlich waren.) Außer in 138 Fällen (18,57 %), wo die
Pulszahl schon an und für sich 100 und mehr betrug, stieg sie nach Arbeits-
kistung noch 415 mal auf 100 und darüber, d. h. noch bei 56,26 %. Im
ganzen also zeigte der Puls bei 74,83 % der Fälle nach leichter Arbeits-
kistung einen Anstieg auf 100 und mehr; nur bei 4 der Kranken blieb er
unter 100. 22 mal stieg er sogar auf 150 und mehr, darunter 1 mal auf 181
(depressiver Zustand), 1 mal auf 188 (Korsakow), 1 mal auf 193 (Delirium).
— Nur 3mal zwischen 35. und 45. Lebensjahre hatte die Arbeitsleistung
keine sichtliche Steigerung der Pulszahl zur Folge. Sie blieb ziemlich die-
selbe 75 bzw. 78 (praescleros. aa., hypertroph. ventr. sn.), 102 bzw. 104
(skleros. aa.), 108 bzw. 110 (praescleros.). 1 mal fiel sogar nach der Arbeit
die Pulszahl von 105 auf 99 bei einem etwas stumpfen, alkoholischen Epi-
leptiker, der nicht viel vertrug und nicht gar so übermäßig getrunken hatte.
Es fallen am Puls endlich noch eine Anzahl Qualitäts- Verände-
rungen auf, die am Gesunden nach Alkoholzufuhr nicht beobachtet werden
(Rosenfeld), die aber bei unseren chronischen Alkoholikern an der Tages-
ordnung waren. So ist der Puls oft genug, besonders im Anfang nach Ein-
tritt in die Anstalt, nach Arbeitsleitstung, bei Erregung leicht unregel-
mäßig, wird kleiner; auch frustane Wellen kommen manchmal vor, ohne
daB dabei andere schwere Veränderungen am Herzen oder Gefäßsystem
zu beobachten waren, abgesehen von einem mehr oder minder als vor-
handen anzunehmenden präsklerotischen Zustande.
Den Grund für alle diese Pulsveränderungen, seine
Beschleunigung, seine Labilität, seine verschiedene
Qualität. kann man nur in zentralen Einflüssen, die
der Alkohol gesetzt hat, und lokaler Veränderung des
Herzmuskels suchen. Während die Beschleunigung wohl in erster
Linie zentral bewirkt wird, worauf schon hingewiesen ist, wird die Labilität
und Qualität wohl vorzugsweise durch myodegenerative Veränderungen im
Herzmuskel bedingt sein,wenn auch da zentrale Einflüsse nicht auszuschließen
Hingewiesen werden wir auf sie erneut durch die drei zuletzt ge-
nannten Fälle stärkster Pulsbeschleunigung, bei denen ersichtlich das Gehirn
beteiligt war (depressiver Zustand, Korsakow, Delirium). — Was die lo-
kalen Veränderungen angeht, so beweist schon das physiologische Experi-
ment, daß der Alkohol die Kraftleistung des Herzens herabsetzt und mit
der Abnahme der Muskelenergie auch die Zahl der Pulsschläge $). Dieser
endlichen Abnahme der Pulsschläge, wie sie auch bei den alten chronischen
Alkoholikern unserer Anstalt beobachtet ist, geht bei diesen allerdings die
mehr durch zentrale Lähmungen bewirkte Steigerung der Pulsschläge
voraus. Die Herzveränderungen lokaler Natur werden beim Alkoholiker
semeinhin im Herzmuskel vorausgesetzt. Krehl®) weist auf die bei einem
Teil dieser Kranken auf dem Sektionstisch erwiesene fettige Degeneration
und frische Entzündungen hin und sagt, daß sie die herabgesetzte Leistungs-
fähigkeit vollkommen erklären. Für die im Myocard (Herzfleisch) ve-
streuten, frischen Infiltrationsherde glaubt er sich allerdings nicht berechtigt,
den Alkohol als schädigendes Moment anzusehen, gibt aber zu, daß dieses
Gift die notorische Fähigkeit habe, solche an anderen Organen hervor-
zurufen, daß also diese Wirkung auch für das Herz nicht völlig abgelehnt
werden kann. Für den Praktiker, der das plötzliche Erlahmen der Herz-
kraft bei Alkoholikern mit anscheinend noch nicht schweren, d. h. objektiv
nicht besonders zu erweisenden Herzveränderungen oft beobachten kann,
der gesehen hat, wie wenige Umdrehungen am Ergostaten zu Atemnot,
Bäulicher Verfärbung des Gesichts, fadenförmigem Puls führen können bei
Kranken, die sonst niemals derartige Erscheinungen gehabt haben, wie im
Delirium plötzlich Herzstillstand und Tod bei anscheinend vorher ganz ge-
sunden Menschen beobachtet werden, sind solche degemrative Veränderun-
') Krebi, pathologische Physiologie, Leipzig 1906.
16 Abhandlungen.
gen des Herzmuskels und seiner Ganglien wohl zweifellos. Gerade die
schon nach leichter körperlicher Arbeit in die Erscheinung tretenden An-
zeichen von Herzinsuffizienz geben uns ein Recht, einen chronischen Alko-
holiker als krank und erwerbsunfähig oder als erwerbsbeschränkt im Sinne
des Krankenversicherungsgesetzes zu bezeichnen und den Aufenthalt in
einer Heisanstalt als durchaus notwendig anzusehen.
Ich hebe nochmals hervor, daß der Anteil des Nervensystems an der
Pulsbeschleunigung und mittelbar auch an den anderen Pulsveränderungen
nicht verkannt werden soll. Die Pulsbeschleunigung ist nicht nur der Aus-.
druck des versuchten Arbeitsausgleiches der durch erhöhten Blutdruck,
vermehrte Gefäß- und Organwiderstände reichlich zu ihrem Nachteil in
Anspruch genommene Herzkraft, sie wird auch direkt psychisch beeinflußt.
Die zentrale Einwirkung von Alkoholgenuß auf Blutdruck und Herzschlag
sind ja physiologisch bekannt. Bei täglichem und meist noch reichlichem
Alkoholgenuß muß auch die psychische Beeinflussung zu einer Dauerwirkung
werden. Nur eine psychische Beeinflussung kann die öfter bei unseren
chronischen Alkoholikern gemachte Beobachtung erklären, daß die anfangs
stark erhöhte Pulszahl im Laufe der Untersuchung oder Unterhaltung sinkt,
ja in einzelnen Fällen selbst nach der inzwischen bewirkten Betätigung am
Ergostaten eine Verringerung der Pulszahl beobachtet werden konnte. Auch
für den Pulsdruck gilt ab und zu eine solche Verringerung im Laufe einer
Untersuchung.
Eine ganz besondere Beobachtung der Pulsqualität bezieht sich auf die
sog. Härte des Pulses. Fast in allen Krankengeschichten findet sich ent-
weder bald nach der ersten Untersuchung oder später die Bemerkung „Puls
gespannt“, „Puls härtlich‘, „Puls hart“, selbst schon bei den jüngsten unserer
chronischen Alkoholiker. Damit sollte nicht eine Härte des Gefäßrohres
zum Ausdruck gebracht werden, sondern nur die größere Spannung durch
die Blutwelle.. Man fühlt den höheren Blutdruck schon am Pulse. Man
könnte dieses langandauernde Stadium als ein präsklerotisches
bezeichnen. Erst später stellen sich unter der ständigen Druckerhöhung
Veränderungen am Gefäßrohr selber ein; es ist nicht mehr so elastisch,
schlängelt sich, wird härtlich. Wahrscheinlich handelt es sich wie bei der
Alterssklerose um Hypertrophie der Muscularis und Bindegewebsverstär-
kung. Starrheit und Kalkeinlagerungen finden sich kaum, nur bei höherem.
Alter. — Die unter dem ständig erhöhten Blutdruck durch direkte mecha-
nische Wirkung eintretende Verminderung der Gefäßspannung und die durch
zentrale Wirkung bedingte Lähmung des Gefäßtonus erstreckt sich nicht nur
auf die Arternien, sondern auch auf das Kapillarnetz und die Venen. Häu-
figes Vorkommen von Teleangiectasien nicht nur, wie bekannt, an
Nase und Wangen, sondern auch an anderen Körperstellen, häufig an den
vorderen und seitlichen Brust- und Bauchteilen des Mittelleibes, weisen
darauf hin.
Auch eine genaue Beobachtung der Herztöne ergab mancherlei Ver-
änderungen. Sie waren in weitaus der größten Anzahl unserer Fälle leicht
verändert. Der erste Ton wurde als „nicht ganz rein“ oder „unrein‘“ emp-
funden, häufig mehr oder minder deutlich gedoppelt oder von einem nicht
stabilen Nebengeräusch begleitet, besonders häufig an der Herzspitze. Fast
regelmäßig findet sich auch, zumeist zn der Spitze (fortgeleitet von der
Pulmonalklappe), dann über der großen Körperschlagader der 2. Ton, „laut“,
„akzentuiert‘“, „verstärkt“, „klappend“. Die Nuancierungen des 1. Tons
erinnern an die dumpien Töne bei ausgesprochener, mit Herzerweiterung
verbundener Muskeldegeneration des Herzens und dürften ein Hinweis auf
eine drohende oder im Entstehen begriffene Erweiterung sein. Die Doppe-
lung, das Anzeichen einer Verlängerung der Austreibungszeit des Blutes,
gibt einer entsprechenden, leichten Herzschwäche Ausdruck’). Soweit
biT Q Geigel, Verlängerung der Anspannungszeit, München, mediz. Wochenschrift, 64, Jahrg.,
‚Nr. 51,
p sro: VER HN Ed DE en EREA a
k
Juliusburger, Alkohol und Schlaflosigkeit. 17
diese Veränderungen die 2. Töne betreffen, sind sie wohl meist der Aus-
druck des erhöhten Blutdruckes, später aber bereits einsetzender, skle-
rotischer Entartung. — Alle diese kleinen Anstände bleiben nicht gleich-
mäßig dieselben, sondern treten zurück, verschwinden oft ganz bei fort-
schreitender Besserung des Allgemeinzustandes. Sie bilden aber einen
nicht unwichtigen, diagnostischen Anhaltspunkt, dessen Bedeutung bisher
nicht genügend betont war. à
*
Werfen wir schließlich noch einen Rückblick auf die wesentlichsten
Ergebnisse dieser jahrelangen Beobachtungen, so können wir kurz folgen-
des zusammenfassen:
1. Ueber die Hälfte der Fälle zeigt bei Eintritt in die Anstalt Herz-
verbreiterungen und zwar nach rechts 3mal soviel als nach links, nach
beiden Seiten in ?/s der Fälle. Bei den jüngeren Jahrgängen überwogen
die Verbreiterungen nach rechts (ein reichliches Viertel der Fälle), vom
4. Jahr ab die nach beiden Seiten (ein kleines Viertel der Fälle); nach
links allein kamen in den späteren Jahrgängen !lıo der Verbreiterungen in
betracht. Im wesentlichen handelte es sich rechts um Dilatation (Abnahme
der Gefäß- und Lungenelastizität), links um Hypertrophien (Heilungs-
vorgänge, Sklerose). Die Dilatation ging im Laufe rechtzeitiger Behandlung
regelmäßig zurück.
2. Der systolische Blutdruck war bei der Mehrzahl der in die Anstalt
aufgenommenen Fälle wesentlich erhöht und zwar durchschnittlich pal-
patorisch auf zirka 165, auskultatorisch auf zirka 145 mm Hg., ausnahms-
weise sogar auf 254. Der diastolische Druck wies im e a mittlere
Zahlen auf, palpatorisch 135, auskultatorisch 83 mm
Jugendliche Trinker zeigten verhältnismäßig zeitig ar TRR stärkere
Schādigungen bzw. Herzverbreiterung, Blutdruckveränderungen (ver-
minderte Gefäßelastizität bei zentraler Einwirkung); bei älteren waren
Blutdrucksteigerungen das häufigste (Gefäßstarre). Während im Laufe der
Behandlung der Maximaldruck fällt, steigt der Minimaldruck (Besserung
der Elastizität). Letzteres ist als diagnostisches Zeichen zu deuten. `
3. Die Pulsfrequenz der Alkoholiker liegt im Durchschnitt um 15 bis 17
Schläge höher als normal; in den 20er Jahren ist die Steigerung am größten.
Schon bei leichter Arbeitsleistung geht sie im Durchschnitt um 16 bis 19
Schläge in die Höhe, wiederum in den 20er Jahren am meisten.
Am Pulse selber sind reichliche Qualitätsveränderungen zu beobachten;
fast immer kann er als härtlich bezeichnet werden (praesklerotisch. Stadium).
Ebenso sind Venenerweiterungen häufig, fast regelmäßig Veränderungen
an den Herztönen, die mit Besserung des Zustandes wieder verschwinden.
Alkohol und Schlaflosigkeit.
Von San.-Rat Dr. Otto Juliusburger-Berlin. _
Herr Prof. Rumpf hielt am 17. November dieses Jahres an der Uni-
versität Bonn einen Vortrag über Alkoholismus und seine Bekämpfung,
worin er bezüglich des individuellen Schutzes zu sehr beachtenswerten
Folgerungen kam, zu denen im Hinblick auf die Autorität des Herrn Ver-
fassers sowie die Wichtigkeit des Gegenstandes Stellung genommen werden
muß. Herr Prof. Rumpf stellt folgende Sätze auf, zu denen ich jeweils
sogleich ein Wort zu sagen mir erlauben werde.
1. Für gesunde Kinder und Jugendliche halte ich jede Art von Alkohol
für schädlich. In Krankheitsfällen kann die Verwendung am Platze sein.
Das gleiche gilt für gesunde Frauen. s
Die Aikoholfrage, 1925 2
18 Abhandiungen.
Diesen Sätzen stimme ich zu. Wenn der Alkohol hier am Krankenbette
wirklich noch für unentbehrlich im einzelnen Falle angesehen werden sollte,
gehört er lediglich in die Hand des verantwortungsvollen, verordnenden
Arztes wie irgend eine Medizin, die der Arzt genau dosiert verschreibt.
Im Vordergrunde steht aber Prof. Rumpfs Forderung, daß gesunde Kinder,
Jugendliche und gesunde Frauen keine alkoholischen Getränke genießen
sollen. Darin stimme ich mit ihm ohne jede Einschränkung überein. Hof-
fentlich kommt diese Forderung allen Erziehern und Jugendbildnern zu
Gesicht und dringt von dort in ihren Willen zur Tat. Wenn es noch immer
häufig genug vorkommt, daß Schülerveranstaltungen unter Aufsicht von
Lehrern vor sich gehen, wobei diese sowie die Schüler alkoholische Ge-
tränke genießen, so dürfte dies wohl von jedem Standpunkte aus zu miß-
billigen sein. Also Ihr Lehrer und Lehrerinnen, beherzigt und befolgt die
Worte des Herrn Professor Rumpf.
2. Der erwachsene gesunde Mensch tut gut, sich des Genusses alko-
holischer Getränke völlig zu enthalten. Er erhält sich dadurch leistungs-
fähiger und vermeidet Schädigungen seines Körpers, die die Widerstands-
fähigkeit gegen Krankheiten herabsetzen.
Ich stimme auch hierin Herrn Professor Rumpf vollständig zu und
wünsche, daß diese Worte allen Aerzten zu Gesicht kämen, um auch in
diesen den Willen zur Tat zu wecken. Ich erhebe hiermit öffentlich an
alle meine Kollegen die Aufforderung, entweder die Meinung des Herrn
Professor Rumpf zu widerlegen oder sie durch das persönliche Beispiel der
Enthaltsamkeit vom Genusse alkoholischer Getränke in lebensvolle Wirk-
lichkeit umzusetzen.
3. In Zeiten ruhiger, gleichmäßiger Arbeit, selbst weit über den Acht-
stundentag hinaus, gelingt die völlige Abstinenz von alkoholischen Ge-
tränken ohne jede Schädigung.
Ich habe in dreißigjähriger Erfahrung niemals eine Schädigung nach
Abstinenz eintreten sehen. Leider besteht in Laien- und auch in manchen
ärztlichen Kreisen die durchaus irrtümliche, nicht selten dem Alkoholkranken
sogar schädliche Ansicht, daß ein Entzug von alkoholischen Getränken,
insbesondere der völlige und sofort einsetzende mit Lebensgefahr verbunden
sei. Das ist im allgemeinen nun nicht der Fall. Liegt bereits durch den
fortgesetzten Alkoholgenuß eine ernstere Schädigung des Organismus eines
Trinkers vor, so kann auch dann die sofortige Entziehung jeder Alkohol-
menge vorgenommen werden, ja es muß dies geschehen, um noch zu retten,
was zu retten ist — aber dann gehört ein solcher Kranker unter dauernde
ärztliche Ueberwachung und Behandlung, wobei wir über genügend gute
herzanregende und stärkende Mittel, Beruhigungs- und Schlafmittel ver-
fügen, die in der Hand des sachverständigen Arztes, falls der Krankheits-
zustand nicht hoffnungslos schon liegen sollte, segensreich wirken werden.
Selbst ein drohendes oder schon ausgebrochenes Delirium verläuft ohne
Alkoholzufuhr besser als wenn dem Vorurteile zufolge noch weiter Alkohol
gereicht wird, nur muß der Kranke unter Obhut einer sachverständigen
Behandlung und Pflege kommen, auch hierin solange bleiben, als es ärztlich
notwendig erscheint.
4. Es gibt aber besonders bei den geistigen Arbeitern Zeiten, in welchen
derselbe 10 bis 12 Stunden angestrengt tätig ist und nach Schluß seiner
Arbeit keinen Schlaf finden würde, wenn er nicht dem Nervensystem ein
Beruhigungsmittel zuführt. In solchen Fällen ist ein Glas guten Bieres oder
reinen Weines jedenfalls besser als Morphium oder ähnliche Präparate.
Das zu entscheiden, bleibt am besten dem Arzt überlassen.
Hier muß ich zunächst sagen: das zu entscheiden, bleibt nur dem Arzt
und darf nur ihm überlassen bleiben. Nun hat bereits einen ähnlichen Ge-
danken wie Herr Professor Rumpf der hervorragende frühere Pharmakologe
an der Universität Breslau, Herr Professor Filehne, in der im April 1903
erschienenen Schrift des Herrn Professor Karl Fränkel: „Mäßigkeit oder
Enthaltsamkeit‘“ geäußegt. Herr Professor Filehne schrieb damals: „Eine
Juliusburger, Alkohol und Schlaflosigkeit. 19
ieucht-fröhliche, d. h. unter Weingenuß sich abspielende recht leichte Plau-
Jerei ohne höhere Ideen-Assoziationen präpariert mich für eine normale
Nachtruhe, von der ich völlig „normal“ erwache. Wer mich mit „höheren
Ideen-Assoziationen‘“ im alkoholfreien Verhalten hätte für die Nachtruhe
präparieren wollen, würde mir geschadet haben.“ In meinen offenen
Briefen, die ich im Dezember 1909 als Antwort auf die Schrift des Herrn
Professor Fränkel herausgab, widersprach ich auch unter eingehender Be-
sründung der Auffassung des Herrn Professor Filehne. Ich erlaube mir
auf meinen offenen Brief an diesen von mir, einem seiner Schüler, hoch-
verehrten Lehrer hinzuweisen. Ich halte Wort für Wort, was ich damals
geschrieben habe, heute aufrecht.
Herrn Professor Rumpf gestatte ich mir, folgendes noch entgegen-
zuhalten. Herr Professor Rumpf spricht zunächst nur von geistigen
Arbeitern, und da er in seinem ersten Satze ausdrücklich gesunden Frauen
die Enthaltsamkeit vom Genusse alkoholischer Getränke empfiehlt, weiß ich
nicht, ob er etwa auch bei geistig arbeitenden Frauen eine gelegentliche
Ausnahme von der Regel gestatten will. Wird aber wirklich auf eine solche
Erlaubnis in jedem Falle ein Arzt gerufen oder befragt werden, welches
Beruhigungsmittel, Alkohol oder Morphium, er zur Beruhigung nach an-
sestrengter geistiger Arbeit empfehlen würde? Denn auch Herr Professor
Rumpf sagt, das zu entscheiden, bleibt am besten dem Arzt überlassen.
Ich bin überzeugt, daß dann so mancher glauben wird, er sei sich selbst
der beste Arzt, da er sich am besten und genauesten kenne, — und wer
wird nicht gern von sich behaupten, daß er täglich so angestrengt habe
geistig arbeiten müssen, daß er sich schon „sein: Glas Bier oder Wein“
zönnen könne, natürlich nur als Arznei, um die erforderliche Bettschwere
zu finden, psychologisch ausgedrückt, die quälenden Gedankenassoziationen
zur Ruhe zu bringen. Ich meine, und die tägliche Erfahrung wird dies
immer aufs neue bestätigen, daß durch die gelegentliche Zulassung des Ge-
nusses alkoholischer Getränke die Mahnung des Herrn Professor Rumpf
im zweiten Satze still vergnügt umgangen werden wird.
Ich würde es aber gar nicht verstehen können, wenn ein Arzt bei nicht
organisch bedingter, also einfacher Schlaflosigkeit Morphium, Opium, Codein
oder ein ähnlich wirkendes Mittel innerlich oder subkutan verordnen wollte.
Bei einfacher Schlaflosigkeit, besonders von der Art, die Herr Professor
Rumpf im Auge hat, käme doch wohl zunächst der gute altbewährte Bal-
driantee, namentlich in Form eines kalt zubereiteten Aufgusses in Betracht;
wenn dieses Mittel versagen sollte, kann der Arzt zu den harmlosen, dem
Morphium völlig fernstehenden Mitteln wie Adalin, Abasin greifen. Vor
allen Dingen aber ist die Psychotherapie nicht zu vergessen. Nach an-
gestrengter, einseitiger geistiger Arbeit dient sehr zur Beruhigung noch
die kurze Beschäftigung mit einer ganz anderen Seite unseres Geistes,
etwa für wenige Minuten das Lesen eines schönen Gedichtes, eines guten
Romanes —, für gewisse Persönlichkeiten zu gewissen Zeiten eine Zwie-
sprache mit sich selbst, ein Blick in einen seiner Lieblingsdenker, in die
Bibel oder Buddhareden, — kurz eine derartig angestrebte Ablenkung wird
eine Beruhigung herbeiführen, die als Beispiel gegeben und befolgt niemals
dem Individuum selbst oder einem anderen irgend einen Schaden bringen
un, was doch auch vom selten genossenen Alkohol nicht gesagt werden
ann.
In sehr häufigen Fällen aber ist selbst angestrengte geistige Arbeit nicht
die letzte, sondern nur die auslösende Ursache einer Schlaflosigkeit oder
eines schwer, späteintretenden und ungenügend sich auswirkenden Schlafes.
In solchen Fällen ist dann eine tiefer in das Seelenleben eindringende Psycho-
therapie, etwa eine kritisch vorgenommene Psychoanalyse notwendig.
5. Menschen, die infolge geistiger Schwäche nicht davon lassen können,
täglich oder häufiger alkoholische Getränke zu sich zu nehmen, sollen sich
begnügen, nicht mehr als % Liter leichten Bieres oder eventuell 4 Liter
reinen Weines zu sich zu nehmen. Sie müssen aber stets darüber klar sein
2%
20 Abhandlungen.
daß der regelmäßige Genuß selbst geringer Mengen alkoholischer Getränke
den Körper zu schädigen vermag.
Auch hier kann ich Herrn Professor Rumpf nicht folgen. Die Erfahrung
‚zeigt doch immer wieder, daß für einen Alkoholkranken nur in der völligen,
dauernden Enthaltsamkeit vom Genusse alkoholischer Getränke die einzige
Möglichkeit der Gesundung gegeben ist; er ist völlig außerstande, sich: auf
ein geringes Maß für dauernd einzustellen; wird ihm auch nur der gelegent-
liche Genuß eines Glases Bieres oder Weines gestattet, so ist es nur die
Frage. zumeist einer sehr kurzen Zeit, wann er wieder erheblich mehr
trinkt. Ich kenne wenigstens keinen Fall, besonders nun gar, wenn eine
geistige Schwäche besteht, wo die von Herrn Professor Rumpf zugelassene
oder eine beliebig andere erlaubte Menge von alkoholischen Getränken.
nicht sehr bald überschritten worden wäre. Wie sollte auch ein solcher
Mensch, wenn er gar noch mit einer geistigen Schwäche behaftet ist, die
Selbstbeherrschung aufbringen, an die Vorschrift, die ihm gegeben, stets zu
denken, der sich zu jeder Zeit und allörtlich sich ihm stark aufdrängenden
Verführung zu widerstehen, sich über die drohenden körperlichen Schädi-
gungen klar zu sein. Das ist eine Aufgabe, die ein solcher Mensch nicht
leisten kann; sie erfüllen zu können, dürfte er schon gar nicht mit einer
geistigen Schwäche behaftet sein. Nein, die Forderung, die Herr Professor
Rumpf für den erwachsenen gesunden Menschen aufstellt, sich des Genusses
alkoholischer Getränke zu enthalten, gilt ebenso für den geistig Schwachen,
sei es, daß er von Geburt an zu den Defektmenschen gehört, sei es, daß er
erst im Leben etwa durch eine schwere Verletzung des Kopfes oder durch
irgend eine andere Schädlichkeit exogenen oder endogenen Charakters,
also aus der Außenwelt oder aus Vorgängen im eigenen Organismus, durch
ingendwelche Krankheitsvorgänge eine Schwächung seines Geistes er-
fahren haben sollte. i
Jedenfalls aber müßte die Umgebung solcher Menschen, die besonders
gefährdet sind, völlig alkoholfrei leben; dazu gehören aber nicht nur die
nächsten Angehörigen, sondern auch diejenigen, deren Rat und Hilfe diese
Kranken aufzusuchen genötigt sind, in erster Linie also die Aerzte, die mit
dem persönlichen Beispiele der Enthaltsamkeit vom Genusse alkoholischer
Getränke vorangehen sollten: nicht weniger verpflichtet wären auch die
Richter, die täglich in die Lage kommen, über Mitmenschen Urteile zu
fällen, die entweder durch alkoholbedingte Keimverderbnis ihrer Erzeuger
cder dank der herrschenden Trinksitte zu Falle gekommen sind. Hier
handelt es sich aber um letzte Dinge, um die ernsten Fragen der Welt- und
Lebensauffassung, worüber ich an dieser Stelle mich nicht näher aus-
sprechen will.
Bedeufsame behördliche Maßnahmen
mit Bezug auf den Alkohol. (XXXIV.)
Zusammengestellt von Dr. J. Flaig').
1. Betr. Brennerei.
Ueber unbeschränkte Zulassung der Getreidebren-
nerei schreibt die „Tageszeitung für Brauerei“ Nr. 281 vom 29. No-
vember:
„Durch die ungünstige Witterung im Sommer und Herbst ist in er-
heblichen Teilen des Reiches die Getreideernte so verschlechtert wor-
den, daß größere Getreidemengen nicht mehr zur unmittelbaren mensch-
lichen Ernährung verwendbar sind. Es ist aus diesem Grunde, zumal
die Witterungsschäden in erster Linie diejenigen Gebiete betroffen haben,
2) Im übrigen siehe auch „Chronik“!
Flaig, Bedeutsame behördliche Maßnahmen mit Bezug auf den Alkohol. (XXXIV.) 21
in denen die Getreidebrennereien vorzugsweise liegen, und im Hinblick
auf die Notwendigkeit der Schlempeerzeugung Anlaß gegeben, die Ver-
arbeitung von Getreide auf Branntwein wieder unumschränkt zuzulassen.
Das Reichsministerium für Ernährung und Landwirt-
schaft hat bereits seit dem Frühiahr 1924 im allgemeinen allen Anträgen
auf Genehmigung des Getreidebrennens entsprochen, und hat bei den oben
geschilderten Verhältnissen nunmehr keinerlei Grund, auch einer allgemeinen
Freigabe des Getreidebrennens entgegenzutreten. Der Reichsfinanz-
minister hat daher durch Erlaß vom 12. Nov. 1924... die Zollbehörden
dahin verständigt, daß gegen eine Verarbeitung von Getreide auf Brannt-
wein vom Ernährungsstandpunkte nichts mehr eingewendet werden kann
und daher von den Zollbehörden allgemein diese Verwertung des Getreides
nur soweit nicht zugelassen werden darf, als ihr etwa die gesetzlichen
Bestimmungen über das Branntweinmonopol entgegenstehen.“ (Zu einer
ganzen Anzahl von Stellen dieser Auslassung drängen sich ganz erhebliche
Bedenken auf. D. Ber.)
Kürzung des Brennrechts. Laut Bekanntmachung der Reichs-
monopolverwaltung für Branntwein vom 17. November 1924 wird das
Brennrecht für das Betriebsiahr 1924/25 um 30 v. H. gekürzt. (,Brannt-
weinmonopol‘, 1924, Nr. 93.)
2. Betr. Ausschank und Vertrieb geistiger Getränke.
ZeitweisesSchnapsverbot. Die Polizeiverwaltung in Hers-
teld (Hessen-Nassau) hat eine Verordnung erlassen, die es Gastwirt-
schaften und allen mit Spirituosen Handelnden verbietet, am Frei-
tag und Sonnabend von mittags 12 Uhr ab Likör und Branınt-
wein in Flaschen oder zu sofortigem Verbrauch abzugeben. Auf die Ueber-
tretung dieses Verbots sind hohe Strafen gesetzt. (Nach: „Das Gasthaus‘
Nr. 79 vom 26. November.)
3. Sonstiges.
Betr. „Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs durch
nüchternheitsunterricht‘“ in der Provinz Pommern schreiben die
„Pommerschen Wohlfahrtsblätter“, 1924, Nr. 3:
„Das Landeswohlfahrtsamt hat vor kurzem die ersten Schritte getan,
um auch in unserer Provinz zu einer allgemeinen Einführung des „Nüch-
ternbeitsunterrichts‘“ zu gelangen. Es ist mit dem in Stettin bestehenden
Verein gegen den Alkoholismus?) und dem Zentralverband zur Bekämpfung
des Alkoholismus in Verbindung getreten, und hat angeregt, alle Vereine
der Provinz zu einem: Provinzialverband zur Bekämpfung des Alkohol-
mißbrauchs, wie ein solcher bereits früher bestand, zusammenzuschließen.
Durch dessen Vermittelung sollen geeignete Kräfte zur Erteilung des Unter-
richts gewonnen werden. Mit dem gleichen Ziele hat sich das Landes-
wohlfahrtsamt an die einzelnen Kreis- und Stadtwohlfahrtsämter der Pro-
vinz gewandt und diese gebeten, auch ihrerseits diese Angelegenheit nach
Kräften zu fördern und nach geeigneten Persönlichkeiten, in erster Linie
Aerzten und Lehrern, Umschau zu halten. Das Wohlfahrtsamt der Stadt
Stettin, die als Hafenstadt an diesen Bestrebungen besonders interessiert
ist, hat bereits seine tatkräftige Mitarbeit auf diesem Gebiete zugesagt.
Auch an die höheren Schulbehörden — Provinzialschulkollegium und Re-
gierungen — ist das Landeswohlfahrtsamt mit der Bitte um Unterstützung
dieses Planes, Genehmigung des Unterrichts und Aufklärung der Lehrer-
schaft über seine Bedeutung herangetreten. Die Regierung zu Köslin hat
dem Antrage bereits entsprochen.“
Rundschreiben des Regierungspräsiderten zu Han-
nover vom 25. November an die Landräte und die Magi-
) Bezirksverein des Deutschen Vereins g. d. Alk.
22 Abhandlungen.
strate von Hannover, Hameln, Nienburg, Pyrmont:
„Indem ich meine Verfügung vom 27. 10. 1922 — I. D. 3559 — ergebenst
in Erinnerung bringe, ersuche ich, die Alkoholgefahr nicht aus
dem Auge zulassen und alle Einrichtungen zu fördern,
die ihrer Bekämpfung dienen. Dazu gehört auch die Jugend-
pflege und das Turn-, Spiel-, Sport- und Wanderwesen. Dem Herrn Minister
für Volkswohlfahrt wäre sehr erwünscht, daß sich ferner alle beamteten
Aerzte — namentlich die Kommunalärzte — in den Dienst der Sache stellen
und die Betreuung von Trinkerfürsorgestellen usw. übernehmen
wollten. Ich ersuche, in diesem Sinne zu wirken und deswegen Fühlung
mit den Kreis- und Kommunalärzten zu nehmen.
Bis zum 15. Mai 1925 ersuche ich mir über das Veranlaßte, sowie über
den Stand der alkoholgegnerischen Bestrebungen zu berichten.“
Amtliche Warnung vor Methylalkohol. Der Landrat
zuOpladen sandte den Zeitungen seines Kreises unter dem 4. Dezember
folgende Mitteilung (für den Nachrichtenteil):
„Schon des öfteren ist auf die außerordentlich schädliche Wirkung hin-
gewiesen worden, die der Genuß von Methylalkohol nach sich zieht. Neben
Todesfällen treten häufig Erblindungen ein. Trotz aller Warnungen lassen
sich immer wieder Unverbesserliche dazu verleiten, Methylalkohol zu
trinken, so noch Anfang vorigen Monats zwei Arbeiter aus Schlebusch, die
mit dem Wegräumen von Glasballons auf der Karbonitfabrik beschäftigt
waren, und die es nicht unterlassen konnten, den Inhalt auf seine Trinkbar-
keit zu prüfen, obgleich ihnen ausdrücklich gesagt worden war, daß die
Flüssigkeiten nicht genießbar seien. Die traurige Folge war für den einen
ein qualvoller Tod nach einigen Tagen, während der andere mehrere
Wochen ins Krankenhaus mußte, wo sich noch nicht übersehen läßt, welche
dauernden Folgen für ihn eintreten.
Es kann daher nicht nachdrücklich genug vor dem Genuß von Methyl-
alkohol gewarnt werden.“
Einallgemeines VerbotderAnkündigungvon Trunk-
suchtsmitteln ist durch Verordnung der Reichsregierung vom 9. De-
zember 1924 über den Verkehr mit Arzneimitteln — in Kraft tretend 1. Januar
1925 — erlassen (Reichsgesetzblatt Nr. 74 vom 19. Dezember). Es wird
dadurch in die Verordnung betr. den Verkehr mit Arzneimitteln vom 22. Ok-
tober 1901 in Ergänzung der Liste der Geheimmittel, deren Ankündigung
oder Anpreisung untersagt ist, ein „Verzeichnis C“ eingefügt, in dem es u. a.
(Abteilung C, Ziffer 2) heißt:
„Mittel gegen Trunksucht (z.B. Mittel . des Alkolin-Instituts,
Mittel Burghardts — auch als Diskohol —, Mittel August Ernsts, Franks.
Theodor Heintz’, Konetzkys — auch als Kephalginpulver oder Mittel der
Privatanstalt Villa. Christina —, Mittel der Gesellschaft Sanitas, Joset
ae Wessels, Cozapulver, Trinkerhilfe Richard Oldenburgs Ka-
sankha).“
Die Ausführung dieser Verordnung ist, wie wir erfahren, Sache der-
Landesregierungen, von denen denn auch entsprechende Anordnungen teils
bereits erlassen, teils in allernächster Zeit zu erwarten sind.
(Damit ist endlich im wesentlichen eine seit mehr als einem Jahrzehnt von
allen Kreisen der Trinkerrettung und -fürsorge erhcebene Forderung erfüllt.
Während bisher nur eine Anzahl bestimmt benannte „Trunksuchtsmittel“ auf
der Geheimmittelliste standen, ist die jetzige Bestimmung offensichtlich grund-
sätzlich und allgemein gemeint, wobei die in Klammern mit Namen auf-
geführten „Mittel“ nur als Beispiele dienen.)
Reinhards, Gesetz zur Bekämpfung der Trunksucht in Lettland. 23
Geseß zur Bekämpfung der Trunksucht
in Lettland.
(Vom lettländischen Landtage am 9. Dezember 1924 angenommen.)
I.
„l. An Verkaufsstellen für alkoholische Getränke ist es verboten, mit
alkoholischen Getränken zu handeln und dieselben zu genießen von 10 Uhr
abends bis 9 Uhr morgens, jedoch an Sonntagen und anderen Feiertagen,
sowie auch an Tagen der Volksabstimmung, der Wahlen der Selbstverwal-
tungsorgane und an Tagen der Aushebung von Militärpflichtigen — den
ganzen Tag und an Sonnabenden wie auch an Vorabenden sonstiger Feier-
tage von 12 Uhr mittags an.
Ueber weitere Einschränkung des Handels mit alkoholischen Getränken
in der in diesem Paragraphen erlaubten Zeit beschließen die Stadt- und
Fleckenverordneten bzw. die Landgemeinderäte.
2. Den Fabriken und Anstalten zur Herstellung von alkoholischen Ge-
tränken, Lagerräumen, Handlungen und anderen Verkaufslokalen von alko-
holischen Getränken ist es verboten, für alkoholische Getränke nach außen Re-
klame zu machen, wie durch Affichen, Plakate, besondere Beleuchtungseffekte,
durch Auslage in Schaufenstern oder auf eine andere Art und Weise, mit
Ausnahme des Aushängeschildes mit der Bezeichnung des Geschäfts und
der Firma. Ebenso ist verboten, die Reklame irgend welcher alkoholischer
Getränke und der Geschäfte zum Vertriebe alkoholischer Getränke in Zeit-
schriften oder sonstigen Drucksachen und an öfftenlichen Orten, wie an
StraßBenbahnwagen, auf den Eisenbahnen, in Ausstellungen usw.
3. An Stellen des Verkaufs von alkoholischen Getränken zum Verbrauch
an Ort und Stelle sind verboten Tanz- und Varietevorstellungen und dergl.
Vergnügungen. An diesen Orten ist Musik nur mit Erlaubnis der örtlichen
Selbstverwaltung statthaft.
4. In Verkaufslokalen für alkoholische Getränke ist es verboten, Löh-
nung auszuzahlen oder Dienstverträge abzuschließen mit solchen Personen,
die in diesen Lokalen nicht angestellt sind.
5. Es ist verboten, alkoholische Getränke zu genießen in allen aus
Staats- oder Kommunalmitteln ausgerichteten Feierlichkeiten oder Gast-
mählern, wie auch in den Arbeitsräumen der Staats- und Kommunalinsti-
tutionen.
6. Es ist verboten, alkoholische Getränke zu genießen in allen Räumen
von Unterrichts- und -Erziehungsanstalten, in allen bei diesen Anstalten
bestehenden Organisationen, ihren Räumlichkeiten, wie auch in festlichen
Ausrichtungen dieser Anstalten und ihrer Organisationen.
7. Es ist verboten mit alkoholischen Getränken zu handeln und die-
selben zu genießen in Ausstellungen, auf Märkten, festlichen Ausrichtungen
verschiedener Organisationen, in Theatern, in Handlungen mit Lebens-
mitteln, auf Schiffen der Innengewässer, Küstenschiffen und Eisenbahn-
stationen.
II.
Im Strafgesetz werden folgende Veränderungen resp. Ergänzungen
festgesetzt.
§ 284. Wer am öffentlichen Ort augenfällig betrunken erscheint, wird
bestraft: mit Arrest nicht länger als 1 Monat oder mit einer Geldstrafe
nicht höher als 100 Lat (Frans).
8 285. Wer in der Stadt oder im Flecken öffentlich in Gesellschaft, sei
es auf der Straße, oder auf einem öffentlichen Platz, oder im Hofe, odeı
in der Durchfahrt, alkoholische Getränke genießt, wird bestraft mit Arrest,
nicht länger als 14 Tage, oder mit einer Geldstrafe, nicht höher als 50 Lat.
§ 286. Wer alkohlische Getränke genießt bei Gelegenheiten, an Orten.
oder zur Zeit, in denen es im Gesetz oder durch Verordnungen verboten
24 Abhandlungen.
ist, wird bestraft mit Arrest, nicht länger als einem Monat oder mit einer
Geldstrafe, nicht höher als 100 Lat.
§ 315. Wer
1. eine Schankstätte oder eine andere Verkaufsstelle alkoholischer Ge-
tränke zu unerlaubter Zeit offen hält;
2. an diesen Orten unerlaubte Vergnügungen gestattet;
3. in einer Schankstätte oder einer anderen Verkauisstelle alkoholischer
Getränke zur Bedienung eine Person anstellt, die nicht das im Gesetz oder
in den verbindlichen Verordnungen festgesetzte Alter erreicht hat, oder an
diesen Orten zum Genuß alkoholischer Getränke eine Person zugelassen
hat, die jünger ist als 16 Jahre, oder eine Person, die augenfällig betrunken
ist, oder eine augenfällig betrunkene Person auf die Straße gewiesen hat;
4. nicht erfüllt die im Gesetz oder in den Verordnungen vorgesehenen
Bedingungen über das Halten von Verkaufsstätten alkoholischer Getränke
und über den Handel mit ihnen;
5. berufsmäßig seine Wohnung oder ein anderes Lokal zum Genießen
andererorts gekaufter alkoholischer Getränke freigibt;
6. in einer Schankstätte Speisen und Getränke teurer verkauft oder
Zimmer teurer vermietet, als sie im Preiscourant angegeben sind;
wird bestraft:
mit Arrest nicht länger als 3 Monate oder mit einer Geldstrafe, nicht höher
als 500 Lat.
§ 316. Wer mit alkoholischen Getränken gehandelt hat:
1. an einem Ort, wo der Handel mit alkoholischen Getränken ver-
boten ist;
2. ohne die Berechtigung zum Handel mit alkoholischen Getränken
überhaupt zu haben oder an besagtem Ort;
3. in einer Schankstätte, zu deren Eröffnung er nicht die erforderliche
Erlaubnis erhalten hat, oder deren innere En nicht den im Gesetz
vorgesehenen Anforderungen entspricht;
wird bestraft:
mit Arrest oder mit einer Geldstrafe, nicht höher als 1000 Lat. Außerdem
ist gen Schuldigen die Erlaubnis zum Verkauf alkoholischer Getränke zu
entziehen.
$ 317. Der Halter einer Verkaufsstelle alkoholischer Getränke oder
derjenige, der in derselben Handel treibt, welcher
1. alkoholische Getränke gegen Pfand, auf Rechnung der künftigen
Ernte oder überhaupt auf Schuld verkauft hat;
2. alkoholische Getränke gegen ein Wertobjekt eingewechselt hat;
3. gezahlt hat an Geldesstatt mit alkoholischen Getränken für Ver-
pflichtungen oder für geleistete Arbeit
wird bestraft:
mit Arrest oder mit einer Geldstrafe nicht höher als 1000 Lat, oder mit
beiden Strafen zusammen.
Außerdem wird dem Schuldigen die Erlaubnis zum Verkauf alkoholische!
Getränke entzogen.
Die für die Getränke empfangenen Schuldscheine sind für nichtig zu
erklären, die in Pfand oder im Austausch genommenen Wertobjekte werden
ohne Vergütung beschlagnahmt oder den Familienmitgliedern des Besitzers
zurückgegeben.
Die Bestimmungen des ersten Punktes des ersten Teiles dieses Para-
graphen, wie auch diejenigen des dritten Teiles, beziehen sich nicht auf
Schuldverpflichtungen für die von Fabriken und Großniederlagen verkauften
alkoholischen Getränke.
§ 2851. Wer auf dem Reklamewege alkoholische Getränke, deren Fa-
briken oder andere Herstellungsstätten, Niederlagen, Handlungen oder andere
Verkaufsstätten in vom Gesetz verbotener Weise anpreist, wird bestraft: mit
Arrest oder einer Geldstrafe, nicht höher als 1000 Lat oder mit beiden
Strafen zusammen.
u
Reinhards, Gesetz zur Bekämpfung der Trunksucht in Lettland. 25
$ 2861. Wer eine Löhnung auszahlt oder einen Dienstvertrag ab-
schließt in einer Verkaufsstelle alkoholischer Getränke, mit Angestellten
»der Arbeitern, die nicht in dieser Stätte angestellt sind, wird bestraft
nit einer Geldstrafe, nicht höher als 500 Lat.
§ 3161. Wer im Geheimen alkoholische Getränke herstellt. oder solche
eimlich hergestellten Getränke aufbewahrt oder mit solchen handelt oder
die entsprechende Maische bereitet hat, oder eine Vorrichtung zur Her-
-tellung solcher Getränke einrichtet, wird mit Zuchthaus bestraft; außer-
sem wird dem Schuldigen eine Strafzahlung auferlegt, nicht höher als
00 Lat. Die Getränke, Apparate und die verfertigte Maische werden
"eschlagnahmt.
III.
$ 1. Selbstverwaltungsorganen, die systematisch eine Bekämpfung der
Trunksucht ausführen, sind zu solchen Zwecken budgetmäßig Unterstüt-
zıngen zu gewähren. Die Abrechnungen über die Verwendung dieser
Summen sind dem Innenministerium einzureichen.
$ 2. Unabhängig von der Aufsicht der Polizeibehörden über die Be-
tulgung der Bestimmungen dieses Gesetzes können die Stadt- und Flecken-
verordneten und Landgemeinderäte besondere Kuratoren erwählen, denen,
ebenso wie den Polizeiorganen, das Recht zusteht die Bestrafung der
Schuldigen zu beantragen.
3. Genannte Unterstützungssummen werden aus einem besonderen
Fonds zur Bekämpfung der Tıunksucht gewährt, der sich zusammensetzt:
as % von den Strafgeldern und Strafzahlungen für die im Strafgesetz
SS 284-286 I, 315—317 vorgesehenen strafbaren Handlungen und — be-
zinnend mit dem Budgetjahre 1925/26 —, aus % % der Einnahmen des
Saatsmonopols für Branntwein. Den Fonds verwaltet das Innenministerium
im Einvernehmen mit dem Unterrichtsministerium.
84. Die Selbstverwaltungsorgane können die im ersten Paragraphen
benannten Summen verwenden:
Zur Veranstaltung antialkoholischer Ausstellungen und Verlosungen, zur
rrrichtung und Unterhaltung von Asylen für Alkoholiker, Volkshäusern,
Teehäusern, Bibliotheken und Lesehallen, zur Unterstützung von Orchestern
cnd Sängerchören und ähnlichen Zwecken, mit der Bedingung, daß in allen
diesen Unternehmungen und Ausrichtungen keine alkoholischen Getränke
senossen werden dürfen.
Diejenige Selbstverwaltung, deren von ihr unterstützte Anstalten und
Unternehmungen eine Uebertretung der Bestimmungen dieses Paragraphen
zugelassen haben, verliert für die ganze Zeit ihrer Vollmacht das Recht, die
lerwähnten Summen zu erhalten.
85. In den Grenzen dieses Gesetzes gelten als alkoholische Getränke
nausehenden und starken Getränke, welche mehr als 1% % Alkohol
en n.
Das Gesetz tritt 3 Monate nach seiner Veröffentlichung in Kraft.“
gez. Jahni Tschakste, Staatspräsident.
k *
*
i aem ist von der Saeima folgende Uebergangsformel angenommen
orden:
„Die Saeima bestimmt — beginnend mit dem Budgetjahre 1925/26 ist
de Herstellung von Branntwein für den inländischen Gebrauch allmählich
einzuschränken durch Uebernahme der Verteilung von Branntwein und
itus in die Hand des Staates und durch Ausführung derselben seitens
winteressierter Beamter.“ —
Gleichzeitig’ mit diesem Gesetz sind außerdem Veränderungen im
isegesetz vorgenommen worden, die den Selbstverwaltungsorganen
begrenztes Vetorecht bei Eröffnung von Verkaufsstellen alkoholischer
Getränke einräumen. So lautet $ 210 des Akzisegesetzes jetzt folgender-
26 Abhandlungen.
maßen: Das Departement für indirekte Steuern erteilt mit „Zustim-
mung“ (früher „mit Wissen“) der betreffenden Selbstverwaltung und nach
Benachrichtigung der örtlichen Polizei die Erlaubnis zur Eröffnung folgender
Verkaufsstätten alkoholischer Getränke:
1. Großniederlagen für Wein, Branntwein und Bier.
2. Handlungen für Wein und andere alkoholische Getränke zum Fort-
bringen, sowohl in den Städten, als auch auf dem Lande.
3. Schankstätten mit dem Rechte des Verkaufes alkoholischer Getränke.
4. Büfetts in Klublokalen und Vereinen.
5. Auf Schiffen des Fernverkehrs.
8 227. Es ist verboten, Verkaufsstellen alkoholischer Getränke zu er-
öffnen in den Städten und Flecken näher als 100 Meter, aber auf dem Lande
näher als 1 Kilometer von Lokalen der Stadt-, Flecken- und Landgemeinde-
verwaltungen, Gerichtshäusern, Schulen, Gefängnissen, Kasernen, Industrie-
unternehmungen, in denen nicht weniger als 50 Angestellte beschäftigt sind.
Krankenhäusern, Kirchhöfen, Kirchen und Bethäusern, in denen Gottesdienst
verrichtet wird.
§ 231 bestimmt, daß als Verkäufer, als deren Gehilfen, oder auch als
Bedienende in Geschäften, die mit alkoholischen Getränken im kleinen
handeln, Personen nicht fungieren dürfen, die jünger sind als 21 Jahre.
* a *
Teil I und HI des Gesetzes sind für Lettland ganz neu. Im 2. Teil, der
von den Strafbestimmungen spricht, sind teils ältere Bestimmungen etwas
verschärft, oder neue eingefügt ($ 2851, 286I und 3161). Polizeistunde,
Schluß der Alkoholverkaufsstellen an Feiertagen und zu einigen besonderen
Gelegenheiten ist aus dem ersten Paragraphen zu ersehen. In demselben
ist eine besondere Art von Gemeindebestimmungsrecht festgelegt. Gewöhn-
lich wird ja die Abstimmung von allen wahlfähigen Gemeindegliedern vorge-
nommen; in Lettland ist diese Funktion den auf 3 Jahre gewählten Gemeinde-
vertretern anheimgestellt.e. Dieselben haben auch das Recht, die Kontrolle
in den Grenzen ihrer Gemeinde über die Befolgung des Gesetzes durclı
besonders gewählte Kuratoren auszuüben, und die Gemeindevertretungen
können auch Staatsmittel zur Bekämpfung der Trunksucht auf dem Budget-
wege bekommen. Ausgehend von dem Gedanken, daß die Trinksitte durch
aufdringliche Reklame besonders gefördert wird, ist letztere in jeglicher
Form untersagt. Desgleichen ist der Versuch gemacht worden, die An-
stoß erregende Vereinigung von Öffentlich gepflegtem Bacchus- und Venus-
dienst einzuschränken ($ 3).
Der Gesetzgeber hat besonderes Gewicht darauf gelegt, einen erziehe-
rischen Einfluß auf das Volk auszuüben. Es ist zu diesem Zwecke in Lett-
land schon zu Ende des Jahres 1923 ein Gesetz herausgegeben worden, das
im Herbst 1924 in Kraft trat; nämlich: daß in allen Schulen ein obligato-
rischer Unterricht in der Hygiene stattzufinden habe, „mitbesonderer
Betonung der Schädlichkeit des Alkoholgenusses“ Im
Zusammenhange damit ist auch im Gesetz zur Bekämpfung der Trunk-
sucht $ 6 eingefügt, der den Genuß alkoholischer Getränke in allen
Räumen von Unterrichts- und Erziehungsanstalten verbietet. Dieses Verbot
trifft auch alle Lehrer-, Schüler- und Studentenorganisationen. Die letzteren
werden gezwungen sein, ihre althergebrachten Burschensitten, die sie zum
größten Teil von der deutschen Studentenschaft übernommen hatten, einer
gründlichen Revision zu unterziehen. Dieser Passus der Gesetze ist deshalb
auch stark beanstandet worden und hat lebhafte Debatten erregt, und man
meint, die Studenten würden aus ihren studentischen Versammlungslokalen
in die öffentlichen Kneipen getrieben werden. Die Mehrzahl der Saeima-
mitglieder war jedoch der Ueberzeugung, daß das nicht zu befürchten
sei, denn man muß nicht vergessen, daß gewiß auch andrerorts, aber
ganz bestimmt in Lettland, dank örtlicher gesellschaftlicher Verhältnisse
die Studentenschaft die besten Elemente unseres Volkes repräsentiert. Der
Salomon, Die soziale Wirkung des amerikanischen Alkoholverbots. 27
rotorische Trinker und Faulpelz wird natürlich Trinkgelegenheiten auf-
suchen, solcher gibt es aber nicht viele! Wir sind überzeugt, daß eine
Umstimmung nach Art der finnischen und englischen Studentenschaft un-
ausbleiblich eintreten wird, und die überschäumende Jugendkraft in Sport,
Wanderungen, Reisen, in sozialer Betätigung, Teilnahme an Diskussionen
über Kunst und Wissenschaft usw. Befriedigung und Auswirkung finden
wird.
Die Anschauung im Volke über die Sitte und die Mode, daß zu jedem
Fest Alkohol gehört, soll durch $ 5 erschüttert werden. Man kann auch
chne Alkohol Feste feiern und sehr fröhlich sein!
Eingreifend für unsere Verhältnisse ist das Verbot vom Verkauf und
Genuß alkoholischer Getränke auf Märkten, Ausstellungen, festlichen
Veranstaltungen verschiedener Organisationen, in Theatern, Handlungen `
mit Lebensmiteln und auf Eisenbahnstationen. Der Gesetzgeber wollte, daß
der Alkohol sich nicht dort breit mache, wo größere Volksmassen zu-
sammenkommen.
In Lettland hat cer Staat das Monopol für Spiritus und Branntwein:
aus dessen Verkauf bezieht er bis jetzt den 7. bis 6. Teil seiner jährlichen
badgetmäßigen Einnahmen!) und ist deshalb an der Verbreitung und
am Verkauf des Alkohols interessiert. Durch das Gesetz zur Bce-
kämpfung der Trunksucht hat aber der lettische Staat den Genuß, die
Verbreitung des Alkohols und die Reklame für ihn als nicht „fair“ hingestellt.
— Wir sind überzeugt, daß durch dieses Gesetz in den breiten Massen des
Volkes ein erzieherischer Einfluß nicht ausbleiben, die Produktionsfähigkeit
Lettlands gehoben werden und das durch verminderte Alkoholsteuern ver-
irsachte Manko im Budget vielfach durch die nicht vom Alkohol gelähmte
Energie des Volkskörpers eingebracht werden wird.
Dr. G.Reinhards, Abgeordneter der lettländischen Saecima.
Die soziale Wirkung des amerikanischen
Alkoholverbots?).
Von Dr. Alice Salomon, Berlin.
In Deutschland sind so viele widersprechende Meinungen über die Wir-
kung des amerikanischen Alkoholverbots verbreitet, daß es zweckmäßig
erscheint, einmal persönliche Eindrücke, begrenzte Erfahrungen beiseite zu
lassen und zu versuchen, die soziale Wirkung des Verbots an zahlen-
mäßigem, authentischem Material festzustellen.
Dabei muß noch einmal und immer von neuem dem Gedanken entgegen-
getreten werden, daß es sich bei dem Verbot um eine Ueberrumpelung der
Bevölkerung, um ein Gesetz gegen den Willen der Mehrheit der Union
handelt. Es muß auch immer wieder gesagt werden, daß selbst die leiden-
schaftlichsten Alkoholgegner in Deutschland gar nicht daran denken, etwas
gleiches mit einem Schlag herbeiführen zu wollen. In Amerika ist dem
ationalen Verbot eine Aufklärungs- und Erziehungsarbeit von nahezu 100
Jahren vorangegangen. Ein Staat nach dem andern führte dann Beschrän-
kungen ein, erließ das Gemeindebestimmungsrecht oder ein staätliches Ver-
bot. Ehe die nationale Gesetzgebung in Bewegung gesetzt wurde, hatten
) Das sind etwa 25 bis 30 Millionen Lat. Die Einnahmen des lettländischen Staates be-
trugen in den letzten 3 Jahren durchschnittlich 150 bis 190 Millionen Lat jährlich.
‘) Wir halten diesen im „Reichsarbeitsblatt“ (Nr. 26 v. 24. Nov. 1924) erschienenen Aufsatz
a mehrfacher Hinsicht für so bedeutsam, daß wir ihn in der „Alkoholfrage‘‘ wiederzugeben
Der Abdruck erfolgt mit Erlaubnis der Verfasserin und des ‚‚Reichsarbeitsblattes‘.
Schriftl. d. „Alkoholfrage‘‘.
28 Abhandlungen.
bereits drei Viertel aller Staaten die gewerbsmäßige Herstellung und den
gewerbsmäßigen Vertrieb von alkoholischen Getränken verboten. Erst als
die verschiedenartige Handhabung der Sache in den einzelnen Staaten die
Wirkung der Maßnahmen abschwächte und in den einzelnen Fällen illu-
sorisch machte, drängte man nach einer nationalen Regelung.
Diese ist mit einer überwältigenden Mehrheit durch die Parlamente
herbeigeführt worden. Da eine Verfassungsänderung für ein das ganze
Gebiet der Vereinigten Staaten betreffendes Gesetz nötig ist, mußte sowohl
Senat wie Repräsentantenhaus dafür stimmen und drei Viertel aller Staaten
mußten deren Beschluß im Laufe von sieben Jahren ratifizieren. Tatsächlich
war das Stimmenverhältnis im Senat 65 für das Gesetz und 20 dagegen; im
Repräsentantenhaus 282 dafür und 128 dagegen. Die Ratifizierung der
"Staaten, die auch wieder in jedem einzelnen Staat nur durch Mehrheit beider
Häuser erfolgen kann, war in den notwendigen 36 Staaten bereits 13 Monate
nach der Abstimmung in Washington vollzogen. Im Laufe von 6 weiteren
Wochen hatten 45 unter den 48 Staaten der Union ihre Zustimmung erklärt.
Es ist erstaunlich, daß in Deutschland selbst ansehnliche wissenschaft-
liche Zeitschriften immer wieder Nachrichten bringen, wonach heute in den
Vereinigten Staaten mehr getrunken werden soll als je zuvor, und wonach
die Zahl der Erkrankungen, der Todesfälle und der Kriminalität, die auf
Trunksucht zurückzuführen sind, erheblich zunehmen. Erst vor wenigen
Monaten brachte eine medizinische Zeitschrift eine Zuschrift aus St. Louis,
in der solche und ähnliche Bekauptungen auf Grund persönlicher Eindrücke
und Erfahrungen ausgesprochen waren. Es sollen deshalb an dieser Stellt
einige Zahlen zusammengestellt werden, die für sich sprechen.
Die Stadt New York, die einmal infolge der Anhäufung von Millioneü
Menschen, daun aber auch als größte Hafenstadt der Welt und schließlich
als Zentrum der Einwanderer, die aus allen Ländern hier zusammenströmen,
immer besonders gefährdet war, bildet naturgemäß auch heute noch die
Stätte, in der die Uebertretung des Alkoholverbots am wahrscheinlichsten
die Durchführung des Gesetzes am schwierigsten ist. Immerhin sind Be-
strafungen auf Grund von Trunksucht von 16 355 im Jahre 1916 auf 8101 im
Jahre 1923 zurückgegangen. Dazwischen liegt eine Periode, in der die Be-
strafungen bis auf 5210 gesunken waren, nämlich im Jahre 1919, in dem
zuerst mit Rücksicht auf den Krieg das Alkoholverbot in Kraft trat, in dem
anscheinend der Schmuggel noch nicht organisiert war. Allmählich stiegen
dann die Bestrafungen bis auf 8765 an (im Jahre 1922), scheinen aber
damit den Höhepunkt erreicht zu haben und nun wieder die Kurve ab-
wärts zu senken. Diese Zahlen sind den Veröffentlichungen der Gerichte
entnommen. Im Zusammenhang damit verdienen auch die Bestrafungen
auf Grund von Prostitution in Groß-New-York Beachtung, die von 1913
mit 2658 Fällen bis 1923 auf 1486 Fälle zurückgegangen sind. Der tiefste
Stand wurde wieder 1920 mit 996 erreicht.
Ueber die Sterblichkeit auf Grund der Trunksucht liegen Zahlen von
dem Gesundheitsamt des Staates und der Stadt New York vor. Danach
starben im Jahre 1910 infolge von Alkoholismus 621 Personen, im Jahre
1923 waren es 346. An der Bevölkerung beider Jahre gemessen, handelt
es sich um 13 bzw. 6 auf je 100000 Einwohner. Auch hier lag der Tief-
punkt im Jahre 1920 und 1921 mit 1 bzw. 2 auf 100000 der Bevölkerung.
Im Bellevue-Hospital, einem der größten Krankenhäuser, ist nach den
Jahresberichten in der Zeit von 1910 bis 1916, also vor dem Inkrafttreten
des Verbots, die Zahl der an Alkohol-Psychose Behandelten durchschnitt-
lich jährlich 4, die der auf solche Krankheiten zurückgeführten Todesfälle
durchschnittlich im Jahre auf 2 beziffert, während nach dem Inkrafttreten
der Prohibition (1920—1923) ein außerordentliches Anschwellen dieser
Erkrankungen und Todesfälle, nämlich auf 173 bzw. 10 im Jahresdurch-
schnitt zu verzeichnen waren. Dagegen gingen im gleichen Abschnitt die
Fälle von akuter und chronischer Erkrankung durch Alkoholismus von
7589 im Jahresdurchsetmitt auf 3683 im Jahresdurchschnitt zurück, die
Salomon, Die soziale Wirkung des amerikanischen Alkoholverbots. 29
der Todesfälle von 251 auf 30. Die Erkrankungen an Syphilis vermin-
derten sich von einem Durchschnitt von 865 in der Periode von 1910
bis 1916 auf 527 in der Verbotsperiode 1920—1923; die Todesfälle von
durchschnittlich 45 bis auf durchschnittlich 35. |
Der Bericht eines christlichen Trinkerheims in der Stadt New York
gibt an, daß vor dem Alkoholverbot die Aufnahme in das Heim immer
erst nach langen und ausgedehnten Exzessen erfolgte. Jetzt erfolgt die
Aufnahme in der Regel. ehe eine Erkrankung monatelang anhält. Der
«eschmuggelte Schnaps ist oft so schlecht, daß die Leute schon nach
dem Genuß weniger Gläser so heftig erkranken, daß sie in ein Heim
‚ur Behandlung aufgenommen werden müssen. Falls also ein Trinkerheim
eine größere Zahl von Aufnahmen zu verzeichnen hätte, würde das nicht
chae weiteres bedeuten, daB es mehr Trinker oder mehr Trunksucht als
irüher gibt. Denn früher mußte man sich auf eine geringere Zahl von
Fällen beschränken, bei denen eine monatelange oder jahrelange Behand-
ng nötig war. Heute kommt es vor, daß dieselben Personen mehrmals
während eines Jahres aufgenommen werden, aber nach kurzer Zeit wieder
entlassen werden können. In dem genannten Heim ist trotzdem die Zahl
der Aufnahmen von 444 im Jahre 1910 auf 291 im Jahre 1923 zurück-
gegangen. Auch hier lag der Tiefpunkt im Jahre 1920 mit 181 Aufnahmen,
dann stieg die Kurve wieder an, scheint aber 1922 bereits den Höhepunkt
reicht zu haben. Im Jahresdurchschnitt der sechs Jahre vor dem Verbot
surden 420 Personen aufgenommen, im Durchschnitt der Jahre 1920—1923,
so nach dem Verbot, 254.
Das städtische Nachtasyl in New York hat gleichfalls seit dem Verbot
ıinen erheblichen Rückgang des Besuches zu verzeichnen. Von einem
täglichen Durchschnitt von 318 im Jahre 1910 ist der tägliche Durchschnitt
m Jahre 1923 auf 203 zurückgegangen. Von 1910—1915 schwoll der
Strom noch weiter bis auf einen täglichen Durchschnitt von über 900 an,
bis dann mit dem Krieg eine rückläufige Bewegung eintrat, als die Männer
durch das Heer aufgesogen wurden. Der Tiefpunkt lag nach dem Inkraft-
ıreten der Prohibition 1920 mit 70 täglichen Aufnahmen, der neue Anstieg
zmg bis 1922, dem wieder der Rückgang des Jahres 1923 folgte. Nach
den Jahresberichten des Wohlfahrtsamtes der Stadt New York ist der
Leiter der Anstalt der Ansicht, daß viele Männer, die früher immer wieder
das Asyl besuchten. weil sie ihre Einnahmen vertranken, sich jetzt nie-
mals mehr blicken lassen, weil sie eine eigene Wohnung bezahlen können.
Viele von ihnen sollen gut gekleidet sein und Bankguthaben besitzen. !u
müberer Zeit kam es oft vor, daß das Asyl nicht annähernd ausreichte
und die Docks als Nachtlager verwendet werden mußten. Jetzt sind
mehrere Stockwerke des Hauses häufig ganz unbesetzt.
Die Auffassung, daß die Trunksucht für den Zusammenbruch des
Familienlebens verantwortlich ist und in vielen Fällen Hilflosigkeit der
der verursacht, wird durch den Jahresbericht eines Heims für hilflose
ind verwahrloste Kinder bestätigt. Das Heim für Kinder von 6—12 Jahren
nahm in der Zeit von 1910—1916, also vor dem Alkoholverbot, im Jahres-
ar 178 Kinder auf, in der Zeit von 1920—1923 im Jahresdurch-
, | u
Von ganz besonderer Ueberzeugungkraft ist das Ergebnis einer Unter-
suchung, die von dem Forschungsinstitut der Weltliga gegen den Alkoholis-
mas in New York unternommen worden ist. Danach bestanden im Jahre
1896 in Manhatten, d. h. also dem wesentlichen Teil der Stadt New York.
m dem sich alles Geschäfts- und Vergnügungsleben abspielt, 7500 Kon-
zessionen für Schankstätten, Verkaufsstellen für Spirituosen und Droge-
en, in denen gleichfalls Spirituosen verkauft wurden. Im Jahre 1916,
nachdem bereits ziemlich starke Beschränkungen des Staates New York
eingeführt waren, war die Zahl auf 5093 heruntergegangen. Mit dem
Inkrafttreten des Verfassungsgesetzes am 1. Januar 1920 waren die Kon-
“essionen erloschen, und es ist nur der Ausschank und Verkauf von Ge-
30 l Abhandlungen.
tränken gestattet, die nicht mehr als % v. H. Alkohol enthalten. Während
1896, als der Handel mit Spirituosen noch vollkommen frei war, eine
Kneipe auf je 202 Einwohner entfiel, betrug die Zahl im Jahre 1916, als
zahlreiche Beschränkungen durchgeführt waren, nur noch eine Kneipe aui
729 Einwohner. Im Jahre 1924 hatte sich das Verhältnis bis auf 2715 Ein-
wohner für eine Kneipe verschoben. Im Jahre 1924, nachdem das Verbots-
gesetz fünf Jahre durchgeführt war, unternahm es das genannte For-
schungsinstitut, 3000 Stellen aufzusuchen, die im Jahre 1916 im Besitz einer
Konzession waren, um festzustellen, ob die Schankstätten tatsächlich ver-
schwunden waren oder sich umgestellt hatten nder dem Schleichhandel
obliegen. Von den 2834 früheren Konzessionen, deren Geschäftslokale
aufgesucht wurden, bezogen 2263 sich auf Schankstätten, 391 auf den
Schnapshandel, 180 auf Drogerien. Von den Schankstätten sind 461 augen-
scheinlich noch in Betrieb und verkaufen Getränke, die angeblich weniger als
% v. H. Alkohol enthalten. Die sämtlichen Geschäfte, die 1916 mit Spiri-
tuosen handelten (Flaschenhandel), 391 an der Zahl, sind verschwunden.
Es sind auch nicht, wie man annehmen könnte, an ihre Stelle Malz- und
Hopfengeschäfte getreten. Nur 37 solcher Firmen sind entstanden. Von
den 180 Drogerien, die im Jahre 1916 Alkohol verkaufen durften, bestehen
noch 145; die anderen haben sich anscheinend ohne Alkoholverkauf nicht
halten können.
Im Jahre 1911 waren im Staate New York einschließlich der Stadt
New York fast 24000 konzessionierte Kneipen vorhanden, im Jahre 19?0
8000, heute keine einzige.
Eine sehr interessante Veröffentlichung stellt die Veränderung dar,
die einige der wichtigsten Straßen- und Stadtteile von New York durch
das Alkoholverbot erfahren haben. Nämlich „Broadway“, veröffentlicht
von der „World League against Alcoholism, Washington D. C.” und ein
anderes Heft „the Bowery“ aus dem gleichen Verlage. In „Broadway“
wird dargestellt, wie in dieser größten Verkehrs- und Geschäftsstraße der
Welt, die früher voller Trinkstuben, Kneipen, Hotels und Vergnügungs-
stätten war, die Umstellung durch das Alkoholverbot vor sich ging. Von
146 Kneipen, die im Jahre 1918 in dieser Straße bestanden, sind 89 v. H.
verschwunden. Der größte Bezirk des Bankwesens enthält heute keine
einzige Trinkstätte mehr. In dem Teil der Straße, der den Mittelpunkt des
übrigen Geschäftslebens bildet, namentlich auch das Konfektionsviertel be-
herbergt, sind von 27 Kneipen 26 verschwunden, im Theaterbezirk sind
alle 29 Schankstätten eingegangen, und in den Wohnbezirken ist auch nur
eine verschwindende Zahl übrig gcblieben. Auch diese verkauft angeblich
und jedenfalls öffentlich nur Getränke, die unter % v. H. Alkohol enthalten,
also zugelassen sind. Dabei muß man in Betracht ziehen, daß New York
von altersher. seit seiner Gründung, ein Mittelpunkt des Alkoholhandels
wie auch ausschweifender Trinksitten gewesen ist. Aus der „New Yorker
Zeitung“ des Jahres 1769 ist eine Anzeige überliefert, in der ein Hausdiener
gesucht wurde: „der nicht mehr als zwölfmal im Jahr sich betrinkt“. Und
zu jenen Zeiten galt der Spruch: „Der ist nicht betrunken. der vom Fuß-
boden wieder aufstehen und weitertrinken kann. Betrunken ist nur, wer
hilflos liegen bleibt, ohne Kraft aufzustehen und weiter zu trinken.“ Kneipen
und politische Korruption schienen ein Jahrhundert lang unlösbar mit-
einander verbunden. Heute verkehren in jener Hochburg zusammengeballten
Lebens täglich Hunderttausende, verrichten ihre Geschäfte, ohne daß auch
nur irgendeine Stätte, die einer Bar ähnlich sieht, weit und breit zu finden
ist. Um die Mittagsstunde entleeren jene Riesenhäuser aus Stahl und Stein
die Heere der Arbeiter und Angestellten, und die Speisestuben nehmen sie
auf und geben ihnen bessere Nahrung, als in früheren Zeiten verlangt oder
bezahlt wurde.
Die Umstellung des wirtschaftlichen Lebens hat erstaunliche Ergebnisse
erzeugt. Zunächst sind Geschäftslokale frei geworden. Die Geschäfte
mußten ein besseres Aussehen, eine gediegenere Ausstattung erlangen. In-
Salomon, Die soziale Wirkung des amerikanischen Alkoholverbots, 3l
iolgedessen hat die Bautätigkeit sich sehr erhöht. Mit der Steigerung der
Bautätigkeit ist der Wert des Bodens und vor allem der Gebäude um ein
mehrfaches gestiegen. Die Zahl der Nahrungsmittelgeschäfte, der Geschäfte
tür Kleidung nimmt ständig zu. Während vor dem Alkoholverbot 5200
Restaurants in der Stadt New York bestanden, war die Zahl auf 12000 im
Jahre 1921 gestiegen.
Ebenso augenfällig ist die Umstellung in dem Bezirk nahe am Hafen, wo
Italiener, russische Juden und Chinesen dicht beieinander wohnen, in dem
die Einwanderer ihre erste Zuflucht finden, in der „Bowery“. Dort erwies
sich der Handel mit Spirituosen als das Ferment, das alles zusammenhäufte,
was elend, gemein, verkommen war. Und dort hat die Aufhebung der
Kneipen auch das Laster und die Verkommenheit: vertrieben, verscheucht,
ihnen das Wasser abgegraben. Fast jeder Laden, fast jedes Erdgeschoß
war Schankstätte.. An Stelle der 97 Kneipen im Jahre 1886 waren 1923
nur noch 6 vorhanden. Heute sind dort, wo früher die Betrunkenen in der
Gosse lagen, die Preise für Schlafstellen mehrere v. H. in die Höhe ge-
zangen. Aber die Leute sind bereit zu zahlen, weil sie bessere Unterkunft
verlangen. Unzählige verwahrloste Häuser sind abgerissen und neue,
bessere an ihre Stelle gesetzt. 29 Häuser, in denen früher Kneipen unter-
gebracht waren, haben nach der Steuereinschätzung ihren Wert seit 1916
um 232000 Dollar erhöht, während 6 Häuser, in denen sich noc# Kneipen
befinden, an Steuerwert eingebüßt haben.
Die Zahlen für New York sollen noch durch einige Zahlen ergänzt
werden, die sich auf 100 amerikanische Städte mit einer Einwohnerschaft
von 5000 bis 5 Millionen beziehen (zusammen mit etwa 20 Millionen Ein-
wohnern), und die über das ganze Gebiet der Vereinigten Staaten verteilt
sind. Auch hier werden wieder Zahlen angeführt, die sich einmal auf eine
dreijährige Periode vor dem Alkoholverbot, nämlich 1914 bifl 1916 beziehen,
und eine andere dreijährige Periode, nach dem Inkrafttreten des Verbots,
1920 bis 1922. Arreststrafen für Betrunkenheit wurden in den ersten drei
Jahren durchschnittlich im Jahre 17,5 auf das Tausend der Bevölkerung ver-
hängt. in der Verbotsperiode 9,5 auf das Tausend.
Zu beachten ist allerdings, daß Arreststrafen überhaupt, d. h. für die
verschiedensten Uebertretungen, nur unwesentlich zurückgegangen sind,
nämlich von 54,2 auf 52,8 pro Tausend. Aber in der ersten Periode betrugen
die Strafen auf Grund von Trunksucht 32 v. H. der gesamten Strafen, in
der letzten Periode nur 18,8 v. H. Die größte Verminderung der Strafen
für Trunkenheit im Vergleich zu den gesamten verhängten Strafen findet
sich in den Städten mit einer Bevölkerung zwischen .500 000 und 1 Million
Einwohner, in denen der Prozentsatz dieser Strafen um 21 v. H. zurück-
gegangen ist. In den kleineren Städten, in denen wohl mehr Alkohol für
den eigenen Bedarf hergestellt wird, was bekanntermaßen nicht verboten
ist, betrug der Rückgang nur 10 v. H. In den Städten mit über 1 Million
hält der Rückgang sich ungefähr auf derselben Höhe wie in den kleinen
Städten, anscheinend weil hier der Schmuggel besser organisiert ist.
Zu ganz besonderen krassen Trugschlüssen kommt man, wenn man die
Strafen wegen Vergehen gegen die öffentliche Gesundheit als Ganzes be-
trachtet und daraus Schlüsse über die Umgehung des Alkoholverbots zieht.
Teilt man dagegen die Vergehen gegen die öffentliche Gesundheit auf ver-
Schiedene Gesichtspunkte ein, nämlich einmal Vergehen in bezug auf das
Verkehrswesen, wobei die gesamten Uebertretungen der Verkehrsbestim-
mungen durch Automobile zu verstehen sind, so ergibt sich, daß hier eine
ganz außerordentliche Zunahme vorhanden ist. Bestrafungen auf das Tau-
send der Bevölkerung erfolgten aus diesem Grunde im Jahre 1916 in New
York 7,8, in den Jahren 1920 bis 1922 durchschnittlich 17,7. Dagegen sind
die Bestrafungen für Vergehen gegen die Person, gegen die Familie und die
Bestrafung von Jugendlichen zurückgegangen. Letztere von 1,5 auf das
Tausend der Bevölkerung auf 1,0.
32 Abhandlungen.
Sicherlich kann heute noch kein abschließBendes Urteil darüber aus-
gesprochen werden, ob ein rigoroses Verbot wie das amerikanische auf dic
Dauer von einem Volk ertragen werden kann. Aber über die wohltätige
soziale Wirkung des amerikanischen Verbots kann bereits kein Ziweifel
mehr bestehen. Hier handelt es sich nicht um gefühlsmäßige Erwägungen,
sondern hier gilt, daß Zahlen beweisen.
Der nationale Antialkoholbund Japans.
Ein kurzer geschichtlicher Ueberblick ’).
Japan ist zu verschiedenen Zeiten seit Einführung des Buddhismus, der
ia eine Enthaltsamkeitsreligion ist, Verbotsstaat gewesen. Bereits vor etwa
1500 Jahren verzeichnet die Geschichte das erste Alkoholverbotsgesetz in
Japan. Die organisierte Antialkoholbewegung, wie wir sie heute haben,
ist jedoch erst recht neuen Ursprungs. Man kann sagen, daß sie seit der
Einführung des Protestantismus vor nun über 50 Jahren ihren Anfang ge- |
nommen hat. Der erste alkoholgegnerische Verein war im Jahre 1888 von
Studenten der Kaiserlichen landwirtschaftlichen
Hochschule gegründet worden. Die von diesem Verein unter dem
Titel: „Der Schild, der die Nation schützt“ herausgegebene
Zeitschrift war auch die erste alkoholgegnerische Veröffentlichung in Japan.
Katsuluka (?) Ito, jetzt ein hervorragender Oelindustrieller und ge-
schäftsführender Direktor des Nationalen Antialkoholbundes, war damals
noch als Student sowohl Herausgeber der Zeitschrift, als auch Leiter des
Vereins. Etwa um diese Zeit war es, daß der erste christliche
Frauentemperenzverein in Japan gegründet wurde unter Leitung
von Frau Kajiko Yajima, einer heute weltbekannten Reformerin.
Frau Yajima und Herr Ito haben also großes Verdienst um die Organisation
der Nüchternheitsbewegung in Japan.
Vor allen andern Namen aber muß der von Yaro Ando genannt
werden, denn dieser war tatsächlich die Hauptgestalt in der Nüchternheits-
bewegung des neuen Japan. Yaro Ando war Kaiserlicher Konsul auf den
Hawaii-Inseln, wo er die Alkoholnotstände ernstlich studierte, in denen er
ernste Gefahren für das nationale Leben Japans erblickte. Er trat dann
von seinem Posten ab und kehrte in die Heimat zurück, um sich hier der
Nüchternheitssache zu widmen. Dies war im Jahre 1890. Ando gab „Das
Licht der Nation“ heraus, die. einzige damalige Nüchternheitszeit-
schrift, und vereinigte mit Ito zusammen die 30 örtlichen Vereine zu einem
Verband „Nippon Kinshu Kai“, dem japanischen Antialkohol-
bund. „Das Licht der Nation“ wurde zum Organ des Bundes gemacht.
1903 wurde zum ersten Mal der Entwurf eines Jugend-
Alkolverbotsgesetzes im japanischen Reichstag von dem Ab-
geordneten Sho Nemoto eingebracht. 1910 ging er durch die Bemühungen
von "euch und Soroku Ebara, gleichfalls Reichstagsmitglied, im Unter-
aus durch.
Neben manchen andern gleichzeitigen Nüchternheitsarbeitern traten
Sen Ysuda, ein hervorragender Landwirtschaftsgelehrter, und Okina Hayashi
von Yokohama hervor. Auch Dr. Kuniynshi Katayama und Dr. Kenijii
Osawa von der Kaiserlichen Universität waren entschiedene Vorkämpfer
der Bewegung.
Der Bund fand dann viele Freunde und Sympathien in ganz Japan,
machte rasche Fortschritte und wurde einer der volkstümlichsten Verbände
’) Von befreundeter japanischer Seite erhalten wir diesen interessanten Bericht zugesandt,
den wir gern veröffentlichen als ein Zeugnis davon, wie ul in dem aufstrebenden Insel-
reiche im fernen Osten die Lösung der Alkoholfrage erstrebt wird. — Aus dem Englischen
übertragen von J. Flaig.
Der nationale Antialkoholbund Japans. 33
in Japan. Zu dieser Zeit erhob sich unter einigen führenden Mitgliedern des
Bundes die Frage, ob nicht die Ausschaltung örtlicher Far-
ben christlicher Art aus dem Werke des Bundes sich empfehlen
würde. Die Frage war ebenso natürlich als wichtig. Da fast alle Führer und
die meisten Mitglieder des Bundes zufällig entschiedene Christen waren, wurde
der Bund naturgemäß in christlichem Geiste und missionarischem Sinne
geleitet. Z. B. wurden die Temperenzversammlungen mit Gebet und Schrift-
verlesung eröffnet usf. Diese Uebung wurde zweifellos zu einer Art Stein
des Anstoßes für diejenigen, die nicht dem Christentum zuneigen und sich
doch zur Nüchternheitssache bekennen. Die Frage wurde denn auf einer
in Yokohama abgehaltenen Tagung zur Entscheidung gestellt. Die Vertreter
der Ortsgruppe Osaka wichen unglücklicherweise in dieser Frage von
andern ab: sie waren einmütig dafür, daß, um den Bund zu einer nationalen
Vereinigung zu machen, die Abschaffung der Uebung religiöser Gebräuche
nötig und dringend sei; der Bund müsse sowohl in religiöser, wie in partei-
politischer Hinsicht streng neutral sein. Da sich kein anderer Ausweg fand,
wurde die Ortsgruppe Osaka aus dem Bund entlassen und wurde zu
einer selbständigen Vereinigung. Sie gab dann die Zeitschrift „Die
neue Nation“ heraus, die eine Nebenbuhlerin des „Lichts der Nation“
wurde. Andererseits hatten der Bund und die Ortsgruppe Osaka doch nie-
mals verschiedene Ziele im Auge; sie waren sich bewußt, daß sie zu einer
Verständigung gelangen und sich wieder zu gemeinsamer Arbeit zusammen-
finden müßten.
In dieser Zeit der Krisis trat ein Mann namens Shozo Aoki auf.
Aoki aus Kyoto, ein hervoragender Geschäftsmann und früheres Mitglied
des Stadtrats von Osaka, unternahm es, mit Jinzo Yakahashi, einem
Polizeipräsidenten, Matsujiro Usami, dem Vorsitzenden des Christ-
lichen Vereins junger Männer in Kyoto, und Eishike Makamura,
früherem Reichstagsmitglied, die ziemlich unbekannte Nüchternheitsvereini-
gung von Kyoto zu reorganisieren. Nachdem ihm dies geglückt war, ging Aoki
an die weitere Aufgabe der Vereinigung und Verschmelzung
der zwei bis dahin rivalisierenden Verbände, des Bundes
und des Vereins von Osaka. Aoki betonte, daß nur in einer großen, zu-
sammengefaßten Streiterschar die Möglichkeit eines Sieges der Nüchtern-
keit in Japan liege. Nach unablässigen Bemühungen gelang es ihm schließ-
lich, alle Vereine von Osaka, Kyoto, Kobe und anderen Orten des west-
lichen Japan zusammenzuschließen ?). Er organisierte dann den Nationalen
Antialkoholbund Japans und veranlaßte seine Eintragung mit einem Grund-
stock von 20000 Yen. Er wurde zum Vorsitzenden des Organisations-
ausschusses gewählt. Um diese Zeit kam Dr. Gaudin aus Amerika, ein
Vorkämpfer des Weltverbots, nach Japan. Dr. Gaudins sehr tatkräftiger
Werbefeldzug war ein bedeutsames Ereignis, das eine neue Epoche in der
Nüchternheitsarbeit Japans bildete. Gaudin hatte in Begleitung von Aoki
Unterredungen mit dem Premierminister Huru, ebenso mit dem Minister
des Innern Mizuno und vertrat mit Nachdruck die Ueberzeugung, daß ein
völliges Alkoholverbot eine gebieterische Notwendigkeit für
die Wohlfahrt des Volkes sei.
Der Nationale Antialkoholbund Japans sah in seinem Arbeitsplan von
1918, seinem Gründungsjahr, u. a. eine Eingabe an den Reichstag vor, die
die gesetzliche Unterdrückung des Alkoholhandels forderte, ferner die Auf-
bringung eines Kapitals von 1 Million Yen zur Durchführung der Arbeit
i Bundes und die Eröffnung eines großen Werbefeldzugs in der Stadt
okio.
Zur Erreichung dieser Ziele war allgemeine Zusammenarbeit mit dem
Bunde unerläßlich. Die Ausschüsse der beiden Vereinigungen traten dann
in Tokio zusammen, und es wurde eine Verständigung erreicht. Es war
also nun endlich eine Verschmelzung zum Nationalen Antialkoholbunde
9 1920.
Die Alkoholfrage, 1925 3
34 | Abhandlungen.
Japans, wie dieser jetzt besteht, vollzogen. Im folgenden Jahr wurde die
vorhin genannte Eingabe mit den Unterschriften von mehr als 10000 Per-
sonen aus dem ganzen Lande dem Reichstag vorgelegt. Der große Werbe-
feldzug, der in Tokio unternommen wurde, war sehr erfolgreich.
Nun bearbeiteten Aoki und andere, die es fast als nationale Schmach
empfanden, daß das Jugend-Alkoholverbot, das bereits vor acht-
zehn Jahren im Unterhaus durchgegangen und nur im Oberhaus verhindert
worden war, noch immer nicht Gesetzeskraft erlangt hatte, von Haus zu
Haus fast alle Regierungsbeamten aufs eindringlichste im Sinne der Durch-
bringung des Gesetzentwurfs. Baron Sakatani, Mitglied des Oberhauses,
trat ihren Bemühungen bei, und großenteils durch seinen Einfluß wurde der
Entwurf endlich 1922 Gesetz.
Aoki, der geschäftsführender Leiter des Bundes blieb, hat jetzt noch
eine weitere Einrichtung geschaffen, die unter dem Namen „Aoki Kyosai
Dar“, Aoki-Reformgesellschaft, eingetragene Organisation, in
der er eine erschöpfende Erforschung des Alkoholismus ins Werk setzen
will. Er ist überzeugt, daß in der wissenschaftlichen Erforschung des
Alkoholismus eine Lösung der Alkoholfrage zu finden ist.
Man hofft in den beteiligten Kreisen zuversichtlich, daß das völlige
Alkoholverbot in Japan bald durch die vereinigten Anstrengungen dieser
zwei Organisationen verwirklicht werden wird. — Der Bund besteht jetzt
aus gegen 200 angeschlossenen Ortsvereiner und hat eine Gesamtmitglieder-
zahl von über 50 000°). R
Nachtrag des Uebersetzers: Eine (englisch geschriebene)
Tokioter Tageszeitung (The Japan Advertiser, 16. April 1924) brachte einen
ausführlichen Bericht über die 5. Jahresversammlung des Bundes am 5. und
6. April v. ]. in dem stattlichen eigenen Hause der Ortsgruppe in Okayanıa,
dem wir noch einige bemerkenswerte Mitteilungen entnehmen. Auf der
Tagung, auf der 92 Ortsvereine durch 118 Abgesandte vertreten waren,
und an der die Behörden sich ansehnlich beteiligten, wurden die starken
Zusammenhänge der Alkoholfrage mit den heutigen brennenden sozialen,
wirtschaftlichen und sittlichen Fragen des Landes nachdrücklichst betont und
beleuchtet. Die heutige Jahresausgabe für Reisschnaps und andere geistige
Getränke betrage mehr als 1 Milliarde Yen (2,09 M), das ist °/a des ganzen
Reichshaushalts, das Dreifache der neulichen Anleihe in Amerika und das
Mehrfache der Ausgaben für öffentliche Erziehung*). Der Bund brachte auch
hier mit aller Entschiedenheit sein Ziel völliger Abschaffung von Alkohol-
herstellung und -verbrauch zum Ausdruck, in welcher .Richtung das nahe,
große amerikanische Beispiel herüberwirkt, und erstrebt als nächste Vor-
ziele u. a.: Erhöhung der Altersgrenze des .Jugend-Alkoholverbots vom
20. aufs 25. Jahr, um alle Studenten und Heeres- und Fiottenmannschaften
einzuschließen, Beseitigung des Alkoholverkaufs in Eisenbahnzügen und auf
Eisenbahngrundstücken, Einschränkung der Alkoholreklame, einen Auf-
klärungsfeldzug des Wohlfahrtsministeriums. Die Tagung zeigte, daß der
Bund auf der Bahn entschlossenen und kräftigen Wiederaufbaus ist nach
den schweren persönlichen und sachlichen Verlusten durch die große Erd-
bebenkatastrophe.
j 9» In unerklärlichem Widerspruch hierzu sind in dem im Nachtrag genannten Artikel die
Zahlen 240, andererseits „rund 0* angegeben,
4) Vgl. die Mitteilung „Die jährliche Ausgabe Japans für geistige Getränke“ auf S. 57.
| Chronik R
für die Zeit vom 1. Oktober bis zum 30. November 1924.
Von Chr. Stubbe.
A. Zwischenstaatliches.
Eine Studie von Oskar H. Rogers untersucht den EinfluB des Alkohols.
auf die Lebensdauer. Sie ist (übersetzt von Dr. Flaig) in Nr.5 1924 der
„Alkoholfrage‘“ abgedruckt.
Die Hochs bei den Festlichkeiten zu Ehren der Besatzung des deutschen
Zeppelinluftschiffes in den Vereinigten Staaten wurden, wie die
Presse meldet, „in köstlichem Eiswasser“ gebracht. Auch für die Ueber-
tahrt bestand absolutes Alkoholverbot. Ueber die Befolgung des Verbots
sind die Meinungen geteilt.
Die Gesellschaft Neptun hatte behauptet, der Vertrag mit England
(wonach die Führung alkoholischer Getränke an Bord englischer Dampfer
in amerikanischen Häfen gestattet werde) verletze die Verfassung der Union.
Der Gerichtshof hat das Gesetz für konstitutionell erklärt („Vaterland“ 27.9.).
Eine Auslegungsverhandlung (Protocole interpr&tatif) des norwe-
gisch-französischen Vertrags vom 8. September 1924 (betr.
Vertrag vom 23. 4. 1921) wurde im französischen „Journal official“ vom
12. 9. veröffentlicht („Bull. des Halles“ 13, 9.).
Der norwegische Dampfer Sagatind aus Drammen wurde Mitte
Oktober an der amerikanischen Küste von den Zollbehörden be-
schlagnahmt; 43 000 Kisten mit Spirituosen, die nach New York geschmuggelt
werden sollten, wurden vorgefunden. Kapitän und Mannschaft waren be-
Sinnungslos betrunken („Kieler Ztg.‘“ Nr. 491).
Die „Allg. Gastgewerbe-Ztg.“ (Wien, Nr. 17 und 18) schreibt „vom
Londoner Kongreß der nichtinteressierten Prohibi-
tionsgegner“: Eine klare Resolution habe sich gegen jede Verbots-
maßnahme, nationale wie lokale, gewandt, da sie „eine Verletzung der
menschlichen Naturrechte“ sei. — Im vergangenen Winter habe sich in
Washington ein Komitee von 60 Kongreßmitgliedern gebildet, das dem
Komitee der Arbeitsvereinigung, der Vereinigung gegen die Prohibition, der
Konstitutionellen Liga für Freiheit von Massachusetts und der Mäßigkeits-
liga angeschlossen sei.
B. Aus dem Deutschen Reiche.
Allgemeines.
Der preußische Minister des Innern hat angeordnet, daß bei den Wahlen
7.12. möglichst davon abzusehen sei, die Wahlen in Wirtschaften abzuhalten.
Bei der Erörterung des Haushalts für Volkswohlfahrt im
Preußischen Landtag forderte 17. 10. Abg. Dr. Quaet zur Pflege der Volks-
gesundheit Verstärkung des Kampfes gegen Alkoholismus und Geschlechts-
krankheiten. |
Der preußische Landtag nahm 3. 10. eine von der Deutschnationalen
Partei eingebrachte Entschließung an, die Reichsregierung zu ersuchen, bei
den Verhandlungen über Handelsverträge mit anderen Staaten den deut-
schen Weinbau gebührend zu berücksichtigen.
Die Berliner Wohlfahrtsvereinigung hat am 30. Juni 1924 einen
Aktionsausschuß zur Bekämpfung des Alkoholismus
(Geschäftsstelle Berlin W 35, Flottwellstraße 4) gebildet.
3*
36 Stubbe, Chronik.
Die Hamburger Bürgerschaft hatte durch Beschluß vom 2. 4. den Senat
umEntfernungalkoholischerPlakate vonder Hochbahn ersucht.
Der Generalpächter des Anzeigenwesens der Hochbahn hat erklärt, daß es
sich z. T. um langfristige Verträge handelt. Freiwerdende Flächen sollen
indessen anderweitig verwandt werden („Hamb. Corr.“ 8. 9.).
In München sind 1923 die Gastwirtschaften von 133 auf 125, die
Schankwirtschaften mit Bierabgabe von 1392 auf 1310, die Betriebe für
Branntwein- und Likörgenuß von 419 auf 387, die Weinwirtschaften von
102 auf 97, die größeren Kaffeehäuser von 63 auf 49, die einfachen Kaffee-
schenken von 134 auf 118, die alkoholfreien Schankstätten von 311 auf 282
zurückgegangen, die Fremdenheime dagegen von 210 auf 213 gestiegen
(Münch. N. N.“ 23. 8.)
Statistisches.
Aus den „Vierteliahrsheften zur Statistik des Deut-
schen Reiches“ 1924, Heft 2 und 3: In Preußen gab es 1923 eine
Rebbaufläche von 166135 ha mit 110760 hl Mostertrag zu einem
Geldwert von 5752965 GM, in Bayern 201295 ha Rebbaufläche mit
223 279 hl Mostertrag zu einem Geldwert von 8 669 604 GM, in Württem-
berg 10680,5 ha Rebbaufläche, 134902 hl Mostertrag zu einem Geldwert
von 10016183 GM, in Hessen 14442 ha Rebbaufläche, 148592 hi Most-
ertrag zu 6648600 GM Geldwert, in Baden 12831 ha Rebbaufläche,
173 507 hl Mostertrag zu 11257178 GM Geldwert. (Im übrigen vgl. hierzu
Flaig „Alk.-Fr.“ Heft 4, S. 139 f.)
Bierbrauerei und Bierbesteuerung im deutschen Bier-
steuergebiet (ohne Saargebiet) im Rechnungsjahre 1921. Die Biererzeugung
hob sich im Berichtsjahr mit 33993270 hl gegen die des Vorjahres
(23438188 hl) um 10555082 hl = 45 v. H., der Malzverbrauch mit
4926 394 dz gegen den des Vorjahres (2202052 dz) um 2724342 dz
= 124 v. H., der Verbrauch an Braustoffen aller Art mit 5 430 850 dz gegen
den vorjährigen Braustöffverbrauch (2258135 dz) um 3172715 dz = 141
v. H. Die Zunahme von Erzeugung und Braustoffverbrauch war in den
Landesfinanzamtsbezirken ziemlich gleichmäßig. — Die Einfuhr war gering.
Sie betrug 1921 185238 hl. Sie hat gegen das Vorjahr um 119837 hi
= 63 v. H. abgenommen. Die Ausfuhr dagegen hob sich von 354466 hi
um 168514 hi = 48 v. H. auf 522980 hl; die größten Mengen gingen nach
dem Saargebiet. — Am Schlusse des Jahres waren 13306 Brauereien
steueramtlich angemeldet; im Laufe des Jahres waren 11 088 (d. h. 293 mehr
als im Vorjahre) im Betrieb. Das Stilliegen der Kleinbetriebe und die Zu-
sammenschlußbewegung nahmen ihren Fortgang. — Die Gesamteinnahmen
betrugen in Solleinnahme an Biersteuer 364496 688 M, Steuer von ein-
geführtem Bier 387 262 M, Eingangszoll vom Bier 1998 649 M, Goldzoll auf
Geld 19903 767 M, im ganzen 386 786 366 M (gegen 199592597 M 1920).
Ueber Mineralwässer und künstlich bereitete Getränke im Rech-
nungsjahre 1922 können von 5 Landesfinanzämtern (besetztes oder Ein-
bruchsgebiet) keine genauen Zahlen geboten werden. Für die übrigen
21 Landesfinanzämter ergaben sich 10316 steuerpflichtige Betriebe, von
denen 903 nur Mineralwasser, 779 nur konzentrierte Kunstlimonade oder
Grundstoffe dazu herstellen; versteuert wurden 55 995 878 1 Mineralwasser,
94 419 977 1 Limonaden und andere künstliche Getränke, 4949 082 1 konzen-
trierte Kunstlimonaden, 51797 I Grundstoffe dazu; aus dem Ausland ein-
geführt 391 559 1 Mineralwasser, 2 1 konzentrierte Kunstlimonade, — un-
versteuert ins Ausland ausgeführt 891 544 I Mineralwasser, 533 756 I Limo-
naden und andere künstliche Getränke, 25 212 1 konzentrierte Kunstlimo-
naden, 21483 1 Grundstoffe zu ihrer Herstellung. — Inländische Mineral-
wässer sind ungefähr in gleicher Menge wie 1921 in Verkehr gebracht; der
Absatz einheimischer Limonaden weist wieder starken Rückgang auf, die
Ausfuhr hat dagegen um 100 Prozent zugenommen (hauptsächlich nach
den englischen Kolonien und nach Südamerika). Auch bei konzentrierten
Stubbe, Chronik. 37
Kınstliimonaden und den Grundstoffen dazu ist die Ausfuhr gesteigert. —
en uhr war durch Teuerung und Geldentwertung fast völlig unter-
bunden
Essigsäurefabriken gab es im Brantweinmonopolgebiet im
Berichtsjahre 1922/23 14 (für Essig zu Gam hzwecken) und 3 (zu gewerb-
lichen Zwecken): 20152 dz versteuerte, 11784 dz vergällte Essigsäure,
71019 dz ohne Vergällung zur steuerfreien Verwendung versandte Essig-
säure wurden hergestellt.
Ende 1923 gab es 116 Aktiengesellschaften und 879 Gesellschaften mit
b H. für Gast- und Schankwirtschaften im Reiche (mit auf
Mark lautendem Kapital). 26 Gesellschaften wurden 1923 neu gegründet,
eine trat in Liquidation. (Da die Kapitaländerungen inzwischen völlig be-
langlos geworden sind, verzichte ich auf deren Wiedergabe.
Vereinswesen.
Auf der Leipziger Hauptversammlung der Gemeinschaft prole-
tarischer Freidenker hat man erklärt, die Mitglieder an Alkohol-
enthaltsamkeit nicht binden zu wollen. Indessen besteht noch die Ent-
schließung von Ostern d. J.: „Freidenker können nur frei denken, wenn sie
alles aus ihrem Leben ausscheiden, was ihre geistige Freiheit beeinträchtigt.
Dazu gehört vor allem der Alkoholgenuß, der das Denken überhaupt hemmt
und die Handlung unfrei macht ... Die organisierten Freidenker müssen
... ständig der Alkoholfrage die größte Beachtung schenken.“ („Leipziger
Volksztg.‘“ 26. 7.).
Eine Facharbeitsgemeinschaft von Frauen zur Be-
kämpfung des Alkoholismus ist geschlossen vom Deutschen Bund abstinenter
Frauen, Deutschen Verein gegen den Alkoholismus, Verband Deutscher Haus-
iranenvereine, Reichsverband der landwirtschaftlichen Hausfrauenvereine,
Allg. Deutschen Lehrerinnenverein, Allg. Deutschen Frauenverein, Deutschen
Verband zur Förderung der Sittlichkeit; Vorsitzende: Gustel v. Blücher
(Schw. Frauenblatt“ 20. 9.).
Die Arbeitsgemeinschaft der Gärungsgewerbe in
Berlin hat in umfassender und planmäßiger Weise an die Reichs-, Staats-,
Gemeindebehörden, Volksvertretungen usw. eine Schrift: „Aerztliche Gut-
achten zur Alkoholfrage“ im Stillen versandt. Die Deutsche Reichshaupt-
stelle gegen den Alkoholismus, Berlin-Dahlem, hat in einer besonderen ein-
gehenden Flugschrift diese Gutachtensammlung als „eine ausgesprochene
Interessenten-Veröffentlichung‘* gekennzeichnet.
Bei sämtlichen Veranstaltungen des „Stahlhelm s“ haben die Führer
darauf zu achten, daß kein übermäßiger Alkoholgenuß stattfindet, insonder-
heit dann nicht, wenn der „Jungstahlhelm“ teilnimmt. Mit rücksichtsloser
Schärfe haben die Führer gegen Kameraden, die sich dem übertriebenen
Alkoholgenuß hingeben, einzuschreiten („Der Wille“ Nr. 9).
Das Reichsherbergsverzeichnis 1924/25, herausgegeben vom Ver-
bande für Deutsche Jugendherbergen in Hilchenbach, führt
iber 2100 reichsdeutsche und weit über 200 danziger, österreichische und
böhmische Jugendherbergen an (Ebenda).
Kirchliches.
„Luther. Mitteilungen der Luther-Gesellschaft‘‘ 1924, H. 3, bringen
Luthers „Lebensanweisung für Priester“ Kap. 1: „Die
Mäßigkeit der Priester“. Darin heißt es: „Ein gesunder Schlaf ist in einem
mäßigen Menschen . . . abends viel Geschwätz und Pokulieren macht inner-
lich kaputt und gibt einen konfusen Kopf, der am Morgen voller Schwere,
Schleim und Blödigkeit ist.“
‚Die Trinkerheilstätte des Landesvereins für Innere
Mission Salem bei Rickling (Holstein) ist wieder eröffnet; Hausvater
Meewes, Anstaltsarzt Sanitätsrat Dr. Tofft.
38 Stubbe, Chronik.
Sonstiges.
Auf eine Entscheidung des Reichsgerichts betr. Methylalkohol sei
hingewiesen. Ein Arbeiter- kaufte bei einem Destillateur Branntwein, er-
blindete nach dem Genuß und verklagte den Destillateur auf Schadenersatz.
Das Reichsgericht, zu dessen Entscheidung der Prozeß gelangte, erklärte
den Anspruch für begründet. Der Käufer müsse sich nicht nur auf die Ehr-
lichkeit, sondern auch auf die bessere Warenkunde des Verkäufers verlassen
können. Wer Branntwein feilbiete, müsse sich wenigstens soviel Kenntnisse
aneignen, daß seine Kunden gegen giftige Getränke geschützt seien; das
gelte erst recht, wenn er das Getränk selbst herstelle („Kieler Ztg.‘“ Nr. 530).
| Lehrer J. Petersen in Kiel, Begründer und langjähriger Vorsitzen-
der des Deutschen Vereins enthaltsamer Lehrer, zugleich lange Schrift-
leiter der „Enthaltsamkeit“, starb nach kurzem schwerem Leiden 14. Novem-
ber 1924. Er ist Verfasser der Schriften: „Der Deutsche Verein abstinenter
Lehrer“, „Schule und Alkoholfrage“, „Der Alkohol“, „Der Becher” — Ge-
storben ist auch Pastor Samuel Keller (Freiburg i. Br.), der nicht nur
in Erzählung („Wie ich ihm fluchen lernte“), sondern auch in Vorträgen
und Predigten alkoholgegnerisch wirksam hervortrat.
Ueber „E. Th. A. Hoffmann und die Elixiere des Teufels“ bringt
N Asmussen eine Abhandlung in der „Int. Ztschrift gegen den Alkoholismus“
r5.
Vor dem Hamburger Seeamt wurde 4. 11. über die Strafbarkeit
des Kapitäns eines Memeler Dampfers Thor verhandelt, welcher, mit Spiri-
tuosen und Essenzen beladen, die an der finnländischen Küste außerhalb
der Hoheitsgrenze verkauft werden sollten, in der Nähe von Hangoe leck
sprang. Der Reichsvertreter führte u. a. wörtlich aus: „... Den
Kapitän trifft der Vorwurf, daB er den Schmuggel unterstützte. Dieser Vor-
wurf trifft ihn um so mehr, weil er preußischer Beamter war (früherer
Lotse). Trotzdem e; sich in einer Notlage befand, weil sein Ruhegehalt
ausgeblieben war, hätte der Kapitän zum Spritschmuggel seine Hand nicht
hergeben sollen. Ich stelle den Antrag, dem Kapitän Schultz das Recht zur
Ausübung des Schiffergewerbes zu entziehen.“ Das Seeamt entsprach dem
Antrag allerdings nicht, aber die Stellung des Reichsvertreters ist
dankenswert („Memeler Dampfboot“ Nr. 265).
Es hat sich herausgestellt, daß die vier Verwüster des Judenfried-
hofsin Hagen, die — abgesehen von sonstigem Frevel — von 60 Grab-
steinen 52 umwarfen, ihr Vorhaben durch ein Schnapsgelage einleiteten und
auch bei der „Arbeit“ die Schnapsflasche umgehen ließen. 9 Jahre Ge-
fängnis und 10 Jahre Ehrverlust war der Abschluß („Der Wille‘ Nr. 9).
C. Aus anderen Ländern.
Afrika. In Südafrika gilt die Prohibition für Eingeborene; nur das
heimische Kaffernbier ist gestattet. Neuerdings hat der Gemeinderat
(Conseil communal) von Kapland für den neuen Eingeborenenbezirk Langa
auch dieses untersagt („L’Abst.“ 13. 9.).
Ein amerikanischer Missionar, der lange in Belgisch-Kongo lebte, er-
klärte dem früheren sozialistischen Minister Wanters, im Kongostaat richte
der Alkoholismus große Verheerungen an. Trotz hoher Einfuhrlizenzen
werde viel a konsumiert, viel werde auch eingeschmuggelt (,„Vor-
wärts“ 23. 9.).
Australien. R. G. Stewart von der Adventistenmission, Fiji, klagt
lebhaft über den Verkauf von Spirituosen und von Feuerwaffen an die Ein-
geborenen auf den unter der gemeinsamen Verwaltung von Frankreich und
England stehenden Neuhebriden („The Herald, Melbourne“, 28. 8.).
Belgien. Die Abstinenzvereine des Landes hielten in Antwerpen
25. und 26. Oktober eine gemeinsame Tagung. (Vgl. S. 52 dieses Heftes
der „Alkoholfrage‘“.)
Stubbe, Chronik. 39
Der Verband der belgischen Abstinenzvereine verbreitete
einen Aufruf an die Führer von Eisenbahnzügen, Tramwagen, Kraftwagen,
Motorrädern, Wagen, Flugzeugen und Schiffen, sich alkoholfrei zu halten
(int. Bur. z. B. d. A.“, Bull. Nr. 43).
Canada. Bei der Volksabstimmung am 23. Oktober in Ontario über
das Alkoholverbot siegten die Freunde des gegenwärtigen Prohibitions-
systems über die Anhänger der Staatskontrolle („The Times“ 25. 10.).
Dänemark. Bei den letzten Wahlen zum Landsting (Senat) wuchs
die Zahl der Abstinenten von 13 auf 15 („Int. Bur. z. B. d. A.“, Bull. Nr. 44).
Estland. Erst in diesen Tagen (Nov. 1924) ist die Kommission, die
mit der Vorberatung eines Alkoholgesetzentwurfes beauftragt war, mit ihren
Arbeiten zu Ende gekommen. Man nimmt an, daß das Parlament binnen
kurzem die Beratung des Gesetzes beendigen wird (,Int. Bur. z. B. d. A“,
Bull. Nr. 45). (Inzwischen hat das Parlament das Gesetz angenommen.
Vgl. S. 23—27 dieses Heftes. — Die Schriftl.)
Frankreich. Ein Gutachten der Professoren Ponchet, Achard und
Chauffard erklärt die Getränke auf der Basis Anis für ebenso ge-
fährlich wie Absinth, Die Akademie der Medizin fordert deshalb Unter-
drückung der „Ersatz-Absinthe“. Die „Ligue nat. c. l’alc.“ unterstreicht diese
Forderung angesichts des steigenden Alkoholgenusses (,Cap. et Trav.“ 11. 9.).
Die Ligue Prol&etarienne Antialcoolique forderte auf ihrer
Hauptversammlung in Marseille im Oktober d. J. gleichfalls das Verbot von
Likören auf der Basis von Anisessenzen („Fraternite“).
DerneutraleundderinternationaleGuttemplerorden
haben sich 27. 7. in Paris verschmolzen. Die neue franco-belgische
Loge umfaßt 18 Ortslogen mit reichlich 500 Mitgliedern („L’Abst.“
r. 16).
Großbritannien. 1923 sind in fast 4000 englischen öffentlichen
Schulen wissenschaftliche Temperenzlektionen durch die United
Kingdom Band of Hope organisation abgehalten; dadurch wurden rund
250 000 Kinder erreicht („The Am. Iss.“ Nr. 9).
Seit 1905 nimmt die Zahl der Schank- und Kleinverkauf-
stellen beständig ab. Die Zahl der ersteren betrug 1905: 99 478, 1923:
81 480, die der letzteren 1905: 25045, 1923: 22097. Umgekehrt sind die
Klubs von 6587 im Jahre 1905 auf 11126 im Jahre 1923 angewachsen. Die
Verurteilungen wegen Betrunkenheit sind sich in den letzten 3 Jahren
im wesentlichen gleich geblieben (1923: 77094, davon 13244 Frauen).
Todesfälle an Alkoholismus 1923: 278 Männer und 132 Frauen, an Leber-
npung 1169 Männer und 605 Frauen (,Int. Bur. z. B. d. A.“, Bull.
T. 43).
Anläßlich der Verhandlungen der BritishMedicalAssociation
in Bradford hielt 24. 9. dort die National Temperance League eine Sitzung;
es wurde festgestellt, da8 sowohl in den Londoner wie in den provinziellen
Krankenhäusern der Gebrauch von Alkohol stark abgenommen habe. Ein
Arzt, der Alkoholmischungen (alcool promiscually) verordnen würde, habe
jetzt als rückständig zu gelten („The Times“ 25. 7.).
Auf der 48. Jahresversammlung der Distillers Company in
London herrschte große Befriedigung: Die Dividenden bleiben die alten; die
Reserven sind vergrößert; insonderheit hat sich das Geschäft in gewerb-
lichem Spiritus gebessert („The Times“ 24. 7.).
Die Konferenz der Wesleyaner Methodisten in Notting-
ham 21.7. wandte sich insonderheit gegen den Alkohol auf den Missionsfeldern.
1920 seien 51 000 Gall. Gin an der Goldküste eingeführt, in % Jahr 1923
391000 (!!). In einer EntschließBung brachte man den Willen zum Ausdruck,
40 Stubbe, Chronik.
auch ferner von Kirche wegen an einer radikalen Beseitigung des Trink-
übels durch die Gesetzgebung mitzuwirken.
Bei einer Bevölkerung von 3% Millionen Einwohnern verbrauchte man
1922 im Freistaat Irland 2120065 Gall. gebrannte Getränke, 49 708 809
Gall. Bier, 1 027 909 Gall. Wein, 118729 Gall. Most, im Ganzen für 30 719 956
Pfd. St. Spirituosen. 1924 gab es 15270 Schank- und Kleinverkaufsstellen
für alle Getränke, dazu 311 Kleinverkaufstellen für Branntwein, 8 Wein-
wirtschaften und 660 Weinkleinverkaufsstellen (,Int. Ztschr. g. d. A.“ Nr. 5).
Italien. Zum ersten Mal seit dem Weltkriege haben die italienischen
_Alkoholgegner wieder einen Kongreß abgehalten, der am 27. und
"28. September in Como stattfand. Der König hatte den Ehrenvorsitz an-
genommen, Mussolini, sowie der ehemalige Ministerpräsident Luzzati und
andere hervorragende Persönlichkeiten hatten der Versammlung ihre Sym-
pathie bezeugt. — Eine reichhaltige Antialkoholausstellung war mit dem
Kongreß verbunden. Sonntags vereinigte sich der Bund der Arbeiter-
Wanderfreunde, dessen Devise ist: „Für die Berge, gegen den Alkohol‘, mit
en Kongreßteilnehmern zu einer öffentlichen Kundgebung (,Int. Bur. z. B.
. A“. Bull. Nr. 42).
Das „Croce verde“ in Como beschloß, eine Werderaseiilun:
gegen den Alkoholismus und die Tuberkulose durch Norditalien ziehen zu
lassen („Schw. Abst.“ 9. 10.).
In Mailand wurde Anfang d. J. unter den Schülern der Primar-
schulen eine alkoholgegnerische „Campagne“ gehalten. — Eine Umfrage,
wie weit die Kinder Wein genießen, ergab im ganzen 28,7% enthaltsam,
61,7 %, die Wein zu Mahlzeiten nehmen, 10,7 %, bei denen die Antwort unklar
war. 1908 waren nur 16 % enthaltsam und 83,1% nahmen Wein. Merk-
würdigerweise ist die Zahl der enthaltsamen Knaben größer als die der
Mädchen (Int. Ztschr. g. d. A.“ Nr.
Der Mörder des Abgeordneten Casalini, ein Zimmerer Corsi., war
vier Tage lang vor der Mordtat berauscht und war wegen Trunksucht von
seinem Arbeitgeber entlassen („Schw. Abst.“ Nr. 17).
Neufundland ist nach 6jähriger Prohibition zur „Staatskontrolle”
des Spirituosenhandels übergegangen („The Times“ 11. 9.).
Niederlande. Die Alkoholinteressenten haben eine Volks-
petition gegen das Gemeindebestimmungsrecht an die
erste Kammer gerichtet. Obgleich sie selbst die Zahl der Interessenten aui
350 000 angeben, und die Eingabe in allen Wirtschaften zur Unterzeichnung
ne war, sind doch nur 276 034 Unterschriften erreicht („De Wereldstr.“
Nr. 42). (Inzwischen hat die 1. Kammer das GBR abgelehnt. — Die Schriftl.)
In Niederländisch-Indien wurden 1923 für 4 Millionen Gulden
starke Getränke eingeführt, davon für 1 700000 Gulden aus den Niederlanden
(„De Wereldstr.“ Nr. 39).
Norwegen. Die Wahlen für das Lagting haben die parlamentarische
Lage zur Alkoholfrage nicht wesentlich verändert. Die Konservativen,
welche von Parlamentswegen das Branntweinverbot aufheben wollten, ver-
loren 13 Sitze. Im ganzen werden von den 150 Mitgliedern des Lagting
sicher 74 (vielleicht aber bis 81) eine Volksabstimmung verlangen, wenn die
Frage der Aufhebung des Branntweinverbots wieder gestellt werden sollte
(„Int. Bur. z. B. d. A.“, Bull. Nr. 44).
Der Verkauf vonBranntweinnachärztlichemRezept ging
zurück von 447543 | März bis August 1923 auf 70850 I in den gleichen
Monaten 1924 und der Verkauf von Sprit von 79233 1 auf 16693 I. Der
Verkauf von Sprit nach tierärztlicher Verordnung senkte sich
von 116 687 I auf 73 353 I, aber der Branntweinverkauf stieg von 18 655 1 auf
- 20759 1 („Aftenposten‘“ 16. 10.).
r
Oesterreich. 1923 betrug der Bierkonsum 3756801 hl, der
Weinverbrauch 910852 hl, der Verbrauch an gebrannten Ge-
tränken 86962 hi. Der Gesamtverbrauch hatte einen Wert von 4,754
Bübonen Kronen, so daß täglich 13 Milliarden für Alkohol ausgegeben
warde. Für den Kopf der Bevölkerung wurden 750 000 Kronen alkoholisch
aufgewandt (Statist. Handbuch f. d. Republik Oesterreich, 4. Jg., Wien 1924).
Frau Dr. Julie Schall-Kassowitz, Führerin der abstinenten
Frau, ist 42 Jahre alt, am 4. Juli in Wien gestorben („Abst. Arb.“ Nr. 9).
Die erste alkoholfreie Gaststätte desArbeiterabstinenten-
bundes ist in der Siedlung Rosenhügel, Wien 12, 28. 6. eröffnet („Der
Abst.“ Nr. 7/8).
Polen. Das Branntweinmonopol, das den An- und Verkauf von Spi-
ritus, sowie die Verarbeitung und den Verkauf von gereinigtem Schnaps
zum Staatsprivileg macht, ist in erster Linie ein Handelsmonopol. Der Ab-
satz erfolgt in eigenen Verkaufsstellen oder in staatlich konzessionierten
Läden mit 20% Gewinn. Der Zwischenhandel soll zu Gunsten des Staates
ausgeschaltet werden. Der Hauptteil des Gesetzes tritt 1. 1. 1925 in Kraft
(„Rhein.-Westf. Ztg.“ 25. 7.).
Schweden, Die Wahlen für den Reichstag haben alkoholgegnerisch
nicht viel geändert. Die alte Kammer zählte 108, die neue 104 Abstinenten
unter 230 Mitgliedern (,Int. Bur. z. B. d. A.“, Bull. Nr. 43). .
Die schwedische Gesellschaft Svenska Sprit hat einen Brennstoif
bergestellt aus 20 bis 25 % Alkohol und 75 bis 80 % eines ähnlichen Stoffes
wie der „carburant national francais“. Er soll zur Heizung von Motoren
besser und billiger als reiner Alkohol sein („L’Information“ 22. 10.).
Schweiz. Die am 4. Oktober in Bern versammelten Vertreter sämt-
licher alkoholgegnerischer Vereinigungen der Schweiz nahmen einstimmig
eine Entschließung an, daß bei einer Neuregelung des Alkohol-
wesens die fiskalischen Interessen den volksgesundheitlichen untergeord-
net werden müßten. Sie verlangen vor allem die Beseitigung der Haus-
brennerei. Dabei soll eine Lösung gesucht werden, die den berechtigten
Interessen der Bauernsame Rechnung trägt („Neue Bündner Ztg.“ 8. 10
Bei der Beratung des Haushalts der Alkoholmonopolverwal-
tung erklärte u. a. Bundesrat Musy: Vom Standpunkte der Volksgesundheit
sei der heutige Schnapspreis unhaltbar; der Schnaps sei billiger als der
Wein, und der Konsum habe wieder zugenommen. Auch die Kantone haben
ein fiskalisches Interesse an beschleunigter Lösung. — Kommissionspräsident
Obrecht sagte u. a.: Die Alkoholmonopolverwaltung muß das Geschäft allein
machen können; sie braucht ein faktisches Spritmonopol. Der Branntwein-
hausbrand: soll nach wie vor frei bleiben (,„N. Zürcher Ztg.“ 8. 10.).
Die Bettagssteuerin Zürich 1924 ist der Trinkerfürsorge gewidmet
(„N. Zürcher Ztg.“ 18. 9.).
Weil die Kartoffelernte des Landes den Bedarf nicht deckt, soll vom
Brennen von Kartoffeln auf Grund des Alkoholgesetzes Abstand
genommen werden („Tagebl. d. St. Zürich“ 17. 9.).
r Schweizer Abstinenten-Radfahrerverband umfaßt
jetzt 352 Mitglieder („Bl. Kr.“ 12. 9.).
Prof. Milliet hat berechnet, daß 1913 bis 1922 — umgerechnet in ab-
soluten Alkohol — die Schweiz im Jahre 212 650 hl Alkohol in Form
von Wein, 66400 hl in Bier, 73250 hi in Form von Obstwein, 96125 hl in
gebrannten Wassern gebrauchte; der Jahresdurchschnitt betrug auf den
Kopf der Bevölkerung im Ganzen 11,56 l absoluten Alkohols, wovon rund
9 | auf gegohrene, 2,5 l auf gebrannte Getränke fallen. Der Verbrauch be-
trägt 3,1 1 absoluter Alkohol jährlich weniger als 1903 bis 1912, aber der
Schnapskonsum ist fast der gleiche geblieben („Aargauer Tagebl.“ 22. 10.).
Der schweizer Verein des Blauen Kreuzes zählte 1. 9. 33 219
Mitglieder (914 mehr als im Vorjahr). Von den Mitgliedern haben 18 888
Stubbe, Chronik. 41
42 Stubbe, Chronik.
zum Beispiel, 7869 zur Bewahrung und 6402 Perosnen zur Besserung unter-
schrieben. Dem Blauen Kreuze gehören 1780 Trinker an, die seit mehr als
10 Jahren keinen Alkohol genossen haben („Aargauer Tagebl.“ 27. 10.).
Der Direktor des Motorwagendienstes der schweizer Armee Oberst-
leutnant Hamberger erklärte in der „Automobil-Revue“: „Ich habe während
meiner Dienstzeit erfahren müssen, daß die überwiegende Zahl von Auto-
mobilunfällen auf Einwirkung von Alkohol zurückzuführen war . . .*
„Daß die Postverwaltung ihren Chauffeuren den Alkoholgenuß vor oder
während des Dienstes untersagt, und daß auch im Entwurf für das eidg.
Gesetz eine ähnliche Vorschrift für die Führer von Gesellschaftswagen vor-
handen ist, ist durchaus gerechtfertigt“ („Aargauer Tagebl.“ 25. 10.).
Der Voranschlag über den Betrieb der Alkoholverwaltung
für 1925 sieht 11 524000 Fr. Einnahme, 6 274000 Fr. Ausgabe, 5250000 Fr.
‚Ueberschuß vor (davon zur Verteilung an die Kantone 2700263) („Neue
Berner Ztg.“ 18. 10.).
Nach einer Mitteilung der schweizer Zentralstelle gegen den Alkoholis-
mus betrug die Zahl der organisierten Abstinenten in der
Schweiz 1924 125000 (gegen 120000 1921), davon 59000 Erwachsene und
66000 Kinder und Jugendliche; dabei sind die Mitglieder abstinenter Be-
rufsvereine und abstinenter Religionsgesellschaften nicht mitgerechnet.
Spanien. Das Land hat eine höhere Sterblichkeit als z. B. Deutsch-
land. Der Alkohol wirkt dazu mit. Roesle schreibt in der „Sozialhygieni-
schen Rundschau“: „Die Ursache der anhaltend höheren Sterblichkeit in
Spanien ist nicht auf eine höhere Säuglingssterblichkeit, sondern auf die
größere Sterblichkeit an gewissen Infektionskrankheiten, wie Pocken,
Malaria, Typhus, Masern und, gleichwieindemWeinlandFrank-
reich, an Gehirnschlag zurückzuführen“ („IH. Arb.-Frd.“ Nr. 8).
Tschechoslowakei. Die politische Landesverwaltung hat den
politischen Bezirksverwaltungen empfohlen, in Orten, wo es angemessen
erscheint, den Ausschank und den Detailverkaufvon Alko-
hol an Samstagen nur bis 5 Uhr zu gestatten und an Sonn- und Feiertagen
ganz zu verbieten. In Prag und in der Provinz soll die Sperrstunde für
Gasthäuser um 12, für Kaffeehäuser um 1 Uhr beibehalten werden. Die
Handels- und Gewerbekammer empfiehlt, bei besonderen Anlässen auf An-
trag Verlängerung der Sperrstunde gegen Zahlung einer Gebühr zu ge-
statten („Der Abst.“ Nr. 10).
Holitscher hat zusammen mit anderen einen Gesetzentwurf betr. Klein-
verkauf und Ausschank alkoholischer Getränke ein-
gebracht. Der Großhandel soll frei, der Kleinverkauf und Ausschank kon-
zessionspflichtig sein. Kleinhandel liegt bei gebrannten vor, wenn 20, bei
T Getränken, wenn 100 I nicht erreicht werden („Prager Tagebl.“
19. 6.).
Die Deutschen Guttempler und die Deutsche Gemeinschaft für alkohol-
freie Kultur haben sich auf einer gemeinsamen Tagung zu Neutitschein 7.9.
zur „DeutschenGuttemplergemeinschaft“ zusammengeschlos-
sen („Dtsche. Gemsch.“ H.9).
VereinigteStaatenvonNordamerika. Die Handelskammer
von Des Moines (Jowa) hebt den Einfluß des Alkoholverbots auf das Woh-
nungswesen hervor. Vor 20 Jahren hatte die Stadt 86 Saloons, 1630 Miets-
häuser und 1466 Eigenhäuser. Jetzt hat Des Moines keine Saloons, aber
1574 Mietshäuser und 4872 Eigenhäuser. Der Hausbau und -erwerb hat nach
Einführung der Prohibition sich verdreifacht („Clipsheet‘“ der Bord of Temp.
der meth. Kirche 20. 8.).
In den 6000 Kongregationalistenkirchen (mit 850000 Mit-
gliedern) ist für den September durch alle Geistlichen ein „Kreuzzug“ zur
Durchführung der Verbotsgesetzgebung durchgeführt. Die Kongregationa-
listenkirche hat einen eigenen Ausschuß zur Gesetzesdurchführung eingesetzt
(„The. Am Issue“ Nr. 9).
Stubbe, Chronik. 43
Coolidge ist als Präsident wiedergewählt. Eine New Yorker Drah-
tung vom 7. 11. meldete: „Das Alkoholverbot bleibt weiter in Kraft. Der
‚neue Kongreß hat eine Dreiviertelmehrheit von Prohibitionisten.“
Das „Int. Bur. z. B. d. A.“ (Bull. Nr. 46) berichtet: 33 Senatoren
waren neu zu wählen; nur 1 der Gewählten kann endgültig als „naß‘ be-
zeichnet werden. Von allen 96 Mitgliedern des Senats werden 72 bestimmt
für straffe Durchführung des Verbots einstehen. Unter den gewählten Ab-
geordneten weiß man bei 8 noch nicht, welche Stellung sie zum Verbot ein-
nehmen: im übrigen sind 320 Abgeordnete „trocken“, 107 „naß“. Der Aus-
zang der Wahlen zeigt auf der ganzen Linie einen Fortschritt der Verbots-
freunde, also eine Sicherung des Alkoholverbots.
Gegenwärtig zählt man 15 552 000 Automobile in den Vereinigten Staaten.
Der „Clipsheet‘‘ des Board of Temperance der bisch. meth. Kirche (25. 10.)
bemerkt dazu: Das Alkoholverbot habe gleich anfangs eine Gesellschafts-
lage herbeigeführt, in der sogar einfache Arbeiter sich eine Annehmlichkeit
gestatten können, die früher nur Wohlhabenden zugänglich war.
Derselbe Clipsheet meldet: Das Hotel Ambassa go rin New
York liegt an der Stelle einer alten Brauerei. Werte von Hunderten Mil-
un Dollars sind im Lande seit Einführung des Alkoholverbots in Hotels
angelegt.
Das Alkoholverbot hat seine Märtyrer. 37 Bundesbeamte haben bei
der Durchführung (trepassing) des Verbots das Leben eingebüßt, während
in den Gefechten zwischen Staatsangestellten und Schmugglern über 200
Menschen (einschließlich Schmuggler) getötet wurden (,„Wereldstr.‘“ Nr. 47).
In Massachusetts sind 7 von den 31 Kreisgefängnissen seit
Durchführung des Verbots entleert, und im Bundesgebiete sind weniger
Arme in Armenhäusern als je in den letzten 20 Jahren (1910 84198, 1924
N F trotz des Anwachsens der Einwohnerzahl 78090) („The Am. Issue"
r. 10).
Mitteilungen.
1. Aus der Trinkerfürsorge.
Vorträge der Il. Trinkerfürsorgekonferenz.
(Nürnberg, 24. September 1924.)
i. Dr. Plank: Belastung der öffentlichen Finanzen
durch die Trunksucht.
Der Redner beleuchtet einleitend unsere überaus schwierige allgemeine
wirtschaftliche Lage. Es ergibt sich aus ihr der zwingende Schluß, dab
alle irgendwie verfügbaren Kräfte restlos zur Produktion, zur Schaffung
von Werten ausgenützt werden müssen, daß wir unser beschränktes Volks-
vermögen nur für wirklich produktive Zwecke anlegen und ausgeben
dürfen usw. Von hier aus erörtert der Vortragende — großenteils aus den
Erfahrungen seines eigenen Berufskreises schöpfend — die Schädigungen,
die die Trunksucht und ihre Begleiterscheinungen dem Volksvermögen und
damit den öffentlichen Finanzen bringen. Die Belastung der Armen-
pflege, die den Gemeinden obliegt, durch die Trunksucht ist ein altbekanntes
Kapitel. Eine Umfrage bei den Kreisämtern des Wohlfahrtsamtes Nürn-
berg ergab beispielsweise, daß etwas über 100 Familien dauernd in der
Betreuung des Wohlfahrtsamtes sich befinden, deren Notlage durch aus-
gesprochene Trunksucht des Familienhauptes oder eines Familiengliedes
verursacht wird. Bedenken wir weiter, daß diese Trinkerfamilien durch-
weg unerziehbar sind, daß sie den Typ der sogen. Asozialen darstellen,
daß sie den Bezirksfürsorgerinnen und den Beamten des Wohlfahrtsamtes
dauernd Arbeit machen, daß ihre Kinder entweder wegen eigenen Leicht-
sinns oder wegen Gefährdung durch die Eltern in Fürsorgeerziehung ge-
geben werden müssen, so ergibt sich daraus ein ungefähres Bild. wie
stark das Wohlfahrtsamt einer Großstadt durch die Trunksucht belastet
wird. Die angeführten Gesichtspunkte lassen auch die Belastung des
Jugendamtes durch die Trunksucht ersehen, besonders wenn man
bedenkt, daß dort individuelle Fürsorge von Mensch zu Mensch getrieben
wird. Weiter füllt der in den Nachkriegsiahren rapid gestiegene Alkohol-
verbrauch die während des Krieges leer gewordenen Irrenhäuser
wieder und machte eigene Fürsorgestellen für offene Irrenfürsorge nötig.
Die Fürsorgestelle für Gemüts- und Nervenkranke in Nürnberg hat z. Zt.
191 Schützlinge zu betreuen, deren Leiden auf Trunksucht zurückzuführen
ist. Dazu kommt der große Anteil des Alkohols an den Geschlechtskrank-
heiten mit ihren verheerenden Folgen, die Belastung, die die Trunksucht
den öffentlichen Kassen auf dem Gebiete der Polizeiverwaltung, der Recht-
sprechung und des Strafvollzugs bringt. Beispielsweise mußten in Nürn-
berg nach dortigen Aufzeichnungen im Jahre 1922: 1738, 1923: 807, 1924
voraussichtlich noch mehr Festnahmen betrunkener Personen durch die
Polizei erfolgen. Nimmt man die gewaltigen Summen hinzu, die unmittelbar
für nutzlosen Alkoholgenuß vergeudet werden, die bedeutende Herabsetzung
der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit durch denselben, die Erhöhung der
Versicherungslasten durch den Trunk usf., so kann man sich nicht genug
darüber wundern, warum Staat und Gemeinden, mit wenigen Ausnahmen,
bis heute achtlos an diesen riesigen Verlustziffern vorübergegangen sind.
Die Gemeinden haben die Pflicht, auf eine Gesetzgebung hinzuarbeiten,
die derartig unproduktive und schädliche Mitglieder der menschlichen Ge-
sellschaft streng von den übrigen Fürsorgeempfängern scheidet, der Staat
Mittellungen. 45
cie Pflicht, diese unfruchtbaren Ausgaben mit allen Kräften einzudämmen,
um die dadurch frei werdenden Mittel zur Förderung des Allgemeinwohls
2u verwenden.
2 Dr. Colla: Zur Frage eines Trinkerfürsorgegesetzes
(vom ärztlichen Standpunkte aus).
i. Die Zunahme der Trunksucht erfordert neben allgemeinen vorbeugenden
Maßnahmen dringend auch die Inangriffnahme einer großzügigen Behand-
lung der Trunksüchtigen.
2.Diese wird gegenüber anderen Krankheiten sehr erschwert durch die
Einsichtslosigkeit, Willensschwäche und Gemütsverödung der Trinker,
und man hat in vielen Staaten schon Gesetze zur zwangsweisen Behand-
iung der Trinker erlassen, die sich vortrefflich bewährt haben.
s.Es können nach der allgemeinen Erfahrung 30-40 v. H. der Trinker ge-
heilt werden. Nicht heilbare Trunksüchtige müssen, weil sie eine schwere,
soziale Gefahr darstellen, dauernd in Anstalten versorgt werden.
4 Sofern nicht Enthaltsamkeitsvereine Trunksüchtige mit Erfolg in Schutz-
auisicht nehmen, können diese nur in ganz besonders für ihren Zweck
eingerichteten Trinkerheilstätten mit Erfolg behandelt werden durch eine
planmäßige Erziehung zur Enthaltsamkeit. ;
5. Zur Zeit können wir Trinker nur auf Grund des § 6 des Bürg. Gesetz-
buches nach Entmündigung oder in Verbindung mit $ 681 der Zivilprozeß-
ordnung unter drohender Bevormundung zwangsweise einer Behandlung
in einer Anstalt zuführen. Vom ärztlichen Standpunkt genügt das nicht,
weil die Entmündigung als ein öffentlicher, gerichtlicher Akt immer erst
zu spät und als letztes Mittel zur Besserung cder zur Unschädlich-
machung, und daher für eine Heilbehandlung in den weitaus meisten
Fällen ohne Aussicht auf Erfolg versucht wird.
6. Wir bedürfen daher eines Gesetzes, das ermöglicht den Trunksüchtigen
mit amtsärztlichem Zeugnis, auf dem Verwaltungswege, etwa wie den
Geisteskranken, zwangsweise der Behandlung zuzuführen.
‚Auch die Bestimmungen des Entwurfs zu einem neuen Strafgesetze
drängen auf eine gesetzliche Regelung der gesamten Trinkerfürsorge hin:
sie bedrohen sinnlose Betrunkenheit und Trunksüchtige, die Straftaten
begehen, mit Strafe, verlangen also auch, daß den Trinkern, nötigenfalls
gegen ihre Einsichtslosigkeit mit Zwang, Gelegenheit geboten werde, von
ihrer Sucht befreit zu werden. Der Entwurf macht aber auch Trinker-
heilanstalten. Trinkerfürsorgestellen und Enthaltsamkeitsvereine zu Ein-
richtungen des öffentlichen Rechts (Denkschrift zu den §§ 91—-94), und
es muß daher auf gesetzliche Regelung -der Trinkerfürsorge ohnehin
Bedacht genommen werden.
8. Das Trinkerfürsorgegesetz muß Bestimmungen enthalten über Einrichtung
und Leitung der Trinkerheilanstalten, über Anstalten für unverbesserliche
Trinker oder ihre sonstige Versorgung, über das Aufnahme- und Entlaß-
verfahren, Antragsberechtigung, die nicht wie bei der Entmündigung
wegen Trunksucht auf die Angehörigen beschränkt bleiben darf, sowie.
über die staatliche Beaufsichtigung der Anstalten.
9.Der Wert eines solchen Gesetzes wird neben der Heilung und Versorgung
von Trunksüchtigen vor allem auch in einer Aufklärung des Volkes, in
Schärfung der Gewissen und in allgemein erzieherischer Richtung zu
suchen sein.
3 Dr. Bauer: Zur Frage eines Trinkerfürsorgegesetzes
(vom juristischen Standpunkte aus).
1.Das Entmündigungsverfahren ist kein hinreichend wirksames Mittel, um
Trinker der zwangsweisen Heilung zuzuführen.
2 Wir brauchen ein Gesetz, das ermöglicht, Trinker möglichst rechtzeitig,
auch gegen ihren Willen, in einer Trinkerheilanstalt unterzubringen und
bis zu ihrer Heilung zurückzuhalten (Trinkerfürsorgegesetz).
-d
46 Mitteilungen.
3.Der Entwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch 1919 sicht die Unter-
bringung verurteilter Trunksüchtiger in einer Trinkerheilanstalt als Ma8-
regel der Besserung und Sicherung vor.
.Die Bestimmungen des künftigen Strafgesetzbuches machen ein Trinker-
_ fürsorgegesetz nicht überflüssig. Wir brauchen neben der strafrecht-
lichen Unterbringung die verwaltungsrechtliche auf Gutachten des Amts-
arztes.
5.Beiden Gesetzen können gewisse Einrichtungen gemeinsam sein. Aus
beiden erwachsen den Trinkerfürsorgestellen und alkoholgegnerischen
Vereinen weitgehende Pilichten.
.Die Bedenken aus dem persönlichen Rechte auf freie Selbstbestimmung
sind nicht stichhaltig. Es wird sich aber empfehlen, unnötigen Zwang
zu vermeiden und gesetzliche Sicherungen (Beschwerde ans Verwaltungs-
gericht usw.) zu schaffen.
Deutsche Trinkerheilstätten.
Dem Verbande von Trinkerheilstätten des deutschen Sprachgebiets ge-
hören die folgenden, gegenwärtig geöffneten Heilstätten an:
für Männer
>
ken)
1. Fürstenwalde, Spree . . . . Heilanstalt Waldfrieden
2. Gifhorn, Aller, Hannover . . . Stift Isenwald
3. Eberstadt bei Darmstadt. . . Haus Burgwald
4. Rickling bei Neumünster, Holstein Haus Salem
5. Belgard, Pers., Pommern. . . Johanneshaus
6. Lintorf, Kreis Düsseldorf . . . Heilanstalt Bethesda
7. Werden-Heidhausen, Ruhr . . St. Kamillushaus, Kath. Anst.
8. Leutesdorf, Rhein. . . . . St. Johannesheim, Kath. Anst.
9. Jauer, Schlesien . . . Heilanstalt für Alkoholkranke
10. Eckardtsheim, Bez. Minden . . Haus Thekoa
11. Dinker, Kreis Soest . . . . Blaukreuzhof
12. Moritzburg, Elbe, Sachsen . . Anstalt Seefrieden
13. Hasenweiler, Württemberg . . Zieglerstift Haslachmühle
14. Hutschdorf, Post Thurnau, Oberfr. Haus Immanuel
15. Renchen, Baden . . Heilanstalt für Alkoholkranke
B. für Frauen
1. Himmelstür bei Hildesheim . . Elisenheim
2. Belgard, Pers., Pommern . . . Maria-Martahaus
3. Mündt bei Titz bei M.-Gladbach . St. Annahaus Kath. Anst.
4. Wassenberg, Rheinl. . . . St. Marienheim, Kath. Anst.
5. Jauer, Schlesien . . . . . Parksanatorium
6. Borsdorf bei Leipzig. . . . Villa Elisabeth
7. Korntal bei Stuttgart. . . . Haus Zoar
Trinkerfürsorge und Trinkerheilung.
Eine bemerkenswerte Aufstellung über Trinkeraufnahmen
während eines längeren Zeitraums ist uns von der Leitung der Städt-
ischenHeil-undPfleganstaltDresden zur Verfügung gestellt.
Es handelt sich um die Aufnahme einesteils von ausgesprochenen Alkohol-
kranken (Trinkern), andernteils von sonstigen mit Alkoholmißbrauch ur-
sächlich verbundenen Krankheitsfällen, verglichen mit der Zahl der Gesamt-
aufnahmen, während der Jahre 1908—23. Innerhalb dieses Zeitraums stellt
der Verhältniszahl nach das Ausgangsjahr 1908 mit (im Vergleich zur Ge-
samtaufnahme) 26,6 v. H. Aufnahmen ausgesprochener Alkoholkranker und
11,6 v. H. sonstigen alkoholverknüpften Aufnahmefällen den Höhepunkt
dar, den absoluten Ziffern nach das Jahr 1912 mit 438 (326 + 112) Fällen
(1918 waren es 403), während den Tiefpunkt absolut genommen die beiden
Jahre 1917 und 1918 mit 54 (16 + 38) und 37 (30 + 7) Fällen bilden. Dann
stieg es (wie überall) wieder rasch an, 1919—22: 65, 144, 269, 392 insgesamt,
um erstmals 1923 wieder zu fallen auf 295, wobei allerdings die Zahl der
Miiteilungen. 47
soostigen alkoholischen Aufnahmen hier noch eine Steigerung aufweist,
1921—23: 70, 66, 79. — Auch die Frauen sind im Vergleich zu dem, was
man wohl meist vom weiblichen Geschlecht in dieser Beziehung erwarten
würde, ziemlich stark beteiligt: Es befanden sich unter den Alkoholismus-
Aufnahmen (bei den sonstigen alkoholischen Fällen sind die Geschlechter
sicht gesondert angegeben) 1921—23 26, 30, 25 weibliche Fälle.
Wie von Dreden ist uns auch aus einzelnen andern großen Städten
cin spürbarer Rückgang der Trinkeraufnahmen im Vorjahr bekannt ge-
worden. So zeigte die Irrenklinik in München darin gegen die beiden
Vorjahre eine sehr beträchtliche Abnahme — 1921-23: 145, 161, 35 Fälle -—,
die Städt. Heilanstalt und Uhniversitäts-Irrenkliniik Frankfurt a. M.
egen 1922 einen starken, gegen 1921 einen leichten Rückgang — 1921-23:
181, 314. 176 Fälle. Die Zahl der Frauen unter ihnen betrug hier 19, 39, 23.
Demgegenüber wiesen allerdings die Aufnahmen aus alkoholischer Ur-
sache an der Kölner Irrenklinik 1924, wenigstens in der ersten Jahres-
hälfte, eine verhältnismäßige Zunahme gegenüber 1923 auf: Der Zugang
trug 1924 (bis dahin) über 25 v. H. der Gesamtaufnahmen gegenüber 18
. H. im Vorjahre. Fl.
Aus der Trinkerfürsorgestelle Mannheim.
In den Jahren 1911 bis 1917 waren hier gemeldet 909 Fälle
In dem Jahre 1918 wurden neu gemeldet 177 Fälle
In dem Jahre 1919 wurden neu gemeldet 310 Fälle
In dem Jahre 1920 wurden neu gemeldet 143 Fälle
In dem Jahre 1921 wurden neu gemeldet 285 Fälle
In dem Jahre 1922 wurden neu gemeldet 551 Fälle
In dem Jahre 1923 wurden neu gemeldet 286 Fälle
In dem Jahre 1924 wurden neu gemeldet bis Oktober 432 Fälle
insgesamt 3093 Fälle
Schwester Marg. Zuber.
2. Aus Vereinen.
Zahlenmäßige Uebersicht über den Stand des Deutschen
auptvereins vom Blauen Kreuz.
(„Der Herr mein Panier“ 1924, Nr. 12, S. 186.)
Zählung 1924.
I Zahl der Ortsvereine.,
. 1914, 1923 1924
West-Bund 296 236 239
Mitteld. Bund 163 116 113
Nordost-Bund 124 17 76
Nord-Bund 17 45 43
Südost-Bund . 61 83 84
Süd-Bund 95 8 82
816 588 587
ll. Zahl der Vereinsgenossen. 1994
1914 1923 1924 Mitglieder Anhänger
m. W. m. w.
West-Bund . 18 039 12048 12346 4387 5529 1174 1256
Mitteld. Bund . 7784 4859 4 287 1362 1675 643 607
Nordost-Bund . 5586 2160 2148 976 783 217 172
Nord-Bund . 8815 1793 1 803 695 724 223 161
Sadost-Bund . 8 252 1 208 1215 415 501 141 158
Sd-Bund . . 4916 3993) 4052 1079 1779 479 715
43 392 25561 25851 8914 10991 2877 3069
1) Im vorigen Jahr war irrtümlich die Zahl 5575 in der Statistik angegeben.
Ver- Hoffnungsbünde nur Jugendabteilungen Be-
eine verpfl. Kinder Besucher Vereine, verpfl. sucher
West-Bund . . 76 3 264 4 571 39 1017 1402
Mitteld. Bund . 36 657 1447 10 123 19
Nordost-Bund . 11 299 464 4 38 89
Nord-Bund . . 7 242 557 — — — |
Südost-Bund . 8 188 288 1 40 50
Süd-Bund . . 35 857 1 506 14 298 404
173 5 507 8 833 68 1516 214
Die Jugend
48 Mitteilungen.
In drei ausländischen Vereinen sind außerdem 198 Vereinsgenossen.
Und dem Hauptverein direkt als auswärtige Vereinsgenossen angeschlossen
sind 698, und zwar 444 Mitglieder und 254 Anhänger.
Gerettete Trinker wurden gezählt im Jahre 1924 im Westbund 1519.
Mitteld. Bund 712, Nordost-Bund 254, Nordbund 214, Südostbund 189, Süd-
bund 360, ausländische 10, zusammen 3238.
des deutschen Bundes evang.-kirchlicher Blaukreuzverbände?).
Die Treubünde (Jugendliche).
Verband Gesamtzahl d. Mitg!.
Brandenburg . . . . 2... 86
Freistaat Braunschweig . . . . 35
Hannoverscher Verband. . . . 39
Provinz Sachsen . . . . ... 79
Freistaat Sachsen . . . . .. 45
Schlesien . . . . 2 2 202. 19
Schleswig Holstein . . . . . 21
Westfalen . . 22200. 270
Hamburg. . . . 2 2 202. 40
= | - 634
Die Hoffnungsbünde (Kinder).
Verband Gesamtzahl d. Mitgl.
Brandenburg . . . . 2... 100
Hamburg . . .: 2 2 200. 100
Pommern . . 2 2202. 100
Provinz Sachsen . . . . .. 187
Freistaat Sachsen . . . . .. 153
Schlesien. . . 22202. 19
Westfalen . . 2 222. 457
1116
Gemeinnützige Gasthausgesellschaft
für Rheinland und Westfalen, G. m. b. H., im Jahre 1923.
Das abgelaufene 15. Betriebsjahr der unter der Geschäftsführung von
Korvettenkapitän a. D. Dr. phil. Reche und Regierungsrat a. D. Meißner
stehenden Gesellschaft (Sitz: Dortmund, Kuhstr. 4) „stand (nach dem Jahres-
bericht) im Zeichen der durch die Papiergeldinflation verursachten Ver-
mögensverluste und des damit verbundenen sozialen und wirtschaftlichen
Chaos. Hierzu traten die Störungen des wirtschaftlichen Lebens durch die
französische Ruhrbesetzung“. So mußte ein im Januar hoffnungsvoll eröff-
neter und dann günstigst entwickelter Betrieb im Telegraphenamt Dortmun
I Zusammenfassende Uebersicht nach einer vom Bunde veröffentlichten Statistik Verg!
„Das Blaue Kreuz“ 1924, Nr. 11, S 73/74. Die Zahlen der Hoffnungsbünde lassen vermuten, daß
es sich zum Teil nur um Schätzungen handelt.
Mitteilungen. 49
— Mittags- und Abendverpflegung und Erfrischungen für die zahlreichen
männlichen und weiblichen Beamten — im Juni infolge feindlicher Truppen-
besetzung des Amtes aufgegeben werden. Ebenso fielen im Laufe des
Berichtsjahres die Speiseanstalten in zwei Eisenbahnbetrieben und in einem
Postamt und ein Ledigenheim auf einer Zeche, die von der. Gesellschaft
betrieben wurden, unmittelbar oder mittelbar der Ruhrbesetzung zum Opfer.
Gleichzeitig ging überall der Umsatz infolge der industriellen Betriebsein-
schränkungen zurück. Am Ende des gut begonnenen Geschäftsjahres konnte
die Gesellschaft sich nur mit Unterstützung aus der Ruhrhilfe und mit Hilfe
von Zuwendungen der Harpener Bergbaugesellschaft geldlich über Wasser
halten. Von der erhofften Wiedergesundung der allgemeinen Verhältnisse
ım Industriegebiet wurde auch für die Arbeit der Gesellschaft wieder eine
zunstigere Gestaltung erwartet und im Ausblick hierauf insbesondere mit
den Eisenbahndirektionen wegen SANET Uebernahme neuer Betriebe
Fihlung gehalten. J. Fi.
23. Verschiedenes
Der Nationale Verband
gegen die Schnapsgefahr in der Schweiz.
Am 3. Juni 1923 hat das Schweizervolk mit Wucht (ungefähr
355000 Nein gegen 255000 Ja) eine Revision seiner Verfassung abgelehnt,
welche das schweizerische Alkoholmonopol neu ordnen sollte).
Seither sind die befürchteten Folgen eingetreten: Der Schnaps ist sehr
billig geworden, und zugleich hat die Alkoholverwaltung große Mühe, sich
über Wasser zu halten. Sie liefert den Kantonen, denen der Reingewinn
zehört, nicht nur nichts ab, sie hat ein Defizit von ungefähr 10 Millionen Fr.,
das hauptsächlich aus Abschreibung infolge Preissturz des Sprits entstand
und nur nach und nach gedeckt werden kann.
Es war vielen Alkoholgegnern sofort klar, daß man sich mit dem Ent-
scheid vom 3. Juni vorigen Jahres unter keinen Umständen abfinden könne. `
Aus den verschiedensten Gründen muß innerhalb der nächsten Jahre noch
einmal eine Abstimmung über diese wichtige Frage kommen. Vielen schien və
das einzig Richtige, daß man sich ungesäumt an die Arbeit mache, um diese
kommende zweite Abstimmung besser vorzubereiten. Verschiedene Gründe
hatten vor einem Jahr zusammengewirkt und zur Verwerfung geführt: die
langandauernde Arbeitslosigkeit und Verdienstlosigkeit, man wollte Arbeit
und Brot und nicht neue Gesetze; man hatte „genug von Bern“, von wo
während des Krieges alle die unangenehmen (aber auch unumgänglichen)
Einschränkungen ausgegangen waren. Ein wichtiger Grund war aber sicher
auch de Einsichtslosigkeit weiter Kreise. Man wußte, das
durch die neue Ordnung der Trinkschnaps verteuert wurde. Weite Kreise
trachteten das mit demselben Unwillen, wie wenn das Brot verteuert
wird: das muß man doch verhüten, überhaupt sollen die Reichen die
Steuern bezahlen. — Als am Abend des Abstimmungstages die Verwerfung
bekannt wurde, feierten sie weit herum in den Wirtshäusern laute Sieges-
feiern, als hätte man einen Sieg erkämpft wie bei Morgarten und Sempach.
Wenn in der Demokratie etwa besseres erreicht werden soll, dann
braucht es unter solchen Umständen eine ganz gehörige Aufklärungs- und
Erziehungsarbeit. Man durfte nicht mehr, wie bei der letzten Abstimmung,
de Haupttätigkeit auf die letzten 6—7 Wochen vor der Abstimmung ver-
Sparen, als sogar unter den Alkoholgegnern immer wieder die im Grunde
unverständliche Behauptung gehört wurde, man dürfe das Pulver nicht zu
irüh verschießen! Man kann im Giunde doch nicht früh genug anfangen.
Leider fehlte der rührigen Zentralstelle zur Bekämpfung des Alkoholis-
mus in Lausanne das Geld, um sich sofort in verstärktem Maße ans Werk
zu machen. Als der Schreiber dieser Zeilen nach dem 3. Juni für diese
) Siehe Die Schweizer Abstimmung am 3. Juni 1923, S. 204, 1923, dieser Zeitschrift.
Die Alkoholfrage, 1925. 4
50 Mitteilungen.
Zentralstelle Mittel aufzubringen versuchte, machte er eine merkwürdige
Erfahrung. Trotz der immer noch andauernden ernsten Krisis der Schweizer
Industrien und obwohl alle Besitzenden tagtäglich angepumpt werden, fand
er doch an vielen Orten große Bereitwilligkeit, die geplante Aufklärungs-
arbeit zu unterstützen. Aber immer kam dazu dieselbe Bemerkung: Es soll
keine Abstinenten-Sache werden, sonst ist sie ein totgeborenes Kind!
Es galt, dieser Erkenntnis entsprechend zu handeln. So wurde ein
neuer Verband gegründet, der nicht den allgemeinen Kampf gegen den
Alkohol proklamiert, dafür aber mit aller Kraft den Kampf gegen den
Schnaps aufnimmt. Die bisherige Erfahrung hat gezeigt, daß diese Be-
scheidung in der Zielsetzung gut war. Prominente Männer, deren Namen
Gewicht hat in der Eidgenossenschaft, haben sich zur Mitarbeit bereit er-
klärt. Während der „Verband für Volksaufklärung über den Alkoholismus”,
welcher der Lausanner Zentralstelle neue Mittel zuführen soll, große Mühe
hat und wenigstens bis dahin nur sehr bescheidene Erträge abliefern konnte
(obwohl die zahlreichen Abstinenten mit unermüdlicher Treue für sie arbeiten
und betteln), hat der neue Verband gegen die Schnapsgefahr recht ansehn-
liche Mittel, wenigstens für den Anfang erhalten. Und von verschiedenen
Seiten wartet man ungeduldig auf von ihm zu leistende Arbeit.
Eine Gründungsversammlung in Zürich im Frühjahr 1924 hat bei starker
Beteiligung und flotter Stimmung den ersten Initianten zugestimmt, hat die
im Entwurf vorliegenden Satzungen gutgeheißen, hat die bisherigen sieben
Förderer des Werkes als Vorstandsmitglieder gewählt und beauftragt, sich
weiter bis auf 15 zu ergänzen.
Die wichtigsten Bestimmungen der Satzungen lauten:
„$ 1. Der Verein „Nationaler Verband gegen die Schnapsgefahr“ be-
zweckt auf möglichst breiter Grundlage in der ganzen Schweiz den Kampi
zu führen für intensive Verminderung des Schnapsverbrauches,
Er sucht sein Ziel zu erreichen durch Aufklärung der öffentlichen
Meinung, durch Mithilfe bei der Revision der eidgen. Alkoholgesetzgebung
und durch Förderung der gärungslosen Obstverwertung und des Frischobst-
verbrauches.
Er unterhält zu diesem Zwecke ein Sekretariat.
Er ist konfessionell und politisch neutral.
Sein Sitz ist der jeweilige Wohnort des Sekretäis.
§ 2. Mitglied des Verbandes kann jede natürliche und juristische
Person werden, welche den Verbandszweck fördert oder unterstützt.
Der minimale Jahresbeitrag für natürliche Personen beträgt Fr. 2,—,
für juristische Personen oder öffentliche Korporationen Fr. 10,—.
Ueber Aufnahme und Ausschluß entscheidet der Vorstand.
Die Mitgliederversammlung findet ordentlicherweise einmal jährlich
statt, sie wählt den Vorstand (auf 2 Jahre), nimmt Geschäfts- und Kassen-
bericht entgegen und beschließt über alle Angelegenheiten des Verbandes,
die au vom Vorstand oder aus der Mitte des Verbandes unterbreitet
werden.“ —
Als Leiter des Sekretariates wurde vom Vorstand der Unterzeichnete
gewählt, der auf 1. Oktober sein Pfarramt für einige Jahre niederlegt, um
sich von Zürich aus der neuen Aufgabe widmen zu können.
Als wichtigste Aufgaben sind folgende drei zu nennen:
1. Bereitstellung und möglichst starke Verbreitung von Aufklärungs-
material (Schaffung von Flugblättern, Lichtbilderreihen, Filmen), Anstellung
von Wanderrednern, Versorgung der politischen, religiösen und sonstigen
Presse mit Aufsätzen über die Schnapsfrage.
2. Organisation von kleinen Ausschüssen, womöglich in jedem Kanton,
die dem Sekretär beratend und helfend zur Seite stehen.
3. Bearbeitung aller möglichen kantonalen und schweizerischen Vereine
und Verbände (Gemeinnützige Gesellschaften, Bischöfliche Konferenzen,
Reformierter Kirchenbund, Aerzte-, Lehrer- und Pfarrervereine, kantonale
Kirchen-Synoden, Rotes Kreuz, Krankenkassen usw.), damit die Schnaps-
Mitteilungen. 51
irage an ihren Tagungen besprochen wird. Sie soll nicht mehr von ihrer
Geschäftsliste verschwinden, bis auf diesem Gebiete ein wichtiger Schritt
vorwärts getan worden ist.
Wichtige Verhandlungen brauchte es zur Klarlegung der Verhältnisse
zwischen dem neuen Verbande und der gut organisierten, starken schwelze-
rischen Abstinenzbewegung, die in der Zentralstelle in Lausanne zusammeu-
gefaßt ist. Den führenden Männern im neuen Verbande war es von Anfang
an klar, daß der Antischnapsverband nicht einen Ersatz für die
Abstinenzorganisationen,sonderneineErgänzungder-
selben sein soll. Vor allem wurde versucht, eine finanzielle Schädigung
oder Schwächung der abstinenten Arbeitsstelle zu verhüten, z. B. ver-
pflichtet sich der neue Verband, bei abfälligen Gesuchen um Beiträge
aus dem Alkoholzehntei immer auch für ungeschmälerte Unterstützung
von Lausanne einzutreten. Wir halten eine lebenskräftige
und leistungsfähige Abstinenzbewegung für außer-
ordentlich wichtig im Kampf für größere Nüchtern-
heit unseres Volkes. Wir möchten aber den Versuch wagen,
ob es nicht gelingt, das Interesse an der Alkoholfrage in weitere Kreise zu
tragen und sie zur Mitarbeit für die dringendsten Aufgaben aufzurufen. Wir
zlauben, daß, zumal bei den heutigen Verhältnissen, weite Kreise geneigt
sind, den Kampf gegen den Schnaps zu unterstützen, die nicht für die
Abstinenz und nicht für den allgemeinen Kampf gegen den Alkohol zu
haben sind. Diese Kreise brauchen wir, wenn es gelingen soll, die neuen
Erkenntnisse über die Gefahren der Alkoholverseuchung gesetzgeberisch
auszumünzen; wir hoffen zuversichtlich, daß unter den radikalen Alkohol-
zeznern die besonnenen Elemente stark genug sein werden, daß die zwei
verschiedenen Gruppen sich nicht durch gegenseitigen Kampf unnütz
schwächen. Hoffentlich sind die Zeiten endgültig vorbei, wo man glaubte,
sich vor allem gegen die Mäßigen richten zu müssen, auch wenn diese ernst-
lich für Nüchternheit eintraten.
Wir glauben, daß im Kampf gegen den Alkohol sich das Vorgehen nach
Zeit und Ort richten muß und darum in den verschiedenen Ländern not-
wendig verschieden sein wird. Eines schickt sich wirklich nicht für alle.
Wenn man uns entgegenhält, daB vor 100 Jahren eine Antischnapsbewegung
aufkam und wirkungslos (?) im Sande verlief, so antworten wir ruhig:
Wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht notwendig dasselbe.
Ohne stark Theorien zu klopfen und ohne uns zu fürchten, weil wir
neue Wege (wenigstens für die Schweiz) gehen, wollen wir durch praktische
Arbeit das Notwendige tun.
Heute sind die Verhältnisse wirklich widersinnig. Die Schweiz leidet
unter hohen Lebenskosten, teurem Brot, teurem Fleisch, dafür haben wir
setzt in der Schweiz den billigsten Trinkschnaps auf der ganzen Welt.
(Schon jetzt ist ein Liter für 1,— Franken zu haben, und ohne Zweifel wer-
den die Preise noch tiefer sinken.) Wir alle seufzen unter dem Drucke von
sehr hohen direkten Steuern. Aber wir bringen es nicht fertig, eine solch
ergiebige Steuerquelle, wie es der Schnaps (leider) ist, den öffentlichen
Aufgaben des Landes nutzbar zu machen. Starke Belastung des Schnapses
ist wohl die gerechteste Steuer, die es gibt. Nach dem Vorbild anderer
Länder wäre es ein Leichtes, in der Schweiz aus der Besteuerung des
Schnapses jährlich 30-49 Millionen Franken Reingewinn zu erzielen.
Wir sind uns der großen Gefahr der Alkoholsteuern wohl bewußt, aber
wir glauben, daß wir für lange Zeit nicht darum herumkommen. Von einem
Schnapsverbot kann bei den besonderen Verhältnissen in der Schweiz auf
eine ganze Anzahl von Jahren hinaus keine Rede sein. Da ist es gewiß
r, der Schnaps sei teuer, und zwar nicht zu Gunsten der zufälligen
privaten Hersteller des Schnapses, sondern zu Gunsten der Allgemeinheit.
Wir wissen wohl, daß auch bei glücklichem Gelingen unserer Arbeit
nur etwas ganz Kleines erreicht ist, aber das macht uns nichts, weil wir
erkannt haben, daß es in unserem Lande überhaupt nicht anders als in
4%
52 Mitteilungen.
ganz kleinen Schritten vorwärts gehen wird (es sei denn, daß ganz außer-
ordentliche Erlebnisse unser gemütliches Dahinleben und unsere Wohl-
behäbigkeit erschüttern). In der langen Front im Stellungskrieg zwischen
Alkoholgegnern und -interessenten wählen wir einen bestimmten Punkt
heraus und wollen mit zum Teil neu herangeführten Truppen einen starken
Angriff wagen. Nach der Niederlage vom 3. Juni wird ein frischer Kampf
gut tun. Ein Erfolg in diesem Punkte wird die in vielen alkoholgegnerischen
Kreisen nicht kleine Entmutigung am ehesten überwinden. Wir haben
trotz groBer Schwierigkeiten nicht zu verzweifeln.
F. Rudolf, Pir., Herisau.
Jahresversammlung
der alkoholgegnerischen Vereine Belgiens in Antwerpen.
Am Sonnabend, dem 25. Oktober 1924 wurde die Jahresversammlung
des Bundes der belgischen Abstinenzvereinigungen unter dem Vorsitz von
Dr. Fierens und in Anwesenheit hervorragender Alkoholgegner Belgiens
(u. a. Prof. Ley, Dr. Capart, Dr. Boulanger, Frau Puttemans, Frl. de Laveleye,
Pastor Serex, Pater Vullings) und des Auslandes (u. a. Dr. Hercod, Dr.
Dahlgren, Prof. van Rees. Frl. Prior, Gouverneur Julian) eröffnet.
Gegenüber den belgischen Abstinenzkongressen der letzten Jahre, die
in Gent und Brüssel stattfanden, bedeutet die Antwerpener Tagung ent-
schieden einen Fortschritt. Einmal war die Vorbereitung des Kongresses
seitens der belgischen Abstinenzvereinigung Sobrietas, deren Hochburg
Antwerpen ist, besonders gut. Zum anderen zeichnete sich die Tagung
durch Behandlung aktueller Themata und Erstattung hervorragender Be-
richte aus.
Der erste Verhandlungsredner war Dr. Boulanger, der Generalsekretär
des Zentralbureaus für Erforschung des Alkoholismus im Justizministerium
ist. Boulanger gibt alljährlich die Zahlen bekannt, durch die die Wir-
kungen des Verbotsgesetzes von 1919 zum Ausdruck kommen.
Der Verbrauch an Branntwein (100 %) betrug vor dem Kriege 2,5 Liter,
jetzt 1—1,25 Liter pro Kopf (1923: 1,26). Die Zahl der alkoholischen Geistes-
kranken ist ebenfalls niedriger als vor dem Kriege. Dagegen weist dıe
Statistik über Bier- und Weinverbrauch eine nicht unbedenkliche Zunahme
auf: 1910 1913 1919 1921 1923
Bier 219,00 223,00 127,00 169,00 232,00 Liter
Wein 6,62 4,61 = = 7,50 Liter.
Boulanger empfiehlt in seinem Vortrage, die Herstellung von Bier mit
mehr als 5% Alkohol und den Verkauf von Wein mit mehr als 12 % Alkohol
zu verbieten. Vor allem müßte die Erziehungsarbeit zur Abstinenz mehr
als bisher von der Regierung gefördert werden. Die Unterstützung der
belgischen Alkoholgegnerbewegung vor dem Kriege betrug jährlich 80 000
Franken; heute sind es nur 40000, eine Summe, die bei Berücksichtigung
der Geldentwertung nur den 8. Teil der Vorkriegssumme darstellt.
Ueber den Alkoholhandel in den Kolonien sprachen Gou-
verneur Julian, Dr. Broden und Gräfin Carton de Wiart; ferner die Ver-
treter der Mission, Pastor Anet und Pater Vullings. Es wurde im Laufe
der Vorträge und der Aussprache wiederholt die Forderung geäußert, daß
in den Kolonien für Weiße und Schwarze dieselben Einschränkungs- oder
Verbotsmaßnahmen gelten müßten — trotz des starken Einspruchs, den die
Weißen gegen eine solche Gleichstellung zu erheben pflegen.
Das dritte Hauptverhandlungsthema war: Alkohol und Schule.
Prof. E: Vincent sprach über die erzieherischen Werte der Abstinenz für die
Entwicklung des Charakters. Frl. A. Descoeuvres (Genf) behandelte die
wirksamsten Methoden, die Kinder vor dem Alkohol zu bewahren. Dr.
Hoorens sprach über Antialkoholunterricht in Lehranstalten und Univer-
sitäten. Er teilte u. a. den Wunsch eines bekannten Brüsseler Jugend-
Mitteilungen. 53
richters mit, der im Interesse der gefährdeten Jugend den Alkohol gesetzlich
abgeschafft wissen will. Dr. Dahlgren (Stockholm) berichtete über die
Grundlagen des schwedischen Nüchternheitsunterrichts.
Mit dem zweitägigen Kongreß war ein Festabend verbunden, an dem
Dr. Hercod und Pater Vullings sprachen, ferner eine Ausstellung, die längere
Zeit geöffnet blieb. Krt.
Von der holländischen Wanderausstellung.
Eigentlich sind’s ihrer zwei: Diejenige der Vereinigung zur Errichtung
und zum Betrieb einer Wanderausstellung („Reizend drankweer museum‘)
und die fahrbare Eisenbahnwagenausstellung, die der holländische Eisen-
bahn-Alkoholgegnerverband geschaffen hat und umreisen läßt. Wir meinen
hier die erstere. Die Vereinigung, die in Amsterdam ihren Sitz hat, sieht
jetzt auf ihr sechstes Lebensjahr zurück. Wie dem von ihrem Sekretär
und Schatzmeister J. Harders erstatteten Jahresbericht über 1923 zu ent-
nehmen ist, haben sich die Bestandsschwierigkeiten des Werkes noch nicht
gelichtet. Staatlicher Unterstützung immer noch ermangelnd (allgemeine
Geldnöte!), ist es in erster Linie auf die Beiträge seiner ordentlichen Mit-
glieder — einiger alkoholgegnerischer Landesverbände, die einen Kopf-
beitrag leisten — angewiesen. Dazu kommen gewisse Beiträge der außer-
ordentlichen Mitglieder (zurzeit 110) und Gönner (zurzeit 20) und Ein-
nahmen aus „Materialmiete“ (anscheinend aus erhobenen Eintrittsgeldern)
und Schriftenverkauf. Dabei wird — wie in den letzten Jahren öfters aus
Holland — neben dem Geldmangel über ‚„Mattheit und geringe Unter-
nehmungslust‘“ geklagt, „die unverkennbar auch in den Reihen der Alkohol-
gegner herrscht“. Ueber Art und Inhalt der Ausstellung sagt ihr Sekretär
und Verwalter: „Wir besitzen in unserem Museum ein sorgfältig auf-
gebautes, gut passendes Ganzes, das sicher noch in dieser und jener Hin-
sicht verbesserungs- und ergänzungsfähig ist, aber bis heute scharfer Kritik
auch von gut gewappneten Gegnern standhalten kann.“ Den strengen
Grundsätzen, die bei der Gestaltung der Ausstellung leitend sein sollen,
kann man nur zustimmen — sie decken sich mit den vom Deutschen Verein
z. d. Alk. bei seiner Wanderausstellung beobachteten: „Man darf nie ver-
vessen, daß die Alkoholinteressenten in Bereitschaft stehen, jede Ungeschick-
lichkeit, jeden Fehler, der auf unserer Seite gemacht wird, sich zunutze
zu machen. Mit gutem Willen allein kommt man im Kampf gegen den
Alkoholismus nun einmal nicht weiter, es ist auch Einsicht und gediegene
Kenntnis dabei nötig. Und nicht auf bloßen äußeren, sondern auf inneren
Erfolg muß bei Antialkoholausstellungen das Absehen in erster Linie ge-
richtet sein.“
Mit 47 Orten wurden im letzten Jahr Verhandlungen über Veranstaltung
der Ausstellung geführt, an 18, worunter auch mehrere Dörfer, kam sie
zustande. Die Dauer betrug in der Regel 3 bis 6 Tage. Die Besucherzahl
bewegte sich zwischen 200 und 3000 und mehr, meist belief sie sich auf
einige Hundert. Ein sehr starker Besuch wurde an einem Orte anläßlich
eines] ahr-(Vieh-)markts erzielt. Insgesamt haben 1923 an den erwähnten 18
Plätzen 16550 Erwachsene und 3740 Schüler die ausgestellten Gegenstände
zesehen. Vielfach wird die Besichtigung so eingeteilt, daß tagsüber mehr
die Schulen, abends mehr die übrige Bevölkerung sich einfindet. In Haarlem
wurden alle Schulen amtlich zum Besuch aufgefordert, und zwei Lehrer
bekamen vier Tage Urlaub, um auf der Ausstellung durch Aufklärung der
Schuljugend behilflich sein zu können. Es kamen etwa 1000 Schüler. Zu
den genannten Veranstaltungen und Ziffern kam dann im November auf
Bewerkstelligung des „Amsterdamer Ausstellungskomitees für Trunk-
bestreitung‘‘ Amsterdam, wo das Museum für 25 Tage einer großen Aus-
stellung über Volksernährung eingegliedert war, hinzu mit mindestens 50 000
Besuchern — von den etwa 72000 Besuchern der Gesamtausstellung. Auf
dieser war, so wie die Dinge heute noch stehen, naturgemäß das Alkohol-
54 Mitteilungen.
gewerbe recht stark vertreten. Schon monatelang war für die Ausstellung
mit einem Werbeplakat die Trommel gerührt, auf dem eine Reklame für
Stout (starkes, dunkles Bier) prangte (— „Volksernährung“!). Es kam mit
den Alkoholinteressenten, denen seitens der Leitung der Antialkoholabteilung
beherzte und geschickte Gegenwehr geboten wurde, zu spannenden und
unterhaltsamen Zwischenfällen, die in der Endwirkung zugunsten der Alko-
‚holgegner ausschlugen.
Meist wird die Ausstellung von örtlichen alkoholgegnerischen Vereini-
gungen herbeigerufen — und von diesen öfters mit Bazaren und Lotterien
verbunden, die Geld für ihre Zwecke bringen sollen. Von erwünschten
Nebenwirkungen der Ausstellungsveranstaltung seien erwähnt die Ver-
breitung von schriftlicher Aufklärung und der verschiedentlich erzielte
Gewinn an Mitgliedern für die betreffenden alkoholgegnerischen Orts-
gruppen. Was die erstere anlangt, so belief sich der Verkauf an Schriften
usw. seitens der Ausstellungsleitung im abgelaufenen Jahr auf einen Betrag
von 760 Gulden. Es wird auch eine eigene Zeitung in zwei Formaten aus-
gegeben und für die Ortsgruppen, die die Ausstellung veranstalten wollen,
zur Verfügung gehalten. Sie haben dann selbst für Anzeigen zu sorgen
und können damit ihre Unkosten bestreiten. Außerdem werden große
Mengen Flugblätter kostenlos verteilt.
Was der Bericht zum Schlusse sagt, gilt in entsprechender Anwendung
auch für die Erfahrungen, die man in Deutschland und anderwärts vielfach
bei den Nüchternheitsbestrebungen macht: „Wir stoßen jetzt überall auf
Sympathie und Wertschätzung, sowohl bei Alkoholgegnern als an maß-
gebenden Stellen. Natürlich geht bei letzteren die Sympathie und Wert-
schätzung nicht immer sehr tief, aber mehrfach gewann man doch die
Ueberzeugung, daB man über das überrascht war, was die Alkobol-
bekämpfung vor Augen führen kann. Es ist zu hoffen, daß in Zukunft die
Wertschätzung ... . sich mehr als bisher in Taten umsetzen wird... .“
J. Flaig.
Skandinavische Alkoholstatistik.
A. Norwegen.
Den Mitteilungen des norwegischen statistischen Zentralbüros über die
Alkoholstatistik des Jahres 1923 entnehmen wir die folgenden Einzelheiten:
L
In Norwegen besteht, seitdem am 16. April 1923 das Südweinverbot
aufgehoben worden ist, lediglich ein Branntweinverbot. Zugelassen sind.
wenigstens für bestimmte Teile des Landes, Verkauf und Ausschank von
Wein und Bier. Man unterscheidet drei Arten von Bier, 1. Schwachbier.
das höchstens 2% Vol. Prozent enthalten darf, 2. das sogenannte gewöhn-
liche Bier mit 2%-—-4°?l« Vol. Prozent Alkohol, und 3. das Starkbier mit
4°4—7 Vol. Prozent Alkohol.
I. Ausdehnung des Bier- und Weinhandels.
a) In Städten: In 25 der 67 norwegischen Städte besteht ent-
weder überhaupt kein Alkoholausschank oder höchstens ein Ausschank
von Schwachbier, in 6 Städten ist nur der Verkauf von Schwachbier,
in einer Stadt ist der Ausschank sämtlicher Biersorten zugelassen;
in 4 Städten sind nur Wein- und Bierausschank gestattet, in
21 Städten Wein- und Bierverkauf, und in 10 Städten nur Bier-
verkauf.
b) Aufdem Lande: Von den 651 norwegischen Landgemeinden gibt
es in 579 Gemeinden überhaupt keinen Ausschank und Verkauf
geistiger Getränke, in 16 Gemeinden ist nur Schwachbierverkauf
zugelassen, in 14 Gemeinden Ausschank aller Biersorten, in
29 Gemeinden Wein- und Bierausschank, in einer Gemeinde
Mitteilungen. 55
A un Bierverkauf und in 12 weiteren Gemeinden nur Bier-
verkauf.
Wenn man also nach skandinavischem Gebrauch das alkoholschwache
Bier nicht zu den berauschenden Getränken zählt, kann man behaupten,
daß von den 67 Städten 31 und von den 651 Landgemeinden 595 trocken
gelegt sind.
HI. Der gesetzliche Alkoholverbrauch.
1. Spritund Branntwein.
1922 1923
Sprit. . 2.2.2.2... 829 873 896 737 Liter
Branntwein . . . . . 864 161 1 360 265 Liter
2. Wein und Fruchtwein.
1923
Südwein . . 2 2 2 2 2 2 2 20. 1 985 581 Liter
schwache Weine . . . . . 2.2... 511 334 Liter
Fruchtwein . . . 2. 2 2 2 2 202. 18563 Liter
3. Bier
1922 1923
Schwachbier . . . . 41012 39 438 Hektoliter
Gewöhnliches Bier. . 576233 612075 Hektoliter
Starkbier . . . . . . 224 185 157 712 Hektoliter
4Gesamtverbrauchan reinem Alkoholaufden Kopf
der Bevölkerungim Jahr:
Branntwein
und Sprit Wein Bier insgesamt
1916 1,69 0,31 . 1,08 3,03 Liter
1921 0,59 0,21 1,40 2,20 Liter
1922 0,63 0,18 1,38 2,14 Liter
1923 0,82 0,15 1,25 2,22 Liter
5. Zahi der Alkoholrezepte.
von 1443 Aerzten von 258 Tierärzten
ausgestellt ausgestellt
1921 1 701 000 212 000
1922 1 574.000 219 000
1923 1 807 206 335 000
IV. Alkoholausgaben.
Im Jahre 1923 wurden verausgabt für
Sprit und Branntwein . ... . ca. 47 000 000 Kr.
Bier u. 2.2.5 2 2 ae 78 000 100 Kr.
Wein 2. u.a ae 26 000 000 Kr.
151 000 000 Kr.
das macht bei einer Bevölkerungsmenge von 2,7 Millionen (Zählung vom
I. Januar 1923) pro Kopf 56 Kronen.
V. Uebertretungen des Verbotsgesetzes.
Geschmuggelt wird hauptsächlich Branntwein; der Weinschmuggel ist
unbedeutend. Bis zum 1. Oktober 1922 erfaßte die Statistik nur diejenigen
Alkoholmengen, die von Zollbeamten beschlagnahmt worden waren. Seit
dem 1. Oktober 1922 werden auch die von der Polizei beschlagnahmten
Mengen berücksichtigt.
Zollbeamten konfiszierten:-
1921 1922 1928
Sprit und Branntwein 16989 93092 203889 Liter
56 Mittellungen.
Von Zoll- und Polizeibeamten zusammen wurden beschlagnahmt im
Jahre 1923: Sprit 532 618 Liter, Branntwein 13824. Das sind an absolutem
Alkohol rund 520 000 Liter.
Während des ersten Halbjahres 1924 und 1923 wurden im ganzen be-
schlagnahmt:
1. Halbjahr 1924 1. Halbjahr 1923
Sprit . . 22.2. 100 664 236 182 Liter
Branntwein . . . . 5448 .9 793 Liter
Der starke Rückgang im Jahre 1924 ist vor allem der wesentlich ver-
schärften Ueberwachung des Schmuggels durch die norweg. Regierung zu
danken, dann aber auch den zunehmenden Abwehrmaßnahmen deutscher
Reeder und nicht zuletzt der Stabilisierung der deutschen Mark. Für die Zu-
kunft werden vermutlich von Einfluß die Vereinbarungen sein, die auf der
internationalen Konferenz zur Bekämpfung des Alkoholschmuggels am
24. November 1924 in Helsingfors getroffen worden sind.
VI. Trunkenheitsvergehen.
Die nachfolgenden Zahlen beziehen sich nicht nur auf die Verhaftungen,
sondern auch auf Notierungen seitens der Polizeibeamten.
1916 1921 1922 : 1923
Kristiania . . . 24818 18750 18195 22504
die übrigen Städte 32642 18327 22174 21937
Landgebiet . . 5181 3425 4 816 4578
62641 35502 44685 49019
B. Dänemark.
Das dänische statistische DEDAPIEMENI hat folgende Verbrauchsziffern
veröffentlicht:
I. Branntwein.
An gebrannten Getränken wurden 1923 im ganzen 2 233 000 I (100pro-
zentig) verbraucht. Das entspricht einem Verbrauch auf den Kopf der
Bevölkerung von 0,67 Litern.
Der Verbrauch auf den Kopf der Bevölkerung war
1911—1915 4,45 Liter 1918 0,20 Liter 1921 0,51 Liter
19:6 4,34 Liter 1919 0,46 Liter 1922 0,56 Liter
1917 1,26 Liter 1920 0,76 Liter 1923 0,67 Liter
An Branntweinabgaben wurden 1923 gezahlt:
Gewöhnliche Abgaben -780 000 Kr.
Zuschläge. ..... 33 500 000 Kr.
I. An Fruchtwein
(mit einem Alkoholgehalt von 2%%—-20 Vol. Prozent) wurde 1923 hergestellt:
1289000 Liter (1922: 636179). An Steuern wurden 1923 für Fruchtwein
bezahlt: 620 966 Kr.
HI. Bier.
An alkoholarmem Bier (bis zur Alkoholgrenze von 2% Gew. Prozent.
Steuerklasse II und steuerfrei) wurde 1923 verbraucht: 1694000 hl. an
Starkbier: 1268000 hl, im ganzen also 2962 000 hl.
Das sind auf den Kopf der Bevölkerung nahezu 90 Liter.
Der Bierverbrauch in den vorhergehenden Jahren betrug auf den Kopf
der Bevölkerung
1917 75 Liter 1920 80 Liter
1918 57 Liter 1921 73 Liter
1919 70 Liter 1922 62 Liter
An Biersteuern wurden 1923 im ganzen gezahlt: 25 307 000 Kr.
Mitteilungen. 57
C. Schweden.
Nach den Angaben der schwedischen Kontrollbehörde gelten folgende
Ziiiern für den Verbrauch geistiger Getränke in den letzten Jahren:
Branntwein zu 50% Wein steuerpflicht. Bier Dünnbier
1919 1920. . . 6,0 Liter 0,70 Liter 21,55 Liter 12,5 Liter
1920/1921. . . 4,8 Liter 0,48 Liter 22,08 Liter 12,7 Liter
1921/1922. . . 3,8 Liter 0,40 Liter 14,85 Liter 10,3 Liter
19221923. . . 3) 3,9 Liter 0,47 Liter 21,66 Liter 11,1 Liter
Der Jahresalkoholverbrauch des schwedischen Volkes dürfte in Geldes-
wert mindestens 300 Millionen Kronen betragen. Die Kontrollbehörde er-
rechnete für das Jahr 1922, lediglich den Getränkepreis zugrundelegend
ohne Steuern und Gewinne des Zwischen- und Kleinhandels, allein die
Summe von 198 471 705 Kr.
Die Trunkenheitsvergehen sind vom Vorjahr zum Jahre 1923 gestiegen
von 25673 auf 30127. An der Zunahme sind die Städte schuld. Auf dem
Lande gehen die Trunkenheitsvergehen zurück. Von 2407 Landgemeinden
besitzen nur noch 300 Kleinverkaufsstellen und Wirtschaften. Krt.
Die jährliche Ausgabe Japans für geistige Getränke‘)
beläuft sich jetzt nach einem Bericht von Mark R. Shaw, Vertreter des Aus-
schusses für Temperenz usw. der bischöflichen Methodistenkirche in Japan,
auf über 1 Milliarde Yens, also über 2 Milliarden (2132 Millionen) Mark. Im
jahre 1922 wies der Alkoholverbrauch in Japan nach mäßiger Schätzung
iolgende Ziffern auf: Sake (Reisbranntwein) 10% Millionen hl im Wert von
cber 1990 Millionen Mark, Bier 1,389 Millionen hl = rund 120 Millionen Mark,
eingeführte Schnäpse, Weine und andere geistige Getränke (schätzungs-
weise) über 20 Millionen Mark. .‚Dieser Betrag kommt °/s des jährlichen
Regierungshaushalts gleich und bedeutet eine Durchschnittsausgabe von
rund 130 Mark für die Familie im ganzen Reiche. Dies trotz der Tatsache,
Gaß glaubhaft festgestellt ist, daß 92 v. H. der Bevölkerung mit weniger als
% Yens (1045 Mark) im Jahre auskommen müssen, und daß die Präfektur
von Osaka das durchschnittliche Jahreseinkommen der Bauern dieses Be-
zirks auf nur 264 Yens (552 Mark) berechnet hat. Dies gibt einigen Begriff
von der Ausdehnung und dem Ernst der Alkoholfrage in Japan.“ Obwohl
das Land vor ernsten Ernährungsschwierigkeiten steht, die es zur jährlichen
Einfuhr großer Mengen Reis nötigen, verschwendet es doch jährlich mehr
als diese Einfuhrmenge in der Sakeherstellung. Dies macht 'lıa des ge-
amten japanischen Reisverbrauchs aus und würde zur Ernährung von
> Millionen Menschen, !/Jıs der ganzen Bevölkerung Japans, reichen. Der
Ernst des Sakeproblems tritt auch beim Blick auf die Tatsache in die Er-
:cheinung, daß die japanische Sterbeziffer im Wachsen ist: sie steigerte sich
1922 um 22,3 v. Taus. Unter solchen Verhältnissen hat, von 1915 bis 1922
bei einer Bevölkerungszunahme von 8 v. H. die Sakeerzeugung sich um
%, die von Bier sogar um 136 v. H. gesteigert. Zu gleicher Zeit nimmt
nach dem Zeugnis von Wohlfahrtsarbeitern die Straffälligkeit der Jugend-
ichen reißend zu. Auch hier ist wie in andern Ländern das Alkoholgewerbe
ricksichtslos am Werke.
(J. Fl. nach der Zeitungskorrespondenz des Ausschusses für
Temperenz, Alkoholverbot und öffentliche Moral der bischöf-
lichen Methodistenkirche, Washington, vom 16. August 1924.)
ee a Ben
,') Für das Jahr 192324 stellte die Kontrollbehörde eine weitere Steigerung des Alkohol-
‚efbrauchs fest. Uns legen vorläufig nur die absoluten Zahlen für Branntwein und Wein vor:
ranntwein 28454934 Liter 26318181 Liter
Wein . . 3383293 Liter 2790774 Liter
') Vgl. den Aufsatz „Der Nationale Antialkoholbund Japans“ auf S. 32 ff.
58 Mitteilungen.
Vom jungen Schopenhauer.
In den Reisetagebüchern Arthur Schopenhauers aus den Jahren 1803
und 1804, die von Charlotte von Gwinner herausgegeben sind, findet sich
eine Niederschrift des damals 15jährigen Arthur Schopenhauer, die bereits
für seine feine Beobachtungsgabe, seinen auf das Wesenhafte gerichteten
Wirklichkeitssinn höchst charakteristisch ist. Schopenhauer hat in seinem
Reisetagebuch unter dem 8. Mai 1803, nachdem er auf seiner Reise, die er
damals mit seinen Eltern angetreten hatte, die holländische Grenze über-
schritten, folgende Aufzeichnung hinterlassen: „Wir traten in einer kleinen
ärmlichen Schenke ab. Bei unserem Eintritt saßen auf der Diel Bauern an
verschiedenen Tischen, aßen und tranken Kaffee, und sprachen ruhig unter-
einander. Da wurde nicht gesungen und gejauchzt, oder gezankt und
geflucht, wie es wohl an anderen Orten in den Dorfschenken abends
geschieht, sondern sie saßen wie ächt holländische Bauern und tranken
— Kaffee. Die ganze Szene war vollkommen so, wie man sie so häufig auf
den niederländischen Bildern findet“. — Wie richtig hat hier der junge
Schopenhauer beobachtet; offenbar hatte er die sonst übliche Alkoholwirkung,
wie er sie in der Heimat wohl selbst gesehen hatte, in Erinnerung und sah nun
die gegenteilige, harmlose, friedliche Wirkung des Kaffees. Was der junge
Schopenhauer damals gesehen und in seiner Aufzeichnung im Reisetagebuch
festgehalten hat, muß ihm wohl wichtig genug erschienen sein und ihn offen-
bar nachdenklich gemacht haben, sonst hätte er eben seine Wahrnehmung
nicht erst aufgeschrieben. Ihre psychologische und soziale Bedeutsamkeit
kennen wir ja aus der täglichen eigenen Beobachtung und den wissen-
schaftlichen Feststellungen der experimentellen Psychologie.
San.-Rat Dr. Otto Juliusburger.
Besprechungen.
Das praktisch bedeutungsvollste und in seinen Maßen weitaus größte
‚ntialkoholische Unternehmen, das die Welt bis heute erlebt hat, ist zweifel-
os ds amerikanische Alkoholverbot. Kein Wunder daher,
daß dieses Werk, das zwar im Grundsatz etwas Fertiges und Gegebenes,
m seiner tatsächlichen Ausgestaltung und Durchführung aber wohl noch
auf eine Reihe von Jahren hinaus im Werden und in der Entwicklung be-
riffen ist, noch immer und noch zunehmend die Aufmerksamkeit auf sich
zieht und immer neue Veröffentlichungen hervorruft.
Wenn auch nicht auf Augenzeugenschaft, wie manche andere dies-
dezügliche neuere Eıscheinungen, so doch auf guten und glaubwürdigen
Unterlagen beruht die Schrift von Dr. Bogusat, Oberregierungsrat im
Reichsgesundheitsamt: „Das Alkoholverbotinden Vereinigten
StaatenvonAmerikaundseine Folgen“, 1924 bei Schwetschke
& Sohn, Berlin, erschienen. Sie stellt eine sorgfältige Bearbeitung des
Tatsachenstoffs dar, der in den Jahten 1922 und 1923 seitens der deutschen
Regierung von den konsularischen Vertretern Deutschlands drüben beschafft
wurde, soweit solcher von Behörden oder von angesehenen und urteils-
iähigen Persönlichkeiten zur Verfügung gestellt wurde. Es handelt sich
um Berichte aus 16 Staaten der Union. Der Verfasser betont zunächst die
in fast allen Berichten hervorgehobene Schwierigkeit der Beschaffung
möglichst zuverlässiger und vollständiger Angaben und gibt als Grund-
lage eine längere Vor- und Entstehungsgeschichte und Inhaltsangabe des
Verbotsgesetzes und seiner Ausführungsbestimmungen usw. Sodann bietet
er an Hand genannten Quellenstoffs einen Ueberblick der gesundheitlichen,
wirtschaftlich-sozialen und kriminell-sittlichen Wirkungen. Wenn er hier
mit Beziehung auf die angeführten zahlreichen Belege über gesundheitlich
günstige Folgen feststellt, daß den mannigfachen Einwänden der Gegner in
dieser Hinsicht keine nennenswerten, irgendwie stützenden statistischen
Angaben zur Seite stehen, so dürfte das deutlich genug sprechen. Von
segensreichen wirtschaftlichen und sozialen Folgen wird die wesentliche
Zunahme der Sparkasseneinlagen usw., der Rückgang der Unterstützungs-
empfänger in zahlreichen Städten u. a. angeführt. Betr. die frühere Alko-
holindustrie werde „von deutscher amtlicher Stelle jedenfalls eine Schädi-
gung der in Rede stehenden Gewerbe verneint“. Die Zahl der Inhaftierun-
ken nicht nur wegen Trunkenheit, sondern überhaupt hat sich nach polizei-
behördlicher Statistik von 86 Städten, worunter verschiedene größte, infolge
des Verbots wesentlich verringert, ebenso die der vor die Jugendgerichte
kommenden Vergehen u. a. Die Häufigkeit der Uebertretungen des Verbots-
gesetzes wird zugegeben und belegt, aber bemerkt, aus ihrer (größtenteils
aus der Verschärfung der Durchführung zu erklärenden) Zunahme auf einen
moralischen Niedergang des Volkes zu schließen und Abschaffung des Ge-
stzes zu verlangen, sei unangängig. In seinen Schlußfolgerungen
st der Verfasser sehr vorsichtig abwägend, Licht und Schatten nach beiden
Seiten verteilend. Er stimmt mit Dr. Hercod (siehe nachher) in der Auf-
assung überein, der man nur zustimmen kann: daß für ein abschließendes
Urteil die Frist noch zu kurz sei. — Die starke Nachfrage nach der Schrift
beweist, wie dankbar willkommen diese halbamtliche, ruhige und besonnene
arbietung jenes verläßlichen Tatsachen- und Erfahrungsstoffes ist.
Eine höchst wertvolle und erwünschte Ergänzung der bisher vorhande-
aen Quellen bietet der Generalsekretär des Internat. Büros g. d. Alko-
holismus in Lausanne Dr. Hercod mit seiner kürzlich erschienenen aus-
’
60 Besprechungen.
gezeichneten Schrift: „Die Prohibition in den Vereinigten
Staaten“ Dieses Seitenstück zu der Bogusatschen Broschüre hat noch
den Vorzug, daß der. Verfasser in der Lage ist, noch ausführlicheren und
mannigfaltigeren Stoff zu bieten, und vor allem den der Augenzeugenschaft:
haben doch neben dem Studium der reichen amtlichen und privaten Unter-
lagen an Drucksachen und brieflichen Mitteilungen, die fortgehend bei der
genannten Stelle einlaufen, mehrere Reisen, die er in den letzten Jahren
nach und in den Vereinigten Staaten machte, Hercod in den Stand gesetzt.
den Gegenstand nach allen Seiten zu beleuchten. Ein beigegebenes Ver-
zeichnis der umfassenderen Werke, die über diesen erschienen sind (wo-
runter auch Küppersbusch und Gaupp), ermöglicht, sich gegebenenfalls auf
dem Gebiete noch anderweitig umzusehen. Hervorragende Sachkenntnis
und Umsicht, leidenschaftslose Sachlichkeit und Unparteilichkeit bei aller
überzeugten und entschiedenen Alkoholgegnerschaft und eine französisch
leichte und genußreiche Darstellung zeichnen auch diese Veröffentlichung
des Verfassers aus. Wie Bogusat will H. unter Absehen von einer Er-
örterung des Verbotsgrundsatzes selbst lediglich eine Uebersicht der Ge-
schichte der amerikanischen Verbotsbewegung und eine Schilderung der
Durchführung der Prohibition und ihrer bisher erkennbaren Ergebnisse
geben. — Inhalt: S. 5—13: Geschichtliches; S. 13—26: Die Durch-
führung des Alkoholverbots; der weitaus. überwiegende Teil, S. 26—51:
Die Wirkungen des Alkoholverbots. — Besonderes Gewicht und besonderen
lebensvollen Reiz gibt der Darstellung, wie schon angedeutet, ihre Durch-
setzung mit persönlicher Kenntnis und, eigener Erfahrung. Das Schluß-
urteil H.s auf Grund des von ihm vorgeführten ausgiebigen, gediegenen
Stoffes und seiner eigenen Beobachtungen lautet — um einen erheblichen
Grad bestimmter in günstigem Sinne als bei Bogusat: „Die Tatsachen, die
wir mitgeteilt haben, erlauben mit aller Bestimmtheit zu sagen, daß die
Wirkungen der Prohibition ungeachtet aller vorhandenen Schattenseiten
gute, zum Teil geradezu glänzende sind. Die günstigen Folgendes
Verbots überwiegen bei weitem seine Nachteile“ (vom
Verfasser selbst gesperrt). H. ist aber kritisch und sachlich genug, um bei-
zufügen: „Ein endgültiges Urteil freilich läßt sich nach einer Zeitspanne
von vier Jahren seit der Einführung des Verbots noch nicht abgeben. Dazu
braucht es eine längere Zeit. Es ist vor allem die Frage, bis zu welchem
Grade es den Behörden gelingen wird, den Schmuggel und die geheime
Brennerei zu unterdrücken.‘ Heute sei die Befreiung Amerikas vom Alko-
hol durchaus noch keine vollständige. Andererseits sei aber jedenfalls auch
für die nächsten Jahre die Abschaffung oder auch nur Milderung des Ver-
bots undenkbar. — Wie H. über die Verbotsfrage im allgemeinen denkt,
scheint in dem kurzen Seitenblick durch, den er am Ende auf unseren Erd-
teil wirft: „In den meisten Ländern Europas werden noch viele Jahre ver-
gehen, ehe die öffentliche Meinung ein Alkoholverbot verlangen wird. Um
aber durchgeführt werden zu können, muß ein Alkoholverbot sich auf die
große Mehrheit der öffentlichen Meinung stützen können.‘ Das „in Ruinen
dastehende Europa‘ habe aber, da es seine Genesung nur in angestrengter,
tüchtiger Arbeit aller seiner Bewohner werde finden können, und da an-
dererseits nach der Ansicht gewiegter Volkswirtschaftler die Trockenlegung
Amerikas dem an sich schon mächtigen Lande eine ungeheure wirtschaft-
liche Ueberlegenheit gebe, alle Ursache, die Ergebnisse des amerikanischen
Versuchs genau und aus guten Quellen (nicht den üblichen, meist schiefen
und abenteuerlichen Zeitungsberichten) zu verfolgen — mit Kritik, aber
auch mit Wohlwollen. |
Von der im Neuland-Verlae (Hamburg 30) erscheinenden Reihe von
„Schriften zum Alkoholverbot“ sind die vier bis jetzt heraus-
gebrachten Hefte (1924) gleichfalls dem amerikanischen Gesetz und seinen
Wirkungen gewidmet. Heft 1: W. S. Bennet, „Der Alkohol-
schmuggelinden Vereinigten StaatenvonAmerika“, und
Heft 4: „Bekenntnisse eines Rumschmugglers“ geben einen
Besprechungen. 61
vbendigen Einblick in diese bekannte, hauptsächlichste Quelle des Alkohoi-
ıerbrauchs, soweit er in den Vereinigten Staaten noch im Schwange ist.
nie erstgenannte Schrift stammt von einem nordamerikanischen Industriellen
‚nd beleuchtet die Frage zugleich von ihrer grundsätzlichen Seite (die
dextsche Wiedergabe könnte besser sein). Die zweite stellt eine Ueber-
«zung und Bearbeitung der ungeschminkten und urwüchsigen, sehr an-
staulichen Schilderung eines englischen Seemanns dar, der um die Wende
[«22'23 mit einem Schnapsschmuggelschiff fünf Monate vor New-York gc-
acen hat. mit einem den Inhalt dieser Stimmungsbilder wertenden Nach-
wort des Uebersetzers. Dieser sieht in dem Schmuggel aus verschiedenen
urunden kein allzu ernstes oder gar unüberwindliches Hindernis für die
Jerchführung des Verbots — wohl mit Recht, denn die gewaltige Er-
schwerung und damit erhebliche Verminderung des Unwesens in den letzten
Monaten scheint nach glaubhaften Berichten unbestreitbar zu sein. — Heft 2:
W.H. Tait. „ist das Alkoholverbot ein Schlag gegen die
persönliche Freiheit?“ Dieser aus einem amerikanischen Zeit-
shriitenheft von 1919 herübergenommene Aufsatz hat, wie der Herausgeber
Th. Gläß sagt, nicht in erster Linie seines Inhalts wegen Bedeutung, sondern
sines Verfassers als des früheren Präsidenten der Vereinigten Staaten
wegen. Er zeigt uns das Urteil eines führenden Amerikaners über das
Alkoholverbot, der noch 1918 dessen Gegner war. Die Anfassung des Gegen-
‘tendes ist nicht die uns Deutschen gewohnte systematische und grund-
stzlich-gründliche, sondern mehr im volksrednerischen, mit Anekdoten
würzten, anziehenden Plauderstil da und dort Lichter aufsetzend. — In
at Wirkungen des Verbots geben einigen Einblick Heft 3 der genannien
Reine: „Das Verbrecherviertelvon New-York einst und
eizt" und ein Aufsatz von Dr. Koller, dem wissenschaftlichen Mit-
„heiter auf dem Internationalen Büro g. d. Alkoholismus: „DasKranken-
riterialderNew-YorkeriIrrenanstaltenmitbesonderer
Berücksichtigung der Alkoholikeraufnahmen“ in der
Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie (Verlag Jul. Springer,
Berlin), 1924 Heft 3/5 (S. 437—62 — S. 453f. die Alkoholikeraufnahmen).
Das Verbrecherviertel|“ ist eine kurze, mit einem zahlenmäßigen
Tabellenanhang und sehr reichem Bildschmuck über „einst und jetzt“ aus-
le Bearbeitung einer amerikanischen Schilderung von R. Corradini
iber die gründliche Veränderung, die sich in der früher berüchtigten
-Bowery in den verschiedensten Beziehungen unter dem Alkoholverbot
vollzogen hat (auch aus anderweitigen Darstellungen, so z. B. von dem
cänischen Bischof Anton Bast schon bekannt).
Koller zeigt — im Anschluß an die Aufstellungen der Kommission für
die Staatskrankenhäuser des Staates New-York — für die Riesenstadt New-
York, die wohlgemerkt den Großteil (nach der Zählung von 1921 fast 8 von
den rund 10% Mill. Einwohnern des Staates New-York) umfaßt, für die Zeit
it 1909 im wesentlichen einen allmählichen Rückgang der alkoholischen
Geistesstörungen im Verhältnis zur Gesamtheit der Erstaufnahmen in die
staatlichen Irrenansalten. Im ersten vollständieen Verbotsiahr 1920 wurde
‘er Tiefstand erreicht. In den beiden folgenden Jahren stellt sich wieder
tine Zunahme ein, die Zahlen bleiben aber noch um mehr als ?/s hinter den
\urkriegsverhältnissen zurück. Auch bei den übrigen Geistesstörungen,
dci denen unmäßiger Alkoholgenuß eine Rolle spielte, ob die Krankheit
seh st als alkoholische zu bezeichnen war oder nicht“, zeigt sich deutlich
der günstige Einfluß des Alkoholverbots: Sie betragen im Verhältnis kaum
nesr die Hälfte von früher. Dies, obwohl New-York — wie erwähnt, der
sÖterwältigende Hauptteil des Staates — das „wenigst amerikanische" Ge-
diet der Union ist und der ganze Staat New-York zu den Bezirken der
‚einigten Staaten gehört, wo das Verbot am lässigsten durchgeführt wird.
Nach der kurzen Darlegung der New-Yorker Verhältnisse vergleicht der
ve lasser damit (S. 45561) die entsprechenden Zahlen einiger euro-
Piischer Länder, die er zusammenbringen konnte. Die verschiedenen
62 Besprechungen.
in Betracht gezogenen europäischen Gebiete: Schweden, Norwegen.
Schweiz, Belgien, Württemberg, München, weisen alle während des Krieges
für die männlichen Alkoholikeraufnahmen eine starke Senkung auf, die
nach Aufhören des Krieges und der durch ihn veranlaßten Alkoholein-
schränkungen wieder einem beträchtlichen, in Schweden, Norwegen und
Belgien mit ihren einschneidenden Nüchternheitsmaßnahmen noch verhält-
nismäßig geringsten Anstieg Platz machte. (Vgl. im übrigen hierzu, auch
betr. weiteres über New-York, den kurzen Artikel „Geisteskrankheiter .
infolge von Alkoholismus und andern Vergiftungen“ in 1924 Heft 2/3 S. 90).
Vorwiegend auf die amerikanischen Antialkohol-, insbesondere
Verbotsverhältnisse bezieht sich dass Anti-Saloon League Year-
Book 1924, das von dem bekannten amerikanischen Nüchternheitsführer
Cherrington herausgegeben ist. Umfangreich und reichhaltig wie immer.
gibt es neben Abschnitten über diesen Bund und über die Weltliga gegen
den Alkoholismus, die auf ihm sich aufbaut, Darstellungen über die gesetz-
und verwaltungsmäßige Durchführung des Verbots im Ganzen der Union
(siehe hierüber noch besonderen Artikel im nächsten Heft) und in ihren ein-
zelnen Staaten, oberste Gerichtsentscheidungen, einschlägige EntschlieBun-
gen der Kirchen (diese Seite 57—69) u. a. In der „Teilweisen Biblio-
graphie heutigen Schrifttums über die Alkoholfrage“ (S. 175—183) finden
sich aus dem — ja bekanntlich grundlegenden — deutsch-schweizerischen
Schrifttum wenigstens einige Titel. — Das Jahrbuch gibt einen lebendigen
Eindruck davon, wie stark und vielseitig jenseits des Ozeans staatlicher-
seits und freiwillig gegen die Geißel „Alkoholismus“ gearbeitet wird.
$
Wertvolle Beiträge zur Frage „Alkohol und Nachkommenschaft“ ent-
hält das schon 1922 erschienene Werk des Karlsruher Stadtschularztes
Dr. Herm. Paull: „Wir und das kommende Geschlecht.
ein Gespräch über Vererbung, Erziehung, Heirat, Familie, Volkstum und
Gesetzgebung“ '). Besonders in den Kapiteln „Die Stammbäume“, in dem
von den berüchtigten Familien „Kallkak“ und „Zero“ (beides Decknamen)
ausgegangen wird (S. 7—15), und „Entartete Erbstämme“ (S. 87—105).
Unter den 16 Stammbaumdarstellungen (Zeichnungen), die hier auf Grund
von ärztlichen Familienuntersuchungen anläßlich der Aufnahme von (geistes-
schwachen) Hilfsschülern dargeboten werden, findet sich eine ganze Anzahl
von solchen, in denen der Alkohol eine mehr oder minder große Rolle spielt.
Die Auffassung des Verfassers ist: „Es ist wohl meistens so, daß der
Schwachsinn als minderwertige Anlage zuerst in die Erscheinung getreten
ist, die dann ihren Träger dem Alkoholgenusse zugeführt hat, der nun wieder
rückwärts durch Keimvergiftung den Schwachsinn vermehrt. .... Der
Alkohol verhindert es nun immer wieder, daß durch die Vererbungsmächte
die minderwertigen Anlagen aus solchen Familien ausgemerzt werden.“ Da
die Zeugungsfähigen aus diesen bei ihren gleichartigen (ehelichen oder
unehelichen) Verbindungen „ihre Geschlechtszellen immer wieder mit Alko-
hol schädigen, so wird die Keimanlage dadurch immer weiter verschlechtert.
Geistige und moralische Minderwertigkeit, Tuberkulose, Geisteskrankheiten,
Epilepsie, Mißbildungen und andere Entartungserscheinungen treten in diesen
Familien auf und häufen sich, je mehr dem Götzen Alkohol geopfert wird“.
Im übrigen bezieht sich der Verfasser für die Erklärung und Wertung der
hier vorliegenden Tatsachenerscheinungen auf die Vererbungsforschungen
von Mendel, Weismann u. a.
Mit dem „Alkoholismus als Problem der Volkswirt-
schaft“ beschäftigt sich ein 1924 bei E. H. Moritz in Stuttgart erschiene-
nes Büchlein des bekannten Tübinger Volkswirtschaftlers Prof. Dr.
Wilbrandt?). (Im wesentlichen waren die Ausführungen vorher im Jahr-
gang 1923 der Intern. Zeitschrift gegen den Alkoholismus erschienen.) Die
1) 175 Seiten mit 31 Abbildungen, Verlag Strecker und Schröder, Stuttgart.
?) 55 Seiten, 80 Pf.
Besprechungen. 63
Einleitung bildet eine kritische Auseinandersetzung mit dem Schankgesetz-
dee d. h. mit volkswirtschaitlich beurteilbaren Grundgedanken des-
selben.
Im ersten Kapitel, „Oekonomische Grundlegung“, kommt der Verfasser
darauf hinaus, daß es gilt, die uns zur Verfügung stehenden äußeren und
inneren Güter möglichst sparsam und wirtschaftlich auszunutzen. Er betont
dabei namentlich die letzteren, in uns liegenden Güter wie Kraft, Zeit und
Gesundheit im weitesten Sinne, kurz die „von der Nationalökonomie oft
vernachlässigte‘“ „Menschenökonomie“, in welches Kapitel vor allem der
Alkoholismus im Sinne des Massenverbrauchs der geistigen Getränke ge-
höre. Noch wichtiger und noch vernachlässigter sei das Kapitel der
ODekonomie der menschlichen Anlagen, der sittlichen, schönheitsmäßigen
und verstandesmäßigen, die noch mehr als jene Menschenökonomie durch den
Alkoholismus, ja durch den Alkoholgenuß geschädigt werden. Der Verfasser
weist als krassen Beweis davon auf die erneute Füllung der Irrenanstalten
mit Alkoholkranken, der Gefängnisse mit alkoholischen Straftätern in den
letzten Jahren hin. Hier verbinden sich die gewaltigen unmittelbaren Aus-
gaben des Einzelhaushalts für ein Genußmittel, das die wirtschaftlich wich-
tigsten menschlichen Anlagen zerstört, mit der ebenso gewaltigen mittel-
baren Belastung der öffentlichen Kassen durch die Opfer jener Zerstörung.
In Kapitel Il. untersucht W. „die volkswirtschaftlichen Wurzeln des
Alkoholismus‘. Er findet sie neben der persönlichen Schwäche und Torheit
vor allem in der Spekulation auf diese zwecks Massenabsatzes, in dem
.„Geschäftsinteresse eines mit den Regierenden gewöhnlich eng verbundenen
Alkoholkapitals‘“. Hierin erblickt er — gewiß mit Recht — das entscheidende
Hindernis für die an sich sonst so einfache Lösung der Alkoholfrage durch
die Enthaltsamkeitsbewegung. „wie eine vertieft gedachte Wirtschaftlichkeit
se dem einzelnen nahelegt und eine Stimme seines Innern als Kultur-
sehnsucht und als physiologischer Instinkt sie von ihm verlangt“. Dabei
sieht er im Gebaren des Alkoholkapitals nur einen Teilausschnitt aus dem
Wesen und Sichauswirken des Kapitalismus überhaupt. Aller Einspruch
gegen diese mächtig und rücksichtslos das Volksleben aurchwuchernde
privatwirtschaftliche Interessenverfolgung auf Kosten der Gesamtheits-
belange sei auf dem Boden der bisherigen Wirtschaftsform praktisch
wirkungslos, nur das staatliche Verbot wie in Amerika könne auf ihm
Rettung bringen. — Hier scheint uns ein Trugschluß vorzuliegen: Die
Schaffung des Alkoholverbots, das die Bestrebungen und Bewegungen, die
auf Erlösung vom Alkohol gehen, von ihrem Haupthemmnis, dem Alkohol-
kapital, befreien soll, darf ja nicht als eine Münchhausen-Tat vorgestellt
werden, bei der sich ein Volk am eigenen Schopf aus der Grube zieht:
vielmehr setzt sie, wie gerade die nähere Prüfung des amerikanischen
Beispiels aufs eindringlichste zeigt, eine starke Volksstimmung und -mehr-
heit für solches Unternehmen, also eine sehr weitgehende Selbstbefreiung
yom der Herrschaft der Alkoholinteressen, eine breite Enthaltsamkeits-
wegung schon voraus. Als ein sehr wertvolles gesetzgeberisches Mittel
af diesem Wege erscheint uns gerade für deutsche Verhältnisse das Ge-
meindebestimmungsrecht, das ja auch in der Vorgeschichte zum nord-
amerikanischen Verbot bekanntlich eine große, wenn nicht entscheidende
wegbereitende Rolle gespielt hat, wobei wir für Deutschland auch eine
Hereinziehung von Gedanken des Gothenburger Systems — der gemein-
nitzigen Gestaltung des Gasthauswesens — erstreben. In der Tat weist
cenn auch W. selbst neben dem Verbot zugleich auf diesen letzteren, in
cen nordischen Ländern beschrittenen Weg hin (den Hinweis auf das Ge-
meindebestimmungsrecht vermißt man an dieser Stelle) und erwähnt
tachher die mannigfaltige indirekte Bekämpfung des Alkoholkapitals, von
dr er hier sehr richtig sagt, daß sie „die Vorbedingung ist zu einem
Erfolg der direkten Bekämpfung“. Hier scheint uns — wenn gewiß „um-
gekehrt die direkte Bekämpfung, wie sie vorhin angedeutet wurde, die in-
direkte (sehr wesentlich, möchten wir hinzusetzen) erleichtert“ — der ent-
64 Besprechungen.
scheidende Punkt zu liegen: Können wir auf den verschiedenen dafür
in Betracht kommenden Wegen ’Millionen von Volkgenossen dahin bringen.
daß sie die Erzeugnisse der Alkoholgewerbe nicht kaufen und genießen.
so löst sich die Alkoholfrage im wesentlichen von selbst. Ist jene alte
Wirtschaftsform sozusagen von innen heraus ausgehöhlt, so stellen sich diese
Gewerbe schon von sich aus aus Selbsterhaltungstrieb auf andere, volks-
nützliche Erzeugungszweige um und wird die Volksmeinung reif, ihren
Stand zur Alkohlfrage gegebenenfalls auch durch ein allgemeines Verbot |
zum Ausdruck zu bringen und damit die Befreiung vollends weiter durch-
zuführen und zu befestigen. Also inletzterundentscheidender `
Linie: Aufklärungs- und Erziehungsfrage, Verbraucherproblem, „Kon-
sumentenmoral‘ (ohne daß damit wie gesagt die hohe Wichtigkeit der vor-
läufigen und helfenden gesetzgeberischen Maßnahmen — Schankstätten-
gesetz! — unterschätzt werden soll). Dem entspricht denn auch, um dies |
etwas vorausgreifend gleich hier anzufügen, das eindringliche Ausmünden
W.s im SchlußBwort in die „alkoholfreie Jugenderziehung‘“.
. Das dritte Kapitel: „Die volkswirtschaftliche Lage in
Deutschland“, zieht die Folgerungen, die sich angesichts der heutigen
besonderen Lage unseres Volkes aus jenen allgemeinen ökonomischen
Grundsätzen des ersten Kapitels ergeben. Um aus den für den nicht volks-
wirtschaftlichen Fachmann schwierigen, in dialektischem Hin- und Her-
wogen der Gedanken sich vorwärts bewegenden Ausführungen die prak-
tischen Schlußpunkte herauszugreifen, so führen wir bei einer gegen die
Vorkriegszeit schr stark verminderten Ein- und Ausfuhr für gewaltige
Summen an grundlegend Wichtigstem, an Lebensmitteln ein — für Summen,
die wir weder mit unserer Ausfuhr, noch aus Auslandszinsen, noch durch
den Dienst der Handelsflotte aufbringen können. Daneben die Wieder-
geutmachungslasten. Es gilt also gebieterisch, soviel als irgend möglich an
Lebensmitteln selbst zu erzeugen, den dafür in Betracht kommenden Boden
und seine Erzeugnisse möglichst restlos diesem Zwecke zuzuführen, statt
eine Fläche in der Größe des landwirtschaftlich nutzbaren Gebiets mehrerer
mittlerer Bundesstaaten in den Dienst der Alkoholerzeugung zu stellen.
Auch sonst können wir uns als verarmtes und in seinen Grundfesten er-
schüttertes Volk den ausgedehnten Alkoholverbrauch einfach nicht mehr
leisten, bedürfen wir bei unserem betrüblichen Handels- und Zahlungs-
haushalt, dem „chronischen Verhungern vieler Tausende von Volksgenossen“
alle unsere inneren und äußeren Güter für dringlichere und nötigste Zwecke,
müssen unsere Leistung und Hervorbringung unter Verzicht auf allen Ver-
brauch, der sie mittelbar und unmittelbar schädigt, steigern, die Einzel-
belange den Gesamitinteressen unterordnen. „Der Alkoholismus findet in
der gegebenen Lage ökonomisch nicht die Spur einer Duldung,.er müßte...
restlos verschwinden. ... Die auf mehr als 5 Goldmilliarden Mark be-
rechnete Einsparungsmöglichkeit der deutschen Volkswirtschaft im ganzen
bei Ausschaltung des Alkoholismus und all seiner Begleiterscheinungen”
(nach Elster) müßte voll ausgenutzt werden zur Ueberwindung der nach
dem Kriege eingetretenen Lage Deutschlands. —
Diese Andeutungen dürften einen Eindruck vermitteln von der Be-
deutsamkeit der grundsätzlichen Gedankengänge und wuchtig begründeten
Schlußfolgerungen dieser Abhandlung, als deren zahlenmäßig-rechnerische
Ergänzung die, wir möchten sagen, klassische Schrift von A. Elster, „Das
Konto des Alkohols in der deutschen Volkswirtschaft“ (2. Aufl., 1922), mit
ihrem reichen und lichtvoll gruppierten volkswirtschaftlichen Tatsachen-
stoff in Erinnerung gebracht sei. J. Flaig.
— {0
Druck von Kupky & Dietze (Inh.: C. und R. Müller), Radebeul-Dresden.
="
och Lie
r März ‚April 1925
De `
Alkoholfrage
Internationale
wissenschaftlich - praktische Zeitschrift
f
21. Jahrgang
Nene Folge XVI. Bd.)
X
HERAUSGEGEBEN
im Auftrage der
Deutschen Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus
und der
internationalen Vereinigung gegen den Alkoholismus
unter Mitwirkung
namhafter Fachleute aller Länder
von
Präsident a. D. Dr. Reinhard Strecker
und Professor Dr. med. h. c. I. Gonser
In der Schriftleitung
Dr. R. Kraut und Dr. J. Flaig
Preis des Jahrganges (für In- und Ausland) 6 Goldmark
Preis des einzelnen Heftes: 1,25 Goldmark
BERLIN-DAHLEM
d Verlag „Auf der Wacht“
1925
Die Alkoholfrage erscheint unter Mitwirkung von:
Abel, Jena; Amaldi, Florenz; Bérenger, Paris; Bumm, Berlin; H. Carton de Wiart, Brüssel; Cu:
Jassy; Dalhoff, Kopenhagen, Daneli, Skara; Delbrück, Bremen; van Deventer, Amsterda
Qonath, Budapest; Endemann, Heidelberg; Friedrich, Budapest; Fuster, Paris; Gaule, Züri:
Geill, Viborg; GieBwein, Budapest; von Gruber, München; Hansson, Kristiania; Haw, Leut
dorf; Henderson, Chicago; Holmquist, Lund; Kabrhel, Prag; Kaufmann, Berlin: Kelynai
London ; Kerschensteiner, München; Kiaer, Kristiania; Kögler, Wien; Latour, Madrid; v
Lewinsky, Moskau; von Liebermann, Budapest; Earl of Lytton, Herts; Masaryk, Prag; Mey
Columbia; Minovici, Bukarest; Nolens, Haag; Oseroff, Moskau; Peabody, Cambridge (U.S. /
Pilez, Wien; Reinach, Paris; Reinitzer, Graz; Ribakoff, Moskau; Saleeby, London; Sang
Madrid; Schellmann, Düsseldorf; Schiavi, Mailand; Sherwell, London; Spiecker, Berlin; v
Strümpell, Leipzig; Stubbe, Kiel; Szterenyi, Budapest; Tahssin Bey, Konstantinopel; Tezu!
Nagoya; Tremp, Benken (Schweiz); Vlavianos, Athen; F. Voisin, Paris; Paul Weber, |c
Westergaard, Kopenhagen; Ziehen, Halle a. S.
Schriftleitu.ng:
Verantwortl. Schriftleiter: Prof. Dr. med. h. c. I. Gonser, Berlin-Dahl«
Werderstr. 16. .
Verlag und Versand:
Verlag „Auf der Wacht‘ (Verlag des Deutschen Vereins g. d. A.), Berlin-Dahle
Werderstr. 16. Postscheckkonto: Berlin NW. 7, Nr. 9386.
Anzeigen:
Anzeigenpreis nach Vereinbarung.
Inhalt des Heftes 2.
I. Abhandlungen. | |
Stadius, Fünf Jahre Alkoholverbot in Finnland (Kapitel 1—4)
N eo
Schmölders, Der internationale Kampf gegen die Prohibition '
3. Der amtliche Entwurf eines Allgemeinen deutschen Strafgesetzbuches (1925)
4. Gaupp, Der neue Entwurf eines NEAR deutschen PPOR und
die Alkoholvergehen ;
v. Egloffstein, Der Entwurf zum Allgenieiheh deutschen Strafgesetzbuch und |
die Bekämpfung des Trunks . . | |
6. Tuczek, Alkohol und Schule . . l ;
ws
Il. Chronik. Stubbe, Kiel)
Ill. Mitteilungen.
1. Aus den Landesversicherungsanstalten: Ueber die Trinkerfürsorge der
Landesversicherungsanistalt Schlesien im Geschäftsijahre 1923 . . . . i |
9. Aus der Trinkerfürsorge: Trinkerfürsorge in Kiel -- Von PEA EPEA |
Trinkerfürsorge i
3. Aus Vereinen: Sächsische raies hanoteieie gegen den Alkohöfiemus (Dresden)
-— Der Württembergische Landesverband der katholischen alkoholgegnerischen
Vereine — Das Internationale Bureau zur TESNENIE des Alkoholismus in
Lausanne im Jahre 1924. . . . T)
4. Verschiedenes: Aikoholikeie Jjugedaitisoiė = Die Haribargiache Elternkammier
— Die evangeliche Frau und die Alkoholirage -- Nachdenkliches aus einem
gesundheitsbehördlichen Bericht — Edgar Allan Poe . K a a À 3
IV. Schrifttum. (Dr. J. Flaig)
Uebersicht über die wichtigsten Veröffentlichungen aus den Jahren 1924 p% 1925
imit einzelnen Nachträgen aus 1923). i Er et 1
Fünf Jahre Alkoholverbot in Finnland.
Von Uno Stadius.
Aus dem Schwedischen übersetzt von Rudolf Oberndörfer.')
Vorwort des Verfassers.
Am 1. Juni 1924 waren fünf Jahre seit dem Inkrafttreten des gesetz-
lichen Alkoholverbots in Finnland vergangen. Die Gegner des Gesetzes
glauben in dieser Zeit weitere Bestätigung für seine Undurchführbarkeit
ah zu haben und dringen darum nachdrücklicher denn je auf
ion.
Ein Zeitraum von nur fünf Jahren ist an und für sich zu kurz, um end-
gültige Schlüsse ziehen zu lassen, inwieweit ein neues Gesetz zum be-
absichtigten Ergebnis geführt hat. Was besonders das Alkoholverbot be-
trifft, so ist zu bedenken, daß unter den gegebenen Verhältnissen sich ein
senes Gesetz in normaler Weise nicht auswirken konnte. Der rote Aufruhr
katte das gesamte Staatswesen in einen Auflösungszustand versetzt, die
förchterliche Entsittlichung des Weltkriegs hatte ihre Wirkungen auch in
unserem Lande ausgeübt, und als 'das Alkoholverbot in diesen abnormen
Zeiten zur Durchführung kam, da zeigte sich bald, daß Schmuggelsprit,
Rezeptalkohol und das verantwortungslose Auftreten eines Teils der
Zeitungen gegen ein vom Reichstag ordnungsgemäß beschlossenes und vom
denten bestätigtes Gesetz sehr erheblich die Befolgung des Gesetzes
verhinderten. Ein vorurteilsfreier und sachlicher Beobachter muß darum zur
Beurteilung der Lage in Finnland nach fünf Jahren gesetzlichen Alkohol-
verbots alle mitwirkenden Umstände ins Auge fassen und die Mißverhält-
nisse außer acht lassen, die nicht eine Folge des Verbots sind.
Das Verbot hat natürlich wie so viele andre neue Gesetze seine Mängel,
gegen die von kommenden Reichstagen Abhilfe geschaffen werden kann.
Bevor man aber auf Aufhebung dieses Gesetzes dringt, das, wie die Reichs-
Ggswahl von 1924 bewies, ständig von einer starken Mehrheit des Volkes
getragen wird, muß man sich klar darüber sein, wie weit ein anderes
Gesetz eine allgemeine Nüchternheit des Volkes besser gewährleistet, Bis
gtzt ist ein solches Gesetz nicht in Vorschlag gebracht worden.
Kapitel L
Wie das Gesetz entstand.
181] Im Jahr 1811 wurde jede Einfuhr von Branntwein aus Rußland
ISi6 nach Finnland verboten, und im Jahr 1816 erhielt „die Finnische Haus-
haltungsgesellschaft‘ von drei Seiten Schreiben, in denen ein völliges
Verbot des Branntweinbrennens vorgeschlagen wurde.
84 Im Jahr 1854 forderten einige Pfarrer von der Regierung ein Ver-
bot der Herstellung jeder Art von Wein. Befürwortet wurde es vom
apitel in Abo.
I) Als der finnische Landtag im Jahr 1863 zusammentrat, wurde voa
mehreren Seiten der Antrag auf ein gesetzliches Verbot gestellt,
Leider war es nicht möglich, die frisch und lebendig geschriebene Abhandlung von
Uno An die auf schwedisch in Buchform vorliegt, ganz wiederzugeben, Der Uebersetzer
wußte sie ungefähr auf ein Drittel kürzen. Die hier veröffentlichte ebersetzung erscheint
tleichzeitig in Buchform (Verlag „Auf der Wacht“, Berlin-Lahlem). R. O.
Die Alkobalfrage, 1925. 5
66
1885
1888
1898
1900
1904
Abhandlungen.
darunter vom Rektor der Universität. Der Landtag beschloß ein
halbes Verbot; es wurde das sogenannte „Hausbedarfsbrennen“ ver-
boten. In Wirklichkeit bedeutete das jedoch in weiten Kreisen ein
vollständiges Rauschtrankverbot. Erst seitdem das Brennen in
Fabriken in Fluß kam und ausländische Rauschgetränke ins Land ge-
langten, trat die Forderung eines völligen Verbots wieder hervor und
machte sich von Jahr zu Jahr immer stärker geltend. Die moderne
Nüchternheitsbewegung forderte von der ersten Stunde an ein Total-
verbot und ist von diesem Grundsatz seitdem nie gewichen.
Im Landtage kam 1885 die Branntweinfrage zur Besprechung. In
kurzer Zeit hielt man in den Dörfern viele Gemeindeversammlungen
ab und sammelte Masseneingaben, die alle gegen die Herstellung
berauschender Getränke Einspruch erhoben. Mehrere Vertreter im
Landtag brachten das gesetzliche Verbot in Vorschlag. Aber vergebens.
1888 wurde dem Landtage ebenfalls eine Masseneingabe überreicht,
ın der man besondere vorbereitende Maßnahmen zu einem gesetz-
lichen Verbot forderte. 146 Gemeinden befürworteten ein völliges
Rauschtrankverbot. Man beschloß eine Untersuchung.
Im Jahre 1898 fand der Verbotsgedanke in Finnland einen ur-
wüchsigen und kräftigen Ausdruck. Als eine Meinungsäußerung für
das Verbot und gleichzeitig als einen Einspruch gegen die abweisende
Haltung des Landtags setzte man einen freiwilligen Rauschtrankstreik
in Gang. Ungefähr 70000 Einwohner zeichneten ihren Namen in die
Streiklistten und die Verbotsbewegung gewann stark an Boden.
Immer allgemeiner drängte man nun auf ein Gesetz.
Beim Landtag von 1900 zog man eine Masseneingabe vor, in der
140 000 Einwohner ein gesetzliches Verbot forderten und 305, d. h.
mehr als die Hälfte der ungefähr 500 Gemeinden des Landes,
bekundeten, daß sie ein gesetzliches Verbot unterstützten. Wieder
sagte der Landtag nein. Vor allem der Adel und die Bürgerlichen
= verhielten sich ablehnend, während sich im Pfarrer- und Bauernstand
eifrige Verteidiger des Verbots fanden. Die Forderung des flachen
Landes strandete an den Interessen der Städte.
Im Jahre 1904 machte man einen Versuch, wenigstens zur Hälite
das Ziel zu erreichen. Vom Pfarrer- und Bauernstand wurde das
gemeindliche Verbotsrecht vorgeschlagen. Der Ausschuß befürwortete
den Vorschlag. Das Ergebnis war: Die Pfarrer und Bauern stimmten
dem Vorschlag zu; die Ritterschaft und der Adel sowie der Bürger-
stand verhandelten gar nicht über ihn. Wieder stand Stadt gegen Land.
1905/1906 Es kamen so die ereignisreichen Jahre 1905 und 1906. Die
1907
Regierung wurde abgesetzt. Die Städtevertretung wurde aufgehoben,
der Einkammerlandtag mit allgemeinem und gleichem Stimmrecht für
Männer und Frauen wurde eingeführt. Zum ersten Male sollte man
nun im Landtag die Stimme des Volkes hören können. Diese durch-
greifende Reform deckte ein neues Blatt in der Geschichte Finnlands
auf und bedeutete auch die Zukunft des Verbots. Es wurde ein Aus-
schuß gebildet, der einen ins einzelne gehenden Gesetzesvorschlag
für das Verbot ausarbeiten sollte,
Im Jahre 1907 trat der Einkammerlandtag zum erstenmal zusammen.
Nicht weniger als fünf verschiedene Vorschläge zum gesetzlichen
Verbot wurden eingereicht, und diese waren von 113 der 200 Land-
tagsabgeordneten unterzeichnet. Am 31. Oktober 1907 nahm der
Landtag bei der dritten Lesung en bloc das Verbotsgesetz an.
Aber es standen neue Prüfungen bevor. Schon bei der ersten
Lesung hatten die entsprechenden Regierungsmitglieder mitgeteilt,
daß die Regierung das Inkrafttreten des Gesetzes nicht befürworten
könne. Die Regierung sandte an den Zaren ein ablehnende Gutachten,
das zur Folge hatte, daß der Monarch das Gesetz nicht bestätigte-
1917
1919
1921
1922
1923
Stadius, Fünf Jahre Alkoholverbot in Finnland. 67
Die Verbitterung im Volk war unerhört. Die Stimmung für das
Verbot wurde durch diese Mißachtung des Volkswillens nur vertieft.
Dem Landtag von 1909 wurde ein neuer Verbotsantrag eingereicht,
der vom Landtag angenommen wurde. Es folgte keine Bestätigung.
Der Landtag von 1911 ersuchte in einer Bittschrift um Bestätigung
des Gesetzes; sie erfolgte nicht.
Dem Landtag von 1914 wurde eine gleiche Bittschrift vorgelegt. Es
folgte keine Bestätigung.
jetzt begannen die Verbotsgegner rücksichtsloser vorzugehen. Es
war unter anderem behauptet worden, daß die öffentliche Meinung
nicht mehr für das Gesetz sei. Da wandten sich die Verbotsfreunde
ans Volk. Die Gemeindevertretungen wurden aufgefordert, sich zu
äußern. In der Mehrzahl der Landgemeinden wurde beschlossen, auf
Bestätigung des Gesetzes zu dringen. Darauf sammelte man in den
Städten Unterschriften für das Verbot. Das Ergebnis war, daß sich
50—97 % aller über 21 Jahre alten Einwohner für das Verbot
erklärten. Schließlich wurde diese Abstimmung untersagt.
Im Jahre 1917 wurde die Gewalt des Zaren in Rußland gestürzt;
der in diesem Jahr zusammengetretene Landtag übernahm die höchste
Staatsgewalt und erklärte Finnland als unabhängige Republik. Dieser
Landtag hatte mittlerweile vorher eilig die Bestätigung des Verbots
gefordert. Endlich wurde das Gesetz bestätigt. In den zehn Jahren,
die vergangen waren, seitdem das Gesetz zum ersten Male (1907)
angenommen war, hatten die Volksmeinung und ihre Vertreter von
mehreren Landtagen treu und unermüdlich die Bestätigung des
Gesetzes verlangt. Selten, vielleicht nie, ist ein Gesetz in irgend
einem Lande so verteidigt worden, wie dieses. Zu behaupten — wie
es wirklich geschehen ist, — daß Finnlands Alkoholverbot von einer
Gruppe von Fanatikern gegen den Willen des Volkes durchgedrückt
worden sei, zeugt entweder von unerhörter Unkenntnis der wirklichen
Verhältnisse oder ist eine bewußte Entstellung der Tatsachen.
Am 1. Juni 1919 trat das gesetzliche Verbot in Kraft. Der Reichs-
tag desselben Jahres beschloß (am 15. Aug.) mit 142 gegen 39 Stimmen
eine Verschärfung des Gesetzes.
1921 kam das Gesetz wieder vor den Reichstag, diesmal auf Ver-
anlassung der Gegner. Zwei konservative, der schwedischen Bevöl-
kerungsschicht angehörige Abgeordnete wünschten die Aufhebung des
Gesetzes. MitZweidrittelmehrheit beschloß der Reichstag, diesen Antrag
abzulehnen, ohne ihn erst zur Ausschußbehandlung weiter zu geben, und
dabei ist zubemerken,daß in der Minderheit sich auchVerbotsfreundebe-
fanden,die aus rein formellen Gründen fürAusschußbehandlung stimmten.
Auch in den Reichstagsverhandlungen des Jahres 1922 spielte das
Gesetz eine ganz hervorragende Rolle. Der Reichstag beschloß mit
109 gegen 63 Stimmen eine Verschärfung des Gesetzes. Das war somit
das achte Mal in 15 Jahren, daß sich der Reichstag mit großer
Mehrheit auf die Seite des Verbots stellte. Dieses verschärfte Gesetz
wurde nachher vom Präsidenten bestätigt.
Im Jahre 1923 kam die Verbotsfrage von neuem zur Sprache aus
Anlaß eines Antrages von Dr. Georg Schauman, „es möge eine
Volksabstimmung abgehalten werden über Beibehaltung oder Auf-
hebung des gegenwärtig geltenden Alkoholverbots“. Der Haus-
haltungsausschuß beschloß mit 16 gegen 1 (Schaumans) Stimme dem
Reichstag vorzuschlagen, man möge den Antrag ablehnen, eine Volks-
abstimmung sei unnötig, da die letzten Reichstagswahlen bewiesen
hätten, daß die überwiegende Mehrheit des Volkes auf dem Stand-
punkt des Verbots stehe, und da die Zahl der Verbotsgegner im
Reichstage „so verschwindend klein“ sei. Dr. Schaumans Antrag
wurde daher abgelehnt.
5.
68 Abhandlungen.
Das ist in Kürze die Geschichte des Verbots in Finnland. Selten ist
wohl in irgendeinem Lande ein Gesetz von einer ständig wachsenden Volks-
stimmung mit solcher Beharrlichkeit gefordert und erreicht worden. Der
Verbotgedanke wurde bei uns im Laufe der Zeit stärker und stärker, daß
schließlich kein Gegner mehr die Annahme des Verbots verhindern konnte.
Es ist einem mächtigen Volkswillen entsprungen und hat in ihm seine
stärkste Stütze. Fällt diese Stütze, so ist die Zukunft des Gesetzes in
Gefahr. Darum gehört es auch zu den wichtigsten Aufgaben der Verbots-
gegner, daß man teils dem Volk einzureden versucht, das Gesetz sei nie von
einer allgemeinen Stimmung getragen gewesen, und teils auf das gegen-
wärtige Geschlecht in verbotfeindlicher Richtung zu wirken sucht. Natür-
licherweise muß man seine Zuflucht zu Unwahrheiten nehmen. Wie oft hat
man nicht lesen können, das Verbot sei von einer kleinen Zahl von
Fanatikern durchgedrückt usw. „Die zuverlässigste Volksschicht des Landes
befindet sich unter einer Art Vormundschaft, die großenteils von Ver-
brechern und Zuchthäuslern ins Werk gesetzt wurde.“ (So schrieb die
führende Tageszeitung „Huvudstadsbladet‘“.)
Eines der beliebtesten Werbemittel gegen das Gesetz ist der bekannte
Einwand, das Gesetz sei ein unberechtigter Eingriff in die persönliche
Freiheit. Da die Verbetgegnerpresse oft Professor Robert Tigerstedt als
Autorität anführt, sind folgende Worte des berühmten Gelehrten und
warmen Nüchternheitsfreundes besonderer Beachtung wert. Prof. Tiger-
stedt schreibt in seinem Buch „Von den Spritgetränken“ u. a.:
„Bei der Erörterung des Alkoholverbots ist von verschiedenen Seiten
betont worden, das Gemeinwesen sei nicht berechtigt, Gesetze zu schaffen.
die in so hohem Grad, wie dieses, gegen herrschende Sitten und Gebräuche
streiten und so tief in das Privatleben des einzelnen Bürgers eingreifen.
Ich für mein Teil kann mich dieser Auffassung nicht anschließen. Wenn
eine für das Volkswohl äußerst gefährliche Sitte ganz allgemein verbreitet
ist, muß der Gesetzgeber berechtigt sein, sie mit allen ihm zu Gebote
stehenden Mitteln zu bekämpfen, auch wenn er dadurch die Freiheiten des
einzelnen irgendwie beschneiden müßte. Völlige persönliche Freiheit
herrscht übrigens in keinem Gemeinwesen.“
Dr. Axel Lille, der Verbotgegner, aber sich doch seiner Verantwortung
wohlbewußte Veteran unter den Journalisten, schrieb ebenfalls in seinem
unbestechlichen Rechtsempfinden offen und ehrlich die folgende Wahrheit:
„Daß das Verbot von der Mehrzahl des Volks getragen wird, steht wohl
außer allem Zweifel, sonst hätte es nicht durchgesetzt werden können.“
Dr. Schauman sagt in der schwedischen Weihnachtsschrift „Lucifer“
1923, daß Vergehen gegen das Alkoholverbot von der öffentlichen Meinung
nicht als Vergehen aufgefaßt würden und daß man das Verbot als ein Aus-
nahmegesetz betrachte. Es gibt allerdings traurige Beispiele pflicht-
vergessener Männer und Frauen der oberen Volksschichten, die sich
einbilden. sie könnten ein vom Reichstag angenommenes und vom
Präsidenten bestätigte Gesetz als ein Ausnahmegesetz betrachten, aber sie
sollen nur sich und anderen nicht vormachen, daß sie die öffentliche
Meinung darsteliten. Es gehört zu den Seltenheiten in der parlamentarischen
Geschichte eines Landes, daß ein Gesetz mit solcher Beharrlichkeit und
Treue verteidigt wird. Der Versuch eine Volksstimmung zu schaffen, die
das Alkoholverbot als Ausnahmegesetz betrachtet, hat in Finnland ebenso
wenig Aussichten auf Erfolg wie in Amerika.
Kapitel 2.
Die Verhältnisse bei Inkrafttreten des Gesetzes.
Die Ernte beruht nicht allein auf der Beschaffenheit der Saat, sonders
auch des Bodens. Und der Boden, der sich vorfand, als das Gesetz zum
ersten Mal vom Landtag angenommen wurde, war ein ganz anderer als
zur Zeit, da es in Kraft trat. Die Volkssittlichkeit im allgemeinen und der
Stadius, Fünf Jahre Alkoholverbot in Finnland. 69
Gehorsam gegen Gesetze im besonderen waren während der alles nieder-
reißenden Zeiten des Weltkriegs und des Aufruhrs im Innern allzu schweren
Versuchungen ausgesetzt. Ueber die Verhältnisse im Lande, einige Monate,
nachdem man mit der Durchführung des Verbots (1. Juni 1919) begonnen
hatte, schrieb „Huvudstadsbladet‘ u. a.: „Es vergeht tatsächlich nicht ein
Tag, an dem nicht die Zeitungen spaltenlang von Betrügereien, Unter-
schlagungen und Diebstählen zu berichten hätten; und zwar handelt es sich
am Leute, die angestellt sind, das allgemeine Recht zu schützen und die
Interessen des Staates zu vertreten.‘ „Den Auswüchsen am Volkscharakter,
die unter abnormen Verhältnissen und durch geistige Ansteckung entstanden
sind, müssen die gesunden Kräfte der Allgemeinheit mit aller Kraft
schonungslos entgegenwirken.“ Nach dieser Zeitung sollten die Auswüchse
am Volkscharakter eine Folge abnormer Verhältnisse und geistiger An-
steckung sein, die, wie gesagt, ein Ergebnis des Weltkriegs und des roten
Aufstands waren. Die Volkssittlichkeit war also schon vor dem Inkrafttreten
des Gesetzes zerstört. Später hat „Huvudstadsbladet‘“ immer wieder, wie
andere Zeitungen, in der Absicht, dem Verbot beizukommen, zu behaupten
versucht, daß das Alkoholverbot die Volkssittlichkeit zerstört habe.
Kapitel3,.
Schwierigkeiten bei der Durchführung des Alkoholverbots.
Der Schmuggelsprit.
Ein ganz gewöhnlicher Einwand gegen das Verbot ist der, daß es zum
Schmuggel mit Alkohol veranlasse. Da das Gesetz die Herstellung im Lande
und die Einfuhr aus fremden Ländern zum Genuß verbiete, so müsse man
ihn sich auf ungesetzliche Weise verschaffen. Also sei der Fehler des
Gesetzes, daß Uebertretungen stattfinden — so gibt man an. Man geht
dabei von der Voraussetzung aus, daß ein Bedürfnis nach Alkohol vor-
handen sei, das unbedingt zufriedengestellt werden müsse.
Aber woher kommt denn dieses Bedürfnis? Diese Diagnose muB zuerst
gestellt sein, wenn man sich über die Ursache des sozialen Siechtums, das
Trunksucht heißt, klar werden will. Der Durst nach berauschenden
Getränken ist eine Folge eingewurzelter und hergebrachter Gewohnheiten.
Die Trinksitte schafft das Bedürfnis nach Alkohol, nic ht das Gesetz.
Es will ja gerade dadurch, daß es die Trinksitte beseitigt, die Versuchung
wegnehmen.
In Schweden, wo kein Totalverbot besteht, wohl aber ein von Verbot-
gegnern so oft gepriesenes Beschränkungssystem, hat der Spritschmuggel
so überhand genommen, daß die Regierung ein verschärftes Schmuggelgesetz
ausgearbeitet hat. In Norwegen mit einem Halbverbot hatte die unerlaubte
Spriteinfuhr geblüht, bis sie jetzt in letzter Zeit bedeutend vermindert wurde,
nachdem die Zollgrenze bis zu 10 Meilen ins Meer hinausgeschoben wurde.
Auch Dänemark, wo man alkoholische Getränke überall in den Städten
kaufen kann, ist diesen Gesetzesübertretungen nicht entgangen, weil der
zeschmuggelte Alkohol billiger ist. Der Spritschmuggler verkauft, wo er
Käufer findet. Totalverbot, Halbverbot, Beschränkungssystem, all das ist
Nebensache. Die Hauptsache ist der Alkohol, und der muß her so billig
wie möglich.
In allen nordischen Ländern ist jetzt der Kampf gegen den Sprit-
schmuggel eine der am meisten erörterten Fragen; daraus geht hervor, daß
dieser ungesetzliche Handel nicht eine rein finnische Erscheinung ist, die
durch unser Alkoholverbot verursacht wäre. Die Rauschtranksitte selbst ist
also die Ursache des Alkoholschmuggels und nicht das Verbot. Wir haben
auch Gesetze gegen Opium und Morphium, aber niemand klagt darüber, weil
eben das Morphium- oder Opiumlaster nicht eine imUmpgangsleben geduldete
Sitte ist. Die Verbotgegner sagen, sie seien dabei, wenn man dem Alkohol-
mißbrauch entgegenarbeite, aber sie meinen, daß ein mäßiger Gebrauch
zugestanden werden soll. Es ist aber zu bemerken, daß nicht die verhältnis-
70 Abhandlungen.
mäßig geringe Anzahl bekannter Trinker die größten Abnehmer des
geschmuggelten Alkohols sind, sondern die sog. Mäßigkeitsfreunde, die
zusammen das Meiste trinken und damit den Spritschmuggel befördern
und unterstützen.
Wie groß die Mengen Alkohol sind, die unerlaubterweise in unser Land
eingeführt werden, kann niemand wissen. Die Beschlagnahmungen, die zu-
weilen auf reinen Zufälligkeiten beruhen, stellen nicht eine ständige Verhältnis-
zahl dessen dar, was den Nachforschungen der Behörden entging. Eine
Zunahme der Menge der beschlagnahmten Waren kann einerseits selır
wohl gesteigerten Schmuggel bedeuten, auf der anderen Seite aber auch
größere Tatkraft bei der Ueberwachung und größere Leistungsfähigkeit der
Zollboote durch Erhöhung ihrer Zahl und Seetüchtigkeit.
In Finnland haben auch noch andere Umstände beim Schmuggel mit-
gewirkt. Die Fischer der Schären sind aus verschiedenen Ursachen von
Jahr zu Jahr in eine immer schwierigere wirtschaftliche Notlage gekommen,
und da die ausländischen Spritschmuggler ihnen große und verhältnismäßig
leicht verdiente Einnahmen versprechen, sind die Versuchungen für
schwache Charaktere zu mächtig geworden.
Der Rezeptalkohol.
Neben . dem eingeschmuggelten Alkohol spielt der, den man auf
ärztliches Rezept erhält, eine große Rolle. Geht hierbei alles mit rechten
Dingen zu, oder gibt es Aerzte, die ihr Rezeptrecht mißbrauchen?
Die Leitung des Allgemeinen Finnländischen Aerztebundes sandte am 8. März
1915 und darnach am 29. Oktober 1917 an die Aerzte im Lande ein Rund-
schreiben, in dem darauf hingewiesen wurde, daß ein Mißbrauch des Rechts,
Alkohol zu verschreiben, „mit dem Ansehen der Aerzteschaft nicht vereinbar
sei.“ Diese Mahnung war also schon vor Inkrafttreten des Alkoholverbots
notwendig. Inzwischen scheint das Ansehen der Aerzteschaft eine weitere
Mahnung gefordert zu haben. Am 10. Dez. 1920 ließ die Leitung des Aerzte-
bundes eine neues Rundschreiben hinausgehen; darin stand unter anderem
„Die Leitung hatte gehofft, es würde die frühere Mahnung befolgt werden;
aber leider ist das nicht der Fall gewesen, wie die Erfahrung gezeigt hat.
Es ist nämlich zur Kenntnis der Leitung gelangt, daß das Recht, Alkohol
zu verordnen, nicht selten mißbraucht wird, ja in einzelnen Fällen ist dies
Recht zu einem einträglichen Geschäft ausgebeutet worden. Die Leitung
hat sich deshalb in einigen Fällen gezwungen gesehen, unmittelbar gegen
einzelne Bundesmitglieder einzuschreiten und satzungsgemäß ihnen eine
Warnung zu erteilen. Die Folgen dieses mangelnden Verantwortungsgefühls
einiger Aerzte haben sich auch schon gezeigt. Man nimmt sich die Freiheit,
über die genannten Mißstände öffentlich in einer Weise zu sprechen, die mit
dem Ansehen, das die Aerzteschaft in ihrer Gesamtheit genießen muß, nicht
in Einklang steht.“
Ein Beispiel von der Verbreitung des Rezeptalkohols. Im Programm für
ein neues Alkoholgesetz in Finnland, das der „Bund für Volksnüchternheit
ohne Totalverbot‘ (früher „Antiverbotsvereinigung‘‘) herausgab, heißt es:
Nach behördlicher Statistik ist en daß voneiner einzigen
Apotheke in Helsingforsin drei Monaten gegen Rezept
über zehntausend Liter (100%) Alkohol verkauft wurden. Um-
gewandelt in 37% % Branntwein macht diese Menge nahezu dreißigtausend
liter aus. Und dies von einer einzigen Apotheke und in drei Monaten!“
Es wäre noch interessanter gewesen, wenn zu diesen amtlichen Zahlen auch
Angaben darüber gemacht worden wären, welche Krankheiten in einem
einzigen Monat mit 10000 Liter Branntwein geheilt werden mußten, noch
dazu von einer einzigen Apotheke aus, und ferner, welche Mengen die
einzelnen Rezepte verordnet haben.
Aus Angaben über den Alkoholvertrieb des Staates kann man einen
Einblick in das Alkoholgeschäft der Apotheken gewinnen. Dabei ist zu
Stadius, Fünf Jahre Alkoholverbot in Finnland. ` 71
bemerken, daß die Berechnungen nach 100 % Alkohol gemacht wurden und
daß auch der vergällte Sprit in die folgende Statistik aufgenommen ist.
Die staatliche Alkoholverkaufsstelle verabfolgte an Apotheken, tech-
nische Einrichtungen usw.,
1919 1. 6.—31. 12.) 445 908 Liter Alkohol zu 100 %
1920 845 811 3 = a:
1921 1 037 041 99 7. 39% „ 99
1922 1 560479 ,, $ De
1923 1306538 „ PA dos A i i
Von diesen Mengen gingen allein an die Apotheken:
1921 657 684 Liter Alkohol zu 100 %
1922 1 150892? ., ” Ba a di
1923 871 810 99 „ 9t 99
Bei einer amtlichen Untersuchung in Tammerfors (etwa 48 000 Ein-
wohner) wurde festgestellt, daß in der Beobachtungszeit vom 1. März bis
10. Mai 1921 von ungefähr 150 verschiedenen Aerzten Alkoholrezepte aus-
gestellt wurden. Ueber ?/s sämtlicher Rezepte waren von zwei Aerzten
ausgestellt worden. Diese zwei Aerzte, von denen man andere Rezepte
nur vereinzelt vorfand, waren Tierarzt Gröndahl und Dr. med. Moberg.
In der genannten Zeit waren von der Apotheke in Tammerfors zusammen
55101 Rezepte erledigt worden, wovon 30 155 Alkoholrezepte waren. Von
diesen hatte Tierarzt Gröndahl 15 318, Moberg 6670 und sämtliche übrigen
(148) Aerzte zusammen 8077 ausgestellt.
Betreffs des Alkohols als Medizin hat sich 1921 der „Allgemeine Finnlän-
dische Aerztebund“ dahin geäußert, „daB die Bedeutung der Verwendung von
alkoholhaltigen Mitteln zur Verhütung und Behandlung von Krankheiten
besonders gering und die allgemein herrschende Auffassung von ihrem
Nutzen in dieser Hinsicht stark übertrieben sei.“
Die Hoffnung, daß infolge dieser Kundgebung die Alkoholverordnung
zurückgehen werde, erwies sich als trügerisch: 1921, im Jahre der Kund-
gebung, mußten die Apotheken mit 657 684 Litern 100%igen Alkohols beliefert
werden, im Jahre darauf mit — 1150892 Litern.
Wie wir gezeigt, wird von einigen wenigen Aerzten ganz ungeheuer
gesündigt, die Mehrheit aber hält sich an ihren Diensteid.
Es ist allgemein bekannt, daß ein sehr großer Teil des auf Rezept
verabfolgten Alkohols zu Genußzwecken verwendet wird; aber es ist
unmöglich festzustellen, wie groß diese Mengen sind. 1922, wo der
Verkauf alkoholhaltiger Mittel durch die Apotheken seinen Höhepunkt
erreichte, machte er 73,7 % des gesamten Alkoholverbrauchs aus, zum
größten Teil war es reiner Alkohol. Das kam zweifelsohne daher, daß einige
„Spritdoktoren‘‘ förmlich Großhandel mit Rezepten betrieben und die
Apotheker ihnen bei dieser schändlichen Umgehung des Gesetzes behilflich
waren. Der Alkoholverbrauch durch die Apotheken verringerte sich um
ungefähr ein Drittel (32 %) im Juli 1922, als das verschärfte Verbot in Kraft
trat, das Strafbestimmungen gegen Aerzte und Apotheker wegen Mißbrauchs
der Alkoholverordnung enthielt. Und als nach dem 1.Oktober desselben Jahres
das sogen. „Rezeptblankettsystem‘ eingeführt wurde, wodurch es möglich war,
den Alkoholhandel der Aerzte und Apotheker zu überwachen, da verringerte
Sich der Verbrauch um ein weiteres Drittel (34%) im Vergleich zum vorher-
gehenden Monat. Das neue System hatte also anfangs eine gute Wirkung,
aber als man dahinter kam, daß es nicht so gefährlich sei, wie man glaubte,
haben vor allem einige Zahn- und Tierärzte, aber auch andere Aerzte,
unter freundlichem Beistand der Apotheker, von neuem mit unerlaubtem
Alkoholhandel begonnen.
Selbst wenn man annehmen wollte, daß all der Alkohol, der staatlicher-
seits hergestellt und eingeführt wird, d. h. der auch zur Herstellung von
tenn- und Leuchtspiritus und Reinigungsmitteln, Aether, Essig, Lack,
12 Abhandlungen.
Firniß und Politur, sowie Zahn-, Haar-, Haut-, Riech- und Mundwasser, als
auch für mehrere andere technische Zwecke angewendete Alkohol zu
Genußzwecken verwendet sei, würde dieser Alkoholverbrauch im Jahre
1922 nicht mehr als 0,45 Liter 100 % Alkohol auf den Kopf der Bevölkerung
ausgemacht haben, während die entsprechende Menge 1913, vor dem Welt-
krieg, 1,45 Liter betrug. In Schweden wurden 1922 nach der amtlichen
Statistik 3,8 Liter zu 50 % oder 19 Liter zu 100 % auf den Kopf der
Bevölkerung verbraucht. Der gesetzliche Alkoholverbrauch zu Genuß-
zwecken war also in Schweden 1922 mehr als viermal so groß wie der
gesamte gesetzliche Alkoholverbrauch in Finnland. Wäre der Verbrauch
in unserem Land nicht größer, als die eben genannten Zahlen angeben,
dann könnten wir mit dem Ergebnis bei uns sehr zufrieden sein. Aber.
leider wird bei uns, wie in Schweden, außer dem vom Staat beschafften
Alkohol, auch noch ungesetzlicherweise in den Handel gebrachter Alkohol
verbraucht, der entweder heimlich im Lande hergestellt oder vom Ausland
eingeführt wird; dessen Gesamtmenge genau zu berechnen ist nicht möglich. _
Die Stellung der Presse.
Weder der Schmuggelsprit noch der Rezeptalkohol hätten die Nüchtern-
heit im Lande so nachteilig beeinflussen können, wenn die Zeitungen in der
Verbotsfrage einen anständigen Standpunkt eingenommen hätten; aber das
ist nicht der Fall gewesen. Natürlich kann eine Zeitung Ansichten haben, _
welche sie nur will, und sie auch aussprechen. Niemand wird einer Zeitung
das Recht verwehren, verbotsgegnerische Ansichten zu äußern. Aber das
sollte, zumal in einer Presse, die über den Verfall der Sittlichkeit klagt, in
würdiger Weise geschehen. Schon bevor das Verbot in Kraft trat, hielten es
die Zeitungen für eine ganz natürliche Sache, daß gegen dies Gesetz ver-
stoßen würde, und als dann Gesetzesübertretungen eintraten, wurden sie
als Geringfügigkeiten betrachtet. Gemeindebeamte, die zur Ueberwachung
des Gesetzes eingesetzt waren, wurden verhöhnt, die Nüchternheitsarbeit
wurde verkleinert, während man die Trinksitten pries, gegen die Anhänger
des Verbots wurden die gemeinsten Unwahrheiten ausgestreut und ein-
gesandte Berichtigungen nicht aufgenommen.
In Südfinnland gibt es nicht eine einzige schwedische Zeitung, mit Aus-
nahme des „Arbetarbladet“, die das Alkoholverbot verteidigt. Eine Folge
davon ist, daß die bürgerliche Allgemeinheit Jahr für Jahr von den
tendenziösen Aufsätzen beeinflußt wird, um nicht zu sagen von diesen
Massen von Unwahrheiten, die planmäßig in der Verbotsgegnerpresse
erscheinen. Es ist durchaus nicht verwunderlich, daB man in diesen
schwedischen Kreisen besonders einseitige Ansichten vom Alkoholverbot
hat, da man sich so gut wie nie die Mühe nimmt, sich klarzumachen,
was die Gegenseite zu ihrer Verteidigung anzuführen hat. Aus den
Zeitungen erhält man einseitige und oft geradezu irreleitende Angaben;
das „Arbetarblad‘‘ zu bestellen, dazu hat man nicht den Mut; denn man
hat Angst, andere Ansichten hören zu müssen; sich dazu die Nüchternheits-
zeitung „Fram“ zu halten, die nur 10.— M (= 1.— RM) im Jahr kostet, daran
denkt man nicht, trotzdem man ständig davon schwätzt, die Nüchternheits-
arbeit müsse „auf dem Wege der Ueberzeugung“ betrieben werden; aber _
sich selbst ein bißchen Kenntnis zu verschaffen, fällt einem gar nicht ein;
einen Nüchternheitsvortrag anzuhören erscheint einem langweilig; sich ein
Buch über diese Frage zu kaufen, hält man für unnötig, denn man hat ja
schon seine Ueberzeugung aus den Zeitungen! Bezeichnend für die Lage
ist, daß im schwedischen Oesterbotten, wo es verbotsfreundliche bürgerliche
Zeitungen gibt, die natürlich die Unwahrheiten der Verbotsgegnerpresse ent- .
hüllen, bei der Neuwahl am 1. und 2. April 1924 zum Reichstag die meisten
Stimmen in der schwedischen Volkspartei dem Verbotsmanne zufielen.
In den verbotsfeindlichen Zeitungen sind in den letzten fünf Jahren SO
viele Aufsätze und Notizen über das verhaßte Gesetz erschienen, daß
Stadius, Fünf Jahre Alkoholverbot in Finnland. 13
in dieser Schrift der Raum fehlt, auch nur annäherungsweise das Wichtigste
wiederzugeben. Einige Stichproben mögen genügen.
Huvudstadtsbladet stellte 1919 das Verbot mit folgenden Worten seinen
Lesern vor: „Am 1. Juni d. J. tritt das Alkoholverbot in Kraft, dem einige
mit so großen Hoffnungen entgegensehen. Niemals zuvor ist, wenigstens in
. mserem Land, mit dem Zustandekommen eines Gesetzes
so viel Humbug vereinigt gewesen.“ Mit welchem Ernst das
imnische Volk jahrzehntelang treulich auf das Zustandekommen dieses Ge-
‚setzes hingearbeitet hat, geht aus dem ersten Kapitel dieses Buches hervor.
Ein andermal konnte „Hbl.“ in seiner Geschmacklosigkeit erklären, „das
Verbot sei vom Teufel selbst inspiriert“. Nach einem solchen Zeugnis der
Kulturhöhe dieser Zeitung wundert man sich nicht über den folgenden
Satz: „Die Verbotsbewegung gehört zu den wirklichkeitsfremden sozialen
Wahnvorstellungen, zu den grotesken, logischen Fehlschlüssen, zu den un-
gehenerlichen Phantastereien, diefüreinen niedrigen intellektu-
cellen Bildungsgrad bezeichnend sind“
Die Zeitung „Borgåbladet“ äußert sich folgendermaßen: „Hundert-
tausende Mitbürger und dazu die vernünftigsten, klügsten, gesundesten und
am meisten freiheitsliebenden unter ihnen werden niemals dies
Gesetzalsdaseinsberechtigtanerkennen,alseinwirk-
liches Gesetz neben anderen.“ Das Alkoholverbot ist „die
größte Schande, die Finnland getroffen hat“, und „macht Gesetzes-
LIES ENNDE in mehrfacher Hinsicht zu etwas Natür-
chem“.
Einige Aeußerungen, die die Gesetzesübertretung betreffen: Die Trunken-
heitskuarve in Helsingfors sollte um 50 % gestiegen sein; diese Nachricht
wurde vom Tammerfors Aftonblad mit folgenden Worten begleitet:
„...Jch fühle mich so stolz und in so gehobener Stimmung, daß
ich kaum Worte finde um auszusprechen, was diese 50 % eigentlich wert
sind.“ Im Anschluß daran, daß ein Café in Helsingfors geschlossen wurde,
weil die Besitzerin gegen das Alkoholverbot verstoßen hatte, schrieb „Hbl.“:
-Das ist hart, liebe Frauen; aber stimmt bei der nächsten Reichstags-
wahl für keinen Verbotsfanatiker, dann wird es vielleicht einmal erlaubt
sin wieder zu leben und zu atmen und zu arbeiten.“
Nachdem das Blatt ein Mittagessen in Hasselbacken zu Stockholm ge-
schildert hat, klagt „Hbl.“: „Ach Gott, wieder einmal draußen unter Kultur-
menschen sitzen und seinen Freunden zutrinken zu können .. . !“ und fährt
fort: „Pfui Teufel, wie tief sind wir in unserem lieben Finnland gesunken!“
Noch eine kleine Probe, wie die Verbotsgegnerpresse die Nüchtern-
heitsarbeit kennzeichnet. Wasabladet schrieb 1922 u. a.: „Die Nüchtern-
heitsarbeit steht gegenwärtig ohnmächtig da, die Nüchternheitsbewegung
befindet sich im Verfall, die Nüchternheitstagungen werden von einigen
oder ganz berufsmäßigen Verbotsleuten besucht, die Nüchternheits-
presse wäre ohne Unterstützung des Staates schon längst tot, die völlige
Enthaltsamkeit ist eine tote Lehre für die Jugend, ja sogar das früher all-
gemein angenommene Mäßigkeitsideal kann sich nur mit Mühe gegen den
strom der Volksmeinung halten. Der vom Staat unterstützte Fanatismus,
der sich noch in gewissen unbedeutenden Kreisen entwickelt, verdient nicht
wa men den Namen Nüchternheitsbewegung. So geht's, wo das Ver-
waltet.“
(Diese paar Proben mögen genügen; man sieht ja deutlich, daß in den
finnischen Zeitungen der gleiche Geist herrscht wie in unseren deutschen.
Wer das von den deutschen Zeitungen noch nicht weiß oder einmal eine
erschütternde Sammlung deutscher Zeitungsausschnitte kennen lernen
möchte, der beschaffe sich „Die Alkohol-Schreckenskammer‘‘ der Monats-
schrift „Mutiges Christentum!“ "Dez. 1924, Jahrgang 6, Nr. 12; heraus-
gegeben von Pastor Johannes Zauleck, Wetter [Ruhr]. Der Uebers.)
74 Abhandlungen.
Kapitel 4.
Das Zeugnis der Statistik.
Die Vorsicht, die dem statistischen Material jeder Art gegenüber ge-
boten ist, muß ganz besonders bei Beurteilung der Verstöße gegen das
Alkoholgesetz und der Trunkenheitsvergehen in Finnland gewahrt werden.
Will man einfach das Zeugnis der Statistik den. Ausschlag geben lassen,
das heißt die Zahlen an und für sich, so ist das eine Vereinfachung des
Verfahrens, die zwar hetzerischen Zwecken nützen kann, aber von sach-
lichem Streben nach Wahrheit weit entfernt ist.
Im vorliegenden Falle muß man zwischen Verfehlungen gegen das
Alkoholverbot und Trunkenheitsvergehen, die ebenfalls bestraft werden,
unterscheiden. Die Zahl der Straffälle beider Art hat nach der Statistik
des Justizministeriums in den letzten Jahren zugenommen, und in dieser
Tatsache glaubten die Verbotsgegner besonders wertvolle Angriffswaffen
zu erblicken. Dr. Georg Schauman, der Führer der Bewegung gegen das
Verbot im Reichstag, hat sich in einer weit verbreiteten Veröffentlichung
auf diese Statistik berufen. Herr Schauman schreibt: „Während die Zahl
der wegen Verfehlungen gegen das Alkoholgesetz verurteilten Personen in
den Jahren 1910—13 im Durchschnitt 1644 ausmachte, stieg sie 1919 auf
5280, 1920 auf 10561, 1921 auf 11028 und 1922 auf 12802“, und fährt fort:
„Die Zahl der wegen Trunkenheit Verurteilten betrug 1910—13 im Durch-
schnitt 14 388, im Jahre 1920 war sie auf 21 184 gestiegen, 1921 auf 30 731
und 1922 auf 35709.“ Herr Schauman kommt dann zu der Schlußfolgerung:
„Kein Wunder, daß die Straffälligkeit in ihrer Gesamtheit in hohem Grad
zugenommen hat — eine Tatsache, die unser Volk in ein wenig schmeichel-
haftes Licht im Vergleich mit anderen Kulturvölkern rückt.“
Wir wollen zunächst kurz bei denen verweilen, die wegen Verstoß
gegen das Alkoholgesetz verurteilt wurden. Es läßt sich ja nicht leugnen,
daß der Anstieg von durchschnittlich 1644 Verurteilungen (in den Jahren
1910—13) auf 12 802 (1922) eine gewaltige Zunahme bedeutet. Aber forscht
man nach den Ursachen der Zunahme, so kommt man zu bemerkenswerten
Ergebnissen. Manche Handlungen, die vordemGesetzerlaubt
waren, sind nach dem neuen Gesetz strafbar. Neue Ge-
setze lassen neue Vergehen und Verbrechen zustande kommen. Die Sta-
tistik des Justizministeriums zeigt, daß das Verbotsgesetz in erster Linie
Vergehen zur Folge hat, die in der Beförderung und Lagerhaltung geistiger
Getränke bestehen. Nach dem Gesetz ist es verboten, über 50 Gramm
alkoholischer Waren mit mehr als 2% Aethylalkohol zu besitzen. Die
wegen Trunkenheit Angehaltenen haben oft eine Flasche mit mehr als
50 Gramm bei sich. Sie werden einmal nach dem Strafgesetz wegen
Trunkenheit, dann aber auch auf Grund des Verbotsgesetzes. wegen des
Besitzes von Alkohol bestraft. Die größte Anzahl von Verfehlungen macht
eben diese Art von Besitz aus, der vor dem Verboterlaubt war.
Kein Wunder, daß früher die Straffälligkeit geringer war!
Herr Schauman behauptet weiter, daß auch die Trunkenheitsvergehen
eine bedeutende Steigerung aufgewiesen haben. Vom Durchschnitt von
14388 in den Jahren 1910—13 stieg die Zahl der wegen Trunkenheit Ver-
urteilten 1922 auf 35907. Das ist die Sprache der Zahlen. Herr Schauman
unterläßt jedoch einen Umstand zu nennen, der die Trunkenheitsstatistik in
ein ganz anderes Licht stellt. Von den vor dem Verbot wegen Trunken-
heit Angehaltenen wurden nur ungefähr 25% angeklagt und verurteilt,
während nach den neuen Gesetzesbestimmungen die meisten (in Helsing-
fors ungefähr 83 %) der Angehaltenen nun angeklagt und verurteilt werden.
Wegen Trunkenheit wurden 1913 (also vor dem Verbot), nach den
Polizeiberichten in allen Städten des Landes zusammen 58839 verkaftet
bzw. notiert, aber von diesen wurden nur 15081 verurteilt, mithin 25,6 %.
Hätte man 1913 die wegen Trunkenheit Angehaltenen in gleicher Weise
Stadius, Fünf Jahre Alkoholverbot in Finnland. 19
fehandelt, wie letztes Jahr in Helsingfors (83 %), so wäre 1913 die Zahl
der Verurteilten in allen Städten auf 48836 gestiegen, während sie wie
gesagt nur 15 081 erreichte. 1922 war die Summe der in den Städten des
Landes wegen Trunkenheit Angeklagten 30 461, sonach nur ungefähr die
Hältte (51,8%) der 1913 wegen Trunkenheit angehaltenen Personen. Vor
cem Verbot war es üblich, daß man eine Menge der Betrunkenen in den
Städten von der Polizei wieder freiließ, nachdem sie eine Warnung erhalten
hatten. Diese Trunkenheitsfälle, die somit schon von der Polizei erledigt
wurden, kamen nie vor das Amtsgericht und treten in der Statistik des
Justizministeriums nicht auf, das hingegen jetzt alle diese Fälle aufnimmt,
weil die neuen Gesetzesbestimmungen fordern, daß gegen alle wegen Trunken-
heit Angehaltenen auch beim Kreis- oder Amtsgericht Klage erhoben werden
muß, ausgenommen die Personen, die irrtümlich wegen Trunkenheit angehalten
warden oder die auf einem nicht öffentlichen Platz berauscht waren. Die
Zahl der vor und nach dem Verbot verurteilten Betrunkenen einfach mit-
einander zu vergleichen, ohne gleichzeitig eine Aufklärung über die ver-
änderte Behandlungsweise zu geben, die in hohem Grade die Statistik be-
einflußt hat, wie dies Dr. Schauman tat, kann nicht als richtig angesehen
werden. Der Unterschied von 25 % verurteilter Betrunkener vor dem Ver-
bot und 883% nach dem Inkrafttreten des Verbots ist so groß, daß man
ihn nicht verschweigen darf.
Außer diesen statistischen Abweichungen, die auf der verschiedenartig
sestalteten Rechtspflege vor und nach dem Verbot beruhen, hat noch ein
‚derer Umstand die Trunkenheitsstatistik beeinflußt. Das neue Trunk-
sıchtsgesetz, das am 1. Januar 1922 in Kraft trat, bestimmt: Jede Person,
cie auf Öffentlichen Plätzen sichtlich betrunken angetroffen wird, ist, auch
wenn die Trunkenheit kein öffentliches Aergernis erregt, zu bestrafen. Nach
dem alten Gesetz konnte Bestrafung nur erfolgen, wenn öffentliches Aerger-
nis festgestellt war. Daraus folgt, daß die Trunkenheitsstatistik von 1922
nicht mit der Statistik vorausgehender Jahre oder noch weniger mit Zahlen
aus 1910—13 verglichen werden kann.
Ein dritter Umstand, der gleichfalls die Trunkenheitsstatistik stark be-
eifußt, ist das schärfere Vorgehen der Polizei seit Einführung des Verbots.
Wie die Polizeimeister der meisten Städte der Nüchternheitsabteilung des
Sızialministeriums mitgeteilt haben, wird jetzt gegen Betrunkene eher ein-
o moen als früher; daher die häufigeren Verhaftungen wegen Trunken-
seit,
Die Trunkenheitsstatistik, die ein wechselnder Ausdruck für die Ge-
stzgebung und Rechtspflege verschiedener Zeiten ist und zum großen
Teil auch von der jeweiligen Milde oder der Tatkraft der Polizeiorgane
abhängt, diese Trunkenheitsstatistik ist jetzt den Verbotsgegnern „eine gute
statistik“, seit man mit ihr so leicht Unkundige verblüffen kann.
Es kommt noch eins hinzu: Die Zahl der Angeklagten ist kleiner als
tie der Vergehen, weil nicht selten eine und dieselbe Person gleichzeitig
wegen mehrerer Vergehen angeklagt werden kann. Wo die gleiche Person
mehrere Male wegen Trunkenheit angeklagt wird, taucht sie in der Sta-
stik jedesmal als eine neue Person auf. Das ist ein sehr wichtiger Um-
stand, der unbedingt in Betracht gezogen werden muß. —
= Wie oft hat man nicht in der Alkoholpresse des In- und Auslands lesen
tonnen, der Alkoholverbrauch bei uns sei jetzt größer als vor dem Verbot.
Aber selbst verbotsgegnerische Blätter Finnlands haben mitunter das Gegen-
til bezeugt. So schrieb „Huvudstadsbladet“ genau zu der gleichen Zeit,
ds Dr. Schauman auf dem 17. Internationalen Kongreß gegen den Alko-
holismus (1923 in Kopenhagen) die Wirkungen des finnischen Alkoholverbots
berabzusetzen suchte, daß nach den Meldungen des Polizeimeisters in Hel-
Singiors an den staatlichen Alkoholausschuß der Alkoholverbrauch in seinem
ienstbereich seit der Zeit vor dem Kriege sich verringert habe. Ebenso
si die Zahl der Trunkenheitsvergehen gesunken.
16 Abhandlungen.
Aehnlich berichtete die Zeitung „Äbo Underrättelser“: „Nach der An-
sicht des Polizeimeisters in Abo ist der Verbrauch alkoholhaltiger Getränke
im Vergleich zu der Zeit vor dem Weltkrieg geringer geworden.
Auch die Zahl der angehaltenen Betrunkenen habe abgenommen, was aus
den statistischen Berichten hervorgehe.‘‘ Die Polizeimeister in den zwei
größten Städten des Landes meldeten also amtlich, daß der Alkoholverbrauch
seit dem Verbot sich vermindert habe. Mit Staunen liest man in derselben,
sonst durchaus verbotsfeindlichen Zeitung vom 12, Sept. 1923, daß die Ver-
hältnisse nach den Aussagen des Polizeimeisters jetzt besser als vor dem
Krieg seien — „was auch niemand geleugnet hat“. Alsoı Niemand hat
jemals geleugnet, das es jetzt besser als vorher sei! Gerade das aber hat
eben eine große Zahl von Zeitungen ganz entschieden geleugnet.
Also trotz des Schmuggels, trotz des Rezeptalkohols und der entsitt-
lichenden Zeitungsaufsätze, die zweifellos eine Zunahme der Trunkenheits-
vergehen bewirkt haben, hat sich doch nach dem Zeugnis der Statistik der
Nüchternheitszustand seit der Zeit vor dem Verbot gebessert. Die Trunk-
sucht, die jetzt in einer Reihe von Orten, besonders an der Küste, vor-
kommt, ist als eine soziale epidemische Krankheit zu betrachten, der man
wohl Herr werden kann. Seitdem die wirklichen Krankheitsursachen fest-
gestellt sind, gilt es die geeignetsten Heilmittel zu finden, und wenn die
Epidemie die Neigung zeigen sollte, sich weiter auszubreiten, wird man
eben zu kräftigeren Heilmitteln greifen müssen. ei
uß folgt.
Der internationale Kampf
gegen die Prohibition.
Von Dipl.-Volkswirt Günter Schmölders.
Der Kampf gegen die Prohibition ist zunächst insofern ein natio-
naler, als man darunter die Widerstände versteht, die der Durchführung
des Antialkoholgedankens in jedem einzelnen Lande entgegentreten, und
deren Grundlage teils eine sachliche Ueberzeugung, der Mäßigkeitsgedanke,
zum überwiegenden Teil jedoch das wirtschaftliche Interesse aller derer
ist, die als Erzeuger oder Händler alkoholischer Getränke durch die Durch-
führung der Prohibition ihrer Existenz beraubt zu werden fürchten. Werden
dann von seiten der Interessenten verschiedener Länder — in erster Linie
der Länder mit bedeutendem Wein- und Spirituosenexport — gemeinsame
Veranstaltungen in die Wege geleitet, um in wirksamerer Weise durch ver-
eintes Vorgehen der Antialkoholbewegung entgegenzuarbeiten, so kann von
einem internationalen Kampf gegen die Prohibition gesprochen
werden.
Die Vorbedingungen der Einleitung eines derartigen internationalen
Vorgehens waren nach dem Kriege in besonderem Umfange gegeben. Der
Absatzkampf der Weinbauländer hatte sich aus verschiedenen Gründen
ständig schwieriger gestaltet; die allgemein noch aus der Kriegszeit über-
nommene handelspolitische Absperrung hatte sogar in dem klas-
sischen Lande des Freihandels, in England, dazu geführt, daß die Wein-
einfuhr hohen Zöllen und einer scharfen Kontingentierung unterworfen war,
die z. B. 1919 auf 70 % der Vorkriegseinfuhr festgesetzt war. Ueberhaupt
war die handelspolitische Maßnahme der Kontingentierung, die vor dem
Kriege so gut wie ungebräuchlich war, stark in Aufnahme gekommen, und
noch jetzt besteht in Deutschland eine vertragliche Kontingentierung der
Weineinfuhr gegenüber Griechenland und Portugal:
Neben den handelspolitischen Schwierigkeiten für den Absatz alkc-
holischer Getränke war der Konkurrenzkampf der Erzeugungsländer
um die noch nicht trockengelegten Absatzgebiete auch deshalb schärier
Schmölders, Der internationale Kampf gegen die Prohibition. 17
geworden, weil einerseits die Länder mit einer durch Währungsveriall ge-
ninderten Kaufkraft nicht mehr ebenso aufnahmefähig waren, wie vor dem
Kriege, andererseits aber die gleiche Erscheinung des ‚Währungsverfalls
auf der Seite der alkoholexportierenden Länder ein „Valutadumping‘
seitigte, gegen das die Länder mit weniger gesunkener Währung nicht auf-
kommen konnten. Ein Beispiel der ersteren Art ist das russische Absatz-
gebiet, das für den Weinexport hauptsächlich wegen seiner Valutaverhält-
nisse verloren gegangen war; ein Beispiel der zweiten Art liefert der Wett-
hewerb Spaniens mit Italien auf dem schweizerischen Markte, wo Italien
miolge des niedrigen Standes der Lira seine Weine ungemein billig an-
bieten konnte. Besondere Schwierigkeiten entstanden für Frankreich danu
äurch den Ablauf der Frist für die im Versailler Vertrage vorgesehenen
Erleichterungen des Weinimports nach Deutschland und durch den Boykott
iranzösischer Weine seitens des deutschen Weinhandels als Antwort auf
cen Ruhreinbruch.
Alle diese Schwierigkeiten standen jedoch an Bedeutung für die Wein-
tunländer weit zurück hinter der Ausbreitung der Antialkohol-
hewegung und ihren Erfolgen in der Welt. Es lag daher nahe, die Be-
kampfung gerade dieser Bewegung durch ein gemeinsames Vorgehen der
an Alkohol ınteressierten Länder in Angriff zu nehmen, und so beschlossen
in Sommer 1919 die beiden Organisationen, die bis dahin die Produktion
usd den Vertrieb europäischer Weine zu regeln hatten, nämlich das fran-
zösische Weinsyndikat und das internationale Weinkomitee, eine besondere
Organisation zur „Verteidigung des Weins gegen seine Feinde in der Welt“
zu schaffen. In diesem Beschluß ist offenbar der Ursprung der inter-
nationalen Liga der Alkoholinteressenten zu suchen, die seitdem eine ebense
geheime wie erfolgreiche Tätigkeit im Kampf gegen die Prohibition und
die Prohibitionsländer entfaltet hat.
Diese Liga der Verbotsgegner hat in den letzten Jahren eine Reihe von
Kongressen in verschiedenen Ländern abgehalten, bei denen die Verhand-
lungen regelmäßig hinter verschlossenen Türen stattfanden. Präsident der
Liga ist der Graf de Mun, im übrigen nahmen an den Verhandlungen neben
Vertretern der Interessenten auch mehrfach die diplomatischen Vertreter
jer Hauptweinländer teil; so waren auf dem 4. Kongreß in London im Ok-
tober 1923 14 Staaten, darunter die Prohibitionsländer, mit ihren Alkohol-
interessenten, Frankreich, Spanien und Portugal aber außerdem mit ihren
Gesandten vertreten, und ebenso nahmen die Gesandten dieser drei Länder
ir den Niederlanden an dem Schlußbankett des Kongresses teil, der im
Juni 1924 im Haag tagte. Die Kampfmethoden der Liga umfassen
ale Mittel von der Zeitungspropaganda bis zu dem handelspolitischen
Boykott der Verbotsländer, wie er schon im September 1921 auf dem
Kongreß der Liga in Lausanne in Vorschlag gebracht wurde; da ein wirk-
sam durchgeführter Boykott jedoch ein derart einheitliches Vorgehen er-
iordert, wie es bei den geschilderten Konkurrenzverhältnissen zunächst nicht
erwartet werden kann, dürfte dieses Kampfmittel vorderhand noch nicht
zur Anwendung gelangen können. Auf dem Gebiet der Propaganda
segen die Prohibition ist Frankreich besonders rührig. Hier wurde im
Jahre 1922 die „Commission d'exportation des vins de France“ gebildet,
de durch Bearbeitung von Zeitungen und durch Zahlungen zur Unter-
stützung der Antiverbotsvereine, z. B. in Schweden, das gemeinsame Ziel
zu fördern sucht. An die Spitze dieses Zweiges der Bewegung stellte sich
der Bürgermeister der in fruchtbarster Weingegend gelegenen Stadt Dijon,
Gaston Gerard, der Propagandareisen durch Schweden, Dänemark,
Norwegen, Belgien, Holland und die Schweiz unternahm, und der auch in
Kanada an der Aufhebung des Verbots in den Provinzen Manitoba und
Alberta mitgewirkt hat. Ein weiteres, höchst wirksames Kampfmittel der
Liga angehörenden Weinländer besteht in der Anwendung politischen
es. Als Beispiel sei an die Verzögerung der gesetzlichen Festlegung
18 Abhandlungen.
des Branntweinverbots in Norwegen nach der Volksabstimmung von
1919 erinnert; die endgültige Kodifizierung des freilich schon seit dem
Kriege gehandhabten Verbots erfolgte infolge des politischen Druckes
seitens der interessierten Mächte erst 2 volle Jahre später. Als im Jahre
1923 die Antialkoholbewegung in Aegypten von amerikanischer Seite
Förderung erfuhr, erklärte Frankreich, es werde die Einführung einer Pro-
hibition als „unfreundliche Handlung“ betrachten; das Interesse Frankreichs
erklärt sich daraus, daß die für den Bedarf der Hotels und Restaurants in
der Wintersaison erforderlichen Flaschenweine in erster Linie aus Frank-
reich bezogen werden.
Das Kampfmittel jedoch, dessen sich die Mitglieder der Liga in weitaus
bedeutendstem Umfange bedienen, und mit Hilfe dessen auch bereits erheb-
liche Erfolge erzielt worden sind, bietet die Handelspolitik. Die
weltwirtschaftliche Verflechtung der Kulturländer bringt es mit sich, daß
ein Land von einem anderen wirtschaftlich in dem Maße abhängig ist, wie
der Wert seiner Ausfuhr dorthin den seiner Einfuhr aus diesem Lande über-
steigt. Die Frage also, ob ein Land es sich leisten kann, durch ein Alko-
holverbot den Weinländern ihre Absatzmöglichkeit zu unterbinden, ließe
sich, wenn nicht noch eine ganze Reihe anderer Momente mitspielten, durch
ein einfaches Rechenexempel beantworten. Die Weinländer Spanien und
Portugal sind nun in der Tat nicht nur in starkem Maße Abnehmer der
Klippfischproduktion der nordischen Länder, sondern befinden sich auch
unter den wenigen Ländern, deren Handelsbilanz gegenüber diesen Staaten
passiv ist. So mußte Island in dem Kampf um seine Prohibition gegen
Spanien unterliegen, und so erklären sich auch die schweren Kämpfe Nor-
wegens mit Spanien und Portugal, die endlich die Niederlage Norwegens
zur Folge hatten.
Das Kampfmittel der Handelspolitik wird regelmäßig von dem zunächst
interessierten Lande in der Weise angewandt, daß starke Zolldiskriminationen
für die Waren des zu bekämpfenden Verbotslandes eintreten; in der Regel
handelt es sich um eine Verfünffachung der Zollsätze. Wird von dem be-
kämpften Lande die entsprechende Gegenmaßnahme ergriffen, so beginnt
damit der Zollkrieg, der häufig, wie im Falle Norwegen-Portugal,
jahrelang durchgeführt wird. Gerade an dem Beispiel Norwegens sind die
Kampfmethoden der Verbotsgegner besonders deutlich zu beobachten. Zu-
nächst kündigte Frankreich 1919 das französisch-norwegische Abkommen
von 1892 und zwang dann Norwegen in den Verhandlungen über ein neues
Wirtschaftsabkommen zur Heraufsetzung der Grenze des zugelassenen Alko-
holgehalts für Wein von 12 auf 14 vol. % und zur Uebernahme eines jährlichen
Kontingents von 400 000 I Spirituosen, die die norwegische Regierung Zu-
nächst ohne jede Verwendungsmöglichkeit auf eigene Rechnung einführen
mußte. Danach setzte Spanien mit Hilfe eines Zollkrieges ebenfalls ein
derartiges Kontingent von 500000 I durch, und endlich trat Portugal nach
einem langen und erbitterten Zollkrieg mit der Forderung eines Kontingents
von 850000 1 auf den Plan. In diesem Vorgehen liegt offenbar System;
es ist den Weinländern weit weniger um den Absatz der Kontingente von
Wein und Spirituosen zu tun — eine derartige zwangsweise Unterbringung
seiner Waren liegt niemals im Interesse des Kaufmanns —, als um die
planmäßige Unterwühlung des Verbots; schon nach der Uebernahme des
französischen Kontingents tauchte das Gerücht auf, diese Mengen Alkohol
seien von der norwegischen Regierung mangels anderer Verwendungs-
möglichkeiten (Wiederausfuhr und Verwässerung waren vertraglich ver-
boten) ins Meer geschüttet worden, und in der Tat ist die Belastung des
Budgets mit derart unproduktiven Ausgaben für Kauf, Lagerung und Ueber-
wachung der Weinmengen jedenfalls ein außercrdentlich wirksames Druck-
mittel, das denn auch in Norwegen im April 1923 tatsächlich die erhebliche
Abschwächung des dortigen Teilverbots zuwege gebracht hat; die Grenze
des zugelassenen Alkoholgehalts für Wein wurde auf 21 Vol. % erhöht.
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Schmölders, Der internationale Kampf gegen die Prohibition. i9
so daß damit auch die schweren Madeiraweine, deren mittlerer Gehalt an
Alkohol etwa 20 Vol. % ausmacht !), in Norwegen wieder zugelassen wurden.
Die Verteidigung des Verbots gegen derartige Angriffe besteht
zunächst in handelspolitischen Gegenmaßnahmen, die je nach der Art der
Handelsbeziehungen der beiden Länder von verschiedener Wirkung sein
können. Durch eine Einwirkung auf diese Handelsbeziehungen kann die
Machtlage des angegriffenen Verbotslandes weitgehend verändert werden:
so wurde in Island nach der Niederlage gegen Spanien der Plan ins Auge
efaßt, für die isländische Klippfischausfuhr andere Märkte zu gewinnen
ınd so die handelspolitische Machtstellung Spanien gegenüber auf eine neue
Grundlage zu stellen. Ein weitergehendes Verteidigungsmittel stellt der
wirtschaftliche Boykott dar, wie seine Anwendung gegen Spanien wegen
seines Ueberfalls auf Island im europäischen Verbotsausschuß der World
Prohibition Federation vorgeschlagen wurde. Wenn auch die Durchführung
eines derartigen Boykotts zunächst noch nicht im Bereiche der Möglichkeit
iegen dürfte, so scheint doch der Plan eines Zusammenschlusses der nor-
dschen Staaten zur Verteidigung ihrer Antialkoholgesetzgebung, wie er
seuerdings erörtert wird, durchaus geeignet, den Weg zu einer erfolgreichen
Bekämpfung der internationalen Liga der Verbotsgegner zu eröffnen. Die
deste Verteidigung stellt jedoch für das einzelne Land die Einigung auf
zütlichem Wege dar. So gelang es Finnland, sich mit Frankreich durch
die Einräumung eines Einfuhrmonopols für alkoholische Getränke, soweit
sie in Frankreich hergestellt werden, für den gesetzlichen Bedarf Finnlands
auseinanderzusetzen, eine Abmachung, die in der internationalen Handels- :
politik einzigartig ist‘); Finnlands Stellung gegenüber den anderen Wein-
hauländern wurde dadurch insofern nur wenig geschwächt, als diese zum
stoßen Teil Weine ausführen, die in Frankreich nicht erzeugt werden und.
ılso dem Monopol nicht unterliegen. Gleichwohl drohte auch für Finnland
m März 1923 ein Zollkrieg mit Portugal. Am einfachsten war die Aus-
emandersetzung mit den Weinländern für Schweden, das in seinem „Bratt-
system“ ein Alkoholrestriktionssystem besitzt, das dem Absatz der leichte-
ren Weine keine Schwierigkeiten in den Weg legt’). Spanien verlangte
n den Verhandlungen des Jahres 1923 die Uebernahme der Verpflichtung
von seiten Schwedens, daß mindestens 40 % der schwedischen Weineinfuhr
‚us Spanien gedeckt werden würden. Da jedoch bis dahin die spanischen
eine am schwedischen Weinimport nur etwa mit 10 % beteiligt waren,
sonnte diese Forderung keine ernsthafte Grundlage der Verhandlungen
bilden. Es gelang Dr. Bratt denn auch, die Unterhändler der Weinländer
zu überzeugen, daß das Brattsystem gegenüber allen anderen Antialkohol-
maßnahmen noch am vorteilhaftesten sei und daher von den Weinländern
sefördert, nicht bekämpft werden müßte. In der Tat bietet dies System
m Hinblick auf die Garantien für die Echtheit der Waren und die Zuver-
assigkeit der Warenbezeichnungen gewisse Vorteile für die Weinländer;
so wurde im Vorjahr von Schweden ein reichsortiertes Lager italienischer
ke u ständiger Zusammenarbeit mit den italienischen Interessenten
E et. ? ;
‚ Von besonderer Bedeutung für die friedliche Auseinandersetzung der
Verbotsstaaten mit den weinproduzierenden Ländern dürften die neuerdings
æsonders in Frankreich mit erhöhtem Eifer betriebenen Versuche der
saronglosen Weintraubenverwertung zur Herstellung alkoholfreier Wein-
ıetranke sein. Solange jedoch die Interessen der weinproduzierenden
Länder nicht in irgendeiner Form mit denen der Antialkoholbewegung in
mklang gebracht werden können, wird der Kampf gegen die Prohibition
vermutlich noch in steigendem Maße und in schärferen Formen in Er-
| ‘cheinung treten, und es muß Sache der Prohibitionsländer sein, durch
') Nach Schwalbe, zit. bei Gruber, Der Alkoholismus, Leipzig 1911.
) Röpke, Die internationale Handelspolitik nach dem Kriege, Jena 1928.
’ ch, Das Brattsystem, Qreifswald 1923,
80 Abhandlungen.
internationalen ZusammenschlußB der Liga der Verbotsgegner gleichfalls
eine Einheitsfront entgegenzustellen; von welchem Einfluß eine wirtschaft-
lich mächtige Kampfstellung sein kann, dafür liefert das von den Wein-
ländern kaum nennenswert angegriffene bedeutendste Prohibitionsland, die
Vereinigten Staaten von Nordamerika, ein deutliches Beispiel.
Der amtliche Entwurf eines Allgemeinen
Deutschen Strafgeseßbuches (1925).
Bestimmungen, die unmittelbar mit der Alkoholfrage oder Bekämpfung
des Alkoholismus in Verbindung stehen.?)
Erstes Buch.
Verbrechen und Vergehen.
Allgemeiner Teil
2. Abschnitt
§ 17
Nicht zurechnungsfähig ist, wer zur Zeit der Tat wegen Bewußtseits-
störung, wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit oder wegen
Geistesschwäche unfähig ist, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder dieser
Einsicht gemäß zu handeln.
War die Fähigkeit zur Zeit der Tat aus einem dieser Gründe in hohem
Maße vermindert, so ist die Strafe zu mildern ($ 72). Dies gilt nicht bei
Bewußtseinsstörungen, die auf selbstverschuldeter Trunkenheit beruhen.
7. Abschnitt
Maßregeln der Besserung und Sicherung
Arten von Maßregeln
§ 42 i
Maßregeln der Besserung und Sicherung sind:
1. die Unterbringung in einer öffentlichen Heil- oder Pflegeanstalt,
. die Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt,
. die Sicherungsverwahrung,
. die Schutzaufsicht,
. das Wirtshausverbot,
. die Reichsverweisung,
. der Verlust der Amtsfähigkeit,
. der Verlust des Wahl- und Stimmrechts,
. die Urteilsbekanntmachung,
. die Einziehung.
§ 44
Wird ein Trunksüchtiger wegen einer Tat, die er in der Trunkenheit
begangen hat, oder wegen Volltrunkenheit ($ 335) zu einer Strafe verurteilt,
30 ordnet das Gericht zugleich seine Unterbringung in einer Trinkerheil-
anstalt an, wenn diese Maßregel erforderlich ist, um ihn an ein gesetzmäßiges
und geordnetes Leben zu gewöhnen.
Genügt Schutzaufsicht ($ 51), so ist diese anzuordnen.
OO NA UT EN
u
§ 46
Die Unterbringung (§§ 43 bis 45) bewirkt die Verwaltungsbehörde. .
Die Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt darf nicht länger "als
zwei an dauern,
une den hier angeführten Paragraphen können und müssen noch verschiedene andere
vom dpunkte des Alkoholgegners in Betracht gezogen werden. Deren Abdruck an dieser
Stelle Für e jedoch zu weit führen.
Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches. 8l
§ 47
Ist auf Unterbringung neben einer Freiheitsstrafe erkannt worden, so
ist zunächst die Strafe zu vollstrecken. Das Gericht kann jedoch die Voll-
streckung der Strafe einstweilen aussetzen und anordnen, daß zunächst die
Unterbringung vollzogen wird.
Ist die Unterbringung durch den Strafvollzug überflüssig geworden,
so ordnet das Gericht an, daß sie unterbleibt.e. Die Unterbringung unter-
bleibt auch dann, wenn das Gericht dem Verurteilten einen Rest der Strafe
bedingt erlassen hat und der Erlaß endgültig wird.
Ist der Vollzug der Strafe durch die Unterbringung überflüssig ge-
worden, so ordnet das Gericht an, daß er unterbleibt.
§ 49
Zu einer Entlassung aus der Unterbringung bedarf es, solange die An-
ordnung des Gerichts nicht nach § 46 Abs. 2 außer Kraft getreten ist, der
Zustimmung des Gerichts.
Zeigt sich nach der Entlassung, daß der Zweck der Unterbringung
noch nicht erreicht war, oder daß das Bedürfnis für die Unterbringung
wieder eingetreten ist, so kann die Entlassung mit Zustimmung des Gerichts
widerrufen werden.
Wirtshausverbot-
Wird jemand, der in der Trunkenheit zu Ausschreitung neigt, wegen
einer Tat, die er in selbstverschuldeter Trunkenheit begangen hat, oder
wegen Volltrunkenheit ($ 335) verurteilt, so kann ihm das Gericht für eine
bestimmte Frist allgemein verbieten, Wirtshäuser zu besuchen, in denen
geistige Getränke verabreicht werden.
Die Frist ist auf mindestens drei Monate und höchstens auf ein Jahi
zu bemessen. Sie wird von dem Tage berechnet, an dem das Urteil
rechtskräftig wird, in die Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in der
der Verurteilte eine Freiheitsstrafe verbüßt oder auf Grund behördlicher
Anordnung in einer Anstalt verwahrt wid. i
Reichsverweisung
§ 53
(Abs. 3.) Einen Ausländer, gegen den auf Unterbringung in einer
öffentlichen Heil- und Pflegeanstalt oder in einer Trinkerheilanstalt oder
auf Sicherungsverwahrung erkannt worden ist, kann die zuständige Ver-
waltungsbehörde an Stelle oder neben der Ausführung dieser Maßregeln
aus dem Reichsgebiete verweisen. Kehrt der Ausgewiesene unbefugt zu-
rück, so kann die Maßregel nachgeholt werden.
Besonderer Teil
à 8. Abschnitt
Auflehnung gegen die Staatsgewalt
Befreiung von behördlich Verwahrten
§ 151
Wer, abgesehen von den Fällen der $$ 148, 150, jemanden, der auf be-
tördliiche Anordnung in einer Anstalt verwahrt wird, aus der Verwahrung
befreit oder sein Entweichen erleichtert, wird mit Gefängnis bis zu zwei
Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
Der Versuch ist straibar.
35. Abschnitt
Mißbrauch von Rauschgiften
Volltrunkenheit
§ 335
Wer sich vorsätzlich oder fahrlässig durch den Genuß geistiger Ge-
tränke oder durch andere berauschende Mitte! in einen die Zurechnungs-
Die Alkcholfrage, 1925. 6
82 Abhandlungen.
fähigkeit ausschließenden Rauschzustand versetzt, wird mit Gefängnis bis
zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn er in diesem Zustande
eine mit Strafe bedrohte Handlung begeht.
Die Strafe darf jedoch nach Art und Maß nicht schwerer sein als die
für die vorsätzliche Begehung der Handlung angedrohten Strafe.
Die Verfolgung tritt nur auf Verlangen oder mit Zustimmung des Ver-
letzten ein, wenn die begangene Handlung nur auf Verlangen oder mit Zu-
stimmung verfolgt wird.
Bruch des Wirtshausverbots
§ 336
Wer einem Wirtshausverbote zuwider ein Wirtshaus besucht, in dem
geistige Getränke verabreicht werden, wird mit Gefängnis bis zu drei
Monaten oder mit Geldstrafe bestraft.
Ebenso wird bestraft, wer als Inhaber einer Schankwirtschaft öder als
Vertreter des Inhabers wissentlich einer Person, die unter Wirtshausverbot
steht, in den Räumen der Schankwirtschaft ein geistiges Getränk ver-
abreicht.
Abgabe geistiger Getränke
an Insassen einer Trinkerheilanstalt.
§ 337
Wer wissentlich einer Person, die auf Grund des $ 44 in einer Trinker-
heilanstalt untergebracht ist, geistige Getränke verschafft, wird mit Ge-
fängnis bis zu drei Monaten oder mit Geldstrafe bestraft.
Verabreichung geistiger Getränke
an Jugendliche .oder Betrunkene.
§ 338
Wer einer Person, die noch nicht 16 Jahre alt ist, Branntwein oder
in einer Schankstätte in Abwesenheit des zu ihrer Erziehung Berechtigten
oder seines Vertreters andere geistige Getränke zu eigenem Genusse ver-
ED: wird mit Gefängnis bis zu drei Monaten oder mit Geldstraie
estrait Ä
Ebenso wird bestraft, wer einem Betrunkenen in einer Schankstätte
geistige Getränke verabreicht.
Uebertreten von Vorschriften
gegen das Verabreichen geistiger Getränke.
8 339
Wer einer Vorschrift zuwiderhandelt, durch die für bestimmte Klacke
das Verabreichen geistiger Getränke verboten wird, wird mit Gefängnis
bis zu drei Monaten oder mit Geldstrafe bestraft.
Zweites Buch
Uebertretungen
Besonderer Teil
Uebertreten der Polizeistunde
§ 361
Wer als Gast in einer Schankwirtschaft oder an einem Öffentlichen
Vergnügungsort über die Polizeistunde hinaus verweilt, obwohl der In-
haber oder dessen Vertreter oder ein Polizeibeamter ihn aufgefordert hat,
wegzugehen, wird mit Geldstrafe bestraft.
Ebenso wird bestraft, wer als Inhaber einer Schankwirtschaft oder
eines Öffentlichen Vergnügungsorts oder als Vertreter des Inhabers duldet,
daB ein Gast über die Polizeistunde hinaus verweilt.
Gaupp, Der neue Entwurf ein. allg. deutsch. Strafgesetzbuchs u. d. Alkoholvergehen. 83
Der neue Entwurfeines allgemeinen deufschen
Strafgeseßbuchs und die Alkoholvergehen.
Von Professor Dr. Gaupp (Tübingen).
Das Reichsjustizministerium veröffentlicht den amtlichen Entwurf eines
allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches (Berlin-1925 C. H. Becksche Ver-
'agsbuchhandlung in München), das in 384 Paragraphen zusammenstellt,
was künftig in Deutschland auf strafrechtlichem Gebiet gültiges Recht
werden soll, wenn es die Zustimmung des Reichstags und des Reichsrats
wird gefunden haben.
Das Buch zerfällt in 3 Teile: der erste Teil behandelt die Verbrechen
ınd Vergehen, der zweite die Uebertretungen, der dritte das gemeinschäd-
liche Verhalten (Betteln, Arbeitsscheu, Unzucht). Der Entwurf enthält
zahlreiche Paragraphen, die den Gegner des Alkohols interessieren; er
erfüllt manchen lange gehegten Wunsch und verspricht, wenn er in der
vorliegenden Form Gesetz wird, eine erhebliche Verstärkung unserer
Waffen im Kampfe gegen die Alkoholkriminalität.
$ 11 bestimmt in Absatz 6, daß unter den Begriff der „Gewalt“ auch
lie Anwendung eines betäubenden Mittels fällt, die zu dem Zwecke ge-
schieht, jemanden gegen seinen Willen bewußtlos oder widerstandsunfähig
a machen. Ist dabei wohl auch in erster Linie an eigentliche Narcotica
wie Chloroform und Aether gedacht, so kann doch kaum ein Zweifel
darüber bestehen, daß auch Wein, Sekt oder Schnaps zu solchen betäuben-
den Mitteln gehören, und die Zusammenkoppelung dieser „betäubenden
Mittel“ mit der Hypnose im $ 11,6, zeigt wohl, daß es dem Gesetzgeber
richt darauf ankam, daß irgendeine brutal-zwangsmäßige Einverleibung
der berauschenden Substanz zum Begriffe der Gewalt unerläßlich ist; denn
hypnotisieren kann man einen Menschen bekanntlich nicht durch Zwang,
sondern nur mit einem Mehr oder Weniger an freiwilliger Zustimmung.
Aus dem gleichen $ 11 ist wichtig die Definition des Begriffes „Gemein-
sefahr“; der Entwurf versteht darunter „die Gefahr für Menschenleben
oder in bedeutendem Umfange für fremdes Eigentum“. So wenig die
Kautschukbestimmung „in bedeutendem Umfange‘“ befriedigen mag, so
wichtig ist gerade auch in Hinsicht auf die Alkoholverbrechen die grund-
sätzliche Anschauung, daß auch die Gefährdung fremden Eigentums als
semeingefährliche Handlung erscheint.
$ 12 bestimmt im 3. Absatz, daß fahrlässiges Handeln nur strafbar ist,
wenn es das Gesetz ausdrücklich mit Strafe bedroht.
Besondere Bedeutung besitzen die $$ 16 und namentlich 17, die von
krvollen und der verminderten Zurechnungsfähigkeit
derErwachsenen handeln. § 16 sagt kurz: „Wer zur Zeit der Tat
nicht zurechnungsfähig ist, ist nicht strafbar". $ 17 erläutert dies: „Nicht
zurechnungsfähig ist, wer zur Zeit der Tat wegen Bewußtseinsstörung,
wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit oder wegen Geistesschwäche
unfähig ist, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder dieser Einsicht gemäß
zu handeln. War die Fähigkeit zur Zeit der Tat aus einem dieser Gründe
n hohem Grade vermindert, so ist die Strafe zu mildern. Dies gilt nicht
bei Bewußtseinsstörungen, die auf selbstverschuldeter Trunkenheit beruhen“.
Damit führt also das deutsche Strafgesetzbuch erstmals wieder den
Begrifi der verminderten Zurechnungsfähigkeit ein; es ersetzt den früheren,
leicht mißverständlichen Ausdruck der „Bewußtlosigkeit‘ durch den wissen-
schaftlich richtigeren der „Bewußtscinsstörung‘“ und es verweigert
dem Betrunkenen die Milderung in Gestalt der Anerkennung der verminder-
tn Zurechnungsfähigkeit. Daß auch bei dieser neu getroffenen Formu-
erung in bezug auf die Frage der rechtlichen Behandlung der Alkohol-
6*
84 Abhandlungen.
delikte viele Schwierigkeiten verbleiben, leuchtet ein. Wann ist ein Rausch
eine strafbefreiende Bewußtseinsstörung, die jede Zurechnungsfähigkeit
ausschließt; wann wird der gewöhnliche, der „normale“ Rausch ein patho-
logischer, schwerer Rausch, eine sinnlose Trunkenheit die als Psychose
zu gelten hat? Das Gesetz verlangt auch da künftig ein „aut-aut“, eine
scharfe Grenzbestimmung, wo die Natur keine Grenzen zuläßt. Die Be-
wußtseinsstörung im wissenschaftlichen Sinne beginnt mit dem ersten Glas
Schnaps oder ‚Wein und verstärkt sich mit der Zunahme der genossenen
Menge; es ist immer willkürlich, hier an irgendeiner Stelle den Einschnitt
zu machen. Weder die körperlichen Zeichen (Veränderungen der Sprache,
des Ganges, der Sicherheit und Kraft der Bewegungen, des Gesichts-
ausdrucks) noch das seelische Verhalten (Affektanomalie, Erinnerungs-
ausfall usw.) ermöglicht eine scharfe Trennung der noch „normalen“, die
Zurechnungsfähigkeit bejahenden Angeheitertheit von der als Bewußtseins-
störung zu bewertenden „Volltrunkenheit‘“ ($ 335).
Wir werden auch künftig auf die Beschreibung solcher Zustände durch
Laien (Zeugen, Polizeiorgane) angewiesen bleiben, deren Unzulänglichkeit
jedermann kennt. Und doch wird dieser Uebelstand viel weniger schwer
empfunden werden, weil die praktische Behandlung der schuldigen Trinker
zweckmäßiger sein wird, als bisher. Der siebente Abschnitt. der von den
„Maßregeln der Besserung und Sicherung“ handelt, bedeutet
hierin einen großen grundsätzlichen Fortschritt.
Der § 42 bringt neben dem nur in dörflichen Verhältnissen wirksamen
Wirtshausverbot und neben der Schutzaufsicht als wichtigste
Neuerung die richterliche Anordnung der Unterbringung des Schuldigen
in einer Trinkerheilanstalt, außerdem die Unterbringung des geisteskranken
Trinkers in einer öffentlichen Heil- oder Pflegeanstalt.
§ 43 wird den praktischen Verhältnissen bei der Aburteilung von Ver-
brechen oder Vergehen, die von unzurechnungsfähigen Trinkern begangen
werden, nicht völlig gerecht, insofern er bestimmt, daß dann, wenn jemand
als nicht zurechnungsfähig freigesprochen oder außer Verfolgung gesetzt
oder als vermindert zurechnungsfähig verurteilt wird, das Gericht zugleich
seine Unterbringung in einer öffentlichen Heil- oder Pflege-
anstalt anordne, falls die öffentliche Sicherheit diese Maßregel erfordere.
Genüge Schutzaufsicht, so sei diese anzuordnen.
Hier übersieht der Entwurf, daß die Situation in weitaus den meisten
Fällen, in denen ein Mensch wegen alkoholisch bedingter Bewußtseins-
störung freigesprochen werden muß, anders liegt: die meisten Alkohol-
psychosen, die zu Verbrechen und Vergehen führen, sind ihrer Natur nach
heilbar und kurzdauernd: so der schwere Rausch, die sinnlose
Trunkenheit, das Delirium tremens, der Alkoholwahnsinn, der dipsomanische
Dämmerzustand, der alkohologene epileptische Dämmerzustand, der akute
transitorische Eifersuchtswahn. Hier wird der Täter zur Zeit der gericht-
lichen Aburteilung in der Regel wieder geistesgesund sein, seine Frei-
sprechung muß .aber erfolgen, weil die Tat unter den Schutz des § 17
fällt. Es wäre aber widersinnig, den Täter nun, wie dies bisher leider
der Fall war, wieder kurzerhand laufen zu lassen, wenn er etwa ein
schweres Verbrechen (Totschlag, Brandstiftung usw.) begangen hatte. Ihn
als geistesgesund (nach Abheilung der akuten Alkoholpsychose) in eine
Heil- oder Pflegeanstalt zu stecken, wäre wertlos, ja schädlich; er bedarf
in allererster Linie der zwangsweisen Verbringung in eine Trinkerheil-
anstalt, dieder Entwurf in $44 nur für solche Fälle vorsieht, in denen ein
Trunksüchtiger wegen einer Tat, die er unter Alkoholeinfluß beging, oder
wegen „Volltrunkenheit‘“ (darüber später) zu einer Strafe verurteilt
wird. Gerade diese Anordnung wird namentlich für solche Fälle unerläß-
lich sein, in denen Freisprechung hatte erfolgen müssen, weil der alko-
holische Ausnahmezustand den zweifelsfreien Charakter einer Bewußtseins-
störung bzw. einer Geistesstörung angenommen hatte.
Gaupp, Der neue Entwurf ein. allg. deutsch. Strafgesetzbuchs u. d. Alkoholvergehen. 85
Der $ 44 enthält die Einschränkung, daß eine solche zwangsweise Ver-
bringung in eine Trinkerheilanstalt nach erfolgter Verurteilung nur erfolgen
solle, wenn diese Maßregel erforderlich ist, um den Trinker an ein gesetz-
mäßiges und geordnetes Leben zu gewöhnen. Wenn Schutzaufsicht genüge,
so sei diese anzuordnen. Auch diese Formulierung wird in der Praxis
je nach den eigenen Anschauungen des Richters über die soziale Bedeutung
der Alkoholdelikte sehr verschiedene Auslegungen finden — ein unvermeid-
licher, aber doch offen einzugestehender Uebelstand.
Aus $ 46 erfahren wir, daß die Unterbringung durch die Verwal-
tungsbehörde zu geschehen habe. Hier wird also ein Strafvollzug,
der bei richtiger Auslegung des Gesetzes in unzähligen Tausenden von
Fällen künftig wird stattfinden müssen (man vergleiche die Zahlen der
Alkoholkriminalität der letzten 20 Jahre!), in die Hände einer Instanz gelegt,
die nicht dem gleichen Ministerium untersteht, wie das Gericht, und die
heute völlig unfähig sein würde, die Urteile der Gerichte in die Tat umzu-
setzen — weil es nicht den zehnten Teil der Trinkerheilstätten gibt,
die alsdann nötig sein werden. Es bleibt vorderhand völlig unklar, wer in
unseren Zeiten der Verarmung Deutschlands die Trinkerheilstätten bauen
und unterhalten würde, die nach Annahme des vorliegenden Entwurfs er-
forderlich sein werden, wenn das Gesetz wirklich ausgeführt wird. Es
wird nötig sein, die Behörden des Reiches und der Länder rechtzeitig mit
allem Nachdruck auf diese Sathlage hinzuweisen, damit es nicht gehe, wie
es lange Zeit mit dem Strafvollzug bei Jugendlichen ging: er sollte in
bestimmten gesonderten Anstalten stattfinden, aber diese Anstalten
an da und wurden auch nicht allerorts geschaffen, als das Gesetz
in Kraft trat.
Der letzte Absatz des $ 46 besagt, daß die Unterbringung in einer
Trinkerheilanstalt nicht länger als 2 Jahre dauern dürfe. Es ist fraglich,
ob diese Beschränkung zweckmäßig ist. Wissen wir ja doch, wie häufig
die Trinkerheilanstalten nicht zur Heilung ihrer Pfleglinge in dieser Zeit-
spanne kommen, weil die Einsicht des Trinkers ausbleibt, weil immer wieder
neue Täuschungs- oder Entweichungsversuche gemacht werden und der
gzemeingefährliche Trinker nach 2 Jahren noch genau so gemeingefährlich
oder verwahrlost ist, wie bei seinem Eintritt in die Anstalt. Was den
Geisteskranken recht ist, das möge auch für die ungeheilten gefährlichen
Trinker billig sein. Die Sicherungsverwahrung muß bei jenen nach 3 Jahren
auf ihre Berechtigung von Neuem richterlich geprüft werden. Das Gleiche
sollte für die Trinker nach zwei Jahren angeordnet werden.
In durchaus richtiger Weise regelt der $ 47 die Frage des Verhältnisses
der Unterbringung (zu Heilzwecken) zur Abbüßung einer verhängten Frei-
heitsstrafe.. Der Paragraph lautet:
„Ist auf Unterbringung neben einer Freiheitsstrafe erkannt worden, so
ist zunächst die Strafe zu vollstrecken. Das Gericht kann jedoch die Voll-
streckung der Strafe einstweilen aussetzen und anordnen, daß zunächst die
Unterbringung vollzogen wird. Ist die Unterbringung durch den Straf-
vollzug überflüssig geworden, so ordnet das Gericht an, daß sie unterbleibt.
Die Unterbringung unterbleibt auch dann, wenn das Gericht dem Ver-
urteilten einen Rest der Strafe bedingt erlassen hat und der Erlaß endgültig
wird. Ist der Vollzug durch die Unterbringung überflüssig geworden, so
ordnet das Gericht an, daß er unterbleibt“.
Und $ 48 fährt fort: „Wird auf Sicherungsverwahrung neben einer
Freiheitsstrafe erkannt, so kann das Gericht anordnen, daß die Verwahrung
an die Stelle der Strafe tritt. Der Verurteilte ist in einem solchen Falle
mindestens solange in der Anstalt unterzubringen, als die Strafe dauern
würde“.
§ 49 legt die Entscheidung über die Entlassung in die Hände des Ge-
richts und regelt die Frage der Probeentlassung und den Widerruf der
86 Abhandlungen.
Entlassung bei Nichtbewährung. Diese Formulierungen geben keinen An-
laß zu Bedenken, sondern müssen als Fortschritte begrüßt werden.
$ 51 definiert den Begriff der „Schutzaufsicht“ und läßt er-
kennen, daß darunter gewiß sehr viele chronische Trinker fallen würden.
Was diese Schutzaufsicht in städtischen, namentlich großstädtischen Ver-
hältnissen leisten kann, steht dahin. Gleiches gilt von dem Wirtshaus-
verbot (§ 52). Es kann nur gegen solche Personen ausgesprochen
werden, die wegen einer in selbstverschuldeter Trunkenheit begangenen
Tat oder wegen Volltrunkenheit bereits verurteilt sind. Der Entwurf kennt
es nur in der Form des allgemeinen Verbots für alle Wirtshäuser, in
denen geistige Getränke verabreicht werden. Frist 3 Monate bis höchstens
1 Jahr. Auch hier will mir die Begrenzung nach oben unrichtig erscheinen.
$ 53,3 ermöglicht die Ausweisung eines Ausländers, gegen den
auf Unterbringung in einer öffentlichen Heil- oder Pilegeanstalt oder in
einer Trinkerheilanstalt oder auf Sicherungsverwahrung erkannt worden ist.
‚ Der neunte Abschnitt, der von der Strafbemessung handelt, kennt in
S 75 „besonders leichte Fälle“, in denen der Richter von jeder
Strafe absehen kann. Dies wird gewiß auch bei vielen erstmaligen Alkohol-
vergehen oder Uebertretungen künftig praktische Uebung werden, zumal
es ja noch immer viele Menschen gibt, die gegen die Ausschreitungen der
Trunkenheit eine weitgehende Toleranz besitzen — in Erinnerung an die
eigene übermütige Studentenzeit.
Die § 76—334 haben (etwa mit Ausnahme von § 77,3, der vom Rückfall
handelt) für die uns hier berührenden Fragen der Alkoholkriminalität
kein besonderes Interesse, dagegen ist der 35. Abschnitt ($ 335 bis 339)
eine sehr wichtige und glückliche Neuerung des Entwurfes; er handelt
„vom Mißbrauch von Rauschegiften“.
S 335 führt den Begriff der „Volltrunkenheit“ ein und lautet:
Wer sich vorsätzlich oder fahrlässig durch den Genuß geistiger Getränke
‚oder durch andere berauschende Mittel in einen die Zurechnungsfähigkeit
ausschließenden Rauschzustand versetzt, wird mit Gefängnis bis zu zwei
Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn er in diesem Zustand eine mit
Strafe bedrohte Handlung begeht. Die Strafe darf jedoch nach Art und
Maß nicht schwerer sein, als die für die vorsätzliche Begehung der
Handlung angedrohte Strafe. Die Verfolgung tritt nur auf Verlangen oder
mit Zustimmung des Verletzten ein, wenn die begangene Handlung nur auf
Verlangen oder mit Zustimmung verfolgt wird.“ Dieser Paragraph ist ganz
fraglos ein großer Fortschritt und füllt endlich eine seit Jahrzehnten
schmerzlich empfundene Lücke aus. Aber er enthält auch eine ernste
Gefahr für die Rechtsprechung. Schon bisher kannte die
Gerichtspraxis das „Antrinken mildernder Umstände“. Wie oft wird
künftig bei schweren Verbrechen (Mord, Totschlag, Brandstiftung, Sittlich-
keitsverbrechen) der $ 335 herangezogen werden, dessen Anwendung
höchstens eine zweijährige Gefängnisstrafe ermöglicht. Es muß doch sehr
sorgfältig geprüft werden. ob das vorsätzliche Sich-Betrinken
zum Zwecke geplanter tötlicher Gewalttat oder anderer Ver-
brechen mit 2 Jahren Gefängnis eine genügende Sühne erfährt. „Jetzt sauf
ich mir einen ordentlichen Rausch an und dann bring’ ich den Kerl um
(oder „dann zünd’ ich dem Kerl das Haus an“), dann kann mir nicht viel
passieren, höchstens 2 Jährchen‘ — solche oder ähnliche Ueberlegungen
dürften mancher nüchtern geplanten brutalen Gewalttat vorangehen.
336 bestraft den Bruch des Wirtshausverbots mit
Gefängnis bis zu 3 Monaten oder mit Geldstrafe sowohl am ungehorsamen
Trinker wie auch am Inhaber der Schankstätte (bzw. seinem Vertreter).
falls dieser wissentlich ein geistiges Getränk an den Trinker verabreicht.
Analoge Bestimmungen trifft der § 337 gegen den, der dem Insassen
einer Trinkerheilanstalt wissentlich Alkohol zukommen läßt. Endlich
schützt der $ 338 Jugendliche und Betrunkene gegen Inhaber
Gaupp, Der neue Entwurf ein. allg. deutsch. Strafgesetzbuchs u. d. Alkoholvergehen. 87
von Schankstätten, die diesen Personen Getränke verabreichen. Der
Schutz der Jugendlichen dehnt sich bis auf das 16. Lebensjahr aus.
$ 339 gibt noch eine Sonderbestimmung, wenn für bestimmte
Anlässe das Verabreichen von geistigen Getränken verboten und dieses
Verbot nicht eingehalten wird. $ 361 bestraft die Uebertretung der Polizei-
stunden in Wirtschaften usw. (nach vorangegangener Aufforderung zum
Weggehen) mit Geldstrafe, wie dies schon das heutige Gesetz bestimint.
Ueberblicken wir den ganzen Entwurf unter dem Gesichtspunkt, was
er uns im Kampfe gegen die Alkoholseuche und ihre Schädlichkeit für
Staat und Gesellschaft bedeutet, so können wir nicht umhin anzuerkennen,
daß er eine groBe Verbesserung gegenüber dem heute geltenden Strafrecht
bringt. Wenn sich die deutschen Richter mehr als bisher mit der Psycho-
logie der Alkoholwirkung und der Trinkermentalität befassen, wenn fie den
Ergebnissen der Reichskriminalstatistik mehr als bisher ihr Interesse
zuwenden, wenn sie durch ernstes Studium der ganzen Alkoholfrage den
Humor für die dummen Streiche und sinnlosen Handlungen des Berauschten
und des chronischen Trinkers mehr verlieren, wenn sie jede Klassenjustiz
sorgfältig vermeiden und nicht etwa z. B. dem Studenten ein Recht des
„Sichauslebens‘ zugestehen, das sie dem Bürger oder Arbeiter verweigern,
dann ist zu hoffen, daß der größte Feind des deutschen Volkes, der seinem
Aufstieg aus heutigem Elend und heutiger Unfreiheit am meisten im Wege
steht, mit schärferen Waffen bekämpft und schließlich besiegt werden kann.
Der Entwurf
zum Allgemeinen deutschen Strafgeseßbuch
und die Bekämpfung des Trunks.
Von Oberregierungsrat Leo von Egloffstein.
Seitdem Anselm von Feuerbach aus Kant’scher Weltanschauung heraus
ein neuzeitliches Strafrecht geschaffen und mit dem bayrischen Straf-
gesetzbuch von 1813 den deutschen Staaten das Vorbild eines Strafgesetzes
gegeben hat, ist durch keine Neugestaltung des Strafrechts eine solche Kluft
hinter der letzten Vergangenheit aufgerissen worden, wie durch das „All-
gemeine deutsche Strafgesetzbuch“ in der Gestalt des Entwurfes, der in
diesen Tagen vor der Beratung im Reichstag steht.
1. Der Entwurf weitet dem Richter die Verantwortung. Im Ausmaß
der Strafe, in der Wahl der Straf- und der Sicherungsmittel ist ihm kaum
eine hemmende Schranke mehr gezogen. Die strafrechtlichen Begriffe sind
weit weniger eingeengt als bisher. Der Richter kann ihren Inhalt aus
Wissenschaft und Leben schöpfen.
2. Das neue Strafrecht will sich nicht mehr auf Strafe beschränken.
Es will schützen: die Gesellschaft vor dem Rechtsbrecher, den Rechts-
brecher vor neuen Verbrechen. Der Zustand soll enden, daß die über-
wiegende Zahl von Verbrechern nach der Strafe zu immer neuen Uhntaten
freigelassen wird.
Beides und manche Einzelbestimmung dient dem Kampf gegen den
Trunk nicht minder, als der neu geschaffene Abschnitt „Mißbrauch von
Rauschgiften‘“.
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1. Die Gebote.
1. Daß im künftigen Strafrecht die Trunkenheit nicht mehr als Mil-
derungsgrund gelte, ist schon zum Schlagwort geworden, aber nur
zur Hälfte wahr. Auch nach dem Entwurf steht es dem Richter frei, die im
Rausch begangene Tat milder zu beurteilen, als die nüchtern überlegte und
auch unterm alten Recht stand es dem Richter frei, dem Betrunkenen die
88 Abhandlungen.
mildernden Umstände und strafmildernden Gründe abzusprechen, ja ihm
die Trunkenheit zur Last zu rechnen. Der Entwurf bestimmt:
„Das Gericht kann die Strafe... mildern, wenn es annimmt, daß die
Tat hauptsächlich auf Ursachen zurückzuführen ist, die dem Täter nicht
zum Vorwurf gereichen.“
Trotzdem kann der Richter nach wie vor dem Betrunkenen mildernde
Umstände zubilligen, wenn ihm das angedrohte Mindestmaß zu hoch scheint.
Er muß dann eben nach anderen mildernden Umständen suchen. Wir be-
grüßen es, wenn der Entwurf auch in diesem Satz die Trunkenheit so ernst
auffaßt, wie es die ernsten Zeiten fordern, aber praktische Bedeutung
messen wir ihm nicht bei.
2. Die Jugend wird geschützt.
„Niemand darf Personen, die noch nicht 16 Jahre alt sind, Branntwein
oder in einer Schankstätte in Abwesenheit des zu ihrer Erziehung Be-
rechtigten oder eines Vertreters andere geistige Getränke zu
eigenem Genusse verabreichen.
3. Ebenso ist das Verabreichen geistiger Getränke in Schank-
stätten an Betrunkene verboten.
4. Aber weit wirksamer als solche Polizeiverbote werden dem Trunk
und der Verführung zum Trunk einige Strafbestimmungen entgegenarbeiten,
die gar nicht auf ihn abzielen. So das Verbot der „Aussetzung“: Bisher
dachte der Gesetzgeber bei Aussetzung nur an Kinder, Kranke und Ge-
brechliche. Der Entwurf aber bestraft wegen Aussetzung jeden, der „einen
anderen in hilflose Lage bringt“
und der
„einen Hilflosen, der unter seiner Obhut steht oder für dessen Fort-
schaffung oder Aufnahme er zu sorgen hat, in einer hilflosen Lage läßt, die
sein Leben gefährdet“.
5. Der Entwurf führt ferner das Verbot der „Lebensgefährdung“
ein und bestraft sie mit Zuchthaus:
„Wer wissentlich und gewissenlos einen anderen in unmittelbare
Lebensgefahr bringt ... wird .. . bestraft.“
6. Er schafft endlich den Begriff der „Herbeiführung eines
Erfolgs durch Unterlassung“:
„Wer es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, obwohl er hierzu rechtlich
verpflichtet ist, wird ebenso bestraft, wie jemand, der den Erfolg verursacht.
Wer die Gefahr, daß ein bestimmter Erfolg eintritt, durch seine Tätigkeit
herbeiführt, ist verpflichtet, den Erfolg abzuwenden.“
Damit erinnert der Entwurf den Wirt und auch ieden Gastgeber im
eigenen Heim usw. an eine Verantwortung, die zwar von jeher als selbst-
verständliche sittliche Pflicht bestanden hat,die aber mangels strafrechtlichen
Nachdrucks für das sittliche Empfinden Vieler verloren gegangen ist. Der
Wirt also haftet, wenn ein Gast betrunken die Schänke verläßt und ver-
unglückt, oder einen andern verunglücken läßt, oder ein Verbrechen begeht.
Und er ist verpflichtet, den Trunkenen in Sicherheit zu bringen. Er haftet
vor dem Straffichter und haftet mit seinem Vermögen. Es wird ihn bald
verleiden, einen Gast so lange zu bewirten, bis er trunken wird.
7. Manch anderer Unfug des Trinkers und mit Trinkern wird strenger
erfaßt. Bisher war der Begriff der Anstiftung eng verklauselt. Der
Entwurf nennt Anstifter:
„Wer vorsätzlich veranlaßt, daß ein anderer eine strafbare Handlung
ausführt.‘
Wer also Leute betrunken macht, damit sie Versammlungen sprengen
oder sonst Unheil anrichten, trägt die Haftung, der er sich bis jetzt zu ent-
ziehen wußte.
8. Strafbar wird nun auch die „Aufforderung zumMord“ und die
„Verabredung eines Mords“, mit denen die Wirtshausrauferei zu
beginnen pflegt.
E
v. Eglofistein, Der Entwurf z. Allg. deutsch. Strafgesetzbuch u. d. Bekämpf.d.Trunks. 89
9. Zur Gewalt, die den Raub, die Nötigung, die Notzucht kenn-
zeichnet, gehört nach dem Entwurf auch
„die Anwendung betäubender Mittel zu dem Zweck, jemand bewußtlos
oder (auch nur) widerstandsunfähig zu machen‘.
10. Neben der Körperverletzung, die ja vor allem Rauschvergehen ist,
kennt der Entwurf die MißBhandlung und
„die Mißhandlung und Körperverletzung von Kindern, Jugendlicher
und wegen Gebrechlichkeit und Krankheit Wehrlosen“ durch den
Fürsorgepflichtigen usw. `
So kann man den Trinker, der Frau und Kinder mißhandelt oder auck
nur seelisch quält, der Trinkerheilstätte zuführen.
ił. Zur Kuppelei endlich, die bekanntlich nur unter den Trinksitten
in ihrem derzeitigen Umfang möglich ist, rechnet der Entwurf auch das
Halten von
„Bordellen und bordellartigen Betrieben“,
Aber ernstlich kann nie ein Strafgesetz, sondern nur das Trunkverbot
das Dirnentum an der Wurzel fassen.
2. Sicherungen.
Das Gericht kann im Urteil auch Sicherungsmaßnahmen aussprechen.
1. So dass Wirtshausverbot von drei Monaten bis zu einem
Jahr, und bestraft wird nicht nur, wer es übertritt, sondern auch
„der Inhaber einer Sehankwirtschaft, der in den Räumen der Schank-
wirtschaft ihm ein geistiges Getränk verabreicht‘.
2. Das Gericht kann den Verurteilten auch in eine Trinker-
heilstätte bis zu zwei Jahren einschaffen.
3. Aber auch die Heil- und Pflegeanstalten, in denen
„als nicht zurechnungsfähig Freigesprochene oder außer Verfolgung Ge-
setzte oder als vermindert zurechnungsfähig Verurteilte“
untergebracht werden können, werden, wie alle Irrenanstalten, mindestens
zur Hälfte Trinker aufweisen.
4. Und wer weiß, wie häufig die Trunksucht bei Rückfälligen vertreten
ist, wird die Zahl der Trinker in den Sicherungsverwahrungsanstalten für
Rückfällige bemessen können.
5. Aber, wie auch jetzt, werden die meisten Trinker im Arbeitshaus
sein. Die Bettler und Landstreicher werden nicht mehr bis zu hundertmal
von Strafhaft, ins Arbeitshaus und wieder auf die Landstraße gejagt, sondern
kommen sogleich ins Arbeitshaus, bis das Gericht ihre bedingte Wieder-
entlassung beschließt.
6. An Stelle der Unterbringung in einer Trinkerheilstätte und bei jedem
bedingten Straferlaß und jeder bedingten Aussetzung oder Aufhebung der
Unterbringung in einer Anstalt kann das Gericht die Schutzaufsicht
anordnen. Diese hat also auch alle Aufgaben der Trinkerfürsorge +).
1. Jeder bedingte Straferlaß und jeder Erlaß des Strafrestes und jede
Entlassung aus einer Heil- und Pflegeanstalt oder Sicherheitsverwahrung
oder aus dem Arbeitshaus kann an Bedingungen geknüpft werden, auch die
Bedingung der Enthaltsamkeit oder des Eintritts in einen Enthaltsamkeits-
verein, und so wird auch das Pollard-System, die Trinkerbewährung
ins neue Strafrecht einziehen. Auch aus dem Bereich des Deutschen Ver-
ens sind viele Vorschläge fürs neue Strafrecht hervorgegangen; in Auf-
Sätzen zur „Alkoholfrage‘“ und in besonderen Schriften. Sie gewinnen in
diesen Tagen, da ums neue Recht beraten wird, an Wert. Wir nennen:
Die sichernden Maßnahmen des künftigen Rechts können mit einem
Schlag das Reich von verbrecherischen Trinkern und trunksüchtigen Feinden
der Ordnung befreien. Sie greifen freilich auch so tief in die Freiheit des
1 1. der Behandlung der Trinker in den Anstalten des künftigen Strafrechts ver-
weise ich auf meine Ausßprache bei der 35. Tagung des Deutschen Vereins gegen den Alko-
kolismus in Nürnberg 1924.
90 Abhandlungen.
Verbrechers ein, wie ers bis jetzt sich nicht träumen ließ. Aber was Robert
Heind! in seinem ungemein lehrreichen Werk „Meine Reise nach den Strat-
-kolonien“ (Ullstein 1913) aus Australien berichtet, wo die Sicherungen längst
eingeführt sind, das kann auch bei uns eintreffen. Die Furcht vor lebens-
länglicher Verwahrung und Bevormundung wird manchen zur Besinnung
bringen, der Enthaltsamkeit zuführen und vor dem Verbrecherelend erretten.
* * *
Aenderungsvorschläge.
Der Entwurf zeigt vor seinen beiden 1913 und 1919 erschienenen Vor-
entwürfen den Vorzug, daß er einem Guß entstammt und nicht die Flicken
vieler Beratungen und Verbesserungen aufweist. Wir wünschen, daß er so
bleibt. Die Aenderungen die wir fordern, würden das Gesamtbild gewiß
nicht stören.
1. Inder Trinkerheilstättesollein Trunksüchtiger untergebracht
werden, wenn er die Tat in der Trunkenheit begangen hat oder wegen
Volltrunkenheit zu Strafe verurteilt worden ist. Warum muß die Trunksucht
schon ausgebrochen sein? Da ists oft schon zu spät. Warum muß die Tat
selbst in Trunkenheit begangen sein? Wir kennen viele, die nüchtern waren |
bei der Tat, aber durch den Trunk zu ihr getrieben wurden und deshalb
in die Trinkerheilstätte gehören.
Wir wünschen die Fassung:
„War die Tat durch Trunk verursacht... . so ordnet das Gericht die
Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt an, wenn diese Maßregel erforder-
lich ist, um ihn an ein geordnetes Leben zu gewöhnen.“
2. Entsprechendes gilt für das Wirtshausverbot, sofern wir von ihm
Erfolg erwarten.
3. Wo im Entwurf von Wirtshaus und Schankstätten die Rede ist,
‘wünschen wir den Zusatz
„und andere Verkaufsstellen von geistigen Getränken“.
Denn diese sind heute dem Trinker nicht minder gefährlich.
4. Wir begrüßen es, daß bei der Unterbringung in eine Trinkerheil-
anstalt, in eine Öffentliche Heil- und Pflegeanstalt, in Sicherungsverwahrung
und auch ins Arbeitshaus dem Richter freie Hand gelassen ist. Er kann
die Verwahrung in der Trinkerheilanstalt auf zwei Jahre, die übrigen Ver-
wahrungen ie nach Bedarf nach immer neuer Prüfling‘ und versuchsweiser
Entlassung u. a. auf Lebensdauer erstrecken. Er hat auch die Wahl, ob er ı
erst die Strafe oder die Verwahrung volistrecken oder die eine durch die
andere ersetzen oder sie bedingt erlassen will. Aber es heißt:
„Das Gericht ordnet zugleich die Unterbringung ... an.
Das Wort zugleich wünschen wir gestrichen.
Es wird sich während der Strafverbüßung, während der Verwahrung,
während der Bewälirungsfrist und Schutzaufsicht immer wieder zeigen, daB
eine andere Unterbringungsart geeigneter ist, als die in der Hauptverhand-
lung angeordnete. In der Trinkerheilstätte z. B. zeigt sich, daß der Pflegling
rettungsloser, geisteskranker Trinker ist und in die Heil- und Pilegeanstalt |
gehört, vielleicht auch besser im Arbeitshaus untergebracht ist und die
Schutzaufsicht wird immer mit Pfleglingen zu tun haben, die in eine Anstalt
gehören. Bis zum Ende der Strafverbüßung oder der Schutzaufsicht, oder
der Bewährungsfrist oder der Verwahrung muß dem Gericht vorbehalten
bleiben, solche Sicherungsmaßnahmen zu treffen.
* % *
Die Frist kann kurz sein, binnen deren wir unsere Anträge geltend
machen können. Aber es kann geschehen. Nicht minder wichtig als unsere
Vorschläge ist für uns, daß im Lauf der Reichstagsverhandlungen nichts zu
Ungunsten unserer Sache geändert wird.
Auer 000
Tuczek; Alkohol und Schule. 91
Der Entwurf gibt von den neuen Sätzen und Maßnahmen nur die Umrisse.
Vollzugsgesetze und Verordnungen werden für die Ausführung. sorgen.. Auf
sie und die Rechtsprechung müssen wir ein waches Auge haben. Wir können
viel dazu beitragen, daß unterm neuen Strafrecht das Vaterland vor dem
Trunk, den Trinkern und ihren Verführern geschützt wird. | .
Alkohol und Schule‘).
Von Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Tuczek.
Die Alkoholfrage, die während der Alkoholknappheit im Kriege und in
en Nachkriegszeit nahezu verstummt war, ist heute wieder in vollem
lu =
Aerzte, Pädagogen, Geistliche, Juristen, Volkswirtschaftler, Landwirte,
Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Kongresse, Parlamente, Gesetzgeber be-
schäftigen sich mit ihr, und schrill klingen in die Diskussion hinein die
Stimmen der im Dienste der Alkoholindustrie stehenden Organe zur Abwehr
der Enthaltsamkeitsbewegung.
So sehr nun auch im Einzelnen die Meinungen auseinandergehen, zumal
auch über den Wert und die Folgen des, seit 5 Jahren in Amerika ein-
zeiührten, Alkoholverbotes, so geschlossen ist die Einigkeit über die Not-
wendigkeit alkoholfreier und alkoholgegnerischer Jugenderziehung. Das
wachsende Gehirn reagiert besonders empfindlich auf Alkohol; alle die Ent-
re störenden Einflüsse bringen aber dem Organismus bleibenden
Schaden.
In keiner Periode des Lebens, von der zartesten Kindheit vielleicht ab-
xesehen, drohen vom Alkoholgenuß größere Gefahren als gerade in der
reiferen Jugend, in der Pubertätszeit; in ihr entscheidet es sich, was und
wie der Jugendliche in Beziehung auf Gesittung und Charakter wird. Viel-
fach ist bei Jugendlichen eine Abnahme der Leistungsfähigkeit unter Alko-
hoiwirkung und parallel der Menge des genossenen Alkohols festgestellt und
durch den wissenschaftlichen Versuch bestätigt worden: durch Abnahme der
Einzelleistungen und geringeren Unterrichtserfolg bei Schulkindern, die ent-
weder regelmäßig geistige Getränke erhielten, oder als Nachwirkung eines `
einmaligen Genusses solcher.
Wir müssen seit einigen Jahren eine starke Zunahme des Verbrauchs _
von Alkohol und von Tabak, besonders in einzelnen jugendlichen Kreisen,
feststellen; dessen Bekämpfung ist um so notwendiger, als die heran-
wachsende Generation nicht die widerstandsfähigste ist, und, als wir heute
einer nicht unbedenklichen Neigung der Jugend begegnen, überlieferte sitt-
liche Ordnungen aufzulösen, und die individuellen Triebe und Leidenschaften
über jede Autorität und Ehrfurcht hinweg aller ernstlichen Zucht zu ent-
ledigen. Für viele Jugendliche deckt sich heute geradezu der Begriff des
Lebensgenusses mit Trinken und Rauchen.
Nun ist es leichter und aussichtsvoller, junge Menschen in neue An-
schauungen einzuführen und darin zu befestigen, als fertige, in sich ab-
geschlossene Menschen zu beeinflussen, wobei es sich von selbst versteht,
daß der für diese Aufgabe genügend vorbereitete Erzieher sich so verhalten
muß. daß er von den Zöglingen ernst genommen wird. Hier nun muß die
Schule, als das berufenste Erziehungsorgan, die Führung übernehmen. Denn
der Schule ist der Alkohol besonders gefährlich; gilt es doch hier, geistigen
Stoff zu sammeln und zu verarbeiten, das Gemütsleben zu veredeln und zu
entfalten, einen willensstarken widerstandsfähigen Charakter zu schaffen
ang Menschen heranzuziehen, die imstande und gewillt sind, später dem
2 Nach ein einem Vortrage, gehalten am Elternabend der Oberrealschule in Marburg a.d. Lahn
den 19. Februar 1925.
02 Ä Abhandlungen.
Volksganzen zu dienen, für die Volksgemeinschaft auch Opfer zu bringen.
Einer solchen Erziehung wirkt aber die Abschwächung feinster geistiger
und sittlicher Regungen durch den Alkohol geradezu entgegen.
Mit Erlassen und Verboten der Schulbehörden und Schulleitung ist es
hicht getan. Es muß die Frage der alkoholfreien Jugenderziehung in die
der sozialen Erziehung eingegliedert, also vom sozialpädagogischen Stand-
punkt aus behandelt werden; denn in der Alkoholfrage hängen die gesund-
heitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Schäden eng und vielfach durch
Wechselwirkung miteinander zusammen.
Belehrung über die Alkoholfrage muß ausdrücklich in den Unterrichts-
plan fest eingefügt und Lehrern anvertraut werden, welche die hygienische
Einsicht in die Notwendigkeit des anzustrebenden Ziels besitzen auf Grund
eigener hygienischer Bildung und Lebensführung. Die Lehrer müssen für
die Idee der alkoholgegnerischen Jugenderziehung gewonnen werden: denn
der Unterricht muß getragen sein von der freudigen Mitarbeit der Lehrer:
der Unterrichtende muß mit seiner inneren Ueberzeugung hinter den von
ihm vorgetragenen Erkenntnissen stehn; gerade hier hängt der Erfolg ganz
von der Persönlichkeit des Lehrers ab.
In den Vereinigten Staaten von Nordamerika verlangen die Gesetze,
daB keine Berechtigung zum Unterricht an höheren Schulen denjenigen Per-
sonen erteilt wird, welche nicht eine befriedigende Prüfung in Physiologie
und Hygiene mit besonderer Berücksichtigung der Einwirkung des Alkohols
und andrer Berauschungs- und Betäubungsmittel auf den Menschen, abgelest
haben; und jeder zukünftige Lehrer höherer Schulen muß im ersten Jahr
auf der Hochschule eine Vorlesung über Hygiene mit besonderer Berück-
sichtigung der Alkoholfrage hören. In den amerikanischen Schulen wird ob-
A Der Unterricht über die Wirkungen des Alkohols vom 8. Jahre an
erteilt.
Der Unterricht wird einzusetzen haben mit der Belehrung über die, alle
Organe, besonders das Nervensystem, schädigende Giftwirkung des Alko-
hols; wie er die Leistungsfähigkeit, besonders der Kopfarbeiter, herabsetzt:
wie der gewohnheitsmäßige Alkoholgenuß die Erbmasse, und damit die Naclı-
kommenschaft, schädigt: wie er die Konstitution verschlechtert, Krankheiten
in allen Organen hervorruft; große Angriffsflächen für allerlei Schädigungen
schafft, die durch aufreibendes Berufsleben und sonstige ungesunde Lebens-
weise begünstigt werden: wie er für Entstehung und den ungünstigen Ver-
lauf vieler Krankheiten Hilfsursache ist; wie er somit die Krankheits- und
Sterblichkeitsziffer erhöht; wie insbesondere frübzeitiger Alkoholgenuß die
körperliche, geistige und sittliche Entwicklung der Jugend gefährdet: und.
wie das Alles vom Alkohol in jeder Form, von Bier und Wein nicht minder
wie vom Branntwein gilt.
Weiter wird aufzuzeigen sein, daß in der Statistik all die Fälle mittlerer
Grade unerfaßt bleiben, in denen sich der Alkoholismus lediglich in allmäh-
lichem Rückgang der Arbeitsleistung und Wirtschaftslage, in erhöhter
Kränklichkeit, in frühzeitigem Altern, in allmählicher Abschwächung des
gesamten Persönlichkeitswertes äußert. Sodann wird hinzuweisen sein auf
die Abstumpfung der feinsten sittlichen und ästhetischen Gefühle, auf die
Beseitigung der Hemmungen, die sich den Begierden entgexensetzen und so
in Verbindung mit der Aufpeitschung der Sinnlichkeit den Alkohol zum
Schrittmacher für die Verbreitung der Unsittlichkeitsvergehen und der Ge-
schlechtskrankheiten macht; äuf den verhängnisvollen geistigen Verfall des
Trinkers, der ihn des Pflicht- und Ehrgefühls, der Achtung vor dem Gesetz
beraubt, ihn zu einem egoistischen, energielosen, arbeitsscheuen, brutalen
Menschen macht, welcher der Familie, der Gemeinde, den Polizeibehörden
zur Last fällt oder auf die Verbrecherlaufbahn gerät. Es wird auf die hohe
prozentuale Beteiligung des Alkoholismus an den Massenerscheinungen des
wirtschaftlichen Verfalls, des Landstreichertums, der Prostitution, der Kri-
minalität und an Formen des Familienelends, die in keine Statistik zu fassen
Tuczek, Alkohol und Schule. | 93
sind, hinzuweisen sein. Besonders ist zu betonen, daß die Abschwächung
ieinerer körperlicher und geistiger Leistungen den einmaligen Genuß auch
einer mäßigen Dosis eine Zeitspanne bis zu mehreren Tagen überdauern
kann: sowie, daß der gewohnheitsmäßige Genuß geistiger Getränke schwere
und schwerste Dauerschädigungen auch bei Menschen setzt, die niemals
betrunken gewesen sind.
Aus den Haushaltungsplänen wird nachgewiesen werden können, daß
in Deutschland die Ausgaben für alkoholische Getränke die für lebens-
wichtige Nahrungsmittel vielfach erreichen, ja nicht selten übersteigen und
stets größer sind als die Gesamtausgaben für Bildungszwecke und soziale
Versicherungen zusammen — eine unverantwortliche Verschleuderung von
Vermögen unseres verarmten Volkes auf Kosten der Gesamternährungs-
wirtschaft, der Kreditfähigkeit, auf welche wir schon wegen der notwendigen
Einfuhr von Lebensmitteln angewiesen sind und auf Kosten wichtiger Kultur-
aufgaben; dazu die Luxusausgaben, vielfach für sinnliche und seichte Genüsse,
zu welchen der Alkohol verleitet, und die Unsumme von indirekten Ausgaben,
welche auf das Konto des Alkoholismus zu setzen sind: die Armenlasten, die
Ausgaben der Krankenkassen, die Invalidenrenten, die Kosten für Kranken-,
Irren-, Straf- und Besserungsanstalten, für Psychopathenheime — Ausgaben,
die alle von der Allgemeinheit getragen werden müssen; endlich die wirt-
schaftliche Schädigung durch quantitative und qualitative Minderung der
Arbeitsleistung in allen Industriezweigen, wie sie tausendfältig in Betrieben
festgestellt ist und zu strengen Vorschriften über die Enthaltung von gei-
stigen Getränken während der Arbeitszeit geführt hat.
Man kann auch den indirekten Weg wählen, indem man in der Statistik
der Krankheits- und Sterbefälle, der Lebensversicherungsgesellschaften, der
Invaliditäts-, Unfalls- und Selbstmordhäufigkeit, in der Armenpflege, in der
Kriminalität, in der Ehescheidungs-, Hilfsschul-, Fürsorgeerziehungs- und
Berufsvormundschaftsstatistik den Einfluß der Trinkgewohnheiten verfolgt.
Aus all dem soll die Jugend erkennen lernen, daß es sich bei der Alko-
hölirage um nicht nur für den Einzelnen sondern auch um sozialgefährliche
Genüsse handelt. Sie soll erkennen lernen, daß der Kampf gegen Alkohol
und Tabak heute geradezu vaterländische Pflicht jedes Deutschen ist. Hat
doch eine Einschränkung dieser Genußmittel eine Erleichterung unserer
Reparationsabgaben im Gefolge. Nach dem Londoner Abkommen richtet
sich nämlich die Höhe der Reparationsabgaben aus dem deutschen Reichs-
haushalt vom Jahre 1929/30 ab nach einem besonderen „Wohlstandsindex“:;
und einen wichtigen Bestandteil der Dinge, die diesen Wohlstandsmaßstab
bestimmen, bildet der Gesamtwert des Verbrauchs an Tabak, Bier und
Branntwein in Deutschland.
„Die Sorge für das Volkswohl zu wecken, das Bewußtsein lebendig zu
machen, daß ieder Einzelne in jeder Stelle mit verantwortlich ist — durch
seine Anschauungen, durch sein Auftreten, durch seine Lebensführung, —
für das Gedeihen oder den Verderb seiner Volksgenossen, scheint mir“
— %0 sagt ein hervorragender Schulmann — „der wichtigste Ausgangspunkt
für die ganze alkoholgegnerische Erziehung.“
Jedes Unterrichtsfach kann der Belehrung dienstbar gemacht werden,
wenn der Lehrer es versteht, sie an den gerade behandelten Stoff an-
zuknüpien.
„Ist ein Lehrer“ — sagt derselbe Schulmann — „selbst aus dem un-
bewußten Mitmachen der Trinkanschauungen und Trinksitten erwacht.
dann wird er immer wieder Gelegenheit beim Unterricht finden, um der
Jugend neue Gesichtspunkte und Einblicke in dies Gebiet zu geben. Es
ist ja nur ein harmloser Witz“ — fährt er fort — „wenn der Professor in
r Prima gerade die abstinenten Schüler aufruft, daß sie den Inhalt einer
Horazschen Ode zur Verherrlichung des Falerner Weins aufsagen, unter
Spürbarem Grinsen der Einen und innerem Widerstreben der Anderen.
“otwendig ist es nicht so; es könnte ruhig eine solche Horazstunde von
g4 Abhandlungen.
der dichterischen Schönheit des Gelesenen hinüberleiten in den Ernst des
Lebens, in die strengen Zusammenhänge von sittlicher Lebensauffassung
und Lebensschicksale, von der Rückwirkung des Verhaltens Einzelner aui
den Bestand der Gemeinschaft des ganzen Volkes.‘ Und — möchte ich
hinzufügen —, wenn in der englischen Stunde vielleicht gelesen wird,
was Hamlet von dem Dänenvolk rügt:
„Dies schwindelköpfge Zechen macht verrufen bei andern Völkern uns
in Ost und West. Man heißt uns Säufer, hängt an unsre Namen ein schmutzig
Beiwort; und fürwahr, es nimmt von unsern Taten, noch so groß verrichtet,
den Kern und Ausbund unsres Wertes weg“ — so ergibt sich ungezwungen
ein Hinweis darauf, wie das deutsche Volk sich im Ausland durch seine
Trinkunsitten verächtlich gemacht und die Fortführung der Kinderspeisungen
durch das amerikanische Hilfswerk ernstlich gefährdet hat.
Und, um weiter dem Shakespeareschen Genius das Wort zu geben:
Wenn wir Othellos Leutnant Cassio, der, verleitet, ein Glas mehr zu trinken
als er vertrug, sich zu unbesonnenen Handlungen hatte hinreißen lassen,
in die Verwünschung ausbrechen hören:
„Trunken sein und wie ein Papagei plappern? und Renommieren und
Toben, Fluchen, und Bramabarbasschwatzen mit unserm eignen Schatten?
O, du unsichtbarer Geist des Weins, wenn du noch keinen Namen hast, an
dem man dich kennt, so heiße Teufel! O, daß wir einen bösen Feind in den
Mund nehmen, damit er unser Gehirn stehle! DaB wir durch Frohlocken,
Schwärmen, Vergnügen und Aufregungen uns in Vieh verwandeln! Jetzt
ein vernünftiges Wesen sein, bald darauf ein Narr und plötzlich ein Vieh --
o furchtbar! Jedes Glas zu viel ist verflucht und sein Inhalt ist ein Teufel!“
— dann könnten wir gut hinzufügen: Für Jugendliche bis zur Voll-
entwicklung ist schon ein Glas zu viel -— selbst ein gelegentliches Glas Wein
oder Bier, z. B. bei einem Familienfest, bei einem Ausflug.
Und wir teilen den Wunsch desselben Cassio: „Mir wär 's lieb, wen
die Höflichkeit eine andere Sitte der Unterhaltung — als nämlich das
Trinken — erfände.“
In den Rahmen der staatsbürgerlichen Erziehung würde es sich einfügen.
wenn darauf hingewiesen würde, daß zur Zeit von allen Industrien fast nur
die des Brauens und Brennens gute Geschäfte macht; und, daß eine ernst-
hafte Unterstützung im Kampf gegen den Alkohol nicht zu erwarten ist von
einem Staate, welcher einen Teil seiner Einnahmen aus der Besteuerung der
alkoholischen Getränke bezieht, welcher die Verarbeitung von Getreide zu
Branntwein wieder uneingeschränkt freigibt, und welcher auch heute noch
in den Abteilen seiner Eisenbahnzüge Reklamen für „echten alten Wein-
brand“ und „feine Liköre“ anbringen läßt; daß wir also in diesem Kampi
aus eigener Kraft und mit dem guten Beispiel vorangehen müssen.
Vertretungsstunden für verhinderte Lehrer könnten durch einen zu-
sammenhängenden Ueberblick über die Alkoholfrage einen wertvollen Inhalt
bekommen.
Aber nur gelegentliche Hinweise sind nicht ausreichend; es bedarf
eines planmäßigen Unterrichts in der Gesundheitslehre unter weitgehender
Berücksichtigung der Alkoholfrage von fachkundigen Lehrern, die durch
einen sozialhygienischen Unterricht dazu vorbereitet sind. Hygiene mit
menschenkundlicher Grundlage als Teilgebiet biologischen Erkennens muß
einen notwendigen Bestandteil eines einheitlichen naturwissenschaft-
lichen Unterrichts bilden, unterstützt durch geeignete Anschauungs-
mittel, Wandtafeln, Flugblätter, Besuch alkoholgegnerischer Ausstellungen
gemeinsame Lektüre. Auch die, aus Anlaß der Impfungen erfolgende.
Verteilung von Merkblättern über die Gefahren des Alkoholismus hat
sich bewährt. . Zu der Belehrung muß die Uebung durch die Tat kommen,
die Pflege hygienischen Denkens und Wandelns zur Grundlage des ganzen
Schullebens werden; also: Leibesübungen, deren Bedeutung für Gesundheit,
Charakterbildung und Gemeinschaftssinn, aber auch als Bundesgenosse im
o — =
Tuczek, Alkohol und Schule. 95
kampfe gegen den Alkohol sich allgemein durchgesetzt hat; Turnen, Spiel-
ibungen, Schwimmen, Wanderungen, Schulbäder, Schulgärten, Veredelung
Jer Geselligkeit und Vergnügungen. Wie der Alkohol auf dem Gebiet des
Sittlichen die feineren Gefühle zuerst zum Schweigen bringt, so hebt er auch
die Aufnahmefähigkeit für feinste und reinste Genüsse auf.
Alle Turn- und Sportverbände stehen auf dem Standpunkt, daß von
Jugendveranstaltungen der Alkohol grundsätzlich, ebenso von den Turn-
plätzen Alkohol und Tabak fernzuhalten sind.
Durch die Erziehung zu Tätigkeiten werden wertvolle Seelenkräfte erst
geweckt; darin liegt der Wert methodisch geübter Leibesübungen für die
Wilensdisziplin; jede Ueberwindung auf einem Gebiet erleichtert den Sieg
auf anderen Gebieten. Durch Uebung werden Tätigkeiten zur Gewohnheit;
das gilt für Sinnes- und Muskeltätigkeiten, und ebenso für Denkgewohnheiten
und Willensrichtungen.
Also: Gewöhnung an alkoholfreies Leben in der Schule, auf Wan-
derungen, bei Spiel und Sport, auf Schulfesten, Schulentlassungsieiern und
stnlichen Veranstaltungen. In dieser Beziehung liegt noch manches im Argen.
dbiturientenkommerse mit ihrem drum und dran in geistloser Nachahmung
studentischer Gepflogenheiten sind noch immer an der Tagesordnung.
Wenn die Jugend sich vom Genuß geistiger Getränke freihält, wird sie
körperlich und geistig frischer heranwachsen und sich Empfänglichkeit und
Begeisterungsfähigkeit bewahren.
Die Jugend hat das Verlangen, etwas Großes zu sein und zu leisten:
stecken wir ihr ein hohes Ziel, das den Einsatz aller Kräfte fordert — und
dazu gehört die Enthaltsamkeit aus freiem EntschluB —, so werden die
Besten mitmachen und neue Wege gehen, auch wenn sie steil sind; das
macht unempfindlich für Spöttereien, Sticheleien; das macht aus einer
sıgenblicklichen Begeisterung die, durch den Grundsatz gefestigte, ent-
schlossene Gesinnung zum Arbeiten und Kämpfen für das erkannte Ziel.
Das beste Erziehungsmittel ist aber auch hier das Beispiel, das Vorbild. Der
echte Erzieher wirkt mehr durch das, was er ist, als durch das, was er sagt,
ilaubt oder verbietet. Die Jugend lebt in einer Welt der Trinksitten.
Uiese zu beseitigen, müssen die Erwachsenen den Jugendlichen, die Ge-
ħketen den weniger Gebildeten vorangehn. Gegenüber der fortschreitenden
Erkenntnis von den Alkoholgefahren sorgen die Trinksitten, die Alkohol-
‚rdostrie, nicht selten auch die häusliche Erziehung dafür, daß das nach-
itigende Geschlecht immer wieder in die bisherigen Trinkanschauungen
rmeinwächst. Immer noch hat die Jugendbewegung, bei der beherrschenden
Tradition. mit den’ Idealen einer falschen Männlichkeit zu kämpfen. (Von
deser Einsicht ausgehend, haben Lehrer aller Schulgattungen, von der
\olksschule bis zur Hochschule, den „Deutschen Bund enthaltsamer Fr-
ücher“ begründet, der schon einige Tausend Mitglieder zählt und diese mit
Rehtlinien, Aufklärungsmaterial usw. versorgt. Vors. Dr. Stenzer, Berlin-
Hessenwinkel, Ahornstraße 9.)
Bei den Jugendlichen ist der Einfluß von Kameraden, von Alters- und
sSinnungsgenossen meist wirksamer als der von Erwachsenen. Dahin
telende Bewegungen aus den Kreisen der Jugend selbst versprechen daher
ım sichersten Erfolg und verdienen unsere volle Beachtung und Förderung.
. Soweit in der heutigen Jugendbewegung, wohldiszipliniert und ohne
Einschachtelung in politische Parteien, Religionen und Sekten, ein innerer
trang nach Reinheit, wie er sich in dem Abwenden vom Rauchen, Trinken
i sexuellen Ausschweifungen, zeigt, lebendig ist, können wir diesen Ent-
icklungsgang nur begünstigen; wenn sie sich dabei auch von der Familie
‚was Joslösen sollte, wird sie doch Eigenschaften ausbilden und pflegen,
7 tzen Endes wieder dem Familienleben und damit dem Leben des
en Ranzen zugute kommen. Wir können daher Jugendverbände als
Ce ungsgemeinschaften mit der Tendenz zur Schaffung einer neuen
Nigkeit, wie sie sich in allen denkbaren Stufen der Stellungnahme
a.
ae 2a : PP - o ee >
nn =
96 Abhandlungen.
gegenüber dem Genuß geistiger Getränke bis zur Verpflichtung zur völligen
Abstinenz herausgebildet haben, nur begrüßen. —
Nun ein Wort über die Schulentlassenen. Die größte Zahl der
erwerbstätigen Jugend kommt aus der Volksschule. Mit dem Abschluß der
Schulzeit fällt ein wichtiger Erziehungseinfluß weg; gleichzeitig schwächt
sich der Erziehungseinfluß durch das Haus, eine erziehliche Einwirkung der
Arbeitgeber auf die Arbeitnehmer ist kaum vorhanden, ein solcher des
Lehrherrn auf den Lehrling meist nicht sehr tiefgreifend.
So ist die Jugend, welche bei weitreichender Selbständigkeit und Freiheit,
vielfach ohne höheres Ziel und tiefere Bildung, oft körperlich schwächlich in
die Entwicklungsperiode mit ihren körperlichen und geistigen Umwälzungen
hineingeht, mit dem Eintritt in das Erwerbsleben meist auf eigne Kraft
gestellt. Hier haben die Berufsschulen auf Grund der durch die Ver-
fassung vorgesehenen Fortbildungspflicht bis zum vollendeten 18. Lebensjahr
einzugreifen, die ihre Wirksamkeit in überwiegender Weise auf etne Durch-
geistigung der Arbeit einzustellen haben und nicht nur Unterrichts-, sondern
auch Erziehungsanstalten sein sollen; sie haben in der Alkoholfirage eine
besondere Verantwortung auf sich zu nehmen. Das liegt ja auch in der
Richtung ihrer besonderen Unterrichtsziele auf gesundheitlichem und volks-
wirtschaftlichem Gebiet im Hinblick auf die Vorbilder, die vielfach das
Leben zu Haus und im Betriebe bietet, und durch Bezugnahme auf die
täglichen Erfahrungen. — Die Wirkungsmöglichkeiten der Fortbildungs-
schulen sind aber, selbst falls sie die wünschenswerte Unterstützung durch
Jugend- und Wohlfahrtsvereine finden, beschränkt, um so wichtiger ist es,
daß schon in der Schulzeit der Grund gelegt wird zu einer, die künftige
Lebenshaltung beherrschenden Ueberzeugung von den Alkoholgefahren. —
Die Aussichten, im alkoholgegnerischen Unterricht: Erfolge zu erzielen,
sind für den Lehrer um so günstiger, wenn er auch sonst tätig an der
Aufklärungsarbeit sich beteiligt den Eltern, seiner Umgebung, gegenüber,
zur Schaffung einer, die Alkoholgefahren kennenden und bekämpfenden, für
gesetzgeberische Maßnahmen z. B. die Durchsetzung des so überaus wich-
tigen Gemeindebestimmungsrechts über die Erteilung von Schankkonzes-
sionen, reifen öffentlichen Meinung; durch Mitarbeit im Jugendamt, bei
Gründung von Jugendherbergen. —
Bei der alkoholfreien Jugenderziehung muß, wie überall, das Haus mit
der Schule Hand in Hand gehen. Es ist eine ganz gute Ergänzung der
Beobachtungen, die der Lehrer an den Schülern macht, wenn er einerseits
das Elternhaus kennenlernt, wenn er andererseits gelegentlich in an-
gemessener Weise zu hören bekommt, wie der Schüler sich außerhalb der
Schule über den Lehrer äußert, z. B. auch in der Stellungnahme zum Alkohol.
Es könnte nichts schaden, wenn sich aus dem Kreis der Eltern häufiger
Stimmen erheben würden gegenüber etwaigen Mißständen bei Schul-
entlassungsfeiern oder im Ausflugswesen. Es wäre sehr dankenswert, wenn
die Abiturienten zu ihrer Abschiedsfeier auch ihre Eltern und die Mitglieder
des Elternbeirats einladen wollten. —
Noch ist der wichtigen Bundesgenossenschaft zu gedenken, welche die
Lehrer in dem Schularzt erstreben sollten. Sachsen, das hierin vor-
bildlich ist, hat als erster größerer Bundesstaat für alle staatlichen höheren
Schulen den Schularzt eingeführt, und die städtischen höheren Schulen
folgten. Den gesetzlichen Schlußstein in der Ueberwachung, auch in der
Zahnpflege, der gesamten schulpflichtigen Jugend einschließlich der Berufs-
schulen, hat das Schulbedarfsgesetz vom 31. 7. 22 gebracht. Damit wird
der Schularzt zum Schülerarzt, der das Kind durch die ganze Schullaufbahn
zu begleiten hat.
Auch mit dem Schularzt sollte das Haus noch geschlossener Hand in
Hand gehen; kann er doch auch, bei genauer Kenntnis, nicht nur des Kindes,
sondern auch der Familie, in der Berufsberatung wertvolle Hilfe leisten.
Tuczek, Alkohol und Schule. 97
wenn wir es auch hier im allgemeinen mit der Mutter in „Hermann und
Dorothea" halten werden:
„Denn wir können die Kinder nach unserm Sinne nicht formen,
So wie Gott sie uns gab, so muß man sie haben und lieben,
Sie erziehn aufs Beste und Jeglichen lassen gewähren,
Denn der Eine hat die, der Andere andere Gaben,
Jeder braucht sie und jeder ist doch nur auf eigne Weise gut und glücklich.“
Die Alkoholtrage, 1925. 7
Chronik
für die Zeit vom 1. Dezember 1924 bis zum 28. Februar 1925.
Von Christian Stubbe.
A. Zwischenstaatliches.
Der frühere Ministerpräsident von Australien Hughes
drahtete von einer Reise durch die Vereinigten Staaten in seine Heimat:
„Mein Eindruck geht dahin, daß in nationaler, sozialer und ökonomischer
Hinsicht die Prohibition Veränderungen herbeigeführt hat, die ans Wunder-
bare grenzen.“ (Schw. Abst.“ Nr. 19.)
Ein elektrolytisches Verfahren zur Sterilisierung des Mostes
ist von Dr. Max Kleiber und Assistent H. Jenny erfunden. (,„Frht.‘“ Nr. 19.)
— In der Akademie der Wissenschaften zu Paris führte Abbé Senderens
ein Experiment vor, durch katalytische Entwässerung (déshydratation) der
Alkohole unter Verwendung von Schwefelsäure neue Aether-Oxyde zu ge-
winnen. („La Journ. Ind. Fin.” 11.) — Auf dem Kongreß für chemische
Industrie berichtete Boulard, daß die Agave, die in den tropischen und
subtropischen Gegenden gedeiht (Welterzeugung rund 210000 To.), sich zur
Zucker- und zur Alkoholgewinnung vortrefflich eignet. Mit Agaven aus
Oran sind in Frankreich Versuche angestellt; 12 % Zucker und 60 % Alkohol
waren das Ergebnis. Die industrielle Ausnutzung hat begonnen. Eine
Maschine kann 1000 To. Blätter von Fasern täglich befreien, was 60 hl
Alkohol entspricht. Der Fasergewinn an sich ist auch lohnend. (,L’Industrie
Chimique“, Okt. 24.)
In Frankreich arbeitet ein besonderer „wissenschaftlicher
Petroleumausschuß“ auf Veranlassung des Handelsministers daran,
die Verwertung von Alkoholen und Pflanzenölen als Brenn- und Leucht-
stoffe auszuprobieren. („La Semaph.“ 17. 1. 25.) — Ein aus Rußland stam-
mender Ingenieur Makhounine hat seine Erfindung, entzündbare
Gase zum Motorantrieb aus Pflanzenölen und Alkohol auf elektrischem
Wege zu gewinnen, der Republik Frankreich zur Verfügung gestellt. („La
Liberté“, 1. 1. 25. „La Croix“ 10 1.) — In Schottland wird Motor-
spritin großen Massen aus Pflanzenstoffen und Kohlen gewonnen: Haupt-
ort der Erzeugung ist Grangemouth. („Daily Chron.“ 8. 1. 25.
Der Internationale Verband von Eisenbahner-Alko-
holgegnervereinen besteht gegenwärtig aus 12 Landesverbänden
mit rund 80 000 Mitgliedern, die beinahe alle im aktiven Bahndienst stehen
(England rd. 65 000, Holland rd. 2500, Schweden 2450, Dänemark 1700, Finn-
land 940, Schweiz 900, Ortsgruppe Oldenburg in Deutschland 800, Deutsche
Landesgruppe etwa 900 Mitglieder). (,„Frht.‘ Nr. 20.)
Die Internationale Konferenz zur Bekämpfung des Alko-
holschmuggels in Helsingfors tagte 24. 11. bis 4. 12. 24. Alle bal-
tischen Staaten und Norwegen waren vertreten. Eine internationale Kon-
vention wurde geschlossen, die nach 30 Tagen in Kraft tritt, nachdem drei
Staaten sie unterzeichnet haben. Die Hauptpunkte sind: Schiffen unter
100 Registertonnen Tragkraft ist die Ausfuhr alkoholischer Getränke zu
untersagen. Größere Schiffe bedürfen zu solcher Ausfuhr einer Bewilligung,
die nur als ehrenhaft bekannten Reedern erteilt wird. Der Kapitän hat sich
zu verpflichten, keinen Alkohol auf unerlaubte Weise auszuschiffen. Die
Vertragsstaaten sichern sich das Recht zu, ihre Gesetze gegen Schmuggel-
schiffe innerhalb einer 12-Meilenzone anzuwenden; in der Verfolgung aber
Stubbe, Chronik. 99
soll das Zollschiff auch aufs offene Meer dem Schmuggler nachjagen dürfen.
Die „Deutsche Nautische Zeitschrift“ „Hansa“ teilt 1925, Nr. 1, mit,
akin von Kielaus hätten im letzten Halbjahr 1924 143 Fahrzeuge Sprit
geschmuggelt!
B. Aus dem Deutschen Reiche.
Allgemeines,
Der Bund Deutscher Frauenvereine hatte für die letzte
Reichstags- und Landtagswahl (7. Dez. 1924) Frauenforderungen zusammen-
zestellt, darunter die Wiedereinbringung des Schankstättengesetzes.
Die Arbeitsgemeinschaft der Gärungsgewerbe hat bei den
bürgerlichen Parteien (der Deutschnationalen Volkspartei, der
Deutschen Volkspartei, dem Zentrum und den Demokraten) angefragt, wie
sie zum Alkoholverbot stehen. Die Deutsche Volks- und die Demokratische
Partei lehnen ein Verbot ab; das Zentrum erklärt, sich mit dieser Frage
noch nicht befaßt zu haben. Die Deutschnationale Partei ist „aus kulturellen
Gründen‘ für die Bekämpfung des Alkohols; ein „absolutes Alkoholverbot“
dagegen wäre „kulturwidrig“. („Der Wille“ Nr. 10.)
Der bevölkerungspolitische Ausschuß des Reichs-
tags hat mit vier Stimmen Mehrheit den Antrag der Sozialdemokraten
und Demokraten, daB dem Reichstag der Entwurf eines Schankstätten-
gesetzes vorgelegt werden solle, angenommen. Im Reichstag wurde
über die Vorlegung des Schankstättengesetzes 18. 2. in einer des Ernstes der-
Sache wenig würdigen Weise verhandelt. Hauptargument dagegen war: Wir
wollen keine Trockenlegung! — In der Theorie erklärten sich alle Parteien
(mit Ausnahme der Wirtschaftlichen Vereinigung) gegen den Alkoholmißbrauch.
Ein Vertreter der Bayrischen Volkspartei behauptete jedoch, in Bayern sei
Bier ein Nahrungsmittel! Die Frauen aller Parteien forderten entschiedene
Maßnahmen gegen den Alkoholismus. Der Antrag auf Vorlegung des Schank-
stättengesetzes wurde mit 199 gegen 165 Stimmen bei 16 Enthaltungen ab-
gelehnt, — angenommen dagegen ein deutschnationaler (mit 305 gegen 53
Stimmen bei 6 Enthaltungen) auf Schutz der Jugend gegen die Gefahren
des Alkoholismus und Verbesserung des Konzessionswesens unter Ab-
lehnung der Trockenlegung Deutschlands. Im Bayrischen Landtag
wandte sich bei der Generaldebatte zum Landwirtschaftsetat der deutsch-
nationale Abgeordnete Rassig gegen das Schankstättengesetz als Förderung
der verderblichen Trockenlegung!
Der deutsch-portugiesische Handelsvertrag vom 28.
4. 23 ist 31. 12. 24 um ein weiteres Jahr verlängert worden. Dabei sind
Portugal für Porto- und Madeiraweine dieselben Zollsätze zugestanden, wie
sie für die spanischen Malaga-, Tarragona- und Xeresweine bestehen. Die
amtliche Drahtung fügt hinzu: Es handle sich um hochwertige Spezialweine,
die keine Konkurrenz für deutsche Weine bilden!
Im deutsch-italienischen Handelsvertragsproviso-
riam haben beide Teile für den endgültigen Handelsvertrag beiderseitige
Meistbegünstigung zugestanden.
Der preußische Minister des Innern gab einen Erlaß, daß
öffentliche karnevalistische Veranstaltungen aller Art in ge-
schlossenen Räumen zugelassen werden können; verboten bleiben karne-
valistische Umzüge und sonstiges karnevalistisches Treiben im Freien. Die
Oberpräsidenten und der Polizeipräsident Berlins werden ermächtigt, die
Polizeistunde, soweit dieses erforderlich scheint, während des Karne-
vals zu verlängern. Der Minister drückt die Erwartung aus, daß die Be-
völkerung sich des Ernstes der Zeit bewußt bleiben und es an der nötigen
Zurückhaltung nicht fehlen lasse. Gegen Auswüchse und Ueberschreitungen
solle mit aller Schärfe vorgegangen werden. („Kieler Ztg.“ 3. 1. 24.) So-
wohl der Erzbischof wie die evangelische Geistlichkeit in Köln fordern
TR
í
100 Stubbe, Chronik.
wegen der ernsten Zeit Verzicht auf Karnevalsfreuden; die Gastwirte in
München verlangen Durchführung des Faschings.
Das am 30.9. zu Ende gegangene Wirtschaftsjahr ist für das deutsche
Braugewerbe im allgemeinen günstig verlaufen. Zur Zeit der In-
flation hatte man sich durchweg eingedeckt, und für das Geschäft kam
nachher die Stabilisierung der Währung. Die Goldmarkumstellungen der
Aktienbrauereien fielen verhältnismäßig vorteilhaft aus. In den Großstädten
hat sich überall ein konzernmäßiger Zusammenschluß der führenden Gesell-
schaften vollzogen. — Zur Zeit zählt man rd. 11 000 Brauereien, von denen
2000 Zwergbetriebe und rd. 5000 sog. Hausbetriebe sind. — Der Preis für
1 hl Bier im Großhandel beträgt zirka 32 M, worin 5 bis 6 M für Steuer
enthalten sind. (Der Friedenspreis war 18 M fürs hl.) Der Kleinhandels-
preis liegt in Norddeutschland durchschnittlich 100 %, in Bayern rd. 40 %
über dem Großhandelspreis. („Kieler Ind.- u. Hand.-Ztg.“ 22. 10. 24.)
Die ersten Weinversteigerungen in der Pfalz (Ende
. Januar ff. in Dürkheim) brachten hohe Preise. 1000 I 1922er Weißwein
kosteten 810 bis 1030 M, der besserer Lagen 1220 bis 1320 M, der der Spät-
lese 1420 bis 1830 M. Die Gewächse von 1923 erzielten 910 bis 1050 und
aus besseren Lagen 1170 bis 1320 M, die von 1921 sogar 3520 bis 4520 M.
(Kieler Ztg.“ 5. 2. 25.)
Statistisches.
Aus den „Vierteljahrsheften zur Statistik des Deut-
schen Reichs“, 1924, H. 4 (Berlin 1925): Die Hopfenernte 194
auf einer Anbaufläche von 11 630 ha wird geschätzt auf 56 328 dz (bei einem
Durchschnittsertrag von 4,8 dz auf I ha). 1914 betrug die Anbaufläche
22 761 ha und der Ertrag 169 477 dz, — 1919 (die niedrigste Zahl!) 7 976 ha
mit 38705 dz Ertrag. — Betr. Branntweinbrennereien im deut-
schen Branntweinmonopolgebiet im Betriebsjahr 1922/23: Verboten war
die Verwendung von Gerste als Maischmaterial, die Herstellung von Brannt-
wein aus Obst, die Verwendung von inländischem Zucker, die Verarbeitung
von Topinamburs, — zuerst beschränkt und erst nach und nach in weiterem
Umfange zugelassen die Verwendung von Kartoffeln. Die Branntwein-
erzeugung betrug i. gz. 2022913 hl gegenüber 1270654 hl im Vorjahr, der
Branntweinabsatz durch die Reichsmonopolverwaltung i. gz. 1309743 hl
Weingeist (1921/22: 2331 027 hl). Von der Gesamterzeugung entfallen auf
die landwirtschaftlichen Brennereien 75,1 %, auf die Hefelüftungsbrennereien
5,9 %, auf die anderen gewerblichen Brennereien 9,7, auf die Obstbrennereien
2,0 und auf die Monopolbrennereien 7,3%. Aus Kartoffeln wurden her-
gestellt etwa 854800 hl, aus Getreide einschließlich Mais etwa 734 100 hl
Weingeist. Den Obstbrennereien fel:!ten die französischen Beerenweine.
Im Einbruchsgebiet (Ruhr) konnte infolge Maßnalımen der Franzosen und
Belgier nur in geringem Umfange gearbeitet werden. — Die in Verbindung
mit Hefengewinnung betriebenen Brennereien haben 264000 dz Preßhefe
(1921/22: 349512 dz) geliefert. — Im Berichtsjahre sind 193 Brennereien
neu entstanden (und zwar 16 gewerbliche, 20 landwirtschaftliche, 129 Obst-
brennereien, 5 landwirtschaftliche Genossenschaftsbrennereien, 23 Obst-
gemeinschaftsbrennereien); gänzlich abgemeldet wurden 93 Verschluv-
brennereien und 83 Abfindungsbrennereien. Am Schlusse des Betriebsjahres
waren 48029 Abfindungsbrennereien vorhanden. — Die durchschnittliche
Weingeiststärke der gewöhnlichen Trinkbranntweine betrug 30 bis 50 Raum-
hundertteile.e. Der Preis hat im Betriebsjahre infolge der fortschreitenden
Marktentwertung vielfache Aenderungen, in aufsteigender Richtung, erfahren.
Brauchbare Preisangaben fehlen deshalb. — Verbraucht wurden an Roh-
stoffen 769 311 to Kartoffeln, 233 133 to Getreide und andere mehlige Stoffe,
131 668 to Melasse und sonstige Rübenstoife, 7616 hl Brauereiabfälle und
Hefenbrühe, 832 440 hl Kernobst und -treber, 390 252 hi Steinobst, 27 126 hl
.Traubenweine, 579 442 hl sonstige nichtmehlige Stoffe, 17 578 297 hi Zellstoff-
Stubbe, Chronik. 101
ablaugen, 2577 to Karbid. (Auf die beiden letzten Stoffe möchten wir be-
sonders hinweisen; dort sehen wir gesunde verheißungsvolle
Entwicklungsmöglichkeiten. Zellstoffablaugen wurden ver-
braucht 1919/20: 1626476 to, 20/21: 4202625, 21/22: 14339795 to, —
Karbid 1919/20: nichts, 20/21: 909 to, 21/22: 1619 to.) — An auslän-
dischem Branntwein wurden eingeführt 1922/23: 23784 hl (1919/20:
323869, 20/21: 405 875, 21/22: 268 304 hl). — Der annähernde Trinkgebrauch
betrug 1922/23: 1,2 1 (1919/20: 0,7, 20/21: 1,0, 21/22: 2,0 I) 100 teiliger
Weingeist auf den Kopf der Bevölkerung; zu gewerblichen usw. Zwecken
wurden verabfolgt 1,4 1 (1919/20: 1,3, 20/21: 1,1, 21/22: 2,1 1) 100 teiliger
Weingeist auf den Kopf. — Weinverbrauchund Weinversteue-
rung im Deutschen Reich im Steuerjahr 1922: Nach Ausscheidung der Be-
triebe in den Landesfinanzamtsbezirken Oberschlesien, Köln, Cassel,
Münster, Darmstadt, Düsseldorf (für die 1922 Angaben gar nicht oder nur
1. T. eingegangen sind), und der Angaben über Schaumweine und schaum-
weinähnliche Getränke ergeben sich für 20 Landesfinanzamtsbezirke fol-
gende Zahlen: Wein in Fässern 1922: 163 801 000 1 (davon Wein und Most
aus Trauben 88 524 000, weinähnliche Getränke 74991 000, weinhaltige Ge-
tränke 286 000 1) gegen 137 883 000 I 1921 (aus Trauben 88 173 000, weinähn-
liche 49 530 000, weinhaltige 180 000 I), — Wein in Flaschen 83 553 000 I (aus
Trauben 76 176 000, weinähnliche 6 605 000, weinhaltige 772000 1) gegen
71316 000 1 1921 (aus Trauben 67 272 000, weinähnliche 3 606 000, weinhaltige
438 000 I). Der Verbrauch von Traubenwein stieg um 9,3 Millionen | (= 6,0
v. H.) gegenüber dem Vorjahr. — Steuerfrei verwandt wurden an Wein
und Most aus Trauben zur Herstellung von Essig 762 333 1 (1921: 1714 764 ]),
zur Herstellung von Branntwein 4457 222 1 (1921: 10520088 I), — wein-
ähnliche Getränke für Essig 413541 1 (1921: 189543 I), für Branntwein
1352 367 | (1921: 14380 898 1), — weinhaltige Getränke zur Herstellung von
Essig 2212 1 (1921: 398 1), von Branntwein 00 (1921 dagegen 8 332 500 1).
Alkoholikeraufnahmen in die Irrenkliniken erfolgten in
Frankfurt a. M. 1920: 108, 1921: 181, 1922: 314, 1923: 176, — in München
1920: 89, 1921: 145, 1922: 161, 1923: 35.
Vereinswesen.
Orden junger Menschen (bisher Block aktivistischer Wehr-
templer) nennen sich die aus dem Guttemplerorden geschiedenen Wehr-
templer auf Beschluß ihres ersten „Ordenstages‘“ 31. 8. in Kassel. („Der
Wille“ Nr. 10.) |
Der Nautische Verein in Hamburg nahm 15. 12. 24 eine Ent-
schließung an, worin er die von deutschen Schiffen betriebene Unter-
stützung ausländischen Spritschmuggels scharf ver-
urteilt. In der Entschließung wird weiter betont, daß der Verein von
der Reichsregierung ein sofortiges Einschreiten gegen diese unlauteren
Geschäfte erwartet.
Kirchliches.
An das Evangelische Kirchenbundesamt hat der Deutsche Bund ent-
haltsamer Erzieher die Bitte gerichtet, „das Ev. Kirchenbundesamt wolle
sich dafür einsetzen, daß in Zukunft beim Abendmahl der Neukon-
iirmierten, also der Jugendlichen, nicht mehr alkoholischer Wein,
sondern unvergorener Traubensaft gereicht werde“. (,„Enth.“ Nr. 12.)
Sonstiges.
Der Württembergische Landesausschuß gegen den Alkoholismus hat in
den beiden ersten Dezemberwochen eine alkoholgegnerische
ührerschule in Stuttgart abgehalten; der Landesausschuß für Jugend-
pflege beim Kultusministerium empfahl allen Jugendorganisationen, geeig-
nete Teilnehmer zu entsenden. (,N. Stuttg. Tagebl.‘)
ai
102 Stubbe, Chronik.
Seit August 1924 ist für Ostpreußen ein Wanderlehrer angestellt, der
in schulbehördlichem Auftrag Nüchternheitsunterricht auf dem
Lande gibt. Hervorgehoben wird die Wichtigkeit dieses Unterrichts für
die Fischerdörfer am Haff, wo Inzucht und Trunksucht großes Elend bewirkt
haben. (.Königsb. Hart. Ztg.“ 2. 12. 24.)
In Verbindung mit der Genehmigung einer Verpachtung des Stadt-
hauskellers in Breslau an die Raiffeisengesellschaft wurde die Be-
willigung von 10000 M für ein alkoholfreies Restaurant in Aussicht gestellt.
(„Schles. Ztg.“ 12. 12. 24.)
Die Heilstätte Bethesda-Lintorf begann das Jahr 1925 mit
17 Patienten (gegen 2 1924) und hatte 1924 39 Aufnahmen bei 24 Ent-
lassungen. Es werden wieder regelmäßige Vortragsabende gehalten, und
das „Lintorfer Korrespondenzblatt“ lebt nach 10jähriger Ruhe wieder auf.
(Brfl. Mittlg.)
Das, Deutsche Rote Kreuz hat eine sozialhygienische
Wanderausstellung eingerichtet, deren eine Abteilung den Alko-
holismus behandelt. In dem Oktober 1924 erschienenen Führer hat Dr. Flaig
einen Kommentar für diesen Abschnitt verfaßt. Außerdem weist in der
Abteilung für Geschlechtskrankheiten Dr. Röschmann darauf hin, daß der
Alkohol der schlimmste Kuppler ist.
C. Ausanderen Ländern.
Afrika. In der letzten Hauptversammlung der Gruppe Achat von
Boma (Kongo) wurde mit 357 gegen 15 Stimmen entschieden, daß der
Alkoholverkauf verboten sein solle. („L’Avenir col. belge“ Dez.
In Angola ist das Branntweinverbot abgeschafft. In Zukunft bleibt
es auf die Farbigen beschränkt, während den Weißen nur einzelne gefähr-
liche Schnäpse untersagt sind. („Int. Bur. z. B. d. A.“ Bull. Nr. 2.)
Australien. In Westaustralien ist in der gesetzgebenden
Kammer die Prohibitionsvorlage mit einfacher Mehrheit abgelehnt. (,‚Manch.
Guard.“ 27. 12.)
Belgien. Das Belgische Komitee zur Verteidigung
gegen das Verbot hat eine große Eingabe an Regierung und gesetz-
gebende Kammer gerichtet, worin sie das Verbot als gemeinschädlich er-
weisen will und als gutes Mittel, den Alkoholgenuß zu vermindern, hohe
Abgaben empfiehlt. („L’E’t. Belge“ 11. 12.)
Bolivien. Durch neue Verordnung ist ausdrücklich die Einfuhr
fremder Alkohole in Bolivien verboten. (,Information‘“ 17. 11. 24.)
Dänemark. Am 1. Januar 1925 tst das neue dänische Schankgesetz
in Kraft getreten, das neben anderen Beschränkungsmaßnahmen das Ge-
meindebestimmungsrecht enthält und für die Stunden 5 bis 8 Uhr morgens
das völlige Alkoholverbot vorschreibt. Eine übersichtliche Zusammen-
stellung der Hauptbestimmungen des Gesetzes veröffentlicht Rechtsanwalt
Dr. Heilesen in einer 24S. starken Broschüre „Bevaeterloven af 24.Marts
1924 i Hovetraek“ („Das Schankgesetz vom 24. März 1924 in seinen Haupt-
zügen) bei P. Haase u. Sohn, Kopenhagen.
Finnland. Dr. Schauman, der Führer der Verbotsgegner im
finnischen Landtag, hatte sofort nach Eröffnung des im Frühling nen
gewählten Parlaments einen Gesetzentwurf in Vorschlag gebracht, der das
Alkoholverbot aufgehoben hätte. Der wirtschaftliche Ausschuß des Landtags
beantragte Ablehnung des Vorschlages, und der Landtag schloß sich diesem
Antrag mit der bemerkenswerten Mehrheit von 123 Stimmen gegen 36 an.
(„Int. Bur. z. B. d. A.“ Bull. No. 47.)
Frankreich. Der Almanach der Ligue nationale c. l’alcoolisme
ist in einer Auflage von 100000 Stück erschienen. (.L’£t. Bl.“ No. 9--10.(
Stubbe, Chronik. 103
Die ärztliche Beratungsstelle für Alkoholiker im Hause der
Ligue nat. c. l'aic. zu Paris, betreut von Dr.,R. Mignot, hat in den 7 Jahren
ihres Bestehens in 274 Fällen gedient, 148 mal unmittelbar den Trinkern, in
126 Fällen den Personen ihrer Umgebung. Es handelt sich um 194 Männer
und 80 Frauen. (Die Unmäßigkeit hat unter den Frauen seit 1914 zu-
genommen.) Die Wermuthschnäpse spielen als Krankheitsursache eine große
Rolle. 28 Personen bekannten, im Krieg Trinker geworden zu sein. Genaue
Angaben über den Erfolg der Beratungen fehlen. Mignot fordert eine
staatliche Trinkerheilstätte. („L’£t. Bl.“ No. 9—10.)
Die Getränkeabgaben brachten in den ersten Monaten 1924
rund 1 Milliarde 60 Millionen Fr. ein, d. i. 118 Millionen mehr als in
gleicher Zeit 1923. („Les Ann. Ant.” No. 9.)
Ein Kongreß der Getränkehändler tagte 19. 11. in Paris.
Man forderte staatliche Vorschüsse für das Gasthauswesen (Crédit hôtelier)
und beschwerte sich über die hohe Alkoholbelastung. Vor dem Krieg
hätten die Abgaben 220 Fr. für 1 hi Alkohol betragen, 1920 1000 Fr.,
1924 1150 Fr. (mit den verschiedenen Taxen sogar 2000 Fr.) Der
Minister erklärte die Höhe der Abgabe durch die schwere Wirtschaftslage,
stellte aber einen Kredit von 4 000 000 Fr. jährlich bei der Bank von Frank-
reich fürs Wirtegewerbe in Aussicht. (,„Bull. des Halles“ 20. 11.)
Griechenland. Die den Destillierkolben auferlegte Steuer (Gesetz
vom 20. Aug. 24) hat lebhaften Widerstand, vor allem auf Kreta, gefunden.
Der Finanzminister schlägt jetzt vor, die Abgabe für die kleineren Brennkessel
(bis zu 40 1) um die Hälfte zu ermäßigen. („Le messager“ 22. 10.)
Großbritannien. In der Gartenstadt Letchworth entschied
die Volksabstimmung, daB die Stadt auch ferner trocken bleiben solle. —
Desgl. lehnte eine Abstimmung für eine bei Wallsend on Tyne entstehende
Gartenstadt jegliches Wirtshaus ab. („Schw. Abst.“ Nr. 18.)
Es wird lebhaft über das Klubwesen geklagt. Der Polizei-
kommissar von London wünscht die Unterstellung der betr. Kon-
zessionierung unter die Polizei. Jetzt sei es so, daß jemand, dem eine
Lizenz verweigert sei, oder auch vielfach vorbestraft sei, durch die Er-
öffnung eines Klubs einen Ausschank erlangen könne. („Daily Mail“ 31. 10.)
Lady Astor eröffnete ein alkoholfreies Wirtshaus Wellington in
der Bidderstreet in London, welches von dem Canning Town Women's
ment übernommen wurde. („Daily Tel.“ 18. 12.
Die wichtigsten Bestimmungen des neuen irischen Wirt-
Schaitsgesetzes sind: Die Wirtschaften sind an Wochentagen von
9 bis 10 (Samstags bis 9%) Uhr offen, Sonntags erst von 1 Uhr mittags
an. — Weihnachten, Karfreitag und St. Patrikstag den ganzen Tag ge-
schlossen. Die Abgabe von alkoholischen Getränken an Jugendliche unter
18 Jahren ist verboten. Wirten, die dreimal wegen Gesetzesübertretung
aft sind, wird die Schankbewilligung entzogen. Das Trinken von.
ee wird mit Gefängnis bestraft. (,Int. Bur. z. B. d. A.“ Bull.
Japan. In Japan wurden 1901 4257072 Koku Sake (Reisbrannt-
wein) und 13434 Koku Bier hergestellt, 1922 6148288 Koku Sake und
764344 Koku Bier (1 Koku = 1,804 hl). (Shozo Aoki in „Int. Ztschr. g.
d. A.“ Nr. 6.)
Italien. Die Faschistenunruhen haben auch auf die Gast-
wirtschaften Einfluß. Z. B. meldet „Messagero‘“ aus Brescia: Vielen Gast-
hausbesitzern der Umgegend sei die Betriebserlaubnis entzogen. Alle
Gastwirte müßten um 7 Uhr schließen. („Kieler Ztg.“ 25, Nr. 9.)
Eine Geheimbrennerei wurde zu Ponticelli entdeckt, deren Er-
zeugung so groß war, daB dem Staate dadurch ein täglicher Verlust von
25000 Lire erwuchs. (,„Int. Bur. z. B. d. A.“ 19. 1. 25.)
104 Stubbe, Chronik.
Der Vorsteher der Abteilung für das Unterrichtswesen in der Stadt
Rom hat 1200 Lire für Antialkoholunterricht in den städ-
tischen Volksschulen ausgesetzt. (Ebenda 14. 2.)
Lettland. Das neue Schankgesetz mit seinen weitgehenden Be-
schränkungen des Alkoholgewerbes ist 9. Dez. 1924 vom lettländischen Land-
tage angenommen worden. Vgl. „Die Alkoholfrage“ Heft 1 S. 23 ff.
Niederlande. Beklagt wird der Tod von N, A. de Kries (gest.
3. 11. 1924, 46 Jahre alt in Groningen), Vorstandsmitglied der „Nederland-
sche Vereeniging tot afschaffing van alcoholhoudende Dranken‘“,'der sich
noch kürzlich durch das aus seiner Studienreise nach Amerika erwachsene
Buch „De Nieuwe Wereld" ein literarisches Denkmal gesetzt hat. (,De
Geh. Onth.“ No. 16.)
Nach dem neuen „motorwet“ sind die Autoführer persönlich für
u von ihnen angerichteten Schaden verantwortlich. („De Wereldstr.“
0. 2.
Der Volksbund für Gemeindebestimmungsrecht hat
sich erneut an Körperschaften sittlicher und genossenschaftlicher Art ge-
wandt, um deren Anschluß zu gewinnen. Zu den 5300 früheren sind jetzt
1725 neue Körperschaften getreten (513 Fachvereinigungen verschiedener
Art, 315 Alkoholgegnervereine, 224 Kirchenräte, 223 christliche Jünglings-
vereine, 134 Vereine genossenschaftlicher und sittlicher Art, 127 christliche
Wahlvereine, 86 Abteilungen S.D. A. P., 79 christliche Arbeitervereine, 20 Be-
amtenvereine (bestuurdersbonden), 2 Gemeinderäte, 2 Abteilungen des frei-
sinnigen demokratischen Bundes). („De Wereldstr.‘“ No. 52.)
Die erste Kammer hat mit 28 gegen 20 Stimmen das Gemeinde-
bestimmungsrecht für gebrannte Getränke abgelehnt. (,Int. Bur.
z. B. d. A.“ Bull. Nr. 2.)
Norwegen. In der Thronrede bei Eröffnung des Storthings in
Oslo 19. 1. heißt es: „Sobald genügend Erfahrungen über die Wirkungen
des Gesetzes zur Aufrechterhaltung des Branntweinverbots gewonnen sein
werden, wird die Frage einer Volksabstimmung betreffend das
N dieses Verbots dem Storthing vorgelegt werden.“ („Kieler
tg.“ Nr. 32.
Die VerhaftungenvonBetrunkenen in Oslo, die 1923 22504
betrugen, sind 1924 auf 18408 gesunken. (,Int. Bur. z. B. d. A.“ Bull. Nr. 2.)
Gegenüber den Behauptungen, daß „die Linke“ aus dem Aus-
lande, insonderheit von Nordamerika, Geld für ihre politische Arbeit
erhalte, führte Dr. J. Scharffenberg im Abstinentenorgan „Das Volk“ aus:
Solche Behauptung sei lächerlich; die einzige Hilfe, welche (nicht eine be-
stimmte politische Partei, sondern) die Verbotsbewegung aus dem
Ausland erhalte, bestehe vielmehr seihes Wissens darin, daß die Weltliga
gegen den Alkoholismus Pastor David Oestlund als ihren Vertreter in Nord-
europa unterhalte (dieser habe allerdings im Wahlkampf einige Vorträge
gehalten). Diese Unterstützung koste der Weltliga (bzw. der diese stützen-
den nen jährlich nur einige Tausend Dollars. (Briefliche Mitte.
von Dr. Sch.
Oesterreich. „Die Deutsche Gemeinschaft für alkoholfreie Kultur“
hat H. 10 und 11 ihrer Zeitschrift der gärungslosen Obstverwertung xe-
widmet. Sie berichtet u. a., daß in den letzten Wochen 300 Bauern auf der
Geschäftsstelle Belehrung über alkoholfreie Obstverwertung erbeten haben.
Prof. R. Smola wurde Dr. phil. der Wiener Universität auf Grund
einer Dissertation „Rauschtrankfreie Erziehung“. (,„Reichsausschuß f. Alk.-
Verb.“ Jan. 25.)
Palästina. Der amtliche Bericht über die Palästinaverwaltung 1923
sagt: „In der Weinindustrie gab es keinen Fortschritt; es wurde
Stubbe, Chronik. 105
sogar weniger Wein produziert. Der Weinhandel war besonders durch
billigere französische und italienische Weine, durch das amerikanische Alko-
bolverbot und «durch verstärkte Einfuhrzölle in den Importländern schwer
geschädigt.“ („Neueste Nachr. aus dem Morgenilde.“ Nr. 3/4.)
Polen. Der Stadtrat von Lodz hat die Errichtung eines besonderen
Amtes zur Bekämpfung des Alkoholismus beschlossen. (,Int. Bur. z. B.
d. A.“ -Bull. Nr. 2.)
Portugal. Wie die Einfuhr von Branntwein und einfachem Alkohof
so ist jetzt auch die Einfuhr von nicht spezifizierten alkoholischen Getränken
im Archipel von Madeira verboten. (,„L’Exp. Belge“ 17. 12.)
Rumänien. Aus dem geplanten Gesetz über den Verkauf
geistiger Getränke teilt „Cuväntel‘“ mit: 3 Klassen von Schank-
wirten werden nach Lage des Geschäfts und des Gewinnes unterschieden;
außer den bisherigen Steuern werden jährlich je 50000 Lei für eine Kon-
zession 1., 30000 Lei für Il. 20000 für eine Ill. Kl. erhoben. Die gegen-
wärtigen Konzessionen sollen bei ihrem Ablauf nicht mehr erneuert werden,
im Falle eines Ablebens die Erben nicht die Verlängerung des Konzessions-
rechtes erhalten. Den Spiritusfabrikanten wird die Erzeugung bestimmter
Stärkegrade auferlegt. In Landgemeinden sollen die Geistlichen und Lehrer
die Ausbreitung des Alkoholismus hindern. Die Verkäufer geistiger Ge-
tränke verlieren das passive Wahlrecht. (Czernow. „Allg. Ztg.“ 17. 12.)
Rußland. Die Höchstgrenze für den Alkoholgehalt geistiger Getränke
ist von 20 auf 27% erhöht. Für den Verkauf von Branntwein über die
Gasse ist de schwedische Branntweinkarte eingeführt: jeder
erwachsene Bürger erhält eine Karte, die ihn zum Bezug einer Flasche
Schnaps alle 14 Tage ermächtigt. (,„Frht.“ Nr. 19.)
Schweden. Der Kronprinz von Schweden ist enthaltsam. Bei
einem Regimentsjubiläum in Umeaa mangelte es weder an Wein noch Likör:
vor ns Kronprinzen aber stand beim Festmahl die Wasserflasche. (Frht.“
Nr. 20.
Die Generaldirektion des schwedischen Zollamts hat
zur Bewachung Schwedens gegen den Alkoholschmuggel mehrere Flug-
zeuge und neue neue schnellfahrende Boote in Dienst gestellt. („Volks-
ztg.“ 21. 11.
Der neue schwedische Ministerpräsident Richard Sandler ist Gut-
templer (1.O.G.T.). (,Int. Bur. z. B. d. A.“ Nr. 2.)
Schweiz. Der Beiratder Schweizer Zentralstelle zur
Bekämpfung des Alkoholismus tagte in Bern. In einer Entschließung wurde
für de Revision des Alkoholwesens gefordert: 1. Unter-
ordnung der fiskalischen Interessen unter die volksgesundheitlichen, 2. die
Beseitigung der Hausbrennerei. — Mißverständnisse über Entstehung und
Bedeutung des „Nationalen Verbandes gegen die Schnapsgefahr‘ wurden
von Pfarrer Rudolf aufgeklärt; er stellte den neuen Verband als Ergänzung
und Hilisorganisation der Zentralstelle und der ihr angeschlossenen Vereine
dar. („Frht.“ Nr. 19.)
In der Bernischen Arbeitsanstalt St. Johannsen-Ins waren
31. 12. 23 226 bestrafte Männer (davon 222 wegen Trunksucht eingeliefert),
m der Weiberanstalt Hindelbank 130 Insassen, davon 30 Bestrafte
(40 % infolge Trunksucht eingeliefert; weitere 40 % Opfer des Alkoholismus
der Vorfahren); in der stadtbernischen Arbeitsanstalt Kühle-
wil sind 75 % der Pfleglinge Opfer des Alkoholismus. („Frht.“ Nr. 19.)
Die Weinernte des Jahres 1924 wird auf 375 000 hl geschätzt (gegen
800.000 hl 1923 und 1020000 hl 1922). (,„Frht.“ 20.)
Die Trester der Fabriken für alkoholfreie Weine in
Meilen werden nicht mehr zur Schnapsbereitung, sondern als Viehfutter
106 | Stubbe, Chronik.
verwertet. (,Frht.‘“ 25. 10.) — Für das Betriebsjahr 1923/24 ist infolge des
ungünstigen Sommers ein Verlustsaldo von 397 318 Fr. zu verzeichnen. Das
Aktienkapital soll deshalb von 1,4 Mill. um 812 000 Fr. reduziert und gleich-
zeitig die Einzahlung von Prioritätsaktien ersten Ranges im Betrag von
440 000 Fr. konstatiert werden. („Basler Nachr.“ 22. 12.) |
Der Oberbefehlshaber des Automobilwesens beim Heereswesen Ham-
berger spricht sich in der „Revue du Touring-Club“ über Automobil-
unfälle aus: eine erdrückende Mehrheit der Automobilunfälle sei, wie er
während seiner Militärzeit habe feststellen können, auf den Alkohol zurück-
zuführen. („Cri de guerre“ 1. 11.
Ein Veteran des Blauen Kreuzes, der 70jährige Pfarrer A.
Morel, hat seine Lebenserinnerungen unter dem Titel „Les Temps He&roiques
de la Croix Bleue‘ (Verlag V. Attinger, Neuchätel) veröffentlicht.
In der Heilstätte Ellikon sind seit der Gründung 1889 bis Ende
1924 über 2000 Alkoholiker verpflegt. („Zürch. Volksztg.“ 7. 1. 25.)
Im letzten Sommer feierte die Trinkerheilstätte Effinger-
hort auf dem Kernenberg bei Holderbank ihr zehnjähriges Bestehen. Sie
beherbergte in dieser Zeit rund 250 Kranke; 1923 wurden dort 58 Kranke
Serien. Das Heim hat 205000 Fr. Vermögen. („Schw. Freie Presse“
29. 11. 24
Organisierte Abstinenten zählte die Schweiz 1916 118000, |
1921 120. 000, 1924 125 000, davon 66 000 Jugendliche und 59 000 Erwachsene;
die Angehörigen der sog. Berufsvereine (Bauern, Eisenbahner, Lehrer,
Pfarrer u. dgl.) sind, um Doppelzählung zu vermeiden, nicht mitgezählt.
(„Frht.“ 6. 12.) |
Im Kanton Tessin kommt eine Wirtschaft auf 60 Einwohner; 2556 _
Tessiner sind Wirte. (,„Nat. Ztg.“ 11. 1. 25.)
Südslavien. Der (auch durch seine rege Teilnahme an den Inter-
nationalen Kongressen gegen den Alkoholismus wohlbekannte) Dr. J. Da-
nitsch in Belgrad ist 25. 10. 24 gestorben. Er ist Senior und Vater der
Abstinenzbewegung in Serbien. Die Abstinenzvereine Belgrads haben sein
Andenken durch besondere Erinnerungsfeiern geehrt und gemeinsam mit
dem Aerzteverein eine „Stiftung des Dr. Danitsch‘“ begründet, welche der
Verbreitung volksgesundheitlicher Flugschriften dienen soll.
Auf Drängen der Alkoholinteressenten hat die Regierung das sog.
„Pribitschewitsch-Gesetz“ von 1919 aufgehoben, wonach
Verabfolgung geistiger Getränke ohne Speisen, desgl. ihr Verkauf an Jugend-
liche und Betrunkene, sowie der Verkauf von Branntwein und Likören von
Tan a bis Montagmorgen verboten war. (,„Int. Bur. z. B. d. A“
19 2
Tschechoslowakei. Der erste Reichsjugendtag des
sozialistischen Jugendverbandes wurde in Teplitz-Schönau alkoholfrei
gefeiert. („Der Abst.“ Nr. 9/10.) |
Türkei. Die „Grüne Halbmondgesellschaft zur Bekämpfung
des Alkoholismus‘ hat eine Umfrage in der türkischen Frauenwelt nach dem
Stand der Trinkfrage gehalten. Die Antwort war: Besonders bei den
jüngsten, am meisten von der Kultur beeinflußten Frauen zeige sich in fal-
scher Auffassung der Kultur und des Gesellschaftslebens Neigung zum
Trinken. Der Unterrichtsminister ist ersucht, Frauen zu gestatten, in
Mädchenschulen Vorträge zu halten und sich um "Spiele im Freien als Gegen-
mittel zu bemühen. („Daily Mail“ 27. 12.)
Venezuela. Die Regierung hat ein Gesetz gemacht (uitgevaardigd),
wonach es verboten ist, Chauffeuren in oder außer Dienst geistige Ge-
tränke zu verabfolgen. (,Sobr.“ Nr. 11.)
Vereinigte Staaten von Nordamerika. Die Wahl-
vorgänge (Demonstrationen usw.) spielten sich infolge des Alkohol-
Stubbe, Chronik. 107
verbots ganz anders ab als sonst. Rohheiten und Gemeinheiten fehlten im
StraBenbilde.e In ganz Washington wurden nur 26 Verhaftungen wegen
Trunkenheit vorgenommen. (,„Clipsheet‘‘ des Board of Temp. der bisch.
meth. Kche. 15. 11.)
Die Polizei von Aberdeen (Wash.) nimmt Fingerabdrücke von
allen Chauffeuren, die wegen Angetrunkenheit verhaftet
werden, um bei einem Wiederholungsfall eine Unterlage zur Streichung des
Privilegs zu haben. („The Nat. Adv.“, Nov.)
Die Heilsarmee gab in bestimmten Zeiten einer großen Zahl zu-
sammengebrochener Leute („down and outs“) freie Mahlzeiten. Brigadier
Edward Underwood erklärte auf der letzten „strategischen Konferenz“ in
Atlantic City, daß diese Wohlfahrtseinrichtung aus Mangel an Zuspruch in-
folge des Alkoholverbots habe aufhören müssen. („The Nat. Adv.“, Nov.)
Der 29. Jahresbericht der Kommission für Gefängnisse des
Staates New York gibt eine Uebersicht über die Aufnahmen in sämtlichen
Strafanstalten und Gefängnissen 1914 bis 1923. Trotzdem die Bevölkerung
in dieser Zeit etwa t/o zugenommen hat, wurden im Jahre 1922/23 nur halb
so viele Männer und ?/s so viel Frauen eingeliefert als im Durchschnitt der
jahre 1914 und 1915. Die absoluten Zahlen der wegen Betrunkenheit Ein-
gesperrten machen 1922/23 bei den Männern nur %, bei den Frauen '/s der
Zahlen von 1914 aus. (,„Int. Bur. z. B. d. A.“ Bull. 19. 1. 25.)
Die Weltliga gegen den Alkoholismus suchte festzustellen, was aus den
300 Gewesen im Manhattan-Quartier zu New York geworden
sei, die dort nach der Liste der Steuerbehörde 1916 Schankerlaubnis
hatten. Ueber 2834 solcher Gewese wurde Genaueres ermittelt. 1916 gab
es 2263 Saloons, 391 Spirituosenläden, 180 drug stores, — 1924 461 Saloons,
die aber keine Getränke mit mehr als % % Alkohol führen dürfen, 145 drug
stores (Spezereiläden, worin aber nur soft drinks — Getränke unter % %
Alkohol — zu haben sind) — im ganzen 606. Die übrigen Schankstätten
sind verschwunden und zwar meistens in Lebensmittelhandlungen um-
gewandelt. (,Clipsheet‘ des meth. Board of Temp. 27. 12. 24.)
Der neueste Jahresbericht der „Vereinigten Wohltätigkeitsgesellschaften‘“
vonChicago, der den Zeitraum vom 1. Okt..1923 bis 30. Sept. 1924 um-
iaßt, gibt in einem besonderen Kapitel über den Einfluß des Alkoholverbotes
auf de Unterstützungsbedürftigkeit bemerkenswerte Angaben.
Darnach betrug
Gesamtzahl der Familien, Davon Fälle,
die größere Unterstützungen wo Unmäßigkeit eine Ursache
bezogen: der Bedürftigkeit war:
1916,17 7507 625
1917/18 7149 499
1918/19 6842 429
1919/20 5336 33
1920/21 5547 61
1921/22 5416 125
1922/23 3507 223
1923/24 4092
224
(„Int. Bur. z. B. d. A.)
Zur Durchführung der Prohibition 1925 sind 30 Millionen
Dollars in Anschlag gebracht: 11 Millionen für allgemeine Ausgaben, 9 Mil-
lionen für Verbesserung und Erweiterung der trockenen Flotte, 8 Millionen
für ja PeSscrung und Ausdehnung der Küstenbewachung. (, ‚Paris Times“
Mitteilungen.
1. Aus den Landesversicherungsanstalten.
Ueber die Trinkerfürsorge der Landesversicherungsanstalt
Schlesien im Geschäftsjahr 1923
ist dem gedruckten Bericht des Vorstandes der Anstalt zu entnehmen:
Das Trinkerheilverfahren mußte anläßlich der durch die Finanzlage be-
dingten Einschränkungen im September 1923 eingestellt werden. In diesem
Zeitraum wurden von neu eingegangenen 16 Anträgen auf Uebernahme des
Heilverfahrens 3 abgelehnt. In 2 Fällen verweigerten die Kranken die An-
nahme des Heilverfahrens, so daß es nur in 11 Fällen zur Durchführung
kam. Aus dem Vorjahr waren noch 18 Versicherte in Trinkerheilstätten
in Behandlung. |
Welches war nun das Ergebnis? Bei Einstellung des Verfahrens waren
von den Behandelten 14 als geheilt, 6 als gebessert und 9 als ungeheilt ent-
lassen. Die auf fünf Jahre sich erstreckende Ueberwachung der mit Erfolg
Behandelten durch halbjährliche Nachfragen bei Fürsorgestellen, Trinker-
rettungsvereinen, Trinkerheilanstalten und Vertrauenspersonen hat ergeben,
daß von 45 überwachten Versicherten 16 nach Ablauf von % bis 1% Jahren
rei geworden sind. In 27 Fällen (60 v. H.) war Dauererfolg so
worden.
2. Aus der Trinkerfürsorge.
Trinkerfürsorge in Kiel.
Aus der städtischen Trinkerfürsorge in Kiel berichtet der
Vorsteher Stadtmissionar H. Meyer über die Zeit vom 1. 1. 1919 bis 31. 12.
1924: Zunächst gahlt es, nach dem Kriege festzustellen, was aus den Pilex-
lingen der Vorkriegszeit geworden sei: 321 Fälle bedurften noch der Für-
sorge. Zu ihnen kamen hinzu:
1920 17 männlich, — weiblich, im ganzen 17 Fälle
1921 10 Mr l 4 Rn s il n
1922 46 i — a 2 er 46 „
1923 34 m 2 & i bs 36 n
1924 41 2 S ; a 43 p
man hatte also mit den erstgenannten 321 im ganzen 474 Fälle. Folgendes
ist über den Erfolg festgestellt: Enthaltsam leben 184 (15 traten in den
Blaukreuzverein, 16 in den 1.0.G.T., 11 in den Arbeiter-Abstinentenbund
ein). Gebessert haben sich 132; als aussichtslos sind 92 anzusehen. In
die Trinkerheilanstalt kamen 8, in die Nervenklinik 15. — Von den „Ge-
besserten‘ wurden 16 vom Stadtarzt verwarnt: 4 Personen sind gestorben.
— Von den Gebesserten und Aussichtslosen sind 4 entmündigt, 46 ge-
schieden und 18 leben getrennt. 30 starben, darunter 4 durch Selbstmord
‘ und 2 Frauen durch Alkoholvergiftung. 4 der Aussichtslosen kamen wegen
Betrugs, Diebstahls oder. sittlichen Vergehens an Kindern in trunkenem Zu-
stande ins Gefängnis. — In 70 Fällen wurde von dem "Trinkerfürsorger das
Krankengeld für die Patienten abgehoben und entweder in Kolonialwaren
oder in bar der Familie ausgeliefert. — In das Polizeigefängnis wurden
1923 355 männliche und 23 weibliche Personen eingeliefert; die Listen
wurden dem Trinkerfürsorger monatlich zugestellt. — In ganzen wurden
2142 Hausbesuche gemacht. — Wir bemerken noch, daB der Stadtmissionar
dem Kirchlichen Blauen Kreuz angehört. St.
Mitteilungen. | 109
Von schweizerischer Trinkerfürsorge.
Die Schweiz, wohin seinerzeit aus Deutschland die Bewegung für or-
ganisierte Trinkerfürsorge hinübergeschlagen hatte, ist im Laufe der Jahre
mit in die vorderste Reihe auf diesem Gebiete eingerückt. In zunehmendem
Maße geben Jahresberichte und anderweitige Veröffentlichungen Kunde von
eifriger und guter Arbeit hierin.
Aus der Züricherischen Fürsorgestelle für Alkoholkranke.
Der Jahresbericht dieser größten und wohl besteingerichteten schweize-
rischen Fürsorgestelle ist auch diesmal (13. für 1924, 24 S.) wieder besonders
lehrreich und anregend.
Indem, was der Berichterstatter aus schweizerischen Verhältnissen
beraus im allgemeinen über Verbreitung und Erscheinungsweise des
Alkoholismus sagt, kann man auch unsere deutschen Verhältnisse ab-
gespiegelt sehen: daß nämlich in gewissen Bevölkerungsschichten der Trunk
wohl zurückgegangen sein möge, anderseits aber das Alkohollaster immer
verderblichere Formen annehme, namentlich auf dem Wege des Ueber-
handnehmens des besonders verheerenden Schnapsgenusses. Es ist be-
günstigt durch dessen Billigkeit; ist doch nach dem Verfasser das Volksgift
Branntwein in der Schweiz zurzeit billiger als das Volksnahrungsmittel Milch.
Mit 234 Neuzuweisungen im abgelaufenen Jahre ist die Gesamtzahl der
behandelten Fälle auf 2178 gestiegen. Von den Neuanmeldungen erfolgten
ıd durch Bekannte, 50 durch Angehörige, 22 durch die Polizei, 19 durch die
Vormundschaftsbehörden, 15 durch Pfarrämter, nur 9 durch Enthaltsam-
keitsvereine und — nur 7 durch die Trinker selbst. Mit der Vormundschafts-
behörde hatte man regen Verkehr. Welche Arbeit die Trinkerfürsorge
macht, wird durch die Zahl von 3536 Besuchen bei Schützlingen oder An-
gehörigen derselben, 2336 Erkundigungen und Nachfragen, 2274 ausgegange-
nen Schreiben usf. beleuchtet. Ende 1924 wurden noch über 1200 Personen
betreut. Außer dem Leiter Fritz Lauterburg waren 4 bis 5 eigentliche Für-
sorger und Fürsorgerinnen, neben andern Kräften, tätig. Zur eigenen Arbeit
kam hinzu, daß der Verband schweizerischer Trinkerfürsorger, der im Mai
v. J. im Aargau tagte, die Züricher Fürsorgestelle zu seinem Sekretariat
und zur Auskunftsstelle für das schweizerische Trinkerfürsorgewesen be-
stimmt hat. — Die hinter der Stelle stehende Gesellschaft zählte 1924 410
Einzel- und 43 körperschaftliche Mitglieder.
‚Aus den gemachten Erfahrungen heben wir hervor die Bemerkung, daß
-Eilersucht bei fast sämtlichen Alkoholikern zu ihrer Krankheit gehört“ —
weshalb in vielen Fällen für weibliche Fürsorgekräfte günstigere Zugangs-
möglichkeiten vorlägen. Weiter, daß es der Fürsorgestelle leider fast nie
gelinge, für männliche arbeitslose Pfleglinge Arbeit aufzutreiben, während
es sich für weibliche eher ermöglichen lasse. Ein ermutigender Erfolg da-
segen, dem auch anderwärts allgemeine Nachahmung zu wünschen wäre,
wurde mit einer Eingabe an die Justizverwaltung des Kantons erreicht:
„seit vielen Jahren schon hatten uns Schützlinge und gemeinnützige Kreise
gebeten, wir möchten doch dahin wirken, daß die staatlichen Besserungs-
anstalten, deren Pfleglinge doch meistens auch Alkoholiker sind, wenigstens
für diese alkoholfrei zu führen seien. Die betreffende Aufsichtskommission
hat denn nun auf unsern Schritt hin u. a. beschlossen, es seien den Häft-
gen auch im Sommer keine alkoholhaltigen Getränke zu verabreichen, und
es hätte sich in Anwesenheit von Häftlingen auch das Personal geistiger
nke zu enthalten.“
Ein ausführliches, fesselndes Kapitel des Berichts befaßt sich mit den
tsachen der Trunksucht?). Der Verfasser sieht diese zunächst,
') Zum Vergleich darf ich vielleicht hinweisen auf meinen Beitrag „Die Ursachen der
ea Trunksucht“ im Handwörterbuch der Wohlfahrtspflege, 1924, 5. Lieferung, der
voraussichtlich auch in der „Alkoholfrage“ noch zum Abdruck kommen wird.
110 Mitteilungen.
wenn auch in den wenigsten Fällen, in dem ursprünglichen sinnlichen Ge-
jüste, oft in Verbindung mit dem Reiz des Verbotenen oder Vorenthaltenen.
Sodann häufiger in unmittelbarer krankhafter Veranlagung. Daneben die
mittelbaren Ursachen, die er im wesentlichen in zwei Gruppen teilt: die
Gewöhnung oder Trinkunsitte, in Verbindung mit dem so verbreiteten Vor-
urteil, daß der Alkohol in gesunden und kranken Tagen unentbehrlich sei:
zum andern die „tiefste, wichtigste und ausschlaggebendste Ursache, die
wohl hinter jedem eigentlichen Fall von Trunksucht steht und durch die
Ursachen der Gewöhnung und Sitte schrankenlose Förderung erfährt,
nennen wir sie mit einem einzigen Ausdruck: die Betäubungssucht‘“. Als
zwei Hauptwurzeln und -nährböden derselben hebt der Verf. Eheverhält-
nisse und Wohnungsnot hervor, denen er eingehendere Betrachtungen .
widmet. Zu diesen „äußeren“ Ursachen des Betäubungsbedürfnisses komme
an inneren Gründen „unsere Abirrung vom Ursprung, ohne den wir nicht
leben können; dazu unten bei den Verzweifelten und oben bei den Ton-
angebenden der völlige Mangel an Glaube (wohl besser: an Einsicht, Er-
kenntnis. D. Ber.), daß diese Abirrung schuld und ausschlaggebend und die
Rückkehr zu unserem Ursprung unsere einzige Rettung sei, und bei allen
andern, namentlich den Gleichgültigen, den Sündigsten unter uns, der Mangel
an Liebe zum Nächsten. ... Wie soll ein solcher Kranker von seiner
Leidenschaft loskommen, wenn er mitten in einer Gesellschaft lebt, die nicht
die geringste Lust bezeugt, sich irgendwie zu ändern, ihre eigenen Fehler
auch gutzumachen, die sich wohl ob Mord- und Brandfällen entsetzt, aber
kühl bleibt angesichts der täglichen Verheerungen, die das Alkohollaster
anrichtet? ... Unser ganzer Kampf gegen den Alkoholismus bleibt ein
Kreislauf, wenn wir nicht seine tiefsten und eigentlichsten Ursachen kennen
und anerkennen und nicht bei ihnen ansetzen“. —
Die Fürsorgestelle für Alkoholikranke der Bezirke Solothurn
und Lebern |
veröffentlicht ihren ersten Bericht für 10. März 1923—18. Dez. 1924. Sie hat neben
dem Vorstand noch Vertrauensleute hin und her in den Bezirksorten. In dem
Bericht sind zunächst allgemeinere Betrachtungen über den Alkoholismus und
seine Gefahren, die Heilung und die Mittel und Wege zu ihr (Trinkerheii-
stätte, Entschließung zur Enthaltsamkeit, die Fürsorgestellen und ihre Aui-
gabe) angestellt, worauf Mitteilungen über-die weit ausgreifende Fürsorge-
stelle folgen. Hierbei wird auf die Gesamtentwicklung der Trinkerfürsorxe
in der Schweiz ein Blick geworfen: |
Die erste solche Fürsorgestelle war 1912 in Zürich gegründet worden.
Seitdem wurde „fast in jeder größeren Ortschaft der Schweiz“ eine ins
Leben gerufen. Während die Trinkerfürsorgestelle des Kantons Graubünden
durch die kantonale Gesetzgebung geschaffen ist, werden die andern durch
die Unterstützung der Kantone und Gemeinden zusammen mit privater (ein-
schließlich vereinlicher) Hilfe unterhalten. Ihre Tätigkeit ist als gut at-
erkannt. Der Umfang der Arbeit in einzelnen Städten wird durch fol-
gende Zahlen beleuchtet: Die Fürsorgestelle in Zürich wurde innerhalb der
zwölf Jahre ihres Bestehens von über 2000 Personen in Anspruch genommen.
die in Basel 1915 bis 1920 von über 700. .
Wie oft von kundigen Seiten, wird auch hier darauf hingewiesen, daß
die freie Fürsorgestelle eben, weil sie — wenngleich die Hilfe von Behörden
oft notgedrungen sich nutzbar machend — nicht behördlichen Charakter hat,
in den Kreisen der Hilfesuchenden Zutrauen genießt. Andererseits wird auch
2 diesem Bericht die Notwendigkeit möglichst frühzeitiger Behandlung
etont.
Die Hauptsprechstunde der Solothurner Fürsorgestelle findet in einem
alkoholfreien Gasthaus Solothurns statt. Aus 16 Gemeinden erfolgten bis
jetzt 139 Anmeldungen. 80 Pileglinge konnten zum Anschluß an Enthalt-
samkeitsvereine bewogen werden, bei dem 33 bis jetzt geblieben sind. „Aul
Mitteilungen. lit
diese Weise konnten eine Reihe von Personen ihre Stellung im Erwerbsleben
behaupten und so vor Verarmung und Not geschützt werden.“ Auch die
ubrigen befleißigen sich dank der Einwirkung der Fürsorgestelle wenigstens.
eines besseren Lebenswandels. Ein besonderes Feld der Fürsorgetätigkeit
bildete die Uebernahme entlassener Bestrafter zur Schutzaufsicht und
Arbeitsbeschaffung, die freilich mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat. „Die
Tätigkeit des Fürsorgers bringt neben dem Unangenehmen die Genugtuung
w Form des Dankes, den die Geretteten und deren Angehörige abstatten.
Das ist das schönste Entgelt für die aufopferungsvolle Arbeit.“
Der Tätigkeitsbericht
der Aargauischen Gesellschaft für Trinkerfürsorge
für Herbst 1923 bis Winter 1924 beginnt mit Betonung des Grund-
satzes: „Die Trunksucht ist eine Krankheit, die geheilt werden kann,
wenn frühzeitig genug eingegriffen wird“, und der Pflicht des Staates
und der Gemeinden, schon um ihrer eigenen recht verstandenen
Belange willen, die Trinkerfürsorgearbeit tatkräftig zu unterstützen.
Als Beispiele in dieser Hinsicht werden angeführt, daß die Stadt
St. Gallen für diesen Zweck einen jährlichen Beitrag von 4000 Fr. leiste, acht
kleine Landgemeinden eines solothurnischen Bezirks 1500, eine zürcherische
Gemeinde Rüti 700 Fr. „Man rufe den Fürsorger nur beizeiten, man erspart
sich damit eine Menge Armenlasten!‘“
Es werden dann aus der allgemeinen Arbeit der Gesellschaft, aus dem
Bericht des Direktors der aargauischen Irrenanstalt (unter den Gesichts-
pankten der Trinkerfürsorge) und den Berichten der kantonalen, wie von 10
örtlichen Fürsorgestellen Mitteilungen gemacht, von denen manches von
allgemeinerem Belang ist. Im Dezember 1923 wurde eine gemeinsame
Besprechung zwischen den Bezirksamtmännern und den Trinkerfürsorgern
des Kantons veranstaltet und dabei angeregt, bezirksweise Aussprachen
gegenüber den in erster Linie heranzuziehenden Gemeindebehörden durch
die Bezirksamtmänner durchführen zu lassen — ein Vorgehen, das in
entsprechender Form auch für deutsche Verhältnisse sich empfehlen dürfte.
Es wird auch der 5. Schweizerischen Trinkerfürsorgekonferenz im Mai v. J.
m Königsfelden gedacht, auf der u. a. auch der Vorsteher des Fürsorge-
wesens der schweizerischen Armee Oberst Feldmann und der Leiter der
militärischen Trinkerheilstätte Götschihof Hauptmann Abplanalp anwesend
waren (man hält dies an diesen Stellen nicht unter seiner Würde). — Eine
Forderung der berichtenden Gesellschaft: Schaffung eines Arbeitshauses für
unheilbare Trinker wurde von der evangelischen Volkspartei des Kantons
aufgenommen und eine Kommission für die Verwirklichung eingesetzt. —
% oder rund 30 v. H. aller Gemeinden unterstützen heute die Arbeit.
Der kantonale Fürsorger richtet ein Wort besonderen Dankes an alle,
de durch Arbeitsbeschaffung mitgeholfen haben, „den armen
Opfern unserer Trinksitten nicht nur den Weg zu Verdienst und Lebens-
ınterhalt, sondern sehr oft auch den Weg zur menschlichen Gemeinschaft
zyrückzufinden“. Seinerseits hat er (zugleich als Blaukreuzagent) im Blick
auf die große vorbeugende praktische Bedeutung der Süßmostfrage
dieser Aufklärungs- und Anleitungsarbeit im Herbst einen beträchtlichen
Teil seiner Zeit und Kraft gewidmet, nicht weniger als 20 Süßmostlehrgänge
hin und her geleitet usf. „Was für ein bewahrender Einfluß davon (nämlich
daß in vielen Hundert Fällen nun die unvergorenen Obstsäfte eingeführt
und sehr geschätzt sind) ausgeht, ... weiß der Fürsorger am ersten zu
beurteilen.“ |
In einem Anhang wird ein lehrreicher Vortrag des Direktors der
aargauischen Heil- und Pflegeanstalt (Irrenanstalt) Königsfelden Dr. Kielholz
über Trinkerfürsorgemaßnahmen in Familie, Gemeinde und Staat wieder-
gegeben. (Wir finden beiläufig auch hier die häufige, alte Angabe bestätigt,
8 bei einem guten Drittel der männlichen Geisteskranken die Trunksucht
112 Mitteilungen.
als Hauptursache ihres Zustandes anzusprechen sei.) Als Maßnahmen, die
je nach Lage des Falles bald einzeln, bald in geeigneter Verbindung unter-
einander in Frage kommen, führt er auf und schildert er näher: 1. Den
Versuch, den Trinker ohne Beiziehung der Behörden der Enthaltsamkeit
zuzuführen. 2. Wo das nicht glückt usf., Verwarnung durch die Behörden.
3. Wirtshausverbot. 4. Behandlung in einer Trinkerheilstätte. 5. Je nach-
dem Versorgung in der Heil- und Pflegeanstalt. 6. Bevormundung (Ent-
mündigung). 7. Ehescheidung. 8. Zwangsarbeit. (Die letzten drei werden
als zweischneidiges Schwert und nur als Notbehelf betrachtet.) Endlich
9. für Unheilbare Unterbringung in Spitälern und Asylen. —
J. Flaig.
3. Aus Vereinen.
Sächsische Landeshauptstelle gegen den Alkoholismus
(Dresden).
Die am 2. März 1921 gegründete Stelle (Vorsitzender: Dr. med. M.
Vogel) faßt die alkoholgegnerischen Verbände Sachsens aller Richtungen,
die vorher lose im Sächsichsen Zentralverband gegen den Alkoholismus ver-
einigt waren, zu gemeinsamer Arbeit zusammen. Sie steht zugleich in der
Rolle eines Fachausschusses für die Alkoholfrage mit dem Landeswohltahrts-
amt in ständiger, enger Fühlung. Eine Frucht dieser Verbindung war z. B.
im vorigen Herbst die reichhaltige Alkohol-Sondernummer (Oktober) der
sächsichen „Blätter für Wohlfahrtspflege“. In den Jahren 1921—1922 ent-
faltete die Landeshauptstelle eine mannigfache Tätigkeit, vor allem in Ge-
stalt von Lehrgängen. Nach den schweren Hemmungen der Geld-
entwertungszeit nahm sie dann im vorigen Jahre die Arbeit verstärkt
wieder auf.
Als Aufgaben der L.andeshauptstelle werden bezeichnet:
1.Allgemeines: Laufende Herausgabe bzw. Versendung von Tat-
sachenstoff, die den Wohlfahrtsämtern und Bezirksärzten zugute kommen
soll; Nachweisung sachkundiger Redner; Auskunfterteilung; Beschaffung
und Verleihung von Anschauungsmitteln; Schriitenversand.
2. Erziehung und Unterricht (im weiteren Sinne — Leitung:
Studienrat Merbitz). Eine im Bund mit den enthaltsamen Lehrern ein-
gerichtete „Abteilung Erziehung“ will hauptsächlich der Unterrichtung der
Lehrer dienen, was namentlich durch Lehrgänge bezweckt wird, die zugleich
auch für Wohlfahrts- und Verwaltungsbeamte nutzbar gemacht werden.
— Im November fand, ven den Fürsorgeverbänden der Stadt und der Amts-
hauptmannschaft Zittau einberufen, eine Aussprache aller an der Bekämp-
fung des Alkoholismus im Rahmen der Wohlfahrtspflege interessierten
Körperschaften, Vereine und Einrichtungen mit Vorträgen über gesetzliche
Maßnahmen und über Trinkerfürsorge statt, wobei ein eigener Ausschuß
für gemeinsame Arbeit mit den Wohlfahrtsämtern gebildet wurde.
3. Trinkerfürsorge. Auch hierfür besteht eine besondere Ab-
teilung (Leitung: W. Grunert) mit dem Zwecke des Austauschs von Er-
fahrungen, der Vereinheitlichung der Arbeit der bestehenden Trinkerfürsorge-
stellen und der Gründung neuer. — Im Märzheft 1925 der „Blätter für Wohl-
fahrtspflege' ist ein kurz zusammenfassender Aufsatz: „Die Trinkerfürsorge
in Sachsen“ veröffentlicht.
Die Landeshauptstelle sieht ihre besondere Aufgabe darin, die Ver-
bindung der Wohlfahrtsämter mit den örtlichen alkoholgegnerischen Organi-
sationen herzustellen. Fi.
Der Württembergische Landesverband der katholischen
alkoholgegnerischen Vereine
hat seinen Geschäftsbericht über sein 15. Jahr 1924 ausgegeben. Ein
einleitender Abschnitt: „Was wir wollen‘ enthält folgende in grundsätzlicher
Mitteilungen. 113
Hinsicht bemerkenswerte Sätze: „Wir Anhänger der katholischen abstinenten
Lebenserneuerungsbewegung erstreben, ferne von Einseitigkeit und Ueber-
treibung, für die Jugend wenigstens bis zum 14., besser bis zum 18. Lebens-
jahr allgemein die Abstinenz, die Enthaltung von allen alkoholhaltigen Ge-
tränken, für die Erwachsenen als christliche Pflicht und Forderung der Zeit
strengste Mäßigkeit. Wir ireuen uns aber, wenn auch recht viele Erwachsene
beiderlei Geschlechts als Vorkämpfer der edlen Sache freiwillig, weniger
aus gesundheitlichen und volkswirtschaftlichen Gründen, als aus den höheren
Beweggründen einer zeitgemäßen Fastenübung, Sühneübung und Liebe-
übung, Gott und dem Nächsten zulieb, Enthaltsamkeit von Rauschgift und
womöglich auch von Rauchgift, von Alkohol und Nikotin, üben und sich
im katholischen Kreuzbündnis zusammenschließen.“
Der zum Kreuzbündnis in Heidhausen in näherer Beziehung stehende
Verband, dessen Leitung bis Ende 1924 Stadtpfarrer Dr. Müller in Saulgau
hatte (ietzt sein Nachfolger als Diözesanpräses für die Nüchternheitssache
Piarrer Funk, Hohenrechberg), setzt sich aus folgenden Vereinigungen
zusammen: Kreuzbiündnis mit 3 Ortsgruppen in Stuitgart, Ulm und Mergent-
heim und einer Anzahl zerstreuter Einzelmitglieder, zusammen gegen 500
Mitglieder; Landesgruppe des Priesterabstinentenbunds mit rund 30 Mit-
gliedern: Schutzengelbund (Kinderabteilung des Kreuzbündnisses) mit „wohl
gegen 10000 Mitgliedern“; „Jungborn‘ (enthaltsame werktätige Jugend);
„Quickborn“, „Hochland“ u. a. (entlıaltsame Mittel- und Hochschüler). Die
im „finanziell mageren Jahre’ 1924“ noch sehr eingeschränkte Tätigkeit
erstreckte sich auf Vorträge, Schriftenverbreitung, gelegentliche Ver-
sorgung der katholischen Presse u. a.
Das Internationale Bureau zur Bekämpfung des Alkoholismus
in Lausanne im Jahre 1924.
Der Bericht, der wiederum vom Leiter des Bureaus, Dr. Hercod,
erstattet ist, kennzeichnet zunächst ::inleitend, um häufigen Mißverständ-
nissen zu begegnen, wieder einmal die Art der Tätigkeit des Bureaus: Es
hat wohl die Erforschung und Bekämpfung des Alkoholismus zum Zweck,
nicht aber Propaganda im eigentlichen Sinne. „Es kann nicht unsere Auf-
gabe sein, uns einzumischen in die inneren Verhältnisse eines Landes, für
eine bestimmte Lösung des Alkoholproblems daselbst einzustehen und an-
dere Lösungen zu verwerfen. Das ist Sache der alkoholgegnerischen Ver-
eine an Ort und Stelle und der Behörden. Wir haben uns darauf zu be-
Schränken, ihnen behilflich zu sein in der Wahl der passenden Lösung.“
So sei das Bureau auch nicht auf irgendwelche bestimmte gesetzgeberische
Maßnahmen, beispielsweise das Alkoholverbot, eingeschworen, sondern —
bei aller Würdigung vor allem des amerikanischen Verbots als „des
riesigsten sozialen Experiments der Neuzeit“ — bemüht, kritisch und un-
parteiisch Klarheit über dieses Vorgehen und seine Wirkungen zu schaffen
und zu vermitteln.
Der Auskunftsdienst des Bureaus, das außer dem Leiter und
dem „wissenschaftlichen Adiunkten‘“ Dr. Koller über eine Anzahl Hilfs-
kräfte verfügt, in wissenschaftlichen, wie in praktischen Beziehungen wird
von Jahr zu Jahr ausgedehnter und mannigfaltiger. „Fast am häufigsten
kehren, besonders seitens amtlicher Stellen, Fragen nach der Alkoholgesetz-
gebung in verschiedenen l.ändern wieder.“ DiePressemitteilungen
werden jetzt mindestens 14tägig in Deutsch, Französisch und Englisch ver-
sandt. Das Bestreben darin ist, möglichst unparteiisch zu sein und jede
Polemik zu vermeiden, auch gegenüber irreführenden Zeitungsartikeln ein-
fach die falschen Angaben richtigzustellen. Die dreisprachige Inter-
nationale Zeitschrift — wie unsere „Alkoholfrage‘‘ zweimonatlich
erscheinend — ist im Umfang erweitert worden. Von sonstigen Ver-
ölfentlichungen bzw. größeren literarischen Arbeiten
usf, sind hervorzuheben: 1. Das im vorigen Jahre ausgearbeitete, kürzlich `
Die Alkoholfrage, 1925. 8
114 Mitteilungen.
herausgekommene, umfangreiche und reichhaltigelnternationale Jahr-
buch des Alkoholgegners 1925—26, in dem eine gewaltige
Arbeit steckt, mit wertvollen Beiträgen in den drei vorgenannten Spracheı..
Wir erwähnen daraus eine eingehende Schilderung der alkoholgegnerischen
Bewegung in 1923 und 1924, eine Darstellung der in den letzten Jahren ın
den verschiedenen Ländern erlassenen Gesetze zur Alkoholfrage, einen
zusammenfassenden Aufsatz über die zwischenvölkische Alkoholverbrauchs-
statistik, einen großen alkohol- und sozialstatistischen Teil, eine Uebersicht
über das alkoholgegnerische Vereins- und Zeitschriftenwesen. 2. Eine
von Dr. Koller in französischer Sprache bearbeitete, zwischenstaatliche
Alkohol-Erzeugungs- und -Verbrauchsstatistik (gleich-
falls kürzlich erschienen), der der vorhin genannte Auszug entnommen ist.
3. Die ausgezeichnete Schrift von Dr. Hercod über das amerikanische
Alkoholverbot. 4. Eine Abhandlung wiederum Dr. Kollers über .Das
Krankenmaterial der New-Yorker Irrenanstalten mit besonderer Berück-
sichtigung der Alkoholikeraufnahmen“ (welche beiden letzteren Veröffent-
lichungen in Heft 1 dieses Jahrgangs zur Besprechung gelangten). 5. Eine
100 Bilder umfassende Lichtbilderreihe über Amerika und sein Alkoholverbot.
In der schwedischen Zeitschrift „Tirfing‘ hat Dr. Hercod die alkohol-
gegnerische Auslandsrundschau übernommen. Für die zweite Auflage der
deutschen Ausgabe von Bergman und Krauts Geschichte der Nüchternheits-
bestrebungen besorgte er auf Wunsch der. Verfasser die Durchsicht des
Manuskripts. Das Bureau dient ferner als Europa-Korrespondent der
Herausgeber der groß angelegten Enzyklopädie der Alkoholfrage, die Dr.
Porter in Westerville (Ohio) in Arbeit hat. Mit der Liga der Rote-Kreuz-
Gesellschaften in Paris ist — auf deren eigenen Anstoß — Verbindung
gewonnen. „Dokumenten- und Büchersammlung“ werden
ständig weiter ausgebaut. Die Reisetätigkeit des Direktors
war wieder sehr vielseitig; der diesbezügliche Teil des Berichts zählt
Amerika, Jugoslavien, Bulgarien, Athen, London, Görlitz, Christiania,
Helsingfors, Estland (hier Besprechung betr. den nächsten Internationalen
Kongreß 1926) und noch eine Anzahl weiterer Länder und Städte auf, die
Dr. Hercod besucht, wo er Besprechungen oder Vorträge gehalten und
Studien gemacht hat. Fl.
4. Verschiedenes.
Alkoholfreie Jugendfürsorge.
Das Dresdener Jugendamt, das schon seit Jahren auf dem Boden der
alkoholfreien Jugenderziehung steht, hat im November 1924 an sämtliche
städtische Kinderfürsorgeanstalten, Jugendpflegerinnen und Säuglings-
schwestern, an die Abteilung für Landpflegekolonien und sämtliche Kolonie-
leiter. an alle Vereine, die Kinderfürsorgeanstalten unterhalten, an sämt-
liche Pflegevereine und Fürsorgerinnen einen vorbildlichen Aufruf erlassen.
Unter Hinweis auf eine besonders für Mütter und Pflegemütter bc-
stimmte „Anweisung zur Kinderpflege“, die den Satz enthält: „Alle
alkoholhaltigen Getränke sind für Kinder Gift“! heißt es
in dem Aufruf weiter: In Befolgung dieses Grundsatzes muß in allen, dem
Jugendamt unterstehenden Kinderanstalten und Kinderheimen streng darauf
geachtet werden, daß die Kinder keinen Alkohol, sei es in irgendwelcher
Form, erhalten.
Da trotz Aufklärung in weiten Kreisen große Unkenntnis über die Ge-
fahren des Alkoholgenusses für Kinder und Jugendliche besteht, wird drin-
gend ersucht, streng darauf zu achten, daß alle Pfleglinge und Zöglinge des
Jugendamtes völlig alkoholfrei erzogen werden. Die Organe des Jugend-
amtes wollen auch jede Gelegenheit benützen, die sich ihnen bei den Ver-
handlungen und Besprechungen mit Pflegemüttern und den leiblichen Eltern
ihrer Pflegebefohlenen bietet, diese auf die Gefahren des Alkohols für die
Mitteilungen. 115
Jugend aufmerksam zu machen und so zu ihrem Teile auf eine alkoholfreie
Erziehung unserer Jugend hinzuwirken.
Pflegeverhältnisse, bei denen der Verdacht besteht, daß die Pflegekinder
Alkohol erhalten, ist besondere Aufmerksamkeit zu widmen, dem Amte ist,
wenn sich der Verdacht bestätigt, Anzeige zu erstatten, damit nach Be-
ünden ein Pflegewechsel herbeigeführt werden kann.‘ Olga Koptsani.
Die Hamburgische Elternkammer
hielt am 17. November 1924 eine Sitzung ab, in der Dr. Calvar y einen Vortrag
hielt über das Thema: „Die Alkoholfrage eine Erziehungs-
irage“. Der Vortragende begann mit einer Schilderung der schon viele
Jahrtausende alten Sitte des Alkoholgenusses und ihrer schweren Schädi-
gungen in gesundheitlicher und moralischer Hinsicht für alt und jung. Es
sei daher zu fordern, daß schon die Jugend durch Schule und
Familie — wie das in Wien und Salzburg der Fall sei — zur völligen
Alkoholenthaltsamkeiterzogen wird. Die jungen Menschen-
kinder müssen, wenn sie die Schule verlassen, als feste und gekräftigte
Persönlichkeiten ins Leben treten. Die Versuchungen der Großstadt seien
außerordentlich groB und mannigfach. Die Tanzsalons, Dielen und Bars
und die dort gepflegte Musik spekulieren alle auf das erotische Empfinden
der jungen Menschen. Der Alkohol ist der Kuppler alles Schlechten und
Unmoralischen. Aus allen diesen Gründen kann die Forderung: „Der
Jugend keinen Alkohol!“ nicht laut genug in unser Volk hinaus-
gerufen werden. Die Elternkammer nahm einstimmig folgende Leit-
sätze an:
1. Es ist der Wunsch der Hamburger Elternschaft, vertreten durch die
Elternkammer, daß die heutige und die kommenden Generationen der
Hamburger Schuljugend zur völligen Alkoholenthaltsamkeit erzogen werden. .
2.Nach der Lage der Dinge ist von den beiden Haupterziehungsfaktoren —
Schule und Familie — besonders die erstere in der Lage, diesem Erziehungs-
ideal zu dienen.
3. Die Vertreter der Elternschaft in der Öberschulbehörde haben
diesen Wunsch der Hamburger Elternkammer nachdrücklichst zu vertreten.
4. Wie diesem Ideale in. der Schule am besten zugestrebt werden kann,
ist als pädagogische Frage im wesentlichen Sache der Lehrerschaft. Diese
wird von der Elternschaft aufs herzlichste um ihre energische Arbeit auf
diesem Gebiete gebeten: es ist gegebenenfalls die abstinente Aerzteschaft
mit hinzuzuziehen. `
5. Die Elternschaft in den einzelnen Schulen ist immer wieder darauf
hinzuweisen, daß nur völlige Alkoholenthaltsamkeit das Glück und die
Gesundheit ihrer Kinder verbürgt, aber auch darauf, daB eigenes Beispiel
wie in allen Dingen das beste Erziehungsmittel ist.
(„Hamburger Echo“, 22. Nov. 1924) R.
Die evangelische Frau und die Alkoholfrage.
Auf dem evangelischen Frauentage, den die Vereinigung
evangelischer Frauenverbände Deutschlands am 23. und
24. November 1924 zu Königsberg i. Pr. veranstaltete, wurde
neben anderen wichtigen sozialen Gebieten auch das der
Alkoholfrage eingehend erörtert. Zur Verhandlung stand das
Thema „Die evangelische Frau und die Alko-
holfrage“ Frau Becker- Reinickendorf hielt den Ein-
leitungsvortrag, an den sich eine lebhafte Aussprache an-
schloß. Der Vortrag stützte sich auf die folgenden Thesen,
die auch für weitere Kreise von Interesse sein dürften und
daher hier wiedergegeben werden sollen.
I. These. Schriftl. der Alkoholirage.
1. Bei der Frage des Wiederaufstiegs unseres Volkes handelt es sich
nicht nur um wirtschaftlichen und politischen Wiederaufstieg.
8*
116 Mitteilungen.
2. Angesichts der gesundheitlichen Schwächung unseres
Volkes handelt es sich um die Frage der Wiedergewinnung körperlicher
Gesundheit und Rassentüchtigkeit in unserem Volke, um die Frage einer
gesunden Nachkommenschaft.
3. Angesichts des Verfalls von Sitte und Sittlichkeit wird die
Frage des Wiederaufstiegs zur Frage der Wiedergewinnung sittlicher Krait
und Gesundheit.
4. Angesichts der Abwendung der weitesten Kreise unseres Volkes vom
Christentum handelt es sich um die Frage der Wiedergewinnung un-
seres Volkes für den christlichen Glauben.
H. These.
1. Die Frau ist Glied der Volksgemeinschaft. Sie ist seit 1918
gesetzlich anerkannte, gleichberechtigte Staatsbürgerin. Die evan-
gelische Frau ist innerlich und nach der äußeren Verfassung ihrer Kirche
vollberechtigtes Glied der Kirche.
2. Aus ihrem Stehen in der Volksgemeinschaft, aus ihrem
Staatsbürgertum, aus ihrer Eigenschaft als Glied der Kirche er-
wachsen der Frau ihrer Wesensart gemäß besondere Aufgaben und Pflichten,
eine besondere Verantwortung in Staat, Volk und Kirche.
3. Ihr ist die Gesundheit des Volkes, vor allem des kommenden
und heranwachsenden Geschlechts anvertraut, sie trägt die Verantwortung
für das sittliche Niveau des Volkes, ihr ist die Pflege des reli-
giösen Lebens in der Familie anvertraut. l
4. Pflicht und Verantwortung der Frau sind heute um so größer, weil
es sich um die Frage handelt, ob unser Volk zu einer neuen Zukunft sich
emporringen kann oder nicht.
HL. These.
1. Die Sorge um ein vererbungs- und rassentüchtiges Geschlecht läßt
heute die Folgen des Alkohols, wie sie in der Schwächung der körperlichen,
der geistigen und der Nervenkraft hervortreten, um so ernster erscheinen.
2. Die Folgeerscheinungen des Alkoholismus treten heute um so mehr
hervor, als die körperliche und die Nervenwiderstandskraft durch die
Kriegs- und Nachkriegszeit geschwächt ist.
3. Auch im Kampf um die Erhöhung des tief gesunkenen, sittlichen
Niveaus unseres Volkes stößt die Frau überall auf die Wirkungen des Alko-
hols: Der Alkoholgenuß schwächt die allgemeine sittliche Widerstandskraft
und fördert die Laxheit der sittlichen Anschauungen.
IV. These.
1. Verheerend sind die Wirkungen des Alkohols für das Kindes- und
jugendliche Alter. (Folge des Alkoholmißbrauchs der Eltern: ungünstige
allgemeine Lebensbedingungen, mannigfache körperliche Schädigung der
SEN nl Nervenschwäche, geistige und sittliche Minderwertig-
ei
2. Der Alkohol schwächt die Widerstandsfähigkeit des Körpers gegen
Krankheiten, vor allem gegen die als Volksseuche unter uns wütende
Tuberkulose.
3. Solange der Alkoholverbrauch in unserem Volke in der Zunahme
begriffen ist, ist der Kampf gegen die zweite Volksseuche, die Ge-
schlechtskrankheiten, aussichtslios: Der Alkohol steigert die
Sinnlichkeit, während er auf der anderen Seite die Besonnenheit, das Scham-
und Ehrgefühl, das Verantwortungsbewußtsein lähmt und betäubt, die Hem-
mungen aufhebt, als Blutverschlechterer die allgemeine Gesundungskraft
verhängnisvoll beeinträchtigt.
4. Der Alkohol wirkt auf das Verhältnis der Geschlechter
zueinander erniedrigend, weil er die rein sexuellen, erotischen, sowie die
materiell sinnlichen Beziehungen der Geschlechter zueinander stärkt. Er
schwächt das sittliche Feingefühl gegenüber der Entehrung der Frau in
Mitteilungen. 117
Theater, Kino und Darstellungen in Wort und Bild, wie gegenüber der
öffentlichen Unsittlichkeit.
5. Die Zusammenhänge zwischen Alkohol und Prostitution
sind klar.
6. Die Verbrechen, vor allem die Leidenschafts- und Roheits-
vergehen einschließlich der Sittlichkeitsverbrechen infolge von Alkoholgenuß
zähen nach Zehntausenden.
V. These.
1. Die religiöse Erneuerung in unserem Volke kann sich nur vollziehen,
wenn die einzelnen Christen viel stärker als früher von dem Verantwor-
tungsbewußtsein für die religiöse Erneuerung erfüllt sind, und für sich selbst
den Volksschäden gegenüber die Konsequenzen für ihr Verhalten ziehen.
2. Der Ernst unserer Lage, die Beurteilung unserer Zeit, wie sie der
Christ gewinnen muß, verträgt sich nicht mit Alkoholgelagen.
3. Häufiger starker Alkoholgenuß macht die Menschen den Ewigkeits-
bedingungen gegenüber stumpf und gleichgültig.
VI. These.
Die evangelische Frau muß wissen:
1. Daß unser Volk, vom volkswirtschaftlichen Gesichtspunkt aus be-
trachtet, durch den Alkoholverbrauch Unsummen verschleudert.
2. Daß unserem Volke zur Bereitung der geistigen Getränke Un-
mengen von Nahrungsmitteln entzogen werden.
3. In welchem Maße Volksgesundheit und Volkskraft durch
den Alkohol zugrunde gehen. `
4. Daß ein sehr großer Teil der Armenunterstützungen der Gemeinden
usw. usw. durch den Alkoholgenuß verursacht wird.
5. Daß die Krankenhäuser, Irrenhäuser, Häuser für Blöde und Epi-
leptischer durch den Alkoholismus gefüllt werden, daß Geschlechtskrank-
heiten, Tuberkulose, körperliche und geistige Minderwertigkeit der Klein-
kinder indirekt sehr vielfach Folge des Alkohols ist.
6. Daß das Glück und der Friede unzähliger Familien durch den Alkohol
vernichtet wird. f
VIL These.
Pi kann die evangelische Frau der Volksnot des Alkohols gegenüber
en:
1. Durch ihr persönliches Beispiel und durch Beeinflussung der Ge-
selligkeit wie der öffentlichen Sitte.
2. Durch ihren Einfluß in der eigenen Familie und Kindererziehung.
3. Dadurch, daß sie aufklären hilft über die Wirkungen des Alkohols.
4. Durch Förderung und Unterstützung der planmäßigen vereins-
mäßigen Bekämpfung der Trinkschäden.
5. Durch Schaffung und Förderung von praktischen Einrichtungen, die
dem Alkoholismus vorbeugen.
6. Dadurch, daß sie die Gesetzgebung mit beeinflußt und die Gesetz-
entwürfe, die zur Bekämpfung der Alkoholnot dienen, zu fördern sucht.
S insbesondere ein wirksames Gemeindebestimmungs-
rec
Nachdenkliches aus einem gesundheitsbehördlichen Bericht.
Einem Bericht von Oberregierungs- und -medizinalrat Dr. Bundt:
„Gesundheitszustand und Fürsorge in der Provinz Pommern im ersten Halb-
ahr 1924" in Nr. 2 1924 (Nov.) der „Pommerschen Wohlfahrtsblätter“ ent-
nehmen wir folgende bemerkenswerten Feststellungen, die nach mancherlei
Anzeichen und Mitteilungen von da und dort her in anderen deutschen
ndstrichen ihre Parallelen haben dürften:
118 Mitteilungen.
Aus dem Regierungsbezirk Stettin: „In Stettin trat die Sterblichkeit
der Jugendlichen an Tuberkulose wieder stärker hervor. Im übrigen war
der allgemeine Zustand der Jugendlichen nicht ungünstig, jedoch wirkte die
stark verbreitete Vergnügungssucht, das Zigarettenrauchen und Likörtrinken
bei den -Jugendlichen beiderlei Geschlechts auf die Widerstandsfähigkeit
des Nervensystems ein, so daß eine erhebliche Zunahme der Nervösen und
Psychopathen zu bemerken war.“
Aus dem Regierungsbezirk Köslin: „Der Gesundheitszustand der
Jugendlichen auf dem Lande war kein ungünstiger, in den Städten macht
en immer ein auffälliger Hang zum Alkohol- und Tabakgenuß be-
merkbar.“
Aus dem Regierungsbezirk Stralsund: „Bei den Jugendlichen fällt be-
sonders, obgleich sie meist leidlich ernährt sind, eine ausgesprochene Ent-
wicklungshemmung, ein Kleinwuchs, sowie blasse Gesichtsfarbe auf. Ge-
klagt wird vielfach über eine mangelnde Leistungsfähigkeit der Jugend-
lichen in der Arbeit, wogegen sich ein übermäßiger Hang zum Tanz, erheb-
licher Mißbrauch von Alkohol und Tabak immer noch bemerkbar macht.
Erfreulich ist dabei, daß durch die Turn- und Sportvereine die Jugendlichen
wieder auf den richtigen Weg zur Ertüchtigung und Gesundheit des Körpers
geleitet werden.“
Aus der Zusammenfassung: „Ueberall wird noch über den Mißbrauch
des Alkohols und Tabaks, Zunahme der Zigarettenseuche und über weit-
a kaum abnehmende Vers&uchung mit a REAME EN
geklagt.“ ;
Edgar Allan Poe (1809—1849)
gehört der Weltliteratur an. Sein 75. Todestag hat allerlei Betrachtungen
über Leben und Werke dieses „Dichters des Grauens“ gebracht. Poe war
Alkoholiker. Wir entnehmen einiges zu seiner Charakteristik einer Ab-
handlung von Georg Strelisker: „Er ist ein Tunichtgut, sagten sie damals,
ein versoffener Kerl, ein unnützes Mitglied der menschlichen Gesellschaft,
ein Parasit! Er war nebenbei auch ein Genie, das den Rausch heiligte
(sic! St.), weil er im erbärmlichsten Alkoholsuff einige der prachtvollsten
Perlen der Weltliteratur schuf. Dunkle Perlen allerdings, denen eine selt-
same Düsterheit eigen war, Perlen, die den in sich geweinten Tränen eines
innerlich Tiefvereinsamten entstanden.“ „Baudelaire meinte einmal, Poe
habe trinken müssen, damit sich immer wieder die wundervollen Visionen
vor ihm gestalten, die er in seinen Werken veranschaulichen wollte; der
Alkohol sei für ihn dasselbe gewesen wie für einen anderen das Notizbuch:
ein Mittel, sich Vergangenes gegenwärtig zu machen.“ „Weil er ein Genie
war, standen seine Zeitgenossen ihm verständnislos gegenüber. Sie waren
bloß empört, daß er nach dem Riesenerfolg, den er mit seinem Gedicht
„Der Rabe“ in ganz Amerika davongetragen hatte, betrunken, ein elendes
Menschenwrack, durch die Straßen von New York getorkelt war.“ „Seine
Leidenschaft hetzte ihn frühzeitig in den Tod, der für ihn eine Erlösung
bedeutete. Im Jahre 1849 erlag er im Delirium tremens.“ „Schreit ihm
nach, daB er ein Trunkenbold, ein Verachteter, ein Verkommener gewesen!
Er war auch ein Dichter und... er war ein — Einziger.“
Wir fügen nüchtern hinzu: Eben, weil er ein Dichter war, bedauern
wir, daß durch den Trunk das Leben vorzeitig und so traurig abgeschlossen
wurde. /
Als Deutsche fühlen wir uns von Poe in manchen Stücken an Ernst
Theodor Amadeus Hoffmann erinnert. Es ist ein psychologisch, in manchen
Fällen pathologisch interessantes Thema: „Der Künstlerrausch und der
Rausch des Künstlers“. Aber nie wird ein Genie den Rausch heiligen,
wie auch der Rausch nie ein Genie wird gebären können. Schade um die
vielen Genies, die durch den Alkohol verlottert sind. Stubbe.
Schrifttum. 119
Schrifttum.
Uebersicht über die wichtigsten Veröffentlichungen aus den
Jahren 1924 und 1925 (mit einzelnen Nachträgen aus 1923).
Zusammengestellt von Dr. J. Flaig.
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2, Herstellung (technische); Erzeugung
ssd chemische Zusammensetzung.
S. Riche unter V.9.
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Kachel, J.: Herberge und Gastwirtschaft
in Deutschland bis zum 17. Jahrhundert.
18 S. 1924. Verl. W. Kohlhammer, Berlin-
Strttgart-Leipzig.
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Hartwig: L’influence des impöts sur la
onsommation de l'alcool. In: XVIIe
Congrès international contre l'alcoolisme,
Copenhague 1923, S. 118—123. 1924. Hrsg. :
Le Comité d'organisation.
5. Anderweitige Verwendung der Rohl-
(Ausgangs-) und Nebenerzeugnisse.
Obstverwertungs -Sondernummer
des „Schweizer Abstinent“: 1924, Nr. 15.
Seaderheit: Gärungsliose Früchte-
verwertung der eutschen Gemein-
schaft“, Zeitschr. f. alkoholfr. Kultur, Wien,
1%4, H 10:11.
6. Anderweitige Verwendung des
Alkohols.
Jaquet, L.; L'emploi industriel de l’alcool,
spėcialement dans l'industrie des moteurs.
la: XVIIe Congrès (s. o.), S. 142—153.
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erzeugenden Betriebe vom volkswirtschaft-
lichen Standpunkte. 12 S. 1924. Buchh. d.
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im übrigen s. auch Meyer unter Ill. 8.
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das Alkoholkapital 1924. Verl. d. Deutschen
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v Zobeltitz, F.: Wein, Weib, Gesang,
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Im übrigen s. auch: Koller unter V. 2.
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(S. 26f , 33, 50f.). Selbstverlag der Basler
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Im übrigen s. auch: Alcohol... unter Il. 2.
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Laitinen und Bluhm: Etudes experi-
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D Be In XVlle Congrès (s. o.),
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Statistisches.
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und Welt. In: Alkoholfrage 1924, H.4,
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Im übrigen s. auch: Schiff unter I, 7.
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2. Staat und Gemeinde, Gesetzgebung
und Verwaltung.
Bericht über die 27. Sitzung des Reichs-
tags am 18. Febr. 1925. Beratung des An-
trags Müller (Franken) betr. Vorlegung des
Entwurfs eines Schankstättengesetzes. S.
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Kleiner Katechismus der Alkohol-
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Kvaran,E.H.:Laprohibition de l’alcool en
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Im übrigen s. auch: Aro unter V.8, Hercod
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Im übrigen s. auch Braun unter IlI 5, Flaig
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Mähr.-Schönberg. 8 Schattenrißblätter m.
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Im übrigen siehe auch Eitze unter Ill 8,
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Quart. 1924, Nr. 68, S. 145-179
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Neuland -V erlag,
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In: Alkoholfrage 1924, H.5,
Schweizerischer Taschenkalender für |
Abstinenten 1925. Herausg. von Baclımann-
Genisch. 148 S. 1924. Selbstverlag des
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holgegners. 24 S. 1924. Verl. d. Deutschen
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Im übrigen s auch Baurichter unter 1.9,
VIErZIE Jahre... unter V. 19, Stubbe
unter 111. 10.
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Eitze, G.: Lichtrildbuch Nr. 2; Ich fahr’ in
die Welt! Deutscher Jund S
und Herbergsfilm. 48 S. 1924. Deutsche
Lichtbildgesellschaft, Berlin S.W. 19.
Meyer, l. F.: Das Problem der alkoho!-
freien Bierfabrikation gelöst! S.-Abdr. aus
Transunion - Ztschr.. Januar 1925. 11 S.
Transunion G.m.b.H., Berlin, Kronprin-
zenufer 19.
Verzeichnis der alkoholfreien und Re
form-Gasthäuser im deutschen Sprachge-
biet. 'Korrekturabzug.) 28 S. 1924. Volks-
haus-Verl., Keitum auf Sylt. a
v. Waldeyer-Hartz, H.: Burg Ludwig-
stein im Werratal, die Burg deutscher
Ju endwanderer.
illessen, Berlin.
Was sollen wir trinken? Eine grand-
1924. Verl.-Buchh. Fr.
legende Antwort und erprobte Anweisun-
gen zur Herstellung alkoholfreier Getränke.
1924. Herausgegeb. und zu beziehen voM
Deutschen Frauenbund f. alkoholfreie Kul-
tur, Dresden-A.
Im übrigen s. auch Flaig unter Ill. 3.
10. Geschichtliches und Biographisches.
Gösch, F.: La lutte contre l’alcaolisme en
Alteınagne. In: Intern. Zts.hr. g. d. A.
1924, Nr. 5, S.261— 272.
Stubbe, Chr.: Schleswig-Halstein und der
Alkohol 1923 und 1924. 1925. Provinz.
Verband g. d. Alkoholismus, Kiel.
Druck von Kupky & Dietze (Inh.: C. und R. Müller), Radebeul-Dresden.
asad raige dS I) | p Herts
Alkoholfrage
Internationale
wissenschaftlich - praktische Zeitschrift
HERAUSGEGEBEN
im Auftrage der
Deutschen Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus
und der
Internationalen Vereinigung gegen den Alkoholismus
unter Mitwirkung
namhafter Fachleute aller Länder
von
Präsident a. D. Dr. Reinhard Strecker
und Professor Dr. med. h. c. I. Gonser
In der Schriftleitung
Dr. R. Kraut und Dr. J. Flaig
Preis des Jahrganges (für In- und Ausland) 6 Goldmark
Preis des einzelnen Heftes: 1,25 Goldmark
BERLIN-DAHLEM
Verlag „Auf der Wacht“
1925
Die Alkoholfrage erscheint unter Mitwirkung von:
Abel, Jena; Amaldi, Florenz; Bérenger, Paris; Bumm, Berlin; H. Carton de Wiart, Brüssel; Cuza,
Jassy; Dalhoff, Kopenhagen; Danell, Skara; Delbrück, Bremen; van Deventer, Amsterdam:
Donath, Budapest; Endemann, Heidelberg; Friedrich, Budapest; Fuster, Paris; Gaule, Zürich;
Geill, Viborg; Gießwein, Budapest; 'von Gruber, München; Hansson, Kristiania; Haw, Leutes-
dorf; Henderson, Chicago; Holmquist, [Lund; Kabrhel, Prag; Kaufmann, Berlin; Kelynack,
London; Kerschensteiner, München; Kiaer, Kristiania; Kögler, Wien; Latour, Madrid; von
Lewinsky, Moskau; von Liebermann, Budapest; Earl of Lytton, Herts; Masaryk, Prag; Meyer,
Columbia; Minovici, Bukarest; Nolens, Haag; Oseroff, Moskau; Peabody, Cambridge (U.S. A);
Pilcz, Wien; Reinach, Paris; Reinitzer, Graz; Ribakoff, Moskau; Saleeby, London; Sangro,
Madrid; Schellmann, Düsseldorf; Schiavi, Mailand; Sherwell, London; Spiecker, Berlin; von
Strümpell, Leipzig; Stubbe, Kiel; Szterenyi, Budapest; Tahssin Bey, Konstantinopel; Tezuka,
Nagoya; Tremp, Benken (Schweiz); Vlavianos, Athen; F. Voisin, Paris; Paul Weber, Jena;
Westergaard, Kopenhagen; Ziehen, Halle a. S.
Schriftleitung:
Verantwortl. Schriftleiter: Prof. Dr. med. h. c. I. Gonser, Berlin-Dahlem,
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Anzeigenpreis nach Vereinbarung.
Inhalt des Heftes 3.
Seite
I. Abhandlungen.
1. Strecker, Pädagogik und Strafgesetz . . . . , > SB a RE
2. Juliusburger, Zum Entwurf eines Allgem. Dtsch. Strateesehihuchen eh A 124
3. Stadius. Fünf Jahre Alkoholverbot in Finnland. I . . . . 126
4. Flaig, Bedeutsame behördliche Maßnahmen mit Bezug auf den Alkohol (XXXV) . 133
9. Alkoholals Arzneimittel © ... EN |
6. Juliusburger, Erwiderung auf die Schrift von Pütter und Hesse: „Bekämpfung
des Alkoholmißbrauchs ohne Gemeindebestimmungsrecht und Trockenlegung“ 153
II. Chronik. (Stubbe, Kiel) . . . 2. 2..2.2..10
II. Mitteilungen.
1. Aus der Trinkerfürsorge: Die Trinkerfürsorge in Sachsen 1924. — Sechste
Zusammenkunft der westfälischen Trinkerfürsorgestellen in Münster, — Basler
Trinkerfürsorge im Jahre 1924 .... er Te ..+18
2, Verschiedenes: Der Alkoholverbrauch in Veischlegsnen: Ländern — Sinken
und Steigen der Trunksucht in den letzten 12 Jahren im Spiegel der Auf-
nahmen in die Krankenanstalten einer deutschen Großstadt — Von der Durch-
führung des amerikanischen Alkoholverbots — Verschärfung des isländischen
Verbotsgesetzes — Bemerkenswerte Schlußsätze des Kongresses der Alkohol-
gegner des britischen Reiches — Englands Alkoholrechnung und andere
englische Alkoholzahlen vom Jahre 1924 — Vom norwegischen Branntwein-
BEDO t 0 aE ee ee ee ee a ee A
Pädagogik und Strafgesetz.
Von Dr. Reinhard Strecker, Berlin.
Daß die Arbeit der Aufklärung und die Aufstellung sachlich begründeter
Forderungen nicht vergeblich ist, zeigt der vorliegende amtliche Entwurf
eines neuen deutschen Strafgesetzbuches. Für den Pädagogen ist es schon
grundsätzlich als wesentlicher Fortschritt zu begrüßen, daß neben dem
Abschreckungs-, Sicherungs- und Sühnegedanken der erzieherische Gedanke
einen breiten Boden in diesem Entwurf gefunden hat. Und das gilt ganz
besonders für die Behandlung derienigen Straftaten, die irgendwie mit dem
Alkoholismus zusammenhängen. Der ganze 35. Abschnitt des Entwurfes ist
dem Mißbrauch von Rauschgiften gewidmet und erzieherisch muß dabei
schon allein der Umstand wirken, daß in diesem Abschnitt der Alkohol auf
einer Linie mit anderen Genußgiften wie Opium, Morphium und Kokain
erscheint. Die böse Möglichkeit, die früher bestand, sich vor einer
verbrecherischen Tat „mildernde Umstände anzutrinken‘“, ist nun endgültig
verschwunden. An ihre Stelle tritt die neue Auffassung, daß Trunkenheit,
welche die Zurechnungsfähigkeit aufhebt, schon an sich strafbar ist, einerlei,
cd sie der Uebeltäter sich vorsätzlich oder nur fahrlässig zugezogen hat.
In$ 17 sind deshalb auch Bewußtseinsstörungen, die auf selbstverschuldeter
Irunkenheit beruhen, ausdrücklich ausgeschlossen, wo es gilt, verminderte
Zurechnungsfähigkeit zur Begründung der Strafmilderung heranzuziehen.
Der Ausdruck „Bewußtseinsstörungen‘ ist auch recht geeignet, im Publikum
rıchtigere Auffassungen über das Wesen der Trunkenheit zu verbreiten, als
sie zurzeit noch herrschen. Auch unter den Ursachen, die nach $ 73 dem
Täter nicht zum Vorwurf gereichen und deshalb strafmildernd wirken
können, spielt jetzt die Trunkenheit keine Rolle mehr. Damit ist ein ganz
anderesMaß von Verantwortung der Alkoholversuchung gegenüber geschafien
als es bisher bestand, wenn man bei den zur Zeit geltenden Bestimmungen
überhaupt von einer solchen Verantwortung reden durfte. Der neue Straige-
setzbuchentwurf macht es ausdrücklich dem deutschen Staatsbürger zur nicht
nur sittlichen, sondern auch rechtlichen Pflicht, seinen nüchternen Verstand
zu bewahren. Wie begründet diese neue Auffassung ist, wird jeder zugeben,
der das Strafgesetzbuch einmal durchblättert und sich daran erinnert,
wieviele der hier unter Strafe gestellten Handlungen — Ruhestörungen,
Gewalttätigkeiten, Gefährdungen der Verkehrssicherheit, Unzucht, Mord
ww. — gerade unter der Wirkung des Alkohols stattzufinden pflegen. Die
strafrechtliche Anerkennung dieser Pflicht zur Nüchternheit ist eine Grund-
lage, auf welcher nun auch die allgemeine staatsbürgerliche Erziehung wird
aufzubauen und die Alkoholfrage sehr ernstlich zu berücksichtigen haben.
Wir finden aber auch eine ganze Reihe von pädagogischer Einsicht
diktierte Sonderbestimmungen für die Behandlung von Trunksüchtigen.
Entwurf bemüht sich, einerseits den Trunksüchtigen selbst,
wenn möglich, wieder auf den Weg einer geordneten Lebensführung
zurückzubringen, andererseits die Versuchung und den Verführer von ihm
iernzuhalten. Ist schon an und für sich die weitgehende Zulassung des
bedingten Straferlasses als pädagogische Maßnahme zu begrüßen, so gilt
das dem Trunksüchtigen gegenüber in besonderem Maße. Er stellt ja
besonders häufig den Typus des Gelegenheitsverbrechers dar, der an sich
der sittlichen Auffassung und des guten Willens nicht entbehrt, sondern der
beides nur unter der Wirkung des Alkohols vorübergehend verliert. Hier
wird also die psychologische Möglichkeit für Besserung häufiger gegeben
as bei anderen Verbrechern. Dem trägt der Entwurf Rechnung. Er
122 Abhandlungen.
setzt deshalb vor die Bestrafung eine Anzahl anderer Maßnahmen, welche
die sittliche Kraft des durch den Alkohol Gefährdeten zu stärken und zu
unterstützen geeignet sind. Da kommt in Betracht das Wirtshausverbot.
Der Trunksüchtige wird es sich doch wohl überlegen, ein Wirtshaus wie-
der zu betreten, wenn er weiß, daß er mit dem Schritt über die ver-
hängnisvolle Schwelle sofort eine Geldstrafe und unter Umständen sogar
eine Gefängnisstrafe bis zu 3 Monaten zu gewärtigen hat. Er wird es sich
erst recht überlegen, wenn er vielleicht mit dem Strafgesetz schon in einer
im Rausche begangenen Straftat in Konflikt gekommen ist, wenn er daraui-
hin bedingt verurteilt wurde, und wenn er nun weiß, daß die bedingungs-
weise verhängte Strafe sofort vollstreckbar würde, wenn er die Bedin-
gung der Nüchternheit nicht erfüllte. Seine Einsicht in die Gefährlichkeit
des Trinkens findet so eine wesentlich verstärkte Stütze in den strafrecht-
lich neu geschaffenen psychologischen Hemmungen. Ohne Zweifel darf
man ferner damit rechnen, daß Angehörige und wirklich ehrliche Freunde
des Gefährdeten sich künftig mehr als bisher bemühen werden und auch
mit mehr Erfolg bemühen können, ihn von erneutem Betreten des gefähr-
lichen Weges zurückzuhalten.
In der gleichen Richtung wie das Wirtshausverbot kann auch die
Schutzaufsicht oder die Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt wirken.
Der Eintritt in einen Enthaltsamkeitsverein kann dann dem Gefährdeten
die sittliche Selbstbeherrschung erleichtern und das segensreiche Gewöh-
A und Erziehungswerk der Trinkerheilanstalt gegebenenfalls fort-
setzen.
Neben diesen für den Gefährdeten positiv förderlichen Maßnahmen
werden auch die anderen negativen zu seinem Schutz vorgeschlagenen
Paragraphen nicht zu unterschätzen sein. Man wird freilich als Pädagoge
nicht allzuviel von der Bestimmung halten, daB einem Betrunkenen in
einer Schankstätte keine geistigen Getränke mehr verabreicht werden
dürfen. Wir haben ja seit dem Bestehen des Notgesetzes mit dieser Be-
stimmung schon Erfahrungen gemacht, die wohl niemand als glänzend
bezeichnen wird. Dieses Verbot erinnert zu sehr an den Brunnen, der erst
zugedeckt wird, wenn das Kind schon hineingefallen ist, womit nicht ge-
sagt sein soll, daß etwa eine Aufhebung dieses Verbotes wünschenswert
wäre. Es kann immerhin im einzelnen Falle noch Schlimmeres verhüten.
Aber sehr heilsam sind doch alle diejenigen vorgesehenen Strafbestim-
mungen, die sich gegen denjenigen richten, der sich einen Spaß oder
ein Geschäft daraus machen könnte, einen Trunksüchtigen oder doch
durch den Alkohol wenigstens Gefährdeten wieder in neue Gefahr, also
wieder in eine auch strafrechtlich verhängnisvolle Bewußtseinsstörung zu
locken. Man weiß ja, daß es leider unter den Gastwirten an Elementen
nicht fehlt, die in dieser Hinsicht gewissenlos sind. Es gibt aber auch
leider der guten „Freunde“ genug, die es nur für einen Scherz halten,
jemand, der dem Alkohol zu widerstehn sich redlich bemüht, wieder
zu Fall zu bringen. Es wird heilsam für diese Elemente sein und
über ihren Kreis hinaus auch auf die allgemeine Auffassung des Publikums
wirken, wenn strafrechtlich festgelegt wird, daß die Verführung zum Trin-
ken eine Straftat ist, womit indirekt doch auch zugleich ein Urteil über
unsere allgemein herrschenden Trinksitten und Beurteilungen des Alkohols
gefällt wird. ’
Von jeher ist es für den Pädagogen ein besonders schrecklicher Ge-
danke gewesen, daß Trunkenbolde doch zugleich die Erziehungsberechtigten
ihren eigenen und womöglich noch fremden Kindern gegenüber sein kön-
nen. Es ist vielleicht die dunkelste Nachtseite der ganzen Tragödie des
Alkoholismus, daß letzterem tagtäglich tausende von unschuldigen Kindern
zum Opfer fallen, indem sie Gegenstand der Mißhandlung, der Verführung
und des Mißbrauchs seitens ihrer eigentlich zur erzieherischen Fürsorge
verpflichteten Eltern werden. Und schon wenn der Alkoholfreund die
Mittel, die eigentlich zum Unterhalt und zur Erziehung seiner Kinder er-
Strecker, Pädagogik und Strafgesetz. 123
forcerlich wären, diesem Zwecke entzieht, begeht er ja eine schwere Sünde
gegenüber seinen heiligsten und schönsten Pflichten. Da dürfen die Para-
graphen 240 und 282, welche Mißhandlung der Kinder oder Verletzung
der Unterhaltspilicht betreffen, begrüßt werden, ja hier möchte man im
Namen der wehrlosen kleinen Opfer sogar einer Verschärfung der betreffen-
den Paragraphen gerne das Wort reden.
Daß die Jugendlichen in bezug auf den Alkoholgenuß besonders behan-
delt werden, und daß bei ihnen zugleich auch noch der Tabakxgenuß mit-
berücksichtigt wird, ist gleichfalls pädagogisch zu begrüßen. Wir haben
ya freilich auf Grund des Notgesetzes auch mit diesen Bestimmungen schon
weniger erfreuliche Erfahrungen gemacht. Einmal ist das Alter der Wirts-
hausbesucher oder der Alkohol- und Tabakkonsumenten nicht immer schnell
einwandfrei festzustellen, sodann spielt hier der gute Wille des Verkäufers
eine im allgemeinen leider nicht sehr vertrauenerweckende Rolle; ferner
wird eine Hintertür eröffnet, insofern es sich nur um ein Verbot der Ver-
abreichung zum eigenen Genusse handelt, was also durch die billige Aus-
rede umgangen werden kann, daß der betrefiende Jugendliche in fremdem
Auitrage kaufe; endlich wird auch dieser Scutz der Jugendlichen vor
Nikotin und Alkohol häufig dadurch illusorisch, daß die Schutzbestim-
mungen nur in Abwesenheit des Erziehungsberechtigten gelten. So hoch
wir die Autorität der Eltern pädagogisch einschätzen müssen, so dürfen
wir trotzdem doch wohl die Frage aufwerfen, ob die Rücksicht auf diese
Autorität nicht zu weit geht, wenn man Verabreichung der genannten Ge-
ußgifte an Unmündige cerlaunt, sobald ein einsichtsloser Vater oder eine
einsichtslose Mutter sich schützend oder womöglich gar anregend hinter
die unreifen Wünsche des Jugendlichen stellen. Man erinnere sich doch,
wie unwissend vielfach auch selbst die Eltern in Sachen des Alkohol- und
Tabakgenusses sind. Da würde es schließlich gar nichts schaden, wenn
auch die elterliche Einsicht durch die schärfere Formulierung des Straf-
rechts einen gewissen, Halt bekäme, der ja doch nur zum Segen der Kinder
sich zuswirken könnte. Aehrlich muß doch auch der verständige Arzt.
manchmal gegen die mangelhafte Einsicht der Eltern einen Jugendlichen
vom Genuß des Tabaks oder des Alkohols streng fernhalten. Auch ist
nicht recht einzusehen, warum der Begriff des Jugendlichen in dem Ab-
schnitt, der von den Rauschgiften handelt, nur auf die Zeit vom 14. bis
16. Lebensjahre beschränkt wird, während er in $ 11 viel richtiger bis
zum 18. Jahre ausgedehnt wird. Es sei doch daran erinnert, daß sich
die Führer beinahe sämtlicher modernen Jugendorganisationen, hinter denen
Millionen von Jugendlichen stehen, schon in feierlichen Resolutionen da-
tür ausgesprochen haben, daß der gesetzliche Schutz der Jugend vor Al-
kohol und Nikotin bis zum 18., ja bis zum 21. Jahre ausgedehnt werden
möge. Ich glaube, auch hier würde das kommende Strafgesetz durchaus
nicht mit der öffentlichen Meinung in Widerspruch geraten, wenn es die
Altersgrenze höher hinaufsetzte. Es scheint mir bei der jetzigen Formu-
lierung hinter der doch immerhin schon erreichten Reife des Urteils, wie
weitesten und besten Kreisen unseres Volkes herrscht, zurück-
zubleiben.
Zu den erzieherischen Maßnahmen dürfen wir wohl auch die Bestim-
mungen über die Polizeistunde und über das Alkoholverbot bei bestimmten
Anlässen rechnen. Die Bedeutung dieser Bestimmung wird allerdings weni-
ser durch das Strafrecht als durch die Regierungs- und Verwaltungs-
maßnahmen gegeben. Bei der Polizeistunde kommt alles darauf an, für
welche Zeit sie festgesetzt und mit welcher Energie sie durchgeführt wird.
Angesichts der im Gange befindlichen Bestrebungen seitens der Alkohol-
interessenten, die Polizeistunde ganz abzuschaffen, ist es aber doch wert-
voll, im Strafgesetzentwurf den $ 361 zu haben, der das Bestehen einer
Polizeistunde voraussetzt. Und wenn man den Begriff der Erziehung, wie
t$ wohl sein muß, nicht bloß auf das jugendliche Alter beschränkt, darf
wohl gesagt werden, daß eine völlige Aufhebung der Polizeistunde gleich
124 Abhandlungen.
zu schätzen wäre mit einem radikalen Verzicht auf jede volkserzieherische
Maßnahme, während das Bestehen einer Polizeistunde auf alle Fälle grund-
sätzlich die Pflicht der Behörde anerkennt, auch erzieherisch gegenüber dem
Publikum zu wirken und das öffentliche Gewissen den Ausschreitungen
der Genußsucht gegenüber wachzuerhaiten. Wenn bei bestimmten Anlässen
das Verabreichen geistiger Getränke verboten wird, so ist auch das eine
erzieherische Maßnahme, von der man nur wünschen möchte, daß die
Behörden recht cft davon Gebrauch machten. Es liegt ja auf der Hand,
daß der Ernst einer politischen Entscheidung stark unterstrichen wird, wenn
bei einer Wahl die Schänkstätten geschlossen bleiben müssen: daß die
Würde einer Feier in demselben Maße erhöht und bis zum Schlusse aufrecht
erhalten wird, in welcher für die Nüchternheit der Teilnehmer gesorgt ist.
Wir begrüßen es in diesem Sinne, daß z. B. die evangelische Kirche ihre
Gustav-Adolf-Feste alkoholfrei durchzuführen sich entschlossen hat. Wir
erinnern an die äußerst eindrucksvolle Erfahrung, die wir mit der alkohol-
freien Durchführung der Mobilmachung von 1914 gemacht haben. Auf dem
Wege derartiger Erziehungsmaßnahmen sollten Verwaltung und Regierung
noch viel tapierer vorgehen als bisher, dann würden auch diese
Bestimmungen des Strafgesetzes zu einer weitreichenden pädagogischen
Bedeutung kommen.
Zum Entwurf eines
Allgemeinen Deutschen Strafgeseßbuches.
Bemerkungen zum $ 17 und $ 335.
Von San.-Rat Dr. Otto Juliusburger-Berlin.
Der neue Paragraph, der an Stelle des bisherigen Paragraph 51 St.
G. B. nach dem Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuclıis
treten soll, lautet in der bisher vorgeschlagenen Fassung (!/ı 17):
„Nicht zurechnungsfähig ist, wer zur Zeit der Tat wegen Bewußt-
seinsstörung, wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit oder wegen
Geistesschwäche unfähig ist, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder
dieser Einsicht gemäß zu handeln. War die Fähigkeit zur Zeit der Tat
aus einem dieser Gründe in hohem Grade vermindert, so ist die Strafe
zu mildern (!ı 72). Dies gilt nicht bei Bewußtseinsstörungen, die auf
selbstverschuldeter Trunkenheit beruhen.“
Ich will an dieser Stelle nicht auf eine grundsätzliche Erörterung eingehen,
ob diese Fassung des Paragraphen, der sich mit der Frage der geistigen Zu-
rechnungsfähigkeit befaßt, nicht durch eine noch klarere ersetzt werden
könnte, ob und inwieweit dies überhaupt möglich sein kann. An anderer
Stelle habe ich mich hierüber geäußert. Nur dem Begriffe der selbst-
verschuldeten Trunkenheit will ich einige Bemerkungen widmen. Zuvor aber
möchte ich noch auf den wichtigen $ 335 hinweisen, der, wie folgt, lautet:
„Wer sich vorsätzlich oder fahrlässig durch den Genuß geistiger
Getränke oder durch andere berauschende Mittel in einen die Zurech-
nungsfähigkeit ausschließenden Rauschzustand versetzt, wird mit Ge-
fängnis bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn er in
diesem Zustand eine mit Strafe bedrohte Handlung begeht. Die Strafe
darf jedoch nach Art und Maß nicht schwerer sein als die für die
vorsätzliche Begehung der Handlung angedrohte Strafe. Die Verfolgung
tritt nur auf Verlangen oder mit Zustimmung des Verletzten ein, wenn
ge Die Seung des Psychiaters zur Strafreform, Journal für Psychologie
und Neurologie, 1%8, Band XIII.
2?) Juliusburger: Der § 51 in gegenwärtiger und zukünftiger Fassung, Forens. Medizinische
Zeitschrift, 1925, April.
Juliusburger, Zum Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches. 125
die begangene Handlung nur auf Verlangen oder mit Zustimmung ver-
iolst wird.“
Ich glaube wohl sagen zu dürfen, daß die Fälle recht selten sind, in
denen jemand absichtlich und vorsätzlich, mit kühler, ruhiger Ueberlegung _
sich den Genusse geistiger Getränke oder anderer berauschender Mittel
hingibt, um dadurch in einen die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden
Rauschzustand zu geraten, damit die strafbare Handlung, zu der er in
einem solchen Rauschzustand dann geschritten, ihm hernach nicht zu-
eerechnet werden könne. In der überwiegenden Zahl der Fälle wird die
andere Frage aufgeworfen und beantwortet werden müssen, ob und
inwiefern der Zustand einer die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden
Geistesverfassung durch Fahrlässigkeit und somit durch eigenes Ver-
schulden des Täters herbeigeführt wurde.
Meiner Ueberzeugung nach könnte nur dann von Fahrlässigkeit die Rede
sein. wenn jemand bereits die üble Erfahrung gemacht hat, nach Alkoholgenuß
in einen Zustand gekommen zu sein, worin er sich strafbarer Handlungen
schuldig gemacht hatte. Dann hätte dieses Individuum durch die eigensten
Erfahrungen belehrt sein können oder müssen, sich vor weiterem Genusse
alkoholischer Getränke peinlichst auf der Hut zu sein. Vielleicht hat aber
solch ein Mensch auch tatsächlich den besten Willen gehabt, nach einmal
vollbrachter Tat, nach einmal angerichtetem Unheil, nachdem er schon
schuldig geworden, — nun nicht wieder sein Gehirn narkotisieren zu lassen,
also sein Denken, Fühlen und Wollen völlig oder nahezu ganz frei von
einer Alkoholwirkung zu halten, — und vielleicht, ja in sehr vielen Fällen
wäre es ihm auch gelungen, — wenn —, ja, wenn die Versuchung in der
herrschenden, immer wieder großgezüchteten Trinksitte nicht so ver-
iührerisch an ihn herangetreten wäre. Die tägliche Erfahrung zeigt doch
immer wieder aufs neue, wie jemand arglos und harmlos eine Gesellschaft
auisucht, bei Scherz und Witz, bei fröhlichem Geplauder ins Trinken hinein-
kommt, — bis die noch harmlose Alkoholwirkung ins Gegenteil umschlägt
und nun die bisherigen Freunde in hemmungslose, wilderregte Feinde ver-
wandelt. Die Hemmungen, die der Alkohol im Seelenleben allmählich mehr
und mehr lockert und aufhebt, lassen dann eine ganz andere Persönlichkeit
erwachen und zu Taten schreiten, die vor dem Genuß alkoholischer Ge-
tränke allen Streitereien, Raufereien, gewalttätigen Handlungen, oder auch
abwegigen Suxualbetätigungen völlig fern gestanden hatte.
Ich möchte auch nicht versäumen, darauf hinzuweisen, daß
haufig genug die antisozialen Handlungen nicht im Wirtshaus oder
in der Kneipe, sondern erst an der frischen Luft, im freien, auf
der Straße, auf dem Heimwege vollzogen werden. Gewiß kann
diese Erscheinung so erklärt werden, daß erst auf der Straße
Gelegenheiten zu Reibereien und Zusammenstößen sich mehr als
im Lokale bieten; es kommt aber nicht selten noch ein wichtiger Umstand
hinzu. nämlich die bekannte und oft nicht genügend zgewürdigte Einwirkung
des Temperaturwechsels und der Luftveränderung, die in den einen Fällen
zünstig, ernüchternd wirken, in den anderen Fällen rasch, oft ganz plötzlich,
erst recht trunken machen, den gefährlichen Rauschzustand wie mit einem
Schlage herbeiführen, sei es, daß von dem Individuum die Umgebung ver-
kannt wird, harmlose Vorgänge der Umwelt eine gesteigerte Betonung und
ihnen nicht zugehörige Färbung erhalten oder sonst niedergehaltene An-
triebe, Wünsche und Begehrlichkeiten aus der Tiefe des Seelenlebens
aufsteigen, die erst nach Wegfall der seelischen Hemmungen widerstandslos
zur Tat und Verwirklichung gelangen können. In solchen Fällen, die gar-
häufig zur Beurteilung‘ kommen, kann man doch wirklich nicht von Fahr-
lässigkeit sprechen.
Hierzu kommt noch, daß in einer trinkenden Gesellschaft das
xemeinsame Genießen alkoholischer Getränke geradezu suggestiv zum
Weitertrinken verleitet; nach der herrschenden Trinksitte will niemand
126 Abhandlungen.
hinter dem anderen zurückbleiben, jeder will da „Stange halten“. Liegt
doch in manchen Fällen dem Aufsuchen einer alkoholtrinkenden Gesellschaft
das Verlangen zugrunde, eine wirkliche oder vermeintliche seelische
Schwäche oder Leistungsunfähigkeit durch das irreführende, trügerische
euphorische Gefühl, welches bei der Alkoholwirkung den Menschen zu
überkommen pflegt, in ein gesteigertes Selbstbewußtsein, ein vermehrtes
Machtgefühl mit dem gefährlichen Drange nach Expansion zu verwandeln.
Man sollte diese psychischen Mechanismen nicht übersehen und mit dem
za der Fahrlässigkeit wird man sicherlich gar nicht so freigebig sein
Önnen.
Was folgt nun aus dieser Auseinandersetzung? Sicherlich nicht
eine vermehrte Berufung auf den $ 17 oder die Anrufung mildernder Um-
stände. Nur sollte man bei allen hierher gehörigen Erörterungen und Be-
wertungen von der Tatsache ausgehen, daß jede Alkoholwirkung, besonders
wenn sie tiefer eingedrungen ist, als eine Gehirn-Narkose aufzufassen ist.
Wer unter Alkoholwirkung eine strafbare Tat vollführt hat, erwies
sich der Gesellschaft gegenüber als antisozial. Vom Ausmaß und der Aus-
wirkung von der Reichweite einer solchen antisozialen Gesinnung und
Betätigung, von der Neigung zu derartigen Wiederholungen, von der
gesamten psycho-physischen Konstitution des Täters muß es dann abhängig
gemacht werden, ob Schutzaufsicht, vorübergehende oder dauernde Ver-
wahrung zu verhängen ist.
Ich wünsche also unter keinen Umständen einen Freispruch.
sobald eine antisoziale Handlung unter Alkoholwirkung vollzogen
wurde. Schutz der Gesellschaft, Vorbeugung der Wiederkehr einer-
seits, Umwandlung der Persönlichkeit des Rechtbrechers andererseits, sind
allein die Gesichtspunkte, die in Betracht gezogen werden müßten. Wir sollen
doch endlich aufhören, uns rächen zu wollen, unsere Haßgefühle sich aus-
wirken zu lassen, „unser Mütchen zu kühlen“, — sondern seien wir ehrlich
bestrebt, aufzurichten, wo seelische Aufrichtung und Erstarkung noch
möglich wäre, zu schützen und zu verwahren, wo solche Hemmung nur
noch am Platze sein dürfte. Die erforderlichen intellektuellen und moralischen
Maßnahmen, die getroffen werden müssen, um ein Individuum, welches unter
Akoholwirkung strauchelte und zu antisozialen Handlungen kam, zu alkohol-
gegnerischer Festigkeit zu erziehen, mögen bei anderer Gelegenheit erörtert
werden, wo auch über die Schutzaufsicht noch ein Wort gesagt werden muß.
Fünf Jahre Alkoholverbot in Finnland.
Von Uno Stadius.
(Schluß.)
Kapitel 5.
Der Haushalt des Landes.
Man hat viel darüber geredet, daß der Staat und die Gemeinden infolge
des Verbots ihre Alkoholeinkünfte verloren haben. Dabei sind aber doch,
wie so oft, die Schilderungen übertrieben. Im Haushaltplan des Staats
machten die Alkoholeinkünfte vor dem Kriege ungefähr 7 % sämtlicher Ein-
nahmen aus. Seit der Freiheitserklärung des Landes hat der Staat be-
trächtliche neue Ausgaben für die Landesverteidigung und für die Ver-
tretung im Auslande aufbringen müssen. Wenn die Alkoholeinkünfte im
gleichen Verhältnis zu den übrigen Einnahmen wie vor dem Kriege jetzt
im Haushaltplan vorkämen, würden sie nicht mehr als ungefähr 4% der
staatlichen Ausgaben ausmachen. Der Reingewinn aus dem staatlichen
Alkoholhandel stieg 1922 auf 25 Millionen oder ungefähr 1% sämtlicher
Stadius, Fünf Jahre Alkoholverbot in Finnland. 127
Staatseinkünfte. Infolge des Alkoholverbots hat der Staat also nur un-
gefähr 3% seiner Einkünfte verloren. Anderseits ist zu beachten, daß
durch eine gesteigerte Volksnüchternheit, vor allem unter den Industrie-
arbeitern, große Werte in Form von gesteigerter Arbeitsfähigkeit auf der
Einnahmeseite gebucht werden müssen. Daß das versteuerbare Vermögen
jetzt größer als früher ist, geht u. a. aus den erhöhten Einlagen bei den
Sparkassen hervor.
Dr. Bratt äußerte in seinem Vortrag in Helsingfors am 12. Jan. 1920
über Rauschgetränke und Familienleben vor seiner eleganten Zuhörer-
schaft aus den oberen Ständen folgende harten Worte: „Glauben Sie mir,
meine Herrschaften, die schlimmsten Tragödien spielen sich in den obersten
Klassen ab.“ Ohne irgendwie eine solche Behauptung bestreiten zu wollen,
kann man doch auf der anderen Seite der Ansicht sein, daß der Gebrauch
von Rauschgetränken und in noch höherem Grade der Mißbrauch aus rein
wirtschaftlichen Gesichtspunkten am meisten in das Leben der Armen ein-
greift. Das Geld, das ein vermögender Mann zum Einkauf einer Flasche
Alkohol anwendet, wirkt nicht weiter störend auf seine wirtschaftliche
Lage ein, während die gleiche Summe, aus dem Wochenlohn eines Arbeiters
genommen, Mangel an Nahrung, Feuerung und Kleidern bei Weib und Kind
bedeuten kann. Das Alkoholverbot ist daher als ein wirtschaftliches
Schutzgesetz für die Arbeiterklasse anzusehen, die darum auch über das
Verbot wacht. Wenn es wirklich wahr wäre, was so oft von den Verbots-
gegnern behauptet wird, nämlich daß trotz des Verbots eine unaufhaltsame
Sauferei unter den Arbeitern blühe, so würde sich dies in verschlechterten
wirtschaftlichen Verhältnissen widerspiegeln. Ein Blick in die Jahres-
berichte der Arbeitersparkasse in Helsingfors gibt uns Klarheit über die
Verhältnisse. `
Jahr Zahl der Sparkassenbücher Größe der Einlagen
1909 745 215 040
1910 1233 463 801
1911 1695 668 716
1912 2246 787 446
1913 2839 1 155 664
1914 3157 1 066 235
1915 3467 1 433 923
1916 3968 1 884 373
1917 4878 3 134 021
1918 4888 2 223 514
1919 5237 3 736 369
1920 6058 8 667 060
1921 6758 12 848 742
1922 7545 18 075 875
1923 8755 27 522 696
1923 stieg die Zahl der neuen Sparer auf 1736. Von diesen kamen
1244 oder mit anderen Worten 71% aus den Reihen der Arbeiter und
Dienstboten.
Mehrere Umstände können zusammengewirkt haben, daß die wirtschaft-
liche Lage der Arbeiter sich in den letzten Jahren verbessert hat; aber daß
auch das Alkoholverbot dabei von besonders großem Einfluß gewesen, ist
eine allgemein anerkannte Tatsache, die vor allem von den Arbeitern selbst
betont wird. Die Spritpfennige sind Sparpfennige geworden. Sicherlich
ist die heutige Geldentwertung in Betracht zu ziehen; aber wenn man auch
— wie üblich — mit einem zehn Mal kleineren Wert gegen früher rechnet,
so ist die Summe der Einlagen doch bedeutend gestiegen.
Noch bemerkenswertere Zahlen bekommt man aus den Sparkassen-
berichten des sozialdemokratischen Konsumvereins.
128 Abhandlungen.
Jahr Zahl der Sparkassenbücher Größe der Einlagen
1919 2108 1 819 626,33
1920 6 971 11 323 739,33
1921 14 079 26 944 093,59
1922 19 916 42 475 501.13
1923 44 531 70 579 760.82
Wenn darüber geklagt wird, daß unser Land infolge des geschmuggelten
Alkohols Geld ans Ausland verliert, so sei daran erinnert, wie es vor der
Zeit des Verbots gewesen ist. 1913 wurden nach Finnland Arrak, Rum, mit
Zucker zubereitete alkoholische Getränke sowie Weine für zusammen
10 975 000 Mark eingeführt. Nach der gewöhnlichen Berechnungsweise, d. h. Ä
mit Rücksicht darauf, daß der Geldwert jetzt zehnmal schlechter ist, als
vor dem Krieg, würde diese Summe jetzt 109750000 Mark entsprechen.
1923 wurden hauptsächlich für medizinische Zwecke vom Ausland alkohol-
haltige Waren in der Höhe von 6 749 907,35 Mark eingekauft. Der Unterschied
zwischen jetzt und der Zeit vor zehn Jahren ergibt sich also leicht aus
folgender Rechnung: 2
Einkauf der alkoholischen Waren Finnische Mark
109 750 000,—
1923 6 749 907,35
103 000 092,65
Also eine Ersparnis für 1923 von nicht weniger als über 100 Millionen
Mark (= 10 Millionen Reichsmark. D. Ü.)
1913 wurden für die gesetzliche Herstellung von Branntwein im Lande _
eingekauft: 1126579 kg Roggen, 163740 kg Gerste, 20361 kg Hafer,
zusammen 1310680 kg Getreide. 1923 wurde kein gesetzlich erlaubter
Branntwein aus Getreide hergestellt.
Die Verteidiger der Rauschgetränke haben mit großem Geschick das
Alkoholverbot als ein Hindernis guter Handelsbeziehungen mit den wein-
bauenden Ländern hingestellt. Infolge des Gesetzes werde der Außenhandel,
vor allem die Holzausfuhr, in hohem Grade gefährdet, was auf den Haushalt
des Landes unvorteilhaft einwirken würde; und gleichzeitig würden die
mächtigen Südstaaten Achtung und Vertrauen zu Finnland verlieren. Wie
ist es nun wirklich gekommen?
Der hervorragende Fachmann auf dem Gebiet des Außenhandels, |
Dr. Henrik Ramsay, hat sich in einem Aufsatz im „Hbl.“ über den Handels-
vertrag Finnlands mit Frankreich folgendermagen geäußert: „Das Alkohol- |
verbot hat bei den vorläufigen Abmachungen keine unübersteiglichen |
Schwierigkeiten bereitet, und es mag anerkennend festgestellt werden, daß
man auf französischer Seite großes Verständnis für unsere Lage gezeigt hat.
Denn wie man auch über das Verbot denken mag, man muß doch einsehen,
daß es eine innere Frage ist, die allein unser Volk zu lösen hat, und daß
jeder Druck von außen in dieser wie in ähnlichen Fragen höchst unwill-
kommen wäre. Mit sicherem Feingefühl hat man auf französischer Seite
das Unzweckmäßige eingesehen, eine Lösung erzwingen zu wollen, die man
besser und sicherer durch die Erfahrungen, die die Zeit mit sich bringt und
die man nicht länger übersehen kann, zum Ziele gelangt. Jetzt verpflichtet
sich die finnische Regierung nur, den für den gesetzlichen Verbrauch
vorgesehenen Bedarf in Frankreich einzukaufen, und es brauchte —entgegen
den Zeitungsmeldungen — überhaupt kein Mindestmaß für den Alkoholeinkauf
festgelegt zu werden.
Das Ergebnis der Verhandlungen zeigt, daß ein gegenseitiges Ver-
ständnis erzielt werden konnte. Ich wage es auch auszusprechen, daß die
Vorteile — wie die Lage sich jetzt ergibt — auf unserer Seite sind. Denn
die Menge der Waren, für die Frankreich Erleichterungen erzielte, ist gegen-
über der Menge finnischen Holzes und finnischen Papiers, denen der Vertrag
jetzt sichere Absatzmöglichkeiten eröffnet, recht unbedeutend.“
PT
Stadius, Fünf Jahre Alkoholverbot in Finnland. 129
1922 entwickelte sich unser Außenhandel besonders günstig. Der Wert
der Ausfuhr erhöhte sich gegen das Vorjahr um nicht weniger als 1071,7
Millionen Mark, während der Wert der Einfuhr sich nur um 367,4 Millionen
erhöhte. Dadurch überwog die Ausfuhr die Einfuhr um 508 Millionen Mark;
unser Land hatte also dies Jahr eine aktive Handelsbilanz, die früher
während der ganzen Zeit von 67 Jahren, für die amtliche handelsstatistische
Zahlen vorliegen, nicht erreicht wurde.
In der Fachzeitung „Finansbladet‘“ stand in einem Leitaufsatz vom
17. April 1924: „Ein glänzender Rechnungsabschluß wurde in
diesen Tagen vorgelegt und ein ungefähr gleich vorteilhafter in seinen
Hauptzügen angedeutet. Wir überschauen die Rechnungsabschlüsse der
Stadt Helsingfors und der Republik Finnland für 1923. Der erstere bilanziert
mit einem Ueberschuß von 66,5 Millionen, der letztere mit einem solchen
von über 300 Millionen Mark. —
Der Volkswirtschaftler Prof. J. H. Vennola bemerkte, als er Staats.
minister war, in einer politischen Rede: „Wir haben das Alkoholverbot zu
einer Wirklichkeit gemacht und denken auch dies Gesetz zu behalten. Wir-
haben aus finanziellen Gesichtspunkten eine Reform von größter Bedeutung
durchgeführt. Unser Finanzwesen kann ohne Alkoholein-
künitebestehen. Was dies für dieFrage desStaatshaushaltes bedeutet,
mag man daran erkennen, daß unser Nachbarland Estland seine Einnahmen
zu einem Drittel aus den Alkoholsteuern bestreitet. Hätten wir diese Reform
noch vor uns, müßten wir mit viel größerem Pessimismus die Ordnung
unseres Staatshaushalts betrachten als jetzt, da wir die Frage schon hinter
uns haben.
Was die Wirkungen des Alkoholverbots selbst anbelangt, so bin ich
überzeugt, daß, wenn man gleichermaßen Schattenseiten und Vorzüge des
Gesetzes in betracht zieht, es auf jeden Fall schon viel Unglück verhütet und
die Sitten günstig beeinflußt hat. Ich bin auch davon überzeugt, daß das
kommende Geschlecht, das in diesem Zeichen aufwächst, glüchlicher sein
a als das absterbende Geschlecht, das unter anderen Verhältnissen groß
wurde. —
Kapitel 6.
Bessere Verhältnisse.
Die Sterblichkeit in einem Lande wird durch mancherlei Umstände
beeinflußt. Bei uns sind die meisten Todesfälle im ersten Lebensjahr vor-
zekommen, eine Folge sozialer Mißverhältnisse und mangelhafter Säuglings-
pileze. Krieg, Lebensmittelmangel und Epidemien können für ein oder
mehrere Jahre die Sterblichkeit erhöhen. Zunahme und Aßnahme des
Alkoholverbrauchs ist ebenfalls nachweislich von Einfluß auf die Sterblichkeit.
Bei Inkrafttreten der vollständigen Blockade im Februar 1917 kam
Dänemark in eine verzweifelte Lage. Der Anblick des hungernden Deutsch-
land war nicht ermutigend, da die Deutschen im Verhältnis zur Volksmenge
ungefähr doppelt so viel an Roggen und Kartoffeln ernten als die Dänen. In
dieser schweren Lage setzte die Regierung einen Ausschuß ein und
beauftragte ihn, auszurechnen, wie die Ernte am besten verteilt werden
könnte. Die beiden Physiologen, denen die Verantwortung der Nahrungs-
mittelrationierung zufiel, wiesen auf die Tatsache hin, daß der größte Teil
der dänischen Ernte an Getreide und Kartoffeln für Schweinezucht und
Alkoholherstellung verbraucht werde. Nun ging man daran, den Schweine-
bestand auf ungefähr ein Fünftel, die Bierbereitung auf etwa die Hälfte der
Vorkriegszeit zu beschränken und die Herstellung von Trinkbranntwein ganz
zu verbieten. Diese letzte durchgreifende Maßnahme war durchaus nicht
von dem Wunsch bestimmt, unter gewöhnlichen Verhältnissen ein Verbot
einzuführen. Etwas Derartiges lag ganz sicher außerhalb der Pläne und
Wünsche der Mehrheit der Ausschußmitglieder. Es war einfach die drohende
Not, die Dänemark zwang, Getreide und Kartoffeln dem Branntwein vor-
Die Alkoholfrage, 1925. 9
130 Abhandlungen.
zuziehen. Dr. M. Hindhede, dessen Schrift: „Das Problem Alkohol und
Gesundheit“ diese Angaben entnommen sind, hat die dänische Sterblichkeits-
statistik zur Grundlage einer Untersuchung über den Alkoholverbrauch
gemacht und ist dabei zu dem bemerkenswerten Ergebnis gelangt, daß der
Alkohol in den Mengen, in denen er vor dem Kriege in Kopenhagen genossen
wurde, die Sterblichkeit der Männer im Mannesalter (25-65 Jahre) um
mindestens 64 % erhöht hat.
Die besonderen Verhältnisse in Dänemark zur Zeit der Blockade können
ja nicht mit der Lage in Finnland verglichen werden, aber die Tatsache,
daß der Alkoholgenuß auch bei uns auf die Volksgesundheit und Sterblichkeit
eingewirkt hat, kann mit Fug und Recht nicht bestritten werden. Auch in
unserem Land beruht die hohe Sterblichkeit der Männer bis zu einem
bestimmten Grade auf den Trinksitten. In den 10 Jahren 1891—1900 betrug
die Zahl der Todesfälle auf 1000 Personen 19,7, in der Zeit von 1901
bis 1910 17,9; das war die niedrigste Ziffer, die bis dahin in Finnland
für einen ganzen Zeitraum von 10 Jahren festgestellt worden war. Die Zahl
der Todesfälle auf 1000 Personen in der Zeit darnach geht aus folgender
Statistik hervor:
Jahr Anzahl der Todesfälle
1911 16,5
1912 16,3
1913 16,1
1914 15.6
1915 15,9
1916 16,5
1917 17,7
1918 28.5 Männer Frauen
1919 18,9 20,1 17,7
1920 15,9 16,9 14,9
1921 ` 14,0 14,7 13,4
1916 begann der Lebensmittelmangel sich geltend zu machen, 1918 war das
Jahr des Aufstands und 1919 war die spanische Grippe epidemisch. 1920
sank die Sterblichkeit auf 15,9, erreichte somit den Stand von 1915. Die
Sterblichkeit von 1921, die nur 14,0 auf 1000 betrug, war die geringste, die
bisher in der Bevölkerungsgeschichte Finnlands seit 1750 erreicht worden ist.
(Zum Vergleich sei mitgeteilt, wie hoch die Durchschnittszahl der Todesfälle
auf 1000 Einwohner in den letzten fünf Jahren vor dem Weltkrieg in den
weinerzeugenden Ländern war: Frankreich 18,3; Portugal 20,2; Italien
20,4 und Spanien 23.)
Auch die Armenpfilege ist vom Alkohol beeinflußt worden. 1913, bevor
das Kriegsverbot eintrat, war die Zahl der Männer über 15 Jahre, die auf
ea Trunksucht Armenunterstützung erhielten, bedeutend höher
als i
Aeltere, vorurteilsfreie Leute,auch in grundsätzlich verbotsgegnerischen
Kreisen, haben anerkannt, daß der Nüchternheitszustand im allgemeinen
besser ist, als vor dem Inkrafttreten des Verbots. Auch „Hbl.“ gibt Material
zu Vergleichen, u. a. in bezug auf die Zustände in der Mittsommernacht
verschiedener Jahre. Am 26. Juni 1911 las man im „Hbl.“: „Die Mittsommer-
nacht verlief auch dies Jahr nicht ohne Schlägerei und Blutvergießen,
obgleich doch schwerere Gewaltätigkeiten nicht zu verzeichnen sind. —
Vom Chiriurgischen Krankenhaus in Helsingfors wird berichtet, daß am
Mittsommerabend 42 Verletzte und am Tag darauf 10 eingeliefert worden
sind. — In Sörnäs wurden am Mittsommerabend sechs Leute, alle betrunken.
infolge von Schlägereien verwundet.“ Sonach 422+10+6 = 58 Verwundete.
11 Jahre später (26. 6. 1922), als das Verbot in Kraft getreten war, stand im
„Hbl.“: „Die Ordnung in der Mittsommernacht wurde nicht besonders
gestört.“ „. .. Aus der Umgebung der Stadt werden irgendwelche Stö-
rungen der Ordnung nicht gemeldet. Weder von Schlägereien noch anderen
| Stadius, Fünf Jahre Alkoholverbot in Finnland. 131
Vergehen ist in der Stadt oder in ihrer Nähe berichtet worden.“ Und dazu
fielen auf den Mittsommer 1922 zwei Feiertage nacheinander. Mithin: 1911
vor dem Verbot 58 Verwundete, 1922 während des Verbots keiner.
Nicht nur in Helsingfors, sondern auch in andern Städten haben die
Frauen nicht mehr zu befürchten, daß sie abends auf den Straßen von
Betrunkenen behelligt werden. Die Wirtschaften können nicht mehr wie
vordem die übertriebenen Trinkereien aufweisen. Je tiefer die Gesellschafts-
schichten, um so mehr preist man die guten Wirkungen des Alkoholverbots.
Die Arbeiter, die sich betrinken, sind zum großen Teil freie Hafenarbeiter,
die Gelegenheit haben, von den ausländischen im Hafen liegenden Schiffen
alkoholische Getränke aus deren für eigenen Bedarf mitgeführtem Vorrat
zu bekommen. Da ein solcher Hafenarbeiter sich dann mehrere Male hiuter-
einander betrinkt, wird er in der Statistik — wie schon oben erwähnt —
jedes Mal als eine neue Person aufgeführt, wodurch die Trunksucht
verbreiteter zu sein scheint, als sie es tatsächlich ist. Man kann ja nicht
bestreiten, daß es unter den Arbeitern wie unter den oberen Schichten
ständig gewohnheitsmäßige Trinker gibt, die ihren Schatten auf die
Charakterstarken und Gesetzestreuen werfen; aber man darf nicht sagen,
daß jetzt infolge des Verbots unter den Arbeitern grenzenlos gesoffen wird.
Der Vorstand der Stadtmission in Helsingfors hat erklärt, seine auf reiche
Erfahrungen gegründete Ueberzeugung sei, daß das Alkoholverbot große
Segnungen mit sich gebracht habe.
Auch auf dem Lande wird allgemein bezeugt, daß das Leben auf
Märkten, bei Versteigerungen, Hochzeiten usw. jetzt ein nüchterneres
Gepräge trägt als früher. Von einer Reihe von Gemeinden der Schären, wo
der Schmuggel seine großen Verkehrsstraßen hat, wird wohl von Sauferei
und allerhand Mißständen berichtet. An solchen Orten ist es wohl möglich,
daß die Trunksucht zugenommen hat, aber die Verhältnisse in diesen Aus-
nahmegemeinden dürfen nicht — wie das oft geschieht — als für das ganze
Land kennzeichnend angeführt werden. In einer Reihe von Gegenden klagt
man über trunkfällige' Amtsvorsteher und Polizeibeamte, auch daß Aerzte
Rezepte zu Berauschungszwecken ausfertigen. Daß dies geeignet ist, den
Nüchternheitszustand zu verschlechtern, läßt sich nicht leugnen, aber das
Aergernis erregen die Beamten und nicht das Gesetz!
Besonders lehrreich sind die amtlichen statistischen Angaben über die
Vergehen, bei denen die Trunkenheit eine bedeutende Rolle zu spielen
pflegt, und es ist interessant, dabei die Verhältnisse von 1912 vor dem
Verbot und 1922 während des Verbots zu vergleichen, sowie das Ueber-
gangsjahr 1914, an dessen Schluß das Kriegsverbot eingeführt wurde.
Die Untergerichte in den Städten und die Kreisgerichte auf dem Lande
lieferten die folgende Statistik:
Art der Vergehen und Verbrechen 1912 1914 1922
Tätliche Beamtenbeleidigung 837 596 529
Totschlag 90 89 88
Verbrechen gegen Gesundheitund Eigentum 1314 1057 145
Mißhandlung 1572 1358 921
Grober Unfug und ruhestörender Lärm 3196 2125 1187
Tierquälerei 198 150 90
Haus- und Landfriedensbruch 613 536 240
Beleidigung 8il 721 390
Aus obigen Zahlen geht hervor, daß die Verhältnisse sich ständig in
Gen letzten zehn Jahren gebessert haben. Besonders überraschend ist der
starke Rückgang der Zahlen für groben Unfug usw. sowie Mißhandlung, Tier-
quälerei und Beleidigung, Vergehen und Verbrechen, die oft unmittelbar
auf Trunkenheit zurückzuführen sind.
9*
132 Abhandlungen.
Kapitel7.
Vorschläge für ein neues Alkoholgesetz.
Es ist schon erwähnt worden, daß der entsittlichende Einfluß des
Weltkriegs und des roten Aufstands, der Schmuggel und Rezeptalkohol und
das unverantwortliche Auftreten der Zeitungspresse in hohem Grade die
guten Wirkungen des Alkoholverbots beeinträchtigt haben. Außerdem klagt
man allgemein im Lande darüber, daß manche, die die Befolgung des
Gesetzes zu überwachen haben, ihre Pflicht nicht erfüllen. Darum ist es
übereilt, die vorläufige oder völlige Aufhebung des Verbots zu fordern,
bevor man überhaupt versucht hat, es wirklich durchzuführen. Diese
Forderung ist tatsächlich erhoben worden.
Von dahingehenden Vorschlägen seien die von Staatsrat A. Ramsay im
„Mercator“ (21. Jan. 1921), von Prof. A. Serlachius im gleichen Jahr im
Maiheft der Zeitschrift „Lakimies“, von einem Anonymus A. H. im
„Allgemeinen Kalender Finnlands“ für 1923 sowie vom Polizeimeister in
Helsingfors, Hj. Honkanen und Prof. G. von Wendt genannt. In diesem
Zusammenhange ist vor allem der „Verbotsgegnerverein‘ zu nennen, der
sich kurz nach dem Inkrafttreten des Verbots bildete, um die Interessen
der Gegner zu wahren. Da dem Verein wiederholt vorgeworfen worden
war, er tadle nur das Verbot, ohne selbst ein besseres Gesetz vor-
zuschlagen, so gab der „Verbotsgegnerverein“ endlich mehrere Jahre nach
seiner Gründung das „ProgrammfüreinneuesAlkoholgesetz
inFinnland“ heraus. Gleichzeitig gab er aus taktischen Gründen seinen
bisherigen Namen auf, um ihn mit dem positiver und sozialer klingenden
Namen „Bund für Volksnüchternheit ohne. Totalverbot‘‘ zu vertauschen. Die
wichtigsten Punkte des erwähnten Programms sind die folgenden:
Der gesamte Handel mit Alkohol muß dem Staat vorbehalten werden.
80 % des daraus fließenden Gewinnes sollen einen Fonds für Alters-
versicherung bilden, während „ein kleinerer Teil der restlichen 20 % für
unmittelbare Nüchternheitswerbearbeit verwendet und vom Rest zu einem
Teil die Kosten der Zwangsinternierung Alkoholkranker gedeckt werden
sollen.‘ Das hält der Verein für ein sozial verantwortliches Vorgehen.
Man erhielte auf diese Weise ein Staatsmonopol in Gesellschaftsform, und
die „sittliche Aufgabe“ des Handels mit Alkohol sei, in solchen Grenzen
sich zu halten, daß der Alkoholmißbrauch den mindestmöglichen Schaden
anrichtet. Den Fachleuten sei darum ein Ueberwachungsrat zur Seite zu
stellen, dessen Mitglieder mit der gesellschaftlichen Bedeutung der Alkohol-
frage vertraut sein müßten. .
Es heißt weiter in dem Programm: Die Bierbrauerei soll nicht unter
Monopol gestellt werden; der Alkoholgehalt des Bieres höchstens 2%
Gewichtsprozent betragen. „Man kann der Nüchternheitsbewegung Finn-
lands keinen größeren Dienst erweisen, als daß man uns ein wenn auch
nicht gutes, so doch genießbares Tischgetränk an Stelle des widerlichen
Extrakts verschafft, der jetzt unter dem Namen Bier geht. Das Monopol
bleibt also auf Branntwein und Punsch beschränkt. „Dagegen dürfe das
a die Herstellung von Beerenweinen für den Hausbedarf nicht
verhindern.“
Für den Kleinverkauf „kann ein Rationierungssystem nicht gut
empfohlen, sondern es muß ein System vorgezogen werden, durch welches
das Recht des Einzelnen, geistige Getränke zu kaufen, nicht beschränkt
wird.“ Das Gesetz sollte nicht bestimmen, wie viel alkoholische Getränke
der Einzelne im Lauf eines Jahres kaufen darf, wohl aber sollte es die größte
und kleinste Menge, die auf einmal gekauft werden darf, festsetzen.
Bei Branntwein von 37% Volumenprozent und anderen gleich starken oder
stärkeren geistigen Getränken sollte die Mindestmenge 4 Liter, die Höchst-
menge 2 Liter betragen, bei Punsch die doppelten Mengen, ebenso bei Wein
mit mehr als 18 % Alkohol. Alle schwächeren Weine sollte man in
Stadius, Fünf Jahre Alkoholverbot in Finnland. 133
unbegrenzter Menge kaufen dürfen, reinen Alkohol nur in der Apotheke
gegen Rezept. Jeder Käufer ist an eine bestimmte Verkaufsstelle ge-
bunden und hat einen Schein mit Angabe der Kaufmenge zu unter-
zeichnen. Ein Hausherr darf den Einkauf auch durch seine Dienstboten
besorgen lassen. Das Recht, alkoholhaltige Getränke einzukaufen, sollte für
bestimmte Zeit Trunksüchtigen und solchen Personen verweigert werden
können, die irgendwie gegen das Alkoholgesetz verstoßen haben oder
„deren Einkauf das Maß des eigenen Bedarfs zu überschreiten scheint“.
Verkaufsstellen der Monopolgesellschaft sollen ohne weiteres in den Landes-
residenzstädten eingerichtet werden können. In anderen Orten ist die
Zustimmung der Stadtverwaltung erforderlich.
Aniangs — heißt es im Programm — „ist mit einem stärkeren Andrang
der Käufer zu rechnen“, und es könnten, teils um einen wirtschaftlichen
Gewinn daraus zu erzielen, teils um die Leute etwas zurückzuhalten, die
Preise während einer Reihe von Monaten recht hoch gehalten werden. Wenn
die Zeit des ersten Andranges vorbei sei und die Allgemeinheit wieder ihren
Einkauf „nach dem laufenden Bedarf‘ mache, könnte man die Preise wieder
sinken lassen. Die Monopolgesellschaft soll auch das Recht haben, einzelnen
Wirten in der Stadt die Berechtigung zum Ausschank zu überlassen.
Das Programm schließt mit der Vermutung, die vorgeschlagene Neu-
ordnung werde die Verhältnisse in eine sittlich und sozial gesündere
Richtung lenken als das „auf einer Gesellschaftslüge aufgebaute Alkohol-
verbot“, aber „man müsse anfangs mit einem stärkeren Alkoholverbrauch
rechnen‘, weil die Allgemeinheit geneigt ist, bei der ersten Gelegenheit
möglichst große Mengen solcher Waren zu kaufen, an denen früher
Mangel war.“
Das ist also die Grundlage eines vom Verbotsgegnerverein gewünschten
Gesetzes für den Fall, daß sich das Alkoholverbot beseitigen läßt. Das
Programm beruht auf zwei unrichtigen Grundgedanken, nämlich 1. daß
der Verkauf berauschender Getränke jeder Art und die Herstellung alkohol-
haltiger Beerenweine im Privathaushalt gesetzlich erlaubt sein, 2. daß der
Staat den Handel mit Alkohol als eine Einnahmequelle benützen soll. Es
ist moralisch und juristisch nicht folgerichtig, daß der Staat den Alkohol-
verbrauch, der anerkanntermaßen Schädigungen hervorruft, gesetzlich
schützen soll, um dann die zu bestrafen, die sich mit diesem gesetz-
lichen Alkohol in den Zustand der Trunkenheit versetzt haben. Ein solches
Verfahren ist nicht, wie das Programm behauptet, „sozial verantwortlich‘,
es ist vielmehr sozial im höchsten Grade unverantwortlich, daß der Staat
aus der geringen Widerstandskraft seiner Bürger und den daraus folgenden
Krankheiten, Elend, Not und Tod Gewinn ziehen soll.
Der ganze Handel mit Alkohol soll dem Staat allein vorbehalten sein.
‘Jedes private Interesse soll ausgeschlossen werden. Keine Einzelperson,
sonach auch keine Gemeinde usw. soll aus dem Alkoholverbrauch Nutzen
ziehen dürfen. Das ist das A und O des Alkoholgesetzes, heißt es im
Programm. Wo weiter unten die Rede auf den Ausschank kommt, wird
indes erklärt, daß die Monopoigesellschaft das Recht haben solle, „einzelnen
Wirten die Berechtigung zum Ausschank zu überlassen“. Weiter wird
hinzugefügt, daß „ein gewisser den Wirten zufallender Gewinnprozentsatz“
damit begründet ist, daß im anderen Fall Wirte ohne Ausschankrecht „mit
ihnen durch ungesetzlichen Ausschank in Wettbewerb treten können“. Der
grundlegende Gedanke des Programms war, wie gesagt, jedes Einzel-
interesse am Handel mit Alkohol auszuschließen, und diesen Gedanken
glaubt man dann durch „einen gewissen den Wirten zufallenden Gewinn-
prozentsatz‘‘ zu verwirklichen. Wie groß dieser Prozentsatz werden sollte,
an den Einzelheiten, mit denen man das Programm nicht belasten
wollte. —
Vom Alkoholgewinn des Staates sollen 80 % einen Fonds für Alters-
versicherung bilden. Die Verbotsgegner wollen da mit sozialen Reformen
134 Abhandlungen.
locken, aber jedermann weiß, daß ein Fonds für Altersversicherung Tausende
von Millionen Mark erfordern würde, ein Ergebnis, das auf dem Wege der
Alkoholbesteuerung erst in ferner Zukunft erreicht werden könnte. Und in
dieser Zeit sollten Massen von Mitbürgern sich arm saufen können und die
Ausgaben der Gemeinden für Armenpflege vermehren, statt sie zu verringern.
Die Statistik vieler Länder beweist in abschreckendem Maße, daß der
Alkoholgenuß unmittelbar die Ursache größerer Armut und daraus
folgender gemeindlicher Hilfsmaßnahmen ist. Sogar die Verbotsgegner
mußten anerkennen, daß der ‘Wohlstand, besonders im Arbeiterstande,
infolge des Alkoholverbots zugenommen hat. Der bekannte schwedische
Volkswirtschaftler, Prof. G. Cassel, der u. a. nach Deutschland eingeladen
wurde, um sich über die Finanzen des Landes auszusprechen, hat in seinem
Vortrag geäußert:
„Es ist eine Verrücktheit, wenn man im Namen der Wirtschaft ein
Gewerbe aufrechterhalten will, daß Tränen und Fluch erzeugt, ein Gewerbe,
das das Volk vergiftet. Das ist eine Wirtschaft des Todes statt des Lebens.
— — Alle Arbeit, die das Ziel hat, den Alkoholhandel verschwinden zu
lassen, ist eine Arbeit für Verbesserung der Volkswirtschaft, so gewiß wie
ein nüchternes Volk größere Arbeits- und Steuerkraft besitzt als ein
alkoholvergiftetes.‘
Ein kleinerer Teil der restlichen 20 % —so heißt es in dem Prora der
Verbotsgegner — soll für unmittelabre Nüchternheitswerbearbeit verwendet
und vom Rest sollen zu einem Teil die Kosten der Zwangsinternierung
Alkoholkranker gedeckt werden. Man wird sich mit dem Gedanken vertraut
machen müssen, daß dieser kleinere Teil vielleicht 1—9 % ausmachen wird,
soweit man nicht an 0 % mit noch ein paar Nullen in den Dezimalen dachte.
Daß der größere Teil für Zwangsinternierung Alkoholkranker veranschlagt
wird, kann nicht Wunder nehmen, denn die Alkoholflut, welche das Gesetz
der Verbotsgegner über das Land rauschen lassen würde, dürfte eine
ungeheure Menge Alkoholkranker zurücklassen. Die müssen natürlich
zwangsinterniert werden, damit sie unschädlich gemacht werden und nicht
unangenehm auffallen.
Da nun einmal von Nüchternheitsarbeit die Rede ist, wäre es unrecht,
eine recht wertvolle Aeußerung der Programmschrift zu übersehen,
nämlich die Worte: „Man kann der Nüchternheitsbewegung keinen
größeren Dienst erweisen, als daß man uns ein wenn auch nicht gutes, so
doch genießbares Tischgetränk an Stelle des widerlichen Extrakts verschafft,
der jetzt unter dem Namen Bier geht.“ Hier haben wir somit die Selbst-
kennzeichnung des neuen Volksnüchternheitsbundes, die in dem Wörtohen
„Bier“ gipfelt.e Der größte Dienst, den man der Nüchternheitsbewegüng
erweisen kann, ist Bier zu brauen, gutes Bier! Und je mehr man trinkt,
um so mehr nützt man da wohl der Nüchternheit? Man ist versucht zu‘
fragen: Hat nicht ein einziger der Herren des Vereins irgendwann ein Glas
frisches Wasser getrunken? Weiß nicht ein einziger dieser Herren, daß
frisches Wasser ein herrliches Tischgetränk ist? In Amerika ist es allgemein
Sitte, bei den Mittagsmahlzeiten zuhause und in den Gasthäusern ein Glas
Wasser vor dem Gedeck stehen zu haben. Nach der Auffassung der
Verbotsgegner müßte der reinste Trank der Natur mit 2% Gewichtsprozent
Alkohol vermischt werden, damit er genießbar wird. Und mit dieser
Alkoholmischung erweist man dann der Nüchternheitsarbeit den größten
Dienst! Der „Verein für Volksnüchternheit ohne Totalverbot‘“ hat wirklich
mit seinem Programm der Nüchternheitsarbeit in diesem Lande einen
glänzenden Dienst erwiesen. Denn jetzt weiß man, welche Wege der Bund
für Volksnüchternheit gehen zu können glaubt.
Es ist nicht nur das Bier, das der Nüchternheitsarbeit nützen soll. Die
ungesetzliche Herstellung alkoholhaltiger Getränke zuhause, die u. a.
Dr. Bratt in Schweden verzweifeln ließ, ist ein Problem, das der Verein
mit derselben Ueberlegenheit löst. Ganz einfach: Die Herstellung von
Stadius, Fünf Jahre Alhoholverbot in Finnland, - 135
Beerenweinen für den Hausbedarf darf nicht verhindert werden. Mithin:
Ein gesetzlich gewährleistetes Recht für jeden beliebigen, so oft er will,
durch natürliche Gärung Beerenweine für den Hausbedarf herzustellen.
Das, was der Volksnüchternheitsbund „Hausbedari‘ nennt, ist, wie bekannt,
in gewissen Häusern besonders groß. Und wie geschickt! Jeder, der sich
unzulässigen Branntwein verschafft, braucht nur seine Ware mit etwas
a zu vermischen, um dann zu erklären, alles sei für den Hausbedarf
hergestellt.
So kommen wir nun zu der Frage des Verkaufs. Als der vom Verbots-
gegnerverein eingeladene Dr. Bratt sein Stockholmer Rationierungs-
evangelium bei uns verkündigt hatte, schlossen sich die Verbotsgegner dieser
Lehre an und die alkoholinteressierten Zeitungen legten fleißig den Text
aus. Aber nach und nach fing man an, im Glauben wankend zu werden
und jetzt — heißt es im Programm des Vereins — „kann ein Rationierungs-
system nicht empfohlen, sondern es muß ein System vorgezogen werden,
durch welches das Recht des Einzelnen, geistige Getränke zu kaufen, nicht
beschränkt wird usw. usw.“ Die Volksnüchternheit soll also durch Bier und
hausbereitete Weine gefördert werden, und dadurch, daß man einmal 2 Liter
rigen Branntwein, acht Halbliterflaschen Punsch oder Weine über
18 % sowie Weine unter 18 % in unbegrenzter Menge kaufen kann. Um
indes die Volksnüchternheit ganz sicherzustellen, hat der Verein fürchterliche
Einschränkungen vorgeschlagen. Das Recht alkoholhaltige Getränke ein-
zukaufen soll „für bestimmte Zeit“ Trunksüchtigen usw. verweigert werden.
Welch erschreckliches Los erwartet da denjenigen, in dessen „persönliche
Freiheit“ die Verbotsgegner einen so brutalen Eingriff zu machen gedenken!
Er kann: 1. sich die gewünschte Ware mit der Karte eines anderen ver-
schaffen, 2. den Kaufschein einer anderen Person fälschen, 3. Bier in
groen Mengen trinken, 4. die zuhause rechtmäßig angefertigten Weine
zenießen, 5. Wein bis 18 % Alkoholgehalt, der für ihn zugelassen ist, „in
unbegrenzter Menge“ kaufen und dadurch, daß er doppelt so viel Wein
trinkt, kann er sich genau dieselbe Menge Alkohol einverleiben, die in dem
iür ihn verbotenen Branntwein enthalten ist, 6. in die nächste Wirtschaft
gehen und verlangen, was er wünscht, 7. sich gegen Rezept von der
Apotheke reinen Alkohol verschaffen. Und schließlich kann der vom Einkauf
Ausgeschlossene 8. geschmuggelten oder heimlich hergestellten Alkohol
kaufen. Die Wirkungen des Brattsystems in Schweden haben gezeigt, daB
Hass an Akoh0! Ausgeschlossenen sind, die am meisten geschmuggelte
are kaufen.
Mit einem sichen Gesetz, wie es der Verbotsgegnerverein vorschlägt, ist
also der Volksnüchternheit schwerlich gedient. Das einzig gesunde und
völlig folgerichtige Gesetz ist ein Totalverbot. Es verbietet grundsätzlich
und tatsächlich jede Verwendung einer Ware zum Genuß, die für die
Gesundheit des Leibes nicht nötig ist, aber unerhörte Leiden und soziale
Schäden nach sich zieht. Die Durchführung eines Totalverbots fordert ein
persönliches Opfer von dem, der mehr oder weniger an Alkohol gewöhnt
is. Aber von einem guten Staatsbürger kann man verlangen, daß er seine
selbstischen Wünsche dem Wohl seiner Mitmenschen und des Staates opfert.
In den Landesresidenzstädten sollte die Monopolgesellschaft ohne
weiteres Verkaufsstellen einrichten dürfen, aber in den übrigen Städten
wurde das Einverständnis der Stadtverwaltung gefordert. Weshalb denn
diese Ungleichheit vor dem Gesetz? Die Antwort lautet: „Der Verkauf kann
eine Erhöhung der Ausgaben für Polizei verursachen und somit den Haushalt
der Stadt belasten“, aber „in den Landesresidenzen ist die Polizei stark
zenug, die bei Beginn des Alkoholverkaufs sich möglicherweise bietenden
Aufgaben zu erfüllen“. Diese Ueberlegung ist sehr bezeichnend für die
Arbeit des neuen Bundes für Volksnüchternheit. Die Hauptirage ist offen-
sichtlich nicht, inwieweit die Stadtverwaltung einen Verkauf alkoholischer
Getränke zuzulassen wünscht. Nein, alles wird zu einer rein wirtschaft-
136 Abhandlungen.
lichen Angelegenheit gemacht. Wenn die kleineren Städte nicht glauben,
daß sie die Mittel haben, um die Ausgaben für die Polizei zu erhöhen, so
können sie den Verkauf verbieten. Anders in den Landeshauptstädten. Dort
ist die Polizei für die neuen Aufgaben, Betrunkene in großer Zahl zu
verhaften usw. „stark genug“. In den Jahren des Verbots hat man eine
bedeutende Vermindung des Ordnungsdienstes durchführen können. Jetzt
befürchten die Verbotsgegner mit Recht eine neue Aufgabe tür die Polizei.
Viel einfacher wäre es freilich für den Volksnüchternheitsbund, den Versuch
zu machen, den Alkoholverbrauch einzuschränken. Denn dann brauchte
man nicht die Ausgaben für die Polizei zu erhöhen. Oder gibt es vielleicht
noch einen anderen Grund, warum man z.B. in Abo und Helsingfors, wo die
Mehrheit der Stadtbevollmächtigten Nüchternheitsausschüsse gebildet hat,
die Erlaubnis zur Eröffnung des Alkoholverkaufs nicht von einer Gemeinde-
abstimmung abhängig machen will? Befürchtet man eine Absage? Hat man
Angst, daß das Volk selbst die Volksnüchternheit verteidigen würde?
Am Schluß der Programmschrift findet sich eine Bemerkung, die
besondere Aufmerksamkeit verdient, nämlich daß anfangs mit einem
stärkeren Alkoholverbrauch zu rechnen sei, weil voraussichtlich zunächst
der Andrang zum Kauf geistiger Getränke größer sein werde. Andrang
zum Kauf? Wie in aller Welt kommen die Verbotsgegner dazu, einen solchen
Andrang und Mehrverbrauch zu prophezeihen? Die aufrichtige Erklärung wird
mit den Worten gegeben: „Teils beruht das auf der Macht der Reaktion, teils,
und vor allem, auf der bei der großen Menge ständig wiederkehrenden
Neigung, bei der ersten Gelegenheit möglichst große Mengen solcher Waren
zu kaufen, an denen früher Mangel war.‘ Wie die Verbotsfreunde mit
Genugtuung feststellen können, erkennt also sogar die Hauptvereinigung
der Verbotsgegner an, daß gegenwärtig ein Mangel an Alkohol fühlbar ist,
ja ein so großer Mangel, daß es einen „Andrang“, einen „beträchtlichen
Mehrverbrauch‘“ gäbe, wenn solche Getränke wieder verkauft würden.
Der Verbotsgegnerverein hat also vier Wege zur Volksnüchternheit
gezeigt: 1. Bier, da Wasser als genießbares Tischgetränk nicht angesehen
wird, 2. hausbereitete Weine, 3. Verkauf bis zu 2 Liter Branntwein, 8 Halb-
literflaschen Punsch usw. sowie Wein unter 18% in unbegrenzter Menge
und 4. Ausschank in Wirtschaften. In Wirklichkeit bedeutet das alles un-
beschränkte Möglichkeiten, geistige Getränke zu erhalten. Und das nennt
man dann ein Programm für Volksnüchternheit! Und welch ein ungeheurer
Apparat und welche Summen würden nicht für die Durchführung eines
solchen Programms gefordert werden müssen! Ein umfassendes Karten-
system für den Einkauf oder mit anderen Worten ein neues Zivilregister,
Amtsräume, Beamte, Hilfsarbeiter usw. Alles für die Volksnüchternheit,
die man viel einfacher dadurch erhalten kann, daß alle Bürger ein Gesetz
befolgen, das mit großer Mehrheit vom Reichstag angenommen worden ist.
Schlußwort.
Wir haben eingangs darauf hingewiesen, daß das Alkoholverbot in
Finnland nicht von einer Reihe Fanatiker durchgedrückt worden ist, wie
in der Presse behauptet wird, sondern daß es schon 1907 vom ersten Ein-
kammerlandtag angenommen wurde, der auf Grund des allgemeinen gleichen
Stimmrechts gewählt war, und daß es von nicht weniger als sieben darauf-
folgenden Landtagen und Reichstagen von neuem bestätigt wurde. Außer-
dem erinnerten wir daran, daß die Lage im Lande, als das Gesetz 1919
endlich in Kraft trat — um ein Wort Prof. A. R. Tigerstedts anzuwenden —,
„tür die Durchführung eines Alkoholverbots die denkbar ungünstigste war“.
Eine tatsächliche Durchführung des Gesetzes wurde seitdem weiter er-
schwert durch Schmuggelsprit, Rezeptalkohol und die rücksichtsiose Gegen-
arbeit eines Teils der Zeitungen, die nicht selten mit offenbaren Unwahr-
Stadius, Fünf Jahre Alkoholverbot in Finnland. 137
heiten arbeiten. Trotz alledem hat, wie die Statistik beweist, das Alkohol-
verbot gute Wirkungen. Die wirtschaftliche Lage des Landes ist einzig-
artig gut und auch auf mehreren anderen Gebieten haben sich die Verhält-
nisse gebessert. Die Vorschläge zu einem neuen Alkoholgesetz, die von
verschiedenen Seiten gemacht wurden, könnten ein besseres Ergebnis, als
es das Alkoholverbot erzielt, nicht gewährleisten.
Die Unzufriedenheit mit dem Alkoholverbot geht vor allem von den
bessergestellten Kreisen der größeren Städte aus, und darüber braucht
man sich nicht zu wundern. In der Zeit des Vierkammersystems, in der
wiederholt ein Antrag auf Einführung eines Verbots gestellt wurde, war es,
wie schon erwähnt, bald die Regel, daß der Piarrer- und Bauernstand das
Verbot forderte, während Riterschaft, Adel und Bürgerstand sich ablehnend
verhielten. Stadt wider Land. Die gesunde Lebensanschauung des flachen
Landes hat nie die künstlichen Alkoholfreuden der Städte recht verstehen
können, die sich oft in Trauer verwandelten. Gesundheit steht gegen Un-
gesundheit. Gerade die eingewurzelten und vererbten Alkoholsitten der
oberen Klassen, die von alkoholinteressierten Zeitungen eifrig verteidigt
werden, sind der HauptanlaßB zur Gesetzesübertretung. Die Vorbilder, die
von den gesellschaftlich Höherstehenden gegeben werden, üben ihren ent-
sittlichenden Einfluß auf die niederen Gesellschaftsklassen aus.
Weil das Verbot übertreten wird, fordert man dessen Aufhebung. Ja,
viele erklären, daß sie nicht einmal bis zur Aufhebung des Gesetzes zu
warten gedenken, sondern daß sie sich schon jetzt weigern, es zu befolgen.
Sie sagen frei heraus, daß sie das Gesetz aus Trotz brechen. Haben diese
Männer und Frauen der oberen Klassen auch bedacht, welche Folgen dieser
Trotz mit sich führen kann? Ist es anderen Bürgergruppen erlaubt, auf
dieselbe Weise mit den Gesetzen zu verfahren, die ihnen nicht gefallen?
Wo gibt es schließlich ein Gesetz, das nicht übertreten wird? Was be-
sonders das Alkoholgesetz betrifft, so liefert Schweden interessante Er-.
fahrungen. Der ursprüngliche und leitende Grundgedanke des Restriktions-
systems ist, wie bekannt, die Beaufsichtigung des Einzelnen. Wer unmäßig
trinkt, erhält bekanntlich nach diesem Beschränkungssystem kein Einkaufs-
buch, während die Mäßigen jeden Monat eine gewisse Menge Alkohol kaufen
können. Nun hat sich indessen gezeigt, daß gerade die Leute ohne Bücher
am meisten trinken, denn die verschaffen sich Schmuggelsprit. Die Be-
schränkung, die man mit dem Rationierungsverfahren erreichen wollte, hat
ihre Wirkung verfehlt. Wer größere Mengen als die erlaubten zu trinken
wünscht, findet Gelegenheit genug, heimlich Einkaufsbücher zu erhandeln.
Was für ein Alkoholgesetz ein Land auch haben mag, es wird immer ein
gewisser Prozentsatz von Uebertretungen vorkommen, bis die Erziehung
der Bürger so geworden ist, daß man jedes gültige Gesetz achtet.
Man erklärt auch, der Trotz gegen das Alkoholverbot sei ein Protest
gegen einen rohen Eingriff in die persönliche Freiheit. Indes, es gibt kein
Kulturland, wo die persönliche Freiheit nicht beschränkt wäre. Das ist eine
notwendige soziale Schutzmaßnahme, und die gleiche gesellschaftserhaltende
Aufgabe hat auch das Alkoholverbot. Habe ich meine persönliche Freiheit,
um ein Alkoholgesetz zu brechen, so habe: ich wohl auch die Freiheit, z. B.
ein Steuergesetz zu brechen, d. h. meine Schulden nicht zu bezahlen. Welch
ein Durcheinander gäbe das in der Gesellschaft, wenn eine solche Miß-
achtung der Gesetze allgemein würde und von den überwachenden Be-
amten schweigend geduldet würde! Der Grundsatz des Verbotes ist uralt
und kann unmöglich in einer geschlossenen Gemeinschaft entbehrt werden.
Schon bei der ersten Kindererziehung zuhause spielt das „du darfst nicht‘
eine große Rolle, und der erste Religionsunterricht in der Schule kommt
mit den Worten der zehn Gebote „du sollst nicht“. Das Strafgesetz und
die Polizeiordnung enthalten eine Menge Verbote. Sowohl das Gotenburger
wie das Brattsystem sind in ihren Beschränkungen des Alkoholhandels zum
großen Teil Verbote. Sogar wenn man in einen Straßenbahnwagen ein-
138 Abhandlungen.
steigt, begegnet man Verboten. Da ist verboten zu rauchen, zu spucken,
Hunde mitzunehmen, ungeschützte Hutnadeln zu tragen, mit dem Führer
zu sprechen, abzuspringen, wenn der Wagen in Fahrt ist usw. Mindestens
ein halbes Dutzend Verbote in einem Straßenbahnwagen, ein halbes Dutzend
rohe Eingriffe in die persönliche Freiheit! Soll man das Verbot, eine noch
nicht tragfähige Eisfläche zu betreten, aufheben, weil es doch umgangen
wird? Soll man bei herrschenden Epidemien die Verbote der Gesundheits-
polizei, bei Tollwut die Hundesperre aufheben? Die Fragen können ver-
vielfacht werden. Die natürlichste Antwort ist, daß man Schutzmaßnahmen
in Form von Verboten ergreifen soll, wenn das Wohl der Gesellschaft be-
droht ist und daß Ansichten und Wille des Einzelnen sich den Interessen
des Ganzen unterordnen müssen.
Wer mit dem Gedanken an die Volksnüchternheit Sturm gegen das
Alkoholverbot läuft, möge auf die Frage Antwort geben: Wie wären jetzt
die Verhältnisse in unserem Lande, wenn wir in den letzten fünf Jahren
kein Alkoholverbot gehabt hätten? Nach den schauerlichen Blut- und
Hungerszenen der Aufstandszeit gaben sich sehr viele Menschen einem un-
gezügelten Vergnügungsleben hin, das von dem starken Geldzustrom ge-
fördert wurde. Denkt man ferner an die entsittlichenden Wirkungen des
Weltkrieges auf vielen Gebieten, so kann man sich leicht die fürchterlichen
Verwüstungen vorstellen, die eine Alkoholüberschwemmung mit sich ge-
bracht hätte. Wenn man das Alkoholverbot mit Schleusentoren vergleicht,
die einen mächtigen Zufluß verhindern wollen, so kann wohl nicht bestritten
werden, daß es hie und da Spalten gibt, durch die sich ein kleiner Teil der
zurückgehaltenen Flut durchdrängen kann. Es würde aber keinem Schleusen-
wärter einfallen, wegen solcher Mängel, die ausgebessert werden können,
die Schleusentore zu öffnen oder völlig wegzunehmen.
Bedeutsame behördliche Maßnahmen
mit Bezug auf den Alkohol. (XXXV.)
Zusammengestellt von Dr. J. Flaig*).
Die württembergische Regierung gegen gewerbsmäßigen Alkoholverkauf
j auf Heimstättengrundstücken.
In Vollzug des Reichs-Heimstättengesetzes und der Kleingarten- und
Kleinpachtordnung haben die württembergischen Ministerien der Justiz und
des Innern, sowie das Arbeitsministerium bestimmt, daß in jedem nach dem
6. Februar abzuschließenden Heimstättenvertrag eine Bestimmung des In-
halts aufzunehmen ist: „Auf einem Grundstück, das nach dem 6. Februar
1925 als Heimstätte ausgegeben wird oder auf andere Weise die Eigen-
schaft als Heimstätte erlangt, darfkeingewerbsmäßiger Verkauf
alkoholischer Getränke stattfinden. Handelt der Heimstätter dem
Verbot zuwider und setzt er dieses Verhalten trotz schriftlicher beifristeter
Mahnung fort, so kann der Ausgeber der Heimstätte verlangen, daß diese
ihm übertragen wird. Macht bei einer Heimstätte, deren Ausgeber weder
das Reich noch der württembergische Staat ist, der Ausgeber von der
Befugnis keinen Gebrauch, so kann das Ministerium des Innern verlangen,
daß die Heimstätte einem von diesem zu bezeichnenden Dritten gegen
Zahlung ihres Wertes übertragen wird.“
*
Der preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung
zur Frage des Nüchternheitsunterrichts.
Der Minister hat unter dem 27. Januar den Provinzialschulkollegien und
Regierungen ein Schreiben der „Zentrale für Nüchternheitsunterricht‘“ und
3) Im übrigen siehe jeweils auch unter „Chronik®!
Flaig, Bedeutsame behördliche Maßnahmen mit Bezug auf den Alkohol. (XXXV.) 139
des Deutschen Bundes enthaltsamer Erzieher mit dem Ersuchen um
Stellungnahme zur Kenntnis gegeben, worin auf die Notwendigkeit hin-
gewiesen wird. dem stetig wachsenden Alkoholismus unseres Volkes schon
bei der Erziehung der Jugend einen Schutzdamm entgegenzustellen. Wo
das nicht im planmäßigen Unterricht gründlich und erfolgreich geschehen
könne, weil nicht überall die geeigneten Lehrkräfte für diese Aufgabe vor-
banden seien, so heißt es in jener Eingabe, müsse aushelfend der Wander-
unterricht eintreten. Die genannte Zentrale hat hierfür Richtlinien
aufgestellt, aus denen der „Amtliche Preußische Pressedienst‘ einiges
mitteilt.
Nüchternheitsunterricht in den Schulen des Landes Lippe.
Die Lippische Oberschulbehörde (Detmold) hat im November v. J.
eine Bekanntmachung erlassen, in der es heißt: „In unserer ernsten Zeit
erweist sich die Bekämpfung des Alkohols besonders notwendig. Die
Schule ist berufen, das heranwachsende Geschlecht vor den ungeheuren
Geiahren des Alkoholgenusses in gesundheitlicher und sittlicher Beziehung
zu warnen. Wir halten es deshalb für wichtig, daß im Unterricht immer
wieder aufklärend und belehrend nach dieser Seite hin gewirkt werde.“
Es wurde daher Nüchternheits-Wanderunterricht durch eine frühere Lyzeal-
lehrerin in allen Schulen des Landes nach Vereinbarung mit der Lehrer-
schait genehmigt, und diese ersucht, solche Belehrung und Aufklärung zu
ermöglichen und zu fördern.
Das Mecklenburg-Schwerin’sche Unterrichtsministerium zur Bekämpfung des
Alkoholmißbrauchs in der Schule.
Auf eine Eingabe der Mecklenburgischen Arbeitsgemeinschaft für
Nüchternheitsunterricht auf Einführung solchen Unterrichts in den Schulen
ist vom Ministerium folgende Antwort ergangen (anscheinend Januar d. J.):
„Die Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs erscheint auch hier als ge-
boten. In den Lehrerbildungsanstalten des Landes sind dem-
gemäß ständig entsprechende Belehrungen und Anleitungen für die Schul-
praxis erteilt worden. Auch die Lehrerandenhöheren Schulen
werden während ihrer Ausbildungszeit auf die Wichtigkeit der Alkohol-
bekämpfung hingewiesen. In den Schulen bieten der naturkundliche
Unterricht und die Gesundheitspflege ausgiebig Gelegenheit
zur Aufklärung. Neben den bezüglichen ordentlichen Schulstunden noch
einen besonderen Nüchternheitsunterricht durch Wanderredner erteilen zu
lassen, muß hier im allgemeinen als schwierig erscheinen. Es sind dafür
bestimmte Geldmittel notwendig. Beauftragte Wanderredner kennen durch-
wez die Ortsverhältnisse und den Gesichtskreis der Schüler nicht so wie
der Klassenlehrer. Die besonderen Stunden können nur außerhalb der
regelmäßigen Unterrichtszeit erteilt werden. Die Teilnahme der Kinder
muß eine freiwillige bleiben usw. Auch kann sich das Ministerium von
einem Unterricht durch Wanderlehrer keinen wirklichen Erfolg versprechen.
Die nötige Aufklärung und Belehrung wird besser und wirkungs-
voller innerhalb des lehrplanmäßigen Unterrichts bei
sich bietender Gelegenheit von den den Schülern vertrauten Lehrern ge-
schehen. Sollten keine Geldmittel vorhanden sein, so dürfte sich die Ver-
teilung von geeigneten Schriftstücken in erster Linie empfehlen.“
Erlaß des Schleswig-holsteinischen Evang.-luther. Landeskirchenamts
vom 6. Dezember 1924 betr. Warnung der Konfirmanden vor dem Alkohol.
„Unter Bezugnahme auf unsere Bekanntmachung vom 15. September
1922 über die Bekämpfung des Alkoholismus nehmen wir Gelegenheit, bei
Beginn des Konfirmandenunterrichts die Herren Geistlichen erneut auf die
überaus ernste Frage hinzuweisen. Wir halten es für dringend geboten,
daß die Konfirmanden eindringlich vor den schweren Gefahren gewarnt
werden, die gerade der Jugend durch den Alkohol drohen, und empfehlen
140 Abhandlungen.
den Herren Geistlichen, sich selbst eingehend mit der Frage zu beschäf-
tigen, um eine auf Sachkenntnis beruhende Aufklärung bieten zu können.“
— Es wird dann die Verteilung einer geeigneten Schrift (Störmer, „Was
jedermann vom Alkohol wissen muß“) an die Konfirmanden, „etwa kurz
vor ihrer Einsegnung“, empfohlen ')
Schritte zweier Jugendämter für alkoholfreie Erziehung ihrer Pileglinge.
1. Das Aachener Jugendamt erhob unter dem 14. November An-
regungen im obigen Sinne, die von dem dortigen Bezirksverein gegen den
Alkoholismus usf. ergangen waren, als „Anträge auf gesunde Erziehung
‘der von der Stadt betreuten Zöglinge“ in folgender Gestalt zum Beschluß:
„l. Das Gesundheitsfürsorgeamt hat den Leitungen der städtischen
Anstalten zur Pilicht zu machen, daß sie den in den Anstalten ver-
pflegten Jugendlichen im Sinne des Reichs-Jugendwohlfahrtsgesetzes
weder Alkohol, nochalkoholhaltige Süßigkeiten, noclı
Tabak, Zigarren oder Zigaretten verabreichen oder verab-
reichen lassen.
2. Die unter 1. bezeichnete Maßnahme soll den Vorständen der pri-
vaten Anstalten dringend empfohlen werden, und zwar von der-
jenigen ‘Stelle, die die Ueberweisung vorgenommen hat.“
(Der Regierungspräsident hatte entschieden, daß aus den Bestimmungen
zur Regelung der Pflegekinderaufsicht, die für den Regierungsbezirk auf
Grund des Reichs-Jugendwohlfahrtsgesetzes und der preußischen Aus-
führungsbestimmungen dazu erlassen sind, keine Bedenken gegen die Ab-
zielung jener Anträge vorlägen, allerdings den Vorständen der privaten
Anstalten die Berücksichtigung derselben nicht zur Pflicht gemacht, sondern
nur empfohlen werden könne.)
Inzwischen wurde nun noch beschlossen: 1. auch allen privaten
Pflegepersonen dringend zu empfehlen, daß sie ihren jugendlichen
Pileglingen weder alkoholische Getränke oder Süßigkeiten, noch Rauch-
waren verabreichen oder verabreichen lassen; 2. den Mitteilungen über die
Erteilung der Erlaubnis zum Halten eines Pflegekindes Flugblätter des
Deutschen Vereins gegen den Alkoholismus beizugeben.
2. Der Rat zu Dresden, Jugendamt, hat unterm 21. November an
sämtliche städtischen Kinderfürsorgeanstalten, Jugendpflegerinnen, Säug-
lingsschwestern und Fürsorgerinnen, die Abteilung für Landpflegekolonien
und die Kolonieleiter, alle Vereine für Kinderfürsorge usw. nachstehendes
Rundschreiben gerichtet:
„Das Jugendamt zu Dresden hat von jeher besonderen Wert darauf
gelegt, daB alle unter seiner Aufsicht stehenden Kinder völligalkohol-
frei erzogen werden. Es hat diesen Grundsatz vor allem auch in seiner
Anweisung zur Kinderpflege, die jede Pfilegemutter und jede Mutter eines
unehelichen Kindes erhält, die ihr Kind selbst verpflegt, dadurch zum Aus-
druck gebracht, daß es dort heißt: „Alle alkoholhaltigen Ge-
tränke sind für Kinder Gift.“ In Befolgung dieses Grundsatzes
muß in allen dem Jugendamt unterstehenden Kinderanstalten und Kinder-
heimen streng darauf geachtet werden, daß die Kinder keinen Alkohol,
sei es in irgendwelcher Form, erhalten.
Da trotz aller Aufklärung in weiten Kreisen große Unkenntnis über die
Gefahren des Alkoholgenusses für Kinder und Jugendliche besteht, wird
dringend ersucht, streng darauf zu achten, daß alle Pfleglinge und Zöglinge
des Jugendamtes völlig alkoholfrei erzogen werden. Die Organe des
Jugendamtes wollen auch jede Gelegenheit benützen, die sich ihnen bei
den Verhandlungen und Besprechungen mit Pflegemüttern und den leib-
lichen Eltern ihrer Pilegebefohlenen bietet, diese auf die Gefahren des
1) Vielfach werden auch dafür verwendet und haten sich dafür bewährt: Bode, Der
größte Betrüger; Georg, Für Volksgesundheit und Volkswohl, etwa auch Nr. 1i und 3 der er-
zählenden „Büchlein zum Weitergeben“ (Verlag „Auf der Wacht“, Berlin-Dahlem),
Flaig, Bedeutsame behördliche Maßnahmen mit Bezug auf den Alkohol. (XXXV.) 141
Alkohols für die Jugend aufmerksam zu machen, und so zu ihrem Teile
auf eine alkoholfreie Erziehung unserer Jugend hinwirken.
Pflegeverhältnissen, bei denen der Verdacht besteht, daß die Pflege-
kinder Alkohol erhalten, ist besondere Aufmerksamkeit zu widmen; dem
Amte ist, wenn sich der Verdacht bestätigt, Anzeige zu erstatten, damit
nach Befinden ein Pflegewechsel herbeigeführt werden kann.“
k
Wohliahrtspflegegesetz und Bekämpfung der Alkoholnot. Das neue
sächsische Wohliahrtspflegegesetz, das am 1. April d. J. in Kraft getreten
ist, bezieht in die Pflichtaufgaben der öffentlichen Wohlfahrtspflege auch
„die Bekämpfung des Alkoholismus und die Trinkerfürsorge‘ mit ein. Der
Landesfürsorgeverband (der Staat) hat u. a. dafür zu sorgen, daß zur
Unterbringung von Trinkern den Bezirksfürsorgeverbänden ausreichend
öffentliche und private Anstalten zur Verfügung stehen. Für die wichtig-
sten Zweige der Wohlfahrtspflege (also wohl auch für die Alkoholfrage)
müssen ehrenamtliche Fachausschüsse gebildet werden, die dem Landes-
Wohlfahrts- und -Jugendamt als sachkundige Berater dienen. (Das
Arbeits- und Wohlfahrtsministerium hat im Einvernehmen mit den be-
teiligten Ministerien die erforderlichen Ausführungsbestimmungen zu treffen.)
k
Verfügung des Regierungspräsidenten in Lüneburg vom 14. Januar d. J.
betr. Bekämpfung des Alkoholismus.
I
Der Regierungspräsident (Herr Krüger) nimmt im Verfolg und in Er-
<änzung seiner Verfügung vom 2. August v. J. „Veranlassung, die Herren
Oberbürgermeister und Landräte dringlich zu ersuchen, der Bekämpfung
des Alkoholismus ihre persönliche Aufmerksamkeit zuzuwenden. Ich bin
überzeugt davon, daß sich bei allen beteiligten Stellen, je länger und ein-
gehender die Beschäftigung mit dieser Materie dauert, die Einsicht immer
mehr durchsetzen wird, welche furchtbare Gefahr der zweifellos jetzt
wieder zunehmende Alkoholgenuß für das deutsche Volk in allen seinen
Ständen bedeutet, und daß alles daran gesetzt werden muß, ihn einzu-
dämmen in einer Zeit, in der es mehr als je darauf ankommt, alle Kräfte
des Volkes zu gemeinsamer Aufbauarbeit zusammenzufassen.
II.
Nach den mir vorliegenden Berichten hat der übertriebene Alkohol-
genuß vor allen Dingen in den Städten, aber auch in vielen ländlichen
Bezirken stark zugenommen. Insbesondere hat bei besonderen Veran-
lassungen, wie Schützenfesten, Sportiesten, Turnfesten und Tanzlustbar-
keiten der Alkoholgenuß, insbesondere das Schnapstrinken, auch auf dem
Lande einen bedauerlichen Umfang angenommen. Es besteht daher für alle
verantwortlichen Stellen, sowohl in den Städten wie in den Landkreisen,
die dringende Notwendigkeit, alle Kräfte im Kampf gegen den Alkoholgenuß
zusammenzufassen.
... Solange aber die gesellschaftlich führenden Kreise bei ihren Veranstal-
tungen dem Alkoholgenuß einen derartig breiten Raum gewähren, wie
bisher, wird auch die Bekämpfung des Alkoholgenusses in den unteren
Schichten sehr schwierig bleiben. Daher muß auch in diesen Kreisen das
Bewußtsein erweckt werden, daß ihr Beispiel von allergrößter Bedeutung
für die Lebensführung des gesamten Volkes ist.
II.
Die bisherigen Erfahrungen und die in den Berichten enthaltenen Vor-
schläge zeigen, daß die wirksame Arbeit zur Eindämmung der Alkohol-
gefahr sich vorzugsweise in folgenden Richtungen zu bewegen hat:
142 Abhandlungen.
: a s der Bevölkerung, insbesondere bei der Erziehung der
ugend.
. Förderung alkoholfreier Veranstaltungen, insbesondere für die Jugend,
Einrichtung von Jugendheimen +) usw.
. Strenge Handhabung der bestehenden Vorschriften gegen den Alkohol-
mißbrauch. |
. Fürsorge und Rettung der durch Alkoholmißbrauch gefährdeten
Personen.
Im einzelnen gebe ich hier folgende Anregungen:
Zu A.
Aufklärung über die Alkoholgefahren.
1. Bei der Bekämpfung können behördliche Maßnahmen unmitteibar
nur eine verhältnismäßig geringe Rolle spielen.
Wirkliche Erfolge können nur von der tätigen und aufrichtigen Mit-
arbeit aller Volkskreise erwartet werden. Daher bitte ich, allen Nachdruck
auf sachgemäße Aufklärung der Bevölkerung in allen ihren Schichten zu
legen. i
Hierbei müssen planmäßig alle Organisationen und Einzelpersonen zu
tatkräftiger Mitarbeit herangezogen werden, von denen irgend ein ge-
deihlicher Einfluß zu erwarten ist. Das gilt zunächst von den Organi-
sationen, welche besonders der Bekämpfung des Alkohols dienen, ins-
besondere also z. B. von den Guttemplerlogen, den kirchlichen und
nichtkirchlichen Blaukreuzvereinen u. dgl.
Man wird auch gewiß auf die Mitarbeit der Geistlichen sämtlicher
Religionen und Konfessionen, der Aerzte sowie der Lehrer aller
Schulen rechnen dürfen. Weiter muß versucht werden, alle die Berufs-
organisationen von der Bedeutung des Kampfes gegen den Alkohol zu
überzeugen, die erfahrungsgemäß einen großen Teil der Bevölkerung zu-
sammenfassen. Ich nenne hier die verschiedenen Gewerkschaften
der Beamten, der Angestellten und der Arbeiter sowie sonstige Berufs-
vereinigungen aller Art.
2. In den Dienst der allgemeinen Volksaufklärung muß insbesondere
bereits die Erziehung der Jugend in allen Schulen gestellt werden. Es
wird den Lehrern besonders auch an den Fortbildungsschulen und
Fachschulen aller Art zur Pflicht zu machen sein, bei jeder Gelegen-
heit entsprechende Belehrungen zu geben. |
Da aber die beste Aufklärung und Belehrung der Jugend noch immer
durch die Eltern erfolgt, leider aber die Eltern selbst noch recht häufig
einer solchen bedürfen, so ist auf deren Belehrung bei Elternabenden be-
sonderes Gewicht zu legen. Zwar besteht zurzeit — im Gegensatz zu den
höheren Schulen — bei den Volksschulen nur ein recht geringes Interesse
der Eltern an solchen Abenden. Die Belebung dieser Veranstaltungen wird
daher allen Beteiligten ans Herz zu legen sein. Die Schulärzte dürften
hier die geeigneten Vortragenden sein.
3. Ich lege auch Gewicht darauf, daß auf den Bezirkslehrer-
konferenzen und den Versammlungen der Schulräte die
Frage, in welcher Weise am zweckmäßigsten im Sinne vorstehender An-
regungen verfahren werden soll, wiederholt eingehend behandelt wird und
Erfahrungen darüber ausgetauscht werden ?). Gute Dienste können auch
die Wanderausstellungen der verschiedenen Vereinigungen gegen
den Alkoholismus leisten, die bereits einigemale im Regierungsbezirk Lüne-
burg veranstaltet worden sind (z. B. von dem Guttemplerverein Harburg
und der Stadt Celle).
H Das Wort „alxoholfrei“ bezieht sich selbstverständlich auch auf die Jugendheime. D. Ber.
”) Es wurde denn auch bereits die amtliche Schulräteversammiung mit der Frage der
Bekämpfung des Alkoholismus in und seitens der Schule befaßt. Dabei wurde den beteiligten
Herren ein Verzeichnis der einschlägigen Schriften und Bildwerke überreicht. D. Ber.
oO 0 U >»
Flaig, Bedeutsame behördliche Maßnahmen mit Bezug auf den Alkohol. (XXXV.) 143
4. Weiter ist die Einrichtung von Fabrikvorträgen angeregt
worden. Solche Veranstaltungen treffen zwar noch auf Schwierigkeiten
bei den Arbeitgebern, wenn die Vorträge während der Arbeitszeit statt-
finden, während die Arbeitnehmer nach der Arbeitszeit schwer zu haben
sind. Es wird zu versuchen sein, durch Herantreten an die Handels-
kammern, die Unternehmerorganisationen usw. einerseits, an die Arbeit-
nehmerorganisationen, Spitzenorganisationen der Gewerkschaften usw.
andererseits hier einen das Interesse der Sache fördernden Ausgleich zu
erstreben. Ich ersuche namentlich die Herren Gewerberäte, in diesem
Sinne ihren Einfluß geltend zu machen. Den Unternehmern gegenüber
kann darauf hingewiesen werden, daß regelmäßiger wie übermäßiger
Alkoholgenuß die Leistungsfähigkeit der Arbeiter herabsetzt
und nicht selten die Sicherheit der Betriebe gefährdet.
5. Wenn ich mir auch keineswegs die Schwierigkeiten verhehle, die den
Bemühungen entgegenstehen, die Tagespresse zur Propaganda heran-
zuziehen, so empfehle ich doch Versuche. Kleine populär-medizinische
Aufsätze, in die Aufklärungen über die Alkoholgefahr leicht hineinverarbeitet
werden können, werden erfahrungsgemäß von marchen Blättern gern auf-
genommen. Ich nehme an, daß die Herren Kreisärzte gelegentlich
diesem Hinweis stattgegeben werden.
6. Geeignetes Material wird die Reichshauptstelle gegen den Alkoholis-
mus (Geschäftsstelle Berlin-Dahlem, Werderstraße 16) gern zur Verfügung
stellen.
Zu B.
1. Einer praktischen Vorbeugung dient in hohem Maße die Ver-
mehrung und alkoholfreie Gestaltung von Herbergen, Jugend-
heimen und ähnlichen Einrichtungen, die als Versammlungsräume wie
als Uebernachtungsstätten für auswärtige Wanderer dienen und die Jugend
vom Besuch der Gastwirtschaften abhalten.
Es empfiehlt sich, in allen diesen Räumen Plakate usw. anzubringen,
in denen in angemessener Form auf die Gefahren des Alkohols und die Not-
wendigkeit seiner Bekämpfung hingewiesen wird. Auch solche Plakate
usw. sind bei der vorgenannten Hauptstelle zu erhalten.
2. Ebenso ist die Förderung sportlicher Veranstaltungen,
Wettkämpfe und Volksfeste im Auge zu behalten, deren wirk-
liches Gelingen nur ohne Alkoholgenuß denkbar ist. Erfreulicher-
weise regen sich hier in der Jugend verheißungsvolle Bestrebungen zur
Leberwindung der alten Trinkunsitten. Es gilt, diese neuen Fornien der
Geselligkeit. die sich hier herausbilden, behutsam zu unterstützen und
weiter zu fördern.
3. Ich habe aus den Berichten mit Befriedigung entnommen, daß bereits
ein Teil der Turn- und Sportvereine bei seinen Veranstaltungen
denAlkoholgenußvölligvermeidetoderihn wesentlich
einschränkt.
Andererseits sind mir auch bedauerliche Fälle vorgetragen, in denen
behördlich unterstützte Turnvereine ihre Ausflüge mit Gelagen beendeten.
Das muß in Zukunft vermieden werden.
Ich ordne daher hierdurch an, daß aus den staatlichen Mitteln für
Jugendpflege nur solche Vereine und Veranstaltungen unterstützt werden,
bei denen wirksame Garantien gegen den Alkoholmißbrauch in jedem ein-
zelnen Falle gegeben sind.
Veranstaltungen, bei denen überhaupt kein Alkohol genossen wird,
sind vor anderen zu bevorzugen.
Bei jeder einzelnen Bewilligung ist aktenkundig zu machen, wie dieser
Vorschrift genügt worden ist. Ich ersuche, durch die Kreisjugrendpfleger
die Innehaltung der Bedingungen genau zu kontrollieren und Vereine, die
die Bedingungen nicht innehalten, für die Zukunft von staatlichen Unter-
stützungen rücksichtslos auszuschließen.
144 Abhandlungen.
Ich behalte mir vor, gelegentlich die Befolgung dieser Anordnung durch
Besuche des Bezirksjugendpflegers bei den einzelnen Veranstaltungen sowie
durch Einsichtnahme in die dort geführten Akten nachzuprüfen.
Dasselbe gilt für die Verwendung der mir jährlich zur Verfügung über-
wiesenen Beihilfen zur Bekämpfung des Alkoholismus,
welche künftig gerade diesen Zweig der alkoholgegnerischen Arbeit be-
sonders unterstützen sollen.
5. Die Jugendpfleger ersuche ich besonders darauf iinzuweisen.
daß von ihrer aufrichtigen Mitarbeit ein wesentlicher Teil des Erfolges ab-
hängig sein wird.
6. Daß den Blaukreuz- und ähnlichen Enthaltsamkeits-
vereinen sowie den Guttemplerlogen, die alles aufbieten, um
den Enthaltsamkeitsgedanken in weite Kreise der Bevölkerung zu tragen,
Betätigungserleichterungen soweit als möglich gewährt wer-
den, setze ich als selbstverständlich voraus. |
Zu C.
1. Die Gelegenheiten zum Alkoholgenuß sind einzu-
schränken.
‘ Hier muß der durch die Gesetzgebung begründete behördliche
Einfluß mit allem Nachdruck ausgeübt werden. Einmal müssen die
Kreis-(Stadt-)Ausschüsse bzw. die Ortspolizeibehörden
die Vorschriften des Artikels I des Notgesetzes vom 24. Februar 1923
(RGBI, I S. 147) und die dazu ergangenen Ausführungsbestimmungen, ins-
besondere des Min.-Erl. vom 20. VI. 1923 (M.-Bi. f. d. i. V. S. 701) bei
Anträgen auf Gewährung von Konzessionen für Schankwirtschaften oder
den Kleinhandel mit Spirituosen genau beachten.
Ich ordne hiermit an, daß die Ortspolizeibehörden vor der Stellung-
nahme zu jedem derartigen Gesuch den zuständigen Kreis- (Stadt-
Medizinalrat sowie das zuständige Kreis-(Stadt-)Wohl-
fahrtsamt und außerdem in den Orten und Bezirken, für welche
alkoholgegnerische Vereine und Organisationen be-
stehen, diese Organisationen gutachtlich über die Bedürfnis-
frage hören.
Bestehen am Orte oder im Kreise Organisationen der Gastwirte, so
ist nichts dagegen zu erinnern, wenn sie ebenfalls gehört werden.
Wollen die alkoholgegnerischen Vereine die Bedürfnisfrage durch
freiwillige Probeabstimmung der Bevölkerung klären,
so ist diesem Wunsche stattzugeben und die Abstimmung selbst
in jeder Weise zu unterstützen, namentlich auch hinsichtlich
der einwandfreien Feststellung ihres Ergebnisses. Die Abstimmung selbst
ist Sache der betreffenden Vereine. Ich verweise hierzu auf die Zeitschrift
„Die Alkoholfrage‘“ 1922, Heft 5/6 S. 279.
Sämtliche Gutachten sind dem Kreis-(Stadt-)Ausschuß bzw. Magistrat
mit der Aeußerung der Ortspolizeibehörde vorzulegen.
2. Für die Konzessionserteilung muß der Grundsatz gelten,
daß augenblicklich mehr wie genug Schank- und Verkaufsstellen für
Alkohol vorhanden sind. Die Genehmigung neuer Wirtschaften
und Verkaufsstellen ist daher mangels Bedürfnisses künftig regel-
mäßig abzulehnen. Ich mache den Ortspolizeibehörden erneut zur
Pflicht, in den Fällen, in denen der Kreis-(Stadt-)Ausschuß bzw. Magistrat
entgegen ihrer Stellungnahme die Konzession erteilt, im öffentlichen Interesse
an einzulegen (vergl. Erl. vom 2. IX. 22 — II. E. 687 — Min.-Bl.
3. Ebenso sind Konzessionen rücksichtslos zu entziehen, wenn den
Inhabern Zuwiderhandlungen gegen die gesetzlichen Bestimmungen nach-
zuweisen sind.
Flaig, Bedeutsame behördliche Maßnahmen mit Bezug auf den Alkohol, (XXXV.) 145
4. Bei Erlaubniserteilungen zum Alkoholausschank bei Jahrmärkten,
Volksfesten usw. auf Grund des $ 42a Abs. 3 RGO. ist ebenfalls bei
der Beurteilung der Bedürfnisfrage der strengste Maßstab anzulegen.
5. Die zahlreichen Festlichkeiten der Vereine leisten dem
Genuß alkoholischer Getränke weitgehend Vorschub. Deshalb ist die
Erlaubniserteilung zu solchen — soweit sie erforderlich ist — überall stark
einzuschränken; es sollten im allgemeinen nur noch die althergebrachten
Feste genehmigt werden. Dabei ist auf gleichmäßige Behandlung aller
Bevölkerungskreise besonders Bedacht zu nehmen.
6. Die Innehaltung der Polizeistunde ist besonders bei
Vereinsiestlichkeiten und öffentlichen Tanzlustbarkeiten allen mit der Auf-
sicht betrauten Polizeibeamten zur strengsten Pflicht zu machen. Die Land-
jäger und die sonstigen Polizeibeamten sind regelmäßig auf die Bedeutung
dieser Vorschriften und die Notwendigkeit ihrer Durchführung im Gesamt-
interesse hinzuweisen. Es muß erreicht werden, daß sie innerlich davon
durchdrungen sind und aus wahrem Interesse an der Sache für die strenge
Anwendung der Bestimmungen eintreten.
7. Auch ist darauf Bedacht zu nehmen, daß bei Veranstaltungen, die
erfahrungsgemäß zu übermäßigem Alkoholkonsum Veranlassung geben,
z. B. bei Märkten usw., Gelegenheit zum Genußalkoholfreier
Getränke geboten wird.
8. Ferner verdienen Einrichtungen zur Verabreichung
alkoholfreier Getränke in größeren Industrieunterneh-
mungen jede Förderung. Ich bitte, dieserhalb, soweit erforderlich, an
die größeren Unternehmungen heranzutreten.
9 Die Schankerlaubnissteuer für alkoholfreie
Schankstätten wird zu erlassen oder doch möglichst niedrig zu
bemessen sein (vergl. $ 6 des Musters zur Schankkonzessionssteuerordnung
— Min.-Bl. f. d. i. V. 1906 S. 277).
Zu D.
1. Trinkerfürsorgestellen müssen in den größeren Städten
mit Unterstützung der Magistrate unbedingt eingerichtet werden. Es ist
bedauerlich, daß solche z. Zt. in Harburg und Lüneburg nicht bestehen.
Ueberall muß die Mitarbeit der alkoholgegnerischen' Ver-
eine gesichert sein. Die Tätigkeit der behördlichen Fürsorgestellen
oder, wo solche nicht notwendig sind, wie auf dem Lande, die Tätigkeit
der alkoholgegnerischen Vereine ist auf jede Weise zu unterstützen und zu
fördern. Handelt es sich hier auch um einen, günstigstenfalls nur Einzel-
eriolge erzielenden Kleinkampf, so ist doch dieser keineswegs zu unter-
schātzen. Mit der Rettung des einzelnen Trinkers ist bekanntlich häufig
genug auch die Wiederaufrichtung ganzer zerrütteter Fa-
milien und die Beseitigung schweren wirtschaftlichen
und sittlichen Elends verknüpft.
2. Die Behörden dürfen sich nicht damit begnügen, Trunkenbolde auf
die Säuferliste zu setzen, sondern müssen schon vorher, sobald ihnen die
Neigung bestimmter Personen zu übermäßigem Alkoholgenuß bekannt wird,
ihre Namen den alkoholgegnerischen Vereinen mitteilen.
IV.
Die Leitung aller Maßnahmen wird zweckmäßig den Wohlfahrts-
ämtern der Städte und Landkreise übertragen werden, wie das
mehrfach bereits. geschehen zu sein scheint.
Im Landkreis Lüneburg hat sich die Mitarbeit örtlicher Wohliahrts-
ausschüsse besonders bewährt.
Ich ersuche jedoch die Herren Oberbürgermeister und Landräte auf
Grund der vorstehenden Richtlinien, persönlich mit allen in Betracht kom-
menden Behörden, Organisationen und Einzelpersönlichkeiten (z. B. Geist-
lichen, Schulräten, Aerzien ihres Bezirks) eingehend zu beraten, welche
Die Alkoholfrage, 1925 10
146 Abhandlungen.
Maßnahmen nach den besonderen örtlichen Verhältnissen notwendig und
zweckmäßig erscheinen.
In anderen Bezirken haben Kreise und Städte vielfach in die Etats be-
sondere Fonds zur Bekämpfung des Alkoholismus eingesetzt,
etwa 10 bis 20 Pfennige auf den Kopf der Bevölkerung Solche Aufwen-
dungen pflegen sich durch Ersparnisse bei der Armenpflege wieder be-
zahlt zu machen. Ich ersuche auch, auf ähnliches Vorgehen hier Bedacht
zu nehmen. Der Fonds wird in erster Linie dazu zu verwenden sein, daß
die Städte und Kreise die Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus (Ge-
schäftsstelle Berlin-Dahlem, Werderstraße 16) unterstützen, aufxklä-
rende Drucksachen beziehen und diese den interessierten Stellen zu-
gänglich machen. Auch Merkblätter usw. werden aus diesem Fonds
zu bezahlen sein, ebenso etwaige Kosten für aufklärende Vor-
träge und dergl. y
Ganz besonderen Wert lege ich auf die Mithilfe der gesamten
Beamtenschaft. Die Beamten sind auf Grund ihres wohlerworbenen
Ansehens tonangebend für weite Kreise der Bevölkerung und können somit
in erster Linie durch ihr Beispiel wirken. Aus dieser ihrer Stellung er-
wächst ihnen aber auch die Verpflichtung, vorbildlich zu sein auf einen:
Gebiete, dessen gewaltige Bedeutung für das Volkswohl von niemandem
mehr verkannt werden kann.
Ganz besonders erwarte ich die Mitwirkung von den Landjägerei-
beamten und den Beamten der Schutzpolizei und der kommunalen Polizei.
Gegen Beamte, die durch übermäßigen AlkoholgenußB dem Ansehen
ihres Standes schaden, ist mit aller Strenge vorzugehen. Ich ersuche,
allen unterstellten Beamten, Angestellten usw. den Inhalt dieser Verfügung
durch Vermittlung der Beamten- und Angestelltenvertretungen zugänglich
zu machen. m
"Ueber die Durchführung der angeregten Maßnahmen und ihre Ergeb-
nisse ist mir bis zum 1. Oktober d. J. eingehend zu berichten. Der Bericht
ist in genauer Anlehnung an die einzelnen Abschnitte und Unterabschnitte
dieser Verfügung zu erstatten.
Auch ist dabei anzugeben, ob und welche Veränderungen im Bestande
der alkoholgegnerischen Organisationen und Vereine und im Bestande der
alkoholfreien sowie der sonstigen Gast- und Schankwirtschaften sowie der
Handlungen mit geistigen Getränken eingetreten sind.
Die Herren Kreisärzte, Schul- und Gewerberäte, die Abschrift dieser
Verfügung erhalten haben, sind angewiesen, bis zum 1. September d. J. über
die Erfolge ihrer Mitarbeit der dortigen Stelle zu berichten.
10 Abdrücke dieser Verfügung sind zur Verteilung an die Jugendpfleger,
die alkoholgegnerischen Vereine und sonstigen Interessenten beigefügt.“
Rundschreiben des Deutschen evangelischen Kirchenausschusses
vom 15. April an die deutschen evangelischen Kirchenregierungen.
Die Deutsche Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus hat unter dem:
28. März d. J. folgenden Antrag eingereicht: „Der Deutsche evangelische
Kirchenausschuß möge in einem Rundschreiben die evangelischen Landes-
kirchenbehörden auffordern, daß sie in Erlassen den Geistlichen ihrer
Aufsichtsbezirke dringlichstnahelegen, sichan der Werbe-
woche für das Gemeindebestimmungsrecht vom 10. bis
16. Mai zu beteiligen, und zwar vor allem in der Weise, daß sie am
Sonntag, dem 10. Mai, im Gottesdienste auf die Bedeutung der Alkoholfrage
wie für das Volksleben, so insbesondere für das Kirchenleben von jung und
alt, auf die Bedeutung des vom Reichstag neuestens geforderten Gesetzes
„zum Schutze der Jugend gegen die Gef ahren des Alkoholismus und zur
Flaig, Bedeutsame behördliche Maßnahmen mit Bezug auf den Alkohol. (XXXV.) 147
Verbesserung des Schankkonzessionswesens“. auf die Bedeutung insbeson-
dere des Gemeindebestimmungsrechts hinweisen“.
So wünschenswert und wichtig eine Mobilmachung der im Evangelium
liegenden Kräfte für die Bekämpfung der auf diesem Gebiete ofienbaren
sittlichen MiBstände ist, namentlich auch im Hinblick auf die Zusage weit-
gehender Mitwirkung im Gottesdienst seitens der katholischen Kirche und
einzelner Freikirchen, so muß es doch den einzelnen Landeskirchen vor-
behalten bleiben, ob und in welcher Weise sie Anordnungen für die För-
derung der Werbewoche durch die Geistlichen treffen wollen. Sollte
es Bedenken erregen, den Gottesdienst am 10. Mai ganz oder teilweise
in den Dienst dieser besonderen Aufgaben zu stellen, würde es doch für
die Sache außerordentlich förderlich sein, wenn im Gottesdienst in geeig-
neter Weise auf die Bedeutung der Werbewoche für das sittliche Leben des
Volkes hingewiesen würde, und die Pfarrer mit den Gemeindekirchenräten
es sich angelegen sein ließen, in Gemeindeversammlungen usw. auf die Not-
wendigkeit einer Beschränkung des Alkoholgebrauchs ernstlich hinzuweisen.
Eine entsprechende Erklärung hat der Vertreter des Kirchenausschus-
ses bereits in der hiesigen Sitzung des Reichsausschusses für das Ge-
meindebestimmungsrecht am 16. März d. J. abgegeben.
Ich erlaube mir hinzuzufügen, daß an der Stellung des Kirchenaus-
schusses in dem Kampfe gegen den Alkoholismus, insbesondere hinsichtlich
des Schankkonzessionswesens und des Gemeindebestimmungsrechts, sich
auch nach der Abstimmung des Reichstags am 18. Februar d. J. nichts ge-
ändert hat, und darf dabei auf die im „Evangelischen Deutschland“ Nr. 10
vom 8. März 1925 veröffentlichte Eingabe an den Reichskanzler ver-
weisen.
Dem Wunsche der genannten Reichshauptstelle entsprechend, teile ich
noch sehr ergebenst mit, daß ein Verzeichnis von Schriften zur Orien-
tierung über das Schankstättengesetz und das Genfeindebestimmungsrecht
von dem Verlag „Auf der Wacht‘ in Berlin-Dahlem, Werderstraße 16, un-
entgeltlich bezogen werden kann, sowie daß die ebenda domizilierende
Reichshauptstelle in der Lage ist, eine Liste von Rednern zu versenden,
die zu Versammlungsvorträgen in der „Werbewoche“ 10. bis 16. Mai be-
reit sind. Der Präsident: D. Dr. Kapler“.
Der Preußische evangelische Oberkirchenrat hat un-
term 24. April dieses Rundschreiben an die preußischen und das Danziger.
sowie die drei Fürstlich-Stolbergischen Konsistorien weitergegeben „mit
dem Veranlassen, den Gemeindekirchenräten und Geistlichen ihres Auf-
sichtsbezirkes nahezulegen, daß sie dem vorstehend angeführten Antrage
der Deutschen Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus entsprechen“.
Aehnlich andere evangelische Kirchenregierungen.
Alkohol als Arzneimittel.
Im Nevember 1916 hatte die in der Kriegszeit in England
eingesetzte Oberaufsichtsbehörde für den Getränkehandel (Cen-
tral Control Board, Liquor Traffic) einen aus angesehenen enz-
lischen Gelehrter, vor allem aus der Aerztewelt zusammen-
gesetzten wissenschaftlichen Beirat über die Alkoholfrage
eingesetzt unter dem Vorsitz des bekannten Lord D’Abernon
— zugleich Leiters jener Behörde —. Dieser Beirat ließ 1918
zum ersten Mal in einem Buche: „Alcohol: Its action on the
human organism“ das Ergebnis seiner Untersuchungen er-
scheinen. Nach Auflösung der Oberaufsichtsbehörde im Jahre
1921 wurde er auf Veranlassung des Innenministeriums, an das
jene Oberaufsicht übergegangen war, vom „Aeıztlichen For-
schungsrat“ (Medical Research Council — einer halbamtlichen,
10*
148 Abhandlungen,
vom Staat unterstützten, im übrigen aber im wesentlichen selb-
ständigen wissenschaftlichen Körperschaft) unter seine For-
schungsausschüsse übernommen, um so die Fortführung der
Arbeit des Beirats zu sichern. Im Dezember 1923 wurde nun
das Werk dieses Alkoholforschungsausschusses
in zweiter, durchgesehener und erweiterter Auflage durch den
Medical Research Council herausgegeben '). Es befaßt sich nach
einer grundlegenden Einleitung in wissenschaftlich sorgfältig
abgewogener und zugleich verständnisvoll die PraXis berück-
sichtigender Weise der Reihe nach mit dem Alkohol als Nah-
rungsmittel, seinen geistigen Wirkungen, seinen Beziehungen
zur Muskeltätigkeit und den einfacheren geistigen Vorgängen,
zur Verdauung, zu Atmungstätigkeit und Blutumlauf, zur Körper-
wärme, mit dem Alkohol als Gift und als Arznei und seinen
Beziehungen zur Lebensdauer, um zuletzt zusammenfassende
Schlußfolgerungen zu ziehen.
Wir geben mit freundlicher Zustimmung der herausgeben-
den Stelle und des Verlags das Kapitel über die arzneiliche
Stellung des Alkohols, das in der zweiten Auflage zum ersten
Mal auftaucht, in Uebersetzung wieder. J. Flaig.
Der Alkohol in seinen verschiedenen Zubereitungen hat stets eine Rolle
bei der Behandlung vieler Krankheiten gespielt, und erst in neuerer Zeit ist
sein Nutzen in Frage gezogen worden, Der Gebrauch des Alkohols in
Krankenhäusern ist sehr vermindert worden, ohne Nachteil für die Kranken,
und in manchen Kliniken hat man ihm ganz den Abschied gegeben. Es ist
kein Zweifel, daß man früher dem Alkohol bei Krankheiten zu großen Wert
beigemessen hat, und die einzige Frage, die zur Eıörterung steht, ist, ob
seine ärztliche Verwendung jetzt die sachgemäßen Grenzen erreicht hat
oder noch weiter beschränkt werden sollte. Die Tatsachen, daß der Alkohol
gleichzeitig ein kräftiges und rasch wirkendes Arzneimittel und ein Be-
standteil der regelmäßigen Kost eines großen Teils der weißen Rasse ist,
haben ihn in hervorragendem Maße zum volkstümlichen Hausmittel für
viele der kleineren Beschwerden gemacht, die die Menschheit plagen. Man
darf nicht vergessen, daß bis in neuere Zeit hinein Alkohol und Opium tat-
sächlich die einzigen in der westlichen Kulturwelt bekannten Betäubungs-
mittel waren: Mit der Einführung der neuzeitlicheren Mittel dieser Klasse
nahm der Gebrauch des Alkohols zur Herabsetzung nervöser Erregung
natürlich ab.
Einige der Heilanzeigen für den Gebrauch von Alkohol sind im Zu-
sammenhang der übrigen Kapitel dieses Buches bei Besprechung seiner
Wirkungen auf die verschiedenen körperlichen Tätigkeiten schon erwähnt
worden. Es erschien jedoch wünschenswert, der Untersuchung des Werts
des Alkohols als Heilmittel ein besonderes Kapitel zu widmen, selbst auf
die Gefahr hin, daß einiges von dem bereits andern Orts Gesagten wieder-
holt wird. Welche Meinung man auch immer sich über seinen Wert oder
seine Gefährlichkeit als Bestandteil der gewöhnlichen Kost für den Gesunden
bilden mag, so haben wir doch unabhängig davon seinen Platz in der Be-
handlung des Kranken zu erwägen.
Zunächst mag gesagtwerden, daß der A.nicht als besonderes „spezifisches“
Heilmittel für irgendeine Krankheit anzusprechen ist. Die Wirkung z. B.
von Chinin bei Malaria oder von Emetin?) bei amöbischer Rulır beruht auf
der Vernichtung der Ansteckungskeime. Der Alkohol hat keine Wirkung
dieser Art, was er an Heilwirkungen besitzt, liegt, wie anderwärts gezeigt.
auf ganz anderem Gebiet Danach muß jeglicher Wert, den der Alkohol
etwa als Arzneimittel besitzen mag, auf seiner Fähigkeit beruhen, Krank-
:) H. M. Stationery Office, Adastral House, Kingsway, London, W.C.2. 1 sh., geb. 1"; sh.
und Postg.
?) Der arzneiliche Bestandteil der Brechwurz. D. Uebers.
Alkohol als Arzneimittel, 149
heitserscheinungen zu lindern und die natürlichen Heilkräfte des Körpers
zu unterstützen.
Bei Erörterung des Heilwertes des Alkohols haben wir es nicht mit den
Wirkungen großer Gaben zu tun, die in dem Kapitel „Alkohol als Gift“ be-
trachtet sind. Wir haben vielmehr nur seine Bedeutung als Nahrungs- und
s!s Arzneimittel für den Kranken ins Auge zu fassen. Die Fragestellung und
der Gesichtswinkel sind hier andere als beim gewöhnlichen, gesunden
Leben. wenngleich die Wirkungsweise tatsächlich dieselbe ist. Wir haben
z. B. gesehen, daß die gleichzeitige arzneiliche Wirkung den Wert des Al-
kohols als Nahrungsmittel für den Gesunden beschränkt; es ist jedoch leicht
einzusehen, daß diese Verbindung, wie sie kein anderes Nahrungs- oder Arznei-
mittel in gleichem Grade darstellt, dem Alkohol eine besondere Stellung
als Heilmittel verleihen kann. Andererseits war die Feststellung wichtig,
daß die Wirkung des Alkohols auf das Nervensystem wesentlich betäuben-
der Art, und daß sein Einfluß auf die höheren Fähigkeiten der Genauigkeit
bei geistiger oder Muskeltätigkeit abträglich ist. Es ist aber daran zu er-
innern, daß diese Abstumpfung sozusagen der feinen Ecken und Schärfen
der Empfindlichkeit, diese Entspannung der geistigen Spannung und Kon-
trolle bei der Behandlung von Krankheitszuständen von höchstem Wert
sein kann. Wir haben daher einander nach diejenigen Wirkungen des Al-
kohols vorzunehmen, für die klare wissenschaftliche Feststellungen ge-
wonnen sind — seine betäubende Wirkung auf das Gehirn und Nerven-
system, seinen erweiternden Einfluß auf die Blutgefäße der Haut, seine
blähungtreibende Wirkung auf die Bewegungen des Verdauungskanals, wo-
bei er die Neigung zu schmerzhafter und unregelmäßiger Zusammenziehung
herabgesetzt, seine Rolle als bequem verwendbares Nahrungsmittel. Wir
haben zu prüfen, welchen Wert jede einzelne dieser Wirkungen bei der Be-
handlung des Kranken oder Genesenden haben kann, wobei wir nicht ver-
gessen dürfen, daB sie noch mehr als in ihrer Vereinzelung in ihrer Ver-
bindung miteinander von besonderem Wert in manchen Fällen sein können.
Die mild betäubende Wirkung des Alkohols ist wahrscheinlich die wich-
tigste vom Heilgesichtspunkt aus. In manchen Fällen von Krankheit wird
der Zustand des Kranken erschwert und seine Wiederherstellung verzögert
durch seine Aengstlichkeit über den Verlauf und Ausgang seiner Krankheit
vnd durch Sorge um seine geschäftlichen Angelegenheiten und seine Familie.
Soicher innere Druck kann die Wiederherstellungsaussichten entschieden
beeinträchtigen, und insofern der Alkohol ihn lindert und Ruhe und Zu-
versicht befördert, hat er einen bestimmten Heilwert. Es kann kein Zweifel
sein, daß er häufig solche Wirkung ausübt. Wir haben an anderer Stelle
gesehen, daß ein sehr kennzeichnender Zug seiner Wirkung auf den ge-
wöhnlichen Menschen das Selbstvertrauen ist, das er einflößt. Bei einem
Versuch über die Wirkung einer mäßigen Alkoholgabe glaubt die Versuchs-
person, ihre Ausführung der Aufgabe sei ungewöhnlich gut und rasch ge-
wesen, und nur der nachträgliche Augenschein der genauen zahlenmäßigen
Feststellungen vermag sie vom Gegenteil zu überzeugen. Welches auch
immer die Wirkung solcher irreführenden Zuversichtlichkeit in den ge-
wöhnlichen Angelegenheiten des Lebens sein mag, so ist sie für den Kranken
oft von wirklichem Wert. Selbst wenn der Arzt keinerlei körperliches
Zeichen von Besserung zu finden vermag, kommt der Umstand, daß der
Kranke sich kräftiger und gemütlich leichter fühlt, diesem zugute. Indem
der Alkohol den Schlaf befördert und die EBlust hebt, leistet er einen
tatsächlichen Dienst, und die Entspannung von nervöser Spannung, die er
hervorruft, kann selbst zur Herabsetzung von Fiebertemperatur beitragen.
Selbst wenn er den Verlauf der Krankheit nicht wahrnehmbar beeinflußt,
wird der Alkohol oft den Zustand des Kranken für ihn selbst weniger
peinigend machen.
Diese Wirkung teilt der Alkohol mit andern betäubenden Arzneimitteln,
aber er mag oft das zweckmäßigste Mittel sein, weil seine Wirkung durch
passende Bemessung der Gabe mild und länger andauernd gemacht werden
150 Abhandlungen.
kann ohne Störung der geordneten Tätigkeit des Magens und des Darmes
oder herabsetzende Wirkung auf das Atmungszentrum. Er hat den Vorteil
vor einigen anderen Betäubungsmitteln, daß zur Erzielung der gewünschten
Wirkung keine rasche Steigerung der verabreichten Gabe nötig Ist, da die
erworbene „Toleranz“ für den Alkohol verhältnismäßig gering ist, und sich
nur langsam entwickelt. Die Tatsache seines Nährwertes muß ferner in
Rechnung gezogen werden bei der Behandlung von Fällen, in denen der
Kranke wenig fähig ist, gewöhnliche Nahrung aufzunehmen.
Diese mild betäubende Wirkung des Alkohols findet ihre hauptsächliche
Anwendung bei der Behandlung von akuter, von Fieber begleiteter An-
steckung. Früher wurden solche Krankheiten, besonders Lungenentzündung,
typhöses Fieber und septische Zustände gewöhnlich mit Verabreichung
großer Mengen Alkohols behandelt in der irrigen Ansicht, daB er eine mehr
oder weniger unmittelbare und besondere Wirkung auf die Ansteckung habe.
Wir haben gesehen, daß für solche Annahme kein Grund vorliegt. Die
unterschiedslose Behandlung aller derartigen Fälle mit Wein und Spirituosen
ist in Mißkredit gekommen und kann nichts zu ihrer Empfehlung vorbringen.
Der Ablauf der Krankheit wird durch solche Behandlung nicht abgekürzt
und der Verhältniszahl der Wiederherstellungen durch sie nicht gesteigert,
noch kann man irgendwie sagen, daß das persönliche Befinden des Kranken
dadurch gleichmäßig erleichtert werde. Der Alkohol kann in solchen Fällen
bei geschickter und vernünftiger Anwendung von großem Wert sein, aber
er muß mit Sorgfalt und gutem Urteil wie jedes andere Betäubungsmittel
verschrieben werden, und sein Gebrauch darf nicht in das Belieben des
Kranken oder seiner Freunde gestellt werden.
Während der Genesung von einer akuten Ansteckung, oder während
des Verlaufs einer länger dauernden Krankheit hinwiederum können geistige
Getränke einige Bedeutung zur Besserung der EBlust haben. Alle über-
prüfte Erfahrung spricht freilich gegen die Ansicht, daß der Alkohol irgend-
einen unmittelbar wohltätigen Einfluß auf die Verdauungswerkzeuge hat;
immerhin kann er die Verdauung und die Verwertung der Speisen im Körper
befördern, indem er den Einfluß von Sorgen und übler Stimmung, die mit
dem Zustand des Kranken verbunden sind, beseitigt. Eine gewisse Vor-
freude auf die Mahlzeiten hat an sich schon einen günstigen Einfluß auf die
Tätigkeit der Verdauungswerkzeuge. Die Verordnung von Alkohol unter
solchen Umständen erfordert aber gleichfalls Urteil und Unterscheidung der
Verhältnisse. Die erfahrungsgemäße sorgenmildernde Eigenschaft des
Alkohols und seine Fähigkeit, eine ungewöhnliche Empfindlichkeit für un-
angenehme Stimmungen und Empfindungen durch ein Gefühl der Zufrieden-
heit zu ersetzen, kann für Nervenkranke gefährlich werden.
Außer dieser Wirkung auf die Gemütsverfassung, die seinen haupt-
sächlichsten Anspruch auf einen gewissen Wert im Arzneischatze begründet,
hat der Alkohol zweifellos einen bestimmten, wenn auch beschränkten
Nährwert. Wir haben an anderer Stelle beleuchtet, daß es unangezeigt ist,
ihn als Nahrungsmittel für den gesunden Menschen anzusehen; aber bei
Krankheit, wo sein Einfluß auf das Gehirn wirklich wohltätig sein und die
Aufnahmefähigkeit für gewöhnliche Nahrung sehr herabgesetzt sein kann,
gewinnt der Nährwert des Alkohols Bedeutung. Ein bettlägeriger Kranker '
braucht an Nahrung den täglichen Betrag von um ein ziemliches weniger als
2000 Wärmeeinheiten (Kalorien), um seinen Kräfteverbrauch zu ersetzen.
Eine Unze (31,1 gr) Spirituosen von normaler Stärke ergibt ungefähr
80 Wärmeeinheiten. Das neue Werk von Mellanby sagt, der Körper des
gesunden Menschen könne binnen 24 Stunden °/s Pint (etwa 25 1) Branntwein
normaler Stärke verarbeiten; dies würde auf obiger Grundlage etwa 1100
Wärmeeinheiten ergeben — ein sehr wesentlicher Teil des gesamten Energie-
bedarfs eines bettlägerigen Kıanken. Es ist natürlich nicht gemeint, daß
Alkohol den kranken Personen in diesem Betrage gegeben wird oder je ge-
geben werden soll, oder daß er an Stelle anderer Nahrungsmittel verwendet
werden soll, wo diese genossen werden können. Es dürfte aber klar auf
il
———r
Alkohol als Arzneimittel. 151
der Hand liegen, daß er dem Kranken helfen kann, über eine Zeit verhältnis-
mäßiger Entkräftung hinwegzukommen, in der andere Nahrung nicht auf-
genommen wird. Es ist Tatsache, daß der Alkohol leicht vom Körper auf-
gesaugt wird und keine Tätigkeit der Verdauungswerkzeuge beansprucht;
dasselbe gilt aber auch vom Traubenzucker (Glukose). Die besondere
Stellung des Alkohols und seine Bedeutung für die Erhaltung der Kräfte
während eines entscheidenden Zeitraums einer Krankheit liegt in der Tatsache,
daß er zugleich Betäubungs- und Nahrungsmittel ist. In den Fällen, wo die
Hauptaufgabe der Behandlung in der Ueberwindung der Ruhelosigkeit und
krankhaften Aengstlichkeit des Pfleglings besteht, ist die Verknüpfung mit
dieser Bedeutung als Nahrungsmittel, wenn auch beschränkten Grades, nicht
unwichtig.
Wird der Alkohol andererseits während der Genesung oder während
einer mehr chronischen Krankheit gereicht, so ist seinem Nährwert als
solchem wenig Bedeutung beizumessen. Im Gegenteil wäre er, wenn sein
Gebrauch den Kranken dazu verleiten würde, sich unter solchen Umständen
weniger an mehr normale Nahrung zu halten, nachteilig. Nur insofern er
die EBlust und die Verdauung hebt und zu bereitwilligerer Aufnahme und
besserer Verarbeitung der Nahrung führt, die den Verlust durch die Krank-
heit ersetzen kann, hat er einen gewissen ernstlichen EinfluB auf die Er-
nährung.
Ein Beispiel des Gebrauchs, der von dem unmittelbaren Nährwert des
Alkohols gemacht werden kann, ist besonders in Verbindung mit der Be-
handlung der Zuckerkrankheit in die Erscheinung getreten. Bei der neuzeit-
ichen Behandlung dieses Leidens wird oft am Anfang ihres Verlaufs für
mehrere Tage jede gewöhnliche Nahrung entzogen. Man hat dabei ge-
funden, daß dem Kranken durch diese erste Zeit mit einer täglichen Gabe
Alkohol durchgeholfen werden kann. Zweifellos spielt die Wirkung auf das
Nervensystem dabei eine Rolle, und in jedem Fall vermag der verabreichte
Alkohol eben nur einen Teil der Kraft, die selbst durch den ruhenden
Körper ausgegeben wird, zu ersetzen. Trotzdem ist die Kraft, die der
Alkohol liefern kann, wenn er in kleinen und verdünnten Gaben verabreicht
wird, unter solchen Umständen entschieden hilfreich. Selbst wenn man das
neulich entdeckte „Insulin“ anwendet, das eine gleichwertige Wirkung ohne
solch einschneidende Beschränkung in der Kost ermöglicht, kann der Alko-
hol noch einen wesentlichen Posten in der fachmännisch angepaßten Kost
bilden, wenigstens auf den Anfangsstufen der Behandlung.
Der volksmäßige Gebrauch des Alkohols für Leibschmerzen und Unter-
leibsbeschwerden im allgemeinen hängt wahrscheinlich mit der blähung-
treibenden Wirkung zusammen, die er mit andern Stoffen teilt, welche auf die
Eingeweideschleimhaut mild anregend wirken, wie z. B. verschiedene Oel-
essenzen, Pfefferminze, Gewürznelken usw. Seine anscheinende Wirkung
in dieser Richtung wird zweifellos durch den Einfluß auf das Gehirn er-
höht, infolge deren er den Betroffenen sein Uebelbefinden weniger empfinden
läßt. Vom ärztlichen Standpunkt aus kann nur gesagt werden, daß es hier
mancherlei gleich wirksame Möglichkeiten gibt, und daß die Zuflucht zum
Alkohol. um damit die kleineren, sei es körperlichen, sei es gemütlichen Un-
annehmlichkeiten des Lebens zu lindern, wahrscheinlich der Anfangs- und
uam ist für viele Fälle gewohnheitsmäßiger Trunksucht, besonders
i Frauen
Schließlich hat noch die Blutanfüllung der Körperoberfläche, die der
Alkohol hervorruft, wahrscheinlich einen gewissen Heilnutzen. Im Volke
hält man viel von einer Gabe Spirituosen in heißem Wasser, im Bette ein-
genommen, bei den Anfangsstufen einer „allgemeinen Erkältung“ — eines an-
steckenden Katarrhs der Luftwege. Indem der Alkohol die Ableitung des
Blutes nach den Gefäßen der Haut unterstützt und dadurch in gewissem
Grade den Blutandrang in inneren Organen erleichtert und einen heilsamen
Schweiß befördert, hat man keinen Grund, zu zweifeln, daß er, auf diese
Weise gebraucht, von einigem Vorteil sein kann.
152 Abhandlungen.
Wir können die erkannten Heilverwendungen des Alkohols folgender-
maßen zusammenfassen:
1. Sein Hauptwert liegt in seiner betäubenden Wirkung, durch die er
Erregung und Mißbehagen mildert, Ruhe und bessere Stimmung herbeiführt
und dadurch oft andere Krankheitserscheinungen mittelbar bessert.
2. Sein begrenzter Nährwert kann in Verbindung mit seiner betäubenden
Wirkung bei Zuständen wichtig werden, bei denen der Kranke gewöhnliche
Nahrung nicht zu sich nehmen kann.
3. Durch Ableitung des Blutes von den inneren Organen nach der Haut
unterstützt er die Anwendung äußerer Wärme zur Abwendung oder Milde-
rung der Wirkungen der allgemeinen katarrhalischen Ansteckung, die unter
dem Namen „Erkältung“ bekannt ist.
Nach diesen Feststellungen ist es von nicht geringerem Interesse, einige
der Wirkungen ins Auge zu fassen, die dem Alkohol ohne zureichenden
Grund zugeschrieben werden. Zunächst einmal beruht der Volksglaube an
den Alkohol als Heilmittel zu einem großen Teil auf der Täuschung, daß er
eine wichtige anregende Wirkung auf das Herz, die Atmung und die wichtig-
sten Lebenstätigkeiten im allgemeinen habe. Die wissenschaftliche Heil-
kunde hat, wie wir gesehen haben, diese Ansicht schon längst preisgegeben,
sie hält sich aber noch in den Volksgewohnheiten. Wenn jemand plötzlich
aus irgendeiner Ursache — ob Ohnmacht infolge von Schrecken, Schmerz
oder Erschöpfung, Fallsucht, Schlagfluß, Erstickung oder Erschütterung
durch einen Fall auf den Kopf — bewußtlos wird, so ist gewöhnlich das
erste, was der mitleidige Dazukommende tut, daß er Spirituosen zwischen
die Zähne des Opfers zwängt. Die Reizung des Halses durch den stechen-
den Alkohol, die Erregung von Husten durch das Einträufeln desselben in
die Kehle mag die äußeren Zeichen zurückkehrenden Bewußtseins zu be-
schleunigen scheinen, es ist aber kein Grund zu der Annahme, daß diese Be-
handlung dem Kranken wirklich gut tut. Die Annahme, daß der Alkohol die
Tätigkeit eines versagenden Herzens anrege, hat keine Grundlage in fest-
gestellten Tatsachen. Wenn der Betroffene sich von Ohnmacht infolge von
Schrecken oder Schmerz erholt, mag die beruhigende Wirkung des Alkohols
zur Verhinderung eines Rückfalls nützlich sein, aber die unterschiedslose
Anwendung von Alkohol bei einem Fremden, den man infolge einer un-
bekannten Ursache bewußtlos findet, ist zu mißbilligen; es ist nicht wahr-
scheinlich, daß sie Gutes stiftet, wohl aber kann sie leicht Schaden tun.
Eine andere volkstümliche Täuschung, die wir schon erwähnt haben,
besteht darin, daß man dem Alkohol eine besondere anregende Wirkung auf
die Verarbeitung der Nährstoffe zuschreibt, durch die er bei regelmäßBigem
Gebrauch körperliche Kräftigkeit verleihe, die ohne ihn nicht zu erreichen
wäre. Auf diese Linie gehört auch der gefährlichere Glaube, daß der Alko-
hol gegen Ansteckung mit Krankheitskeimen schütze. Gewiß kann er unter
kundiger ärztlicher Beratung bei der Behandlung hitzigen Fiebers tatsächlich
wertvolle Dienste leisten: um so notwendiger ist es, nachdrücklich die Mei-
nung zurückzuweisen, daß sein gelegentlicher oder gewohnheitsmäßiger Ge-
brauch irgendwelche vorbeugende Wirkung habe. Im Gegenteil liegen ge-
nügende Beweise dafür vor, daß der Gebrauch von Alkohol, falls er die
Grenzen strengster Mäßigkeit überschreitet, entschieden die Widerstands-
kraft gegen Ansteckung, wie die mit Influenza oder Lungenentzündung
schwächt. Die Genesungsaussichten bei Lungenentzündung sind für den
hemmungslosen Alkoholgenießer immer schlecht; seine Gewohnheit hat die
natürliche Widerstandskraft herabgesetzt und ihn von vornherein der wohl-
tätigen Wirkung beraubt, die der Enthaltsame oder streng Mäßige von der
ihm ungewohnten Wirkung dieses Mittels in einem kritischen Zeitpunkt der
Krankheit haben kann.
Wir können daher zum Schlusse zusammenfassend sagen: Der Alkohol
ist, wenn er in zweckmäßiger Weise gebraucht wird, zu den echten Heil-
mitteln zurechnen. Wäre sein Gebrauch in andern Beziehungen unbekannt,
so bliebe er doch ein wertvoller Artikel im Arzneischatze. Sein wirklicher
Juliusburger, Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs ohne GBR u. Trockenlegung. 153
Nutzen wird jedoch leicht dadurch verdunkelt, daß man ihm gedankenlos
mancherlei Wirkungen zuschreibt, die er nicht besitzt, und daß man land-
äufig im Volke bei fast jeder Art unerwarteter körperlicher Zufälle zu ihm
seine Zuflucht nimmt.
Bekämpfung des Alkoholmifbrauchs
ohne Ggemeindebestimmungsrecht
und Trockenlegung.
Von Geh. Regierungsrat E. Pütter und Sanitätsrat Dr. P. Hesse.
Eine Erwiderung von Sanitätsrat Dr. Otto Juliusburger.
In der Maisitzung der Berliner Gesellschaft für Neurologie und
Psychiatrie hatte ich einen Vortrag gehalten für die Forderung der Ein-
führung des Gemeindebestimmungsrechtes als einer notwendigen Maßregel
zur Bekämpfung des Alkoholismus. Ich hatte in meinen Ausführungen
eine Uebersicht gegeben über die wachsende Zunahme der durch den
Alkoholismus bedingten mannigfachen Störungen auf wirtschaftlichem und
gesundheitlichem Gebiete; ich hatte auf die außerordentlich große Summe
hingewiesen, die das Deutsche Volk jährlich für Alkohol ausgibt, ich lenkte
die Aufmerksamkeit auf die Steigerung unserer Abgaben auf Grund des
Dawes-Planes, wonach wir von 1929—1930 um so mehr zu zahlen haben
werden, je mehr wir für. Tabak und Alkohol ausgeben. Ich hob auch die
schreckliche Wohnungsnot hervor und sagte, daß in Alt-Berlin am Ende
des Jahres 1922 gezählt wurden: 28000 bebaute Grundstücke und 11000
Schankstätten. Die wichtigen Arbeiten der bekannten Psychiater Kräpelin
und Bonhöffer erwähnte ich besonders, aus denen die wohltätigen Folgen
der Alkoholknappheit während des Krieges so beweiskräftig hervorgehen;
ich erinnerte auch an die Veröffentlichungen des Herrn Dr. Oppler aus
der Breslauer städtischen Irrenanstalt (Direktor Dr. Chotzen). der zu dem
zleichen Resultate kommt und die segensreiche Einschränkung hervorhebt.
welche in Breslau der Schnapsgenuß durch Beschränkung der Schankzeit
und Verkürzung der Polizeistunde infolge einer Verfügung des Ober-
vräsidenten von Niederschlesien in der Bevölkerung seinerzeit erlitten ..
hatte. Ich verfehlte auch nicht darauf hinzuweisen. daß der neue Amtliche .
Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuches für bestimmte
Kategorien von antisozialen Trinkern ein Wirtshausverbot vorsieht, was
natürlich nur dann seine volle Wirksamkeit erfahren kann. wenn als
Warnungsmittel ein Gemeindebestimmungsrecht vorgesehen ist, welches
schließlich fortgesetzte Gesetzesüberschreitungen von seiten unlauterer
Schankstätteninhaber allein verhindern könnte.
Aus allen diesen hier kurz angeführten Gründen sprach ich mich für
die Einführung des Gemeindebestimmungsrechts aus, welches auch geeignet
wäre, immer wieder in die Bevölkerung das notwendige Wissen über die
vielseitigen Alkoholschäden zu tragen und in Männern wie Frauen das
soziale Verantwortungsgefühl zu schärfen. Meine Bitte, der Vorstand
möge eine zustimmende Erklärung für die Forderung des Gemeinde-
bestimmungsrechts fassen, wurde einstimmig angenommen, und der
Vorstand der Berliner Gesellschaft für Neurologie und Psychiatrie erklärte:
„Während des Krieges hatte die Alkoholknappheit einen sehr erheblichen
Rückgang der durch Alkoholmißbrauch bedingten Geistesstörungen und
kriminellen Handlungen bewirkt. In der Nachkriegszeit hat aber der _
Alkoholismus wieder von Jahr zu Jahr zugenommen und eine sehr bedauer-
liche Steigerung aller durch ihn bedingten Folgeerscheinungen zur Folge
154 Abhandlungen.
gehabt. Die Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie schließt
sich daher der Forderung an die Reichsregierung an, dem Reichstage
baldigst das Schankstättengesetz vorzulegen und in dieses das Gemeinde-
bestimmungsrecht aufzunehmen, das ein wertvolles Mittel ist, dem Alkohol-
elend unseres Volkes allmählich wirksam abzuhelfen.“
In der Sitzung der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neu-
rologie, in der ich meinen Vortrag hielt und die Begründung der Forderung
des Gemeindebestimmungsrechtes gab, war auch Herr Sanitätsrat Hesse
in Begleitung eines anderen Herrn anwesend; warum haben die Herren
nicht das Wort ergriffen, als Geheimrat Bonhöffer allgemein zur Wort-
meldung aufforderte? — Erst vier Wochen später wurde zu Beginn der
Junisitzung am 8. Juni die oben genannte Broschüre durch den Hausmeister
der Klinik verteilt; dasselbe geschah am 10. Juni in der Sitzung der
Medizinischen Gesellschaft, deren Vorstand auf meine Anregung in der
April-Sitzung der Medizinischen Gesellschaft gleichfalls eine der Forderung
der Einführung des Gemeindebestimmungsrechts zustimmende Entschließung
gefaßt hatte.
Die Herren Pütter und Hesse hatten also auch im April sich die gute
Gelegenheit entgehen lassen, das Wort gegen meine Ausführungen und
gegen meinen Antrag für die Forderung der Einführung des Gemeinde-
bestimmungsrechts zu ergeifen. So haben sie also sich ihren Widerspruch
für die Broschüre aufgespart und man muß anerkennen, daß Kosten nicht
gescheut wurden; denn die Broschüre wurde ja in beiden ärztlichen Gesell-
schaften unentgeltlich verteilt, und ich nehme an, sie wird auch anderwärts
kostenlos verbreitet werden.
Zur Broschüre selbst. Mit Vergnügen hebe ich hervor, daß ihre
Herren Verfasser die alkoholischen Getränke. nicht zu den üblichen
Nahrungsmitteln gezählt wissen möchten, weil die „Schattenseiten dieser
Ernährungsweise ihren Nutzen überwiegen“. Sie wollen die alkoholischen
Getränke nur als Genußmittel gelten lassen, weil sie dem Menschen „Freude
bereiten, Unglück lindern, Kummer und Ungemach einmal vergessen
lassen“. — Aber meine Herren, sollten nicht auch hier die Schattenseiten
die euphorische Wirkung überragen, sobald man die Wirkung der alko-
holischen Getränke in der Allgemeinheit in Betracht zieht? Die euphorische
Wirkung der alkoholischen Getränke beruht doch auf einer Gehirnnarkose,
und wohin diese als soziale Erscheinung führt, und zwar in erschreckend
groBem Ausmaße, das brauche ich ja solchen Sachkennern gewiß nicht aus-
einanderzusetzen. Denn der Direktor des Berliner Krankenhauses Charite
hat ja sicherlich reichlich Gelegenheit erhalten, die traurigen Folgen des
Alkoholismus auf den verschiedensten Gebieten kennenzulernen.
Nun weisen die Herren Verfasser der Broschüre auf die Bibel hin,
worin „aber auch schon vor dem Mißbrauch der geistigen Getränke und
seinen Folgen gewarnt wird“. „Der Wein ist ein Spötter, und wer davon
taumelt, wird nie weise; wer ihn liebt, nicht reich. Weh, Leid, Zank,
Kummer, Wunden, unanständige Worte, sündige Wollust, Geistes- und
Gemütsabstumpfung, Gottlosigkeit sind bei übermäßigem Genuß von
Rauschgetränken in seinem Gefolge.“ Da die eben erwähnten Sätze von
den Verfassern der Broschüre unter Anführungszeichen gesetzt sind, darf
ich annehmen, daß sie nur vergessen haben, die Fundstelle genau an-
zugeben. Dieser kleine Fehler läßt sich ja bei einer zweiten Ausgabe der
Broschüre wieder gut machen; denn eine zweite Auflage der Broschüre
wird sich schon im Hinblick auf die Zahl der Berliner und auswärtigen
Aerzte als notwendig erweisen, denen allen doch der seltene Genuß, die
Broschüre kostenfrei lesen zu dürfen, nicht vorenthalten werden sollte.
Die berühmte Stelle in den Sprüchen Salomonis heißt aber wörtlich:
„Der Wein macht lose Leute und stark Getränke macht wild: wer dazu
Lust hat, wird nimmer weise. Wo ist Weh? wo ist Leid? wo ist Zank?
wo ist Klagen? wo sind Wunden, ohne Ursache? Wo sind trübe Augen?
Juliusburger, Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs ohne GBR u. Trockenlegung. 155
Wo man beim Wein liegt und kommt, auszusaufen, was eingeschenkt ist.
Siehe den Wein nicht an, daß er so rot ist, und im Glase so schön stehet.
Er geht glatt ein, aber darnach beißt er wie eine Schlange, und sticht
wie eine Otter. So werden Deine Augen nach anderen Weibern sehen,
and Dein Herz wird verkehrte Dinge reden. Und wirst sein, wie einer,
der mitten im Meer schläft und wie einer schläft oben auf dem Mastbaum.“
— Ich möchte auch noch auf folgende sehr bedeutsame Stelle im Buch der
Richter hinweisen: Und der Engel des Herrn erschien dem Weibe und
sprach zu ihr: „Siehe, Du bist unfruchtbar, und gebierst nicht; aber Du
wirst schwanger werden und einen Sohn gebären. So hüte Dich nun, daß
Du nicht Wein noch starke Getränke trinkst und nichts unreines essest.“
Vergessen Sie auch, bitte, nicht Evangelium Lukas, Kapitel 1, Vers
13—15. „Aber der Engel sprach zu ihm: Fürchte dich nicht, Zacharias.
Dein Gebet ist erhöret; und Dein Weib Elisabeth wird Dir einen Sohn
gebären, des Namen sollst Du Johannes heißen. Und Du wirst Freude
md Wonne haben, und viele werden sich seiner Geburt freuen. Denn er
wird groB sein vor dem Herrn; Wein und stark Getränke wird er nicht
trinken; und wird noch im Mutterleib erfüllt werden mit dem heiligen
Geist.“ — Gedenken Sie auch der Stelle im Evangelium Marci, Kapitel 15,
Vers 23: „Und sie gaben ihm Myrrhe im Wein zu trinken, und er nahms
nicht.“
Nun werden Sie mich gewiß freundlicherweise an das Hochzeitsfest
zu Kana erinnern; aber beachten Sie wohl: Jesus befahl nicht etwa,
Wein zu holen, sondern ließ die Hochzeitsleute eben das Wasser trinken,
das sie suggestiv beeinflußt nun als Wein tranken. Es ist denn doch wohl
eine ganz unannehmbare Vorstellung, daß Jesus weintrunkenen Menschen
noch mehr Wein zuführen wollte. Der Menschenkenner ließ es eben beim
Wasser bewenden.
Für die zweite Auflage, meine Herren, empfehle ich Ihnen die schöne
Schrift: „Buddhismus und Alkohol“ ja nicht zu vergessen. Sie erhalten sie
durch den wirklich ausgezeichneten Verlag von Oscar Schloß in München-
Neubiberg; von dort müssen Sie sich auch: „Das fünfte Silam“ zu ein-
gehender Kenntnis kommen lassen. Meine Herren! Sie werden sicherlich
erstaunen über die tiefe Kenntnis, welche buddhistische Weisheit von der
psychischen Wirkung des Alkohols schon besaß. Bitte, vertiefen Sie sich
in diese beiden Schriften und lassen Sie sich von dem ausgezeichneten
Kenner des Buddhismus, dem Berline; Stadtarzt Dr. Wolfgang Bohn, über
die tiefsinnigen Buddhalegenden einiges mitteilen, woraus Sie wieder Ihre
Po lgelschen Erfahrungen über die Wirkung des Alkohols bereichern
{önnen.
In Ihrer Broschüre erwähnen Sie als die „enthaltsamen‘“ oder „ab-
stinenten‘‘ Gruppen: das evangelisch-kirchliche Blaukreuz, den katholisch-
kirchlichen Caritas-Verband, — Sie meinen wohl das Kreuzbündnis? — die
Heilsarmee, den Guttemplerorden, den Arbeiter-Abstinentenbund. — Leider
haben Sie den Verein abstinenter Aerzte im Deutschen Sprachgebiete auf-
zuführen vergessen. Das hätte ich sonst gar nicht getadelt, aber da Sie Ihre
Broschüre in ärztlichen Vereinen verteilen ließen, hätten Sie doch Rücksicht
nehmen und die hervorragenden Mitglieder des Vereins nicht unerwähnt
lassen sollen, nämlich Abderhalden, Forel, Kräpelin, Bleuler, Gaupp,
Aschaffenburg, Grotjahn usw. Das können Sie natürlich auch in der zweiten
Auflage nachholen.
Anerkennung zollen Sie den Abstinenten, wenn sie „Trunksüchtigen
und deren Angehörigen nachgehen und sie ihrem Kreise einzuverleiben
trachten:“ wenn aber „eine gewisse Strömung“ unter den Abstinenten
„aufdringlich darauf ausgeht, jedermann, ja womöglich ganz Deutschland
zum Abstinententum zu bestimmen, so verkennt sie mindestens Zweck
und Nutzen des weisen Alkoholgebrauchs und überschreitet weit ihr
Aufgabengebiet‘,
156 Abhandlungen.
Zuvor, meine Herren, was finden Sie in der Abstinentenbewegung auf-
dringlich? Ich bitte u mnähere Angaben. Sie kennen doch sicherlich die
Schriften der oben erwähnten abstinenten Aerzte, die allerdings die
Forderung der völligen Enthaltsamkeit für jedermann, nicht nur für die
Trunksüchtigen und deren Angehörigen aufgestellt haben. Haben Sie
Kräpelins und seiner Schüler experimentell festgestellten Befunde wider-
legt? Enthalten Sie die Ergebnisse Ihrer Forschung uns nicht vor, seien
Sie nicht bescheiden, meine Herren, seien Sie nur im Sinne und Geiste
eines Abderlialden, Kräpelin, Forel, Bleuler oder Gaupp recht aufdringlich;
seien Sie überzeugt, wir werden es nur loben und begrüßen.
= „Weiser Alkoholgebrauch?‘“ Bitte, definieren Sie doch diesen Begriff
etwas näher. Wir Abstinente können, wie die Dinge sich in unserem
Vaterlande jetzt gestaltet haben, im Hinblick auf die wirtschaftliche,
geistige und moralische Not unseres Volkes in allen seinen Schichten, in
unserem sehnlichsten Verlangen nach einer gesamten Neuerstarkung und
Ertüchtigung aller Volksgenossen im Alkoholgebrauch als sozialer Er-
scheinung nur einen Mißbrauch sehen, von dem der Bruch mehr ehrt als
der „weise“ Gebrauch. Die Frage lasse ich ganz beiseite, ob im Einzelfalle
ein Glas Bier oder Wein physiologisch schaden kann; ich kann aber auf die
höchst lehrreichen Ausführungen von Professor Thiele in der September-
Oktober-Nummer 1924 der Internationalen Zeitschrift gegen den Alkoholis-
mus hinweisen, aus denen hervorgeht, daß auf gewissen Gebieten der
Gewerbehygiene wie in der Farbstoff- und Arzneimittellehre, bei der
künstlichen Herstellung von Düngemitteln, bei Kanal- und Tiefbauarbeiten,
Tunnelbauten schon der Genuß einer ganz geringen Menge eines alkoho-
lischen Getränks die verderblichsten Folgen zeitigen kann.
Man darf aber bei der Frage nach der schädlichen Wirkung kleiner
Mengen alkoholischer Getränke nicht nur die physiologische Wirkung auf
ein Individuum im Auge haben, es ist keineswegs hierbei zu vergessen,
daß der ständige Gebrauch alkoholischer Getränke, gerade der „weise“
Alkoholgebrauch der Herren Verfasser suggestiv fort und fort einwirkt.
suggestiv die Trinksitte mit zu stützen und festwurzeln zu lassen, erfolgreich
tätig ist. Das ist eben auch ein wichtiger und starker Grund, gerade in
der Gegenwart die Forderung der völligen Enthaltsamkeit vom Genusse
jeglicher alkoholischer Getränke immer wieder zu erheben.
Was die Verfasser der Broschüre über Amerika zu sagen wissen,
entbehrt völlig jeder wissenschaftlich gesicherten Grundlage. Wenn jemand
über das Alkoholverbot in Amerika das Wort ergeifen will, so muß er
mindestens die Schrift von Dr. Hans Bogusat, Oberregierungsrat im Reichs-
gesundheitsamt: „Das Alkoholverbot in den Vereinigten Staaten von
Amerika und seine Folgen“ kennen; es kann ihm aber nicht erlassen
bleiben, sich auch die diesbezüglichen Schriften von Professor Strecker,
Professor Gaupp, Dr. Küpperbusch, Dr. Hercod vertraut zu machen, die
ja auf Grund eigener Beobachtungen in Amerika zu ihrer Darstellung der
Folgen des Alkoholverbots in Amerika gelangt sind; auch verweise ich
ausdrücklich auf die wertvollen Mitteilungen von Dr. Alice Salomon, die,
obwohl Nicht-Abstinentin, die segensreichen Wirkungen des amerikanischen
Alkoholverbots gleichfalls nach eigenen Erfahrungen im Lande der Ver-
einigten Staaten geschildert hat.
Wenn die Herren Verfasser auch nur einige Kenntnis von der Ge-
schichte des Alkoholverbots in Amerika besäßen, würden sie nicht von
einer plötzlichen, gewaltsamen Umstellung der Alkohol-Produktions- und
Ausschankstätten mit ihrer Wirkung auf die bisher in ihnen Beschäftigten
(Arbeitslosigkeit!) geschrieben haben. Wer denkt denn bei uns an eine |
sofortige, plötzliche Trockenlegung? Das Gemeindebestimmungsrecht,
dessen Einführung wir erstreben, ist kein Alkoholverbotsrecht im Sinne des
amerikanischen Alkoholverbots, es ist ein Ermächtigungsrecht, das den
wahlberechtigten Mitgliedern einer Gemeinde oder eines Gemeindebezirks
Juliusburger, Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs ohne GBR u. Trockentegung. 157
das Recht geben soll, die Ausdehnung der Zahl der Schankstätten nach
dem erkannten Bedürfnis zu regulieren, es soll als Mittel dienen, die
Gelegenheiten zum Ausschank und somit zum Genusse alkoholischer Ge-
tmänke einzuschränken. Selbstverständlich muß man einer Gemeinde, d. h.
ihren wahlberechtigten Mitgliedern das Recht zusprechen, über den Umfang
der Alkoholproduktion und Konsumtion innerhalb ihres Bezirkes, über die
Ausdehnung der Polizeistunde Verfügungen zu treffen, die als zweckmäßig
und notwendig erkannt werden. Das ist und bleibt ein demokratisches
Grundrecht. Wahrlich, es besteht keine Gefahr, daß bei uns so wenig
wie vordem in Amerika grundlegende gesetzgeberisch festgelegte Aen-
derungen bezüglich der Alkohol-Produktions- und Ausschankstätten plötz-
lich vorgenommen werden. Das wird und kann auch nur allmählich vor
sich gehen; wir haben wahrlich nicht die Absicht, ein Heer von Arbeits-
losen noch zu ihrer bisherigen Zahl schaffen zu wollen; im Gegenteil, wir
sind nach dem amerikanischen Vorbild überzeugt, daß die Arbeitslosigkeit
erheblich verringert werden wird, je mehr die Alkoholindustrie es lernen
wird, sich auf andere Industriezweige umzustellen. Handel und Wandel
wird erst recht aufblühen.
Mit „den politischen Gefahren einer Beeinträchtigung des Weinhandels
für das Rheinland und andere Gebiete Deutschlands, wodurch dem Be-
gehren der Franzosen nur Wasser auf die Mühle getrieben würde“, können
die Verfasser der Broschüre doch nur politische Kinder schrecken; die
Rheinländer und alle Deutschen müßten sich ganz energisch den Verdacht
verbitten, welchen die Herren Verfasser anzudeuten wagen. Was? Die
Rheinländer sollten nur bis zum Geldpunkte vaterländisch gesinnt sein
und mit der Abnahme des Weingenusses auch ihre vaterländische Ge-
sinnung abnehmen lassen. Meine Herren, glauben Sie das wirklich? Doch
xewiß nicht.
In Ihrer Broschüre heißt es: „Bier und in anderen Gegenden Wein
sind nicht nur für die Einheimischen Bedürfnis und Genuß, sondern auch
iür die Fremden, die der deutschen Gegend, sobald sie ganz trockengelegt
wäre, wohl schnell den Rücken kehren würden. — Unsere guten deutschen
Weine und Biere üben eine nicht zu unterschätzende Anziehungskraft auf
die Fremden aus.“ Nun liegt doch wirklich nicht im Wesen des jetzt
seiorderten Gemeindebestimmungsrechts die sofortige allgemeine Trocken-
legung von ganz Deutschland, das wissen sicherlich ebensogut wie ich
die Herren Verfasser der Broschüre. Es ist aber doch tief bedauerlich
und geradezu beschämend, in der Produktion alkoholischer Getränke eine
deutsche Eigenart sehen zu wollen, die gewissermaßen aere perennius
anzesehen werden soll. Unser herrliches deutsches Land soll also wirklich
des Weines und des Bieres erst bedürfen, um auf die Fremden anziehend
zu wirken und sie zum Verbleiben zu bewegen? Unsere Wälder, unsere
Berge, unsere Flüsse, unsere Städte erhalten erst durch die Bierpaläste
und die Weinstuben, gar auch durch die vielen Kneipen und Destillen
das charakteristische Gepräge und ihren unwiderstehlichen Anreiz? Ist
es wirklich das bier- und weintrinkende Deutschland, von dem wir sagen
und singen: „Deutschland, Deutschland über alles“? Ich meine, wir wollen
doch lieber wahrhaftig und tiefinnerlich das Volk der Denker und der
Dichter heißen und vor allen Dingen wieder sein. Wir wollen auf der
Bahn echter Menschlichkeit und sozialer Gesinnung vorangehen. Deutsche
Wissenschaft, Deutsche Kunst und Technik werden immerdar die Besten
des Auslandes zu uns rufen, wie auch wir von ihm das Beste lernen wollen.
_ Nun höre ich aber noch einen wichtigen Zwischenruf. Wo bleibt die
Steuerquelle, wenn die Produktion und Konsumtion der alkoholischen
Getränke wesentlich eingeschränkt werden soll.
Warum wird aber immer wieder vergessen, darauf hinzuweisen,
welche Unsummen Geldes derselbe Staat oder dieselbe Gemeinde wieder
ausgeben muß, um nur einigermaßen die durch den Alkohol bedingten
158 Abhandlungen.
und hervorgerufenen Schäden wieder auszugleichen. Wir werden ganz aui
die Steuern verzichten können, welche aus einer so sozial verwerflichen
und betrübsamen Quelle wie die Alkohol-Produktion und Konsumtion doch
ist, gewonnen werden, wenn wir erst eine gerechte Grundsteuer haben,
die den Spekulationsgewinn für die Allgemeinheit erfaßt. Wenn wir die
Bodenspekulation wirksam bekämpfen, wenn wir dem Volke den Boden
zurückgeben, wenn wir das Wohnungselend beseitigen, wenn wir dem
Volke Heimstätten bauen und wie gesagt, zu einer gerechten Grundsteuer
kommen, — dann haben wir wesentlich gesündere Verhältnisse als heute, wir
brauchen dann nicht Steuern aus einer Quelle zu erheben, aus der doch nur
ungemessenes Volkselend zugleich hervorströmt. Die Herren Verfasser
der Broschüre lehnen aber das Gemeindebestimungsrecht auch deswegen
ab, weil sie Bedenken haben, daß der Urwählerschaft eine bestimmende
Gewalt in diesen Fragen eingeräumt würde. Die Entscheidung über das
Vorliegen eines Bedürfnisses liegt heute bei den Kreis- und Stadt-
ausschüssen nach Anhörung vom Gemeindevorstand. Dies seien Stellen,
die nach Meinung der Verfasser der Broschüre auch hinreichend Bürg-
schaft für eine sachgemäße Behandlung bieten. Wir sind aber entschieden
anderer Meinung. Vor ganz kurzer Zeit haben wir ja erst bei Eröffnung
des Freibades Wannsee in Berlin erlebt, was dabei herauskommt, wenn
die gegenwärtig die Entscheidung führenden Stellen nicht durch die soziale
Verantwortlichkeit der wahlberechtigten Mitglieder der Gemeinde abgelöst
werden. Die Behauptung der Verfasser der Broschüre wird gerade durch
die Verfügung bezüglich der völlig unangebrachten Erlaubnis, im Freibade
beliebig alkoholische Getränke auszuschenken, recht wirksam widerlegt
und die dringende Notwendigkeit der Einführung eines Gemeinde-
bestimmungsrechtes allen einsichtigen Männern und Frauen unwiderleglich
klar dargelegt. Der Fall Wannsee ist geradezu ein Schulbeispiel, wie es
nicht gemacht werden sollte, wie die bisherigen Instanzen, welche eine
Entscheidung in vorliegender Frage zu fällen haben, nur zu leicht versagen,
wie notwendig es ist, daß auf ganz anderer Grundlage, eben auf der
freien Entscheidung der Urwählerschait neue Bestimmungen getroffen
werden müssen. Die Forderung des Gemeindebestimmungsrechtes ist eben
sozial unumgänglich.
Nun noch ein Wort zu einem besonders schwerwiegenden Irrtume der
Verfasser der Broschüre. Die Herren Verfasser erklären: „Ausgesprochene
Abstinenz der Mitglieder der Fürsorgestellen, wie des Vorsitzenden und
des leitenden Arztes würde die meisten Trinker abschrecken zu kommen
und sich beeinflussen lassen, wie es jetzt bei den Fürsorgestellen der
Abstinenten offensichtlich der Fall ist.“ Gegen eine solche Auffassung
und Forderung muß mit aller Entschiedenheit Einspruch erhoben werden.
Was die Verfasser der Broschüre hier behaupten, wird durch unsere jahre-
lange Erfahrung entschieden widerlegt. Es würde eine Rundfrage bei
maßgebenden Fachärzten das Gegenteil der Meinung der Herren Pütter
und Hesse ergeben. Ich hoffe, daß noch eine sehr deutliche Antwort den
Herren Verfassern der Broschüre gerade aus ärztlichen Kreisen zuteil
werden wird.
Es ist doch klar, daß weit mehr wie das ermahnende Wort, das
lebendige Beispiel wirksam ist, dem eben die Hauptkraft einer positiv
wirkenden Suggestion innewohnt. Darüber kann aber nach den vor-
liegenden, immer wieder neu zu erhebenden Erfahrungen keine Meinungs-
verschiedenheit mehr bestehen, daß für Alkoholkranke und ihre Angehö-
rigen das persönliche Vorbild der völligen Enthaltsamkeit allein mahnend,
anspornend, überzeugend wirken kann. Nur durch das Beispiel der Mit-
glieder der Fürsorgestellen, voran der leitenden Mitglieder, des Vor-
sitzenden und des Arztes, können im Seelenleben des Kranken die für seine
neue Lebens-Auffassung und -gestaltung erforderlichen sozial-sittlichen
Kraftideen erzeugt, behauptet, festgewurzelt werden. Ein Alkoholkranker
Juliusburger, Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs ohneGBRu.Trockenlegung. 159
und auch seine Angehörigen müssen eine ganz neue Stellung zum Leben
empfangen, und die kann ihnen nur eine im Sinne der Abstinenz orientierte
Persönlichkeit geben, die mit der Stärke und Sicherheit der Ueberzeugung,
die sich Schritt für Schritt im Leben bewahrheitet, auch den erforderlichen
Rückhalt gewähren kann, wenn erneut die Versuchung herantritt, die gewiß
auch dem und jenem nicht erspart bleibt, welcher sich einem Abstinenten-
vereine angeschlossen hat.
Gewiß gibt es auch hier Rückfälle, aber trotzalledem ist grundsätzlich
der Schutz, den ein Abstinenzverein gibt, doch ungleich wirksamer als
eine Organisation, die auf einem anderen Prinzipe erbaut ist. Dafür zeugt
eben immer aufs neue die vorurteilslose Erfahrung. Dazu kommt noch,
daß bei der Behandlung auch der Alkoholkranken die psychischen Trieb-
kräfte nicht außer Betracht gelassen werden dürfen, die nur ein psycho-
logisch geschulter Blick aus dem Seelenleben entwirren und klarlegen kann.
Die mannigfachen Insuffiziens- und Minderwertigkeitsgefühle mit ihren oft
fehlerhaften Kompensationsbestrebungen, die psychosexuellen Triebkräfte,
die zum Alkoholgenuß verführen, im Sinne der Grundauffasung von Alfred
Adler und auch Sigmund Freud, werden nur Persönlichkeiten erfassen können,
die mit den einschlägigen Fragen sehr genau wissenschaftlich Bescheid wissen.
Dazu sind aber nur Aerzte, Pastoren, Juristen, Sozialbeamte nach gründlicher
psychologischer und auch erzieherischer Vorbildung geeignet. Zur wirk-
samen Behandlung und Beherrschung der hinter dem Verlangen nach
Alkoholgenuß befindlichen seelischen Vorgänge kann aber nur die völlige
Abstinenz vom Genusse alkoholischer Getränke dienen. Erheiternd wirkt
es geradezu, wenn die Herren Pütter und Hesse verlangen, daß in den
Komitees der von ihnen verlangten Fürsorgestellen „nicht zuletzt Brauer,
Brenner und Schankwirte vertreten sein sollen“. Da mit dieser Forderung
der Ernst der Sache von den Verfassern verlassen wird, erübrigt sich jedes
Wort einer weiteren Widerlegung. Daher empfehle ich den Herren Ver-
fassern als Motto für die zweite Auflage ihrer Broschüre: Parturiunt
montes, nascatur ridiculus mus.
Zum Schlusse aber will ich kurz einem Forscher und einem
Denker das Wort geben, mit dessen Werke sich jeder vertraut
machen sollte, der in sozialen Dingen mitreden will, und niemand
ergreife das Wort zur Alkoholfrage, dem nicht die inhaltsreiche Schrift
Professor Robert Wilbrandts genau bekannt ist: „Der Alkoholismus als
Problem der Volkswirtschaft.“ Hier sagt Wilbrandt: „Und unter den
Faktoren, die unsere an sich mögliche Selbstversorgung aus der deutschen
Landwirtschaft hindern, ist ein nicht geringer der Verbrauch von Nah-
rungsmitteln für Alkoholproduktion. — Unser Volk braucht restlose Oeko-
nomisierung, um wieder hochzukommen, und das heißt vor allem: Stärkung
der Produktionskraft unter Verzicht auf allen die Produktion nicht fördernden,
weil nicht leistungsfähig machenden, sondern direkt und indirekt schädigenden
Konsum. Da muß alle Rücksicht auf Privatinteressen zurücktreten. — Darum
möchte man dem Reichstag zurufen: Landgraf werde hart. Sei mehr in
Sorge um das Schicksal der ganzen deutschen Volkswirtschaft und weniger
um das Schicksal der einzelnen Gast- und Schankwirtschaften. — Baut
Nahrungsmittel an und laßt sie nur als solche verwenden. Laßt die
Schnapsbrennereien und Sektfabriken und Brauereien zu Nahrungsmittel-
fabriken werden. — Und mit der Begeisterung, die in den jungen
Bekämpfern des Alkoholismus glüht, mit dem Kampf gegen die raffinierte
Verlogenheit des Alkoholkapitals, sei das Gewissen verbunden, das gegen
die eigene Natur, gegen die hohe Anlage im Menschen, gegen die heilige
Gotteswelt nicht sündigen will durch Herabsinken in die Schwäche des
Genusses und Lasters, sei auch das soziale Gewissen verbunden, das derer
gedenkt, die als Opfer des Alkohols fallen. Es mögen Erkenntnis, Kultur.
und Gewissen sich verbinden zum Aufbau eines gereinigten, eines gesunden‘
eines starken, und geachteten, eines stolzen und blühenden deutschen Volkes.“
Chronik |
für die Zeit vom 1. März bis zum 30. April 1925.
Von Pastor Dr. Christian Stubbe.
A. Zwischenstaatliches.
Die Weltverbotsvereinigung hat eine Denkschriit über das
Alkoholverbot an den Völkerbund gerichtet, er möge eine internationale
Konferenz der verschiedenen Regierungen offiziell einberufen, um eine
Iate nationale Verbotsbewegung herbeizuführen („The Int. Rec.“ 1925,
0. 33).
Veränö Vionmaa, welcher 3 Jahre lang finnländischer Vertreter im
Völkerbund war, hat im „Kieltolakilethi‘“ eine Abhandlung über Alkohol-
frage und Völkerbund geschrieben. Schon dadurch, daß Nord-
amerika sich fernhalte, und Finnland, der einzige europäische Verbotsstaat,
nur geringe Macht besitze, trete das Interesse an der Alkoholfrage zurück.
Und Genf, der Sitz des Völkerbundes, sei von Weinbergen umgeben und
pflegt die Trinksitte. Man fühle sich für China verantwortlich und entrüste
sich über die Entarturg dort durch Opium und setze sich dann an einen mit
alkoholischen Getränken überladenen Tisch. Ein sozialistischer englischer
Minister habe sich jedoch bei einem offiziellen Essen dadurch ausgezeichnet,
daß er nichts anderes als Alpenwasser trank. — Amtlich hätte sich der
Völkerbund mit der Alkoholfrage in Rücksicht auf die Eingeborenen von
Afrika und der Südsee beschäftigen müssen, Zwei besondere MißBstände
liegen dort vor: 1. daß die Weißen anders behandelt werden als die Ein-
gebarenen (gelegentlich werde jemand Christ, um dadurch Freiheit zum
Spirituosengenuß zu bekommen), 2. daß die Kolonien verschiedener Staaten
nicht die gleichen Zölle und Abgaben für Spirituosen erheben (dadurch
werde der Schmuggel ungemein gefördert) — „De Geheelonthouder‘ No. 4.
Die Weltweinernte 1923 betrug 162 159000 hl; davon fielen auf
Frankreich ohne Algier 58 980 000 hl, mit Algier 69 431 000 hl, auf Italien
43 855 000 hl, Spanien 22 219000 hl. Die anderen Länder hinken weit hinter-
her (Les Ann. ant.“ 1924, No. 11).
B. Aus dem Deutschen Reiche.
Allgemeines.
Im Vordergrund des Interesses steht für die Alkoholgegner der Kampf
umdasSchankstättengesetz. Als Zentrale ist ein Reichsausschuß
für das Gemeindebestimmungsrecht (Vorsitzender: Dr. Melle, Frankfurt
am Main, Geschäftsführer: Prof. Dr. Gonser, Berlin-Dahlem, Beisitzer aus
allen wichtigeren sozialen Verbänden) gebildet. Die Woche vom 10. bis
17. Mai ist Werbewoche für das Gemeindebestimmungsrecht. Die Kirchen-
behörden aller Konfessionen treten für eine kirchliche Einleitung der Woche,
soziale und gemeinnützige Verbände aller Art neben den Alkoholgegnern
für große Werbeversammlungen ein. Besonders bemerkt wird, daB auch
die Berliner Medizinische Gesellschaft in einer Entschließung die Einführung
des Gemeindebestimmungsrechtes im Interesse der Bekämpfung des Alkohol-
mißbrauchs für eine dringende Notwendigkeit erklärt.
Nach Drahtung des W. T. B. vom 2. 3. aus Berlin schlägt das Reichs-
finanzministerium (um den Haushaltsplan des Reiches ins Gleichgewicht zu
bringen) u. a. vor, die Zölle für Auslandsbier zu erhöhen und die
Stubbe, Chronik. 161
Steuer für Inlandsbier zu verdoppeln, was eine Erhöhung von 54 Pig.
aufs Liter bedeutet.
Bei der Darlegung des FinanzprogrammsderRegierungim
Reichstag fordert die Reichsfinanzminister am 30. 4. eine Erhöhung der Bier-
ındTabaksteuer, die, wenn möglich, bereits 1. 7. in Kraft treten soll.
Er rechnet mit einem Ertrag von 338 Millionen M im Jahre. — Von national-
sozialistischer Seite erhob man Einspruch.
Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion hat im Januar eine Anfrage an
die Regierung wegen der uneingeschränkten Wiederzulassung des
Brennens von Getreide durch den Reichsernährungsminister ge-
richtet: „Noch immer ist Brot notwendiger als Schnaps.‘ Die vom a
nn Begründung ist als stichhaltig nicht anzuerkennen (,„A. d. W.“
r, 3—4
Der handelspolitische Ausschuß des Reichstages hat 1. 4.
den deutsch-spanischen Handelsvertrag abgelehnt und in einer Entschließung
neue Verhandlungen gefordert, die ausreichenden Zollschutz u. a. für den
deutschen Wein- und Obstbau erstreben sollen.
Der Umstand, daß das Reichsmonopolamt Branntwein zu verschiedenen
Preisen abgibt, hat zu umfangreichen Spritschiebungen geführt. Die
Getränkeindustrie zahlt den regulären Verkaufspreis. Für die Heilmittel-
fabriken gilt der sog. besonders ermäßigte Verkaufspreis, Für die Par-
fümeriefabrikation gibt es einen dritten, den sog. allg. ermäßigten Verkaufs-
preis. Nun hat die Getränkeindustrie sich dauernd große Mengen auf Konto
der zweiten und dritten Art der Verwertung zu verschaffen gewußt, dadurch
ein großes Geschäft gemacht und den Staat schwer geschädigt. (Näheres
nach dem „Vorwärts“ im „Abst. Arbr.“ 1924, Nr. 11). — Der Präsident der
Reichsmonopolverwaltung Geheimrat Steinkopf ist zurückgetreten (,„Vor-
wärts“ 2. 2.). — Regierungsrat Kreth erklärte im Verein der Spiritus-
fabrikanten: Die Entwicklung, sowie die Bestandshöhe beim Monopol dränge
nach einer Reform der Spiritusgesetzgebung; auch müßten Reich und Staat
in a Betrieben mehr zur Verwendung von technischem Spiritus über-
zehen.
Anläßlich der Wahl eines Reichspräsidenten erließ der Hochmeister des
Jungdeutschen Ordens (24. 4.) folgenden Befehl: „In den be-
deutungsvollen Tagen vom Bekanntwerden dieses Befehls bis zum Abschluß
der Wahlhandlung am 26. April verbiete ich jeden Genuß von Alkohol und
Tabak, sowie die Beteiligung an jeder nutzlosen Vergnügung, welche nicht
mit Familie und engstem Freundeskreise zusammenhängt.“
Statistisches.
Ueber Branntweinerzeugung und -verbrauch im
Betriebsjahr 1922/23 (von Herbst zu Herbst) entnehmen wir der
Zeitschrift des Statist. Reichsamts „Wirtschaft und Statistik“ Nr. 2 1925
iolgeende bemerkenswerte, wenn auch infolge der feindlichen Besetzung noch
unvollständige Angaben: Brennereien waren im deutschen Branntwein-
monopolgebiet am 30. September 1923 im Betrieb 45 625 (i. Vorj. 44.047).
An für die menschliche oder tierische Ernährung nutzbaren Rohstoffen
wurden verwendet: rund 769 000 t Kartofieln, 233 000 t Getreide und sonstige
mehlige Stoffe, 832 000 hl Kernobst und Kernobsttreber, 390 000 hi Steinobst,
132000 t Melasse und sonstige Rübenstoffe.. Der Verbrauch an Trink-
Schnaps betrug mind. 1550 000 hl (620 000 reinen Alkohol, wovon 23800 hl
aus dem Ausland eingeführt), das macht („mit Vorbehalt“) auf den Kopf
12 l gegen 21i. V. Der größere Teil des Branntweinverbrauchs geht, was
nicht allgemein bekannt ist, schon seit Jahren auf gewerbliche Zwecke; es
waren im Betriebsjahr 769 000 hi r. A.) Die genannte Quelle bemerkt dazu:
„Ohne Zweifel ist 1922/23 ein starker Rückgang des Branntweinverbrauchs
eingetreten, der auf die zunehmende Verarmung breiter Bevölkerungs-
schichten zurückzuführen ist.“ Dieser Rückgang hielt auch im Betriebsjahr
Die Alkoholfrage, 1925. 11
162 Stubbe, Chronik.
1923/24 an (334000 hl r. A. oder 0,54 pr. K.). Für das Betriebsjahr 1924/25
ist aber nach einer aus dem Preuß. Statist. Landesamt stammenden Angabe
voraussichtlich schon wieder mit einer sehr wesentlichen Steigerung zu
rechnen.
Kirchliches.
Evangelisch. „Wort und Tat“. Aus der Arbeit des Central-
Ausschusses für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche im
Jahre 1924“ führt als Fachverband Gruppe 8 „Bekämpfung sittlicher Volks-
schäden und Fürsorge für Gefährdete und Gefallene‘“ auf. Obmann: Pfarrer
Maetzold, Dıesden; Vertreter Prof. Dr. Gonser, Berlin-Dahlem. Von alkohol-
gegnerischen Verbänden sind dieser Gruppe der Deutsche Verein gegen den
Alkoholismus und der Deutsche Bund evang.-kirchl. Blaukreuz-Verbände
angeschlossen.
Auf der außerordentlichen Propsteisynode zu Kiel 18. 3. 1925
wurden Vorträge von Pastor D. Jansen über die Bekämpfung der öffent-
lichen Unsittlichkeit und von Pastor Dr. Stubbe über die Trunksuchts-
frage gehalten. Einstimmig wurde zum zweiten Thema folgende Ent-
schließBung angenommen:
„Neben der geschlechtlichen Sittenlosigkeit erblickt die Synode in dem
Alkoholismus einen gefährlichen Feind unseres Volkstums. Sie erwartet von
allen zum Dienst an der Gemeinde Berufenen, besonders von den Geistlichen
und den Kirchenvertretern, daß sie sich auch in der Bekämpfung des
Alkoholismus ihrer Führerpflicht bewußt sind... .. Sie bittet die Reichs-
regierung und den Reichstag, vor allem die schleswig-holsteinischen Ab-
geordneten, dringend, für den baldigen Erlaß eines Schankstättengesetzes
mit den von der Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus vorgeschlagenen
Bestimmungen Sorge zu tragen.“
Katholisch KardinalBertram hat den Kreuzbündlern Schle-
siens zu ihrer Hauptversammlung seinen „dringendsten Wunsch“ zu
erkennen gegeben, daß ihre Arbeit Frucht bringe.
Sonstiges.
Ein kräftiger Schlag ist dem Spritschmuggel abermals von
deutschenGerichten versetzt. Eine Hamburger Fischereigesellschait
hatte Mannschaften angeheuert, eine Schiffahrt nach Finnland zu unter-
nehmen. Anstatt Lohn sollten sie einen Teil des Erlöses vom Sprit erhalten.
Es gab aber statt des erhofften Gewinnes Verlust, weil der Sprit auf Kredit
verkauft war. Es kam zum Rechtsstreit zwischen Mannschaft und Gesell-
schaft. Das Landgericht wies die Klage ab, weil die Forderung auf einem
gegen die guten Sitten versioßenden Geschäft beruhe. Das Oberlandes-
gericht trat der Vorentscheidung bei: Die deutsche Rechtsordnung gewähre
Personen keinen Rechtsschutz, die sich bewußt auf die Förderung gewerbs-
mäßigen und gewinnsüchtigen Schleichhandels einlassen. — Dieser Stand-
punkt wurde auch vom Reichsgericht eingehalten („Kieler Ztg.“ Nr. 9).
Eine Geheimbrennerei wurde im Norden Berlins etwa 20 m unter
der Erde entdeckt, ein großer Betrieb, katakombenartig aus-
gebaut. Die Ausschachtungsarbeiten waren seinerzeit nachts vor-
genommen. Auch die Brennerei arbeitete nachts. Horchposten waren aus-
gestellt. Das Geschäft soll mindestens 6 Monate bestanden haben (,,K. Ztg.“).
Das Branntweinmonopol (Nr. 23 v. 20. 3. 25) schreibt: „Die Auffindung
geheimer Brennereien ist eine so alltägliche Sache, daß wir meistens keine
Notiz davon genommen haben.“ (!)
Eine Alkoholgegnerwoche wurde 3. bis 8. 5. in Königsberg
i. Pr., eine Landesalkoholgegnertagung für Schleswig-Holstein in Flensburg-
Neumünster-Rickling 11. bis 14. 4., ein Lehrgang zur Alkoholfrage in Stettin
l. bis 4. April, cine „Kampfwoche gegen den Alkoholismus“ im März in
Stubbe, Chronik. 163
Karlsruhe gehalten. Von allen 4 Plätzen berichtet man, daß der Besuch,
uberhaupt der ganze Verlauf erfreulich gewesen sei.
Wir betrauern den Heimgang des Geheimen Regierungsrates H.
Quenselund des SanitätsratsDr.B.Laquer. Q., Gründer des Rheinischen
Provinzialverbands und lange Vorstandsmitglied des Deutschen Vereins
gegen den Alkoholismus, ist Verfasser des viel verbreiteten Büchleins „Der
Alkohol und seine Gefahren“ und der massenhaft aufgelegten Belehrungs-
karten zur Alkoholfrage; L., Vorsitzender des Wiesbadener Bezirks-
vereins und Verwaltungsausschußmitglied des D. V. g. d. A., schrieb u. a.
über das Gotenburger System, das nordamerikanische Alkoholverbot,
bearbeitete die zweite Auflage von Baer, „Die Trunksucht und ihre Abwehr“
und war vor allem ein eifriger Vorkämpfer für die Errichtung eines Alkohol-
forschungsinstituts.
C. Ausanderen Ländern.
Afrika. Die Stadt Zanzibar zählt 203000 Einwohner. Von diesen
sind 200000 Neger und Hindus, welche ein Prohibitionsgesetz zur Annahme
gebracht haben. Nur die 3 000 eien stehen außerhalb der „Trocken-
heit“ („La Rev. ant.“ 24, No. 9 u. 10).
1919 bis 1923 wurden in en ee Kolonien Westafrikas
16644421 1 gebrannte Getränke (Gambien 180 781, Sierra Leone 1271918,
Goldküste 9 736 145, Nigeria 5 435 577 1), in den französischen 8972 211 I
(Senegal 3253 808, Sudan 151 284, Guinea 311 659, Elfenbeinküste 983 884,
Dahome 4 271 576 1 eingeführt, d. h. fürs Gesamtgebiet 0,146 1 auf den Kopf
der Bevölkerung, — ein starker Rückgang gegen die Vorkriegszeit („Afrique
Française”, Mars).
Australien. Die amtliche Statistik für Viktoria berechnet eine
Trinkausgabe von durchschnittlich 5 Pfund Sterling im Jahr auf den Kopf
der Bevölkerung („The Times“, 16. 1.).
InWestaustralien ist Anfang April in der Volksabstimmung die
Prohibition abgelehnt.
Belgien. Auf den Kopf der Bevölkerung wurden getrunken:
1913 1920 1921 1922 1923
Grannie („ SPIEL LNOSEH “) 5521 2481 1981 2391 2521
Wein . . 4611 7611 6691 7,271 7561
Bier. . . Eee] 138 l 169 I 202] 234 l
Die Trunkenheitsfälle sanken von 200000 1913 auf 117997 1923 (d. h.
l auf 70 Einwohner). — „Monthly Notes“ 1924, No. 11.
Die Königliche Akademie der Medizin hat einstimmig eine
EntschlieBung zugunsten der Aufrechterhaltung der lex Vandervelde an-
genommen („Metropole“ 22. 2).
Canada. Saskatchevan ist im April vom Staatsverbot zur Staats-
kontrolle übergegangen. („Manch. Guard.“ 17. 4); desgl. Neufundland im
Februar („Daily Mail u. Emp.“ 2. 2.).
China. Der General Feng, welcher kürzlich in Peking die Regierung
stürzte, ist Abstinent und Nichtraucher und verbietet Alkohol, Tabak und
Opium auch seinen Soldaten. Dafür leitet er sie zur Feldarbeit, zum
Straßenbau und zum Handwerk an. („Schw. Abst.“ No. 22.)
Finnland. Der kürzlich zum Staatsoberhaupte gewählte Dr. Re-
lander ist entschiedener Anhänger des Alkoholverbots. Eben deshalb
ist auch die große verbotsfreundliche rn bei der Wahl für ihn
eingetreten. (Int. Bur. z. B. d. A“ No. 3). Pressebulletin.
1924 sind 20057 Vergehen gegen das Alkoholverbots-
kesetz festgestellt worden (gegen 19 198 im Vorjahre). 1162 (2168) fallen
auf verbotene Herstellung von Alkohol, 78 (146) auf die Einfuhr und 13 989
11%.
164 Stubbe, Chronik.
(12028) auf den Transport und die Aufbewahrung, 3379 (3189) auf den
Verkauf von Alkohol und 1540 (1667) auf sonstige Verstöße gegen das
Alkoholgesetz. — Wegen Trunkenheit wurden 1924 63405 Personen
(gegen 56 413 im Jahre 1923) bestraft. („Kieler Ztg.“ Nr. 117 u. Tirfing 1925
H. 1/2). Der schwedische Statistiker Gahn erklärt die Zunahme der Ver-
haftungen wegen Trunkenheit zur Hauptsache daraus, daß die Polizei viel
schärfer zugreife als früher („I. B. z. B. d. A.“ Bull. No. 3).
Frankreich. Ein Nationaler Verband gegen die Haus-
brennerei ist gebildet (Ehrenpräsident M. Donteau). — „Frht.‘“ No. 3.
Hohe Steuern auf alkoholische Getränke pflegen den Verbrauch zu
mindern. 1921 setzte Frankreich bei Aufhebung des Branntweineinfuhr-
Verbotes hohe Abgaben für Trinkalkohol fest. Für 1 hl 300 fr Zoll, 1150
fr Inlandssteuer, 30 % des Wertes Luxussteuer, 420 fr soz. Uebertaxe zu-
gunsten der Alkoholregie. (Die Inlands- und Luxussteuer gelten auch für
die heimischen Schnäpse). Der Verbrauch an Branntwein (zu 100 %) betrug
1913: 1 665 000, 1918: 599 000, 1921: 788 839, 1922: 963 671, 1923: 1046 858 hl.
Also das Publikum gewöhnt sich verhältnismäßig rasch an die höheren
Preise. Außerdem wurde der geringere Branntweingenuß zum Teil durch
vermehrten Weingenuß ausgeglichen (1911—13 durchschnittlich 39 000 000 hl
jährlich, 1921—23 45 000 000 hl im Jahr). — „Frht.“ 1924, Nr. 20.
Der Conseil général du Rhône fordert angesichts der guten
Erfolge des Absinthverbots insonderheit in der Verminderung der Geistes-
störungen auch ein VerbotderErsatzabsinthe (,„L’E't.“ B1. No. 12).
Großbritannien. Im Alter von 89 Jahren starb im Monat Februar
der Großindustrielle Joseph Rowntree, der mit Sherwell zusammen über
Wirtshausreform im Sinne des Gotenburger Systems geschrieben hat. Neben
der Alkoholfrage beschäftigte ihn vor allem die Wohnungsfrage. Er gründete
u. a. das ideale Arbeiterdorf New Easswick bei York mit einem Volkshaus
(„Frht.“ Nr. 6).
Die englische Vereinigung enthaltsamer Eisenbahner (Haupt-
versammlung in London 25. 10. 24) umfaßt rund 60000 Mitglieder („Het
veil. Spoor“ 1924, No. 12).
Der englische Finanzminister hat die Profite der Brauerei-
Konzerne im gesamten Königreiche geschätzt auf (Einkommensteuerjahr)
1913—14: 9971000 Pfund Sterling, 14—15: 11680000, 15—16: 13 181 000,
16—17: 14220000, 17—18: 24394000, 18—19 30190000 Pfd. St. Bei 7
Millionen Biertrinkern würde das ein Tribut von 4 Pfd. St. =80 M) auf
den Kopf bedeuten. („Abst. Arbr.“ 1924, No. 12, nach dem Glasgower
„Vorwärts‘“).
1923 wurden in England und Wales rund 77000 Menschen wegen
Trunkenheit verurteilt; an Alkoholismus starben 278 Männer
und 132 Frauen, an Leberschrumpfung 1169 Männer und 605 Frauen. (Ebenda.)
Die Jungliberalen von Lancashire und Cheshire fordern die
Aufnahme der Prohibition als einen der Hauptpunkte ins liberale Partei-
programm („Daily News“ 2. 1.
Ueber den Einfluß des Trunkes der Mutter auf die Kinder
hat Sullivan im Gefängnis zu Liverpool Untersuchungen angestellt. Tuber-
kulöse und syphilitische Frauen wurden ausgeschlossen. Im übrigen konnte
er an 120 Trinkerinnen seine Feststellungen machen. 600 Kinder wurden von
diesen 120 trunksüchtigen Frauen geboren: davon starben 335, ehe sie das
2. Lebensjahr erreicht hatten; nur 44,2 % wurden älter. Je länger die
Mütter bereits tranken, um so größer war die Zahl der Totgebornen. (Beim
ersten Kinde 6,2 %, beim zweiten 11,2 %, beim sechsten und späteren
Kindern 17,2 %.) 41 % der trunksüchtigen Mütter litten an Epilepsie.
(„De Volksbond“ No. 138 — nach „Journ. of Med. Sc.“).
Lettland. Nicht nur unter den Letten, sondern auch unter den
Deutschen wird kräftig gegen den Alkoholismus gearbeitet. Im „Jahrbuch
Pr
Stubbe, Chronik. 165
des Deutschtums in Lettland‘ (Riga 1925, Verlag Jonck u. Poliewsky) findet
sich eine Abhandlung von Dr. Oskar Schabert über „Die Deutsche
Fürsorgezentrale“. Darin wird auch über die deutsche Arbeit gegen
den Trunk berichtet. Sch. schreibt: Durch eine Rundfrage an die Ge-
meinden und Vereine wurde festgestellt, daß die Opfer der Trunksucht
sich stark gemehrt haben. Ist doch der Konsum alkoholischer Getränke
rotz der schlechten wirtschaftlichen Lage des letzten Jahres wieder im
Steigen begriffen. Die Rundfrage ergab das erschütternde Resultat, daß
es die höchste Zeit ist, eine der Trinkerheilung dienende
Anstalt ins Leben zu rufen. Die Rigasche Stadtmission will sie be-
gründen.“ Es wird dann weiter ausgeführt, daß die Deutsche Fürsorge-
zentrale die Einheitsfront im Kampfe gegen den Alkoholismus bilden will.
„Unser kleines Häuflein Deutscher (zirka 65 000), das für den größten Teil
seines Kulturbudgets selbst aufkommen muß, darf es nicht zulassen, daß
von seinen Gliedern 60 Mill. Rbl. jährlich für Alkohol verschwendet werden.
Wenn auch die Deutsche Fürsorgezentrale zunächst vom nationalökono-
mischen Standpunkte aus den Alkoholmißbrauch bekämpfen will, so freut
sie sich doch von Herzen, daß die führenden Abstinenzvereine sich mit
anderen auf dem Boden der Abstinenz und ernsten Mäßigkeit stehenden
Vereinen zusammengeschlossen haben zu einer Deutschen Arbeits-
gemeinschaft zur Bekämpfung des Alkoholismus.“
Litauen. Der Katholische Studentenverein Ateitis besitzt an der
Lniversität Kaunas eine abstinente Sektion, die 1924 mit 76 Mitgliedern
abschloß, die an höheren und Mittelschulen im ganzen 229 Vorträge im
genannten Jahre hielten. In 47 Orten Litauens gibt es Mittelschüler-
Abstinentenvereine mit im ganzen 2 000 Mitgliedern. An der Schaffung einer
litauischen alkoholgegnerischen Literatur ist fleißig gearbeitet (,Int. Bur.
z. B. d. A.“ Bull. No. 3).
Niederlande. „De blauwe Vaan“ No. 1 berichtet, daß den
katholischen Alkoholgegnern durch „die hohe Geistlichkeit“
verboten sei, für das Gemeindebestimmungsrecht zu werben, „um die
katholische Einheitsfront nicht zu brechen“, während: der niederländische
sumisch-katholische Hotel-, Kaffee-, Restaurantbesitzer-Bund sich bei der
ersten Kammer um die Verwerfung der lex Rutgers bemüht habe.
Oesterreich. Die Wiedervereinigung des alten I. O. G. T. und des
neutralen Guttemplerordens ist auch in Oesterreich vollzogen. Eine
speziell österreichische Werbeschrift „Der Guttemplerorden‘“ ist von Karl
Janotta geschrieben („Der Rufer“ No. 2).
Die Zunahme der im Krieg zugückgegangenen alkoholischen Geistes-
Störungen setzte gleich 1919 ein (132 gegen 102 1918). 1923 wurden —
nach Dr. Herschmann — bereits 403 geistesgestörte Alkoholiker eingeliefert
(Schw. Abst“ No. 22).
Seit am 1. Januar der Bierzoll von 30 auf 12 Goldkronen ermäßigt
ist, werden 4 Waggon Pilsener Bier allein nach Wien täglich abgelassen
(„Reichsausschuß für's Alk.-Verb." Febr.)
Rumänien. Die neubegründete „Croix orthodoxe“ entfaltet
eine lebhafte Werbetätigkeit; der Erzbischof für die orthodoxe Kirche in
Moldau hat einen Hirtenbrief gegen den Alkoholismus erlassen. („Der
Rufer“ Nr. 2).
Schweden. Der vor kurzem verstorbene Finanzminister Thorsson
war Guttempler.
In Schweden zählt man 784303 organisierte Abstinenten und
Verbotsanhänger, darunter 237 959 Jugendliche. — 5. November 1924 wurde
der 45. Jahrestag der Einführung des Guttemplerordens in Schweden
gefeiert („Tirfing‘, 24, No. 9—10).
O3 u a a 220 2 2 eilt
166 Stubbe, Chronik.
1925 werden vom Zentralverband für Nüchternheits-
unterweisung fünftägige Lehrkurse in Karlstadt, Oskarshamn, Jön-
köping, Strängnäs, Malmö, Sundsvall und Laholm gehalten (,„Tirf.‘‘“ ebenda).
Der Reichstag hat Kr. 152000 für die Nüchternheitsarbeit bewilligt,
davon Kr. 20000 an den eben genannten Zentralverband, 32000 für den
hygienischen Fortbildungskursus für Lehrer („Reformat.‘“ 26. 3).
Schweiz. Der Bundesrat führt durch Verordnung vom 6. 1. 25 einen
verwaltungsärztlichen Dienst für die allgemeine Bundesver-
waltung ein; dem Oberarzt liegt auch die Mitwirkung bei der Bekämpfung
des Alkoholmißbrauchs ob (,Frht.“ Nr. 5).
1924 sind in die Schweiz 146 Millionen 1 ausländischer Wein
(Großhandelswert 6 Millionen Fr.), 2,3 Millionen 1 Bier, daneben 266 000 q
Malz, 3800 a Hopfen (Wert der Einfuhr an Bier und Bierrohstoffen 15 bis
20 Millionen Fr.) und für rund 3% Millionen Fr. gebrannte Getränke,
— im ganzen rund 80 Millionen Fr. geistige Getränke eingeführt, während
kaum für % Million alkoholischer Getränke ausgeführt sind („Frht.“ Nr. 4).
Nationalrat Bratschi stellte 2. 12. 24 an den Bundesrat die
„Kleine Anfrage“, ob nicht bei Revision der Alkoholgesetzgebung statt Frei-
gabe der Hausbrennerei Schnapsverbot angemessen sei? Der Bundesrat
antwortete 15. 12: Er halte für eine „Mittellösung‘“ der Schwierigkeiten,
den gesamten Branntweinverkauf fiskalischer Belastung zu unterstellen,
dagegen Brennen aus Eigengewächs und dessen Verbrauch im eigenen
Haushalt freibleiben zu lassen (,„Frht.“ Nr. 1).
Um die Arbeiterschaft in der Mittagspause schnell und vielseitig be-
dienen zu können, hat der Bund abstinenter Frauen in Basel eine
Auto-Küche, eine Art Autoomnibus mit vollem Kochbetrieb, ein-
gerichtet (,„Frht.“ Nr. 2).
Das „Korrespondenzblatt für studierende Jugend“ 29. Jahrg. Nr. 1 führt
Jugendherbergen in 23 Orten auf.
Die Alkoholverwaltung schloß das Rechnungsjahr 1924 mit
einem Ueberschuß von 4133392 Fr. ab. Dieser Gewinn erlaubt, an die
Kantone 50 Rappen auf den Kopf der Bevölkerung zu verteilen; der Rest
wird zur Tilgung des Unterschusses der letzten Jahre verwandt (,Boden-
see-Ztg.“ 9. 2.).
Für das Jahr 1923 werden, obwohl das Jahr ohne Reinertrag abschloß,
20 Rappen auf Rechnung der Alkoholverwaltung auf den Kopf vergütet;
der größte Teil der Unterstützung fiel der Bekämpfung der Ur-
sachen des Alkoholismus zu (297708 Fr. = 45,18 %). während
174 1 Fr. = 26,50 % dem Kampfe gegen die Wirkungen galten (,Expreß“
6. 2.). ;
Die eidgenössischen Räte haben für dieKampforganisationen
gegen den Alkoholismus einen Kredit von 8500 Fr. in den
Voranschlag aufgenommen, von denen das Schweizerische Abstinenz-
sekretariat 5000, die katholische Abstinentenliga 2000 Fr., der Sozialistische
Abstinentenbund 800 Fr., der abstinente Bauernbund 500 Fr., der Guttempler-
orden 200 Fr. erhält („Volkswohl“ Nr. 4).
Tschechoslowakei. Für die deutsche enthaltsame
Jugend erscheint seit 1. 1. 25 eine eigene Monatsschrift „Jungschar‘“,
Schrittleitung: Dr. A. Grimm: Verlag: J. Czeıny, Landskron, Ostböhmen.
Türkei. Die große Nationalversammlung beschloß mit 133 gegen 23
Stimmen, daß Raki nicht wie Bier und Liköre als berauschendes Getränk
im Sinne des Gesetzes anzusehen, und daß sein Verkauf gestattet sei („The
Times“ 24. 1.).
Vereinigte Staaten von Nordamerika. Etwa 1000 Pro-
hibitionsgegner aus 30 Städten hielten 2. 2. in New York eine Versammlung,
worin die Bildung eines Fonds (1 Million Dollars) beschlossen wurde, um
Stubbe, Chronik. 167
eine Organisation über 2lle Bezirke auszulassen, die für die Wahl 1926
eine verbotsgegnerische Mehrheit sichern soll („The Times“ 4. 2).
Das Washingtonian House in Chicago, wo im ganzen 300 000
Betrunkene behandelt sind, — 1863 errichtet, 1875 neu gebaut, — hat nach
Einführung der Prohibition geschlossen und neuerdings verkauft werden
können („The Am. Issue“ No. 2).
Während der Ende 1924 verstorbene Arbeiterführer Samuel Gompers
ein Gegner des Alkoholverbots war, ist sein Nachfolger William A.
Green, Präsident der American Federation of Labor, ein langjähriger
Abstinent und eifriger Anhänger der Prohibition („Frht.“ Nr. 2
Der 29. Jahresbericht der Kommision für die Gefängnisse des
StaatesNew York gibt eine Uebersicht über den Anteil, den Alkoholis-
mus und Betäubungsmittel an den Aufnahmen in die City Institutions (Straf-
anstalten), County Jails (Bezirksgefängnisse) und Penetentiaries (Zucht-
häuser) haben. Trotz einer Vermehrung der Bevölkerung seit 1914 um
10% haben die Straftaten seit 1916 wesentlich abgenommen (es muß also
eine wesentliche Ursache der Kriminalität eingeschränkt sein, — der
Alkoholismus). Die Aufnahmen von Häftlingen wegen Trunkenheit gehen
1917 (Branntwein herzustellen verboten!) zurück und erreichen ihren Tief-
stand 1920. Seit 1920 nehmen die Alkoholikerfälle wieder zu; es wird aber
in den Bezirksgefängnissen kaum die Hälfte der Zahlen von 1914/15 erreicht,
in den Strafanstalten der Stadt und den Zuchthäusern weniger als 30 %
— Personen, die sich mit Betäubungsmitteln abgeben, „drugaddicts“,
werden von der Narcotic-Division untersucht und, wenn sie nicht rückfällig
oder schon gerichtlich bestraft sind, dem Metropolitan Hospital oder dem
Kings County Hospital zu dreiwöchentlicher Kur übergeben. Die kriminellen
drug addicts gehören zu den allerschwierigsten Sträflingen (Genaueres
siehe „Int. Ztschr. gegen d. Alk.“ Nr. 2).
1924 sind nach dem Berichte des Justizamts im ganzen 332 ausländische
Schiffe abgefaßt, die Schmuggel mit alkoholischen Getränken trieben;
307 fuhren unter britischer Flagge („The Times“ 3. 2.).
Senator Edwards von New-Jersey ist angeklagt, an der Spitze eines
Bootlegger-Rings zu stehen, der mit einem Kapital von 6 Millionen
Dollars arbeiten soll („Daily News‘ 21. 1.).
Orville Preuster, Prohibitionsbeamter an den Niagarafällen, ist durch
Bombenwurf getötet („Le Temps“ 4. 3.).
Als fette Ente kam in die europäische Presse eine Mitteilung des
New York Herald, daß in einer „verkürzten Bibel“, einem Bibelauszug
vom prohibitionistischen Professor der Yale-Universität, das Wort Wein
allenthalben durch „Traubenkuchen‘“ ersetzt sei; mehr oder minder geist-
reiche Witze schlossen sich daran an. Demgegenüber wird festgestellt, daß
an einer Stelle (Hos. 3, 1) in der Tat auf Grund des Urtextes dieser
Ersatz vorgenommen, im übrigen aber (31mal) korrekter Weise die Ueber-
setzung „Wein“ geblieben sei („La Semaine rel.“ 28. 3.).
Mitteilungen.
1. Aus der Trinkerfürsorge.
Die Frinkeresorge in Sachsen 1924.
rbemerkung. Die tatsächlich bearbeiteten Trinkerfürsorgefälle
sind zahlenmäßig nicht alle erfaßt. So bearbeiten z. B. die einzelnen Logen
des Guttemplerordens oft Fälle, die nicht durch die Beratungsstelle gehen.
Die folgenden Angaben beziehen sich demnach nur auf die aktenmäßig
festgelegten Fälle der einzelnen Fürsorgestellen im Qeschäftsjahre 1924.
Die seit 14 Jahren in Dresden-A., Blochmannstraße 19, bestehende Be-
ratungs- und Fürsorgestelle für Alkoholkranke aller Stände weist in der
seit dem Jahre 1920/21 geführten Kartothek insgesamt 1221 Trinkerfälle
nach. Die Inanspruchnahme ist von Jahr zu Jahr gestiegen. Im Berichts-
jahre sind 215 neue Trinkerfälle gemeldet und 210 laufende Fälle aus dem
Geschäftsjahr 1923 übernommen worden. Aus früheren Jahren lebten 62
alte Fälle wieder auf, so daß im Berichtsjahre 487 Fälle bearbeitet wurden.
Die allwöchentlich vom Leiter, Arzt und der Trinkerfürsorgeschwester ab-
gehaltenen Sprechstunden erreichten die Zahl 890. Die Fürsorgeschwester
führte 559 Hausbesuche und 431 Besuche bei Behörden, Vereinen und an-
deren Einrichtungen aus. Die Beratungsstelle, die der Rat der Stadt Dres-
den in Anerkennung der Wichtigkeit dieses Zweiges der öffentlichen Für-
sorge stützt und fördert, wird unterhalten vom Guttemplerorden (Vorsitzen-
der: staatlicher Fürsorgebeamter W. Grunert) und der Ortsgruppe Dres-
den des Deutschen Vereins gegen den Alkoholismus (Vorsitzender: Stadt- |
medizinaldirektor Dr. Leonhardt).
Die von der Dresdner Stadtmission (Blaukreuzverein I) unterhaltene
Trinkerfürsorgestelle. ZinzendorfstraßBe 17, bearbeitete im Berichtsjahre
76 Fälle (Leiter: Pfarrer Hieke).
Der Blaukreuzverein II Dresden (Gemeinschafts-Blaukreuz), Leiter:
Prediger Arthur Mütze, bearbeitete insgesamt 45 Fälle. Die Geschäfts-
stelle befindet sich Räcknitzstraße 7.
Die katholische Fürsorgestelle für Alkoholkranke, Dresden, Schloß-
straße 32, bearbeitete 12 Fälle. Die unterhaltende Organisation ist das
katholische Kreuzbündnis (Leiter: Kaplan Gustav Palm).
Der Ortsausschuß alkoholgegnerischer Vereine in Leipzig unterhält in
Leipzig, Töpferstraße 2, eine Beratungs- und Fürsorgestelle für Alkohol-
kranke aller Stände, geleitet von Max Lösch. Im Jahre 1924 sind 125 neue
Fälle anhängig geworden.
Außerdem unterhält das Blaue Kreuz I, II und IV Fürsorgestellen Naun-
dörfchen 12, Roßstraße 14 und Demmeringstraße 18, geleitet von Stadtmis-
sionar Hinkelmann, Guido Schneider und Prediger Gustav Färber. In
diesen Fürsorgestellen wurden 150, 176 und 40 Fälle bearbeitet.
Das Kreuzbündnis abstinenter Katholiken, Bezirksverband Leipzig und
Umgegend, bearbeitete aus katholischen Kreisen drei Fälle. Die Geschäfts-
stelle befindet sich Leipzig, Cichoriusstraße 15, geleitet von Carl Friese.
In Chemnitz unterhält der Stadtverein für Innere Mission, Gartenstr. 29,
unter Leitung von Hermann Vieweg eine Trinkerfürsorgestelle, die im
Berichtsjahre insgesamt 103 Fälle bearbeitete, 100 männliche und 3 weib-
liche. Davon sind aus dem Vorjahre 24 Fälle übernommen worden, von
neu gemeldeten Fällen wurden 1924 79 behandelt. In 288 Sprech-
stunden wurden 950 Personen beraten. Der Fürsorger besuchte 290 Pflege-
befohlene, während durch Hilfsorgane 50 Besuche ausgeführt wurden.
Mitteilungen. 169
Die vom Rat zu Plauen, Gesundheitsamt, unterhaltene Fürsorgestelle
für Geisteskranke, Psychopathen und Trinker im Stadtkrankenhaus, Psychi-
atrische Abteilung, bearbeitete im Berichtsjahre ar Alkoholikern 34 Fälle.
Es handelt sich durchweg um schwerste Fälle, die zum kleinsten Teil von
selbst kommen, sondern durch die Polizei und die Psychiatrische Abteilung
zugewiesen wurden.
Die Fürsorgestelle in Freiberg, Wohlfahrtsamt, Petriplatz 5, wird vom
Freiberger Bezirksverein gegen den Alkoholismus unterhalten. Leiter ist
Dr. med. Carl Mulert. Es wurden 70 Fälle bearbeitet. Die Arbeit hat in-
folge Mangels an Mitteln in der ersten Hälfte des Jahres geruht und ist
erst am 15. August wiederaufgenommen.
Die Sächsische Landeshauptstelle gegen den Alkoholismus, Dresden-A.,
Blochmannstraße 19, gibt über die in Sachsen bestehenden Fürsorgestellen
Auskunft, ist den Wohlfahrtsämtern bei Einrichtung einer Trinkerfürsorge-
stelle behilflich und stellt mit den bestehenden alkoholgegnerischen Organi-
sationen die Verbindung her.
(Nach einem Bericht der Sächsischen Landeshauptstelle
zegen den Alkoholismus in den sächsischen „Blättern für Wohl-
fahrtspflege“ 1925, H. 3.) 3 a
Sechste Zusammenkunft
der westfälischen Trinkerfürsorgestellen in Münster.
Nach längerem Zwischenraum — die letzte Zusammenkunft hatte mit-
ten im Kriege, 1916, stattgefunden — fanden sich, von der westfälischen
Zentrale für Trinkerfürsorge eingeladen, am 11. Dezember v. J. die Ver-
treter der Trinkerfürsorgestellen Westfalens wieler zu gemeinsamer Be-
ratung zusammen. Nicht weniger als 104 Personen trugen sich als Teil-
nehmer ein. Den Vorsitz führte der Leiter der Zentrale Landesrat
Kraß. Er gab zunächst einen kurzen Geschäftsbericht, in dem er aut die
erneute Wiederzunahme der Trunksucht, andererseits auf das Erliegen oder
die Schwächung vieler Fürsorgestellen und alkoholgegnerischen Ver-
eine unter den ungünstigen Verhältnissen der Kriegs- und Nachkriegszeit
hinwies. Die Fürsorgestellen bedürften zur Fortführung oder Wieder-
belebung ihrer Tätigkeit weiterer Geldmittel, wofür im Laufe der Tazung
Fingerzeige gegeben werden sollten. Die Landesversicherungsanstalt West-
ialen und der Allgemeine Knappschaftsverein in Bochum haben in Anerkeın-
rung der Wichtigkeit dieser Arbeit für die Volkswohlfahrt ansehnliche
jährliche Beihilfen gewährt; erstere gibt außerdem die zum Unterhalt der
Zentrale erforderlichen Mittel.
Hierauf sprach Oberarzt Dr. Hinsen von der Provinzialheilanstalt
Marienthal über: „Die Verbreitung der auf 'Alkoholmiß-
brauch zurückzuführenden Erkrankungen seit dem
Kriege unter besonderer Berücksichtigung der west-
fälischen Verhältnisse“ Gegenüber dem wieder gesteigerten
Alkoholismus wünscht er gesetzliches Verbot wenigstens des Vertriebs
hochprozentiger geistiger Getränke. — In der Aussprache bemerkte der
Vortragende: Asoziale, für sich und andere gefährliche Alkoholiker, die
noch nicht entmündigt und daher noch nicht in die Trinkerheilstätten über-
führt werden können, seien als geisteskrank mit ärztlichem Fragebogen in
die Provinzialkeilanstalten einzuweisen. Aus dem Kreise der Teilnehmer
wurden — wie auch in der Aussprache zu den übrigen Vorträgen — ge-
wisse Bedenken gegen die Trinkerentmündigung geltend gemacht (sie wurde
mehr nur als letztes Hilfsmittel betrachtet) und unter anderem Mittei-
lungen aus der Trinkerheilanstalt gemacht, die mit dem Arbeitslıaus Ben-
ninghausen, wenn auch in sachlich und räumlich getrennter Weise, ver-
knüpft ist, einer Eigentümlichkeit der Provinz Westfalen, die aus der
Erkenntnis herausgewachsen sei, daß die vorhandenen „offener“ Anstalten
170 Mitteilungen.
nicht genügten. Die Erfolge seien recht befriedigend. Die Aufnahme könne
eine freiwillige oder eine zwangsweise sein: die erstere habe sich aber im
allgemeinen nicht bewährt. — Im übrigen wies auch der Vorsitzende daraui
hin, daß seines Erachtens das neue Fü-rsorgepflichtgesetz vom
13. Februar 1924 eine Handhabe biete ($$ 7, 19, 20), die Trinker
auf Kosten der Allgemeinheit unterzubringen.
Vom Zusammenarbeiten der Trinkerfürsorgestellen
mitden Behörden usf. gab Frau FloBß, die Leiterin der katholischen
Fürsorgestelle in Münster, aus der praktischen Erfahrung heraus ein an-
schauliches Bild: wie zusammengewirkt wird mit dem städtischen Wohl-
fahrtsamt, der Landesversicherungsanstalt, den Krankenkassen, der Poli-
zeiverwaltung, den Gerichten, der Eisenbahn- und Postbehörde, der Provin-
zialverwaltung und dem Oberpräsidenten, der Bezirksregierung, Anstalten
und Aerzten, endlich der Geistlichkeit — dies gibt eine Vorstellung daven,
was „organisierte Trinkerfürsorge‘“ ist. Von einer Seite wurde hierbei daraul
hingewiesen, daß es ein großes Aufgabengebiet der Fürsorgestellen sei, die
von den Enthaltsamkeitsvereinen nicht erfaßten Trinker zu betreuen.
Einen Gegenstand aus dem Gebiet der Vorbeugung, die die Quellen zu
verstopfen sucht, behandelte Seminaroberlehrer Lotze mit der Fraze:
„Wie kann die bevorstehende Reform der Lehrerbil-
dung die Lehrer befähigen,ihre Kraftin den Dienst der
Bekämpfung des Alkoholismus zu stellen?“ Die rechte Er-
ziehung und Vorbildung des Lehrernachwuchses auf dem vorliegenden Ge-
biet sei im Grunde der Kernpunkt des Kampfes. Im Anschluß-an die Aus-
führungen und Vorschläge des Vortragenden wurde folgende Ent-
schließung gefaßt und ihre Absendung an die drei westfälischen Be-
zirksregierungen beschlossen:
„Der Kampf gegen den Alkoholismus muß in den Lehrplänen der künf-
tigen Lehrerbildungsanstalten ausreichend berücksichtigt werden. Wir
wünschen:
1. daß der Alkoholismus (nach seinen Quellen und Folgen) und seine
Bekämpfung sowohl Unterrichts- als auch Prüfungsgegenstand an den
pädagogischen Instituten wird. Wer auf diesem Gebiete nicht zu Hause
ist, darf nicht Lehrer werden;
2. daß die Schulbehörde alle Bestrebungen unterstützt, die die Bekämp-
fung des Alkoholismus zum Ziel haben (Anschaffung von Büchern, Zeit-
schriften, Vorträge und Kurse, Förderung der Jugendbewegung usw.):
3. daß Lehramtskandidaten, die in grober Weise durch ihr Verhalten
zeigen, daß sie im Kampf gegen den Mißbrauch geistiger Getränke ihre
a als Lehrer nicht erfüllen werden, zur Prüfung nicht zugelassen
werden“.
Unter der Ueberschrift: „Polizeistunde und Wohlfahrts-
spende“ befaßte sich Fräulein W. Lohmann mit der Verfügung des
Oberpräsidenten von Westfalen vom Februar v. J.. welcher Verlängerung
der Polizeistunde an Bezahlung einer besonderen Gebühr knüpft, die teil-
weise für örtliche Wohlfahrtszwecke Verwendung finden solle. Die alkohol-
gegnerischen Vereine und das Wohlfahrtsamt von Bielefeld hätten den
Oberpräsidenten gebeten, keine Polizeistundenverlängerung zuzulassen.
Nach einem Bericht von cand. phil. et med. Haack, Münster, über
die Tagung des Reichsausschusses für ein Alkoholverbot in Deutschland
vom September in Bückeburg sprach nochmals Frau Floß über vorbeu-
gende Arbeit gegen die Schäden des Alkoholismus, wie
sie sich gerade aus der Fürsorgearbeit heraus gebieterisch nahelegt. Ihre
Hauptforderungen gingen auf: 1. Völlig alkoholfreie Jugenderziehung,
2. entschiedene Bekämpfung des Trinkens an den Arbeitsstätten und vor-
beugende Fürsorge für Trinkerkinder und trunkgefährdete Jugendliche;
3. eingehende, breiteste Aufklärung, besonders auch über die Schädigung
der Nachkommenschaft durch den Trunk.
Mitteilungen. 171
Landesrat Kraß erwähnte noch die wirtschaftlichen Verhältnisse, die
die Landesversicherungsanstalt bewogen haben, die früher ziemlich reich-
lich geübte Trinkerheilbehandlung einzustellen. Die Vertreter einzelner
Fürsorgestellen wollen versuchen, hier wieder eine Aenderung et
führen. l.
Basler Trinkerfürsorge im Jahre 1924.
Bei der Fürsorgestelle, hinter der eine eigene „Gesellschaft für die
Basler Trinkerfürsorgestelle“ steht, die sich aus rund 250 persönlichen und
körperschaftlichen Mitgliedern zusammensetzt, kamen im abgelaufenen Jahr
14 Fälle neu zur Behandlung — insgesamt seit Bestehen der Fürsorgestelle
nur 1074 —. Die Sprechstunden hatten 1924 1166 Besuche (664 von Trinkern,
502 von Angehörigen): die Besuche und Unterredungen bei Angehörigen und
Behörden belieien sich auf 1642.
Was die ergriffenen oder zu ergreifenden Maßnahmen betrifft, so besteht
nach den Wahrnehmungen des Fürsorgers bei den die Fürsorgestelle Auf-
suchenden überwiegend die Meinung, es handle sich in erster Linie um
Unterbringung in einer Anstalt. Nach Prof. Bleuler in Zürich ist aber ein
Trinker: Wer sich oder seine Familie durch Alkoholgenuß schädigt, ohne daß
man ihm dies begreiflich machen kann, oder ohne daß er den Willen oder
die Kraft hat, sich zu bessern. An diesen Punkten ist in erster Linie
erzieherisch und fürsorgerisch einzusetzen. Hauptsächlichst kommt es daher
gemäß der allgemeinen Erfahrung auf den Anschluß an einen Enthaltsam-
keitsverein an, um die Durchführung einer alkoholfreien Lebensweise zu
ermöglichen. "Wir kennen viele, bei denen dieser erste Schritt einen lebens-
langen Erfolg zeitigte.‘‘ Wo es hiermit nicht geht, müsse sorgfältig nach der
Ursache des Mißlingens gesucht und sie nach Möglichkeit beseitigt
werden, beispielsweise durch entsprechendes Eingreifen bezüglich der An-
gehörigen, des Familienlebens usw. In pathologischen Fällen (Vorliegen
eines geistigen Gebrechens) Beratung und Hilfe des Nerven- oder Irren-
arztes' Bei der für schwierigere Fälle erforderlichen Einleitung der Heil-
behandlung in einer Trinkerheilstätte hat man auch hier, wie anderwärts,
mit häufig unüberwindlichen geldlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, die oft
die Zuflucht zu polizeilich behördlicher „Versorgung“ „in unsern landläufigen
Asylen oder Zwangsarbeitsanstalten‘“ nahelegen, während doch die frei-
willige Unterbringung im allgemeinen die weitaus besseren Ergebnisse zeitigt.
Daher erscheint die Beteiligung der Krankenkassen und Armenbehörden zum
Tragen der Kurkosten sehr wünschenswert. — „Eine der schönsten Auf-
gaben der Trinkerfürsorgestelle besteht darin, den nach absolvierter Heil-
Stättenkur Heimgekehrten Freund und Berater sein zu können und ihnen helfen
zu dürfen, ein neues, ein besseres Leben zu beginnen.“ Die Entmündigung `
wird in besonderen Fällen, weniger „als Heilmaßnahme‘“, mehr „als Schutz-
maBnahme‘‘ angewandt.
Die Bemerkung, in die der Bericht ausmündet, dürfte die durchschnitt-
lichen Erfahrungen der allermeisten Trinkerfürsorgestellen zum Ausdruck
bringen: „Blieben wir auch ... . nicht von deprimierenden Enttäuschungen
und Mißerfolgen verschont, so schließen wir unsern Bericht doch mit dem
befriedigenden Gefühl, dazu beigetragen zu haben, daß in mancher Familie
langjähriges Elend und Verzweiflung schwanden und an ihre Stelle Hoff-
nung und fröhliche Pflichterfüllung trat.“ J. FI.
2. Verschiedenes.
Der Alkoholverbrauch in den verschiedenen Ländern.
Immer wieder wird nach vergleichenden Angaben des Alkohol-
verbrauchs in den verschiedenen Staaten gefragt. Eine irgendwie brauch-
bare neuere Statistik darüber gab es nicht. Gemäß einer auf dem Inter-
172 - Mitteilungen.
nationalen Kongreß in Kopenhagen 1923 gefallenen Anregung hat das
Internationale Bureau z. Bek. d. Alk. in Lausanne eine umfangreiche
zwischenvölkische Erhebung über Herstellung und Verbrauch geistiger Ge-
tränke in den Jahren 1919—22 durch eine Umfrage bei den in Betracht
kommenden amtlichen Stellen veranstaltet und das Ergebnis, von seinem
wissenschaftlichen Sachbearbeiter Dr. A. Koller in französischer Sprache be-
arbeitet, 1925 herausgegeben.*) Einen deutschen Auszug aus dieser be-
merkenswerten Statistik, auf die wir noch zurückzukommen uns vorbehalten.
bietet das Internationale Jahrbuch des Alkoholgegners 1925—1926, welchem
Auszug wir hier einiges entnehmen. i
Die Berechnung des Verbrauchs erfolgte meist nach dem Schema:
Herstellung zuzüglich Einfuhr abzüglich Ausfuhr. Die erlangten Zahlen
sind naturgemäß von sehr verschiedener Zuverlässigkeit. Nicht berück-
sichtigt sind in der Regel die Verschiebungen über die Jahressrenzen. Wer
etwa noch keine Vorstellung haben sollte von den gewaltigen Schwierig-
keiten einer zwischenstaatlichen Statistik auf diesem Gebiet, der kann sie
aus dieser Untersuchung bekommen. Mehr oder weniger große Fehler-
quellen bilden die nicht erfaßbaren Posten der erlaubten Herstellung für
den Hausgebrauch und in den Verbots- und Verbrauchssteuerländern des
Schmuggels, der Geheimherstellung und des Schleichhandels. Vom Wein
heißt es, daß die Mengen überall da als (notgedrungen) nur schätzungs-
weise anzusehen seien, wo es sich um Eigenerzeugung des Landes handle,
vom ÖObstwein, die Höhe der Herstellung sei hier noch schwieriger zu
erfassen. Auch beim Branntwein ist öfters von „sehr summarischen‘, „sehr
schätzungsweisen Angaben“ die Rede; nur beim Bier erscheinen diese
verhältnismäßig zuverlässig. Dazu das große Schwanken und die vielfache
schwere Bestimmbarkeit des Alkoholgehalts der Getränke, die eine Be-
rechnung des Kopfverbrauchs an reinem Alkohol so außerordentlich er-
schweren. Weiter der Uebergangscharakter der erfaßten Jahre, der sie
nicht als typisch ansehen läßt, und die zweifellos großen Verschiebungen,
die inzwischen jedenfalls in Ländern wie Deutschland, Frankreich u. a.
(hier bedeutend nach oben) stattgefunden haben. — Unter den Vorbehalten,
die sich hieraus und noch aus anderen Umständen und Erwägungen ergeben,
muß aber die sehr mühsame und fleißige Untersuchung in ihren Ergebnissen
immerhin als recht beachtenswert erscheinen. Ihre Angaben sind im ganzen
als Mindestzahlen zu werten.
Um mit Deutschland (ohne Saargebiet) zu beginnen, das uns am
nächsten liegt, so steht es für genannten Zeitraum beim gefährlichsten Ge-
tränk, dem Schnaps, im Jahreskopfverbrauch (zu 50 Volum-Prozent
Alkohol berechnet) erst an 14. Stelle. An vorderster steht die Schweiz
mit 7,52. Es folgen Estland mit 7,17, Spanien 5,93, Argentinien 5,60,
Danzig 4,73, Frankreich (für 1922 mit Elsaß-Lothringen) 4,64, Tschecho-
slowakei 4,56, Schweden 4,24, Peru 3,9, Niederlande 3,79, Oesterreich 3,34,
Kanada 2,8, Neuseeland 2,6; nun Deutschland 2,40; dann Belgien 2,27, Italien
2,19, Großbritannien 2,17 usf. Im Bier verbrauch hingegen nimmt das
Deutsche Reich die 6. Stelle ein mit 48,7 1 auf den Kopf. Voraus gehen
ihm: als „Höchstbesteuerter‘‘ Belgien mit 160,6, Großbritannien mit 81,3,
Dänemark 69,6, Australien 54,9, Neuseeland 50,1 1; hinter Deutschland folgen
als nächste:Tschechoslowakei mit 47,8, Oesterreich mit 45,7 1. Im Wein
steht Deutschland mit 3,21 1 sehr weit unten; an der Spitze marschieren
hier Frankreich mit 143,2, Italien mit 96,6, Spanien 85,59, Argentinien 54,9,
Chile 53,8, Schweiz 51,96 I. Im „Obstwein“-Verbrauch „führen“ Peru
mit einem aus Mais und Zucker bereiteten, weinähnlichen Getränk: 50 |,
Schweiz 38,66 Frankreich 34,3, Mexiko mit einem aus Agavensaft gewon-
nenen, 3—4 % igen Getränk 23,1 1. Was aber in erster Linie interessiert,
*) Dr. A. Koller, La production et la consommation des boissons alcooliques dans les dif-
ferents pays. 98 S. 3 Fr. Internat. Büreau g d. Alkoholismus, Lausanne, 1925. (Auch durch
den Verlag „Auf der Wacht“, Berlin-Dahlem. Ebenso das obengenannte Jahrbuch),
Br
ist der gesamte auf reinen Alkohol umgerechnete Kopfverbrauch.
Hier stand nach dieser Statistik 1919—22 Frankreich mit 17,61 1 an erster,
Deutschland mit 2,66 I erst an 22. Stelle. Dazwischen Spanien 15,83, Italien
13,77, Schweiz 11,92, Argentinien 11,18, Chile 10,09. Belgien 8,98, Peru 7,30,
Großbritannien 6,23, Oesterreich 5,75, Ungarn 5,72, Tschechoslowakei 4,52,
Australien 4,31, Japan 3,92, Estland 3,73, Neuseeland 3,65, Danzig 3,41,
Schweden 3,03, Niederlande 3, Dänemark 2,89; hinter Deutschland: Bul-
garien 2,54, Kanada 2,39, Norwegen 1,95, Rumänien 1,35 u. a.
Auch auf die alkoholfreien Trauben- und Obstweine
erstreckte sich die Umfrage; ihre Herstellung ist aber meist noch ver-
hältnismäßig geringfügig und fast nirgends zahlenmäßig erfaßt. J. Fl.
Mitteilungen. 173
Sinken und Steigen der Trunksucht in den letzten 12 Jahren
im Spiegel der Aufnahmen in die Krankenanstalten einer
deutschen Großstadt.
Der Rückgang des Trunks mit seinen verhängnisvollen Folgen während
der Kriegsjahre mit ihrem notgedrungen sehr stark beschränkten Alkohol-
verbrauch und seine Wiederzunahme nach dem Krieg, wo die
hemmenden Schranken für Alkoholherstellung, -einfuhr und -verbraucü
wieder eine um die andere fielen, wird durch die folgenden, vom früheren
Direktor der Bremer Krankenanstalt Prof. D. Dr. Stövesandt veröffent-
lichten Zahlenangaben veranschaulicht. Es zeigt sich eine ganz außer-
ordentlich in die Augen springende Verminderung von 1913—18 mit dem
letzteren Jahre als ausgeprägtestem Tiefpunkt. Mehrere Jahre hindurch
war der Säuferwahn auch hier geradezu verschwunden. Die seit Kriegs-
ende wieder reißend angestiegene Kurve der alkoholischen Erkrankungen
erfährt dann auch hier, wie anderwärts, eine vorübergehende wesentliche
Senkung im Jahre 1923, weil, wie Prof. St. bemerkt, „in dem Inflations-
jahr sich doch viele scheuten, eine Million für ein Glas Bier oder einen
Schnaps herzugeben‘“, um aber 1924 wieder ganz beängstigend weiter in
die Höhe zu schnellen. Dies geschah in dem Maße, daß in der Kranken-
anstalt der.Friedensstand schon um etwas, in der Irrenanstalt (bei
den Aufnahmen wegen Alkoholismus als einziger und entscheidender
Krankheitsursache) bereits beträchtlich überstiegen ist.
Inder Krankenanstalt wurden wegen Trunksucht aufgenommen
Männer Frauen insgesamt
1913 162 mit Säuferwahn 37 14 Säuferwahn 1 176 Säuferwahn 38
1914 127 = 37 10 m 3 137 > 40
1915 97 " 20 14 4 0 11 ” 20
1916 57 5 8 10 N 1 67 á 9
1917 9 j 0 4 Mn 0 13 ” 0
1918 7 z 0 2 Mn 0 9 : 0
1919 16 È 0 1 Š 0 17 Š 0
1920 58 ö 2 2 = 0 60 5 2
1921 95 Š 8 3 š 0 98 5 8
1922 152 i 9 5 £ 1 157 A 10
1923 75 = 5 5. . 2 80 p 7
1924 162 £ 14 16 r 0 178 n 14
Die Irrenanstalt zeigt folgendes Bild:
Aufnahmen, bei denen der Alkoholismus war
die einzige Krankheitsursache mitwirkende Ursache
1918 55 1917 8 1921 22 1921 75
1914 52 1918 5 1922 41 1922 85
1915 31 1919 5 1923 25 1923 58
1916 14 1920 12 1924 69 1924 137 J. FI.
174 Mitteilungen.
Von der Durchführung des amerikanischen Alkoholverbots.
Das hie freundliche, dort feindliche Interesse an diesem „sozialen
Riesenexperiment‘‘ des amerikanischen Volkes scheint, nachdem nun rund
5% Jahre seit der dauernden Einführung des Verbots ins Land gegangen
sind, in Deutschland und sonst in der Welt nicht ab-, sondern eher noch
zuzunehmen. Darum seien hier im übersetzenden Anschluß an das Jahr-
buch 1924 der Anti-Saloon League (herausgegeben von dem
international bekannten Vorkämpfer Dr. E. H. Cherrington) einige Mit-
teilungen gemacht, die in die mannigfaltigen Anstrengungen der maßgeben-
den Stellen der Vereinigten Staaten zur weiteren und wirksameren Durch-
führung und in die Haltung der parlamentarischen und der Wählerkreise
zu dieser Frage Einblick geben.
Tätigkeit des Nationalverbots-Dienstes während der
verflossenen drei Jahre.
Der Bundesverbotskommissar R. A. Haynes hat einen zusammen-
fassenden Ueberblick über die Wirksamkeit des Verbotsdienstes in den
drei Jahren, seit er am 11. Juni 1921 diesen Posten übernahm, veröffentlicht.
Er führt darin die hervorstechendsten Arbeiten seiner Verwaltung auf. Es
handelte sich vor allem um die vollständige Umbildung des Verbotsdienstes.
sowohl auf der Washingtoner Hauptstelle, wie im Lande draußen. Für
Fälle von zwischenstaatlicher Verzweigung oder sonstige größere An-
forderungen stellende Fälle wurde ein ergänzender Durchführungszweig
geschaffen, der unter dem Namen „Allgemeine Verbotsagenten‘“ bekannt
ist, eine bewegliche, aus Männern mit besonderer Vorbildung und weit-
reichender Erfahrung gebildete Truppe, deren Tätigkeit von den Hilfs-
kräften des Staatsverbotsdirektors unabhängig ist, und die doch, wo immer es
zweckmäßig erscheint, mit diesen zusammenwirkt. Das Arbeitsgebiet ist für
sie in 18 geographische Bezirke gegliedert. Diese Truppe ist häufiger örtlicher
Verschiebung unterworfen, was eine Arbeit ganz in der Stille gestattet,
die eine wirksamere Durchführung ermöglicht hat. Vom 1. Juli 1921 bis
zum 1. Juni 1924 hat diese Truppe von Agenten 47 720 Fälle angezeigt und
30035 Verhaftungen vorgenommen. Sodann wurde eine besondere Ab-
teilung für Betäubungsmittel mit 15 Unterabteilungen und einer besonderen
Truppe von Betäubungsmittelagenten eingerichtet und für geeignete Ueber-
wachung der ärztlichen Alkoholerlaubnisse Vorsorge getroffen, indem ein
Zentralkomitee geschaffen wurde, das aus 7 Beamten des Verbotsdienstes
unter dem Vorsitz des Hilfs-Verbotskommissars besteht. Man regelte
die Fragen der Ein- und Ausfuhr geistiger Getränke, indem man
das Ein- und Ausfuhramt schuf, das aus 5 Beamten des Verbots-
dienstes besteht. Die Abgabe von Alkohol aus den staatlichen Lagern
wurde vermindert, um so eine der Hauptquellen der gesetzwidrigen Ver-
sorgung abzuschneiden. Weiter wurde in fast jedem Staat und Bezirk ein
verschärftes Verfahren in die Wege geleitet unter Anrufung der Ver-
schärfungsparagraphen des Strafgesetzbuchs der Vereinigten Staaten und
eine Ueberprüfung der Verbotsbestimmungen unter Einverleibung der
mancherlei Vorschriften und Entscheidungen vorgenommen, die während
der letzten vier Jahre ergangen sind. Wie er in der Konferenz der Gouver-
neure skizzierte, hat Kommissar Haynes einen umfassenden Plan entworfen
und ausgeführt, um die Fragen und das Verantwortungsbewußtsein für
die Durchführung der Verbotsgesetze in die Bevölkerung zu tragen, das
öffentliche Interesse an der Befolgung derselben zu wecken und Kräfte
dafür heranzuziehen, die bisher der Sache gleichgültig oder feindlich gegen-
überstanden.
l Die Aenderung der Tätigkeit des Verbotsdienstes, die die Arbeit
dieser Behörde wirtschaftlicher, wirksamer und rascher gestaltete, wurde
tatsächlich während des ersten Jahres dieser Verwaltung durchgeführt.
Mitteilungen. 175
Der Verbotsdienst hat stets die Tatsache anerkannt und sich von dem
Grundsatz leiten lassen, daß das mit dem gewerblichen und medizinischen
Alkohol verknüpfte Geschäftsleben, das ja vom Gesetz zugelassen ist,
ebenso klaren Anspruch darauf hat, daß seine gesetzlichen Vorrechte von
den rechtmäßig dafür vorgesehenen behördlichen Stellen gewahrt werden,
wie vorausgesetzt wird, daß andere derartige Stellen denjenigen zu Leibe
rücken, die das Gesetz verletzen und diese Vorrechte mißbrauchen. Es
gibt zwei Arten von Durchführung, die vorbeugende und die mit starkem
Arm eingreifende. Eine geeignete Ueberwachung des Erlaubniswesens
oder eine vorbeugende Durchführung bedeutet weniger tatsächliche Ueber-
tretungen.
Aus der Verbotsgesetzgebungs-Tätigkeit der
ersten Sitzung des 68. Kongresses.
Diese Sitzung, die am 7. Juni v. J. zu Ende ging, hat eine Reihe von
Maßnahmen für die Durchführung des Verbots angenommen, während
andererseits all die zahlreichen Anträge der „Nassen“ unter den Tisch
fielen. Es wurde eine Reihe zwischenvölkischer Verträge
gegen den Alkoholschmuggel unterzeichnet, als erster und bahnbrechender
der mit Großbritannien am 13. März 1924 — „einer der wichtigsten Akte“.
Er erweiterte bekanntlich den geschützten Küstenstreifen: Da die bis-
berige, durch zwischenstaatliche Abmachung festgesetzte sogenannte Drei-
-meilengrenze, innerhalb deren Schiffe durchsucht werden dürfen, sich als
unzureichend erwiesen hatte, wurde durch diesen Vertrag die Grenze auf
eine Fahrtstunde Entfernung von der Küste festgelegt, zu messen an
der Fahrgeschwindigkeit eines Schmuggelschiffes. Das Recht zur Durch-
suchung ist in drei Fällen gegeben: Wenn das Fahrzeug eine Verletzung
der Gesetze der Vereinigten Staaten begangen hat, oder solche zu begehen
im Begriff ist, oder die Begehung versucht. Als Gegenleistung wurde be-
stimmt, daß englische Fahrzeuge berauschende Getränke in die amerika-
nischen Gewässer unter Verschluß und Siegel einbringen dürfen, so daß
dieselben nicht zu Getränkezwecken gebraucht werden, solange das Schiff
innerhalb der Hoheitsgrenze der Vereinigten Staaten weilt. — Es
folgten ähnliche Verträge mit Norwegen, Deutschland, Schweden, Däne-
mark, Italien, Canada, Panama, Frankreich und den Niederlanden.
Am selben Tage, an dem der genannte Vertrag mit England vom Senat
unterzeichnet wurde, befaßte sich das Abgeordnetenhaus damit, die Küsten-
wache zu kräftigerer Kriegführung gegen den Alkoholschmuggel in Stand
zu setzen. Eine diesbezügliche Vorlage wurde mit 304 gegen 50 Stimmen
angenommen. Sie gab die Möglichkeit, der Küstenwache überschüssige
Flottenfahrzeuge, die für Patrouillendienst hergerichtet wurden, zu über-
weisen. Ebenso wurde die Flottenverwaltung zu zeitweiser Vermehrung
ihres Personalbestandes ermächtigt, um Mannschaften für die „Anti-Rum-
Flotte‘ stellen zu können. Die Vorlage ging im Senat mit gewissen Ab-
änderungen am 26. März durch und trat am 21. April in Kraft. Am 14. März
wurden im Abgeordnetenhaus, am 26. im Senat 13% Mill. Dollars für die
Küstenwache zur Unterdrückung des Schmuggels bewilligt‘).
Eine Vorlage für eine Bewilligung für Durchführung des
Verbots im allgemeinen ging im Abgeordnetenhaus am 12. Fe-
bruar, im Senat mit Abänderungen am 7. März 1924 durch. Sie trat dann
p Nach Zeitungsangaben (z. B. Kölnische Volkszeitung vom 20 Oktober 1924) umfaßt die
Anti-Rum-Fiotte, die auf Grund dieser Beschlüsse in Dienst gestellt wurde, 300 schnellfahrende
Schiffe, mehrere Torpedoboote und fünf Fahrzeuge, die während des Weltkrieges als Minen-
leger Dienst getan haben. Sie scheint bereits sehr gute Wiıkung getan zu haben, so daß man
an den in Betracht kommenden amerikanischen Stellen hofft, des Schmuggels zur See bald
Herr zu werden. Nach einer Angabe, die unter dem 19. November in einer BD TEEN
amerikanischen Zeitschrift gemacht ist, hatten laut Mitteilung des Schatzamtes die Bundes-
bekörden neuerdings in einer DIR E vorbereiteten und umsichtig durchgeführten vier-
wöchigen „Kampagne“ 7 große britische und einen norwegischen Schmugglerdampfer be-
schlagnahmt mi einem Gesamtwert von rund 4'!, Millionen Dollar.
176 Mitteilungen.
mit dem 4. April in Kraft. Es wurden rund 10 630 000 Dollar bewilligt, von
denen 1% Millionen zur Durchführung der Betäubungmittelgrenze ver-
wendet werden sollen. Die Bewilligung für das vorausgegangene, mit
Juni 1924 abschließende Rechnungsiahr hatte 9 Millionen betragen, wovon
s/, Millionen für die Betäubungsmittelsache. Somit also für das laufende
Rechnungsjahr im ganzen um über 1% Millionen mehr als im Vorjahr.
Weiter wurden mit Wirkung vom 28. Mai Mittel für einen Beson-
deren Rat in Verbotssachen bewilligt. Es sollten aus den für
den Haushalt des Justizministeriums bewilligten Mitteln bis zu 150 000
Dollar für diesen Zweck zur Verfügung stehen.
*
Man ersieht aus alle dem einerseits aufs neue, mit welch außerordent-
lichen Schwierigkeiten der große und kühne Versuch zur Lösung der
Alkoholfrage in diesem Riesenlande mit einer Bevölkerung von 114 Millionen
Menschen zu ringen hat. Andererseits bekommt man namentlich auch einen
starken Eindruck davon, mit welch entschlossenem, zähem Ernst und mit
welcher bewunderungswürdigen und sich durch keine Hindernisse beirren
lassenden Anstrengung aller Kräfte man das Ziel einer fortschreitenden
wirklichen Trockenlegung zu erreichen sucht.
Auch die politischen Parteien Amerikas haben sich — ent-
gegen den Erwartungen und Ausstreuungen der „Nassen“ — alle mit mehr
oder minder großer Entschiedenheit für Durchführung des Verbots aus-
gesprochen:
Erklärungen der verschiedenen politischen Parteien
der Vereinigten Staaten betreffend Gesetzesdurch-
führung und Befolgung des Alkoholverbotsgesetzes.
Die Republikanische Partei nahm auf ihrer Landesversamm-
lung in Cleveland im Juni 1924 folgende Erklärung an:
„Wir müssen Achtung vor den Gesetzen haben. Wir müssen Gehor-
sam gegen die Gesetze haben. Wir müssen Durchführung der Gesetze
haben. Der Bestand eines geordneten Regiments hängt tatsächlich hier-
von ab. Private Willkür an Stelle öffentlicher rechtlicher Ordnung zu
setzen, bedeutet im Grunde nichts anderes als Unterdrückung, Unordnung,
Anarchie und Pöbelherrschaft. Jede Regierung ist auf die Gesetzestreue
und Achtung ihrer Bürger angewiesen. Verletzungen des Gesetzes
schwächen und bedrohen die Regierung selbst. Keine rechte Regierung
kann derartige Handlungen auf Seiten ihrer Bürger verzeihen. Die Repu-
blikanische Partei setzt sich für volle Kraft und Entschiedenheit der
Regierung zur Aufrechterhaltung dieser Grundsätze durch Durchführung
der Verfassung und aller Gesetze ein.“
Die Demokratische Partei auf ihrer Landesversammlung in
New-York im Juli: „Die Demokratische Partei verpflichtet sich, die Ver-
fassung und alle Gesetze zu achten und durchzuführen.“
Die Nationalverbots-Partei auf ihrer Landesversammlunz
in Columbus am 6. Juni:
„Die Nationalverbots-Partei fordert alle diejenigen, die für Unter-
drückung des Alkoholhandels, Durchführung der Gesetze, Aufrechterhaltung
einer verfassungsmäßigen Regierung des Landes, Reinigung unserer Politik,
Redlichkeit und Tüchtigkeit der Verwaltung und Aufbau einer besseren
Bürgerschaft sind, auf, sich ihr bei der Bildung einer neuen Kampfreihe
in einer politischen Partei zur Erreichung dieser hohen Ziele anzuschließen.“
Die Amerikanische Partei auf ihrer Landesversammlung
in Columbus am 3. Juni:
„Betreffend Gesetzesdurchführung. Die Amerikanische Partei ver-
spricht für den Fall, daß sie maßgebenden Einfluß auf die Regierung er-
langt, den 18. Verfassungszusatz ebenso wie alle anderen Zusätze oder Ge-
setze unter Einsatz aller Kräfte, die ihr dafür zu Gebote stehen, streng
durchzuführen.
Mitteilungen. 177
Betreffend Getränkekontrolle.. Um eine unparteiische und vollständige
Durchführung des 18. Verfassungszusatzes zu sichern, sollten weitere gesetz-
liche Bestimmungen eingeführt werden, die folgende Punkte umfassen:
a) Aller Branntwein, der sich jetzt in Speichern der Regierung befindet,
sollte alsbald beschlagnahmt werden.
b) Es dürfen keinerlei alkoholhaltige Getränke hergestellt werden,
ausgenommen unter behördlicher Oberaufsicht für gewerbliche,
wissenschaftliche und ärztliche Zwecke.
c) Ausländische Gesandtschaften sollten gehalten sein, sich denselben
sen Gesetzen zu unterwerfen, die für die amerikanischen Bürger
gelten.
d) Der Gebrauch aller vergorenen Weine zu religiösen Zwecken sollte
verboten sein.“ :
Soweit das Anti-Saloon League Year Book 1924.
Der Ausfall der letzten Parlamentswahlen bietet denn auch tat-
sächlich ein für das Verbot günstiges Bild. Nach den Mitteilungen der Korres-
pondenz des Internationalen Büros g.d. A.in Lausanne vom 26. Nov. sind von
den neugewählten 33 Senatoren nicht weniger als 28 bekannte Anhänger
der Prohibition, 4 weitere treten gleichfalls für ihre Durchführung ein, und
nur einer ist endgültig als „naß“ zu bezeichnen. Im Abgeordnetenhaus
sind, soweit die Ergebnisse zu diesem Zeitpunkt übersehen werden konnten
Inur in 8 Bezirken standen sie noch aus), 320 Neugewählte „trocken“, nur
i)? Verbotsgegner*), und betrug der.Gewinn der Verbotsanhänger bis dahin
mindestens 15 Sitze. Von den 174 Wahlbewerbern der Verbotsfeinde
wurde noch nicht die Hälfte, nämlich 82, von den 262 Kandidaten der
Verbotsfreunde dagegen 219 gewählt. Außerdem lehnten 8 von den Ver-
hotsgegnern empfohlene Kandidaten ausdrücklich öffentlich ab, von dieser
Seite empfohlen zu werden. Kurz, wie die genannte Quelle hinzufügt:
„Der Ausfall der amerikanischen Wahlen zeigt auf der ganzen Linie
deutlich, daß die überwiegende Mehrheit des amerikanischen Volkes gewillt
ist das Alkoholverbot aufrechtzuerhalten und durchzuführen.“
e
. Der schon erwähnten Korrespondenz der Bischöflichen Methodisten-
kirche vom 30. März d. J., entnehmen wir in Uebersetzung noch fol-
sende weitere Tatsachenmitteilungen aus den ameri-
kanischen Verbotsverhältnissen:
1917 waren in den Vereinigten Staaten 1217 Brauereien in Betrieb,
1924 noch 357 (bekanntlich ist ja die gewerbliche Herstellung und der Vertrieb
von ganz leichtem, fast alkoholfreiem Bier bis zu % bzw. 1 v. H. noch
erlaubt). 17 Staaten der Union haben überhaupt keine mehr, New Jersey,
das früher 36 Brauereien zählte, hat ihrer jetzt noch 6, Michigan mit einst
25 noch 7. Unteramtlichem Verschluß stehende Alkohol-
lagerhāuser gab es nach einem Bericht des Verbotskommissars Haynes
neı seinem Amtsantritt noch etwa 300. Ein neues Gesetz gestattete die
Zusammenziehung dieser versiegelten Spiritusvorräte in etwa 80 Lager-
häuser. Die Abgabe solchen Alkohols zu gesetzlich erlaubten Zwecken
betrug im letzten Jahre 1813000 Gallonen (zu 4,4 1). „Diese Quelle des
Schleichhandels hat man jetzt befriedigend in der Gewalt.“ Es gibt
19 Klassen von Erlaubnissen zur Verwendung von Alkohol
“der alkoholischen Getränken. Sie betreffen Aerzte, Zahn-
und Tierärzte, Gebrauch zur Herstellung ärztlicher Bedarfsmittel, in
rankenhäusern, Erlaubnis zur Einfuhr, Ausfuhr usw. Es besitzen heute
segen 130 000 Personen in den Vereinigten Staaten solche Erlaubnisse.
*) Nach einer späteren Nachricht: in der Korrespondenz des Temperenz usw.-Aus-
Käusses der amerikanischen Bischöflichen Methodisten vom 29. November sind es (genaueres
Tgebnis) im Senat 73 „Trockene“ gegen 21 „Nasse“ und 2 Ungewisse, im Abgeordnetenhaus
i9 „Trockene“ gegen 111 „Nasse“ und 5 Ungewisse.
Die Alkoholfrage, 1925, 12
178 Mitteilungen.
Der rechtmäßige Gebrauch von denaturiertem Alkohol hat in den
letzten zehn Jahren gewaltig zugenommen. Alkohol wird zur Her-
stellung vieler Bedarfsgegenstände verwendet, die früher
aus dem Ausland bezogen worden waren, die aber, als die ausländische
Zufuhr durch den Krieg abgeschnitten wurde, in Amerika erzeugt wurden.
Z. B. gibt es im Staate Virginia eine neuerdings errichtete Fabrik, die
künstliche Seide für Unterzeug, Bänder, Hemden und andere Kleidungsstücke
herstellt und eine Million Gallonen Alkohol im Jahre verbraucht. Henry
Ford braucht mindestens ebensoviel zur Fabrikation von künstlichem Leder
für Sessel u. a. Man schätzt weiter, daß heute gegen 30 Millionen Gallonen
zu Kälteschutzzwecken bei den Heizungen amerikanischer Kraitwagen
Verwendung finden. Und es besteht naturgemäß das Bestreben, diese
Verwertungsweisen zu fördern unter gleichzeitiger wirksamer Verhütung
der Ableitung größerer Mengen davon in den Schleichhandel.
Mit Ausnahme der drei Staaten New York, Maryland und Nevada haben
jetzt alle Staaten eigene Verbotsdurchführungsgesetze, und
zwar 19 solche, die über das Volstead-Gesetz hinausgehen. In 23 Staaten
darf Branntweinnichtals Arznei verschrieben werden, und dies
sind die gesündesten Staaten Amerikas. Was die Zahl der Ueber-
tretungen usf. betrifft, so kann sie, mag sie an sich auch noch hoch
erscheinen, im Vergleich zu der Bevölkerungszahl von 114 Millionen
Menschen und der Uebertretungen der Alkoholgesetze auch in den Nicht-
verbotsländern nicht als sehr beträchtlich angesehen werden. Es wurden
1924 rund 68000 Personen wegen Verletzung des National-Verbotsgesetzes
verhaftet und rund 37000 überführt und verurteilt.
Ueber die Wirkungen des Verbots einige Belege: Im Staate
Massachusetts konnten von den 21 Gefängnissen unter dem Verbot 7
geschlossen werden, während 3 oder 4 weitere jetzt verkauft werden
könnten. 2 der geschlossenen sind bereits in private Hände übergegangen.
EinvomRepräsentantenhauseingesetztereigener Aus-
schuß hat kürzlich seine Untersuchung über die Durchführung und die
Wirkungen des Alkoholverbots beendet und einen ausführlichen Bericht
darüber erstattet. Er stellt darin fest, daß das Gesetz, so unvollkommen |
auch naturgemäß seine Durchführung noch vielfach ist, große und segens-
reiche Wirkungen gezeitigt hat. Er weist besonders darauf hin, daß die Zahl |
der Sparkonten sich seit Bestehen des Verbots um 400 v. H. gesteigert hat.
und daß der Betrag der monatlich abgeschlossenen Versicherungen tatsächlich
das Doppelte der Vorverbotsziffern darstellt. Die Sterbeziffer habe sich
wesentlich verringert, die Grundstückswerte bedeutend gesteigert. Die Fälle
von Fürsorgebedürftigkeit, die das Volksganze belasten, haben sich ver-
mindert, die Verbrechen bedeutend an Zahl abgenommen; der Stand der
allgemeinen Volksgesundheit habe sich offensichtlich gebessert, usf. Der
Ausschuß macht dann allerdings dem Kongreß eine Anzahl bestimmte |
Vorschläge für noch bessere und wirksamere Durchführung des Verbots-
gesetzes. J. Flaig.
Verschärfung des isländischen Verbotsgesetzes.
Am 1. Juli d. J. werden auf Island neue gesetzliche Bestimmungen in
Kraft treten, die eine wesentliche Verschärfung des Verbotsgesetzes be-
deuten. Es handelt sich in der Hauptsache um die drei folgenden
Bestimmungen.
1. Es wird im Verbotsgesetz eine Territorial-Grenze festgesetzt (was
bisher nicht der Fall war), innerhalb der die Schmuggler verfolgt
werden können. In einem Abstande von vier Seemeilen wird diese Grenze
gezogen, so daB der Schmuggel in sämtlichen Fjorden künftig stark er-
schwert wird.
2. Die Strafen für Uebertretungen werden ganz erheblich erhöht. Eine
erstmalige Uebertretung des Verbotsgesetzes wird mit einer Geldstrafe von
Mitteilungen, 179
500—5000 Kronen geahndet (bisher 200—1000 Kronen), die zweite Ueber-
retung mit 1000—10 000 Kronen (bisher 500—2000 Kronen). Für weitere
Lebertretungen ist eine Strafe von 2000—20 000 Kronen vorgesehen (bisher
war das höchste Strafmaß 5000 Kronen). Außerdem kann Gefängnisstrafe
bis zu zwei Jahren eintreten. Schiffe, die als Hauptfracht alkoholische
ne mit sich führen, werden zugunsten der Staatskasse beschlag-
nahm
3. Aerzte, welche, ohne daß eine Krankheit vorliegt, geistige Getränke
verordnen, werden mit einer Geldstrafe von 500--5000 Kronen bedroht,
im Wiederholungsfalle mit 1000—10 000 Kronen. Im weiteren Wieder-
holungsfall wird ihnen das Recht, Medikamente zu verordnen, abgesprochen.
Gerade in letzter Zeit sind wiederholt Fälle vorgekommen, in denen
Aerzte zu Genußzwecken geistige Getränke verordnet hatten. Die bis-
herige Lücke im Verbotsgesetz machte eine strafrechtliche Verfolgung
unmöglich. Aus diesem Grunde entschloß sich die Volksvertretung sehr
rasch zur Verschärfung des Verbotsgesetzes.
(Nach einer im „Afholdsdagbladet“ v. 8. Juni 1925 veröffentlichten
Mitteilung von Pastor David Östlund.)
Bemerkenswerte Schlußsätze
des Kongresses der Alkoholgegner des britischen Reiches.
Anläßlich der Ausstellung des britischen Reiches (British Empire
exhibition) veranstalteten die englischen Alkoholgegner in der ersten
uniwoche 1924 in London eine Tagung der Alkoholgegnerschaft dieses
eiches (Commonwealth Temperance Convention), die das National
Temperance Quarterly, die Zeitschrift der National Temperance League,
(1924 Nr. 68) als „vielleicht den hervorstechendsten Zug“ in der grob-
britannischen Nüchternheitsarbeit des letzten Jahres bezeichnet. „Sie
zog eine große Zahl namhafter Teilnehmer aus allen Teilen des Ver-
einigten Königreichs herbei, während allerdings der Besuch aus Uebersee
unter der Verschiebung der Ausstellung aus dem vorhergehenden Jahre
litt.“ Die Verhandlungen verkörperten laut der genannten Quelle den
neuesten Stand der geschichtlichen Erkenntnis und der Grundsätze
und Grundlagen der Bewegung, „und die Schlußsätze, die in der ab-
schließenden Sitzung des Kongresses angenommen wurden, zeigen
Ben neuen Ausgangspunkt für zugreifende Anstrengungen im ganzen
eiche an“.
Diese Endergebnisse, deren allgemeine Bekanntgabe im ganzen
Reichsgebiete von der Sitzung beschlossen wurde, dürften beachtenswert
genug sein, um hier (verdeutscht) wiedergegeben zu werden.
Das Zeugnis des Kongresses zur Praxis der Enthaltsamkeit.
l. Das sittliche Zeugnis.
Dieser Kongreß der Alkoholgegner des britischen Reiches spricht es
als seine Ueberzeugung aus, daß
bei der Beurteilung der Vollenthaltsamkeit unter sittlichen Gesichts-
punkten folgende Tatsachen zu berücksichtigen sind:
1. Daß die Wirkung des Alkohols auf das menschliche Urteilsvermögen
leicht zu einem Verhalten führen kann, das ebenso dem einzelnen wie der
Gesamtheit Schaden bringt.
2. Daß der Alkohol im Hause eine mögliche Bedrohung für die Wohl-
fahrt der Familie bedeutet und das angeborene Recht des Kindes auf Glück
und sittliches Wesen gefährdet.
3. Daß bei Vergehen und Tätlichkeiten gegen die Person der Alkohol
häufig eine ausgesprochen ursächliche Rolle spielt.
4. Daß Beschränkung der Ausschankstunden durch Erfahrungen positiver
und negativer Art begründet ist, z. B. Abnahme der sogenannten Alkohol-
vergehen und Eintreten besserer Verhältnissg, wenn die Gelegenheit zum
Trinken beseitigt ist. :
12*
180 Mitteilungen.
ll. Das ärztliche Zeugnis.
... bei der Beurteilung unter ärztlichen Gesichtspunkten folgende
Tatsachen:
1. Daß der Alkohol (Aethylalkohol), der sich in allen geistigen Ge-
tränken findet, ein betäubender Stoff ist.
2. Daß er, als Arzneimittel angesehen, nur wenig Heilwert hat, ab-
gesehen von der Nutzbarmachung seiner betäubenden Wirkung.
3. Daß Alkohol ein Stoff ist, der ähnlich verschiedenen anderen Be-
täubungsmitteln leicht einen krankhaften Hang nach seinem Genusse
hervorruft.
4. Daß der Heiz-Nährwert des Alkohols, von ganz wenigen Ausnahmen
abgesehen, gleich Null ist, in Anbetracht dessen, daß dieser bei geistiger
und körperlicher Arbeit die Leistungsfähigkeit sehr stark herabsetzt.
5. Daß Alkoholismus bei einem der Eltern oder bei beiden die Nach-
kommenschaft verschlechtert.
6. Daß der Alkohol für Kinder und Heranwachsende entschieden
schädlich ist.
7. Daß für Psychopathen und Leute mit angeborener Nervenschwäche
jeder Alkoholgebrauch besonders gefährlich ist.
I. Das materielle (wirtschaftliche) Zeugnis.
... bei der Beurteilung unter materiellen Gesichtspunkten folgende
Tatsachen:
1. Im Blick auf die Industrie: Enthaltsame als industrielle Arbeiter
sind von besserem Betragen, zufriedener, pünktlicher in der Einhaltung der
Zeit, haben eine geringere Krankheits- und Unfallziffer, können länger und
mit geringerer Ermüdung arbeiten als selbst mäßig Trinkende, geschweige
denn als Unmäßige. Dies ermöglicht den Bau besserer Wohnhäuser.
3. ImHinblick auf die Wohnungsfrage: (a) Enthaltsame verlangen
und erlangen bessere Wohnungsverhältnisse; (b) da sie in besseren häus-
lichen Verhältnissen leben, erfreuen sie sich besserer Gesundheit als selbst
mäßige Trinker, geschweige denn als unmäßige.
3. Im Blick auf das wirtschaftliche Wohlergehen: Ent-
haltsamkeit ist eine große Hilfe zum Sparen oder dazu, daß man mehr Geld
für notwendige Dinge ausgeben kann, z. B.: (a) Ein mäßiger Trinker, der
wöchentlich 3% Schilling (Mark) für geistige Getränke ausgibt, braucht
dafür im Jahre mindestens 9 Pfund (180 M). Der Enthaltsame kann diese
Summe zurücklegen oder für nötige Dinge verbrauchen. (b) 9 Pfund im
Jahr ist der Beitrag für eine Lebensversicherung auf 500 Pfund (10 000 M)
für das Leben eines jungen Mannes von 21 Jahren.
Der Ruf zu nationaler Betätigung gegen die Alkoholgefahr.
Die dem Kongreß vorgelegten Unterlagen zeigen klar, daß der Genuß
berauschender Getränke eine unmittelbare Ursache von Leiden, Arbeits-
losigkeit und Vergeudung nationaler Hilfsquellen ist. Elend und Trunk sind
zu fast gleichbedeutenden Begriffen geworden. Die schlimmen Folgen des
Alkohols und die Beschwerden, die er seinen Opfern und deren Angehörigen
zufügt, sind ein häßlicher Fleck auf der Gesittung dieses sich so erleuchtet
dünkenden Zeitalters.
Der Kongreß legt allen Mitbürgern, ohne Ansehen ihres Bekenntnisses
und ihrer Parteizugehörigkeit, die Notwendigkeit ans Herz, dieser all-
gemein anerkannten Trunkgefahr baldigst ein Ende zu machen:
(a) durch gesteigerte Bemühungen, dem einzelnen die Pflicht zur Ent-
haltsamkeit eindringlich zu machen;
(b) durch weitere wissenschaftliche Erforschung des Wesens und der
Wirkung des Alkohols auf Körper und Geist des Menschen und aus-
gedehnteste Bekanntmachung dieser Tatsachen;
(c) durch Veranlassung der Professoren an Universitäten und theo-
logischen Bildungsanstalten zur Darlegung aer wissenschaftlich festgestellten
Mitteilungen. 181
Tatsachen über die Wirkung des Alkohols auf den menschlichen Organis-
mus vor ihren Studenten, um sie besser für ihr Lebenswerk auszurüsten;
(d) durch Fürsorge für planmäßige Vorbildung der Lehrer und für Lern-
mittel für die Jugend, die die ernsten Gefahren des Alkohols zeigen; endlich
(e) durch Schaffung einer gesunden öffentlichen Meinung; die zu wirk-
samer nationaler Betätigung führen wird mit dem Ziele der Ausschaltung
des Trunks aus dem gesellschaftlichen Leben — des Trunks als einer Quelle
von Verbrechen, Armut und vorzeitigem Tode.
Der Kongreß ist davon durchdrungen, daß die Völker diese Frage des
Getränkehandels nicht länger als eine Frage von örtlich umgrenzter Be-
deutung behandeln dürfen, nachdem die Tatsachen, wie unparteiisch man
sie auch betrachten mag, erweisen, daB sie von völkischer, ja selbst
zwischenvölkischer Bedeutung ist; und er ruft alle Regierungen auf, einhellig
wirksame Maßnahmen zu erwägen und zu beschließen, die geeignet sind,
diese Gefahr für die Gesellschaft zu beseitigen.
Der Kongreß bringt nach sorgfältigstem Studium und eingehenden Be-
ratungen seine feste Ueberzeugung zum Ausdruck, daß nichts als lediglich
die endgültige Aufhebung des Alkoholverschleißes die beklagten mannig-
fachen Uebel beseitigen kann, und betont daher die dringende Notwendig-
keit alsbaldigen tatkräftigen Vorgehens, um diese einzig befriedigende
Lösung der Frage herbeizuführen.
Weitere, von Theodore Neild vorgelegte Schlußsätze befaßten sich mit
dem „Nebeneinander- und Zusammenarbeiten der alko-
holgegnerischen Vereinigungen des britischen
Reiches“. Als gemeinsame Ziele wurden bezeichnet:
„l. Die Förderung der persönlichen Enthaltsamkeit;
2. Die Herbeiführung von Maßnahmen, die eine fortschreitende Ver-
ringerung des Alkoholverbrauchs in der Volksgemeinschaft bezwecken“ —
wobei in erster Linie an gesetzgeberische Maßnahmen gedacht ist.
In dieser Hinsicht nahm man folgenden yernünftigen Standpunkt ein:
„Ein kurzer Ueberblick über das britische Reich genügt, um uns die
außerordentlich wichtige Tatsache vor Augen zu führen, daß die Verhält-
nisse, welche für Nüchternheitsgesetzgebung von Einfluß sind, in den ein-
zelnen Ländern außerordentlich verschieden sind. (Es werden eine Reihe
solcher Umstände aufgeführt.) Die Alkoholgegner im einzelnen Lande
werden sich am besten einen zutreffenden, sachlichen Ueberblick über diese
Verhältnisse zu verschaffen wissen. Und diejenigen in jedem anderen Lande
hinwiederum werden am besten in der Lage sein, zu beurteilen, inwieweit
die so gewonnenen Erfahrungen für die Fragen ihres eigenen Landes von
Bedeutung sind.“ | J. Flaig.
Englands Alkoholrechnung
und andere englische Alkoholzahlen vom Jahre 1924.
George B. Wilson von der United Kingdom Alliance (einem der
größten englischen Antialkoholverbände) hat kürzlich wieder, wie schon
seit Jahren, einen Bericht über Englands Getränkerechnung herausgegeben,
der auch auf einige diesem unmittelbaren Gegenstand verwandte Dinge
Streiflichter wirft („Great Britain’s drink bill for 1924“).
Großbritanniens Verbrauch an geistigen Getränken, auf reinen Alkohol
berechnet, wies im verflossenen Jahre eine Zunahme gegenüber dem Vor-
jahr um etwa 6 v. H. auf. Er belief sich auf ungefähr 54 Millionen Gallonen')
(je 454 I) gegen 51 Millionen im Jahre 1923, wovon (1924) 80 v. H. auf Bier,
5A v. H. auf Spirituosen, 4% v. H. auf Trauben- und Obstwein und derg!.
entfallen. Der Kopfverbrauch, in absolutem Alkohol gerechnet, betrug
') Die hier wiedergegebenen Alkoholverbrauchszahlen sind laut Wilson als Mindest-
zahlen zu verstehen.
182 Mitteilungen.
etwa 1,24 Gallonen. Während der Schnapsverbrauch weiter durch die
hohen Spirituosenpreise vermindert wurde und einen groben Rückgang
gegenüber der Vorkriegszeit aufweist (nämlich für England und Wales
gegenüber 1913 um 48, für Schottland um 57 v. H.), steigerte beim Bier
die Preissenkung, die im April 1923 einsetzte, auch weiterhin die Nachirage.
Der Bierverbrauch stellte sich für den Kopf auf 22,8 Volum-Gallonen. der
an Spirituosen auf 0,33 Normal-Gallonen (4,54 1, s. o.). Etwa 4 des Bier-
verbrauchs vollzog sich in Form des Flaschenbiers.
Wie sieht es sich geldlich an? W. schätzt den englischen Aufwand
für geistige Getränke für 1924 bei einer Bevölkerungszahl von 43% Mil-
lionen auf etwa 316 Millionen Pfund Sterling (6329 Millionen M) gegenüber
etwa 307,5 Millionen Pfund im Vorjahr, was eine Zunahme von gegen
3 v. H. bedeutet. Die Ausgabe auf den Kopf der Bevölkerung betrug ins-
gesamt etwa 7 Pfd. 5 Schillinge (145 M) gegen 7 Pfd. 2 Schillinge (142 M)
1923. Großbritannien zählt etwa 10 Millionen Haushaltungen, von denen
mindestens 1 Million nichts für geistige Getränke ausgeben, so daß der
Aufwand der nichtenthaltsamen Familien im Jahre 1924 im Durchschnitt
über 35 Pid. (über 700 M) betrug. Zum Vergleich zieht W. die Milch-
ausgabe heran: Sie betrug im letzten Jahr 76 Millionen Pfd. St., die Bier-
rechnung dagegen mehr als das Zweieinhalbfache davon, 198,425 Millionen
Pfund (3968,5 Millionen M). England gibt also immer 2 Pfd. Sterl. und
12 Schill. für Bier aus, wo es 1 Pid. für Milch verwendet.
W. nimmt im Blick auf diese Zahlenangaben Bezug auf eine kürzliche
Erklärung von Sir John Simon im Parlament, es seien, ob unter dem Titel
der Arbeits- oder Erwerbslosen-Unterstützung oder der Hilfe außer dem
Hause (outdoor relief), seit dem Waffenstillstand 288% Mill. Pfd. aus-
gegeben worden — eine Aufwendung, die er als künstlichen Anreiz be-
zeichnete. In der gleichen Zeit, so fügt Wilson hinzu, verbrauchten wir -
über 2000 Mill. Pfd. (über 40 Milliarden Mark) für wirklichen, nicht nur |
bildlich verstandenen künstlichen Anreiz, davon, selbst nach Abzug der
Steuer, 750 Mill. Pfd. (15 Milliarden Mark) für Bier.
Auch über andere mit dem Alkoholverbrauch nahe zusammenhängende
Fragen erfahren wir Bemerkenswertes. Die Steuern auf die geistigen
Getränke (durch das Alkoholgewerbe vom Verbraucher erhoben) betrugen
137 Mill. Pfd.: 81,4 Mill. aus Bier, 52 aus Schnaps, 3,7 aus Wein. Das
bedeutet, daß etwa 43 v. H. der gesamten Alkoholausgaben auf Steuern
gingen. Beim Schnaps betrug der Steuersatz 100 v. H., beim Bier rund 31,
beim Wein 11,5—19,5 v. H. des Wertes. Was die Zahl der in den
Alkoholgewerben beschäftigten Personen im weiten Sinn
betrifft — auch Handwerker, Beförderungsgewerbe, Kraftwagenführer usw.
die für dieselben arbeiten, einbegriffen —, so waren es insgesamt 397 009
(rund 252000 männliche, 145000 weibliche): in der Herstellung 112346,
im Vertrieb 284663. Die Gesamtzahl macht etwa 2 v. H. der erwerbs-
tätigen Bevölkerung aus. — Die uns aus Deutschland wohlbekannte Er-
scheinung der zunehmenden kapitalistischen Zusammen-
fassung („Konzentration“) in der Bierbrauerei in neuerer Zeit
zeigt sich auch in England in hohem Grade: von 19040 im Jahre 1880 ist
die Zahl der Brauereien auf 2484 im Jahre 1922 zurückgegangen.
Von Interesse sind nebenbei auch die Mitteilungen über die Brannt-
weinverschiffung und den Branntweinschmuggel nach.
dem Ausland. Die Gesamtausfuhr an Spirituosen betrug 1913 10,09,
1924 8,37 Millionen Normal-Gallonen. Davon gingen nach Deutschland
1913 291 000, 1920 208 000, 1924 363 000. Die englische Schnapsausfuhr nach
den Ländern, die 1924 als „Sprungbrett“ für den Schmuggel nach Amerika
dienten, beziffert W. auf einen Wert von rund 5 Millionen Pfd., die Menge
des verfrachteten Schnapses zu Schmuggelzwecken auf etwa 2 250 000
Gallonen, wofür britische Verschiffer rund 3% Millionen Pfd. eingenommen
hätten. Wenn W. hinzufügt: „Dieser Handel ist es zu einem beträchtlichen
Mitteilungen. 183
Teile, dem die gegenwärtige Blüte der schottischen Whiskyindustrie zu
danken ist“, so erinnert man sich doch mannigfacher Mitteilungen aus
neuerer Zeit, wonach dieser englisch-schottische Schnapsschmuggel nach
den Vereinigten Staaten stark nachgelassen hat, weil die Unternehmer
vielfach schwere Verluste dabei erlitten, zum Teil „pleite wurden‘, weil
die amerikanischen Schleichhändler — nicht zahlten!
Die Worte, mit denen W. seine Uebersicht schließt, passen in ent-
sprechender Anwendung auch auf Deutschland: „Von der Klarheit des
Blickes, der Ausschaltung jeder Verschwendung, der gewerblichen Höchst-
produktivität, der Höherentwicklung der Landwirtschaft und einer höheren
Stufe der Leistungsfähigkeit hängt die Zukunft unseres Landes ab. Es gibt
aber keinen Feind von jedem dieser Erfordernisse, der so mächtig wäre
e unsere Trinkrechnung und die 54000 000 Gallonen Alkohol, die sie ver-
örpert.“'
(Aus der englischen Quelle übersetzt und bearbeitet von J. Flaig.)
Vom norwegischen Branntweinverbot.
Die Propaganda-Abteilung des Deutschen Brauer-Bundes hat vor
kurzem (Juni 1925) „Amtliche Berichte über die Wirkungen des Alkohol-
verbots in Norwegen‘ veröffentlicht. Mit diesen amtlichen Berichten
glaubt der Brauerbund die Undurchführbarkeit des Branntwein-Verbots in
Norwegen nachweisen zu können.
Es handelt sich um Berichte von Amtmännern und Polizeidirektoren,
die das Statistische Zentralbüro in Norwegen zu Beginn des vorigen
Jahres auf Veranlassung der norwegischen Regierung eingefordert hat.
In der Broschüre des Brauerbundes sind natürlich die Gutachten der Ver-
waltungs- und Polizeibehörden nicht ungekürzt wiedergegeben, und auch
nicht aus sämtlichen norwegischen Bezirken; nur 33 Berichte lernen wir
kennen aus Bezirken, die etwa ein Drittel der norwegischen Bevölkerung
umfassen. Sämtliche der hier mitgeteilten Berichte äußern sich sehr
abfällig gegen das norwegische Branntweinverbot, das in der Ueber-
setzung bezeichnenderweise immer als Alkoholverbot auftaucht.
Betrachtet man diese Berichte etwas genauer, so fällt einem sofort
auf, daß sie rein stimmungsmäßig abgegeben und an sachlicher Begründung
recht arm sind. Die Vermutung liegt sehr nahe, daß diese Polizeidirektoren
und Amtmänner in der Mehrheit keine Freunde der Alkohol-Enthaltsamkeit
sind. Die Redewendungen, deren sie sich bedienen, kennt man schon aus
verbotsgegnerischen Kundgebungen anderer Länder. Immerhin ist es auf-
fällig, daß diese 33 Leute und vermutlich noch eine weitere Zahl nor-
wegischer Beamter sich so uneingeschränkt gegen das Branntweinverbot
ausgesprochen haben sollen. Vergleicht man indessen die hier in deutscher
Vebersetzung mitgeteilten Aussprüche mit den Veröfientlichungen des
\orwegischen statistischen Zentralbüros selbst?), so merkt man bald, daß
manches in der Brauerbroschüre nicht recht stimmt. Nach der Veröffent-
lichung des Brauerbundes soll z. B. der Amtsmann Hedemarks bekundet
haben: „Nach dem bisherigen Befund hat das Verbot keine Verbesserung
gebracht.“ In dem Bericht des Norwegischen Zentralbüros heißt es aber:
„In den ersten Jahren wirkte das Verbot zufriedenstellend, später wurde
es schlechter.“ Auch vermissen wir in der Veröffentlichung des Brauer-
bundes mehrere Berichte, die das Norwegische Zentralbüro bereits im
Jahre 1924 bekannt gegeben hatte. Sie passen aber in den Text der Brauer
nicht gut hinein. Aus Arendal z. B. meldet man: „Die Trunkenheitsvergehen
seit 1917 wesentlich abgenommen.“ Der Polizeidirektor in Horten
berichtete: „Offensichtlich wird die Bekämpfung des Schmuggels wirk-
!) Teilweise abgedruckt in den Pressemitteilungen des Aufklärungsbüros der schwedischen
esellschaft.
Nüchteraheitsg
184 Mitteilungen.
samer. Erst seitdem die Zentralbehörde kräftig zugreift, beginnt man, von;
den Wirkungen des Verbots sich eine rechte Vorstellung zu machen.“
Am Schluß der Broschüre des Brauerbundes beruft sich der Heraus-'
geber auf eine Aeußerung, die der norwegische Staatsminister Dr. Berge:
in der Sitzung des Odelstings am 14. Juli 1924 getan hat, und die sich
mit scharfen Worten gegen das Verbot richtete. Inzwischen ist nun frei-
lich ein Jahr vergangen; eine andere Regierung ist gegenwärtig am Ruder,
deren Vertreter, Staatsminister Mowinckel, im Februar 1925 Gelegenheit
fand, nun seine Meinung über das Verbot zum Ausdruck zu bringen.
Es war inzwischen ein Gesetz in Kraft getreten, das dem weitverbreiteten
Unfug norwegischer Aerzte, alkoholische Getränke zu Genußzwecken zu
zu verordnen, erfolgreich begegnet. Mowinckel sagte: „Es kann zahlen-:
mäßig nachgewiesen werden, daß es notwendig war, dem Verbot eine:
Probezeit zu lassen. Seit das neue Rezeptgesetz in Kraft getreten ist, hat:
der Verbrauch von Rezeptwein sich um 883 300 Liter ?) vermindert. Dabei;
hat der Schmuggel keineswegs zugenommen. Die Möglichkeit, sich Brannt-
wein zu verschaffen, wird ununterbrochen geringer.“
Alles in allem darf man sagen, daß die norwegische Regierung, die:
für das laufende Jahr allein zur Bekämpfung des Schmuggels die Summe:
von 1959966 Kronen bewilligt erhalten hat, im Laufe des letzten Jahres
mit wesentlich besserem Erfolge als früher das Branntweinverbot durch-
zuführen verstand. Der Schmuggel ist ganz wesentlich zurückgegangen,
und die Statistik der Verhaftungen wegen Trunkenheit läßt ebenfalls auf)
eine beträchtliche Abnahme des Trunkes schließen. Während im Jahre;
1923 noch 49019 Trunkenheitsfälle von der Polizei notiert waren, betrug:
die Zahl im Jahre 1924 nur 43188. Das ist also ein Rückgang von rund
6000. Vor dem Verbot, im Jahre 1916, war die entsprechende Ziffer 62 281.
Man ist also zu der Annahme berechtigt, daß das Branntweinverbot:
sich mehr und mehr durchsetzt, trotz mancherlei Gegnerschaft auch in den
Beamtenkreisen. Auf jeden Fall ist die Broschüre des Brauerbundes, die
jede Bekundung zu Gunsten des Verbots glatt unterdrückt hat, ein völlig‘
ungeeignetes Mittel, sich über die Verbotsverhältnisse in Norwegen zu
unterrichten. Krt.
2) Nach einer anderen Mitteilung ist in der Zeit vom März bis Oktober 1924 von Apo-
-theken verkauft worden 97250 Liter Branntwein und 21093 Liter Sprit gegenüber 653200 Litern
Branntwein und 117971 Litern Sprit während des gleichen Zeitraumes im Jahre 1923. !
Druck von Kupky & Dietze (inh.: C. und R. Müller), Radebeul-Dresden.
Ku ——
7,
Juli, August 1925
A N, Di j e Heft 4
Akoholfrage
Internationale
wissenschaftlich - praktische Zeitschrift
—
HERAUSGEGEBEN
im Auftrage der
“Deutschen Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus
und der
unter Mitwirkung
namhafter Fachleute aller Länder
von
Präsident a.D. Dr. Reinhard Strecker
und Professor Dr. med. h. c. I. Gonser
In der Schriftleitung
Dr. R. Kraut und Dr. J. Flaig
Preis des Jahrganges (für In- und Ausland) 6 Goldmark
Preis des einzelnen Heftes: 1,25 Goldmark
BERLIN-DAHLEM
Verlag „Auf der Wacht“
1925
Internationalen Vereinigung gegen den Alkoholismus
E
Die Alkoholfrage erscheint unter Mitwirkung von:
Abel, Jena; Amaldi, Florenz; Bérenger, Paris; Bumm, Berlin; H. Carton de Wiart, Brüssel; Cuz:
Jassy; Dalhoff, Kopenhagen; Danell, Skara; Delbrück, Bremen; van Deventer, Amsterdam
Donath, Budapest; Endemann, Heidelberg; Friedrich, Budapest; Fuster, Paris; Gaule, Zürich
Geill, Viborg; Gießwein, Budapest; von Gruber, München; Hansson, Oslo; Haw, Leute:
dorf; Henderson, Chicago; Holmquist, Lund; Kabrhel, Prag; Kaufmann, Berlin; Kelynacı
London; Kerschensteiner, München; Kiaer, Oslo; Kögler, Wien; Latour, Madrid; vo
Lewinsky, Moskau; von Liebermann, Budapest; Earl of Lytton, Herts; Masaryk, Prag; Meye!
Columbia; Minovici, Bukarest; Nolens, Haag; Oseroff, Moskau; Peabody, Cambridge (U.S. A.
Pilez, Wien; Reinach, Paris; Reinitzer, Graz; Ribakoff, Moskau; Saleeby, London; Sangrı
Madrid; Schellmann, Düsseldorf; Schiavi, Mailand; Sherwell, London; Spiecker, Berlin; vo
Strümpell, Leipzig; Stubbe, Kiel; Szterenyi, Budapest; Tahssin Bey, Konstantinopel; Tezuka
Nagoya; Tremp, Benken (Schweiz); Vlavianos, Athen; F. Voisin, Paris; Paul Weber, Jena
Westergaard, Kopenhagen; Ziehen, Halle a. S.
Schriftleitung:
Verantwortl. Schriftleiter: Prof. Dr. med. h. c. I. Gonser, Berlin-Dahlem
Werderstr. 16.
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Verlag „Auf der Wacht“ (Verlag des Deutschen Vereins g. d. A.), Berlin-Dahlem
Werderstr. 16. Postscheckkonto: Berlin NW. 7, Nr. 9386.
Anzeigen:
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Inhalt des Heftes 4.
I. Abhandlungen.
Seiti
l. Stubbe, Die Schleswig-Holsteinische Landeskirche und der Alkohol . . . . I5
2. Merbitz, Alkoholbekämpfung in der höheren Schule . . . .19
3. Flaig, Bedeutsame behördliche Maßnahmen und Schritte mit Bezug sit an |
Alkohol (XXXVI). . . . 2... ERBEN:
4. Pfleiderer, Auch ein Ziel . . . ‚a3
5. Scharffenberg, Die Schwierigkeiten bei daj Dürehrährng einen Alkoholveibols 214
6. Martell, Zur Geschichte des Branntweins 2%
II. Chronik. (Stubbe, Kiel)
II. Mitteilungen.
l. Aus der Trinkerfürsorge: Aus der Arbeit des Vereins „Sächsische Volks-
heilstätten für Alkoholkranke‘“ — Sechste Zusammenkunft der schweizerischen
Trinkerfürsorger . . 2
2. Aus Vereinen: Deutscher Frauenbund "für alkoholfreie Kultur, Dresden —
Jahresversammlung des Deutschen Guttemplerordens in Barmen vom 17. bis
21. Juli 1925 . > a Be Eh ae, ie ae rl Te Br Fr N
3. Verschiedenes: Ottilie Hoffmanns 90jähriger Geburtstag — Weinbau und
Weinernte in den wichtigsten Weinländern 1923 und 1924 — Werbewoche für
ein deutsches Gemeindebestimmungsrecht — Der zweite deutsche Alkohol-
gegnertag — Die schottischen Kirchen und der Alkohol — Präsident Schober
in Wien und das amerikanische Alkoholverbot — Das allmächtige Alkoholkapital
IV. Besprechungen.
Schmidt, Warum haben wir den Krieg verloren? (Brunzlow). — Riedlin, Das Kochsalz
als Gewürz und Krankheitsursache und seine Beziehungen zur Kultur. (Flaig) :
V. Schrifttum. (Dr. J. Flaig).
Uebersicht über die wichtigsten Veröffentlichungen aus den Jahren 1924/25. .
Die Schleswig-Holsteinische Landeskirche
und der Alkohol.
Von Chr. Stubbe.
Auf der Jahresfeier des Deutschen Vereins gegen
den Alkoholismus zu Kiel im Herbst 1925 wird das
Thema „Kirche und Alkohol“ vielseitig und gründ-
lich behandelt werden. Zu den allgemeinen und
undsätzlichen Betrachtungen, die wir dort von
rufenen Männern zu erwarten haben, möchten
wır hier ein örtlich umgrenztes, konkretes Einzel-
bild bieten, — „Die schleswig-holsteinische Landes-
kirche und der Alkohol“.
E. Weidensee, der Reformator Haderslebens, veröffentlichte um
1540 einen „Sermon von dem grausamen und unmenschlichen Laster
des Vollsaufens“.
Johannes Stricker (Striker, Stricerius), Pastor von Grube (,„Closter
Cismar“), schrieb 1584 ein niederdeutsches Drama „De düdesche
Schlömer‘“). Im „Prologus“ sagt er:
„Unse Schlömer ys ein Weldtkindt,
Der noch veel nagebleuen synt,
Tho banketeren Dag vnd Nacht.
Beuelt darümm der Fruwen syn,
Se schöl vorschaffen Beer vnd Wyn, ... .
Gheit vort hen na dem Veddern syn,
Dar bestellt was de warme Wyn,
Mit em de Frosupp tho ethen,
De Supens wert nicht vorgeten.“
In den Anfängen unserer Landesuniversität hat ein Glied der theo-
logischen Fakultät sich berufen gefühlt, Zeugnis gegen den Trunk
abzulegen: Prof. Chr. Kortholt erneuerte für seine Zeitgenossen die
Schrift des Chrysostomus wider den Trunk.
Ein Klaus Harms hat gelegentlich sein mächtiges Wort gegen das
Trinken erschallen lassen (z. B. in der Sommerpostille die Predigt über
das Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus).
In der älteren Mäßigkeits- und Enthaltsamkeits-
bewegung (im Kampfe gegen den Branntwein) haben die Pastoren
sich eifrig mit betätigt; ein Volquarts von Lunden und Carstensen von
Elmshorn haben über Holsteins Grenzen hinaus gewirkt — Volquarts
u. a. auf der Generalversammlung der deutschen Mäßigkeitsvereine zu
Braunschweig und auf dem kontinentalen Mäßigkeitskongreß zu Han-
nover. Mehrere Predigten, die im Druck erschienen sind, zeigen uns,
1) Heraus von Johannes Bolte. Druck des Vereins für Nieder-
deutsche Sprachforschung Ill. Norden u. Leipzig 1889 (Landesbibl. V. 62). —
186 | Abhandlungen. .
wie Volquarts als „Alkoholgegner“ seine Aufgabe zu lösen suchte)
Uns soll hier hauptsächlich die neuere Zeit beschäftigen — die
Zeit, in welcher einerseits das Leben der Kirche durch die Kirchen-
gemeinde- und Synodalordnung vom 4. November 1876 — seit 30. Sep-
tember 1922 „Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche
Schleswig-Holsteins“ — geregelt ist — und andererseits der Kampf
gegen den Alkoholismus im wesentlichen durch die noch heute tätigen
Vereine (von 1883 an) geführt wird.
Dieneue Kirchenverfassung nimmt ausdrücklich auf die
Alkoholgefahr Bezug (8 32, 3).
Wie stellt sich zu diesem Kampfe die Gesamtsynode (jetzt
Landessynode) ? |
Seit 1889 werden der Gesamtsynode vom Gesamtsynodalausschuß
Uebersichten über die freie christliche Liebestätigkeit in der Provinz
geboten; darin finden regelmäßig der Kampf gegen den Trunk,
die Fürsorge für die Wandernden (Herbergswesen) und ähnliches
Berücksichtigung. Wer diese Schilderungen der verschiedenen Ueber-
blicke zusammenstellte, würde damit eine Geschichte der Antialkohol-
vereine und verwandter Bestrebungen erhalten.
Auch in den Verhandlungen der Gesamtsynoden selber ist die
Alkoholfrage wiederholt hervorgetreten.
1883 war der Deutsche Verein gegen den Mißbrauch geistiger
Getränke, der Schleswig-Holst. Provinzialverein zur Bekämpfung der
Trunksucht am 19. Januar 1885, gegründet.
Auf der Gesamtsynode 1885 beantragten Pastor Kjer (Osterlügum)
und Genossen eine Resolution:
„l. Die Synode erkennt, daß Unmäßigkeit und Trunksucht leider
auch in unserer geliebten Heimatprovinz weit verbreitet ist und vieler
Orten schreckliches Unheil anrichtet. Sie erklärt daher, daß es not-
wendig und an der Zeit ist, gegen dieses Unheil ernstlicher als bisher
in Gottes Namen anzukämpfen. E
2. Da zu einer erfolgreichen Bekämpfung der Trunksucht die
Mittel der Gesetzgebung ganz unentbehrlich sind, so beschließt die
Synode in Analogie mit den Beschlüssen anderer evang. Kirchenvertre-
tungen, das Königliche Konsistorium aufzufordern, bei der Staats-
regierung zu beantragen, hochdieselbe wolle geeignete Schritte tun, 1.
daß der Branntwein mit einer bedeutend höheren Steuer belastet werde,
2. daß die Gesetzgebung, betr. den Ausschank und den Kleinverkauf
mit Branntwein im Interesse des Volkswohls gründlicher reformiert
werde, 3. daß die Strafgesetzgebung in Bezug auf die Trunksucht ver-
bessert werde.
3, Weil aber Rettung von der Gesetzgebung allein nicht erwartet
werden kann, sondern nur durch Gottes Gnade von einer ernstlichen
Arbeit des ganzen Volkes an seiner eigenen Besserung, so will Synode
2) Näheres siehe Stubbe, Die ältere Mäßigkeits- und Enthaltsamkeits-
bewegung in Schl.-H. — Berlin 1906, S. 82 f. Bilder aus der älteren Mäßig-
keitsbewegung 1910.
|
|
Stubbe, Die Schleswig-Holsteinische Landeskirche und der Alkohol. 187
ale dahingehende redliche Vereinsarbeit anerkennen und speziell
Anschluß an den Schlesw.-Holst. Provinzialverein gegen den Mißbrauch
geistiger Getränke empfehlen.“
Abänderungsanträge gingen dazu ein von den Synodalen Kjer,
Muhl und Strodtmann, sowie vom Oberpräsidenten Steinmann. Stein-
mann ließ Satz 1 bestehen und gab den beiden anderen Sätzen RENEE
Fassung‘:
„sie vertraut, daß alle Mitglieder unserer Landeskirche, vor
allem die Herren Geistlichen, geneigt sein werden, sich an diesem
Kampfe mit vollem Nachdruck beteiligen und zu diesem Zwecke
namentlich auch den Bestrebungen des schleswig-holsteinischen
Landesvereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke nach Kräften
Unterstützung angedeihen zu lassen. Die Synode spricht dabei die
Hoffnung aus, daß ihre Bestrebungen auch seitens der Reichs- und
Staatsregierung in geeigneter Weise Unterstützung finden werden.“
Die verschiedenen Abänderungsanträge wurden zugunsten des
Antrages Steinmann zurückgezogen und dann die so amendierte Ent-
schließung Kjer-Steinmann einstimmig angenommen.
In den Verhandlungen traten als Redner Kjer und Hauptpastor
Diekmann (Wesselburen) wirksam hervor. Bei der Würdigung „aller
redlichen Vereinsarbeit nennt Kjer „Z B. auch die Arbeit der Good-
templars, welche von Norden her in unser Land hinübergekommen
sind“. Verteilt wurde bei dieser Gelegenheit die Ansprache des
"Schlesw.-Holsteinischen Provinzialvereins g. d. M. g. G. (verfaßt von
Bockendahl, Kiel), worin u. a. gesagt war: In den Städten Schleswig-
Holsteins sterben jährlich 2- bis 3mal so viel Menschen an Säuferwahn-
sinn als in Berlin, 4- bis 5mal so viel als in Frankfurt a. M. Es gibt
Gegenden im Lande in denen 1 Schankstätte auf 36 Menschen kommt
— Säuglinge eingerechnet. Wenn von 100 Selbstmördern im Staat 7
die Tat wegen Trunksucht verübt haben, so in Schleswig-Holstein 9.
1891 lag der Gesamtsynodale eine Petition von Guttemplern
vor; Lehrer Matthiesen-Sebbelau und Postverwalter Wurr in Augusten-
burg baten „Namens der Goodtemplar-Loge Staafast Nr. 41 in
Augustenburg die hohe Gesamtsynode herzlich und in Ehrerbietung,
(inre) Bestrebungen in geeigneter Weise hochgeneigtest zu empfehlen
und zu unterstützen; denn es ist ein edler Kampf, den wir kämpfen, und
mit Gottes Hilfe wird der Feind einst erliegen“. — Die Petitions-
kommission beschloß, „in Erwägung, daß der Goodtemplar-Orden in
der Tat in der Trinkerheilung große Erfolge erreicht und dadurch zur
Gesundung des Volkslebens beiträgt, auch der evangel.-lutherischen
Kirche für ihr Werk an den Seelen vorarbeitet und dient, folgende Re-
solution zu beantragen: Synode erklärt, mit Interesse von den geseg-
neten Bestrebungen der Goodtemplar-Loge Kenntnis zu nehmen und
ersucht den Gesamtsynodalausschuß, in dem Bericht über die christliche
Liebesarbeit wie bisher, so auch fernerhin den Goodtemplar-Orden zu
berücksichtigen.“
188 Abhandlungen.
Dagegen wandte sich vor allem Generalsuperintendent Ruperti,
welcher in den Guttemplern eine geheime Gesellschaft sah, während
Generalsuperintendent Kaftan deren soziale Wirksamkeit anerkannte,
aber das Wort „gesegneten‘“ zu streichen beantragte (auch eine zweite
Aenderung der Resolution anregte). Propst Kjer war Berichterstatter
und hob u. a. hervor, daß die Bedenken, welche in Pastorenkreisen dem
Orden gegenüber bestanden, zurückgetreten seien. Die Synodalen Wolf,
Momsen, v. Bernstorff, Kawerau, v. Reventlow, Harder sprachen für,
Treplin gegen die Resolution; diese wurde mit der angegebenen Strei-
chung angenommen.
1903 meldete sich das Kirchliche Blaue Kreuz. Der Be-
richt der „Petitionskommission“ (Berichterstatter Propst Kjer) lautet:
„Der Kirchliche Verband des Blauen Kreuzes in Schleswig-Holstein
bittet, hochwürdige Synode wolle die kirchliche Blaukreuzarbeit in
Schleswig-Holstein den Gemeinden und Pastoren zur Beachtung und
Unterstützung empfehlen. Der Verein begründet seine Bitte damit, daß
er im Gegensatz gegen alle anderen Vereinigungen gegen den Alko-
holismus ein kirchlicher sei, in Gottes Namen und mit Gottes Wort an
der Trinkerrettung arbeite, auch auf dem Bekenntnis der evangelischen
Kirche fuße und insofern für die Kirche (d. h. wohl ihre Organe sowohl
als ihre Glieder) die geeignetste Form für den Kampf gegen die Trunk-
sucht sei. |
Es ist sicher mit Freuden zu begrüßen, daß wir in dem Kirchlichen
Verband des Blauen Kreuzes einen Verein haben, der beim Kampfe
gegen den Alkoholismus den Namen Christi auf die Fahnen schreibt,
das heilkräftige Wort Gottes gebraucht, und auf der Grundlage der
landeskirchlichen Bekenntnisse steht. Die Kommission erachtet es aber
im allgemeinen für bedenklich, von den vielen Vereinen christlicher
Liebestätigkeit einen einzigen, den Blaukreuzverein, in besonderer
Weise und vor allen anderen zu empfehlen. Im besonderen kann auch die
Behauptung, daß der Blaukreuzverein wegen seiner kirchlichen Hal-
tung die geeignetste Form für die Beteiligung der Kirchenglieder an
dem Kampfe gegen den Alkoholismus sei, nicht als einleuchtend richtig
anerkannt werden. Die geeignetste Form wird vielmehr an jedem Orte
und in jedem Falle die sein, welche jedesmal am leichtesten durch-
führbar erscheint und die besten Erfolge erreicht und verspricht. Und
das könnte z. B. auch der Verein gegen den Mißbrauch geistiger
Getränke oder der Guttemplerorden sein. Uebrigens wird auch schon
der Kirchliche Verein vom Blauen Kreuz durch die Berichte über die
christliche Liebestätigkeit, sowie diejenigen der Prosteisynode, als auch
diejenigen der Gesamtsynode der Kirche zur Beachtung empfohlen, nur
nicht vor, sondern neben allen anderen Bestrebungen christlicher Liebe.
Wir empfehlen demnach, Synode wolle beschließen, in Erwägung,
daß zwar der christliche und kirchliche Charakter des Blaukreuzvereins
hohe Anerkennung verdienen, daß es aber bedenklich sei, vor allen
anderen Vereinen christlicher Liebe diesen einzigen besonders zu
empfehlen, daß Synode auch nicht ausmachen kann, ob in jedem Fall
Stubbe, Die Schleswig-Holsteinische Landeskirche und der Alkohol, 189
der Blaukreuzverein die geeignetste Form für die Beteiligung der Kirche
an dem Kampfe gegen den Alkoholismus, und daß der Blaukreuzverein
durch die Synodalberichte über die christliche Liebestätigkeit schon
empfohlen sei, über die Petition zur Tagesordnung überzugehen.“
Obgleich Professor Rendtorff lebhaft befürwortete, durch eine Re-
solution Beachtung und Unterstützung der Blaukreuzarbeit den Ge-
meinden und Pastoren zu empfehlen, wurde die motivierte Tagesord-
nung gemäß Antrag des Berichterstatters Kjer angenommen (aber auch
vom Vorsitzenden der Petitionskommission hervorgehoben, daß darin
keine absprechende Kritik, sondern eine warme Anerkennung des Kirch-
lichen Blauen Kreuzes liegen solle).
Wie so die großen Antialkoholvereine in den Verhandlungen. der
Gesamtsynode zu Worte gekommen sind, hat man auch wichtige
Einzelheiten aus dem Gebiete der Alkoholfrage behandelt.
1900 brachte Propst Janß, Sörup, die alkoholischen Mißstände an
den Kleinbahnen zur Sprache. Es handelte sich darum, daß im
Gegensatz zur Staatsbahn, welche viele Bahnhofswirtschaften ein-
gezogen hat, bei den neuen Kleinbahnen vor allem in Nordschleswig
seitens der Kreise an den Haltestellen Wirtschaften eingerichtet waren
oder wurden, wodurch die Zahl der Schankvertriebe gemehrt und der
Alkoholverbrauch gehoben wurde. Geheimrat Brütt sah die Sache für
ungenügend geklärt an, meinte auch, daß nordschleswigsche Sonder-
bestrebungen im Antrag zum Ausdruck kämen. Geheimrat Adler wollte
gleichfalls den Schein eines Vorwurfs gegen das bisherige Vorgehen
der Verwaltungsbehörden vermeiden. Die Synodalen v. Brincken, Muß-
mann, Wolf, Hansen, Clausen, Thomsen, v. Bernstorff, Jansen, Loren-
zen, Iwersen, Kaftan, Paulsen unterstützen das Vorgehen von Janß.
Der Antrag Janß lautete:
„Gesamtsynode richtet an das Königliche Konsistorium die Bitte,
dasselbe wolle beim Bezirksausschuß dahin vorstellig werden, daß
bei den in unserer Provinz in Aussicht genommenen Kleinbahnen
eine Vermehrung der Wirtschaften tunlichst vermieden werden
möge.“ Pastor Jansen beantragte hinter „vermieden“ einzuschieben:
„sowie bei den bestehenden Kleinbahnen der Schankbetrieb auf das
für das reisende Publikum unerläßliche Maß eingeschränkt“, Graf
Bernstorff, statt „bei dem Bezirksausschuß“ zu sagen: „bei den
zuständigen Behörden“.
Das Amendement Jansen wurde abgelehnt, das v. Bernstorff an-
genommen — und schließlich, nachdem. Brütt der Auffassung Ausdruck
gegeben, daß der Antrag, wie die Diskussion ergeben habe, keinen
Vorwurf gegen irgend eine Instanz enthalte, der Antrag Janß-
(v. Bernstorff) einstimmig angenommen.
1915 veranlaßte der Weltkrieg den Synodalen Stubbe zwei
Eatschließungen einzubringen, die in einmaliger Lesung zur Annahme
gelangten; die erste knüpfte an die Verhandlungen über die Sittlich-
keitsfrage an (auch war aus Altona ein Antrag zur Bekämpfung der
Verfilzung des Alkoholkapitals mit dem Bordellwesen eingegangen)
190 | Abhandlungen.
und wünschte in allgemeinerem Rahmen u. a. die von den General-
kommandos verfügte Aufhebung der Animierkneipen für die Zukunit
sicherzustellen. Sie lautet:
„Hochwürdige Synode wolle das Kirchenregiment ersuchen, zu-
ständigen Ortes dahin vorstellig zu werden, daß (zur Reform des
Schankstättenwesens und zur Beseitigung der Animierkneipen) bald-
tunlichst dem Reichstag wieder eine Novelle zur Reichs-
gewerbeordnung vorgelegt, gegebenenfalls aber zunächst
durch ein Notgesetz den schwersten Schäden abgeholfen werde.“
Die andere stand im inneren Zusammenhang mit den Erörterungen
über Teuerung und Kriegswucher und wandte sich gegen eine verderb-
liche Umwandlung von Nähr- und Futtermitteln in Spirituosen (auch
war vom Lande eine Erklärung gegen Verwendung von Futtermitteln
zur Spirituosenbereitung eingegangen). Sie besagt:
„Die 13. ordentl. Gesamtsynode anerkennt die auf die Ein-
schränkungderErzeugung unddesVertriebsvon.
Spirituosen während der Kriegszeit gerichteten Bestrebungen und _
begrüßt Gesetze und Verordnungen, durch welche Rohstoffe, die für
die Volksernährung oder Viehfütterung wichtig sind, vor der Um-
wandlung in Spirituosen möglichst bewahrt werden.“
1919 erließ die außerordentliche Gesamtsynode auf Antrag von
Stubbe und Genossen eine „Kundgebung“ an die Gemeinden, welche
auch die Alkoholfrage berührt. Es heißt darin:
„Eingeschränkt, aber nicht gebrochen ist in den Kriegsjahren
der Alkoholismus. Er beginnt, sich wieder zu heben, und Geschäfts-
sinn daheim und draußen fördern ihn. Im siegreichen Auslande
schreitet man zu durchgreifenden antialkoholischen Maßnahmen; das
besiegte Deutschland darf nicht zurückstehen. Wir erwarten von
der Regierung baldige Einbringung der angekündigten Gesetz-
vorlage gegen die Trunksucht, eine Reform desKonzessionswesens und
Schutz gegen die Ueberflutung mit ausländischen Spirituosen —
und bitten die alkoholgegnerischen Vereine, ihre dankenswerten Be-
mühungen zur Ernüchterung des Volkslebens unverdrossen fort-
zusetzen.“
1921 beiaßte sich die Gesamtsynode auf Grund eines Beschlusses
der Propsteisynode Rendsburg gemäß Antrag von Propst Heß und
Genossen mit den Alkoholschäden der Gegenwart. Einstimmig machte
sie sich die Entschließung des Kirchentages von Stuttgart zu eigen und
beschloß erneut, zur baldigen Herbeiführung einer Konzessionsreform
vorstellig zu werden.
So hat in ihren Berichten und in ihren Verhandlungen die Gesamt-
synode sich mit der Alkoholfrage beschäftigt.
Wie stellte sich zu diesem Kampfe die Propsteisynode?
Der Synodalausschuß hat regelmäßig über die kirchlichen und
sittlichen Zustände in der Propstei der Synode Bericht zu erstatten
(dabei wird gegebenenfalls auf Trinkschäden mit eingegangen). Auf
Grund Beschlusses der Gesamtsynode hat sodann am 12. März 1886
Stubbe, Die Schleswig-Holsteinische Landeskirche und der Alkohol. 191
das Konsistorium verfügt, daß alle 3 Jahre — zuerst 1887 — über die
in den Propsteibezirken geübte freie christliche Liebestätigkeit berichtet
werde; unter den zu berücksichtigenden Punkten ist 6. Sorge für Wan-
dernde und Dienende (Herbergswesen, Arbeiterkolonie, Verpflegungs-
station), 8. der Kampf gegen die Trunksucht aufgezählt. — Wir finden
in diesen Berichten der Synodalausschüsse reichen kultur- und heimat-
geschichtlichen Stoff gesammelt. Ich habe es mir im neuen Jahrhundert
angelegen sein lassen, diejenigen Abschnitte, welche die Alkoholfrage
betreffen, zusammenzustellen; sie sind als Anlagen in den Jahres-
berichten des Schleswig-Holst. Bezirksvereins gedruckt worden.
In den Verhandlungen der Propsteisynoden hat (natürlich nach
den örtlichen Verhältnissen verschieden) mehrfach die Alkoholfrage zur
Verhandlung gestanden; zweimal beteiligten sich so gut wie alle
Propsteisynoden daran. Im Anschluß an die beiden Jahresversamm-
lungen des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke
in Schleswig-Holstein (zu Kiel 1898 und 1910) empfahl das Konsisto-
rum auf Antrag des Provinzialvereins bzw. Schlesw.-Holst. Bezirks-
vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke den Kampf gegen den
Trunk als Verhandlungsgegenstand.
Ueber die Verhandlungen von 1898 bringt Pastor Biernatzki eine
Uebersicht in seinen „Monatsblättern für Innere Mission“, über die von
1911 Stubbe in der „Landesk. Rundschau“. Verschiedene der damals
gehaltenen Sydonalvorträge wurden gedruckt, z. T. als besondere
Flugschriften (z. B. von Möding und Stubbe). Auch erschienen auf
Beschluß von Synoden besondere Anschreiben an die Gemeinden
(z. B. in Norderdithmarschen 1898, neu aufgelegt für die Propstei
Segeberg 1898) oder Traktate, wie in Kiel „Der Branntweinteufel“ 1900
Auflagen hier, ein Sonderdruck für das Herzogtum Braunschweig)
von Stubbe.
Die Propsteisynode Rendsburg gab 1921, wie vorher erwähnt,
den Anstoß zur Verhandlung der Alkoholfrage auf der Gesamtsynode
des Jahres. Die Propsteisynode Kiel ließ Stubbes Sydonalvortrag „Die
Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs“ Kiel 1911) als Flugblatt drucken;
sein Vortrag 1925 „Die Trunksuchtsfrage“ erschien in der „Landes-
kirche“ 1925, Nr. 19.
Auf mehreren Propsteisynoden hat man Entschließungen zur
Schankstättenreform mit Gemeindebestimmungsrecht angenommen.
Den Kirchenvorständen war schon in der „Kirchen-
gemeinde- und Synodalordnung“ anbefohlen, das christliche und kirch-
liche Leben in den Gemeinden zu pflegen. Damit also mittelbar auch
die Beachtung der Trinkschäden.
DieneueKirchenverfassung rechnet ausdrücklich zu den
besonderen Aufgaben des Kirchenvorstandes ($ 32,3) Bildung und
Förderung von Vereinen zur Bekämpfung der Alkohol-
gefahr. (Die Kirchenvertretung ist zur Unterstützung des
Kirchenvorstandes berufen [8 34]).
192 Abhandlungen.
Bedeutsam war das Vorgehen des Kirchenvorstandes von Hoptrup,
Bußtag 1910. Veranlaßt durch einen Mord, als dessen Quelle man
Trunk in einer Kleinbahnwirtschaft ansah, gab der
Kirchenvorstand öffentlich bekannt, daß er folgenden Antrag an den
Kreisausschuß von Hadersleben einreiche:
„Ein allgemeiner Bußtag hat immer die Bestimmung gehabt, das
Bewußtsein dafür zu wecken, daß wir alle mit verantwortlich sind
für die Laster, die unser Volksleben aufweist. Unser Bußtag erhielt
dieses Jahr ein besonderes Gepräge durch jenes schreckliche Ver-
‚brechen, das der Alkohol paar Tage vorher verursacht hatte. Wir
betrachten dieses als einen Appell an unser Gewissen, daß der Kampi
gegen den Alkoholmißbrauch ganz anders als bisher zu den Auf-
gaben des Kirchenvorstandes gerechnet werden muß. Den ersten
Schritt nach dieser Richtung machen wir damit, daß wir uns an
den Kreisausschuß mit dem Antrage wenden, er möge im Laufe 1911
alle Kleinbahnhöfe, die dem Kreise gehören, in alkoholfreie Wirt-
schaften umwandeln. Sollte der Kreisausschuß bezweifeln, daß dieser
Antrag in Uebereinstimmung mit den Wünschen der Bevölkerung ist,
und vielleicht geltend machen, daß die Bahnhofvorsteher dann ganz
anders gelohnt werden müßten, so wollen wir durch Tausende von
Unterschriften dokumentieren, daß die Steuerzahler des Kreises bereit
sind, diese im Verhältnis zum ganzen Budget unbedeutende Zulage
zur Kreissteuer zu bezahlen, wenn sie nur befreit werden können
von der Verantwortung für das Verderben, das die Bahnhofswirt-
schaften anrichten. Wir bitten den Kreisausschuß, möglichst vor
dem 1. Januar 1911 uns mitzuteilen, ob unser Antrag im Prinzip
angenommen wird. Der Kirchenvorstand: Tonnesen, Larsen, Frey,
Paulsen, Knudsen.
Eine unmittelbar praktische Arbeit leistete der Kirchenvorstand,
bzw. Verbandsausschuß von Kiel, indem er bei dem Bau von 5
Kirchen den dabei beschäftigten Leuten Vormittags und Nachmittags
je einen halben Liter Kaffee gewährte, auch den Arbeitern bei der
Anlage des Friedhofs Eichhof Kaffee spendete.
Bereitwillig haben die Kirchenvorstände die Kirchen für Feiern
der alkoholgegnerischen Vereine wie für Lichtbildergottesdienste und
Gemeindeabende zur Alkoholfrage zur Verfügung gestellt. Sowohl der
schleswig-holsteinische Provinzialverband gegen den Alkoholismus wie
der Kieler Bezirksverein halten seit Jahren ihre Abend- oder Jahres
feiern in Kirchen ab. Die Alkoholgegnerwochen bestimmter Städte (wie
Flensburg 1923 und Kiel 1924), wie des ganzen Landes (1925, Mai)
hatten ihre Gottesdienste. — Auch sind Gemeindehäuser und
Konfirmandensäle niemals alkoholgegnerischen Versammlungen
versagt worden.
Gegenüber der Aengstlichkeit und Kleinlichkeit, die in anderen
Landeskirchen gegenüber alkoholfreiem Wein in sakramentalem Ge
brauch bisweilen geherrscht hat, sei ausdrücklich hervorgehoben, daß
in Kiel gelegentlich der Verbandsausschuß sämtlichen Gemeinden des
Stubbe, Die Schleswig-Holsteinische Landeskirche und der Alkohol. 193
Parochial-(jetzt Kirchengemeinde-)verbandes für die Osterkommunionen
alkoholfreien Wein zur Verfügung gestellt hat. Im übrigen ist
die Anschaffung des Abendmahlweins Sache des Kirchenvorstands,
und es ist keinerlei Prozentsatz Alkohol vorgeschrieben!
Der vorerwähnte alle drei Jahre an den Synodalausschuß für
dessen zusammenfassenden Bericht zu erstattende Bericht über
die Liebestätigkeit, sowie die Berichte über die kirchlichen
und sittlichen Zustände, bisweilen auch Beschlüsse oder Anregungen
seitens der Synodal-Ausschüsse bringen die Bedeutung der Alkohol-
frage immer wieder in Erinnerung. Eine große Anzahl von Kirchen-
vorständen ist den Bezirksvereinen gegen den Mißbrauch geistiger
Getränke körperschaftlich als Mitglied beigetreten. Viele Kirchen-
vorstände und Kirchenvertretungen haben neuerdings Entschließungen
zugunsten einer Schankstättenreform mit Gemeindebestimmungsrecht
gefaßt.
An der Spitze der kirchlichen Verwaltung stand das Königliche
Konsistorium, seit 1922 das Landeskirchenamt. Gedacht
ist der von ihm den Propsteisynoden übermittelten Anregungen. Der
Präsident D. Müller begrüßte persönlich die Jahresversammlung des
Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke zu Kiel
1910 und hat regelmäßig Veranlassung genommen, auf die Kurse zma
Studium des Alkoholismus und auf die Trinkerfürsorgekonferenzen,
wie sie in Berlin alljährlich stattfanden, empfehlend hinzuweisen. Im
Weltkriege, Herbst 1914, gab das Konsistorium den Geistlichen anheim,
in den Predigten des Bußtages die Gewissen in Beziehung auf die
Volksverderber Trunk und Unzucht zu schärfen.
1921 wurden vom Konsistorium 4831,66 M aus einem besonderen
Fonds zur Verfügung gestellt, um die Gefängnisse von Altona, Glück-
stadt, Neumünster, Kiel, Rendsburg und Flensburg mit Sammelbänden
antialkoholischer Schriften (insonderheit für die Einzelzellen) zu ver-
sehen.
Auf den beiden deutschen Alkoholgegnertagen, sowie
auf den Jahresfeiern des Deutschen Vereins gegen den Alkoholismus
zu Weimar und Nürnberg ließ das Konsistorium (Landeskirchenamt)
sich vertreten.
1922 wurde mit Erlaß vom 15. September den Pastoren die Schrift
von Werner „Die Pflicht des Geistlichen im Kampfe gegen den Alko-
holismus“ überwiesen und erneut Beratung der Alkoholfrage auf
Pastoralkonferenzen gewünscht. „Mit theoretischen Erörterungen der
Frage, ob der Genuß alkoholischer Getränke einem Christen erlaubt
ist oder nicht“, heißt es, „ . . . kommen wir nicht weiter. Gewiß aber
ist, daß der Opfersinn derer, die im Kampf Führer sein wollen, eine
nicht zu entbehrende Siegerwaffe ist. Wir vertrauen, daß auch
unsere Geistlichen um ihrer seelsorgerlichen Pflicht willen das Opfer
des persönlichen Verzichts bringen werden, wo die Arbeit an der
Jugend, die Bekämpfung der Trinkunsitten urd die Rettung der Trinker
solchen Verzicht gebietet.“
Die Alkoholirage, 1925 13
194 Abhandlungen.
28. 5. 1923 bezeichnet das Konsistorium die Gemeindeabstimmung
als „Abwehrmittel ersten Ranges gegen die willkürliche Ueberschwem-
mung der Gemeinden mit Schankstätten“. „Nichts ist gefährlicher, als
wenn auf diesem Gebiete durch übertriebenes Angebot die Nachfrage
künstlich gesteigert wird.“
6. 12. 1924 weist das Landeskirchenamt erneut auf die Behandlung
der Alkoholfrage im Konfirmandenunterricht hin und empfiehlt den
Geistlichen die Beschäftigung mit der Alkoholfrage.
16. 1. 25 bringt es einen ausführlichen Aufruf zugunsten der
‚ Trinkerheilstätte Salem, — legt sodann ein Flugblatt des deutschen
Herbergsvereins, den Jahresbericht des Provinzialverbands gegen den
Alkoholismus und das Flugblatt „Evangelischer Christ“ (betr. Ge-
meindebestimmungsrecht) bei, empfiehlt den Synodal-Ausschüssen und
Kirchenvorständen körperschaftlichen Beitritt zum Verein gegen den
Alkoholismus und macht auf den Deutschen Bund enthaltsamer Pfarrer
aufmerksam. |
Persönlich sei noch dankbar erwähnt, daß D. Wallroth, als Propst
von Altona zum Vorstandsmitglied des Schleswig-Holsteinischen Be-
zirksvereins erwählt, auch als Generalsuperintendent von Holstein in
unserem Vorstande geblieben, und sein Nachfolger, Generalsuper-
intendent D. Petersen, auch in unserem Kreise in die Spuren Wallroths
getreten ist.
Wenn jetzt ein Wohlfahrtsdienst seitens der Landeskirche _
eingerichtet wird, so vertrauen wir darauf, daß dem dafür zu bestellen-
den Pastor die Alkoholfrage innerhalb der Landeskirche als Ackerfeld
mit zugewiesen wird?).
Damit sei die Betrachtung der Landeskirche als solcher und
ihrer verfassungsmäßigen Organe in ihrer Stellung zur
Alkoholfrage abgeschlossen. Es liegt uns ferne, zu behaupten, daß
antialkoholisch alles getan ist, was möglich war, und daß alle
Wünsche, die von alkoholgegnerischer Seite gehegt wurden oder
werden, erfüllt sind; andererseits ist es unsere Pflicht, nicht zu ver-
kennen, daß in allen Organen der Landeskirche die Alkoholfrage
gewürdigt wird, und wir können nur herzlich bitten, das weiter aus-
zubauen.
Unsere Kirche ist keine Pastorenkirche, und doch kommt für ihr
Leben sehr viel auf die Pastoren als Diener am Worte, als Diener
an den Gemeinden, an. Wenn wir von der Beteiligung der Gesamt-
synode, der Propsteisynoden und der Kirchenvorstände an der Anti-
alkoholarbeit sprechen, so traten uns dabei allenthalben auch Pastoren
nahe. Wenn wir auf die Vereinsarbeit gegen den Alkoholismus ein-
gehen, so zählen wir in allen Vereinen Pastoren zu den wett-
vollsten Helfern. Bei dem Vereingegen denÄlkoholismus
3) Anmerkungsweise „gedenken wir dessen, daß unser Kirchenregiment
im sogen. Eisenacher Kirchenausschuß mit vertreten ist und Vertreter unsere!
Landeskirche dem deutschen Kirchentag mit angehören. An beiden Stellen
hat man sich ja wiederholt eingehend mit der Alkoholfrage beschäftigt.
Stubbe, Die Schleswig-Hoisteinische Landeskirche und der Alkohol. 195
(früher: „gegen den Mißbrauch geistiger Getränke“) sind aus
früheren Jahren vor allem zu nennen: Propst Kjer aus Tondern, der im
Auftrage des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Ge-
tränke z. B. eine Reise zum Studium der dortigen Alkoholfrage nach
Norwegen machte und auf der Jahresversammlung des D. V. g. d. M.
g. G. zu Hamburg Vortrag hielt, zeitweise Vorsitzender und dann
Ehrenmitglied des Schlesw.-Holst. Bezirksvereins g. d. M. g. G. war,
— Pastor D. Mau, der in Kiel den Ortsverein und die Kaffeeschenke
der Gesellschaft freiwilliger Armenfreunde gründete, den Kieler Orts-
verein mehrere Jahre leitete und nach seinem Rücktritt zum Ehren-
mitglied des Bezirksvereins ernannt wurde, — die Pastoren, welche
als Vereinsgeistliche dem Landesverein für Innere Mission dienten und
zugleich uns mannigfach halfen, der spätere Superintendent Braun, der
Verfasser des „Rettungsankers“, und Biernatzki, der unermüdlich reg-
sam war, — Pastor Dr. Küßner zu Mölln, der Vertrauensmann der
Lauenburgischen Vertreterschaft des D. V. g. d. M. g. G., — Gefängnis-
geistlicher Lüder, jetzt in Hamburg, und sein Nachfolger Holst, welche
jahrelang das Schriftführeramt bekleideten, — in der Gegenwart: Pastor
Meyer als Schriftführer des Schleswiger Bezirksvereins, Propst Hansen
und Pastor Möller in Eiderstedt, Pastor Burmeister als Leiter des
Eckernförder, Pastor Lensch als Vorsitzender des Flensburger, Pastor
a. D. Prietsch als der des Wandsbeker, Pastor Dr. Stubbe als der des
Kieler Bezirksvereins, Hauptpastor Bruns (Mölln), Pastor Mühlenhardt
(Elmshorn), Pastor Petersen (Neumünster), Pastor Treplin (Hademar-
schen), Pastor Schlee, der Schöpfer der Norderdithmarscher Wohl-
fahrtspflege für Drescharbeiter. Eine Reihe von Schriften ist aus diesem
Kreise hervorgegangen; ich nenne hier nur von Küßner „Was können
Magistrate kleiner Städte gegen den Mißbrauch geistiger Getränke
tun?“ (Mölle 1902.) „Was sind wir unseren Kanalarbeitern schuldig?“
(Berlin 1906), von Stubbe, die „Jubiläumsschrift über den Deutschen
Verein gegen den Mißbrauch geistiger Getränke“, „Welche Aufgaben
stellt die Alkoholnot an die Jugend- und Volkserziehung?“, „Ersatz
der Kneipe“, „Das Trinken in Schleswig-Holstein“, „Der Christ und
die Alkoholgefahr“, sowie die geschichtlichen Arbeiten: „Die ältere
Mäßigkeits- und Enthaltsamkeitsbewegung in Schleswig-Holstein“, „Der
Kampf gegen den Alkohol in Mecklenburg“, „Hamburg und der Brannt-
wein“, „Bilder aus der älteren Mäßigkeits- und Enthaltsamkeits-
bewegung‘“*), — „Luther und der Trunk‘“®).
Aus den Reihen der Guttempler sind mir die Pastoren Lamp,
Hennig, Petersen, Bielfeldt, Engelke (Odesloe), H. Jäger, früher auch
Heydorn, jetzt in Hamburg, Nievert (Siebeneichen) und von Wicht, jetzt
in Berlin, bekannt geworden.
%) Alle im Verlag „Auf der Wacht“, Berlin-Dahlem. — In der letzt-
un Schrift ist eine Ruhmesliste derjenigen Pastoren, welche sich in
er älteren MAIER WCRUNg in Schleswig-Holstein beteiligt haben; ich
bitte, darin Pastor Möller (Wöhrden) nachzutragen.
+) Neuland-Verlag, Hamburg 30.
13*
196 Abhandlungen.
Im Nordbund des Blauen Kreuzes betätigten sich die
Pastoren Röschmann und Witt (welche aus dem Dienst der Landeskirche
in den des Gemeinschaftsvereins übertraten), im Kirchl. Blauen
Kreuz — dessen eigentliche Heimat ja unsere Schleswig-Holsteinische
Landeskirche ist — Bahnson (jetzt in Hamburg), Engelke, Gleiss (Neu-
münster), Haake (jetzt Hamburg), Matthiesen (Flensburg), Rienau
(Husum), Schlepper (früher Hennstedt), Schöttler (Böklund), Schröder
(Rendsburg), Matzen (Breklum), Voigt (Rickling), Wedekind (jetzt in
Amerika), Direktor Rohnert und Fliedner (Kropp), Pohl (Mölln),
Studiendirektor lic. Rendtorff (Preetz).
Schröder hat jahrelang die Vereinszeitschrift „Das Blaue Kreuz“
herausgegeben und ist Vorsitzender des Provinzialverbandes des Kirchl.
Bl. Kr. Auf dem Boden des Blauen Kreuzes sind bei uns erwachsen
Schriften von Braune („Rettungsanker‘), Rienau („Was hat die Kirche
gegen die Trunksucht zu tun?“), Schlepper („Was habt Ihr gegen das
Blaue Kreuz?“), Schröder („Wie bewährt sich das Blaue Kreuz als
Arbeit der Inneren Mission?“ sowie eine Sammlung von Blaukreuz-
Betrachtungen), Wedekind („Die Aufgaben der Kirche gegenüber der
Alkoholfrage“), Voigt („Der Trinkerrettung Not und Kraft“).
Der Deutsche Bund enthaltsamer Pfarrer hatte
einen eigenen Nordschleswiger Gau, welcher mit dem Uebergang der
Nordmark an Dänemark untergegangen ist. Ein Schleswig-Holsteiner,
Pastor Lamp, war Gründer und 1. Vorsitzender des Bundes. Ostern 1924
ist ein Provinzialverband errichtet (Vors.: Stubbe, Kiel), Geschäfts-
führer: Moritzen, Krusendorf bei Gettorf). Der „Verband“ hat jetzt
rd. 40 Mitglieder.
Der Deutsche VereinfürGasthausreform hat immer
gerne Gelegenheit genommen, auf das Reformgasthaus von Pastor
Schmidt in Frifeld bei Wodder hinzuweisen; es hat sich leider als
solches nicht halten können. — Es liegt auch im abgetretenen Gebiet.
Der nordelbische Herbergsverband hat den Pastoren
Engelke (Altona, demnächst Hamburg) und Iversen (jetzt Rendsburg)
viel zu danken. Gegenwärtig ist Geschäftsführer Pastor Postel (Hemme).
Es sei betont, daß die Aufzählung der Namen keinerlei Anspruch
auf Vollständigkeit erhebt — mancher wackere Pastor zählt außer den
hier genannten zu unseren Helfern; ja, ich möchte sagen, zu den |
Kämpfern gegen die Trinkschäden gehört im Grunde jeder ordentliche,
pflichtbewußte Geistliche — wenigstens sollte er dazu gehören. Wir
nehmen an, daß am Eingang der deutschen Alkoholgegnerwoche von
allen Kanzeln des Alkoholismus, bzw. des Gemeindebestimmungsrechtes
gedacht ist, ähnlich wie in den örtlichen Alkoholgegnerwochen in
Flensburg, Kiel usw.). — Ferner müssen wir ausdrücklich darauf auf-
merksam machen, daß die Pastoren sich nicht scharf nach Vereinen
scheiden, sondern mehrfach verschiedenen Vereinen (z. B. dem Blauen
Kreuz oder dem I. O. G. T. und dem V. g. d. M. g. G.) gleichzeitig
angehören und gerne nach allen Richtungen hin sich nützlich machen.
Stubbe, Die Schleswig-Holsteinische Landeskirche und der Alkohol. 197
Wo wir die Pastoren überblicken, dürfen wir deren Bildungsstätten
nicht vergessen. — Im Preetzer Predigerseminar werden all-
jährlich die Kandidaten durch Vorträge des früheren Preetzer Inspek-
tors, jetzt Rendsburger Pastors Schröder in die Alkoholfrage eingeführt.
Von den theologischen Dozenten der Landesuniversität, die
im Sommer 1925 im Namen ihrer Fakultät geschlossen für das GBR.
eintraten und eine entsprechende Eingabe an den Reichstag richteten,
haben die Professoren D. D. Baumgarten, Mühlau und Mulert im Kieler
Bezirksverein g. d. A., Leipoldt wiederholt im Verein abstinenter
Studenten (dem stets auch Theologen angehörten) mit Vorträgen gedient.
Von Mühlau erschien im Druck „Die Bibel und der Alkohol“.
Haben wir die Hauptantialkoholvereine bereits bei der Würdigung
der Pastorenarbeit vorüberziehen lassen, so bedarf in unserem Rahmen
noch eine freie Liebesarbeit der Kirche einer besonderen Erörterung:
deArbeitderInneren Mission. Generalsuperintendent a. D.
D. Petersen (vor ihm D. Kaftan) hat die Führung des Landesvereins;
jeder der bisherigen Vereinsgeistlichen hat antialkoholisches Interesse
irgendwie mit betätigt, und man kann wohl sagen, daß die Landes-
geistlichkeit hinter dem Landesverein steht. Der Inneren Mission ver-
danken wir die Gründung der Trinkerheilstätte „Salem“ zu Rickling,
welche über die Grenzen der Landeskirche hinaus vielen Patienten zu
einem Segen geworden ist, ihr die Schöpfung eines Netzes von Her-
bergen zur Heimat über die ganze Provinz und die Errichtung eines
Seemannsheims in Kiel, einer Seemannsstube in Altona — antialko-
holisch gesprochen: von volkstümlichen Reformwirtschaften. (Soviel ich
weiß, herrscht — mit zwei Ausnahmen — in allen Herbergen des Nord-
elbischen Herbergsverbandes Alkoholfreiheit.) Ferner erwirbt sie sich
ein Verdienst in der Heranbildung von Arbeitskräften, welche in der
Triakerfürsorge, in der Leitung von Heimen und Herbergen, wie anti-
alkoholischer Vereinsarbeit sich bewähren. (Auch in Rickling haben wir
jetzt eine Brüderanstalt.) Als eines der jüngsten Kinder der Inneren
Mission haben wir das Heim für Trinkerkinder in Kiel anzusprechen, —
und als einen der verdienstvollsten Jünger einer Brüderanstalt den
verstorbenen Stadtmissionsinspektor Schröder in Kiel, seinerzeit Vor-
steher der dortigen Trinkerfürsorge und Gründer des letztgenannten
Heims, anzuführen. Vor allem helfen Diakone, „Stadtmissionare“ in
der Blaukreuzarbeit und in der Trinkerfürsorge (z. B. Meyer, Schwarze
in Kiel, Griebe in Neumünster, Levenhagen in Altona, Kiesbye in
Salem). Die Monatsblätter des Landesvereins stehen freundlich zum
Verein g. d. A. (u. a. in Entgegennahme von Beiträgen); die
Jahresfeste bieten den Konferenzen des Kirchlichen Blauen Kreuzes
Unterkunft. Als dem Generalsuperintendenten D. Kaftan anläßlich des
10. Geburtstages 1917 von Direktor D. Gleiß ein Handbuch der Inneren
Mission in Schleswig-Holstein gewidmet wurde, fanden darin auch die
Antialkoholbestrebungen ihren Platz.
_ In der Inneren Mission wie in den Vereinen sind die Pastoren als
Mitarbeiter, z. T. sogar als Führer willkommen; indessen die Mehrzahl
198 Abhandlungen.
der Mitglieder besteht aus sogenannten „Laien“. So mag der Blick auf
die Vereine uns zugleich daran gemahnen, wie durch die schlichten
Glieder unserer Gemeinden christliches, landeskirchliches Leben in die
verschiedenen Antialkohalvereine hineingetragen wird, — andererseits
auch daran, wie die Pastoren berufen sind, Vermittler zwischen dem
kirchlichen und dem Vereinsleben zu sein.
Zum kirchlichen Leben — sowohl der Gemeinden wie der Vereine
— gehört (zumal in der Gegenwart) diekirchlichePresse. Wir
dürfen es dankbar aussprechen, daß diese auf der gesamten Linie sich
stets verständnisvoll zu den Antialkoholbestrebungen gestellt hat, vom
„Sonntagsboten“ und dem früheren „Evangel. Gemeindeboten“ bis zu
den ehemaligen Schäferschen „Monatsblättern für Innere Mission“ und
den Kirchenblättern der Provinz. Den letztgenannten lassen wir oft
Berichte und Mitteilungen aus unserer Arbeit zugehen; es wird bereit-
willigst Raum dafür gewährt. Wertvoll war es, daß die „Feldpost“ des
Direktors Pastor Gleiss (die sich ja einer Massenverbreitung erfreute),
auf die Alkoholfrage im Dienste ihrer Soldaten ein aufmerksames
Augenmerk richtete. Auch die Gemeindeblätter berücksichtigen die
Alkoholfrage.
Damit schließen wir den Ueberblick über die freien Lebens-
äußerungen der Landeskirche im Verhältnis zur Alkoholfrage und
bemerken ähnlich wie vorher: „Nicht, daß man es schon ergriffen hätte
oder schon vollkommen sei“ — aber es ist manches Gute geleistet —
und man fühlt eine antialkoholische Verantwortung; unser Wunsch und
unser Bemühen geht dahin, dieses Verantwortungsgefühl immer mehr
zu schärfen und zu neuen Leistungen aufzurufen.
Antialkoholarbeit und Kirche gehören zusammen. So gewiß es ist,
daß ein besonderer Schaden auch mit besonderen Mitteln bekämpft
werden muß (zumal ein solcher, wo äußere und innere „Krankheit“,
körperliche und seelische Schwächen so ineinander übergehen, wie beim
Alkoholismus), so sicher ist es auch, daß jede Arbeit, welche der Ge-
sundung und Erhaltung des ganzen Volkskörpers dient, daß die
gesamte, geordnete Kirchenarbeit, welche den inwendigen Menschen
packt und die unsterbliche Seele mit ihren Ewigkeitsquellen verbindet,
als solche der Versumpfung entgegenwirken muß. Deshalb sehen die
Antialkoholbestrebungen in den Kirchen als Förderern des religiös-
sittlichen Lebens ihre natürlichen Bundesgenossen. — Bescheiden
sagen sie von sich: Wir sind nicht berufen, Seligkeit zu ver-
mitteln oder gar zu wirken, wohl aber möchten wir zum Lebens-
glück der Menschen etwas beitragen und an unserem Teile dazu: helfen,
den Boden des Volkstums und den Acker der Herzen zu entsumpfen
und zu bereiten, damit er immer mehr sich eigne, den Samen des
Wortes aufzunehmen, auf daß er reichliche Frucht trage für eine bessere.
Zukunft. Aus eben diesem Grunde hoffen sie, daß auch fernerhin ihre
Arbeiten Verständnis, Teilnahme, Förderung in den kirchlichen Kreisen
finden werden.
Merbitz, Alkoholbekämpfung in der höheren Schule. 199
Alkoholbekämpfung in der höheren Schule.
Von Stüudienrat Merbitz- Dresden.
Während die Einführung des planmäßigen, systematisch aufgebauten
Nüchternheitsunterrichts an der Volksschule im wesentlichen nur noch eine
Personenfrage ist, da der sich mehr und mehr durchsetzende Gesamtunterricht
es dem Lehrer leicht macht, Zeit und Gelegenheit dazu zu schaffen, stellen
sich ihr in der höheren Schule allerlei organisatorische Schwierigkeiten
entgegen (Fachsystem, verschiedene Schultypen und Lehrpläne und Prüfungs-
ordnungen, Ueberfülle von Fächern und von Stoff in den einzelnen Gebieten,
Nebeneinander und Nacheinander zahlreicher, sehr verschiedener Lehrer-
persönlichkeiten u. a. m... Fachlich ist der Nüchternheitsunterricht ein-
zugliedern in die Gesundheitslehre, die wieder viel stärker als bisher zur
Vorberrschaft in der Naturkunde und Biologie kommen muß; aber auch die
Volkswirtschaftslehre, heute in Geschichte, Erdkunde, Rechnen mit behandelt,
wird die Alkoholfrage gründlich betrachten müssen. Nicht immer aber wird
gerade der betr. Fachlehrer — besonders wichtig ist ja der Naturwissen-
schaftler — ohne weiteres auch nach seiner inneren Einstellung zu den
Rauch- und Rauschgiften die geeignete Lehrerpersönlichkeit sein. Selbst-
verständlich wird niemand dem enthaltsamen Lehrer, der andere Fächer
vertritt, verwehren können, auch in ihnen die Gelegenheit herbeizuführen und
zu nützen, Belehrungen über den Alkohol usw. zu geben, aber es wird dies
een doch „gelegentlich“ bleiben müssen. Damit aber die Frage nach
rechter Lebensführung und die Tatsachen über die Selbstvergiftung und
vernichtung des einzelnen wie der Gesellschaft durch den Alkohol und seine
sen wenigstens recht oft an die Schüler gelangen, damit ihre Teilnahme
geweckt werde, müssen wir noch andere Wege einschlagen als den des plan-
mäßigen Nüchternheitsunterrichts oder der gelegentlichen Belehrung, ja selbst
dort, wo ein geregelter Unterricht gegeben werden kann, wird auch er
mancherlei Unterstützung und Vertiefung auf diese Weise erfahren können.
Wir werden dabei weniger das Belehren der Schule als das Gewinnen zum
Mittun anwenden müssen, wie es im Vereinsleben üblich ist. Diese Form ent-
spricht aber gerade dem Wesen des Entwicklungsalters vortrefflich, in dem sich
ja die meisten höheren Schüler befinden, und führt von selbst zu den Arbeits-
schulmethoden, die für unser Gebiet das geeignetste sind, da wir ja nicht
Wissensschätze, sondern Ueberzeugungsgrundlagen und Antriebe zur Tat
wollen. Und unser Wirken soll sich dabei nicht nur auf die Schüler,
sondern ebenso auch auf die Eltern und die Lehrer wie endlich auch auf
das ganze Schulleben erstrecken.
Die Grundlage für unsere Arbeit an den Schülern bildet die Ein-
Achtung des „Goldenen Buches“, die von Oesterreich!) ausgehend immer
weitere Verbreitung findet. Ein festes Quartheft enthält auf der ersten Seite
die Formel: „Wir hier Unterzeichnete verpflichten uns aus freiem eigenen
Antriebe, solange wir der Schule angehören, auf die Genußgifte Alkohol und
Nikotin zu verzichten. Wir entsagen diesen scheinbaren Genüssen, um
dadurch unseren Willen und unsere see aung zu üben und zu
stäblen. Wir halten unsern Körper rein von diesen Giften, um dadurch
körperlich und geistig leistungsfähiger zu werden. Und wir wollen dies,
um tüchtig zu sein für unsere Lebensaufgabe, unserem deutschen Volke eine
bessere Zukunft aufzubauen.“ Durch Unterschrift innerhalb der für ihre
Klasse bestimmten Spalte übernehmen die Schüler diese Verpflichtung. Von
den jüngeren (Sexta—Quarta) ist vorher eine Bescheinigung (Vordruck) vor-
zulegen, auf der die Eltern durch Unterschrift anerkennen: „Ich bin damit
einverstanden, daß mein Sohn . . . Schüler der Klasse... der... ..Schule,
1) Angeregt von Lehrer Karl Springenschmid, Salzburg, Franz-Josef-Straße 3. Vergi. Est-
AIMER 1924, Heft 12, S. 144 f. (Verlag: Deutscher Bund enthaltsamer Erzieher, Hamburg-
rgedorf),.
200 Abhandlungen,
das nn ablegt, für die Dauer seiner Schulzeit den Genuß von
alkoholischen Getränken und Speisen sowie das Rauchen zu meiden, um
seine körperliche und geistige Leistungsfähigkeit für die Schule und für das
Leben nicht zu verringern. Ich erkläre mich bereit, ihn jederzeit darin zu
unterstützen, daß er dies sein gegebenes Wort auch hält.“ Dadurch wird das
Elternhaus ebenfalls auf die Frage aufmerksam gemacht und mindestens ein |
Entgegenwirken verhindert. Diese verpflichtende Unterschrift der Eltern wie
der Schüler ist in jedem Schuljahr neu zu geben; so gerät sie nicht so leicht in
Vergessenheit und auch die Eltern werden erneut auf die Frage hingewiesen.
Diese jährliche Erneuerung verstärkt aber auch das Gefühl der Freiheit, der
eigenen Entscheidung, ein Gefühl, das im Entwicklungsalter von großer
Bedeutung für alle Entschlüsse und Handlungen ist. Endlich werden so
Schwächlinge, die nicht durchhalten können, ohne weiteres ausgeschieden und
beflecken nicht das Ansehen des Ganzen durch ihre Uebertretungen und die
dadurch nötigen „Ausschlußverfahren“. Eine Beaufsichtigung der Ver-
pflichteten ist ja auch gar nicht möglich, erzieherisch auch keineswegs
wünschenswert. Eigener Entschluß führt zur Unterschrift, die nicht im
Anschluß an eine a ale Stunde, sondern erst einige Zeit nach der
Meldung geleistet wird; eigene Verantwortung und Achtung vor dem eigenen
Wort sichert ihre Erfüllung; eigene Abmeldung löscht die Unterschrift und
damit die Verpilichtung, wenn der Schüler sie nicht halten will oder kann.
Diejenigen, die sich in diesem „Goldener Buch“ unterschrieben haben,
bilden nun eine Vereinigung, die das „Blaue Dreieck“ als Zeichen führt,
deren besondere Mitgliedpflichten (Versammlungsbesuch, Beitrag u. a.) zu
erfüllen aber niemand gezwungen wird. Für die verschiedenen Aufgaben
sind Vereinsbeamte nötig, und es empfiehlt sich in weitgehender Arbeits-
teilung möglichst viele heranzuziehen, jeden aber für ein nicht zu umfang-
reiches Gebiet. Der Vorstand arbeitet in enger Fühlung mit den enthaltsamen
Lehrern der Schule, verteilt die Aufgaben, treibt die Säumigen an usw. Mit
den einzelnen Klassengruppen steht er in Verbindung durch deren gewählte
Vertreter. Das „Blaue Dreieck“ kommt in der Regel einmal monatlich zu-
sammen in einem Schulzimmer oder anderem Orte (Reformgasthaus, Woh-
nung, im Sommer im Freien), anschließend an den Unterricht, — was weniger
günstig ist wegen der allgemeinen Ermüdung — oder des Nachmittags. In
iesen Versammlungen wird die Arbeit besprochen und verteilt, Berichte
und Vorträge werden geboten, Fragen und Einwände tauchen auf und werden
in gemeinsamer Arbeit durchdacht und beantwortet. Gelegentlich laden wir
uns auch einmal Gäste ein und erweitern dann das Gebotene durch Musik
und Rezitation, vielleicht sogar durch eine kleine Szene. Wichtiger vielleicht
noch wird aber die Tätigkeit in den Untergruppen, freilich nur, wenn es
gelingt, geschickte Führer aus den Schülern herauszubilden. Da werden
useen besucht — wir in Dresden haben ja im Deutschen Hygiene-Museum
für unsere Zwecke eine glänzende Bildungsstätte —, in Vorträgen anderer
Vereinigungen, die wie wir den Alkohol bekämpfen oder überhaupt für
Lebensreform eintreten, holen wir uns neue Anregungen, es wird geturnt,
ges ielt und geschwommen, es geht hinaus auf Fahrt zu Fuß oder auf dem
tahlroß usw. Es zeigt sich ja bald, daß die „Enthaltsamkeit“ allein der
Jugend als Gebiet des Studiums und der Betätigung nicht genügt, daher
werden wir alle Fragen körperlich und seelisch gesunder Lebensführung mit
heranziehen müssen, wie unsere Jugendbewegung auch die Ganzheit des
Lebens packen und sich nicht auf ein Einzelziel einengen lassen will. Besteht
daher an unserer Schule schon eine Sup der Jugendbewegung, so werden
wir enthaltsamen Erzieher natürlich nichts Neues gründen, sondern mit und
in dieser arbeitend sie auch nach unserem Sondergebiet hin lebendig machen.
Dazu dient nun in hohem Maße die Bücherei. Aus ihren eigenen Beständen
haben die enthaltsamen Lehrer der Schule einen Grundstock zur Verfügung
estellt, der durch Schenkungen und Ankäufe (aus den Beiträgen, zurzeit
‚0 M monatlich) weiter wächst. Die Bücher, besonders die kürzeren Helfte,
werden fleißig gelesen und geben immer neuen Antrieb zum Fragen und
Merbitz, Alkoholbekämpfung in der höheren Schule, 201
Besprechen wie zum Handeln. Zeitungsausschnitte, Flugblätter und die
Zeitschriften der Bewegung kommen in Lesemappen, die herumwandern.
jeder hilft mit, sie zu füllen. Die Lehrer, indem sie ihre Zeitschriften mit
zur Verfügung stellen, die Schüler, indem sie allerlei sammeln, was sie in
den Tageszeitungen oder sonstwo an Beachtenswertem finden. Besondere
„Fachleute“ tragen dann in Sammelmappen zusammen, was ihr Sondergebiet
angeht, etwa „Amerika“ oder „Volkswirtschaft“ oder „Unglücksfälle‘ oder
„stellung berühmter Menschen“ oder anderes.
Was sich nun von alledem als geeignet erweist, kommt in entsprechender
form zum Aushang. Im Schulhause, an allen sichtbarer Stelle (bei uns am
Holausgang) ist eine große Wellpapptafel angebracht, die wir natürlich selbst
beschafitt und hergestellt haben. Das Blaue Dreieck ziert sie und hier werden
nun ausgehängt: Flugblätter, Berichte und Tatsachen aus den Zeitungen,
Zeichnungen dazu, Bilderbogen zu Erzählungen, Bilder oder Säulen und
Kurven zur Veranschaulichung statistischer Zahlen, Anzeigen und „eigen-
artige“ Presseberichte mit entsprechenden Erklärungen, Einwände und ihre
Widerlegung (vgl. Stihlke, Trutzbüchlein) in Kunstschrift, Ankündigungen
und Bekanntmachungen u. v. a. m. Geschickte Zusammenstellung und er-
läuternde Beschriftung sind dabei von großer Bedeutung, wird doch alles
auch von vielen gelesen, die unseren Bestrebungen gleichgültig oder sogar
keindlich gegenüberstehen. Es gibt da oft scharfe Kritiken und manch hefti
Auseinandersetzung entspinnt sich, die oft nicht auf die Schüler beschränkt
bleibt, sondern bis ins Lehrerzimmer ihre Wellen schlägt. Aber das ist ja
nur zu begrüßen; denn so beschäftigt mar sich mit den Tatsachen der
Alkohol- und Nikotinvergiftung unseres Volkes und allmählich wirken diese
doch. Wenn sie nur überhaupt erst einmal beachtet werden, mag es auch
in sehr feindlichem Sinne sein, sie lassen den Menschen nicht wieder los,
wenn er ein ehrlich wollender und für seine Mitmenschen fühlender ist. Nur
müssen wir bemüht sein, so sachlich wie möglich zu bleiben und die Dinge,
die nicht wegzuleugnen sind, selbst sprechen lassen, ihre Sprache höchstens
durch geschickte Anordnung klar und unüberhörbar zu machen. Aehnliche,
natürlich kleinere Aushangtafeln werden auch in den Klassenzimmern an-
ebracht, in denen stärkere Blau-Dreieck-Gruppen sind, nach vorheriger
erständigung mit dem betr. Klassenlehrer.
Wie alle Erziehungsarbeit der Schule, so bedarf auch die unsere der
verständnisvollen Unterstützung durch das Elternhaus. Daran fehlt es freilich
meist, im allgemeinen vornehmlich aber auf dem Gebiet der Genußgift-
bekämpfung, ja der gesunden Lebensweise überhaupt. Aber gerade die
Schule kann hier unendlichen Segen für unser Volk stiften, wenn sie Wissen
verbreitet und die Kinder zu einer prüfenden Betrachtung des gewohnten
ke are und der häuslichen Einrichtungen und Formen anleitet. Die
fangene Kinderfrage mahnt oft besser als der schönste Vortrag, den sich
die, die er am meisten angeht, nicht anhören. So rütteln wir die
Eltern schon dadurch aus ihrer bequemen Ruhe des „das war schon immer
so“, daß wir die Kinder andere Wege weisen. Die oben erwähnte schriftliche
Zustimmung zum Eintrag ins Goldene Buch und Bereiterklärung, das Kind
in der Erfüllung seines Versprechens zu unterstützen, une zur Erörterung
der Frage im Familienkreise, zum Achtgeben bei der Aufstellung des Küchen-
zettels, vielleicht sogar zu allerlei Schwierigkeiten bei Familieniesten usw.
Immer wieder einmal kommt der Junge mit neuen „Tatsachen“ angerückt.
Aber auch unmittelbar wollen wir an die Eltern herangehen. Wir werden
Sie zu Vorträgen einladen über allerlei Fragen der Erziehung — es ist dabei
von Vorteil, die Worte „Alkohol“, „Genußgift“, „Rauchen“ u. a. im Thema
zu vermeiden, im Vortrag selbst kann man es ja nicht, da, wie wir wissen,
iese Dinge in alle Erziehungsiragen mit hineinspielen — wir werden in
Klassenelternabenden, bei unsern Besuchen im Elternhaus wie bei den
elterlichen in der Schule darauf hinweisen, welch entscheidende Rolle die
Gesundheit für die Schulerfolge hat und wie die Genußgifte die Leistungs-
fähigkeit für die Schule wie für das spätere Leben verringern. Wenn dann
202 Abhandlungen.
ab und zu einmal ein passendes Flugblatt mit ins Haus kommt, so wird es
vielleicht doch gelesen und beachtet. Besonders guten Boden wird aber das
Merkblatt finden, das wir bei der Aufnahme des frischgebackenen höheren
Schülers den gerührten Eltern in die Hand drücken können, gleich zur
Kennzeichnung der neuen Schule, die sich auch um die körperliche Erziehung
ihrer Schüler kümmert und sie freigehalten wissen will von allen Rauch-
und Rauschgiften.
Diese Einstellung der ganzen Schule ist aber wohl nur möglich, wenn es
uns gelingt, mindestens einen größeren Teil der Lehrerschaft für unsere
Anschauung zu gewinnen. Daß sie alle gaich selbst enthaltsam werden, ist
freilich noch ein schöner Wunschtraum, aber viel ist schon gewonnen, wenn
sie uns nicht entgegenarbeiten, sich über den Einzelfall sachlich mit uns
auseinandersetzen, unsern Begründungen und Tatsachen auch einmal Be-
achtung schenken, ja schließlich grundsätzlich unsere Stellung anerkennen
und bereit sind, uns den Schülern und Eltern gegenüber zu unterstützen.
Um solche Gönner etwas „festzunageln‘“, nimmt sie z. B. der Landesverband
der Sächsischen enthaltsamen Erzieher als „Freunde“ auf mit vollem Mit-
liedsbeitrag und Zeitschriftenbezug. Wenn man dann Aussprachen und
bstimmungen in der Lehrerversammlung durch „Einzelbesprechungen“
geschickt vorbereitet, läßt sich schon allerlei erreichen, — wenn man nicht
zu viel auf einmal verlangt. Mit großen Forderungen allein erreichen wir
gar nichts, ja wir erwecken und stärken nur Gegnerschaft.e. Mag uns selbst
ein großes Endziel begeisternd leuchten, in der Kleinarbeit des Alltags
müssen wir kleine Schritte tun. Ueberhaupt wird für unsern Erfolg von aus-
schlaggebender Bedeutung sein, welche Stellung wir im Kreise der Amts-
genossen einnehmen. Sind wir geachtet wegen unserer wissenschaftlichen,
erzieherischen oder sonstigen Leistungen, beliebt als gute Kameraden und
Helfer, dann wird man uns auch Gehör schenken; wer sich aber selbst abseits
stellt und die andern durch unnütze Schärfe in der Form vor den Kopf stößt,
der wird auch abgelehnt werden, wo der andere sich leicht durchsetzt.
Wie aber gewinnen wir den fernstehenden Lehrer zum Freunde? Da
hat wohl ein jeder der Amtsgenossen sein Gebiet, das ihm besonders am
Herzen liegt. Auf dieses folgen wir ihm und verknüpfen es mit der Alkohol-
frage, was ja wirklich nicht schwer ist, da der Alkoholgenuß und seine
Folgen ja zu allen Zeiten und auf allen Lebensgebieten Wirkungen ausgeübt
haben. Viele werden schon aufhorchen, wenn wir von den Erzieherpflichten
sprechen und die Schädigung des heranreifenden Menschen in den Vorder-
grund stellen; andere bitten wir um Auskunft oder Hilfe, ohne besonders
den Enthaltsamkeitsstandpunkt zu betonen. Nichts regt ja mehr zum Nach-
denken über bisher „Selbstverständliches“ an als eine geschickt gestellte
„dumme“ Frage, und wenn der Zeichner uns ein Plakat entwirft, eine Be-
schriftung überwacht, wenn der Musiker uns ein Lied lehrt, der Mathematiker
etwas berechnet und graphisch darstellt, so vertieft er sich doch auch einmal
in den Inhalt, stutzt, fragt, und der Weg zu ihm öffnet sich. In freundlich
unaufdringlicher aber zäher Weiterbearbeitung wird er allmählich zum
auldenden, zum fördernden, ja vielleicht sogar zum verpflichteten und zahlen-
den „Freund“. |
Als solcher wird er dann wohl auch in seinem Fachunterrichte Gelegen-
heiten herbeiführen und nützen, über die Alkoholfrage zu sprechen, und wenn
dies öfter und immer wieder je nach dem Fache und der Persönlichkeit des
Lehrers von etwas anderer Seite her in der Klasse geschieht, so wird damit
schon allerlei zu erreichen sein, wenn auch gerade dann der planmäßi
Nüchternheitsunterricht besonders wertvoll wäre, der all dies Gelegentliche
ee! und -fügt zum geordneten festen Bau einer wissenschaftli
gegründeten Lebensanschauung und -führung. Gelegenheiten zum Herein-
ziehen der Nüchternheits- ja der Gesundheitslehre überhaupt bietet jedes
Fach: das Rechnen arbeitet mit eingekleideten Aufgaben aus der Nährwert-
lehre, aus den Haushaltplänen einzelner Familien, der Gemeinden, der Länder,
des Reiches, aus Versicherungs-, Erkrankungs- u. a. Statistiken u. s. f, im
Merbitz, Alkoholbekämpfung in der höheren Schule. 203
Deutschen üben wir Lesen, Wiedererzählen, Vortragsweise u. a. an Werken
unserer Dichter, die die Alkoholnot als Hintergrund haben?), in der neueren
Sprache behandeln wir entsprechende Werke der fremden Zunge oder plaudern
über die Verhältnisse der anderen Staaten (England— Amerika), im Zeichnen
ihren wir, wie ein Plakat inhaltlich und technisch geschaffen wird, in der
Matbematik treiben wir Statistik und stellen das Erkannte in Kurven dar,
in der Naturkunde, Physik, Chemie stoßen wir immer wieder auf die Genuß-
gifte und ihre störenden und zerstörenden Wirkungen, und so läßt sich für
Es Fach vielerlei Gelegenheit zeigen, die wir nur auszunützen haben. Daß
ich dabei trotz allen guten Willens des „Freundes“ den größeren Erfolg
doch der Erzieher haben wird, der nicht gezwungen ist, auf die Frage
„Und Sie??“ auszuweichen, sondern sie mit klarem „Und ich bin darum
selbst auch enthaltsam!“ beantworten kann, das möchte nicht verschwiegen
werden. Erzieher sein heißt Vorbild sein!
Zum Schluß noch ein Wort über die Veranstaltungen und Feste der
Schule. Schulwanderungen sind alkohol- und nikotinfrei zu halten, das ver-
langen sogar die behördlichen Verordnungen. Mit freundlicher Zähigkeit läßt
sich, zur Not mit Hilfe des Direktors, wenn er seine Lehrer geschickt zu
behandeln versteht, dies von allen erzwingen. Viel schwieriger wird es aber
bei Schulfesten und gar bei Schulbällen. Wir haben ja dazu nur den Raum
der Gasthäuser, wir „haben die Eltern und Angehörigen der Schüler, bei
Bällen noch dazu ihre Damen und deren Angehörige als Gäste. Heute sind
wir noch nicht so weit, ihnen allen den Verzicht auf das Rauchen und den
Rauschtrank als Bedingung für ihre Anwesenheit aufzulegen. Wir würden
einen derartigen Beschluß der Lehrerschaft auch kaum herbeiführen können.
Halten wir uns also protestierend fern? Das würde wenig nützen; besser ist
es, wir versuchen in unserm Sinne zu wirken, soweit es eben geht.
Kann die Schule ihre Feste im eigenen Hause abhalten, so läßt sich schon
viel durchsetzen, deshalb streben wir dies an. Müssen wir aber ins Gasthaus,
so beugen wir durch eine kleine Besprechung mit den Schülern, vielleicht
sogar eine kurze Bitte an die Eltern (Flugblatt?), wenigstens etwas vor.
Meine Klassenfeste konnte ich auf diese Weise schon ganz „giftfrei“ halten,
aber da hatte der enthaltsame Klassenlehrer ja auch die letzte Entscheidung
über alles. Ein vernünftiger Wirt en heute schon auf Forderungen ein, so
gab es sogar auf unserm Schulball auf der Weinkarte „alkoholfreien Apfel-
sft“ und einigen Vegetariern wurde an Stelle des Fleischganges ein schöner
Kräutereierkuchen vorgesetzt. Solche Kleinigkeiten dürfen wir nicht unter-
schätzen. Sie beweisen den anderen, daß es auch „ohne“ geht, aber auch daß
wir Enthaltsamen uns auch auf dem Parkett zu bewegen wissen und nicht auf
die guten Formen der Gesellschaft verzichten, sondern unsere Schüler auch
in ihren rechten Gebrauch einführen wollen. Mit solchen kleinen Schritten
müssen wir allmählich auch die anderen Lehrer, die Eltern und die Schüler
umgewöhnen. Ist freilich die „Reformpartei“ stark, so kann sie es auch zur
tung treiben, vielleicht sogar ein Fest im neuen Geiste erzwingen, aber
das zweite wird heute noch kaum möglich sein, und die Spaltung der Schule
ın zwei Lager ist sicher nicht gut für ihr Leben und ihre Arbeit und wird
mehr zerstören als aufbauen.
Das aber soll unser Streben sein, daß wir Aufbauarbeit leisten. Das Alte
und Ueberlebte wird dann selbst zusammenbrechen an seiner inneren Hohl-
heit. Solche Arbeit aber braucht Zeit und Ruhe und Geduld, daher werden
auch die hier angedeuteten Wege, die wir schon mit Erfolg gehen, uns
vorwärtsbringen, wenn sie auch vorerst nur ein Notbehelf sind, solange der
este Weg eben noch nicht gegangen werden kann, der des planmäßigen in
ène umfassende Gesundheitslehre eingebauten Nüchternheitsunterrichts, er-
teilt vom enthaltsamen Lehrer.
°) Vergi. Die neue Erziehung 1925, Heft 2, S. 119 (Verlag: C. A. Schwetschke & Sohn,
Berlin W 30).
204 Abhandlungen.
Bedeutsame behördliche Maßnahmen und
Schritte mit Bezug auf den Alkohol. (XXXVI.)
Zusammengestellt von Dr. J. Flaig.')
Das Gesetz über Erhöhung der Bier-(und Tabak-)Steuer vom 10. Aug. d. J.
bringt mit Geltung vom 1. April 1926 an eine Hinaufsetzung der
Biersteuer um ?/, der bisherigen Sätze. Die Steuer beträgt nun für jedes
Hektoliter der in einem Brauereibetrieb innerhalb eines Rechnungsjahres
erzeugten Menge Vollbier (mit einem Stammwürzegehalt von 11—14v.H. —
dieses macht die überwiegende Hauptmenge der Erzeugung aus): von den
ersten 1000 hi 6 RM, bei größerer Erzeugung stufenweise steigend bis zu
8,15 M. Die Steuersätze ermäßigen sıch für Einfachbier (Stamm-
würzegehalt bis 6,5 v. H.) und erhöhen sich für Starkbier (Stamm-
würzegehalt 16 v. H. und mehr) je um die Hälfte. Einfachbier darf nur in
Verkehr gebracht werden, wenn es in einer dem Verbraucher erk
Weise als solches bezeichnet ist.
Hauptsächlichste Bestimmungen des auf die Weinsteuer bezüglichen Teils
des Gesetzes zur Aenderung von Verbrauchssteuern vem 10. August 1925:
Die Steuer wurde (mit Rücksicht auf die Notlage der Winzer) ermäßigt,
sie Et nun für Schaumwein und schaumweinähnliche
Getränke (mit Ausnahme von solchen lediglich aus Fruchtwein) 30 v. H.,
für sonstigen Wein („einschließlich Traubenmost, weinähnliche Getränke
und weinhaltige Getränke“ — also auch solche aus Obst und Beeren) 20 v. H:
des rohen Verbraucherpreises IE I). Dabei ermäßigen sich
die Sätze vom 1.August 1925 bis 30.September 1927 um %”
und soll aus dem Steuerertrag in der Zeit vom 1. Juli 1925 bis 30. Juni 1927
1% „zur Behebung der Not des Winzerstandes“ verwendet werden. Steuerfrei
ist eigentlicher „Haustrunk“ für den Hersteller und zu kostenloser Abgabe
für seinen Betrieb, Wein für gottesdienstliche, wissenschaftliche und gewerb-
liche Zwecke u. ä — Der Reichsfinanzminister hat als Zeitpunkt des Inkraft-
tretens dieser Bestimmungen, abgesehen von der mit * bezeichneten, die
bereits in Wirksamkeit getreten ist, den 1. September d. J. festgesetzt.
Die Steuerbefreiung der alkoholfreien Trauben- und
Obstweine wurde leider trotz nachdrücklichster Befürwortung durch die
Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus und im Reichstag insbesondere
durch den Abgeordneten Sollmann abgelehnt.
Der Hauptausschuß des preußischen Landtags l
hat bei der Beratung des Haushalts des Ministeriums für Volkswohlfah
für das Rechnungsjahr 1925 im Juni u. a. folgende Anträge gestellt:
Der Landtag wolle beschließen, das Staatsministerium zu ersuchen: Der
Verbilligung der aus staatlichen Mineralquellen stam-
menden Mineralwässer besondere Aufmerksamkeit zu schenken —
Dafür zu sorgen, a) daß in allen behördlichen Erfrischungsräumen gute
und billige alkoholfreie Getränke bereitgestellt werden, b) daß die
gesundheitsgemäße Herstellung von Fruchtsäften und alkoholfreien Getränken
nach Möglichkeit gefördert wird, c) daß die staatlichen Brunnenwasser durch
billige Preise zu einem Volksgetränk werden — Baldigst einen Gesetzentwurl
vorzulegen, der die Abgabe und den AusschankalkoholischerGe-
tränkean Jugendliche bis zu 18 Jahren verbietet — Auf die Reichs-
regierung dahin einzuwirken, daß sie den durch Reichstagsbeschluß vom
18. Februar 1925 geforderten Entwurfeines Gesetzes zum Schutz |
der Jugend gegen die Gefahren des Alkoholismus und zur
Verbesserung des Schankkonzessionswesens schleunigst ausarbeite und vor-
2) Im übrigen siehe jeweils auch unter „Chronik“!
Flaig, Bedeuts. behördl. Maßnahmen u. Schritte mit Bezug a. d. Alkohol. (XXXV1.) 205
ge, und daß in diesem Entwurf vor allem auch das Selbstbestim-
mungsrecht der Gemeinden Aufnahme finde — Auf die Reichs-
regierung einzuwirken, ein Trinkerfürsorgegesetz einzubrin —
Auf die Reichsregierung dahin einzuwirken, daß Alkohol zu es-
infektionszwecken steuerfrei abgegeben werden kann.
Verordnung des Oberpräsidenten von Schleswig-Holstein vom 6. Mai
und 11. Juni d. J. betr. die Polizeistunde.
Die Verordnung, die für Gast-, Schank-, Speisewirtschaften, Kaffeehäuser,
Theater, Lichtspielvorführungen und andere Schaustellungen, Varietes, Kaba-
retts, Dielen usw. und für die damit in Verbindung stehenden Räume gilt,
setzt die Polizeistunde allgemein auf 11 Uhr, in den Städten bis zu 10 000
Einwohnern auf 12 Uhr, in den Städten über 10000 Einwohnern und
für die Badeorte in der Kurzeit auf 1 Uhr nachts fest. Für Nachbarorte von
Städten kann die Aufsichtsbehörde die gleiche Polizeistunde wie für die
Städte gestatten. Auch die an Hamburg angrenzenden Kreise können für
einzelne Orte die Polizeistunde auf 1 Uhr festsetzen. Die Oeffnung der
aufgeführten Wirtschaften und Schaustätten darf ohne besondere Genehmi-
gung nicht vor 6 Uhr morgens erfolgen. Wird die Oeffnung vor 6 Uhr
morgens gestattet, so darf jedenfalls kein Branntwein geschenkt werden.
Vergnügungsparks haben Sommer und Winter um 10 Uhr zu schließen.
für besondere Veranstaltungen kann mit Genehmigung des Regierungspräsi-
denten in Schleswig Oeffnung bis 10% Uhr gestattet werden. Wirt oder
Unternehmer haben die für den Betrieb gültige Polizeistunde in den Räumen
durch Aushang an deutlich sichtbarer Stelle bekanntzugeben durch ein
Plakat des Wortlauts: „Polizeistunde.... Uhr. Für Ueberschreitungen ist
Wirt und Gast strafbar“. Den Eintritt der Polizeistunde hat der Wirt
allabendlich für jeden Gast oder Besucher wahrnehmbar zu verkünden usf.
Geschlossene Gesellschaften, Klubs usw. unterstehen denselben Vorschriften.
Die Polizeistunde kann ortspolizeilich bis auf 9 Uhr herabgesetzt werden.
Die gleiche Maßnahme ist zulässig, wo Wirt oder Stellvertreter sich als
unzuverlässig erwiesen haben.
Zuwiderhandlungen werden mit Gefängnis bis zu 6 Monaten und mit
trafen von 3 bis 10000 Mark bedroht. Gäste unterliegen den Strafen
auch dann, wenn der Wirt oder sein Stellvertreter zum Verlassen der Wirt-
schaft nicht aufgefordert hat.
Der Oberpräsident der Provinz Niederschlesien gegen die „Festseuche“.
Der Oberpräsident hat sich im Juli mit folgender sehr zeitgemäßen
Mahnung an die Oeffentlichkeit gewandt:
`. „Wie mir von verschiedenen Seiten berichtet wird, nehmen die öffent-
lichen Feste in der Provinz überhand. Die Vereine wetteifern miteinander,
große Festlichkeiten zu veranstalten, die die Aufmerksamkeit der Oeffent-
lichkeit auf sich ziehen. Der hierbei entfaltete öffentliche Prunk steht in
starkem Gegensatz zu der allgemeinen Not und insbesondere zu dem Zerfall
der Straßen und der Bedürftigkeit der öffentlichen Einrichtungen. Durch
die Festlichkeiten wird bedauerlicherweise auch die Trunksucht gefördert, die
sich wieder häufiger im Straßenbilde und in der Zunahme von Delikten in
ap enem Zustande und von Geisteskrankheiten bemerkbar macht. Der
sich wieder regende Sparsinn wird durch solche häufig unbegründete
Vereinsfeiern gehemmt. Auch die Erziehung der Jugend muß durch ihre
häufige Heranziehung zu solchen Festlichkeiten, die sich zuweilen sogar auf
zwei Tage erstrecken, erheblich leiden. Aus diesen Gründen erscheint mir
eine Mahnung zur Einfachheit und Zurückhaltung bei der Begehung von
Festen, und die Einschränkung der öffentlichen Umzüge erforderlich zu sein.
Ich bitte die Vertreter von Behörden und Vereinen, bei der Vorbereitung von
Feiern auf die genannten Gesichtspunkte Bedacht nehmen zu wollen.“
206 Abhandlungen.
Polizeiverordnung des Regierungspräsidenten in Marienwerder vom 26. April
betr. den Branntweinausschank und -verkauf an Lohn- und Vorschußtagen.
„Auf Grund der 88 137 und 139 des Gesetzes über die allgemeine
Landesverwaltung vom 30. Juli 1883 (Ges.-S. S. 195) und der $$ 6, 12 und
15 des Gesetzes über die Polizeiverwaltung vom 11. März 1850 (Ges.-S.
S. 265) wird mit Zustimmung des Bezirksausschusses für den Umfang des
Regierungsbezirks Westpreußen folgendes verordnet:
§ 1. In Ortschaften, in welchen an allgemeinen Lohn- oder
N ee 25 no übermäßigen Genusses geistiger
Getränke Störungen der öftentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit zu
besorgen sind, kann die Ortspolizeibehörde in den Landkreisen mit
Zustimmung des Landrats
1. den Ausschank und Verkauf von Branntwein und
Spiritus allgemein oder in einzelnen Gast- und Schankwirtschaften oder
in bestimmten Räumen dieser Wirtschaften,
2. den Kleinhandel mit Branntwein und Spiritus in
offenen oder geschlossenen Gefäßen von einer bestimmten Tages-
stunde vor Beginn der allgemeinen Polizeistunde an verbieten.“
Die Verordnung bezieht sich auch auf Likör, Grog u. dgl.
„Kleinhandel im Sinne dieser Verordnung ist jeder Vertrieb, der anders
als in Mengen (Gebinden oder Flaschen) von mindestens 5 Litern stattfindet.
§ 2. Zuwiderhandlungen gegen die auf Grund des $ 1 ergangenen An-
ordnungen werden mit Geldstrafe bis zu 150 RM bestraft, an deren Stelle
im Unvermögenstalle entsprechende Haftstrafe tritt.
Bezirksausschuß der Regierung in Merseburg zur Abwehr des Alkoholismus.
Seit 1. Februar 1925 arbeitet die Geschäftsstelle des im Dezember 1924
unter dem Vorsitz des Herrn Regierungspräsidenten Grützner gegründeten
Bezirksausschusses zur Abwehr des Alkoholismus. Sein Arbeitsgebiet
innerhalb des Regierungsbezirks besteht in Gründung von Orts- und Kreis-
ausschüssen, Abhaltung von Lehrgängen und Vorträgen, Vermittelung von
solchen, Verleihung von Lehrmitteln über die Schäden des Alkoholismus,
Unterstützung der alkoholgegnerischen Gruppen aller Richtungen, Förde-
rung der Pflege und des Gebrauchs von alkoholfreien Getränken, Förderung
der Einrichtung von Verkaufsständen für alkoholfreie Getränke, von alkohol-
freien Herbergen, Jugendheimen, Vereinshäusern, von Milchausschankstellen
usw., Pressedienst über Alkoholfrage und Gemeindebestimmungsrecht usw.
Die Richtlinien für Orts- und Kreisausschüsse zur
Abwehr des Alkoholismus, in denen nicht nur die alkohol-
gegnerischen, sondern alle Wohlfahrtsvereine unter Anlehnung an die vielfach
unter Vorsitz der lokalen Wohlfahrtsbehörden (Stadt- und Kreis-
wohlfahrtsämter) arbeiten, lauten: Ziel: Die wichtigste Wohlfahrtsarbeit
im Dienste von Gemeinde und Kreis ist Abwehr des Alkoholismus von
Jugend und Volk. Arbeit: 1. Schutz der äußerst bedrohten Jugend,
2 Fürsorge für Alkoholgefährdete und -kranke, 3. Werbe- und Aufklärungs-
arbeit für das Gemeindebestimmungsrecht, 4. Aufklärung der breiten Masse
des Volkes über die Tatsachen des Alkoholismus, 5. Abhaltung von Lehr-
gängen über die Alkoholschäden, 6. Versorgung der Presse mit Nachrichten
über Alkoholgefahren, 7. Unterstützung der Jugendbewegung, 8. Errichtung
von alkoholireien Gaststätten, Vereinshäusern, Jugendheimen usw., 9. Ein-
richtung von Verkaufsstellen, Ständen, Zelten, Buden für alkoholfreie Ge-
tränke bei Volks- und Vereinsfesten, 10. Ueberwachung der Durchführung
bestehender Gesetze und Verordnungen.
Ausführliche Bekanntmachung des Landratsamtes und des Kreisausschusses
in Bischofsburg (Kreis Rössel, Ostpr.) vom 15. Mai d. J.
A. Oeffentliche Tanzbelustigungen bedürfen nach § 24 der
Polizeiverordnung vom 14. April 1909 (Regierungsamtsblatt S. 105) der Ge-
nehmigung durch die Ortspolizeibehörde. .. .
er—
Flaig, Bedeuts. behördi. Maßnahmen u. Schritte mit Bezug a. d. Alkohol. (XXXV1.) 207
Die Genehmigungen dürfen mit Rücksicht auf die allgemeine Not nur
in beschränkten Maße erteilt werden. ...
B. Wird durch die Ortspolizeibehörde Genehmigung zum Ausschank
geistiger Getränke außerhalb der konzessionierten Räume, auf Grund
der §§ 42 und 67 Abs. 2 der Reichsgewerbeordnung erteilt, so ist für diese
besondere Genehmigung noch eine Verwaltungsgebühr von 5—50 RM zu
erheben. Als Norm sind 12 M zu betrachten. Ermäßigung für die Aus-
schankerlaubnis bis auf 5 M darf nur erfolgen, wenn der Ausschank auf
alkoholfreie Getränke und Bier beschränkt wird.
C. Oeffentliche Tanzlustbarkeiten sind grundsätzlich durch
2 Beamte zu beaufsichtigen. Für die durch Zuziehung des 2. Beamten
entstehenden besonderen Auslagen sind vom Veranstalter 10 M Sicherheits-
betrag einzuziehen ... Die Landjägernieister habe ich ermächtigt, nach den
von mir ihnen erteilten näheren Weisungen in geeigneten Fällen von Komman-
dierung eines 2. Beamten Abstand zu nehmen. ...
D. Vergnügungen, welche einer besonderen ortspolizeilichen Ge-
nehmigung nicht bedürfen, können unter Umständen nach der ministeriellen
Verordnung vom 14. April 1923 (Kreisbl. S. 135) auf Grund des Notgesetzes
vom 24. 1923 verboten werden. Unberührt bleibt die Befugnis der
Polizeibehörden, auf Grund des § 10 II 17 des ah Landrechts gegen
solche Vergnügungen einzuschreiten, welche eine Gefährdung der öffentlichen
Ruhe, Sicherheit und Ordnung besorgen lassen. .. .
F. Auszug aus den Bestimmungen des Oberpräsidenten
über Festsetzung und Handhabung der Polizeistunde in Gast- und
Schankwirtschaften vom 20. 12. 1923 (Amtsbl. S. 259, Kreisbl. 1924 S. 11)
unter Berücksichtigung der Aenderung vom 6. 5. 1924 (Amtsbl. S. 78, Kreisbl.
S. 148) und 20. 4. 1925 (Amtsbl. S. 73).
8 1: Die Polizeistunde beginnt
a) auf dem Lande um 10 Uhr, am Sonnabend und Sonntag, am Neujahrstag,
am 2. Osterfeiertag, am Himmelfahrtstag, am 2. Pfingstfeiertag und an
den beiden Weihnachtsieiertagen um 11 Uhr,
b) in den Städten um 11 Uhr, an den bei a bezeichneten besonderen Tagen
um 12 Uhr.
8 2: Der Beginn der Polizeistunde kann hinausgeschoben werden:
a) für geschlossene, auf den Kreis ihrer Mitglieder, deren Angehörige
und durch schriftliche namentliche Einladung des Vorstandes eingeführte
- Gäste beschränkte Veranstaltungen im Falle eines durch den
Zweck der beabsichtigten Veranstaltung nachgewiesenen besonderen
Bedürfnisses — für ein und denselben Verein höchstens zwei Mal
jährlich — um zwei Stunden... durch den Landrat, darüber hin-
aus durch den Regierungspräsidenten;
b) für ortsübliche und volkstümliche Veranstaltungen
durch den Regierungspräsidenten.
In dem Antrage zu a ist die Zahl der Mitglieder und die Höchstzahl
der Angehörigen sowie der einzuladenden Gäste anzugeben. Die Anträge
zu a und b sind in jedem Falle von dem Schankwirt, in dessen Räumen
die Veranstaltung stattfindet, zu stellen und stets bei der Ortspolizeibehörde
einzureichen.
‚.Bei Ablehnung einer beantragten Hinausschiebung brauchen Gründe
nicht angegeben zu werden.
§ 3: Die Polizeistunde endet in den Monaten April bis September um
TUhr morgens und in den Monaten Oktoberbis Märzum8 Uhr
morgens.
G. Die Anträge auf Hinausschiebung der Polizei-
stunde müssen ergeben: Den Namen des Veranstalters (Verein, Gesell-
schaft usw.), die Art der Veranstaltung (Stiftungsfest, Sommerfest usw.), den
15, der Veranstaltung, die Zahl der Teilnehmer, und zwar getrennt nach
l. Mitgliedern, 2. Angehörigen von solchen, 3. einzuladenden Gästen. Die
Ortspolizeibehörden ersuche ich, die Anträge unter genauer Beachtung der
208 Abhandlungen.
mit Verfügung vom 12. Januar 1924 — 16B3 — mitgeteilten Richtlinien zu
prüfen und mir mindestens 10 Tage vor der Veranstaltung vorzulegen. Ver-
spätete Gesuche haben keine Aussicht auf Berücksichtigung.
Vereine, welche nicht nur die leichte Geselligkeit pflegen, sondern ernstlich
der Volkswohlfahrt dienen wollen, werden Ausdehnung in die Nachtzeit
möglichst vermeiden. Gute Vereine müssen der Bevölkerung auch mit gutem
SNE vorangehen. :
ieVerwaltun gs gebühr für die landrätliche a r
je nach Dauer sowie Art und Umfang der Veranstaltung 5—50 . Für
ewöhnlich werde ich 20 oder 25 RM festsetzen. Der Betrag ist vor der
eranstaltung durch die Ortspolizeibehörde von dem Gastwirt zu erheben
und sogleich an die Kreissparkasse in Bischofsburg (Postscheckkonto Königs-
berg 1933) abzuführen. .. . Diese, in vollem Betrage der Staatskasse zu-
fließende Vo LER UN hat mit der von der Ortspolizeibehörde zu
führenden Kontrolle der selbst festgesetzten Verwaltungsgebühren nichts
zu tun. ....
H. Geschlossene Veranstaltungen, für welche eine Hinausschieb der
Polizeistunde beantragt worden ist, müssen besonders daraufhin über-
wacht werden, daß sie tatsächlich geschlossene Gesellschaft bleiben, und
daß die hinausgeschobene Polizeistunde genau eingehalten wird.
Bei bis in die Nacht dauernden Festen besteht immer die Gefahr, daß
einzelne sich eintrinken und dann schwer zum Aufbrechen zu bewegen sind.
Der Wirt muß rechtzeitig seine Maßnahmen treffen, um den Bestimmu
zu genügen. Unzuverlässigen Gastwirten droht nicht nur gerichtliche Strafe,
sondern es kann auch die gewöhnliche Polizeistunde früher festgesetzt werden.
Wer als Gast nach Beginn der Polizeistunde in einer Gast- oder Schank-
wirtschaft verweilt, ist gemäß Art. 1 § 4 Abs. 2 und 3 des Notgesetzes vom
24. Februar 1923 strafbar (Vergehen).
I. Von jeder Hinausschiebung der Polizeistunde hat der Amtsvorsteher
sogleich nach Eintreffen des landrätlichen Bescheides den zuständigen Land-
jägermeister in Lautern bzw. Rössel zu benachrichtigen. In
der Regel werden 2 Beamte kommandiert. Abschnitt C dieser Verfügung gilt
sinngemäß.... Für die Städte ist Benachrichtigung der Landjägereibeamten
durch allgemeine Verfügung vom 1. August 1924 — 1895 — besonders geregelt.
(Es tolgt ein Auszug aus den Reichsbestimmungen über die gemeind-
lichen Vergnügungssteuern und aus den oben berührten Ausführungs-
bestimmungen des Ministerialerlasses vom 29. Januar 1925 betr. die reichs-
as verfügte Vergnügungssteuerfreiheit von Jugendpflegeveranstal-
ungen.
L. Nach dem Notstandsgesetz vom 24. Februar 1923 (RGBl. I S. 147)
dürfen Personen unter 18 Jahren Branntwein oder branntweinhaltige
Genußmittel überhaupt nicht, Jugendliche unter 16 Jahren Bier und Wein
zum eigenen Genuß nur in Anwesenheit der Erziehungsberechtigten erhalten.
Wenn letztere berücksichtigen, daß die giftigen Wirkungen des Alkohols den
jugendlichen Körper ganz besonders schädigen, werden sie die Verabfolgung
von Rauschgetränken nicht dulden... . l
Veranstaltungen für die Jugend sollten grundsätzlich alko-
hol- und nikotinfrei sein. Daß dies sehr wohl geht, haben große
Veranstaltungen, bei denen Tausende von Jugendlichen und Jugendfreunden
zusammenkamen, wiederholt bewiesen.
M. Art. 139 der Reichsverfassung vom 11. August 1919 (RGBil.
S. 1383) bestimmt:
„Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als
Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich
geschützt.“
Trunkenheit sowie die daraus leicht entstehenden Beleidigungen und
Schlägereien sollten daher besonders an diesen Tagen vermieden werden.
Sehr eindringlich muß jeder Vaterlandsfreund die Bestimmungen des
Londoner Abkommens (RGBl. 1924 Teil II S. 289) auf sich wirken
Flaig, Bedeuts. behördi. Maßnahmen u. Schritte mit Bezug a. d. Alkohol. (XXXVI) 209
lassen. Danach haben die Ausgaben für Zucker, Tabak, Bier und Brannt-
wein (sog. Wohlstandsindex) erheblichen Einfluß auf die Höhe der zu leisten-
den Reparationszahlungen. Wer verarmt ist, darf nicht durch Luxusausgaben
Wohlstand vortäuschen.
N. Ueber in Gast- und Schankwirtschaften abgehaltene Feste sowie
über Feste im Freien, bei denen ein Ausschank stattgefunden hat, ist mir
von den Landjägereibeamten (durch die Abteilung) auf besonderem Vordruck
zu beri Sen In den Städten liegt gleiche Pflicht den Polizeiverwal-
tungen ob. ...
Gegen Mißbrauch eines Feiertags
— Ausschreitungen bei den ,„Herrenpartien“ zu Himmelfahrt —
wandte sich vor diesem Feste der Berliner Polizeipräsident. Er
wies, wie in der Presse öffentlich mitgeteilt wurde, die Schutzpolizei an, ihr
besonderes Augenmerk auf die Auswüchse bei diesen Ausflügen, bei denen
„vor allen Dingen reichlich gezecht wird“, zu richten und ihnen mit aller
Ruhe und Besonnenheit, aber auch mit aller Schärfe entgegenzutreten. Dabei
wurden beschämende Schilderungen aus den mannigfachen Ausschreitungen
bei diesen Herrenpartien im vorigen Jahre gegeben, „die in keiner Weise dem
Anstandsgefühl der Mehrheit entsprachen“. rartige schamlose Auswüchse
würden in diesem Jahr die Polizei unbedingt zum Einschreiten veranlassen
und gerichtliche Nachspiele zur Folge haben. (Inwieweit diese Absichten und
Anordnungen tatsächlich zur Ausführung. gekommen sind, entzieht sich
unserer Kenntnis. Uns selbst sind auch am diesjährigen Himmelfahrtsteste
bei einem Ausflug in der weiteren Umgebung Berlins nicht wenige Bilder
von widerlicher Angetrunkenheit oder Betrunkenheit entgegengetreten. D. Ber.)
Beschluß der Stadtverwaltung Nürnberg gegen Wiedereröffnung
eingegangener Wirtschalte.
„In letzter Zeit ist mehrfach die Absicht zutage getreten, eingegangene
Wirtschaften, deren Räume zu Wohnzwecken aus- oder umgebaut wurden,
und auch tatsächlich zu Wohnzwecken dienen, wiederzueröffnen. Diesbezüg-
liche Genehmigungsanträge werden meist von Personen gestellt, die sich aus
spekulativen Gründen die Verfügungsgewalt über die Räumlichkeiten ver-
schafft haben. Wenn auch die zwangsweise Entfernung der in solchen Räum-
lichkeiten untergebrachten Familien vom Stadtrat nicht verhindert werden
kann, weil nach dem 1. Juli 1918 neugeschaffene Wohnungen nicht den
Bestimmun des Reichsmieterschutzgesetzes unterliegen, so wird doch
allgemein darauf aufmerksam gemacht, daß die Entfernung solcher Familien
mit oder ohne Zuhilfenahme des Gerichts den Interessenten nicht den erhofften
Erfolg bringt. Nach $ 33 der Reichsgewerbeordnung in der Fassung des
Notgesetzes kann die Erlaubnis zum Betriebe einer Gast- oder Schankwirt-
schaft versagt werden, wenn die u der Räume für den Betrieb
dem öffentlichen Interesse widerspricht. Die Zeit der größten Wohnungsnot
zwingt die Behörden, von allen gesetzlichen Mitteln Gebrauch zu machen,
den Verlust einer Wohnung hintanzuhalten, weshalb der Stadtrat be-
schlossen hat, künftighin Anträgen auf Wiedereröff-
nung eingegangener Wirtschaften, deren Räume zuletzt
Wohnzwecken gedient haben, nicht mehr stattzugeben
und widerrechtlich eröffnete Wirtschaften zwangsweise
zuschließen, auch wenn die Räumung der Wirtschaft von den Inwohnern
bereits erfolgt ist.“ (Amtsblatt d. Stadt. Nürnberg v. 23. Juni 1925.)
Regierungspräsident und Bezirksausschuß in Düsseldorf
ür die gemeindliche Getränkesteuer.
In einer Reihe westdeutscher Gemeinden ist (laut „Düssel-
dorfer Nachrichten“ vom 4. Juni d. J.) in jüngster Zeit die
Getränkesteuer wiederabgeschafft worden, in anderen ist sie
trotz wiederholter Vorlage gar nicht eingeführt, sondern von
Die Alkoholfrage, 1925. 14
210 Abhandlungen.
den Gemeindevertretern immer wieder abgelehnt worden. Hier-
auf hat der Regierungspräsident in Düsseldorf in folgender
Weise in den Streit um die Steuer eingegriffen:
Wie der Regierungspräsident in einer Verfügung an Landräte, Bürger-
meister und Oberbürgermeister mitteilte, legt der Bezirksausschuß
bei der Genehmigung von Umlagebeschlüssen Wert auf den Einsatz
der Getränkesteuer im Haushaltsplan und beabsichtigt, die
Steuerumlagen beim Fehlen der Getränkesteuer herabzusetzen. Es werde den
Stadtverordneten-Versammlungen überlassen werden, entsprechend auf Aus-
aben zu verzichten oder die Getränkesteuer einzuführen. Der Grund dafür
iege in der von dem Bezirksausschuß anerkannten Notwendigkeit, alle
den Gemeinden außer den Realsteuern zur Verfügung stehenden Steuer-
quellen auszuschöpfen, insbesondere eine Steuer, die von den Lebens-
haushaltungs-Ueberschüssen genommen werd. Wo die
Getränkesteuer bereits eingeführt gewesen, aber durch Beschluß der Stadt-
verordneten wieder außer Hebung gesetzt worden sei, könnten die Bürger-
meister mit Hilfe des Beanstandungsrechts aus § 53,3 der Rheinischen Städte-
ordnung die Beibehaltung dieser Steuer erreichen. Der Bezirksausschuß
würde sich in diesem Falle, wenn er zur Entscheidung berufen werde, wahr-
scheinlich auf den Standpunkt stellen, daß es dem Staatswohl und dem
allgemeinen Gemeindeinteresse widerspräche, wenn einzelne Gemeinden durch
die Wiederaufhebung der Getränkesteuer ihren Nachbargemeinden die Bei-
behaltung der Steuer erschwerten.
Weiter ersuchte der Regierungspräsident, da, wo die Getränkesteuer noch
nicht bestanden hat, weiterhin auf ihre Einführung bedacht zu sein. Das
Vorgehen des Bezirksausschusses soll den Kreisausschüssen empfohlen
werden, jedoch soll die Minderung der Umlagesteuern durch den Bezirks-
ausschuß und eine Streighung von Ausgaben durch die Stadtverordneten-
versammlung nicht zur Minderung der vorgesehenen Schuldentilgungssummea
führen.
Maßnahmen und Schritte im Blick und mit Beziehung
auf die Jugend.
Begünstigung der Alkoholfreiheit von Jugendveranstaltungen durch den
preußischen Ministerialerlaß vom 29. ar 1925 zur Ausführung
der Reichsbestimmungen über die gemeindliche Vergnügungssteuer.
In $ 2 dieser Bestimmungen werden Veranstaltungen, die der Jugendpflege |
dienen, im wesentlichen von der Vergnügungssteuer freigelassen. Dazu
bemerken die genannten preußischen Ausführungsbestimmungen u. a.: „Im
allgemeinen wird man von der Auffassung ausgehen dürfen, daß Veranstal-
un von Jugendvereinen als solche der Jugendpfllege angesehen werden
en.
dü Insbesondere wird man die Tatsache, daß mit der Veranstaltung ein
Ausschankalkoholischer Getränke nicht verbunden ist,
als ein Merkmal ihres jugendpflegerischen Charakters ansehen können,
ohne daß an sich die Steuerfreiheit an die Bedin ung geknüpft wäre, daß
keine alkoholischen Getränke verabfolgt werden dürfen.“
Das Provinzialschulkollegium in Hannover
übersandte unter dem 4. Juni den höheren Lehranstalten einschließlich
der Lehrerseminare der Provinz ein vom Deutschen Verein gegen den Alko-
holismus herausgegebenes Schriftenverzeichnis mit dem Ersuchen,
es „öffentlich so auszulegen, daß es allen Lehrpersonen zugänglich ist“.
Einrichtung von Nüchternheits-Wanderunterricht durch die Regierung
in Minden. (Runderlaß vom 21. April d. J.) l
Um „dem stetig wachsenden Alkoholismus unseres Volkes schon bei
der Erziehung der Jugend einen Schutzdamm entgegenzustellen“, hat die
Regierung einen Bielefelder Lehrer mit der Erteilung von Nüchternheits-
unterricht in den Volksschulen zunächst vom 1. Mai bis 1. Oktober d. J.
Flaig, Bedeuts. behördl. Maßnahmen u, Schritte mit Bezug a. d. Alkohol. (XXXVI.) 211
beauftragt. Der Beauftragte soll den Bezirk ‚„kreisweise bereisen und in jeder
Volksschule, die den Wunsch hat, den Unterricht zu hören, in der Oberstufe
2—3 Stunden Nüchternheitsunterricht erteilen. Nicht zu weit voneinander
liegende Schulen können vereinigt werden. Wir ersuchen, den Lehrer Reese
bei seiner Arbeit zu unterstützen. Die Herren Schulräte wollen sich mit ihm
wegen Festsetzung der Zeit und wegen Aufstellung eines Planes, nach dem
der Kreis zu bereisen wäre, in Verbindung setzen. Die Schulen hätten von
dem Stattfinden des Unterrichts rechtzeitig Mitteilung zu bekommen.
Zur ee er Vertiefung des Wanderunterrichts ist die Nacharbeit
der Klassen- und Fachlehrer, die in einer mannigfachen Anwendung des
Stoffes besteht, durchaus notwendig.“ \
Die Schulräte werden ersucht, soweit der Wanderunterricht in dem
betreffenden Kreise stattgefunden hat, über das Ergebnis des Unterrichts bis
zum 1. November d. J. zu berichten.
Stellungnahme im Haushaltausschuß der Berliner Stadtverwaltung
zum Nüchternheitsunterricht.
Im genannten Ausschuß bat (laut „Täglicher Rundschau“ vom 7. Juni)
bei der Beratung des Schulhaushalts der Sachbearbeiter, „von jeder Streichung
der vorgesehenen Summe für den Nüchternheitsunterricht abzusehen, weil die
Betonung einer alkoholfreien Jugenderziehung heute mehr denn je für durch-
aus wünschenswert angesehen werden müßte. Stadtkämmerer Dr. Karding
schließt sich diesen Ausführungen an.“
Hinweis des Regierungspräsidenten von Breslau auf die bestehenden
Handhaben zum Schutz der Jugend gegen die Alkoholgefahren usw.,
veröffentlicht Anfang Juli:
„Es ist in letzter Zeit vielfach von Jugendverbänden und andern an der
Ertüchtigung unserer Jugend interessierten Stellen die Forderung erhoben
worden, unsere gegend mehr als bisher auch durch polizeiliche Vorschriften
vor dem Genuß von Rauch- und Rauschgiften sowie vor dem Besuch
Schädlicher Vergnügungen zu schützen. Es ist daher von Bedeutung, darauf
hinzuweisen, daß ein derartiger Schutz durch polizeiliche Bestimmungen
bereits in erheblichem Umfange besteht, und daß es daher Sache aller
Polizeibehörden, aber auch der Lehrerschaft, der kirchlichen Behörden, sowie
vor allem der Jugend selbst sein wird, auf strenge Durchführung der
gegebenen Polizeivorschriften zu achien.
So enthält die Polizeiverordnung des Oberpräsidenten
der Provinz Schlesien vom 28. Mai 1903 über die Verabfolgung
geistiger Getränke die Bestimmung, daß Branntwein an Personen unter
16 Jahren nicht ausgeschänkt werden darf.“ (Außerdem wäre ja an die
bekannten ee Bestimmungen des Reichs-Notgesetzes vom Februar
1923 zu erinnern. D. Ber.)
Des weiteren wird an das im September 1917 vom Oberpräsidenten
erlassene Verbot des Tabakverkaufs an Jugendliche unter 16 Jahren und
des Rauchens derselben auf Straßen und Plätzen erinnert, sowiean die
Untersagung des Besuchs von Tanzlustbarkeiten durch Jugendliche
außer in Begleitung der Eltern (Polizeiverordnung des Oberpräsidenten vom
14. Januar 1925 über die Polizeistunde usf.).
Vorgehen eines Landrats gegen Zulassung von Kindern zu Maskenbällen
in öffentlichen Lokalen.
Der nut in Wiesbaden erließ unter dem 9. Februar d. J. folgende
achung:
„Es ist mir gemeldet worden, daß in einer größeren Gemeinde des
dkreises an einem Abend 107 Schulkinder in pieun ihrer Eltern
Maskenbälle besucht und sich dort zum Teil bis 2 Uhr nachts aufgehalten
haben. Das verantwortungslose Verhalten solcher Eltern muß in aller
Oeffentlichkeit gebrandmarkt werden. Um diesem unerhörten Unfug zu
14*
212 Abhandlungen.
steuern, ordne ich an, daß jeder Gast- und Schankwirt dafür
verantwortlich gemacht wird, wenn ein Schulkind auf einem
Maskenball in seinen Räumlichkeiten angetroffen wird. In einem solchen
Falle werde ich rücksichtslos die in Frage kommende Gastwirtschaft schließen
Fra und das Konzessions-Entziehungsverfahren gegen den betr. Gastwirt
einleiten.‘
Warnung des Jugendamts in Fürth in Bayern vor Verabreichung
geistiger Getränke an Kostkinder.
Das Jugendamt der Stadt Fürth erneuerte vor kurzem eine Bekannt-
machung, die der Stadtmagistrat erstmals unter dem 10. September 1908
auf Anregung des Stadtarztes erlassen hatte:
„Der Genuß auch kleiner Mengen Alkohol ist nach unzweifelhaften
wissenschaftlichen Feststellungen für Kinder in hohem Grade schädlich. Daher
muß dringend davor gewarnt werden, Kindern Bier oder andere alkohol-
haltige Getränke zu verabreichen. Personen, welche fremde Kinder in Kost
und Pflege übernehmen, werden nachdrücklichst gewarnt, in solcher Weise
die ihnen anvertrauten Kinder zu benachteiligen; sie würden unter Umständen
Bestrafung, jedenfalls aber Entziehung der Erlaubnis zum Halten von Kost-
kindern zu gewärtigen haben.“
*
Bemerkenswerte Erlasse von deutschen Eisenbahnbehörden
werden im „Pionier, Zeitschrift zur Förderung der Nüchternheit und Sicher-
heit im Verkehr“ (Verlag „Auf der Wacht“) fortlaufend veröffentlicht. So
wurden z. B. in Heft 2 d. J. zwei beachtliche Bekanntmachungen der Reichs-
bahndirektion Karlsruhe vom 7. Januar und 30. April d. J. betreffend
„Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs‘“ usw., in Heft 1 eine solche der
Reichsbahndirektion Würzburg vom „22. November v. J. abgedruckt. Als
ein Beispiel aus neuester Zeit geben wir die Bekanntmachung der
Reichsbahndirektion Elberfeld vom 31. Juli d. J. „an alle Be-
diensteten, Aemter, Ausbesserungswerke und Dienststellen des Bezirks, nach-
richtlich an alle Bahnärzte“ wieder:
„Die allgemein beobachtete Zunahme des Alkoholgenusses unter der
Bevölkerung gibt erneut Veranlassung, das Eisenbahnpersonal auf die
schweren Gefahren des Alkoholmißbrauchs für den ein-
zelnen wie für das Volksganze ernsthaft hinzuweisen.
Bei dem Bestreben, den Genuß des Alkohols unter dem Personal einzu-
schränken, insbesondere aber an der Bekämpfung des Mißbrauchs von
Alkohol mitzuwirken, hat die Verwaltung in erster Linie die Sicherheit des
ge dann aber auch die Fürsorge für das Personal und dessen Familien
im Auge.
Es wird’ deshalb der Erlaß vom 10. Januar 1923 E. II 93 Nr. 15602/22
— veröffentlicht im Amtsblatt B 1923 unter Nr. 27 — in Erinnerung gebracht
und dazu noch folgendes bemerkt:
Mehr Erfolg als von Verboten wird bei der Bekämpfung des Alkohol-
mißbrauchs von Maßnahmen erwartet, die sich auf die Belehrung und Vor-
beugung erstrecken und die äußeren Umstände beseitigen oder doch ab-
schwächen, die den übermäßigen oder unzeitmäßigen Alkoholgenuß unter
dem Eisenbahnpersonal zu fördern geeignet sind. .
Es wird deshalb besonderer Wert darauf zu legen sein, daß die Ueber-
nachtungs- und Aufenthaltsräume so beschaffen sind, daß das Personal nicht
nur die Möglichkeit hat, sich auszuruhen und zu erholen, sondern auch auf
Wirtshausbesuch und Alkoholgenuß zu verzichten.
Die bestehenden Verbote des Genusses alkoholhaltiger
Getränke während der Dienstzeit — zu vergl. § 10 Ziffer 5—9
der gemeinsamen Bestimmungen für die Beamten und § 3 Ziffer 8 der
Arbeitsordnung für die Arbeiter — werden zur genauen Beachtung
in Erinnerung gebracht. Die Dienstvorstände werden diese Vorschriften
Flaig, Bedeuts. behördl. Maßnahmen u. Schritte mit Bezug a. d. Alkohol. (XXXVI.) 213
streng durchführen und bei Zuwiderhandlungen strafend einschreiten oder
Anzeige hierher erstatten.
Auch vor dem übermäßigen Genuß geistiger Getränke außerhalb der
Dienstzeit, insbesondere unmittelbar vor Dienstbeginn, wird das Per-
sonal eindringlichst gewarnt, weil schon geringe Mengen Alkohol in lang-
anhaltender Wirkung die Klarheit des Denkens und Handelns erheblich be-
einträchtigen, was bei dem verantwortungs- und gefahrvollen Eisenbahn-
dienst von unheilvoller Wirkung sein kann.
In den Kursen der Dienstanfängerschulen und der Verwaltungsschule,
bei den regelmäßigen Dienstvorträgen und bei Belehrungen durch die
Wanderlehrer, ferner durch die Bahnärzte bei dem Unterricht in der ersten
Hilfeleistung bei Unfällen ist das Personal über die Gefahren des Alkohol-
mißbrauchs sowohl für die Gesundheit als auch für die Sicherheit des
Eisenbahnbetriebes eingehend aufzuklären. |
In diesem Zusammenhang wird es begrüßt, daß sich, wie in anderen
Bezirken, so auch im Bezirk der Reichsbahndirektion Elberfeld, ein Arbeits-
ausschuß des Deutschen Vereins gegen den Alkoholismus, Abteilung Ver-
kehrswesen, bilden wird, der sich die Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs
im Eisenbahndienst zur Aufgabe stellt, dessen Vorsitz Herr Reichsbahnrat
Dr. Ing. Müller, Vorstand des Betriebsamts 1 Elberfeld, übernehmen wird.
Dem Personal wird empfohlen, der Tätigkeit dieses Verbandes Verständnis
entgegenzubringen.“
| Auch ein Ziel.
Von Dr. Alfred Pfleiderer (Ulm).
In der „Zeitschr. f. Völkerpsychologie und Soziologie“ behandelt Professor
Dr. Delbrück (Bremen) das Alkoholverbot in Amerika. Er weist darauf
hin, daß schon im vorigen Jahrhundert breite Schichten des amerikanischen
Volkes enthaltsam gewesen sind. Und zwar führt er diese weite Verbreitung
der Enthaltsamkeit vor allem auch auf die Verachtung zurück, die anständige
Menschen gegenüber dem „Saloon“ fühlten und er Der Saloon war
die Stärke der Völlerei einerseits und der politischen Korruption andererseits.
Dagegen wurde die Stillung des Hungers seit langer Zeit mehr und mehr
von schönen und guten Speisehäusern besorgt, in denen von ZEHN zu
Jahrzehnt immer weniger Älkohol verlangt und verabreicht wurde.
Das hat die Einführung des Alkoholverbots ungemein erleichtert. Die
guten und durchaus notwendigen Speisehäuser wurden ja dadurch so gut wie
gar nicht betroffen. Ihre Besitzer und die in ihnen tätigen Menschen brauchten
also nicht von Berufswegen und aus Furcht vor dem Brotloswerden Gegner
der Verbotsgesetze oder der Verbotsbewegung zu sein. Im Gegenteil: sie
ten, daß der Ruf des Gasthausgewerbes durch nichts so sehr geschädigt
würde, als durch den Saloon, und daß sie mit darunter leiden mußten, wenn
die üblen Erscheinungen des Saloonwesens die öffentliche Meinung zur
Banane gegen das ganze ee He aufstachelte. Das hatte zur
Folge, daß die Verbotsbewegung von den guten Vertretern des Speisehaus-
gewerbes geradezu begrüßt und gefördert wurde.
Das ist leider bei uns in Deutschland ganz anders. Bei uns ist die
amte Speisung derjenigen Menschen, die ihre Mahlzeiten nicht im eigenen
eim oder in einer Kantine oder in einem Vereinsspeisehaus einnehmen,
Sache des Wirtshauses. Und dieses Wirtshaus ist nur in den allerseltensten
Fällen alkoholfrei oder auch nur re he Im Gegenteil: Die meisten
irtschaften sind vor allem Trinkwirtschaften, in denen die Verabreichung
von Speisen Nebensache ist. Man wird denn auch überall zuerst gefragt:
„Was trinken Sie?“ Und selbst wenn das betr. Wirtshaus erklärt, daß es
keinen Trinkzwang ausübe, so fühlt sich der Gast, der nichts trinkt, dennoch
als Gast zweiter Klasse. Und wenn ein Gast hineinkommt, der als Mitglied
214 Abhandlungen.
des Guttemplerordens oder eines anderen Nüchternheitsvereins das Ver-
sprechen der Enthaltsamkeit abgegeben hat, so ist er, falls er früher alkohol-
süchtig war und nicht schon lange in der Bewegung steht und in der Ent-
haltsamkeit sicher ist, in großer Gefahr, rückfällig zu werden, weil er andere
Gäste Rauschgetränke zu sich nehmen sieht und weil die ganze Luft von
den Gerüchen dieser Getränke und von den Dämpfen des Alkohols ge-
schwängert ist.
Er ist auch, ob er es gleich nicht will und nicht weiß, ein Stützer des
Gasthausgewerbes.
Dieses aber ist in Deutschland, weil wir keine solche Scheidung in Trink-
und Eßwirtshäuser haben, so gut wie ausnahmslos Schutztruppe des Alkohol-
kapitals. Und es ist selbstverständlich ein Haupthindernis für die Einführung,
irgend eines Nüchternheitsgesetzes, während es in den Vereinigten Staaten,
wie w. gesehen haben, ein Förderer der Nüchternheitsgesetzgebung ge-
wesen ist.
Es ist für uns deutsche Nüchternheitsarbeiter sehr wichtig, diese Sachlage
scharf ins Auge zu fassen. Wenn es uns gelänge, auch bei uns diese Schei-
dung zwischen Trinkwirtschaften und Eßwirtschaften durchzuführen, dann
wäre sehr viel gewonnen.
Vor allem würde eine der kräftigsten Stützen des Alkoholkapitals,
nämlich die des Gastwirtgewerbes, in zwei ganz verschiedene Teile gespalten:
Der eine Teil, der aus den künftigen Speisewirten bestände, hätte künftighin
gar keine Berufsbindung mehr an das Alkoholkapital.e Und wenn meine
orschläge in die Tat umgesetzt werden, und wenn die Nüchternheitskämpfer
ihre Pflicht tun, dann wird es so kommen, daß die Speisewirte immer zahl-
reicher, die Trinkwirte immer seltener werden. Das würde zu einer immer
mehr zunehmenden Schwächung der Kauponokratie führen, was dem Fort-
schreiten der Nüchternheitsbewegung ungeheuer förderlich wäre.
Zum andern würden alle die Menschen, die in das Wirtshaus gehen, weil
sie ihre Mahlzeiten dort einnehmen, müssen, nicht aber aus dem Willen
heraus, geistige Getränke zu genießen, von der Gefahr befreit, die mit dem
Besuch von Alkoholwirtschaften verbunden ist.
Drittens würde eine Hauptstütze der Trinksitte zerbrochen oder wenig-
stens stark geschwächt werden: Das ist die heute noch ganz unerschütterte
Verquickung der Begriffe „essen und trinken“. Diese Verquickung ist bei
uns Deutschen ganz besonders innig. Und sie ist bei uns deshalb so ver-
hängnisvoll und folgenschwer, weil bei uns der Begriff trinken im weitesten
Maße verkoppelt ist mit dem Begriffe Alkohol. Aus diesem Grunde wäre es
ganz besonders zu begrüßen, wenn es uns Nüchternheitsarbeitern im Bund
mit den Ernährungs- und Lebensreformern gelingen würde, diese Ver-
koppelung der drei Begriffe „essen“, „trinken“ und „Alkohol“ zu lösen.
Als Mittel zu diesem Zweck können wir am besten die Steuerschraube
benutzen: Wir arbeiten darauf hin, einen scharfen und großen Unterschied
zu machen in der ee der Eßwirtschaften und der Trinkwirtschaften.
Die Eßwirtschaften sollten möglichst niedrig, die Trinkwirtschaften
möglichst hoch besteuert werden.
Und zwar sollte als Trinkwirtschaft jede Wirtschaft, überhaupt jeder
Betrieb, angesehen werden, in denen auch nur die kleinste Menge eines
geistigen Getränks verkauft wird.
Das führt dann auch zu der Entalkoholisierung der Spezereiläden, der
Lebensmittelgeschäfte, der Konsumvereinsläden, der ospize, der Kosttische,
der Kantinen, der Apotheken usw. Und damit wäre ein ungeheurer Fort-
schritt in unserer Arbeit erzielt.
Dazu müßte kommen die Steigerung der Anforderungen, die von der
Baupolizei, der Gesundheitspolizei usw. an die Beschaffenheit der Räume
aller dieser Alkoholverkaufsgelegenheiten gestellt werden. Allein schon die
Anwendung aller der Handhaben, die die orts-, landes- und reichsbehördlichen
Bestimmungen uns jetzt schon bieten, wäre genügend, eine nz Menge von
Kneipen alsbald zu schließen. Um so mehr, wenn diese Handhaben planmäßig
Pfleiderer, Auch ein Ziel. 215
und mit der Absicht auf Einschränkung der Alkoholvertriebsstellen verstärkt
würden.
Mit dieser Neuordnung des von Gasthauswesens könnte dann eine
sehr wichtige Neuerung verbunden werden, nämlich die Einführung einer
Konzessions wertsteuer.
Bisher waren doch die Verhältnisse so, daß einer, der lange genug
gewartet hat oder der „Vettern‘“ auf dem Rathaus hatte, schließlich seine Kon-
zession erhielt und diese dann alsbald in seine Bilanz einsetzte als Vermögens-
wert (Vor dem Kriege wurde z. B. eine solche mit 10000 bis 30000 Mark
bewertet und sie mußte dem Verkäufer eines Hauses, in dem eine solche
dingliche Gerechtigkeit lag, in dieser Höhe neben dem Kaufpreis für das
Haus und für das Inventar ausbezahlt werden.)
Die Neuregelung des Gasthauswesens im obigen Sinne böte nun eine
günstige Gelegenheit, auf alle Konzessionen, also sowohl auf die dinglichen
als auch auf die persönlichen, eine jährlich zu bezahlende Konzessionswert-
steuer zu legen. Und zwar in der Art, daß jeder Inhaber einer Konzession
vor dem Steueramt den Wert seiner Konzession selber einschätzen muß. Er
wird diese Einschätzung von dem Gesichtspunkt vornehmen, daß er den Wert
seiner Konzession nicht zu hoch einschätzt. Denn dadurch verurteilt er sich
. zu einer jährlichen Steuer, die zu hoch ist. Es wird nämlich ein bestimmter
Hundertsatz — z. B. 5% — dieses Werts als Steuer angesetzt.
Gegen die Gefahr, daß der Alkoholverkäufer den Wert seiner Konzession
zu niedrig einschätzt, um seine Jahressteuer zu erniedrigen, schützen wir uns
auf diese Weise, daß wir bestimmen: In jedem Fall von Enteignung der Kon-
zession, die der verleihenden Körperschaft unter Erfüllung bestimmter Voraus-
setzungen jederzeit möglich ist, wird von ihr eine Entschädigungssumme aus-
bezahlt, die der Höhe des Werts der Konzession entspricht, für den der
Alkoholverkäufer seine Konzessionswertsteuer bezahlt hat.
-Eine Aenderung dieses Steuerbekenntnisses steht dem Konzessionsinhaber
. jederzeit frei. Aber der Mehrwert, d. h. die Spannung zwischen der alten
und der neuen Einschätzung fällt der Verleihungskörperschaft zu und muß
bar entrichtet werden, ehe der neuen Einschätzung die behördliche Zu-
simmung erteilt wird.
Glaubt jedoch der Inhaber der Konzession, daß er deren Wert niedriger
. einschätzen müsse als bisher, so kann das nur in der Form geschehen, daß
er die Konzession zurückgibt und sich um eine neue bewirbt. Dabei erhält
er natürlich den Wert der alten Konzession ausbezahlt.
Hier hat nun die Bewegung einzusetzen, die unter weitester Anteilnahme
aller ungen der deutschen Se VE heute für die Er-
peung des Gemeindebestimmungsrechts arbeitet. Sie müßte in das Gesetz
betr. GBR. die Bestimmung hineinbringen, daß eine Gemeinde oder eine
gemeinnützige Speisehausgenossenschaft jederzeit aba A sein soll, eine
beliebige Zahl von Wirtschaften aufzukaufen, sofern sie den Kaufpreis für
das Anwesen samt Gerechtsame erlegen kann.
Nebenbei gesagt: Die Uebertragung des Vorschlags, den ich oben betr.
Wertsteuer un Wertzuwachsheimfail gemacht habe, auf die Besteuerung des
Bodens ist nicht bloß leicht möglich, sondern auch dringend wünschenswert,
ja notwendig. Daß sie möglich ıst, beweist die Landordnung von Kiautschou,
die sich glänzend bewährt hat. Daß sie notwendig ist, sieht jeder, der sich
mit der enfrage vom Standpunkt der Bodenreformbewegung aus beschäf-
tigt hat, schon längst ein. Die Bodenfrage ist die Grundfrage der ganzen
Volkswirtschaft. Und die von mir vor Sr Lösung erscheint mir als
die brauchbarste und förderlichste. Ich habe alle diese Fragen in meiner Zeit-
schrift „Hellauf“ verschiedenfach behandelt. Die betr. Hefte können vom
Mimirverlag Stuttgart, Senefelderstr. 13, bezogen werden.
Wenn bei einem Wirtshaus der Wert des Bodens, der des Hauses und
der der Gerechtsame solcherweise im Steuerbuch steht mit der Bestimmung,
daß der Inhaber von diesen drei Werten jedes Jahr den betreffenden Hundert-
satz als Wertsteuer bezahlt und daß die Summe dieser Werte bei der Ueber-
216 Abhandlungen.
nahme des Anwesens seitens einer öffentlichen Körperschaft oder einer
leer en Genossenschaft ohne weiteres als Supa gilt, dann ist für
ie planmäßige Verringerung der Zahl der Alkoholverkaufsstellen freie Bahn
geschaffen, und zwar in einer Weise, die dem Alkoholkapital jedes Recht
nimmt, vom Standpunkt der Gerechtigkeit gegen eine solche Regelung Ein-
spruch zu erheben.
Ein Punkt bedarf noch der une Das ist die Frage des Alkohol-
gehalts von anderen Genußmitteln. Wie bekannt, gibt es in den Konditoreien
eine Anzahl von Back-, Zucker- und Schokoladewaren, die Alkohol enthalten.
Hier wäre die Bestimmung zu treffen, daß jede Konditorei, die alkoholhaltige
Leckereien verkauft, ebenfalls als Alkoholverkaufsstelle behandelt und mit einer
hohen Betriebssteuer zuzüglich der Konzessionswertsteuer belegt wird. Das
Gleiche gilt von Fabriken, die solche Leckereien herstellen (Kognakbohnen,
Rumbonbons u. dergl.). Für diese müßte noch dazu die Bestimmung getroffen
werden, daß diese Erzeugnisse nur in plombierten Packungen verkauft
werden Sied; auf denen der Hundertgehalt derselben an Alkohol angegeben
sein muß.
Was schließlich die Apotheken betrifft, so müßte diesen die Auflage
gemacht werden, daß sie alle alkoholhaltigen Arznei- und Stärkungsmittel
nur auf ärztliche Verordnung abgeben dürfen, und zwar unter genauer
Angabe der jeweils abgegebenen Mengen und mit der Bedingung, daß eine
solche Abgabe nicht wiederholt werden darf ohne erneute Verordnung des
Arztes. Selbstverständlich müßte dann die in den Apotheken noch so weithin
geübte Gepflogenheit, ihren Kunden, sowie den Boten, den Briefträgern usw.
ein Gläschen Südwein oder Likör zu verabreichen, durch ein entsprechendes
Verbot unterbunden werden.
Wir Nüchternheitsarbeiter aller Richtungen können die hier besprochenen
Fragen gar nicht ernst genug nehmen. Ich habe mich seit Jahren bemüht, für
diese Fragen eine Lösung zu finden, die möglichst schmerz- und erschütterungs-
los vom Heute zum Morgen hinüberführt und deshalb auf die Zustimmung
der weitesten Volkskreise rechnen darf und kann.
Es ist nun die Aufgabe und die Pflicht aller Nüchternheitsverbände, diese
Vorschläge, die auf vierzigjähriger Beschäftigung mit der Alkoholfrage
beruhen, in ihrem Kreis zu besprechen und auf dem nächsten deutschen
Alkoholgegnertag zu behandeln.
Wir stehen bezüglich der Alkoholgefahr in der zwölften Stunde.
Die Schwierigkeiten bei der Durchführung
eines Alkoholverbots.
Nach einem Vortrage!) von Dr. Johan Scharffenberg (Oslo).
Mögen die Schwierigkeiten, die vor Einführung eines Alkoholverbots
zu überwinden sind, noch so groß sein, die größten Schwierigkeiten stellen
sich erst ein, wenn das Verbot in Kraft ist. Dann wird die Berechtigung
des Kerns auf eine harte Probe gestellt. Der Kampf um das
Ideal, ein alkoholfreies Gemeinwesen oder Land, hat die Streiter jahrzehntelang
zusammengehalten. Wenn man an die bescheidenen Anfänge der Bewegung
denkt, muß man sagen, daß der erfochtene Sieg sehr bedeutend ist: ein Gesetz
ist geschaffen, das den Alkoholgenuß und Alkoholhandel als unsozial, als
gesellschaftsfeindlich stempelt und das Alkoholkapital für einen Feind des
kaan
') Gehalten am 8. Januar 1925 in Stockholm. Die hier folgende Darstellung ist stark gê-
kürzt und gibt lediglich den aupige Annengang wieder. Es sei auf die „Internationale Zeit-
schrift gegen den Alkoholismus“ 1925, Heft 2, verwiesen, wo der Vortrag in englischer Ueber-
setzung erschienen ist.
Scharffenberg, Die Schwierigkeiten bei der Durchführung eines Alkoholverbots. 217
Volkes erklärt. Ein großes, mächtiges Gewerbe, einst gegen erkleckliche
Steuerleistungen vom Staate beschützt, ist nunmehr ungesetzlich, verfemt.
Aber die Einführung des Verbots bedeutet nicht den Endsieg. Der Kampf
setzt sich fort, jahrelang, vielleicht ein Menschenalter lang. Nur die Rollen
sind vertauscht: jetzt sind die Verbotsanhänger nicht mehr die Angreifer,
sondern die Verteidiger, Wie immer, ist auch hier der Verteidigungskampf
der schwierigste. Freilich beginnt der Kampf nicht sofort. Mit Recht spricht
der schwedische Verbotsgegner Dr. Bratt von den Flitterwochen des Verbots.
Zuerst ist alles herrlich, die Trinker werden nüchtern und bringen ihren
Wochenlohn regelmäßig nach Hause, die Trunkenheitsvergehen vermindern
sich usw. Aber allmählich haben sich die Gegner gerüstet. Durch die
verschiedensten Kanäle kommt der Alkohol wieder ins Land, die Trunksucht
lebt wieder auf und nimmt oft gefährliche Formen an. Das ist der
kritische Zeitpunkt des Verbots. Nun muß es sich zeigen, ob das
en auf festem Grunde steht und die öffentliche Meinung genügend vor-
reitet ist.
In solcher Krise befindet sich gegenwärtig Finnland und in gewisser
Weise auch Norwegen, wenn auch ein halbes Verbot, wie es das norwegische
Branntweinverbot ist, sich von einem Vollverbot wesentlich unterscheidet.
Das Alkoholkapital hat nicht so unrecht, wenn es meint, es sei ein-
drucksvoller und für seine Interessen vorteilhafter, ein Verbot wieder ab-
zuschaffen, als die Einführung zu verhindern. Der knappe Sieg, den das
Alkoholgewerbe bei der Verbotsabstimmung in Schweden am 27. August 1922
davontrug (51% der Stimmen gegen 49), hat die Verbotsfreunde keineswegs
entmutigt. Wäre dagegen in Finnland, wenn auch nur mit einer ebenso
geringen Mehrheit das Verbot wieder abgeschafft worden, so wäre das für
ie Verbotsfreunde der ganzen Welt ein schwerer Schlag gewesen. Denn
dann hätte es geheißen: „Seht ihr wohl? Ihr habt mit dem Verbot einen
Versuch gemacht, aber es hat sich als Fehlschlag erwiesen.“ Man denke an
er ki in Kanada und Neufundland, die in dieser Weise ausgenutzt
worden sind.
Der gewissenhafte Verbotsfreund hat natürlich die Pflicht, die Erfahrungen
der Verbotsländer, alle Möglichkeiten und alle Schwierigkeiten unparteiisch
zu prüfen; er darf sich auch nicht verhehlen, daß in dieser unvollkommenen
Welt kein Ideal völlig verwirklicht werden kann. Eine Erfahrung läßt
sich nun schon jetzt feststellen: ein Verbot sollte nie unter dem Eindruck
= Augenblicksstimmung, einer vorübergehenden Begeisterung eingeführt
werden.
Ein nicht ausreichend vorbereitetes Verbotsgesetz ist leicht gefährdet.
Man hat das in Norwegen erfahren, wo das Branntweinverbot 1916 ein-
geführt wurde, aber seit 1924 erst Maßnahmen zur Dor rung ergriffen
werden, die übrigens in mancher Hinsicht noch He en sind. Bis in
alle technischen Einzelheiten hinein muß die Durchführung des Verbots
vorbereitet sein. Es war z. B. in Norwegen ein großer Fehler, daß man
bei Einführung des Verbots keinerlei Kontrollorgane besaß, kein einziges
schnellfahrendes Motorboot zur Abwehr des Schmuggels, keine Bestimmung
über den Alkoholverkauf in den Apotheken.
Jede ehrliche und kluge Kritik von seiten der Gegner ist von großem
Nutzen. Schweden sollte z. B. dafür dankbar sein, daß es in der Person des
Dr. Bratt einen so ausgezeichneten Verbotsgegner und -kritiker besitzt. Wichtig
ist ferner, daß hinter dem Verbot eine genügend starke Mehrheit des ganzen
Volkes steht, die nur durch unmittelbare Abstimmung, nicht im Parlament,
N werden kann. Wenn diese Abstimmung, wie 1919 in Norwegen und
1922. in Schweden, auch nur beratende Kraft hat, so ist ihr Wert doch nicht
zu unterschätzen. Auch die gesonderte Zählung der männlichen und weib-
lichen Stimmen ist von Bedeutung. So, wie die Verhältnisse nun einmal sind,
wird die Durchführung des Verbots zu mehr als 90% in den Händen der
Männer liegen. Es hängt deshalb viel davon ab, daß nicht nur unter den
218 Abhandlungen.
=i ni
Frauen, sondern auch unter den Männern eine starke Mehrheit für das Verbot
erzielt wird. Wenn die Volksabstimmung ausschlaggebend sein soll, muß bei ’
beiden Geschlechtern eine beträchtliche Mehrheit vorhanden sein, zum mindesten
eine Zweidrittelmehrheit aller abgegebenen Stimmen, die wenigstens 50% aller
Wahlberechtigten ausmachen müßte.
Auf jeden Fall ist es besser, daß ein Verbot 10 Jahre später kommt, als
auch nur einen einzigen Tag zu früh.
Um die Schwierigkeiten zu beleuchten, die der Durchführung eines
Verbots entgegenstehen, werde ich mich im wesentlichen auf norwegische
Erfahrungen stützen. Ich darf das tun, obwohl wir in Norwegen nur ein
Branntweinverbot haben; denn die Schwierigkeiten sind bei einem Halbverbot
dieselben wie bei einem Vollverbot. Besonders gilt das vom Schmuggel, der
sich in beiden Fällen vorzugsweise auf den Branntwein erstreckt. Der
Branntweinschmuggel ist, weil es sich um eine konzentrierte Flüssigkeit
handelt, sehr viel leichter durchzuführen und auch vorteilhafter als der Bier-
und Weinschmuggel.
Gilt es freilich, die Vorzüge des Verbots zu untersuchen, dann kann man
nur zu einem Teile das Branntweinverbot heranziehen. Bei einem Halbverbote
kann sich der ‘als betrunken Verhaftete leichter herausreden, er habe nur
Wein und Bier getrunken. Und in vielen Fällen verhält sich das auch tat-
sächlich so. Uebrigens weist die Statistik nach, daß in Norwegen der
Verbrauch an Bier und Wein größer ist als in Schweden, ein Beweis, daß die
Vorteile des Halbverbots nur begrenzt sind.
Aber man mußte sich in Norwegen mit der halben Maßnahme zufrieden
geben, denn man hatte seinerzeit nur die Wahl: entweder ein Branntwein-
verbot oder gar kein Verbot. Der Einführung eines Vollverbots standen
wesentliche handelspolitische Bedenken entgegen. Soviel ist freilich sicher,
daß die Lage auch bei der Einführung anderer beträchtlicher Beschränkungs-
maßnahmen, z. B. des schwedischen Brattsystems oder strenger Alkohol-
steuern nicht günstiger gewesen wäre. Auch diese Maßnahmen hätten
dieselben oder ebenso erhebliche Schwierigkeiten im Gefolge gehabt wie das
Verbot, denn jedes Alkoholgesetz wird übertreten. Worauf es ankommt, ist,
unter welchem System die Volksnüchternheit am besten gedeiht. Es ist eine
noch immer ungelöste Frage, wo der Schmuggel am üppigsten blüht, ob in
Schweden oder Norwegen. Wohl sind die in Norwegen während des Jahres
1923 beschlagnahmten Branntweinmengen mehr als doppelt so groß gewesen
wie die während dieser Zeit in Schweden beschlagnahmten, aber die Zahl der
wegen Schmuggels bestraften Personen betrug in Schweden 2951, in Nor-
en dagegen nur 159. Man sollte sich deshalb vor dem immer wieder
vorkommenden Gedankenfehler hüten, daß der Schmuggel nur eine Folge des
Verbots sei. Aber mit dieser Gedankenlosigkeit ging man 1922 in Schweden
hausieren, und in Norwegen tun es die, welche das Verbot abschaffen möchten,
noch heute. y
Die nn der Durchführung des Verbots sind der
Schmuggel, dieheimliche oder ungesetzliche Herstellung
von Branntwein, Bier und Wein, der heimliche Handel, das Trinken
von Ersatzstoffen (Methylalkohol usw.) und die mißbräuch-
liche Verwendung von geistigen Getränken, die in den
Apotheken verkauft werden.
Der Schmuggel ist der Hauptfeind. Er ist am schwierigsten zu bekämpfen,
vor allem, weıl dazu internationale Maßnahmen erforderlich sind. Der
gelegentliche Schmuggel kleinerer Mengen aus Ländern mit niedrigerer Be-
une und billigen Getränken nach solchen mit hohen Abgaben und
teueren Getränken war bis zu einem gewissen Grade immer üblich, ist aber
sozial von geringer Bedeutung. Die eigentliche Gefahr besteht in dem
kapitalistisch organisierten Schmuggel. Er übt eine starke politische Macht
aus. Uebrigens wird auch nach den exportierenden Ländern Branntwein
geschmuggelt, also nach Deutschland, Estland und Holland. Nicht selten
Scharffenberg, Die Schwierigkeiten bei der Durchführung eines Alkoholverbots. 219
werden sogar deutsche geistige Getränke nach Deutschland zurückgeschmuggelt,
weil die Abgaben auf heimische Getränke im Falle der Ausfuhr zurück-
vergütet werden. Ebenso geht estländischer Branntwein nach Estland
zurück usw.
Der organisierte Schmuggel ist ein ungemein einträgliches Geschäft. Eine
Ladung im Werte von einigen Hunderttausend Kronen kann einen Gewinn
von Millionen einbringen, allerdings ist das Risiko groß. Die Organisation
geschieht in der Weise, daß die führenden Personen aus einem kleinen
veheimen „inneren Aug sich zusammensetzen. Sie nehmen oft in der
Gesellschaft eine angesehene Stellung ein und kommen daher nicht so leicht
ın Verdacht. Der „innere Ring‘ kauft geistige Getränke im Auslande auf
ind unterhält Verbindungen mit Kapitalisten und Banken. Er sucht Polizei-
und Zollbeamten zu bestechen und so den ausführenden Schmugglern den
Weg zu ebnen. In Norwegen sind bisher nur bei untergeordneten Beamten
Bestechungsfälle nachgewiesen worden. In den Vereinigten Staaten dagegen
erlagen auch höhere Beamte der Versuchung. Vom ‚inneren Ring“, dessen
shilfe bis an die Territorialgrenze gehen, kaufen die Großkaufleute, von
ihnen die kleineren Abnehmer. So wird durch ausgedehnten Zwischenhandel
die Ware ziemlich teuer. Im Hamburger Freihafen kostet ein Faß mit
10 Litern des für die Ausfuhr bestimmten Getränkes 5 norwegische Kronen,
in Oslo ist der Preis bereits auf 200 Kronen gestiegen. Fallen die Preise, so
t das ein sicheres Zeichen, daß eine größere Ladung der Beschlagnahme
entgangen ist. |
‚Die Kniffe der Schmuggler sind bekannt. Man findet sie in allen
Zeitungen beschrieben. Die im Jahre 1923 in Schweden beschlagnahmten
geistigen Getränke beliefen sich auf 191922 Liter, in Norwegen waren es
517334 Liter. Wieviel der Beschlagnahme entgeht, ist schwer zu sagen.
10% anzunehmen, wie man das gelegentlich in Norwegen und Finnland tat,
st jedenfalls unzulässig, denn sobald der Kampf gegen den ae
verschärft wird, nehmen die Beschlagnahmungen natürlich zu. Auch aus der
Versicherungsprämie (6%) auf den Umfang der beschlagnahmetn Menge zu
schließen, geht nicht an; das Transportrisiko reicht nämlich nur bis zur
Territorialgrenze. Ein Schmu gler in Bergen, hat mir erzählt, daß mehr
als ein Drittel der Ladungen, die er aus Deutschland einschmuggeln wollte,
der Beschlagnahme verfallen sind. Andere Schmuggler sollen allerdings mehr
Glück gehabt haben.
Für die Bekämpfung des Schmuggels kommen zunächst internationale
Abmachungen in Frage, wie sie auf den Konferenzen in Oslo und Helsingfors
vorgeschlagen worden sind, und die neuen in Norwegen und Schweden
senen Gesetze gegen den Schmuggel. In Norwegen haben diese Gesetze
bereits gut gewirkt. Viele Großschmuggler sind unschädlich gemacht, leider
hat die Polizei aber den „inneren Ring“ noch nicht erfassen können. Vielleicht
ist es auch die eine oder die andere Bank die sich an der Finanzierung des
Xhmuggels beteiligt. Aufhören wird der kapitalistisch organisierte Schmuggel
in dem Augenblick, in dem er sich nicht mehr bezahlt macht. Diesen Zustand
kann der Staat mit Hilfe intelligenter und gewissenhafter Polizei- und Zoll-
beamten erreichen, vorausgesetzt, daß die öffentliche Meinung für die
örden Partei ergreift und sie unterstützt.
. Außer durch Schmuggel kommt natürlich auch auf dem Wege erlaubter
Einfuhr Alkohol ins Land, z. B. für medizinische und technische Zwecke
und für die ausländischen Gesandtschaften, die das Recht haben, für eigenen
Gebrauch Getränke einzuführen. Von diesem Recht soll sogar die finnische
Gesandtschaft in Oslo Gebrauch gemacht haben. Eine südamerikanische
Gesandtschaft hat gar einen geheimen Handel mit geistigen Getränken eröffnet,
La ommnis, as auf die sittliche Höhe der Diplomatie ein eigenartiges
ieat wirft.
Die geheime Herstellung von Branntwein spielt bei weitem nicht eine
‘0 große Rolle wie der Schmuggel. Mit Hilfe einer wachsamen und
220 Abhandlungen.
zuverlässigen Polizei muß sie auf ein Mindestmaß beschränkt werden könner
und zwar nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Lande, wo si
sich leicht durch die Herbeischaffung des Rohmaterials verrät. Die Heı
stellung von Bier und Obstwein für eigenen Verbrauch sollte man nich
verbieten, da ein solches Verbot kaum durchzuführen ist. Auch Amerik
gestattet die Herstellung von Obstwein für den eigenen Gebrauch. Ir
übrigen sollte man als Grenze der erlaubten Herstellung geistiger Getränk
nicht 14%, wie in den Vereinigten Staaten, sondern 2% ansetzen; das würd
die Durchführung wesentlich erleichtern.
Ein weit ärgerer Uebelstand als die geheime Herstellung ist der Brann!
weinverkauf in den Apotheken. Im Jahre 1923 stellten norwegische Aerzt
1 807 206 Alkoholrezepte aus, die Tierärzte 334 772. Die norwegische:
Apotheken haben allein nach ihren eigenen Angaben 2257000 Liter Spri
verkauft, und das norwegische Volk bezahlte nicht weniger als 11 000 00
Kronen für Ausstellung von Alkoholrezepten und 36 000 Kronen für di
auf diese Weise erhaltenen Getränke. Ein solcher Mißbrauch läßt sic
verhältnismäßig leicht auf ein ganz geringes Maß beschränken. Tatsächlicl
hat auch das am 1. März 1924 in Norwegen eingeführte Rezeptgeset;
wesentlich Wandel geschaffen. Nur die Tierärzte machen sich noch erheb
licher en schuldig, die dadurch beseitigt werden könnten, dal
ihnen überhaupt die Ausstellung von Alkoholrezepten untersagt wird, wii
das in den Vereinigten Staaten der Fall ist. Die Verordnung von Alkoho.
für Haustiere ist sinnlos. In manchen amerikanischen Staaten ist auch der
übrigen Aerzten verboten, Alkohol zu verschreiben, ohne daß dadurch deı
Gesundheitszustand der Bevölkerung gelitten hätte.
Die Depots geistiger Getränke zu technischen und medizinischen Zwecken
sollten niemals Privatleuten überlassen bleiben, sondern dem staatlichen
Monopol unterliegen. Die Verwaltung durch Private führt allzu leicht zu
Mißbräuchen.
Es ist also eine große Zahl von Schwierigkeiten zu überwinden, aber,
wie schon bemerkt, trifft das für jede strengere Maßnahme gegen den
Alkoholismus zu. Diese Schwierigkeiten beweisen, wie groß die Macht ist,
die der Alkohol auf die Menschen ausübt. Für den Verbotsfreund müssen sie
ein Ansporn sein, die Anstrengungen zu verdoppeln, um diese Macht zu
brechen und es zu erreichen, daß das Volk den Alkohol nicht anders betrachte
als wie das Morphium, Nikotin und andere narkotische Mittel. Daß das
Verbot die wirksamste Maßnahme gegen den Alkohol ist, davon bin ich
erstand der Alkoholinteressenten gegen
alle Verbote bestätigt die Richtigkeit dieser Auffassung. Völlig wirksam
herstellenden Ländern umgeben ist. Es ist daher die Forderung. der Amerika
ner nach einem Weltverbot nur logisch. Natürlich ist das ein langer W
und vor den entgegenstehenden Schwierigkeiten soll man nicht die Aug
en lese aber erst recht nicht sich einem unfruchtbaren Pessimism
ingeben. Ä
Zur Geschichte des Branntweins.
Von Dr. P. Martell.
Wohl der erste Schriftsteller, welcher des Branntweins gedenkt, w
der arabische Arzt Albucases von Zahera bei Cordova, der im Jahre 1122
letzterer Stadt starb. Der genannte arabische Arzt Albucases, dess
Namen von den Zeitgenossen auch in anderer Schreibweise wiedergegeb
wird, hat ein „Servitor“ betiteltes Werk hinterlassen, das von der Zuberei
tung der Arzneien handelt. Dieses Werk erschien in erster Ausgabe !
lateinischer Sprache zu Venedig im Jahre 1471. Hierin wird auch ©
Destilliergerät aus Glas oder gebranntem Ton beschrieben, das in seine
Martell, Zur Geschichte des Branntweins, 221
technischen Grundgedanken noch im 19. Jahrhundert Geltung hatte. Mit dem
Apparat wurde auch die Destillation des Rosenwassers betrieben. Albucases
war einer der ersten, der den Wein einer Destillation unterwarf. Der ara-
bische Arzt bezeichnet das Destillat mit Vinum ustum, also gebrannten Wein.
Die arabischen Aerzte jener Zeit gebrauchten den Branntwein nur als
Arzneimittel, so der Leibarzt des Kalifen zu Marokko namens Avenzoar.
Durch die Schriften der Araber fand das Destillationsverfahren des Weines
dann in Europa Eingang. Immerhin hielt man Mitte des 14. Jahrhunderts die
Darstellung des Branntweins in Europa für ziemlich schwierig; es kann
richt überraschen, daß man im Zeitalter der Alchimisten den ganzen Destilla-
tionsprozeß mit einer undurchdringlichen Geheimniskrämerei umgab. Die
Herstellung des Branntweins galt als eine geheime Kunst; wir können
diese alchimistischen Auffassungen aus den hinterlassenen Schriften des
Theophratus Paracelsus Bombastus und anderer Gelehrten entnehmen. Der
zeraue Zeitpunkt, wann die Araber im 12. Jahrhundert die Darstellung des
Branntweins begannen und wann dies in Europa erfolgte, ist geschichtlich
wdenialls nicht bekannt. Die Modeneser sollen gelegentlich eines sehr
ertragreichen Weinjahres im 15. Jahrhundert einen Teil des Weines zur
Herstellung von Branntwein benutzt haben, der nach Deutschland guten
Absatz fand. Die Venetianer ließ der Erfolg der Modeneser nicht ruhen;
so trieb die stolze Dogenstadt auf der Höhe ihrer politischen Macht einen
schwunghaften Branntweinhandel.
In Deutschland wurde der Branntwein erst gegen Mitte des 15. Jahr-
ndeng allgemein bekannt, und zwar nannte man ihn damals gebrannten
rein.
Zu den ältesten deutschen Büchern, in denen des Branntweines gedacht
wird, gehört nach Zapfs Annales typographiae Augustanae das Werk von
Michael Schrick: „Verzeichnis der gebrannten Wasser“, Augsburg bey Ant.
Sorg. 1483. Ein Jahr später erschien ein gleiches Werk von demselben Ver-
fasser; vermutlich handelt es sich um eine zweite Auflage. Das nur aus 12
Folioblättern bestehende Buch war im Besitz der Bibliothek des Klosters
Buschein. Michael Schrick, Dokter der „ercznerz“, gibt in seinem kleinen
Werk zuerst eine Beschreibung der gebrannten Wasser und dann eine solche
von dem Branntwein. Für Michael Schrick als Arzt erfuhr der Branntwein
natürlich nur eine medizinische Bewertung, und wir erfahren hier die ver-
schiedene Anwendungskrise des Branntweins. So wird der Branntwein als
ein gutes Mittel gegen Gicht durch Bestreichen der Körperteile bezeichnet.
„Bei Heiserkeit soll man den Hals mit Branntwein einreiben und morgens
drey nüchtern trinken.“ Weiter heißt es „wer alle Morgen trinkt einen halben
Löffel vol gepranntes weins, der wird nimmer krank“. Auch steht zu lesen,
„wenn einer sterben sollte so gieße man ihm ein wenig geprannten wein$ in
den Mund, so wird er reden vor seinem Tod und wer Branntwein gießt in
einem toten, der faulet noch stinket nimmer auf der Erden noch darunter“,
Im gleichen Sinne wird der Branntwein auch als Konservierungsmittel für
tohes oder gekochtes Fleisch bezeichnet. Trüber Wein soll durch einen
satz von Branntwein wieder „schön“ werden. Oel auf Branntwein
gegossen fällt zugrunde. Ferner wird Branntwein als Mittel gegen Blasen-
stein empfohlen. Nach der Vorschrift soll man alle Morgen ein wenig
Branntwein trinken, das „zerbricht den Stein und kommt von ihm und wird
auch gesund‘. Eigenartig ist die folgende Angabe wo es heißt „auch wer
geprannten wein trinket alle Monat, so stirbt der wurm so da wächst dem
menschen bey dem lıerzen oder an der lungen oder Lebern. Allgemein wird
darauf hingewiesen, daß der Branntwein auch für denienigen gut ist, dem das
„Haupt“ weh tut. Schon damals galt der Branntwein auch als ein Schön-
heitsmittel, denn der gute Doktor Schrick berichtet, daß man bei Behandlung
es „Hauptes‘“ mit Branntwein „allweg schön und lang jung bleibe“, auch
macht Branntwein „ein gut Gedächtnis und stärkt des Menschen Sinn und
tz“, Bei Behandlung des Kopfes mit Branntwein wird darauf hinge-
wiesen, daß die „Milben und Nüsse“ getötet werden. Bei übelriechendem
222 Abhandlungen.
Atem soll man sich mit Branntwein bestreichen und ihn gemischt mit anderen
Wein trinken, so wird es ein „süßer Atem“. Gegen Husten wird ebenfalls
als heilsames Mittel ein Getränk gemischten Branntweins empfohlen. Bei
trüben und entzündeten Augen soll man die Augenbrauen mit Branntwein
bestreichen und vor dem Schlafengehen die Augen mit einigen Tropfen
beträufeln. Wer nicht hört, soll einige Tropfen Branntwein in die Ohren
tröpfeln, und das Gehör wird sich wieder einstellen. Endlich wird der
Branntwein noch als ein erfolgreiches Mittel gegen Wassersucht bezeichnet.
Der Branntwein war also im 15. Jahrhundert ein Allerweltsheilmittel in der
Heilkunde, die damals noch stark in den Kinderschuhen steckte. |
In einem anderen Werk, das ohne Verfassernamen im Jahre 1529 bei
Fryderich Peypus zu Nürnberg erschien, und das den Titel „Apoteck für den
gemeinen Man“ führt, werden einige Rezepte des „hochberühmten und wohl-
erfarnen Meyster“ Hieronymi Brunschweigk über Branntwein gegeben. Das
seltene, aus 23 Blättern bestehende Buch befindet sich im Besitz der Univer-
sitätsbibliothek zu Göttingen. Der Verfasser klagt darüber, daß viele
„reiche leut, die gut evangelisch sein wollen“, bei Krankheiten aus Unver- |
stand nicht den Arzt zu Rate ziehen wollen.
Ein anderes, im Jahre 1493 zu Bamberg von Max Ayrer und Hans Per-
necker gedrucktes Werk, betitelt: „Wenn der geptannt Wein nutz sey oder |
schad. Und wie er gerecht oder fälschlich gemacht sey“, nennt ebenfalls
keinen Verfasser. Es handelt sich um ein altes deutsches Gedicht über den ı
Branntwein, das wenig Bemerkenswertes bietet.
Im Anfang des 16. Jahrhunderts scheint man dann dazu übergegangen zu
sein, den Branntwein nicht nur als Arzneimittel zu betrachten, sondern ihn
als allgemeines Getränk zu behandeln. Verschiedene landesherrliche Ver-
ordnungen weisen auf diesen Umschwung der Dinge hin. So erließ in den
ersten Jahren des 16. Jahrhunderts Landgraf Wilhelm der Zweite eine Ver-
ordnung, die den Branntweinhändlern verbot, im eigen Hause Branntwein zu
verschenken, es war also nur der Branntweinverkauf erlaubt. Ferner war
untersagt, an „heiligen“ Tagen Branntwein vor der Kirche zu verkaufen.
Wer hierbei. ertappt wurde, dessen Branntwein verfiel der Beschlagnahme.
Von dem Landgraf Philipp erging im Jahre 1524 ein gänzliches Verbot des
Branntweinausschanks und Verkaufs. In den Amtsregistern des Hauses
Celle vom Jahre 1578 findet sich eine Anzeige: „Hans Müller und Hans
Günther haben angefangen Branntwein zu brennen und zu schenken, wider
unseres gnädigen Fürsten Ordnung“. Die freie Reichsstadt am Main
erließ im Jahre 1582 ein Branntweinverbot und zwar auf Betreiben der Bar-
biere, da diese den Branntwein für die damalige Sterblichkeit sehr schädlich
erklärten. Das Verbot wurde im Jahre 1605 sogar erneuert.
Nachdem ınan lange Zeit den Branntwein nur aus schlechtem Wein, aus
Weinhefe oder aus Bierhefe hergestellt hatte, ging man: in Norddeutschland
gegen Ende des 16. Jahrhunderts dazu tiber, den Branntwein aus Getreide
zu verfertigen. In der letzten Herstellungsart sah man lange Zeit einen
unverantwortlichen Mißbrauch des Getreides, auch befürchtete man Ver-
fälschungen zum Schaden des aus Wein hergestellten Branntweins. Man
vertrat weiter die Auffassung, daß die Getreide als Futter für das Vieh sehr
schädlich seien und nahm dies besonders für die Schweine an. Beim Genuß
derartigen Schweinefleisches befürchtete man für den Menschen Hautaus-
schläge. Dagegen scheint die Bedeutung des Branntweins als Steuerquelle
schon frühzeitig erkannt worden sein. Bereits im Jahre 1595 wird unter den
Einkünften des Magistrats der Stadt Berlin eine Branntweinsteuer erwähnt.
In zahlreichen Zunftordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts wird für die
Bierbrauer ein Verbot der Branntweinherstellung ausgesprochen. Dennoch
befaßten sich viele Brauer, wo ein solches Verbot nicht bestand, mit der
Herstellung von Branntwein. In der Zunftordnung der Bierbrauer von Son-
dershausen vom 9. April 1598 wird diesen die Herstellung von Branntwein
freigegeben, jedoch durfte nur Bierhefe hierfür benutzt werden. Der Ver-
Mariell, Zur Geschichte des Branntweins. 223
kauf des Branntweins wurde den Sonderhausener Brauern mit der Begrün-
dung gestattet, „dieweil sich etliche alte Leute und andere die sich daran
gewöhnt, sich desselben nicht enthalten könnten“. Zu Oberdingen im
schwäbischen Amte Heidenheim strengten im Jahre 1616 die Bauern gegen
einen Bäcker Klage bei der Kirchenvisitation an, daB der Genannte aus
Dinkel, Roggen, Heidekorn und anderen Früchten Branntwein erzeuge, was
die Bauern als „einen Mißbrauch der Gottesgabe“ hinstellten, da aus der
Speise Trank gemacht würde.
Die Geschichte zeigt also, daß der Branntwein erst als Arzneimittel
diente, bis die Entwicklung mehr und mehr aus ihm ein Genußmittel machte,
das schließlich in weiten Volkskreisen Eingang fand.
Chronik
für die Zeit vom 1. Mai bis zum 31. Juli 1925.
Von Pastor Dr. Christian Stubbe.
A. Zwischenstaatliches.
Ueber „Dietechnische Verwertung des Alkohols“ schreibt
Dr. Trier (‚Internat. Ztschr. g. d. Alk.“ Nr. 3). enüber der Los „Aus-
bau der techn. Alkoholverwertung‘“ betont er als Notwendigkeit „Abbau der
Alkoholproduktion‘“.
Seit 1. 2. 24, schreibt der „Kämpfer“ (Danzig, Jan. 1925, Nr. 2), haben
65 Dampfer und Segler Danzig mit Sprit verlassen; 52 führten
die deutsche Flagge; 8 waren finnischer, 3 lettischer, je 1 dänischer und
memeler Herkunft. Als Bestimmungsort hatten 45 finnländische, 8 lettländische,
4 deutsche, 2 schwedische und je 1 dänische bzw. norwegische Häfen an-
gegeben. Bei einem Spritschiff hieß es „Probefahrt auf die Reede!“ — 38 Fahr-
zeuge liefen in der angegebenen Zeit in den Hafen von Neufahrwasser mit
Sprit ein; 10 gaben als Herkunftsort finnländische Häfen an. Diese Schiffe
bringen Restladungen, die sie nicht haben los werden können, zurück, um sie
bei nächster Gelegenheit abzusetzen.
SirBrodrick Hartwell in London, der als „Whisky-Baron“ eine
ewisse Ariege Volkstümlichkeit hatte, befaßte sich mit Finanzierung und
anisierung des Spritschmuggels nach Nordamerika. Er
stellt® seinen Geldgebern ungeheure Dividenden in Aussicht. Sechsmal gelang
es ihm, seine Whiskyschiffe nach Amerika zu bringen und Riesensummen zu
verdienen. Bei der siebenten Expedition wurde die ganze Flotte von der
amerikanischen Zollbehörde aufgebracht und die Ladung beschlagnahmt. Hart-
well zeigt seinen Aktionären an, daß fast das ganze Kapital jetzt hin ist.
„Manch. Guard.“ 21. 4.).
DieInternationaleLigaderProhibitionsgegner (Vors.:
Graf de Mun) hat gegen die von dem Weltbund für Prohibition bei dem
Völkerbunde gegebene Anregung, eine ET DC lung über die Wirkung des
Alkoholismus ın allen Ländern zu veranstalten und dann entsprechende Maß-
nahmen zu trefien, protestiert, weil eine solche Untersuchung „eine große
Nas für das Einvernehmen unter den Völkern“ bedeute („Schw. Abst.“
o. 8).
Das kanadische statistische Amt gibt eine Ausfuhr von 3 Millionen
Gall. Bier und Ale und über 3 Mill. Gall. Whisky als Ausfuhr des letzten
Jahres nach den Vereinigten Staaten an. Komm. Haynes erklärt, daß für
dergi icien keinerlei gesetzliche Grundlage gegeben sei („The Am. Iss.“
o
Amerikas Ausfuhr an Trockenobst hatte im Jahre 1924 einen Wert
von 30 164000 Dollar gegen 18444 000 Dollar im Jahre 1923. Die Ursache
für die starke Zunahme dieser Ausfuhr dürfte in der schlechten europäischen
Pflaumenernte 1924 zu sehen sein. Deutschland ist der beste Abnehmer
amerikanischer Trockenpflaumen. Es führte im Jahre 1924 90 Millionen
Pfund Backpflaumen im Werte von 4 Millionen Dollar ein, d. h. 40% der
Gesamtausfuhrmenge Amerikas. Von Amerikas Ausfuhr an Trockenäpfeln
führte Deutschland 47% ein, Pfirsiche 43% und Aprikosen 32%. (Nach der
„Konservenindustrie“, Braunschweig, Nr. 21 d. J.)
B. Aus dem Deutschen Reiche.
Allgemeines.
In der Erörterung der steigenden Selbstmordziffer in Heer und Marine
erklärte Reichswehrminister Dr. Geßler u. a. am 9. 6. im
Stubbe, Chronik. l 225
Reichstag: Die Mängel der Wohnungsfrage und die Schäden des Alko-
bolismus müßten energisch bekämpft werden.
n den Reichstagsverhandlungen hob 15. 5. der Reichs-
ernährungsminister Graf Kanitz hervor: Das Angebot in Milch ist be-
friedigend; der Frischmilchverbrauch ist ungenügend, einmal wegen der
geringen Kaufkraft der ärmeren Bevölkerung, dann wegen des starken Ver-
ax > von Kondensmilch, deren Einfuhr sich gegen den Frieden versieben-
t hat.
Der Vertreter der Deutschen Volkspartei Abg. Bickes forderte 20. 6. im
Reichstag Schutz der Jugend vor den Gefahren des Alkohols. Man müsse
dafür sorgen, daß in Deutschland eine Jugend herangezogen werde, die
imstande ist, Deutschland in der Welt die Stellung zu verschaffen, die ihm
zukommt. Da es heute keine allgemeine Wehrpflicht mehr gibt, müßten von
der Regierung alle Bestrebungen auf sportlichem Gebiete tatkräftig unterstützt
werden
Der westdeutsche Führertagder DeutschnationalenVolks-
parn ei (Rheinisch-westfälischer Zweckverband) zu Hamm dankte 29. 5. der
eichstagsfraktion für ihre Haltung bei der großen Aussprache über den
Alkoholismus 18. 2., — verwahrte sich gegen die Mißdeutungen, welche deren
Stellungnahme erfahren hat, — und sprach die Erwartung aus, „angesichts
der steigenden Alkoholgefahr für unser sittliches Leben und unser völkisches
Wesen, daß die Deutschnationale Volkspartei den Kampf gegen den Alkoholis-
mus mit allem Nachdruck führen und für ein brauchbares Gemeindebestim-
mungsrecht sich einsetzen wird“.
r Bayrische ocean hat einstimmig einen Antrag der Bay-
rischen Volkspartei angenommen, der sich mit großer Entschiedenheit gegen
die Erhöhung der Biersteuer ausspricht. Der Regierungsvertreter versicherte,
daß die Bayrische Regierung sich kräftig gegen die vorgeschlagene Steuer-
erhöhung wenden würde.
. In der Reichstagsverhandlung über die Biersteuer 9. 7. stimmte jedoch
die Bayrische Volkspartei (Redner Horlacher) der Kompromißvorlage zu, da
das Gesetz Steuerfreiheit für die kleineren Brauereien bringe.
Beim Etat des Reichsfinanzministeriums kam es 27. 6. im
Reichstag zu einer Debatte über die Zweckmäßigkeit des Branntwein-
monopols. Der sozialdemokratische Redner wollte nachweisen können,
daß die amtliche Statistik über den Alkoholverbrauch unrichtig sei, wenn
man einen Rückgang feststelle. Im Gegenteil, es werde mehr Trinkalkohol
als vor dem Kriege verbraucht, der allerdings in Schwarzbrennereien unter
Umgehung der gesetzlichen Vorschriften hergestellt werde. Das Branntwein-
Tage Serie müsse dahin abgeändert werden, daß der Monopolverwaltung
ein rein kaufmännisches Arbeiten ermöglicht werde. — Von deutschnationaler
Seite wurde Wiederherstellung des Zustandes vor der Sozialisierung, von
volksparteilicher Umbildung der Monopolverwaltung in der Richtung auf ihre
frühere Organisation als zweckmäßig empfohlen.
Der Reichsfinanzminister v. Schlieben erklärte 2. 7., eine durchgreifende
Reorganisation des Branntweinmonopols, das ein rechtes Sorgenkind der
eichsregierung sei, werde sich nicht vermeiden lassen.
Am 4. 8. erklärte Staatssekretär Dr. Popitz: Die geringen Einnahmen
aus dem Branntweinmonopol bilden den Gegenstand ernster Sorge der Reichs-
regierung. Den Mißständen bei der Monopolverwaltung sei
die Reichsregierung mit größter Rücksichtslosigkeit entgegengetreten, und der
u eingesetzte besondere Fahndungsdienst arbeite weiter. Die Schwarz-
brennerei habe einen höchst bedenklichen Umfang angenommen, aber von den
Beamten der Monopolverwaltung sei nur ein einziger schwer belastet. Weder
der frühere, noch der jetzige .Präsident der Monopolverwaltung könne in
dieser Angelegenheit irgendwelchen Angriffen ausgesetzt werden. Sobald man
durch die Erledigung der Steuervorlage entlastet sei, werde die Regierung ein
vorlegen, mit dem rücksichtslos auf die Vorgänge in der Monopol-
verwaltung eingegangen werden soll.
Die Alkoholfrage, 1925. 15
226° Stubbe, Chronik.
Als feierlicher Abschluß der Alkoholgegnerwoche kann der Zweite
deutsche A OTO E ENET Ag gelten, der in der Pfingstwoche in
Düsseldorf stattfand (über ihn siehe den besonderen Bericht S. 240 ff.).
Als Echo der Alkoholgegnerwoche aus Gastwirtekreisen sei
eine Stimme aus Hamburg (30. 5. „Deutsche Hotelnachrichten“) angeführt:
„Die Gastwirte-Innung würde sich im Falle der Wiederholung solcher Werbe-
methoden für den Antialkoholismus gezwungen sehen, jede weitere Mit-
wirkung bei charitativer Tätigkeit, zu welcher sie aus kirchlichen Kreisen
aufgefordert wird, ganz entschieden abzulehnen“ (,„Mut. Chrt. Nr. 6—7.).
In Düsseldorf selbst wurden „Extrablätter“ von Alkoholinteressenten
verbreitet, in denen die „Abstinenzbewegung als Feind deutscher Einheit“
bezeichnet und den Alkoholgegnern zugerufen wurde: „Hände weg vom
deutschen Rhein und vom deutschen Wein.“
Statistisches.
Im Jahre 1924 wurden in Deutschland Likör, Wein, Most und Bier im
Werte von 42,8 Millionen M eingeführt, während die Ausfuhr an
diesen Waren nur 20,6 Millionen M betrug („Der abst. Arbr.“ Nr. 3).
Aus den „Vierteljahrsheften zur Statistik des Deutschen
Reichs“ 1925 H. I.: 1924 standen im Reiche i. gz. 74342 ha Rebfläche im
Ertrag, 334 weniger als 1923. Seit 1878, als zum ersten Male eine reichs-
statistische Erhebung über den Weinbau stattfand, ist die Rebfläche um
mehr als 14000 ha zurückgegangen, hauptsächlich wegen Einschränkung des
Anbaus von Rotweingewächsen. Der Ertrag an Weinmost 1924 1,8 Mil-
lionen hl ist der Menge nach mittelmäßig und wird der Qualität nach ver-
schieden beurteilt. — Die Angaben über Bierbrauerei und Bier-
besteuerung im Rechnungsjahr 1922 sind wegen der Besetzung deutschen
Gebietes unvollständig und fallen in die Zeit der Geldentwertung. Immerhin
glaubt man, gegenüber 1921 eine Abnahme des Braustoffverbrauchs um 4 v. H.
und eine Abnahme der Biererzeugung um 5 v. H. feststellen zu können. Man
rechnet für das gesamte Biersteuergebiet 5 430 850 dz 1921 und 5 058 785 dz
1922, — 33 933 270 hl 1921 und 31 234 654 hi 1922. Der Absatz süddeutscher
Biere in Norddeutschland ging wegen der hohen Fracht stark zurück; ebenso
die Einfuhr ausländischer Biere (wegen des Goldaufzollgeldes). Die Bier-
ausfuhr steigerte sich im Anfang des Jahres wegen der schlechten deutschen
Währung, nahm aber Ende des Jahres ab, als die deutschen Preise sich den
Weltmarktpreisen näherten. — Aus der Konkursstatistik für ee
1923: In der Gast- und Schankwirtschaft gab es 1923 2, 1922 6 eröffnete
Konkursverfahren, mangels hinreichender Masse abgelehnte Anträge auf
Konkurseröffnung 1923 4, 1922 27, — beendete Konkursverfahren 1923 37,
1922 68.
In den Provinzialheilanstalten Westfalens waren die
Alkoholikeraufnahmen von 28 im Jahre 1913 auf 1 im Jahre 1918
zurückgegangen. 1919 bis Oktober 1924 ergab sich dann folgendes Ansteigen:
12, 15, 17, 22, 20, 19.— In der städtischen Nervenheilanstalt in Chemnitz
gab es 1914 3 trunksüchtige Männer, 1922 64, 1923 40, 1924 70, — in der
städtischen Heil- und Pflegeanstalt zu Dresden 1923 216, 1924 259 Aufnahmen
Nee alkoholischer Geistesstörungen („Ztgsdienst der Rchshptstelle g. d. A.
r. 5).
Vereinswesen.
Der Deutsche Verein gegen den Alkoholismus hielt
anläßlich des Düsseldorfer Alkoholgegnertages 1. 6. Sitzungen des Vorstandes
und des Verwaltungsausschusses ab. Hier sei erwähnt: Einnahmen und Aus-
gaben 1924 betragen 139 149,62 M. z
Der Berliner Frauenverein gegen den Alkoholismus
hatte 1924 53 498,97 M Einnahme und Ausgabe. Die Fürsorge für Alkohol-
kranke diente bislang in 784 Fällen (davon 87 aus 1923, 33 neu von 1924).
An 11 Stellen i. gz. 261 108 Getränke-, 103 571 Speiseportionen verkauft. Von
Stubbe, Chronik. 227
besonderem Wert ist die Arbeit auf dem Baldur, dem großen Kabinenschiff
der Siedlungsgesellschaft „Grüne Heimat“; dieses 220 Betten fassende Eisen-
schiff soll denen dienen, deren Beutel schmal ist, und die doch eine Erholung
nötig haben; das Schiff ist alkohol- und nikotinfrei.
Der gemeinnützige Verein für Milchausschank in
Berlin berichtet über 1924: Einnahme und Ausgabe für den Milchausschank-
Verein in Berlin selbst stellen sich auf 31 715,95 M, die des Kindererholungs-
heims in Brunshaupten auf 30 25755 M. — 294 Kinder waren in Br. unter-
dpi davon 186 aus Berlin. Die Milchhäuschen sind leider eingegangen.
esammelt wird jetzt für ein zweites Kinderheim,
Kirchliches.
au a Auf dem 41. Kongreß für Innere Mission kam
auch die Alkoholfrage zur Sprache, vor allem in dem Vortrage von Prof.
Dr. Bruns (Magdeburg) über das Thema: „Welche Aufgaben erwachsen
unserem Christenvolk angesichts der religiösen und sittlichen Not der Schüler
höherer Lehranstalten?“ Er rechnete zu den dringendsten Aufgaben
den Kampf gegen Alkohol und Nikotin. |
Der Bund evangelischer Missionäre erließ auf einer von
mehr als 70 Missionaren besuchten Tagung in Nürnberg einen Aufruf an die
heimische Christenheit, mit aller Macht den Leib und Seele verderbenden
Mächten IB SC azureten, ganz besonders der furchtbaren Alkoholmacht
(„il. Arbrird.“ Nr. 2).
Die Vereinigung evangelischer Frauenverbände Groß-Berlins veranstaltete
zusammen mit dem Arbeitsausschuß der Vereinigung evangelischer Frauen-
verbände Deutschlands in Berlin 23. 3. einen Evangelischen Frauen-
tag für sittlichen Wiederaufbau. In 22 Sälen wurden Vorträge
gehalten. Richtlinien, wie die christliche Frau mitzuarbeiten hat, wurden
verteilt. Darin heißt es: „Aller Alkoholmißbrauch muß von der reinen Frau
aufs schärfste verurteilt werden.“
Auf der 12.Reichstagungderevangelischen]Jungmänner-
bünde zu Pfingsten in Hannover wurden im Namen der 193000 Mitglieder
Entschließungen gefaßt für die Einführung eines Schankstättengesetzes und
den Ausbau der Siedlungsbewegung.
Katholisch. Kardinal Faulhaber preist in der Silvester-
predigt die katholische Jugendbewegung: Das alte alkoholkranke Geschlecht
müsse wohl aussterben, wie Israel in der Wüste; die Jugend gelange mit
neuem Lebensstil ins gelobte Land (,Sobrietas“ Heidhausen, Nr. 1).
Als Schlußerinnerung für das Jubeljahr des großen Apostels der Deut-
schen teilt Kretschmar einige Züge von Bonifatius bei Fulda mit:
„Da er bei seinen Landsleuten sowohl als in seinem deutschen Wirkungskreise
so oft das Laster der Trunkenheit beobachtet hatte, veranlaßte er die Mönche,
jedes berauschende Getränk sich zu untersagen; nur leichtes Bier sollte erlaubt
sein“ Auch an den Papst Zacharias berichtet er, daß im Kloster Wein und
Met verschmäht werden (,Sobrietas“ Heidhausen, Nr. 1).
Sonstiges.
Frl. OttilieHoffmann, die Veteranin der deutschen Alkohol egner
und Vorkämpferin der enthaltsamen Frauen, feierte 14. Juli ihren 90jährigen
Geburtstag.
Die als Heimatdichterin hochangesehene Frau Helene Voigt-Die-
derichs feierte am 26. Mai ihren 50 Geburtstag. Wir machen darauf
aufmerksam, daß sich unter ihren Erzählungen auch Trinkergeschichten
inden:
Eine „Zeitschrift für alkoholfreie Kultur“ „Der Kämpfer“ wird seit
l. 1. 25 von der Danziger Hauptstelle für das Alkoholverbot, jetzt „Landes-
hauptstelle g. d. A. in Danzig“, herausgegeben.
15°
228 Stubbe, Chronik.
C. Aus anderen Ländern.
Afrika. Die anglikanische Kirchensynode und die holländische Kir-
chenkonferenz in Südafrika haben mit großer Mehrheit beschlossen, die
Forderung der GBR. zu unterstützen („The Int. Rec. No. 4).
Australien. Der Basler Forschungsreisende Dr. Speiser berichtet
über die Neu-Hebriden. Auf dem englischen Teil ist der Schnapsverkauf
unterdrückt. Anders im französischen Teil. „Man konnte eigentlich nie ein
Dorf betreten, ohne eine Gruppe von Männern in höchster Trunkenheit auf
der Erde sitzen zu sehen, und dann und wann steigerte sich die Stimmung
zur Abhaltung wahrer Orgien, wo dann die gesamte Bevölkerung, Frauen
und Kinder sich im Rausche am Boden wälzte. So nimmt die Rasse an Zahl
erschreckend ab.“ Auch beim Anwerben von Arbeitern spielt der Schnaps
eine böse Rolle. — Die Weißen leiden gleichfalls unter dem Alkohol. „Die
Société Caledonienne des Nouvelles Hébrides sei eine Organisation, die in
kurzer Zeit große Summen auf den Inseln vergeudet habe, meist mit Cham-
pagnertrinken. Weiteres siehe „Schw. Abst.“ No. 4
Belgien. Die Freundschaft mit Frankreich ist der französischen
Weineinfuhr nach Belgien günstig gewesen. 1913 betrug sie 35 Mil-
lionen 1, 1913 56, 1924 gar 75 Millionen („Sobrietas“ 1925, Nr. 4.)
Die neuen Wahlen haben trotz der Anstrengungen der Wirtekreise
eine stattliche Mehrheit gegen die Freigabe des früheren Schnapsverkaufs
ergeben. Sozialisten und christliche Demokraten sind entschlossene Alkohol-
gegner („Int. Ztschr. g. d. A.“ Nr. 3).
Dem Blauen Kreuz, welches während des Krieges fast abgestorben
war, gelang es 1924 wieder 300 Mitglieder in 16 Sektionen zu organisieren;
jetzt sind es 625 in 24 Sektionen. Die Bewegung hat in den flämischen
zirken Boden gewonnen (,„Journ. Relig.“ 20. 6)
Canada. Auf der Diözesantagung der Sozialen Arbeiter von Quebec
wurde einstimmig eine Entschließung gefaßt gegen die Alkoholreklame
und dabei gründliche Aufklärung der öffentlichen Meinung und wirksames
Vorgehen gegen den Mißstand gefordert („La Croix Blanche“, März-No.).
Die Schankstättengesetzgebung von Elsaß-Lothrin-
ge n ist durch Dekret vom 29. Juli 1924 der französischen angepaßt worden;
er conseil consultatif von Elsaß-Lothringen hat der Vorlage zugestimmt
(Näheres in „L’Etoile Bleue‘ 1925, No. 3).
Die Vorstände von 24 französischen Sportvereinigungen
haben eine Erklärung gegen den Alkohol als Feind der Kraft, Schnelligkeit,
Ausdauer und Widerstandsfähigkeit unterzeichnet. Die Ligue nationale contre
Ne hat ein wirkungsvolles Plakat daraus gemacht („L’Et. BI.“
0. 3).
Großbritannien. Nach dem 84. Berichte der United King-
dom Temperanceand General Provident Institution (der
Lebensversicherungsgesellschaft, die 1840 eigens für Enthaltsame durch Robert
Werner eingerichtet wurde, als eine Versicherungsgesellschaft sich weigerte,
einen Wassertrinker gegen die gewöhnliche Prämie aufzunehmen, die aber
1866 durch eine Abteilung für Mäßige ergänzt wurde) wurden 1924 in der
Abteilung der Enthaltsamen 926 Sterbefälle erwartet, aber es gab nur 501
(d. h. 54% der Erwartung); in der Abteilung der mäßig Trinkenden waren
die Zahlen 590 und 379 (d. h. 64% der Erwartung).
Japan. Vom 13. bis 16. Mai d. J. fand in Tokio eine von über 1700
Vertretern von wohltätigen und gene innilzigen Gesellschaften des Landes
besuchte Konferenz statt. Abgesehen von einer Anzahl Abgeordneter christ-
licher Organisationen waren die große Mehrzahl der Delegierten Buddhisten.
Die Konferenz befaßte sich auch mit der Alkoholfrage und Taßte die folgenden
Entschließungen:
. Stubbe, Chronik. 229
1. (an das Parlament gerichtet): Das gesetzliche Verbot, an ame
liche geistige Getränke zu verabreichen, ist dahin zu erweitern, daß das
Schutzalter von 20 auf 25 Jahre erhöht wird. Auf diese Weise würden
die meisten Studenten und Soldaten dem Gesetze unterstellt.
2. (an die Regierung gerichtet): In die Schulbücher der Volkschulen ist
eine wissenschaftliche Darlegung der Alkoholfrage aufzunehmen. Der Genuß
alkoholischer Getränke ist ın allen Häusern zu verbieten, die Erziehungs-
zwecken dienen.
3. (ebenfalls an die Regierung gerichtet): Es sollen Ausschüsse eingesetzt
werden mit dem Auftrage, die soziale Seite der Alkoholfrage in Japan genau
zu untersuchen (Int. Bur. z. B. d. A.“ Bull. No. 10).
Italien. Eine neue Enthaltsamkeitszeitschrift ist entstanden: ‚Il
arroco astemio“ (der enthaltsame Priester), herausgegeben vom
iester G. Arrigoni, Linaro („L’Abst.“ No. 6).
Niederlande. Die Vereinigung enthaltsamer Eisen-
und Straßenbahner schloß 1924 mit 2469 Mitgliedern ab, davon 2206
in 56 Abteilungen (Rückgang von 33 gegen 1923). Das Vereinsblatt „Het
Veilig Spoor“ erscheint monatlich in einer Auflage von 3000 bis 3500 („Het
Veil. Sp.“ No. 3). |
Die Niederländische Vereini a Abschaffung
alkoholischer Getränke berichtet über 1924: Die Anzahl der Ab-
ungen ging von 371 auf 361, die der Mitglieder von 21 428 auf 20 788
zurück. as Jahrbuch erzielte eine Auflage von 30000, das Vereinsblatt
„De blauwe Vaan“ 19—20 000 (die Mai- und Neujahrsnummer sogar 46 300
und 148 100). — „De Wereldstr. No. 19.
Auch der „Volksbond“ derBundenthaltsamerPfarrer und
der Enthaltsamkeitsbund jugendlicher Christen (I. C. G. O.
B.) klagen über Mitgliederabnahme infolge der schlechten Zeiten. Der
Christliche Enthaltsamkeitsbund, begründet September 1891,
ist 1. November 1924 aufgelöst (‚De Volksbond“ No. 138).
Die Verurteilungen wegen Trunks in Amsterdam betrugen
1924 2480 gegen 3100 1920 (De Wereldstr. No. 20). |
Norwegen. Das Blaue Kreuz zählt 133 Vereine von Erwachsenen
mit 6605 Mitgliedern und Anhängern und 35 Kindervereine mit 2143 Mit-
gliedern. Die Vereine bilden 10 Kreise; 5 Vereine sind keinem Kreise an-
geschlossen. In Oslo ist jeden Sonntag um 6 Uhr „Frühstücksversammlung‘“;
etwa 300 bis 400 Männer lauschen dem Evangelium und erhalten dann
unentgeltlich Kaffee und Butterbrot. In 8 Städten hat das Blaue Kreuz Heime
mit i. gz. 150 Plätzen, wo Männer SA werden, die ein neues
Leben anfangen möchten (,„Bl. Kr.“ Bern No. 6).
Oesterreich. „Die Deutsche Gemeinschaft“ zählte 31. 12.
1924 63 Ortsgruppen, 1634 Gemeinschaftler, 261 Anhänger, 933 Junggemein-
schaftler, i. g. 2828 Enthaltsame, davon 1098 Frauen, — ein dankenswerter
Fortschritt gegenüber dem Vorjahr („Deutsche Gemeinsch.“ No. 3).
Schweden. In der Zwangsarbeitsanstalt Landskrona
fanden 1916 bis 1924 936 weibliche Insassen Aufnahme, fast alle Prostituierte.
Ueber erbliche Belastung war nur in 108 Fällen Auskunft möglich; in 18 '
Fällen war eines der Eltern, in 90 ein oder mehrere Geschwister trunksüchtig.
Unter den Prostituierten selbst waren 68,1% trunksüchtig (,„Int. Ztschr. g. d.
A.“ No. 3 nach „Soziala meddelanden“ No. 2 und 3).
Die Zahl der Trunkenheitsvergehen Darig ungefähr nur die
Hälfte der Vorkriegszeit, nämlich 1913 auf 100 000 Einwohner 1048, 1923 500,
1924 535 (Ebenda).
Schweiz. Die Schweizer abstinente Burschenschaft hat
jetzt drei Burschenschaften (mit 2 Altherrenbünden): Rhenania (Basel), Jurassia
230 Stubbe, Chronik.
und eine zahlreiche Altibertas), Helvetia 87 Aktive, 48 Einzelaktive, 11
unioren und eine große Zahl Altmitglieder, der schweizerische Bund ab-
stinenter Mädchen 114 Aktive, 60 Einzelaktive und 2 Passivmitglieder
(„Korr. für stud. Abst.“ No. 4).
Die neue „Schweizer Alkoholvorlage wird erst 1927 zur Ab-
stimmung gelangen (,„lll. Arbtirnd.“ No. 3). |
1924 sind für 61 Millionen Fr. ausländische Weine eingeführt;
von 3 I Wein, die heute in der Schweiz getrunken werden, stammen 2 aus
dem Ausland („Frht.‘“ No. 7). Es wird gerade so viel für Auslandswein wie
für das gesamte Armenwesen ausgegeben (No. 4).
25. 3. starb in Herzogenbuchsee Frau Amelie Moser-Moser, über
85 Jahre alt, die Gründerin der ersten modernen alkoholfreien Wirtschaft in
der Schweiz (,„Frht.“ No. 7).
Zwei Schweizer Hochschulen haben im laufenden Studienjahr
enthaltsame Rektoren, Basel Prof. Tappolet, Zürich Prof. Bleuler („La Rev.
ant. et Hyg.“ No. 1).
Marktlage und Absatzverhältnisse für Obstwein sind flau, und große
Vorräte von Obstbranntwein sind vorhanden, die wegen des billigen
Monopolsprits keinen Absatz finden; im Großhandel ist 1 | Tresterbrannt-
wein für 1 fr. und darunter erhältlich („Lebensmittelhandel“ 18. 4.).
Der Jahresbericht der schweizerischen Zentralstellegegen den
Alkoholismus hebt hervor: 53 Kurse und Vorträge von Dr. Oettli, —
Vorführungen alkoholgegnerischer Lichtbilder und Filme — Wanderausstel-
lung. — Bei einem erneuten Versuch zur Revision des Alkoholwesens ist die
Gefahr groß, daß die volkshygienischen Gesichtspunkte, welche dem Kampf
für letzte Revisionsvorlage zugrunde gelegt wurden, durch bloße wirtschaft-
liche Gesichtspunkte verdrängt werden.“
Die Generalversammlung des Aerzteverbandes des Bezirkes
Zürich weist auf die Branntweingefahren hin, fordert erhebliche Belastung
des Trinksprits und Bereitstellung eines billigen re („Ostschw.
Tagebl.“ 25. 5.); — Die Aerztegesellschaft Baselland stellt das
rasche Anwachsen der Schnapsgefahr fest und verlangt Maßnahmen zur Ein-
dämmung der Festseuche (,„Tagebl. d. St. Zür. 7. 5.); de Aerztegesell-
schaft des Kantons Genf wünscht Einsetzung einer Alkoholkom-
mission, um das Problem von den verschiedenen Seiten noch genauer zu
erforschen (Schw. Aerzteztg. 10. 4.).
Der Verein abstinenter Bauern hat es von 39 Mitgliedern
auf 200 ordentliche und 107 außerordentliche Mitglieder, ihr Vereinsblatt
„Vorspann“ es von 250 Stück zu einer Auflage von 2500 gebracht und sich
un A alkoholfreie Obstverwertung verdient gemacht (‚Neue Aarg.
tg.“ 30. 4.).
Tschechoslowakei. Eine Vereinigung derabstinenten
Sozialisten der Republik (Sdruzeni abstinente sozialiste) ist in Pr
21. 12. 1924 begründet (Obmann Genosse A. Vesely). Ein eigenes Blatt soll
herausgegeben werden. Man will sich für eine Schankreform gemäß Antrag
Holitscher, für Schnapsverbot und Gemeindebestimmungsrecht einsetzen
(„Der Wille“ No. 3).
Ungarn. Der Ausschuß der ungarländischen sozialistischen Partei hat
in seiner A go ezune 1924 beschlossen, die Abstinenzbewegung in jeder
Weise zu fördern. Seit November 1921 sind dem Arbeiterabstinentenverein
über 1000 Mitglieder beigetreten, außerdem als unterstützende Mitglieder
40 Parteiorganisationen und Gewerkschaften („Abst. Soz.“ No. 4).
VereinigteStaatenvon Amerika. 14. 5. wurde aus Newyork
gedrahtet: Die Küstenbewachung sei jetzt so scharf, daß 90% der Schmug-
geleien abgefaßt würden. — 15. 5.: Die amerikanische Küstenflotte habe eine
(and ei Sequania (Bern). Libertas (Sektion Zürich) hat 18 aktive Mitglieder
Stubbe, Chronik. 231
scharfe Offensive gegen die Schmugglerflotte unternommen und sie vollständig
eingeschlossen.
Die Großloge Kentucky des Freimaurerordens hat beschlossen,
daß jeder, der das Alkoholverbot umgeht, vom Orden ausgeschlossen sei.
Schon vor mehreren en waren Brenner, Wirte und sonstige Whisky-
interessenten von der Mitgliedschaft ausgeschlosen („Schw. Abs.“ No. 3).
Die Temperance Collegiale Association (Vorsitzender A.
T. Davies) hat 1924 30000 Bücher zur Unterweisung von Lehrern und Stu-
denten an Öffentlichen Schulen in Hygiene und Temperenz verbreitet (‚The
Int. Rec.“ No. 4).
Während 1918 bis 1920 43 Gall. Milch auf den Kopf der Be-
völkerung kamen, waren es 1921 49, 1922 50, 1923 53 Gall. („The Int.
Stud.“ 1924, No. 12).
10 Brauereien geschlossen, 10 Millionen Dollars anderer beschlagnahmter
(padlocked) Besitz, 582 Verurteilungen in Alkoholfällen — das ist der
ecord‘“ des Distriktsanwalts (attorney) Olsen von Chicago („The
Int. Stud.“ 1925, No. 2).
Das Subkomitee der Kommission für das Alkoholwesen im
Repräsentantenhaus zu Washington hat nach Befragung hervorragender Per-
sönlichkeiten und Verbotsbeamten Bericht erstattet. Es en zusammen-
fassend zu dem Schluß, daß die Schwierigkeiten und Mängel in der An-
wendung des Alkoholverbots absichtlich übertrieben worden sind, während
man die bis dahin erzielten Erfolge nicht genügend ins Licht gestellt hat.
Es verlangt bessere Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Bundesdeparte-
ments, Verstärkung des Küstenschutzes, bessere Ueberwachung der Brauereien,
Beseitigung eines politischen Einflusses auf die Verbotspolizei. Als Erfolge
werden gebucht: Besserung der Arbeiterlage, Zunahme der Spareinlagen und
Versicherungen, der Neubauten, der Automobilbenutzung, Abnahme der Ar-
menunterstützungen, des Verbrechertums, des Dirnenwesens. „Wenn die ersten
Verbotsstaaten 50 Jahre brauchten, um ihre Gesetzgebung so zu vervoll-
kommnen, daß eine wirksame Durchführung des Alkoholverbots möglich war,
wie sollten wir uns entmutigen lassen, nachdem das nationale Alkoholverbot
als Verfassungsgrundsatz erst 4 Jahre in Kraft besteht?“ (,Int. Bur. z. Bek.
d. Alk.“ Bull. 5).
Nach einer in „New Times“ veröffentlichten Erhebung haben 42% der
Studenten höherer Semester an der berühmten Harvarduniversität
me alkoholische Getränke genossen („Reichsauschuß f. Alk.-Verb.“ Mai-Korr.).
„Das Gefängnis zu Elbridge, N. Y., wird in eine öffentliche
Bibliothek umgewandelt, weil es seit Einführung des Alkoholverbots nicht
mehr gebraucht wird („Clipsh.‘“ des meth. Board of Temp. 20. 4.).
Ueber den Einfluß der Prohibitionaufdas Unterstützungs-
wesen unterrichtet eine ausführliche Uebersicht im „Clipsheet‘“ des Board
of Temperance der bischöflich methodistischen Kirche (Juni-No.; vgl. „The
Int. Stud.“ No. 2). Indem wir daran erinnern, daß das letzte Jahr mit
normalem Ausschank das Jahr 1916 war, geben wir folgende Zahlen wieder.
Die vereinigten Unterstützungseinrichtungen (united Charities) in Chicago
atten Familien zu unterstützen:
1915/16 10692, darunter 857, bei denen der Trunk hilfsbedürftig machte, = 8%
1919/20 5336, darunter 33, bei denen der Trunk hilfsbedürftig machte, = 6 %
1923/24 4092, darunter 224, bei denen der Trunk hilfsbedürftig machte, = 5 %
Die soziale Wohlfahrtsliga, Rochester (N.Y.)
1916 1176, darunter 157, bei denen der Trunk hilisbedürftig machte, = 13,4 %
1920 627, darunter 27, bei denen der Trunk hilfsbedürftig machte, = 4,3%
1924 1201, darunter 30, bei denen der Trunk hilfsbedürftig machte, = 2,5%
232 Stubbe, Chronik.
In New Jersey betrug in Paterson
3 Jahre vor der Prohibition die Zahl der Unterstützungsfälle infolge Trunks
233, 3 Jahre nach der Prohibition 18
in Atlantic City 175, 3 Jahre nach der Prohibition 48
in Newark 108, 3 Jahre nach der Prohibition 29 '
Nach gewissen Zeitungsmeldungen soll die amerikanische Jugend mehr
denn je verwildern und sich nicht genug tun können, offen und heimlich
alkoholische Getränke zu genießen, um dadurch so recht ihrer Gesetzes-
un Ausdruck zu verleihen. Solchen Behauptungen gegenüber seien
folgende Tatsachen hervorgehoben: 1. In der Stadt Newyork mußten im
Jahre 1916, dem einzigen Jahte vor dem Alkoholverbot, für welches diese
Angaben erhältlich sind, 8095 Jugendliche von der Polizei in Gewahrsam
genommen werden. Im Durchschnitt der Jahre 1920/22 waren es noch 6306.
2. Analog wies die Stadt Boston im Durchschnitt der Jahre 1912/18 vor
dem Alkoholverbot, 3124 Verhaftungen auf wegen Vergehen Jugendlicher,
1920/22 noch 2388. Verwahrloste Kinder wurden 1912/18 im Mittel 206 in
Schutzhaft genommen, 1920/22 noch 84. 3. Eine kürzlich veranstaltete Rund-
frage bei den Schulvorstehern der Mittelschulen des Staates Massachusetts
ergab 100 Antworten. Aus ihnen geht hervor, daß es eine seltene Ausnahme
ist, wenn von Tausenden von Schülern vereinzelte gelegentlich alkoholische
Getränke bekommen. An der Universität Michigan ergab eine Abstimmung
unter den Studenten nach eingehender Aussprache 1247 Stimmen für und
520 Stimmen gegen das Alkoholverbot. An der Universität Minnesota
stimmten 1348 Studenten dafür, 493 dagegen, an der Universität Cincinnati
1740 dafür und 698 dagegen.
Auf Grund solcher Zahlen kann man nicht behaupten, die amerikanische
Jugend huldige seit Einführung des Alkoholverbotes, das nebenbei gesagt
000 Salons geschlossen hat, ebenso sehr oder gar noch mehr dem Alkohol
als früher. Es ist keine Frage, daß, von einzelnen Ausnahmen abgesehen,
die amerikanische Jugend unvergleichlich viel nüchterner lebt als die jungen
Leute der meisten europäischen Länder (,Int. Bur. z. B. d. Alk.“ Bull. No. 10).
, Die „WorldLeagueagainst Alcoolisme“ veröffentlicht einige
lehrreiche Hefte: euer „Permanent American Prohibition“, Ev. Booth
„shall American go back?“, Pollock „Alcoholic Psychoses before
and after Prohibition“, Woods „Social Effects of Prohibition“, (Corradini
„ArrestsforDrunkennessandArrestsforallcauses before
and after National Prohibition.“ Wir geben die Schlußsätze von Pollock
wieder: „Seit 1910 nahmen die alkoholischen Psychosen in den
V. St. merklich ab, verursacht teils durch Einschränkungen des Getränke-
handels, teils durch Aenderung der Lebensgewohnheiten. Die niedrigste Zahl
von Erstaufnahmen wegen alkoholischer Psychosen fiel auf 1920; 1921 trat
eine Reaktion ein. Die Zahl alkoholischer Erstaufnahmen entspricht durchaus
dem Durchschnittsverbrauch an Spirituosen für den Kopf. Die Abnahme der
Rate alkoholischer Psychosen ist verhältnismäßig größer bei Frauen als bei
Männern. Aufnahmen mit alkoholischen Psychosen kommen im allgemeinen
aus städtischen Bezirken. Corradini bringt die Zahlen von 100 Städten aus
den Jahren 1910 bis 1922. Verhaftungen erfolgten i. 1910 49 auf 1000,
wegen Trunkenheit 17,2 auf 1000, — 1918 50 bzw. 129, 1919 45,8 bzw. 88,
1922 58,6 bzw. 12,9 auf Tausend der Bevölkerung.
Mitteilungen.
1. Aus der Trinkerfürsorge.
Aus der Arbeit
des Vereins „Sächsische Volksheilstätten für Alkoholkranke“.
Dem ausführlichen Jahresbericht über 1922—24, als welcher Heft 19 der
„Mitteilungen“ des Vereins vom 1. Juni d. J. ausgegeben ist, ist zu ent-
nehmen, daß dieser (1. Vorsitzender: Distriktstempler und Fürsorgebeamter
W. Grunert, Dresden) mit 270 persönlichen und körperschaftlichen Mitgliedern
in das Geschäftsjahr 1922 eintrat, die sich freilich inzwischen eher vermindert
haben dürften.
Die von dem Verein unterhaltene, seit nunmehr etwa 20 Jahren bestehende
Heilstätte Seefrieden bei Moritzburg wird in immer steigendem
Maße in Anspruch genommen. Der leitende Arzt Dr. von Kügelgen ist
bestrebt, jeden einzelnen Alkoholkranken nach möglichst genauer Unter-
suchung individuell zu behandeln. Die Erfolge der Behandlung waren
zunächst schlechter als vor dem Krieg und Umsturz. Diese „hatten den
sittlichen Halt fast aller dieser ohnehin gefährdeten Männer völlig zerstört“,
sodaß es für Hausvater und Arzt sehr schwer war, sie im Zaum zu halten und
an Ordnung und Gehorsam zu gewöhnen. Zur Förderung der Zucht wurden
Freiübungen und Atemgymnastik eingeführt, die nun — neben der her-
kömmlichen Arbeit in Land-, Garten- und Viehwirtschaft — fleißig getrieben
werden, und wovon der Bericht (wie auch von dieser) eine Abbildung gibt.
Im übrigen hält der Arzt den Pfleglingen bei jeder Anwesenheit einen
Vortrag über irgendein geeignetes und bemerkenswertes Gebiet und be-
antwortet ihnen in der anschließenden Aussprache Fragen, wie auch der
Hausvater eingehenden Unterricht in der Alkoholfrage erteilt (eine Abbildung
im Bericht führt letzteres vor Augen). Im Laufe der jahrelangen Zusammen-
arbeit lernten Arzt und Hausvater (v. Döhren), schneller aussichtslose Fälle
zu erkennen und abzuschieben; ebenso wurden sie „härter gegen die doch
fast ausnahmsios unheilbaren grundsätzlich Mäßigen“. Auch in anderer
Hinsicht ist der Anstaltsarzt, durch üble Erfahrungen mit den „Tücken dieser
heimtückischsten Krankheit“ und der außerordentlichen Ablenkbarkeit der
Alkoholsüchtigen gewitzigt, zu strengerer Haltung geführt worden: er versagt
jetzt seinerseits fast jeden Urlaub, da nicht selten ein solcher in kurzem
vernichtete, was in monatelanger Arbeit mühsam aufgebaut war, auch
erfahrungsgemäß häufig viel zu früher Familienzuwachs einen weiteren,
sozial und biologisch unerwünschten Nachteil der Besuche zu Hause bildete.
Zu Dr. K’s Heilmethode gehöst auch „Lahmännisch“ reizlose und salzarme
Kost unter Bevorzugung von grünen Gemüsen, Kartoffeln usw. — Mit dem
Beispiel des Arztes und des Hausvaters als nichtrauchende Enthaltsame
(Guttempler) wird es zugeschrieben, daß auch immer mehr Gebildete aus
allen deutschen Gauen kommen und erfolgreich beeinflußt werden. „Das
heutige Seefrieden ist fast immer bis auf den letzten Platz mit meist frohen
und genesenden Kranken angefüllt.“
Nach dem Bericht des Hausvaters waren die drei Berichtsjahre die
schwierigsten und sorgenvollsten seit dem ganzen Bestehen der Anstalt.
Die Kranken standen unter der en dee Einwirkung der ganzen schlimmen
Zeitverhältnisse und waren meist samt ihren Angehörigen nicht zu mindestens
sechsmonatlicher Kur zu bewegen. Hielten 1909—13 durchschnittlich 30 bis
63 v. H. diese vorgeschriebene Behandlungsdauer aus, so 1921—24 (1919 und
234 Mitteilungen.
1920 stand die Anstalt als solche still) nur 12—17 v. H. Auch die in den
Friedensjahren so bewährte „Arbeitstherapie“ ließ sich trotz allerdringlichster,
ernster Belehrung und Ermahnung erst in den letzten Monaten des Berichts-
jahrs 1924 unter Mithilfe einiger zielbewußter Pfleglinge einigermaßen
durchsetzen. Zur seelischen und willensmäßigen Beeinflussung der Kranken
werden begabte und redegewandte unter ihnen, nachdem sie einige Monate
Heilbehandlung hinter sich haben, als Helfer herangezogen. Die Kranken zur
Mitarbeit für Herbeiführung besserer Zustände auf dem Gebiete der Alkohol-
frage — zugleich das beste Mittel für sie selbst, um fest zu bleiben! — zu
erziehen, ist besonders auch die Aufgabe der blühenden Seefriedener Hausloge
des Guttemplerordens. Ein weiteres Band der Zusammengehörigkeit zwischen
den anwesenden Kranken, der Anstaltsleitung und den geheilten Pfileglingen
bildet die Un die größtenteils von Patienten selbst verfaßt wird.
Noch einige zahlenmäßige Angaben seien angefügt: Neu aufgenommen
wurden 1922—24 185, insgesamt verpflegt 241 Kranke; entlassen 185, davon
ordnungsmäßig nur 81, während 104 die Anstalt gegen deren Rat vorzeitig
verließen. Der Herkunft nach überwog unter den Neuauigenommenen natur-
emäß Sachsen selbst; doch stellten auch Spandau, Berlin und Thüringen 68,
terreich 3, die Tschechoslowakei 1 Kranken. Dem Beruf nach waren von
ihnen 77 Kaufleute, 32 Handwerker, 31 Arbeiter, 26 höhere Beamte und
Akademiker, 10 Postbeamte, 7 Angehörige des Gastwirtsgewerbes, je
1 Fabrikbesitzer und Landwirt. Was die Kurkosten anlangt, so wurden sie
in 113 Fällen von den Kranken und ihren Angehörigen getragen, in 43 von
Fürsorgeämtern und Krankenkassen, in 29 von den Landesversicherungs-
anstalten Sachsen, Sachsen-Anhalt und Berlin. Der Verpflegungssatz wurde
1924 für Kopf und Tag wieder auf (nur! D. Verf.) 3,50 M festgesetzt. Fragt
man nach dem Heileriolg, so traten nach eingezogenen Erkundigungen und
eingegangenen Meldungen von den obengenannten 185 Pileglingen 78 nach
der Entlassung Enthaltsamkeitsvereinen bei, 5 lebten ohne Anschluß enthaltsam.
Die dem Tätigkeitsbericht angefügten Abdrucke von Briefen geheilter, dank-
barer Pileglinge geben einen schönen Einblick in das warme Verhältnis, das
den Kranken einerseits, dem Arzte. und Hausvater andererseits
steht.
Da Seefrieden seit Monaten überbelegt ist, gedenkt der Heilstättenverein
demnächst einen Anbau zu schaffen, der neben ausreichenden Tagesräumen
noch für etwa 20 weitere Pfleglinge Aufnahmemöglichkeit bieten soll. J. Fl.
Sechste Zusammenkunft
der schweizerischen Trinkerfürsorger.
Nach dem Vorbild der deutschen Trinkerfürsorgekonferenzen geben sich
auch die schweizerischen Trinkerfürsorgekreise von Zeit zu Zeit ein Stell-
dichein, um ihre Erfahrungen gegenseitig auszutauschen, aufgetauchte
Fragen zu klären und Richtlinien für die Weiterarbeit aufzustellen. Die
fünfte Zusammenkunft dieser Art, die im Mai 1924 im Aargau abgehalten
wurde, haben wir in H. 2 d. J. (S. 109 und 111) erwähnt. Ueber die
sechste, die am 2. Mai d. J. im „Alkoholfreien Gasthaus zum Hirschen“ in
Solothurn stattfand, geben wir hier auf Grund des vom Sekretariat — der
Leitung der Züricher Trinkerfürsorge (Sekretär Fritz Lauterburg) — er-
statteten schriftlichen Berichts einige Mitteilungen:
37 Fürsorger, Mitglieder von Fürsorgeausschüssen und Gäste aus 11
Kantonen hatten sich eingefunden. Das Sekretariat wird nach dem hier
erstatteten Tätigkeitsbericht viel beansprucht, um über das schweizerische
Trinkerfürsorgewesen Auskunft zu geben und vor allem bei Neugründungen
mitzuwirken. Für die gemeinsamen Angelegenheiten wurde ein fünf-
gliedriger Ausschuß bestellt. Folgende Entschließung wurde gefaßt und
der Presse übergeben:
„Die von 37 Teilnehmern besuchte sechste Versammlung der schweize-
rischen Trinkerfürsorger richtet angesichts der nachgerade erschreckenden-
Mitteilungen. 235
Verbreitung des Alkoholismus in allen Schichten und Kreisen unseres
Volkes an Behörden und eine weitere Oeffentlichkeit die mahnende Bitte,
der Alkoholfrage vermehrte und tätige Aufmerksamkeit zu schenken.“
Mit Befriedigung konnte die Zunahme der Fürsorgestellen festgestellt
werden. — Bei einer Besichtigung der Irrenanstalt Rosegg durch die Tagungs-
teilnehmer hielt der Leiter der Anstalt Dr. Tramer einen lehrreichen Vortrag
über Wesen und Ursachen der Alkoholkrankheit. J. Fl.
2. Aus Vereinen.
Deutscher Frauenbund für alkoholfreie Kultur, Dresden.
Einen Lehrgang über gärungslose Früchteverwertung veranstaltete vom
25. bis 29. Mai der Deutsche Frauenbund für alkoholfreie Kultur gemeinsam
mit der Sächsischen Landeshauptstelle gegen den Alkoholismus in der
höheren Staatslehranstalt für Gartenbau in Pillnitz bei Dresden. Es nahmen
daran teil drei Landwirtschaftsräte aus Sachsen und zwei vom sächs. Landes-
kulturrat abgeordnete landwirtschaftliche Wanderlehrerinnen, ein Abteilungs-
vorsteher der Lehr- und Forschungsanstalt in Berlin-Dahlem, ein Vorsteher
der Obstverwertungsstation der höheren staatlichen Lehranstalt Geisenheim
am Rhein (auf Anordnung des Preuß. Landwirtsch.-Ministeriums), eine
Anzahl von Vertretern von Obstbauvereinen, Obstbaulehrer, Gewerbeschul-
lehrerinnen, Haushaltungsschullehrerinnen, Hausfrauen und ein Teil der
Studierenden der Pillnitzer Staatslehranstalt. Nach kurzer Begrüßung durch
die Vorsitzende, Frl. von Blücher, hielt Studienrat Prof. Dr. Neubert einen
einleitenden, grundlegenden Vortrag. Er kennzeichnete die von der Natur
in Form von Zucker, Eiweiß, Fett, Ergänzungs- und Mineralstoffen her-
gestellten und aufgespeicherten Lebenskräfte und Energiespender in ihrer
unermeßlichen eutung für den menschlichen Organismus wie für die
Volkswirtschaft und erklärte die zerstörende Wirkung, welche jeder Gärungs-
prozeß auf diese Stoffe ausübt. Aus dieser Erkenntnis erwachse für Volk
und Staat die Pflicht, neue Wege zur Erhaltung aller Quellen der Volkskraft
zu suchen: deshalb keine Vergährung unsres kostbaren Obstes, sondern
gärungslose Obstverwertung. .
Der Obstbaulehrer Baumann aus Buchenbach in B., einer der ersten
Fachleute auf diesem Gebiete und Leiter des Lehrgangs, sprach sodann über
die mannigfachen Verfahren, welche seit Pasteur bekannt geworden seien
und Hand in Hand mit den neuesten Ergebnissen der wissenschaftlichen
Emährungslehre sich inzwischen immer zweckentsprechender entwickelt
haben. Der Lehrgang zeigte im weiteren Verlauf theorethisch und praktisch,
daß es nunmehr gelungen ist, auf kaltem und warmem Wege vollwertige
Obstsäfte zu gewinnen, ohne ihre kostbarsten Stoffe zu zerstören oder ihren
uft zu beeinträchtigen, und zwar ebensowohl für den Haushalt wie für
Großbetriebe und gewerbsmäßige Herstellung in Flaschen und in Fässern.
Größtes Interesse der Fachleute erweckte die praktische Vorführung des von
Baumann erfundenen „Flächenerhitzungsapparates“, der die schnelle und
gründliche Pasteurisierung großer Mengen von Obstsäften (bis zu 1000 Liter
ın einer Stunde) in Fässern ermöglicht und in Verbindung mit eigens dafür
konstruierten Zapfapparaten und Luftfiltern nicht nur jahrelanges Lagern der
unvergorenen Obstsäfte, sondern auch den Versand auf weite Entfernungen
und den „Anstich“ der Fässer ohne Gärungsgefahr gewährleistet. Sach-
kenntnis und sorgfältigste Ausführung des Verfahrens ist Grundbedingung,
deshalb Ausbildung von Kursleitern dringend erforderlich. In Süddeutschland
bestehen bereits Landesverbände zur Aufklärung der Fachkreise und Hunderte
der Apparate sind im Gebrauch oder im Auftrag.
‚ Den Abschluß des Lehrganges bildete ein Vortrag von Dr. med. Vogel,
wissenschaftlichem Direktor am Hygienemuseum, der noch einmal die Ge-
sundheitswerte von Obst und Gemüse unter Hinzuziehung von Lichtbildern
erläuterte. Er hob besonders hervor, daß Obst und Gemüse nicht als
236 Mitteilungen.
Luxusbestandteile unsrer Ernährung zu betrachten seien, sondern unentbehr-
liche Nahrungsmittel darstellen.
Der Frauenbund für alkoholfreie Kultur hat eine Kursleiterin zur Ver-
fügung, die über Saftbereitung nach dem neuen Verfahren für den Haus-
bedarf und genossenschaftliche Betriebe innerhalb 4 Stunden unterrichten
kann. Die Geschäftsstelle des Bundes (Dresden-A., Liebigstraße 22 I) erteilt
nähere Auskunft.
Jahresversammlung des Deutschen Guttemplerordens
in Barmen-Elberfeld vom 17. bis 21. Juli 1925.
Der Deutsche Guttemplerorden hielt vom 17. bis 21. Juli d. J. in Barmen
seine Hauptversammlung, das Großlogenfest, ab. Die Tagung zeichnete sich
durch reichen Besuch, auch von ausländischen Vertretern des Ordens, aus.
Eingeleitet wurde die Tagung durch die Eröffnung der Ordensaus-
stellung „Mutter und Kind“, an der sich auch die Barmer Stadtverwaltung
beteiligte. Auch durch geldliche Beihilfe, zur Ausstellung sowohl wie zur
gesamten Tagung, hat die Stadt ihr Interesse an der Bewegung bekundet.
Wie üblich, gingen der Großlogensitzung kleinere Versammlungen: die
der Distriktstempler, der Frauen und der Vertreter des Jugendwerkes voraus.
Die Großlogensitzung selbst zerfiel in zwei Teile. Am Sonnabend,
den 18. Juli, fand die eigentliche Festsitzung statt, in der 74 Mitglieder den
Großlogengrad erhielten, und Frau Gerken-Leitgebel über die Auf-
ee und Pflichten der Frau im Guttemplerorden sprach.
Sonntag füllten die geschäftlichen Verhandlungen aus.
Aus dem Jahresbericht des Großtemplers entnehmen wir, daß
17 276 neue Mitglieder im vergangenen Jahre aufgenommen wurden, während
allerdings ein Abgang von 15 692 zu verzeichnen ist. Der Orden zählte am
1. Mai 1925 34 221 erwachsene Mitglieder in 885 Grund-
logen. An Abgaben erhielt die Großloge in der Zeit vom 1. Februar
bis 31. Oktober 1924 vierteljährlich 30 Pfennige von jedem Mitgliede; vom
1. November 1924 bis 31. Januar 1925 erhöhte sich dieser Betrag auf vierteljähr-
lich 50 Pfennige, von denen 19 Pfennige eigentliche Abgaben an die Großloge
waren, 21 Pfennige der Hinterbliebenenunterstützung zufielen; 10 Pfennige
sind als Entgelt für. „Neuland“ gerechnet worden. Der Neuland-Verlag
(Verlag und Buchhandel) brachte einen Reingewinn von 8 197,50 Mark. Die
drei Zeitschriften des Ordens „Neuland“, „Deutsche Jugend“ und „Jung
Siegfried“ erforderten dagegen Zuschüsse. Die Schrititenbestände
hatten am 1. Februar 1924 einen Wert von 29 869,71 Mark, am 31. Januar 1925
einen solchen von 41 143,73 Mark. Wesentlich erschwert wurde der Geschäfts-
gang durch starke Inanspruchnahme des Kredits seitens der einzelnen
rdensgruppen. Die Buchdruckerei des Ordens arbeitete im ver-
gangenen Jahre mit einem geringen Verlust, 387,85 Mark. Sie wird erst
völlig ausgenutzt werden können, wenn sie, mit der Zentrale der Großloge
en in geeigneten Räumen untergebracht und entsprechend vergrößert
sein wird. !
‚Von den Beschlüssen der Großlogenversammlung ist hervorzuheben
die Annahme eines Antrages des Großlogenrates, vom 1. November d. J. a
die Zeitschrift „Neuland“ 8Stägigerscheinen zulassen und dafür
von jedem Mitgliede vierteljährlich 15 Pfennige mehr zu erheben. Ferner die
vorläufige Zustimmung der Mehrheit der Versammelten zu dem Plane, die
Geschäftsstelle des Ordens nach Berlin zu verlegen. Ein
endgültiger Beschluß über den dahingehenden Antrag kann nach den Satzungen
erst auf der nächstjährigen Großlogentagung, die in Hamburg
stattfinden wird, gefaßt werden.
Die Entschließungen, die die Großloge annahm, bezogen sich
sämtlich auf die Forderung der Vermehrung des Obstverbrauches und der
uses Obstverwertung. Wir lassen zwei dieser Entschließungen hier
olgen:
Mitteilungen. 237
l. „Neuerdings wird durch private und leider auch sogar durch amtliche
cder halbamtliche rap Lug ie Herstellung von alkoholischen Getränken
aus Obst gefördert. Das bedeutet eine Vermehrung der Alkoholquellen in
einer sehr gefährlichen Form und in unkontrollierbarem Umfange Das
öffentliche Interesse erfordert aber im Gegenteil die Förderung der Obst-
Eng in alkoholfreier Form, die die Werte des Obstes voll zur Geltung
og und sehr schmackhafte und gesundheitlich empfehlenswerte Getränke
iefert.“
2. „Die Jahresversammlung des Deutschen Guttemplerordens in Barmen
empfindet als ein Unrecht, daß Traubensäfte, die keinerlei Gärung durch-
cht haben, die sich in ihrer Herkunft und ihrem Charakter in keiner
'eise von Obstsäften aus anderen Früchten unterscheiden, der Steuer für
Weine unterworfen werden; sie bittet, dieses offenbare Unrecht abzustellen
und Säfte aus Weintrauben hinsichtlich der Steuer genau so zu behandeln
wie alle anderen Obstsäfte.“‘
Die Beamtenwahl der Großloge ergab keine wesentlichen Ver-
änderungen; die führenden Persönlichkeiten, zu denen sich wieder Super-
intendent D. Rolffs, Osnabrück, gesellt hat, sind im übrigen dieselben
geblieben.
Auf dem öffentlichen Festabend, der sich an die Geschäfts-
sitzung der Großloge anschloß, hielt Präsident Dr. Strecker einen
Vortrag über Alkohol und Ethik, der, ebenso wie Frau Gerken-
Leitgebels Vortrag, inzwischen schon im Druck erschienen ist. Ver-
schiedene Ausflüge der folgenden Tage führten die Festteilnehmer nach
Schloß Burg an der Wupper, nach dem Haus Hoheneck des Kreuzbündnisses
und dem Kamillushaus, sowie ins Siebengebirge. Krt.
3. Verschiedenes.
Ottilie Hoffmanns 90 jähriger Geburtstag.
Am 14. Juli d. J. feierte Ottilie Hoffmann, die Begründerin der Abstinenz-
wegung unter den deutschen Frauen, in ihrer Vaterstadt Bremen den
jährigen Geburtstag. Unzählige Gratulanten, behördliche Persönlichkeiten,
Anhänger der verschiedensten sozialen Bestrebungen, nicht zuletzt die Ver-
treter der Alkoholgegnerbewegung, drückten der Greisin ihren Dank und
ihre Verehrung aus. ;
Ottilie Hoffmanns Leben und Wirken ist den meisten unserer Leser
wohlbekannt. Oft wurde von ihrer mannigfachen segensreichen Arbeit in
den Zeitschriften berichtet. Man weiß, daß sie in jungen Jahren im Kreise
der Gräfin Carlisle die ersten Anregungen zu ihrer Arbeit auf dem Gebiete
der Alkoholbekämpfung empfangen hat. Besonders bezeichnend für dieses
Wirken ist die Tatsache, daß sie niemals fruchtlosen theoretischen Erörte-
rungen Zeit gegönnt hat, sondern immer da zu finden war, wo es galt,
praktische Arbeit zu leisten. Ein dauerndes Denkmal solcher praktischer
Arbeit sind. vor allem die 12 Häuser des Bremer Vereins für alkoholfreie
Speisehäuser, mit deren Gründung und Entwicklung Ottilie Hoffmanns Name
eng verbunden ist. Diesen Grundsatz praktischen Wirkens hat sie auch dem
von ihr ins Leben gerufenen Deutschen Bunde abstinenter Frauen, dem
jetzigen Frauenbunde für alkoholfreie Kultur, für alle Dauer aufgeprägt.
Auch in diesem Kreise gilt noch heute die Arbeit, wie sie zuerst in Bremen
Beet wurde, besonders viel, wenn auch die Aufklärungsarbeit und die
erbung für alle zeitgemäßen Gedanken unsrer Bewegung nicht versäumt
wird. "Es wird von der Jubilarin als ein gnadenreiches Glück empfunden,
diese gesunde Entwicklung der von ihr begonnenen Arbeit verfolgen zu
dürfen. Die ihr am 14. Juli dargebrachten Wünsche, mit denen sich auch
die unsrigen vereinen, zielen allererst dahin, daß der Geist, der die alkohol-
gegnerische Frauenbewegung in Deutschland von Anbeginn erfüllt, der
gleiche bleiben und immer größeren Einfluß auf die gesamte Frauenbewegung
gewinnen möge. Krt.
238 Mitteilungen,
Weinbau und Weinernte in den wichtigsten
Weinländern während der Jahre 1923 und 1924).
Rebfläche in 1000 ha
Weinmostertrag in 1000 hl
Länder
1924 | 1923 1924 1923
Europa:
Deutsches Reich . . . 74,3 74,7 1 804,0 791,0
Buülgarlen. 0 ws 54,7 46,0 1 281,5 903,0
Frankreich , 7... ,« 1 458,5 1 419,3 67 948,6 57 164,2
Griechenland ... . — *) 157,3 2 368,6 2 100,0
Malen: 2a wi 4 270,0 4 273,0 43 000,0 53 948,0
Jugoslavien ..... — 166,8 — 4 414,2
Luxemburg" es oa + 1,7 1,6 — 8,1
Oesterreich . . .. . 31,9 31,9 225,0 822,1
Portugal ...... — 313,2 = 6 131,2
DERWERI. N EZ 17,2 17,8 375,0 752,0
SORHIEH oe ae 1 341,3 1 341,7 21 744,7 22 078,3
Tschechoslowakei . . 16,5 17,0 240,0 329,5
UBBaM +. 50. ag LA 221,8 219,4 1 368,2 4 696,6
Afrika: :
ARENEB aie duau 207,5 194,5 9 787,2 10 186,4
Fn aa ale 27,9 28,7. 720,0 680,0
*) Mittel 191821. >
WEINBAUFLÄCHE 1924
> Bulgarien
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WEST.2S
1) Wir entnehmen die toigenae Zusammenstellung und das Uebersichtsbild der Zeitschrift
„Wirtschaft -und Statistik“ (19
von Reimar Hobbing, Berlin SW 61.
Heit 7), herausgegeben vom Statistischen Reichsamt. Verlag
FE u
Mitteilungen. 239
Werbewoche für ein deutsches Gemeindebestimmungsrecht.
Alkoholgegnerische Werbewochen, wie sie besonders in angelsächsischen
und skandinavischen Ländern üblich sind, hat man auch in Deutschland
trüher schon gelegentlich veranstaltet. In besonders guter Erinnerung mancher
Mitkämpfer ist z. B. jene Werbewoche vom 8. bis 14. November 1908, ir der
zum ersten Male in größerem Ausmaße im Deutschen Reiche für das Ge-
meindebestimmungsrecht geworben wurde. Demselben Gedanken galt die in
diesem Jahre vom 10. bis 17. Mai ausgeführte Werbewoche, in der die
Alkoholgegner fast im ganzen Reiche planmäßig für Verbesserung des
Schankerlaubniswesens und den Gedanken des Gemeindebestimmungsrechts
eintraten. Es handelte sich bei dieser Kundgebung ganz allgemein um die
Forderung eines wirksamen Reichsgesetzes, das den wahlfähigen Gemeinde-
mitgliedern die Befugnis erteilen soll, über den Umfang des Ausschanks und
Verkaufs geistiger Getränke innerhalb ihrer Gemeinde durch Abstimmung
zu entscheiden.
Erst im Laufe des Sommers sind die letzten Berichte über die zahlreichen
Veranstaltungen der Werbewoche bei der Reichshauptstelle g. d. A. ein-
gelaufen. Sie werden von Präsident Dr. Strecker bearbeitet, der vermutlich
ım November dieses Jahres den Gesamtbericht in Buchform veröffentlichen
wird. Schon jetzt kann gesagt werden, daß die diesjährige Werbewoche in
Wort und Schrift eine der eindruckvollsten Kundgebungen ihrer Art war und
auf weite Kreise der Bevölkerung ihre Wirkung nicht verfehlt hat. Wie von
langjährigen Mitkämpfern der Bewegung übereinstimmend versichert wird,
ist, solange die moderne Alkoholgegnerbewegung besteht, innerhalb der
deutschen Grenzen wohl hoch niemals so umfassend und gründlich für den
Gedanken der Alkoholbekämpfung geworben worden, wie in diesem Jahre.
Die verstärkte Arbeit hat sich auch keineswegs auf eine Woche beschränkt.
Es gingen ihr vielmehr schon viele Werbeunternehmungen voraus, und viele
sind gefolgt. Unzählige Versammlungen, sicher über tausend, haben statt-
gefunden. Teils waren es öffentliche, teils wurden sie in geschlossenen
Organisationen abgehalten; in den Großstädten oft mehrere täglich, in Berlin
über 60 in der einen Woche. Dresden veranstaltete eine große Versammlung,
in weicher der bekannte dänische Mitstreiter Redakteur Larsen-Ledet vor mehr
als tausend Zuhörern sprach. Tägliche wohlgelungene Veranstaltungen hat
man in Hamburg, Bremen, Königsberg, besonders im rheinisch-westfälischen
Industriegebiet, aber auch in Süddeutschland gehabt. Selbst kleine Städte
von 20 000 bis 30 000 Einwohnern konnten Versammlungen von 600 bis 800
Besuchern aufweisen. Sehr groß ist die Zahl der in diesen Versammlungen
an Reichsregierung und Reichstag gerichteten Entschließungen, die einmütig
als notwendigste Gegenmaßnahme gegen den bedrohlich wachsenden Alko-
bolismus ein wirksames Schankgesetz mit Gemeindebestimmungsrecht fordern.
Neben den alkoholgegnerischen Vereinen beteiligten sich an den Ver-
anstaltungen soziale Körperschaften verschiedener Art. In erster Linie
Wohlfahrts-, Gesundheits- und Jugendämter, sowie Frauen- und Jugend-
vereine.e Besonders haben sich die kirchlichen Organisationen bei dieser
Werbung hervorgetan. Die Evangelische Kirche als solche hat sich offiziell
für die Forderung des Gemeindebestimmungsrechts eingesetzt. In hunderten
von Kirchen der verschiedenen Bekenntnisse ist am Sonntag, dem 10. Mai,
der alkoholgegnerischen Sache gedacht worden. An manchen Orten stand sie
im Mittelpunkte der ch Hunderttausende von Flugblättern und Auf-
klärungsschriften über die Älkoholfrage im allgemeinen und über das G. B. R.
im besonderen sind verbreitet worden. Auch die Zeitschriften- und Tages-
presse hat der Werbung zum Teil weitgehend gedient.
Wie stark die Wirkungen der Werbewoche waren, hat man z. T. an den
genmaßnahmen der Alkoholgewerbetreibenden beobachten können, die eine
änkung der überzahlreichen Gelegenheiten zum Trunke bereits als
Trockenlegung Deutschlands betrachten. Es sind bezeichnenderweise nicht
nur die Organisationen der Wirte, die auf dem Kampfielde erschienen; der
240 Mitteilungen.
Hauptwiderstand geht von den Brauern und Brennern aus. Die Formen,
die diese Gegenkundgebungen vielfach angenommen haben, zeugen von der
Schärfe des Kampfes und den nicht geringen Hindernissen, mit denen man
mehr und mehr im Verlaufe der Werbung für das G. B. R. zu rechnen hat.
Besonders erbost scheinen die Alkolholinteressenten auf die kirchlichen Orga-
nisationen und ihre Vertreter zu sein. Man drohte unverhohlen damit, seine
Treue zur Landeskirche von dem ungeschmälerten Alkoholverbrauch des
deutschen Volkes abhängig zu machen. In Berlin scheute man sich nicht,
durch zum Teil angetrunkene Ruhestörer eine Versammlung in der Drei-
faltigkeitskirche, der Kirche Schleiermachers, unmöglich zu machen. Allerdings
wird bei solcher bedenklichen Form der Gegenwehr dem unbefangenen
Beobachter die Entscheidung nicht schwer, auf welche Seite er sich zu stellen
hat. Man wird sich im übrigen darüber klar sein müssen, daß der Kampf
um das G. B. R. noch in seinen Anfängen steht, daß die Schwierigkeiten
noch gewaltig wachsen werden, und daß es der Zusammenfassu aller
unserer Kräfte bedarf, um zum Ziele zu gelangen. rt.
Der Zweite deutsche Alkoholgegnertag ').
Vom 1. bis 4. Juni d. J. wurde der zweite deutsche ne
im Ständehaus zu Düsseldorf abgehalten. Den Kern der Tagung bildeten die
Verhandlungen am 2. und 3. Jan An dem ersteren Tage galt es, die Bedeu-
lung der Alkoholfrage tür Deuschlands Gegenwart und Zu-
kunft von verschiedenen Gesichtspunkten aus zu beleuchten. Dr. R. Weber,
Assistent am Kölner Forschungsinstitut für Sozialwissenschaft, behandelte
den volkswirtschaftlichen, Prof. Ude aus Graz den sittlichen
Wiederaufbau, während über de Zusammenhänge zwischen
der deutschen Alkoholfrage und den internationalen
unge Präs. a. D. Dr. Strecker sprach. Für Prof. Aschaf-
fenburg, der es übernommen hatte, die Frage des gesundheitlichen
Wiederaufbaues zu behandeln, aber in letzter Stunde verhindert war,
sprang Prof. Gonser ein. Die vier Vorträge gaben mit ihrem reichen
atsachenstoff ein anschauliches und ziemlich abgerundetes Bild von dem
preriwi ngm Stand der Alkoholfrage und den Aussichten und Forderungen
ür die Zukunft.
Die Vortragsreihe der zweiten Hauptversammlung am Vor-
mittag des 3. Juni war vielleicht noch geschlossener und eindrucksvoller.
Es wurde die Frage behandelt: Welche Forderungen stellen wir
an das im Reichstag one Gesetz zur Bekämpfung
des Alkoholismus? Fünf Redner und eine Rednerin beantworteten
diese Frage von vier verschiedenen Gesichtspunkten. Man darf wohl sagen,
daß sich jedes der durchweg kurzen Referate so fest an das andere angliederte,
daß fast der Eindruck eines einzigen großen Vortrages hervorgerufen wurde.
Jn ihrer Eigenschaft als Juristen und Verwaltungsbeamte beleuch-
teten Oberverwaltungsgerichtsrat Dr. Weymann und ÖOberbürgermeister
Dr. Luppe (Nürnberg) den Gegenstand, die Reichstagsabgeordneten Prof.
D. Strathmann und Sollmann als Politiker. ie Forderungen,
die mit Rücksicht auf Wohlfahrts- undFamilienpflege zu erheben
sind, und die der N Bun faßten Frau Krukenberg und
Theo Gläß zusammen. Das Ergebnis der Verhandlungen waren die beiden
folgenden Entschließungen:
1. Die vom 1. bis 4. Juni 1925 in Düsseldorf versammelten deutschen
Alkoholgegner fordern von Reichsregierung und Reichstag ein wirksames
Schutzgesetz gegen den Alkoholismus. Sıe erwarten, daß dieses
in einer einleitenden Erklärung die mit dem Genuß in Getränke
verknüpften Gefahren betont und grundsätzlich die Verpflichtung des
Staates anerkennt, tatkräftige Maßnahmen gegen den Alkoholismus zu
1) Vgl. „Auf der Wacht“ Nr. 78.
Mitteilungen. 241
ergreifen. Die deutschen Alkoholgegner wünschen ferner die Berück-
sichtigung ihrer aus Anlaß früherer Schankgesetzvorlagen erhobenen
Forderungen; mit besonderem Nachdruck fordern sie, daß das Schutzgesetz
in weitgehendem Maße der Selbstbestimmung der Gemeinden Rechnung
trägt und unter allen Umständen das Gemeindebestimmungsrecht in
praktisch durchführbarer und wirksamer Form enthält, d. h. Bestimmungen,
die den Mitgliedern gestatten, durch Abstimmung der Urwähler über
Umfang der zulässigen Alkoholschankerlaubnisse im eeann Er-
teilung der Einzelerlaubnisse und Ausdehnung der Polizeistunde zu
entscheiden.
2. Die vom 1. bis 4. Juni 1925 in Düsseldorf versammelten deutschen
Alkoholgegner beantragen bei den Landesregierungen, daß sie unverweilt
Maßnahmen treffen, welche die alkoholfreie Jugenderziehung (lehrplan-
mäßigen Unterricht oder, falls er zurzeit noch nicht möglich ist, jede nur
ae mögliche Förderung der Wanderkurse) gewährleisten und nach
Inhalt und Form sicherstellen. Die deutschen Alkoholgegner knüpfen mit
dieser Forderung an den Beschluß des Reichstags an, der von der Reichs-
regierung ein Gesetz zum Schutze der Jugend forderte. Auch. sind sie
überzeugt, daß gesetzliche Maßnahmen zum Schutze der Jugend vor den
Alkoholgefahren nur mit gleichzeitiger Einführung und Durchführung der
alkoholfreien Jugenderziehung Wert und Erfolg haben.
Den SEINEN UOBSEEBE NE der dritten Hauptverhandlung bildeten die
vorsichtigen und sachkundigen Ausführungen Dr. Hercods über das
Thema „Die Wahrheit über Amerika“.
Ein Konferenz für neun ige schloß sich am vierten
Tage diesen Hauptversammlungen an. Sie wurde eingeleitet durch Prof.
Gonsers Bericht über den gegenwärtigen Stand der
Trinkerfürsorge, der auf Grund einer von ihm veranstalteten Rund-
frage in der Lage war, ein reiches Material vorzulegen. Ueber heilbare
und unheilbare Trinker sprach Prof. Delbrück (Bremen), der
das Problem der unheilbaren Trinker von neuen Gesichtspunkten aus
betrachtete, Dr. Flaig über dieneuesteg Handhaben gegen den
Trunksuchtsmittelschwindel.
Auf diese Vorträge ai eine Reihe kurzer Bilder aus der prak-
tischen Arbeit der Trinkerfürsorgestellen, dargestellt von
frau Gerken-Leitgebel (Berlin), Sanitätsrat Dr. Mainzer (Nürn-
berg), A. Ewald (Barmen), Frau L. Floß (Münster) und H. Backhaus
(Hamburg) und anderen.
Am Abend dieses Tages fanden zwei öffentliche Versammlungen statt,
eine Frauenversammlung unter Fräulein von Blüchers Vorsitz,
und in der städtischen Tonhalle eine Volksversammlung unter
F.Goeschs Leitung, in welcher der Abgeordnete W. Sollmann, Kaplan
Weidmann, der Vorsitzende des Düsseldorfer Ortsausschusses und Präs.
Dr. Strecker sprachen.
Die von einer großen Zahl von Alkoholinteressenten versuchten Störungen
scheiterten an der geschickten Versammlungsleitung und an Herrn Sollmanns
glänzender Meisterschaft, diese Gegner in Schranken zu halten, so daß sie
schließlich unverrichteter Dinge abziehen mußten.
Einige Vereinigungen hatten gelegentlich des As gner ages
Sondersitzungen veranstaltet, u. a. der Verband der Trinker-
heilstätten und der Deutsche Bund enthaltsamer Pfarrer.
Von dem ersten deutschen Alkoholgegnertage in Breslau
(1921) unterschied sich die Düsseldorfer Tagung sehr wesentlich. In Breslau
leitete man gewissermaßen eine neue Arbeitsperiode der Alkoholgegner ein.
Es war eine Veranstaltung in größerem Rahmen mit verschiedenartigeren
Verhandlungsstoffen. Auch trat die ee der einzelnen Organisationen
mehr in den Vordergrund. Der Düsseldorfer Alkoholgegnertag
war dagegen eine .—_.—. Arbeitstagung, von prak-
tischen Gesichtspunkten gegenwärtigen Kampfes diktiert, und, wie man
Die Alkoholfrage, 1925. 16
242 Mitteilungen.
wohl annehmen darf, auch nicht ohne Einfluß auf den weiteren Verlauf des
Sun
ließe sich bei dieser Gelegenheit vieles Grundsätzliche über die
Organisationunserer Kongresse sagen. Daß manches an unseren
großen Veranstaltungen veraltet ist, und wir in mehr als einer Hinsicht
zu neuen Formen kommen müssen, darüber sind sich die aufmerk-
samen Beobachter einig. Das wird auch in den meisten der Organisationen
schon seit Jahren mehr oder minder stark empfunden, und die Versuche, neue
Wege zu gehen, sind hier und da bereits gemacht. An der Düsseldorfer
Tagung verfehlt war wohl zweifellos jener Dienstagabend mit seiner schier
endlosen Reihe schließlich stark ermüdender Begrüßungen. Trotz einzelner
Organisationsschwächen aber dürfen wir mit der Gesamtleistung der Tagung
und auch mit den Wirkungen nach außen zufrieden sein. Es sind für die
Fortsetzung des G. B. R.-Kampfes wertvolle Waffengeschmiedet
worden, und den weltlichen und geistlichen Behörden wurde reiche Gelegen-
heit gegeben, sich von neuem von der Bedeutung und Notwendigkeit der
alkoholgegnerischen Arbeit zu überzeugen. Daß die Tagung auch die Gegner.
zu vermehrter Arbeit angeregt hat, dürfte kein Fehter sein. R, Kraut.
Die schottischen Kirchen und der Alkohol.
Wenn man, wie das auf der Kieler Jahresfeier des Deutschen Vereins gegen
den Alkoholismus der Fall sein wird, von Kirche und Alkohol reden will, so.
darf nicht versäumt werden, auf die alkoholgegnerische Stellung der angel-
sächsischen Kirchengebilde hinzuweisen. — An dieser Stelle sei der schot-
tischen Kirchen gedacht, die obwohl kleiner als manche andere, doch der
Menschheit eine Reihe kirchengeschichtlich bedeutender Persönlichkeiten ge-
schenkt haben.
Wir besitzen in der Sammlung „Kirchengeschichte des Auslandes“ ein
umsichtiges, gründliches Werk von Lic. Dr. Otto Dibelius (Gießen bei Töpel-
mann 1911): „Das kirchliche Leben Schottlands“. Im Abschnitt VI „Die
kirchliche Arbeit außerhalb der Gemeinde“ (S. 135 f.) wird über die Nüchtern-
heitsarbeit gesprochen. Wir bringen hier einen Auszug daraus:
„Die schottischen Kirchen haben mit besonderer Energie die Alkoholnot |
zum Felde ihrer Betätigung gewählt. Die Alkoholirage hat in Großbritannien
eine lange Geschichte. Leichtes Bier kennt man jenseits des Kanals nicht, nur
Porter und Ale, daneben Branntwein, speziell in Schottland den alles
beherrschenden Whisky, und endlich Rotwein, der schon im Mittelalter einer
der bedeutendsten Handelsartikel zwischen Frankreich und England war. Da:
Fehlen eines leichten Nationalgetränkes hatte zur Folge, daß Trunksucht und
Trinkunsitte in Großbritannien einen ungeheuren Grad erreichten. Da hielt
in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Tee seinen Einzug, verdrängie
allmählich den Rotwein und wurde zum eigentlichen Nationalgetränk der
Engländer und Schotten. Er wurde auch das Getränk des geselligen Bei-
sammenseins. Da man ein Wirtshausleben in Großbritannien nicht kennt,
würde der Alkohol keine eigentliche Volksgefahr mehr bedeuten, wenn das
Proletariat nicht wäre. Die Arbeiterschaft der unteren Schichten ist es nun
vor allem, die die Bars der schottischen Städte füllt; Arbeiter sind es, ganz
besonderes irische Arbeiter, die man an allen Tagen und zu allen Tageszeiten,
vor allem am Sonnabend-Nachmittag, in sinnloser Trunkenheit durch die
Straßen taumeln sieht. Der macht die Verkommenheit der aller-
fn
ee Volksklasse zu einer holfnungslosen. Die Familien, die in den
sog. Slums hausen, kennen oft seit Generationen keinen anderen Genuß und
keine andere Erholung als Whisky; und dies Alkoholelend zieht alles andere
nach sich: den grauenerregenden Zustand der Wohnungen, die Verwahrlosung
in Kleidung und Körperpilege.
Diese Alkoholnot der untersten Volksschicht ist es, welche die Frage der
Temperenz zu einer brennenden Volksfrage macht. Die Abstinenz ist in den
Häusern der Gebildeten weit verbreitet. Kein Inhaber einer Brennerei oder
Mitteilungen. 243
Brauerei wird so leicht für einen öffentlichen Posten kandidieren können;
sein Gewerbe ist verfemt. Indes: politische Schwierigkeiten melden sich.
Das Kapital der großen Brauereien und Brennereien steht im Bunde mit
der Partei der Unionisten. Als das liberale Regiment ans Ruder kam,
setzte es alsbald eine höhere Besteuerung der alkoholischen Getränke durch
und erreichte damit einen erheblichen Rückgang des Whiskykonsums. Die
‚, Unionisten sind nicht in der Lage, zu einer derartigen Maßregel die Hand
zu bieten; und wer zu ihrer Fahne schwört, wird sich in der Bekämpfung
des Alkohols Zurückhaltung auferlegen müssen. Die verschiedene Stellung
des Einzelnen kommt hinzu, auch innerhalb der Geistlichkeit. Vor allem
findet man in den Häusern der landeskirchlichen Geistlichen, die durch ihre
natürliche Verbindung mit dem ländlichen Grundbesitz häufig dem Unionisten-
r zuneigen, bisweilen Rotwein oder Whisky auf dem Tische. Die
Geistlichen der Unierten Freikirche sind fast durchweg Total-Abstainer.
‚, Die Kirchen selbst.aber sind einig darin, daß die Bekämpfung des Alkohols
' zu ihren Pflichten gehört. Große Temperenz-Versasamlungen werden jahraus,
- jabrein in allen großen Städten gehalten; wohl keie Generalsynode vergeht,
' ohne daß nicht in Verbindung mit ihr eine Temperenz-Kundgebung größten
Stiles stattfände. Vor allem sind die Frauen dabei auf dem Plan. Ist doch
_ die Trunksucht unter Frauen ein besonders trauriges Charakteristikum der
: englisch-schottischen Zustände. Die Frauenvereine der Church of Scotland
unterhalten ein Heim für Trinkerinnen; andere Anstalten dieser Art stehen
in engster Fühlung mit der Kirche. Und wer nicht selbst Total-Abstainer
: Ist, macht davon wenigstens kein Aufhebens, um nicht dadurch seine Kirche
bloßzustellen. Als z. B. in der Generalsynode der Wee Frees 1907 ein
Adltester das Wort bei der Debatte ergriff und bekannte: er trinke Whisky
an jedem Tag, den er erlebe, da unterbrachen ihn stürmische Pfui-Rufe, und
auch die freier Gerichteten empfanden ein solches Auftreten als eine un-
verantwortliche Kompromittierung ihrer Kirche.
Die Tätigkeit der Kirche unterscheidet sich aber keineswegs durch
besonders ernste religiöse Fundamentierung von der Temperenzarbeit anderer
ereine, wie sich etwa in Deutschland die Blaukreuzarbeit von der der
Guttempler und von den Mäßigkeitsbestrebungen unterscheidet. Diese Gegen-
Sitze zwischen „christlicher“ und „humanitärer“ Arbeit können in einem
Lande, in dem Christentum und Kirchlichkeit bei jedem Angehörigen der
oberen Stände vorausgesetzt werden, nicht von Bedeutung sein. Daß in
einer Trinkerheilstätte, sie mag kirchlich oder prora sein, christliche Sitte
und Hausordnung herrscht, ist selbstverständlich; daß ein Trinker, welcher
der menschlichen Gesellschaft wiedergewonnen wird, damit auch der kirch-
lichen Sitte wiedergewonnen wird, ist nicht minder selbstverständlich. Und
wenn in der Methode der Trinkerrettung Unterschiede bestehen, so liegen
-diese Unterschiede in den Persönlichkeiten der Arbeitenden, nicht in den
nnzipien einer religiösen oder nichtreligiösen Richtung.“
Hinzuzufügen dürfte für die Betrachtung der Stellung der Kirche zur
Alkoholfrage aus dem sonstigen reichen Inhalt des Dibeliusschen Buches noch
sen: Die Church of Scotland besitzt eine kleine Arbeiterkolonie, aber
chöpfungen wie Bodelschwinghs Anstalten für die Wanderarbeiter und für
die Arbeitslosen darf man in Schottland nicht suchen; dagegen vereinigen sich
in besonders glücklicher Weise religiöse und soziale Arbeit auf dem Gebiete
der Jugendpflege. St.
Polizeipräsident Schober in Wien
und das amerikanische Alkoholverbot.
An dem dritten internationalen Polizeikongreß in Newyork nahm auch
der Wiener Polizeipräsident Schober teil. Er hat sich aus diesem Anlaß
auch über das amerikanische Alkoholverbot geäußert, welches naturgemäß der
amerikanischen Polizei mancherlei besondere Aufgaben stellt. Die Aeußerung
Schobers wurde, wie üblich, in der Presse wieder ganz einseitig im Sinne
16*
244 Mitteilungen.
der Alkoholfreunde weitergegeben, wie der Kenner der Verhältnisse beim Lesen
gleich annehmen mußte; waren doch schon früher Aeußerungen von Polizei-
präsident Schober bekannt geworden, die im Gegenteil sein warmes und
eindringendes Verständnis für die Alkoholfrage zeigten. Auf eine deutsche
Anfrage ließ denn auch die Polizeidirektion Wien antworten, daß die
Aeußerungen des Herrn Polizeipräsidenten nicht wörtlich so weitergegeben
wurden, wie er sie tat. In dem Schreiben heißt es dann wörtlich: „Was
die Haltung der Polizeidirektion und des Herrn Polizeipräsidenten zur
Alkoholfrage anbelangt, so erhellt deren Stellungnahme schon aus der
Tatsache, daß auf dem vom Polizeipräsidenten Schober einberufenen und
eleiteten Internationalen Polizeikongreß im September 1923 der Kampf gegen
en Alkoholmißbrauch ganz offiziell im Rahmen des Kongresses zur Sprache
gekommen ist.“ (Der Vortrag, den der Wiener Polizeioberbezirksarzt Dr. Metz!
auf diesem Kongreß über die Zusammenhänge zwischen Alkoholfrage und
Polizei hielt, wurde ausführlich veröffentlicht.) Ein weiteres beredtes Zeugnis
bildet das aus der Wiener Polizeidirektion hervorgegangene ausgezeichnete
und umfangreiche Sonderheft „Polizei und Trinkerfürsorge“, das vom Verlag
„Auf der Wacht“ (für 1,30 M postir.) zu beziehen ist. gl. auch „Alkohol-
frage“ 1923 H. 3/4, S. 157 f.).
Das allmächtige Alkoholkapital.
In dem äußerst lehrreichen Werke „Mein Rheinland-Tagebuch“ von
General Henry T. Allen, Oberbefehlshaber der amerikanischen Besatzungs-
armee im Rheinland 1919—1923 findet sich folgende Stelle (S. 45 der deutschen
Uebersetzung):
„26. 12. 19. Eine recht bezeichnende Mitteilung kam von Roussellier
französischer Vertreter im Rheinland). Er verlangt die Aufhebung. aller
dena fen des Alkoholverkehrs ım besetzten Gebiete. Gleichzeitig die
Aufhebung aller Strafen, die wir bisher für die Verletzung unserer dies-
bezüglichen Verbote verhängt haben. Diese Einschränkungen sind ur-
sprünglich von Marschall Foch eingeführt worden. Nun zeigt sich aber,
daß die französischen Geschäftsinteressen dadurch ernstlich gelitten haben;
das WohlderDeutschenwiedasder Truppenbleibtüber-
haupt ohne Berücksichtigung. Selbst die deutschen Be-
amtenwarenmitmeinem Vorgehen, den Verkauf und Ausschank
alkoholischer Getränke im besetzten Gebiete auf leichte Weine und Bier zu
beschränken, einverstanden.“
Besprechungen.
Schmidt, Univ.-Prof. Dr. Hans, Warum haben wirden Krieg ver-
loren? Neuland-Verlag. Hamburg. 1924.
In dem Kampfe, den einsichtsvolle Teile unseres Volkes darum führen,
in Gemeindebestimmungsrecht dem Alkoholkapital gegenüber eine wirk-
same Waffe in die Hand zu bekommen, erscheint ihnen ein wertvolles
Werbemittel in der Schrift Prof. Schmidts. Sie paßt auch in anderer Hin-
sicht trefflich in die Kämpfe der Gegenwart. Schmidt geht von klaren
militärischen Darlegungen aus, welche sich unter anderem auf wertvolle
Zeugnisse aus dem Lager der Feinde stützen, so auf das Buch des eng-
ischen Hauptmanns Wright: „Wie es wirklich war im obersten Kriegsrat
der Alliierten.‘ Er zeigt, wie nahe uns im März 1918 der Sieg war und
wie er uns entglitt — durch den Teufel Alkohol. Die nicht unbe-
kannte, aber immer wieder abgestrittene Tatsache, daß die Weinkeller der
Alliierten die Waffe waren, mit denen sie den siegreich vorstürmenden
hundert Divisionen Ludendorffs Halt geboten — Prof. Schmidt belegt sie
durch ein sorgfältig gesammeltes und wohl gruppiertes Materjal, das sich
auf das Zeugnis von mehr als 50 Gewährsmännern, meist Augenzeugen,
stützt Wie die stark ermüdeten, aber von einem heiligen Siegeswillen
vorwärts getriebenen Truppen durch den Alkohol jeden sittlichen Haltes
beraubt wurden, der Hand ihrer Führer entglitten, und wie diese Ver-
zögerung den Gegnern Zeit gab, die Gegenwehr zu organisieren, das muß
man bei Schmidt nachlesen. :
Prof. Schmidt erhebt gegen die Oberste Heeresleitung — und das ist der
Kernpunkt seiner Ausführungen — den schweren Vorwurf, daß sie diese Mög-
lichkeit nicht vorausgesehen habe, weil sie selbst von dem Dogma der Nützlich-
keit des Alkohols nicht loskommen konnte. Wenn Oberst Bauer schreibt: „in
verständigen Grenzen genossen, hat sich der Alkohol doch im ganzen Kriege
als bestes Mittel bewährt, die Stimmung zu halten, Nervenanspannungen zu
lösen und so indirekt die Arbeitslust und -kraft zu erhöhen“, so verraten
diese Sätze eine so bedauerliche Verkennung der Tatsachen, daß Schmidt
se mit Recht als- einen der verhängnisvollsten und unbegreiflichsten Irr-
tumer, in die unsere Führung verfallen ist, bezeichnet. Weil die Truppe
in der Meidung des Alkohols kein Beispiel bei ihren Offizieren fand, hielt
sie = für ihr gutes Recht, sich über die gefundenen Weinvorräte herzu-
machen.
Was lehrt diese Erfahrung für die Gegenwart und die Zukunft?
Der Krieg ist verloren, und alle Kritik kann nur nützen, wenn sie den
sanz veränderten Verhältnissen Rechnung trägt. Nicht auf die Einsicht
eines obersten Kriegsherrn (die uns die Mürwiker Rede bewies) oder der
obersten Heeresleitung (welche die alkoholfreie Mobilmachung durchführte)
kommt es mehr an, sondern auf die Durchdringung des ganzen Volkes mit
besserer Erkenntnis der Gefahren des Alkohols. Und hier darf man im
Gemeindebestimmungsrecht einen wertvollen Erziehungsfaktor erblicken.
rkämpfung und Durchführung erfordern eine einsichtsvolle Majorität. Denn
jede Anwendung dieses Gesetzes stellt die Abstimmungsberechtigten vor
eine Entscheidung, die sie nötigt, sich mit der Bedeutung der Alkoholirage
zu beschäftigen. Die Gleichgültigkeit der Allgemeinheit ist der wertvollste
undesgenosse des Alkoholkapitals. Diese Gleichgültigkeit aufzurütteln, ist
rof. Schmidts Schrift ein besonders wertvolles Mittel in einer Zeit, da
246 Besprechungen.
vaterländisch einsichtsvolle — aber in Sachen des Alkoholismus noch durch-
aus einsichtslose — Teile unseres Volkes sich gern mit den Lehren des
verlorenen Krieges beschäftigen.
Dr. Brunzlow, Gen.-Oberarzt a.D.
ehem. Div.-Arzt 4. Kav.-Div.
Trunk und übermäßiger Salzgenuß.
Im Verlag von Fr. P. Lorenz, Freiburg i. B., ist im vorigen Jahre in
2., vermehrter und verbesserter Auflage ein Buch von Dr.med.G.Riedlin,
prakt. Arzt in Herrenalb, erschienen: „Das Kochsalz als Gewürz und Krank-
heitsursache und seine Beziehungen zur Kultur‘, das vermöge seines reichen
Gedanken- und Tatsacheninhalts die ernste Beachtung wie der ärztlichen,
so breiterer Kreise verdienen dürfte. Immer wieder zeigt der Verfasser
auch sein Verständnis für die Alkoholfrage.. Er mißt aber in gesundheit-
licher Hinsicht neben ihr der Fleisch- und insbesondere der Salzfrage
(„chronische Salzvergiftung‘‘) eine wohl ebenso große Bedeutung bei.
Zur Beleuchtung der nach dem Verfasser und manchen andern Beob-
achtern häufigen Zusammenhänge zwischen Salz- und Alkoholmißbrauch
oder Parallelität zwischen Salz- und Alkoholwirkung seien aus dem Buche
die folgenden Abschnitte wiedergegeben:
„Eine Lehrersfrau auf dem Lande verbraucht viel Salz, etwa 1 Pfund
in 10—12 Tagen für 3—4 Personen. (Es folgt eine kurze Angabe der
Krankheitszustäinde von Frau und Tochter, worauf fortgefahren wird:)
Der Mann dieser Lehrerfrau war ein Trinker. Die milde Kost besserte
seinen Zustand, er wurde Mitglied eines Abstinentenvereins und lebt jetzt
anständig und nüchtern. Das Salz hatte hier eine „Familienepidemie‘ be-
wirkt, mehrere Krankheiten flossen aus einer Quelle.“ |
„Das Salz unterhält oder begünstigt Katarrhe und Entzündungen und
verhindert oder erschwert die Heilung, ähnlich dem Alkohol. Ebenso ver-
zögert sich die Heilung von Wunden unter der Reizwirkung des Salzes.
Später wird man völlige Enthaltung vom Salz oder doch größte Mäßigkeit
in seinem Gebrauch ebenso verlangen wie heute bezüglich des Alkohols.
Man wird einsehen, daß der Kampf gegen den Alkohol fast nutzlos ist ohne
Aufgeben des Salzgenusses in den heute üblichen Mengen.“
„Irunksüchtiger Landwirt: Herzschwäche, geschwollene Füße, ver-
zweifelte Stimmung, Lebensüberdruß. Verordnung: Salzarme Kost mit
sehr wenig Fleisch, Kräutertee, milde Wasseranwendungen und Suggestion
heilen diesen Mann, der das Kreuz seiner Familie war und jetzt seit fünf-
zehn Jahren gesund ist und arbeitet wie ein junger Mann:
Schuld an der Trunkenheit war hier die Frau des Landwirts mit ihrer
„kräftigen Kost‘ aus dem Salzfaß! So werden Tausende von Männern zu
Säufern gemacht, weil die Frauen nicht kochen können. Macht den Männern
keinen Durst, so werden sie keine Säufer!
Aehnlich verhält es sich mit der Rauchsucht, diesem verbreiteten,
schmutzigen Laster. Der vom Salz gereizte Organismus verlangt erst
Alkohol, dann den Reiz des Tabaks.“
Auch an den Sportsiegen der Vegetarier, die, „soviel uns bekannt, aus-
schließlich dem Nichtgenuß von Fleisch und Alkohol zugeschrieben wurden“ ;
kommt nach der Ueberzeugung Riedlins ihrem geringen Salzverbrauch ein
Teil Verdienst zu. —
Man wird zugeben müssen, daß diesen Ausführungen ein tüchtig Korn
richtiger Beobachtung zugrunde liegt und wertvolle Anregungen zu ent-
nehmen sind. J. Flaig.
Schrifttum.
Uebersicht über die wichtigsten Veröffentlichungen
der Jahre 1924 und 1925*).
Zusammengestellt von Dr. J. Flaig.
, Aus anderen Ländern ®).
Amerika.
ıti-Saloon League Year Book 194.
verl. der Anti-Saloon League of America,
Westerville, Ohio, l
»gusat, H.: Das Alkoholverbot in den
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sohn, Berlin.
"cod, R.: Die Prohibition in den Ver-
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Ausanne.
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'örker Irrenanstalten mit besonderer Be-
ücksichtigung der Alkoholikeraufnahmen.
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Großbritannien.
€, ). T.: The education of the empire.
n: National Temper. Quart. 1924. Nr.
7, S. 103—112.,
übrigen s. auch Carter unter III. 4.
‚Niederlande,
eizend... unter III. 7, Welzenbach
mter TII, 2. Í
Schweden, i
tbn: Le système des restrictions indivi-
luelles. In XVIIe Congrès internat. ...
5. 182—189, 1924, we
a. Ostseestaaten.
tcod, R.: Present situation of our mo-
ment in the Northern countries. In:
ctra Ztschr. g, d. A. 1924, Nr.5, S. 24i
‚Schweiz,
'her& Jahre Blau-Kreuz-Arbeit.
‘tban Wilheim Nabholz, ein Lebensbild,
er, v, R. Schwarz; Das Basler Blau-
cherei des Deutschen Vereins g. d. Alk.
gliedern des Vereins frei (i. allg. Be en
e
Pönlichkeiten egen eine mäßige
*) Dieser Ab A
Kreuz-Haus 1899—1924, Jubiläumsbericht
von Joh. Hasler. 1924. Agentur des
Blauen Kreuzes, Basel.
Im übrigen s. auch Schweiz. Taschen-.
kalender unter III. 7.
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S. 145—151.
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_ _ 0 und alkoh,. Getränke,
2. Herstellung (technische); Erzeugung
und chemische Zausammensetzun
Graphische Darstellungen über die
Lage des deutschen Weinbaues in der
Vergangenheit und Gegenwart. (lu Dar-
stellungen mit Erläuterungen.) Winzerver-
band für Mosel, Saar und Ruwer. 1925 (?).
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Gerhardt: Der Kampf um die Ideale des
Gasthausgewerbes. 30 S, 1924. Verlag
„Der Bote“, Berlin NW. 6.
Hannovers Gaststätten. Dem stadt-
hannoverschen Hotel- und Gastwirts-
ewerbe gewidmet vom Hannoverschen
urier. (Enthält u.a. Aufsätze über „Hotels
und Gaststätten in Verkehr und Wirt-
schaft“, „Hotel- und Gaststättengewerbe*“,
„Bedeutung und Gefährdung des Fremden-
verkehrs“.) 1925. Hannoverscher Kurier,
Hannover. i
Koller, A.: Der Alkoholverbrauch in den
verschiedenen Ländern. In: Intern. Jahrb,
des Alkoholgegners 1925—26, S. 141—152.
1925. Intern. Bür. z. B. d. A., Lausanne.
— La production et la consommation
des boissons TA s dans les diffé-
rents pays. 98 S. 1925. Intern. Bur. g. d. Alk.,
Lausanne.
5. Anderweitige Verwendung der Roh-
(Ausgangs-) und Nebenerzeugnisse,
Baumann, J; Gärungslose Früchtever-
wertung, 2. Teil. 31. - 40. Taus. 76 S. 1925.
Verl. Eugen Ulmer, Stuttgart.
8. Alkoholkapital, Alkoholgewerbeu.Be-
kämpfung der Antialkoholbewegung.
Jahrbuch der Berufsverbände im
Deutschen Reiche. Ausg. 1925. Hrsg. v. d,
Reichsarbeitsverwaltung. 30. Sonderh. z.
Reichsarbeitsbl. 190 S. Verl. des R.-Arb.-Bl.
(R. Hobbing), Berlin SW. 61.
I.Wirkungen d. Alkoholgenusses.
a i inienn = Aaland -aoaaa
1. Allgemeines, Statistisches,
Sammelwerke usf,
Statistisches. In: Intern, Jahrb. d. Al-
koholg. 1925—26, S. 153—200. 1925. Int. -
Bur. g. d. Aik., Lausanne.
*) Die Mehrzahl der hier angezeigten Veröffentlichungen befindet sich in der umfassenden
Berlin-Dahlem, deren r H Gai Behörden und
rsatz der Zusendungskosten), ande
ebühr (und Zusendungskostenersatz) offen steht.
schnitt war noch aus der vorletzten Nummer zurückgestellt.
rn Stellen und
248 Schrifttum.
Stoddard, C. F.: Scientific phases of the
alcohol problem. In: Anti-Saloon League
Year Book 1925, S. 59 —68. 1925. Anti-Saloon
League of America, Westerville, Ohio.
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Laarss, R.H.: Dämon Rausch. Eine Ab-
handlung über den Mißbrauch von Be-
täubungsmitteln (Opium, Morphium, Ko-
kain, Aether, Haschisch u. a.). Abschn. 8
(S. 51-54): „Tabak und Alkohol“ (dieser
auch sonst mehrfach berührt). 74 S. 1925.
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von „Alcohol as a medicine“, Kap. IX von
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Im übrigen s. auch: Neumann unter IlI. 9,
Larsen-Ledet: V.7, Gesetz... .: V.11,
Aktiebolaget: V. 18 (nächstes Heft).
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An unsere Konfirmanden! 85. 1925..
ugend- und Schulabt. der Hessischen
a Rede g. d. A., Darmstadt.
Lindrum, L.: Zwölf Lehrproben zur Àl-
koholfrage. 4. Aufl. 84 S. 1925. Neuland-
Veri., Hamburg 30.
Smola, R.: Zeitgemäße Behandlung der
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schule. 16 S. 1923. Deutscher Verl. f. Jugend
und Volk, Wien I. |
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frage, 1925, H. 2, S. 91—97.
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Schmidt, H.: Warum haben wir den Krieg
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Hamburg 3. Nachwort zur 2. Aufl. ë S.
end.
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Gonser, i.: Alkohol u. Verkehrssicherheil.
19 S. 1825. Verl. „Auf der Wacht“.
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Nein. Eine Predigt von unserem ja in
Nein im Kampf gegen den Alkohol. 16 S.
1925. Norddeutscher Männer- u. Jünglings
bund, Hamburg 3. d
Hercod, R.: The christian churches ie
the fight against alcoholism. The catho |
churches. In: Int neb a Akoh E 1025) |
S. 51—67. Protestant churches: S. ;
1925. Int. Bür. z. B. d. Alk., Lausanne. if
Im übrigen s. auch: An unsere Konlir
manden! unter Ill. 3.
N ne m Er a a ne ner
Druck von Kupky & Dietze (Inh.: C. und R. Müller), Radebeul-Dresden.
a . HERAUSGEGEBEN
' im Auftrage der
_ Deutschen Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus
und der
Internationalen Vereinigung gegen den Alkoholismus
Be unter Mitwirkung
e namhafter Fachleute aller Länder
pa von
F Präsident a. D. Dr. Reinhard Strecker
oog und Professor Dr. med. h. c. I. Gonser
- In der Schriftleitung
à Dr. R. Kraut und Dr. J. Flaig
- Preis des Jahrganges (für In- und Ausland) 6 Goldmark
Preis des einzelnen Heftes: 1,25 Goldmark
BERLIN-DAHLEM
‘ Verlag „Auf der Wacht‘
ie 1925
Die Alkoholfrage erscheint unter Mitwirkung von:
Abel, Jena; Amaldi, Florenz; Bérenger, Paris; Bumm, Berlin; H. Carton de Wiart, Brüssel; Cuza
lassy; Dalhoff, Kopenhagen; Danell, Skara; Delbrück, Bremen; van Deventer, Amsterdam
Donath, Budapest; Endemann, Heidelberg; Friedrich, Budapest; Fuster, Paris; Gaule, Zürich
Geill, Viborg; Gießwein, Budapest; von Gruber, München; Hansson, Oslo; Haw, Leute
dorf; Henderson, Chicago; Holmquist, Lund; Kabrhel, Prag; Kaufmann, Berlin; Kelynaci
London; Kerschensteiner, München; Kiaer, Oslo; Kögler, Wien; Latour, Madrid; vo
Lewinsky, Moskau; von Liebermann, Budapest; Earl of Lytton, Herts; Masaryk, Prag; Meye)
Columbia; Minovici, Bukarest; Nolens, Haag; Oseroff, Moskau; jPeabody, Cambridge (U.S.A.
Pilcz, Wien; Reinach, Paris; Reinitzer, Graz; Ribakoff, Moskau; Saleeby, London; Sangrı
Madrid; Schellmann, Düsseldorf; Schiavi, Mailand; Sherwell, London ; Spiecker, Berlin: vo
Strümpell, Leipzig; Stubbe, Kiel; Szterenyi, Budapest; Tahssin Bey, Konstantinopel; Tezuks
Nagoya; Tremp, Benken (Schweiz); Viavianos, Athen; F. Voisin, Paris; Paul Weber, Jen
Westergaard, Kopenhagen; Ziehen, Halle a. S.’ s
Verantwortlich für. Schriftleitung und Verlag: Prof. Dr. med. h. c. I. Gonseil
Berlin-Dahlem, Werderstr. 16. i
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Inhalt des Heftes 5.
I. Abhandlungen.
1. Strecker, Die Genfer Konferenz ee er A Dei
2. Klesse, Beziehungen zwischen Alkoholkonsum und Nahrungsspielraum
3. Plank, Belastung der öffentlichen Finanzen durch die Trunksucht .
4. Snell, Eine Denkschrift, über die Notwendigkeit der Schaffung eines diini
Trinkerfürsorgegesetzes ; š
5. v. Egloffstein, Zeugenaussage und Trunk . i ae A , au
D: Meist, Alkon: une SICIR a e aaor a te er 3
II. Mitteilungen.
1. AusVersicherungsanstalten: Die Landesversicherungsanstalten Sachsen 4
und Schleswig-Holstein j i i £ ker NS
2. Aus der Trinkerfürsorge: Trinkerfürsorge in Pforzheim — Trinkerfürsorge-
stelle Lüdenscheid i. Westf. — Von der Trinkerheilstätte „Stift Isenwald® —
\ Aus dem Jahresbericht 1924 der Trinkerheilstätte Ellikon — :
3. Aus Vereinen: The National Temperance League — Bezirksverein Stuttgart
des deutschen Vereins g. d. A. De ea ren
4. Verschiedenes: Tatsachenmitteilungen vom amerikanischen Alkoholverbot.
— Aus dem englischen Inselreiche — Die Berliner Gastwirtsmesse — Luden-
dorifs Stellung zur Alkoholfrage. — Was sollen wir trinken?
IN. Schrifttum. (Dr. J. Flaig).
Uebersicht über die wichtigsten Veröffentlichungen aus den Jahren 1924,25 ..
Die Genfer Konferenz.
| I. Bericht.
Von Dr. Reinhard Strecker.
Die Genfer Konferenz, welche am 1., 2. und 3. September über inter-
nationale Fragen der Alkoholismusbekämpfung beriet, war vom internationalen
Büro gegen den Alkoholismus einberufen und organisiert. Trotz dieses pri-
> vaten Charakters waren aber auch verschiedene Regierungen vertreten, be-
sonders die Ostseestaaten, welche kürzlich den Vertrag von Helsingfors ab-
en haben, darunter erfreulicherweise auch Deutschland. Herr
eneralkonsul Aschmann-Genf wohnte der Konferenz als Regierungsvertreter
bei, während die Reichshauptstelle durch Geh. Rat Weymann, Prof. Gonser
und den Verfasser dieser Zeilen vertreten war.
Die Konferenz wies im Ganzen etwa 90 Teilnehmer auf. Ihr Vorsitzender
war der frühere holländische Ministerpräsident Jonkheer Ruys de Beeren-
brouck. Geh. Rat Weymann wurde zum Vizepräsidenten gewählt, während
Verf. dieser Zeilen als Vizepräsident der Schmuggelkommission deren erste
Sitzung zu leiten hatte.
Die Konferenz teilte nämlich ihre Arbeiten unter drei Kommissionen auf,
deren eine die Alkoholfrage in den Kolonien, die zweite die Konflikte zwischen
Weinexport- und Verbotsländern, deren dritte die Schmuggelbekämpfung im
eigentlichen Sinne zu behandeln hatte. Am 3. Tage der Konferenz wurden
in einer abschließenden Plenarsitzung die Resolutionsentwürfe der Kommis-
sionen noch einmal durchgesprochen und mit einigen Aenderungen meist
einstimmig angenommen.
Die Koni tene hatte sich zur Aufgabe gesetzt, einmal in kurzen Forde-
rungen zusammenzufassen, was unter Berücksichtigung aller gegenwärtigen
Schwierigkeiten doch auch heute schon auf dem Gebiete der Älkoholfrage
an gemeinsamen internationalen Schritten möglich erscheint. Grade bei
dieser Beschränkung ihrer Aufgabe darf sie wohl hoffen, eine Arbeit ge-
leistet zu haben, die bei den Regierungen, bzw. beim Völkerbund als beacht-
liches Material für künftige gesetzgeberische Akte betrachtet werden kann.
Eine äußerst wertvolle Unterlage für die Beratungen der Schmuggel-
kommission war der Vertrag von Helsingfors. Eine Reihe von Bestimmungen
konnten aus ihm ohne weiteres genommen werden mit dem Wunsche, daß
auch die übrigen Kulturstaaten der Welt sie sich zu eigen machen möchten.
Hierher gehören die Bestimmungen über den Ausschluß kleiner Schiffe unter
100 Tonnen, die zu schwer zu kontrollieren sind, vom legitimen internationalen
Alkoholgeschäft; ferner die Ausdehnung der Staatshoheit zur See, soweit
die Bekämpfung des Ba | u das erforderlich macht und die
Staatshoheit benachbarter Länder nicht verletzt wird; die Konferenz hielt
allerdings 12 Seemeilen auch schon nicht mehr für ausreichend, sondern be-
zeichnet 20 Seemeilen als gegenwärtig erforderlich und fügte im Hinblick auf
künftige technische Weiterentwicklungen des Verkehrs die allgemeinere For-
mmulierung hinzu: „eine solche Ausdehnung des Herrschaftsbereiches, wie sie
sich jeweilig zur wirksamen Unterdrückung des gesetzwidrigen Alkohol-
handels als notwendig erweist“.
Auch entspricht die Forderung gegenseitiger Unterstützung der Zoll- und
Greenzbehörden sowie der gegenseitigen Auskuniftserteilung den Verabredungen
von Helsingfors. Wenn in letzteren die Gültigkeit auf alkoholhaltige Getränke
von über 16 % beschränkt wird, so ist das natürlich eine zeitlich und lokal
begründete Formulierung, welche sich die Genfer Konferenz nicht zu eigen
machen konnte. Hier werden künftig Verträge immer auf die jeweilig gelten-
den Gesetze der beteiligten Staaten Rücksicht nehmen müssen. So sollte
sinngemäß nach Verbotsländern überhaupt keine Ba AA ae A von
anderen Ländern mehr erteilt werden, eine Forderung, die von der Genfer
Konferenz einmütig als korrekt anerkannt wurde. Alkoholexporteure sind
n Å=
250 Abhandlungen.
auch nach dem Vertrag von Helsingfors schon verpflichtet, schriftliche Er-
En vorzulegen, die Namen und Bestimmungsort des Schiffes angeben.
Sie sollen darüber hinaus innerhalb bestimmter Frist auch eine amtliche Be-
scheinigung der Zollbehörde des Einfuhrlandes beibringen, wonach die Ge-
tränke gesetzmäßigerweise eingeführt werden können.
Die Genfer Konferenz würde es am liebsten sehen, wenn die Ausfuhr
geistiger Getränke in jedem einzelnen Fall nur auf besondere Erlaubnis zu-
er würde und der Alkoholhandel in dieser Beziehung mit dem Waffen-
andel an oben würde. Man begnügt sich aber in diesem Falle mit
einem bloßen Wunsche, weil sich im Augenblick alle Schwierigkeiten einer
solchen Regelung in den einzelnen Ländern nicht übersehen lassen. Handelt
es sich dagegen bei einem Alkoholexport um begründeten Verdacht, daß
Schmuggelabsichten bestehn, so hält es die Konferenz auch heute schon für
möglich und nötig, daß der Exporteur zunächst die im Heimatlande vor-
Beer Abgabe hinterlegt, deren Rückerstattung erst stattfindet, wenn
egitime Einfuhr am Bestimmungsort nachgewiesen werden kann.
Bei allgemeiner Durchführung solcher Bestimmungen würde dem ver-
brecherischen Alkoholschmuggel das Leben wenigstens schon erheblich saurer
gemacht als heute. Durchgesetzt werden können aber solche Bestimmungen.
nur, wenn hinter ihnen die öffentliche Meinung der Welt steht. Das bedeutet,
daß sich die Erkenntnis verbreiten muß, daß der Alkoholschmuggel ein |
Verbrechen gegen Wirtschaft, Gesundheit und Moral der Völker ist. In diesem
Sinne muß namentlich von den Tageszeitungen dringend gefordert werden,
daß sie nicht den Alkoholschmuggel beschönigen oder wohl gar als eine
Art Heldentum feiern. In einer besonderen Resolution legte die Schmuggel-
kommission auch diesen moralischen Appell an die Welt fest.
Für die Kolonien stützte man sich auf die Vereinbarungen von St. Ger-
main-en-Laye, wobei man den Ausdruck „Handelsalkohol“ in Artikel 4 in
dem Sinne gedeutet haben will, daß darunter nicht nur Branntwein, sondern
alle berauschenden Getränke zu verstehen sein sollen. Wirksamer Schutz der
Eingeborenen gegen diese Getränke wird aber letzten Endes auch nur dann
für möglich erachtet, wenn die eingewanderte Bevölkerung mit dem Beispiel
strengster Nüchternheit vorangeht. Denn wer nicht einmal sich selbst zu
erziehen vermag, ist auch nicht berufen, andere zu erziehen.
Was die Konflikte zwischen Verbotsländern und Weinbauländern betrifft,
so gibt es da nur eine Lösung, welche den Wirtschaftsinteressen der letzteren
entspricht, ohne das Selbstbestimmungsrecht der ersteren in unwürdiger Weise
zu vergewaltigen. Es muß mit allen Mitteln moderner Technik die alkohol-
freie Verarbeitung und Konservierung der Trauben gefördert werden. Hier
liegen Möglichkeiten vor, die, wie das Beispiel Kaliforniens zeigt, von den
europäischen Ländern nur erst in der allerunzureichendsten Weise ernstlich
erprobt werden.
‚ „Angenehm unterbrochen wurden die Arbeiten der Konferenz durch eine
Einladung von Frau Appard nach ihrem entzückenden Landgut am Genfer
See. Da konnten die Teilnehmer der Konferenz im Schatten der herrlichen
Parkbäume noch manch wertvollen privaten Meinungsaustausch pflegen, der
die Beziehungen der Alkoholgegner über Ozeane und Kontinente hinweg
auch persönlich festigte.e Und Gleiches gilt von dem Frühstück, zu dem das
Internationale Büro nach dem berühmten Hötel des Bergues eingeladen hatte.
Sicherlich haben alle Teilnehmer das gastliche Genf mit den besten Eindrücken
verlassen. Die Beschlüsse der Konferenz aber, die es nun gilt, Regierungen,
Parlamenten, Zeitungen und Versammlungen vorzulegen, werden uns in unserm
verschiedenen Ländern und Organisationen noch Arbeit in Hülle und Fülle
geben.
ll. Entschließungen.
Kommission I, Kolonien.
1. Die Konferenz gegen den Alkoholismus beglückwünscht die Mandat-
kommission des Völkerbundes für den Ernst und Te Gewissenhaftigkeit, mit
welcher sie die Frage des Alkoholismus und seiner Folgen behandelt.
Strecker, Die Genfer Konferenz. 251
Sie stellt mit Befriedigung fest, daß auf dem Fragebogen der Mandat-
kommission die Alkoholfrage zusammen mit den Fragen hinsichtlich der
anderen sozialen Betäubungsmittel aufgeführt ist.
2 Die Konferenz spricht den Wunsch aus, daß man fortfahren möge
auf strenge Beachtung der Bestimmungen der Vereinbarung von St. Germain-
eu-Laye zu dringen, insbesondere in bezug auf Art. 4, in der Meinung, daß
der Ausdruck „Handelsalkohol“ (trade spirits) alleberauschenden Ge-
trinke umfassen soll.
Außerdem stellt die Konferenz den Wunsch auf, daß das Verbot jeder
Art gebrannter Getränke auf alle Einwohner der Kolonien ausgedehnt werde,
ohne Rücksicht auf Farbe oder Rassenzugehörigkeit.
Die Konferenz schlägt ferner vor:
| 3. daB zur Verhinderung des Schmuggels die Zollgebühren in allen
un ieh und so hoch als möglich angesetzt und ın Gold berechnet
en sollten.
4. daß die Kolonialregierungen für ausreichende Beschaffung einwand-
freien Trinkwassers besorgt seien und den Verkauf gesunder, alkoholfreier
Getränke an die Eingeborenen auf alle Weise begünstigen,
5. daß der Völkerbund ein ständiges, internationales Büro bestelle zum
‚ Studium der Alkoholfrage und der sozialen Bedeutung des Alkoholkapitals
in allen Kolonien,
. 6. daß das Interesse der eingewanderten Bevölkerung der Kolonien am
| a gegen den Alkoholismus geweckt werde und daß man die Auswahl
und Beförderung der Beamten und Angestellten der Kolonialverwaltung zum
Teil von ihrem Verhalten zum Alkohol abhängig mache.
1. Die Konferenz richtet an die eingewanderte Bevölkerung der Kolonien
` die dringende Aufforderung, den Eingeborenen das persönliche Beispiel der
: Nüchternheit zu geben und aus freien Stücken, zu Gunsten des sittlichen Fort-
. schrittes der Kolonie, auf den Genuß berauschender Getränke zu verzichten.
Kommission II, Schmuggel: 1. Entschließung.
-= Die Konferenz weist mit Nachdruck darauf hin, daß es Pflicht der Bürger
' aller Länder ist, die Gesetze ihres Landes zu beachten, die zum Zwecke haben,
den Alkoholismus zu bekämpfen. So verschieden diese Gesetze von Land zu
auch sind nach der Art und Weise, wie sie den Alkoholhandel be-
schränken oder verbieten, so stellen sie doch für jedes Land die wohlerwogene
Auffassung und Entscheidung seiner gesetzgebenden Behörde dar. Die Kon-
lerenz ist der Ansicht, daß Versuche seitens der Angehörigen eines Staates,
die Gesetze eines andern Staates zu umgehen, sei es durch Älkoholschmuggel
nach jenem Lande oder durch sonstige Verletzung derselben, mit aller Strenge
beurteilt zu werden verdienen, nicht allein als Zuwiderhandlungen gegen den
Sian und den Wortlaut des Gesetzes, sondern auch aus dem Grunde, weil
ige Handlungen leicht zu Mißstimmungen oder Konflikten zwischen
den Staaten führen können. Die Konferenz lädt ferner die Regierungen aller
Länder ein, einander beizustehen in der Bekämpfung von Versuchen, die ge-
setzlichen Bestimmungen irgend eines Landes durch Alkoholschmuggel zu
übertreten. Sie bittet alle guten Bürger, die Gesetze jedes Volkes zu achten,
und ersucht die Presse der ganzen Welt, den Geist der Achtung vor dem
Gesetze, sei es national oder international, zu pflegen.
Kommission Il, Schmuggel: 2. Entschließung.
Herstellung, Transport, Einfuhr, Ausfuhr, Verkauf und Verbrauch der
tigen Getränke unterstehen in allen Kulturländern der staatlichen Rege-
uch Besteuerung, Einschränkung oder Verbot, je nach den Staats-
nissen.
Die Wirksamkeit solcher gesetzlicher Bestimmungen wird in verschie-
denen Staaten ernstlich bedroht durch den Schmuggel, den Angehörige anderer
252 Abhandlungen.
Staaten mit oder ohne Unterstützung der eigenen Staatsangehörigen betreiben.
Dadurch wird nicht nur das Wohl des betroffenen Staates geschädigt, sondern
es werden leicht auch die guten Beziehungen zu andern Staaten getrübt und
unerwünschte Zwischenfälle oder Verwicklungen geschaffen.
Daher ersucht die Konferenz die Regierungen der Kulturstaaten und
den Völkerbund, unverzüglich und ernstlich die verschiedenen Fragen zu
prüfen, die sich aus diesem ungesetzlichen zwischenstaatlichen Handel mit
solchen Getränken ergeben. Sie unterbreitet der Beachtung dieser Regierungen
und des Völkerbundes die folgenden Vorschläge als Grundlage für eine inter-
nationale Uebereinkunft, durch welche die bestehenden Mißbräuche wesentlich
vermindert und schließlich beseitigt werden können.
I. Die Vertragschließenden verpflichten sich, jede möglichen Maßnahmen
zu treffen, um zu Land, zur See und in der Luft jeden Handel zu unterdrücken.
der aus ihrem Land in eines der Vertrag schließenden Länder geht und eine
Verletzung der dort bestehenden Gesetze bedeutet.
II. Unbeschadet der in den einzelnen Staaten herrschenden Gesetze über
die Grenze des Staatshoheitsgebietes gestatten die Vertrag schließenden Par-
teien einander eine solche Ausdehnung des Herrschaftsbereiches, wie sie sich
jeweilig zur wirksamen Unterdrückung des gesetzwidrigen Alkoholhandels als
notwendig erweist — gegenwärtig bis auf mindestens 20 Seemeilen —, un
die Gesetze des andern Staates durch Durchsuchung oder Beschlagnahme der
Schiffe durchzuführen, die offensichtlich beim Schmuggel betroffen werden.
Falls solche Schiffe beim Anrufen innerhalb der Zone über diese hinaus ent-
weichen, werden die Zollbehörden des beteiligten Staates ermächtigt, diese
Schiffe auf die offene See hinaus zu verfolgen, sofern nicht das Hoheitsgebiet
eines andern Staates berührt wird, und sıe so zu behandeln, als wären sie
innerhalb des Herrschaftsbereichs dieses Staates betroffen worden.
HI. Die Ausfuhr geistiger Getränke darf nur auf Schiffen einer bestimmten
Größe — heute mindestens 100 Tonnen — gestattet werden. |
IV. Die Vertragschließenden kommen überein, daß keine behördliche |
Bescheinigung für die Ausfuhr geistiger Getränke nach solchen Ländern erteilt
werden darf, deren Regierung mitgeteilt hat, daß die Einfuhr geistiger
Getränke nach solchen Ländern erteilt werden darf, deren Regierung mitgeteilt
hat, daß die Einfuhr geistiger Getränke beschränkt oder verboten ist, sei es
denn, daß eine Bescheinigung der Behörden dieses Landes vorgelegt werde,
nach der die beabsichtigte Ausfuhr gesetzlich ist.
Die Vertrag schließenden Staaten vereinbaren den Wortlaut einer gleich-
mäßig vom Exporteur der geistigen Getränke auszufüllenden, vom Führer des
Schiftes gegenzuzeichnenden Erklärung, in welcher Art und Menge der aus-
zuführenden Getränke, Name und Bestimmungsort des Schiffes angegeben
sind, wobei von ihm die Verpflichtung zu übernehmen ist, daß die aus-
geführten Getränke ausschließlich am Bestimmungsorte ausgeladen und nicht
in ein anderes Land weiter verfrachtet, aber auch nicht auf hoher See in
esetzwidriger Weise umgeladen werden. Der Exporteur hat der Zollbehörde
es Ausfuhrhafens innerhalb bestimmter Frist eine amtliche Bescheinigung |
der Zollbehörde des Einfuhrlandes beizubringen, daß die Getränke in gesetz- Ä
mäßiger Weise dort eingeführt worden sind. |
ein Schiff mit Alkoholladung darf vor Erfüllung oben genannter Be
dingungen den Hafen verlassen. |
Die Konferenz ist der Ansicht, ohne im Augenblick alle Schwierig-
keiten in den einzelnen Ländern übersehen zu können, daß der direkteste Weg
zur Unterdrückung des Schmuggels der sein würde, daß die Ausfuhr geistiger
Getränke durch die Vertragsstaaten in jedem einzelnen Fall nur auf besondere
Erlaubnis zugelassen würde, wie es beı der Ausfuhr von Waffen und anderen
Gegenständen bereits geschieht.
V. Wenn der Verdacht besteht, daß geistige Getränke ausgeführt werden
sollen in das Nachbarland eines Vertragstaates, der die im vorigen Para-
graphen erwähnte Mitteilung gemacht hat, und wenn die Umstände es wahr-
scheinlich erscheinen lassen, daß die Ladung zum gesetzwidrigen Weiter-
ien ie a i a ta E i
Strecker, Die Genfer Konferenz. | 253
transport in das Gebiet des andern Vertrag schließenden Staates bestimmt ist,
kommen die Vertrag Schließenden überein, daß die Hinterlegung der Abgabe,
die im Heimatlande vom inneren Verbrauch erhoben wird, Vorbedingung ist
für die Ausfuhr, und daß keine Rückerstattung des hinterlegten Betrages
stattfindet, bevor der Exporteur durch eine Bescheinigung der Zollbehörde des
Einfuhrlandes beweist, daß die Getränke dort in gesetzlicher Weise eingeführt
und die dortigen Verbrauchsabgaben bezahlt worden sind.
VI. Die aneinandergrenzenden Vertragstaaten werden eine Verständigung
treffen, daß ihre Zollbehörden zur Unterdrückung des Schmuggels zu Land,
Wasser und Luft zusammenarbeiten.
VII. Die Vertrag schließenden Länder werden die Erfüllung dieser Ver-
tragsbestimmungen durch Strafvorschriften sichern.
VIII. Die Vertrag Schließenden werden ihre beteiligten Behörden anweisen,
einander so weit als möglich über die Personen und Verhältnisse des
Schmuggels und die Schmuggelschliche auf dem Laufenden zu erhalten. Sie
werden einander auch sonst alle Mitteilungen machen, die geeignet sind, die
Bekämpfung des Schmuggels zu erleichtern.
Kommission Ill, Konflikte.
Die Internationale Konferenz gegen den Alkoholismus stellt in Erwägung,
daß jeder selbständige Staat das Recht hat, den Handel mit vergorenen und
gebrannten Getränken im Interesse der Volksgesundheit den ihm notwendig
erscheinenden Maßnahmen unterwerfen, die Forderung auf, daß die Alkohol
ausführenden Staaten beim Abschluß von Handelsverträgen den Einfuhr-
staaten nicht Bedingungen stellen dürfen wie: Aufhebung einschränkender
Maßnahmen, Einfuhr eines Mindestkontingentes, Verpflichtung, während der
an des Vertrages an der bestehenden Alkoholgesetzgebung nichts zu
ändern.
Andrerseits erkennt die Konferenz den Alkohol ausführenden Staaten das
. Recht zu, auf dem Wege freundschaftlicher Verhandlungen angemessene Kom-
- pensationen zu verlangen für den Fall, daß während der Dauer eines Handels-
vertrages die Ge tzBeDUNE des Einfuhrstaates im Sinne einschränkender oder
prohibitiver Maßnahmen abgeändert wird, vorausgesetzt, daß dieser Fall
veim Abschluß des Vertrages nicht ausdrücklich vorgesehen war.
Die Konferenz empfiehlt ferner, daß die Obst, namentlich die Trauben
produzierenden Staaten die Industrie der alkoholfreien Obst- und Trauben-
produkte kräftig fördern. Umgekehrt legt sie den Staaten mit einschränkender
oder prohibitiver Alkoholgesetzgebung nahe, nach Möglichkeit, insbesondere
durch Herabsetzung oder Aufhebung der Einfuhrgebühren, den Absatz von
Obst, Trauben und deren alkoholfreien Produkten zu begünstigen, um auf
diese Weise den Ländern einen Ersatz zu bieten, von denen früher alko-
holische Erzeugnisse bezogen worden waren. Dabei soll aber kein Jahres-
kontingent festgesetzt werden..
‚Selbstverständlich dürfen die oben erwähnten einschränkenden oder pro-
hibitiven Maßnahmen keinen schutzzöllnerischen oder fiskalischen Charakter
haben, sondern müssen ausschließlich hygienischen Zwecken dienen.
In Anbetracht der unleugbaren Analogie, die zwischen der Opium- und
der Alkoholfrage besteht, und in Erwägung, daß die Alkoholfrage für viele
Länder mehr Bedenin hat als die Opiumfrage, ersucht:die internationale
Konferenz gegen den Alkoholismus den Völkerbundsrat, zu prüfen, in welcher
ese sich der Völkerbund mit dem Alkoholproblem befassen könnte, wie
& bereits in bezug auf das Opium geschieht; dies besonders mit Rück-
sicht auf die Gefahr von Konflikten, die zwischen Alkohol ausführenden
aten und solchen mit einschränkender oder prohibitiver Alkoholgesetz-
dung entstehen können.
Die Internationale Konferenz gegen den Alkoholismus richtet an die
alkoholgegnerischen Vereinigungen aller Länder und an alle nationalen und
re
254 Abhandlungen.
internationalen Verbände, die sich mit der öffentlichen Gesundheitspflege be-
fassen, die dringende Einladung, im Gefühl der ‘internationalen Zusammen-
gehörigkeit aller Alkoholgegner alle Mittel praktischer, namentlich erziehe-
rischer und gesetzgeberischer Natur zur Anwendung zu bringen, die geeignet
sein können, den Absatz alkoholfreier Obst- namentlich Traubenprodukte zu
fördern. Denn einzig die Herstellung solcher Erzeugnisse im Großen und
ihr gesicherter Absatz stellt jene wirtschaftliche Lösung der Alkoholfrage dar,
welche der alkoholgegnerischen Bewegung in den Obst- und Weinbau treiben-
den Gegenden ermöglicht, sich weiter zu entwickeln ohne dabei wesentliche
ökonomische Interessen ihres Landes zu schädigen und sich damit unüberwind-
liche Hindernisse zu schaffen. |
Die Konferenz beauftragt das Internationale Büro gegen den Alkoholis-
mus, diese Entschließung den alkoholgegnerischen Vereinigungen aller Länder
sowie den Regierungen zur Kenntnis zu bringen, und auch weiterhin dieser
Frage seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken.
Beziehungen zwischen Alkoholkonsum
und Nahrungsspielraum.
Von Dr. med. Max Klesse,
Wir bringen im Folgenden mit Erlaubnis des
Verfassers einzelne Teile einer bisher nicht im
Druck erschienenen Berliner Doktorarbeit (vom
Frühjahr 1925).
Schriftleitung der „Alkoholfrage".
Ist Alkoholein Nahrungsmittel?
Der erfreuliche Rückgang des Alkoholkonsums in der Vorkriegszeit, der
durch die Nahrungsmittelnot im Weltkrieg in Deutschland eine außerordent-
liche Beschleunigung erfuhr, hat nach dem Krieg, wie später ausführlich
gezeigt werden wird, wieder einer erheblichen Steigerung Platz gemacht.
Angesichts der durch den Krieg und seine Folgen herbeigeführten Einengung .
des deutschen Nahrungsspielraums erscheint die Frage nach dem Wert des
Alkohols sehr berechtigt. Neben dem Genußwert wird ihm noch ein -
erheblicher Nährwert zugeschrieben, spricht man doch vom Bier ze
als „Hlüssigem Brot“. Welche Antwort gibt die Wissenschaft darauf f
Lange Zeit hatte man angenommen, daß der Alkohol eine Zeitlang Im
Blut zirkuliere und unverändert den Körper wieder verlasse, also keinen
Brennwert besitze.
Erst Binz und andere Autoren, besonders Atwater!) und Benedict'),
haben eine Lösung dieser Prage gebracht: Sie stellten fest, daß von dem
eingeführten Alkohol im Durchschnitt nur 1,9% unverändert durch Niere,
Haut und Lungen ausgeschieden werden, während über 98% im Kö zu
Wasser und Kohlensäure verbrennen (S. 259). Die Oxydation im Körper
ER verschieden schnell vor sich, je nach der Gewöhnung an Alkohol. Nach
hweisheimer’s?) Untersuchungen an Potatoren, mäßigen Gewohnbeits-
trinkern und Nichttrinkern fand sich, daß bei gleichen Gaben der Alkohol
bei Potatoren etwa in der Hälfte der Zeit (7!/» Std.) aus dem Blut ver-
schwindet wie bei Nichttrinkern (S. 312).
Aber der Alkohol verbrennt nicht bloß im Körper, dem er keinerlei
Verdauungsarbeit bereitet, da er von der gesamten Schleimhaut schon vom ;
Munde an resorbiert wird, sondern er verbrennt auch mit Nutzen im Körper. ı
Da Sauerstoffaufnahme und Kohlensäureausscheidung nach Alkoholgenuß nur ;
1) Atwater und Benedict, An experimental inquiry regarding the nutritive value of alcohol.
7) Schweisheimer: Der Alkoholgehalt des Blutes. d
Klesse, Beziehungen zwischen Alkoholkonsum und Nahrungsspielraum. 255
wenig wachsen, verbrennt der Alkohol also anstatt anderer Stoffe, die er spart
Aus den Untersuchungen Atwater’s und Benedict’s, die bestimmte Mengen von
Fett in der Nahrung durch entsprechende Alkoholgaben von gleichem Brenn-
wert ersetzten (72 g Alkohol, d. h. rund 500 Kalorien), geht dies exakt hervor.
Es gelang den Forschern auch, nachzuweisen, daß Aikohol bei seiner Ver-
brennung auch Eiweiß sparen kann; sie bestätigen damit Neumann’s?)
Versuch an sich selbst: Falls Alkohol Eiweiß sparen kann, muß die Stickstoff-
ausscheidung abnehmen, wenn man bei Stickstoffgleichgewicht zur bisherigen
Nahrung Alkohol zusetzt; oder aber das Stickstofigleichgewicht muß erhalten
bleiben, wenn durch Alkohol bestimmte Fett- und Kohlehydratmengen ersetzt
werden. Neumann setzte sich in einer Vorperiode zuerst ins Stickstoff-
gleichgewicht (N-Ausscheidung 11,93 g im Durchschnitt); in der folgenden
viertägigen Periode wurden von der bisherigen Nahrung 77 g Fett weg-
gelassen, was eine Mehrverbrennung von Eiweiß und Erhöhung. der Stick-
stoffausfuhr auf 13,79 g durchschnittlich zur Folge hatte. In der 3. Periode
wurde das fortgelassene Fett durch 100 g absol. Alkohol ersetzt: die Stick-
stoffausscheidung erfuhr in den ersten 4 Tagen dieser Periode eine weitere
Steigerung (im Durchschnitt auf 15,21 g). Vom 4. Tage an erfolgte ein rapides
Abfallen der Stickstoffausscheidung und hielt sich an den folgenden sechs
Tagen dieser Alkoholperiode auf 12,48 g. Als in der folgenden 4. Periode
der Alkohol beibehalten und das vorher iortgelassene Fett wieder hinzugefü
-= wurde, nahm die Stickstoffausscheidung entsprechend ab (auf 10,84 g). Zu
ähnlichen Schlußfolgerungen über die eiweißsparende Fähigkeit des Alkohols
gelangten Atwater und Benedict:
I. ”The offer no evidence to imply that alcohol cannot protect protein,
though they imply in some cases it may, at least for a time, fail to do so.“
II. ”On the other hand, they give very marked indications of its protein
protecting power.“ (S. 268.
Wenn also zu Beginn der’ Periode, in der Fett und Kohlehydrate durch
Alkoholmengen von gleichem Brennwerte ersetzt werden, eine Steigerung des
Eiweißzerfalles beobachtet wird, die nach einigen Tagen auf den normalen
Wert wieder herabsinkt, so muß man wohl annehmen, daß der Körper erst
nach einer Zeit der Gewöhnung die Fähigkeit gewinnt, den Alkohol wee
. bisher das Fett als Eiweißsparer zu verwerten.
Es hat sich also unzweifelhaft herausgestellt, daß der Alkohol im Körper
` verbrennt und Ponzipie) nicht bloß Fett und Kohlehydrate vertreten, sondern,
' wie diese, auc
Eiweiß sparen kann.
Neben dieser wissenschaftlichen Klarstellung ist die Frage am wichtig-
sten, ob Alkohol auch praktisch als Nahrungsmittel für den gesunden
Menschen empfohlen werden kann. Man wird fragen müssen, wie die aus
dem Alkohol gewonnenen Kalorien vom Körper verwendet werden:
l. Führt die schon nach mittleren Gaben eintretende Erweiterung der
Hautgefäße zu einem nennenswerten Wärmeverlust?
2. Wie wirkt Alkohol auf die Leistungsfähigkeit der Muskeln ein, und
in welchem Umfange läßt sich der Brennwert des Alkohols in
kinetische Energie umwandeln?
3. Welche Wirkung übt der Alkohol auf das Gehirn und dadurch auf
die Arbeitsleistung aus? `
4. Ist Alkohol teurer als die normalen Nahrungsmittel?
Ad 1. Atwater und Benedict fanden, daß die Erweiterung der Haut-
gefäße nach Gaben von 72 g absol. Alkohol us (in 6 Dosen) keine
erhebliche Steigerung der Wärmeabgabe zur Folge hatte. Erst nach sehr
großen, narkotisch wirkenden Mengen kommt es zu den bekannten Fällen
von Erfrieren Betrunkener, die teils auf verringerter Wärmebildung, teils auf
vermehrter Wärmeabgabe beruhen. |
Neumann : Die Bedeutung des Alkohols als Nahrungsmittel (Arch. f. Hygiene % Bd
u, $ 1-44) 8.5.30 u. Tafel l. ee
256 Abhandlungen.
Ad 2. Verschiedene Autoren, u. a. Hellsten’), haben Versuche „über
die Einwirkung des Alkohols auf die Leistungsfähigkeit des Muskels“ an-
Jeden Hellsten ließ in seinen ersten Untersuchungen die Muskeln sich gegen
ewichtsbelastung kontrahieren (,„isothonisches Regime“), pa ließ er im
Zwei Sekunden- Rhythmus die Muskeln auf eine so kräftige Feder einwirken,
daß kaum eine Verkürzung, sondern nur eine Spannungserhöhung zustande
kam („isometrisches Regime“). Bei den Experimenten unter isothonischem
Regime fand der Autor, „daß der Alkohol fast unmittelbar nach Genuß die
Leistungsfähigkeit erhöht; nach etwa 12—40 Minuten tritt dann eine Abnahme
der Leistungsfähigkeit zum Vorschein“ (S. 217). Diese Herabsetzung der
Arbeitsfähigkeit dauert mehrere Stunden, wodurch die Gesamtleistung nach
Alkohol deutlich verringert wird. Die dargereichten Alkoholmengen betrugen |
in allen Fällen 80 g reinen Alkohols. Zu den Versuchen unter isometrischem
Regime, die wenig zahlreich und in ihrem Ergebnis noch nicht als endgültig
anzusehen sind, schreibt Hellsten selbst: „Nach diesen allerdings wenig zahl-
reichen Versuchen zu urteilen, würde also der Alkohol bei isometrischem
Regime die Leistungsfähigkeit sowohl bei dem ausgeruhten als bei dem
müden Muskel steigern. Bei dem müden Muskel dauert diese Wirkung indes
viel kürzere Zeit (S. 217).“
Von ungleich praa praktischer Bedeutung für die Beurteilung, ob
Alkohol mit Vorteil in Muskelarbeit verwandelt werden kann, scheinen mir
A. Durig’s*) Geh- und Steigversuche an sich selbst auf der Sporner Alp zu
sein: Die ohne Voreingenommenheit von dem an durchschnittliche Alkohol-
mengen seit Jugend an gewöhnten D. unternommenen Steigversuche ohne und
mit Alkohol (30—40 g reinem Alkohol) hatten folgendes Ergebnis (S. 380):
Etfekt per Minute Wirkungsgrad
nach Alkoholgenuß: 1009 mkg 25,62%
ohne Alkoholgenuß: 1215 mkg 29,55%
Abnahme durch Alkohol: 206 mkg 3,93%
Somit Verluste in %
des Normalversuches 20% 133 %
Durig selbst beschreibt dies mit den Worten (S. 382):
„Es ergibt sich mit voller, unumstößlicher Eindeutigkeit, daß nicht
nur der Eftekt, und zwar in jeder einzelnen Strecke, sondern auch der
Wirkungsgrad (der Quotient aus produzierter Energie und dem Aufwand
der Energie für die Arbeitsleistung) gesunken ist. — — Dies ist jedoch
nur die eine Seite, die in Betracht gezogen ist. Wir müssen berücksich-
tigen, daß die Zeit, welche für die Durchführung derselben Arbeit
erforderlich war, vom normalen Versuch mit 2 Std. 40 Min. auf 3 Std. |
15 Min. gesteigert ist. Uebertragen wir diese Verhältnisse auf einen |
Arbeitstag, so würde dieselbe Arbeit ohne Alkohol in 8 Std. geleistet
werden, für die mit Alkoholgenuß rund 9 Std. erforderlich gewesen wären.“ |
Wenn dieser Versuch auch keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit
erheben darf, wenn auch andere Individuen und andere Arbeitsformen ver-
schieden hohe Leistungsminderungen aufweisen dürften, so erlaubt D.’s Ver-
suchsreihe doch den Schluß:
daß solche Leistungsminderungen nach Alkoholgenuß bei jeder über eine
kurzdauernde Kraftanstrengung hinausgehenden, regelmäßigen Tätig- |
keit unvermeidlich sind,
daß Alkohol als Kraftspender keineswegs an die normalen Nahrungsmittel
heranreicht.
. 9) Hellsten, Ueber die Einwirkung des Alkohols auf die Leistungsfähigkelt d. Muskels bei |
isometr. Arbeitsweise (Skand. Arch, f. Physiologie 1907, S. 201.17).
*) A.Durig: Ueber die Einwirkung von Alkohol auf die Steigarbeit (Pflügers Arch.! 13,Bd.16).
Klesse, Beziehungen zwischen Alkoholkonsum und Nahrungsspielraum. 257
„Die Ursache für den größeren Verbrauch ist jedenfalls zu einem großen
Teil in ungeschickterer ee und schlechterer Ausnutzung
der Wegverhältnisse gegeben (S. 397).
So bezieht sich Durig zur Erklärung dieser Erscheinung auf die nar-
kotische Wirkung des Alkohols. Den objektiven Minderleistungen steht bei
den Versuchspersonen im allgemeinen der Eindruck gegenüber, daß sie mit
Alkohol mehr leisten als ohne ihn, wenigstens ern Das hängt wohl
damit zusammen, daß eine kurzdauernde Arbeitsleistung durch Alkoholgenuß
steigen kann, und daß das Müdigkeitsgefühl durch die euphorische Wirkung
herabgesetzt wird. > |
Ad 3. Gerade diese Seite der Wirkung des Alkohols auf das Gehirn
verdient ganz besonders nk zu werden. Die Kenntnisse über
seine psychischen Wirkungen und dadurch auf die Arbeitsleistung sind vor
allem durch Kraepelin®), der in etwa 40jähriger Arbeit immer besser aus-
gearbeitete Methoden zur Prüfung der Alkoholwirkung auf die Gehirnarbeit ge-
schaffen hat, sehr erweitert worden. Es zeigte sich, daß die leichteren
Arbeiten, wie das addieren, weniger litten als Gedächtnis (Zahlen lernen) und
Auflassungsfähigkeit. Am stärksten wurden die inneren Ideenassoziationen,
die die Versuchsperson an ein Stichwort knüpfen sollte, in Mitleidenschaft
gezogen, indem sie durch äußere Klang- und Reimassoziationen ersetzt
wurden: z. B. statt „Kunst— Musik: Kunst— Dunst“. Beachtenswert ist, daß
nach einer mehrtägigen Alkoholperiode (80 g reiner Alkohol tägl.) die
ünstige Wirkung auch nach Fortlassen des Alkohols noch nicht völlig
ulgehoben ist, und z. B. bei Beginn einer zweiten Alkoholperiode 5 Tage
nach Aufhören der ersten die Wirkung viel stärker ist. Es ist schon eine
durch die Praxis des Alltags erhärtete Tatsache, daß gewisse Kategorien
von Kopf- und Handarbeitern bei gewohnheitsmäßigem Alkoholgenuß
weniger leisten (oder gar Unheil anrichten: Zug-, Autoführer u. a.)
als Ihre enthaltsamen Berufsgenossen. Kraepelin schreibt in der oben
zitierten Arbeit: „Im Hinblick auf anderweitige Erfahrungen (nicht bloß
der mitgeteilten Untersuchungsergebnisse — M. K.) ist es. wahrschein-
lich, daß allgemein schwierigere Leistungen unter dem Einflusse des
Alkohols mehr leiden als leichtere (Seite 453/4).“ Es verdient in diesem
Zusammenhange ganz besonders betont zu werden, daß ganz im Ge-
gensatz zu a pomen verbreiteten Vorstellungen gerade die schöpferische
Arbeit sehr wohl unter Alkoholgenuß leidet, was Goethe’) zu der Aeußerung
veranlaßte: „Schiller hat nie viel getrunken, er war sehr mäßig; aber in
Augenblicken körperlicher Schwäche suchte er seine Kräfte durch etwas
Liqueur oder ähnliches Spirituoses zu steigern. Dies aber zehrte an seiner
undheit und war auch den Produktionen selbst schädlich. Denn was
gescheite Köpfe an seinen Sachen aussetzen, leite ich aus dieser Quelle her.“
(Gespräch vom 18. 1. 1827.) Und am 11. 3. 1828: „Wollte er (der dramatische
Dichter) nun etwa durch geistige Getränke die mangelnde Produktivität
herbeinötigen und die unzulängliche dadurch steigern, so würde das allenfalls
auch wohl angehen, allein man würde es allen Szenen, die er auf solche Weise
gewissermaßen forciert hätte, zu ihrem großen Nachteil anmerken.“
Aus allen diesen Erwägungen und Erfahrungen geht hervor, daß der
Alkohol ein trügerischer Energiespender für Kopf- und Muskelarbeit ist, und
als Nahrungsmittel für den gesunden Menschen gar nicht in Frage gezogen
werden sollte, ganz abgesehen von den Krankheiten des Körpers und Geistes,
die nach längerem,: gewohnheitsmäßigem Alkoholgenuß so häufig auftreten.
Ad 4. Dazu kommt noch, daß Alkohol im Verhältnis zu den normalen
Nahrungsmitteln viel zu teuer ist; dies muß bei der Verminderung des Ein-
kommens fast aller Familien besonders ins Gewicht fallen und den Nachwuchs
schwer schädigen. Im: Januar 1925 erhielt man in Berlin im Kleinhandel
*) Psychologische Arbeiten: u.a. Ueber die Beeinflussung psych. Vorgänge durch regel-
mäßigen Alkoholgenuß. Von E. Kraepelin und E. hürz. Bd. 3, 1900. S. 417—457.
') Eckermann, Gespräche mit Goethe v. 18. 1. 27 u. 11. 3. 28.
Die Alkcholfrage, 1925. 17
258 Abhandlungen.
für 1 Reichsmark:
Ware Gramm Kalorien
Weizenmehl 2500 8125
Brot 2923 6440
Zucker 1500 6150
Palmin 667 5820
Margarine 667 5260
Naturbutter 238 1800
Kakao 313 1310
Rindfleisch 555 880
Schweinefleisch 411 820—1200
Liter Kalorien
Bier (Durchschnitt) 1 667 800—930
Monopolbranntwein 0,280 675
Korn i. Glasverkauf 0,166 443
An Stelle von 50 I Bier (dem durchschn. Kopfverbrauch der letzten Jahre)
kann man also kaufen:
75 kg Weizenmehl oder 12,33 kg Schweinefleisch
oder 88 kg Brot oder 16,5 kg Rindfleisch
oder 45 kg Zucker oder 20 kg Palmin
II.
Die Höhe der Nährstoffverluste durch Alkohol-
produktion und Alkoholkonsum.
Es muß nun gefragt werden, ob zu den Nachteilen, die die Verwendung
des Alkohols für den Einzelhaushalt mit sich bringt, noch solche für den
Volkshaushalt kommen; das wäre um so bedenklicher, „weil wir infolge des
Krieges und seiner Nachwirkungen von dem Weltmarkt mehr oder weniger
abgeschnitten und in weit stärkerem Maße als zuvor auf die Versorgungs-
möglichkeiten aus dem Inland, d. h. den „Nahrungsspielraum im engeren
Sinne“ angewiesen sein werden“ (Mombert S. 333). Es muß also geprüft
werden, ob mit der Produktion von Bier und Branntwein und mit ihrem
Konsum Nährstoffverluste verbunden sind, und wie hoch sie in jedem der
beiden Fälle sind. |
Brauprozeß: Den wichtigsten Grundstoff für die Biererzeugung
bildet das Malz, das erst aus der Gerste gewonnen werden muß; der für den
Brauprozeß wertvollste Bestandteil der Gerste ist die Stärke. Daher wird
auf hohen Stärkegehalt und entsprechend niedrigen Eiweißgehalt hoher Wert
gelegt. Ferner soll Braugerste möglichst trocken sein, nicht über 12% Wasser
enthalten. Feucht eingelahrene Gerste bekommt beim Lagern leicht einen
dumpfigen Geruch und büßt ihre Keimfähigkeit ein, d. h., sie verliert dadurch
es ihren Charakter als Braugerste. Feuchte Gerste muß daher fleißig nach-
handelt werden, damit sie gut austrocknet; das erfordert, fleißiges Um-
schaufeln des Kornes oder besser noch Behandlung mit künstlichen Trocken-
aparaten. Alsonurdasbeste Gerstenkom istfür den Brau-
prozeß brauchbar.
‚ Durch den Keimungsvorgang gehen je nach der Höhe der Betriebstechnik
im ganzen bei der Verwandlung der Gerste in Braumalz 9—15% der Nähr-
stofie verloren, im Durchschnitt 12% (vgl. Eltzbacher?). Weitere 25% Verluste
vom Nährwert der Gerste entstehen beim Auskochen des Malzes zur ur
der Würze, wovon allerdings die Biertreber als Viehfutter abzuziehen sind.
3—4% kostet der weitere Prozeß, wie die Gärung durch die Hefe und die
SAE des Bieres bei der Entfernung der Hefe. Seitdem die Hefe für
menschliche und tierische Ernährung Verwendung findet, werden diese Ver-
luste geringer.
Die deutsche Volksern ng und der en . eben
von Paul Eltzbacher, 1914 fobies Angaben nach ET a nn
Klesse, Beziehungen zwischen Alkoholkonsum und Nahrungsspielraum. 259
M. v. Gruber?) hat folgende mit dem Brauprozeß verbundene Verluste
an Kalorien, und davon in Gestalt von Eiweiß, berechnet und sie mit der
Ausnutzung der Gerste als Mehl verglichen: Der Einfachheit und für unsern
Zweck größeren Uebersicht halber ist die Rechnung unter Beibehaltung von
Gruber's Zahlenverhältnis auf ein Kilo Gerste reduziert.
Für 1 hl Bier sind 25 Kilo Gerste zugrunde gelegt, für 1 Kilo Gerste
345 Kalorien, an Bestandteilen u. a. 101 g Stickstoff.
Aus 1 Kilo Gerste lassen sich für den Körper nutzbar machen:
A. durch den Brauprozeß:
in Vollbier sind enthalten 1800 Kal., an Eiweiß 16,0 g
aus den verfütterten Trebern und Malzkeimen
lassen sich gewinnen in Gestalt von Fleisch 317 Kal, an Eiweiß 16,6 g
im ganzen 2117 Kal., an Eiweiß 32,6 g
in Prozent 63,2% an Eiweiß 32,3%
B. durch Verarbeitung zu Mehl:
m Mehl sind enthalten 2492 Kal., an Eiweiß 56,7 g
aus den verfütterten Gerstenschalen lassen sich
gewinnen in Gestalt von Fleisch 163 Kal., an Eiweiß 3,0 g
im ganzen 2655 Kal., an Eiweiß 59,7
in Prozent 79,4% an Eiweiß 59,1
Der Verlust an Kalorien, der mit der neu unvermeidlich ver-
bunden ist, beträgt also über 16% und im besonderen der an Eiweiß sogar
28%. Dabei ist noch in Rechnung gestellt, daß das im Bier enthaltene
Eiweiß ohne Verluste vom Körper auigesaugt wird.
Branntweinbrennerei: Günstiger schneidet die Branntwein-
brennerei ab, für die in Deutschland die wichtigsten Rohstoffe die stärke-
haltigen Stoffe sind: die Kartoffeln im Osten, Roggen im Westen; in Süd-
deutschland und Hessen, wo die Obstbrennerei zu Hause ist, spielt noch das
Stein- und Kernobst eine Rolle. In dem schon oben zitierten, von Eltzbacher
herausgegebenen Buch (S. 138) finden sich über das Verhältnis zwischen dem
Nährwert der Kartoffel als Speise und ihrer Verwertung im Brennereiprozeß
kılgende Angaben:
A. Brennereiprozeß:
Von den in den Kartoffeln enthaltenen Kalorien gehen über:
in den Branntwein 60% d. Kal.
in die als Viehfutter zu verwertende Schlempe 37% d. Kal.;
davon kommen als Fleisch und Fett wieder der mensch-
lichen Ernährung zugute etwa !/s: 12,3% d. Kal.
im ganzen werden also nutzbar gemacht . 72,3% d. Kal.
B. Verwendung der Kartoffel als Speise:
Dabei gehen verloren durch Schälen, Kochen usw. 15% d. Kal.
Verluste durch unvollkommene Verdauung 2% d. Kal.
im ganzen werden also nutzbar gemacht 83% d. Kal.
Der mit der Brennerei verbundene Verlust an Kalorien beträgt also über
10%. Ueber das reine Zahlenverhältnis der ausgenutzten Kalorien hinaus ist
noch zugunsten der Verwendung der Kartoffel für die menschliche Ernährun
anzuführen, daß die Eiweißausbeute dabei eine viel günstigere ist als bei
der Brennerei und ferner, daß die Verluste durch die Schalen in vielen Haus-
tungen mit Viehhaltung verringert werden. Demgegenüber könnte dem
Konto der Branntweinbrennerei zugute kommen, daß ein mehr oder weniger
großer Teil der verbrannten Kartoffeln für menschliche Speisezwecke nicht
Y M, v. Gruber, Kriegsbereitschaft des Ernährungswesens und Biererzeugung. München,
med. Wochenschrifi vom 9. 3. 1915.
17°
260 Abhandlungen.
brauchbar ist. Dieser Anteil ist je nach Witterung und Ernteausfall sehr
wechselnd, braucht aber praktisch dem Trinkbran#wein kaum in Rechnung
esetzt zu werden, da er ebensogut bei ausschließlicher Herstellung von
Spiritus für gewerbliche Zwecke Verwendung finden könnte. Das gilt nach
dem Verlust von Provinzen mit ausgedehntem Kartoffelbau jetzt mehr als
zuvor. A
Verluste, die beim Alkoholkonsum entstehen: Als Ver-
lust an Nährstoffen muß aber auch ein Teil des genossenen Alkohols selbst
gebucht werden, nämlich der Teil, der auf überdurchschnittlichen Alkohol-
genuß entfällt. Dieser wird — aufs Volksganze berechnet — abhängig sein
von der durchschnittlichen Höhe des Alkoholverbrauchs in einem bestimmten
Zeitabschnitt und infolgedessen für die Vorkriegs- und Nachkriegszeit Unter-
schiede aufweisen.
In den letzten Vorkriegsjahren sollen vom deutschen Volke für geistige
Getränke jährlich 31/;—4 Milliarden Goldmark ausgegeben worden sein (in
Kteinhandelspreisen).. In den Aktenstücken zur Konferenz von Brüssel (16.
bis 22. Dezember 1921)) gibt die deutsche Regierung unter Antwort 22 die
Höhe des Alkoholkonsums des deutschen Volkes für 1913 mit 4,15 Milliarden
Goldmark an.
Das Einkommen des deutschen Volkes wurde im letzten Vorkriegs-
jahrfünft auf etwas über 40 Milliarden geschätzt [May’°), Hellfferich'*)],
wovon ein Fünftel bis ein Viertel gespart wurde. ehmen wir also die
Gesamtausgaben für konsumtive Zwecke mit 32 Milliarden an, so entfallen
auf die Ausgaben für Alkohol der achte Teil oder 121% i. J. 1913. Den
ordentlichen Familien, die über: ihre gesamten Ausgaben Buch geführt haben,
darf man für alkoholische Getränke im Durchschnitt 6—7% der Gesamt-
ausgaben in une stellen, wie es Elster'?) tut (6,7%). Auf sie entfiel also
rund die Hälfte des deutschen Alkoholkonsums vor dem-Kriege; die andere
Hälfte muß man also denen aufs Konto setzen, die jenen Durchschnitt der
mäßigen Familien überschritten haben. Daß dieser Grad des Alkoholgenusses
in zahlreichen Fällen häufigere und länger dauernde Krankheiten als beim
Mäßigen zur Folge hatte, ferner Unglücks- und Todesfälle, strafbare Hand-
lungen usw., sei nur nebenbei erwähnt, belastet aber auch erheblich die
Passivseite des Alkoholkontos (vgl. Elster u. d. Sammelwerk der Forschungs-
anstalt für Psychiatrie!) in München).
Endergebnis: Von den oben im Bier und Branntwein erwähnten
nutzbaren Kalorien muß man also noch rund die Hälfte als über Bedarf und
Durst genossen abziehen, um annähernd eine richtige Vorstellung zu erhalten
von der Gesamthöhe der Nährstoffverluste, die mit der Alkoholproduktion und
dem Alkoholkonsum vor dem Kriege verbunden waren. Dabei ist noch
vorausgesetzt, daß die andere Hälite des von den Mäßigen genossenen
Alkohols von diesen als vollwertiges Nahrungsmittel im Körperhaushalt
benutzt wurde, was in Wirklichkeit durchaus nicht immer der Fall gewesen
sein dürfte.
Es läßt sich somit folgende Endrechnung für die Nährstoffverluste (in
Kalorien) bei der Erzeugung und dem Konsum für die Vorkriegsjahre auf-
stellen (vgl. S. 24—26).
Unter Zugrundelegung der oben benutzten Zahlen sind also von den im
Vollbier enthaltenen Kalorien (auf den gesamten Bierkonsum bezogen) nur
die Hälfte als Nährwert in Rechnung zu setzen, d. h. 900 Kal.
Dazu kommen aus den Trebern und Keimen in Gestalt von Fleisch 317 Kal.
Im ganzen werden durch den Brauprozeß | 1217 Kal.
aus 1 kg Gerste „nutzbar“ gemacht, d. h. 36,4% d. Kal.
ı) E, May, Das deutsche Vulkseinkommen und der Zuwachs des Volksvermögens, 127.
1) Hellfferich, Deutschlands Volkswohlstand 1888/1913 (3. Auflage, 1914).
1°) A. Elster, Das Konto des Alkohols in der deutschen Volkswirtschaft, 1922.
'") Die Wirkungen der Alkoholknappheit während des Weltkrieges, 1923,
|
z ~ DE
Klesse, Beziehungen zwischen Alkoholkonsum und Nahrungsspielraum. 261
Ebenso sind von den im Branntwein enthaltenen Kalorien nur die Hälfte
als Nährwert zu rechnen, d. h. von den in den Kartoffeln enthaltenen Ka-
lorien nur 30 %
Dazu kommen aus der Schlempe in Gestalt von Fleisch usw. 12,3 %
Im ganzen werden also durch die Brennerei 42,3 %
der in den Kartoffeln enthaltenen Kalorien „nutzbar“ gemacht.
Vergleicht man damit die Kalorienausbeute bei der Verwandlung der
Gerste in Mehl und bei der Verwertung der Kartoffel als Speise, dann springt
einem erst die Einbuße an Nährstoffen in die Augen, die mit ihrer Umwand-
lung und ihrem Konsum als Alkohol vor dem Kriege verbunden war. Sie
betrug rund die Hälfte der Kalorien, die bei Verwendung der Rohstoffe als
menschliche Nahrungsmittel zur Verfügung gestanden hätten, wie die folgende
Gegenüberstellung zeigt:
Kalorienausbeute der Rohstoffe:
A. der Gerste B. der Kartoffel
1. als Mehl u. Kleie — 79,4% 1. als Speisekartoffel — 83 %
2 im Brauprozeß — 36,4% 2. im Brennereiprozeß — 42,3%
Gesamtverlust also 43,0% 40,7%
Kurze Zusammenfassung: In großen, regelmäßigen Mengen
genossen wirkt der Alkohol auf körperliche und geistige Gesundheit schä-
digend; schon in seltener genossenen mittleren Mengen setzt er die Leistungs-
. fähigkeit erheblich herab.
Im Vergleich zu den Volksnahrungsmitteln ist er viel zu teuer. Daher
kann der Alkohol als Nahrungsmittel für Gesunde nicht in Betracht kommen.
Der Alkoholkonsum bedeutet eine erdrückende Belastung für den deutschen
| Volkshaushalt.
Dieser geht mit seiner stark passiven Handels- und Zahlungsbilanz einer
zunehmenden Verschuldung an das Ausland entgegen. — Diese Verschuldung
' muß schließlich katastrophal wirken, wenn sie, wie bisher, zu einem erheb-
| lichen Teile für konsumtive Zwecke aufgenommen wird.
Der Konsum von entbehrlichen und Luxusgütern, zu denen der Alkohol
bei Deutschlands Lage zu rechnen ist, müßte daher aufs äußerste ein-
geschränkt werden.
Das Gegenteil ist leider der Fall: Wie in früheren Jahrzehnten sich die
Ausgaben für alkoholische Getränke nach dem Umfange des Nahrungsspiel-
Taumes richteten, so auch jetzt: Mit der besseren, z. T. auf Auslandskrediten
henden Versorgung des deutschen Volkes ist der Alkoholkonsum auch
wachsen; verschlang er vor dem Kriege etwa ein Zehntel des deutschen
'olkseinkommens, so dürfte er im laufenden Wirtschaftsjahr 1924/25 ein
Zwölitel schon wieder erreichen (nämlich 3'/, bis 3'/» Milliarden Goldmark)!
. Bei der Produktion von Alkohol entstehen erhebliche Nährstofiverluste.
Diese müßten um so mehr vermieden werden, als die Ackerbauerträge aus
dem heimischen Boden durch Gebietsverluste und Produktionsrückgang stark
gesunken sind.
„Gleichwohl beanspruchte der Alkoholkonsum in Höhe der letzten In-
ationsjahre von der heimischen Scholle schon alljährlich so viel, wie das
ch a und Gartenland von Baden ausmacht — nämlich etwa
a
262 Abhandlungen.
Belastung der öffentlichen Finanzen
durch die Trunksucht!).
Von Rechtsrat Dr. R. P la n k - Nürnberg.
Vor wenigen Wochen kam der Londoner Vertrag zustande, der
dem gesamten deutschen Volke auf viele Jahre hinaus ganz gewaltige
Lasten auferlegt, Lasten, die wir uns in den glücklichen Friedensjahren
zu tragen kaum zugetraut hätten. Ich will nur kurz darauf verweisen,
daß für 1924—1925 1000 Goldmillionen, für 1925—1926 1220 Gold-
millionen, für 1926—1927 1200 Goldmillionen, für 1927—1928 1750
Goldmillionen, für 1928—1929 2500 Goldmillionen usw. zu zahlen sind.
Um diese Belastung recht würdigen zu können, müssen wir anderer-
seits bedenken, daß sie nicht mehr auf dem starken Volke der Vor-
kriegszeit ruht, sondern auf dem durch Kriegs- und Nachkriegsjahre
geschwächten und zermürbten Volkskörper, aus dem ganz- erhebliche
Teile herausgeschnitten wurden, die früher mit einer starken Pro
duktion zur Stärkung unserer Wirtschaft und Mehrung unseres Volks
vermögens beitrugen; ich erinnere nur an Oberschlesien.
Die unaufhaltsam fortschreitende Geldentwertung der letzten Jahre
brachte außerdem für immer neue Schichten der Bevölkerung die
unerbittliche Notwendigkeit, öffentliche Unterstützung in Anspruch zu
nehmen, wenn sie nicht dem Hungertode anheimfallen sollten. Ich
erinnere an das Notständsmaßnahmengesetz vom Dezember 1921, das
den Gemeinden die Pflicht auferlegte, die große Schar der Invaliden-
und Alters-, Witwen-, Waisen- und Unfallrentner ergänzend zu unter-
stützen, nachdem die Renten, von denen diese Personen früher in der
Hauptsache lebten, auf dem Wege von der Post bis nach Hause zu
einem Nichts zusammenschwanden. Ich erinnere weiter an die große
Menge von Kleinrentnern, deren in jahrzehntelanger Sparsamkeit er-
wirtschaftetes Vermögen während der Jahre der Inflation zunichte
wurde, so daß sie ebenfalls mit öffentlichen Mitteln in der Hauptsache
unterhalten werden mußten. Die durch die Armut unserer Volkswirt-
schaft verursachte Geldknappheit ließ die Fabriken stillestehen, und wo
früher Tausende von Arbeitern mit auskömmlichem Lohn beschäftigt
wurden, arbeiten heute oft nur noch einige Hundert. Andere Betriebe
wieder sind gezwungen, um ihre Arbeiter vor der Entlassung zu
behüten, die Arbeitszeit auf einen Bruchteil zu reduzieren. So kommt
zu der großen Anzahl der Armenpfleglinge, Sozial- und Kleinrentner,
der Alten und der Erwerbsunfähigen noch das Heer der Erwerbslosen
und Kurzarbeiter. Wie hoch diese Elendswoge zuweilen ging, mag
1) Obige Ausführungen bilden den Vortrag, den Rechtsrat Dr. Plank
auf der Jahresversammlung des deutschen Vereins gegen den Alkoholismus
in Nürnberg am 24. September 1924 im Rahmen der Ronlerenz für Trinker-
fürsorge gehalten hat. Der Bericht über diese Jahresversammlung ist soeben
im Verlage „Auf der Wacht“ (Berlin-Dahlem) erschienen; er enthält eine
ae sehr wertvoller Beiträge, die zeitgemäß sind und zugleich Dauerwert
aben. i
|
Plank, Belastung der Öffentlichen Finanzen durch die Trunksucht. 263
man daraus ersehen, daß in dem vergangenen trostlosen Winter
56 Proz. der Nürnberger Bevölkerung Unterstützung in irgendeiner
Form bezog. In solchen Elendszeiten bedarf es der Zusammenfassung
aller Kräfte, um die großen Mengen der Unterstützungsbedürftigen
wenigstens mit dem Notdürftigsten versehen und sie vor dem Unter-
gang bewahren zu können.
Es ist unbedingt notwendig, daß wir uns diese tiefgehende
| Schwächung unserer Volkskraft und unserer Volkswirtschaft, die, selbst
wenn wir mit Anleihemitteln unsere Produktion wieder allmählich in
Gang bringen werden, nicht von heute auf morgen und auch nicht in
einigen Jahren behoben werden kann, in unerbittlicher Klarheit und
Deutlichkeit vor Augen halten und ihr andererseits die gewaltigen
Leistungen, die wir nun regelmäßig vollbringen sollen — neben den
Leistungen, die wir zum eigenen Leben, des Ein-
zelnensowohlwie der ganzen Nation, notwendig
haben — gegenüberstellen: Aus dieser Gegenüberstellung muß sich
für jeden vernünftig denkenden Menschen der zwingende Schluß
ergeben, daß wir mehr denn zu irgend einem Zeitpunkt in der
Geschichte unseres Landes vor die unabweisbare Notwendigkeit gestellt
snd, alle irgendwie erreichbaren und verfügbaren Kräfte restlos
‚ zusammenzufassen und zur Produktion, zur Schaffung von Werten,
auszunützen, unser beschränktes Volksvermögen nur für wirklich
produktive Zwecke anzulegen und auszugeben, die Quellen unproduk-
tiver Ausgaben mit unerbittlicher Strenge zu erforschen und zu ver-
stopfen, vor allem aber, um weitere Schwächungen unserer Volkskräfte
zu verhindern, auf die vorbeugende Arbeit unser ganzes Sinnen
und.all unsere Kräfte zu konzentrieren.
Zu den stärksten Quellen unproduktiver Ausgaben und’ zu den
schwersten Schädlingen unserer Volkskraft und Volkswirtschaft in
dieser Zeit der großen Not und der höchsten Notwendigkeit, alle
Kräfte anzuspannen, gehört die Trunksucht. Betrachten wir uns einmal
mher, wie schwer die Öffentlichen Finanzen durch sie und ihre Folgen
belastet werden und wie tiefgreifend unsere Verwaltungsarbeit durch
ee Kampl, der mit diesem Schädling täglich zu führen ist, beeinflußt
wird. — -
Auf dem Gebiete der öffentlichen Fürsorge steht obenan das
Kapitel „ArmenpflegeundTrunksucht“. Nachdem neuer-
dings durch das gewaltige Anwachsen der Zahl der Empfänger von
öffentlicher Unterstützung die Armenpflege in ihrem früheren Umfange
ganz erheblich in den Hintergrund gedrängt wurde, und auch die Zahl
der Armenpfleglinge sich gegenüber der gesamten Zahl der Unter-
Stützungsempfänger verhältnismäßig verringert hat, ist es ganz be-
sonders notwendig, diesen Gesichtspunkt hervorzuheben; denn die
Belastung der Armenpflege durch die Trunksucht und ihre Folge-
erscheinungen ist wahrhaftig noch bedeutungsvoll genug! Und bei
näherem Zusehen werden wir finden, daß überall da, wo die Armen-
pflege in der Hauptsache nur noch für die sog. asozialen Elemente,
264 l Abhandlungen.
d. h. die wirtschaftsfeindlichen oder wirtschaftsgleichgültigen Elemente,
betrieben wird, die Trunksucht der Fürsorgeempfänger, wenn auch nicht
die ausschließliche, so doch mit die Hauptursache ist, die das Elend
dieser Kreise verursacht, und der Hauptgrund dafür ist, warum diese
Kreise durchweg einer Besserung und einer Hebung unzugänglich sind
und so oft bis an ihr Lebensende samt ihrer Familie im Elend ver-
bleiben, und warum auch meist ihre Nachkommenschaft nicht auf eine
höhere 'Lebensstufe gebracht werden kann. Die Angaben verschiedener
städtischer Statistiken bestätigen dies. Hamburg rechnet nach einer
Statistik von Popert bei 50 Proz. aller Verarmungsfälle mit der Trunk-
sucht als Ursache hierfür. Eine Reihe von anderen Städten geben
20—30 Proz. an. In einem Bremer Bericht für das Jahr 1912 wird
mitgeteilt, daß bei 13,6 Proz. aller Armenparteien Trunksucht die
Ursache des Elends sei. Die Zahlen schwanken eben je nach dem
Grade der Trunksucht, den der Statistiker seinen Erhebungen zugrunde
legt. Eine Umfrage bei den Kreisämtern des Wohlfahrts-
amtes Nürnberg ergab, daß etwa 120 Familien in der Betreuung des
Wohlfahrtsamtes sich befinden, deren Notlagen durch Trunksucht des
Familienoberhauptes oder eines Familienmitgliedes verursacht wird.
Nachdem wir in Nürnberg insgesamt 670 Armenparteien zu unter-
stützen haben, können wir also sagen, daß in 18 Proz. der Fälle die
Verelendung durch Trunksucht verursacht ist. Wenn eine dieser 120
Familien monatlich nur 40 Mark durchschnittlich erhält, so ergibt das
eine Ausgabe von rund 5000 Mark im Monat und 60 000 Mark im Jahr.
Daneben ist aber zu berücksichtigen, daß diese Trinkerfamilien eben
wegen ihrer Unverbesserlichkeit nicht nur den Beamten an den Für-
sorgestellen, sondern vor allem den Außenorganen, den Bezirkstür-
sorgerinnen und Ermittlern außerordentlich viel Arbeit verursachen, so
daß zu dieser Summe ohne Bedenken noch die Gehälter für mehrere
Beamte hinzugerechnet werden können. Ganz besonders stark ist auch
die Belastung des Jugendamtes durch diese Familien. Die
Fürsorgeorgane sind oft gezwungen, die Arbeit von mehreren Tagen
nur einigen wenigen Trinkerfamilien zuzuwenden, da es sich ja fast
in all diesen Fällen um Verelendung der ganzen Familie und nicht um
Verelendung eines einzelnen Menschen handelt; vor allem sind es die
Kinder solcher Familien, die infolge der mangelnden Beaufsichtigung
und des schlechten Beispiels selbst auf Abwege geraten oder von den
Eltern, auch wenn sie selbst keinen schlechten Lebenswandel führen,
derart vernachlässigt werden, daß sie aus der Familie weggenommen
und in geeignete Pflege oder Fürsorgeerziehung gegeben werden
müssen. Wer weiß, wie ungeheuer schwer es hält, gerade in der
Großstadt einen geeigneten Pflegeplatz oder Lehrplatz für heran-
wachsende junge Menschen zu finden, der kann sich eine Vorstellung
davon machen, welche Summe von Arbeitskraft und welche finanziellen
Aufwendungen gerade hier durch die Trunksucht verursacht werden.
Nach den Angaben der Abteilung Jugendfürsorge sind jährlich für
Jugendliche, deren Verwahrlosung in der Hauptsache auf Trunksucht
rer
Plank, Belastung der öffentlichen Finanzen durch die Trunksucht. 265
der Eltern zurückzuführen ist, zirka 8000—8500 Verpflegetage
inBeobachtungsheimen und Erziehungsanstalten
. notwendig. Zu diesen Verpflegeausgaben kommen dann noch die Auf-
vwendungen für Kleidung, für Reisen, Korrespondenz usw. Wie viele
Erziehungsanstalten und Beobachtungsheime für Jugendliche könnten
aufgelassen werden, wenn die Trunksucht der Eltern nicht wäre! Und
dabei hat diese Betrachtung, die wir hier anstellen, nur die rein zahlen-
‚ mäßige Belastung unserer Finanzen im Auge, ohne die moralisch zer-
störende Wirkung der Trunksucht, Minderung der Arbeitskraft, Meh-
rung von Krankheitsfällen usw. noch näher zu untersuchen, auf die wir
; später zu sprechen kommen werden.
Eine interessante Aufstellung hat die hiesige Berufsvor-
.mundschaft geliefert. Die Bearbeitung von 44 Familien ergab,
daß in 33 Fällen im allgemeinen regelmäßig und gut von den Kinds-
våtern die Alimente bezahlt wurden, dagegen waren unter 11 Vätern,
: die unregelmäßig oder nie bezahlten, 8, die dem Alkohol gern zu-
: sprachen, darunter 7 ausgesprochene Alkoholiker. Von 44 Kindsvätern
` versaumten also sieben oder 16 Proz. ihre Unterhaltspflicht. Für die
Kinder der 7 Trinker kam in zwei Fällen (also bei 28,5 Proz., die
6ifentliche Fürsorge auf, in den anderen Fällen die Mutter oder der
Stiefvater. Ein Schluß aus dieser kleinen Stichprobe, auf die sämtlichen
Fälle der Nürnberger Berufsvormundschaft angewendet, würde folgen-
‚ des Ergebnis zeitigen:
Bei rund 4200 Mündeln sind zirka 60 Proz., also etwa 2500 unter-
haltspflichtige Väter anzunehmen. Von diesen dürften etwa 16 Proz.,
also rund 400 Väter, ihre Unterhaltspflicht infolge Trunksucht verletzen,
und für etwa 28,5 Proz. ihrer Kinder, das sind 114 Mündel, käme die
öfentliche Fürsorge auf, was bei einem Aufwand von durchschnittlich
400 Goldmark pro Kind und Jahr einen Betrag von jährlich 45 600
Goldmark ausmachen würde.
Der in den Nachkriegsjahren rapid gestiegene Alkoholkonsum
‚füllte die während des Krieges leer gewordenen Irrenhäuser
‚ wieder. Dr. Schwenk hat einen Bericht über die Aufnahme von Alkohol-
' kranken in die Münchener psychiatrische Klinik während der Jahre
. 1910-1921 veröffenlicht. Das Verhältnis der männlichen Alkoholiker
zu den männlichen Gesamtaufnahmen soll betragen haben: im Jahre
1913: 17,2 Proz., 1915: 12 Proz., 1916: 5,3 Proz., 1917: 4,4 Proz.,
`- 1918: 2,4 Proz, und stieg dann auf 1919: 4,3 Proz., 1920: 6,7 Proz.,
1921: 13, Proz. und 1922: 21,5 Proz. Der schwindende und dann
rg yet sinn ” vr rn
wieder anwachsende schädigende Einfluß des Alkohols ist hier mit
vollster Deutlichkeit zu erkennen. Eine ganz vorsichtig aufgestellte
Statistik der Heil- und Pflegeanstalt Erlangen spricht davon, daß
14 Proz. aller Zugänge des Jahres 1912 und 6,4 Proz. aller Zugänge
des Jahres 1913 auf Kranke mit Störungen auf alkoholischer Grundlage
treffen. Das erhebliche Absinken dieses Prozentsatzes während der
Kriegsjahre und das Ansteigen desselben in den Nachkriegsjahren wird
` von dort ebenfalls bestätigt. Stärker noch als die Belastung der ge-
266 Abhandlungen.
schlossenen Irrenfürsorge ist de Belastung der offenen Für-
sorge, die ja vor allem in Nürnberg in vorbildlicher Weise durch-
geführt wird. Die letzten Jahre machten es auch notwendig, diese
Fürsorgestelle für entlassene und beurlaubte Geisteskranke auszubauen
zur allgemeinen Fürsorgestelle für Gemüts- und Nervenkranke, was
natürlich eine Mehrung an Aerzte- und Pilegepersonal bedingte.
Die Fürsorgestelle für Gemüts- und Nervenkrnake in Nürnberg
hat zurzeit 191 Schützlinge zu betreuen, deren Leiden auf
Trunksucht zurückzuführen ist. Den Arbeitsaufwand, den diese Per-
sonen verursachen, können wir uns dann vorstellen, wenn wir bedenken,
daß jede dieser 191 Personen in regelmäßigen Zeitabschnitten durch
die Pfleger der Fürsorgestelle und durch den leitenden Arzt besucht
werden muß. Bei dem Abschnitt „Alkohol und Geisteskrankheiten“ ist
weiterhin zu bedenken, daß nach Prof. Forel 76,4 Proz. der Männer,
die sich eine Geschlechtskrankheit zuzogen, unter
Einwirkung des Alkohols standen. Nach einer anderen
Statistik von Dr. Langstein, der in Straßburg Material sammelte, ergibt
sich, daß 43,8 Prozent der Männer und 90 Proz. der Frauen alkoholisch
beeinflußt waren, als sie sich durch Geschlechtsverkehr infizierten,
Und nun bedenken wir, daß die verheerendste aller Geschlechtskrank-
heiten, die Syphilis, in den Nachkriegsjahren eine so gewaltige
Steigerung erfuhr, daß wir bis vor kurzem noch sagen konnten, Syphilis
und übrige Geschlechtskrankheiten verhalten sich in der Häufigkeit
ihres Auftretens wie 1 : 1, und bedenken wir weiter die schweren
Folgeerscheinungen der Syphilis, die den Infizierten vielfach im Irren-
hause enden lassen, so ersehen wir, daß auch noch ein erheblicher
Prozentsatz der auf anderer Krankheitsgrundlage in die Irrenhäuser
eingelieferten Geisteskranken dem Konto „Alkohol und Trunksucht“
zur Last zu legen ist.
Nicht minder erschreckend ist das Ergebnis, wenn wir die
Zusammenhänge prüfen zwischen der Tätigkeit der Straf-
gerichte, der Inanspruchnahme der Gefängnisse,
der TätigkeitderPolizeiorganeaufdereinen Seite
unddemübermäßigen Alkoholgenuß andererseits.
Nach den ‚Aufschreibungen unserer sehr exakt arbeitenden Trinker-
fürsorgestelle in Nürnberg sind im Jahre 1922: 1738, im Jahre 1923:
807 polizeiliche Festnahmen von betrunkenen Personen erfolgt, die in
zahlreichen Fällen hiervon wegen totaler Betrunkenheit zur Ein-
schaffung auf die psychiatrische Abteilung unseres Krankenhauses
führten. Nach den bisherigen Aufzeichnungen des Jahres 1924 wird in
diesem Jahre die Zahl der polizeilichen Festnahmen wegen Trunkenheit
900—1000 erreichen.
Nach einer amtlichen bayrischen Statistik wurden bei den
bayrischen Gerichten im Jahre 1922: 1135 Verurteilungen von Personen
rechtskräftig, die die strafbare Handlung im Zustande der Betrunkenheit
begingen und 25 Verurteilungen von Personen, deren strafbare Handlung
auf gewohnheitsmäßigen Alkoholgenuß zurückzuführen war. Nahezu
Plank, Belastung der öffentlichen Finanzen durch die Trunksucht. 267
ein Drittel dieser Straftaten war so schwerwiegender Natur, daß sie
nicht von Schöffengerichten, sondern von Land- und Volksgerichten
abgeurteilt werden mußten. Von den 1160 Verurteilten waren 12 weib-
lichen Geschlechts, 565 ledige Männliche, 587 Verheiratete oder
Verwitwete und 17 Geschiedene. Nachdem diese Personen doch meist
eine Freiheitsstrafe abzubüßen haben, sind sie eine Zeitlang dem
produktiven Erwerbsleben entzogen, und es ist deshalb nicht uninter-
essant, die Altersgliederung dieser Verurteilten zu betrachten: Von den
Verurteilten standen 411, also 35 Proz., bei Begehung der Tat im Alter
von 18—25 Jahren, 380, also 32,8 Proz., zwischen dem 25.—35. Lebens-
jahre, 210, also 18,1 Proz., zwischen dem 35.—45., 116, also 10 Proz.,
zwischen dem 45.—55., und 21, also 1,8 Proz. waren älter. Nach der
Berufsschichtung betrachtet, stellen den größten Prozentsatz unter
diesen Verurteilten die Gewerbsgehilfen, Gelegenheits- und Fabrik-
arbeiter. Wir sehen also das traurige Bild, daß der Alkohol gerade
diejenigen Kräfte ausschaltet, die zum produktiven Schaffen vor allem
berufen wären.
Rechnen wir für jede der 1160 Verurteilungen nur eine durch-
schnittliche Strafdauer von 30 Tagen und übersetzen wir dieses
Ergebnis auf die Bevölkerungszahl von ganz Deutschland, so ergibt
sich, daß die Trunksuchtsverbrechen und -Vergehen die öffentlichen
Finanzen mit Kosten vón etwa 400000 Gefängnisverpflegstagen im
Jahr belasten. Dazu kommen ferner noch die Ausgaben für die Ge-
längnisbauten, für das Vollzugspersonal und für die
Unterhaltung der Gerichte, die zur Aburteilung derartiger
Fälle notwendig sind, ganz abgesehen von den Verlusten, die unsere
Volkswirtschaft dadurch erleidet, daß diese Kräfte, wie ich schon
erwähnt habe, der Berufsarbeit während der Verbüßung der Freiheits-
strafe entzogen sind, ganz abgesehen von dem Schaden, den die Familie
dadurch erleidet, daß ihr der Ernährer auf längere Zeit entzogen ist,
und abgesehen weiter von der Belastung, die der öffentlichen Fürsorge
erwächst, die zeitweise für diese Familien wieder einzutreten hat.
. Üeberblicken wir nochmals das große Gebiet, das wir in unseren
bisherigen Ausführungen gestreift haben, nämlich die gewaltige Be-
lastung der Wohlfahrtsämter und der Jugendfürsorgeeinrichtungen, der
geschlossenen und offenen Fürsorge für Geisteskranke, Gemüts- und
Nervenkranke, der Polizeiverwaltung, der Gerichte und der Gefäng-
nisse und vergegenwärtigen wir uns nochmals die Zusammenhänge
und Ausstrahlungen dieser Belastungen, dann können wir wohl mit
Recht sagen, daß auch die zurzeit so aktuelle Frage des Beamten-
abbaues sehr stark von dem Grad der Intensität beeinflußt wird,
mit der sich Staat und Gemeinden der Bekämpfung des Alkoholmiß-
brauchs widmen. Welches Heer von Beamten könnte für andere Zwecke
Ireigemacht werden, wenn kein Betrunkener mehr die Straßen unsicher
brenia würde und keine Raufhändel mehr die Gerichte beschäftigen
rden!
268 Abhandlungen.
Mit diesen positiv aufzuwendenden Ausgaben, die bei eingehender
Prüfung auf Grund der vorhandenen Statistiken mit ziemlicher Sicher-
heit zahlenmäßig erfaßt werden können, ist aber die Belastung der
öffentlichen Finanzen durch die Trunksucht noch nicht erschöpft. Wenn
wir unser Thema im weiten Sinne auffassen, dann müssen wir auch
alle Belastungen hinzunehmen, die unser Volksvermögen und unsere
volkswirtschaftliche Kraft dadurch” erfährt, daß von weiten Bevöl-
kerungskreisen große Summen für nutzlosen Alkohol-
genuß vergeudet werden, der nicht nur keinerlei positiven
Werte schafft, sondern außerdem noch dazu beiträgt, die vorhandenen
Kräfte zu zermürben und zu vermindern, gewaltige Summen, die durch
den Wegfall dieses, überflüssigen Alkoholgenusses für rein wirtschaft-
liche und kulturelle Zwecke, zur Förderung des Allgemeinwohls und
zur Stärkung unseres Volksvermögens verwendet werden könnten.
Dr. Elster berechnet in seiner Schrift „Das Konto des Alkohols in der
Deutschen Volkswirtschaft“, daß der Satz von 3 bis höchstens
5 Proz. der Ausgaben eines Haushaltes dem entspricht, was
auch in einer alkoholfreien Wirtschaft für erfrischende und erfreuende
Getränke ausgegeben würde. An Hand der von ihm benutzten
Statistiken geht er dann sogar so weit, das Maß der Mäßigkeit,
wirtschaftlich betrachtet, auf 7 Proz. Alkoholausgaben von
den Gesamtausgaben eines Haushalts anzusetzen und nur das als
unnütze, als Luxusausgabe, zu erklären, was über dieses Mad
getrunken wird. Dieser Prozentsatz ergibt, umgelegt auf das Gesamt-
einkommen im Deutschen Reich in der Vorkriegszeit, eine Unmäßig-
keitsausgabe von 2 Milliarden Goldmark.
2000 Millionen Goldmark ist die Summe, die als Ver-
lustsumme anzusehen ist, als Summe, die nichts nützt, nicht durst-
stillend usw. wirkt, die als Mehrquantum infolge Unmäßigkeit und.
schlechter Gewohnheit zu bezeichnen ist.
Wir haben bisher nur gesagt, daß diese Ausgabe nichts nützt. Bei
der volkswirtschaftlichen Wertung kommt es aber auch darauf an, zu
prüfen, ob und inwieweit sie Schaden anrichtet. Dieser Schaden isi-
ganz gewaltig. Er liegt vor allem in der Beeinträchtigung
der Arbeitsleistung durch den übermäßigen Alko-
holgenuß. Diese Beeinträchtigung ist dadurch bedingt, daß der
Alkoholgenuß eine Vergeudung der Zeit bedeutet, die besser und wirt-
schaftlicher und nützlicher zu häuslichen Arbeiten z. B. im Garten oder
zur geistigen Erholung durch Lesen eines guten- Buches, durch
Musizieren usw. ausgefüllt würde. Ungleich größer aber ist noch die
Beeinträchtigung der Arbeitsleistung durch die physiologisch-psycho-
logische Wirkung des während, vor oder nach der Arbeit genossenen
Alkohols. Es ist einwandfrei festgestellt, daß der Alkohol zwar augen-
blicklich anregend und auffrischend wirkt und dadurch eine vorüber
gehend höhere Leistungsfähigkeit erzeugt, um sie dann aber um so
schneller sinken zu lassen. Dies gilt für körperliche Arbeit sowohl wie
für geistige Leistung. Ich verweise nach dieser Richtung vor allem
Plank, Belastung der öffentlichen Finanzen durch die Trunksucht, 269
auf die bekannten Untersuchungen von Kräpelin, die zeigte, daß nach
dm Genuß von einer Menge Alkohol, wie sie etwa in einem Liter
Bieres enthalten ist, schon die Verlangsamung der Ideenverbindung
begann, daß verwickelte Auseinandersetzungen nicht mehr verstanden
wurden und die klare Ueberlegung beeinträchtigt wurde. Hinsichtlich
körperlicher Leistungen beim Sport und Militärdienst liegen ebenfalls
interessante Ergebnisse vor, die dies bestätigen. Die verschiedenen.
Forscher sind einig darin, daß nicht nur die Quantität der Arbeits-
leistung, sondern auch ihre Qualität in ganz erheblichem Maße
durch den Alkoholgenuß beeinträchtigt wird. Nach dem Ergeb-
nisse dieser Untersuchungen kann damit gerechnet werden, daß eine
Arbeitsverminderung von zirka 10 Prozent und eine
Arbeitsverschlechterungvonrund25 Prozent durch
čen Alkoholgenuß bedingt wird. Beide Wirkungen gehen natürlich
nebeneinander her, so daß der unter der Wirkung des Alkoholgenusses
Arbeitende eine Minderung der Arbeitsleistung um 35
Prozent aufzuweisen hat. Dr. Elster stellt in seiner schon erwähnten
schrift „Das Konto des Alkohols in der Deutschen Volkswirtschaft“
den interessanten Versuch an, den Gesamtverlust zu berechnen, der der
deutschen Wirtschaft dadurch verursacht wird. Er legt dabei als
Gesamteinkommen des deutschen Volkes die Summe von 30 Milliarden
Goldmark (Friedenseinkommen) zugrunde und die Tatsache, daß die
Minderung des Arbeitserfolges nicht an allen 6 Tagen, sondern nur
an einem Arbeitstage in der geschilderten Weise in die Erscheinung
tritt. Er gelangt zu dem niederschmetternden Ergebnis, daß durch
Alkoholgenuß die gesamte deutsche Arbeit im Laufe eines Jahres eine
qualitative und quantitative Schädigung von rund 1000 Millionen
Goldmark erfährt.
Damit aber noch nicht genug. Die Volkswirtschaft und damit auch
unser Volksvermögen erleiden noch weitere einschneidende Verluste
dadurch, daß ihnen infolge des Alkoholgenusses Arbeitskräfte entzogen
werden durch de Verkürzung des wirtschaftlichbrauch-
baren Lebens des einzelnen Alkoholikers. Es ist nachgewiesen,
daß die Alkoholiker in weit höherem Grade als die Allgemeinheit an
den langwierigsten Krankheiten leiden. Nach einer Statistik der Leip-
ziger Ortskrankenkasse wurden 0,52 Proz. Alkoholiker (ausgesprochene
Trinker) gezählt. Während ihr Gesundheitszustand am Anfang ein
überdurchschnittlicher ist, zeigt sich allmählich eine starke Verschlech-
terung gezählt. Die Sterblichkeit der Alkoholiker ist 1,2—2,9 mal so
groß, als die der Allgemeinheit. Dr. Elster berechnet den
Verlust der deutschen Volkswirtschaft durch
Krankheit und vorzeitigen Tod, die durch den Al-
koholverschuldetsind, auf2'!» MillionenGoldmark
ım Jahr. Dazu kommt dann noch die vermehrte Belastung der
Versicherungseinrichtungen, vor allem der Krankenkassen, durch diese
häufigen Erkrankungen. Weymann hat an Hand genauer Erfahrungen
berechnet, daß die deutsche Arbeiterversicherung mindestens um
270 Abhandlungen.
5 Proz. billiger wirtschaften würde, wenn sie nicht unter dem Alkohol-
mißbrauch zu leiden hätte! Das allein wären schon 10 Millionen
Goldmarkim Jahr. Dazu kommt weiter die vermehrte Belastung
“der Invaliden- und Altersversicherung infolge vorzeitiger Arbeits-
unfähigkeit und, nicht zu vergessen, die starke Belastung der Berufs-
genossenschaften durch die Unfallhäufigkeit infolge der zahl-
reichen Betriebsunfälle, die gerade bei Alkoholikern zu verzeichnen sind.
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal ganz kurz alle die Tat-
sachen, die wir in unseren Betrachtungen erwähnt haben:
Die Belastung der Wohlfahrtsämter, Jugendämter und sonstigen |
Fürsorgeeinrichtungen, die starke Belegung der Irrenhäuser und die |
häufige Inanspruchnahme der offenen Fürsorge durch Geistes- und |
Gemütskranke, endlich die Tätigkeit der Gerichte durch Aburteilung
von Verbrechen und Vergehen, die im Rauschzustande begangen sind, _
sowie die starke Belegung der Gefängnisse, und nehmen wir dazu dann °
diese gewaltigen Zahlen, die eben angeführt wurden. Es ist gar nicht
notwendig, daß wir sie in ihrer ganzen Größe anerkennen. — Sie
beruhen auf Schätzung, und zwar auf einer vorsichtig durchgeführten
Schätzung. Aber selbst wenn wir sie nur zu einem Bruchteil an- :
erkennen wollen, vielleicht nur zu einem Drittel, dann ergeben die :
Ziffern:
(nutzlos vertrunkener Alkohol . . . . . . . . 2000 Mill. GM. :
Krankheit und vorzeitiger Tod . . . . . . . 2500 Mill. GM. į
Herabsetzung der Arbeitsqualität und -quantität . 1000 Mill. GM. į
5500 Mill. GM.) |
schon die riesige Summe von nahezu 2000 Millionen Goldmark, die |
neben den anderen Schädigungen als Belastung unserer Wirtschaft, als |
Schwächung unseres Volksvermögens vorhanden sind und als Mindest- |
ziffer, wie wir sie angenommen haben, den Tatsachen nahekommen |
werden, eine Summe so groß, um damit für die beiden kommenden |
Jahre die Reparationsleistungen vollbringen zu können. Und dabei |
gehen diese Berechnungen doch davon aus, daß,
jedem Haushalt ein mäßiger und vernünftiger Pro- :
zentsatzder Gesamtausgabeals Getränkeausgabe,
eingeräumt wird. l
Angesichts dieser Tatsachen können wir nur staunend stille stehen |
und uns fragen, warum der Staat und die Parteien zu diesem über- |
wältigenden Ergebnis noch nicht Stellung genommen und noch keine į
amtliche Veröffentlichung dieses Materials veranlaßt haben, um die |
Allgemeinheit aufzuklären und zu belehren, auf welche verhältnismäßig :
leicht erträgliche Art und Weise eine Mehrung des Volksvermögens |
und damit eine Besserung unserer Wirtschaft erzielt werden könnte,
so daß die ungeheuren Leistungen, die von uns in den nächsten Jahren
zu vollbringen sind, nicht als schwer drückende Last empfunden zu `
werden brauchten. Man hört heute so viel von Wiederaufbau unserer
un
ETRE pa
Pr
Snell, Eine Denkschrift für Schaffung eines deutschen Trinker-Fürsorgegesetzes. 271
Wirtschaft und Gesundung unserer Finanzen sprechen, und noch mehr
wird darüber geschrieben. Wollen wir doch allen diesen Personen,
die davon sprechen und darüber schreiben, immer und immer wieder
das Ergebnis unserer heutigen Betrachtungen vor Augen führen und
ihnen zurufen: „Hier habt ihr das Rezept; wenn Ihr es ernst meint,
gebraucht es!“
l Eine Denkschrift
über die Notwendigkeit der Schaffung
-eines deutschen Trinker-Fürsorgegeseßes.
Von Geh. Sanitätsrat Dr. Snell in Lüneburg.
Der Deutsche Verein für Psychiatrie hat auf seiner Jahresversammlung
zu Dresden im September 1922 eine Kommission gewählt, um über einen
Antrag des Dr. Colla zu beraten, der en a hatte, der Verein moge
mit enem Gesuche um Einbringung eines Trinkerfürsorgegesetzes an die
Reichsregierung herantreten. Die Kommission beauftragte den Dr. Colla
mit. der Ausarbeitung einer Denkschrift zu der Frage und diese Denkschrift
wird nunmehr in dem am 27. Juli 1925 erschienenen Hefte der Allgemeinen
Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin veröffentlicht
und zur Diskussion gestellt.
Der Alkoholismus ist eine von den großeñ Volkskrankheiten, deren
Bekämpfung eine wichtige Pflicht des Staates ist, eine mindestens ebenso
wichtige wie die Bekämpfung der Tuberkulose und der Geschlechtskrank-
heiten. Eine bedeutende Seite der Bekämpfung des Alkoholismus ist von der
Gesetzgebung noch kaum berücksichtigt worden, nämlich die Fürsorge für
den Trunksüchtigen selbst. Für Deutschland ist leider die Tatsache festzu-
stellen, daß nach dem starken Rückgang des Alkoholismus im Kriege ein
neues, anfangs stürmisches, jetzt langsameres, aber sehr erhebliches Wachsen
der Trunksuchtserscheinungen gefolgt ist. Die Zahl der Aufnahmen von
Alkoholkranken in die Krankenanstalten hat diejenige der Vorkriegszeit er-
reicht, teilweise sogar schon überschritten. Für einzelne Krankheitsformen
scheint die Ueberschreitung der Zahlen von 1913 allgemein zu sein. Be-
souders fällt die Beteiligung der Jugendlichen am Alkoholismus auf. Der
Bieralkoholismus mit seinen vorwiegend körperlichen Entartungserschei-
nungen trat anfangs gegenüber dem Wein- und Schnaps-Alkoholismus ganz
zurück, hat aber in neuester Zeit seit Wiedereinführung des Starkbieres
wieder erheblich zugenommen. |
In dem Kampfe gegen den Alkoholismus ist die Behandlung der Trunk-
Süchtigen eine Aufgabe von größter Wichtigkeit. Jeder Alkoholiker ist durch
` seme Krankheit mindestens so gefährlich wie ein Tuberkulöser oder Ge-
schlechtskranker.. Man bedenke die Keimschädigung mit ihren entartenden
Folgen für die Nachkommenschaft, das Heranwachsen der Kinder unter dem
trunksüchtigen Vater, an das schlechte Beispiel des moralisch gesunkenen
Trinkers überhaupt, an die Belastung der Krankenkassen und Versicherungs-
anstalten, an die Vermehrung der Unfälle durch die Alkoholiker. Besonders
zeigt sich aber die Gemeingefährlichkeit der Trinker in der Statistik der
Verbrechen. Nicht nur die Gesetze und Polizeimaßnahmen, die die Ein-
dimmung des Alkoholgenusses erstreben, nicht nur die Tätigkeit gemein-
aütziger Vereine zur Besserung der Lebensgewohnheiten und sonstige vor-
gende Maßnahmen sind notwendig, sondern vor allem auch die Eriassung
s vorhandenen Uebels bei dem Einzelnen. Der Jahresbericht der Landes-
versicherungsanstalt Westfalen für das Jahr 1923 beklagt den Mangel einer
2712 œ | Abhandlungen.
geregelten el age und erklärt ihre gesetzliche Einführung für un-
erläßlich, wenn die info
Not gelindert und das Trinkerelend wirksam bekämpft werden soll.
Der Alkoholismus ist eine Krankheit, eine fortschreitende Entartung.
der Körperorgane, vor allem des zentralen Nervensystems. Ein Alkoholiker
kann nur dadurch geheilt werden, daß er sich ein für alle mal außerhalb
der leider bei uns noch herrschenden Trinksitten stellt, also zeitlebens ent-
haltsam bleibt. Leider können nicht alle Trinker durch die Abstinenz-
behandlung ‚vollkommen geheilt werden. Die Arbeit, die geleistet werden
muß, um einen Alkoholiker in Gegensatz zu bringen zu der die Welt be-
herrschenden Trinksitte und ihn so zu festigen, daß er sich darin Behaupten
kann, hängt von so viel äußeren und inneren Umständen ab, daß ein
günstiges Ergebnis oft genug ausbleibt.
Von allen Süchtigen gehen die Alkoholiker am wenigsten freiwillig zum
Arzte oder in eine Anstalt. Morphinisten und Kokainisten leiden viel
weniger an der optimistischen Einsichtslosigkeit, die man bei Alkoholiker
so häufig findet; die Grenzen des ausgesprochenen Alkoholismus gegenüber
ge der Trunksucht in vielen Familien herrschende
dem gewohnheitsmäßigen, noch für erlaubt geltenden Genusse geistiger
Getränke ist so verschwommen, daß die Beeinflussung seitens der Ange-
hörigen oft lange zögert, sich geltend zu machen; auch werden die Geld-
ausgaben für Alkohol unter die Lebensnotwendigkeiten gerechnet, während.
die Ausgaben für Morphium und ähnliche Gifte viel eher als vermeidbare
Luxusausgaben aufgefaßt werden. Trotzdem treten viele Alkoholiker frei-
willig in Trinkerheilstätten ein, aber von diesen werden viele deshalb nicht
eheilt, weil sie zu früh wieder austreten, woran sie nicht gehindert werden
önnen. Günstiger sind die Aussichten bei der Versorgung entmündigier
Trinker, weil der Vormund das Recht hat, den Aufenthaltsort des Mündels
zu bestimmen. Bei der Schwerfälligkeit des Entmündigungsverfahrens
kommt es leider in vielen Fällen erst dann zur ANGELN: wenn kaum
ac
noch Aussicht auf eine u SA Behandlung besteht.
geltenden Gesetzen ist daher di
die Allgemeinheit, die zumeist Schaden und Kosten zu tragen hat, sondern
namentlich auch für den Trinker selbst eine große Wohltat.“ In England,
Schweden, vielen Kantonen der Schweiz und einigen Staaten der Union
h den jetzt
e Entmündigung wegen Trunksucht wohl ge-
eignet, einen degenerierten Alkoholisten unschädlich zu machen, aber kaum
von Bedeutung für ein rechtzeitiges Eingreifen, um einen heilbaren Alkoho-
liker auch gegen seinen Willen zwangsweise einer Behandlung zuzuführen.
Kraepelin hat 1913 gesagt: „Ein Trinkerfürsorgegesetz, das gestattete, den
Trinker wie jeden anderen Hilfsbedürftigen oder gemeingefährlichen Geistes-
kranken einer geeigneten Behandlung zuzuführen, wäre daher nicht nur für
ist die zwangsmäßige Behandlung der Trinker eingeführt, entweder auf
erichtlichem oder auf. dem Verwaltungswege. Die Erfahrungen, die man
ın diesen Ländern mit der Zaang behan ung der Trinker gemacht hat,
sind gut. Auch in Deutschland ist daher schon oft ein ähnliches Gesetz
gewünscht worden.
Während. für die | unheilbarer Alkoholiker nur die Anstalt
i Da
in Frage kommt und für diese
lle die...ıenfünsorge und das Entmündi-
gungsverfahren ausreichende Grundlagen geben, ist die Frage, ob es zweck-
mäßig ist, alle heilbaren Trinker einer Anstaltsbehandlung zu unterwerfen,
umstritten. Die Abstinenzorganisationen haben in vielen Fällen hervor-
ragende Erfolge in der Erziehung von Alkoholikern zur Enthaltsamkeit.
Daneben sind jedoch Trinkerheilstätten unentbehrlich, denn viele Trinker
wollen in keinen Abstinenzverein eintreten und viele müssen durchaus aus
ihrer ganzen bisherigen Umgebung entfernt werden. Zur Behandlung der
Trinker sind besondere Anstalten erforderlich. Offene Sanatorien und all-
gemeine Krankenhäuser sind ganz ungeeignet. Die Irrenanstalten entlassen
meistens die Trinker nach Ablauf der akuten Krankheitserscheinungen. ZU
ihrer längeren Behandlung sind die Irrenanstalten meistens zu groß und mt
einer zu geringen Zahl von Aerzten ausgestattet.
Snell, Eine Denkschrift für Schaffung eines deutschen Trinker-Fürsorgegesetzes. 213
Es bestehen in. Deutschland Trinkerheilanstalten, die meist durch chari-
tative Vereinigungen ins Leben gerufen worden sind. Viele von ihnen sind
während des Krieges aus Mangel an Zustrom oder nach dem Kriege aus
Mangel an Geldmitteln eingegangen, sodaß nur noch etwa 20 arbeiten, teil-
weise unter sehr schwierigen Verhältnissen. Die deutschen Trinkerheilanstalten
sind gesetzlich gewissermaßen anerkannt durch die Reichsversicherungs-
ordnung, wo der $ 120 bestimmt, daß die einem Trinker zu gewährende Sach-
kistung auch durch Aufnahme in eine Trinkerheilstätte geboten werden kann.
In dem Entwurf des neuen Strafgesetzes wird in Aussicht genommen, daß
von den Gerichten unter Umständen die Verbringung in eine Trinkerheilanstalt
bei kriminellen Alkoholikern angeordnet werden muß. Falls dieser Entwurf
Gesetz wird, ist also das Reich gezwungen, dafür zu sorgen, daß die vom
Richter ausgesprochene Verbringung in eine Trinkerheilstätte auch wirklich
ausgeführt werden kann.
Das Gesetz, dessen Erlaß notwendig erscheint, würde zweckmäßig den
Namen „Trinkerfürsorgegesetz“ oder „Gesetz betreffend die Fürsorge für
Trunksüchtige und Trunkfällige“ erhalten. Es ist wichtig, in dem Namen
des Gesetzes zum Ausdruck zu bringen, daß es sich bei dem Gesetze um
eine humanitäre Maßnahme handelt, ähnlich wie bei der Fürsorge für
- und Geschlechtskranke. Der Ausdruck „Fürsorge“ umfaßt alle
Maßnahmen, die bei der Bekämpfung der Trunksucht an dem einzelnen
Menschen in Frage kommen können: Schutzaufsicht, Zwangsheilung, Ver-
sorgung bei Unheilbarkeit und andere gelegentlich etwa zu verwendende
Mitte. Der Ausdruck „Fürsorge für Trunksüchtige und Trunkfällige‘ würde
Rücksicht nehmen auf die Alkoholintoleranten, die nicht Trinker oder Trunk-
süchtige im gewöhnlichen Sinne sind, sondern durch geringe Mengen alko-
bolischer Getränke in schwere, krankhafte Rauschzustände geraten und für
die zum Unterschiede von den eigentlichen Trunksüchtigen der Ausdruck
„Irunkfällige‘“ vorgeschlagen wird.
Der- wesentliche Inhalt des Gesetzes muß der sein, daß die Möglichkeit
geschaffen wird, einen Alkoholiker auch gegen seinen Willen zu behandeln,
nötigenfalls ihn zwangsweise, auch ohne vorherige Entmündigung, in eine
Trin erheilanstalt zu versetzen oder, bei Unheilbarkeit, in einer Pflege- oder
Verwahrungsanstalt zu internieren. Unter Berücksichtigung der bereits be-
stehenden Bestimmungen und der zu erwartenden Vorschriften des neuen
Straigesetzbuches ergeben sich folgende Möglichkeiten: Zwangsheilung ohne
Entmündigung, Entmündigung mit NEE NEIL LUNG zum Heilversuche,
ERBNES VCF OLEUNE bei Unheilbarkeit mit oder ohne Entmündigung, Inter-
nerung auf Grund des Strafgesetzbuches und schließlich Behandlung auf
Grund der Reichsversicherungsgesetze. f
Es wird zweckmäßig sein, in einem künftigen Trinkerfürsorgegesetz zu
bestimmen, daß das Vormundschaftsgericht die Versetzung des entmündigten
Trinkers in eine Trinkerheitstätte oder, bei Unheilbarkeit, in eine Verwah-
rungsanstalt anordnen muß, wenn das mit Rücksicht auf die Heilung des
Trinkers oder seine oder der l o e Sicherheit notwendig erscheint.
Den Hauptpunkt der jetzt notwendigen Erörterungen bildet jedoch die Frage
nach den Voraussetzungen: für zwangsweise Verbringung in eine Anstalt
ohne vorheriges Entmündigungsverfahren und ohne Strafurteil. Es wird die
Fassung vorgeschlagen: „Wer infolge von Alkoholgenuß sich selbst oder die
Sicherheit anderer gefährdet, seine Familienpflichten on oder
öffentliches Aergernis erregt, kann auch gegen seinen Willen in eine Trinker-
heilanstalt gebracht werden.“ In der eigenen Gefährdung liegt natürlich
die durch den Alkoholgenuß bewirkte Gesundheitsgefährdung mit ein-
geschlossen. Abzulehnen ist der Grundsatz, daß die persönliche Freiheit,
sich selbst zu ruinieren, gesetzlich unangetastet bleiben müsse; jeder
Alkoholiker ist, weil er durch den Trunk entartet, gemeingefährlich, und
zwar in strafrechtlicher, sozialer und allgemein hygienischer Beziehung.
, Das Antragsrecht ist der Staatsanwaltschaft, der Armenbehörde und der
Trinkerfürsorgestelle zuzusprechen, als den drei Instanzen des bedrohten
Die Alkoholfrage, 1925. 18
274 Abhandlungen.
kechtes, der gefährdeten Ortsfinanzen und der Volksgesundheit. Die private
Antragsberechtigung könnte entsprechend der durch die Zivilprozeßordnung
iur das Entmündigungsverfahren eingeführten abgegrenzt werden.
Die beschließende Behörde kann entweder das Amtsgericht oder eine
verwaltungsbehörde sein. Für die Wahl des Gerichtes spricht das herr-
schende Volksbewußtsein, das gewöhnt ist, in der Zulassung des Rechts-
weges die höchste Gewähr für eine unparteiische Rechtsbehandlung zu
sehen. Die Entscheidung einer Verwaltungsebhörde hätte den Vorzug,
einfach, schnell und von dem Ansehen einer helfenden Maßnahme,
nicht einer Maßregelung zu sein. Es ist auch vorgeschlagen, ein
besonderes Spruchkollegium zu schaffen, das aus dem Vorsitzenden des
Wohlfahrtsamtes, einem Richter und dem Kreisarzte bestehen könnte; als
Berufungsinstanz könnte das Vormundschaftsgericht benannt werden. Schließ-
lich könnte man das Verfahren bei Alkoholikern ganz dem bei Geisteskranken
ee so daß in Preußen die Landratsämter und die Magistrate der
tädte die zuständige Behörde sein würden.
Bei Gefahr im Verzuge muß eine beschleunigte, vorläufige Unterbringung
auf amtlichen Antrag ermöglicht werden. Die beschleunigte Versorgung
ist durchaus notwendig in Fällen von Selbstmordgefahr, verhängnisvoller
Verschwendung, aD ungen oder sonstiger Gemeinschädlichkeit. Es ist
zu erwägen, ob bei der vorläufigen Versorgung nicht einfach ein Zeugnis
des Amtsarztes genüge.
Bei der Entmündigung wegen Trunksucht ist die Einholung eines
ärztlichen Gutachtens nicht vorgesehen. Es empfiehlt sich jedoch, schon
um den Charakter der Heilbestrebung zu wahren, bei der zwangsweisen
Ueberführung in eine Trinkerheilanstalt ein ärztliches Gutachten vor-
zuschreiben.
Der freiwillige Eintritt in eine Anstalt oder Beitritt zu einem Enthaltsam-
keitsverein muß angestrebt werden, bevor die Zwangsmaßnahmen in Wirk-
samkeit treten. Die Verbindung von Freiwilligkeit der Aufnahme mit
zwangsmäßiger Zurückhaltung und Verpflichtung auf eine Bestimmte oder
eine vom Urteil des Anstaltsleiters abhängige Deit bietet Schwierigkeiten.
Wenn nicht durch das Gesetz eine zwangsmäßige Zurückhaltung in der
Anstalt auch für die freiwillig eingetretenen Trinker ermöglicht wird, so ist
für die Alkoholiker schlecht gesorgt, denn es wird häufig der Aufenthalt in
der Heilanstalt zu frühzeitig abgebrochen werden, so daß Zeit und Geld
unnütz vergeudet sind.
Von einer Verknüpfung der Anstaltsbehandlung mit Entmündigung und
anderen privatrechtlichen schränkungen wie Entziehung der elterliçhen
Gewalt ist abzusehen. Viele Entmündigte gehören zur Behandlung oder
Verwahrung in eine Anstalt, aber ein internierter Trinker bedarf an sich
nicht der Entmündigung, weil er in eine Anstalt verbracht ist. Ob Ent-
mündigung oder Entziehung der elterlichen Gewalt notwendig ist, muß von
Fall zu Fall, unabhängig von der Anstaltsbehandlung, entschieden werden.
Häufig wird die Einsetzung einer Pflegschaft genügen.
Der Zwangsbehandlung eine gesetzliche zeitliche Begrenzung zu geben,
ist vom rein ärztlichen Standpunkte nicht berechtigt, denn die Zeit, die
für die Heilung eines Leidens erforderlich ist, kann nicht vorausgesagt
werden. Zur Beruhigung des Volkes bei einer so einschneidenden Maßnahme
sind jedoch gewisse zeitliche Grenzfestsetzungen wohl nicht zu vermeiden.
Bei den schon bestehenden Gesetzen anderer Länder schwankt die Mindest-
dauer zwischen 6 und 12 Monaten, die Höchstdauer zwischen 1 und 3
Jahren. Der Entwurf des neuen deutschen Strafgesetzbuches beschränkt die
Unterbringung auf 2 Jahre, eine Zeit, die gegenüber verbrecherischen
Alkoholikern recht knapp bemessen ist. Nach allgemeiner ärztlicher Er-
fahrung kann man die Mindestdauer, die zur Heilung eines Alkoholikers
erforderlich ist, auf 9 Monate ansetzen. Da im allgemeinen nach 1:4 Jahren
sich zur Genüge herausgestellt haben wird, ob ein Trinker als vollständig
gefestigt oder gebessert oder als unheilbar anzusehen ist, so könnte man
Srell, Eine Denkschrift für Schaffung eines deutschen Trinker-Fürsorgegesetzes. 275
für das Gesetz den Wortlaut vorschlagen: Die Dauer der Unterbringung
beträgt in der Regel 9 bis 18 Monate, bei Rückfällen entsprechend mehr.
Neben der zwangsmäßigen Anstaltsbehandlung müssen auch andere
Fürsorgemaßnahmen in dem Gesetze vorgesehen werden. Es kommen in
Betracht: Ansetzung einer Besserungsfrist, Verfügung des Eintrittes in einen
Abstinentenverein, Erteilung der Weisung, sich geistiger Getränke zu ent-
halten oder sich an einem bestimmten Orte oder bei einem bestimmten
Arbeitgeber aufzuhalten, und Ernennnung eines Beschützers. Diese Maß-
Der können einzeln oder in Verbindung miteinander getroffen werden. Die
utzaufsicht durch Eintritt in Enthaltsamkeitsvereine ıst in Deutschland be-
reits in dem Entwurfe des neuen Strafgesetzbuches für verbrecherische Trinker
da vorgesehen, wo sie an Stelle der Anstaltsbehandlung genügt. Es wird
jedoch notwendig sein, nicht einen Enthaltsamkeitsverein als solchen, sondern
ein bestimmtes Mitglied mit der Schutzaufsicht zu betrauen und eidlich
zu verpflichten. Bei einem Rückfall unter Schutzaufsicht muß dann freilich
sofort Anstaltsbehandlung eintreten, weil sonst unnütze Zeit verschwendet
und die Aussicht auf Heilung verschlechtert wird. Auch nach der Entlassun
aus der Anstalt ist in vielen Fällen Schutzaufsicht notwendig. Der Anschlu
an einen Enthaltsamkeitsverein ist auch für den Einsichtigen und den gegen
die Verführung widerstandsfähig gewordenen Pilegling nach der Entlassung
aus der Anstalt eine sehr wünschenswerte und oft dringend notwendige
Maßnahme. Gelingt es dem Leiter der Trinkerheilanstalt nicht, von dem
Piegling bei der Entlassung die notwendig erscheinende Aufnahme in einen
abstinentenverein zu erreichen, so muß die Möglichkeit der zwangsweisen
Schutzaufsicht bestehen.
Die Organisation und a Le der Trinkerheilanstalten bedarf
der gesetzlichen Regelung. Bei aller Verschiedenheit der Anlage muß die
Einheitlichkeit gewisser Grundsätze gesetzlich gewahrt werden, nämlich:
strengste Durchführung der Enthaltung vom Alkohol in jeder Form und
Konzentration mit enthaltsamem Leiter und ebensolchem Pflegepersonal,
systematische Arbeit und Erziehung zur Lebensanschauung gänzlicher
nthaltung von geistigen Getränken. „Nur der wird dem Alkoholismus
eatrissen, der ein überzeugter Feind der Trinksitten wird.“ Die Organisation
der Trinkerfürsorge wird den einzelnen Staaten zugewiesen werden müssen;
wird die Landesgesetzgebung die Bestimmungen für die Einrichtung
der Trinkerheilanstalten treffen müssen. Daß die Oberleitung der Trinker-
fürsorge in den Händen eines mit der Alkoholfrage genau vertrauten Arztes
liegen muß, bedarf keiner Erörterung. Dagegen ist es sehr wohl möglich,
daß kleinere Anstalten auch in Zukunft von einem „Hausvater“, oder wie
man den Laienvorsteher nennen will, geleitet werden. Kleinere Anstalten
bilden die beste Gewähr für strenges Individualisieren, für gute Aufsicht und
Kontrolle. Falls Privatanstalten zugelassen werden sollen, so muß streng
darauf gesehen werden, daß ihnen der Charakter einer Alkoholentziehungs-
anstalt gewahrt bleibt; eine Ausdehnung der Anstalt auf Nervöse und dergl.,
wodurch sie einem gewöhnlichen Sanatorium gleichgestellt werden würde,
muß unter allen Umständen unterbunden werden. Höchstens können Mor-
Phinisten, Kokainisten und andere Süchtige gleichzeitig mitbehandelt werden,
und sie sind in einer solchen Anstalt am besten auigehoben. Oeffentliche
Anstalten werden voraussichtlich mit der Zeit schon deshalb entstehen, weil
die Sorge für die behandlungsbedürftigen Trinker im Unvermögensfalle den
Armenverbänden zufallen wird. Eine Trennung der Trinker nach der
were der Erkrankung, nach Unbescholtenheit oder Kriminalität ist
wünschenswert. Insbesondere dürfen nicht heilbare und unverbesserliche
Tinker in einer und derselben Anstalt interniert werden. Namentlich die
erichte aus Schweizer Anstalten haben immer die Schwierigkeiten betont,
die sich aus dem Zusammenlegen unheilbarer und heilbarer Trinker ergeben.
` lange keine Verwahrungsanstalten für unheilbare Trinker bestehen, können
chronische Alkoholiker in den Irrenanstalten untergebracht werden, denen
sie allerdings wenig willkommen sind. Die Rheinprovinz hat bereits eine
18*
276 Abhandlungen.
Anstalt, die dazu eingerichtet ist, neben Arbeitsscheuen auch Trinker aul-
zunehmen: Die Abteilung für unindigte Trinker und Arbeitsscheue bei
der Provinzial-Arbeitsanstalt zu Brauweiler.
Die Versorgung der kriminell gewordenen Trinker wird in Deutschland,
sobald wir das neue Strafgesetzbuch erhalten haben, akut werden. Ihre
Regelung wird sich kaum einheitlich ermöglichen lassen. Es wird beispiels-
weise nicht angehen, einen gutwilligen Menschen, der infolge eines patho-
lögischen Rausches gesetzwidrig gehandelt hat, ebenso zu versorgen wie
einen entarteten, rückfälligen Alkoholiker. Der Entwurf des Straigesetzes
kennt nur die Trinkerheilanstalt. Diese Einseitigkeit wird später dahin
ergänzt werden müssen, daß der Leiter der Trinkerheilanstalt die Versetzung
des für die Anstalt ungeeigneten Trinkers in eine Pflegeanstalt oder Ver-
wahrungsanıstalt in beschleunigtem Verfahren veranlassen kann.
Die Trinkerfürsorgestellen, die seit etwa 15 Jahren, namentlich auf
Betreiben des Deutschen Vereins gegen den Alkoholismus, in Deutschland
a ala sind, haben sich in jeder Weise bewährt. Die Trinkerfürsorge-
stellen sollen Beratungsstellen sein für Alkoholiker und deren Verwandte.
Sie sollen wie die Fürsorgestellen für Lungenkranke die Hilfsbedürftigen
aufsuchen und in reger Verbindung mit der Enthaltsamkeitsbewegung
arbeiten als „Zentralstellen, in denen für einen bestimmten Wirkungskreis
alle Fäden der Alkoholikerfürsorge zusammenlaufen.“ Alles Polizeiliche,
Denunziantenhafte oder sonst Odiöse muß von ihnen ferngehalten werden.
Sowohl private als amtliche Fürsorge ist möglich. Nachdem in Deutschland
die Wohlfahrtsämter eingeführt sind. fügt sich die Trinkerfürsorge fast von
selbst ein und es müßte in ein zukünftiges Trinkerfürsorgegesetz die
Bestimmung aufgenommen werden, daß in jedem Wohfahrtsamte eine
Abteilung für Trinkerfürsorge eingerichtet werde. Für diese muß dann das
Recht, die Verbringung eines Trinkers in eine Anstalt zu beantragen,
zugestanden werden. |
Die Kosten der Trinkerfürsorgestellen müssen aus kommunalen Mitteln
bestritten werden, weil die Trinkerfürsorge den städtischen oder ländlichen
Wohlfahrtsämtern zusteht. Die Kosten der Anstalten, werden bisher aus
Vereinsbeiträgen und dergl. bestritten, wobei die Pensionsgelder nur einen
Bengen Beitrag zu den Betriebskosten liefern. Wenn in Deutschland ein
rinkerfürsorgegesetz zustande kommt, so werden die vorhandenen Trinker-
heilanstalten, von denen im Kriege eine große Zahl eingegangen ist, mit
der Zeit nicht ausreichen. Die Kostenfrage wird dann Schwierigkeiten
machen. Es würde ganz im Sinne der beabsichtigten Trunksuchtsbekämpfung
liegen, wenn die aus dem Spiritusmonopol dafür bereitgestellten Mittel zum
großen Teile den Anstalten zugute kämen. Diese Gelder können nicht besser
angewendet werden; durch Trinkerheilung besteht berechtigte Aussicht, Irren-
und sonstige Krankenanstalten, ebenso Armenhäuser und Gefängnisse, in
einem gewissen Grade zu entlasten. Die Errichtung einer Trinkerheilanstalt
ıst, wenn man auch nur eine Durchschnittszahl von einem Drittel Heilungen
annimmt, ein auch finanziell nicht unbeachtliches Unternehmen für den
Staat. Sie stellt in Aussicht: Einschränkung der Kriminalität, der Verarmung,
der Krankheiten und Unfälle und eine Vermehrung der Steuerkraft der
Bevölkerung. Außerdem ist es sittliche Pflicht des Staates, für die Heilung
der Alkoholiker ebenso zu sorgen wie für Geisteskranke und Epileptiker.
Die Trinkerfürsorge muß sich in die Ausführungsgesetze zum Reichsgesetze
über den Unterstützungswohnsitz einfügen. Die Aufbringung der Pflege-
kosten in der Trinkerheilanstalt erledigt sich bei zahlungsfähigen Trinkern
von selbst. Bei den mittellosen Trinkern müssen die Pflegekosten entsprechend
dem Gesetze über den Unterstützungswohnsitz aufgebracht werden. Das
ist gerechtfertigt, weil die Trunksucht als Krankheit im Sinne dieses Gesetzes
zu bezeichnen ist. Dies müßte in dem Trinkerfürsorgegesetze ausdrücklich
ausgesprochen werden.
Die gesamte Trinkerfürsorge muß durch Strafbestimmungen gestützt
werden. Unter Strafe müssen gestellt werden: die wissentliche oder fahr-
Egloffstein, Zeugenaussage und Trunk. 277
lässige Verabreichung von geistigen Getränken an Pfleglinge einer Trinker-
heil- oder Bewahranstalt, sowie überhaupt an alle unter Trinkerfürsorge
stehenden Personen oder ihre Verführung zum Alkoholgenuß in irgendeiner
Weise, ferner die Behinderung der Versorgung eines Trinkers, die Hilfe
zum Entweichen aus einer Anstalt und sonstige ge en den Zweck des ,
Gesetzes verstoßende Handlungen, seien sie absichtlich oder fahrlässig
begangen.
Diese Vorschläge Collas sind geeignet, die Grundlage zu bilden für den
Meinungsaustausch über ein deutsches Trinkerfürsorgegesetz.
Zeugenaussage und Trunk.
Eine Untersuchung zur gerichtlichen Seelenkunde.
/ Von Oberregierungsrat Leo von Egloffstein.
Il. Aussage.
Der Beweis war immer ein Schmerzenskind der Gerichte. In den Tagen
der Gottesgerichte, in den Zeiten, da man den Glauben an das Geständnis
als die Krone der Beweise zu Tode folterte, bis in die Gegenwart, da sich
auch die beeidete Zeugenaussage als von Grund aus unzuverlässig erweist
und tausend Möglichkeiten aufgedeckt werden, unter denen eine wahrheits-
gemäße Aussage dem Zeugen unmöglich ist.
Unter all den Mächten, die dem Zeugen die Fähigkeit stören, richtig
wahrzunehmen, zu urteilen, zu behalten und wiederzugeben, ist kaum eine
dem Trunk zu vergleichen. Aber wir sind so sehr in den Trinksitten
befangen, daß auch die Hüter des Rechts bisher diesen Feind der Wahrheit
zu wenig gewürdigt haben.
‚ 1.Die Wahrnehmung. An die vielfachen Versuche sei erinnert,
die angestellt worden sind, um den Einfluß des Trunks auf Sinne und
verstand zu prüfen. Man hat Lern-, Rechen-, Denk- und Beobachtungs-
übungen anstellen und andere geistige Arbeiten verrichten lassen von An-
getrunkenen und zum Vergleich von Nüchternen. Immer wurde das Gleiche
beobachtet. Schon bei ganz mäßigem Trunk werden die Sinne und die
verstandeskräfte abgestumpft und die feinsten seelischen Fähigkeiten sind es,
die zuerst versagen. Das Gleiche muß bei den Wahrnehmungen eintreten,
die Gegenstand einer gerichtlichen Vernehmung werden können.
jedem Richter ist der Unterschied bekannt zwischen der lebensvollen
p nung cine wohlgearteten jungen Menschen oder eines berufsfreudigen
nüchternen Beamten und den trägen stumpfsinnigen Aussagen eines Wirts-
hausgastes. Man könnte auch die Versuche ergänzen: Man führe Reihen-
bilder, einen Ausschnitt aus einem Kinostück vor und lasse dann die Wahr-
ungen bis ins Kleinste erzählen. VonNüchternen und von Angetrunkenen.
Man wird sehen, wie vieles dem Angetrunkenen entgangen, wie er manches
lalsch gesehen hat.
‚ Man könnte nach den Gemütsarten, den Temperamenten unterscheiden,
wie der Trunk die Geistesgaben lähmt. Der Phlegmatische, Geruhige, sonst
gerade zu kühler, leidenschaftloser Beobachtung geeignet, wird träge, ihm
entgeht das Wichtigste. Der Leichtlebige, Sanguinische, sonst aufgeschlossen
und feinfühlig, wird unzuverlässig, beeinflußbar, der Koleriker, der Zorn-
mütige, der sonst seine Sinne beherrscht, läßt sich vom ersten Eindruck
hinreißen und verliert die kühle Besinnung. Der Melancholiker, der Schwer-
mütige, überlegt zu viel und wird hintersinnig.
‚Die Beobachtung, die der Zeugenaussage zugrunde liegt, besteht zum
kleineren Teil aus rein sinnlichen Wahrnehmungen und schon diese sind
bedenklich abgestumpft durch den Trunk. Es gehören dazu eine Reihe von
Schlüssen, ätzungen, Vergleichen. Also recht feine Denkarbeiten, die
278 Abhandlungen.
unbefangene Ueberlegung fordern, sind nötig. Und gerade die Unbefan-
genheit fehlt dem Angetrunkenen.
Vor allem die Unbefangenheit sich selbst gegenüber.
In den Berichten von den Versuchen an Nüchternen und Angetrunkenen
lesen wir immer wieder: „Die geistigen Leistungen waren unter Trunk-
wirkung geringer, aber der Angetrunkene glaubte besonders gut zu arbeiten.“
Diese Erfahrung mag bei den Versuchen nur eine merkwürdige Neben-
erscheinung gewesen sein. Für die Beurteilung der Aussagen ist sie die
wichtigste. Der Angetrunkene glaubt besonders gut beobachtet zu haben.
Die Selbstprüfung des Nüchternen tritt zurück. Damit ist schon eine Menge
von falschen Beobachtungen, Schätzungen, Trugschlüssen für immer festgelegt.
Dann die Unbefangenheit von eigenen Neigungen, Wünschen,
Vorurteilen. Der Nüchterne, sofern er guten Willens ist, läßt sie zurücktreten.
Beim Angetrunkenen beherrschen sie von vornherein die Wahrnehmung. Haß
und Liebe, Argwohn und Zuneigung, Eigennutz und Schadenfreude, Miß-
trauen und blindes Zutrauen, Parteigeist und Eigenbrötelei, Widerspruchs-
geist und Urteilslosigkeit, Unselbständigkeit und Eigensinn sind von der
ahrnehmung nicht mehr zu trennen.
Am deutlichsten wohl tritt dies bei der Eifersucht hervor. Sie gehört
zu den ausgeprägtesten Trunkerscheinungen. Durch Trunk erzeugte und
genährte Eifersucht spielt ihre wichtigste Rolle bei Ehescheidungen und
ehelichen Zerwürfnissen, Wirtshaushändeln usw. Schon beim ersten Glas
tritt sie auf, ein Lächeln wird als ein Buhlen mit anderen, ein Wort als ein
Hohn des Nebenbuhlers gedeutet. Die Wahrnehmung selbst ist von vorn-
herein gefälscht.
Endlich die Unbefangenheit vom Einfluß anderer. Man kennt die
Beeinflußbarkeit der Angetrunkenen, die Bauernfänger, Marktschreier, manche
Versteigerer, Verkäufer, Volksredner leben davon. Und manches, was ein
Zeuge beschwört, wurde seinem angetrunkenen Hirn von irgendeinem ein-
geflößt, in dessen Bann er gerade stand. '
Um die Wahrnehmungsfähigkeit beim Trunk zu beurteilen, war mir
wichtig, was ich über die Kniffe der Falschspieler erfuhr. Mein Gewährs-
mann war ein gewiegter Spieler, der auch die Taschenspielerkünste als
Liebhaberei betrieb. Ich frug ihn, wie es kommt, daß erfahrene Spieler sich
seit Jahrhunderten immer wieder durch dieselben plumpen Kniffe täuschen
lassen. „Man ist ja doch schon umnebelt, wenn der Falschspieler auftritt“,
war die Antwort. Also der Spieler mag noch so gerissen, mag noch so sehr
auf Gewinn erpicht sein, er ist vom Trunk umnebelt. Seine Aufmerksamkeit
ist eingeengt, seine Beobachtungsgabe gelähmt. Er steht im Bann eines
andern, er ist blind und taub für eine Reihe von Vorgängen, die sich in
seiner Umgebung abspielen und auf ihn und sein Spiel abzielen. Aber —
er glaubt die Lage zu beherrschen.
‚2 Die Erinnerung. Hans Groß, der Vater der Kriminalistik, hat
in seiner „Kriminalpsychologie“ und seinem „Handbuch des Untersuchungs-
richters“ und seinem „Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik“
die Mängel und Störungsursachen der Aussage gesammelt und gesichtet.
Darin gehört der sonst so neuzeitlich denkende Mann der alten Schule an,
daß er den Trunk als Verbrechensursache und Fehlerquelle der Wahr-
nehmung und Aussage nicht nach Verdienst würdigt, zum mindesten nicht
bis ins Einzelne verfolgt. Aber eine köstliche Geschichte liegt in seinem
Archiv (Bd. 29 S. 289) vergraben, die Bände spricht und so ziemlich alles
bestätigt, was wir hier vorbringen:
Früh acht Uhr begrüßt ihn, den Grazer Professor, nüchtern und stramm,
wie immer, der Universitätsbote. Heute trägt er Festkleidung und Orden,
denn der vierzigste Jahrestag der Königgrätzer Schlacht wird gefeiert.
„Wurden Sie damals verwundet?“ fragt der Professor. „Nein, nichts im
geringsten ist mir passiert, so heiß es auch zuging.“ Nachmittags drei Uhr,
inzwischen war Festfrühschoppen, fängt der Bote von selbst an: „Eigentlich
passiert ist mir nichts. Aber eine Kugel ist mir quer durch den Tornister
Egloffstein, Zeugenaussage und Trunk. | 279
egangen.“ Abends acht Uhr ist der Bote immer noch stramm im Dienst,
es ıst Prüfungstag. Der Professor redet ihn an: „Gut, daß Ihnen damals
nichts passiert ist.“ „Nichts passiert? Da — er zeigte auf die Brust — `
hat der verdammte Preuß’ hereingeschossen und neben dem Rückgrat ist dıe
Kugel wieder herausgeflogen. Seit 40 Jahren habe ich fürchterliche Schmerzen,
aber ich leide sie gern für Kaiser und Vaterland.“ Und dabei flossen Tränen
auf seine Wangen.
Hans Groß faßt sein Urteil über den Fall zusammen: „Die Benontmenheit
des alten Mannes war sehr gering und kaum bemerkbar. Bewußt gelogen
hat er ganz bestimmt nicht und wenn er als Zeuge vernommen worden wäre,
so hätte er gewiß ebenso unrichtig ausgesagt, als der Vernehmende an dem
ihm fremden Menschen die Spuren von Rausch sicher nicht entdeckt, und
ihm daher vollauf geglaubt hätte.“
Es wäre von Wert, ein aufs Sorgfältigste eingeübtes Schaustück, etwa ein
Kasperstück, bei einer Kneiperei auizuführen und gleich darauf ein lebhaftes
Gespräch unmerklich darüber anzuknüpfen. Am anderen Morgen lasse man jeden
Einzelnen ausführlich darüber berichten. Man wird sehen, wie viel vergessen,
wie viel von später Besprochenem und Gedachtem mit dem Gesehenen vermengt
worden ist. er je gekneipt hat oder mit Kneipenden sich unterhalten hat,
der weiß ohnehin, wie viel von dem Erlebten am andern Morgen schon ent-
fallen ist. Oft gerade das Ausgeprägteste.e Das Gedächtnis läßt es
schon bald entfallen. Man weiß, wie bald schon der Angetrunkene seine Er-
ählung zu wiederholen beginnt oder den Schlager an seiner Erzählung
vergißt. kann Aehnliches eintreten, wie das, was wir als Studenten
zahlendes Elend nannten und öfter erlebten. Der Betrunkene hatte seine
Zeche schon längst bezahlt, wollte aber immer wieder von neuem zahlen. `
Oder das sprunghafte Wesen des Betrunkenen macht sich geltend.
Im Gedächtnis wird zusammengeschoben, was zeitlich weit auseinanderliegt.
Wer hätte dem Angetrunkenen nicht schon zugehört, wenn er die Reihenfolge
der Tatsachen durcheinanderwirft, so etwa, daß der Hase vor dem Schuß
llt So wird sein Gedächtnis die Ereignisse verwerfen, wenn er aussagen
soll, wann Wehr und Gegenwehr einsetzt, oder ob das Warnungszeichen
rechtzeitig gegeben war oder zu spät.
Der Gleiche wird nicht mehr auseinanderhalten können, was er bestimmt
wahrgenommen und was er nur vermutet und über dies Wahrgenommene
gegrübelt hatte. Was er selbst gesehen und was andere über die Sache
geäußert haben.
Das Gedächtnis wird lügenhaft. Wie das Jäger- und Kriegerlatein
entsteht, das doch sicher nur auf feuchtem Boden gedeiht, das konnte ich in
mener Knabenzeit beobachten: Bei uns lebte ein alter Offizier, der ein
starker Zecher und geschulter Erzähler war. Kaiser Wilhelm I. kam durch
die Stadt. Der Offizier begrüßte ihn an der Spitze der Veteranen. Ich sah
zu, wie der Kaiser den Offizier nach den Gefechten frug, die er mitgemacht,
wie er dann freundlich nickte und den nächsten ansprach. Ich hörte den
Offizier ein paarmal beim Wein den Vorgang erzählen, der ihn mächtig
erfüllte. Jedesmal war die Erzählung um ein Kleines ausgeschmückt und
nach vierzehn Tagen war der schlichte Vorgang zu einem packenden Zwie-
gsspräch voll bunter Kriegserinnerungen ausgestaltet.
‚So ist’s wichtig, bei Trinkern zuweilen auch den Zwischenstufen
zwischen der Wahrnehmung und Aussage nachzugehen. Hierher gehören die
Gerüchtsbildungen, die nirgends so üppig gedeihen, wie im Wirtshaus. Wer
dächte da nicht an die Schauergerüchte zur Kriegs- und Umsturzzeit. Einem
konnte ich nachgehen. Auch ın unserer Stadt wurde in den ersten Kriegs-
das Gerücht verbreitet, die Kaiserin und das Kronprinzenpaar seien
ermordet worden. Das Gerücht war im Wirtshaus entstanden, in dem die
„Großkopfeten“ zechten. Man sprach vom Ursprung des Krieges, dem Mord
von Serajewo, von den Schicksalsschlägen im österreichischen Kaiserhaus
te Hirne bezogen das Gehörte auf das deutsche Kaiserhaus. Später
ım Feld wußten wir genau, daß fast alle falschen Gerüchte in Kantinen und
w
280 Abhandlungen.
an Offizierstischen entstanden waren. Auch solche Gerüchte können Gegen-
stand gerichtlicher Untersuchung werden, wenn das Gericht einer üblen
Nachrede, dem Ursprung eines Aufruhrs usw. nachgehen muß. Oder ein
Zeuge vermengt sie mit eigenen Wahrnehmungen.
3. Die AussagevorGericht. Bei Gericht ist der ungewohnte
Trunk nicht unbekannt, zu dem gar oft der Zeuge verführt worden ist.
Mancher Meineidige hat sich vorher Mut angetrunken. Aber auch mancher
hat das gleiche getan aus a NE und damit die Aussage verschlechtert.
Der Gang, die Reise zum Gericht, das Warten sind Gelegenheit zum Trinken.
Selbst der mäßigste Trunk wirkt in der fremden Umgebung mehr als
anderswo.
Die Verleitung zum Meineid geschieht wohl nirgends so häufig wie beim
Trunk. „Geh, reib mi nit nei“, sagt im Bayrischen der Beschuldigte zum
Zeugen beim Bier.
Lehrreich ist hier ein Stück aus den Eulenburgprozessen. Allerdings hat
hier zur Abwechselung der Trunk zur Wahrheit geführt. Aber es war ein
bedenkliches Mittel, das angewandt wurde. Der Zeuge, ein Mann vom
Lande, leugnete unter Eid häßliche Dinge ab, an denen er zu verjährter Zeit
sıch beteiligt haben sollte. Niemand bezweifelte, daß er gelogen, aber er blieb
standhaft. Die Verhandlung wurde ausgesetzt. Der Zeuge nahm im Bierhaus
sein Mittagsmahl ein. Am Nachmittag setzte ein vielgewandter Anwalt die
neuerliche Vernehmung des Zeugen durch. Man setzte ihm heftig zu, der
S hapsunk tat das Seine, der Zeuge wurde mürbe und bekannte die
chande.
Man hat schon oft getadelt, daß ungeeignet gestellte Fragen bei Gericht
die Zeugen UmBÜNSUg influßt (Suggestivfiragen) oder auch ein-
geschüchtert haben. Am leichtesten ist dies möglich, wo der Trunk vor-
gearbeitet hat.
Zu den Fällen, da der Trunk gesunde Sinne stört, kommen noch die
vielen, da Rausch und seelische Krankheit zusammentreffen. Der
Richter. erfährt oft zu spät davon. Sehr viele Geisteskrankheiten werden mit
Neigung zum Trunk eingeleitet, die Krankheit äußert sich zum erstenmal im
Rausch, aber die Umgebung merkt noch lange nichts von ihr. Hierher gehört
außer den Geisteskrankheiten aller Art auch die Fallsucht, die Epilepsie, mit
ihren Dämmerzuständen davor und danach, Erregbarkeit, Beeinflußbarkeit
und Sinnestäuschungen. Dann die Kopfverletzungen, bei denen der mäßigste
Trunk die bedenklichsten Bewußtseinsstörungen verursachen kann, die zu
allen möglichen Straftaten führen und zu falschen Aussagen. Dies wird den
Gerichten leider zu selten bekannt; dann alle Zustände beginnender und
schon ausgebildeter Trunksucht. _
Ich hatte im Feld drei Untergebene, einen Soldaten, einen Wachtmeister,
einen Leutnant, die sich immer wieder dadurch auszeichneten, daß sich die
alltäglichsten Erscheinungen, wie Rauchwolken, Truppenbewegungen, Rufe,
zu Ueberfällen, Angriffen, Rückzügen, zu ganzen Romanen auswuchsen. Alle
drei waren schwere Trinker und standen bei der Meldung unter Trunk-
wirkung. Einen fallsüchtigen Unteroffizier mußte ich nach den ersten Tagen
des Vormarsches in die Heimat zurückschicken. Bald wurden dort die
schauerlichsten Lügenmärchen über meine Kolonne verbreitet, sie sei mit
Mann und Maus zugrunde gegangen. Der Fallsüchtige hatte sie beim Bier
den Kameraden erzählt.
In mein Amt kam von Zeit zu Zeit ein berüchtigter Querulant nach dem
Schoppen und brachte ein Bündel Anzeigen und Beschwerden vor, bei denen
Wahres mit Eingebildetem vermengt war. Ich kannte ihn als scharfen, kühlen
Beobachter, der auch seine Schlüsse ruhig abzuwägen wußte. Aber wenn er
etrunken hatte, verquickten sich die Wahrnehmungen mit allen den Gehässig-
eiten und Verfolgungsgedanken und Rachbegierden, die so ein Hadermann
im Hirne wälzt.
Plötzlich kann eigentliche Krankheit ausbrechen bei geeignetem Anstoß.
Ich hatte in einer Kleinstadt viel mit einem Kanzleibeamten zu tun:
Eglofistein, Zeugenaussage und Trunk. 281
Er war Gewohnheitstrinker, beschränkt und eingebildet, aber niemand dachte
bei ihm an geistige Erkrankung. Er war einen Tag in München und
gerade an diesem Tag fand ein wohl vorbereiteter Einbruch in einer
großen Geldanstalt statt. Alle Welt sprach davon. Die Zeitungen brach-
ten Lichtbilder von den entkommenen Tätern, Belohnungen waren aus-
gesetz. Der Beamte nun glaubte, dia Täter gesehen zu haben, als
sie den Tatort verließen, hetzte die Polizei auf harmlose Leute. Einige
wurden auch festgenommen. Er wurde immer erregter, versteifte sich
auf seine Annahmen, sah in jedem, der ihm nicht glaubte, einen Mittäter,
glaubte an jeder Straßenecke einen Verfolger zu sehen und mußte schließlich
as gemeingefährlicher Geisteskranker verwahrt werden. Hätte ihn in der
Kleinstadt nicht jeder gekannt und wäre er dort ernst genommen worden, er
hätte noch viel Unheil angerichtet.
Es wäre noch zu untersuchen, bei welchen Straftaten Trunk und Zeugen-
schaft am häufigsten zusammenfallen. Tatzeugen kommen hauptsächlich bei
Körperverletzungen in Betracht; denn bei den übrigen häufig vorkommenden
ten, Diebstahl, Betrug, Sachbeschädigung pflegt der Tatzeuge zu fehlen
und der Sachverhalt muß aus den Begleitumständen geschlossen werden.
Aber gerade die Körperverletzungen werden zu zwei Dritteln im Wirtshaus
igangen. Und gerade die richtige Beobachtung der Raufhändel würde be-
sders klare Sinne erfordern.
Wichtig ist das Verhalten der Wirte als Zeugen. Jeder Strafrichter weiß:
En Wirt hat nie etwas gesehen. Nicht, daß er löge. Aber er gewöhnt sich
daran, nicht zuzusehen, um seine Gäste nicht in Strafe bringen zu müssen.
„ich sah nichts, ich mußte einschänken‘“, ist seine Ausrede. _
Weit schlimmer ist, wenn dem Richter die Angetrunkenheit des Zeugen
nicht bekannt wird. Wenn der Angetrunkene Zeuge eines Unfalls oder Ver-
brechens wird, dann tritt noch zum Trunk die Aufregung. Gefährlich sind
die Angetrunkenen als Anzeiger. Jeder, der an Gerichten und Polizeistationen
gearbeitet hat, weiß, daß Anzeiger, die beim Amt erscheinen, sehr häufig
angetrunken sind. Der Trunk wühlt Haß,‘ Aerger, Rachsucht, Eifersucht
maschmal auch Eitelkeit, Vielgeschäftigkeit auf. Der Anzeiger muß dann oft
als Zeuge vernommen werden. Seine Aussage ist von vornherein vergiftet.
Wichtig wäre, die Anzeigen auf ihren trinkerischen Ursprung zu untersuchen,
` die von Polizei und Staatsanwalt gar nicht ans Gericht gegeben werden, weil
sie sich von vornherein als unwahr oder haltlos erwiesen haben.
I. Forderungen.
. Eine traurige Rolle spielt der Trunk auch als Eideshelfer. Das wird
nicht besser werden, so lange er nicht ganz aus dem Land gebannt ist. Aber
manches kann schon jetzt gegen seinen Einfluß geschehen.
l. Vor allem muß die Wirkung des Trunks auf Wahrnehmung und Aus-
sagen gründlich erforscht werden, von Seelenforschern (Psychologen) und
erven- und Irrenärzten im Verein mit Richtern und Verbrechenserforschern.
2. Richter und Polizeibeamte, auch die Laienrichter, und alle, denen die
Erforschung der Verbrechen und die ersten Zeugenvernehmungen obliegen.
Alle, die selbst viel als Zeugen auftreten müssen, außer den Polizei- die
Forsibeamten usw., müssen in Fachzeitschriften, durch Vorträge und Dienst-
anweisungen, dauernd über die Trunkschäden unterrichtet werden.
3 Es soll heute noch vorkommen, daß in Gerichtsgebäuden, in Zeugen-
zımmern Bier ausgeschänkt wird. Wirksamer könnte allerdings einer wahr-
heitsgetreuen Aussage kaum entgegengearbeitet werden. Nicht nur aus den
Gerichtsgebäuden muß der Trunk gebannt werden. Den Zeugen muß Ge-
enheit geboten werden, zu warten und Nahrung zu sich zu nehmen ohne
rınkzwang und ohne Verleitung zum Trunk. In der Nähe des Gerichts-
gebäudes nicht minder als auf den Bahnhöfen.
. ‚4 Unsere Strafgerichtsordnung aus dem Jahre 1877 fordert: „Der Zeuge
Ist zu beeidigen.“ Das Gebot war berechtigt, als man noch glaubte, der
könne bei gutem Willen „die reine Wahrheit sagen“. Aber heute, da
282 Abhandlungen.
man weiß, daß in der überwiegenden Zahl der Fälle der Zeuge die Wahrhei
nicht sagen kann, sollte mit dem „Anrufen Gottes als Zeugen der Wahrheit“
sparsamer umgegangen werden dürfen; besonders dann, wenn das Geric
genau weiß, daß „das beste Wissen und Gewissen“ künstlich getrübt word
ist. Heute schon ist es dem Richter überlassen, ob er einem vereideten oder
unvereideten Zeugen glauben will oder nicht. Das künftige Strafrecht wi
nicht nur den Meineid, sondern auch die unvereidete unwahre Aussa
bestrafen. Wir fordern von einer ae Gerichtsordnung, daß dem
Richter überlassen wird, ob er den Eid für unerläßlich hält oder nicht.
un zeigt uns eine Untersuchung der gerichtlichen Aussage, daß der
runk die Rechtspflege gefährdet und damit von neuem an einer Säule des
Staatslebens rüttelt. Wir stehen erst vor dem en des Kampfes. Wir
haben noch nicht genug getan, um den Feind ins Auge zu fassen und sei
Kräfte zu erkunden.
Alkohol und Siftlichkeit.
Ein am 3. Juli d. J. in der Neuen Aula der Universität zu Tübingen gehaltener Vortrag.
Von Professor Dr. Heim.
In den vier Vorträgen, die wir bisher gehört haben, hat man uns ein
gewaltiges Tatsachenmaterial vor Augen gestellt. Der Volkswirt-
schaftslehrer wies nach: wenn wir so weiter trinken, wie wir bisher
getrunken haben, dann wird die Hoffnung immer geringer, daß wir aus
unserer passiven Handelsbilanz wieder herauskommen. ach dem Dawes-
Gutachten müssen wir ja einen besonderen Wohlstandsindex mitbezahlen,
dessen Höhe sich danach richtet, wie viel wir jährlich verrauchen und
vertrinken. Die beiden Aer gte, die gesprochen haben, wiesen aus ihrer
ärztlichen Erfahrung heraus “darauf hin, daß vor allem die Geschlechts-
krankheiten, durch die ja unsere Volkskraft am schnellsten und sichersten
zerstört wird, und die seit dem Kriege bis ins kleinste Dorf getragen werden,
zum größten Teil unter dem Einfluß des Alkohols erworben werden (in der
Kieler Hautklinik 75 %). Der Chef unserer Garnison zeigte, daß
der Rauschtrank die Trefisicherheit herabsetzt, die Marschfähigkeit verringert
und nach kurzer Anregung erschlaffend auf den Soldaten wirkt. Uns allen.
die wir diese Vorträge gehört haben, hat sich unter ihrem Eindruck die
Frage aufgedrängt: Wenn das so ist, warum ist nicht schon längst von
allen vaterländisch denkenden Männern der Vorschlag gemacht worden: wir
wollen einmal, wenigstens so lange, bis wir über dem Berg sind, bis die
dringendste Wohnungsnot überwunden : und dem Umsichgreifen der ver-
heerenden Geschechtskrankheiten Einhalt getan ist, jede Luxusausgabe für
Alkohol unterlassen und die Riesensummen, die damit gespart würden, zum
Aufbau des Vaterlandes verwenden. Vor allen Dingen sollte es in der
jetzigen Zeit unter Strafe gestellt werden, wenn jemand französischen Kognak
und französische Weine trinkt. Es hat in der deutschen Geschichte immer
wieder Augenblicke gegeben, da der furor teutonicus losbrach und Gewalt
maßregeln gefordert wurden gegen eine Macht, die uns das Blut aussog.
z. B. damals, als im Reformationszeitalter Ulrich von Hutten ausrief: „Suchen
die Deutschen nicht ihre Waffen herfür? Greifen sie nicht mit Eisen und
Flammen an?“ Warum fahren wir nicht auch heute in deutschem Zorn aul
gegen diesen Alkoholsunipf, in dem mitten in der schwersten Notzeit unsere
olkskraft unterzugehen droht? Warum versam die Energie der Re-
ierungen und der Stadtverwaltungen dieser Macht gegenüber? Am
ktoberfest in München wurde schon 1922 wieder in drei Tagen so viel
vertrunken, daß man dafür 400 Häuser mit Gärtchen für 2000 Einwohner
hätte bauen können. Trotzdem hat man das Oktoberfest auch für das
Jahr 1925 wieder genehmigt. Beim Pressefest im November 1924 in Essen
Heim, Alkohol und Sittlichkeit. 283
(Ruhr) unter dem Ehrenausschuß von Reichskanzler Marx und 35 hohen
und höchsten Persönlichkeiten stand auf dem Festprogramm: „Ein Sektzelt,
Bayrisches Oktoberfest, Die Krahnen laufen dauernd, dadurch die köstlichen
Erzeugnisse der Phönix-Brauerei rinnen.“ In derselben Stadt Essen gibt es
tausend junge Menschen, die von der sicher zu erwartenden Schwindsucht
durch eine 4—-6wöchige Erholungskur bewahrt werden könnten. Das für
solche Kuren nötige Geld ist an diesem und für den Presse-Abend doppelt
ausgegeben worden“ (vgl. „Mutiges Christentum“ Nr. 12 vom Dezember 1924).
Unter dem Einfluß des üppigen Lebens der französischen Besatzung haben
im besetzten Gebiet auch deutsche Fabrikantenfrauen wieder angefangen,
bei ihren Damenkränzchen Likör zu trinken. Ganze Eisenbahnwagen mit
tranzösischem Kognak rollen über die Grenze. Warum erfaßt uns bei all
dem nicht ein heiliger Zorn? Warum haben wir die „feucht-vergnügte Aus-
sprache“, die „lustige Alkoholdebatte“, die am 18. Februar 1925 im Reichstag
stattfand und in der es an jedem Verständnis für den Ernst der Frage fehlte,
ruhig ertragen?
Man hat das Alkoholkapital dafür verantwortlich gemacht und seine
mt allen Mitteln betriebene Propaganda. Aber das genügt nicht zur
Erklärung. Diese planmäßige Beeinflussung der See würde nicht
vd erreichen, wenn sie nicht in uns selbst einen starken Bundesgenossen
lá Was ist das für ein Bundesgenosse? Woher kommt es, daß man
ın diesem Punkt auch mit dem erdrückendsten Tatsachenmaterial wie an
aex Wand hinredet? Woher kommt es, daß andererseits, wenn es sich um
Bier und Wein handelt, die unglaublichsten Scheingründe, die hundertmal
widerlegt sind, sofort Eindruck machen? Der Grund ist sehr einfach.
. Aber er muß ganz offen ausgesprochen werden. „Der Wein erfreut des
nicht die
Menschen Herz!“ Ein Glas Münchner Bier schmeckt jedem gut, der von
Kindheit an daran gewöhnt worden ist. Ein Glas Rheinwein erzeugt Wohl-
behagen. Wenn die Champagnerpfropfen knallen, wenn der Sekt in den
Gläsern perlt, kommt Leben in den Hochzeitssaal. Sagen wir es ganz
ehrlich: Alles andere, was zum Lobe von Wein und Bier gesagt wird —
daß er wärmt und kühlt, daß er einschläfert und wach erhält, daß er anregt
und wit — würde gar keinen Eindruck machen, es würde dem Alkohol
elt erobert haben, wenn dieser Stoff eine bittere Pille wäre,
wenn wir uns überwinden müßten, ihn zu uns zu nehmen. Es wirkt nur
dshalb, weil der Alkohol jedem, der sich einmal daran gewöhnt hat (bei
ee erzogenen Kindern ist es allerdings Anders); einen Genuß
itet.
Halten wir das beides nebeneinander: die verheerenden Wirkungen des
Alkohols, die vom Volkswirt, vom Arzt, vom Offizier nachgewiesen sind,
ind die sich schon bei ziemlich kleinen Dosen regelmäßigen Alkoholgenusses
bemerkbar machen, auf der einen Seite, und auf der anderen Seite den
Genuß, den dieser Stoff bereitet, so stehen wir vor einer Urtatsache unseres
` menschlichen Lebens, die das ganze Problem der Sittlichkeit in sich schließt.
ie Welt, in die wir hineingestellt sind, ist merkwürdigerweise so ein-
gerichtet, daß der Weg in die Höhe durch ein Dorngestrüpp führt. „Vor
die Tugend haben die Götter den Schweiß gesetzt.“ Das Tor, durch das
der Weg ins Verderben hinabführt, ist dagegen mit Rosen bekränzt und mit
allen Reizen der Verführung, mit dem ganzen Zauber der Poesie und der
omantık umgeben. In der griechischen Sage wird das in dem Abenteuer
eindrucksvoll dargestellt, das Odysseus an der Insel der Sirenen zu bestehen
iat. Diese Nymphen locken den Vorüberfahrenden durch einen zauberhaft
schönen Gesang ans Ufer. Aber wer sich hinüberlocken läßt, ist ein Kind
Todes. Hinter den schönen Sängerinnen liegt das ganze Gestade voll
modernder Totengebeine. Odysseus kann nur dadurch die Versuchung über-
Winden, daß er seinen Genossen Wachs in die Ohren streicht, um sie taub
i machen für den verführerischen Gesang. Sich selbst aber läßt er an
ånden und Füßen gefesselt aufrecht an den Mast binden. Das Herz
schwellt ihm vor Begierde, als er den bezaubernden Gesang hört. Obwohl
284 Abhandlungen.
er von Kirke gewarnt worden ist und die Todesgefahr kennt, fleht er
seine Freunde an, ihn loszubinden. Aber seinem Befehl gehorchend schnüren
sie ihn nur noch fester. Nur so ist es ihm und seinen Genossen möglich,
an der Insel des Todes vorüberzusteuern.
Der Lebensweg des Menschen, der Weg, den jeder durch diese Welt
zu gehen hat, gleicht dieser Fahrt an der Insel der Sirenen vorüber. Man
kann nur vorbeikommen, wenn man mit ganzer Kraft das Steuerruder
festhält und dem lockenden Gesang widersteht. Darum ist dieser kurze
Lebensgang, den jeder von der Geburt bis zum Tode zurückzulegen hat,
eine schwere sittliche Kraftprobe, wo jeder auf seinen ewigen Wert gewogen
wird. Der deutlichste Ausdruck für diese eigentümliche Lage ist die Tat-
sache, daß die Gifte, die uns am sichersten ruinieren, die Narkotika Opium,
Morphium und Alkohol jedem, der sich an sie gewöhnt hat, außerordentlich
süß eingehen. In Indien wird dem Opium fast dasselbe nachgerühmt, was
unsere Alkoholinteressenten vom Alkohol sagen. Es wird gesagt, dal
Opium, mäßig genossen, wundervolle Träume hervorruft; man ist befreit
von der Erdenschwere, die Phantasie belebt sich, man schwelgt in den
Wonnen des Paradiesess. Das Gleiche gilt vom Morphium. Wir hatten
vor längerer Zeit beim Universitätsgericht einer deutschen Universität ewen
Studenten abzuurteilen, der Geld aus den Mänteln seiner Kommilitiona
hatte. Der Fall war uns unbegreiflich. Denn der Student war
ffizier mit dem EK. 1 und hatte sich ausgezeichnet geschlagen. Er gestand
zögernd, er sei im Lazarett mit Morphium behandelt worden. Als er
die Wirkung spürte, unterlag er dem unwiderstehlichen Reiz dieses Gifte.
Ohne zu wissen, was er tat, griff er zu jedem Mittel, um sich Geld für
Morphium zu verschaffen.
och stärker als bei Opium und Morphium ist der Reiz, den der Alkohol |
ausübt. Darüber brauche ich kein Wort zu verlieren. Alle Trinklieder,
besonders die Rheinweinlieder, sind ja voll davon.
Die ernste sittliche Entscheidung, vor die uns alle diese süßen Gifte
stellen, wird uns erst dann völlig klar, wenn wir den Zauber, den sie aui
uns ausüben, in vollem Maße empfinden, wenn wir alles zugeben, was di:
Dichter darüber gesungen haben und was die Alkoholkapitalisten davon
zu rühmen wissen. Nur dann wird uns klar, was für eine Entscheidung?
wir hier zu treffen haben. Wir könnten hier philosophische Betrachtungen
darüber anstellen, warum die Welt so eingerichtet ist, daß gerade die gefähr-
lichsten Gifte süß schmecken, daß wir also unseren Lustgelühlen nicht ohne
weiteres trauen dürfen. jeder wird je nach seiner Weltanschauung di
Frage verschieden beantworten. Er wird vielleicht mit Schopenhauer va
einer metaphysischen Schuld reden, die auf dieser Welt lastet, oder mil
dem Christentum von der dämonischen Macht der Sünde, die durch dit
Welt geht und den gefährlichsten Genüssen eine verführerische Gestalt gibt.
Aber wir wollen diese letzte Frage, die sich hier dem denkenden Menschen
aufdrängt, nicht weiter verfolgen, sondern bei der Tatsache stehen bleiben.
über die wir alle einig sind. Offenbar sind wir Menschen mehr als alle
anderen Geschöpfe dem verführerischen Reiz der süßen Gifte ausgesetzt, und
zwar deshalb, weil der Mensch unter allen Lebewesen das instinktärmste ist
Das Tier weist jedes Gift, das sein Leben bedroht, mit sicherem Instinkt
zurück. Es fühlt den Reiz, aber der Lebensinstinkt ist stärker. Es geling!
darum nur schwer, ein Tier an Alkohol zu gewöhnen. Es ist nur bei den
Haustieren des Menschen, etwa bei Hunden, denen man in studentischen
Verbindungen das Tropfbier zu trinken gab, gelegentlich gelungen. Uns
Menschen fehlt dieser sichere Instinkt. Bei uns tritt an die Stelle ds
Instinkts, von dem das Tier geleitet wird, die Intelligenz und die bewußt
Willensentscheidung. Wir sind darauf angewiesen, scharf zu beobachten.
Schlüsse zu ziehen und darnach zu handeln. Darin liegt die Größe un
zugleich die Gefahr unserer menschlichen Bestimmung. Während das Tier
seiner Witterung folgt, sind wir vor eine Willensentscheidung gestellt. Wir
können entweder den Naturtrieb in unsere Gewalt bringen und dadurch
Heim, Alkohol und Sittlichkeit. 285
e
hoch über das Tier emporsteigen und freie Persönlichkeiten werden, oder
aber wir verlieren die Herrschaft- über uns selbst und sinken tief unter das
Tier hinab und entarten, wie nie ein Tier entarten kann. So ist es auf
dem Gebiet des Geschlechtslebens. Das Tier hat seine kurzen Brunstzeiten,
die durch die Fortpflanzung der Gattung genau geregelt sind. Im übrigen
it es von jeder Versuchung frei. Nur wir Menschen haben das Vorrecht,
daß wir uns durch den Geschlechtstrieb selbst zu ruinieren vermögen. Wir
können diesen lebenswichtigen Trieb zu unserem eigenen Genusse miß-
brauchen, so viel wir wollen, ohne dabei an die Fortpilanzung der Gattung
zu denken. Aehnlich ist es mit unserer Stellung zu den narkotischen Giften,
denen wir mit unserem schwachen Lebensinstinkt ausgesetzt sind.
Die sittliche Entscheidung, vor die wir hier gestellt sind, wird uns
aber noch deutlicher, wenn wir genauer fragen: Worauf beruht denn der
verführerische Reiz dieser Gifte? Von den beiden Aerzten, die gesprochen
haben, ist uns gezeigt worden: Das Narkotikum wirkt durch Magen- und
Leberzellen unmittelbar aufs Gehirn, und zwar auf die zentralen Gehirn-
teile, die der Sitz der klaren Ueberlegung und der Willensentscheidung sind.
Plato hat das Leben des Menschen mit einer Wagenfahrt verglichen, bei der
der Rosselenker, die Vernunft, die zwei feurigen Pferde, den Mut und die
Gier, straff am Zügel halten muß. Jeder, der mit lebhaften Pferden kutschiert
tat, weiß, was dieses Bild bedeutet. Unser waches Leben besteht in einer
egentümlichen Spannung. Der wache Geist muß fortwährend die beiden
Merde, den Zorn, der mit ihm durchgehen will, und die Sinnenlust, die am
¿igel zerrt, scharf an die Leine nehmen. Er muß bald hemmen und zurück-
re:ßen, bald lenken und vorwärtstreiben. Das narkotische Gift hat nun die
Wirkung, daß diesem Rosselenker, der Vernunft, die Zügel entfallen. Die
Spannung hört auf, in der unser waches Geistesleben besteht. Es tritt eine
Entspannung ein. Das ist außerordentlich wohltuend und entlastend. Der
Mensch wird „fröhlich und guter Dinge“. Nestor, der alte Zecher, sagt
zu der betränten Hekuba: „Trink ihn aus, den Trank der Labe, und vergiß
den großen Schmerz; wundervoll ist Bacchus’ Gabe, Balsam fürs zerriss ne
Herz“ Vergleichen wir unser Seelenleben mit einem Schiff, so besteht die
Wirkung des Alkohols darin, daß dem Steuermann mitten im Sturm die
Hand herabsinkt; das Schiff schaukelt steuerlos auf den Wellen. Vergleichen
wir unser Geistesleben mit einem Haus, so besteht die Wirkung des Alkohols
darin, daß der Wächter, des Hauses mitten in der Nacht in süßen Schlummer
wkt und nun die Diebe ruhig hereinschleichen können.
Es ist kein Wunder, daß gerade Menschen, die eine große Verantwortung
ragen und immer auf dem qui vive stehen müssen, den Reiz dieses Zustandes
ganz besonders empfinden. Es ist außerordentlich angenehm, „Ferien vom
Ich“, zu haben, „moral holidays“, in denen die Verantwortlichkeit für unser
Leben aufhört. Wenn dies der Reiz auch schon einer leichten Narkose ist,
was bedeutet dann diese Betäubung für unser sittliches Leben? Es ist hier
das Fundament herausgezogen, das den ganzen Bau unseres Charakters
trägt, die Grundlage, die jede sittliche Arbeit erst möglich macht, nämlich
das Verantwortungsbewußtsein, das Gewissen, das Zentralorgan der
sittlichen Entschließung. Bei jeder anderen Versuchung oder sittlichen
Gefährdung, etwa bei einer Verführung zu einem unredlichen Geschäft,
wird zwar die Magnetnadel unseres sittlichen Wollens, die immer auf das
Gute zeigt, von ihrer geraden Richtung abgelenkt, aber sie wird nicht selbst
zerstört. Unsere Willensentscheidung wird auf ein falsches Ziel gelenkt,
aber der Wille selbst nicht ausgeschaltet. Hier aber wird das Organ selbst
vorübergehend aufgehoben, das die sittliche Entscheidung hervorruft, das
feine Organ des Gewissens, die Magnetnadel, die immer auf den einen
tern zeigt. Wir werden aus der ganzen sittlichen Haltung hinausgeworfen
ind in einen unzurechnungsfähigen Zustand versetzt. s gibt nur eine
arallele dazu, ein Mittel, durch das eine ähnliche Wirkung erzielt wird:
ie Hypnose. Der Hypnotiseur schaltet den eigenen Willen des Mediums
&us und macht dieses zu seinem willenlosen Organ. Es kommt etwa vor,
286 Abhandlungen.
daß in einem Bahnzug ein Mensch eine ihm gegenübersitzende Dame
es und dazu bringt, ihm ihre Uhr und Geldtasche zu geben. Unsere
esetzgebung hat auf diese Hypnose, wenn sie nicht von einem Arzt aus-
geführt wird, eine schwere Strafe gesetzt. Denn, wenn die Hypnose von
een ohne weiteres ausgeführt werden dürfte, so wäre das eine Gefahr
ür das ganze öffentliche Leben. Bei der Hypnose ist es aber ein anderer
Mensch, der unsere Entschlußfähigkeit ausschaltet; beim narkotischen Rausch
dagegen tun wir es selbst.
Was es bedeutet, wenn wir in dieser Weise unser sittliches Zentralorgan
ausschalten und in einen Zustand „jenseits von Gut und Böse“ übergehen,
das kann man deutlich sehen, wenn man zunächst beobachtet, was für
Wirkungen der Rausch bei wohlerzogenen Menschen ausübt, und dann.
welche Rolle er im Leben sittlich gesunkener Menschen spielt.
Ein Mensch, der nicht nur durchaus anständig lebt, sondern der
sogar das Opfer des Lebens zum Besten des Vaterlandes zu bringen
vermag, kann unter dem Einfluß des Alkohols in einer Viertelstunde dahin
ebracht werden, daß er etwas tut, wozu er sich selbst im nüchternen
ustande niemals für fähig gehalten hätte, einfach, weil das moralische
Zentralorgan ausgeschaltet ist. Studenten von tadelloser Führung sind in
französichen Quartieren unter dem Einfluß des Weines zu Ehebrechern
eworden. Sie konnten es nachher nicht begreifen. Es war ihnen, als
ätten sie es im Traum getan. Ich möchte gewiß keinen Stein auf die
Helden werfen, die im Frühjahr 1918 zur letzten Offensive vordrangen aui
Hindenburgs Befehl: man möchte es jedem einzelnen Soldaten zurufen:
„Dringe vorwärts auf Amiens, gib den letzten Rest deines Willens her!
Vielleicht bedeutet Amiens den entscheidenden Sieg!“ Wenn nicht die
Frontoffiziere selbst schon diese Tatsachen veröffentlicht hätten, würden wir .
selbstverständlich darüber schweigen. Aber nun ist die Schrift von Professor
Hans Schmidt „Warum haben wir den Krieg verloren?“ schon in zweiter
Auflage in aller Händen. Die Tatsachen sind dadurch im In- und Auslande
bekannt. Er schildert jenen spannenden Augenblick, da die Franzosen
schon Vorbereitungen zur Räumung von Paris trafen und im Großen Haupt-
quartier der englischen Armee die Autos schon angekurbelt auf der Straße
hielten, um nach dem sicher erwarteten Fall von Amiens das englische
Hauptquartier in einen der Kanalhäfen zu bringen. Der Sieg über Amiens
war zum Greifen nahe, der Infanteriestoßtrupp war todesmutig, völlig er-
schöpft vonStrapazen und Hunger, in derRichtung auf dieStadt schon weit vor-
gedrungen. Jeder Soldat weiß, daß bei einer Offensive die Entscheidung an Stun-
den und Minuten hängt, denn es kommt alles darauf an, die Verwirrung, in die
man den Feind versetzt hat, sofort auszunutzen. Wenn der Vormarsch stockt,
wenn man dem Feind Zeit läßt, sich wieder zu sammeln und seine Geschütze
aufzufahren, verwandelt sich der Sieg in eine Niederlage. Man kam m
die tödliche Umklammerung des feindlichen Kreuzfeuers. Es kam also da-
mals alles darauf an, daß die zweite Staffel, vor allem die Artillerie, sofort
nachkam. In dieser Lage genügte das rasche Hinunterschütten von fran-
zösischem Wein, Sekt und Kognak in die durstigen Kehlen, um Menschen
höchsten Verantwortungsbewußtseins, Männer höchster sittlicher Qualitäten,
Offiziere bis hinauf zum Major, die dem Tod hundertmal ins Angesicht ge-
sehen hatten, in einen Zustand zu versetzen, in dem sie Dinge machten, zu
denen sonst kein Soldat vor dem Feind fähig ist. Deutsche Soldaten winkten
mit Tüchern den englischen Fliegern zu, die über Estaire kreisten. In den
Kellern, wo der ausgelaufene Wein den Boden hoch bedeckt, schwimmen
deutsche Soldaten, im Wein ertrunken. Ein Batterieführer rollt mit aufgekrämpel-
ten Aermeln ein Faß voll Wein über die schmutzige Straße. Ein Oberleutnant
fällt vom Pferde, verliert den Stahlhelm und kann nicht mehr hinauf kommen.
Er gibt im Rausch einen ‘Befehl, der seine Leute direkt in das Feuer der eng-
lischen Maschinengewehre hineinschickt. Soldaten verkleiden sich als fran-
zösische Frauen oder setzen Zylinderhüte auf und schieben Kinderwag
vor sich her, ein Bild, wie beim Sommerfest eines weinselig feiernden Uê-
-7a m
Heim, Alkohol und Sittlichkeit. 287
sangvereins. In dieser Verkleidung werden sie von feindlichen Bomben
hingemäht. Mitten auf der Dorfstraße haben sie einen toten Kameraden mit
weißen Leintüchern aufgebahrt. Sein Kopf ruht auf einer Schnapsflasche.
Links und rechts stehen als Kandelaber zwei große Weinflaschen. Das ist
einer der Witze, die einem im Alkoholdusel so außerordentlich geistreich
erscheinen, während man sich nachher darüber schämt. Das alles geschah,
während jeder Offizier wissen mußte, daß es auf Stunden und Minuten
ankam, wenn der Vorstoß gelingen sollte, und während vorn tapfere Truppen
'verbluteten, weil die Artillerie nicht nachkam. Ich sage kein Wort des Vor-
wuris. Denn diese Menschen waren alle in unzurechnungsfähigem Zustand.
Ich mische mich auch nicht in die militärische Frage, ob uns darüber, wie
Hans Schmidt nachzuweisen sucht, die Eroberung von Amiens und der ganze
Endsieg, der zum Greifen nahe war, verloren ging, ober ob dabei, wie andere
frontotfiziere meinen, noch sehr viel andere Faktoren mitwirkten!). Wir
betrachten die Sache hier nur vom sittlichen Standpunkt aus und sehen darin
an Warnungszeichen für das deutsche Volk für alle Zeifen, ein weltgeschicht-
liches Beispiel dafür, was es bedeutet, wenn bei einem Menschen von höchster
sittlicher Verantwortung in einer entscheidungsvollen Lage plötzlich das
Zentralorgan des sittlichen Wollens vorübergehend ausgeschaltet wird, so
daß die Zurechnungsfähigkeit aufhört. _
Jeder Offizier weiß, was im Kriege das Ausplaudern militärischer Ge-
hemnisse bedeutet. Ein ganzer Sieg, das Leben von Tausenden von Men-
shen kann daran hängen, daß man Tag und Stunde eines feindlichen An-
gniis vorausweiß. Es gab darum bei der militärischen Spionage immer nur
en Mittel, um aus Offizieren militärische Geheimnisse herauszubringen.
Das war der Alkoholrausch. Marinegeneraloberarzt Otto Buchinger erzählt
(‚Christliche Welt“ 1925 Nr. 22/23), wie der Auslandskreuzer Hertha im
Dezember 1904 vor Wladiwostock lag und nun versucht werden sollte, durch
Besuch bei den russischen Kameraden für den deutschen Geheimbericht nach
Berlin die Stellung der Geschütze, der Hafenbefestigung, die Kaliber, die
Reichweite, die Stärke der Besatzung, ihre Zusammensetzung, die Zukunfts-
pline der Russen zu erkunden. Man lud die russischen Öffiziere in die
Oifiziersmesse ein und ließ Wein, Sekt und Likör in Strömen fließen. „Hielt
man sich selbst nur leidlich nüchtern, dann bekam man in einer halben
Stunde in hemdsärmelig vertrautem Gespräch alles zu hören, was man nur
wissen wollte.“ Nun versuchten sie dasselbe auch bei den Japanern. Sie
ren hinüber nach Hakodate. Besuche wurden ausgetauscht, Einladungen
gegeben, Bowlen angesetzt. „Aber die Gelben tranken nichts. Sie nippten
zur, wie verschämte Backfische nippen. Sie lächelten viel und schwiegen
vd. Unsere Herren mußten ihre Bowle unter Protest selber austrinken.“
Es war nichts aus den japanischen Offizieren herauszuholen, was man nach
erlin hätte berichten können, ein Hauptgrund der Ueberlegenheit der
Japaner über die Russen, die sich im russisch-japanischen Krieg gezeigt hat.
‚ Der Juli-Angriff bei Reims, der letzte Versuch der deutschen Heeres-
leitung, im Angriff zu verharren, ist nach dem Bericht von Oberst Weber
durch einen braven deutschen Pionieroffizier’ ausgeplaudert worden, der ge-
angen worden war. Er schwieg wie ein Grab, solange er nüchtern war,
aber sobald man ihn betrunken gemacht hatte, erfuhr man von ihm alles,
Was man wissen wollte. Marschall Foch wußte bis auf Tag und Stunde,
wann wir vorzugehen gedachten?).
Ich habe absichtlich auf diese bekannten Tatsachen grw en weil es
sich hier um gebildete, militärisch geschulte Männer handelte, die eine gute
Kinderstube und eine Offizierserziehung gehabt hatten. Daran wird am
teutlichsten, was die Ausschaltung der moralischen Verantwortlichkeit bedeutet,
d ') In den „Schriftdeutschen Stimmen“ 1924 Nr. 22 S. 169f sagt ein anderer Frontoffizier,
re amp hat, Generalleutnant von Wedel, nicht die Trunkenheit der Soldaten,
= ern ein Entlastungsvorstoß der Franzosen von Südwesten her sei für die Aenderung des
grifisplans maßgebend gewesen.
) Hans Schmidt, Warum haben wir den Krieg verloren ? 2. Aufl. S. 38.
288 Abhandlungen.
die unter dem Alkohol eintritt. Im Rausch fallen schon in der alten ger-
manischen Sage gerade die Helden, die sonst durch nichts zu besiegen sind,
unter die Räder der tragischen Schuld?).
Steigen wir nun eine Stufe tiefer hinab und fassen wir die Menschen
ins Auge, die nicht den Vorzug einer guten Erziehung und einer akademischen
Bildung gehabt haben, so muß bei ihnen natürlich die Ausschaltung des
Gewissens noch viel verheerendere Wirkungen haben, Bonne, der 15 Jahre
jährigen Praxis auf die Frage, wie sie zu dem leichtsinnigen Schritt ge-
ommen seien, von fast allen die Antwort erhalten: Hätte ich nicht ein oder
zwei Glas Bier vorher getrunken, so wäre es mir nicht passiert! Er erzählt
ferner, er habe als blutjunger Student von den älteren Semestern, die auf
diesem Gebiete schon eine längere Praxis hatten, eine sehr einfache Methode
überliefert bekommen, junge Mädchen zu verführen. Auf dem Tanzboden :
lang gefallene Mädchen zu verhören hatte, sagt, er habe in seiner fünfzehn- .
en
genügten einige Glas, Bier oder einige Weingrogs. Wenn das nicht aus- .
reichte, so galt eine Portion Gulasch nebst einem oder zwei Glas schweren
Weines in einer der sogenannten Südweinstuben für ein unfehlbares Mittel,
um auch die Besten zu Fall zu bringen‘). Aber auch beim Mann wird auf
diesem Gebiet das Gewissen durch Alkohol ausgeschaltet. Meistens nach
Kommersen und Trinkgelagen werden Bordelle oder Prostituierte aufgesucht.
Daraus erklärt es sich, daß das Alkoholkapital und das Bordellkapital
vielfach Hand in Hand arbeiten. Man lese etwa die Offerten und Anzeigen
beim Verkauf schlechter Häuser, wie wir sie schon vor dem Krieg gehabt
haben. Ich greife wahllos ein paar heraus: In Altona: „Goldgrube! Hoch- .
vornehmes, erstklassiges Mädchenlogierhaus, Aufenthaltssalon mit
Piano... Sogleich zu verkaufen, hoher Reingewinn, großer Umsatz in Bier, f
Wein usw.“ Oder: „Lukrative Existenz in Hamburg-Altona: In flottem Be-
triebe befindliches, wie Damenpensionat betriebenes Unternehmen, verbunden |
mit Wein- und Bierverkauf, pro sogleich zu verkaufen... Es wird im Haus
ganz bedeutend viel Bier, Wein, Sekt usw. verkauft. Der Jahresumsatz be-
läuft sich auf über 120000, der Reingewinn auf 25000 M jährlich. Einer
ungünstigen Konjunktur sind solche Geschäfte nie unterworfen. Der Be
trieb geht Tag und Nacht. Die Polizei ist hier sehr liberal und zuvor-&
kommend und genießen Wirte hier privat sogut wie den Behörden gegen-
über das größte Entgegenkommen.“ In einer Stadt, die ich hier nicht nennen |
will, war es eine Brauerei, die das Bordell finanzierte. Der Brauereidirektor :
hatte den Vertrag selbst abgeschlossen. Offenbar wird ein ganz besonders
glänzendes Geschäft gemacht bei dieser Verbindung des Alkoholkapitals mit f
den Bordellen, diesen Häusern unserer Großstädte, von denen ununterbrochen 4
ein Strom von Krankheitsinfektionen bis in die entferntesten Dörfer geht. %
Wir begreifen hiernach die schauerliche Tatsache der Statistik, daß 85% }
aller Sittlichkeitsverbrechen dem Alkohol zur Last fallen.
Der enge Zusammenhang zwischen der Ausschaltung des Gewissens |
unter dem Einfluß des Alkohols und jeder Art von Verbrechen wird uns
am anschaulichsten, wenn ich» hier noch einige Verbrecher aus unseren |
württembergischen Gefjängnissen zu Worte kommen lasse, die sich aus eigener #
reicher Erfahrung darüber geäußert haben. Es sind Selbstbiographien von
Gewohnheitsverbrechern der heutigen Zeit, die diese teilweise in etwas un-
gelenker Sprache niedergeschrieben haben. Der eine erzählt, wie ihn seine |
Mutter, eine liederliche Person, als kleines Kind, weil sie seiner überdrüssig
war, in der Nähe von Reutlingen bei der Gminderschen Fabrik in die Echatz |
warf. Er wurde von einem mitleidigen Manne herausgezogen. So wurde |
er schon als kleiner Knabe ein elternloses Kind, das in der Welt herum-
gestoßen und zum Stehlen verführt wurde. Schon in früher Jugend ging er
von einer Arbeitsstelle zur anderen. „Vom Spenglerlehrling stieg ich her-
l 3) 0. Buchinger, a.a. O. S. 464.
4) Dr. Hugo Hoppe, Die Tatsachen über den Alkohol. 1904, S 340.
Heim, Alkohol und Sittlichkeit. 289
Pf. Infolgedessen, daß ich den Keller unter mir hatte, lernte ich das größte
aller Uebel, nämlich das Trinken, und zwar in einer Weise, die jedes mensch-
liche Maß überstieg... O., so hieß der Besitzer, hatte seine helle Freude
daran, wenn er seinen kleinen Joann den Studenten präsentierte, wenn er
von der einen Ecke in die andere torkelte‘“ Bald wird er entlassen und
geht auf die Wanderschaft. „Auf meinen Kreuz- und Querzügen habe ich
so manches gesehen, gehört und gelernt, namentlich in letzterer Hinsicht das
Schnapstrinken. Gott sei Lob und Dank, heute kenne und meide ich diesen
Halunken wie die Pest, selbst wenn ich einen geschenkt bekomme, trinke ich
'hn nicht... Dies kommt daher, bei einem Weinhändler in Arbeit stehend,
trank ich, nein, ich soff mich toll und voll und jedesmal erwachte in mir
eine tierische Sinnlichkeit, und da habe ich mich in solchem Zustand jedes-
mal vergangen gegen $ 176 und mir schwere Strafen zugezogen.“ Nun
zählt er die Hauptvorfälle dieser Art auf und fährt fort: „Heute schäme ich
mich halb zu Tode, daß ich solcher gemeiner Taten fähig sein konnte. Aber
kdermann weiß, daß der Alkohol den Menschen im Menschen erstickt und
ha zu allen Lastern fähig macht. Und Rosegger hat recht, wenn er sagt:
.Der Alkohol, meinst du, macht frisch und stark, doch braucht der Lump
dazu dein eigen Mark.“ Er erzählt dann eine Reihe von Sittlichkeitsver-
brechen, die er begangen habe. Einmal bietet sich ihm eine verheiratete
Fra zu unsittlichem Umgange an. Es kommt aber zunächst nicht dazu.
Da aimmt ihn ein Freund ins Wirtshaus mit und bezahlt ihm, was er nur
naken konnte. „Um 4 Uhr trennten wir uns. Durch den übermäßigen
Genuß entsetzlich erregt, kam mir das Gespräch mit meiner Hausfrau in
den Kopf. Und ich faßte, den Gedanken nicht mehr los werdend, den Ent-
schluß: Heute suchst du was in R. Schon Nietzsche sagt: „Dunkle Hunde
bellen in deinem Keller.“ Wirklich dieser Mann. kannte das Leben oder
besser gesagt den Menschen besser als ich. Denn jene Hunde bellten damals
m mir entsetzlich. Nur mit dem Unterschied, daß es eine geile Rasse war.“
Dann folgt die Beschreibung einer abscheulichen Verführungsszene mit einem
“vierzehnjährigen Mädchen und die Schilderung der Strafe, die ihn zwang,
ein Siebentel seines Lebens hinter Kerkertüren: zuzubringen. „Diese Strafe
heilte mich gründlich vom Alkoholismus.“ „Die Nutzanwendung ist die:
‚Lebe nüchtern in Speis’ und Trank. Denn der Genuß übermäßiger geistiger
‚Getränke erweckt in dir das Tier, welches in jedem Menschen schlummert.“
Ein anderer gewerbsmäßiger Einbrecher, der schon als Junge Haupt-
nun einer Einbrecherbande im Stöckach in Stuttgart war, beschreibt, wie
& bei ihm anfing. „Es war im „Schönbuch“ in der Wolfiramstraße, wo
der W, drauf ist... Oft saß ich die halbe Nacht durch bei den Gästen und
se gaben mir zu rauchen und zu trinken, bis ich benebelt war und an ‘
meinem Räuschchen hatten diese Tölpel die größte Freude Und wenn ich
dann einen Zigarrenstumpen in den Mund nahm und feste Rauchwolken in
die Luft blies, wollten sie fast vor Vergnügen platzen. O ihr Menschen!
Habt ihr auch über euer Tun nachgedacht? Habt ihr gedacht, welche Wohl-
tt ihr mir bezeigtet, indem ihr mir mein junges Leben schon in seinem Ent-
stehen und Wachsen, in seinen zartesten Jahren vergiftet? Acht Jahre
war ıch alt, da ging ich wieder mit einem kleinen Rausch nachts um 12 Uhr
nach Haus... In meinem Rausch fiel ich in ein vier Meter tiefes Wasser-
loch. Wer mich herausgezogen hat, weiß ich heute noch nicht.“ Von da
an fing das Biwakieren im Freien an und das Stehlen der Brotsäckchen, die
die Bäcker morgens an die Haustüren hängten. Der Weg führte über die
‚ettungsanstalt infolge immer neuer Einbruchsdiebstähle zuletzt ins Zucht-
us.
‚ Ein dritter Verbrecher, der sich viel darauf zugute tut, daß seine Mutter
die Tochter eines adeligen Offiziers war, der anno 1848 für die Freiheit
ces Volkes den Degen zog und dafür füsiliert wurde, wird in der Anstalt
in Beuggen erzogen. Er ist zunächst noch frei von aller Versuchung.
Aber er kommt dann zu sehr harten Meistern in die Lehre, die ihn miß-
brauchen. Das bringt ihn dem Wahnsinn nahe. „Auf der Bühne (dem
Die Alkoholfrage, 1925. 2
290 Abhandlungen.
Dachboden) wollte ich mich erhängen.“ Er wird aber von der Magd be-
merkt, nimmt dann ein haarscharies Tranchiermesser und geht damit in
den Keller, um sich die Halsader zu öffnen. „Plötzlich stolperte ich,
schaute nach, über was, es war ein Schlauch. Oft hatte ich denselben auf die
Seite getan. Jetzt schoß es mir blitzschnell durchs Gehirn. Ha! Jetzt
wird gsofie, gsoffe bis zur Bewußtlosigkeit! Schnell reinigte ich den,
Schlauch, schnitt ihn zurecht und tauchte ihn ins Faß. Mit teuflischenı
Vergnügen sog ich das kühle Naß ein. Von jetzt an gings rasch abwärts.
Ich glaubte mich entschädigen zu können für alle moralischen und physischen
Qualen, welche ich so lange schweigend erdulden mußte. In Wahrheit war
es keine Entschädigung, sondern der schwerste Schaden, den ich mir selbst‘
je angetan habe.... Ich verfiel dem Alkohol so sehr, daß ich unmöglich
von ihm mich trennen zu können glaubte. Wenn ich jetzt zurückschaue.,
so muß ich bekennen, daß hier meine Schuld anfängt, wenigstens nach
außen hin, und ununterbrochen fortgedauert hat bis zur letzten Tat, welche,
mich ins Zuchthaus brachte. Meine Zuflucht suchte ich im Keller bei ge
stohlenem Most und Wein. Fast stumpisinnig bin ich geworden.“ Er er-
zählt dann, wie er sich im „Mohrenkeller“ den abgetropften Wein zu-
sammengeschüttet und sich damit Courage angetrunken hat, um seinen ver-
haßten Meister in einer wilden Rauferei niederzuschlagen. Er wird et-
lassen und führt nun ein Vagabundenleben. Nach einer neuen Enttäuschung
heißt es: „Hat es mir irgendwo ein bißchen gefallen, so kam mir immer
wieder der Gedanke an meine zertrümmerten Hoffnungen, und im Glas
suchte ich Trost. Nie habe ich vor jenem Tag Schnaps angerührt, jetzt sofi |
ich auch das. Alles, wenn es nur betäubte, war mir gut genug. Seit jenen
Tagen ist meine moralische Kraft gebrochen, nur einmal habe ich mich noch
aufgerafit. Es zog eine wirkliche echte Liebe in mein Herz. Nur ein
Vierteljahr zwar, dann wurde es wieder dunkel und dunkler als je zuvor.“
Beim Lesen dieser Verbrecherbiographien steht man unter dem Eindruck:
Diese Menschen sind eigentlich nicht schlechter, als wir. Sie haben ein tiefes
Gemütsleben. Aber es gab ganz wie bei jenen gebildeten, wohlerzogenen
Menschen, von denen ich
unter dem Einfluß des Alkohols das moralische Gleichgewicht verloren.
Und von da an war ihnen alles gleich. Sie wurden in diesem gefährlichen
Augenblick nicht, wie wir, von einer Familie aufgenommen oder von av-
ständigen Freunden getragen und vor dem Schlimmsten bewahrt. Sie sanken
vielmehr im Sumpf der Großstadt unter, und es blieb ihnen nur die Ver-
brecherlaufbahn übrig.
zuerst sprach, einen Augenblick, wo sie einfach
Wir haben sowohl bei den wohlerzogenen Menschen wie bei denjenigen.
denen es an sittlicher Erziehung fehlte, dieselbe Beobachtung gemacht.
Schon eine verhältnismäßig leichte Narkose beginnt das Zentralorgan unserer
sittlichen Verantwortlichkeit zu zerstören, sodaß unser Gewissen versagt und
wir zu Dingen fähig werden, die wir im nüchternen Zustand- für unmöglich
gehalten hätten.
Damit stehen wir vor der einfachen ethischen Frage: Können wir &
sittlich verantworten, unser Gewissen, unser Verantwortungsgefühl auszu-
schalten, und können wir es verantworten, daß eine Einrichtung bestehen
bleibt, in der andere Menschen fortwährend in der Gefahr sind, daß sie in
einen unzurechnungsfähigen Zustand geraten?
|
Darauf antwortet man vielleicht: Das ist Sache der en Ent-
er
scheidung jedes Einzelnen. Nach einem Alkoholvortrag,
habe doch das Recht, mich selbst zu zerstören.“ Er gab zu: es ist jedesmal
ein sittlicher Selbstmord und ein Beitrag zu meinem körperlichen Ruin, wenn
ich mich berausche. „Aber ich habe doch das Recht, mir das Leben zu
nehmen.“ Auch bei der Debatte über das Schankstättengesetz im Reichstag
sagte der Vorstand des Verbandes der Gastwirte für Berlin und die Provinz
Brandenburg, O. Strauß: „Statt Gemeindebestimmungsrecht verlangen wir
Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen!“ Dabei wird aber eine Grundtatsache
vor 25 Jahren
vor der Tübinger Studentenschaft gehalten wurde, sagte ein Student: „Ich
Heim, Alkohol und Sittlichkeit. 291
enseres menschlichen Lebens außer acht gelassen, die Tatsache, daß unser
Handeln eben niemals das Handeln eines Einzelnen ist, sondern stets in das
Leben von Tausenden von Anderen hineinwirkt. Wenn jeder die Folgen
seiner Tat allein tragen dürfte, ohne andere Menschen mit ins Verderben zu
ziehen, dann könnte man das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen prokla-
mieren. Aber wir stehen in einem Gesamtleben; wir sind Glieder eines
sozialen Ganzen. Alles, was ich als Einzelner tue, ist „ein Schlag, der
üusend Verbindungen schlägt“. Es hat unmittelbare Folgen für Andere.
Ih wirke fortwährend in das Leben von Hunderten von Gegenwärtigen und
Künftigen hinein, für die meine Tat zum Schicksal werden kann. Das
zeigen schon die Unglücksfälle, die durch Trunkenheit Einzelner über eine
Masse von Anderen gebracht worden sind. Ein Betrunkener, der etwas auf
‚die Schiene legt aad dadurch einen Zug zur Entgleisung bringt, bringt
Hunderte von Menschen in Gefahr. Jede Woche lesen wir von Autounfällen,
de durch einen betrunkenen Chauffeur verschuldet worden sind. Jeder
munte Verkehrsunfall auf den Berliner Straßenbahnen ist auf Alkoholexzesse
zurückzuführen. Aber noch wichtiger ist eine andere Tatsache, die die
medizinische Wissenschaft festgestellt hat. Die Untersuchung der Ver-
erdungsgesetze hat gezeigt, daß der Zustand, in dem sich der Vater bei der
Erzeugung des Kindes befindet, auf Geschlechter hinaus das Schicksal von
Kindern und Kindeskindern bestimmt. Man hat genaue Versuche mit der
Nadkommenschaft von alkoholisierten Hunden gemacht, wobei man zunächst
dea männlichen und dann auch den weiblichen Teil alkoholisierte. Es zeigte
‚sich, daß schon in der ersten Generation, wenn auch nur das Männchen
‚äkoholisiert war, die Hälfte der Nachkommenschaft lebensunfähig war. War
‚auch der weibliche Teil alkoholisiert, so kamen lauter kranke Junge zutage.
‘Und nun denke man an die Tausende von Kindern, die im Rausch erzeugt
snd. Während des Oktoberfestes und. während des Faschings werden ja
eine Menge von Kindern im Rausch ea Was bedeutet das? Lippich
hat über 97 im Rausch erzeugte Kinder bachtungen gesammelt. Von
diesen 97 waren nur 14 ohne Gebrechen, 28 waren skrophulös, 3 schwind-
süchtig, 4 schwachsinnig, 6 hatten Gehirnentzündung. Schon Erasmus Dar-
win, der Großvater des berühmten Darwin, hat nachgewiesen, daß alle
‚Krankheiten, die vom Alkohol herrühren, sich bis ins dritte und vierte Glied
‚borterben und zwar so, daß sie allmählich zunehmen, bis das ganze Ge-
;schlecht ausstirbt. Von 83 epileptischen Mädchen in einer Pariser Anstalt
kante man bei 60 mit Sicherheit Alkoholismus der Eltern feststellen. Dug-
dik fand 1874 in den Gefängnissen von New York 6 Verbrecher, die mit-
“nander verwandt waren, und verfolgte ihren Stammbaum bis zu ihrem
Sammvater, der im Anfang des 18. Jahrhunderts gelebt hatte, einem hol-
„adischen Jäger und Fischer. Dieser hatte seine Kinder im Rausch erzeugt.
sieben Generationen ließen sich feststellen mit 709 Nachkommen. Von diesen
waren 174 Prostituierte, 18 Bordellbesitzer, 77 Verbrecher (darunter zwölf
Mörder), 64 waren im Armenhaus untergebracht, 142 wurden außerhalb des
Armenhauses öffentlich unterstützt, die meisten waren Alkoholiker. Unter
den weiblichen Nachkommen waren zunächst die Hälfte Prostituierte. In
der fünften Generation waren beinahe alle Weiber Prostituierte und alle
Männer Verbrecher. |
_ Ein paar Maß Bier, vor der Konzeption getrunken, löst also unter Um-
Sänden eine ganze Lawine aus, ein zunehmende Masse von Elend und Ver-
rungen innerhalb der Volksgemeinschaft. Wir können darnach ermessen,
was ein jährlicher Münchener Fasching und ein jährliches Oktoberfest für
ein Volk bedeutet. Die Volksschullehrer in den niederösterreichischen Wein-
tZirken sagen: wenn wir in den untersten Klassen sehr schlechtes Schüler-
Material haben, so wissen wir, daß 6—7 Jahre vorher ein gutes Weinjahr
Sa Schon die Alten kannten diese furchtbaren Zusammenhänge. Nach
` utarch sagte Diogenes zu einem entarteten und entnervten Jüngling: Mein
lunger Freund, dein Vater hat dich im trunkenen Zustand erzeugt.
19*
292 Abhandlungen.
Wir sehen aus diesen Zusammenhängen: Der Alkoholismus ist nie die
Angelegenheit eines Einzelnen, er ist mehr als irgend etwas anderes eine
u Angelegenheit, die nicht vom Einzelnen unabhängig von den
nderen entschieden werden kann. jedes Glas Bier, das einer von uns
regelmäßig trinkt, wirkt auf tausend Vererbungswegen auf die ganze Volks-
Pe lt Es hilft mit, die Alkoholatınosphäre zu schaffen und zu er-
alten, die die Niederungen unseres Volkslebens noch ganz und gar be-
herrscht, jene Atmosphäre, in der die Verbrecher, die Geschlechtskranken..
die Entarteten gedeihen, und in der alle, denen es an guter Erziehung gefehlt
hat, in Gefahr sind, unterzugehen. Mit dieser Alkoholatmosphäre hängt
das tägliche Martyrium Tausender von Trinkerfrauen zusammen, diese trau- |
rigste Erscheinung in unserem Volksleben. Wer einmal auch nur einige
Monate lang in der Tinkerrettungsarbeit gestanden hat, der hat für immer
die harmlose Freude am Bierglas verloren. In Halle war eine Familie.
die jede Nacht aus der eigenen Wohnung flüchten mußte, um nicht in die
Hand des betrunkenen Vaters zu fallen, der sie in der rohesten Weise zu
mißhandeln pilegte. Eines Morgens lag der Mann völlig betrunken schlafend
unten an der Treppe. Der dreijährige Junge kam mit einem Beil in der
Hand die Treppe heraufgestiegen und sagte zur Mutter: „Schlag ihn doch
tot, Mutter, da unten liegt er!“ Alle diese furchtbaren Tatsachen, denen wir .
ohne eine neue Alkoholgesetzgebung machtlos gegenüberstehen, stellen uns
vor die einfache Frage: Hat unser Volk noch so viel sittliche Kraft un!
Gesundheit, um nach klarer Erkenntnis der Sachlage zu handeln und den
Dämon, der uns zu erwürgen droht, niederzuwerfen? Ein starker Körper
ist ja imstande, ein Gift, das in ihn eingedrungen ist in einem heftigen
Fieberschauer auszuscheiden, ein Schwacher geht daran zugrunde. Die
Alkoholfrage läßt sich nicht isolieren. Sie hängt mit allen anderen sitt
lichen Nöten unseres Voikslebens eng zusammen, mit der Wohnungsirage.
mit der Prostitution, mit der Schmutz- und Schundliteratur. Auf allen diesen
Gebieten stehen wir vor der Frage, ob unser Volk noch die Kraft hat, in
heiligem Zorn aufzufahren und das Gift auszuscheiden. Die sittliche Kraft
hängt ja, wie wir sahen, davon ab, ob wir noch imstande sind, den ver
führerischen Reizen zu widerstehen, die die gefährlichen Gifte auf uns au:
üben, ob wir noch so viel Widerstandsfähigkeit besitzen, trotz des Sirene
gesanges, der von der Insel her tönt, an der Insel des Todes entschlossen
vorbeizufahren. Das chinesische Volk hat einen Krieg geführt, als mai
ihm aus Handelsinteressen das Opium aufdrängen wollte. Das amerikanische
Volk hat die Prohibition erreicht. Die Frage ist, ob wir zu einer ähnlichen
sittlichen Entscheidung fähig sind oder ob wir nicht mehr die Kraft dazı
haben. Die Lage läßt sich in einem Bild veranschaulichen. Mitten durch
eine Stadt fließt ein tiefer reißender Bach, dessen Ufer durch kein Geländer
geschützt sind. Er treibt weiter unten eine Mühle. Jedes Jahr fällt ein ganz
bestimmter Prozentsatz von Menschen, namentlich Kindern, hinein, werden
fortgeführt und in das Räderwerk der Mühle hineingerissen. Es gibt nun
eine Anzahl starker Menschen, für die es einen besonderen Reiz hat, dit
gradezu einen Sport daraus gemacht haben. sich in die Wellen zu stürze!
und dann, mit der Gefahr spielend, gerade im rechten Augenblick heraus-
zuspringen, ehe es zu spät wird, ehe die Strömung zu stark wird, Solang?
das die Starken tun, wirkt es als ansteckendes Beispiel auf die Schwächeren.
besonders auf die heranwachsende Jugend, sie wollen es alle diesen Starken
nachtun. Dieser Stadt mit dem hindurchströmenden Bache gleicht ei:
menschliche Gemeinschaft (eine Gemeinde, oder ein Staat), in der jene:
Mittel, das Gewissen auszuschalten, jedem ohne weiteres zugänglich ist.
Fin ganz bestimmter Prozentsatz von Menschen muß der Gefahr erliegen.
so lange kein Geländer angebracht ist. Man hat ja festgestellt, daß in
folge der Schwäche der durchschnittlichen Menschennatur von den Menschen.
denen ein narkotisches Gift zugänglich ist, ein ganz bestimmter Teil das
sittliche Gleichgewicht verliert und daran zugrunde geht. Von den Aerzten
und Apothekern, denen das Morphium zugänglich ist, geht jährlich em
Heim, Alkohol und Sittlichkeit. 293
bestimmter Teil an Morphinismus zugrunde. Die Frage ist nun die: Können
wir es verantworten, daß die Gefahr bestehen bleibt? Müssen wir nicht
fordern, daß ein Geländer angebracht wird, das es unmöglich macht, an
den gefährlichen Strudel heranzukommen? Müssen nicht gerade wir, die
die nötige Widerstandskraft zu besitzen g’auben, nur umso dringender
dieses Geländer fordern aus Ritterlichkeit gegen unsere schwächeren Brüder?
Haben nicht wir, die wir das unverdiente Vorrecht einer guten Erziehung
en haben, gerade darum die sittliche Pflicht, das Opfer der freiwilligen
nthaltsamkeit zu bringen? Jeder, der arf dem Gebiete der Trinkerrettung
gearbeitet hat, weiß ja, daß Mäßigkeit hier nichts hilft. „Die Mäßigen sind
die Verführer der Anderen.“ ur fre,williger Verzicht kann uns helfen.
Es ist ein großes Opfer, das hier Merang wird, ein Verzicht auf eine
ganze Tradition voll Poesie und Romantik. Zum Opfer gehört eine sittliche
hraft. Diese sittliche Kraft können wir unserem Volke nicht geben; wir
können sie nicht schaffen. Wenn sie nicht da ist, wenn sie nicht ın unserem
Volke lebt. vor allem in seiner gebildeten Jugend, so helfen alle Vorträge
und Aufforaderunigeu nichts. Nur eins können wir unter allen Umständen
verlangen: daß der Entscheidung zum großen verzicii, wo sie aus der
Tiefe der Volksseele sich emporringt, Raum gemacht wird, daß die Stimme
tes Volkes in dieser Frage gehört wird. Das ist die sittliche Seite der vor-
geschlagenen Gesetzgebung über die Schankstätten und den Schutz der Jugend.
Auf die gesetzgeberische Seite der Sache soll hier nicht eingegangen werden.
Nas vom sittlichen Standpunkt aus verlangt werden muß, ist die Freiheit
der Entscheidung, Raum für die Selbstbestimmung der Volksgemeinschaft.
Wir verstehen nicht, was die Wirte und Bierbrauer dagegen haben, daß
Ge Stadtgemeinde über neue Schankstätten abstimmen soll. Sie sagen ja
immer, daß die Wirtschaften einem dringenden Bedürfnis des Volkes ent-
sprechen. Wenn das richtig ist, dann wird die Abstimmung, die wir ver-
\engen, noch eine Vermehrung der Wirtschaften und Likörstuben herbei-
Warum fürchtet man dann diese Abstimmung? Das hat seinen
guten Grund. Man hat z. B. in Heidenheim in einer Sieddling einen Versuch
damit gemacht. Man ließ die 278 wahlberechtigten Siedler darüber ab-
simmen, ob eine Wirtschaft eingerichtet werden soll; 241 stimmten dagegen,
nur 10 dafür. Die 86 %, die dagegen waren, wollten lieber statt der Wirt-
schaft bessere Wege und eine Kinderschule. Der Gemeinderat aber beschloß,
ne Bäckerei und eine Metzgerei mit Wirtschaft einrichten zu lassen, also
de Gelegenheit zu schaffen, daß jeder Jugendliche, der eine Wurst oder
emen Laib Brot holt, auch einen Schnaps oder ein Glas Bier trinken kann.
Die Aktionäre der Brauereien fürchten natürlich solche Abstimmungen, in
denen der sittliche Wille des Volkes deutlich zum Ausdruck kommt. Sie
fürchten vor allem die Frauen, die Mütter unseres Volkes, die Märtyrerinnen
des Alkoholelends, die darüber in allen politischen Lagern nur eine einzige
. Meinung haben.
© Was wir vom sittlichen Standpunkt aus in dieser Frage verlangen müssen,
st nur, daß die Gesetzgebung Raum schafft für die Willenskundgebung des
Volkes. Der Freiheit eine Gasse! Es geht in dieser Frage um sehr viel,
' um Aufstieg oder Niedergang! Jeder, der sein Volk liebt, sinnt heute dar-
_ über nach, ob dies Volk noch die sittliche Kraft besitzt, eine große Mission
zu erfüllen, oder ob es seine Rolle ausgespielt hat. Die Frage ist noch
nicht entschieden. Wir sind noch nicht über den Berg. Die schwersten Ent-
scheidungen stehen uns noch bevor. Möchte am Tage der Entscheidung
Ban von uns, der die Verantwortung fürs Ganze mitträgt, auf seinem
sten sein!
Mitteilungen.
1. Aus Versicherungsanstalten.
Die Landesversicherungsanstalten Sachsen
und Schleswig-Holstein.
Dem Geschäftsbericht der Landesversicherungs
anstaltSachsenfürdie un 1918 — 23 ist zu entnehmen:
Die Behandlung von Trinkern ist 1920 wiederaufgenommen worden
Es wurden untergebracht in der Heilstätte Seefrieden bei Moritzburg 19%:
2 Männer, 1921: 5, 1922: 15, 1923: 8 Männer, mit gutem Erfolge. Di
Unterbringung erfolgte in der Sr auf ein halbes Jahr, im Durchschnitt jedoch
nur 4?/s Monate. Beiträge „zur Bekämpfung des lkoholmißbrauchs‘“ wurden
von der L. V. A. geleistet in den Jahren 1918—22: 460, 1560, 2030, 4240,
8460 M. (Die Inflationsbeträge des Jahres 1923 wurden weggelassen.)
Nach dem Bericht derLandesversicherungsanstaltSchles-
wig-Holstein ist von ihr im Jahre 1924 eine Beihilfe von 200,— M mr
Heilung eines Alkoholkranken geleistet worden. Im Jahre 1925 sind dra
Heilverfahren ganz auf Kosten der Landesversicherungsanstalt übernommen
worden. Sämtliche Kranke wurden der Trinkerheilanstalt Salem in Holstein
zur Kur überwiesen.
2. Aus der Trinkerfürsorge. |
Trinkerfürsorge in Pforzheim. |
Im Rahmen des städtischen Wohlfahrtsamtes ist ein Trinkerfürsorge
tätig, dessen Gehalt zu ?/, von der Stadt, zu % vom Badischen Landesverband
gegen den Alkoholismus getragen wird. Die Arbeit ist nach dem Tätigkeis
richt des Jugend- und Fürsorgeamts für 1924/25 (Abschnitt über die Tätig
keit der Trinkerfürsorge), seit 1920 in, wenn auch zahlenmäßig schwankend
Steigen. Es wurden in den Jahren 1920—24 angemeldet: 101,295,240,84 (ei
entwertungsjahr 1923!), 110, insgesamt 830 Personen, wovon 71 männlich
59 weibliche gemeldet und besonders dringend sind! Der Bericht macht hie
die folgenden bemerkenswerten Ausführungen (Sperrungen von uns. D. Ber.)
„Es sind durchweg Familien, die sonst der Fürsorge (des Wohlfahrt‘
amtes) irgendwie anhängen, sei es in der Armenfürsorge, sei es in de
Jugendfürsorge wegen Verwahrlosung der Kinder. Diese Fälle sind
ımmer dieschwierigsten, teuersten und langwierigsten
des Wohlfahrtsamtes. Nicht überall liegt die allgemeine Ursache der
Not in der Trunksucht des Familienvaters, aber meist kann man dit
Verhältnisse nur dann bessern, wenn man bei diesem
Uebel ansetzt. Das Problem des Alkoholismus ist deshalb in dem
en Umfang zu einem Massenproblem geworden, weil der durci
riegs- und Nachkriegszeitverminderten Widerstand:
kraft vieler Menschen in körperlicher und seelischer Hinsicht e!?
verstärktes Angebot des Alkoholkapitals und raffiniert
teste Reklametechnik gegenübersteht. Darum wird in fast
allen Städten das gleiche Anwachsen der Zahl wie hier beobachtet.“
Aus der mannigfaltigen Tätigkeit der Fürsorge wird u. a. hervorgehoben:
„Durchführung von Entmündigungen; es ist aber auch Führung eine!
anzen Reihe von Vormundschaften (man steht hier offenbar der Entmun
igung weniger zurückhaltend gegenüber als an manchen anderen Orten, è
werden nicht weniger als 42 noch geführte Vormundschaiten genannt, während
6 im Laufe des Jahres aufgehoben werden konnten. D. Ber.), praktische
Mitwirkung bei einer zweckmäßigen Einkommensverwendung nötig. Grobe
seelischer und sittlicher Not, vor allen Dingen der Kinder, kann hier gesteuer!
Mitteilungen. 295
nicht unerhebliche Ausgaben der Stadtverwaltung an
Unterstützungsstellen können durch eine gute Trinker-
lürsorge gespart werden.“
In laufender Fürsorge standen im letzten gun 296 Pileglinge. Neben
einer großen Menge von Trinkerbesuchen, Sprechstundenberatungen und
sonstigen Rücksprachen wurden 29 Verwarnungen durch das Bezirksamt
veranlaßt, in 12 Fällen Arbeit vermittelt, in 14 Fällen werden Sachleistungen
verwaltet. 5 Personen wurden in Trinkerheilstätten gebracht; 18 (!) mußten
in die Irrenanstalt eingeliefert werden; 5 befinden sıch in der Kreispflege-
anstalt. — Die Erfolge (soweit sie sichtbar sind)? 4 Trinker wurden enthalt-
sam, etwa 40 werden als gebessert bezeichnet. Fl.
Trinkerfürsorgestelle Lüdenscheid (Westfalen).
Wie dem Bericht für 1. Mai 1924 bis 31. März 1925 des dortigen Bezirks-
'wereins gegen den Alkoholismus, der die Fürsorgestelle gegründet hat und
wterhält, zu entnehmen ist, konnte diese, nachdem sie unter den Schwierigkeiten
der Geldentwertungszeit zusammengebrochen war, auf 1. Mai d. J. mit einem
xuen Sekretär wiedereröffnet werden. Die Stadt gewährte außer einem
Zuschuß einen Raum im Gesundheitsamt. Veröffentlichungen in der Orts-
pesse, Anschläge in den Wartezimmern der Aerzte, Krankenkassen und
akren gemeinnützigen Anstalten weisen auf die Fürsorgestelle hin. Ihre
‘Sprechstunden finden täglich vormittags von 8 bis 10 Uhr und nachmittags
won 2 bis 3 Uhr statt.
| gon, für Abhilfe zu sorgen. Gefährdet er die Sittlichkeit der Kinder
‚ durch schmutzige Worte oder unzüchtige Handlungen, so wird Schutz-
aulsicht oder anderweitige Unterbringung dieser Kinder veranlaßt.“ Zur
Entmündigung wird folgende Stellung eingenommen: „Nur in den aller-
schwierigsten Fällen wird den Angehörigen geraten, einen Entmündigungs-
atrag zu stellen. Hat man Entmündigung eintreten lassen, so ist eine
Rettung fast unmöglich, denn es fehlt den Kranken nun das Gefühl der
agenen Verantwortlichkeit, das so wirkungsvoll bei der Heilung zu Hilfe
gezogen werden kann. Nur wenn es sich um lebensgefährliche Bewahrung
eines schwer geistesgestörten Trinkers handelt, ist die Entmündigung zu
' beantragen.“ — Wenn auch nicht alle Fürsorgestellen und Fürsorge-Praktiker
: m der Ablehnung bzw. Einschränkung dieses Hilfsmittels so weit gehen,
3% gehen doch die Erfahrungen und Urteile wohl meist dahin, daß die Ent-
mündigung mehr als warnendes Druck- und Drohmittel, als in wirklicher
| Ausführung sich wirksam erweist und so als eindrucksvolles Erziehungs-
t mittel zu schätzen ist. l
' In Pflege genommen sind 102 Personen. Von ihnen wurden 10 Enthalt-
| samkeitsvereinen als Mitglieder zugeführt, 10 andere schlossen sich als
| „Anhänger“ dem Blauen Kreuz an, 8 können als gebessert angesehen werden.
je einer wurde der Trinkerheilstätte „Blaukreuzhof“ und dem Trinkerasyl
ın Benninghausen überwiesen; 7 kamen in die Arbeiterkolonie, ins Kranken-
haus oder Gefängnis. Bei 65 war nichts zu erreichen. Die ersten Angaben
können bei der Schwierigkeit der Arbeit und insbesondere des Neuanfangs
nach der notgedrungenen Unterbrechung als recht befriedigend erachtet
werden. In 16 Fällen ist der Sekretär Vormund, und er hat die Schutz-
aufsicht über 7 Kinder aus Trinkerfamilien. Die Fürsorge arbeitet in engstem
Einvernehmen mit dem Blauen Kreuz. Beklagt wird die Ablehnung von
„subchandlunsganträgen durch die Landesversicherungsanstalt (zum Unter-
schied von der früheren Uebung). Fl.
296 Mitteilungen.
Von der Trinkerheilstätte „Stift Isenwald“
und ihrer Arbeit zeichnet ihr Leiter, der bekannte Pastor Fiesel in Kästorl
in Heft 1 des Werkes „Die Hannoversche Innere Mission in Einzelheiten“: „Ein
Missionsstation in der Lüneburger Heide“ t) ein lebensvolles Bild (S. 41—4)
Den breitesten Kreisen sollten die Worte bekannt werden, die der Verfasse
seiner Schilderung der Tätigkeit der Anstalt voransetzt:
„Gibt es denn Hilfe für Trunksüchtige und Alkoholgefährdete? Ei
tröstlich festes Ja auf diese oft erhobene Frage können diese Spezialheilstätte
geben, welche seit einem Menschenalter in Deutschland erstanden, Tausend
trunksüchtiger Männer und Frauen aufnahmen, dem Fortschreiten des Uebel
wehrten und mindestens bei der Hälfte ihrer Patienten so viel Besserun;
ereichten, daß sie wieder in Haus und Beruf brauchbar wurden.“
Die seit 1901 bestehende Heilstätte, die 40 Insassen vorwiegend aus dei
bessergestellten Ständen Unterkunft bieten kann, beherbergte im Laufe de
ahre „neben 103 kernigen, aber durch den Alkohol in Bier, Branntwein ux
ein krank gemachten, zum Teil schon aufgeriebenen Männern des Arbeiter:
standes“ 157 Handwerker, 148 Landwirte, 123 Kaufleute, 18 Apotheker.
27 Lehrer, 15 Techniker, 32 Gastwirte, 22 Studierte, 39 obere und mittlere
Beamte, 70 Unterbeamte und ferner im bunten Wechsel: Glasmacher, Förster,
Offiziere a. D., Buchhändler, Kellner, Fabrikanten, Boten, Rentner, Makler.
Buchdrucker, Opernsänger, Wäscher, Drogisten, Baumeister, Maurermeisie
usw. Im August d. J. wurde der tausendste Pflegling aufgenommen. „Wed
roße Zahl! Und doch wie verschwindend klein gegen die wirklich vor
andene Unsumme kurbedürftiger Trinker!“ Aus eigenem Antrieb oder au
Veranlassung von Behörden wurden über 800 aufgenommen; etwa 200 dz
gegen waren in Einsicht und Willenskraft schon zu weit gesunken, mußt
entmündigt werden und wurden zwangsweise zugeführt. „Doch auch dre
Alkoholruinen hielten sich in dem ganz offenen, äußerlich wie ein Landhaw
innen wie ein Krankenhaus mit drei Klassen gebauten Stift überraschend gt
Bei vielen konnte die Entmündigung wiederaufgehoben werden.“ u
Gegenüber der noch viel verbreiteten Meinung, daß die alsbaldige völlig
Alkoho une gefährlich oder schädlich sei, weist der Verfasser auf d
Tatsache hin, daß von den 1000 behandelten Pfleglingen nur 3 in der Ans
estorben sind, davon 2 im mitgebrachten Säule wahnsinn, einer an eiD
armkrankheit. „Schwierig ist nicht die Entwöhnung
sondern die Erziehung zu lebenslänglicher, dauernde
Total-Enthaltsamkeit von allen alkoholischen Geträn
ken, auch vom Bier. Arzt und Seelsorger müssen in der Anstalt wetteifem
um diese Erkenntnis zu begründen und den Willen zu stärken. Hier liegt di
ganze Schwierigkeit, aber auch die Kunst des Heilverfahrens.“ — Gera
i den periodischen Trinkern wurde bei zureichend langer Behandlung ve
hältnismäßig oft Heilung erzielt, selbst noch in hohem Alter. „Auffallen:
ist das schnelle körperliche Aufblühen (der Pfleglinge überhaupt) in dë
völligen Alkoholfreiheit.“
m allgemeinen begnügt man sich in Stift Isenwald mit Ersatz m
Selbstkosten durch die Heilungsuchenden, während Mittellose gleiche Hi
in der großen Arbeiterkolonie finden, die den Hauptstamm der Kastor
Anstalten bildet.
Aus dem Jahresbericht 1924 |
der Trinkerheilstätte Ellikon a. d. Thur (Kanton Thurgau).
In der alt- und rühmlich bekannten Heilstätte waren auf 1. Januar 19
35 Pfleglinge vorhanden gewesen. 37 wurden dann im Laufe des Jahres at
zehn verschiedenen Kantonen der Schweiz aufgenommen, unter denen
Nachbarkanton Zürich (mit 17) überwog; 39 gingen ab, worunter 3 als aus
gewiesen und 4 vorzeitig Ausgetretene. Die Pileglinge gehörten den vef
schiedensten mittleren und unteren Ständen an. Kaira en und Aufnahme
gesuche kamen insgesamt 124. Die Heilerfolge waren recht befriedigend: V%
1) Verlag des Landesvereins für Innere Mission, Hannover, 1925.
Mitteilungen. 297
‚den 30 Pfleglingen, welche die ee durchgeführt haben, leben jetzt 25,
:83 v. H., enthaltsam, während 5 rückfällig wurden. Der Hausvater freut
sich „über die schöne Zahl Männer, welche den einzig richtigen Grundsatz
‚mit ins Leben hinausgenommen haben: Keinen Tropfen mehr!“, den er mit
Recht als „das ABC der Trinkerbewahrung“ bezeichnet. Auf dauernde Ent-
‚haltsamkeit hinzuführen wird — wie in allen richtigen Trinkerheilanstalten —-
„durch Aufklärung, sittliche Erziehung und Charakterstählung und gesunde,
igeregelte Arbeit (Landwirtschaft, Hausgewerbe usw.) erstrebt. In diesen
Sinne erhalten die zu Entlassenden die von Pfleglingen gezeichneten und unter
‚Glas und Rahmen gebrachten Worte: „Nie mehr zurück!“ mit nach Hause.
‚Der Belehrung, wie guter Unterhaltung dienen mancherlei Veranstaltungen,
jnicht zum wenigsten auch ein eigener Bildwerfer für Lichtbildervorführungen.
‚Auch über die Süßmostbereitung wird durch Wort und Ausübung unter-
‚wiesen — die Anstalt stellte im Herbst v. J. rund 2000 1 Saft in Fässern her.
Mit den früheren Pfleglingen erhält sie die Verbindung nach Kräften
aufrecht, es besteht unter dem Namen „Sobriötas“ eine Vereinigung ehemaliger
Pieglinge von Ellikon. Ein Zeichen dieser engen Fühlung ist, daß zum
lazten Jahreswechsel 22 Männer, die im Laufe von 1924 dort ihre Kur
teendigt hatten und bis jetzt enthaltsam blieben, in die Heilstätte kamen, um
deu Sılvesterabend bei Ernst und Scherz hier zu verbringen.
Als ein Haupthindernis dauernden Erfolges erweist sich immer wieder
de Meinung, die noch breite Schichten beherrscht: Daß ein Trinker auch
„mäßig“ sein könne, wenn er wolle, er brauche sich nur im Zaum zu halten
und nıcht mehr zu trinken, als er „vertragen könne“. Auf solchem Unverstand
krruht dann die häufige Verleitung, die zu verhängnisvollen Rückfällen führt.
Wird durch solche Torheit, im besten Falle solchen Irrtum oft nicht nur
der Bestand der Rettung gefährdet, sondern auch schon das Beschreiten
desWeges zu ihr verhindert, so steht daneben noch ein anderes häufiges
Hindernis: Das Zurückschrecken vor den erheblichen Kosten einer lang-
aauernden Heilbehandlung. Und doch „scheint die momentan billigere
Versorgung eines eigentlichen Trinkers in einer geschlossenen Anstalt nur
billiger zu sein, in Wirklichkeit trifft hier a das Wort zu: „Das Billigere
ıst das Teurere“.“ Als Beispiel dafür wird ein Fall aus dem letzten Jahre
angeführt, wo ein Mann, der schon zweimal erfolglos im Korrektionshaus
‚ttergebracht war, beim dritten Mal endlich in die Heilstätte verbracht
‚wrden war, sich in dieser gut gehalten hatte und jetzt „mit der nötigen
unenzüberzengung draußen im Leben steht“. it früherer Unter-
bingung in der Trinkerheilanstalt, gleich beim ersten Mal, wäre nicht bloß
der Mann selbst früher- gerettet, sondern auch seiner Familie früher geholfen
worden und wären der Oeffentlichkeit empfindliche Unterstützungslasten für die-
side erspart geblieben. „Gegenwärtig sind noch einige Männer hier, die schon
durch die Korrektion gegangen sind. Sn allen diesen Pfleglingen merkt
Man die vorausgegangene, unzweckmäßige Versorgung gut an... Ein
Trinker gehört unbedingt zuerst in eine Irinkerheilstätte; nur dann, wen:
die Kur in einer solchen erfolglos ausfallen sollte, kann korrektionelle Ver-
sorgung schließlich verantwortet werden.“
. Was den äußeren Unterhalt der Heilanstalt und ihrer Arbeit betrifft, so
wird neben den übrigen Quellen erwähnt ein sehr ansehnlicher Betrag aus der
‚Bettagssteuer“, die der Kirchenrat des Kantons Zürich für die Trinker-
‚tung und -fürsorge bestimmt. hatte — eine Hilfsquelle, die vielleicht auch
‚sderwärts ähnlich erschlossen werden könnte. FI.
3. Aus Vereinen.
Vom englischen „Nationalen Enthaltsamkeitsbund“
(„The National Temperance League“).
‚Die alkoholgegnerischeVereinsbildung ist in Großbritannien mindestens
rs Mannigfaltig und vielgestaltig wie in Deutschland: Das Internationale Jahr-
uch des Alkoholgegners 1925-26 zählt nicht weniger als 31 englische alkohol-
’
298 Mitteilungen.
gegnerische Verbände auf. Einer der ältesten und bedeutendsten unter ihnen
ist die bereits in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts gegründete
National Temperance League. Es mag für unsere Lesser von Interesse sein,
an Hand ihres 69. Jahresberichts für 1924/25 einiges über diese Vereinigung
zu erfahren, und damit überhaupt zugleich in englische Art zusammenschluf-
mäßiger Nüchternheitsarbeit einen gewissen Einblick zu bekommen.
Der Bund, der den Baronet Dr. med. Sir Thomas Barlow zum Vorsitzen-
den und den bekannten John Turner Rae zum Schriftführer und Schriftleiter
hat, zählt zurzeit etwa 460 Mitglieder und Förderer, von denen für die ersteren
der Mindestbeitrag durch die Satzung auf 2%; Schilling (Mark) festgesetzt isi.
tatsächlich aber allermeist, und viellach sehr wesentlich überboten wird. —
Die im Vergleich zu unseren deutschen und zu anderweitigen Verhältnisser
geringe Mitglieder-(und Förderer-)Zahl erklärt sich aus dem andersartigen,
rein zentralen, sozusagen aristokratischen Aufbau des Bundes, ohne Unter-
verbände und Ortsgruppen. — Unter der großen Reihe der „Vizepräsidenten“.
ebenso im Ausschuß („Exekutivkomitee‘“) und unter den Mitgliedern finden
wir zahlreiche hervorragendste und bekannteste englische Namen, kirchliche
Würdenträger, Parlamentsmitglieder, Gelehrte usw. Auch der im letzten Jahr
verstorbene Josef Rowntree, der durch das große Werk „The Temperanc
Problem and social Reform‘, das er mit dem noch lebenden Gasthausreformer
Arthur Sherwell zusammen verfaßt hat, weit über Englands Grenzen hinat:
an geworden ist, gehörte zu den Mitgliedern und Vizepräsidenten de
undes.
Nach den 1905 neu durchgesehenen Satzungen hat der Bund 4 Abteilungen:
Wissenschaft und Aufklärung („science and education“), Religion und Sittlich-
keit, Handel und Gewerbe, Sozialwirtschaft. „Er hat“, so sagt der Bericht.
„seine Arbeit mit den von bekenntnismäßigen oder politischen SSW
unverworrenen wissenschaftlichen und erzieherischen Methoden fortgefühn.
die ihn bisher gekennzeichnet haben und ihn einem weiten Kreis gebildet:
Menschen empfehlen.
Die Stichworte seiner gegenwärtigen Tätigkeit sind wissenschafi-
liche Beweisführung („evidence“) und Aufklärung. In ersterer Hin-
sicht sagt der Bericht: „Jahr für Jahr konnten auf den berühmten Frühstücken
des Bundes Fortschritte verzeichnet werden, und die neuzeitliche Tatsachen-
feststellung unter der Autorität des „Aerztlichen Forschungsrats‘ erweist sich |
zweckentsprechend und erfolgreich („practically proves its case“). Weitere
wünschenswerte Vorwärtsentwicklung auf diesem Gebiet ist von der fori-
ehenden Anwendung genauer wissenschaftlicher Methoden mit Hilfe der
arlow-Stiftung zu erwarten.‘ (Ein einem unbekannten Spender zu ver-
dankender Fonds, zu dessen Bildung der Stifter zu Ehren des genannten Vor-
sitzenden des Bundes als seines alten Freundes 5000 Pfund Sterling — mi
einer ersten Dividende von 150 Pfund — übereignete.) Von an
wird das bedeutsame Werk „Wissenschaft und Alkohol“ erwähni
das Dr. C. C. Weeks als Entgegnung auf Prof. Starlings alkoholfreundliche:
Buch „Die Wirkung des Alkohols“ schrieb, und das eine sehr günstige Atl-
nahme fand; ferner die regelmäßige Herausgabe der Bundeszeitschrift „Na-
tional Temperance Quarterly and Medical Temperance Review“.
von deren Auflage rund die Hälfte an Mitglieder des Aerztestande:
geht. Der Umstand, daß der Bund von jeher besondere Aufmerksamkeit dar-
auf verwendet hat, die Unterstützung der wissenschaftlichen Wahrheit für seine
Aufklärungsarbeit zu gewinnen, erklärt seine langjährige nahe Fühlung m!
den Führern der Aerztewelt.e. Dr. Weeks war im abgelaufenen Jahre mit
zwei wissenschaftlichen Untersuchungen beschäftigt, die
wertvolle Ergebnisse lieferten. Eine erste Umfrage über den Umfang des
Alkoholverbrauchs in Krankenhäusern vor, während und nach dem Kriege
führte ihn dazu weiter, die Untersuchung auf die englischen Kolonien un
auswärtige Länder auszudehnen, wobei ?/, der ausgesandten 800 Frageboge!
Beantwortung fanden. Die Ergebnisse, die bis jetzt erst teilweise in ärzt-
lichen Kreisen bekanntgegeben wurden, werden nach Veröffentlichung des
nn
_ Mitteilungen. 299
ganzen Ertrags gewiß weithin Beachtung finden. Eine zweite Erhebung ver-
suchte festzustellen, inwieweit die Schulärzte Alkoholismus mit in der Schul-
klinik zum Vorschein kommender Untüchtigkeit usw: („disabilities“) in Ver-
bindung bringen. (In ihren Ergebnissen fällt allerdings das Schwergewicht auf
den spürbaren ungünstigen Einfluß der sozialen und Umweltsverhältnisse.)
Weiter beteiligte sich der Bund mannigfach und lebhaft an den Aerztetagungen.
„Das Ziel dr Nüchternheits-Aufklärung und -Erzieh-
ung wurde während der letzten Jahre hauptsächlich durch die Arbeit des
Bundes und die ausgezeichneten von Dr. Weeks geleisteten Dienste sehr
ırweitert.“ Dieser entsprach im abgelaufenen Geschäftsjahr nicht weniger
as 496 (!) Einladungen zu Vorträgen usw. nach fast allen Teilen des Ver-
einigten Königreichs. Seine erstaunlich ausgedehnte und mannigfaltige Arbeit
beschränkt sich zwar nicht auf eine bestimmte Bevölkerungsklasse, richtete
sich aber doch besonders darauf, die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse
den in Ausbildung begriffenen und im Dienst stehenden Lehrern, wie den
teranwachsenden Schülern und Studenten zu vermitteln. Ausführlich
wird über diese Tätigkeit berichtet. Hierbei kann die erfreuliche Feststellung
gemacht werden, daß der Lehrerstand als Ganzes seit dem Krieg einen
schönen und höchst ermutigenden Geist der „Initiative“ und Mitarbeit zeige.
Die Veröffentlichung der (die Alkoholfrage entsprechend berücksichtigenden)
.sundheitspraxis“ durch die Rektorenkonferenz war ein bemerkenswertes
Zechen der neuen Haltung, und die Verbreitung von über 6000 Stück der-
sben, zu der der Bund half, ist eine wichtige Tatsache.“ Wertvoll ist hier
umentlich die Verbindung mit dem englischen Lehrerverband, insbesondere
durch die „Empfänge“ mit Vorträgen und Aussprachen, die ihm anläßlich
seiner jährlichen Osterkonferenz gegeben werden. Ebenso werden zahlreiche
Vorträge auf sonstigen Lehrerversammlungen, in Lehrerbildungsanstalten und
an Hochschulen gehalten — so macht der Bericht Mitteilungen über eine `
alkoholgegnerische Studentenwoche in London im März 1924 und erwähnt,
daß der Schriftführer Rae zugleich Vorsitzender der Hochschul-Enthaltsam-
keitsvereinigunng ist —, ebenso an zahlreichgn sonstigen Schulen und Lehr-
anstalten. Diese Tätigkeit ist wiederum in erster Linie von der Person von
Dr. Weeks getragen. In den fünf Jahren, seit denen dieser den Bund vertritt,
hat er nicht weniger als 1991 einzelnen Verpflichtungen vor verschiede-
nen Bevölkerungskreisen genügt, den Nachwuchs von Heer und
Flotte eingeschlossen. In die Arbeiterkreise suchte man insbesondere
öirch Verbindung mit der Enthaltsamkeitsvereinigung von Beamten der Ge-
werkschaften und der Arbeiterpartei einzudringen (jährliche Teempfänge an-
kBlich der Tagungen der Arbeiterschaft) — wenngleich man sich bewußt
bleibt, daß der entscheidende Weg hier der innere der Beeinflussung der
Arbeiterwelt aus ihren eigenen Reihen heraus ist. Eine nicht geringe Rolle
spielten innerhalb der Aufklärungsarbeit auch Predigten über die Alkohol-
trage. — Auch an der Vorbereitung des Antialkoholkongressesdes
schen Weltreichs im Juni v. J. nahm der Bund hervorragenden
Anteil.
‚ Anläßlich einer Mitteilung über einen veranstalteten nationalen Bazar
wird erwähnt, daß der Bund schon lange für seine Gepflogenheit bekannt sei,
interessierte Freunde der Bestrebungen in gesellschaftlichem Verkehr mit-
einander zusammenzubringen.
‚ In der Art, den Zielen und der Arbeitsweise des Bundes erinnert, wie
die obigen Darlegungen zeigen, gar manches: die religiöse und politische
Neutralität, das Gewichtlegen auf wissenschaftliche Stichhaltigkeit und Unter-
vauung, das Bestreben breitester Aufklärung, aber mit besonderem Aufruf
der Gebildeten und Zugang zu den Gebildeten u. a., an die Grundsätze und
Eigenart des Deutschen Vereins gegen den Alkoholismus.
Bemerkenswert ist für uns Deutsche auch ein Einblick in die „Kriegs-
kasse“, mit der der Bund den Kampf führt. So zahlenmäßig bescheiden sein
Vereinsbestand ist, so weist seine Rechnung doch in Einnahmen und Aus-
gaben rund 5948 Pfund, gleich 118960 Mark auf. Unter den Einnahmen
300 Mitteilungen.
stehen neben den 11328 M gewöhnlichen Beiträgen und Sa Ertrag
aus Vereinen, Versammlungen und „Frühstücken“ 14112 M, aus dem er-
wähnten Bazar 31 485, Beiträge zu einem besonderen Aufklärungsionds 20 285
— worunter die namenlose Spende von 15000 M von einer an der Aufklärungs-
arbeit warm interessierten Dame —, aus Vermächtnissen nicht weniger als
16948 M. Die zwei Spalten umfassende Uebersicht der Vermächtnisse seit
1856 zählt aus früheren Jahrzehnten vier von je 1000 Pfund, eines von
2260,75 Pfund, eines von 7500 Pfund (150000 M!) auf — eine bei uns ın
Deutschland leider in unserer Bewegung noch ganz vereinzelte Form ihrer
Unterstützung. In letzterer Hinsicht ist — praktisch, wie der Angelsachse
schon einmal ist — im Jahresbericht schon eine bestimmte „ur an die
Hand gegeben. Auch wird als nachahmenswertes Beispiel angeführt, daf
einige Freunde des Bundes ihren Jahresbeitrag durch eine unmittelbare Spende
oder durch einen Kreditfonds (trust fund), der alle ihre kleinen Einzelbeiträge
deckt, kapitalisiert haben. Ein besonderes Ereignis bildete die oben erwähnte
hochherzige Gabe (Barlow-Stiftung).
Berührt uns bei solchem Hinüber- und Einblick, wie es andere, in anderem
Lande, haben und treiben, manches fremdartig, als aus anderer Volksart und
unter anderen Bedingungen als die unsrigen erwachsen, so ist es doch gewiß
immer einmal anregend und wertvoll, solchen Blick über die Zäune zu n
Aus der Arbeit des größten Untervereins des Deutschen
Vereins gegen den Alkoholismus, des Bezirksvereins Stuttgart.
Der knappe Geschäftsbericht dieses zurzeit rund 1850 Mitglieder
zählenden Vereins (Vors.: Prof. Dr. A. Ströle, Geschäftsführer: Oberrea-
lehrer Bihler) hebt in kurzen Stichworten aus seiner rührigen und vit
gestaltigen Tätigkeit folgende Arbeiten heraus:
1. Allgemeine Volksaufklärung durch Vortrags- und Reis
tätigkeit des Geschäftsführers, durch Lehrgänge und Lichtbilder, durch Ver-
breitung zeitgemäßer Flugblätter und Schriften, durch Werbeschreiben an die‘
verschiedensten Kreise, durch umfangreichen Pressedienst. Weiter wurden in
Eingaben an Behörden diesen fast durchweg im Namen aller württember-
ischen alkoholgegnerischen Verbände mancherlei Anregungen und sorg-
ältig geprüfter Tatsachenstoff unterbreitet, zahlreiche Anfragen und Wünsche
erledigt, nach den verschiedensten Seiten im Sinne der Nüchternheitsbestre-
bungen Beratung erteilt, Anregungen und Förderung gegeben, mit verwandten
Vereinen (Ortsverband und Landesauschuß g. d. Alk.) eng zusammengewirkt.
2. Förderung der gärungslosen (alkoholfreien) Obst-
verwertung. Zwei aus allen Teilen Württembergs und weit darüber hinaus
zahlreich besuchte Tages-Lehrgänge in Stuttgart zeigten und erklärten
die vereinfachte und verbilligte Sü ai ostbereitung im Holzfa‘
mittels des von dem erfahrenen Fachmann Obstbaulehrer mann Buchen-
bach i. B., erfundenen „Flächenerhitzers“. Eine Gerätevertriebsstellt
wurde gegründet, die alle für das Verfahren nötigen Geräte und ausführliche
gedruckte Gebrauchsanweisung abgibt. An verschiedenen Plätzen Württent
bergs wurden 15 Süßmostfaß-Lehrgänge zur weiteren Verbreitung de
zuverlässigen Faßverfahrens abgehalten, außerdem rund 40 kurze Lehrgängt
in Stadt und Land über das Entkeimen von Obstsäften im Haus:
halt, das Eindünsten von Obst und Gemüse usw. veranstaltet. An
der „Früchteverwertung Stuttgart A.-G.“, die die kaufmännisch-
praktische Seite der Bewegung besorgt, nahm man tätigen Anteil und ver-
breitete anregende und aufklärende Pressenotizen und einschlägige Schriften
und Merkblätter.
3. OrganisierteTrinkerfürsorge durch Pflegearbeit an Trinkern
und ihren Familien, ausgeübt von einer hauptamtlichen Fürsorgerin und ehren-
amtlichen Helfern und Helferinnen, wobei 96 unentgeltliche, für jedermann
zugängliche Sprechstunden (je Dienstag und Freitag abends von 6 bis 7% Uhr)
abgehalten wurden. Außer 94 neuen Fällen waren 263 Personen, darunter
+a.,
Mitteilungen. 301
38 Frauen, aus den mannigfachsten Berufsständen und aus trostlosen Ver-
hältnissen in fortlaufender Fürsorge des Vereins, die sich besonders auch der
stets gefährdeten Kinder von Trinkern annimmt. Die Wankelmütigkeit der
Trinker, Not und Gleichgültigkeit der Angehörigen, Verworrenheit der Ver-
haltnisse und die weiten Entfernungen erschweren die so nötige Trinker-
Kr re ungemein. Welch ungeheures Maß von Elend, Krankheit und
Zerfall der wirtschaftlichen und sittlichen Verhältnisse kann man aus den
einzelnen Bekenntnissen der Familienangehörigen und der Trinker erkennen!
Die Ende 1923 gegründete „Frauengruppefür u Re ee
hat schon in ihrem ersten Jahr sehr wertvolle Fürsorgearbeit geleistet, indem
sie zerrüttete Trinkerfarhilien durch Gaben verschiedenster Art unterstützte,
allmonatlich mit den schwerbedrängten Frauen von Trinkern im „Silbernen
Hecht“ zusammenkam, jeden Mittwoch sich dort zu werktätiger Arbeit ver-
sammelte und sich nach Kräften für Trinkerheilung einsetzte.
4 Kampf gegenalleder Volksgesundheitschädlichen
Maßnahmen und Mißstände, z. B. gegen Vergeudung lebensnot-
wendiger Nahrungsmittel zu alkoholischen Getränken, gegen Mißstände auf
dem Gebiete des Schankwirtschaftswesens, gegen aufdringliche Alkohol-
apreisung, gegen alkoholkapitalistischen Raubbau in der Bauaustellung mit
dm amtlıch genehmigten Nachtbetrieb, gegen den alkoholischen Volksfest-
nmmel. Weiter bemühte der Verein sich gegen die mächtigen Bestrebungen
af Lockerung oder gar Aufhebung der Polizeistunde und trat in Wort und.
Schrift, namentlich anläßlich der Reichs- und Landtagswahlen, für baldige
Verabschiedung des Schankstättengesetzes mit verbessertem reichsgesetzlichem
(iemeindebestimmungsrecht ein, ebenso für ein Trinkerfürsorgegesetz, für
Errichtung einer geschlossenen Trinkerpflegeanstalt in Württemberg (Heim
zur Unterbringung unheilbarer, entmündigter Trinker) usw.
5 Einwirkung aufdie Jugend teils auf dem Wege über Lehrer-
schaft und Schule (Eiternabende!), teils unmittelbar im Sinne einer plan-
mäßigen Erziehung der Jugend zu alkohol- und nikotinfreier Lebenshaltung.
Dem diente vor allem die Einrichtung von Wanderunterricht über die
Alkoholfrage in sämtlichen Schulen von zunächst einigen Oberämtern durch
eine besonders hierfür geeignete und freigemachte Lehrkraft; ferner Ab-
haltung einer alkoholgegnerischen Jugendführerschule an sechs
Abenden, ums aus der Jugend aller Richtungen und Bekenntnisse bewußte
iee aa gegen den Alkoholismus heranzubilden. Weiter betätigte man sich
uf der Linie der Schaffung einwandfreier Ersatzgetränke für den dem
Kindes- und Jugendalter so schädlichen alkoholischen Most. F;
4. Verschiedenes.
Tatsachenmitteilungen vom amerikanischen Alkoholverbot.
Nach Prof. Emerson vom Pennsylvania College, V. St.
(Uebersetzt von J. Flaig.)
(Wirkung auf Kindeswohlfahrt.)
‚ Nach Feststellungen von Theodore A. Lathrop, dem Generalsekretär des
Vereins gegen Kindermißhandlung im Staate Massachusetts, be-
wirkte das Alkoholverbot bei Alkoholmißbrauch als Ursache einschlägiger
Fälle eine Abnahme um 50—60 v. H. Gleichzeitig zeigten die Zahlen der
Personen, die im selben Staat durch Armenhäuser unterhalten oder unterstützt
wurden, in den Verbotsjahren 1920—23 eine Abnahme von 67 v. H. gegen-
über den Vorverbotsjahren 1914—1917. In New York vergleicht der Leiter
der Lebensstatistik die Sterbeziffer der Kinder für 1913—17 mit der
für 1920—23. Dabei ergeben sich folgende Abnahmen: Bei Totgeburten
1v. H., bei Sterbefällen unter einem Jahre 23 v. H., unter 2 Jahren 40 v. H.
(Gesteigerter Milchverbrauch.)
‚ Einen wichtigen Umstand bei der Besserung der allgemeinen Volksgesund-
heit und beim Rückgang der Sterbeziffer bildet der gesteigerte Verbrauch
302 Mitteilungen.
von Milch. Das Landwirtschaftsministerium der vampa Staaten gibt
bekannt, daß der Verbrauch an flüssiger Milch von 40 Gallonen je Kopf
im Jahre 1919 auf 53 Gallonen im Jahre 1923 gestiegen ist.
ir Lügen in diesem Zusammenhang aus anderer Quelle die folgende Mit-
teilung ein betr.
P (Weinbau und Alkoholverbot:) |
Die „Los Angeles Times“ vom Januar 1925 berichtete: „Der Weinbau
und die alkoholfreie Traubenverwertung in Kalifornien
nimmt seit dem Alkoholverbot derart zu, daß sich der Außenstehende gar
keinen Begriff davon machen kann. Im Staat Kalifornien sind jetzt mehr als
680 000 acres Traubenland. (Ein acre sind 40 Ar.) Im kommenden Jahr
wird noch viel mehr angebaut werden. Beinahe der 20. Teil der Boden-
fläche von Kalifornien ist mit Rebland bedeckt. Es werden hauptsächlich
Tafeltrauben und eine kernlose Sorte. angebaut, die getrocknet als Rosinen
über die ganze Erde versandt werden.“
(Von der Haltung der Eltern- und Lehrerschaft.)
Auf dem Nationalkongreß von Eltern und Lehrern, der am 28. April in
Austin im Staate Texas abgehalten wurde, konnte festgestellt werden, daß die
700000 Mitglieder des Verbandes zur Durchführung des Volstead-Gesezs
stehen. Die Nationalpräsidentin Frau A. H. Reeve erklärte: „Durch Aw-
klärung und Erziehung ermöglichte Gesetzesbefolgung bildet mehr als Ge
er das ursprüngliche Programm des Eltern- und Lehrer-
verbandes.“
(Neue private Unternehmungen für Durchführung
des Verbotsgesetzes.)
Die Weltliga gegen den Alkoholismus faßte im fannar d. J. auf ihn
Sitzung in Westerville Pläne für Eröffnung von Aufklärungsfeldzügen ume
allen iremdsprachigen Bevölkerungsteilen der Vereinigten Staaten, die nach
Angabe des Generalsekretärs der Liga % der Gesamtbevölkerung ausmachen.
Fin neues Unternehmen auf diesem Wege ist die Einrichtung einer Schul:
zur Ausrüstung von Lehrern und Führern mit einer genügenden Kenntnis
der gesamten Älkoholfrage. Diese Schule soll einen Monat dauern und sollt
Mitte Juli d. J. eröffnet .werden. Sie soll unter der gemeinsamen Oberleitung
des Wissenschaftlichen Antialkoholverbands (The Scientifice Temperance Fede-
ration) und des Christl. Frauen-Enthaltsamkeitsvereins (The National Women’
Christian Temperance Union) stehen und „Schule für wissenschaftlichen Antı-
alkoholunterricht (School of Scientific Temperance Instruction) heißen.
(Die Haltung der Studentenschaft.)
Diese steht überwiegend zum Alkoholverbot. 3000 Studenten der Uni-
versität von Südkalifornien verpflichteten sich vor kurzem zum Eintreten für
die Sache der Verbotsdurchführung. Kurz darauf erließ der Vorsitzende des
Studenten-Wohlfahrtsausschusses dieser Universität folgende Bekundung: „Der
Besitz und Gebrauch berauschender Getränke durch Studenten unserer Anstalt
wird als Verletzung der Forderungen von Ehre und Pflicht angesehen und
wird nicht geduldet werden.“ Es folgte die einmütige Annahme einer Ent-
schließung durch die Studentenversammlung, worin die Studenten der Uni
versität sich so lange für Durchführung des 18. Verfassungszusatzes erklärten.
als dieser einen Bestandteil der rechtmäßig beschlossenen Gesetze der Ver-
einigten Staaten ausmacht. Eine Gruppe von Engländern aus Oxford, wo
runter M. J. Macdonald, ein Sohn von Ramsay Macdonald, besuchte ım
Oktober letzten Jahres eine Anzahl amerikanischer Universitäten, um dort
die Verbotsirage zur Aussprache zu bringen. An den Universitäten der
Staaten Ohio, Missouri, Kansas und Minnesota endeten die Aussprachen, als
die Frage zur allgemeinen Abstimmung gebracht wurde, mit einer über-
wältigenden Niederlage für die (verbotsgegnerischen) Besucher. Die Hoch-
schul-Verbotsvereinigung richtete an die Universitäten und Hochschulen der
Vereinigten Staaten eine Umfrage, wie die Fakultät und die Studentenschaft
Mitteilungen. 303
‘sich in Theorie und Praxis zur Verbotsfrage stellten. 158 Hochschulen und
‘Universitäten antworteten, davon 136 mit einer Studentenschaft von 142000
Köpfen günstig; 10 mit 22 000 Studenten wollten sich nicht äußern oder ant-
worteten unbestimmt, 8 mit 16000 Köpfen ungünstig, endlich 4 mit 2000
Studenten im Grundsatz günstig, aber ablehnend gegenüber den derzeitigen
. gesetzlichen Bestimmungen.
Aus dem englischen Inselreiche.
\omverstaatlichten Gast-undSchankwirtschafitsbetrieb
ingewissen Bezirken von England und Schottland
(dem „Carlisle experiment“).
: Der bekannte, durch die Kriegsverhältnisse veranlaßte Versuch (vgl. H. 1
1919, S. 12—14, H. 4 1921, S. 334) umfaßt drei Bezirke: Einen großen in
England und zwei kleinere in Schottland. Im ersteren, dem rund 380 Geviert-
meilen umfassenden Gebiet von Carlisle und North Cumberland, in dem
weitaus der größte Kapitalbetrag angelegt ist, ist die Zahl der Wirtschaften
sit der Verstaatlichung (wenn wir die Einzelangaben richtig verstanden und
zsammengerechnet haben) von vorher vorhandenen 320 auf 196, also um
etwa °/, herabgemindert worden, in den beiden schottischen Bezirken von
Orna (125 Geviertmeilen) und von Cromarty-Fjord (240 Geviertmeilen) von
ú vom Staat übernommenen auf 32, also um mehr als die Hälfte. Es ist
kdoch nicht so zu denken, daß in diesen Gebieten durchweg nur noch Staats-
ietriebe bestünden; es gibt neben diesen noch eine hier mehr, dort minder
“große Anzahl von privaten Wirtschaften, die nicht vom Staat erworben
wurden (oder erworben werden konnten); in einem Unterbezirk wurden z. B.
#9 Wirtschaften staatlich übernommen, während 18 privat blieben usf. Wäh-
iend allerdings in gewissen Abschnitten dieser Bezirke der Staat der alleinige
Inhaber und Verwalter ist. Die Kleinhandels-Gerechtsame wurden alle ein-
gezogen, die Zahl der Stellen mit Verkauf geistiger Getränke über die Straße
beträchtlich verringert, z. B. in der Stadt Carlisle von 100 auf nur 13, in Annan
von 6, in Dingwall von 5 je auf 1.
Die segensreichen Wirkungen dieses Systems wurden schon
‚öfter in den „Monthly Notes“ der Temperance Legislation League am Rück-
gang der Strafurteile wegen Trunkenheit in Carlisle erläutert. Nummer 7/8
[95 der Zeitschrift gab ein ähnliches Bild an den Zahlen in Cromarty-Fjord.
' In den drei Jahren 1913—15 waren es 174, 166, 246 solcher Urteile. Im
April 1916 setzte dann die Arbeit der staatlichen Oberaufsichtsbehörde für
den Getränkehandel ein; nun gingen die Ziffern bis 1924 in folgender hand-
greillichen Weise herunter: 146, 101, 37, 53, 80, 53, 58, 22, 25. Wie denn
ier Polizeimeister der Grafschaft Ross und Cromarty in seinem Bericht
ür 1918 erklärte: „Die Aenderung in der Betriebsweise der Wirtschaften,
die von der Oberaufsichtsbehörde für den Alkoholverschleiß übernommen
wurden, hatte eine deutliche Verbesserung in deren Verhalten zur Folge, und
die Zahl der- im Bezirke wegen Trunkenheit Belangten oder unter Alkohol-
wirkung Betroffenen ist auf ein Mindestmaß zurückgeführt.“
‚Was die wirtschaftliche Seite des Unternehmens betrifft, so
belief sich die dem Staatsschatz zufließende bare Reineinnahme aus dem
Naatsbetriebe laut dem amtlichen Bericht für das mit Ende März 1925 ab-
gelaufene Geschäftsjahr auf 87 305 Pfd. St. (174610 M) — entsprechend einer
Verzinsung von 7,8 v. H. —, im Laufe der ganzen Jahre auf 847 400 Pid. St.
(rund 1700000 M). Bei erwartungsgemäßer Weiterentwicklung wie im
letzten Jahre wären nach Verlauf vorr vier Jahren die ganzen Aktiva schulden-
Ireies Eigentum des Staats. Diese günstigen geldlichen Ergebnisse wurden
nicht durch Förderung des Verkaufs geistiger Getränke, sondern durch die
Tüchtigkeit der Verwaltung und die Zusammenlegung im Gefolge der Schlie-
Bung überflüssiger Lokale erreicht. Während z. B. 5 Brauereien vom Staat
Dernommen wurden, ließ es sich ermöglichen, alles erforderliche Bier in
einer herzustellen und die 4 übrigen Grundstücke für andere Zwecke zu ver-
304 Mitteilungen.
wenden. Die Mischung der Spirituosen, die früher in 17 Betrieben vor sich.
eing, wira jetzt in einem vollzogen. Dadurch wurden gewaltige Ersparnisse
erzielt. |
Die Politik der Zusammenfassung und Verbesserung, die von Anfang
an die Staatsbetriebsunternehmungen gekennzeichnet hat, wird beharrlich fort-
gesetzt und nach Möglichkeit weiterentwickelt. So läßt man sich die Be-
schaffung vermehrter Sitzgelegenheiten und Uebernachtungsmöglichkeiten,
die Fürsorge für eine angenehme und harmonische Umgebung und leichte
Mahlzeiten, etwa auch Ausstattung mit drahtlosen Apparaten angelegen sein.
Beachtenswert sind de BeziehungenzwischenStaatsbetrieb
und Gemeindeabstimmungen. In den unter ersterem stehenden
Gegenden Schottlands blieben die Abstimmungen in den Jahren 1920 uni
1923 naturgemäß unbehelligt von jeder Beeinflussung seitens des Getränke
handels und seiner Parteigänger, während in andern Bezirken diese tüchtig
ihre Minen springen ließen. Dabei hatte der Staatssekretär für Schottlani
zu erkennen gegeben, daß die Regierung das Ergebnis der Abstimmungen.
(auch wenn es auf Verbot hinausliefe) berücksichtigen werde, und drang
nicht in die Wähler, für den jetzigen Stand der Dinge zu stimmen. Das Ab- |
stimmungsergebnis fiel auch tatsächlich in keinem Teil des in Rede stehenden
Gebiets für Verbot aus; dies ist aber eben dann als Zeugnis dafür zu be
raen, daß die Bevölkerung mit dem bestehenden staatlichen System zu-
rieden ist. |
Sonstiges Bemerkenswertes auf dem Gebiet
der gesetzlichen a des Alkoholismus
in England.
Der Staatssekretär des Innern hat kürzlich einen Departements
Ausschuß bestellt mit der Aufgabe, „die verschiedenen Systeme ge-
meinnützigen Wirtshausbetriebs zu prüfen, die da und dort
— ob nun in Verbindung mit privaten Unternehmungen oder anderweitig -
versucht worden sind, und zu berichten, ob die bis jetzt gewonnenen Er-
fahrungen genügende Unterlagen für Einführung eines dieser Systeme durch
eine Aenderung der Schankgesetze bieten“. Dabei wird zweifellos gerad!
auch das obige staatliche System eine Rolle spielen. Der Ausschuß hat bereits
mit seiner Arbeit begonnen. Das Alkoholgewerbe und die für seine Belang?
tätigen — mit biederen Namen wie „Wahrer Mäßigkeitsverein“ (True Temp-
rance Association) und „Gesellschaft für Freiheit und Reform“ (Fellowship
of Freedom and Reform) sich schmückenden — Verbände suchen nun mi
allem Nachdruck die Vorstellung zu verbreiten, daß alle Vorteile, die durch
den gemeinnützigen Betrieb in Carlisle und anderwärts erzielt wurden, auch
erreicht werden könnten, wenn man dem Alkoholgewerbe erlauben würde.
sich selbst, ohne staatliche Einmischung, zu reformieren — eine Behauptung.
die die „Monthly Notes“ einer entsprechenden Beleuchtung unterziehen. |
Zwei Gesetzesanträge für Verbesserung des Wirts
hauswesens liegen in Form des im Unterhaus eingebrachten Vorschlags
eines Wirtshausverbesserungs-Gesetzes (Public House Improvement Bill) un
des im Oberhaus eingebrachten „Gesetzesvorschlags zur Abänderung des
Schankerlaubniswesens“ (Licensing ee Amendment Bill) — letzterer
also nur für Schottland — vor. Beide zielen ausgesprochenermaßen in erster
Linie darauf ab, die Einrichtung verbesserter Wirtschaften mit guten Er-
holungsmöglichkeiten zu fördern und solchen Lokalen gewisse Vorteile zu
gewähren. Der Entwurf für Schottland umschreibt zunächst den Begriff des
„gebilligten“ Wirtshauses, das einen Typus von Reformgasthaus arstellt.
welches nicht lediglich eine Stätte zum Verbrauch geistiger Getränke ist und
nicht von einer Person verwaltet und bedient wird, die bezüglich Gehalt
oder Provision vom Gewinn aus dem Alkoholverkauf abhängig ist. Er $I
sodann die Regelung der Entschädigungsfrage vor, was es bis jetzt in Schott-
land zum Unterschied von England noch nicht gibt: Die Einsetzung eine!
Entschädigungsbehörde, die Schaffung eines Entschädigungsstocks und die
Mitteilungen. 305
Festsetzung der OA gng für die Nichterneuerung einer Schankgerecht-
same. Weiter die Vermin
höchstens 11 Jahren im allgemeinen auf */s der früheren Zahl belaufen soll.
(Nach Nummer 7/8, Juli—August 1925 der „Monthly Notes“.) J. Fl.
Die Berliner Gastwirts-Messe.
Vom 13. bis 17. September d. J. fand in Berlin die Reichs-Gastwirts-Messe
Hatt. Wie auf der Breslauer Gastwirts-Messe im Juni d. J. war auch hier
n der Hauptsache das, was das Gastwirtsgewerbe für seine Betriebe braucht,
ausgestellt: Zigarren, Bierduckapparate, Parkettreiniger, Berufskleidung für
Kellner und Köche, Konserven u. a. Nahrungsmittel, Kaffee, kurz alles für
das Gastwirtsgewerbe Notwendige war zu finden. Wie nicht anders zu
warten, waren die Fabriken alkoholischer Getränke, besonders aber Likör-
hbriken, recht zahlreich vertreten. Alkoholfreie Getränke waren, abgesehen
vielleicht von Kaffee, fast gar nicht zu finden.
Der Eröffnung der Messe wohnten mehr als 200 Vertreter der Behörden,
des Gewerbes und der Presse bei. Nach einer Begrüßungsansprache des
Berliner Stadtverordnetenvorstehers Haß sprach Herr K öster, der Präsident
ds deutschen Gastwirteverbandes. Er erkannte an, daß die neue Steuer-
ung dem Gastwirtsgewerbe große Erleichterung gebracht habe, er
betonte jedoch, daß die Gastwirte diese Erleichterung nur
asein Kompromiß ansehen, da namentlich in bezug aut
dieGetränkesteuer noch viel weitgehendere Forderungen
erhoben seien. Im übrigen klagte er über die schwierige Lage des
(ewerbes, die es unmöglich mache, die seit dem Frühjahr geplante Erweite-
rung der Messe durchzuführen.
Nach einem Rundgang durch die Messe gab es dann auf Einladung des
Gastwirtsverbandes den unvermeidlichen Imbiß. Herr Litfin, der stell-
vertreterde Vorsitzende des deutschen Gastwirte-Verbandes, benutzte diese Ge-
legenheit, den Dank des Verbandes an die Stadt Berlin abzustatten und
energisch die Forderung nach Aufhebung der Polizei-
stunde zu vertreten.
Interessant ist die Haltung der Berliner Presse anläßlich der Gastwirts-
messe. Einige der größten Zeitungen brachten lediglich einen kurzen Korre-
Pondenzbericht über die Eröffnung der Messe. („Vorwärts“, „Berliner Volks-
etung“ u. a.). Ausführlich berichtete die „Nachtausgabe“ des „Tag“, die
uch prompt eine große Anzeige veröffentlichen durfte. Die „Vossische
leitung“ brachte einen Aufruf „von besonderer Seite“, der die Aufhebung des
anzverbotes forderte. Das „Berliner Tageblatt“ veranstaltete sogar anläßlich
ler Gastwirtsmesse eine Umfrage über Tanzverbot und Aufhebung der Polizei-
tunde, Bedauerlich ist, daß sich auch die Vertreter der städtischen Interessen
ur die Aufhebung des Tanzverbotes und der Polizeistunde einsetzen, wie die
Aeußerungen des Generalsteuerdirektors Lange, des Direktors Schick
wm Berliner Messe-Amt, und des Direktors Kolanowski vom Fremden-
ierkehrsbüro beweisen.
‚ Am tollsten trieb es jedoch zweifellos die Wochenendzeitung „Berlin“,
las offizielle Organ des Berliner Messeamts. In Nr. 13 widmete sie fast vier
xıten der Berliner Gastwirtsmesse, und auf der Messe selbst wurde eine
erseitige Sondernummer verteilt, die ganz dem Alkohol und seinen berufen-
len Vertretern gewidmet war. Wes Geistes diese Sondernummer ist, möge
An Zitat aus einem Aufsatz: „Hopfen und Malz — Gott erhalt’s!“ zeigen. Es
weißt es darin: „Glücklicherweise brauchen wir jetzt, nachdem wir fünf Jahre
ang verwässertes Zeug haben schlucken müssen, keinen Mangel mehr an
nem guten Trunk zu feiden Ich muß gestehen, daß ich heute bereits sämt-
ae Sorten vom Engelhardt-Bier in etlichen Schoppen gekostet habe und
wahrscheinlich deswegen vor meiner Trockenlegung besonderes Gruseln emp-
e Nein, wir wollen lieber „feucht“ bleiben, solange hier ein so urkräftiger
munk ausgeschänkt wird!“
Die Alkobolfrage, 1925. 20
erung der Zahl der Wirtschaften, die sich binnen ,
306 Mitteilungen.
Es ist auffallend, wie wenig die meisten Vertreter des Gastwirtgewerbe
. die Zeichen der Zeit verstehen. Anstatt jetzt, wo es um das Gemeinde
bestimmungsrecht geht, sich alle Erwerbsmöglichkeiten offen zu halten und aı
den Vertrieb von Soc und alkoholfreien Getränken besonderen Wert z
legen, drängen sie sich gewaltsam auf die Seite der Alkoholverkäufer. Si
werden die Folgen dieser Torheit vermutlich erst erkennen, won sn spät is
.Löggow.
Ludendorffs Stellung zur Alkoholfrage.
Als die erste Auflage der Broschüre „Warum haben wir de;
Krieg verloren“ von Univ.-Prof. D. Hans Schmidt erschien, war e
Ludendorff, der sich mit großer Entschiedenheit hinter den Verfasser stellte
In der dritten Auflage (12.—18. Tausend) der genannten Broschüre, die soebeı
im Neuland-Verlag'G. m. b. H. Hamburg erscheint, findet sich die inter
essante Feststellung, daß Ludendorff schon 1918 die Gefahr erkannt hatte
So schrieb er z. B. an den Rand einer dort abgedruckten Meldung: „Dant
lassen sie auch das Saufen sein. L.“ Wir sind überdies heute in der Lage
einen Brief Ludendorffs an den Verfasser zu veröffentlichen, den wir eben
falls der genannten Schrift entnehmen. Er lautet:
Geehrter Herr D. Schmidt!
Ich glaube auch, daß wohl nun alles geschehen ist. Ueber die Alkohol:
frage, wie Sie sie erörtern, brauche ich mich nicht mehr auszusprechen. Nut
meine ich, wäre es verdienstvoll, immer wieder auf die Schäden des Alkohol
auf die Rasse hinzuweisen. Leider fehlt es an einem geschlossenen Kreis vou
Propagandisten. Der einzelne dringt nicht durch. Immer wieder muß da
selbe unserem Volke gesagt werden, sonst geht es in ein Ohr rein und dar
aus dem andern raus.
Warum werden all diese Fragen nicht auf den Universitäten behat
und gelesen? Es ist doch das wichtigste, was wir haben, und ist doch wir
lich nicht Parteisache. i
Wo sind die berufenen Führer unserer Jugend?
Mit deutschem Gruß
München, den 7. 3.
Ludendorfi.
Was sollen wir trinken?
Ein wertvolles und willkommenes Stück vorbeugender praktischer Be
kämpfung bietet das vom Deutschen Frauenbund für alkoholfreie Kult
(enthaltsame Frauen) herausgegebene hübsche neue Schriftchen „W2!
sollen wir trinken?“ Auf eine grundlegende allgemeine Einleitun
zu der Titelfrage folgen die Anweisungen über Herstellung rauschtranx
freier Getränke aus Früchten, Milchgetränke, „Verschiedene Getränke, war
und kalt zu geben“. — Für die eigentlichen Obstgegenden spielt naturgemäl
die Obstverwertung eine Hauptrolle; für diese ist auf einige wichtigst
einschlägige Schriften verwiesen. Wir vermissen hier die Nennung dt
Sonderhefts der „A.-Fr.“: „Gärungslose Früchteverwertung‘“ mit Aufsätze)
von Pfleiderer, Ragnar Berg, v. Gizycki, Baumann, Däpp u. a., und neben di
Warnung vor dem ausländischen Tee und Kaffee (wegen ihrer Nerver
giftigkeit) den Hinweis auf den guten und gesunden Malz- oder Früchte-
kaffee, für dessen zweckmäßige Bereitung — wie für die von Tee (vor
allem einheimischem) vielleicht noch einige Fingerzeige gegeben sein düriten.
damit diese einfachen und naheliegenden Durststiller ihre Rolle im Havs
und bei der Arbeit noch besser und noch breiter hin erfüllen. Und zu de!
Anweisungen für Herstellung dürften sich wohl für die Fälle und Verhält-
nisse, wo die Selbstherstellung aus dem einen oder andern Grunde wenige!
in Frage kommt, noch einige Angaben empfehlenswerter Bezugsquellen
von fertigen, namentlich Obstgetränken u. dgl. (über die drei im Anzeigentt!
aufgeführten hinaus) gesellen. J. Flaig.
Schrifttum.
Uebersicht über die wichtigsten Veröffentlichungen
der Jahre 1924 und 1925 *).
Zusammengestellt von Dr. J. Flaig.
5, Kulturelles.
d) Politisches. ~
Schmidt, G.: Hakenkreuz und Stahlhelm.
ch re Volkstum, 1925, H. 3, S. 175
is 184,
Kunst und Literatur.
Spörr#», S.: Vater Aschmanns Erlebnisse.
2 S. 1925. Buchh. d. Evang, Gesellsch. f,
Deutschl., Elberfeld.
Störmer, H.: So streng darf man nicht
denken. Aufführ. in 3 Akten. 16 S. 1925.
Blaukreuz-Buchh., Herford.
Traugott, E.s jugendida (Jungbrunnen.
H. 4) 16 S. 1925. Alkoholgegnerverl. Lau-
sanne, und Schweiz. Agentur d. Blauen
Kreuzes, Bern.
er re s. auch Laarss unter Il. 2,
6. Trinkerfürsorge, Trinkerheilung.
Das EEERNFUNSSERECTE im System der
Fürsorge, m. e. Entwurf z. e. Bewahrungs-
gesetz. 28 u.X S. 1925. Deutsch. Ver. f.
öffentl. u. priv. Fürsorge, Frankfurt a. M.
Colla: Denkschrift über die Notwendigkeit
d. Schaffung eines Trinkerfllrsorgegesetzes.
In: Ztschr. f. Psychiatrie usw., Bd. 82, S.
8-161. Auch i. S.-Abdr. 1925.
Jahresbericht über 1922—24 (der Heil-
stätte Seefrieden),. Mitt. a. d. Ver. „Säch-
ne Volksheilstätten f. Alkoholkranke“,
ő
3
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3,
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(g)
=
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2,
©
berg, G.: Die Errichtung behördlicher
Trinkerheilstätten eine dringende Not-
wendigkeit. In: Bl. f. Wohlfahrtspflege
herausg. v. Sächs. Landeswohlfahrts- un
Jugendamt, 1925, H. 5, S. 130—136. Im S.-
Abdr. bei d. Sächs. Landeshauptstelle g. d.
Alkoh., Dresden-A. `
E Alkoholgegnerisches Vereins- und
ufklärungswesen.
b) Aufklärungsarbeit.
‚ Alkohol- Schreckenskammer. „Mu-
. tiges Christentum!“ 1924, Nr. 12. 16 S. Bei
| _ Pastor Zauleck, Wetter-Freiheit (Ruhr).
i Anti-Saloon League Year Book 1925.
Hrsg. v. E. H. Cherrington. 224 S. 1925.
Anti-Saloon League of America, Wester-
ville (Ohio).
Internationales Jahrbuch des Al-
koholgegners 1 26. Hrsg.v:R.Hercod
und A. Koller. 272 S. 1925. Int. Bur. z. Bek.
d. Alk., Lausanne.
n REDE
Sonderheft zur Alkoholfrage: H.5,
1925, der „Blätter des Deutschen Roten
Kreuzes“ mit Beiträgen von Stegmann,
jultueburger, Hayduck, Rögind, His, Knob-
auch, Flaig.
Thiel,G.: Dämon Alkohol. (Mit 16 Bildern).
37 S. 1924 (?, Deutsche Lichtbild-Ges,,
Verl.-Abt,, Berlin SW. 19.
Im übrigen siehe auch Engelke unter
iii. 4b, S. 248.
d) Allgemeine u. Zentralverbände.
Neumann, E.: Vom Guttemplerorden,
Drei Vorträge, 27 S. 1925. Neuland-Verl.,
Hamburg 3%.
e) Standesvereine und Organi-
sationen mit besonderen Auf-
gaben.
Reichs-Herbergsverzeichnis 1925/26.
Hrsg. v. Verband f. deutsche Jugendher-
bergen, Hilchenbach i. W., 290 S. 1925,
f} Internationale und ausländi-
sche Vereineu.Angelegenheiten.
Organisations internationales —
Internationale Vereinigungen — Interna-
tional organisations. In: Int. Jahrb. der
Alkoholg. 1925-26, S. 207—260. 1925. Int.
Bur. z. Bek. d. Alk., Lausanne.
Alkoholgegnerische Zeitschriften. Ebd.
S. 260-270.
Im übrigen s. auch: Koller unt. I. 3, S. 247.
National Temp. League unter V. 10. S. 247.
8. Ersatz für Alkohol.
Führer durch die alkoholfreien Restau-
rants, Gasthöfe u. Pensionen der Schweiz.
32 S. 1925. Hrsg. u. Selbstverl.: Th. Bach-
mann-Gentsch, Zürich 4.
9. Polemisches.
Juliusburger, O.: Bekämpfung des Al-
koholmißbrauchs ohne Gemeindebestim-
mungsrecht und Trockenlegung. Eine Er-
widerung auf die so betitelte Schrift von
Pütter und Hesse. In: Alkoholfr. 1925,
H. 3, S. 153—159.
Neumann, J.: Zwangsabstinenz und Ge-
meindebestimmungsrecht. 10 S. 1925. Mit-
teldeutscher Verl., Halle a. S,
Schüler, H., Der Kampf gegen den Al-
kohol. la: Deutsche Stimmen Nr. 3—5,
1925. — Entgegnung darauf von G. Heyse:
„Der Kampf um den Alkohol“ in Nr. 10,
S. 201—205.
Im übrigen s. auch Pütter und Hesse
unter III. 2g, S. 248
B *) Die Mehrzahl der hier angezeigten Veröffentlichungen befindet sich in der umfassenden
ücherei des Deutschen Vereins g.d. Alk. Berlin-Dahlem, deren Bridges, Behörden und
e e
Mitgliedern des Vereins frei (i. allg.
en
Persönlichkeiten gegen eine mäßige
rsatz der Zusendungskosten), an
gebühr (und Zusendungskostenersatz) offen steht.
rn Stellen und
20*
r
sid
308 Schrifttum.
10. Geschichtliches und Biographisches.
Hercod, R.: Le mouvement antialcoolique
en 1923 et 1924. In: Int. Jahrb. d. Alkoholg.
1925-26, S. 5-5). 1925. Intern. Bur. g. d.
Alkoh., Lausanne.
Javet, M.: Von unsern Vätern. S.-Abz. a.
d. Arbeiterfreund-Kalender 1925. 10 S. 1925.
V. Aus andern Ländern.
2. Amerika.
Cherrington, E.H.: A cloud of witnesses.
64 S. 1924 (?) The American Issue Press,
Westerville, Ohio.
— : Permanent american prohibition assured.
16 S. 1924 (?) The World League against
alcoholism., Washington.
Clark, N. Mc. C.: Mayor Dever and pro-
hibition. The story of a dramatic fight to
enforce the law. 16 S. 1924 (?). American
Issue Publishing Comp., Westerville, Ohio.
Corradini, R.E.: The record of one hun-
dred american cities. Arrests for drunken-
ness and arrests for all causes before and
after national prohibition. 7 S. 1924 (?)
World League against alcoholism, Wester-
ville, Ohio.
Flaig, J.: Von der Durchführung des ameri-
kanischen Alkoholverbots. In: Alkoholfr.
1925, H. 3, S. 174—178.
Gaupp, R.: Amerika und wir. 2. Aufl., 11.
bis 20. Taus. 24. S. 1924. Mimir -Verla g,
Stuttgart.
Isman, F.: The effect of prohibition upon
realty values. 8 S 1924 (?). Amer. Issue
Publ. Comp., Westerville, Ohio.
Macdonald, A. B.: Whirlpools of beer.
The Quebec experiment brings the reverse
of temperance and sobriety. 12 S. 1924 (?).
Aus: The Ladies’ Home Journal v. Nov.1923.
Salomon, A., Die soziale Wirkung des
amerikanischen Alkoholverbots. In: Al-
koholfrage, 1925, H. 1, S. 27—32
Steuart. T. J.: Dollar 100000000 saved
Connecticut in three dry years. 19 S. 1924 (?).
Amer. Issue Publ. Comp.,Westerville,Ohio.
Stoddard, C. Fr.: Massachusetts’ expe-
rience with exempting beer from prohi-
bition. 8 S. 1924 (?). Ebend.
— : Present less in life and health due to
alcohol. 4 S. 1925. The Scientific Temp.
Feder , Boston.
—: Prohibition in Massachusetts in 1922.
8 S. 1924(?). Amer. Issue Publ. Comp,
Westerville, Ohio.
Stoddard, C. Fr.: Where stands the
question of prohibition and drug addiction
in the United States? A second study.
22 S. 1924 (?).
Im übrigen s. auch: Anti-Saloon Lea- |
gue... unter Ill.7b. |
3. Asien. R |
Der nationale Antialkoholbund Japans. (Ein
kurzer geschichtlicher Ueberblick.) In: Al-
koholfrage, 1925, H. 1, S. 32—34.
5. Balkanländer.
Neytcheff, Kh.: L’alcool, V’alcoolisme et
l’antialcoolisme en Bulgarie. In: Int. Jahrb.
d. Alkoholg. 1925-26, S. 100—107. 1925. Int.
Bur. z. Bek. d. Alk , Lausanne.
7. Dänemark.
Larsen - Ledet: Die Gemeindeabstim- .
mungen in Dänemark. 3., erw. Aufl. 56 S.
1925. Verl. „Auf der Wacht“, Berlin-Dahlen.
8. Finnland.
Stadius, U.: Fünf Jahre Alkoholverbot in
Finnland. A. d. Schwed. übers. von R.
Oberndörfer. 24 S. 1925. S.-A. aus „Alto-
hulfr.*, 1925, H.2f. Verl. „Auf der Wacht‘,
10. Großbritannien.
The National Temperance League
69 th. annual report, 1925. 36 S. Pater
Noster House, London E. C. 4.
17 b. Ostseeländer.
Das Gesetz zur Bekämpfung der Trunksoct,
in Lettland und seine Bedeutung. Fist
Nr. 2 d. Deutsch-baltischen Arbeitsgemä®
schaft z. Bek. d. Alkoholismus, Riga. NS.
1925. ,
Gesetz zur Bekämpfung der Trunksucht it
Lettland. (Vom lettländischen Landtagt
am 9. Dez. 1924 angenommen.) In: Alko-
holfr. 1925, H. 1, S. 23—27.
18. Schweden.
Aktiebolaget Stockholms - Syste-
met. Förvaltningsberättelse för ar 19%.
103S.u. Bilderanh. 1925. Verl. d. A.-B. St.->.
19. Schweiz.
S. Führer... unter Ill. 8, Javet unter
I. 10.
20. Internationales.
Koller, A.: Die Alkoholgesctzgebung def
letzten Jahre. In: Int. Jahrb. d. Alkuholg.
1925-26, S. 108—140. 1925. Int. Bur. z. Bek.
d. Alkoh., Lausanne. l
Im übrigen s. auch: Koller unter l3,
Statistisches unter Il. 1, S. 247.
Druck von Kupky & Dietze (Inh.: C. und R. Müller), Radebeul-Dresden.
ik.)
e
JN
>
A,
| November/ Dezember 1925 Hocschulbeft
f bd
ER > ik
I Die l | nen
Alkoholfrage
Internationale
wissenschaftlich - praktische Zeitschrift
HERAUSGEGEBEN
im Auftrage der
Deutschen Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus
und der
Internationalen Vereinigung gegen den Alkoholismus
unter Mitwirkung
namhafter Fachleute aller Länder
von
Präsident a.D. Dr. Reinhard Strecker
und Professor Dr. med. h. c. I. Gonser
In der Schriftleitung
Dr.R. Kraut und Dr. J. Flaig
Preis des Jahrganges (für In- und Ausland) 6 Goldmark
Preis des einzelnen Heftes: 1,25 Goldmark
| BERLIN-DAHLEM
| Verlag „Auf der Wacht“
| 1925
>‘
Die Alkoholfrage erscheint unter Mitwirkung von:
Abel, Jena; Amaldi, Florenz; Bérenger, Paris; Bumm, Berlin; H. Carton de Wiart, Brüssel; Cuz
Jassy; Dalhoff, Kopenhagen; Danell, Skara; Delbrück, Bremen; van Deventer, Amsterdar
Donath, Budapest; Endemann, Heidelberg; Friedrich, Budapest; Fuster, Paris; Gaule, Züric
Geill, Viborg; Gießwein, Budapest; von Gruber, München; Hansson, Oslo; Haw, Leute
dorf; Henderson, Chicago; Holmquist, Lund; Kabrhel, Prag; Kaufmann, Berlin; Kelynac
London; Kerschensteiner, München; Kiaer, Oslo; Kögler, Wien; Latour, Madrid; ví
Lewinsky, Moskau; von Liebermann, Budapest; Earl of Lytton, Herts; Masaryk, Prag; Mey:
Columbia; Minovici, Bukarest; Nolens, Haag; Oseroff, Moskau; Peabody, Cambridge (U.S.A
Pilcz, Wien; Reinach, Paris; Reinitzer, Graz; Ribakoff, Moskau; Saleeby, London; Sangr
Madrid; Schellmann, Düsseldorf; Schiavi, Mailand; Sherwell, London; Spiecker, Berlin; vı
Strümpell, Leipzig; Stubbe, Kiel; Szterenyi, Budapest; Tahssin Bey, Konstantinopel; Tezuk
Nagoya; Tremp, Benken (Schweiz): Vlavianos, Athen; F. Voisin, Paris; Paul Weber, Jen
Westergaard, Kopenhagen, Ziehen, Halle a. S.
Verantwortlich für Schriftleitung und Verlag: Prof. Dr. med. h. c. I. Gonseı
Berlin-Dahlem, Werderstr, 16.
Verlag und Versand:
Verlag „Auf der Wacht“ (Verlag des Deutschen Vereins g.d. A.), Berlin-Dahleı
Werderstr. 16. Postscheckkonto: Berlin NW. 7, Nr. 9386.
Anzeigen:
Anzeigenpreis nach Vereinbarung.
Inhalt des Heftes 6.
Seit
Vorena aa d a ee ee T a a a AA
I. AA
1. Weitz, Alkohol und Gesundheit . . . . E E E E T EA
2..Gaupp, Die psychischen Wirkungen des Alkohols . . . 222...
8. Mezger Alkohol und Steche 2 o 22. aa EI e on
Mutt, Alkobol und Wenke . 2. 2.22 5. a. a ir
5. Weber, Volkswirtschaft und Gemeindebestimmungsrechtt . . . . . . 2
6. Abel, Fick u. a, Das Gemeindebestimmungsrecht im Urteil medizinischer
HOCHBEBRBERTER Zee, ee ee ee Aa hi
7. Polzer, Die Alkokolfrage an den deutschen Universitäten . . . 2: 2.2. „8i
II. Chronik. (Stubbe, Kiaj < s a woe a a aA
II. Mitteilungen.
Zur Frage: Der Nährwert des Alkohols’ — Zwei deutsche Universitätsprofessoren
zur Alkoholfrage. — Eine Entschließung der Leipziger Studentenschaft. — Der
Rektor der Tübinger Universität an die Altherrenschaften. — Aus: Ethik —
Glauben — Wissen
Vorwort
lizulange ist die Alkoholfrage auf deutschen Hochschulen recht
stiefmütterlich behandelt worden. Auch heute noch wird sie
eder von Lehrern noch Studenten in dem Maße gewürdigt, das ihrer
Bedeutung für das gesamte Volksleben entspricht. Immerhin scheinen
Anschauungen und Verhältnisse sich allmählich zu wandeln. Das be-
eisen gelegentliche und wiederkehrende Vorträge von Professoren und
jereinzelte Kundgebungen innerhalb der Lehrer- und Studentenschatt.
vorliegende „Hochschulheft“ will davon einen Ausschnitt geben.
Die Schriftleitung.
®© |
Alkohol und Gesundheit”).
Von Professor Dr. Weitz.
Meine Damen und Herren! i
Der Gegenstand des ‚heutigen Abends ist: Alkohol und Gesundheit!
‘Unter den Themen, die wir hier behandeln wollen, nicht das unwichtigste.
Denn wenn es wirklich so ‚wäre, wie manche ‘Freunde des Alkohols es
k
.
(j
rbeit ohne einen en gulen Schnaps nicht auskommen a dann würde es sich
richtig: der Alkoħol ist nicht ein Förderer, sondern ein Verderber der
undheit. Meine Aufgabe soll es sein, die Richtigkeit dieser Behauptung
‘zu beweisen.
Die Hauptwirkung des Alkohols ist eine narkotische. Das gilt nicht
den Menschen allein, sondern für die ganze belebte Welt.
Die Spaltungsvorgänge durch Fermente, die Bewegung des Protoplasmas
pflanzlicher und tierischer Zellen, die Vorgänge der Zellteilung beim Wachs-
"tum und bei der Vermehrung, das Leitungsvermögen der Nervenfasern, aber
auch die verwickelten Umsetzungen in den Zellen der Großhirnwände werden
durch Alkohol narkotisiert. Komplizierte Leistungen sind im allgemeinen
ichter narkotisierbar, als weniger komplizierte. Bei bestimmten Bakterien
‚2. B. wird die Fähigkeit, durch Licht angelockt zu werden, eher aufgehoben
‚als ihre Ne nie
Der Herabsetzung mancher Zelleistung E ein Erregungsstadium voran.
So wird z. B. die Bewegung der manchen Zellen e ee Flimmerhaare unter
der Einwirkung des Alkohols zunächst gesteigert, ann gelähmt.
Auch die Zellen des Menschen werden in ihrer Tätigkeit gelähmt. Auch
bei ihm läßt sich nachweisen, daß gewisse Funktionen, z. B. die Seh- und
Hörfähigkeit, vor der Lähmung zunächst erregt werden, während andere
+) Vortrag, gehalten vor der Tübinger Studentenschaft im Sommer 1925. j
310 Abhandlungen.
Funktionen, vor allem auf motorischem und dem Gebiete der höheren gedank
lichen Arbeit von vornherein eine Herabsetzung erfahren. Die Ihnen allei
bekannte psychische und motorische Erregung des in leichtem Rauschzustani
Befindlichen ist wahrscheinlich weniger durch eine Erregung bestimmte
Hirnzentren bedingt, als durch eine Lähmung von Hemmungszentren, denei
bei vielen komplizierteren menschlichen Funktionen eine außerordentlic
große Wichtigkeit zukommt. ;
Wenn ich Ihnen sagte, daß die menschliche Zelle, wie alle Zellen, durcl
Alkohol narkotisiert wird, so wird man annehmen, daß als Vorbedingun|
hierfür der Alkohol in die Zelle eintreten muß, und das ist in der Tat de
Fall. Der Alkohol gelangt vom Magen und Darm in die Leber und wir
zunächst in den Leberzellen zum großen Teil zurückgehalten, so daß kur
nach seiner Aufnahme die Leber das alkoholreichste Organ ist. Er wir
dann aber bald von den Leberzellen zum größeren Teil wieder abgegeben
und nun sind es die Zellen aller übrigen Organe, vor allem die Gehirnzellen
die den Alkohol aus dem Blut an sich reißen. Das Gehirn wird das alkohol
reichste Organ. Nach einer tödlichen Vergiftung eines Menschen mit ?]ı Lite
Absinth fand man in der Leber 0,21, im Gehirn 0,47 % Alkohol.
Wie es kommt, daß der Alkohol nach seinem Eintritt in die Zelle di
Zelltätigkeit lähmt, weiß man noch nicht. Sicher ist es aber, daß die Voraus
setzung dafür ist, daß irgendwelche Umsetzungen in der so feinen un
komplizierten Struktur des Protoplasmas eintreten. Sie sind zunächst nich
etwas Dauerndes; der Alkohol wird in der Zelle zum Teil verbrannt, zur
Teil wieder ausgeschieden und die Struktur des Protoplasmas wird dam
wieder so, wie sie vor der Alkoholzuführung war. ie Lebenskraft de
Protoplasmas wird mit dem Gifte nach einiger Zeit fertig.
Die Lebenskraft des Protoplasmas ist aber beschränkt. Der Alkohol ist
an sich nichts in den Zellen zu tun; die Umsetzungen des Protoplasmas 2u!
die Einnahme von Alkohol sind nicht normale physiologische, sondern abnorme
Reaktionen. Kein Wunder, daß das immer wieder zu solchen Reaktioren
gezwungene Protoplasma schließlich in seiner Struktur dauernde Ver
änderungen erfährt und endlich gar abstirbt. Damit ist ein neues Stadıur
erreicht.” Wenn man bis dahin weder bei der makroskopischen noch b
der mikroskopischen Untersuchung der Organe etwas Abnormes hatte find
können, so stellt man jetzt Abweichungen ın dem Aussehen einzelner Organ
fest; die abweichenden Organe aber bekommen eine abweichende Funktion
Der Träger der Organe ist ein kranker Mensch geworden! |
Ich hatte gesagt, daß der Alkohol in die Zellen sämtlicher Orgax
eintritt. Da wird man erwarten dürfen, daß an zahlreichen Organen dei
Alkoholikers sich krankhafte Veränderungen bilden können; und das ist 1
der Tat der Fall. Lassen Sie mich Ihnen ein kurzes Bild der Veränderung
der einzelnen Organe und der dadurch hervorgerufenen Krankheiten geben
Bereits an der Stelle, wo der Alkohol zunächst in Berührung m
empfindlichen Zellen des Körpers tritt, am Rachen, treten Veränderungel
auf. Es kommt zum Rachenkatarrh. Häufiges Räuspern und Husten '
die Folge. Der Katarrh geht auf den Kehlkopf über. Die Stimme wird
rauh und tief, was euphemistisch als Bierbaß bezeichnet wird. Sehr oll
ist auch ein Katarrh der Bronchien vorhanden, der zum Teil vom Kehlkop!
tortgeleitet wird, zum Teil deshalb entsteht, weil ein Teil des Alkohols durch
die Bronchien ausgeschieden wird. Die Bronchitis führt nicht selten zuf
Lungenentzündung, die sehr oft die Todesursache der Alkoholiker bildet.
Die katarrhalischen Veränderungen finden sich weiter an der Speiseröhre
und im Magen und verursachen die bekannten Erscheinungen des Magen-
katarrhs, über die ich mich hier nicht weiter auszulassen brauche. Die Folge
des Magenkatarrhs ist eine Bildung von reichlichem Schleim im nüchternen
Magen, der häufig durch Erbrechen entleert wird. ee
Vom Magen und Darm gelangt der Alkohol in das Blut, und zwar in das
der Pfortader, und gelangt damit in die Leber. Lebererkrankungen, die
durch Alkohol bedingt sind, sind häufig. Zunächst kommt es zu einer
| Weitz, Alkohol und Gesundheit. 311
|
| dlgemeinen Blutüberfüllung der Leber und zu einer abnormen Fett-
| bidun . Das Fett kann sich zwischen den Leberzellen ablagern oder, was
; gefährlicher ist, in den Leberzellen selbst. Die vergrößerte Leber führt zu
einem Druckgefühl in der Lebergegend. Die veränderte Leber beginnt ihren
Funktionen, der Gallenbereitung, der Entgiftung, der Umwandlung von
» Zucker nicht mehr gerecht zu werden. Verdauungsstörungen, leichte Ver-
į giltungserscheinungen, Zeichen der Zuckerkrankheit können auftreten. In
‚anderen Fällen kommt es zur Vernichtung zahlreicher Zellen der Leber,
| und zwar grade derjenigen, die als die spezifischen Leberzellen angesehen
: werden müssen. Dagegen geraten die Bindegewebszellen, die sich überall
į zwischen den spezifischen Leberzellen finden und dem Organ seine Gestalt
geben, in Wucherung. Das wuchernde Bindegewebe schrumpft nach einiger
‚Zeit und wird narbig. Damit tritt eine Verhärtung und Verkleinerung der
ganzen Leber ein; es kommt zur Leberschrumpfung (Lebercirrhose). Das
? erkrankte Organ zeigt ähnliche Funktionsstörungen wie die Fettleber; aber
: das ist nicht das schlimmste. Durch die Leber geht alles Blut, das von dem
‘Darm und Magen kommt. Die Gefäße, in denen es innerhalb der Leber
. läuft, „werden in der schrumpfenden Leber zusammengedrückt. Das Blut
: kann nicht frei hindurchströmen, sondern wird dahinter gestaut. Das führt
; zu schweren Magen- und Darmstörungen, zur Ausschwitzung von wäßriger
} Flüssigkeit in den Bauch, zur Bauchfellwassersucht. Große Mengen Flüssigkeit
können sich im Bauch ansammeln (zehn, fünfzehn und mehr Liter). Die
Ernährung leidet auf’s Schwerste, und unter allgemeinem Kräfteverfall kommt
; & in kürzerer oder längerer Zeit zum Tode. |
i Der Alkohol gelangt von der Leber ins Herz. Auch hier kann er, wie
bei der Leber, zur Fettansammlung führen. Auch hier kann das Fett zwischen
den Herzzellen, d. h. den Muskelzellen oder in dieselben eingelagert
sein. Beides, vor allem das letztere, führt zu einer Schädigung der Leistungs-
fähigkeit des Herzens. Und nun kommt noch etwas hinzu: der Alkohol
schädigt das Herz nicht nur direkt, sondern er treibt auch das Beige
Herz zu verstärkter Tätigkeit. Der Blutdruck in den Gefäßen wird gesteigert,
so daß das Herz sich mit größerer Kraft entleeren muß.
Die Folgen der ae zeigen sich in der Neigung zum Herz-
‘klopfen, in Kurzatmigkeit, vor allem bei Anstrengungen, in schwereren Fällen
: von Leberschwellung, Wassersucht, in immer mehr zunehmender, quälender
Atemnot, bis endlich der Tod dem Leidenden das ersehnte Ende bringt.
Der alkoholischen Herzschädigung kommt eine viel größere Bedeutung zu,
als man im allgemeinen glaubt, worauf nachher noch näher einzugehen ist.
Ob bei der Entstehung der Arteriosklerose oder Aderverkalkung der
Alkohol eine große Rolle spielt, darüber sind die Meinungen noch geteilt.
Von sehr vielen wird es angenommen. Unzweifelhaft aber ist, daß der
gleiche Grad von Arteriosklerose bei regelmäßigem Alkoholgenuß viel
schwerere klinische Erscheinungen verursacht, als bei Abstinenz.
Vom Herzen gelangt der Alkohol durch die Gefäße in die verschiedensten
Organe. Ich nenne die Niere, durch die er ausgeschieden wird. Auch
hier kommt es zu Veränderungen in den Nierenzellen und es kommt, ähnlich
wie in der Leber, zu ee ig und Schrumpfung. Es tritt
das klinische Bild der Nierenschrumpfung auf. Die Symptome dieses Leidens
sınd außerordentlich quälend. Es kommt zu starker Blutdrucksteigerung,
die das Herz zu vermehrter Arbeit zwingt; diese Mehrarbeit vermag es
häufig nicht zu leisten und es treten die eben erwähnten Zeichen der Herz-
schwäche auf. Dem erhöhten Blutdruck leisten häufig die Gefäßwände in
As Organen nicht mehr den nötigen Widerstand. Es kommt zu
lutungen in diese Organe, z. B. in das Gehirn. Die erkrankte Niere ist
anderseits nicht imstande, alle die Stoffe auszuscheiden, die sie ausscheiden
sollte. So sammeln sich im Körper gewisse Produkte des Stoffwechsels in
überreicher Menge an und führen zur Ver iftung. Sie erzeugen eine
allgemeine große Unruhe und bedrückende Gefühle der Angst, bei leichter
allgemeiner Benommenheit; sie führen zu einem schnellen Schwinden der
312 | Abhandlungen.
Körperkräfte, zu Durchfällen, quälendem Hautjucken, unstillbarem Durst,
Erbrechen und Neigung zu Krämpfen und schließlich nach schrecklichen
Leiden zum Tode.
Ganz besonders schwere Veränderungen wird man im Nervensystem
erwarten dürfen, und zwar finden sie sich sowohl im Gehirn und
Rückenmark wie in den peripheren Nerven. |
Die Hirnhäute werden beim Alkoholgenuß blutreich und verdicken sich.
Das von ihnen abgesonderte Hirnwasser wird in vermehrter Menge
gebildet. Dies führt zu Eingenommensein des Kopfes und Schwindelgefühl.
Im Gehirn selbst zeigen sich Veränderungen an den Ganglienzellen.
Diese sind in normalem Zustand ie Zellen und zeigen Ausläufer nach
allen Richtungen hin, die die Zellen mit andern gleichartigen verbinden
sollen. Diese Zellen schrumpfen bei Alkoholikern und verlieren ihre Fortsätze.
Natürlich muß darunter die Funktion des Gehirns leiden. Den Aenderungen
im Takt- und im Verantwortlichkeitsgefühl bei Alkoholikern, dem Verlust
der feineren seelischen Regungen, dem Eintritt intellektuellen Verfalls, der
oft nur eine Betätigung in völlig ausgefahrenen Bahnen erlaubt, mögen
oft beginnende Veränderungen in den Ganglienzellen, wie ich sie soeben
schilderte, zugrunde liegen. Jedenfalls sind sie immer bei jenem schweren
eistigen Verfall vorhanden, der als Korsakoff’sche Psychose bekannt ist und
urch die hochgradige Gedächtnisschwäche und eine Neigung, die phan-
tastischsten Dinge als wahr hinzunehmen und zu erzählen, charakterisiert ist.
Auch an den peripheren Nerven kommt es zu Veränderungen, zum
Zerfall der eigentlichen Nervensubstanz und zu Wucherungen der Stütz-
substanz. |
Die Folgen sind Schmerzen und Schwäche der von den Nerven versorgte
Muskulatur. Das Zittern der Alkoholiker zeigt, daß die Willensimpuke |
die durch die Nerven zum Muskel fließen, nicht mehr in richtiger Weise
‚die Muskeln erregen. |
Auch an den Nerven des Auges kann die vergiftende Wirkung ds
Alkohols sich betätigen. Man hat Schwachsichtigkeit, ja Blindheit infolge
Schwunds des Sehnerven beobachtet.
Aehnliche Veränderungen wie an der Leber, also schrumpfende Prozess:
treten häufig an der Bauchspeicheldrüse, dem Pankreas, auf. Da diese Drüs
eine sehr wichtige Rolle im Zuckerstoffwechsel spielt — beim Tier führt ihre
Herausnahme zu der schwersten Form der Zuckerkrankheit — so kommt e
als Folge der alkoholischen Pankreasveränderungen sehr häufig zur Zucker-
krankheit.
Der Harnsäurestoffwechsel wird unter dem Einliuß des Alkohols
verändert, ohne daß ein bestimmtes organ dafür anzuschuldigen wäre. Die
Folge ist das häufige Auftreten der Gicht.
An den Geschlechtsdrüsen kommt es zum Schwund der Geschlechts-
zellen, worauf später noch einzugehen sein wird.
In der katarrhalisch erkrankten Magen- und Speiseröhrenschleimhaut
kommt es besonders leicht zu krebsiger Entartung.
Die Erkrankungen, die ich Ihnen soeben aufgezählt habe, sind durch deı
Alkohol direkt verursacht. Der Alkoholiker ist aber nicht allein durch sie
gefährdet; nein — und das spielt eine besonders wichtige Rolle — auch durti:
eine ganze Reihe anderer Erkrankungen, da sie bei ihm viel schwerer als
bei anderen verlaufen. Die Sterblichkeit an den verschiedensten Infektion:-
krankheiten, der Influenza, Lungenentzündung, Halsentzündung, ist beim
Alkoholiker um ein Beträchtliches größer als beim Nichtalkoholiker. Das
liegt zum Teil daran, daß der Alkoholiker die Abwehrstoffe gegen die
Erreger der Krankheit nicht in normaler Menge bildet; ferner daran, dad
ein durch Alkohol geschädigtes Herz eher versagt und daß es bei einem
alkoholgeschädigten Gehirn unter dem Einfluß der Infektion außerordentlich
häufig zu quälenden Angstvorstellungen, Halluzinationen und Visionen
une die ihrerseits wieder eine schwere Belastung für Herz und Kreislau!
arstellen.
Weitz, Alkohol und Gesundheit. 313
Daß der Alkohol bei Infektionen widerstandsvermindernd wirkt, ist
auch durch Tierversuche bewiesen worden. Man infizierte z. B. nicht
a'koholisierte und alkoholisierte Meerschweinchen mit der gleichen Dosis der
gleichen Pneumobazillen. Von den alkoholisierten starben 55 %, von den
nichtalkoholisierten 35%. Wenn man ihnen die gleichen Mengen Tuberkel-
bazillen in die Bauchöhle einimpfte, so starben sowohl die alkoholisierten
wie die nichtalkoholisierten stets daran — es liegt das an der ungeheuren
Empfänglichkeit des Meerschweinchens gegen die Erreger —, aber die
alkoholisierten Tiere lebten durchschnittlich noch 36 Tage, die nichtalkoholi-
sierten 57 Tage. Ich könnte noch eine Reihe ähnlicher Versuche aufzählen,
sehe aber, da sie das gleiche Ergebnis hatten, davon ab.
Die Gefährdung eines Patienten durch eine Infektionskrankheit ist, wie
ich behaupten möchte, praktisch mehr abhängig von seinem vorausgegangenen
‚Alkoholgenuß als von allem anderen. Ich kann Ihnen hier von Erfahrungen
berichten, die ich vor mehr als 15 Jahren in reichlichem Maße an einem
sehr großen Hamburger Krankenhause gemacht habe.
Unter der Arbeitsklasse spielten die Hauptrolle die Hafenarbeiter und
Schauerleute. Es waren dies besonders kräftige Leute von starkem Körperbau
‚und guter Muskulatur; denn nur solche Leute können beim Ein- und Aus-
: laden der schweren Stückgüter, beim Kohlenschippen, beim Bedienen der
‚ Fahrzeuge gebraucht werden. Auch ihre Frauen sahen wir nicht selten. Sie
: waren, besonders wenn sie etwas älter waren, in ihrem Kräftezustand nicht
‚ seiten reduziert. Sie wohnten irgendwo in einer engen Gasse und hatten
í monatelang die Sonne nicht gesehen; sie hatten oft in schneller Folge eine
Reihe Kinder bekommen, sie hatten wohl öfters auch nicht genug zu essen
` gehabt; viele sahen elend und matt aus.
Und doch, zehnmal lieber behandelte ich eine solche Frau an einer
Lungenentzündung, als ihren kräftig und gesund aussehenden Mann.
.. Damals beherrschte die Hafenarbeiter der unglückselige Gedanke, daß zu
ihrer schweren Arbeit ordentlich Schnaps getrunken werden müsse, und so
tranken sie täglich ein viertel, ein halbes Liter Schnaps, ja unter Umständen
noch mehr.
Wenn sie mit einer Lungenentzündung zu uns kamen, so war von
‚ vornherein das Krankheitsbild ein viel schwereres, als man nach der Aus-
j dehnung der Erkrankung hätte erwarten sollen. Sie hatten einen kleinen,
schnellen Puls; das blasse Gesicht war von Schweiß bedeckt, die Lippen
; kicht bläulich verfärbt; sie waren geängstigt von Wahnvorstellungen aller
Art, und so starben diese prächtigen Kerle wie die Fliegen, und ihre elenden
Frauen kamen durch.
Nun werden Sie sagen: „Ist es denn wirklich wohl so schlimm? Werden
da die gesundheitlichen Gefahren des Alkohols nicht reichlich schwarz
geschildert? Machen sich denn wirklich die Alkoholschädigungen bei
so a Leuten bemerklich, daß ihnen so große Bedeutung beigelegt werden
mu 9%
Nun ist es zwar richtig, daß die Alkoholschädigungen im gegenwärtigen
Augenblick zurücktreten. Aber wer sein Urteil über die gesundheitliche
Gefahr des Alkohols sich nur danach bilden würde, was er heute sieht, der
kommt zu einem völlig falschen Urteil. Der Krieg hat uns gezwungen,
i Praktisch abstinent zu sein, und auch in den darauf folgenden Jahren der
Inflation ist wenig getrunken worden. Die gesundheitlichen Schädigungen
smd infolgedessen stark zurückgegangen. Jetzt hat das Trinken wieder
begonnen. Zur Entwickelung der Alkoholschädigungen braucht es aber Zeit.
| Die Folgen der Wiederaufnahme der Trinksitten zeigen sich jetzt noch nicht
, 5%, wie man es nach der Menge des genossenen Alkohols erwarten sollte;
| Fr T man wird sie schon noch merken, und es wird gar nicht mehr lange
mg
Die Häufigkeit schwerer gesundheitlicher Alkoholschädigungen wird
| von manchem auch deswegen für gering gehalten, weil er in seinem eigenen
| antenkreis nicht viel davon sieht. Ich möchte davor warnen, auf diese
314 Abhandlungen.
Erfahrungen gar zu viel zu n. Die Aerzte dürfen ihnen im einzelnen Fall
keinen reinen Wein einschenken; sie sind an ihre Schweigepflicht gebunden.
Und von den Angehörigen erfahren Sie noch viel weniger die reine Wahrheit.
Wenn Sie die Angehörigen hören, so kommt ein Alkoholiker so gut wie
nie wegen einer alkoholischen Störung, sondern wegen nervöser Erschöpfung
infolge rl, ins Irrenhaus; hat er eine alkoholische Lebercirrhose
und kommt zum Schluß, wie so häufig kurz vor dem Tode, eine Lungen-
entzündung hinzu, so ist die Lungenentzündung die Todesursache und die
Leberschrumpfung wird zu einem Leberleiden, das mit irgend etwas anderen,
am liebsten mit Erkältungen, in Zusammenhang gebracht wird.
Wirklich einwandfreie Kenntnisse über die Häufigkeit und die Gefahr
der Alkoholschädigungen kann nur eine genaue Statistik bringen.
Was ich Ihnen an statistischem Material vorbringe, stammt im wesent;
lichen aus der Zeit vor dem Kriege.. Dies liegt daran, daß das statistische
Material der letzten Jahre noch nicht genügend verarbeitet und veröffentlicht
worden ist. Das Material aus der Gegenwart würde auch aus Gründen, di
ich vorhin entwickelt habe, ein zu günstiges Bild geben. Das Vorkriegs-
material heranzuziehen, haben wir aber auch ein gutes Recht; denn der
Alkoholkonsum nähert sich schon stark dem der Vorkriegszeit. Herr
Professor Wilbrandt hat Ihnen dafür bereits einige Unterlagen gegeben.
Als ein Beispiel dafür darf ich noch eine Mitteilung wiedergeben, die ich
vor ein paar Tagen in einer Bremer Zeitung las. Am St. Jürgenası!
wurden im Durchschnitt der Kriegsjahre 8 Alkoholni chosen, im Durch-
schnitt von 9 Vorkriegsjahren 55 und im Jahre 1924 66 Alkoholpsychosen
aufgenommen. Wer aber die Vorkriegsstatistik nicht gelten lassen will, wei
der Alkoholkonsum der Zeit vor dem Krieg heute noch nicht ganz erreich
ist, der mag aus meinem Vorkriegsmaterial wenigstens soviel entnehmen, dit
wir, was den Alkoholgenuß anlangt, nicht wieder zu Verhältnissen kon!
dürfen, wie sie vor dem Krieg bestanden haben.
Ein besonders gutes Material über die Häufigkeit der Alkoholschädt
gungen geben die Totenscheine der Schweiz. Auf diesen wird in jedem einzeln
all vom Arzt vermerkt, ob der Alkohol beim Tode mitgewirkt habe. Di
Technik der Ausführung gewährleistet dabei völlige Diskretion. Die örtliche
Behörde erfährt Nichts von der Meinung des Arztes über die Mitwirkung de
Alkohols beim Tode, die zentrale Behörde Nichts von den Namen.
Es ergab sich dabei als Meinung der Aerzte, daß im Jahre 1912 unter
20 179 Männern, die im Alter von über 20 Jahren gestorben waren, be
1956 der Alkohol beim Tode mitgewirkt habe, d. h. bei 9,69 %. Dabei war
— was vielleicht für manchen von Interesse ist, die Zahl derer, bei denen
der Alkohol mitgewirkt hatte, in den kleinen Gemeinden höher, als in den
großen, hier 8,22 %, dort 10,11 %.
Die einzelnen Altersklassen sind dabei ze belastet: für das Alter
von 30—39 Jahren beträgt bei Männern die Zahl der Alkoholgeschädigtet
16 %, für die 40—49jährigen (also in der Vollkraft der Mannheit stehen jen)
19 %, für die 50—59 jährigen 16 %, für die ganz alten, über 80jährigen, sinkt
die Zahl auf 1,2%. > 7
Für Deutschland haben wir keine ähnlichen Zusammenstellungen. Dab
sie aber für 1912 im großen Ganzen wohl ein ähnliches Bild gegeben hätten,
wie die Schweizer Zahlen, daran zweifle ich nicht. Gewiß mag in manchen
Gegenden Deutschlands weniger getrunken werden, als in der Schweiz:
dafür aber wahrscheinlich in anderen Gegenden um so mehr. |
Die Richtigkeit der Angaben der Schweizer Aerzte ist angezweile!
worden. Und in der Tat haftet allen solchen Angaben etwas Subjektives an-
Es gibt sicher Aerzte, die hinter zu vielen Leiden den Alkohol suchen; ©
gibt aber auch ganz gewiß viele Aerzte, die den Alkohol viel zu selten als
mitwirkend beim Tode ee Sie trinken selbst gern ihr Schöppchen
und wollen deshalb nicht en, daß das schädlich sein könne. Ließ sich
doch nachweisen, daß auf dem Totenscheine notorischer Trunkenbolde oft
Weitz, Alkohol und Gesundheit. 315
genug Nichts von Alkoholschädigung erwähnt war. Ich möchte deshalb
glauben, daß die Zahl von 9,69% des Schweizer Materials eher zu klein
‚als zu groß ist.
Ein objektives Bild über die Häufigkeit gewisser alkoholischer Störungen
eben die Veröffentlichungen der Irrenanstalten. Wenn eine Schweizer
Statistik z. B. mitteilt, daß von allen Aufnahmen in sämtlichen Schweizer
Irrenanstalten im Jahre 1920 18,4 %, im Jahre 1921 20,3 % und im Jahre 1922
234% (also fast ein Viertel) an Alkoholpsychose litt, so ist gegen die
‚Richtigkeit dieser Statistik nichts einzuwenden; denn die Psychiater können
mit absoluter Sicherheit die Alkoholpsychose von andern Psychosen ab-
grenzen.
Als durchaus objektiv haben auch die sogenannten Beruisstatistiken zu
;glten. In diesen wird die Sterblichkeit von Leuten, die den sogenannten
‚Alkoholberufen angehören, mit denjenigen von Leuten verglichen, die andern
‚Berufen angehören. Auf der einen Seite stehen die Gastwirte, die Kellner,
de Brauer, auf der andern irgendwelche andern Berufe oder alle andern
Berufe zusammen.
Unterschiede in der Sterblichkeit können nicht etwa auf die Art der
Ernährung schlechthin bezogen werden — diese wird im Durchschnitt im
‚alkobolberuf besser sein als sonst —; sie kann aber auch nicht auf eine
‘besondere Unfallgefahr zurückgeführt werden; denn Gefahren, wie sie viele
Industrie- und Bergarbeiter, Holzfäller und landwirtschaftliche Arbeiter und
m Krankendienst stehende Personen bedrohen, gibt es in den Alkohol-
‚gtwerben nicht. Eine größere Sterblichkeit bei diesen kann daher vernünftiger-
ie auf nichts anderes, als auf den vermehrten Alkoholgenuß bezogen
werden.
Besonders kräftige Leute sind im allgemeinen die Brauer. Trotzdem
, um ein Beispiel zu nennen, unter dem Material der Leipziger Orts-
krankenkasse ihre Sterblichkeit mehr als das 1%fache der sonstigen gleich-
rtıgen männlichen Kassenmitglieder. Statt 100 starben bei ihnen an Infek-
tonskrankheiten 122,3; an Krankheiten der Atmungsorgane 133,8; der Kreis-
lauforgane 260; der Verdauungsorgane 200; der Nerven 214,9; der
‚Dewegungsorgane 309,1. Noch schlimmer werden die Zahlen, wenn wir
‚das Alter von 35—54 Jahren nehmen. Statt 100 unter den übrigen Mitgliedern
‚der Ortskrankenkasse starben hier 420,8 an Erkrankungen der Kreislauf-
: agane; 359,2 an Erkrankungen der Verdauungsorgane; 616,7 an Erkrankungen
‚der Bewegungsorgane.
‚. Nach einer neueren englischen Statistik, die das ganze Material des
Königreichs umfaßt, starben von Wirten und ihren Angestellten 180, von
gleichartigen sonstigen Erwachsenen 100, und zwar starben an Alkoholismus
und Lebererkrankungen statt 100 670; an Krankheiten des Nervensystems 178,
der Kreislauforgane 144; an Lungentuberkulose 173; an Nierenerkrankungen
%3; an Selbstmord 216. Die letzte Zahl darf als Illustration zu dem schönen
ort von dem Freudenbringer Alkohol besonders hervorgehoben werden.
Auch die privaten Versicherungsgesellschaften, bei denen sich ja im
allgemeinen nicht die Arbeiter, sondern nur die Wohlhabenderen versichern
lassen, haben erfahren, daß die Mitglieder der Alkoholberufe: Gasthof-
' besitzer, Wirte, Brauereibesitzer usw., eine erhöhte Sterblichkeit haben.
nsere größte Lebensversicherung, die Gothaer, hat z. B. gefunden, daß,
wenn die Sterblichkeit der Gleichaltrigen zu 100 gesetzt wird, die der Gasthof-
itzer, Wirte und Brauereibesitzer bis zum 40. Jahr 180, vom 41.—55. Jahr
15, vom 56.70. Jahr 147 beträgt.
. Ym sich vor Verlusten zu schützen, stellt die Gothaer Lebensversicherung
“men 20jährigen Brauer so in Rechnung, als ob er 33,4 Jahre alt wäre.
. So, meine Damen und Herren! rechnen Mathematiker! Einem 20jährigen
Jungen Menschen, der als Brauer nicht immer, aber recht häufig Alkoholiker
ihig geen sie ein um 13,4 Jahre kürzeres Leben als den übrigen Zwanzig-
316 Abhandlungen.
Bei diesen Berufsstatistiken muß natürlich bedacht werden, daß viele
Leute, die den Alkoholberufen angehören, keine Alkoholiker sind, und daf
‚andererseits zu den nichtalkoholischen Berufen viele Alkoholiker gehören
Könnten wir auf die eine Seite statt der Leute mit alkoholischen Beruier
nur Alkoholiker setzen und auf die andere Seite statt der Leute aus einen!
nichtalkoholischen Beruf Abstinenten, so würde der Unterschied in dei
Sterblichkeit noch viel augenscheinlicher sein. |
Zu den Organschädigungen, die durch den Alkohol direkt verursachi
werden, kommen nun noch indirekte Schädigungen, die der Alkohol dadurct
verursacht, daß er Unfälle veranlaßt. Wie oft muß man nicht in der
Zeitungen von Totschlägen und schweren Körperverletzungen, die voj
Betrunkenen begangen werden, lesen! Wo überhaupt von Raufhändeln u. a
zu lesen ist, da handelt es sich in sicher 90 % aller Fälle um Betrunken
Wenn die Wiener Freiwillige Rettungsgesellschaftt 8% ihrer Hilke
leistungen am Samstag, Sonntag und Montag zu leisten hat, so ist kei
Zweifel, daß diese Vermehrung vor allem dem größeren Konsum von Alkohol
zuzuschreiben ist. _
Auch an den Betriebsunfällen bei der Arbeit ist zweifellos zu einem
nicht geringen Teil der Alkohol schuld. Bekannt ist, daß die Zahl d
Unfälle unter den Brauereiarbeitern besonders hoch ist. Daß dies mit de
Alkoholgenuß zusammenhängt, geht aus einer Wiesbadener Statistik Be
wonach die Zahl der Unfälle von 18,2% im Jahr nach Abschaffung Je
Freitrunks plötzlich auf 12,7% sank, obwohl die Brauereiarbeiter daduro
natürlich nicht zu Abstinenten wurden. Und in der Iiseder Hütte, einem
großen Eisenwerk im Hannoverschen, sank die Unfallzahl nach Abschaflug
der freien Bierabgabe während der Arbeit und der Bereitstellung alkobo-
freier Getränke von 9,47 % auf 5,7%. |
Auch unter der Nachwirkung des Alkohols, unter dem Einfluß ds
Katers, kommt es zu einer vermehrten Zahl von Unfällen. Nur so kan
man es sich erklären, weshalb das Maximum der Betriebsunfälle auf d
Montag fällt; es betrug hier in Deutschland 123, wenn als durchschnittic®
tägliche Häufigkeit 100 angenommen wurde. Man hat gesagt, die Erkläns;
hierfür könne auch die sein, daß am Montag die Leute wegen der Sonntag“
pause nicht so eingearbeitet und deshalb ungeschickter seien. Die Norweg®
Verhältnisse widerlegen dies jedoch. Hier war früher der Alkoholgenı
vom Sonntag mittag bis Montag mittag unmöglich gemacht. : Die Arbeit
kamen Montags mit klarem Kopf an die Arbeit und hatten eine Zahl vwo
Betriebsunfällen, die der normalen entsprach. Am Montag abend konnten ë
wieder trinken; sie machten hiervon auch nach zwei abstinenten Ta
besonders starken Gebrauch und hatten infolgedessen am Dienstag 4.
Maximum der Betriesunfälle, wo es 126,5 (statt 100) betrug. l
Noch auf zwei andern Gebieten sind die indirekten Schädigungen d&
Alkohols ungeheuer ernst und schwer. =
Der trinkende Vater sorgt nicht so für seine Familie, wie er müb
Was er vertrinkt, geht den Kindern an Milch und sonstiger Nahrung 2:
und so läßt sich in allen Ländern feststellen, daß die Sterblichkeit der
Kinder der Alkoholiker eine überaus hohe ist. Besonders schlimm s"
natürlich die Kinder daran, wenn die Mutter trinkt. An englischem Material
ist nachgewiesen worden, daß bis zum Ende des 2. Lebensjahres 55,8 % der
Kinder trunksüchtiger Mütter sterben. .
Und das andere Gebiet ist das der Geschlechtskrankheiten. Der Alkohol
beseitigt alle sittlichen und gesundheitlichen Bedenken vor dem auber-
ehelichen Geschlechtsverkehr und bringt die Ansteckung. Es gibt viele
Statistiken, die das beweisen. Der Arzt für Geschlechtskrankheiten kann
damit rechnen, daß nach großen Festen, bei denen der Alkohol in Ströme?
fließt, sich seine Sprechstunden füllen. Ich habe darüber Erfahrungen !!
der Kieler Hautklinik sammeln können. Mindestens 75 % der Infektionen
war unter dem Einfluß des Alkohols entstanden. Was für herzzerreißend‘s
Elend hinter dieser Zahl steckt, ist gar nicht auszumalen.
T. L tF ey
TITO e- — Ga
Weitz, Alkohol und Gesundheit. 317
Das Trinken verdirbt aber nicht nur den Trinker selbst, nein, das
Trinken ist eine Sünde, von der man sagen kann, daß sie die Kinder bis
ins dritte und vierte Glied heimsucht.
Es ist eine ganz a E ärztliche Erfahrung, daß unter den Kindern
von Alkoholikern viel mehr Psychopathen, Schwachsinnige und ganz besonders
EP puker vorkommen, als man nach der allgemeinen Häufigkeit erwarten
sollte.
Man hat gesagt, daß dies nicht unbedingt mit dem Alkohol zusammen-
hängen müsse. Die Trinker seien an sich schon minderwertige Leute; der
Alkoholismus des Vaters und die Psychopathie oder Epilepsie der Kinder
seien beides nur Zeichen einer gleichen Anlage; der Alkoholiker würde diese
Anlage auch vererbt haben, wenn er durch äußere Umstände verhindert
worden wäre, je einen Tropfen Alkohol zu trinken. Dieser Einwand verdient
u alle Beachtung; aber eins stimmt damit nicht überein: Unter den
hwestern der Trinker ist eine große Zahl von Personen, die dieselbe
Erbmasse, wie die Trinker haben; käme es nur auf die Erbmasse an, so
müßte auch unter den Kindern dieser Schwestern Schwachsinn und Epilepsie
besonders häufig vorkommen. Dies ist aber nicht der Fall. Besonders
deutlich hat sich das bei den Studien des bekannten Erblichkeitstorschers
Lundborg an einem großen Bauerngeschlecht in Südschweden ergeben.
Für den Zusammenhang zwischen dem Alkoholismus der Väter und
der Epilepsie der Kinder spricht auch, daß die Epilepsie bei den Kindern
von Juden viel seltener ist, als bei denen von Nichtjuden. Das ist mit
großer Wahrscheinlichkeit darauf zu beziehen, daß die Juden im Durchschnitt
viel weniger trinken als Nichtjuden, dagegen nicht auf eine bessere Beschaffen-
heit der Erbmasse an sich; denn andere degenerative, in der Erbmasse
liegende Züge kommen bei der jüdischen Rasse im Durchschnitt nicht seltener,
sondern häufiger vor als bei Nichtjuden.
Weiter! Im Anfang des 19. Jahrhunderts war Schweden sehr stark
alkoholdurchseucht. Norwegen viel weniger. In Schweden kamen auf 10 000
Wehrpflichtige 35,5 Epileptiker, in Norwegen 13,2. Eine andere Ursache
dafür, als der Alkohol der Väter, ist nicht erkennbar. Rassenunterschiede
können nicht die Ursache sein. `
Um noch sicherere Grundlagen zu erhalten, hat man das Tierexperiment
herangezogen.
Der amerikanische Professor Stockard setzte Meerschweinchen, die
vorher gesunde Junge bekommen hatten, Monate lang jeden Tag Alkohol-
dämpfen aus.. Sie wurden dabei nicht gradezu betrunken, waren aber auch
nie völlig nüchtern, wie das ja auch bei vielen Menschen vorkommt.
Die Paarungen dieser alkoholisierten Tiere verliefen oft ergebnislos;
oft wurden die Jungen tot geboren und die wenigen Jungen, die lebend
geboren wurden, starben früh. Wenn sie älter wurden, zeigten sie oft
Mißbildungen und Krankheitsanlagen. Diese vererbten sich weiter auf
Kinder, Enkel und Urenkel.
Besonders stark waren die Schädigungen der Abkömmlinge, wenn Vater-
und Muttertiere alkoholisiert wurden, etwas weniger, wenn nur die Mutter-
tiere alkoholisiert wurden, noch weniger, aber immer noch augenscheinlich,
wenn nur die Vatertiere alkoholisiert wurden.
Daß die Schädigungen bei Abkömmlingen alkoholisierter Muttertiere
stärker als bei solchen alkoholisierter Vatertiere waren, hängt offenbar damit
zusammen, daß bei Alkoholisierung der Muttertiere zu der Schädigung des
Keims auch noch die Schädigung des Embryos hinzukommt.
Noch nicht sicher entschieden ist die Frage, ob ein vorübergehender
Rauschzustand zur Entartung der Nachkommenschaft führen kann. Ein
Italiener hat dies z. B. daraus geschlossen, daß nach den Geburtstagen von
8000 Schwachsinnigen und Idioten unverhältnismäßig viele von ihnen
zur Zeit des Faschings und der Weinlese erzeugt waren. Der Einwand, daß
die betrunkenen Erzeuger an sich minderwertiger seien, als der Durchschnitt,
und deshalb auch ihre Nachkommenschaft minderwertiger sein müsse, läßt
318 Abhandlungen.
sich allerdings nicht ganz widerlegen. Aber für möglich, ja sogar für wahr-
scheinlich wird man die Entstehung einer geschädigten Nachkommenschaft
bei Erzeugung im Rausche halten dürfen.
Statistik und Tierversuche ergeben also übereinstimmend, daß der
Alkoholismus eines der Eltern die Nachkommenschaft schwer schädigen kano.
Eine rein theoretische Betrachtung der Dinge zeigt, daß es auch kaum anders
sein kann.
Ich hatte gesagt, daß bei ausgesprochenem Alkoholismus gewöhnlich die
Keimzellen in den Geschlechtsdrüsen völlig geschwunden seien. Nun ist es
nach allen Erfahrungen nicht denkbar, daß dieser Schwund nicht plötzlich
eintritt, daß gestern normale Keimzellen da waren und heute abgestorbene
vorhanden sind. Nein, zwischen völliger Gesundheit und Schwund der Keim-
zellen liegt eine beträchtliche Zeit, in der die Keimzellen mehr oder weniger
geschädigt sind.
Gewiß mögen in manchen Stadien der Schädigung die Keimzellen nicht
mehr zur Befruchtung geeignet, sein; in manchen Stadien sind sie es aber
sicher; und nach klaren biologischen Gesetzen muß das Kind, zu dessen
Entstehung eine geschädigte Keimzelle beigetragen hat, selbst geschädigt sein.
und der in der Erbsubstanz vorhandene Defekt wird wieder auf die weitere
Nachkommenschaft übertragen werden können.
Von Wichtigkeit ist es, zu wissen, ob der Alkohol, in gewissen Formen ge
nossen, von besonderer Schädlichkeit ist, z. B. in der Form des Schnapses, we
manche annehmen. Diese Annahme ist irrig. Von besonderer Giftigkeit ist
allerdings der Fusel, wegen seines Gehaltes an Methylalkohol; aber die in
den großen Schnapsbrennereien hergestellten Schnäpse, wie sie fast allen
getrunken werden, enthalten keinen Fusel.
Die Stärke der Alkoholschädigung hängt allein von der genossen
Alkoholmenge ab. Zwei Liter eines teuren Südweins von 10 %igem Alkabel
wirken genau so schädlich wie ein halbes Liter gewöhnlicher Kornbranntwin
von 40% Alkohol. Wenn bei Schnapstrinkern sich oft Schädigungen
stärkerem Grade zeigen als bei Bier- und Weintrinkern, so liegt das vor
allem daran, daß sie wegen der Billigkeit des Schnapses im allgemeinen viel
leichter zum Genuß großer Alkoholmengen kommen als Bier- und Wein-
trinker. Manche Bier- und Weintrinker kommen auch erst im letzten Stadium
ihrer Trunksucht zum Schnapsgenuß, wenn die wirtschaftliche Not, in die sie
durch ihre Trunksucht geraten sind, ihnen den Bier- und Weingenuß amog
macht. Die schweren Schädigungen, die sich bei ihnen zeigen, werden dann
oft fälschlicherweise nur auf den Schnapsgenuß der letzten Zeit, nicht auf
den Bier- und Weingenuß der früheren Zeit bezogen.
Auch hier in Süddeutschland, wo eine, wenn ich so sagen darf, liebens-
würdigere und weniger abstoßende Form des Alkoholgenusses in Form von
Wein, Most und Bier besteht, ist die Alkoholfrage vdn der gleichen Bedeutung
wie in dem schnapstrinkenden Norden. Und in einem sind sie dort sogar
besser daran, als wir: In Norddeutschland gilt der Schnapsgenuß bei Frauen
als etwas durchaus Ungehöriges; die Frauen und Kinder sind praktisch
abstinent. Hier in Süddeutschland nehmen auch die Frauen und Kinder am
Genuß von Wein und vor allem von Most teil. Und es ist sehr die Frage,
wo der Gesamtschaden des Alkohols größer ist: im Norden, wo die schnaps-
trinkenden Männer im allgemeinen mehr Alkohol zu sich nehmen, oder hier,
wo die Männer im allgemeinen weniger trinken, aber die Frauen und Kinder
sich dafür mehr am Alkoholgenuß beteiligen.
Wir haben von den gesundheitlichen Schädigungen des Alkohols ge-
sprochen. Wir sind aber noch nicht der Frage näher getreten, welche Mengen
yon Alkohol eingenommen werden müssen, damit Gesundheitsschädigungen
eintreten.
Eine allgemeine bestimmte Antwort auf diese Frage kann nicht gegeben
werden, weil die individuelle Widerstandsfähigkeit gegen den Alkohol sehr
verschieden ist. Es ist kein Zweifel, daß einige Leute eine außerordentli
große Widerstandsfähigkeit gegen den Alkohol Beten. Sie trinken viel und
Du SS at
Weitz, Alkohol und Gesundheit. 319
erreichen doch ein hohes Alter. Aber es ist durchaus sicher, daß es von
solchen Leuten nur wenige gibt, und daß man nur deshalb verhältnismäßig
‘oft von ihnen hört, weil die Alkoholfreunde besonders gern ihre Aufmerk-
‚samkeit auf sie richten.
Wirkt der mäßige regelmäßige Alkoholgenuß schädlich auf die Gesundheit?
: Bei Vielen nicht, bei Manchen ohne Zweifel.
ng
w
Eine weitere Frage: Wirkt der gelegentliche und sich in mäßigen Grenzen
haltende Alkoholgenuß schädlich? Die Frage ist für den Erwachsenen zu
verneinen.
Die Folgerungen, die der Einzelne aus unseren heutigen Betrachtungen
ziehen sollte, sind folgende: Unbedingt zu vermeiden ist der tägliche Genuß
pronerer Mengen von Alkohol. Dringend zu widerraten auch der tägliche
nuß kleinerer Mengen, denn diese müssen zwar nicht, können aber Gesund-
' heitsschädigungen herbeiführen; außerdem setzen sie auch, wie jeder Sports-
‚ mann weiß, die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit herab. Gegen den
den verschiedensten Ländern gemacht hat, mit al
gelegentlichen Genuß kleiner Mengen Alkohol ist vom gesundheitlichen Stand-
punkt Nichts einzuwenden. Ganz zu verbieten ist der Alkohol bei Kindern.
Diese Richtlinien sollten für Jeden maßgebend sein, der sein individuelles
Wohl in gesundheitlicher Beziehung im Auge hat. Wer aber darüber hinaus
nicht allein an sein individuelles Wohl denkt, sondern an das Wohl des
proben Ganzen, der wird sich nicht nur zur Mäßigkeit, sondern zur Abstinenz
ennen.
Wie die Erfahrung, die man in dem Kampf gegen den Alkoholismus in
er Deutlichkeit zeigt, kann
‚ gicht das Beispiel der Mäßigkeit, sondern nur das der Abstinenz die Trink-
no
sitten durchbrechen.
Auf das Beispiel der führenden Schichten sieht das Volk. Sie, meine
Damen und Herren! werden später zu diesen führenden Schichten gehören.
Wird es unter Ihnen eine erhebliche Anzahl von Abstinenten geben, so muß
und wird dies einen Einfluß auf den Alkoholkonsum ausüben zum Nutzen
unseres Volkes und Vaterlandes.
Die psychischen Wirkungen des Alkohols*).
Nach Ausführungen von Professor Dr. Gaupp (Tübingen).
Meine Damen und Herren!
Sie werden sich vielleicht gefragt haben, warum ich für den heutigen
Abend das Thema gewählt habe: Die psychischen Wirkungen des Alkohols.
Sie werden sich vielleicht gesagt haben: Das ist doch eine Sache, die
wir alle kennen! Wir haben ja täglich, ja man möchte fast sagen stündlich
Gelegenheit, diese Wirkungen des Alkohols bei anderen Personen in reich-
lichem Maße zu sehen. Wenn ich es trotzdem unternommen habe, hierüber
zu Ihnen zu sprechen, so geschah es .deshalb, weil, wie Sie sehen werden, in
der Tat auf diesem Gebiet eine merkwürdige Verschiedenheit der Anschauungen
| besteht, nach der Richtung, worin eigentlich die wesentlichen Symptome der
oholwirkung bestehen, und vor allem auch, woher es denn eigentlich
_ kommt, daß dieses Genußmittel sich die Welt erobert hat.
. Sie wissen ja, daß seit Jahrtausenden diese Wirkungen des Alkohols auf
die Seele des Menschen besungen und besprochen werden. „Der Wein erfreut
des Menschen Herz“ ist ein altbekanntes Wort. Man hat auch schon immer bei
en verschiedenen Getränken wie Bier, Most, Wein, Sekt und Schnaps eine
verschiedene Wirkung beobachtet; man hat ferner beobachtet, daß ver-
schiedene Menschen auf die verschiedenen Genußmittel verschieden reagieren.
Sie wissen ja, daß man einen gemütlichen, aber auch einen ungemütlichen
Stu ao Summarischer Bericht eines Zuhörers über einen im Sommer 1925 vor der Tübinger
entenschaft gehaltenen Vortrag.
320 Abhandlungen.
Rausch haben kann. Sie wissen ferner, daß man von dem einen Menschen
sagt: er kann viel vertragen, und von dem andern: er kann nichts vertragen.
Der eine gilt als trinkfest, kann sogar Wettrinken veranstalten und dabei
Sieger bleiben; der andere ist intolerant und wird schon durch eine kleine
Dosis Alkohol aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie wissen auch, daß
dasselbe Genußmittel je nach seiner Menge und dem Tempo des Genusses
verschieden wirkt. Zunächst regt es an, dann wird der Mensch angeheitert,
dann betrunken und laut, dann benommen und steif, bis er schließlich in
einen tiefen Schlaf fällt. Man spricht ferner auch von einem einfachen,
gewöhnlichen Rausch, einem „pat olögischen“, einem „abnormen“ Rausch.
einer sinnlosen Trunkenheit. Endlich wissen Sie ja, daß man am Alkohol
dreierlei Eigenschaften kennt: 1. seine Wirkung als vermeintliches Kräftigungs-
mittel, als das Mittel, das unsere geistige und körperliche Arbeitsleistung
steigern, erhöhen soll; 2. als Genußmittel des wohlschmeckenden Weins, des
Sekts, des erfrischenden Bieres, und endlich 3. als Narkotikum, als den Trank
des Vergessens, als den Sorgenbrecher, der dem Menschen hilft, den Kummer
zu ertränken.
Fragt man nun die Menschen, mit denen uns das Leben zusammenführ.
warum sie eigentlich trinken, so bekommt man sehr verschiedene Antworter.
Ich wende mich zunächst der handarbeitenden Welt zu und da werde ich
kaum je, wenn ich die Frage stelle: „Warum trinken Sie eigentlich“, eine
andere Antwort bekommen, als: „Weil mir das Bier, der Most oder der Wein
Kraft gibt, weil er mir die Arbeit erleichtert, weil es eben ohne mein Quantur!
Bier oder Most mit meiner Arbeit nicht vorangeht. Ich muß mein Quantum
haben, sonst komme ich nicht zurecht.“ Vor etwa 20 Jahren haben wir einmal
in München die Antworten all der Leute gebucht, die wir gefragt hatten
warum sie eigentlich trinken, Männer aller Berufsarten. Ich will dam
einige kurz anführen, die mir für das Problem charakteristisch zu sn
scheinen: was ist der Alkohol für den handarbeitenden Menschen? D:
sagte mir der eine: Bier macht Kraft; mit Wasser kann man es nicht mache.
Der andere sagte: Vom Wasser bekommt man einen harten Magen. Ei
Maurer erwiderte: „Bier gibt Kraft; mit Wasser allein kann kein Mensch
arbeiten.“ Ein Schlosser sagte, er müsse wegen der Hitze trinken. En
Gütler meinte: „Wenn man schwer arbeiten muß, muß man Bier trinken:
Wenn ich ein Glas Bier getrunken habe, dann ist gleich ein anderes Leben
in der Sache. Man kann ohne Bier auch schon arbeiten, dann muß man aber
halt weniger arbeiten“ Ein Maler sagte: „Die Maler müssen trinken
von wegen der Kundschaft.“ Ein Viehhändler trinkt wegen der schweren
Arbeit, die er leisten müsse. Ein Schneider war der Ansicht, wenn man nic
trinke, werde man dadurch, daß man den ganzen Tag hocken müsse, ganz
steif im Kreuz. Ein Hausierer trinkt, damit man die Leute besser anlügen
könne. Die Müller und Steinhauer trinken, weil der viele Staub Durst mache.
andere Berufe, weil sie in der Kälte oder Nässe arbeiten müssen. Kurzum, der
handarbeitende Mensch trinkt, weil er felsenfest an die Zunahme der
Leistungsfähigkeit unter Alkohol glaubt. Er fühlt in sich selbst die Erleich-
terung und läßt sich seine Meinung nicht ausreden. Heute liegen ja nun zahl-
reiche andersartige Erfahrungen vor, vor allem auch von seiten der Sportsleute.
die bekanntlich den Alkohol ablehnen, oder auch etwa der Akrobaten und
der Künstler, die Sicherheit und Exaktheit bei ihren Bewegungen brauchen.
Aber all das hat keinen sehr großen Eindruck gemacht. Der handarbeitend
Mensch bleibt im allgemeinen bei der Meinung: Ich muß mein Quantum
Most oder Bier haben, sonst kann ich nicht schwer arbeiten.
Anders lautet die Antwort, wenn wir zu den geistigen Berufen übergehen.
Fragt man hier die Menschen, warum sie eigentlich trinken, so bekommt
man selten die Ansicht zu hören, die geistige Arbeit werde durch Alkohol
erleichtert, gesteigert, quantitativ vermehrt, vielmehr eher die Meinung.
Alkohol habe einen Erholungswert und sei wohltuend. Vor einigen Ja
stellte van Vleuten einmal bei Dichtern, nämlich bei 150 deutschen Dichter
und Schriftstellern, eine hierauf bezügliche Rundfrage. Er hatte ein schöne
m.
Gaupp, Die psychischen Wirkungen des Alkohols. 321
Wort des großen Naturforschers Helmholtz gelesen, der sich einmal
über die schöpferischen Ideen in sehr interessanten Ausführungen aus-
ließ und dabei zu dem Ergebnis kam, daß schon die kleinsten Mengen
: alkoholischen Getränkes diese schöpferischen Ideen verscheuchen. Diese Worte
haben van Vleuten veranlaßt, an jene 150 deutsche Dichter einige Fragen zu
stellen. Diese lauten: 1. Nehmen Sie regelmäßig vor der künstlerischen Arbeit
‚ Alkohol in irgendwelcher Form zu sich und welche Wirkungen schreiben Sie
ihm zu? 2. Haben Sie, falls Sie nicht regelmäßig Alkohol vor der Arbeit
rehmen, esaber gelegentlich doch einmal getan haben, dann eine Steigerung
oder eine Hemmung ihrer A us beobachtet? 3. Was haben Sie
bezüglich der Wechselwirkung zwischen Alkohol und Dichtung beobachtet?
115 der Dichter haben geantwortet. Ueber 90 % der Künstler meiden den
Alkohol vor und während der Arbeit vollkommen. Im übrigen die Urteile
- recht verschieden. Aber die Zahl derer, die den Schaden des Alkohols sehen
und nicht den Nutzen, übertrifft die der Lobredner um das sechsfache. Selbst
begeisterte Freunde des Weines, wie z. B. Dehmel oder Thomas Mann gaben
die Verschlechterung der dichterischen Leistung durch Alkohol zu. Der
: Trinkfreund Detlev von Liliencron nahm niemals vor der künstlerischen
; durch den Alkoholgenuß. Auch Avenarius, der
Arbeit Alkohol zu sich und sah immer eine a E E
gründer des „Kunst-
' warts“, sagt: „Ich nehme vor und während der geistigen Tätigkeit, seit ich
|
überhaupt ernsthaft arbeite, keinen Alkohol mehr. Er inspiriert nicht die
Phantasie, sondern er lähmt nur die Selbstkritik. Nach meinen Erfahrungen
: und Beobachtungen ist er überhaupt der größte Verdummer, den wir kennen.“
Nur wenige Dichter glauben an eine Förderung ihrer Phantasie durch
Alkoholgenuß. Paul Ernst spricht sogar von einer inneren Verwandtschaft
des alkoholischen Rausches mit dem Rausch der dichterischen Produktion.
Also Sie sehen bei, der Phantasiearbeit des Künstlers finden wir bereits keine
einheitliche Auffassung der befragten Dichter. Würden wir nun ähnliche Um-
iragen bei den Gelehrten anstellen, so würden wir wohl noch mehr den
Alkohol ablehnende Antworten erhalten. Streng logische und gedanklich
schöpferische Arbeit gedeiht im Allgemeinen nicht unter Alkoholwirkung.
Auch da mögen einzelne Ausnahmen vorkommen. Sie sehen aber, die
Tatsache ist bemerkenswert: Der Handarbeiter glaubt an den Kraftzuwachs
durch Alkoholgenuß, der geistige Arbeiter dagegen glaubt meistens nicht an
den Zuwachs der Leistung oder Kraft. Er läßt den Alkohol nur gelten als
: stimmungsfördernd, vor allem als Genußmittel nach getaner Arbeit. Dieser
Unterschied ist wichtig, denn er wird uns nachher verständlich werden aus
der eigentümlichen Wirkung, die der Alkohol auf die verschiedenen Seiten
i des Seelenlebens auszuüben vermag. Im ganzen gibt es sehr viele Gründe
für das Trinken, nicht nur die der Leistungssteigerung. Der berühmte
Physiologe von Bunge in Basel hat einmal über das Trinken folgendes gesagt:
„Die Menschen trinken, weil andere trinken. Hat man sich aber einmal
' an das Trinken gewöhnt, so ist an Gründen zum Weitertrinken natür-
: lich niemals Mangel. Die Menschen trinken, wenn sie sich wieder-
nn .
sehen; sie trinken, wenn sie Abschied nehmen; sie trinken, wenn sie
ungrig sind, um den Hunger zu betäuben; sie trinken, wenn sie satt sind,
um den Appetit anzuregen; sie trinken, wenn ’s kalt ist, zur Erwärmung;
sie trinken, wenn ’s warm ist, zur Abkühlung; sie trinken, wenn sie schläfrig
sind, um sich wach zu halten; sie trinken, wenn sie schlatlos sind, um
eınzuschlafen; sie trinken, weil sie traurig sind; sie trinken, weil sie lusti
sind; sie trinken, weil einer getauft wird; sie trinken, weil einer beerdigt wire
ie trinken, sie trinken, sie trinken.“
. Wenn wir nun von den subjektiven Angaben derer absehen wollen,
die wir gefragt haben, was sie eigentlich für Wirkungen an sich selbst wahr-
genommen haben, und objektiv die Folgeerscheinungen des Trinkens auf
sozialem Gebiet beleuchten, so findet sich Abnahme der Aufmerksamkeit, der
Sicherheit und Präzision, erkennbar z. B. an der erheblichen Zunahme der
Unfälle in der Berufsarbeit unter der Einwirkung des Alkohols, also Abnahme
Die Alkoholfrage, 1925. 21
322 Abhandlungen.
der Vorsicht, der Aufmerksamkeit, der Sicherheit der Bewegung. Es wurden
Versuche angestellt über die Sicherheit der Schießleistung bei gewandten,
eschulten Schützen. Auch da eine Abnahme, wie Sie vielleicht später von
errn Oberstleutnant Muff werden erläutert bekommen. Ich könnte ferner
die bekanntlich so a ie Folgen des Alkoholgenusses in der Kriminalität
erwähnen. Es ist ein Thema, das Herr Kollege Mezger Ihnen vortragen
wird. Wir wollen uns der exakten Feststellung der Alkoholwirkung nach
Grad und Dauer zuwenden, wie sie durch genaue Untersuchung im psycho-
logischen Experiment festgestellt werden kann. Ich kann ferner als Arzt auf
diesem Gebiet aus Erfahrung sprechen, die ich in reichem Maße habe machen
können. Die heute etwas vernachlässigte experimentelle Psychologie zeigte
in Orei niget analytischer Arbeit die wichtige Tatsache auf, daß die ver- |
schiedenen
ganz verschieden beeinflußt werden können. Man pflegt zu sagen, der Alkohol sei
ein narkotisches Gift. Er habeanfänglicherregende, weiterhin lähmende Wirkung,
iten des Seelenlebens durch toxische Einwirkung auf das Gehim
wie es auch sonst bei narkotischen Giften der Fall sei. Wenn wir die Gifte, die
wir als Genußmittel zu uns nehmen, überblicken, so können wir merkwürdige
Unterschiede feststellen. Wenn wir einmal die bekannten Genußmittel, Tee.
Kaffee, Nikotin oder die Arzneimittel, Brom, Opium, Morphium usw. au
ihre Wirkung auf das Seelenleben des Menschen untersuchen, so können wir
eigenartige Feststellungen machen. Wir können tatsächlich zeigen, daß diese
Gifte, diese Genußmittel auf die verschiedenen Seiten des Seelenlebens ganz ver-
schieden einwirken. Es ist noch niemals eine Körperverletzung durch Te
oder ein Totschlag durch Nikotingenuß festgestellt worden. Auch hier haben
wir zwei starke Gifte, aber sie haben keinerlei Bedeutung für die Kriminalität.
Es muß seinen Grund haben, warum der Alkohol die ungeheure Bedeutux
für die Kriminalität und das soziale Leben und Handeln der Menschen bit.
Wenn wir also etwa die Wirkung des Alkohols auf die menschliche ek
studieren wollen, so müssen wir es so machen, wie wir es auch sonst mache:
Wir müssen die einzelnen Seiten des Seelenlebens gesondert prüfen. in _
allgemeinen pflegt man vier verschiedene Wirkungen zu unterscheiden:
1. Die Wirkung auf die Affektivität, 2. Die Wirkung auf die psycho-
sensorische Seite des Seelenlebens, auf die Wahrnehmung, Auffassung und
Aufmerksamkeit, 3. Die. Wirkung auf den Gedankenablauf und 4. Die Wirkung
auf den Bewegungsablauf, den Handlungsablauf. Kaffee und Tee z. B. wirken :
auf die Affektivität euphorisierend, d. h. Wohlbehagen erzeugend. Wenn wir
eine sehr gute Tasse Kaffee oder Tee langsam genießen, so empfinden wir
ein gewisses Wohlbehagen. Des weiteren können wir feststellen, daß wir
nach Tee- oder Kaffeegenuß eine sehr scharfe Auffassungsfähigkeit haben.
Das ist im Laboratorium experimentell genau festgestellt worden. Die
nach Tee- oder Kaffeegenuß auch eine sehr scharfe Auffassungsfähigkeit haben.
Das ist mit dem Experiment im Laboratorium genau festgestellt worden. Die
Leistungen steigen, wir sind konzentrierter, der Gedankenablauf geht flott
von statten. Bekannt ist die arbeitsfördernde Wirkung des Kaffees oder Tees
bei Menschen, die vor einem Examen stehen und die sich durch Kaffee
lebendig halten, um durchhalten zu können, ohne daß dabei der gute Fortgang
der geistigen Fähigkeit beeinträchtigt wird. Kaffee und Tee haben keine
Neigung, die Motilität anzuregen. Der Mensch bleibt ruhig beim Kaffee
sitzen, er ist ganz vernünftig und besonnen. Das Nikotin hat ganz ähnlich
Wirkungen. Jeder Raucher weiß das. Auch dabei stets guter Fortgang der
Auffassungsleistung, des Denkens und keinerlei Neigung zu voreiligen Re-
aktionen. Auch der Alkohol wirkt zunächst vorwiegend euphorisierend, stim-
munghebend, fröhlich machend, freilich nicht ausnahmslos. Es gibt auch
streitsüchtige Krakeeler, die beim Alkoholgenuß recht unangenehm werdet.
Nach dem Genuß einer geringen Quantität von etwa 30 g (1 Liter Bier) findet
sich eine deutlich feststellbare Erschwerung und Verlangsamung der Aul-
fassung. Wir sehen nicht mehr so genau, wir beobachten weniger scharl,
wir machen Fehler, wir verkennen die Dinge, wir fallen Täuschungen zum
Opfer. Wir verhören uns, wenn wir etwas getrunken haben, über das, was
|
Gaupp, Die psychischen Wirkungen des Alkohols. 323
am Nachbartische geredet wird. Die Auffassung läßt nach, der Wahrnehmungs-
vorgang wird verschlechtert. Nun der Gedankenablauf: Auch hier ist die
Wirkung des Alkoholgenusses verflachend. Wir erscheinen uns häufig geist-
reicher, wenn wir getrunken haben. Wir pflegen dann allerhand geistreich
sein sollende Witze zu machen, wir sprudeln über, wir haben Neigung zu
Reimereien. Aber wenn man dann diese geistreichen Leistungen ‚genau nach-
prüft, so ist das Produkt nicht immer erfreulich. Als ich selbst noch nicht dem
= Alkohol Feindschaft angesagt hatte, habe ich einmal mit ein paar guten
Freunden bei einer Bowle gesessen. Es ist schon lange her; einer unserer
Kollegen stenographierte damals; er hat sich hingesetzt und hat sich an diesem
Abend den Spaß gemacht, alles, was wir geredet haben, zu fixieren. Am
‚ andern Morgen kam der Kollege und sagte uns: „Nun will ich Euch einmal
' vorlesen, was Ihr gestern abend geredet habt!“ Er tat es auch. Wir baten
ihn aber sehr bald, abzubrechen, es war zu wenig erfreulich gewesen. An
diesem Beispiel können Sie sehen: Wir haben das Gefühl subjektiver Er-
leichterung, des raschen Zufließens der Gedanken, größeren Ideenreichtums,
‚aber objektiv eine Abnahme der geistigen Leistung nach ihrer Qualität. Der
Alkohol betrügt uns in der Selbstkritik um unsere richtige Urteilsfähigkeit.
„in vino veritas“ heißt ein bekanntes Wort. Das heißt nicht, daß im Weine
die Wahrheit gefunden wird, sondern: Im Weine plaudern wir offen viel aus,
was wir sonst im Leben aus guten Gründen verschweigen. Der Wein macht
indiskret. Wodurch? Durch eine Erleichterung und Enthemmung der Be-
wegung, durch die Erleichterung des Tuns, des Handelns, was die Abnahme
des Taktgefühls, der feinen Rücksichtnahme auf andere Menschen zeigt. Es
iällt all das weg, was die Kultur uns allmählich anerzogen hat. Geht der
Alkoholgenuß weiter, so kommt nach der psychomotorischen Erregung all-
mählich die Lähmung auch körperlich: Unsicherheit der Sprache, Taumeln,
Benommenheit und schließlich bleierner Schlaf, oder aber bei krankhaften
Säufern der Umschlag der gemütlichen Stimmung in jene eigentümliche Er-
regung, wo bei getrübtem Bewußtsein auf einmal die primitiven Triebe zum
Ausbruch kommen, wo die Menschen, nachdem der geistige Oberbau gelähmt
ist, Rohheiten, Gewalttaten, Sittlichkeitsverbrechen begehen. Und dann kommt
die Steigerung zum Rausch, also jene akute Geisteskrankheit, bei der das
Bewußtsein getrübt ist, die Auffassung schlecht funktioniert, die Aufmerk-'
samkeit nicht mehr mitarbeitet, der Gedankenablauf einförmig, flach, zerfahren
wird, wo ein triebhaftes Handeln den Menschen treibt, wo alles höhere geistige
ausgelöscht ist.
Wir wollen noch einmal das für uns wichtige festhalten: Der Alkohol
hat die Besonderheit, daß er sich von den vielen andern Genußmitteln, die
wir genießen, darin unterscheidet, daß er bei geringer Dosis die Bewegung
erleichtert. Nun sind wir aber gewöhnt, unser Kraftgefühl darnach zu
beurteilen, wie leicht wir unsere Bewegungen ausführen. Wie etwa der
Redner, dem die Worte sehr leicht von der ‚Lippe gehen, leicht zu der
Ueberzeugung kommt, ein sehr geistreicher Mann zu sein, weil er viele Worte
spricht, so ist es auch bei dem Menschen, der da meint, mehr Kraft zu
haben, weil die einzelnen Bewegungen anfangs leichter von statten gehen.
enn man nun diese erleichterte Bewegung, dieses aktive Kraftgefühl mit
der objektiven Kraftleistung vergleicht, so kommt dabei heraus, daß der
Alkohol betrügt, daß die Leistung geringer geworden ist. Während wir also
‚glauben, subjektiv mehr Kraft zu haben, haben wir bereits objektiv weniger
raft. Der Alkohol ist nur da bisweilen ein objektiver Förderer der Leistung,
wo er in geringer Menge zur Beseitigung seelischer Hemmung (Befangen-
heit) genossen wird. So gibt es beispielsweise Schauspieler, die erst dann
ihre Kunst entwickeln können, wenn sie den letzten Rest von Lampenfieber
durch ein Glas Sekt weggespült haben, oder es gibt Momente, wo das Be-
wußtsein unmittelbarer Todesgefahr durch den Genuß von Alkohol gedämpft
werden kann. Unter Umständen kann der Alkohol auch sein, was die
Peitsche ist für ein ermüdetes Pferd. Es kann Momente geben, wo es um
jeden Preis gilt, die Maximalleistung dadurch zu erzielen, daß man die
21*
324 Abhandlungen.
Affektivität, die Gemütssphäre des Menschen, noch einmal aufpeitscht, um die
letzte Leistung herauszuholen. Dabei kann es sich aber nur um eine Augen-
blicksleistung handeln. Der Alkohol ist aber 'sonst infolge der ganzen spezi-
fischen Art seiner pharmakologischen Wirkung ein Betrüger. Er schafft dem
einzelnen Menschen die subjektiv ehrliche Ueberzeugung, daß er unter seiner
Wirkung mehr leisten könne, und darin liegt seme verhängnisvolle Bedeutung.
Er vermindert die wertvollen Hemmungen. Wir unterschätzen ja im Leben
viel zu sehr die ungeheure geistige und sittliche Bedeutung der Hemmungen,
des Unterlassens, des Nichttuns, des uns — Zurückhaltens, der Selbstkritik,
der Selbstbeherrschung.
Und dann noch etwas anderes! Wenn wir Hunger haben, so essen wir.’
Wenn wir gegessen haben, sind wir satt und dann essen wir nicht.
weiter. Trinken wir dagegen Alkohol, wenn wir Durst haben, so bekommen
wir häufig allmählich immer mehr Durst. Also in der pharmakologischen
Wirkung des Alkohols liegt auch das Verlangen nach der Fortsetzung des
Genusses über das eigentlich praktisch zulässige Maß hinaus. Eine Tendenz
zur Sucht, zum gewohnheitsmäßigen Genießen ist in der speziellen Wirkung
des Alkohols bereits enthalten.
Nun sprach ich bisher vom Alkohol hauptsächlich als einer einmaligen
Dosis, als einem Mittel, um Stimmung anzuregen, um scheinbar Kräfte zu!
wecken, um Müdigkeit zu beseitigen, um der Hitze oder der Kälte Herr zu.
werden. Ich sprach noch nicht von seinen chronischen Wirkungen, d. h. von
der Veränderung des Seelenlebens, wnn der Mensch gewohnheitsmäßig geistige,
Getränke genießt. Was heißt das: Gewohnheitsmäßig? Wir wollen sage:
Wir sind dann gewohnheitsmäßige Trinker, wenn wir ein neues (Quantum
Alkohol genießen, ehe das alte Quantum seine Wirkung erschöpft hat, so dab
sich also Wirkung an Wirkung unmittelbar anschließt oder die Wirkungea
sich gar summieren. Diese chronischen Wirkungen des Alkoholgenusses mi;
-mißbrauchs sind Ihnen in den schweren Formen ja alle geläufig, so bi
denjenigen Leuten, die viel Alkohol trinken und wirtschaftlich, sittlich und
intellektuell herunterkommen, schließlich vollständig verblöden. Das ist Ihnen
ja auch aus den vielen Bildern im Leben bekannt, in denen man diese traurigen
ustände da und dort zu sehen bekommt. Aber nicht davon will ich heute spre-.
chen, sondern fragen wir uns einmal: Worin bestehen diechronischen Wirkungen.
des Alkoholgenusses, wenn wir ihn nur mäßig oder sagen wir einmal ein
bißchen unmäßig trinken? Als Hauptsymptom könnte ich vielleicht den Haß der
Trinkenden gegen die Abstinenten vorausschicken. Es ist eine ganz merkwürdige
Tatsache, wie verhaßt wir Abstinenten bei den Menschen sind, die trinken.
Aber vielleicht noch wichtiger ist folgendes: Wer sich im Leben unter den
Leuten umschaut und jemand als jungen und frischen Menschen gekannt hat, der
ist später oft bitter enttäuscht, wenn er sieht, was aus jenem geworden ist.
Die ganze jugendliche Frische geht oft merkwürdig rasch dahin. Die ganze
Begeisterungstähigkeit der Pubertätsjahre wird als Jugendeselei beiseite ge-
schoben. Man hat seinen Beruf, seine Pension, seinen Wein-, seinen Biertisch,
man tut recht und schlecht seine Pflicht, und alles andere, alle früheren Ideale
sind vergessen und weggewischt. Das sind nur die harmlosen Formen,
Abstumpfung der allerfeinsten Züge des Charakters, des feinsten Taktes, der
Freude an der produktiven Arbeit und auch des stärksten Willens, vor allem
auch jener freiheitlichen Gesinnung, die bereit ist, Verantwortung zu tragen,
wenn die Verantwortung Opfer verlangt. Wir sehen diese Umwandlung des
Trinkenden in den verschiedensten Variationen: Bei dem trägen Bierbauch.
der jden Tag seine 1—3 Maß Bier trinkt, schon in der äußeren Erscheinung.
beim Weintrinker in einer gewissen Reizbarkeit und Rücksichtslosigkeil
namentlich gegen die Frau. Doch das ist immer noch erträglich im Verglei
zum Schnapstrinker, der seine Familie verkommen läßt. Ich will heute
hierüber nicht ausführlich sprechen, auch nicht von den schweren alkoholi-
schen Geistesstörungen, dem pathologischen Rausch oder auch jener eigen-
tümlichen Form von Eifersuchtswahn, dem so viele Frauen jahraus, jahrein
zum Opfer fallen, oder gar jenen traurigen Bildern, bei denen jemand voll-
Gaupp, Die psychischen Wirkungen des Alkohols. 325
ständig das Gedächtnis verloren hat (Korsakoff). Ich will auch nicht von
jenen Quartalsäufern sprechen, die bei starkem Alkoholgenuß zu geradezu
schauderhaften Exzessen geraten. Außer Betracht lasse ich auch den Selbst-
mord, der auch so ungeheuer häufig mit veranlaßt wird durch Alkohol-
schädigungen, die der Trinker sich selbst zugefügt hat. Während der Selbst-
mord ın der Zeit von den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts bis zur
Jahrhundertwende in allen Ländern ganz enorm zugenommen hat, so hat er
in einem einzigen Staat mit dem Beginn der 40er Jahre deutlich abgenommen.
Dieser eine Staat ist Norwegen. Und diese Abnahme — es sind große
Zahlen — fällt zeitlich mit der Einführung eines Gesetzes zusammen, auf
Grund dessen es gelungen ist, aus dem früher schnapsverseuchten Norwegen
ein heute ziemlich alkoholarmes Land zu machen.
Lassen Sie mich noch einmal zu den chronischen Wirkungen zurück-
kehren! Ich sehe in der chronischen Wirkung des Alkoholismus eben gerade diese
Abstumpfung des Feinsten der sittlichen Persönlichkeit. Wenn ich selbst dem
Alkohol entsagt habe, so geschah dies nicht aus irgend einem Fanatismus
heraus. Ich habe niemals behauptet, daß eine kleine Dosis Alkohol, gelegent-
lich genommen, einen objektiv erkennbaren Schaden stifte. Ich habe diesen
Schritt getan, weil ich eben nur so zeigen kann, daß man auch ohne Alkohol-
genuß doch frisch, leistungsfähig und arbeitsfreudig sein kann, und ich bin
heute mehr als je der Meinung, daß die Frage, ob der einzelne Mensch
geistige Getränke genießen soll oder nicht, nicht von dem abhängt, was er
etwa selbst vertragen kann, ohne nachweisbaren Schaden zu erleiden. Die
Alkoholfrage ist keine Frage nur des körperlichen oder seelischen Wohlbehagens.
Sie ist heute eine wichtige Frage der Erhaltung unseres deutschen Staates gewor-
den. Es handelt sich um ganz andere Dinge als um das, was uns bekommt. Immer
noch leben wir wie in einer belagerten Festung, immer noch werden wir von
einem haßerfüllten Feinde gedrückt und gekettet, der es uns um so schwerer
macht, je mehr wir Alkohol trinken. Ich denke dabei ganz besonders auch an das
Dawes-Gutachten. Vor allem aber möchte ich das eine erreichen, daß man endlich
einmal jene feste staatsbürgerlihe Gesinnung, jene wirkliche Vaterlandsliebe
lernte, die bereit ist, Alles für das Vaterlad zu tun und nicht jenem etwas
lauten Patriotismus der Festbankette huldigt, dessen Wärme mit der Zahl
der geleerten Gläser ent Ich meine, wenn es wahr ist, was die Kenner
der Alkoholfrage sagen, daß unsere Willenskraft stark wird, daß unser Kopf
klar bleibt, daß es uns leichter wird, freiheitliche Gesinnung festzuhalten,
wenn wir nicht trinken, dann ist es doch unsere heiligste Pflicht, diese
Tatsachen heute in Deutschland in den Vordergrund zu stellen. Wir ringen
tm unsere Existenz als ein großes Kulturvolk, das der Erde noch viel zu
geben hat. Wir müssen jede Möglichkeit, die uns in die Hand gegeben ist,
wahrnehmen, um diesen Kampf siegreich zu Ende zu führen. In der A oneigung
gegen uns, die wir heute diesen St. ıdpunkt vertreten, ist weniger der Mange
an Einsicht wirksam, als jene Scnam über die eigene Schwäche, jenes
schlechte Gewissen, das die anderen haben, die den Alkoholgenuß nicht
meiden können. Daher finden wir sehr viel Widerstand, wenn wir unserem
jungen Volke das zu sagen versuchen, was eigentlich ganz klar und selbst-
verständlich sein sollte: „Laßt diese Gewohnheit, die Eure Gesundheit
gelährdet, die Eure Willenskraft herabsetzt, die nur geeignet ist, das hohe
Ziel zu gefährden, das Euch allen in der Seele brennt: ein freies, großes
Vaterland zu haben!“
Alkohol und Strafrecht*‘).
Von Prof. Dr. Mezger.
Das Thema „Alkohol und Strafrecht“ umfaßt für den Kriminalisten zwei
große Probleme: die Frage nach der tatsächlichen Einwirkung des Alkohols
auf die Begehung der Verbrechen, also die Frage nach der verbrechen-
*) Vortrag, gehalten vor der Tübinger Studentenschaft im Sommer 1925,
326 Abhandlungen.
verursachenden, kriminogenen Bedeutung des Genusses geistiger Getränke,
und die Frage, welche strafrechtlichen Maßahmen nach geltendem Recht zur
Bekämpfung jener Schäden zur Verfügung stehen, welche Forderungen
nach zweckentsprechender Erweiterung wir an eine künftige Gesetzgebung
zu stellen haben. Beide Probleme, das riminogene wie das kriminalpolitische,
sollen uns im folgenden beschäftigen.
Eines der a Hilfsmittel zur Erforschung sozialer Erscheinungen
ist heute die Statistik. In ihren scheinbar trockenen Zahlen verkörpert sie
den Niederschlag aus den lebensvollen Gestaltungen des gesellschaftlichen
Daseins und aus’ ihnen ersteht dem Kundigen die tiefere wissenschaftliche
Einsicht in das mannigfach verschlungene Kräftespiel des menschlichen Zu-
sammenlebens.
Die ersten umfangreichen statistischen Arbeiten auf unserem Gebiet ver-
danken wir Baer (1878); er fand bei seinen Beobachtungen in annähernd IM
preußischen Zuchthäusern und Gefängnissen und etwa 20 Korrektionsanstalten,
daß unter den männlichen Gefangenen etwa 44 % und unter den weiblichen
etwa 18% dem Trunk ergeben waren. Zum Teil noch höhere Zahlen zeigen
die späteren Untersuchungen von Snell und Bonhoeffer: nach den Angaben
des letzteren betrug bei den Trinkern der tägliche Alkoholdurchschnitt ?/ı Liter
Branntwein. Dabei überwiegen nach Hoppe die Säufer im Zuchthaus,
die Rauschdeliquenten im Gefängnis. Neuerdings hat v. Hippel (Deutsche
Strafrecht Band I 562. 1925) an Hand bayrischen Materials aus -dem
Jahre 1910 die bisherigen Forschungen wertvoll ergänzt: Trunkenheit über-
wiegt bei weitem gegenüber dem Einfluß des chronischen Alkoholismus
(8% zu 2%). t/ aller Fälle von gefährlicher Körperverletzung in Bayem
sind Alkoholdelikte;, Totschlag und Körperverletzung mit Todeserfolg ist
(1900 bis 1909 beim Schwurgericht Straubing) zu */s auf Wirtshausbesuc
oder sonstigen Alkoholgenuß zurückzuführen. Insgesamt wurden in Bayern
im Jahre 1910 Alkoholdelikte bei 10,5 % sämtlicher Verurteilter festgestellt.
was übertragen auf die etwa eine halbe Million Verurteilte im ganzen Reich
nicht weniger als 54 000 Personen ergibt, die in einem Jahr wegen Alkohc-
delikten verurteilt werden.
Aber nicht nur die Zahlen als solche sprechen eine beredte Sprache; ganz-
besonders interessant sind die Verbrechensschwankungen und ihre Be
ziehungen zum Alkoholgenuß, die uns die Statistik zeigt. In einer kleiner
Arbeit aus Akten des Bezirksgerichts Zürich vom Jahre 1891 wies der
Untersuchungsrichter Otto Lang nach, daß von 141 verurteilten Personen an
den drei Tagen des Samstag, Sonntag und Montag insgesamt 100, an den
übrigen vier Wochentagen zusammen nur 41 ihre Straftaten begangen haben.
von letzteren zudem der größere Teil nachts oder in Wirtschaften. Sonnabend
ist der übliche Lohntag, Sonntags wird ein Teil des Lohnes vertrunken.
Montags „blau gemacht“. Weitere Untersuchungen in Worms, in den Rhein-
landen, in Heidelberg, in Wien, in Dresden usw. ergaben genau dasselbe Bild:
überall schnellt die Kriminalitätskurve über den Sonntag ganz gewaltig !"
die Höhe. Ein umfangreiches Material der Reichskriminalstatistik für das
ahr 1902 (Band 155. II. 34) bestätigt das Ergebnis. Ueber die richtige
utung dieser berühmten Samstag-Sonntag-Montagkurve herrschen freilich
Meinungsverschiedenheiten: während Aschaffenburg sie im wesentlichen
auf den Alkoholgenuß an den genannten Tagen zurückführt, verweist
der berühmte Statistiker von Mayr zur Erklärung auf die „vergrößerte soziale ,
Reibungsfläche“, die sich an Sonn- und Feiertagen tatsächlich für einen erheb
lichen Teil der Bevölkerung ergibt. Trotz der beachtenswerten Replik
Aschaffenburgs, die auf die niedrigen sonntäglichen Körperverletzungszißern
in Norwegen mit seinem Branntweinverbot an Sonn- und Feiertagen hinweis!
dürfen wir uns nicht mit einer zu einfachen Erklärung jener statistis
Kurve abfinden; der Alkoholverbrauch ist in der Tat nur ein Glied in der
Ursachenkette. Aber: er ist insoweit das für uns wichtigste Glied, als €f
einer moralischen und legalen Beeinflussung, z. B. durch gesetzliche Eim-
schränkung der Alkoholabgabe an den kritischen Tagen, zugänglich ist. Acht
Tr un —_
ba C — -a —
Ld
Mezger, Alkohol und Strafrecht. 327
liches wie für die Samstag-Sonntag-Montag-Kurve gilt für das Ansteigen der
Kriminalität unter dem Einfluß besonderer Fest- und Trinkzeiten des Jahres,
der Kirchweihen, Volksfeste, Faschingstage oder der guten Herbste.
Endlich noch ein Wort über die studentische Kriminalität im besonderen.
Die Reichskriminalstatistik hat sich zweimal — im Jahre 1893 (Band 77.
1. 7) und 1899 (Band 132 II. 48) — speziell mit ihr befaßt. Danach kamen 1893
auf 42000 Studenten 350 und 1899 auf 54000 Studenten 435 Verurteilte.
Besonders ungünstige Verhältnisse im Vergleich mit der Kriminalität anderer
Volksschichten zeigen sich bei Beleidigung (22,2 und 17,9 zu 19,8) sowie bei
Gewalt und Drohung gegen Beamte (14,5 und 13,9 zu 17,4), während Diebstahl
(0,7 und 1,5 zu 51,5), Betrug (0,5 und 3,0 zu 16,4) und gefährliche Körper-
verletzung (15,0 und 9,4 zu 95,8!) sehr günstig abschneiden. (Nähere Erklärung
der Verhältnisziftern bei Aschaffenburg: Das Verbrechen und seine Be-
kämpfung, 3. Auflage 1923. S. 89/90.) Als bei zukünftigen Richtern, Lehrern
und. Aerzten besonders betrübend -bezeichnet Aschaffenburg das häufige Vor-
kommen des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamtee Auf der anderen
Seite übersieht er freilich die konene erfreuliche Tatsache, daß im Vergleich
der Jahre 1893 und 1899 innerhalb der studentischen Kriminalität Beleidigung
(22 zu 17,9), gefährliche Körperverletzung (15,0 zu 9,4), Gewalt und
NUDE gegen Beamte (14,5 zu 13,9) eine deutliche Abnahme, dagegen
Diebstahl (0,7 zu 1,5) und Betrug (0,5 zu 3,0) eine auffallende Zunahme zeigen.
Neben der Statistik gibt es noch einen zweiten Weg, um den Zusammen-
a. zwischen Alkohol und Verbrechen nachzugehen: den der kriminal-
psychologischen Vertiefung.
In dieser Beziehung ist zunächst ein Blick auf diejenigen Deliktsgruppen
lehrreich, bei denen nach den Erfahrungen des Kriminalisten der Alkohol
eine besonders wichtige Rolle spielt. Im er stehen natürlich
Gewalttätigkeitsdelikte aller Art, angefangen bei der Beleidigung, Nachtruhe-
störung und Sachbeschädigung bis zur gefährlichen und tötlichen Körper-
verletzung, zum Widerstand egen die Staatsgewalt, zum Hausfriedensbruch,
zur Störung der öffentlichen Or nung: zum Raub, zum Totschlag. Aber auch
Vermögensdelikte fehlen nicht, wenn Bier, Wein oder Schnaps die moralischen
Hemmungen löst, wie Diebstahl, Betrug, verbotenes Glücksspiel, dann Berufs-
und Amtsverbrechen, Transport- und Verkehrsgefährdungen, gemeingefähr-
liche Verbrechen, Brandstiftungen usw. Ganz besonders verhängnisvoll aber
tst die Kombination des Alkohols mit zwei Faktoren: mit der Massen-
S tion und mit dem Geschlechtstrieb. Die moderne Psychologie lehrt uns,
daß der Mensch als Glied einer kriminellen Masse in geradezu erschreckendem
Maß das persönliche Verantwortungsgefühl verliert und Dinge begeht, zu.
denen er als einzelner vorher wie nachher niemals fähig gewesen wäre. Bis
zu unerhörten Scheußlichkeiten und mehr als tierischen Verzerrungen aber
ea sich dieser Umstand, wo die Wirkung des Alkohols hinzutritt.
Und ganz Aehnliches gilt für die Kombination mit dem Geschlechtstrieb.
Schon das Sprichwort sagt: Die zwei großen V (Vinum et Venus) geben das
große W. Es ist eine tausendfach bestätigte Erfahrungstatsache, daß der
Alkoholgenuß mächtig erregend auf die geschlechtliche Begierde wirkt und
‚ was besonders verhängnisvoll ist, die erotische und geschlechtliche
Erregung auch dann noch anhält, wenn auf den übrigen körperlichen und
geistigen Gebieten die lähmende und erschlafiende, alle vernünftige Ueber-
egung hemmende Wirkung des Alkohols sich bereits geltend macht. So
resultieren exhibitionistische und homosexuelle Akte, Mißbrauch von Kindern,
Verführung, Vergewaltigung, Inzest, sexuelle Grausamkeiten; dazu die Eifer-
suchtstaten des chronischen Alkoholisten. Hier ist auch der Ort, wo der
Kriminalist von so manchen tief tragischen Folgen eines oft nur vereinzelten
gelegentlichen Alkoholexzesses zu erzählen weiß. Daß endlich bei allem,
was mit Prostitution — dem weiblichen Gegenstück des Verbrechens (Lom-
broso) —, Kuppelei und Zuhältertum zusammenhängt, der Alkohol eine
gewaltige Rolle spielt, ist bekannt. Zwar: jene sentimentalen Geschichten, wo
der vornehme Herr beim Wein das unschuldige Mädchen aus dem Volke
328 Abhandlungen.
verführt und nachher auf die Bahn der käuflichen Liebe stößt, sind größten-
teils erfunden; die Defloration der-meisten Prostituierten — en schon
zwischen dem 15. und 19. Jahr — fällt, wie eingehende Untersuchungen
en haben, meist ihresgleichen zur Last, „die Mädchen aus dem Volk
fallen durch das Volk, die erste Blüte ihrer Schönheit und Jungfräulichkeit
gehört ihresgleichen“. Auch was über eigenen und elterlichen Alkoholismus
angegeben wird, ist meist gelogen. Dagegen scheint nach den Untersuchungen
von Bonhoeffer, Hoppe, Hübner u. a. bei den sogenannten Spätprostituierten
(nach dem 25. Lebensjahr) der chronische Alkoholismus in der Tat ein wesent-
liches ursächliches Moment abzugeben. Verhängnisvoller noch wird der
Alkohol den Opfern des Liebesgewerbes. Die „industrie d’amour“ in ihren
mannigfach verzweigten Formen kennt diese psychologische Wirkung de
Alkohols und er darf deshalb nirgends fehlen, nicht in den gefälschten Süd-
weinen der Animierkneipe und nicht im echten französischen Sekt des ek-
ganten Chambre separee. So waltet Bacchus verderblich in all’ diesen Brui-
stätten des Verbrechens und der volksverzehrenden geschlechtlichen Er-
krankung.
Die neuzeitliche experimentell-psychologische Forschung ist den seelischen
Gründen und Tiefen all dieser Erscheinungen erfolgreich näher gerückt. Ver-
dienstvoll sind hier insbesondere die Versuche, die Rraepelin und seine Schüler
seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts angestellt haben. Nach ihnen
findet schon durch verhältnismäßig geringe Mengen Alkohol, die etw:
1/3 bis ?/a Liter Bier entsprechen, eine deutliche Herabsetzung der geistigen
Leistungsfähigkeit in Gedächtnis, Addition einfacher Zahlen, begrifflicher
Assoziation usw. statt. Danebenher geht eine verkürzte Reaktion auf äußere
Reize, und zwar auf Kosten der Zuverlässigkeit. Die psychische Verarbeitung
des Reizes erfolgt oberflächlich oder gar nicht; es kommi zu reflexartigeı
„Kurzschlüssen“ und zu vielfachen „Fehlreaktionen“. Die psychische Tätigkeit
des Ueberlegens kommt durch die erhöhte nn zu kurz.
Es ist, sobald wir nur den nötigen Uebersetzungsschlüssel besitzen, genau
dieselbe Dune hier im Laboratorium wie draußen im Leben: da
i
„Reiz“ bildet ein Schimpfwort, eine Drohung, eine sexuelle Anregung — die
„verkürzte Reaktion“, die Beleidigung, der Schlag mit der Faust, dem
Stock oder dem Bierglas, der Stich mit dem Messer, der unüberlegte
geschlechtliche Akt. Diese erhöhte Reizbarkeit und Erleichterung der be
wegungsauslösung wirkt dabei erfahrungsgemäß oft auch später noch am
Tage nach dem Rausch, im Katzenjammer, nach.
Merkwürdig aber bleibt bei alledem die Buntheit der alkoholischen
Kriminalität, das Ueberraschende, in dem sie sich bei sonst oft ganz anders
earteten Menschen äußert. Man hat längst gewußt, daß antisozialt
edanken und Triebe in der Seele auch der besten Menschen schlummern.
aber erst die tiefer dringende psycho-analytische Erfahrung unserer Tag?
erschließt uns die wirklichen inneren Zusammenhänge. Nach ihr sind die
Vorstellungen und Impulse nicht mehr wie Männerchen, die beliebig un
zufällig von außen her auf die Bühne des Bewußtseins treten und, nachdem
` sie ihre Rolle gespielt, von ihr wieder spurlos und wirkungslos verschwinden.
Auch das Seelenleben des Menschen stellt, ähnlich wie der Bau seine
Körpers, einen unendlich komplizierten und in sich geschlossenen Organismus
dar, der nur mit seinen obersten Spitzen in das klare Licht des Bewußtseins
reicht und auf dessen unbewußtem Grunde seelische Urmechanismen aus den
phylogenetischen und ontogenetischen Vorstufen der Entwicklung — über
deckt und überlagert, aber nicht erdrückt von späteren Entwicklungstormen
— ihre mächtige Wirksamkeit entfalten. Der Mensch bedarf dieser Urtriebe
zum Leben so nötig, wie er im Körperlichen vieler Organe bedarf, die WI
bereits in niederen Tierklassen vorgebildet finden. Primitives, kindlich
infantiles und „unterbewußtes“ Seelenleben treten mit dieser Erkenntnis M
ganz neue gegenseitige a i die ihrerseits Licht und Verständnis 1
rätselhafte Vorgänge des genialen, mythologischen, traumhaften, wie (©
kranken und des verbrecherischen Seelenlebens werfen. Von hier aus wird °S
Mezger, Alkohol und Strafrecht. 329
verständlich, wenn man den echten Verbrecher als einen „atavistischen“
Rückschlag (Lombroso) bezeichnet und ihn sogar mit dem unschuldigen
Kind wie mit dem Urmenschen und Wilden in Parallele gestellt hat. Von
bier aus wird aber auch verständlich, was schon Goethe und was Nietzsche
in seinem Wort an den roten Richter und vom bleichen Verbrecher klar
erkannt haben und was die moderne Kriminalpsychologie als „latente
- Kriminalität“ bezeichnet: in jedem Menschen leben in der Verborgenheit
der Seele unzählige verbrecherische Neigungen und Impulse, die eine
Macht darstellen. Diese reflektorischen und hypobulischen Seelenmechanismen
sind beim sozial angepaßten Menschen überlagert, reguliert und im Zaum
halten von dem bewußten „Zweckwillen“. Das alkoholische Gift löst und
ähmt diese oberste, entwickeltste Seelentätigkeit; die latenten verbrecherischen
Triebe gelangen, wenn der „Zweckwille“ in dieser Weise abgelenkt ist,
ungehemmt zur Entfaltung. So offenbart der Mensch gar oft im Rausche seine
„wahre Natur“. jene sonst verborgene Tiefenmechanismen treten an die
Oberfläche und treiben den Täter zu sonst ungekannten Handlungen, die er
selbst nach vollbrachter Tat nicht versteht und von denen er sich nicht
erklären kann, wie er „sich so vergessen konnte“.
Nur auf der Grundlage exaktester Tatsachenforschung ist eine wirklich
erfolgreiche Bekämpfung der schweren Schädigungen möglich, die der Alkohol
: md seine kriminellen Folgen unserem Volksleben zufügen. Von hier aus
muß der Kriminalist auf Mittel sinnen, Schädigungen Herr zu werden.
Freilich: die strafrechtliche und kriminalpolitische Bekämpfung ist nur eine _
Seite der Sache; sie muß ihre Er ancug in einer weitergreifenden, all-
gemeinen Sozialpolitik und sozialen Arbeit inden. So vermag der Kriminalist
nur einen bescheidenen Ausschnitt aus dem Ganzen zu geben.
Nahezu vollständig versagt das geltende deutsche Strafrecht im Kampfe
gegen den Alkoholismus als Verbrechensfaktor. Trunkenheit, sofern sie den
ordernissen des $ 51 StGB. entspricht, d. h. einen die freie Willens-
bestimmung ausschließenden Zustand von Bewußtlosigkeit oder krankhafter
Störung der Geistestätigkeit bedeutet, führt wegen Unzurechnungsfähigkeit zur
e precius von der begangenen Tat. Geringere Grade der Berauschung
gewähren — abgesehen von Sonderbestimmungen — „mildernde Umstände“
oder eine mildere Bestrafung innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens, was
man nicht ohne Grund das „Gegenteil einer Bekämpfung“ genannt hat. Im
übrigen soll nach $ 361 Ziff. 5 StGB. derjenige mit Haft bestraft werden,
der sich dem Trunk dergestalt ergibt, daß zu seinem Unterhalt und zum
Unterhalt derer, zu deren Ernährung er verpflichtet ist, durch Vermittlung der
Behörde fremde Hilfe in Anspruch genommen werden muß. Das ist alles,
was uns das geltende Strafrecht zur Lösung eines unendlich wichtigen
. kriminalpolitischen Problems an die Hand gibt. In seiner Dürftigkeit kann
es auch von den dürftigsten Wünschen nicht unterboten werden.
= So müssen wir unsere Blicke und Hoffnungen von der Gegenwart in
die Zukunft, zu den Fragen der Strafrechtsreform, richten.
Die erste wichtige Frage, der wir hier begegnen, ist die nach der
Bestrafung der im Rausch begangenen Straftaten. Eine Radikalreform
wird vielleicht geneigt sein, auf die Betrunkenheit zur Zeit der Tat
überhaupt keine Rücksicht zu nehmen, d. h. den Betrunkenen stets und
so zu bestrafen, wie wenn er die Tat in nüchternem Zustand begangen
hätte. Dies ist, wenigstens im Punkte der sog. Zurechnungsfähigkeit, der
Standpunkt des italienischen Vorentwurfs vom Jahre 1921, dessen geistiger
rheber Enrico Ferri ist und der die extremen Forderungen der modernen
soziologischen Schule zu verwirklichen bemüht ist. Er hält (Denkschrift
Seite 59/61) im Gedanken an die symptomatische Bedeutung der Handlung für
die Persönlichkeit des Täters an der Verantwortlichkeit für jedes begangene
ikt fest, und zwar auch für ein solches, das von „zufällig“ Berauschten
vollzogen wird, d. h. von denjenigen, bei denen die Berauschtheit nicht nur
nicht gewollt, sondern auch nicht einmal vorausgesehen war, weil ihnen z. B.
von fremder Seite ohne ihr Wissen Alkohol beigebracht worden ist. Mit
r
330 Abhandlungen.
Recht haben alle deutschen und schweizerischen Entwürfe diesen Standpunkt
nicht eingenommen. Sie alle halten an dem für uns Kriminalisten heute
unverrückbaren Satze fest: „Keine Strafe ohne Schuld und Strafe nach Maß-
gabe und Umfang der konkreten Schuld des Täters“. Dabei kommt es nicht
auf die Schuld am Rausch an, sondern auf das Verschulden an der im Rausch
begangenen Tat.
Auch künftig werden also die äußersten Grade der Berauschung zur
Unzurechnungsfähigkeit führen müssen. Aber unsere kriminalpsychologischen
Erwägungen können sich schon an diesem Punkte fruchtbar erweisen:
alltägliche wie forensische Erfahrung lehrt, daß im Rausch ein höheres Maf
von Selbstbeherrschung möglich und deshalb zu fordern ist, als bei ent-
sprechenden Störungen des psychischen Lebens durch wirkliche Geistes-
krankheiten oder durch andere, dem Täter unbekannte Gifte. Offenbar haft:
die vorübergehende Vergiftung durch Alkohol mehr an der Oberfläche, und
offenbar bedeutet die Kenntnis der Erscheinungen ein nicht zu unterschätzendes
Palliativ gegen deren Wirkung. Trotz gewisser Einwendungen von medi-
zinischer Seite werden wir also daran lesthalten, beim Alkoholrausch die
Grenzen der Unzurechnungsfähigkeit wesentlich enger, demgemäß die der
Zurechnungsfähigkeit wesentlich weiter zu ziehen, als bei sonstigen geistigen
Erkrankungen. Darin liegt nach dem Gesagten durchaus nichts Wider-
sinniges. Auch werden wir nur dort zur Unzurechnungsfähigkeit gelange!
können, wo die Tat wirklich ein persönlichkeitsfremdes Ereignis im Leben
des Täters darstellt. Dem scheint ım großen Ganzen die gerichtliche Praxis
schon heute zu entsprechen: Freisprechungen wegen Unzurechnungsfähigkeit
im Rausch sind tatsächlich nicht sehr häufig (vgl. Begr. VorE. 1909 S. 29):
in Bayern finden sich im Jahre 1910 unter 8864 Fällen bei denen der Alkobs!
als Ursache des Deliktes angegeben wird, nur 150 Fälle.
Unzurechnungsfähigkeit wegen Trunkenheit soll also auch künftig möglich
sein. Ja wir müssen noch einen Schritt weitergehen: auch Strafmilderung
innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens oder Zubilligung sogenannter mil-
dernder Umstände wegen Begehung der Tat im Rausch werden wir nich!
grundsätzlich ausschließen, wogegen allerdings der im deutschen Vorentwur!
von 1919 8 63, StE. 1919 § 18, Amtl. E. 1925 § 17 wie im österreichische:
Gg. E. 1922 8 10 Abs. 2 Satz 2 im Gegensatz zum schweizerischen Reg.E. 1913
Art. 11 vorgesehene Ausschluß der sog. verminderten Zurechnungsfähigkei
bei selbtverschuldeter Trunkenheit durchaus zu billigen ist. Es kommt auch
hier für die Bestrafung auf die Schuld des Täters im Zeitpunkt der Tat an.
und diese kann gemildert sein, wenn ihm der Alkohol die Sinne umnebei
und die Herrschaft über sich selbst raubt. Und doch weisen auch hier,
unsere früheren kriminalpsychologischen Erwägungen in eine Richtung, die
noch viel zu wenig in unserer gerichtlichen Praxis eingehalten wird. Die
Alkoholwirkung äußert sich, so haben wir gesehen, entweder darin, daß sie |
die unmittelbar unter dem „Zweckwillen“ vorhandene rohe und brutale oder
in anderer Richtung verbrecherische Gesamtpersönlichkeit des Täters nur
ungehemmter und rücksichtsloser zur Entfaltung kommen läßt, oder aber
darin, daß sie ganz außergewöhnliche, dem Täter und seiner Persönlichkeit
sonst völlig fremde psychische Regungen aus der Tiefe seiner Urtriebe eruptiv
an die Oberfläche treibt. Nur im zweiten Fall kann von einer Milderung die
Rede sein, während dort, wo die Alkoholtat nichts anderes als den adäquaten
Ausdruck der Täterpersönlichkeit darstellt, nach richtiger Auffassung die
volle Schuld besteht und jede mildernde Berücksichtigung des Alkohols
ausscheiden muß. Wenn einmal mehr als heute die bsycholopische Betrachtung
der Verbrechen Eingang in unsere Gerichtssäle gehalten hat, dann wird es
Sache des Richters sein, in jedem Fall eines Alkoholdeliktes eine genaue
Erforschung der gesamten Persönlichkeit des Täters eintreten zu lassen, die
auch vor den Tiefen des unbewußten Seelenlebens nicht Halt macht, um s0
die jeweiligen Beziehungen der Tat zur Gesamtpersönlichkeit völlig klar- und
sicherzustellen.
Be, (er REN Be Ren Son nn für er a EE
Mezger, Alkohol und Strafrecht. 331
Die bisherigen Vorschläge haben vielleicht manchen enttäuscht. Sie
drängen zwar zu einer tieferen psychologischen Erfassung des Alkoholismus
in foro, aber sie lehnen es doch nachdrücklich und bestimmt ab, an den Grund-
lagen des geltenden Rechts zu rütteln. Jene Enttäuschung wäre berechtigt, wenn
wir den bisherigen Ausführungen nichts hinzuzusetzen hätten. Aber noch
gilt es hinzuweisen auf eine fast unbegreifliche Lücke des geltenden Strafrechts
ım Kampfe gegen den kriminellen Alkoholismus: Das geltende Recht berück-
sichtigt zwar in grundsätzlich richtiger Weise das Problem der Schuld
an der Alkoholtat als solcher, aber es übersieht ganz die Schuld des Täters
daran, daß er sich betrunken hat. Diese Schuld kann eine sehr erhebliche sein;
man denke etwa an Fälle, in denen der Täter genau weiß, daß er im Rausch
für andere und für die Allgemeinheit höchst gefährlich wird. Diese Schuld
uctige Licht zu stellen, wird daher unsere nächste kriminalpolitische.
u sein.
nannehmbar sind in dieser Richtung — weil sie die Tat, nicht die
Trunkenheit strafen — die Vorschläge des Gesetzesentwurfs vom 23. März 1881
(R.-Tagsdrucks. Nr. 70), bei Anwendung des § 51 StGB. die Alkoholtat nach
versuchsgrundsätzen zur Verantwortung zu ziehen, oder des -Vorentwurfs
1009 8 64, die Fahrlässigkeitsstrafe eintreten zu lassen, wo nach sonstigen -
Bestimmungen das Delikt fahrlässig begangen werden kann; dies würde
zu dem sinnlosen Ergebnis führen, daß zwar eine im Vollrausch begangene
leichte Körperverletzung, nicht aber eine im ae Zustand begangene
Notzucht bestraft werden könnte. Was wir vom künftigen Strafgesetz fordern,
ist: Bestrafung der selbstverschuldeten Betrunkenheit, wenn in ihr generell
voraussehbar eine Straftat begangen wird, ohne Beschränkung auf bestimmte
Arten von Straftaten, neben der sonst üblichen Strafe für die Tat selbst und
abhängig, von dieser, auch wenn sie wegen Unzurechnungsfähigkeit des
Täters im Einzelfall ausscheiden sollte. Das Gesetz müßte hierbei dem Richter
einen sehr weiten Strafrahmen zur Verfügung stellen — einen viel weiteren
als Amtl. E. 1925 § 335 — und bestimmen, daß die Trunkenheitsstrafe nach
der Schwere des im Rausch begangenen Delikts genau abgestuft werde.
Solche Abhängigkeit der Strafe vom konkreten Erfolg ist durchaus nichts
Neues und besfeufer keinerlei Widerspruch zum a E wir folgen ihr
a bei unseren Fahrlässigkeitsstrafen. Mit dieser Art der Regelung
en die Bedenken, die bei Besprechung des VorE. gegen ein solches
„abstraktes Gefährdungsdelikt“ erhoben worden sind. So ergäbe sich folgender
vorschlag als § 330a (gemeingefährliches Vergehen) des RStGB:
„Wer sich durch eigenes Verschulden in Trunkenheit versetzt, wird,
wenn er bei genügender Aufmerksamkeit mit einer Gesetzesverletzung
rechnen konnte und in der Trunkenheit eine mit Strafe bedrohte Handlung
begeht, mit Gefängnis oder Geld bestraft. ®
‚ „Die Strafe wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Täter für die
in der Trunkenheit begangene Tat nach § 51 nicht verantwortlich gemacht
werden kann; sie soll sich nach der Schwere der begangenen Tat bemessen
und darf die auf die Tat angedrohte Strafe nicht überschreiten.“
gie und umstritten ist es unter den Kriminalisten, ob die Trunken-
heitsstrafe über den bisherigen Rahmen hinaus auch dort zur Anwendung
kommen soli, wo der betrunkene Täter — ohne daß es zur Begehung einer
ım Rechtssinne strafbaren Handlung käme — durch seinen Rausch eine grobe
Störung der öffentlichen Ordnung, eine persönliche Gefahr für andere, ein
Aergernis, eine Gewalttat gegen Person oder Sache (Komm. E. 1913 $ 417)
oder ähnliches veranlaßt. Gegen eine Bestrafung der ärgerniserregenden
Trunkenheit auf der Straße hat man geltend Semacht, ihre Verfolgung hänge
zu sehr vom zartfühlenden Gemüt des Schutzmanns ab, sie wirke unsozial
und bedeute im Grunde nur das Gebot: „Nimm dir eine Droschke!“ Ich
möchte sie gleichwohl für erwägenswert halten.
r auch damit sind wir noch nicht zu Ende. Als im Jahre 1893 der
von Carl Stooß verfaßte Vorentwurf eines Gesamtschweizerischen StGB.
erschien, brachte er eine überraschende Neuerung, welche die bisher in zwei
iE Bimm. a. -
332 Abhandlungen.
Kampflager scharf getrennten Kriminalisten plötzlich auf eine gemeinsame
Parole friedlich einigte: den Vorschlag, neben die Strafe im alten Sinn
besondere, von der Schuld des Täters unabhängige sogenannte sichernde Maß-
nahmen zu stellen. Seitdem ist dieser Gedanke Gemeingut der Kriminalisten
aller Länder geworden und insbesondere auch in sämtliche deutsche Entwürfe
eingedrungen. Im Kampfe gegen den Alkoholismus finden wir hierbei ım
wesentlichen drei Maßnahmen: das Wirtshausverbot, die Trinkerheilanstalt
und die Schutzaufsicht.
Von dem sog. Wirtshausverbot verspreche ich mir wenig; seine praktische
Durchführbarkeit ist, namentlich in größeren Städten, äußerst fraglich; es
schädigt das Ansehen der Behörden. Um so mehr Beachtung verdienen die
Vorschläge, im bisherigen Rahmen des Strafverfahrens die Unterbringung des
Trunksüchtigen in einer Trinkerheilanstalt zu ermöglichen oder ihn in
leichteren Fällen wenigstens unter Schutzaufsicht zu stellen; verbunden mit
einer besseren Ausgestaltung der Entmündigung wegen Trunksucht, ins-
besondere durch Gewährung des bisher fehlenden Antragsrechts des Staats-
anwalts ($ 680 ZPO), würden wir damit eine Dreiheit von Maßregeln
besitzen, von der wir bei zweckentsprechender Anwendung in der Tat vieles
in der Bekämpfung des kriminellen Alkoholismus erhoffen dürften. In Englani
ist durch die Inebriates Act vom Jahre 1898 die Einweisung in die Trinker-
heilanstalt schon weitgehend ermöglicht, wenn auch die zu engen Voraus-
setzung usw. die praktische Bedeutung bisher noch gehemmt haben.
Ueber diese englische Inebriates Act berichtet Loewenfeld in den
Mitteilungen der Internationalen kriminalistischen Vereinigung XIX, 68. Inĝ!
ist bei Verbrechen oder Vergehen unter dem Einfluß von Trunkenheit, in $ ?
bei viermaliger öffentlicher Betrunkenheit die gerichtliche Unterbringung eines
Gewohnnheitstrinkers in einer Trinkerheilanstalt bis zu drei Jahren vorgesehen.
Bis zum Jahre 1908, also in 9 Jahren, ist von § 1 in nur 400 Fällen —
ei der komplizierten Gerichtszuständigkeit —, von § 2 bei 1,75 Millionen
Gefängnisstrafen wegen Ausschreitungen in der Trunkenheit in nur 260
Fällen (— 0,65%) — wegen ae Auslegung des Begriffs „Habitual
Drunkard“ (Gewohnheitstrinker) und wegen der nach dem Gesetz erforder-
lichen Häufung der Fälle — Gebrauch gemacht worden. Die gesetzlich
eh viermalige Betrunkenheit hindert vielfach die rechtzeitige Unter-
ringung. ,
Auch der jetzt vorliegende deutsche Amtliche Strafgesetzentwurf 195
% 44, 46 Abs. 4 und 51 sieht Trinkerheilanstalt und Schutzaufsicht ım
ampfe mit dem kriminellen Alkoholismus vor.
ie Wirksamkeit aller derartiger Maßnahmen hängt immer und
überall von zwei Bedingungen ab: von der rechtzeitigen Anordnung der
Maßregel und von ihrer Anpassung an die ‚Besonderheiten des Einzelfalles.
Die Entmündigung hat bisher versagt, weil sie stets zu spät kam. Was wir
brauchen, ist ein elastisches System von Maßregeln, das auf der einen Seite
den kriminellen Alkoholiker nicht unnötig der gewohnten Arbeit und der
Freiheit entzieht und doch auf der anderen Seite, wenn sich Gefahren zeigen.
so rasch und so unmittelbar einzugreifen in der Lage ist, daß sich diese
Gefahren für andere und die Allgemeinheit nicht auszuwirken vermögen. Die
bisher besprochenen Maßregeln geben an sich hierzu den geeigneten Rahmen,
bedürfen aber noch der Verbesserung.
Gegen die Bestimmungen des Strafgesetzentwurfs 1919 über Maßregeln
der Besserung und Sicherung ($ 88 ff) hat Exner bei der I. K. V. Jena 192!
(S. 48/50) mit Recht als fehlerhaft geltend gemacht, daß die Anordnung
nicht auch bedingt erfolgen könne. Es wäre ganz gut, wenn der Trinker
es „schwarz auf weiß hat, daß die Fortsetzung seines Lebenswandels ibt
mit Gewißheit in das Trinkerhaus bringt“. Auch der amtliche Entwurf 1
kennt leider keine bedingte Anordnung, sondern nur in § 49 II die Emt-
lassung auf Probe. Dies sollte ergänzt werden. |
Zu verkennen ist freilich nicht, daß die Durchführung des gewünschten
elastischen Systems im einzelnen, vor allem hinsichtlich der Schutzaufsicht
Mezger, Alkohol und Strafrecht. 333
die höchsten Anforderungen an die Beteiligten stellt. Noch mehr als
anderswo hängt schließlich auch hier der Erfolg von den Menschen
ab und nicht von den Maßnahmen. Sache der Gesetzgebung aber ist es,
dem zur Arbeit willigen Menschen die nötigen legislativen Maßnahmen
zur Verfügung zu stellen. Von ihnen ist zu fordern, daß sie alles, was
die verwaltungsmäßige Leitung anlangt,’in einer straffen, zum raschen Ein-
greifen bereiten Hand konzentrieren. Als solche bietet sich, da es sich um
kriminelle Bekämpfung handelt, die Hand des Staatsanwalts, nicht die der
Verwaltungsbehörde. Wir verlangen zu seinen Gunsten neben der Mitwirkung
bei der Durchführung der sog. sichernden Maßnahmen die Möglichkeit, die
Entmündigung des Trunksüchtigen zu beantragen und dementsprechend in
80 ZPO die Streichung des Äbs. 4 und im Abs. 3 der Worte „Abs. 1“.
Die Einzelausführung aber sollte nach Möglichkeit den freiwilligen Organi-
sationen der Trinkerfürsorge übertragen werden. Zum Schutze der indivi-
duellen Freiheit endlich ist zu fordern, daß alle endgültigen Maßnahmen durch
das Gericht zu geschehen haben. So ergäbe sich etwa, als Ergänzung des
bisherigen § 39 StGB. folgender Gesetzesvorschlag:
$ 39a (1): Wird jemand wegen eines Verbrechens oder Vergehens,
dessen Begehung auf Trunkenheit oder gewohnheitsmäßigen Mißbrauch
geistiger Getränke zurückzuführen ist, zur Strafe verurteilt, oder nach
§ 51 freigesprochen, oder außer Verfolgung gesetzt, und hat die Unter-
suchung ergeben, daß er ein für andere gefährlicher Gewohnheitstrinker
ist, so stellt das Gericht dies ausdrücklich test.
(2) Sofern es die öffentliche Sicherheit erfordert, ordnet das Gericht
seine Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt an; die Anordnung kann
auch erfolgen für den Fall, daß er eine ihm erteilte Enthaltsamkeits-
auflage übertritt.
(3) Andernfalls unterstellt ihn die Staatsanwaltschaft für die Dauer
von 5 Jahren der Schutzaufsicht. Sie ist, soweit möglich, solchen Organi-
sationen der Trinkerfürsorge zu übertragen, die vom Gericht ein für
allemal als hierzu geeignet bezeichnet sind.
8 39b (1): Die Sehutzauf.ichi soll den Betroffenen an ein gesetzmäßiges
Leben gewöhnen, vor neuen Straftaten bewahren und sein persönliches und
wirtschaftliches Fortkommen fördern.
(2) Wenn sich derselbe erneut dem Trunke ergibt, oder durch seine
Neigung zum Trunke neue Straftaten befürchten läßt, so ordnet vorläufig
die Staatsanwaltschaft und endgültig das Gericht seine Unterbringung in
einer Trinkerheilanstalt an.
8 39c (1): Die Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt darf ins-
gesamt nicht länger als 5 Jahre dauern.
(2) Die Entlassung erfolgt durch Beschluß des Gerichts, wenn der
Zweck der Maßregel erfüllt ist; ist die Frist noch nicht verstrichen, so
geschieht die Entlassung für den Rest auf Probe.
8 39d: In allen Fällen ist der Betroffene eingehend über die aus-
gesprochenen und die ihm drohenden Maßregeln durch die Staatsanwalt-
schaft persönlich zu belehren. Soweit erforderlich, können die Maßregeln
oa im Vorverfahren vorläufig durch Gerichtsbeschluß angeordnet
werden.
Alkohol und Wehrkraft”).
Von Oberstleutnant M uff in Tübingen.
Die Aufgabe des heutigen Vortrags, in die Worte „Alkohol und
Wehrkraft“ gefaßt, bedeutet nichts mehr und nichts weniger als die Zu-
Sammenfassung, Zusammenwertung all’ der übrigen Vorträge dieser Vortrags-
*) Vortrag, gehalten vor der Tübinger Studentenschaft im Sommer 1925,
334 | Abhandlungen.
reihe. Außer äußeren Gründen nicht, wie ursprünglich geplant, an das Ende
der Veranstaltung genommen, wäre er demnach doch deren Aufgipfelungg.
Denn was ist die Wehrkraft eines Volkes anderes als die Zusammen-
fassung aller ihm innewohnenden Kräfte auf das eine, wichtigste Ziel der
Selbstbehauptung, der Erhaltung seines Eigenlebens innerhalb des Beieinander-
lebens, Nebeneinanderlebens, Gegeneinanderlebens der rassenmäßig, kulturell
oder geschichtlich in Völker aufgeteilten Menschheit. |
Wehrkraft ist die Zusammenfassung aller Kräfte eines Volkes für den
geschichtlichen Augenblick, wo das Schicksal in Gestalt des Kri ein
unerbittliches Urteil über Wert oder Unwert dieses Volkes fällt. ir, die
wir noch ganz unter dem Eindrucke und den Wirkungen eines solchen Schick-
salsspruches stehen, wissen, wie sehr eine jede Aeußerung menschlichen
Einzel- und Gemeinschaftslebens ihren Anteil an der Stärkung oder Schwä-
chung der nationalen Wehrkraft besitzt. Den geistigen Kräften nicht minder
als den wirtschaftlichen, den sittlichen nicht weniger als den körperlichen fällt
eine ausschlaggebende Rolle nach der einen oder anderen Seite hin zu. Und
wenn wir im Laufe dieser Vortragsveranstaltung über das Verhältnis von
Alkoholismus und physischem, psychischem, gesellschaftlichem, rechtlichem.
wirtschaftlichem und sittlichem Leben unseres Volkes en hören, so
werden damit bereits die wichtigsten Pfeiler berührt, auf denen die Krafı
eines Volkes ruht, die wir eben im Hinblick auf das examen rigorosum des
Krieges Wehrkraft nennen.
s bliebe mir daher im Grunde nichts anderes zu tun übrig, als die
Summe aus den Vorträgen zu ziehen, die vor dem meinigen gehalten wordeu
sind und noch gehalten werden sollen, und dabei den nach dem Gesagten
kaum mehr nötigen Nachweis zu führen, daß alle Ansatzpunkte für den
Angriff des Giftes Alkohol auf einem jener Sondergebiete unsers Volksleben:
zugleich Fäulnisstellen an unserer Wehrkraft darstellen, die schließlich zur
Unterhöhlung der ganzen Kraft führen können. Diese Summe zu ziehen.
möchte ich aber den Hörern dieser Vorträge selbst überlassen. Der kurze
Hinweis auf die alles überspannende Bedeutung des Begriffs „Wehrkrait"
dürfte genügen, um die behandelten Einzelfragen in den großen Zusammen-
hang einzufügen.
Ich will mich heute darauf beschränken, die Bedeutung der Frage des
Alkoholismus für den Körper zu behandeln, in dem die Wehrkraft des
Volkes sich darstellt, in dem sie ihren sichtbaren Ausdruck findet. Das ist
seine Wehrmacht, sein Heer.
Aber auch hierbei ist es nicht mE die Frage losgelöst von den
übrigen bereits besprochenen oder noch zu besprechenden zu behandeln.
Denn selbst ein stehendes Heer führt kein absolutes Sonderdasein im großen
Körper des Volkes, bildet keine rings abgeschlossene Zelle, wie man ihm
fälschlicherweise vielfach vorwarf und heute vielleicht noch mehr vorwirft
Sondern die einem Volke innewohnenden Kräfte und Schwächen wirken sich
auch in seinem Heere aus. Ein dem Alkoholgenuß huldigendes Volk wird
auch das entsprechende Heer besitzen und zwar um so mehr, wenn dieses ein
Heer der allgemeinen Wehrpflicht, wie bei uns vor dem Kriege, oder gar en
Volksheer wie im Kriege ist.
Dabei leuchtet aber ein, daß im Heere infolge der Geschlossenheit und
willensmäßigen Einheitlichkeit seines geistigen und materiellen Lebens die
ee e des Volkskörpers eine gesteigerte Auswirkung finden können,
daß dort Tugenden und Laster desselben ganz besonders deutlich zutage
treten. In diesem Sinne kann man der Einstellung des Heeres zur Alkobol-
frage symptomatische Bedeutung für das ganze Volk beilegen. Andererseits
kann aber auch das straff geführte, von einheilicher Gesinnung erfüllte Heer
ar wohl den Fruchtboden abgeben, auf dem Bestrebungen zur Heilung von
rankheiten am Volkskörper besonders gut gedeihen können. Das Heer kam
ebensogut Schrittmacher auf dem Gebiete der Alkoholbekämpfung werden, als
in ihm die Alkoholverhaftetheit eines Volkes seine teigerte Aeuberurg |
finden kann. Und hier scheint mir die Tatsache der Feststellung wert, dad
Muff, Alkohol und Wehrkraft. 335
.
e kleiner ein Heer ist, auf je geringerer Basis im Volke es ruht, es um so
eichter allgemeinen Einflüssen völkischer Untugenden entzogen werden kann.
‚ Dies trifft für unser kleines Freiwilligenheer zu. Wie dieses Heer, das den
- verächtlichen Namen Söldnerheer für sıch durchaus ablehnt, sich als Keimzelle
für die Fortpflanzung des Gedankens der Wehrhaftigkeit auffaßt, so könnte
: es gar wohl auch eine führende Rolle in allen Bestrebungen zur Förderung
. der moralischen und physischen Gesundung des Volkes erstreben. Ja, es
. müßte dies tun, wenn es seine in die Zukunft weisende Aufgabe überhaupt
: richtig begreift. Dann würde auch hier ein Anschlag unserer Feinde auf das
: Leben des deutschen Volkes wie in so manchem anderen in das Gegenteil,
- zum Segen ausschlagen.
Von jeher scheinen dem oberflächlich Beobachtenden Kriegertum
und Trunkfreudigkeit zusammenzugehören.. Es schein, als ob das
- Dasein des Soldaten, das sich zwischen den starken Gegensätzen der
` Hingabe des Lebens und des Hingegebenseins an das Leben, näm-
lich dass dem Tode abgewonnene Leben, bewegt, der Augenblicke der
Entspannung im Rausche bedarf, um die Erinnerung an erlebte Schrecknisse
und verübte Schreckenstaten auszulöschen und die Gedanken an künftige zu
übertäuben. Die Anspannung aller Kräfte von Seele und Leib im Kampf oder
in der Schulung für den Kampf scheint der künstlichen Entspannung zu
benötigen. Zwischen Ueberwindung des Leiblichen und gesteigertem Lebens-
geauß schwankt das Dasein des Soldaten. Sein Leben geht in stärkerem,
wilderem Rhythmus als das des Bürgers. Der Alkohol ist eines der Mittel,
den Stunden vor und nach dem Kampf, den Zeiten der Ruhe zu solchem
gesteigerten Lebensgefühl zu verhelfen. Es handelt sich hier nicht etwa nur
um eine deutsche Erscheinung, sondern überall, wo Krieger lebten und leben,
scheinen wir dies als Tatsache buchen zu können. Die Söldnerheere aller
Herren und Länder auf europäischem Boden huldigten dem Alkohol, wo und
wann sie ihn fanden. Und von manchem großen Heerführer bis in die neuere
Zeit hinein wird uns berichtet, daß er durchaus trunkfreudig war. Gneisenau
klagte sich in Briefen an seine Frau aus dem Feldzugsjahr 1814 bitter über
seine Nöte mit dem Cham on des alten Blüchers, der diesem überall
hin folgen mußte. Mannhaftigkeit und Trunkfestigkeit verschmolzen so fast
zu einem Begriff. Die gehörte zum Bilde des tüchtigen Soldaten. Die
puren solcher Anschauungen finden sich bis in die heutige Zeit in denjenigen
eilen aller Heere, die den Zusammenhang mit dem alten Berufskriegertum
am engsten bewahrt haben, dem Offiziers- und Unteroffizierskorps.
Und doch ist die Annahme falsch, als ob das Trinkbedürfnis in Kampf-
pas oder gar die Versetzung in den alkoholischen Rauschzustand für den
ampf eine allgemeingültige Erscheinung sei. Völkerkunde und Geschichte
lehren, wie vielfach ganz im Gegenteil der Krieger sich durch Enthaltsamkeit
wd Fasten auf seinen Beruf und die Schlacht vorbereitete. Oft allerdings
auch hier, um sich dadurch in einen ekstatischen Zustand zu versetzen, wie
dies bei den Kriegerweihen ozeanischer Stämme heute noch zu beobachten ist.
Auch die Indianer fasteten vor ihren Kriegszügen. Dasselbe wissen wir von
den Eisenseiten Cromwells, die sich vor dem Kampfe mit ihren Offizieren im
t zusammenfanden. Hohes Kriegertum und Enthaltsamkeit läßt sich also
= wohl miteinander vereinigen. Und so steht auch dem Bilde des trunkfreudigen
| priegsherrn das des enthaltsamen oder doch mäßigen gegenüber. Tilly,
- Friedr
ich der Große, Napoleon, Moltke gehören dazu, wie auch die besonders
‚ hervortretenden Führer aus dem letzten Kriege.
Wie dem aber auch sei, das Verhältnis zum Alkohol in unserem, alten
Heere vor dem Kriege war etwa folgendes:
. Die Führerschicht als Nachfolgerin des alten Berufskriegertums war in
ihrer Masse durchaus nicht ablehnend gegen den Alkoholgenuß. Das Leben
in der engen militärischen Gemeinschaft war diesem überall dort besonders
günstig, wo die beschränkten Verhältnisse des Standorts wenig oder keinerlei
Ablenkung boten und die einzige Erholung vom Dienste eben im kamerad-
schaftlichen Beisammensein bestand, das sich der Deutsche ohne Alkohol kaum
336 Abhandlungen.
vorstellen konnte und vielfach auch heute noch nicht vorstellen kann. Die
kleinen Garnisonen des Ostens und des Westens waren in dieser Hinsicht be-
sonders gefährlich, weil dort auch die Lebensgewohnheiten der gebildenten
bürgerlichen Gesellschaft in ihren Frühschoppen und Abendstammtischen ähn-
liche Formen angenommen hatten. In den größeren und großen Garnisonen
war dies geraume Zeit vor dem Kriege bereits anders geworden. Der stärkere
Alkoholgenuß beschränkte sich dort auf wenige besondere, meist festliche
Gelegenheiten.
Uebrigens hatten die Mäßigkeitsbestrebungen, die vor dem Kriege in
weiten Kreisen der wirklich guten Geslischaft schon im Gange waren, auch
bereits im Offizierscorps, vor allem bei dessen jüngeren Gliedern, Ein
gefunden. Seitdem der Sport anfing, eine wachsende eutung auch im Heere
zu gewinnen, nahm auch die vollständige oder zeitweilige Enthaltsamkeit
Einzelner, z. B. unserer Renn- und Turnierreiter, zu. Jedenfalls wurde vor
dem Kriege im Offizierskorps im allgemeinen nicht mehr getrunken als in
den entsprechenden Schichten der bürgerlichen Gesellschaft, besonders in
den studentischen Kreisen.
Aehnlich lagen die Verhältnisse im Unteroffizierskorps. Bei seiner vielfach
engeren Berührung mit den breiteren Volksschichten unterlag es den örtlichen
Einflüssen und der volklichen Einstellung zum Alkoholgenuß noch leichter.
Während bei einzelnen Persönlichkeiten der Berufssoldaten sich die ver-
iftenden Einflüsse regelmäßigen und starken Alkoholgenusses auf Lebens-
ührung, berufliche und körperliche Leistungsfähigkeit feststellen ließen, war
dies beim gemeinen Mann viel weniger der Fall, weil er ja nur kurze Zeit
dem Heere angehörte. Abgesehen von einzelnen erblich Belasteten handelt
es sich dort nur um junge, gesunde Männer, die, wo dies der Fall war, dem
Alkoholgenuß erst kurze Zeit huldigten oder sich ihn erst während ihrer
Dienstzeit angewöhnten. Die Folgen gewohnheitsmäßigen Trinkens stellen
sich aber meist erst im Laufe einer gewissen Zeit ein. Jene jungen Leute
brachten im allgemeinen die Lebensgewohnheiten ihrer bisherigen Umgebung
in die Kaserne mit. So auch auf dem Gebiet des Alkoholgenusses. Der
norddeutsche Soldat glaubte auch in seiner westdeutschen Garnison nicht au
den Schnaps verzichten zu können. Der Bayer nahm sein Bier nach Lothringen
mit. Der Schwabe verlangte seinen heimatlichen Most auch in Straßburg.
Daneben veriielen sie allerdings auch den alkoholischen Getränken ihrer neuen
Umgebung, meist mit stärkerer und rascherer Wirkung, weil deren Genuß
für sie ungewohnt war.
Wenn auch das Soldatenleben mit seinen körperlichen Anstrengungen und
der- strengen, die persönliche Freiheit beschränkenden Zucht zur Entspannung
in berauschendem Getränk reizt, und das Leben in der Kameradschaft eines
a Kreises dazu verleitet, so wäre es doch Be zu behaupten,
aß das alte Heer der allgemeinen Wehrpflicht mehr dem Alkohol ergeben
gewesen sei als sonst die Masse des Volkes. Vielleicht wurde bei besonderen
Anlässen schärfer getrunken, aber sicher nicht regelmäßiger. Das gestatteien
die kargen Einkommensverhältnisse und der immer schärfere Dienstbetrieb
nicht. In erhöhtem Maße gilt das für die Reichswehr mit ihren starken
sportlichen Bestrebungen.
Treten so die Erscheinungen des chronischen Alkoholismus nur
vereinzelt auf, so sind bei der Eigenart des soldatischen Lebens uni
des militärischen Dienstes natürlich die des akuten Alkoholismus häufiger.
der vorübergehend das volle Bewußtsein des Menschen für sein Han
deln aufhebt oder seine körperliche a rasch und plötzlich
herabsetzt. Der Alkohol kann damit eine Gefährdung der Manneszucht bilden.
also die Grundfesten des Heeres untergraben, oder die Verwendungsfähigkeit
des Soldaten in Ss stellen. Die Erfahrungen der bürgerlichen Krimi-
nalistik, daß in zahlreichen Fällen der Alkohol unmittelbar Ursache de
Verbrechens gewesen ist, treffen deshalb im militärischen Leben in besonderen!
Maße zu, weil hier die Schwere aller der Vergehen und Verbrechen, die
gegen die militärische Zucht und Unterordnung gerichtet sind, zu ihrer
Muff, Alkohol und Wehrkraft. 337
Begehung vielfach die Beschränkung des klaren Bewußtseins des Täters
, voraussetzt. Aus einer amtlichen Statistik, die die Jahre 1894—99 umfaßt,
| geht hervor, daß in letzterem Jahre von den zur Bestrafung gelangten
'erfehlungen gegen die militärische Unterordnung (Achtungsverletzung,
gegen Vorgesetzte, en Gehorsamsverweigerung, tätlicher Angriff
| gegen Vorgesetzte, Aufwiegelung, Meuterei und militärischer Aufruhr) im
. Heere 28,5 %, in der Marine 45,7% im Zustand der Trunkenheit verübt
; worden sind. Dabei wurde festgestellt, daß es oft durchaus brauchbare,
ı ordentliche Soldaten waren, die sich im Rauschzustande vergessen und
; durch schwere Straftaten unglücklich gemacht hatten. Ihre Tat entsprach nicht
` ihrer Wesensanlage, war nicht der Ausfluß einer schlechten Gesinnung.
Andererseits mußten auch viele Fälle unvorschriftsmäßiger nen
‘ Untergebener und des Mißbrauchs der Dienstgewalt durch Vorgesetzte au
; übermäßigen Alkoholgenuß zurückgeführt werden. Den schweren Gefahren,
die der militärischen Zucht und Ordnung aus dem Alkoholgenuß erwachsen
können, trug das heute noch gültige Militärstrafgesetzbuch dadurch Rechnung,
daß es Trunkenheit im Dienste oder nach Befehligung zu einem Dienst, die
zur Folge hat, daß der Soldat ihn nicht mehr zuverlässig leisten kann, mit
Strafe bedroht. Ebenso faßt es die in der Absicht, sich dem Gefechte oder
vor dem Feinde einer anderen mit Gefahr für die Person verbundenen
Dienstleistung zu entziehen, herbeigeführte Trunkenheit als Feigheit vor dem
‚ Feind auf und erblickt in der selbstverschuldeten Trunkenheit keinen Straf-
milderungsgrund. Abgesehen von diesen Strafbestimmungen setzten auch
andere ÄAbwehrmaßnahmen ein. Sie waren der Ausfluß der zunehmenden
wissenschaftlichen Erkenntnis des Einflusses des Alkohols auf die Leistungs-
fähigkeit des Soldaten.
och in den Befreiungskriegen und nach ihnen erhielt der preußische
Soldat eine Branntweinportion, und zwar als tapene Verpflegung und nicht
als Vorbeugungsmittel gegen Krankheiten. Is solches hatte übrigens
Friedrich der Große zu Beginn des Siebenjährigen Krieges die Mitführung
von Essig zur Unschädlichmachung schlechten Trinkwassers befohlen. Erst
1862 ordnete Konig Wilhelm der Erste den Ersatz der Branntweinportion
durch Kaffee an. Der für seine Person völlig abstinente Generalfeldmarschall
Graf von Häseler urteilt hierüber, was uns Heutigen schon ganz selbst-
verständlich erscheint: „Die Ersetzung des Branntweins durch Kaffee hat sich
ìn drei Kriegen voll bewährt, die Leistungsfähigkeit der Truppe erhöht,
und deren inneren Gehalt gekräftigt.“ Man stand aber immerhin an den
maßgebenden militärischen und militärärztlichen Stellen bis in unsere Tage
noch auf dem Standpunkt, daß in besonderen Fällen die Verausgabung von
Alkohol an die Soldaten gerechtfertigt sei. So spricht das Generalstabswerk
über den Krieg von 1870/71 davon, daß bei dem Wassermangel bei der
Einschließungsarmee von Metz durch regelmäßige Ausgabe der vorgefundenen
reichen Weinvorräte sowie durch Verabiolgung von Branntwein und Glühwein
für die Vorposten nachteiligen Folgen vorzubeugen versucht worden sei.
Allerdings fügt das genannte Werk hinzu: „und später durch Erhöhung der
Kaffeeportion“. Sollten sich hier doch auch nachteilige Folgen der Alkohol-
ausgaben bemerkbar gemacht haben?
„.Die wissenschaftliche Durchforschung der Alkoholfrage in bezug auf den
militärischen Dienst hat sich auf folgende Punkte zu erstrecken:
1. Welchen Einfluß hat der Alkoholgenuß auf die Handhabung der Waffe?
2. Wie wirkt er auf die allgemeine körperliche Leistungsfähigkeit des
Soldaten, besonders im Hinblick auf dıe Anstrengungen der Märsche
und auf die verschiedenen Witterungseinflüsse?
3. Welche physischen Wirkungen übt er auf den Soldaten in Rücksicht
auf seine Haltung und Tätigkeit im Gefecht aus?
4. Wie steht es mit dem Alkohol als Mittel, die Stimmung des Soldaten
zu erhöhen und Erkrankungen vorzubeugen?
Was die erste Frage, den Einfluß des Alkoholgenusses auf die Hand-
habung der Waffe, anlangt, so ging hier Schweden, wo die Alkoholfrage
Die Alkcholfrage, 1925. 22
Zn.
338 Abhandlungen.
bekanntlich eine große Rolle spielt, mit grundlegenden Versuchen voran. Auf
a ung des berühmten Münchener Psychiaters Kräpelin wurden diese
1908 vom Bayrischen Kriegsministerium in großem Maßstabe fortgesetzt.
Dabei ergab sich eine durchschnittliche Einbuße an Treffsicherheit in den
Treffergebnissen von 1,9% 5 Minuten nach der Alkoholaufnahme, von
3,1% 20 Minuten und von 25% 40 Minuten nachher. Bei gefüllten
Magen nach der el EN trat die Wirkung etwas später und
schwächer ein. Am schlechtesten waren, was sehr zu beachten ist, die
Ergebnisse bei Schnellfeuer. Hier verhielten sich bei den schwedischen
Versuchen die Fehlschüsse mit und ohne Alkohol wie 27 : 7. Eine inter-
essante Beobachtung war bei diesen Versuchen, daß eine Reihe von Schützen
unter dem Alkoholgenuß das Gefühl einer besseren Schießleistung hatten.
obgleich sie tatsächlich schlechter geschossen hatten. Kräpelin meint hierzu:
„Diese bei Alkoholversuchen häufig wiederkehrende Erfahrung einer Selbst-
täuschung über die eigene Leistung, die uns aus den Beobachtungen im
Rausche wohl bekannt ist, hat offenbar eine große Bedeutung für die allgemein
wohlwollende Beurteilung der geistigen Getränke. Der Ängetrunkene fühlt
sich leistungsfähiger, auch wenn die Messung das Gegenteil dartut, und
vermag sich deswegen keine Rechenschaft von der ungünstigen Veränderung
zu geben, die sich unter dem Alkoholeinflusse in seinem lenleben voll-
zogen hat.“ Diese wissenschaftlichen Feststellungen sind übrigens schon
lange eine Alltagserfahrung besonders der schießfreudigen und schießfertigen
Schweizer, die sich geraume Zeit vor ihren nationalen Schützenfesten der
geistigen Getränke enthalten, um ein sicheres Auge und eine feste Hand für
das Schießen zu haben.
Die Bedeutung dieser Feststellungen für die heutige Kampfweise, wo den
Einzelschützen als Träger einer schnellfeuernden Maschinenwaffe gegen
früher die at Sirene Rolle zufällt, liegt auf der Hand. Sie wird noch
unterstrichen durch eine Reihe wichtiger Geschicklichkeitsprüfungen de
enannten Forschers, die durchweg schon bei geringem Alkoholgenuß die
nfänge der täppischen Unsicherheit erkennen lassen, die das Handeln des
Berauschten kennzeichnen. Die Handhabung unserer technisch verfeinerten
Waffen, der rasche Laufwechsel und die Beseitigung von Ladehemmunge
beim Maschinengewehr, das Stellen von Richtaufsatz und Geschoßzünder
beim Minenwerfer und Geschütz, die rechnerischen Richtverfahren bei diesen
drei Waffen, der Gebrauch der Nachrichtenmittel mit und ohne Draht, die
Lenkung, Beobachtung und Feuerabgabe im Flugzeug erfordern aber eme
Sicherheit und Geschicklichkeit von Hand, Auge und Gehör, die keinerla
Beeinträchtigung derselben zulassen. l
Zur 2. Frage! Der ungünstige Einfluß des Alkohols auf die körperliche
Leistungsfähigkeit bei großen leiblichen Anstrengungen sollte eigentlich kaum
mehr erwähnt zu werden brauchen. Man denkt aber anders darüber, weni
man noch heute die Erfahrung macht, daß törichte Quartierwirte dem Soldaten
die Feldflasche mit Wein, Most, Schnaps oder sogar Bier füllen oder durch-
marschierenden Marschkolonnen statt des verlangten Wassers alkoholische
Getränke gereicht werden, und daß die Mannschaften, noch törichter, hinter
dem Rücken ihrer verantwortlichen Führer versuchen, sich den verbotene
Genuß zu verschaffen. Oder wenn man später noch zu berührende Vor-
kommnisse aus dem letzten Krieg in Betracht zieht. Besonders häufig ist
das Versagen einer unter wenn auch leichter Alkoholwirkung stehenden
Truppe bei Hitze. Für die Entstehung des Hitzschlages, des gefährlichsten
Feindes einer marschierenden Truppe, sind von größter Wichtigkeit die
Störungen der Herztätigkeit und der Atmung. Gelegentlich einer in ibret
Folgen wissenschaftlich untersuchten Uebung wurde festgestellt, daß 96,8».
der an Hitzschlag erkrankten Soldaten mit allgemeiner Muskelschwäche, Herz-
mukelschwäche und Schwäche der Atmungshilfsmuskeln behaftet waren. , D!®
Widerstandsfähigkeit gegen den Hitzschlag ist also zu einem wesentlichen
Teil gleichbedeutend mit starker Muskulatur und guter Herzkraft. Der Alkohol
wirkt aber auf den Herzmuskel gerade so lähmend wie auf die Körper- W
Muff, Alkohol und Wehrkraft. 339
Geläßmuskulatur. Er setzt also die körperliche Leistungsfähigkeit wesentlich
herab und wirkt so besonders gefährlich, wenn außer der reinen Marsch-
leistung noch andere Widerstände vom Körper überwunden werden müssen,
wie das Tragen von Waffen und Ausrüstung und das Aushalten von Hitze.
Dies bewies erneut ein in Kiel abgehaltener Armeegepäckmarsch über eine
Strecke von 100 km. Von der Gruppe der Abstinenten kamen 52 %, von den
„ür gewöhnlich nicht Enthaltsamen“ nur 46 % ans Ziel. Und unter den
35 Ersten waren 63 % Abstinenten und 17 % Nichtabstinenten; letztere waren
also um 72 % schlechtere Marschierer als die ersteren.
Anders scheinen die Dinge bei Kälte und Nässe zu liegen. Hier spricht
' die allgemeine Meinung, beeinflußt von dem subjektiven Wärmegefühl, das
. den Alkoholgenuß begleitet, noch sehr zu -dessen Gunsten. Aber auch diese
Meinung ist von der Wissenschaft widerlegt. Wohl wirkt der alkoholische
Trank zunächst auf den Magen und von da aus refilektorisch auf das gesamte
Nervensystem. Diese Wirkung ist aber außerordentlich flüchtig. Sobald der
Alkohol in den Kreislauf aufgenommen ist, tritt eine Erweiterung der Gefäße
der Körperoberfläche ein, wodurch diese ihres Selbstschutzes gegen die Kälte
beraubt wird. Der Körper gibt mehr Körperwärme ab. Erfrieren und bei
Nässe Erkältung werden geradezu erleichtert. Besonders gefährlich wird der
Alkoholgenuß dann, wenn der Soldat, als Posten oder sonstwie an seinen
Platz gebunden, durch die unter dem Alkoholeinfluß eintretende Müdigkeit
verleitet wird, sich niederzusetzen oder hinzulegen. Polarreisende kennen
diese schädliche Wirkung des Alkohols schon lange. Nansen nahm auf seinen
Reisen nie Alkohol mit; auch bei den Walfischfahrern ist Enthaltsamkeit
üblich. Auf die schwächeren Alkoholgewohnheiten der Südländer ist auch
ihre auffallende Widerstandsfähigkeit gegen Kälte zurückzuführen.
3. Welche psychischen Wirkungen übt der Alkohol auf den Soldaten für
seine Tätigkeit im Gefecht aus?
‚Die Beobachtung des unter Alkoholeiniluß stehenden Menschen ergibt bei
ihm eine Erleichterung der Auslösung von Willenshandlungen. Es entsteht
eine gewisse Hemmungslosigkeit, wie wir sie bereits als Neigung zu
Vergehen gegen die militärische Unterordnung und Zucht kennen gelernt
haben. Diese Wirkung kann in gewissen Grenzen Hemmungen des Handelns,
wie Aengstlichkeit und Befangenheit, ausschalten. Zweilellos kann man
sch „Mut antrinken“, um über Bedenken und innere Schwierigkeiten
hinwegzukommen. Diese Eigenschaft des Alkohols glaubte man da und dort
im Kriege mit Vorteil ausnützen zu können. Eine unter Alkohol stehende
Truppe wird unter Umständen rücksichtsloser auf den Feind gehen. Wir
baben es vielfach bei unseren Gegnern, besonders auch bei ihren farbigen
Truppen, erlebt, daß sie vor dem Sturm unter Alkohol gesetzt worden
waren. Im deutschen Heere war es, jedenfalls von der Heeresleitung,
weder befohlen noch angeraten worden. Der Soldat soll auf diese reichlic
primitive Weise in den Zustand einer gewissen Besinnungslosigkeit
versetzt werden, den zu anderen Zeiten und unter anderen Sonnen
das geistige Mittel der Ekstase oder auch die mechanischeren des Kriegstanzes
und N bewirkten. Uebrigens verfolgt auch unser Hurrarufen beim
Sturm neben der Erschütterung des Gegners einen ähnlichen Zweck. Die
= durch den Alkohol bewirkte Willenserregung ist jedoch in der Regel nur
von kurzer Dauer. Sie macht bald der Erschlaffung Platz, die zwar um so
' später eintritt, je größer die genossene Menge Alkohol ist, dann aber auch
um so lähmender wirkt. Was vielleicht an Stoßkraft gewonnen wird, geht
durch mangelhafte Herrschaft über die Willenswerkzeuge und frühzeitiges
Versagen wieder verloren. Kriegslagen, in denen ein Truppenführer es wagen
dürfte, zur Erzielung eines Augenblickserfolgs die genannten Wirkungen des
Alkohols auszunutzen, werden nur selten vorkommen. Ja, man kann auf
Grund der PERL Hauer feststellen, daß gerade der Zeitpunkt nach
gelungenem Angriff der gefährlichste für den Angreifer ist. Die Truppe ist
ürcheinander gekommen und erschöpft, der Befehlsmechanismus gestört, die
Verbindung mit den unterstützenden Waffen, besonders der Artillerie, unter-
22*
u
340 Abhandlungen.
brochen.: Auch ohne besondere Mittel stellt sich die Erschlaffung der Nerven
nach den vorausgegangenen Anstrengungen ein. Das ist der Augenblick, wo
der Gegenstoß der feindlichen Reserven die Angriffstruppe in einem Zustand
der Schwäche trifft und ihr oft den Erfolg ihres Angrifts ganz oder zum Teil
wieder entrissen hat. So muß denn hier ein vorangegangener Alkoholgenuß
ganz besonders verderblich wirken.
Dazu kommt noch, daß der Alkohol zwar begrenzt und kurzfristig
willenserregend wirken kann, daß er aber eine Reihe anderer seelischer Fähig-
keiten mehr oder weniger schwer beeinträchtigt, die für den Soldaten im
Kriege von Wichtigkeit sind. So die Auffassung äußerer Eindrücke und die
Verknüpfung von Vorstellungen. Rasches Erkennen der gegebenen Lage,
klarer Blick und kühle Besonnenheit, entschlossenes Handeln und rich-
tiges Erfassen äußerer und innerer Zusammenhänge sind aber die Fähig-
keiten, die gerade die heutige Gefechtsweise von jedem Maschinengewehr-
schützen und Stoßtruppführer verlangt, wo sich die Schlacht in ein Gewoge
von Einzelkämpfen kleiner np/gTappen auflöst. Die Zeiten des in der
Masse fechtenden, sich blindwütig auf den Feind stürzenden Kriegers sind
vorüber. Heute gilt es für den Soldaten, das kleinste Ziel rasch und sicher
zu erfassen, den kurzen, günstigen Augenblick zum Sprung oder Heran-
schleichen an den Gegner wahrzunehmen, die Kampfweise des Gegners scha
zu beobachten und listig auszunützen, das Herannahen feindlicher Flugzeuge
und Tanks zu erlauschen, den Einschlag des Artilleriegeschosses voraus-
zufühlen, den leisesten Gasgeruch zu riechen. Feinste Schärfung aller Sinnes-
und Denkorgane, nicht ihre Betäubung, ist daher notwendig.
Doch, um zur Beantwortung der vierten Frage zu kommen, der Alkohol
ist ja auch der Sorgenbrecher, vom Dichter und Sänger aller Zeiten als
solcher gepriesen. Es drängt “ich daher der Gedanke auf, ob nicht die
Erhöhung des subjektiven Wohlbefindens, die euphorische Wirkung de:
Alkohols, in gewissen Verhältnissen und Lagen des militärischen Lebens,
besonders im Kriege, benützt werden soll.
Dergleichen Lagen wären z. B. Ruhepausen zwischen entscheidende:
Kämpfen, wie sie der Stellungskrieg mit sich brachte, wären Zeiten, in dene
der Soldat, aus der Kampffront zurückgezogen, sich erholen soll, wobei abeı
schlechte und enge Unterbringung und der Mangel an Ablenkung wirkliche
Wohlbehagen doch nicht recht aufkommen lassen wollen, wäre auch ein
Biwakabend nach anstrengendem Uebungstag zu Friedenszeiten. Erscheint
oder erschien doch bis vor kurzem gerade uns Deutschen die Erzeugung einer
behaglichen oder heiteren Stimmung ohne einen zum mindesten mäßigen
Alko ern unmöglich. Bei der durch Alkohol erzeugten Stimmung ist £3
aber schwierig, die Grenze festzuhalten, wo die Angeregtheit sich zur
Berauschtheit steigert. Dies gilt besonders für den undisziplinierten Menschen.
Die Gefahr wird noch dadurch vergrößert, daß die Empfindlichkeit geger
die Einwirkung des Alkohols bei den einzelnen Menschen verschieden ist
Die Wissenschaft unterscheidet zwischen alkoholtoleranten und -intoleranten
Individuen. Besonders der junge Mensch gehört zu den letzteren. Es gi
aber auch eine zeitweilige Intoleranz, die sich auch beim kräftigen Menschen
bei Hunger, Schlafmangel und übermäßiger Anstrengung einstellt. So hi
die gleiche Alkoholmenge bei verschiedenen Individuen unter den gleiche
äußeren Bedingungen und bei demselben Individuum unter veränderten Ver-
hältnissen eine sehr verschiedene Wirkung. Da sich aber innerhalb desselben
militärischen Verbandes Einzelpersönlichkeiten verschiedenster Veranlagung
zusammenfinden, da gerade das militärische Leben reich ist an Einwirkungen.
die selbst bei einer mäßigen Alkoholgabe unvorhergesehene Grade un
Formen der Trunkenheit entstehen lassen, so ist es stets ein gefährliche:
Experiment, durch Alkohol die Stimmung einer Truppe heben zu wollen.
die sich erholen soll. l
Nicht allein ist die stete Verwendungsbereitschaft einer solchen Truppe 1
Frage gestellt, auch ihre durch den Alkoholgenuß bewirkte moralische Einbußt
kann gerade in Zeiten, die neben der seelischen und körperlichen Erholung
Muff, Alkohol und Wehrkraft. 341
erneuter Festigung der militärischen Zucht und Ordnung dienen sollen und
in denen der Soldat in nähere Berührung mit anderen Truppenteilen und der
Zivilbevölkerung kommt, größer sein, als der beabsichtigte Gewinn. Die
Neigung zu unbesonnenem, triebhaftem Handeln, zu Unbotmäßigkeit und
Gewalttätigkeiten, die den Geist der Truppe untergraben, nimmt zu. Das
Beispiel einiger weniger alkoholintoleranten Individuen in einer Truppe kann
dabei in schlimmster Weise ansteckend wirken. Was es in Wahrheit für
ane Bewandtnis mit dem Alkohol als Förderer einer heitern und behaglichen
Summung hat, schildert in treffender Weise Lotharingus in dem lesens-
werten Buche „Der Weltkrieg im Lichte naturwissenschaftlicher Geschichts-
auffassung“. Er schreibt dort in bezug auf die Schilderung des egozentrischen
Triebes des Menschen:
Eine der charakteristischsten Eigenschaften des egozentrischen Triebes
ist die Stärke und Schnelligkeit seiner en N durch Alkohol. Der
Alkohol hemmt eigentlich nur einen Trieb, den Selbsterhaltungstrieb, alle
anderen Triebe werden durch den Alkohol bis zu einem gewissen Grade
enthemmt, keiner aber so stark wie der egozentrische Trieb. Er verstärkt
die bei antisozialen Handlungen bestehenden Lustgefühle, er führt den
jungen Gymnasiasten zum Einwerfen von Laternen und Herunterholen von
irmenschildern, er löst im jungen Arbeiter den Blaukoller aus, er nimmt
dem Untergebenen das Unterordnungsgefühl und reizt ihn gegen den
Vorgesetzten auf; 80 %, glaube ich mich zu erinnern, der militärischen
Unterordnungsvergehen waren vor dem Kriege unter dem Einfluß des
Alkohols entstanden‘).
Für den, der wenig oder nichts trinkt, wird es immer hochinteressant
bleiben, die allmähliche Enthemmung durch den Alkohol bei Festlichkeiten
und dergleichen zu beobachten. Es scheint im Anang daß die Menschen
zurückgeschraubt werden, jeder um eine bestimmte Zeitspanne, der eine
läuft psychisch zurück in die Zeit des Idealismus und der Romantiker
nach den Freiheitskriegen, irgendein Ahn aus dieser Zeit kommt zum
Vorschein, er schwärmt, liebt alle Welt und vergießt bittere Tränen über
das Unglück der guten Menschen. Andere scheinen in das Zeitalter der
Scholastiker, der doktrinären Religionsdispute zurückzusinken, sie fangen
die spitzfindigsten, endlosesten Wortstreite über irgendeine Doktorfrage an
und beißen sich immer mehr auf Kleinigkeiten fest. In anderen kommt
der verliebte Minnesänger des Mittelalters auf einmal wieder heraus, in
anderen erscheint der streitbare Urmensch, der in jedem Nebenmenschen,
insbesondere im Angehörigen eines anderen Rudels einen Feind erblickt
— vgl. die Zusammenstöße der Studenten in diesem Stadium. Bei größeren
Dosen tritt dann schließlich bei den meisten das nur noch grunzende und
brummende, gänzlich hemmungslose Wald- und Urtier zutage. Aber am
interessantesten ist doch die allmähliche Enthemmung des egozentrischen
Triebes zu beobachten. Je mehr sich die Köpfe röten, desto häufiger kehrt
das Wort „Ich“ in der Unterhaltung wieder, desto mehr zeigt jeder
Beteiligte das Bestreben, A ae bald zu Worte zu kommen. Er wird
unruhig, rückt auf dem Stuhle hin und her, lüftet hie und da das Gesäß
und macht eine an das Beißen des Hundes erinnernde schnappende Kopf-
bewegung nach dem gerade Sprechenden hin. Bei nächster Gelegenheit
sitzt er selbst am Futternapf, d. h. er redet jetzt selbst, die Umsitzenden
mit den Blicken eines eilig fressenden Hundes ansehend oder mit den
Blicken tödlicher Feindschaft, wie sie der im Eisenbahnabteil sitzende
Reisende auf die wirft, die zur Türe hereinsehen. Schließlich schreien
gewöhnlich mehrere durcheinander, weil sie es nicht mehr abwarten
1) Die Stellung des Deutschen zur Alkoholfrage kann geradezu als Beweis für seine ego-
zeatrische Veranlagung angesehen werden. Es ist bekannt, daß Deutschland das einzige
germanische Land war, das zwangsweiser Förderung der Temperenzbestrebungen stets wider-
prebte und daß die Deutschen in Amerika dort die größten Gegner dieser Bestrebungen sind.
liegt also beim Deutschen anscheinend mehr als bei anderen Völkern das Bedürfnis in der
Psyche begründet, den egozentrischen Trieb von Zeit zu Zeit zu enthemmen.
342 Abhandlungen.
können, bis sie wieder darankommen, vom großen „Ich“ zu reden. De
Lärm wird dadurch immer größer, ablenkend wirkt von Zeit zu Zeit nu
der Gesang, wobei dann der brave Bierphilister, der nie biwakiert hai
mit großem Stolz beteuert, er habe „überreift und überschneit den Stei
zum Bett gemacht‘, oder worin er versichert, er sei „ein fahrender Schüler
ein wüster Gesell“.
Schließlich wird im Alkohol auch noch ein SORDENEULEN oder Heilmitie
für eine Reihe von Krankheiten, die das Leben im Felde im Gefolge hat
esehen. So wird behauptet, daß unsere Truppen ohne zeitweise verabreichte
lkohol die Zeiten der nassen Witterung besonders auf den Kriegsschauplätze
in Flandern, der Champagne und an der Somme nicht hätten durchhalte
können, daß dadurch die zahlreich auftretenden Darmerkrankungen mit Erfol
bekämpft worden seien. Diese Ansicht von der gesundheitserhaltenden
-fördernden Wirkung des Alkohols ist ja landläufig und wird vielfach auc
von Äerzten geteilt. Daß die Widerstandskrait des Körpers gegen Nässe um
Kälte durch den Alkohol nicht gehoben, sondern im Gegenteil herabgesetzi
wird, haben wir früher schon gehört. Leider liegen vergleichende Zahlen
hierüber aus dem letzten Kriege nicht vor. Jedoch möchte ich auf a
Beispiele aus früheren Zeiten und aus ausländischer Quelle hinweisen: Im
nordamerikanischen Sezessionskrieg hatte die Potomac-Armee schwere An-
strengungen bei äußerst nassem Wetter und in einer ausgesprochenen Malaria-
Gegend zu bestehen. Es wurde daher eine tägliche Whiskyportion von
150 g Alkohol in zwei Portionen verabreicht. Der Gesundheitszustand der
Truppe wurde darnach ein so viel schlechterer, daß die Maßregel nach vi
Wochen widerrufen wurde. Und der englische Militärarzt und Sanitä
schriftsteller J. Hall schreibt: „Die gesundeste Armee, in der ich dient
hatte keinen Tropfen Alkohol, und obwohl sie allen Mühsalen des Kriege
im Kaffernlande bei nassem und rauhem Wetter ohne Zelte oder Schutz
irgendwelcher Art ausgesetzt war, stieg die Krankenzahl doch selten
über 1%. Aber bald, nachdem die Mannschaften wieder in Städten un
festen Posten einquartiert worden waren, wo sie freien Zutritt zu Spirituos®
hatten, stellten sich zahlreiche Erkrankungen ein.“
Bei allen Behauptungen über den Wert des Alkohols als Heil- und Vor
beugungsmittel, bleibt immer fraglich, ob nicht der nämliche Erfolg eben;
und ohne schädigende Nebenwirkungen durch bessere und häufigere Ver-
pilegung, durch andere warme Getränke und sonstige Fürsorgemaßnahme
ätte erreicht werden können.
Darüber, welcher Soldat im allgemeinen widerstandsfähiger gegt
Krankheiten ist, der abstinente oder der nicht abstinente, lassen aber de
wissenschaftlichen Untersuchungen keinen Zweifel mehr. Auffallend ist
schon der statistisch nachgewiesene hohe Zugang an Herzkranken in der
alten bayrischen Armee, der in den T 1882—83 prozentual doppelt so
groß war, wie in der preußischen. Derartige Herzmuskelerkrankungen si
aber nach allgemeiner klinischer Erfahrung häufig die Folgen des Alkohol
genusses. Der Verdacht, daß dies en bei der bayrischen Arr ee zutrifft.
ist nicht von der Hand zu weisen. Äufschlußreich sind auch folgende Zahlen:
Während der Herbstübungen eines aus verschiedenen deutschen Kontingent®
zusammengesetzten Armeekorps erkrankten von den regelmäßig mit einer
Branntweinportion versehenen Truppenteilen 1 %, von den branntweinlose
dagegen nur % %. In der englisch-indischen Armee, in der schon seit Jahr
zehnten eine starke Abstinenzbewegung eingesetzt hat, betrug im Jahre 13%
die Zahl der an Krankheiten Deslörbenen Abstinenten 2,7 %, der Nicht-
abstinenten dagegen 9,5 %. Aehnliche Ergebnisse können fortlaufend aus den
en Statistiken nachgewiesen werden. Ebenso steht fest, daß der
Alkoholismus die Gefahr der Sterblichkeit bei Lungenentzündungen und
Choleraerkrankungen wesentlich erhöht, ganz zu geschweigen von der hohen
Zahl Geschlechtskrankheiten, die meist durch Angetrunkenheit veranlaßt sind.
lauter Krankheiten, die die Schlagfertigkeit eines Heeres stark beeinträchtige?-
- Muff, Alkohol und Wehrkraft. 343
Zusammenfassend kann über alle diese Fragen nichts Besseres gesagt
‚werden als das, was die Ziffer 416 der Kriegssanitätsordnung vom 27. Januar
:1907 sagt, die heute noch im Heere Gültigkeit hat:
„Der Alkohol wirkt zwar anfangs belebend, beim Genuß größerer
Mengen aber bald erschlaffend.. Die Erfahrung lehrt, daß enthaltsame
Soldaten den Kriegsstrapazen am besten widerstehen. Auch verführt der
‚Alkohol leicht zur Unmäßigkeit und zur Lockerung der Manneszucht.
FAlkoholische Getränke sind daher nur mit größter Vorsicht zu genießen und
af dem Marsche ganz zu vermeiden. Bei Kälte Alkohol zur Erwärmung
zu genießen, ist gelährlich. Seine wärmende Wirkung ist trügerisch.. Dem
‚Beschränken des Alkoholgenusses ist von allen Dienststellen fortgesetzt die
teste Aufmerksamkeit zuzuwenden.“
Die Heeresleitung verschließt sich also den aus dem Alkoholgenuß der
lagfertigkeit des Heeres erwachsenden Gefahren nicht. Ihre Abwehr-
Maßnahmen bestehen in vorbeugenden, d. h. in der Belehrung und Er-
schwerung des Alkoholgenusses im allgemeinen, und in unmittelbaren wie
idem Verbot der Mitnahme von Alkohol in Feldfilaschen und Marketender-
‘wagen bei anstrengenden Uebungen, während mehr oder wenig systematisch
der Verbrauch von Milch, Tee und anderen alkoholfreien Getränken gefördert
‘wird. Es ist aber klar, daß diese Bestrebungen höchstens einschränkend
: wirken und auch nichts anderes bezwecken können, solange in den höheren
; Schichten des Volkes Trinksitten überkommener Art für durchaus standes-
k emäß und sogar erzieherisch wertvoll angesehen werden und in allen
Ständen dem Alkohol eine große Rolle als Genußmittel zufäll. Ein Heer,
wr allem ein Heer der allgemeinen Wehrpflicht wie das unsrige vor dem
Xriege, vermag sich eben nicht außerhalb der allgemeinen Anschauungen
‚des ganzen Volkes zu stellen, selbst wenn seine Leitung es wollte. Bezeich-
‘nend hierfür ist die Antwort des bayrischen Kriegsministeriums auf eine
Anfrage des Deutschen Vereins gegen Mißbrauch geistiger Getränke vom
20. 9. 1901, die vom preußischen Krieveministeiuni eingehender Behandlun
gewürdigt worden war. Sie lautete dahin, daß bisher ein Alkoholmißbrauc
ım Sinne der Anfrage im Bereich des Königlich-Bayrischen Heeres nicht
habe festgestellt werden können.
. Auf der anderen Seite wurde aber der Alkoholfrage von dem als Alkohol-
‚gegner bekannten Generalfeldmarschall Graf Haeseler (XVI. A.-K.), dem
t General v. Lindequist (XIII. u. XVIII. A.-K.) und dem Prinzen Bernhard von
Sachsen-Meiningen (VI. A.-K.) besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Und
schließlich trat der Kaiser selbst in einer Ansprache vor den Seekadetten in
Mürwick am 21. November 1910 für die Enthaltsamkeitsbestrebungen der
‚ Guttemplerlogen und Blaukreuzvereine ein.
' Der Weltkrieg begann bei uns in Deutschland mit einer, wenn auch nicht
: umfassenden, so doch im Besonderen durchgreifenden Antialkoholmaßnahme.
: Die schlechten Erfahrungen, die bei früheren Gelegenheiten bei großen
'-Menschenansammlungen gemacht worden waren, veranlaßten die Heeres-
leitung schon in den Mobilmachungsvorbereitungen, den Alkohol während
der großen für die Mobilmachung und den Aufmarsch des Heeres notwendigen
Transportbewegungen auszuschließen. Alkohol durfte weder in die Züge
, Mitgenommen, noch auf Einlade-, Unterwegs- und Ausladestationen ver-
t abfolgt werden. Im übrigen blieben aber die bereits im Frieden gültigen
timmungen der Felddienstordnung und A on nung in Kraft.
| Es ist daher unrichtig, von einer völligen Alkoholfreiheit der Mobilmachung zu
‚ Sprechen. Diese wäre nur im Zusammenhang mit einem: allgemeinen Alkohol-
verbot für das ganze Volk möglich gewesen, wie dies in Rußland für den
-= penmapsausschank mit Kriegsbeginn der Fall war und auch eine Zeit-
ung im sowjetbeherrschten Rußland, soweit der Arm der Sowjetregierung
wirksam reichte. Diese eingeschränkte Maßnahme der Heeresleitung machte
Sich aber auch so schon reichlich bezahlt. Dank ihrer verliefen die von den
t ilitär- und Zivileisenbahnbehörden vorzüglich vorbereiteten und durchgeführ-
en Mobilmachungs- und Aufmarschtransporte ohne irgendwelche Störung sei-
344 $ Abhandlungen.
tens der zu Befördernden. Nirgends kamen Fälle der Auflösung von Zucht uni
Ordnung vor. Die von Rekruten- und Reservistentransporten aus Friedens
zeiten her bekannten und beschämenden Vorgänge allgemeiner Trunkenhei
traten nirgends in Erscheinung.
Die siegreiche Offensive im Westen führte die deutschen Hauptkräii
rasch in feindliches Gebiet. Mit fortschreitender Entfernung von den Eisen
bahnendpunkten des Etappengebiets wachsen die Verpflegungsschwierigkeiteı
Die Vorräte des eroberten Landes ersetzen das Fehlende zum Teil. In reicht
Weingegenden führt der Vormarsch der heißen Augusttage und des nasse
Septemberanfangs die ermattete Truppe. Sie sucht Ersatz und Stärkung i
den Wein- und Champagnerlagern, die überall als Beute vor ihr liegen
Noch überwinden die Zucht harter Friedensschulung und der An Saria.
der Truppe die größten Gefahren des für viele ungewohnten Genusses. E
zeitigt aber doch schon da und dort Erscheinungen, die örtlich begrenzt di
Angriffskraft lähmen und die Mannszucht vorübergehend aufzulösen drohen,
Der ärmere Ostkriegsschauplatz birgt in dieser Beziehung weniger Giftstoll
Ueberall erstarrt der Angriff im Grabenkriege. Die Aushungerung
Deutschlands wirft ihre ersten Schatten. Mit der nassen Jahreszeit stellen sich
Darmerkrankungen bei der Truppe ein. Eingewurzelter Anschauung folgend
erhebt sich der Ruf nach Alkohol als Heil- und Vorbeugungsmittel. Das
geisttötende Einerlei des Stellungskriegs, das gleichmäßig fließende Leben
hinter der Front wecken das Bedürfnis nach dem altgewohnten Sorgenbrecher.
In den Nachschubzügen rollen Bier und Wein an die Front und noch mehr
in die Etappe. Der Transport dorthin ist ja so viel einfacher. Ihr stehen
auch immer neuentdeckte Vorräte des Landes zur Verfügung. Der Kampfiron!
läßt sich der Alkohol meist nur in der konzentrierten Form des Branntweıs
zuführen. Mancher, der ihn bisher verschmähte, greift zu ihm zur At
peitschung der geschwächten Nerven, zur vermeintlichen Hebung seiner dur
Anstrengung und Entbehrung mitgenommenen Kräfte. Verständige Trupper
führer verabreichen den gelieferten Branntwein — er ist zudem nicht von dë
feinsten Sorte — wenigstens nur als Beigabe zum Tee, diesen allerding:
damit auch Manchem verekelnd. Das heimatliche Bier wird aber Gott s
Dank immer schwächer. Seine Herstellung bedeutet aber auch so noch z
Verlust an Brotgetreide, das Heer und Heimat bitter nottut. Die Weinvorti
zu Hause und in Feindesland werden knapp. Von eigentlichen Alkohol
exzessen kann man nur noch an wenigen Stellen der Etappe sprechen, w0
Einzelne altgewohnten Lüsten des Leibes unterliegen, während ein gan®
Volk um sein Dasein ringt, stirbt und hungert. Im Ganzen betrachtet wiri
das deutsche Volk und sein Heer zwangsmäßig alkoholfrei oder wenigstens
alkoholarm, damit aber auch alkoholintolerant, ohne doch alkoholfeindlicı
geworden zu sein.
Im Frühjahr 1918 rafft sich das deutsche Heer im Westen zum letzte
Angriff auf. In mehreren aufeinanderfolgenden Schlägen führt dieser ern‘
tief in bisher vom Kriege fast verschontes Land. a und dort stößt dit
Angriffstruppe auf feindliche Verpflegungsvorräte, auch auf unversehrte Wein
lager. Von jahrelanger Entbehrung verzehrt, von Hunger und Durst gepeng
die Nerven aufgepeitscht durch die Schrecknisse des Kampfes, greift di
Truppe zu, wo sie Eßbares, Trinkbares, als Kleidung und Ausrüstung
Brauchbares findet, ohne Wahl und Besinnung. Und so erlahmt an en-
scheidender Stelle der Angriffsgeist in Plünderungsdrang, Plünderungszwat:
und vor allem im Rausch. Die Disziplin, die Finwicken der Führer un
auch vielfach diese selbst versagen. Wer frei ist von Schuld, werfe dei
ersten Stein. Wer nicht dabei war, schweige still!
Der Dämon Alkohol hat so manchen günstigen Augenblick damals den
deutschen Waffen entrissen und an wichtigen Frontabschnitten ihren Angri!
vorzeitig zum Stocken gebracht. Dabei erhebt sich die schicksalsschwe'‘
Frage, ob dies nicht hätte vermieden werden können, wenn nicht eine volks-
tümliche Irrmeinung im Alkohol einen Kräftespender erblicken würde, y
sich endlich im deutschen Volke die Ueberzeugung durchgesetzt hätte, d4
Muff, Alkohol und Wehrkraft. 345
ler Alkohol die schwersten Gefahren für die Leistungsfähigkeit, besonders für
len Soldaten unter den Anstrengungen des Kampfes, in sich birgt. Dann
iätte sich wohl die Mehrzahl der Streiter damals, die wirklich vom heiligen
Villen durchdrungen waren, sich den Endsieg und damit den Frieden zu
rkämpfen, gehütet, sich durch den in solcher Lage ein gefährliches
ft für die Angriffskraft bildenden Alkohol des Erfolges berauben zu lassen.
\ber so eindeutig sind die großen Dinge doch nicht, daß man, wie es
rsschehen ist, sagen könnte, der Alkohol trage die Alleinschuld daran,
laß der erstrebte strategische Durchbruch dem taktischen versagt geblieben ist.
Eines aber beweist der Gang der Ereignisse im letzten Kriege: Man kann
ucht ohne weiteres ein Volk oder auch nur das Heer eines Volkes, dem der
Akoholgenuß unentbehrliche Gewohnheit geworden ist, dem Trinkfestigkeit
md Mannhaftigkeit fast zu einem Begrifi geworden sind, dessen führende _
Khichten in der Pflege von für standesgemäß gehaltenen Trinksitten auf-
xwachsen sind, auf die Dauer eines Krieges alkoholfrei machen und halten
md so vor den Gefahren des Alkohols bewahren, die in gesteigertem Maße
la auftreten, wo Seelen- und Körperkräfte in gesteigertem Maße angespannt
ind. Das könnte nur dann Ereignis. werden, wenn seine Führer und die-
enigen Schichten des Volkes, auf die sich diese Führer stützen, den Mut
ind die Kraft zu entschlossener Tat aufbrächten. Solche Führer hatten wir
aber zu unserem Unglück auf keinem Gebiet. Aber, was noch viel schlimmer
war: es fehlte auch den verantwortlichen Volkschichten der Wille und die
Kraft zu letzten materiellen Opfern, wo sie doch — sonderbar ist der
Menschen Wesen — das höchste Opfer, das des Lebens, darzubringen bereit
waren. Und so unterlagen wir im Kampfe wohl doch aus Willenschwäche.
Wenn das „bei Stimmung erhalten“ als oberstes Gesetz weichherziger staats-
männischer Führung galt, dann konnte man das anerkannte Mittel, in
Stimmung zu kommen, wohl nicht gut unterbinden.
Welchen Zuwachs von moralischen Kräften freiwilliger oder auch von
den Führern aufgezwungener Verzicht auf ein bis dahin für unentbehrlich
Brialtenes Genußmittel bedeutet hätte, auf ein Genußmittel, das den klaren
lick in den furchtbaren Rachen des Geschehens trübt, das den Leib ONE HE
macht, seine ganze Kraft bis zum Ende, das nur das feindliche Gescho
bringen dürfte, einzusetzen, das dem Volkskörper einen Teil der zur Erhaltung
siner Kräfte notwendigen Nahrungsmittel vorenthält, das zu beantworten ist
der nicht verlegen, der überall im Geschehen das Walten des Geistes zu sehen
gewohnt oder gläubig genug ist. Dieser Gedanke aber leitet herüber in
unsere Tage und in unsere Lage. Auch heute noch stehen wir im Kampf
um das Leben unseres Volkes. Er ist für den, der an sein Volk und dessen
Zukunft glaubt, noch nicht zu Ende. Wohl wird er zurzeit mit anderen
Mitteln als denen des Schwertes gekämpft. Ob er auch ohne dieses aus-
ekämpft werden wird, wer vermag es zu sagen? Als Soldat, der darum
Soldat geblieben ist, muß ich es verneinen.
Aber wie dem auch sein mag: dieser Kampf mit oder ohne Waffen
verlangt ein wehrkräftiges Volk, wehrkräftig im weitesten Sinne dieses Wortes!
vir brauchen die Kraft wirtschaftlichen Wohlstandes, um uns die den Feinden
verschriebene Freiheit zu erkaufen, wir brauchen die Kraft eines gesunden
seistes und Leibes, um uns jenen Wohlstand zu erarbeiten; wir brauchen die
\raft nationaler Würde, um die äußerliche Niederlage nicht zu einer inner-
‚chen werden zu lassen; wir brauchen die Kraft des klaren Blicks, um klug
und sicher den Weg aus den Wirrsalen der Gegenwart in die Zukunft zu
sehen, wir brauchen die Kraft des gesunden Herzens, auf daß nicht sein
wildes Pochen uns die Brust zersprengt oder sein allzuleiser Schlag uns
das Blut nur matt durch die Adern treibt. Und wir brauchen alle diese
Krälte für den Tag, an den jeder denkt und von dem keiner spricht. Wir
Tauchen ‚Wehrkraft! An ihr versündigt sich, wer durch unmäßigen Alkohol-
genuß seinen Geist vergiftet, sein Herz vergiftet, seinen Leib vergiftet und
emen Teil des Volksvermögens an dieses Gift vergeudet.
346 Abhandlungen.
Als Mittel aber, sich und ein Volk, das von jeher auf die Freiheit deg
Persönlichkeit pochte, von einer Gewohnheit zu befreien, die ihm seit deg
Ahnen Gedenken als Recht des freien Mannes gilt und die deshalb gesetzlicheg
Eingriffen trotzt, gibt es nur die: freiwilligen Verzicht und Erweckung vor
Lebensbedürfnissen, die jene alte Gewohnheit allmählich verdrängen. Değ
freiwillige Verzicht, das ist Aufgabe und edles Vorrecht derjenigen Schichten;
die sich zur Führung bestimmt und verpflichtet fühlen, derer, die b
wußt auf Befreiung, d. h. Wehrhaftigkeit, hinarbeiten. Ihr Beispiel wird
zum Gesetz, zum ungeschriebenen, freiwillig auf sich genommenen.
Daneben aber führt die Masse nur der Weg über die Ausbreitung de
Freude an den DS UnBEN des Leibes fort zur Entgitung von übler Gewohnhei
Nur die Erweckung des Stolzes auf den gestählten Körper befreit unser Vol
vom Alkohol!
Allen Verantwortlichen, in erster Linie den Lehrern der Jugend, ruk
ich daher zu: Gebt Zeit und Raum für diese Stählung des Körpers, gebt iha
sein Recht, das allzulang vorenthaltene, neben der Bildung des Geistes! Def
Jugend aber rufe ich zu: Gebt nicht nach im Kampfe um euer Anrecht aw
den gesunden Leib, auf seine Ausbildung in Luft und Sonne, auf grünem
Rasen und auf Bergeshöhen, im Sommer und im Winter! Ihr Akademike
aber, gebt ihr das Beispiel in beiderlei Hinsicht, wenn ihr mit der so ol
beteuerten Liebe zu eurem Volke und der Arbeit an seiner Neugeburt Ernst
machen wollt. Humanitas bedeutet: Stoa und Gymnasium; Befreiung heißt
Fichte und Jahn! Wehrkraft ist das Ziel, die Zukunft, das Schicksal!
Volkswirtschaft
und (Gemeindebestimmungsrecht.
Ein Gutachten veranlaßt durch die Kundgebungen deutscher Handels-
kammern gegen dieses Selbstbestimmungsrecht der Gemeinden.
I.
Mit Recht fühlte sich die deutsche Nationalökonomie bei aller sonst wı
schaftspolitischen Tagestreitigkeiten ae gebotenen Zurückhaltung, ve"
Be den im Gesamtinteresse der deutschen Volkswirtschaft so bedenk icheg-
chritten einer von Sonderinteressen inspirierten Zollpolitik durch eine en
drucksvolle Kundgebung entgegenzutreten.
Mit demselben Rechte und der gleichen Verpflichtung gegenüber den
Wohle des Vaterlandes und seiner Wirtschaft hat sie heute ihr unparteiisches
wissenschaftliches Urteil zur Alkoholfrage öffentlich auszusprechen.
Nach dem Beschluß des Reichstages vom 18. Februar 1925 steht eme
reichsgesetzlich geregelte Bekämpfung des für die Gesamtheit unseres Volke
so überaus nachteiligen Alkoholismus unmittelbar bevor. In dieser geschicht-
lich denkwürdigen Stunde muß die im Gesamtinteresse urteilende deutsche
Nationalökonomie ihre Stimme erheben, um vor unbesonnenem Uebereifer, ab?
auch vor falscher Zaghaftigkeit zu warnen. Sie darf das Feld nicht den
privatwirtschaftlichen „Sachverständigen“ überlassen, die am Alkoholismus
im weitesten Sinne des Wortes als Konsum von Massen Alkohols dur
Volksmassen interessiert sind.
Die Alkoholfrage ist nicht nur ein gesundheits-, sozial- und kultur-
politisches Problem, sondern mittelbar und unmittelbar auch eine ers!
wirtschaftspolitische Angelegenheit. Gerade die volkswirtschaftliche
deutung des Alkoholismus ist heute in den Vordergrund der Erörterungen 7”
stellen, wo mehr als jemals das Schicksal des Reiches samt der Erhaltung
und Mehrung der kulturellen Güter abhängt von dem erfolgreichen Wieder ;
aufbau seiner Volkswirtschaft. P
Daß die Alkoholfrage gerade auch in Deutschland reif ist zu volkswir
schaftlicher Beurteilung, steht außer Zweifel und ist neuerdings wieder dure
Weber, Volkswirtschaft und Gemeindebestimmungsrecht. 347
einige wirtschafts-wissenschaftliche Publikationen erwiesen. Trotz abweichender
Meinung im Einzelnen muß von der gesamten deutschen Nationalökonomie
als zutreifendes wissenschaftliches Seinsurteil anerkannt werden, daß der
Massenkonsum alkoholischer Getränke unter dem Gesichtspunkte an sich
möglicher und in Deutschland gegenwärtiger wirtschaftlicher Notlage gebotener
Wirtschaftlichkeit ein volkswirtschaftlich unproduktiver Luxus ıst, der die
volkswirtschaftliche Höchstleistung beeinträchtigt.
‘ Mit welchen Gefühlen man auch den Dawes-Verträgen gegenüberstehen
g — es ist durchaus folgerichtig, wenn ihrem ab 1929 in Kraft tretenden
Vohlstandsindex“ unter anderm sowohl die Einfuhr alkoholischer Ge-
änke als auch überhaupt der Alkoholkonsum unseres Volkes mit zugrunde
l
Ä ist.
Dandan ist bekanntlich kein reiches Land mehr, das sich eine passive
delsbilanz leisten und diese durch eine aktive Zahlungsbilanz ausgleichen
er gar überkompensieren könnte. Soll nach allen Anstrengungen zur
ierung die deutsche Volkswirtschaft nicht doch noch zusammenbrechen,
so muß die tatsächlich noch in bedenklichem Grade passive Handelsbilanz
durch Verminderung unproduktiver Luxuseinfuhr und peiperung der Ausfuhr
hochwertiger Qualitätswaren so zielbewußt und schnell wie möglich zu
unseren Gunsten beeinflußt werden.
Ist auch der Alkoholkonsum nicht das einzige Uebel, das eine solche
!äenderung der Handelsbilanz erschwert, so kommt ihm doch eine nicht ernst
‚genug zu nehmende Bedeutung bei. Angesichts der wirtschaftlichen Lage
Weutschlands ist die Mehreinfuhr alkoholischer Getränke ohne Zweifel vom
wlkswirtschaftlichen Standpunkt aus zu verurteilen. Aber auch die Mehr-
änfuhr landwirtschaftlicler Erzeugnisse beruht nachgewiesenermaßen in nicht
geringem Grade auf der Vergärung einheimischer Bodenprodukte zu alko-
olischen Getränken. l
‚ Volkswirtschaftlich ungünstig wirkt ferner der Massenkonsum von
Trinkalkohol auf Arbeitsquantität und -qualität. Ebenso belasten die durch
Alkoholismus wesentlich gesteigerten öffentlichen und privaten Ausgaben zur
nachträglichen Behebung der die Gesamtheit benachteiligenden Schäden infolge
von Unfällen, Invalidität, körperlicher und geistiger Krankheiten, Kriminalität,
Armenfürsorge usw. usw. die deutsche Volkswirtschaft mittelbar in empfind-
Tichem Maße.
, Auf Grund sorgfältiger Berechnungen, die hier nicht wiedergegeben
"werden können, ist festgestellt, daß die volkswirtschaftlichen Nachteile des
Alkoholkonsums durch die volkswirtschaftlichen Aktivposten der Alkohol-
produktion einschließlich der Verwertung der in ihr anfallenden Neben-
‚produkte bei weitem nicht ARE werden. Aus diesem national-
; ökonomischen Gesamturteil zur Tatsachenfrage des Alkoholproblems ergibt
‚sich die Folgerung, daß ein durch Rückgang des Alkoholkonsums des
deutschen Volkes erreichter alkoholfreierer Zustand der deutschen Volks-
: wirtschaft vom nationalökonomischen Standpunkt aus sehr zu begrüßen wäre.
: Natürlich ist auch das kein durchschlagendes Gegenargument, daß der
' Staatshaushalt auf die nicht unbeträchtlichen Einnahmen aus den Alkohol-
steuern nicht verzichten könne. Diese Seite des Alkoholproblems darf nicht
vom Ressortstandpunkt aus beurteilt werden. Ein alkoholireierer Zustand der
deutschen Volkswirtschaft würde teils Kaufkraft für volkswirtschaftlich
| produktiven Konsum freimachen, teils die Kapitalbildung begünstigen. Durch
tese, beiden Wirkungen würde der Ausfall an Alkoholsteuern großenteils
-ìn Gestalt anderer Steuern wieder einkommen und ein etwaiger wirklicher
| Steuerausfall mehr als eingespart werden durch verringerte öffentliche Aus-
8 zur Reparation von Alkoholschäden.
k Im Widerspruch zu dem volkswirtschaftlichen Gebot, den Alkohol-
; Konsum einzuschränken, ist er tatsächlich in den letzten Jahren mit allen
nachteiligen Folgen schnell und stetig gestiegen. Der vertrunkenen Menge
nach ist der „Friedensstand‘“ schon beinahe wieder erreicht. Dem Geldwert
_ ach vertranken „wir“ im verkleinerten und verarmten Deutschen Reiche
348 Abhandlungen.
im letzten Jahre ebenso viel wie im größeren und reicheren Deutschland vor
dem Kriege, nämlich 3% Milliarden Goldmark. Das Unwirtschaftliche dieses
Verbrauchs ist evident. Die deutsche Nationalökonomie hat demnach allen
Grund, wirtschaftspolitische Maßnahmen in Erwägung zu ziehen, die geeignet
sind, einen Rückgang des Alkoholkonsums des deutschen Volkes einzuleiten
und herbeizuführen.
II.
Bei dem Uebergang vom wirtschaftswissenschaftlichen Seinsurteil zu
wirtschaftspolitischen Urteilen des Sollens ergibt sich jedoch unleugbar eine
Komplikation des Problems. Kann sich die deutsche Volkswirtschaft unter
dem angesichts ihrer gegenwärtigen und für absehbare Zeit anhaltenden
Notlage unausweichlichen Gebot der Wirtschaftlichkeit den lebensunwichtigen
Massenkonsum alkoholischer Getränke nicht leisten, so darf anderseits aus
demselben Grunde das Wirtschaftsleben ernsten Erschütterungen nicht aus-
esetzt werden. Es besteht aber ohne Zweifel die Gefahr, daß durch radikale
inschränkung des Alkoholkonsums wertvolle in Alkoholproduktion an-
gelegte Kapitalien ohne Möglichkeit zu allmählicher Umstellung plötzlich
entwertet und die zahlenmäßig beachtenswert großen Gruppen der Arbeit-
nehmer des Alkoholgewerbes der Arbeitslosigkeit ausgeliefert würden.
Wie in dem eingangs erwähnten Reichstagsbeschluß eine ‚„Trockenlegung
Deutschlands“ ausdrücklich abgelehnt wird, so wird auch die Mehrheit der
Nationalökonomen Deutschlands wegen der angedeuteten Gefahren für ein
rücksichtsloses Alkoholverbot schwerlich zu haben sein. Ohne öffentlich-
rechtlichen Zwang kann anderseits bei der Eigenart der vom Gewinnstreben
leiteten modernen Erwerbswirtschaft keine Maßnahme zur Verringerung des
lkoholkonsums Erfolg haben.
Es gilt daher, eine wirtschaftspolitische Maßnahme zu finden, welche
den wahrscheinlichen Erfolg, einen alkoholfreieren Zustand der deutschen
Volkswirtschaft herbeizuführen, verbindet mit der Gewähr, daß das Wirt-
schaftsleben vor Erschütterungen bewahrt bleibt.
Von allen in dieser Richtung gemachten konkreten Vorschläge empfiehl!
sich dem Nationalökonomen weitaus am meisten die Einführung des sogenann-
ten Gemeindebestimmungsrechts on) auch in Deutschland, das die
erwähnten Bedingungen voll erfüllt und zudem in anderen Staaten erprobt ist.
Mögen die subjektiven Wünsche einer an Zahl und Einfluß schwachen
Gruppe seiner Befürworter radikalere Hintergedanken dabei im Sinn haben
— sachlich hat das Gemeindebestimmungsrecht (GBR.) mit einer Trocken-
legung Deutschlands unmittelbar nicht das geringste zu tun. Es zeichnet sid
vielmehr durch weise Beschränkung aus und behandelt die Sonderinteressen
des Alkoholgewerbes aufs schonendste.
Wie bei allen politischen Maßnahmen sind auch bei diesem wirtschafts-
politischen Mittel die Wirkungen nicht im Einzelnen vorausberechenbar.
Grenzen und Tendenzen seiner Wirksamkeit lassen sich jedoch hinreichend
bestimmen.
Die Bedenken, die gegen ein staatliches Alkoholverbot für Deutschland
vom Nationalökonomen erhoben werden können, treffen das GBR. nicht.
Weder formal noch seiner Wirkung nach gleicht es einem solchen Verbot.
Bedeutet es doch nicht einmal eine unmittelbare allgemeine Einschränkung
des Alkoholkonsums.
Die Herstellung alkoholischer Getränke wird vom GBR. unmittelbar
überhaupt nicht berührt, und auch der Handel damit nicht grundsätzlich
behindert. Der Alkoholverbrauch in den Privathaushaltungen bleibt iM
Prinzip unbeschränkt. Die Gefahren des Schwarzbrennens und -brauens
werden so von vornherein vermieden.
Diese Art der Bekämpfung des Alkoholismus, die in Uebereinstimmung
mit dem erwähnten Reichstagsbeschluß unmittelbar nur darauf abgestellt ist.
das Schankkonzessionswesen zu reformieren, vermeidet jede Schablonisierung
und gestattet, den verschiedenen örtlichen Verhältnissen und Bedürfnissen
vollauf Rechnung zu tragen. Diese Schmiegsamkeit der Anwendung des
Weber, Volkswirtschaft und Gemeindebestimmungsrecht. 349
GBR., sich von Fall zu Fall und Ort zu Ort den Erfordernissen der kom-
munalen Gesamtinteressen anzupassen, ist auch unter volkswirtschaftlichem
Gesichtswinkel ein Ber Vorzug gegenüber allen Vorschlägen zu unmittel-
barer allgemeiner wang oe rimang des Alkoholkonsums.
Das GBR. gewährt seinem Begriffe gemäß lediglich allen Einwohnern
als Gemeindebürgern der einzelnen Gemeinden des Reiches die Möglichkeit,
die Zahl der Schankstätten zu begrenzen oder zu reduzieren, strengstenfalls
bis auf Null. Wo eine emeindeeyOlkerung eine der nach dem GBR.
cht,
eaer gegebenen Möglichkeiten verwirkli dürfte die Wirkung einer
inschränkung oder doch wenigstens einer Verhinderung weiteren Anwachsens
des Alkoholkonsums T Banane und somit den volkswirtschaftlich er-
wünschten und vom Gesetzgeber beabsichtigten Erfolg haben. Denn es ist
nicht wahrscheinlich, daß ın den Privathaushaltungen künftig um so viel
. mehr getrunken werden würde.
+
Ob aber überhaupt und in wievielen Gemeinden Deutschlands nach
Einführung des GBR. die weit überwiegende und ja nur dann juristisch
ausreichende Mehrheit der Bevölkerung von dem neuen Rechte wirksam
Gebrauch machen wird, ist durchaus ungewiß.
Seiner Natur nach wird das GBR. auch bei reger Ausübung nicht
überall im Reiche gleich schnelle und gleich große Fortschritte machen
können. Außer allem Zweifel steht daher, daß der volkwirtschaftliche Gesamt-
erfolg gunstige nur ganz allmählich und schrittweise eintreten kann.
Das GBR. verbürgt somit eine Behutsamkeit des Vorgehens, die ernstere
volkswirtschaftliche Nachteile nahezu ausschließt.
Sonderinteressen einzelner Wirtschaftsgruppen müssen nötigenfalls dem
Gesamtinteresse geopfert werden. Hinsichtlich des GBR. klaffen die volks-
wirtschaftlichen Gesamt- und die privatwirtschaftlichen Sonderinteressen gar
nicht so stark auseinander, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben
‚ Falls die meisten Gemeindebevölkerungen von einem deutschen GBR.
keinen Gebrauch machen, so hat dessen Einführung im großen und ganzen
weder in volks- noch in privatwirtschaftlicher Hinsicht am früheren Zustande
etwas geändert. Bewirkt aber das GBR. durch rege Anwendung einen
merklichen Rückgang des Alkoholkonsums, so bedeutet das bei seiner zweifels-
frei allmählichen Wirksamkeit keinesfalls eine vernichtende Katastrophe für
das gesamte deutsche Alkoholgewerbe. |
Am ungefährlichsten ist die erhoffte volkswirtschaftlich günstige Wirkun
GBR. für die großkapitalistische Alkoholproduktion der Brennereien un
Brauereien als derjenigen AOO a die wegen der in ihnen angelegten
großen Kapitalien und der von ihnen beschäftigten Arbeitnehmer von nicht
eringer volkswirtschaftlicher Bedeutung sind. Der auf Grund des GBR.
barerweise starke Rückgang des Absatzes in einzelnen Gemeinden wird
durch umgekehrte Verhältnisse in anderen Gemeinden abgeschwächt. Die
resultierende Gesamtabnahme des Absatzes dürfte kaum schneller vonstatten
Be als die Produktionsmittel ohnehin veralten. Ein durch das GBR.
beigeführter stetiger Rückgang der Konjunktur trifft die Brennereien und
Brauereien nicht überraschend und vollzieht sich hinreichend allmählich, daß
mstellungen vorbereitet und durchgeführt werden können. Aehnliches gilt
von den großen kapitalistisch wirtschaflenden Weinkellereien.
‚Grundsätzlich unvereinbar erscheinen Gesamt- und Sonderinteressen
Zunächst hinsichtlich der Schankstätten. Dieser Teil des Alkoholgewerbes
wird bei positiver Anwendung des GBR. umittelbar getroffen. Da es durch
die Schankkonzession jeweils an einen bestimmten Ort gebunden ist, kommt
ihm der abschwächende Ausgleich der Gesamtwirkung des GBR. nicht
mildernd zustatten.
Anderseits ist dieser Teil des Alkoholgewerbes hinsichtlich Kapitalanlage
und Arbeitsgelegenheit im großen und ganzen der volkswirtschaftlich am
wenigsten bedeutungsvolle.e Wenn das volkswirtschaftliche Gesamtinteresse
verlangte, die wohlerworbenen Rechte der Beamten zu opfern, um den zum
350 Abhandlungen.
Teil mit großen Härten verbundenen Personalabbau durchzuführen, so ist
gegenüber den Gastwirten ohne Zweifel keine größere Rücksicht geboten.
Die volkswirtschaftliche Ueberflüssigkeit der Viel-zu-Vielen unter ihnen
steht außer Zweifel. Auf den 25000 auten Grundstücken Berlins gibt
es 11000 Schankstätten, auf je 231 Einwohner (also einschließlich Frauen
und Kinder) entfällt in Preußen eine Schankstätte. Trotz unvermeidlicher und
bedauerlicher Härten im einzelnen wären zur Beseitigung dieses Zustandes
im volkswirtschaftlichen Interesse „goldene Rücksichtslosigkeiten“ nicht zu
beanstanden.
Das GBR. geht aber auch den Gastwirten gegenüber behutsam vor. Mit
der Anwendung seiner untersten Stufe können alle, die heute Gastwirt sind,
im eigensten Interesse einverstanden sein. Sie trifft nur diejenigen, die es
werden wollen. Die bestehenden Alkoholschankstätten werden dagegen
lediglich vor neuer Konkurrenz bewahrt, wo ein Gemeindebeschluß gefaßt
wird, keine neuen Konzessionen für den Ausschank alkoholischer Getränke
‚mehr zu erteilen.
Auch die zweite Stufe der Anwendung des GBR. trifft das Gastwirt-
ewerbe nicht allzu hart. Ein Gemeindebeschluß, die Schankkonzession im
alle des Besitzwechsels nicht zu erneuern, kann zwar verschiedene privat-
wirtschaftlich nachteilige Folgen haben, die jedoch gegenüber dem volks-
wirtschaftlichen Gesamterfolg nicht ins Gewicht fallen.
Die dritte Stufe des GBR. kann allerdings von den Alkoholinteressenten
niemals gebilligt werden. Denn der Möglichkeit nach bedeutet ihre An-
wendung das Ende aller derjenigen Gastwirtschaften, deren Rentabilität ganz
überwiegend auf Alkoholausschank beruht und durch Verabreichung von
Speisen und nichtalkoholischer Getränke nicht gesichert ist. Die durch-
schnittliche Stellung des deutschen Volkes zum Alkoholkonsum läßt es aber
als ausgeschlossen erscheinen, daß in absehbarer Zeit auch nur in einer
TT bedeutenderen Gemeinde Deutschlands von der strengsten Möglichkeit
des GBR. Gebrauch gemacht wird, den Ausschank alkoholischer Getränke im
Gemeindebereich überhaupt zu untersagen.
Da die Wirksamkeit des GBR. als eines wirtschaftspolitischen und wirt-
schaftspädagogischen Mittels von vornherein bewußt auf lange Sicht berechnet
ist, kann man gerade unter volkswirtschaftlichem Gesichtswinkel dieser letzten
schärfsten Anwendungsmöglichkeit des GBR. nicht entraten. Bedeutet sie
unmittelbar keine ernste Gelahr für das gesamte deutsche Gastwirtgewerbe, so
dürfte sie doch den günstigsten Einfluß ausüben, manchem in volkswirtschaft-
lichem Sinne überflüssigen Gastwirt eine rechtzeitige Umstellung nahezulegen
Sollte im Laufe der Tahre nach günstigen Erfahrungen mit den milderen
Anwendungsgraden des GBR. die Ueberzeugung gereift sein, daß auch dessen
schärfster Grad zur Anwendung kommen müsse, so würde das Gastwirt-
erg davon nicht überraschend getroffen werden. Um aber auch in diesem
unkte die weitestgehende Rücksichtnahme auf die Sonderinteressen zu nehmen,
wird man den von juristischer Seite gemachten Vorschlag auch vom volks-
wirtschaftlichen Standpunkte aus gutheißen, nämlich den Gesetzentwurf
dahin zu ändern, daß ein Gemeindebeschluß der völligen Ausschließung
a re erst ein oder zwei Jahre nach der Beschlußfassung
in Kraft tritt.
Entscheidende volkswirtschaftliche Bedenken gegen die Möglichkeit eines
solchen kommunalen Alkoholausschankverbots bestehen nicht. Von einer
Trockenlegung Deutschlands kann dabei nicht die Rede sein, da die Her-
stellung alkoholischer Getränke an sich und ihr Verbrauch in den Privat-
haushaltungen auch von dieser äußersten Bestimmung des GBR. nicht be-
troffen werden können.
Gegen die möglichen und wahrscheinlichen Auswirkungen eines deutschen
GBR. können vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus durchschlagende
Argumente nicht angeführt werden, die seine Einführung untunlich erscheinen
lassen. Es gibt aber auch keinen grundsätzlichen Einwand der Art, daß eine
U a A
Weber, Volkswirtschaft und Gemeindebestimmungsrecht. 351
solche Wirtschaftspolitik das Fundament der herrschenden Wirtschaftsordnung
erschüttere.
In der öffentlichen Meinung wird von Alkoholgegnern und Alkohol-
interessenten der Streit manchmal so ausgelegt, als handele es sich um einen
grundsätzlichen Angriff gegen „das“ Kapital. In Wahrheit steht jedoch die
zu befürwortende wirtschattspolitische Maßnahme des GBR. durchaus auf
dem Boden der geltenden Wirtschaftsverfassung.
Das GBR. richtet sich nicht gegen das Kapital überhaupt, sondern nur
gegen die hemmungslose und volkswirtschaftlich nachteilige, ohne öffentlich-
tliche Regelung jedoch unabänderliche Auswirkung des Alkoholkapitals.
Der Grundsatz der Gewerbefreiheit, der von der heute herrschenden Wirt-
schaftsordnung geboren wurde, soll durch das GBR. nicht erschüttert werden.
Es ist nur eine neue Art der sonst bereits längst eingebürgerten und allgemein '
anerkannten Einschränkungen der Gewerbefreiheit, die ihre grundsätzliche
Herrschaft für die Gesamtheit auf die Dauer erst tragbar machen. Die Ver-
treter „der“ Wirtschaft, wie z. B. die Handelskammern haben daher keinen stich-
haltigen Grund, gegen das GBR. Sturm zu laufen. Als ein „gefährliches
Experiment‘ kann es mit Grund nicht angesprochen werden.
Der Nationalökonom, der seinem Begriife nach ohne Rücksicht auf die
Gunst der öffentlichen Meinung, der Parteien und mächtigen Wirtschafts-
organisationen im Interesse der Gesamtheit zu denken und zu urteilen hat,
findet daher keinen entscheidenden Grund, von der Einführung eines deutschen
GBR. abzuraten, sondern muß es vielmehr vom Standpunkte seiner wissen-
‚ schaftlichen Zuständigkeit aus als ein wirtschaftspolitisches Mittel empfehlen,
das geeignet erscheint, den Wiederaufbau der deutschen Volkswirtschaft wirk-
' sam zu unterstützen. Dr. Reinhard Weber,
Im November 1925. Assistent am Forschungsinstitut
für Sozialwissenschaften der Stadt Köln.
Zu diesem Gutachten haben ausdrücklich ihre Zustimmung erklärt:
Prof. Dr. Th. Brauer (Karlsruhe i. Bd.),
Geh. Rat Prof. Dr. L. Brentano (München),
Prof. Dr. Brieis (Freiburg i. Br.),
Prof. Dr. Brinkmann (Heidelberg),
Geh. Rat Prof. Dr. Christian Eckert (Köln),
Prof. Dr. Heimann nu):
Geh. Rat Prof. Dr. Herkner (Berlin),
Prof. Dr. R. Liefmann (Freiburg i. Br.),
Staatsminister a. D. Prof. Dr. Lindemann (Köln*),
Prof. Dr. P. Mombert, (Gießen),
Prof. Dr. Erik Nölting (Frankfurt a. M.),
Prof. Dr. Oppenheimer (Frankfurt a. M.),
Exzellenz Prof. Dr. v. Pistorius (Stuttgart),
Prof. Dr. Th. Plaut (Hamburg),
Prof. Dr. Joh. Plenge (Münster i. W.),
Geh. Prof. Dr. Schulze Gävernitz (Freiburg i. Br.),
Prof. Dr. Eugen Schwiedland (Wien),
Geh. Rat Prof. Dr. Sering (Berlin),
Prof. Dr. Sieveking (Hamburg),
Prof. Dr. Terhalle (Hamburg),
Geh. Rat Prof. Dr. Tönnies (Kiel),
Prof. Dr. Wilhelm Vershofen (Nürnberg),
Dr. W. Vleugels, Privatdozent an der Universität Köln.
Prof. Dr. Adolf Weber (München),
Prof. Dr. R. Wilbrandt (Tübingen),
Prof. Dr. Zimmermann (Hamburg).
) Herr Prof. Dr. Lindemann. Köln, fügte seiner Unterschrift folgende Bemerkung an:
h „Ich würde die Kritik an der alkoholfreundlichen „Wissenschaft“ viel schärfer gemacht
aben, bin aber bereit, das Gutachten trotz dieser Milde zu unterschreiben.“
In ähnlichem Sinne äußerte sich Herr Prof. Dr. Plaut.
352 Abhandlungen.
Das Giemeindebestimmungsrecht
im Urteil medizinischer Hochschullehrer.
Die von dem Direktor des Berliner Krankenhauses- Charite, Geh. Reg.-
Rat Pütter und San.-Rat Dr. Hesse herausgegebene Schrift „Be-
kämpfung des Alkoholmißbrauchs ohne Gemeindebe-
stimmungsrechtund Trockenlegung“ gab der Deutschen Reichs-
hauptstelle g. d. A. Anlaß, eine Reihe angesehener Hochschullehrer der
medizinischen Fakultäten um ihr Urteil über diese Schrift und auch über die
Frage des Gemeindebestimmungsrechts zu bitten. Vierundzwanzig Hochschul-
lehrer, sowie die Fachgemeinschaft der Deutschen Hygieneproiessoren ent-
sprachen der Bitte. Die Antworten sind unter der Ueberschrift „Das Ge-
meindebestimmungsrecht im Urteil medizinischer Hochschullehrer“ zu einer
Flugschrift vereinigt worden und im Verlag „Auf der Wacht“ (Berlin-Dahlem)
erschienen.
Wir geben im Folgenden einige Auszüge aus der Schrift und fügen
gleichzeitig zwei später eingelaufene Antworten (von Geh.-Rat Prof. Dr. Moritz
und Prof. Dr. Aschoff) bei:
»... Was die Herren Pütter und Hesse wider die Einführung des
Gemeindebestimmungsrechtes vorbringen, ist wie so Vieles in ihrer Schrift
fadenscheinig und unhaltbar. Ihre Meinung, daß die jetzigen Konzessions-
behörden für die Schankstätten, die Stadt -und Kreisausschüsse, die „gegebenen
Stellen“ für diese Aufgabe seien, weil sie „die beste Kenntnis der Orts-
und Sachlage haben könnten“, widerlegen sie schon selbst, indem sie Nach-
prüfung der Entscheidungen dieser Behörden durch Magistrat und Stadt-
verordnetenversammlung und Berufung an den Bezirksausschuß anheim-
geben...
Die Bedenken der Verfasser, daß die Urwählerschaft nicht die „genügende
Weisheit“ für die ihr anzuvertrauenden Entschließungen besitzen würde und nur
zu leicht von Alkoholgegnern oder Alkoholinteressenten beeinflußt werden
möchte, kann man theoretisch natürlich gegen jede Entscheidung durch eine |
Volksmehrheit, gegen jedes Wahlverfahren politischer oder unpolitischer Art
geltend machen ....
Bei dem trotz Allem noch immer gesunden Sinn und Empfinden unseres
Volkes wird sich das Richtige schon durchsetzen. Daß dies geschehen könnte.
fürchtet freilich das Alkoholgewerbe, und darum bekämpft es das Bestim-
mungsrecht der Gemeinde. Wir Anderen aber hoffen es um so mehr und
wünschen deshalb die Entscheidung der Bevölkerung ermöglicht zu sehen.
Jene ringen eben um materielle, persönliche, wir für ideelle, allgemein
nützliche Zwecke. Freie Bahn! Und der schließliche Ausgang kann nicht
zweifelhaft sein.“ Prof. Dr. Abel,
Jena. Geh. Obermedizinalrat,
Direktor des Hyg. Instituts.
„Es ist eigentlich eine schwere Beleidigung für die Herren Geistlichen,
Lehrer und Aerzte, daß das, leider ach so mächtige, Alkoholkapital, deren
Urteilskraft so gering einschätzt, daß sie durch ein so wenig tiefes, Ir
ORDNEN entbehrendes Schriftchen, wie das der Herren Kollegen
E. Pütter und P. Hesse gegen das GBR., gewonnen werden könnten.
Mag man es für zu weitgehend erachten, z. B. von jedem Nervenarzt volle
Alkoholenthaltsamkeit zu verlangen — gegen das GBR zu kämpfen
halte ich für einen Arzt geradezu für unverantwortlich.
Prof. Dr. Rudolf Fick,
, Geh. Medizinalrat,
Vorstand der Anatomischen Anstalt
der Universität Berlin.
—
E | = i >
Abel u.a., Das Gemeindebestimmungsrecht im Urteil medizin. Hochschullehrer. 353
„ich stehe nicht an, die Schrift der Herren Pütter und Hesse „Be-
kämpfung des Alkoholmißbrauchs ohne Gemeindebestimmungsrecht und
Trockenlegung“ als eine oberflächliche Tendenzschrift zu bezeichnen. Es sagt
genug, daß dieselbe vom Alkoholkapital in großer Zahl vertrieben wird . . .“
Prof. Dr. Freudenberg,
Direktor d. Kinderklinik d. Universität Marburg.
&
„ich habe das Erscheinen der Schrift von Pütter und Hesse sehr be-
dauert. Die amtliche Stellung des Herrn Pütter gibt ihr ein autoritatives
Gewicht, das sie gar nicht verdient. Der Umstand, daß sie in großen
Massen vom Alkoholkapital überallhin versandt wurde, zeigt am ten,
welchen Interessen sie tatsächlich dient. Eine Erhöhung der Profitrate des
Alkoholkapitals liegt nicht im Interesse des deutschen Volkes, schadet der
deutschen Volksgesundheit und auch der deutschen Volkswirtschaft.
Die Verfasser kennen die Alkoholfrage zu wenig, haben sich mit der
wirtschaftlichen Seite des ganzen Problems nicht genü end beschäftigt, wissen
nicht genügend von der volkswirtschaftlich rationellen Umstellung des Alkohol-
gewerbes in andere Produktionsformen, die in Nordamerika stattgefunden hat,
sie unterstellen den Freunden des Gemeindebestimmungsrechts die geheime
Absicht, eine Trockenlegung zu betreiben, obwohl ja daran in einem demo-
kratischen Staatswesen nicht gedacht werden kann, solange wohl mehr als
%0 % aller Wähler den Standpunkt völliger Abstinenz nicht teilen. Die große
' nationale Bedeutung der Alkoholbekämpfung in unserem verarmten deutschen
Volke, die Abhängigkeit unserer Reparationslast von unserem Alkohol- und
Tabakkonsum wird übersehen oder zu gering bewertet . . .
Prof. Dr. Ga upp,
Direktor der psychiatrischen Klinik in Tübingen.
d
„Die Pro-Alkohol-Broschüre von E. Pütter und P. Hesse muß bei
allen peinliches Befremden erregen, die bisher in den Verfassern Männer
zu schätzen wußten, die sich auf dem Gebiete des sozialhygienischen Für-
sorgewesens Verdienste erworben haben. Durch ihre Aeußerung zur Alkohol-
frage und dem Gemeindebestimmungsrecht, die an Oberflächlichkeit jeden
Rekord schlägt, haben sie diesen Ruf arg gefährdet. Wir wollen hoffen, daß
das Heftchen nicht etwa eine vom Alkoholkapital ausdrücklich bestellte Arbeit,
sondern nur ein von jener gefundenes Fressen ist. Aber wie aus der massen-
haften Gratisverteilung hervorgeht, haben offenbar die Verfasser geduldet,
daß ihre naive subjektive Meinungsäußerung von den Alkoholinteressenten in
ener Art und Weise ausgeschlachtet wird, die gewiß nicht der sozial-
hygienischen Kultur unseres Volkes dient. Si tacuissent, sozialhygienici
mansissent!“
Berlin, Hyg. Institut. Prof. Dr. med. A. Grotjahn.
*
„Unser Volk ist durch den Verlust des Krieges und den Umsturz in eine
so furchtbare wirtschaftliche Lage geraten, wie noch niemals ein großes
Kulturvolk eine erlebt hat. Man vermag nicht einzusehen, wie die Masse
unseres Volkes gesund am Leben erhalten werden soll, wenn nicht mit An-
Spannung aller Kräfte gearbeitet und wenn nicht die Lebenshaltung so ein-
gerichtet wird, daß einerseits der Rest von körperlicher und geistiger Kraft,
uns geblieben ist, soviel als möglich ungemindert erhalten, andererseits
er jede überflüssige Ausgabe streng vermieden wird. Nur so können wir
wieder in den Besitz von soviel nationalem Betriebskapital gelangen, als
vorkanden sein muß, um unsere Wirtschaft in einer der Größe unserer Volks-
zahl entsprechenden Intensität führen zu können.
Der Mißbrauch der geistigen Getränke schwächt den Arbeitswillen, be-
änkt und nimmt die Leistungsfähigkeit und die Gesundheit; vergeudet
Die Alkoholfrage, 1925. 23
nn ei
354 Abhandlungen.
Arbeitskraft und Betriebskapital, die zur Herstellung von nützlichen Dingen
hätten verwendet werden können; belastet die Gesamtheit mit der Erhal
der Unnützen, Untauglichen, Verarmten, Verbrecherischen, Körper-
Geisteskranken, die er ımmerfort neu schafft.
Wenn man sich diese unbestreitbaren Tatsachen vor Au hält, muß
man sagen, daß es ein Beweis für die bejammernswerte Dummheit und
sittliche Schwäche der Menschen ist, daß die alten Trinksitten bei uns wieder
aufkommen, daß wieder Milliarden Mark durch die Kehle gejagt werden.
Angesichts der Unfähigkeit der ungeheuren Mehrheit der Menschen,
freiwillig der Vernunft zu gehorchen, ist hier wie in so vielen anderen Fällen
die Anwendung von gesetzlichem Zwang unentbehrlich . . .“
Prof. Dr. Maxv. Gruber,
Geh. Obermedizinalrat,
Direktor des Hyg. Instituts in München.
%,,Wenn die Schrift von Pütter und Hesse wirklich, wie der Titel sagt,
„Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs ohne Gemeindebestimmungsrecht und
eig egung“ zum Ziele hat, so ist es ein Versuch mit untauglichn
itteln.... .
Die Broschüre behauptet, sie wolle auch den Kampf das Ueber-
i 2 j 2 Lo ik! Weil die
Bekämpfung des Uebermaßes allmählich zur Ausrottung des Alkohols führen
Von keiner Sachkenntnis hinsichtlich der Alkoholfrage getrübt wird durt
derartige Instanzen entschieden . . .
Du par. et med. Wilhelm Weygandt,
irektor der Staatsnervenheilanstalt
Friedrichsberg in Hamburg. |
}
|
„Nach meiner ärztlichen Kenntnis sind die Min des Alkoho-
mißbrauchs im deutschen Volke so verheerend und in der Nachkriegszeit is
steigendem Maße hervortretend, daß es mir im Interesse des Volkswohls
durchaus geboten erscheint, ein Gemeindebestimmungsrecht zu schaffen,
welches es durch einen Appell an die Wähler erlaubt, wirksame Abhilfe gegen
die Alkoholschäden zu treiten.“ |
Köln. Geh. Rat Prof. Dr. Moritz.
„Da das behördliche Konzessionswesen in Deutschland uns vor den
Schäden des Alkoholismus nicht bewahrt hat und auch wenig Aussicht
besteht, daß hier ein erheblicher Wandel eintritt, bin ich für die Ein-
führung eines Gemeindebestimmungsrechts. Dieses würd
nur dann überflüssig sein, wenn von dem Reichstag selbst eine durchgreifende
Kontrolle über den Alkoholausschank in Deutschland beschlossen würde
Aber die Behandlung des Schankstättengesetzes im Se. zeigt, wie wenig
Hoffnung darauf zu setzen ist. Um so nötiger ist es, daß die Bevölkerung
selbst ihre Wünsche in dem Gemeindebestimmungsrecht äußern kann. Die 1
der Schrift von Pütter und Hesse gemachten Vorschläge sind nicht durch-
Ken genug, obwohl auch ich dieZuziehung der Schankstättenbesitzer zu den
ratungen über die beste Bekämpfung des Alkoholismus innerhalb der
en o — 2, .— TEE er > 0 u 3
Abel u. a., Das Gemeindebestimmungsrecht im Urteil medizin. Hochschullehrer. 355
Gemeinde für sehr erwünscht halte und öffentlich vertreten habe. Nur in
gemeinsamer Arbeit kann diese schwierige Frage gelöst werden. Gegen die
von Pütter und Hesse gefürchtete übertriebene Anwendung des Gemeinde-
bestimmungsrechts kann dadurch Schutz geschaffen werden, daß die von den
Gemeinden gefaßten Beschlüsse der ang CU die Reichsregierung
un Anhörung des Reichsgesundheitsamts ürfen, ehe sie wirksam
werden . . .
Pathologisches Institut der ı Prof. Dr. Aschoff.
Universität Freiburg i. Br.
». .. Die in großen Massen offensichtlich von Alkoholinteressenten ver-
breitete Schrift ist eine der bedenklichsten Irreführungen der öffentlichen
Meinung, gegen die von den Hütern deutscher Volksgesundheit nicht scharf
genug Einspruch erhoben werden kann. Es erscheint hohe Zeit, daß Staats-
regierungen wie Volksvertretungen nicht nur mit erhöhtem Nachdruck auf
den Schutz der heranwachsenden Jugend durch Erlaß eines wirksamen
Reichsschankstättengesetzes hinarbeiten: sie müssen auch verstärkt für eine
sachlich? Aufklärung über Alkoholgefahren in den Kreisen hinwirken, die
den Anspruch machen, die öffentliche Meinung in dieser für Deutschland
lebenswichtigen Frare beeinflussen zu wollen.
Die steigende Eıschwerung unserer Volksernährung fordert endlich, daß
. der Vergeudung hochwertiger einheimischer wie eingeführter Nahrungsmittel
Fe
durch Vergärung Einhalt getan wird. Das wird nicht nur die Kaufkraft
breiter Volkskreise im Innern stärken, sondern auch der bedenklich zu-
nehmenden Verschuldung an das Ausland Abbruch tun.“
Im September 1925. Fachgemeinschaft der Deutschen
Hygieneprofessoren.
Prof. Dr. K. B. Lehmann,
Geh. Hofrat,
Direktor des Hyg, Instituts der
Universität Würzburg.
Die Alkoholfrage
an den deutschen Universitäten.
„> . . Ich meine ‚es wäre verdienstvoll, immer wieder
auf die Schäden des Alkohols auf die Rasse hinzuweisen.
Leider fehlt es an einem geschlossenen Kreis von Pro-
pagandisten. Der einzelne dringt nicht durch. Immer muß
dasselbe unserem Volk gesagt werden, sonst geht es in
ein Ohr rein und dann aus dem andern raus.
Warum werden all diese Fragen nicht
auf den Universitäten behandelt und ge-
lesen? Esistdochdas Wichtigste, waswir
haben, und ist doch wirklich nicht Parteisache.
General LudendorffanProf.D.HansSchmidt-
ießen, den Verfasser der Schrift: „Warum haben wir
den Krieg verloren?“
Der Deutsche Verein gegen den Alkoholismus hat anfangs November
1925 an ihm nahestehende Medizinprofessoren der deutschen und einiger aus-
ländischer Universitäten den folgenden Fragebogen gerichtet:
l. Wird die Alkoholfrage in einer durch das ganze Semester sich hindurch-
ziehenden Vorlesung behandelt?
b) Zuletzt in welchem Semester?
b) Von einem Mediziner? (Von wem?)
23%
356 Abhandlungen.
c) Von einem Volkswirt? (Von wem?)
d) Von einem Ethiker? (Von wem?)
2. Wird die Alkoholfrage in einigen besonders bekanntgemachten Vor-
lesungen im Laufe des Semesters behandelt?
a) Zuletzt in welchem Semester? |
b) Von einem Mediziner? (Von wem?) |
c) Von einem Volkswirt? (Von wem?)
d) Von einem Ethiker? (Von wem?)
3. Sind im Laufe des letzten Semesters wissenschaftliche Lehrgänge zum
Studium der Alkoholirage oder besondere Vortragsabende speziell für
Studenten veranstaltet worden? Wenn ja, in welchem Semester? Von
wem?
4. Sind im Laufe der letzten Zeit Aufrufe an die Studenten, die vor den
koholgefahren warnen, erfolgt? Vom Lehfkörper? Von außen her’ |
5. Ist etwas Besonderes aus unserem Arbeitsgebiet an der dortigen
Universität zu berichten?
‚Darauf sind bisher 25 Antworten aus 20 deutschen Universitäten und
2 aus zwei ausländischen (Budapest und pasa eingegangen!). Infolge de
vielleicht nicht immer ganz eindeutigen Fragestellung weichen diese natüriich,
was Arena ai der Angaben betrifft, sehr voneinander ab. immerhiv
ergab sich im allgemeinen ein sicheres Bild. Die Hauptstriche geben wir bie
in gedrängter Form wieder. |
1. Besondere Vorlesungen über die Alkoholfrag
werden im laufenden Semester gehalten: Berlin (öffentlich) von Sozid ;
hygieniker Prof. Dr. Grotjahn; Breslau vom gerichtl. Mediziner Prol
Dr. Puppe; Göttingen von Priv.-Doz. Dr. Eichelberg; Innsbruck w
Prof. Dr. Gruber (öffentlich) über Alkohol und Geschlechtskrankheiten (m!
Lichtbildern).
Eine solche Vorlesung wurde in früheren Jahren gè
halten: Erlangen (S. S. 23, öffentlich) vom Hygieniker Prof. Dr. Hein
Jena (W. S. 24) vom ädagogen Dr. R. Strecker; Marburg (55.3!
von Prof. Dr. Sterz; Innsbruck (W. S. 22) Hygieniker Prof. Dr. Tode.
Beabsichtigt sind solche Vorlesungen: Breslau (S. 26) von Sozial-
mediziner Priv.-Doz. Dr. Pietruksi; Hambu rg (S. 26) von Priv.-Doz
Dr. Meggendori; Kiel voraussichtlich von W.% an regelmäßig von Pre.
Dr. Ziemke. |
Ein besonderer er über Alkoholismus war zu
‚Beginn des Wintersemesters 1925/26 dem Priv.-Doz. der Hygiene Pro.
Dr. Rosenthal zu Göttingen erteilt worden. Dieser wurde aber vor Begin
der Vorlesungen von dort versetzt.
Im ganzen u also eine deutliche Zunahme der Vorlesungen über
. die Alkoholirage. ch verdient der Einwand Prof. Dr. Lehmanns-Würz-
burg alle Beachtung: mit solchen Vorlesungen erreiche man jeweils nur
einen kleinen Kreis, schrecke die Allgemeinheit meist geradezu ab; die Alkohol-
frage sollte besser im Rahmen vieler, möglichst der Pflichtvorlesungen bè
handelt werden, nach und nach möglichst viele Fächer durchdringen.
2. Im Rahmen einer andern Vorlesung wurde die Alkohol-
frage gelegentlich, doch eingehend behandelt; in Psychiatrie: regelmäßig
Heidelberg, S. 25 Marburg; in Neurologie: S.25 Marburg; in gericht-
licher Medizin: regelmäßig Bonn; Hygiene: regelmäßig Freiburg.
Jena, Rostock, Würzburg, Innsbruck; S. 25 Dresden; in Sozialhygiene:
Freiburg, Münster; „onmehrerenDozentendermedizinische
PT
3) Antworten fehlen noch (am 15. 1.) aus Dresden, Düsseldorf, Greifswald, Leipzig, München.
: e _ a
Polzer, Die Alkoholfrage an den deutschen Universitäten. 357
Fakultät“ in Halle und Königsberg; in Praktischer Theologie in
Erlangen. |
Budapest behandelt die Frage regelmäßig in Nervenheilkunde,
Brüssel ın Psychologie und Hygiene.
3. Sammelvorlesungen über die Alkoholfrage, teil-
weise mit Aussprachen. Von verschiedenen Dozenten in je einer
Vorlesung, oft mit Lichtbildern, „um die Tragweite des Alkoholismus nach
verschiedenen Richtungen hin allen Kreisen der Studentenschaft zur Kenntnis
zu bringen‘.
Bonn W.S. 25/26: Im Institut für gerichtliche und soziale Medizin. —
Breslau S. 25: Nationalwirtschaftler, Sozialmediziner, Dermatologe und
gient; „äußerst schlecht besucht!“ Eine ähnliche Sammelvorlesung kam
W. S. 25/26 nicht zustande. — Erlangen W. 25/26: Monatliche Besprechungs-
stunde im Hygien. Institut mit Aussprache: „Die Alkoholfrage und ihre Be-
deutung für das Volksleben“ 1. „Student und Alkohol“, 2. „Die Alkoholirage
vom med. Standpunkt“, besonders auf Grund eigener Lebenserfahsung (Prof.
Dr. Heim). — Freiburg W. 25/26: „Bisher recht gute Beteiligung“:
Dr. Aschoff, Pathol. Anat., „Akademische Trinksitten und akademische Ueber-
lieferungen“; Priv.-Doz. Dr. Anders „Schädigungen des menschlichen Körpers
durch Alkohol“ (Lichtbilder); Prof. Dr. Bopp (kath. Theol.) „Alkohol und
Erziehung“; Prof. Dr. Briefs „Alkohol und Volkswirtschaft“. Einladung unter-
schrieben von Rektor und Studentenausschuß. Wiederholung geplant S. 26. —
Gießen: W.24/25 Psychiater, Hygieniker, Biologe, Dermatologe; Krimi-
nalist; 2 Theologen; der Ethiker und Pädagoge. — Kiel W. 25/26: Physio-
loge, Pharmalologe, Hygieniker, Gerichtl. Mediziner und Psychiater. —
Königsberg: W.25/26: Kliniker, Hygieniker, gerichtl. Mediziner, Psycho-
loge. — MarburgS.25: „Ein Mediziner und ein Theologe“. — Münster
W. 235/26: (öffentlich) „Alkoholschäden und Fürsorge für Alkoholiker“:
Hygieniker, Physiologe, Pharmakologe, Internist, Psychologe, Kinderarzt,
gericht. Mediziner. — Tübingen S. 25, acht öffentliche ee
„Theologe, Mediziner, Jurist, Offizier, Volkswirt.“ Wiederholung geplant
Eine Bemerkung, wegen der großen Zahl der Vorträge hätten die ein-
heitlichen Gesichtspunkte gefehlt, beweist, daß solche Sammelvorlesungen
um so wertvoller und wirksamer sind, je mehr sie von einer
Arbeitsgemeinschaftvon Dozenten ausgehen. — An einer Hoch-
schule haben die Dozenten durch Einladung auf Grund persönlicher Be-
ziehungen die Hörerzahl beträchtlich steigern können.
. InBonn wurde S. 25 die Alkoholfrage im Rahmen einer Sammelvorlesung
über soziale Fürsorge ausgiebig behandelt.
Die Werbewoche für das Gemeindebestimmungsrecht
hat da und dort zu öffentlichen Kundgebungen der Universität oder einzelner
Dozenten geführt. So berichtet Freiburg von einer Vortragsreihe für
Studenten und Bürgerschaft: „Alkohol und Volksgesundheit, Alkohol und Volks-
wirtschaft, Schädigungen durch Alkohol vom pathol.-anat. Standpunkt, Alko-
hol und Familie, Schweizerische Gaststättenreform, endlich Eigene Erfahrungen
n Amerika.“ — In Gießen Studentenversammlung, in der der Rektor, ein
Professor der Theologie, zwei Professoren der Medizin und einer der Rechts-
wissenschaften sprachen. — In Rostock bei demselben Anlaß Sammel-
vorlesung: Physiologe, Psychologe, Hygieniker.
4. Aufrufe und Warnungen an die Studentenschaft
a)VonderUniversitätaus: Kiel: „Vom Lehrkörper“. — K ön i g s-
erg: „Rektor warnt zu Anfang jedes Semesters die versammelten Ver-
treter der Körperschaften vor den Älkoholgefahren.“ — Marburg: „Früher
In einführenden Semestervorträgen. Hat aufgehört.“ — Budapest: „Schon
vor dem Kriege und während desselben alljährlich Vorträge über Alkoholfrage
ür Mediziner; W.25/26 wieder aufgenommen, von nun an regelmäßig.“ —
russel: Vorträge.
358 Abhandlungen.
Einzelne Dozenten verteilen an ihre Hörer regelmäßig alkoho erische
Standeszeitschriften. Eine Universität berichtet, daß der Oberbibliothekar ia
einzelnen Verbindungen über Alkoholfrage vortrage und die Bibliothek mit
den einschlägigen Schriften versehen habe.
Von außen her. Badischer Landesverband des
Deutschen Vereins g. d. A. W.25/26 Heidelberg Vorträge für
Studierende über die Alkoholfrage. — B.-V. Erlangen de D. V. g. d. A.:
Kurz nach Ende SS. 25 Schreiben an sämtliche Körperschaften mit Warnungen
besonders vor übermäßigem Schnapsgenuß (!) und vor Erregung öffentlichen
Aergernisses; anscheinend mit Erfolg.
5. Besonderes auf unserem Arbeitsgebiet. Leipzig melde.
der seit einiger Zeit dort angestellte „Studentenpfarrer“ sei auch im Kampk
gegen den Alkoholismus unter der Studentenschaft tätig. Kürzlich habe eine
sehr gut besuchte Studentenversammlung die Alkoholfrage behandelt. — Die
meisten anderen Berichterstatter schweigen aber dazu. Um so bezeichnender
(betrüblicher) sind die Bemerkungen der wenigen, die sich hier äußern.
Innsbruck: „An der Universität nichts geändert. Im Volke nimmt
Schnapsübel allgemein zu.“ — Eine norddeutsche Universität: „Die Studenten
trinken in alter Weise; ja, leider haben selbst Verbände, welche die Sportpüege
auf ihre Fahne geschrieben haben, einen recht intensiven Kommersbetrieb
noch nicht abgestreift.“ Von einer Hochschule von altem Rufe
heißteskurz: „Eswird gesoffen!“
Wie sehr beschämt da der Bericht Prof. Dr. J. Donaths aus panpe
„Die Zeitschrift „Alkoholfrage“ erhalten die Rektorate vom ungar. Wohlfahrts-
ministerium regelmäßig in je 10 Stücken zur Verteilung an die Studenten-
verbindungen. — Die Notlage,dieunser Zusammenbruch über
unsere Studentenschaflt gebracht hat, läßt diese wenig
an Alkohol denken. Frühschoppen, Bierkomment u. dgl.
sind bei ihnen auch früher nie vorgekommen. Diekräl-
tige Agitation im ganzen Lande, die vornehmlich von den Gut
templern ausgeht und die Regierung zu ATOR DIEET Unterstützung der aus-
gedehnten alkoholgegnerischen Arbeit veranlaßt hatdehntihreWirkun-
genzusehendsauchaufdieHochschuljugend aus.“
Deutschland, tue desgleichen!
* k
*
Aus den Ergebnissen der Rundfrage lassen sich m. E. folgende Nutz
anwendungen für die Zukunft ziehen: Sondervorlesun-
gen über die Alkoholfrage nur von erfahrenen, in weiten Kreisen geachteten
Dozenten! Reiche Verwertung eigener Lebenserfahrungen; sachlich gu!
unterbaut; mit Wärme vorgetragen. Andre schaden oft mehr als sie nützen.
— Die Alkoholfrage in vielen Fächern mit behandeln, besonders !n
Pflichtvorlesungen. — Sammelvorlesungen aus möglichst lebendiger
Arbeitsgemeinschaft der Dozenten heraus! — In allen Fällen Fühlung mit
den studentischen Körperschaften und der freien Studentenschaft: „Was
wünschtet Ihr vor allem behandelt?“ Auch Fragekasten.
22. 1. 26. Dr. H. Polzer, Schwerin i. M.
Chronik
ftir die Zeit vom 1. August bis zum 31. Oktober 1925.
Von Pastor Dr. Christian Stubbe.
A. Zwischenstaatliches.
Auf der „allgemeinen Konferenz der Kirche Christi für
raktisches Christentum” in Stockholm (19. August f.) wurde die Alkohol-
bei dem Titel „Gebrauch der Muße‘“ mitbehandelt. Von deutscher
Seite sprach dazu Professor Dr. Gonser. Er hob den Alkoholismus als ein
Haupthindernis einer idealen Verwertung der Muße hervor und forderte als
nächste Maßnahmen obligatorischen Antialkoholunterricht, Ausbau des
Alkoholikerheilverfahrens und Einführung des Gemeindebestimmungsrechtes.
— Von den Angelsachsen wurde der Segen der Prohibition, von Skandinaviern
der Wert des Kontrollsystems a hervorgehoben. — Die Konferenz legte
sich nicht auf eine bestimmte Form der Alkoholbekämpfung fest, betonte aber
die Verantwortung der Kirche auch auf dem Gebiete des Alkoholmißbrauchs.
Die Welttagung der abstinenten Frauen fand im Juni in
Edinburg statt; 30 von den 51 Nationalbünden waren (durch rund 1800 Be-
sucherinnen) vertreten. Der Weltbund umfaßt rund 700000 enthaltsame
Frauen; die letzten 3 Jahre brachten einen Zuwachs von rund 70000. Den
Vorsitz führte Dr. Anna Gordon aus Evanston; Deutschland war vertreten
durch Frl. Wilhelmine Lohmann.
Der deutsch-spanische Botschafter hat den deutsch-spanischen
Handelsvertrag zum 16. 10. gekündigt; zu guter Letzt gab es
noch eine Massenausfuhr spanischer Trauben nach Deutschland.
Der 6 Kongreß der Antiprohibitionisten wurde in Paris
gehalten.
Im neuen deutsch-italienischen Handelsvertrag, welcher
11. 11. 1925 veröffentlicht ist, sind von deutscher Seite an Zoll für den
Doppelzentner bzw. hl u. a. folgende Zollsätze festgesetzt: Weintrauben
5 bis 7 M, Apfelsinen 3,25 M, Branntwein 500 bis 600 M, Wein und frischer
Most (rot) 32 M und (weiß) 45 M, bei Einfuhr nach Italien für Bier in
Gebinden 15 Goldlire.
Eine Internationale Konferenz gegen den Alkoholis-
mus in Genf, einberufen vom Internationalen Bureau gegen den Alko-
holismus, fand vom 1. bis 3. September statt. Ausführlichen Bericht erstattet
Dr. Strecker in Heft 5 der Alkoholfrage.
Der Italiener Mario Andrusiani hat in Berliner Bäckereien
Versuche gemacht, die mit den Brotschwaden beim Backen abziehenden
Alkoholmengen zu gewinnen, und zwar, heißt es, soll aus 190 kg
Brot 1 1 Alkohol gewonnen werden können („K. N. N.“ Nr. 260).
Von Bergman-Kraut, Geschichte der Nüchternheits-
bestrebungen (Hamburg, Neuland-Verlag, 1925) ist nunmehr der zweite
= Halbband erschienen, so daß jetzt die lange erwartete zweite Auflage des
Hauptgeschichtswerkes vollständig vorliegt.
B. Aus dem Deutschen Reiche.
Allgemeines.
‚ Der Parlamentarische Untersuchungs-Ausschuß über
die Ursachen des deutschen Zusammenbruchs im Jahre 1918 hat sein Votum
Ueber die Offensive des Jahres 1918 sagt er: „Der Fortschritt
der Offensive ist durch unzulässigen Aufenthalt einzelner Truppenteile in
u
360 Stubbe, Chronik.
Proviant- und Alkohollagern ohne Zweifel in einigen Fällen beeinträchtigt.
aber im ganzen nicht entscheidend gehemmt worden.“
Der neueste Bericht der Branntweinmonopolverwaltung ergibt das über-
raschende Resultat, daß der Reinertrag des deutschen Branntweinmonopols
mit zirka 140 Millionen Mark um 50—60 Millionen hinter dem Erträgn::
der früheren Branntweinsteuer zurücksteht. Der Grund für dieses Versagen
des Monopols liegt nach den Ausführungen des Berichtes in drei hayr:-
sächlichen Momenten:
1. Es besteht ein Mißverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage von
Branntwein. Die Verwaltung muß den Brennern mehr abnehmen. als si:
absetzen kann. So häufen sich ihre großen Vorräte an. Dazu muß die
Verwaltung den Brennern einen wesentlich über dem Weltmarktpreis stehen-
den Preis zahlen. Der mit allen Mitteln geförderte Absatz von Industriesprit
der nur dann möglich ist, wenn die Ware weit unter dem Einstandsprei:
verkauft wird, stört die Finanzen der Monopolverwaltung noch mehr.
2. In den letzten Den sind große Spritschiebereien aufgedeckt wordeı.
wodurch z. B. im Jahre 1923/24 unter Mithilfe pflichtvergessener Zoll- uri
Polizeibeamter dem Fiskus 3,7 Mill. Liter Branntwein entzogen wurde.
Zudem hat die Schwarzbrennerei seit dem Kriege einen beunruhigenden Ur-
fang angenommen. Einzig bei den bekannt gewordenen Fällen von Schie-
bereien und Schwarzbrennerei zusammen ist der Staat im Jahre 193
um 11,3 Mill. M geschädigt worden. Schwarzbrennerei wird besonders :1
den zahlreichen Kleinbetrieben Süd- und Westdeutschlands betrieben. Dt
Schwarzbrenner beschimpfen die Kontrollbeamten, bedrohen sie und ihr
Angehorieen und werden nicht selten tätlich. Eigene Reinigungsfabrike
sind entstanden, um die Produkte der Schwarzbrennerei in genußfähige
Branntwein umzuwandeln.
3. Schließlich leidet die Monopolverwaltung darunter, daß sie politische
Einflüssen zugänglich ist und vor allem, daß die wichtigen Entscheidung®
einem Beirate vorbehalten sind, wo die Alkoholinteressenten die Mehrt:!
haben, so daß die Interessenten der Monopolverwaltung oft privaten Rü&,
sichten zum Opfer gebracht werden. i .
Der Bericht offenbart deutlich die ungeheure Schwierigkeit für ür
Monopolverwaltung, sich im Kampf gegen skrupellose und mächtige Inte
essen der kleinen und großen Alkoholproduzenten auch nur rein wirtschaftli@
und geschäftlich zu behaupten. (,Int. Bur. z. B. d. A.“ Pressebull. No. 11}
Im Laufe des Monats August hat die Reichsmonopolverwal
tung die Herstellung von Monopoltrinkbranntwein eingestellt. Ob die:
Zweig der Monopoltätigkeit künftig wieder aufgenommen werden soll, hang
von der weiteren Gestaltung der Verhältnisse ab. p
In der „Bodenreform‘“ und vom sozialdemokratischen Presseausschi
wird behauptet, die Reichsregierung habe mit der Wirtschaftspartei e
Kompromiß geschlossen: Die Regierung verzichte auf das Gemeinde:
i ul ungsrecht; die Wirtschaftspartei bewillige dafür die Bier
steuer!! |
Der Hauptausschuß des Preußischen Landtags hat die folgend
Anträge des sozialdemokratischen Abgeordneten Dr. Weyl angenomme):
Das Staatsministerium wird ersucht, dafür zu sorgen:
1. a) Daß in allen behördlichen Erfrischungsräumen gute um
billige alkoholfreie Getränke a ta werden,
b) daß die gesundheitsgemäße Herstellung von Fruchtsäften und
alkoholfreien Getränken nach Möglichkeit gefördert wird,
c) daß die staatlichen Brunnenwasser durch billige Preise 7
Volksgetränken werden.
2. Baldigst einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Abgabe und den Au
schank alkoholischer Getränke an Jugendliche bis zu 18 jahren
verbietet. |
3. Auf die Reichsregierung einzuwirken, daß sie den durch Reichstag“
beschluß vom 18. Februar d. J. geforderten Entwurf eines Gesetzes ZU
Stubbe, Chronik. 361
Schutze der Jugend gegen die Gefahren des Alkoholismus und zur
Verbesserung des Schankkonzessionswesernms schleunigst
ausarbeite und vorlege und daß in diesen Entwurf vor allem auch das
Seilbstbestimmungsrecht der Gemeinden Aufnahme findet:
Ueber die medizinischen Erfahrungen aus den langen schweren
Kämpfen Lettow-Vorbecks in Deutsch-Ostafrika sprach
im Oktober Prof. Dr. Steudel aus Berlin auf dem tropenmedizinischen
Kongreß in Hamburg. Er erklärte: Der Feldzug ist ein Beweis, daß körper-
liche ee Yi in den Tropen auch im Sonnenbrand bei zweckmäßiger
ang und Vermeidung von Alkohol nicht unbedingt schädlich
sim
dass Ueberhandnehmen der öffentlichen Feste
wendet sich der Oberpräsident der Provinz Niederschlesien in einer öffent-
lichen Erklärung. Der entfaltete Prunk stehe in starkem Gegensatze zu der
allgemeinen Not, zu dem Zerfall der Straßen und der Bedürftigkeit der
öffentlichen Einrichtungen. Im Zusammenhang mit dem Wetteifer der Vereine
in der Veranstaltung großer Festlichkeiten mache sich auch die Trunk-
sucht wieder häufiger im Straßenbild und in der Zunahme alkoholischer
Delikte und Geisteskrankheiten bemerkbar. Der sich wieder regende Spar-
sim werde gehemmt, die eng der Jugend schwer eg N
deshalb erscheine eine Mahnung zur Einfachheit und Zurückhaltung bei der
Begehung von Festen erforderlich. („Sonnt. u. Allt.“ 9. 8.)
„Statistisches.
Aus dem Statistischen Jahrbuch für den Freistaat Preußen Berlin
1924: 1922 starben an Säuferwahnsinn in einem Alter von 15 bis
% Jahren 20 männliche, 2 weibliche Personen, über 30 bis 60 Jahre alt
375 m., 45 w., über 60 bis 70 Jahre 94 m.,.9 w., über 70 Jahre alt 25 m.,
und 2 w. — IndenIrren- und Nervenheilanstalten befanden sich
1. 1. 1922 wegen Alkoholismus 893 männliche und 102 weibliche Personen;
Zugang im Laufe von 1922 3413 m., 266 w.; Summe aller Behandelten 4674.
Abgang im Jahre 3297 m., 271 w., i. gz. 3568 — davon durch Tod 49 m.,
9 w. i. gz. 58 Personen —.
Bestand der verschiedenen Schank- und Getränkever-
kaufstätten Ende des Steuerjahrs 1922: Es gab Gastwirtschaften in den
Städten 17972, auf dem Lande 46477; Sckankwirtschaften in den Städten
30 535, auf dem Lande 23548; kleine Handlungen mit Branntwein oder
Spiritus in den Städten 16481, auf den; Lande 3713; Wirtschaften ohne
Ausschank geistiger Getränke in den Städten 6499, auf dem Lande 2113;
Wirtschaften überhaupt in den Städten 91 487, auf dem Lande 75851. — Ende
des Steuerjahres 1922 entfiel im Staate Preußen 1 Gastwirtschaft auf 5%
Einwohner, in den Städten auf 1147, aut dem Lande auf 387; 1 Schank-
wirtschaft auf 521 Einw., in den Städten auf 408, auf dem Lande auf 764;
I Kleinhandlung mit Spiritus oder Branntwein auf 1911 Einw., in den Städten
auf 1250, auf dem Lande auf 4843, 1 Wirtschaft ohne Ausschank geistiger
Getränke auf 4481 Einw., in den Städten auf 3171, auf dem Lande auf 8510;
überhaupt kam 1 Wirtschaft auf 231 Einwohner, und zwar in den Städten
auf 225, auf dem Lande auf 237. — 31. 3. 1923 gab es i. gz. in den Städten
81088 Gast- und Schankwirtschaften (einschl. Kleinhandlungen) mit und
6499 ohne Ausschank geistiger Getränke, auf dem Lande 73738 mit und
2113 ohne; in Stadt- und Landgemeindegruppen unter 5000 Einwohnern in
den Städten 12119 mit und 458 ohne, auf dem Lande 66892 mit und 1470
ohne; in Bezirken von 5000 bis unter 20000 Einw. in den Städten 15999
mt und 850 ohne, auf dem Lande 5853 mit und 486 ohne; in Bezirken von
000 bis unter 10000 in den Städten 16.837 mit und 1577 ohne, auf dem
e 903 mit und 157 ohne; in Bezirken von 100 000 und mehr in den Städten
033 mit und 3614 ohne.
Für Gast- und Schankwirtschaft gab es Ende 1921 645 Gesell-
schaften mit bescHränkter Haftung mit dem Sitz in Preußen
IE Gano, on...
362 Stubbe, Chronik.
(52 020 000 M Stammkapital); Zugang 1922 95 (20,82 Millionen M Stamm-
kabia) durch Erhöhung des Stammkapitals: 177 (13,5 Millionen M Stamm-
kapital); Abgang 1922 i. gz. 60 (3,61 Millionen M. ANKER), — 2 Aktien-
gesellschaften S 62 Millionen M Gründungskapital, 54,88 Millionen M
gegenwärtiges Nominalkapital); 20 davon verteilten einen Reingewinn von
i. gz. 11,32 Millionen M.
Im Rechnungsjahr 1. April 1924/25 hat nach „Wirtschaft und Statistik“
1925, Nr. 13, die deutsche Biererzeugung (ausgenommen das
Saargebiet) die Höhe von 37 783 000 hl erreicht, in Wirklichkeit einen
noch größeren Betrag, da die Angaben infolge der Ruhrbesetzung noch
unvollständig sind. Das macht auf den Kopf der Bevölkerung mindestens
61 l, das ist mindestens ?/s des Vorkriegsverbrauchs (1913 102 1). Für 192
betrug die hergestellte Menge nach Berechnung aus maßgebenden Brauer-
kreisen, die die amtliche Nennung mit Rücksicht auf die unzureichenden
Angaben aus dem besetzten Gebiet ergänzt, rund 33, für 1923 desgleichen
rund 29 Millionen hi. Dem durch die Geldentwertungsverhältnisse herbeı-
geführten Rückgang des Jahres 1923 ist also mit einem Ruck eine Steigerung
des Bierverbrauchs (der Verbrauch wird im allgemeinen als der Herstellung
gleich angenommen) um fast 9 Millionen hl gefolgt. Unter dem angegebenen
erbrauch des Rechnungsjahres 1924 sind nun nach dem Wegfall des Stark-
bierverbots seit Anfang 1925 34 Million hl von diesem so stark alkoholhaltigen
Getränk enthalten. Die verwendeten rund 14 Millionen (13 937 000) Zentner
Malz entsprechen mindestens rund 18 Millionen Zentnern bester Gerste —
noch abgesehen von rund 407000 Zentnern Reis und Reisgrieß, Maisgrieb
und Maisstärke und 58000 Zentnern Zuckerstofie.
Der deutsche Trinkbranntweinverbrauch betrug nach ami-
lichen Zahlen in dem Halbjahre 1. Oktober 1924 bis 31. März 1925, auf reinen
Alkohol in Form von Trinkbranntwein berechnet, 347 000 hl oder 0,55 1 au!
den Kopf. Diese Ziffer würde sich erhöhen, wenn man die Mengen dazı
erfassen könnte, die aus unreinen (Juellen (Schwarzbrand, insbesondere der
süddeutschen Obstbrennereien, Spritschiebungen, Schmuggel aus dem Westen
u dgl.) fließen — wenngleich diese neuerdings etwas vermindert werden
onnten. |
Im Jahre 1924 wurden bei den bayrischen Gerichten 505 (im
Vorjahre 882) Verurteilungen von Personen rechtskräftig, die die strafbare
Handlung im Zustande der Trunkenheit begangen hatten, und 1!
(18) Verurteilungen von Personen, deren strafbare Handlung auf gewohn-
heitsmäßigen Alkoholgenuß zurückzuführen war. (Die letzteren
beiden Zahlenangaben sind zweifellos viel zu niedrig. Auch für die beiden
ersten Angaben — 505 bzw. 882 — legt sich dieser Verdacht nach den ander-
weitigen Erfahrungen stark nahe. Es kommt hier naturgemäß viel einesteils
auf die Begrifftsfassung, andernteils auf Vollständigkeit und Zuverlässigkeit
der Erfassung des Tatbestandes an, die bezüglich der alkoholischen Ursäch-
lichkeit nach Lage der Dinge in Bayern besonders erschwert sein dürfte.)
Die 516 Verurteilten waren alle männlichen Geschlechts; davon standen 217
bei Begehung der Tat im Alter von 18—25 Jahren, 151 zwischen 25 und 3.
Von den strafbaren Handlungen waren insgesamt 461 Körperverletzungen,
davon 261 gefährliche, 174 „einfache“ (die letzteren wiesen eine Zunahme
von 35 auf 174, die ersteren einen Rückgang von 278 auf 261 auf), weiter
79 Fälle von Beleidigung, 54 von Widerstand gegen die Staatsgewalt
(„Ztgsdienst der Reichshptstelle g. d. A.“ 29. 8.)
Vereinswesen.
Die Jahresversammlung des Deutschen Guttemplerordens
fand vom 17. bis 20. Juli d. J. in Barmen-Elberfeld statt. Vgl. „Die Alkohol-
frage“ Heft 4 S. 230.
Die Blaukreuzverbände des evangelisch-kirchlichen Bundes traten
3. bis 6. Juli in Chemnitz zur Bundestagung zusammen. In 12 Kirchen
Stubbe, Chronik. 363
wurde zur Alkoholfrage gepredigt. Pfarrer Demandt, der Bundesvorsitzende,
hielt einen Vortrag über „Die Sendung des Blauen Kreuzes“, Prof. Dr. Gonser
über „Alkohol und Volkskraft“, Pfarrer Wöhrmann über „Alkohol und
Evangelium. — „Das Blaue Kreuz erblickt (wie alle großen alkohol-
gegnerischen Organisationen) eine Besserung des großen Alkoholschadens
vor allen Dingen im sog. Gemeindebestimmungsrecht“. (,D. Alkohol-
gegner“ Nr. 8/9.)
Auf der Arbeitstagung des Bundes Deutscher Frauenvereine
im Oktober in Dresden hielt Frl. v. Blücher einen Vortrag über das Schank-
stättengesetz und forderte das Gemeindebestimmungsrecht; in der Debatte
wies Frau Dr. Lüders darauf hin, daß Deutschlands Ausgaben für alkoholische
Getränke die gesamte Einkommensteuer übertreffen. Eine Entschließung zum
Schutzgesetz gegen die Alkoholgefahr wurde einstimmig angenommen.
Der Deutsche Verein gegen den Alkoholismus beging
l. bis 4. November in Kiel seine 36. Jahresversammlung in Verbindung mit
denr 25jährigen Jubiläum des Verbandes Deutscher Trinkerheilstätten. Ueber
die wohlgelungene Tagung ‚vgl. den Bericht S. dieser Zeitschrift.
Der diesjährige 50. Deutsche Gastwirtetag wurde 15. 6. f.
in Breslau gehalten und mit der Hauptversammlung des Landesverbandes
Preußen eröffnet. Um parlamentarisch mehr erreichen zu können, sollen für
einen Reichswahlschatz 20 % und für einen preußischen Wahlschatz 10 %
der Mitgliederbeiträge bereitgestellt werden. In den Gemeindekörperschaften
befinden sich schon jetzt über 400 Gastwirte. — Betr. Ruhezeit der An-
gestellten el man Aufhebung der lästigen und zwecklosen Verordnung,
daß über diese Ruhezeiten Buch geführt werden muß. Kräftig wendet man
sich gegen die „Auswüchse der Äbstinenzbewegung‘“. Die Reichsregierung
wird gebeten, „bei Maßnahmen zur Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs die
Einführung eines Gemeindebestimmungsrechts unter allen Umständen ab-
zulehnen“. Weiter wird gefordert, daß die Polizeistunde mindestens bis
2 Uhr nachts gleichmäßig für Stadt und Land geregelt wird, daß Kaffees
und Weinstuben eine Sonderverlängerung bis 4 Uhr erhalten, daß sämtliche
Vereine wieder unbeschränkte Polizeistunde haben, daß alle noch bestehenden
Beschränkungen, die dem Konzessionsinhaber verbieten, vor 6 bzw. 7 Uhr
morgens sein Geschäft zu öffnen, sofort aufgehoben werden.
Auch der 22. Verbandstag der Lebensmittel- und Getränke-
arbeiter im Juni d. J. wandte sich „gegen die Hetze der Abstinenten“,
verlangte Schutz der „persönlichen Freiheit“ und verpflichtete seine Mitglieder,
„alle Versuche, Deutschland trocken zu legen, sei es durch ein Verbot der
Herstellung alkoholischer Getränke oder durch Einführung des Gemeinde-
bestimmungsrechtes, mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln zu be-
kämpfen“. (Vgl. „Reichsausschuß für das Alk.-Verbot“ Juli-Korr.)
Dagegen trat der Zentralverband der Hotel-, Restaurant-
und Kaffeeangestellten kräftig einer Verlängerung der Polizei-
stunde im Interesse der Gastwirtsgehilfen entgegen. Gegen den Beschluß des
Breslauer Wirtetags, die Polizeistunde zu verlängern und über die Ruhezeit
der Angestellten nicht mehr Buch zu führen, hat die Organisation der Kellner
bereits Protest eingelegt.
Der Bund der Saal-und Konzertlokalinhaber Deutsch-
lands fordert die Aufhebung des Notgesetzes von 1923.
Kirchliches.
Evangelisch. Im „Kirchlichen Jahrbuch für die evan-
gelischen Landeskirchen Deutschlands“ 1935, herausgegeben
von D. J. Schneider, Berlin (Gütersloh bei Bertelsmann 1925) behandelt
Direktor D. Ulbrich „die Bekämpfung der Trunksucht“. Er weist auf den
Aufruf des Zentralausschusses für Innere Mission 15.8. 1924 hin und schildert
die Arbeiten des Kirchlichen Blauen Kreuzes (110 Vereine, 2602 a ran
469 Anh: r, dazu in je 24 Vereinen 758 Treubündler und 1145 Hofinungs-
bündler), des Deutschen Hauptvereins des Blauen Kreuzes (590 Ortsvereine
364 Stubbe, Chronik.
mit 26 747 Mitgliedern, darunter 3238 gerettete Trinker; 173 Hoffnungsbünde
mit 5507 Mitgliedern), sowie des Deutschen Vereins gegen den Alkoholismus
(rund 39000 Mitglieder. — Auch P. D. Mumnı, welcher die „Kirchlich-
soziale Chronik‘ bearbeitet, hat dem „Kampf gegen den Alkoholismus“ ein
Kapitel gewidmet: Das Gemeindebestimmungsrecht wird mehr und mehr zum
Schibboleth der Bewegung; der deutsche evangelische Kirchentag und der
Zentralausschuß für Innere Mission haben sich dafür ausgesprochen. Staats-
sekretär Zweigert vom Reichsinnenministerium erklärte 20. 6. 1925 im Reichs-
tag: „Es wird in diesem hohen Hause Uebereinstimmung darüber herrschen,
daß Staat und Gesellschaft in der ernsten Bekämpfung des Alkoholismus
wetteifern müssen.“
Der 41. Kongreß für Innere Mission in Dresden (vgl. S. 27)
fordert in einer Entschließung im Anschluß an ein Referat von Prof. Dr.
Kirstein über „Die heutige Ehenot und die evangelische Sittlichkeit‘“ von der
Regierung Gesetze „zur wirksamen Bekämpfung der Prostitution, sowie des
weite Kreise des Volkes immer furchtbarer schädigenden Alkoholmißbrauches.
Insonderheit fordert sie die sofortige un des Schankstätten-Entwurfes
einschließlich des Gemeindebestimmungsrechtes“. („Ztschr. des deutsch-evg.
V. zur Förd. der Sittlichkt“ Nr. 7—8.)
Die Schlesische Provinzialsynode hat eine Kundgebung
gegen den Mißbrauch des Alkohols beschlossen, die von den Kanzeln zu
verlesen ist. Sie fordert alle evangelischen Christen auf, „sich durch Vorbild
und Mahnung, aber auch durch helfende Liebe an diesem Kampf gegen einen
der schlimmsten Feinde unseres Volkes mit aller Kraft zu beteiligen.“ („Aul-
wärts“ Nr. 244.)
Der Landeskirchentag von Hannover erhob energisch seine
Stimme gegen die Schäden des Gemeindelebens, besonders gegen den über-
handnehmenden Alkoholismus, und setzte sich für das Gemeindebestimmungs-
recht ein. („Mtsbote aus dem Stephanstift“ Nr. 1—6.)
Katholisch. Der Vorsitzende der Fuldaer Bischofskon
ferenz Kardinal Bertram richtete am 20. 4. an den Preußischen Minister
des Innern „namens der Katholischen Kirche das dringendste Ersuchen, den
Anträgen auf Aufhebung oder Hinausrücken der Polizeistunde in keiner Be-
ziehung nachzugeben“. — Der Priester-Abstinentenbund tagte am
2. 6. in Düsseldorf und faßte eine umfassende Entschließung zu Gunsten des
Gemeindebestimmungsrechtes. „Die ganze Tagung war getragen von der
Hoffnung, daß nun endlich einmal auch in Deutschland etwas geschehen
werde, um den immer weiter um sich greifenden Alkoholismus einzu-
dämmen“. (,„Sobr.“ H. 4.) |
Das Kreuzbündnis hat am 5. 10. 1925 eine eigene Romfahrt (ab
Aachen) unternommen. — Der Bundestag des Kreuzbündnisses fand am
13. und 14. 10. in Münster statt. Gemeindebestimmungsrecht und Trinker-
fürsorge standen im Vordergrund der Verhandlungen. — Weiteres später-
(„Volksfreund“ Nr. 6.)
Sonstiges.
In Tübingen und Gießen fanden im Sommersemester Sammelvor-
lesungen zur Alkoholfrage von Professoren der verschiedenen
Fakultäten statt.
Die theologischen Fakultäten in Kiel und Gießen haben sich zu Gunsten
des Gemeindebestimmungsrechtes ausgesprochen.
Dem außerordentlichen Professor der Hygiene Kreisassistenzarzt Dr. W.
Rosenthal ist in a ein Lehrauftrag zur wissenschaftlichen Behandlung
des Alkoholismus erteilt.
Die Zahl der Todesfälle in Danzig ob denen Alkoholismus =
1921
Ursache angegeben ist, betrug 1920 1922 Da 2
11 1
Todesfälle an Leberkrankheiten 44 34 46 49 52
Todesfälle an Gehirnschlag 174 216 237 234 21
(„Kämpfer“ Nr. 11.)
.
i |
Stubbe, Chronik. 365
Die Landesversicherungsanstalten verbreiten in Massen den Vortrag des
Landesrats Dr. Wilhelm „Die Mitarbeitder MutterundFrauim
Kampfe gegen die Geschlechtskrankheiten“ (jetzt Auflage
+5000). Mehr als einmal wird die Alkoholfrage gestreift.
Im Preußischen Landtag führte am 17. 10. der Minister des Innern
ung über die Frage der Polizeistunde aus, daß zwar in den nächsten
Tagen tür Berlin Erleichterungen bei der Tanzerlaubnis eingeführt werden,
aber einer Verlängerung der Polizeistunde angesichts der mißlichen wirt-
schaftlichen Lage unter Keinen Umständen zugestimmt werden könne. Wenn
in Berlin eine OR TUNE eintreten würde, dann würden Berufungen der
größeren Provinzorte folgen und dann würde sich das Schauspiel ergeben,
daß in einem Winter wirtschaftlicher Not der Kontrast bestünde, daß wenige
bis in die späte Nacht hinein sich amüsieren, während der größte Teil der
Bevölkerung die Sorge hat, wie er sich und die Seinen durchbringt.
"Der Oberpräsident der Provinz Schleswig-Holstein hat die
Trinkerliste wieder eingeführt, doch ist sie nicht zur allgemeinen Ein-
sicht auszuhängen. — Jugendlichen ist durch Polizeiverordnung vom
l. Oktober 1925 der Besuch von Gast-, Schankwirtschaften, Kaffeehäusern
und dergl. von 7 Uhr abends bis 6 Uhr morgens untersagt. — —
Durch besondere Polizeiverordnung wurde für den Kreis Minden be-
stimmt, daß Personen, die offenkundig zu Gewalttätigkeiten neigen oder die
sich bei öffentlichen Tanzlustbarkeiten oder ähnlichen Veranstaltungen nicht
friedlich zu verhalten pflegen, sog nanne Raufbolde, in eine bei der Orts-
lizei zu führende Liste (Raufboldliste) einzutragen sind. Solchen
ten ist der Aufenthalt während der Dauer von Tanzlustbarkeiten in allen
Räumen der Wirtschaft verboten; auch den Schankwirien ist die Abgabe
oder der Verkauf geistiger Getränke an sie nicht gestattet.
C. Ausanderen Ländern.
Afrika. Einer Abhandlung von Dr. Harford über die Großmächte und
den Alkoholhandel unter den Eingeborenen ist eine Uebersicht von Blackburn
über eingeführte gebrannte Getränke (spirits) beigefügt. Wir notieren hier
nur die summarischen Angaben: 1907 bis 1913 wurden in Westafrika jährlich
21018045, 1921 40199534, 1922 42277266, 1923 46145581 Gallons ein-
ponnn, in Ostafrika 1921 370 168, 1922 283 168, 1923 230735 Gallons. Das
ähere siehe „Intern. Ztschr. g. d. A.“ Nr. 4. l
Australien. Die jedes dritte Jahr in Neuseeland stattfindende Volks-
abstimmung über das Alkoholverbot hat folgendes Ergebnis gehabt:
Für das Verbot. .... 2222222020. . 301.000 Stimmen
Für die Aufrechterhaltung des ge AO. i Systems . 278 000 "
Für die Nationalisierung des Alkoholhandels . . . . . 5200 >`,„
Die Abstimmung des ne 1922 gab 300 792 Stimmen für das Verbot,
32669 für die Aufrechterhaltung, 35 727 für die Nationalisierung. Da das
Verbot nicht in Kraft treten kann, bevor seine Anhänger mehr Stimmen als
die zwei andern Gruppen zusammen erhalten haben, so bleibt in Neu-Seeland
für drei weitere Jahre alles beim Alten. („Int. Bur. z. B. d. A.“ Bull. No. 16.)
Brasilien. Der Landwirtschaftsminister hat den Vorsitz in der
Nationalliga gegen den Alkoholismus übernommen. („The Int. Stud.“ No. 4.)
Dänemark. 1922, 1923 und 1924 lagen laut Mitteilung des Zoll-
departements 428, 375 und 204 Schmuggelfälle zur Verhandlung vor; ‚kon-
fisziert wurden in diesen Jahren rund 38.000, 50 000 und 33.000 1 Sprit.
(„Folkev.‘“ No. 23.)
Estland. Es haben geistliche und weltliche Abgeordnete der lutheri-
schen Kirche, der griechisch-orthodoxen Kirche, der Methodisten, der
Baptisten, des christlichen Vereins junger Männer und des Bundes für
christliche Liebestätigkeit sich für den gemeinsamen Kampf gegen den Alkohol
i d Cnag. a!
`
366 Stubbe, Chronik.
zusammengeschlossen. An der Spitze der Vereinigung stehen der lutherische
Bischof Eukk, der Metropolit Alexander, der ehemalige Präsident des Par-
lamentes, Tönnisen und der Theologieprofessor Rahamägi. Ä
(„Int. Bur. g. d. A.“ Bull. No. 9.)
Finnland. Nach der „Sozialen Revue“ Finnlands haben die Aerzte |
in einer Zeit von 15 Monaten (1. Oktober 1922 bis 31. Dezember 193) |
275000 Rezepte für Alkohol. 29000 für Kognak, 10000 für Wein und die
Tierärzte 195 000 Rezepte für Alkohol, 1900 für Kognak und 700 für Wein
ausgeschrieben! (,„L’Abst.“ No. 10.)
Frankreich. Die Zahl der mit Reben bebauten Hektar betrug 1923
1 404 596, 1924 1443217, mit in einem Jahr 38621 ha mehr. Dabei klagt
man über mangelnden Absatz! Vor allem fordert der Deputierte Louis Proust:
„Wir müssen bei den Bevölkerungen unseres ausgedehnten Kolonialgebietes
die Vorliebe für Wein entwickeln (!!).“ („La Rev. ant. et hyg. No. 4.) |
Nach „Wereldstrijd“ No. 40 hat Frankreich 460 274 Alkohol-
verkaufsstellen (in einem Jahre eine Zunahme von 8000), — d. h.
eine auf 90 Personen.
Großbritannien. Dr. Courtenay C. Weeks hat im britischen Welt-
reiche eine Umfrage nach der Verschreibung alkoholischer Getränke
als Arzneimittel gehalten. Das Ergebnis ist, daß 1923 bei einem
Krankenbestand von über Million auf Kopf und Tag nur 1,09 Unzen
(0,3 di) alkoholische Getränke verabreicht wurden, während es im Jahre 1900
bei einem fast dreimal -so kleinen Krankenbestand durchschnittlich 6,8 Unzen
(zirka 2 di), also fast das siebenfache waren. (,Journ. of Inebriety“, Juli.)
Niederlande. Die Mitgliederzahl der Vereinigung enthalt-
samer Eisenbahner, die Ende 1924 auf 2469 gesunken war, hatte zut
Zeit der Hauptversammlung in Enschede (15. bis 16. Mai) die 2500 wieder
überschritten. (,Het veil. Sp.“ No. 6, 7.) |
In seiner Jubiläumsrede anläßlich des 25jährigen Bestehens der Refor-
mierten Alkoholgegner-Vereinigung teilte Gipsen mit, daß die Synode der
Christlichen Reformierten Kirche dieses Jahr beschlossen
keinen Inhaber eines Alkoholausschanks mehr zur Mitgliedschaft der Kirche
zuzulassen. („De Wereldstr.‘“ No. 33.) |
Die Staatskommission betr. Alkoholerzeugung, die sog. „Commissie
van der Lande“ hat ihren Bericht zur Beschränkung des Aıkoholismus
erstattet. Sie schlägt vor, den Gesamtverzehr der inlands hergestellten und
von auswärts eingeführten gebrannten Getränke von 5 zu 5 Jahren festzustellen
und Herstellung wie Verbrauch dementsprechend zu beschränken, alle 5 Jaure
aber die so gezogenen Grenzen enger zu ziehen. Die Schankkonzession soll
ihren persönlichen Charakter verlieren. Die gesamte Industrie und der
ee sind unter staatliche Kontrolle zu bringen. („De Wereldstr.“)
o. 34. |
Die Sterblichkeit an Tuberkulose ist in Holland von 19,4 au
10 000 Personen 1901 auf 10,7 1924 zurückgegangen; parallel geht eine Ab-
‘nahme des Schnapskonsums. 1914 waren es noch 5,6 1 jährlich auf die Person,
1923 2,4 1 (während der Weinverbrauch sich wesentlich gleich geblieben
ist, der Bierverbrauch aber zugenommen hat). Eine Zusammenstellung über
Tuberkulose von Kindern lehrt uns, daß bei dem beobachteten Material
von Kindern alkoholischer Eltern 62 %, von Kindern mäßiger oder enthalt-
samer Eltern nur 31,9 % tuberkulös waren. (,„Int. Ztschr. g. d. A.“ Nr. 4)
Niederländisch-Indien. Die Einfuhr betrug an
en Getränken 1900 1879000 1913 2689000 1923 2863 000 Gulden
ier 972 000 2 485 000 7943000 ,„
Wein 1 347 000 1 544 000 2578000 „
Milch 635 000 2 482 000 5408000 „
Die Ausfuhr an Spiritus betrug 1913 1640000, 1923 2771000 Gulden.
(„Int. Ztschr. g. d. A.“ Nr. 5.)
Ba - - ie IT m EEE Sn ln Zn rm O =
Stubbe, Chronik. 367
Norwegen. Vor reichlich einem Jahr ist das neue Rezeptengesetz
eingeführt. Es zeigt sich, daß auf Grund ärztlicher Rezepte vom 1. 3. 24
bis 8. 2. 25 161418 1 Branntwein gegen 1291335 1 von 1. 3. 23 bis
29. 2. 24 verkauft sind; von anderen starken Getränken wurden März 24
bis Februar 25 32586 1 verkauft gegenüber 282940 ] von März 23 bis
Februar 24. („De Blauwe Vaan.“ No. 22.)
Oesterreich. Im Jahre 1924 wurden im Wiener Polizei-
rayon wegen ÖOrdnungswidrigkeiten (Passantenbelästigung. nächtliche
Ruhestörung, Haus-, Lokal-, Raufexzeß und sonsti Ausschreitungen) 29 274
angehalten; davon waren 20359 — 6954 % alkoholisiert, von den Männern
sogar 71,43 %. („Der Abst.“ Nr. 3/4.)
Die Deutsche Gemeinschaft für alkoholfreie Kultur
umfaßt jetzt in 66 Ortsgruppen rund 3000 Mitglieder. Auf dem 6. Bundestag
zu Spital a. D. Pfingsten betonte man die Notwendigkeit eines Anschlusses
ans Deutsche Reich in einer EntschließBung: „Wir grüßen die Brüder und
Schwestern im Reiche und sprechen die Hoffnung aus, daß wir in kurzem
als ein geeintes Volk in gemeinsamer Front den Todfeind unseres Volkes, den
Alkohol, niederringen werden.“ (,„Völk. Beob.“ 3. 7.)
Es ist 23. 5. eine Landesgruppe Oesterreich des Vereins
abstinenter Aerzte des deutschen Sprac seen gebildet — Vors. Prof.
Dr. Reichel, Wien. (,Int. Ztschr. g. d. A.“ Nr. 5.)
Polen. In Lodz (1923: 506 000 Einwohner) wurden 1923 5549 Personen
wegen Trunkenheit verhaftet. Der Alkoholverzehr betrug, in absoluten
Alkohol umgerechnet, 1 993 635 1, also 3,93 1 auf den Kopf. Die Stadt bzw.
der Staat nahm an Abgaben im ganzen 2708 322 Zloty ein. („Int. Ztschr.
g. d. Alk.“ Nr. 4.)
Am 25. und 27. September fand der 6. polnische Kongreß gegen den Alko-
holismus in Kattowitz statt. Ungefähr 200 Personen aus allen Landesteilen
haben daran teilgenommen. Der polnische Staat und die kirchlichen Behörden
befassen sich mit allem’ Ernst mit der Alkoholbekämpfung. (,Int. Bur. z. B.
d. A.“ Bull. No. 13.)
Rumänien. Die Regierung hat dem Parlament einen Gesetzentwurf
über das Alkoholwesen vorgelegt, der einige bemerkenswerte originelle Be-
simmungen enthält. Der Gesetzentwurf stellt sich u. a. zur Aufgabe, die
Herstellung von Trinkalkohol aus Kartoffeln, Getreide, Melasse usw. zu
kontingentieren und dann im Verlauf von 12 Jahren allmählich ganz zu be-
seitigen. Hinsichtlich des Obstbranntweins, namentlich des in ausgedehnten
Ma^. hergestellten Zwetschgenwassers (tzuika), läßt sich nicht der gleiche
Weg gehen. Da versucht nun die Vorlage, eine andersartige Verwertung des
Obstes, namentlich der Zwetschgen, zu erzielen, indem das Trocknen der
Früchte, die Herstellung von Konfitüren und Marmeladen usw. durch be-
deutende Beiträge gefördert werden sollen. (,„Int. Bur. z. B. d. Alk.“ Prese-
bull. No. 12 — vgl. die Abhandlung von Dr. H. Siegmund in „Aufbau“.)
Schweden. Am großen Nüchternheitstag wurden über 500 Versamm-
lungen gehalten, die zum Teil glänzenden Besuch hatten. Zu den Rednern
gehörten 3 Minister (Wigforsh, Sandler, Linders) und erste A
Autoritäten wie Bergman, Oestlund, Malmström. (,„Reformatorn‘“ 28. 5.)
Schweiz. Der Weinbau brachte 1923 80 800 000 Fr., 1924 51 900 000 Fr.,
Ob at dagegen 1923 105900 000 Fr., 1924 102100000 Fr. („Freiheit“
r. 12.
Dersozialistische Jugendtag in Aarburg ist alkoholfrei durch-
geführt. („Abst. Soz.“ No. 6.)
Auf der Jahresversammlung abstinenter Eisenbahner
wurde eine stete Zunahme der Mitgliederzahl festgestellt. In Verbindung mit
em schweizerischen Samariterverein soll eine ambulante Ausstellung zur.Be-
Kämpfung des Alkoholismus, der Tuberkulose und der Geschlechtskrankheiten
ın einem Eisenbahnwagen eingerichtet werden. „Berner Tagwacht“ 15. 9.)
368 Stubbe, Chronik.
Die abstinente Frauenliga hielt ihre Hauptversammlung 17. 9.
5 nn 5 umfaßt jetzt 60 Gruppen in der ganzen Schweiz. (,„N. Zürich.
tg.“ 18. 9.)
Im Jahre 1924 sind we Uebertretung des Absinthgesetzes 69 Fälle
abgeurteilt worden; in 60 Fällen gab es eine Geldstrafe (im ganzen 6015 Fr.).
in 9 Gefängnis, im ganzen 202 Tage. (,„Courr. du Vign.“ 17. 9.)
Die Katholische Abstinentenliga hielt ihre Delegiertenver-
sammlung 7. 9. in Olten. 1924 wurde mit 161 Sektionen (10 133 Mitgliedern)
der Liga und 289 Vereinigungen (35943 Kindern) des Jugendbundes abge-
schlossen, d. h. 97 Mitglieder mehr und 196 Kinder weniger als im Vorjahr.
(„Vaterld.“ 9. 9.) '
Im Kanton Bern kommt eine Alkoholwirtschaft auf 264 Einwohner.
im ganzen gab es 1924 im Kanton 2445 Wirtschaften. (,Nat. Ztg.“ 4. 9.)
Südslavien. Der erste Kongreß der südslavischen Alkoholgegner
fand vom 7. bis 9. Juli in Belgrad statt. Dem Kongreß ging eine Tagung
der abstinenten Jugend des Landes in Novi Sad voraus. (,Int. Bur. z. Bek.
d. Alk.“ Bull. No. 11.)
Das neue Reglement über den BetriebvonSchankgewerben is
Anfang August veröffentlicht. Es heißt darin u. a.: Das Platzrecht für Kaffee-
und Gasthäuser kann nur in Orten mit mehr als 8000 Einwohnern ausgegeben
werden, ausgenommen Badeorte. Notorischen Säufern oder schweren Be-
trunkenen darf Alkohol nicht verabfolgt werden. Buffets, Schnapsbuden und
Zuckerbäckereien, falls in ihnen auch Alkohol verabfolgt wird, dürfen —
abgesehen von Bade- und Kurorten — in Orten unter 5000 Einwohnern nicht
bestehen. („Belgr. Ztg.“ 4. 8.) l
Tschechoslowakei. Den Beamten des Prager Rathauses
ist der Genuß alkoholischer Getränke im Amte seitens des Bürgermeisters
verboten. („Der Abst.“ Nr. 3—4.)
Ungarn. Die ungarische Nationalversammlung hat in die Wahl-
reformvorlage die Bestimmung aufgenommen, daß Leute, die mehr als
einmal wegen öffentlichen, durch Trunkenheit hervorgerufenen Skandals zi
5 Goldkronen Strafe verurteilt wurden, des Wahlrechts auf 1 Jahr verlustig
gehen. („Reichspost‘“ 22. 6.)
Vereinigte Staaten. Die Lebensversicherungsgesellschaft „Centrai
Life Insurance Company“ von Illinois hat beschlossen, eine besondere Ab-
teilung für Totalabstinenten einzurichten. Den in dieser Abteilung Versicher-
ten wird eine Reduktion von 10 Prozent der Prämie gewährt, wenn sie jedes
ganr bezeugen können, daß sie enthaltsam leben und gewillt sind, dies weiter-
in zu tun. Wer diese Erklärung nicht abgeben kann, wird in die allgemeine
Abteilung versetzt. Die Gesellschaft ist zu diesem Entschlusse gelangt, wei!
sie es für erwiesen erachtet, daß die Enthaltung von alkoholischen Getränken
die Sterblichkeit herabsetzt.
Es werden, wie der Prohibitionskommissar Haynes mitteilt, jetzt monat-
lich Kursefür die Prohibitionsbeamten gehalten, vor allem, um
die Beamten (man zählt jetzt 1900 Verbotsageuten‘) über die wechselnde
Taktik der Schmuggler und anderer Gesetzesübertreter auf dem Laufenden zu
halten. („Frht.“ Nr. 12.)
Die Zahl der Fälle, mit denen die Jugendgerichte von New
York sich zu befassen hatten, betrugen 1910 bis 1918 durchschnittlich 14 071,
1920 bis 1923 10764 jährlich, mithin in der Prohibitionszeit 23 Prozent
weniger. („Frht.“ Nr. 8.)
as Luftschiff Los Angeles ist mit Erfolg in den Dienst der
Bekämpfung des Alkoholschmugels gestellt. Es leistet wertvolle Aufklärungs-
dienste zur Feststellung von Schmuggelschiffen. („N. Wiener Tgbl.“ 22. 4.)
Bei dem Ueberfall eines Schmugglerhauptquartiers in New York fiel den
Trockenheitsagenten eine Liste von 25000 Personen in die Hand,
ge u unlegale Weise mit Spirituosen versorgt wurden. ((,New York
er.“ 19.7.
Stubbe, Chronik. 369
Die Nationalkonvention der Logen „Woodmen of World“ faßte in
Chicago den Beschluß, daß keine Alkoholinteressenten Logenbrüder sein
könnten; alle Logenmitglieder seien zum Gehorsam gegen das 18 Amendment
verpflichtet. (‚Paris Times“ 2. 7.)
Der Obstverbrauch hat sich seit 1907 mehr als verdoppelt. Amerika ist
der stärkste Obstverbraucher der Welt geworden und unvergorene Obst-
getränke nehmen in der amerikanischen Gesellschaft jetzt die Stelle der
alkoholischen Getränke ein. („Reichsaussch. f. d. Alk.-Verb.“ Juli-Korr. nach
der Chicagoer „Produktenztg.‘“)
Einer der Vorkämpfer der Prohibition, William Jennings Bryan,
ist 26. 7. in Dayton verstorben. Die Anti-Saloon-Liga weiß sich ihm zu
besonderem Dank verpflichtet. Er kandidierte für die Präsidentenwürde (vgl.
„Ihe Am. Jss.“ No. 8). |
Cora Stoddard hat in „The Am. Jss.“ No.7 die Fälle des Alkoholwahn-
sinns bei Erstaufnahmen in 45 Hospitäler für Irrsinnige
in 12 Staaten festgestellt. 1912 waren es 10,1 Prozent; 1917 9,5 Prozent;
1918 6; 1919 4,4; 1920 2,2; 1921 2,9; 1922 3,8; 1923 4,4; 1924 4,9 Prozent.
Im Durchschnitt 1912 bis 1918 8 Prozent; 1920 bis 1924 3,6 Prozent.
Der „Clipsheet“ der bisch. Meth. Kirche für Aùgust stellt glänzende
Zeugnisseführender Geschäftsmänner, Eisenbahnpräsidenten,
Bankiers, Aerzte und Erzieher für die Prohibition zusammen.
Frau Cook, Winton (Ohio), eine eifrige Vorkämpferin der Prohibition,
ist 8. 9. ermordet worden; man nimmt einen Racheakt von Schmugglern an
(„Matin“ 9. 9.)
OberstAndrews hat Foster mit der Leitung der Prohibitionspolizei
in New York beauftragt. Dort und in anderen Großstädten ist das Prohibi-
tionspersonal vermehrt, auch die „Trockene Flotte“ durch schnelle kleine Fahr-
zeuge vergrößert. („Paris Times“ 22. 8.) l
Im Fiskaljahr 1924-25 (Schluß 30. 6.) sind für mehr als 100 Millionen
lr Spirituosen beschlagnahmt. (,Courr. de Gen.“ 27. 8.)
Der Untersuchungsausschuß des Nationalbundes der Kirchen
Christi äußert sich über die Erfolge der Prohibition. Ausführliche Inhalts-
angabe des Berichts bringt das nächste Heft der „Alkoholfrage“.
Die Todesfälle durch schlechten Alkohol (booze) haben in Kali-
fornien um einige 400 % gegenüber dem Minimum der ersten Prohibitonstage
zugenommen, ehe das Bootleggerwesen organisiert war. Aber diese bedeuten
300 % Todesfälle weniger als die vor der Prohibition durch „guten“ Alkohol
ewirkten Todesfälle, ferner ist die starke Zunahme der Bevölkerung in
tracht zu ziehen. („Clipsheet‘“ des meth. Board of Temp. 6. 7.)
Die Sterblichkeitsstatistik der Vereinigten Staaten
für 1922 (Mortality Statistics 1922) enthält einen Abschnitt über die Todesfälle
infolge von Alkoholismus und Leberzirrhose.
Todesfälle auf je 100 000 Einwohner.
Alkoholismus Leberzirrhose Alkoholismus Leberzirrhose
1914 4,9 13,0 1919 1,6 7,9
1915 4,4 12,6 1920 1,0 7,1
1915 5,8 12,3 1921 1,8 7,4
1917 5,2 11,4 1922 2,6 7,5
1918 2,7 9,6
‚ Das statistische Amt von Washington bemerkt zu diesen Zahlen: „Staaten,
wie Kansas, Maine, Tennessee und Nord Carolina, die schon lange Jahre
vor dem Kriege ein Verbotsgesetz besaßen und schon im Jahre 1917 eine
verhältnismäßig niedrige Sterblichkeit für Alkoholismus und Leberzirrhose
hatten, weisen in den letzten Jahren nur eine sehr kleine Ab- oder Zunahme
auf.“ Trotz der wahrscheinlichen Zunahme der Fälle in den Jahren 1923
und 1924 kann man also nicht behaupten, daß der Alkoholismus in den
Vereinigten Staaten seit der Einführung des Verbotes zunimmt.
Die Alkoholfrage, 1925. i
T Ew. m
370 Mitteilungen.
Das statistische Amt der Vereinigten Staaten veröffentlicht auch die
Statistik derin Anstalten versorgten Armen im Jahre 192%.
Im Jahre 1904 zählte man in den Vereinigten Staaten 99,5 versorgte
Armen auf je 100000 Einwohner, im Jahre 1010 96, im Jahre 1923 58.4.
(„Int. Bur. z. B. d. A.“ Pressebull. No. 13.)
-m
Die Int. Ztschr. g. d. A.“ Nr. 5 bringt einen Aufsatz von G. B. Wilson: |
„Wie pron istderAlkoholverbrauch Amerikas? Gegenüber
der Behauptung Staytons, des Vizepräsidenten der Nationalen Vereinigung
gegen das Alkoholverbot, daß der jährliche Verbrauch starker Getränke jetzt :
zweimal so stark sei als vor dem Alkoholverbot, kommt er zu dem Ergebnis, :
„daß, als die amerikanischen Behörden im Jahre 1923 dem britischen Ge- |
sandten erklärten, der Alkoholverbrauch sei um 80% gesunken, sie den
Fortschritt des Verbots, wie er sich im Lichte der Tatsachen von heute
ergibt, noch zu gering angeschlagen haben.“
Mitteilungen.
Zur Frage: Der Nährwert des Alkohols.
Die Nummer 224 der Ange zertung für Brauerei enthält einen Aufsatz:
„Der Nährwertdes Alkohols“ und bringt in der Tat einen „inter-
essanten Briefwechsel“. Herr Profesor Klewitz, Oberarzt der Medizini-
schen Klinik in Königsberg, hielt kürzlich gelegentlich einer Volksunterhaltung
einen Vortrag über „Temperenz und Abstinenz“. Wie die Tageszeitung für
Brauerei schreibt, legte der „äußerst sachkundige Redner dar, Alkohol sei
ein hochwertiges Nahrungsmittel, da ein Liter Bier 6:4 Hühnereiern an
Wa...
Nährwert gleichkomme, daher die Fettleibigkeit vieler Trinker“. Der Verfasser
des Aufsatzes. in der Tageszeitung für Brauerei erhielt nun von abstinenter
Seite einen Brief, worin es heißt: „Die gänzlich neue Entdeckung des Nähr-
inhaltes von 6% Eiern in einem Liter Bier? Man war auf der Klinik völlig
parpiex über solch blühenden Blödsinn; ich mußte ihn erst durch den „Druck“
weisen.“ Darauf erhielt der Verfasser des Aufsatzes in der Tageszeitung
für Brauerei folgenden Brief des Herrn Professor Klewitz: „Die Herren,
die meine Analyse für Blödsinn erklären, verweisen Sie bitte auf das „Hand-
buch der Ernährungstherapie‘“, Bd. 1 von v. Noorden und Salomon, wo aul
S. 756 der Nährwert der verschiedenen Biere zusammengestellt ist, z. B.
für Münchener Pschorr-Bier 49,7 Kalorien in 100 — 497 Kalorien in
1 Liter, der Nährwert eines Hühnereis beträgt 73 Kalorien, vgl. v. Noorden
Bd. 1 S. 244. Die Berechnung, wieviel Eier hinsichtlich ihres Nährwert
demnach einem Liter Bier entsprechen, darf ich den Herren wohl selbst
überlassen. Ich empfehle auch die Lektüre des Abschnitts „Fettleibigkeit“
in dem Lehrbuch der Ernährungstherapie für innere Krankheiten von
F. Klewitz, bei Bergmann, München 1925“.
Ich hatte mich nun an die Herren Professoren Abderhalden und
Abel gewandt mit der Bitte, mir ihre Auffassung von der wieder aul-
polen Behauptung, der Alkohol besitze einen praktisch verwertbaren
ährwert, freundlichst mitteilen zu wollen. Herr Geheimrat Abder-
halden erwiderte darauf das Folgende: „Was die Frage des Nährwertes
des Alkohols anbetrifft, so muß mit aller Entschiedenheit hervorgehoben
werden, daß der Alkohol als Nahrungsstoff unter keinen Umständen in Frage
kommen kann. Einmal spielt er als Baustoff gar keine Rolle. Er kommt
nur als Energiequelle in Frage, und auch nach dieser Rich ist er nicht
brauchbar, weil die giftigen Eigenschaften sich schon bei relativ geringen
Mitteilungen. 371
Alkoholdosen geltend machen. Es ist ein Unding, Alkohol und auf der
anderen Seite Nahrungsmittel in ihrem Nährwert zu vergleichen. Führen wir
doch mit den letzteren zahlreiche wichtige und unentbehrliche Nahrungsstoffe,
Mineralstoffe, organische Nahrungstoffie, Vitamine, zu, während der Alkohol
als ein rein chemischer Stoff, der nicht Zellbestandteil ist, niemals mit
Nahrungsmitteln wetteifern kann. Wäre er von praktischen Gesichtspunkten
ein solcher, dann wäre nicht zu verstehen, weshalb beim Erstreben körper-
licher Höchstleistungen der Alkoholgenuß regelmäßig verboten wird. Daß
vom rein theoretischen Standpunkte Alkohol ein Energiespender ist — nach
seinem Kalorienwerte —, spielt praktisch gar keine Rolle, weil, wie schon
erwähnt, die schädlichen Eigenschaften des Alkohols sich sehr frühzeitig
geltend machen.“
Herr Geheimrat Abel schrieb mir: „Den Aufsatz des Herrn Prof:
Dr. Klewitz in Königsberg, worin dieser 1 Liter Bier seines Kalorienwertes
halber 614 Hühnereiern an Nährwert gleichsetzt, habe‘ich nicht gelesen. Ich
würde es auch nicht für möglich halten, daß der Oberarzt einer Medizinischen
Universitätsklinik eine solche Behauptung niederschreiben kann, wenn Sie
mich nicht der Tatsache versicherten. Die Berufung des Herrn Prof.
Dr. Klewitz auf das Handbuch der Ernährungstherapie von v. Noorden und
Salomon Bd. 1 S. 756 geht natürlich fehl. Man findet dort zwar Zahlen für die
Kalorienwerte verschiedener Biersorten, aber den Vergleich mit dem Nährwert
von Eiern haben nicht die Verfasser des Buches, sondern Herr Klewitz gezogen.
Dieser scheint nicht zu verstehen, daß die seinerzeit von Rubner eingeführte
Rechnung mit Kalorienwerten in der Ernährungslehre nur den Zweck hat,
leicht vorstellbare und vergleichbare Begriffe für den Heizwert der einzelnen
Nahrungsmittel im Körper zu gewinnen, daß es aber ganz unerlaubt ist,
zwei Nahrungsmittel ohne Rücksicht auf ihre Zusammensetzung und Be-
schaffenheit rein nach dem Verbrennungswerte einander gegenüber zu stellen.
Herr Klewitz wird sich auch wohl hüten, einen Digitalisinfus, dem Syrup als
Geschmacksstoff zugesetzt ist, als Nahrungsmittel entsprechend dem. Kalorien-
werte des Syrups bei der Ernährung seiner herzkranken Patienten in Rechnung
zu setzen. Bei alkoholischen Getränken aber will er die Giftwirkung des
Alkohols in einseitigem Blick auf dessen Wärmewert außer Acht lassen und
begeht damit einen so grundsätzlichen Fehler, daß seine Ausführungen nur
als Variante des tausendmal zurückgewiesenen Geredes vom Bier als
„Hüssigem Brote“ erscheinen können.“
‚ „Nun möchte ich aber noch einem nicht-abstinenten Vertreter der medi-
zinischen Wissenschaft das Wort geben. 1902 schrieb Herr Professor Hueppe:
„Zunächst läßt sich die Ersetzbarkeit von Fett durch Alkohol nur bei so
großen Mengen Alkohol sicher feststellen, daß dabei Vergiftungserscheinungen
auftreten. Wir werden aber niemals ein Mittel Nahrungsmittel im engen
Sinne nennen, bei dem der kalorische Effekt sich erst sicher einstellt, wenn
auch Vergiftung eintritt.“
An einer anderen Stelle sagt Hueppe: „Daraus ergibt sich unzweideutig,
daß Alkohol in den Mengen, in denen er als Nahrungsmittel nach seinem
kalorischen Effekte in Betracht kommen könnte, ein so schweres Gift ist, daß
dies ihn als Nahrungsmittel wieder ausschließt.“ — Ferner sagt Professor
ueppe: „Der Alkohol ist demnach kein gutes, sondern ein minderwertiges
Nährmittel und steht als Sparmittel für Eiweiß hinter den Fetten und Kohle-
hydraten zurück, die ihn zudem an Billigkeit weit übertreffen. Die nährenden
Eigenschaften des Alkohols sind individuell sehr schwankend und stehen
praktisch und pekuniär so hinter denen der wirklichen Nahrungsmittel zurück,
man von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch machen kann.“
Halten wir gerade in unserer so schweren Zeit an den Worten des nicht-
abstinenten Professor Hueppe fest, daß er ausdrücklich den Alkohol in scharf
ausgesprochenen Gegensatz zu den „wirklichen Nahrungsmitteln“ setzt. Dem
notleidenden Volke sollen und müssen die schon schwer erreichbaren wirk-
ichen Nahrungsmittel nicht noch durch die Verschwendung echter Nahrungs-
stoffe zur völlig überflüssigen Produktion von einer wahren Flut alkoholischer
24°%
372 Mitteilungen.
Getränke entwendet werden. Jedenfalls darf nicht geduldet werden, daf
die Ergebnisse der Forschung von Vertretern bestimmter wirtschaftliche
Interessen einseitig und daher ırreführend ausgedeutet werden.
San.-Rat Dr. Otto Juliusburger.
Zwei deutsche Universitätsprofessoren zur Alkoholfrage.
Der außerordentliche Professor an der Berliner Universität Geh. Ra
Dr. jur. Bornhak veröffentlichte im November 1925 unter der Ueberschrilt
„Die Gemeingefährlichkeit der Antialkoholbewegunr
im amtlichen Organ des Deutschen Gastwirteverbandes einen Aufsatz, der —
zum Teil als Inserat — die Runde durch die deutsche Presse machte. Wir
- entnehmen dem Aufsatze die folgenden Bruchstücke: —— ` |
„..DieBekämpfung des Antialkoholismus ist eine ebenso
p atriotische Pflicht, wie die der Kriegsschuldlüge. Der Antialkoh:-
ismus ist aber auch unvereinbar mit den Grundlagen des Christentums, ob-
leich er sich meist mit christlichen Federn zu schmücken liebt und mit den
Muckertume Hand in Hand geht. Heißt es doch schon in einem alten Studenten-
liede: „Diogenes, der war ein Mucker
Vom griech'schen Mäßigkeitsverein,
Trank Zuckerwasser ohne Zucker
Und stippte etwas Aussicht ein. |
Nach der Sündflut gab Gott der Herr Noah den Weinstock als Freude
nach dem Leid und hat ihm die Rebengabe auch nicht wieder entzogen, ob-
gleich Noah einmal, vielleicht weil er die Kraft der Reben noch nich
genügend kannte, von der Gabe einen zu übermäßigen Gebrauch gemach
atte. Christus sorgte, als auf der Hochzeit zu Kana der Wein avs-
gegangen war, für frischen Stoff, und zwar, wie die Bibel bezeugt, für eim
ute Sorte. Und wenn wir von der fröhlichen Hochzeit gleich auf das bite
eiden und Sterben des göttlichen Heilands kommen, so stellt sich im heiliger
Altarsakrament das höchste Geheimnis des Christentums in der Gestalt des Brote
und des Weines dar. Will man dieses etwa in Zukunft, entgegen der göttlichen
Einsetzung, mit Tee oder einem anderen alkoholfreien Getränk begehen? Un!
selbst im ewigen Leben wird uns der Wein nicht fehlen. Denn Christ:
sagt kurz vor seinem Hinscheiden, er werde nicht mehr vom Stock der Rebe
. trinken, bis er ihn wieder trinken werde in seines Vaters Reiche. Wo bleiben
da die Abstinenzler? Sie müssen samt und sonders an der Himmelstür:
umkehren und zur Hölle fahren. Da gehören sie hin. Denn beim Teufel gib
es nur höllische Glut und Snteprechenden Durst, aber nichts zu trinken. D't
Bekämpfung desAntialkoholismusistalso ne
gläubigenChristen,dernochanGottesWortfesthält...
»... Nun heißt es freilich, es sei ein Unterschied zu mache
zwischen Enthaltsamkeits- und bloßen Mäßigkeits
bestrebungen. Ja, für die bloße hie Ja braucht man keinen Verein.
die mag man jedem selbst überlassen. In ihren Mitteln laufen sie beide avl
dasselbe hinaus und das Endziel ist bei beiden dasselbe: Unterdrückung
allesAlkoholismus,alsoetwasebenso Unmöglichesw't
derewigeFriede.. .“
„Die Erfahrungen, die große Reiche wie Norwegen und die \er
einigten Staaten mit der Trockenlegung gemacht haben, sind nicht gerad
verlockend. Der notleidende Teil ist in erster Linie dit
Staatskasse, der eine ergiebige Steuerquelle entzogen wird . . .“
»... Nun will man allerdings für Deutschland zunächst noch kei
vollständige Trockenlegung, sondern nur das Gemeindebestimmungsrecht. D'®
Erlaubnis zur Errichtung neuer Gast- und Schankwirtschaften und zur Fort:
- führung bestehender soll von einer Abstimmung im Gemeindebezirk oder b:
kleineren Gemeinden in der ganzen Gemeinde abhängig gemacht werdet.
Mitteilungen. . 373
Hat man je einen größeren Blödsinn erlebt? An Stelle des
sachlichen, obrigkeitlichen Ermessens über die Bedürfnisfrage sollen darüber,
ob für Errichtung oder Fortführung einer Schankstätte ein Bedürfnis vor-
handen ist, diejenigen entscheiden, die kein Bedürfnis danach haben. In letzter
Linie entscheiden also die Frauen darüber, ob die Männer in ihrer Gemeinde
noch eine Schankstätte bedürfen . . .“
* *
%*
Aus der großen Zahl der Entgegnungen auf Bornhaks Ausführungen sei
eine des ordentlichen Professors der Theologie D. Niebergall in Marburg
herausgehoben und hier auszugsweise wiedergegeben:
»... Es ist ganz gegen akademische Art, dieses Problem mit Bemer-
kungen wie die folgenden abzutun: die Staatskasse erleidet Schaden, wenn der
Alkoholkonsum zurückgeht. Jeder Gebildete muß wissen, daß diese Ein-
nahmen um ein Mehriaches überwogen werden von den Kosten, die in
Gefängnissen, Irrenhäusern, Krankenhäusern und von Unfall- und Lebens-
versicherungen für die Opfer des Alkohols bezahlt werden müssen. Oder:
es geht die Frauen und die andern, die im Gemeindebestimmungsrecht ab-
zustimmen hätten, gar nichts an, wie viel Wirtschaften errichtet würden;
als wenn diese gerade nicht am allermeisten unter den Ausgaben und den
Roheiten zu leiden hätten, die mit dem Trinken zusammenhängen. Man kann
auch einem durch den Alkohol beeinträchtigten Empfinden kein Verständnis
dafür zumuten, daß sich hunderttausende seiner enthalten, um seine ver-
derbliche Macht über das Volksleben brechen zu helfen .. .“ |
». . . Niemand von denen, die dem angeführten Artikel ihre Zustimmung
schenken, hat eine Ahnung von der auf Wahrheit und Echtheit beruhenden
tiefen Lebensfreude und Lebenskraft einer gänzlich alkoholfreien Kultur, von
dem urkräftigen Behagen, der Leichtigkeit, dauernd und gründlich mit
Sorgen und Leidenschaften fertig zu werden, und anderen Vorzügen, von
denen sie begleitet ist. Lebenskraft und Lebensfreude sollten für einen
gebildeten Deutschen vor allem aus dem Reichtum deutschen Geisteslebens
quellen oder aus dem unerschöpflichen Schatz eines ganz reinen und innerlich
wahren Familienlebens . . .“
Eine Entschließung der Leipziger Studentenschaft.
Die Studentenschaft der Universität Leipzig hat von dem Artikel des
Geheimen Justizrat Dr. C. Bornhak über „Die Gemeingefährlichkeit der
Antialkoholbewegung“, der Mitte November in Leipziger Tageszeitungen er-
schienen ist, Kenntnis genommen.
Ohne für oder wider die Antialkoholbewegung Stellung nehmen zu wollen,
hält es die Studentenschaft in ihrer Gesamtheit für ihre Pflicht, gegen diese
Darstellung entschiedenste Verwahrung einzulegen. Die Studentenschaft der
Universität wendet sich deshalb gegen den Artikel, weil in ihm die tiefen
sozialen Nöte des deutschen Volkes eine Behandlung erfahren, die ihr mit
der sachlichen und gründlichen Art deutscher Wissenschaft unvereinbar
erscheint. Sie kann die Befürchtung nicht verhehlen, daß durch die unsachliche
Art dieser Abhandlung der Weltruf deutscher Wissenschaft gefährdet wird.
Sie gibt ihrem Bedauern Ausdruck, daß ein deutscher Universitätsprofessor,
der mitberufen ist, die deutsche Wissenschaft hochzuhalten, der Verfasser
dieses Artikels ist.
Der Vorstand der Studentenschaft der Universität Leipzig.
gez. Seidel, Lennert, Niese, Drube, Schwinger.
Dieser Erklärung schließen sich an: Hochschulring Deutscher Art,
Kartell rep. Studenten, Freischar des A. W. V. Deutsche Jungenschaft,
Deutsche christl. Vereinigung stud. Frauen, Neudeutsche Freischar, Jung-
nationaler Bund (Bund deutscher Jugend), Evangelischer Studentenring,
Vera...
374 Mitteilungen.
Deutsche christl. Studentenvereinigung, Sozialistische Studentengruppe, Kath.
Akademiker-Ausschuß, Neuwerkkreis Leipzig, Hochschulgruppe Leipzig der
Adler und Falken. |
‚(Nachrichtenblatt der Studentenschaft der
Universität Leipzig, 1925, Nr. 3, 16. Dez.)
Der Rektor der Tübinger Universität an die Altherrenschaften.
Tübingen, den 20. Dezember 19%.
Seit Kriegsende befindet sich an den deutschen Hochschulen, nicht
zuletzt auch an den deutschen Universitäten, die Pflege der Leibesübungen
in bemerkenswert erfreulichem Aufschwung. Es ist das besondere Verdienst
der Studententage, den Sinn für körperliche Ausbildung der akademischen
pugend ‘immer mehr geweckt zu haben und sogar bis zur Forderung der
flichtmäßigkeit der Leibesübungen weitergeschritten zu sein. Ich sehe darin
den Beweis, daß die Führer der akademischen Jugend auch heute noch sich
ihrer Verantwortung dem Volksganzen gegenüber bewußt sind und
jugendlicher Idealismus, der sich nicht scheut, sich selbst Pflichten auf-
zuerlegen, noch keineswegs erstorben ist. Dies ermutigt mich, hier eine
Angelegenheit zur Sprache zu bringen, die neuerdings dem akademischen
Rektoramt und den akademischen Disziplinarinstanzen bedauerlich häulig
zu schaffen macht. Ich meine die mehr oder minder uneingeschränkte Rück-
kehr zu dem, was wir heute, wenn wir ehrlich sein wollen, als Trinkunsitten
bezeichnen müssen.
Während im Kriege und in den ersten Jahren nachher von nahezu allen
Studierenden, und nicht zuletzt von den einer Korporation angehörenden,
im Alkoholgenuß Maß gehalten wurde und der akademische Disziplinar-
ausschuß nur in seltenen Ausnahmefällen zusammenzutreten brauchte, isi
seit einigen Semestern eine deutlich spürbare Veränderung eingetreten, die
nicht nur von den Lehrern der akademischen Jugend, sondern von den
weitesten Kreisen der Bevölkerung ohne Unterschied der sozialen Stellung
mit Bedauern und Mißfallen beobachtet wird. Man sieht wieder stark, mit-
unter sinnlos betrunkene Studierende (nicht selten sogar am hellen Tage)
auf der Straße — ein Spott der Jugend, ein Aergernis für die Erwachsenen.
Die Polizei klagt über die Zunahme der Nachtruhestörungen’ und der Fälle
groben Unfugs sowie anmaßendster Beamtenbeleidigungen. Staatsanwali-
schaft und Gericht haben häufig Anlaß sich mit strafbaren Handlungen von
Studierenden zu befassen, empfindli he Strafen müssen verhängt und auch
der Disziplinarausschuß muß in jedem Semester mehrmals wegen solcher
Vorkommnisse einberufen werden. Von Bürgerschaft und Gemeinderat wird
es mit Recht besonders übel vermerkt, wenn, wie dies in den letzten Se
mestern leider mehrfach u like ist, öffentliche Anlagen und En
richtungen, wie elektrische Beleuchtungsanlagen, Feuermelder u. dgl., in der
Betrunkenheit beschädigt oder zerstört werden. |
In Tübingen haben bekanntlich alle Kreise von alters her volles Ver
ständnis für einen gesunden studentischen Humor gehabt und auch heute
denkt niemand daran, seine Kundgebung verbieten zu wollen. Man erwarte
aber vom Studierenden, daß er die Grenzen einhält. Es muß auch für ihn
selbstverständlich sein, daß bei der heutigen allgemeinen Notlage, unter den
drückenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten aller Erwerbsstände, mehr as
früher Maß gehalten wird. Man verlangt mit Grund von dem Studierenden
in ganz besonderem Grade Haltung und Selbstzucht. |
Ich kann es nur als erfreulich bezeichnen, daß, wie das nicht selten
zutage getreten ist, bei den neu in das akademische Leben Eintretenden
ganz spontan sich ein mehr oder minder intensiver Widerstand gegen über-
mäßiges und zwangsweises Trinken und öde Kommentreiterei geltend macht.
Derartigen einem gesunden und zeitgemäßen Empfinden entsprechenden
Regungen sollte nachgegangen und sie sollten nicht in falsch angewandte
Disziplin als Widerspenstigkeit oder Schwächlichkeit unterdrückt oder gar
m — — a E anea
= — 2
= -
Mitteilungen. 835
als dem deutschen Wesen oder einer geheiligten Tradition zuwiderlaufend
bekämpft werden. Mit jener aus hohem Verantwortungsbewußtsein ge-
borenen Forderung der Pflichtmäßigkeit der Leibesübungen verträgt sıch
nicht eine Pflichtmäßigkeit von Trink,übungen“.. Und wenn wir mit der
ersteren eine Kräftigung und Stählung des jugendlichen Körpers ebenso wie
eine Hebung der Willenskraft beabsichtigen, so dürfen wir die Erreichung
des uns vorschwebenden Ziels nicht durch überlebte Gebräuche gefährden,
bei denen zum mindesten die Wahrscheinlichkeit besteht, daß sie die Willens-
kraft ähmen und den jugendlichen Körper und Geist — oft für das ganze
Leben — schädigen.
Ich bin mir bewußt, daß behördliche Vorschriften und Ermahnungen
¿uf diesem Gebiete nur dann etwas nützen können, wenn sie bei den
Studierenden einen Widerhall finden und als willkommene Stütze für eigene
Bestrebungen angesehen werden. Wirksam dürfte es sein, wenn die Alt-
kerrenschaften sich den dargelegten Standpunkt zu eigen machen und sich
dazu entschließen würden, in diesem Sinne auf die Kommilitonen einzu-
wirken. An sie wende ich mich deshalb mit der Bitte, in ihrem Teile dazu
beitragen zu wollen, daß die guten Nachwirkungen des Krieges, die bezüg- `
lich des Alkoholgenusses unstreitig vorhanden waren, nicht wieder verloren
gehen und die Ertüchtigung der Jugend nicht ein bloßes Schlagwort bleibt.
Köhler.
Aus: Ethik — Glauben — Wissen.
Festrede des Rektors Prof. Dr. Eugen Bleuler, gehalten an der
92. Stiftungsfeier der Universität Zürich am-29. April 1925.
»„*.. Wissen und Glauben haben jedes seine Berechtigung, aber wie
alles in der Welt nur am richtigen Ort; wenn man das eine für das andere
ausgibt, oder das eine anwendet, wo das andere angewendet werden sollte,
und besonders wenn man ahnungslos beides vermischt, dann kann nichts
Klares und nichts Gutes herauskommen. Aber wenn man beides in seiner
Existenz und seiner Bedeutung erkennt, wird man bescheidener, und man lernt
auch den Glauben anderer achten, wie es in englischen Sprachgebieten jetzt
schon weitgehend der Fall ist, und man wird auch lernen können, den Glauben,
der immer noch so oft zum Quälen und Unterdrücken des Nebenmenschen
benutzt wird, segenbringend für sich und andere zu gestalten.
... Zum Schluß noch ein Beispiel, wie ein künstlich geschaffener
na in schärfsten Widerspruch mit der Ethik kommt und sie geradezu
åischt . . .
Da war ich in einer Sitzung für die Trinkerfürsorgestelle; der Fürsorger
erzählte aus seiner letztjährigen Erfahrung. Ich hatte geglaubt, einen vollen
Ueberblick zu besitzen über den Alkoholsumpf, in dem ich, seit ich Arzt bin,
so viele Menschen versinken sah, die, hinabgezogen durch das Genußgift,
auch durch das ärztlich verschriebene, der rettenden Hand stets wieder entglitten.
Aber diesmal stieg aus aktenmäßigen Schilderungen solch ein Dunst von
Schmutz und Schmach, daß mir das Blut stockte und dann wieder heiß zu
Kopfe stieg beim Gedanken, daß das alles von heut auf morgen verschwinden
könnte, wenn die Ethik der Gebildeten funktionieren wollte. —
Ich war in einer andern Sitzung; man redete davon, wie unser Obstsegen,
verwandelt in einen Schnapsiluch, sich über das Land ergießt, nachdem der
Versuch einer Eindämmung durch Verfassungsbestimmungen an der Verständ-
nislosigkeit derer gescheitert ist, die das Volk unterrichten sollten ... —
nd fast zu gleicher Zeit bekam ich eine Broschüre in die Hand, die dar-
stellte, wie ein Heer, das dreieinhalb Jahre lang fast allein dem größten Teil
übrigen waffenfähigen Welt die Stirne geboten, schließlich durch den
Alkohol, den der Feind ihm überlassen, so geschädigt wurde, daß die endliche
Niederlage den Trinkgewohnheiten zugeschrieben werden kann — nicht etwa
in den Tag hinein, sondern gestützt auf gesicherte Tatsachen. Es ist nun
376 Mitteilungen.
ganz gleichgültig, ob der Alkohol dabei wirklich die letzte Entscheidung
brachte, oder nur mitwirkte; nichts ist so erschütternd als die Berichte, wie
heidenhafte Angriffe, denen gegenüber die dynamitne Mauer des Granat-
hagels machtlos gewesen war, in den Weinkellern der Städte verschlammten.
Und die Schuld an dem Elend, das bei uns ganze Mietkasernen durch-
gröhlt und durchweint, — an der Schnapspest, die, von keinem Gesetz
ehindert, Glück und Gesundheit zerstört, Schuld oder Mischuld an der
atastrophe eines Millionenheeres und eines großen Volkes, diese Schuld
tragen unsere Trinksitten. Und wer trägt die Schuld an den Trinksitten?
Die Gebildeten mit ihren Universitäten, die den Trunk hätscheln wie ein
Kleinod und verklären durch die Ideenverknüpfung mit allem Zauber und
idealen Streben der Jugend! ... |
Da haben die Universitäten, nicht als abstrakte Gebilde, sondern die
Einzelnen, die mit ihrem Geist einen lebendigen Organismus daraus machen,
viel zu sühnen — gegenüber dem Schusterjungen, der deswegen verkam,
weil er meinte, der studentische Bierzipfel in der Weste, mit dem was drum
und dran hängt, mache ihn zum Manne . . . gegenüber dem Vaterlande, dem
gerade jetzt wieder eine der schwersten Gefahren droht, und gegenüber der
anzen Menschheit, der sie unabsehbaren Schaden gebracht haben durch
ie Vergiftung der Tüchtigen und durch das schlechte Beispiel gegen-
über den Schwachen. Ist es doch jetzt noch möglich, daß ein mit
Recht hochangesehener Akademiker Alkohol und Morphium zusammen
als Notwendigkeiten für die Menschheit darstellen kann. Ich hoffe.
niemand, der dem bisherigen gefolgt ist, wird gegenüber dem Alko-
holgläubigen einen Vorwurf herauslesen können. ie Leute, die die
Hexen verbrannten, waren brave und nicht bornierte Männer, jedoch miß-
leitet von ihrem Glauben. Aber jetzt, da einmal die Tatsachen gesammelt
sind, die den Alkohol von der Seite der brutalen Realität zeigen, und wir
den Umweg genau kennen, auf dem man zu dem falschen Glauben gekommen
ist, erscheint es mir doch eine Pflicht jedes Akademikers, namentlich de :
jungen, noch nicht rettungslos suggerierten, die Alkoholirage zu studieren,
auf die Gefahr hin, daß er dann die liebe Mäßigkeit als dasjenige erkennt,
was sie ist, im Zeitalter der ee ae Mö Tichkeit, Alkohol unter die
Leute zu bringen, noch ausgesprochener als früher: eine blöde Utopie
eine prinzipielle Unmöglichkeit. Unserer rationalistischen Zeit, die so ger
allem Glauben, auch dem berechtigten, ihre Verachtung entgegenschleudert.
steht es am schlechtesten an, gerade einen Aberglauben zu schützen, der die
ethischen Werte, statt sie zu erhalten, vernichtet — in der gegenwärtigen
Generation wie in den Keimen ihrer Zukunft.“
Druck von Kupky & Dietze (Inh.: C, und R. Müller), Radebeul-Dresden.
Das Narkotium Alkohol im sozialen
Organismus.
Von Dr. Reinhard Strecker.
Es gibt chemikalische Stoffe, die die physiologischen Grundlagen unseres
Seelenlebens angreifen; die den Menschen sozusagen auf chemischem Wege
seelisch vergiften. Hier liegt die Gefährlichkeit aller Narkotika. Sie lähmen
die Tätigkeit derjenigen Zellen, die unsere graue Gehirnrinde aufbauen, die
als physiologische Grundlage unsrer Urteile und unsrer Willensentscheidungen
funktioniert. Es gibt Krankheiten und Schmerzen, wo wir für die Möglichkeit
dieser Lähmung dankbar sein müssen. Aber die gefährlichen Nebenwirkungen
machen die Anwendung jedes Narkotikums in jedem einzelnen Falle doch
immer wieder zu einer ernsten Frage. Es ist immer ein geringeres oder
größeres Risiko damit verbunden. Denken wir an die Morphinisten! Sie
sind moralisch minderwertig. Aber was hilft ihnen gegenüber die Moral-
predigt? Ist das Gift jm Körper erst in Funktion getreten, hat es erst seine
ähmungen mit nachfolgenden neuartigen Reizungen und Bedürfnissen be-
wirkt, die der giftfreie Organismus nicht kennt, so haben wir mit mehr oder
weniger veränderten physiologischen Grundlagen für die Willensentscheidung
zu rechnen. Die normale Willenskraft ist nicht mehr vorhanden. Sie wird
solange nicht mehr vorhanden sein, als bis die physiologischen Ursachen
ihrer Veränderung Dt sind. Durch die planmäßig eingeleitete Ent-
ziehungskur ist das möglich, wenn auch leider nicht immer. Die Morphium-
sucht aber hat ihren Ursprung in der ersten kleinen Dosis, die zu irgend-
einem medizinischen Zweck dem Patienten verabreicht wurde.
Erst wenn wir uns darüber klar sind, daß der Alkohol ein ebensolches
Narkotikum ist, dessen Wirkungen auf der gleichen Ebne liegen, wie die
von Morphium, Opium und Kokain, kommen wir zur wissenschaftlich be-
gründeten Einstellung ihm gegenüber. Mit den landläufigen Redensarten,
daß jemand ein Gläschen oder zwei ohne Schaden vertragen könne, und
daß man eben auch beim Alkoholgenuß Selbstbeherrschung haben müsse,
daß womöglich gar dies letztere der sittlich höhere Standpunkt sei —
mit all dem wird am Kern des Problems vorbeigeredet. Der Alkohol
zerstört ja gerade die physiologischen Grundlagen der Selbstbeherrschung.
Wenn ich einen Menschen vor mir habe, der zwei Glas Wein getrunken hat.
so ist es eben nicht mehr derselbe Mensch, den ich vor diesem Trunk
üßte. Ob der betreffende die physiologische Störung rascher oder
chwerer überwindet, ob sie ihn tiefer oder weniger tief affiziert, das ist
eıne Frage für sich, deren Beantwortung in jedem einzelnen Fall von
individuell und zeitlich gegebenen Begleitumständen nun Aber die
Schädigung an sich ist immer da. Niemals kann man ein Gift ohne jed-
wedes Risiko einnehmen oder eingeben. Es kann sich immer nur darum
handeln, ob die Giftwirkung entsprechend leichter genommen werden darf
als das Uebel, das mit seiner Hilfe behoben werden soll. Bei der medizinischen
erwendung von Giften ist das natürlich in der Regel der Fall. Daß aber
beispielsweise mit Schlafmitteln schon nicht immer so vorsichtig umgegangen
wird, wie es eigentlich sein sollte, ist allgemein bekannt. Und wenn Frau
Dr. med. Grete Schüler-Helbing in der Täglichen Rundschau vom 6. Nov.
einen Artikel veröffentlicht „Die Frau und der Alkoholmißbrauch“, und
wenn sie darin das Bier mit besonderer Wärme als Schlafmittel empfiehlt,
Die Alkoholfrage, 1926. 1
2 Abhandlungen.
so scheint sie die vermeintliche Ungefährlichkeit dieser „Arznei“ doch nicht
richtig einzuschätzen. (Nachweislich falsch ist übrigens ihre Behauptung, daß
nach der Trockenlegung in Amerika größere Teile des Volkes als zuvo: .
dem Morphium veriallen seien) Wo will Frau Dr. Schüler-Helbing z. B.
die Bürgschaft dafür finden, daß sich die vielen von ihr mit Bier traktierten
Patientinnen nicht auch an dieses Schlafmittel so gewöhnen, daß sie zuletzt
regelrechte (wenn auch nicht gleich gemeingefährliche) Alkoholistinnen
werden? Oder daß die Wirkung dieses regelmäßigen Alkoholkonsums nicht
direkt oder indirekt verhängnisvoll auf die Kinder und auf die weitere Um-
ebung der Patientin einwirkt? All die Hunderttausende von Trunksuchts-
fällen, die es in Deutschland Jahr für Jahr und leider nur mit einem Bruchteil
von Erfolg zu verarzten gibt, haben doch ihren Ursprung in kleinen, be-
scheidenen Anfängen von Alkoholgenuß. Wie kann also jemand bei irgend
einem Patienten diesen Anfang machen, ohne die Möglichkeit auch einer
solchen verhängnisvollen Weiterentwicklung besorgt zu überlegen?
“Dem neuesten Stande der medizinischen Wissenschaft ebenso wie der
roßen Verantwortlichkeit des Arztes entspricht sicherlich mehr, was
Dr. Courtenay in seinem Buche „Alkohol in der ärztlichen Praxis“ sagt:
„Die wesentlichen physiologischen und pharmakologischen Wirkungen
des Alkohols sind heutzutage so genau festgestellt, daß sein gewohnheits-
mäßiger oder über längere Zeit sich erstreckender Gebrauch verurteilt und
seine Verordnung im allgemeinen beschränkt werden muß auf vorübergehende
Anwendung in kritischen Momenten, wie Wiederherstellung der Oberflächen-
zirkulation nach heftiger Kälteeinwirkung, sofern außerdem Wärme und Nah-
rung verabreicht werden können. Als Reizmittel darf der Alkohol nicht mehr
länger bezeichnet werden, sondern einzig als Narkotikum, daß sich leicht
im ganzen Körper verbreitet und einen beschränkten und sehr wechselnden
Wert besitzt, um Unruhe- und Angstzustände zu mildern, das Kraftgefühl zu
heben und unter besonderen Verhältnissen wie ein kraitspendendes Nahrungs-
mittel zu wirken.“
„streng wissenschaftliche Experimentalversuche sprechen gegen den Ge-
brauch von Alkohol in Form von alkoholischen Getränken bei Herzschwäche.
Lungenentzündung und Infektionskrankheiten.“
„Es gibt keine klar abgegrenzte Indikation für die Verordnung vou
Alkohol; derselbe hat auch keine spezifische une und dient in keinem
Fall als Gegengift bei irgend welcher Krankheit oder Infektion.“
„Inder großen Mehrzahl der Fälle kann der Alkohol durch andere, besser
angebrachte Arzneimittel ersetzt werden, deren Wirkung zuverlässiger ist,
als Kampfer, Koffein,, Glykose, und bei denen die Gefahr der Gewöhnung
und nachfolgenden Mißbrauchs nicht zu befürchten ist. Diese letztere Gefahr
sollte der Arzt sich immer vor Augen halten, wenn er Alkohol verschreibt:
auf alle Fälle sollte er das nicht tun, ohne aufs Sorgfältigste die persönlichen
Lebensgewohnheiten, eventuelle alkoholische Belastung usw. in Betracht ge-
zogen zu haben.“ |
„Man vergesse nicht, wie unsere ganze Kulturgeschichte zeigt, daß die
verderblichen Folgen des Alkoholmißbrauchs und die Gefahr, die so oft auch
in dem üblichen mäßigen Trinken liegt, auch dem Gebrauch des Alkohols
als Arzneimittel eine ganz besondere Stellung zuweisen. Wir wenden uns
an unsere Berufsgenossen, daß sie immer mehr ihre große Verantwortung
in dieser Frage erkennen mögen; die unwissenschaftliche Empfehlung des
Alkohols unterhält doch immer neu den Strom des Aberglaubens, der den
Akon zum bevorzugten Hausmittel stempelt für beinahe jede Art von Un-
wohlsein.“
Ein nüchterner Mensch wird schon aus rein physiologischen Gründen
unter sonst gleichen Umständen immer über ein größeres Maß von Selbst-
beherrschung und Verantwortungsbewußtsein verfügen, als derjenige, der
unter der Einwirkung von Alkohol 'steht. Das ist ein Naturgesetz, das
angesichts der gegebenen Beschaffenheit des Zellorganismus einerseits und
Strecker, Das Narkotikum Alkohol im sozialen Organismus. 3
des Alkohols andererseits ‘keinerlei Ausnahme zuläßt. Und nur solche
moralischen Untersuchungen, die von dieser Voraussetzung ausgehen, können
zu beachtenswerten Ergebnissen führen.
Die sehr mangelhaft unterrichtete öffentliche Meinung von heute sieht
freilich nur die gröbsten Folgen gröbster Alkoholexzesse. Und auch die nicht
einmal im wahren Umfange, sondern nur sozusagen in der Form gelegent-
licher Stichproben: nächtliche Ruhestörungen, Gewalttätigkeiten, Unglücks-
fälle, Trinkerfamilienelend usw. Nicht gewürdigt wird der Zusammenhang,
der auch zwischen diesen äußersten Erscheinungen und ihren ersten leisen
von der öffentlichen Meinung noch wohlwollend in Schutz genommenen
Ursprüngen besteht. Die Freude an einem guten Glase Wein, das Verlangen
nach der „anregenden“ euphorischen (in Wirklichkeit nur hemmung-
ausschaltenden, daß heißt lähmenden!) Wirkung des Alkohols, der kleine,
gemütliche Schwips, der gelegentlich einmal ärger ausgefallene Rausch mit
iolgendem Katzenjammer, das sind Erscheinungen, die sich allgemeinster,
lächelnd verstehender Toleranz erfreuen. Und doch müssen auch gerade
diese Anfangsstadien der Krankheit „Alkoholismus“, ohne welche die schließ-
lichen verheerenden Wirkungen dieser Volksseuche gar nicht begriffen werden
können, dem ernsteren Menschen schon allen Grund zum Nachdenken geben.
Ich möchte im folgenden auf einiges Tatsachenmaterial aufmerksam
machen, aus dem gerade die moralisch verhängnisvolle Wirkung eben.des
allgemein entschuldigten und beschönigten Alkoholgenusses hervorgeht.
Nehmen wir z. B. das studentische Trinken. Darüber schreibt Dr. Georg
Klatt in seinem Buch Die Alkoholfrage S. 62: „So wird im besonderen das
Trinken der Studenten geradezu mit einem Glorienschein umgeben. Jugend-
lust, Ungebundenheit und Trinken fließen hier für den deutschen Spießer zu
einem von Poesie umwobenen Gesamtbilde vom Studenten zusammen. Diese
Poesie des Trinkens verliert viel von ihrem Schimmer, wenn wir die Dinge
nüchtern betrachten. Im Jahre 1893 kamen gewisse Vergehen unter den
Studenten des deutschen Reiches beträchtlich öfter vor als in der übrigen
Bevölkerung, und zwar Sachbeschädigung doppelt so oft, Widerstand dreimal,
Beleidigung anderthalbmal so oft.“ Die pädagogisch gegebene Forderung
wäre, gerade die akademische Jugend zu besonderer Achtung vor dem Gesetz
zu erziehen, einmal weil es sich auch hier um noch unreife und ungefestigte
Jugend handelt, dann aber weil es die akademische Jugend ist, die
vorausbestimmt ist für Stellungen, die geradezu auf der Achtung vor dem
Gesetz begründet sind, die daraus ihre Autorität beziehen, denen die Pflege
und Durchführung der Gesetze als wesentliche Aufgabe gestellt ist.
Ein anderes Beispiel: Hermann Freiherr von Eckardstein bietet uns in
seinen Memoiren interessante Einblicke in das Leben der Diplomaten. Wir
lesen da auf S. 107 des ersten Bandes zunächst von einem „Frühstück“ im
Bremer Ratskeller, das mehr als 6 Stunden dauerte, „bei dem wir eine ganze
Serie der schönsten alten Rheinweine vertilgten.“ Und dann beginnt auf
derselben Seite die Schilderung eines Zusammenseins mit dem russischen
Botschafter, dem Grafen Paul Schuwalow. Wir zitieren wörtlich: „Wir
waren den Abend wie gewöhnlich wieder sehr lustig, und der Botschafter
geriet schließlich in eine so gute Laune, daß er uns alle aufforderte, noch
zu ihm auf die Botschaft Unter den Linden zu kommen und bei ihm weiter
zu soupieren. Es war schon nahezu 2 Uhr nachts, als wir bei Hupka
aufbrachen, um der Einladung des Botschafters Folge zu leisten. raf
Schuwalow, der am Abend einem offiziellen Diner beigewohnt hatte, war
ım Frack und mit dem schwarzen Adlerorden sowie unzähligen anderen
orationen behaftet. Er erklärte, er würde das Kommando beim Hinmarsch
zur Botschaft übernehmen, und verlangte nach einem Kürassierpallasch. Ein
solcher wurde ihm auch angeschnallt, "Graf Lüttichau stülpte ihm seinen
Kürassierhelm auf den Kopf, und so zogen wir dann unter dem Kommando
Botschafters, welcher in einem prachtvollen Astrachanpelz, einen
Kürassierhelm auf dem Kopf und mit gezücktem Pallasch vorausschritt, nach
1%
4 Abhandlungen.
den Linden. Herbert Bismarck ging dicht hinter ihm. Plötzlich berührte
der Botschafter ihn mit der Pallaschklinge auf der Schulter und sagte:
„Dragonerbruder, wenn du nicht im Schritt bleibst, dann bekommst du
. nachher keinen Schnaps.“ Auf den Straßen befanden sich nur noch wenig
Menschen, und die vereinzelten Nachtschutzleute, denen wir begegneten.
lächelten und machten Front vor unserer Kavalkade. Auf der Botschaft
angelangt, ließ Graf Schuwalow durch den Portier seinen Haushofmeister
wecken, und es dauerte nicht lange, da stand im kleinen Eßsaal der Botschaft
ein prachtvol! gedeckter Tisch mit allerhand kalten Delikatessen, wie grob-
körnigem grauem Kaviar, Spickgans, Gänseleberpastete usw. bereit. Aul
dem Anrichtetisch waren die Weine aufgestellt, darunter viele Flaschen von
altem Deutz und Geldermann, sowie ungezählte russische Schnäpse. Es
war ungefähr ein halb vier Uhr morgens, als wir uns zur Tafel setzten.
Hier blieben wir dann sitzen und tafelten bis nach 6 Uhr früh. Aber ganz
so harmlos, wie das Nacht- oder eher Morgensouper auf der russischen
Botschaft dem verehrten Leser dieser Schilderung vielleicht erscheinen mag.
war es denn doch nicht. Graf Paul Schuwalow, neben: welchem Herbert!
Bismarck saß, benutzte diese Gelegenheit, um mit diesem eine Aussprache
über die Erneuerung des Rückversicherungsvertrages zwischen Deutschland
und Rußland zu haben.“ |
Also in einer solchen Alkoholstimmung wird über Völkerschicksale, wird
über Leben und Tod von Millionen Menschen verhandelt! Ob nicht mit
weniger Alkohol und mehr klarem Verstand und Verantwortungsbewußtsein
vor dem Weltkriege schon eine bessere Politik gemacht worden wäre?
In den Ergänzungen und Nachträgen zum österreichisch-ungarischen Rot-
buch, welches die diplomatischen Aktenstücke zur Vorgeschichte des Krieges
enthält, lesen wir im ersten Teil Nr. 6 im Berichte des österreichischen Bot-
schafters Graf Szoegyeny, daß ihm am 15. Juli der Kaiser zunächst versicherte.
„daß er eine ernste Aktion unsererseits gegenüber Serbien erwartet habe,
doch müsse er gestehen, daß er infolge der Auseinandersetzungen unsres
allergnädigsten Herrn eine ernste europäische Komplikation im Auge behalten
müsse und daher vor einer Beratung mit dem Reichskanzler keine definitive
Antwort erteilen wolle“. Man sieht, der deutsche Kaiser war sich zunächst
seiner furchtbaren Verantwortung bewußt und gedachte den korrekten Weg
der Beratung mit dem Reichskanzler zu gehen. Aber nun folgt das Frühstück.
bei dem gewohnheitsmäßig auch das Glas Wein nicht gefehlt haben wird.
Und der Bericht des österreichischen Botschafters geht weiter: „Nach dem
Dejeuner, als ich nochmals den Ernst der Situation mit großem Nachdruck
betonte, ermächtigte mich Seine Majestät, unserm allergnädigsten Herrn zu
melden, daß wir auch in diesem Falle (das heißt im Falle der „ernsten
europäischen Komplikation“, der Verf.) auf die volle Unterstützung Deutsch-
lands rechnen können“. Damit war der Würfel gefallen. Die entsprechenden
Anweisungen ergehen nach Wien einerseits und an den Chef des deutschen
Generalstabs andrerseits. Der deutsche Reichskanzler wurde vor ein fail
accompli gestellt. So kam der Stein ins Rollen, der die Lawine entfesselte.
und alle späteren Bemühungen, sie wieder aufzuhalten, erwiesen sich leider
als vergeblich. Die sittlichen und verfassungsmäßigen Bedenken, die vor dem
Frühstück noch bestanden, waren nach demselben verschwunden.
Welche Rolle der Alkohol dann im Weltkriege selbst in kritischen
Situationen gespielt hat, darüber haben wir ja die von Prof. Hans Schmidt
jenen Zeugnisse in seinem wahrhaft erschütternden Buche: „Warum
aben wir den Krieg verloren?‘ Man vergleiche, was „Die Alkoholirage"
N Heft 5, S. 286/287) dazu ausführt, auch die dort zitierte Aeuße
es Marineoberstabsarztes Dr. Otto Buchinger, der in der Christlichen Wet
Nr. 22/23 von seinem Südseeaufenhalt mit dem Kreuzer Hertha erzählt:
Die russischen Offiziere, die dem Alkohol zugänglich sind, lassen sich zum
Ausplaudern aller militärischen Geheimnisse verführen, während aus den
Japanern, die nichts trinken, auch nichts herauszuholen ist.
Strecker, Das Narkotikum Alkohol im sozialen Organismus. 5
Ein typisches Beispiel dafür, wie die Lockerung der Disziplin durch den
Alkohol bei den obersten Stellen beginnt, bieten uns die „Erinnerungen und
Betrachtungen“ des Oberst Bauer. Für die ganze Armee bestand während der
Mobilmachung ein striktes Alkoholverbot. Dem letzteren ist ohne Zweifel
die vollständige reibungslose Durchführung des riesigen Aufmarsches an allen
Fronten zu danken. Das beweist vor allem ein Vergleich mit den nicht
alkoholfreien Mobilmachungen in den andern Ländern. Oberst Bauer aber
erzählt auf Seite 46 seines Buches ganz harmlos: „Der größte Teil der Offiziere
der O. H. L. wohnte im Hotel, wo auch die Mahlzeiten eingenommen wurden.
Man aß an kleinen Tischen, einfach aber kräftig, und trank dazu ein Glas
Wein — dafür war es am Rhein. Sekt war von Molike verboten, da es
unangebracht sei, wo so viele Menschen draußen Leben und Gesundheit
opferten. Es war edel gedacht, aber doch weichlich und falsch.“ Sapienti sat!
Ich selbst kam kürzlich auf einer Reise durch die Schweiz in ein
schmuckes, sauberes Städtchen, das in Deutschlands Notzeit die Patenschaft
für die hungernden Kinder einer deutschen Stadt übernommen hatte. Ich
war dort im Quartier bei einer Dame aus altangesehenem Geschlecht, die
an der Spitze der Wohlfahrtsarbeiten ihres Kantons steht und daher auch
in der erwähnten Patenschaft tätig war. Die deutsche Stadt beschließt eine
Dankesdeputation, darunter den Bürgermeister, an die Schweizer Stadt zu
schicken. Dieser wird als Ehrengast bei der erwähnten Dame einquartiert.
Sie holt ihn am Bahnhofe ab, wo er bereits sichtlich angeheitert dem Speise-
wagen entsteigt. Der Tee, der ihm zum Abendessen vorgesetzt wird, genügt
ıhm nicht, er wünscht Wein. Die Dame kommt in den größten Gewissens-
konflikt, weil sie als überzeugte Alkoholgegnerin keinen Wein im Hause
hat und grundsätzlich keinen vorsetzt. Da aber der Bürgermeister weniger
ihr Gast als derjenige der Stadt ist, so fühlt sie sich verpflichtet, für
ihn eine Flasche Burgunder holen zu lassen. Dann folgt der Festabend,
den die Stadt veranstaltet. Die Stimmung des deutschen Bürgermeisters
steigert sich so, daß es seiner Gastgeberin fatal wird und sie aufbricht.
Der Herr Bürgermeister muß ihr folgen und die Schweizer Magistrats-
mitglieder sind froh, daß auf diese Weise das Bankett geschlossen werden
kann, dessen Ende sonst nicht abzusehen gewesen wäre. Welchen Eindruck
dieses sein Verhalten, zumal im Zusammenhang mit der Not hungernder
deutschen Kinder hinterlassen hat, dessen ist sich der betreffende Bürger-
meister wohl nie bewußt geworden. Der Alkohol erspart ihm solche
Gewissensbisse.
Ende August kamen etwa 30 deutsche Studenten nach Sofia, der Haupt-
stadt von Bulgarien. In dem benachbarten Bade Knjaschewo wurde eine
Kneiperei veranstaltet. Es wurden viele Fässer Bier geleert. Es ergab sich
nach Beendigung der Kneiperei, daß 350 Glas Bier unbezahlt geblieben
waren. Was diese deutschen „Kulturträger‘ an diesem Abend getrunken
haben, geht schon daraus hervor, daß auf den Kopf allein 7 unbezahlte
Glas Bier fielen. Das Minus ist allerdins nachträglich gedeckt worden.
Bedauerliche Erfahrungen mußte ich auch in Amerika machen. Dort
sprach ein Mann, dessen Name damals im at Hr der politischen Dis-
kussion in Deutschland stand, in mehreren großen Versammlungen über
Deutschlands Not. Es war im Sommer 1923. Entsprechend der hohen Stellung,
die er einnahm, glaubten ihn die Deutschamerikaner durch besondere Emp-
länge ehren zu müssen. Und so hörte ich in St. Louis, wohin mich bald danach
mein Weg führte, daß man dem deutschen Redner ein Bankett gegeben habe,
bei welchem der Wein in Strömen geflossen sei. So erzählten mir Deutsch-
amerikaner voll Stolz und mit schadenfrohem Seitenblick auf das amerikanische
Alkoholverbot. Die amerikanischen Kreise, in die ich gleichzeitig kam,
sprachen natürlich ganz anders. Es ist sicher, daß viel herzliche Gebefreudig-
eit und Hilfsbereitschaft im Ausland, in der Schweiz sowohl wie in Amerika,
durch solche Eindrücke ertötet worden ist.
6 Abhandlungen.
In der Zeitschrift „Die Menschheit“ Nr. 46 S. 299 berichtet der Reichstags-
abgeordnete Prof. Richard Eickhoff über die Tagung der interparlamen-
tarıschen Union in Washington. In diesem Bericht heißt es nach einer ab-
fälligen Bemerkung über die Prohibition wörtlich folgendermaßen: „Auch
der deutsche Botschafter, Freiherr Ago von Maltzahn, der wenn irgend einer
dort drüben am Platze ist, ließ es sich nicht nehmen, freigebige Gastfreund-
schaft zu üben, und er erzählte uns auf unsre Frage lachend, wie gut sich die
Amerikaner in seinem Hause den Wein schmecken ließen, den er ihnen vor-
setzte; denn das Haus der Botschaft ist natürlich exterritorial.“ Danach würden
also amerikanische Staatsbürger, die die Verfassung ihres eignen Lande
verachten und übertreten, im Hause der deutschen Botschaft nterstützung
finden. . Kann irgend ein Staat der Welt ein solches Verhalten einer fremden
Botschaft als freundlich oder auch nur als rücksichtsvoll empfinden? Gewiß
gibt es auch heute noch Amerikaner, die durch das Staatsverbot nicht von
der Alkoholsucht kuriert sind. Aber daß gaea mit diesen Kreisen in engem
Verein der deutsche Botschafter vor aller Oeffentlichkeit erscheint, dünkt mich
nicht eben ein Akt politischer Klugheit. Ich erinnere in diesem Zusammen-
hang an eine der Resolutionen der internationalen Konferenz von Genf über
den Alkoholschmuggel. In dieser Resolution heißt es („Alkoholfrage‘ 1925. Nr.5,
S. 251): „Die Konferenz weist mit Nachdruck darauf hin, daß es Pflicht der
Bürger aller Länder ist, die Gesetze ihres Landes zu beachten, die zum Zweck:
haben, den Alkoholismus zu bekämpfen. So verschieden diese Gesetze von
Land zu Land auch sind, nach der Art und Weise wie sie den Alkoholhande
beschränken oder verbieten, so stellen sie doch für jedes Land die wohl-
erwogene Auffassung und Entscheidung seiner gesetzgebenden Behörde dar...
Die Konferenz lädt ferner die Regierungen aller Länder ein, einander bei-
zustehen in der Bekämpfung von Versuchen, die gesetzlichen Bestimmungen
irgendeines Landes durch Alkoholschmuggel zu übertreten. Sie bittet alle
guten Bürger, die Gesetze jedes Volkes zu achten, und ersucht die Presse der
anzen Welt, den Geist der Achtung vor dem Gesetze, sei es national oder
international, zu pflegen.“ Falls der Bericht des Abgeordneten Eickhoff zu-
treffend ist, wer könnte dann behaupten, daß das Verhalten des deutschen
ae geeignet wäre, den „Geist der Achtung vor dem Gesetze“ zu
pilegen?
"Aber das liegt eben im Wesen des Alkohols, daß er laxere Auffassungen
fördert, und wenn solche in führenden Schichten sich bemerkbar machen, $0
wirken sie begriffsverwirrend und willenlähmend, in verstärktem Maße au!
die unteren, bei denen die geringere Bildung und das geringere Maß von
Verantwortung natürlich noch eine Menge mildernder Umstände liefern.
Der Bericht, den die deutsche Branntweinmonopolverwaltung über ihre
gegenwärtige Lage (1925) an den Reichstag erstattet hat, enthält unter anderem
auch folgende Stelle („Neuland“ 1925 Nr. 14, Spalte 252): „Wie tief sich das
Uebel der Schwarzbrennerei bei den Kleinbrennern eingenistet hat, beweist
auch ihr ‘Verhalten gegenüber den kontrollierenden Beamten. \Wiederholi
wurden Beamte bei der Nachschau in Abfindungsbrennereien mit Beschimp-
fungen und Belästigungen empfangen; es wurde ihnen mit Schußwalten.
Aexten und dergl. entgegengetreten, vereinzelt wurde auch auf sie geschossen.
In einzelnen Dörfern kam es zu Zusammenrottungen, wobei Beamte ve
und mit Steinen geworfen wurden, und ihnen das Weiterkommen mit dem
Fahrrad durch quer über die Straße gelegte Stangen erschwert wurde. Pflicht-
treue Beamte, auch deren Frauen, wurden teils mündlich, teils schriftlich mil
dem Tode bedroht.... Das Vorgehen gegen die Schwarzbrenner haben die
Brenner mit Protestversammlungen beantwortet; in der Pfalz haben sich
einige .. Betreifenden auch an den französichen Delegierten in Landau
gewandt.‘
Man erschrickt vor diesem Höchstmaß roher Gesetzesverachtung. Es
ist eben nur auf dem Boden der Alkoholsucht verständlich. Kann aber die
vornehme Gesellschaft, die im Hause der deutschen Botschaft in Washington
en
Strecker, Das Narkotikum Alkohol im sozialen Organismus. 7
die Bestimmungen der amerikanischen Verfassung lachend mit Füßen tritt,
reinen Gewissens und vor allem mit starker Wirkung jene Uebeltäter ver-
urteilen? Die Wesensverwandtschaft dessen, was hier dem Weine und dort
dem Schnaps zuliebe geschieht, liegt auf der Hand. Und wenn man Grad-
unterschiede feststellen will, so ist mit Rücksicht auf die weitreichende Ver-
antwortung der einen Seite noch nicht einmal sicher, ob sie bei einer solchen
Unterscheidung leichter davonkäme.
Das von Flettner erfundene Rotorschiff „Buckau‘“ war vor einiger Zeit
nach Stockholm gekommen. Aus irgendwelchen Gründen hatte der itzer
die „Buckau“ verpachtet. Der Pächter hatte darauf einen Restaurationsbetrieb
mit Tanzveranstaltungen eingerichtet, die die schwedischen Zeitungen „a la
Friedrichstraße“ bezeichneten. Der Pächter kümmerte sich auch nicht um
die schwedische Gesetzgebung, so daß er mit der Polizei in Konflikt geriet.
Die schwedische Presse begnügte sich daraufhin nicht nur damit, diesen
Skandal zu kennzeichnen, sondern verzichtete auch darauf, die Flettner-Erfin-
dung zu Ka re Die Leitung der „Buckau“ hat von dem Besuch anderer
schwedischer Häfen absehen müssen.
Vertreter der sogenannten „besseren“ Gesellschaft sind leider auch an
dem schmutzigen Geschäft des Schnapsschmuggels aktiv beteiligt, der von
Deutschland aus nach den Ländern mit starker gesetzlicher Einschränkung
oder mit Verbot des Alkoholhandels geht. Die kapitalistische Fundierung
dieses Schmuggels setzt finanziell leistungsfähige Kreise voraus. Unter den
Kapitänen der Schmuggelschiffe finden wir bedauerlicherweise auch die
Namen ehemaliger deutscher Marineoffiziere.. Die Not der Zeit mag vieles
entschuldigen. Aber neben ihr ist ohne Zweifel mitverantwortlich jene in
der Tagespresse wie in der Literatur vielfach gepflegte Auffassung, als ob
die lustigen oder ernsthaften Heldenstückchen (oft genug sogar mit tödlichem
Ausgang!) im Dienste des an das gleiche Maß von Anerkennung be-
anspruchen dürften, wie entsprechende Leistungen im Dienste einer besseren
Sache. Die Versorgung der Alkoholsüchtigen im Verbotslande wird wohl
gar als Akt der Menschenfreundlichkeit betrachtet. So verwirrt sind nun
einmal die sittlichen Begriffe in alkoholisch affizierten Gehirnen.
In einem Briefe aus dem Auswärtigen Amt wurde mir kürzlich der Vor-
wurf gemacht, daß ich Deutschlands Ansehen im Auslande durch Wiedergabe
'solcher Tatsachen schädige.e Demgegenüber ist zu sagen: Dem Auslande
werden mit solchen Tatsachen keinerlei Geheimnisse verraten. Das Ausland
ist über diese Dinge leider Gottes wesentlich besser orientiert als die deutsche
Oeffentlichkeit. Aus dem Auslande stammt ein großer Teil des Materials, _
auf das sich meine DarJegungen stützen. Das deutsche Ansehen könnte nur
dann geschädigt werden, wenn wir in Deutschland zu solchen weltkundigen
Vorkommnissen kritiklos schwiegen.
‚. Man kann die Achtung vor dem Gesetz im eignen Lande auf die Dauer
nicht hochhalten, wenn man zur systematischen Herabwürdigung der Gesetze
anderer Länder in wohlwollender Duldung schweigt. Auch hat die Rebellion
des Alkoholfreundes gegen die ihm unbequemen gesetzlichen Bestimmungen
nichts mit der sittlichen Empörung desjenigen gemein, der unter Aufopferung
seiner eigenen Persönlichkeit gegen wirkliche oder vermeintliche Ungerechtig-
keiten eines geschriebenen Gesetzes protestiert. Denn der letztere steht dann
ım Dienste eines höheren ungeschriebenen Gesetzes, von dem schon die
Antigone des Sophokles zu reden weiß. Der Alkohol aber zerstört die
Grundlage aller Gesetze, der geschriebenen sowohl wie der ungeschriebenen,
weil er die Ehrfurcht zerstört. In der Alkoholschänke ist nichts mehr heilig.
hat sie nicht mit Unrecht als die Kirche Satans bezeichnet. In animierter
Gesellschaft verträgt man Witze über alles und jedes. Wo es nach Wein,
Bier oder Schnaps riecht, da riecht es zugleich auch nach Leichtsinn und
Zoten, nach Roheit und Gewalttätigkeit, nach Ehebruch und Gotteslästerung.
Die Staatsregierung spricht gelegentlich von der Notwendigkeit, die religiöse
esinnungsgrundlage im Volke zu pflegen. Ein außerordentlicher Professor
8 Abhandlungen.
an der Berliner Universität aber, Dr. Konrad Bornhak, unterzieht sich dieser
Aufgabe mit folgenden Ausführungen, die begreiflicherweise durch die Propa-
ganda des Alkoholkapitals zu weitester Verbreitung in der Presse gebracht
werden: „Der Antialkoholismus ist aber auch unvereinbar mit den Grund-
lagen des Christentums, obgleich er sich meist mit christlichen Federn zu
schmücken liebt und mit dem Muckertume Hand in Hand geht. Heißt es
doch schon in einem alten Studentenliede:
Diogenes, der war ein Mucker
Vom griech’schen Mäßigkeitsverein,
Trank Zuckerwasser ohne Zucker
Und stippte etwas Aussicht ein.
Nach der Sintflut gab Gott der Herr Noah den Weinstock als Freude
nach dem Leid und hat ihm die Rebengabe auch nicht wieder entzogen,
obgleich Noah einmal, vielleicht weil er die Kraft der Reben noch nicht
enügend kannte, von der Gabe einen zu übermäßigen Gebrauch gemacht hatte.
hristus ac als auf der Hochzeit zu Kana der Wein ausgegangen war,
für frischen Stoff, und zwar, wie die Bibel bezeugt, für eine gute Sorte. Und
wenn wir von der fröhlichen Hochzeit gleich auf das bittere Leiden und
Sterben des göttlichen Heilands kommen, so stellt sich im heiligen Altar-
sakrament das höchste Geheimnis des Christentums in der Gestalt des Brotes
und des Weines dar. Will man dieses etwa in Zukunft entgegen der gött-
lichen Einsetzung, mit Tee oder einem anderen alkoholfreien Getränk 3
Und selbst im ewigen Leben wird uns der Wein nicht fehlen. Denn Christus
sagt kurz vor seinem Hinscheiden, er werde nicht mehr vom Stock der Reben
trinken, bis er ihn wieder trinken werde in seines Vaters Reiche. Wo bleiben
da die Abstinenziler? Sie müssen samt und sonders an der Himmelstüre um-
kehren und zur Hölle fahren. Da gehören sie hin. Denn beim T
ibt es nur höllische Glut und entsprechenden Durst, aber nichts zu trinken.
ie Bekämpfung des Antialkoholismus ist also Pflicht jedes Christen, der
noch an Gottes Wort festhält.“ (Im Original fett gedruckt.)
Man glaubt die Bierpauke eines Studenten im vorgerückten Stadium
eines Kommerses zu hören. Augenscheinlich aber vertragen weite Kreise
unseres Volkes, und leider gerade auch in den gebildeten Schichten, diesen
blasphemischen Ulk ohne sonderliche innere Empörung. Wir werden an
das Lächeln der römischen Augurn erinnert, die unter sich verspotteten,
was sie der misera contribuens plebs gegenüber noch als heiligen
Brauch äußerlich aufrecht erhielten. Und das war der Anfang vom
Untergang des römischen Weltreichs. Ohpe Achtung, ohne heilige Scheu,
ohne ernste Ehrfurcht vor dem geschriebenen menschlichen und vor dem
ungeschriebenen göttlichen Gesetz kann kein Staat lange existieren. Um
diese Achtung und um diese Ehrfurcht ist es aber im heutigen Deutschland,
das muß offen ausgesprochen werden, so bitter diese Wahrheit schmeckt, sehr
übel bestellt. Wir sagten eingangs, daß der Alkohol zunächst die Zellen
unsrer grauen Gehirnrinde lähmt, in denen unsre Urteile und unsre Willens-
entscheidungen ihre physiologischen Unterlagen haben. Auf den sozialen
Organismus übertragen heißt das: Der Alkohol lähmt zunächst die normale
Funktion derjenigen zur Führung berufenen Stellen, die für die Gesamtheit
des Volkes zu denken und Willensentscheidungen zu treffen haben. Obne
diese Lähmungen bei den oberen Organen würden auch die schweren
Störungen, die der Alkohol in den übrigen Organen des Sozialkörpere her-
vorruft, nicht den heutigen ee HS len und — wenn es so weiter geht,
wie bisher — für unser Vaterland lebensgefährlichen Umfang annehmen.
Löggow, Der Alkohol in der Haushaltsrechnung. 9
Der Alkohol in der FHlaushaltsrechnung.
VonHansottoLöggow - Kaulsdorf.
Nr. 105 der „Zpravy Statniho Uradu Statistickeho Republiky Cesko-
ilowenske‘“ (Mitteilungen des statistischer Staatsamtes der Tschechoslowa-
kischen Republik) enthält Statistiken über die Haushaltsrechnungen von
i3 Arbeiter- und 8 Beamtenfamilien. Die Zusammenstellungen bringen
detaillierte Angaben über den Verbrauch an den verschiedenen Nahrungs-
und Genußmitteln in jeder der 21 Familien sowie genaue Zahlen über
alle sonstigen Ausgaben. Die nachfolgenden Tabellen sind an Hand dieser
Veröffentlichung zusammengestellt. Sie enthalten zunächst Angaben über die
Gesamtausgaben der Familien sowie über die Ausgaben für Nahrungsmittel
und Getränke. Die Ausgaben für alkoholische Getränke, die dann folgen,
sind für jedes Getränk (Bier, Rum, Wein) einzeln angegeben und dann
zusammengezogen. Es folgen der Reihe nach die Ausgaben für Tabak,
Zigarren, Zigaretten, für Wirtshauszechen und für Vergnügungen und
Ausflüge. Zum Vergleich wurden die Zahlen der Ausgabe für kulturelle
Bedürfnisse angeführt. Um weitere Vergleiche zu ermöglichen, ist eine zweite
Tabelle hinzugefügt, die die wichtigsten Posten, prozentual auf die Gesamt-
ausgaben berechnet, enthält. Im folgenden wird ein Ueberblick über die
Lebensverhältnisse der einzelnen Familien gegeben. (Alle Angaben in
tschechischen Kronen!)
(Siehe hierzu die Tabellen auf S. 10 u. 11.
A.13 Arbeiterfamilien.
1. Familie: Familie eines Webmeisters in Nordostböhmen, 6 Personen,
Sohn 11 Jahre, Töchter 17, 12 und 6 Jahre. Die Familie führte die Rech-
nungen vom 5. Februar 1923 bis 3. Februar 1924. Die Frau ab August
Textilarbeiterin (4 Monate krank), die älteste Tochter 10 Monate im Dienst
auswärts, dann zu Hause krank. Einnahmen der Familie: Arbeitslohn des
Mannes und der Frau zusammen 13456 Kr., Krankenunterstützung 1316 Kr.,
sonstige Einnahmen 903 Kr., zusammen 15 675 Kr.
2.Familie: Familie eines Tischlergehilfen in Westböhmen. 8 Personen,
6 Kinder im Alter von 5—16 Jahren. Der älteste Sohn ist Handelspraktikant.
Die Rechnung wurde geführt vom 26. März 1923 bis 23. März 1924. Ein-
nahmen: Arbeitsverdienst des Mannes 14 703 Kr., Kostgeld von den Kindern
83% Kr., sonstige Einnahmen 1586 Kr., zusammen 21 125 Kr.
3. Familie: Familie eines Glasarbeiters in Nordböhmen, 5 Personen,
Töchter 12 und 2%; Jahre, Sohn 11 Jahre. Führte die Rechnung vom 16. April
1923 bis 13. April 1924. Einnahmen: 14 134 Kr. Arbeitsverdienst, 559 Kr.
Arbeitslosenunterstützung, davon 195 Kr. von der Gewerkschaft. Sonstige
Einnahmen 327 Kr., zusammen 15 020 Kr.
.,4Familie: Familie eines Platzmeisters in einer Papierfabrik in West-
böhmen, 10 Personen, Söhne 10, 7 und 3 Jahre, Töchter 1 und 5 Jahre;
außerdem Schwiegervater, Schwiegermutter und Schwägerin. Führte die
Rechnungen vom 16. April 1923 bis 13. April 1924. Einnahmen: 13671 Kr.,
davon 12115 Arbeitsverdienst des Mannes.
. 5 Familie: Familie eines Maschinenschlossers in einer Zuckerfabrik
ın Ostböhmen. 4 Personen, Söhne 12 und 6 Jahre. Führte die Rechnungen
vom 7. Mai 1923 bis 4. Mai 1924. Einnahmen: Arbeitsverdienst 13582 Kr..
Abhandlungen.
10
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Löggow, Der Alkohol in der Haushaltsrechnung. 11
Ausgaben :
für alkoholische Getränke, Tabak, Gasthauszechen und
Vergnügungen, verglichen mit den Ausgaben für kultu-
relle Bedürfnisse, prozentual berechnet auf die Ausgaben
für die gesamte Lebenshaltung.
a2, | EE | a |88 |, |žeg
s55] S9 | 3k | 50 | 88 | 85
EI ze E = E A
s la a dalade Te
1. Familie 0,28 —
2. Familie 1,36 | 0,76
3. Familie 4,02
4. Familie 1,42 | 0,86 — — 2,28 | 0,19
5. Familie 4,41 | 0,86 — 1,46 | 6,73 | 6,64
6. Familie 2,59 — — 1,20 | 3,79 | 4,02
7. Familie 4,32 | 3,50 | 0,45 | 4,05 112,32 | 8,90
8. Familie 6,57 | 2,68 — | 0,12 | 9,37 | 1,97
9. Familie 0,04 — | 0,29 | 1,91 | 2,24 | 3,45
10. Familie 4,48 | 0,09 | 0,66 | 1,02 | 6,25 | 2,52
11. Familie 2,97 | 3,47 — 1,65 | 8,09 | 2,32
42. Familie 0,29 — | 0,08 | 1,42 | 1,79 | 6,34
. Familie
14. Familie 0.67 | 1,09 Pen
15. Familie 0,28 | 0,17 z
16. Familie = Ze Ze
17. Familie 1,37 | 1,46 | 0,02
18. Familie 4,29 | 8,66 —
19. Familie 0,77 — 0,09
20. Familie 3,87 | 1,24 | 0,89 | 2,49 | 8,49 | 1,77
21. Familie 1,41. 1,44 | 0,31 ` 0,93 | 4,09 | 4,39
des Vaters 18051 Kr., Kostgeld der Kinder 21 932 Kr., Ben e 1844 Kr.,
sonstige Einnahmen 3300 Kr., zusammen 45127 Kr. (Ich nehme nicht an,
B die ganze Familie nikotinenthaltsam lebt, sondern daß die Söhne diese
Ausgaben von dem ihnen bleibenden Gelde bestreiten und daß aus diesem
Grunde die Ausgaben nicht in der Tabelle erscheinen.)
‚' Familie: Familie eines Zuckersieders in einer Zuckerfabrik in
Mittelböhmen. 2 Personen, der Mann seit Ende März arbeitslos. Die
Familie führte die Rechnung vom 7. Mai 1923 bis 4. Mai 1924. Einnahmen:
20437 Kr. Arbeitsverdienst, 520 Kr. Unterstützung (417 Kr. von der Pensions-
anstalt und 103 Kr. Arbeitslosenunterstützung), sonstige Einnahmen 656 Kr.,
Zusammen 21 613 Kr.
8. Familie: Familie eines Zuckerfabrikarbeiters in Nordböhmen, 2 Per-
sonen. Arbeitsverdienst des Mannes 10 209 Kr., 234 Kr. Krankenunterstützung,
sonstige Einnahmen 284, zusammen 10 727 Kr.
«Familie: Familie eines Bergarbeiters in Nordböhmen. 7 Personen,
„une 15 und 12 Jahre, Töchter 22, 19 und 17 Jahre. Die älteste Tochter.
ist Verkäuferin, die zweite Fabrikarbeiterin, die jüngste Tochter und der
0,93 | 1,79 | 6,63
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12 Abhandlungen.
älteste Sohn sind in der Lehre. Die Familie führte die Rechnung vom
21. Mai 1923 bis 18. Mai 1924. Einnahmen: Arbeitsverdienst des Mannes
0845 Kr., Arbeitsverdienst der Frau 2990 Kr., Kostgeld von den Kindern
8178 Kr., Unterstützung 1260 Kr. (davon 1068 Kr. Krankenunterstützung und
192 Kr. Streikunterstützung), sonstige Einnahmen 1843 Kr., zusammen
24116 Kr. (Es fällt die geringe Ausgabe für alkoholische Getränke und die
hohe Ausgabe für kulturelle Bedürfnisse auf.)
10. Familie: Familie eines Metallarbeiters in Westböhmen. 4 Per-
sonen, Sohn 6 Jahre, Tochter 10 Jahre. Die Familie führte die Rechnungen
vom 28. Mai 1923 bis 25. Mai 1924. Einnahmen: Arbeitsverdienst des
Mannes 15616 Kr., sonstige Einnahmen 932 Kr., davon 720 Kr. Aftermiete,
zusammen 16548 Kr.
11. Familie: Familie eines Hilfsarbeiters in einer Textilfabrik in West-
böhmen. 3 Personen, Sohn 9 Jahre. Die Frau ebenfalls Textilarbeiterin. Die
Familie führte die Rechnung 11. Juni 1923 bis 8. Juni 1924. Einnahmen:
Arbeitsverdienst des Mannes 6136 Kr., Arbeitsverdienst der Frau 47% Kr.
sonstige Einnahmen 657 Kr., zusammen 11591 Kr.
12. Familie: Familie eines Metallarbeiters in Prag. 5 Personen.
Söhne 16 und 14 Jahre, Tochter 17 Jahre. Der älteste Sohn ist Modelleur-
lehrling. Die Familie führte die Rechnung vom 11. Juni 1923 bis 8. Juni 1924.
Einnahmen: Arbeitsverdienst des Mannes 18951 Kr., Kostgeld von den
Kindern 216 Kr., sonstige Einnahmen 2304 Kr., zusammen 21 471 Kr.
13. Familie: Familie eines Maschinisten in einer Zuckerfabrik in Ost-
böhmen. 4 Personen, Sohn 17 ‚alle Tochter 2 Jahre. Der Sohn isi
Drechslerlehrling. Die Familie führte die Rechnung vom 25. Juni 1923 bis
22. Juni 1924. Einnahmen: Arbeitsverdienst des Mannes 11 711 Kr., Kostgeld
von den Kindern 3070 Kr., sonstige Einnahmen 216 Kr., zusammen 14 997 Kr.
B. 8 Beamtenfamilien. .
14. Familie: Familie eines Militärgagisten in i 2 Personen.
Führte die Rechnungen vom 1. März 1923 bis 27. Februar 1924: Einnahmen:
Bezüge des Gatten 17 159 Kr., Verdienst der Gattin 11 276 Kr., sonstige Ein-
nahmen 650 Kr., zusammen 28 995 Kr.
15. Familie: Familie eines Postoberoffiziers in Nordböhmen. 3 Per-
sonen, Tochter 12 Jahre. Führte die Rechnungen vom 26. März 1923 bis
23. März 1924. Bezüge des Gatten 21 955 Kr., sonstige Einnahmen 369 Kr..
zusammen 22324 Kr.
16. Familie: Familie eines Steuerbeamten VII. Rangklasse in Süd-
böhmen, 2 Personen. Führte die Rechnungen vom 6. April 1 bis 13. April
1924. Bezüge des Gatten 25 977 Kr., sonstige Einnahmen 1660 Kr., zusammen
27637 Kr. (Die Familie lebt anscheinend alkohol- und nikotinenthaltsam.)
17. Familie: Lehrer in Südböhmen, 1 Person. Führte die N
vom 23. April 1923 bis 20. April 1924. Einkommen 19 165 Kr., dazu 5605 Kr..
zusammen 24 770 Kr.
18. Familie: Lehrer in Prag XVI. 1 Person. Führte die Rechnungen
vom 23. April 1923 bis 20. April 1924. Einkommen 21 195, dazu 3200 Kr.
sonstige Einnahmen, zusammen 24395 Kr. (Da dieser Lehrer ‚außer dem
Hause“ aß, dürfte die wahre Summe für alkoholische Getränke noch
höher sein.)
19. Familie. Familie eines Lehrers in Ostböhmen. 4 Personen, Söhne
8 und 7 Jahre. Führte die Rechnungen vom 23. April 1923 bis 25. April 19.
Einkommen 29930 Kr., dazu 809 Kr. sonstige Einnahmen, zusammen 30 739 Kr.
20. Familie: Familie eines Zuckerfabriksbeamten in Mittelböhmen, -
4 Personen, Söhne 5 und 335 Jahre. Führte Rechnung vom 7. Mai 1923 bis
4. Mai 1924. Einkommen 32223 Kr., sonstige Einnahmen 3127 Kr:, zv-
sammen 35 350 Kr.
21 Familie: Familie eines Privatbeamten in Prag. 6 Personen,
Söhne 13, 11 und 8 Jahre, Tochter 15 Jahre. Tochter Praktikantin in einem
Geschäft. Führte die Rechnungen vom 18. Juni 1923 bis 15. Juni 1924.
Löggow, Der Alkohol in der Haushaltsrechnung. 13
Einkommen 28300 Kr., Kostgeld von der Tochter 6450 Kr., sonstige Ein-
nahmen 1429 Kr., zusammen = 179 Kr.
* *
Man wird mit Recht gegen diese Zahlen einwenden, daß es sich um
Einzelangaben handelt, die tür die groBe Masse der Bevölkerung wenig oder
nichts bedeuten. Eines jedoch zeigen sie klar und deutlich: daß die Genuß-
gilte in den Haushaltsrechnungen nicht etwa untergeordnete Bedeutung
aben, sondern daß sie einen ganz erheblichen Bruchteil (rund ein Zwanzigstel
der Gesamtausgaben) darstellen. Dabei muß in Betracht gezogen werden,
daß penie Trinkerfamilien unter den angeführten 21 Familien — abgesehen
vielleicht von einer Ausnahme — nicht zu finden sind. Interessant ist ferner
die Tatsache, daß bei den 13. Arbeiterfamilien die Ausgaben für Alkohol usw.
in der Regel die Ausgaben für kulturelle Bedürfnisse übersteigen, während
bei den 8 Beamtenfamilien das umgekehrte Verhältnis in Erscheinung tritt.
Ich weiß nicht, ob die These, die in Alkoholgegnerkreisen häufig aufgestellt
wird, daß mit der Höhe des Gesamteinkommens die Ansprüche in kultureller
Beziehung steigen und der Alkoholgenuß zurückgeht, zu Recht besteht. Die
folgende Zusammenstellung erfolgte nach der öhe der Finkommen. Sie
läßt diese Bit durchaus offen, wenn man nicht gewaltsam Ausnahmen
konstruieren w
Für Für
Familie | holi. | Tabak, | kulturell
i oli- abak, ulturelle
Prakommen Nr. sche Zechen Be-
Ge- und Ver- | dürfnisse
tränke | gnügungen
10 727 8 6,57 9,37 1,97
11591 11 2,97 8,09 2,32
13 671 1,42 2,28 0,19
13 981 5 4,41 6,73 6,64
14 997 13 0,45 1,51 0,06 _
15 020 3 4,02 5,21 1,21
15 675 l 0,28 5,10 2,71
16 548 | 10 4.48 6,25 2,52
21 125 2 1,36 3,81 1,51
21471 12 0,29 | ° 1,79 6,34
21 613 7 4,32 12,32 8,90
22 324 15 0,28 2,95 6,00
24 116 9 0,04 2,24 3,45
24 398 18 4,29 17,29 2,26
24 770 17 1,37 2,92 8,18
27 637 16 — 0,75 10,90
28 995 14 0,67 2,63 2,83
30 739 19 0,77 1,79 6,63
35 350 20 3,87 8,48 1,77
36 179 21 1,41 4,09 4,39
45 127 6 2,59 3,79 4,02
Ich gebe zu, daß die mißlichen Lebensverhältnisse in vielen Fällen zum
Alkoholismus treiben. Ich verschließe mich auch keineswegs der Tatsache,
durch die suggestive Reklame des Alkoholkapitals viele, besonders geistig
14 Abhandlungen.
weniger widerstandsfähige Menschen zum Alkoholgenuß getrieben werden
und daß — last not least — ein großer Teil des Alkoholmißbrauchs au
Konto des „Luxusalkohols“ zu setzen ist. Ich wende mich jedoch mit größter
Schärfe gegen die Auffassung verschiedener Gewerkschajtskreise, daß mit
einer Besserung der Lebensverhältnisse ein wesentlicher Rückgang des Alko-
holismus eintritt. Tradition, Reklame und mangelndes Verantwortungsbewußt-
sein sind noch immer Hauptstützen des Alkoholgenusses, und die werden nicht
beseitigt allein durch bessere Lebensbedingungen, sondern durch Aufklärung
und Erziehung einerseits und gesetzliche Maßnahmen andererseits.
Die Verfügung des Regierungspräsidenten zu
Lüneburg zur Bekämpfung des Alkoholismus.
Von Geh. Sanitätsrat Dr. O. Snell, Lüneburg.
Die Hoffnungen, die von weiten Kreisen der Bevölkerung auf eine zeit-
nomia Neugestaltung der deutschen Schankgesetzgebung im Laufe des ver-
ossenen Jahres gesetzt waren, haben sich bisher nicht erfüllt. Um so mehr
drängt es uns festzustellen, was sich denn mit den jetzigen Gesetzen bei gutem
Willen der Behörden in der Bekämpfung des Alkoholismus leisten läßt. Da
ist sehr lehrreich eine Verfügung des Regierungspräsidenten zu Lüneburg
vom 14. Januar 1925, die also bereits ein Jahr zurückliegt, aber weil sie
offenbar über den Lüneburger Regierungsbezirk hinaus verhältnismäßig
wenig Beachtung gefunden hat, einer eingehenderen Würdigung und Emp-
fehlung wert ist.
Der Regierungspräsident zu Lüneburg hatte im Sommer 1924 die ihm
unterstellten Landräte und Magistrate zu Berichten über die beobachteten
Schäden des Alkoholismus und über die zu ihrer Bekämpfung angewandten
Mittel aufgefordert. Die darauf eingelaufenen Berichte haben den ee
räsidenten zu der Erkenntnis gebracht, daß den Bestrebungen zur Be-
ämpfung des Alkoholismus leider noch nicht überall das notwendige Inter-
esse entgegengebracht wird. Neben guten und erschöpfenden Berichten sind
auch andere eingelaufen, die der Bedeutung des Gegenstandes nicht Rechnung
tragen. Die Oberbürgermeister und Landräte werden daher ersucht, der
Bekämpfung des Alkoholismus ihre persönliche Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Aus den Berichten geht hervor, daß der übertriebene Alkoholgenuß stark
zugenommen hat, am meisten bei besonderen Veranlassungen, wie Schützen-
festen, Sportfesten, Turnfesten und Tanzlustbarkeiten. Die wirksame Arbeit
zur Bekämpfung der Alkoholgefahr hat sich besonders in 4 Richtungen zu
bewegen: Aufklärung der Bevölkerung, insbesondere bei der Erziehung der
ugend, Förderung alkoholfreier Veranstaltungen, strenge Handhabung der
tehenden Vorschriften gegen den Alkoholmißbrauch, und schließlich Für-
sorge und Rettung der durch Alkoholmißbrauch gefährdeten Personen.
Zur sachgemäßen Aufklärung der Bevölkerung in allen ihren Schichten
müssen planmäßig alle Organisationen und Einzelpersonen, von denen ein
gedeihlicher Einfluß zu erwarten ist, zu tatkräftiger Mitarbeit ne a
werden. Besonders muß bereits die Erziehung der jugend in allen Schulen
in den Dienst der allgemeinen Volksaufklärung gestellt werden. Die Lehrer.
besonders auch an den Fortbildungsschulen und Fachschulen aller Art, müsser
bei jeder Gelegenheit entsprechende Belehrungen geben. Auch die Aufklärung
und Belehrung der Eltern ist bei Elternabenden anzustreben und die Belebung
dieser Veranstaltungen wird daher empfohlen. Die Schulärzte dürften hier
die geeigneten Vortragenden sein. Gute Dienste kann die Wanderausstellung
der Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus leisten. Auch Fabrikvorträge
sind zweckmäßig. Solche Veranstaltungen treffen zwar noch auf Schwierig-
keiten bei den Arbeitgebern, wenn sie während der Arbeitszeit stattfinden.
Snell, Lüneburg zur Bekämpfung des Alkoholismus. 15
während die Arbeitnehmer ihre Zeit nach der Arbeitszeit nicht opfern wollen.
Es muß ein Ausgleich angestrebt werden.
Die Förderung von alkoholfreien Veranstaltungen, besonders für die
Jugend, und die Einrichtung von Jugendheimen dienen der praktischen Vor-
beugung. Uebernachtungsstätten für auswärtige Wanderer sınd geeignet, die
Jugend vom Besuche der Gastwirtschaften abzuhalten. Förderung verdienen
sportliche Veranstaltungen und Wettkämpfe, deren wirkliches Gelingen nur
ohne Alkoholgenuß denkbar ist. Erfreulicherweise regen sich hier in der Jugend
verheißungsvolle Bestrebungen zur Ueberwindung der alten Trinkunsitten. Aus
den staatlichen Mitteln für Jugendpflege dürten nur solche Vereine und
Veranstaltungen unterstützt werden, bei denen wirksame Garantien gegen
den Alkoholmißbrauch in jedem einzelnen Falle gegeben sind. Veranstal-
tungen, bei denen überhaupt kein Alkohol genossen wird, sind vor anderen
zu bevorzugen. Bei jeder einzelnen Bewilligung ist aktenkundig zu machen,
wie dieser Vorschrift genügt worden ist. Die Jugendpfleger sind darauf
hinzuweisen, daß von ihrer aufrichtigen Mitarbeit ein wesentlicher Teil des
Erfolges abhängig sein wird.
Die strenge Handhabung der bestehenden Vorschriften ge en den Alkohol-
mißbrauch kann viel bessern. Die Gelegenheiten zum Alkoholgenuß sind
einzuschränken. Zu jedem Antrag auf Gewährung von Konzessionen für
Schankwirtschaften oder den Kleinhandel mit Spirituosen sind der zuständige
Kreis-Medizinalrat sowie das zuständige Wohlfahrtsamt und außerdem in den
Orten und Bezirken, für welche Alkoholgegnerische Vereine und Organi-
sationen bestehen, diese Organisationen gutachtlich über die Bedürfnistrage
zu hören. Bestehen am Orte oder im Kreise Organisationen von Gastwirten,
so ist nichts dagegen zu erinnern, wenn sie ebenfalls gehört werden. Wollen
die alkoholgegnerischen Vereine die Bedürfnisfrage durch freiwillige Ab-
stimmung der Bevölkerung klären, so ist diesem Wunsche stattzugeben und
die Abstimmung selbst ın jeder Weise zu unterstützen, namentlich auch
hinsichtlich der einwandsfreien Feststellung ihres Ergebnisses. Für die
Konzessionserteilung muß der Grundsatz gelten, daß augenblicklich mehr
als genug Schank- und Verkaufsstellen für Alkohol vorhanden sind. Die
Genehmigung neuer Wirtschaften und Verkaufsstellen ist daher mangels
Bedürfnisses künftig regelmäßig abzulehnen. Konzessionen sind rücksichtslos
zu entziehen, wenn den Inhabern Zuwiderhandlungen gegen die gesetzlichen
Bestimmungen nachzuweisen sind. Die Erlaubniserteilung zu den Festlich-
keiten der Vereine ist stark einzuschränken. Es sollten im allgemeinen nur
noch die althergebrachten Feste genehmigt werden. Dabei ist auf gleich-
mäßige Behandlung aller Bevölkerungskreise besonders Bedacht zu nehmen.
Die Bestimmungen über die Polizeistunde müssen streng eingehalten werden.
i Veranstaltungen, die erfahrungsgemäß Veranlassung zu übermäßigem
Alkoholkonsum geben, z. B. bei Märkten, soll Gelegenheit zum Genusse
alkoholfreier Getränke geboten werden. Ferner verdienen Einrichtungen zur
Verabreichung alkoholfreier Getränke in größeren Industrieunternehmungen
jede Förderung. Die Schankerlaubnis für alkoholfreie Schankstätten ist zu
erlassen oder doch möglichst niedrig zu bemessen.
Zur Fürsorge und Rettung der durch Alkoholmißbrauch gefährdeten
ersonen müssen Trinkerfürsorgestellen in den größeren Städten mit Unter-
stützung der Magistrate eingerichtet werden. Dabei muß die Mitwirkung der
ılkoholgegnerischen Vereine gesichert sein. Die Behörden dürfen sich nicht
damit begnügen, Trunkenbolde auf die Säuferliste zu setzen, sondern müssen
chon vorher, sobald ihnen die Neigung bestimmter Personen zu übermäßigem
moholgenuß bekannt wird, ihre Namen den alkoholgegnerischen Vereinen
eilen.
Die Leitung aller Maßnahmen wird zweckmäßig den Wohlfahrtsämtern
der Städte und Landkreise übertragen werden. Die Oberbürgermeister und
äte sollen jedoch persönlich mit allen in Betracht kommenden Behörden,
ganısationen und Einzelpersönlichkeiten, wie Geistlichen, Schulräten und
Aerzten, eingehend beraten, welche Maßnahmen nach den besonderen örtlichen
16 Abhandlungen.
Verhältnissen notwendig und zweckmäßig erscheinen. Ueber die Durc-
führung der angeregten Maßnahmen und ihre Ergebnisse ist dem Regierungs-
präsidenten bis zum 1. Oktober 1925 eingehend zu berichten. Der Bericht |
ist in genauer Anlehnung an die einzelnen Abschnitte der Verfügung zu
erstatten.
Diese Verfügung hat bisher den Erfolg gehabt, daß wegen jeder
beantragten Konzession von Schankstätten und Kleinhandel mit geisti
Getränken in Lüneburg bei den alkoholgegnerischen Vereinen (Deutscher
‘ Verein gegen den Alkoholismus, Blaues Kreuz, Guttempler) wegen der
Bedürfnisfrage angefragt ist. Diese Frage ist natürlich stets verneint. Dem
Vernehmen nach ist denn auch keine Konzession verliehen worden. Ferner |
wird berichtet, daß die Furcht vor Konzessionsentziehung manche Wirte
veranlaßt, die Vorschriften über Alkoholausschank, z. B. das Verbot der
Verabreichung von Branntwein an Kinder, jetzt im Gegensatz zu frühere
Gewohnheiten streng durchzuführen. Schließlich ist die Trinkerfürsorge, die |
vor dem Auge von dem Bezirksvereine gegen den Mißbrauch geistiger |
Getränke in Fühlung mit dem Blauen Kreuze und den Guttemplern sehr
erfolgreich gewirkt hatte, aber im Kriege überflüssig geworden war, neu
eingerichtet, und zwar im Anschluß an das städtische Wohlfahrtsamt.
So darf wohl ein erheblicher Erfolg von der Verfügung des Regierungs-
präsidenten zu Lüneburg erwartet werden, der hoffentlich auch anderwärt
zu Taten anregen wird.
Bedeutsame behördliche Maßnahmen
mit Bezug auf den Alkohol. (XXXVII)
Zusammengestellt von Dr. J. Flaig.')
Verordnung der Reichsregierung über Anmeldung und Vertriebsbuchführung |
der Brennereien.
„Nach der am 1. August 1925 in Kraft tretenden Verordnung vom
29. Juni 1925 über Aenderung der Ausführungsbestimmungen zum Branst-
weinmonopolgesetz müssen die am 1. August 1925 vorhandenen Betriebe,
Unternehmen oder Personen, die Branntwein herstellen, aufkaufen, lagern.
vertreiben, bearbeiten oder weiterverarbeiten, spätestens am 8. August 195
der zuständigen Zollstelle eine besondere vorgeschriebene Anmeldung
doppelter Ausfertigung übergeben und die vorhandenen Bestände an Branıt-
wein nach dem Stande vom 8. August 1925 in ein Branntweinvertriebsbuc
als Zugang eintragen“. (Nach „Das Branntweinmonopol“ Nr. 62 vom
4. Aug. 19
(Man wollte damit wohl die Schwarzbrennerei, den Schleid
handel mit schwarzgebranntem Spiritus und die Spritschiebungen, d. h. di
Verwendung von billigem, für technische Zwecke erworbenem Spiritus ZU
Trinkbranntwein nach Möglichkeit verhindern.)
Einstellung der Trinkbranntweinerzeugung durch die Branntwein-
monopolverwaltung. Die Reichsmonopolverwaltung für Branntwein hat die
Herstellung und den Vertrieb von Trinkbranntwein, die mehrere Jahre hn-
durch einen Teil ihrer Geschäftstätigkeit gebildet hatte, neuerdings ein
gestellt. (Nach Zeitungsnachrichten von Anfang September 1925.)
Freigabe der Einfuhr von Branntwein und Wein.
Durch yrordning. des Reichsministers für Ernährung und Landwirt-
schaft vom Oktober 1925 (Deutscher Reichsanzeiger Nr. 244) wird mit Gültig-
») Im übrigen s. jeweils auch unter „Chronik“ !
Flaig, Bedeutsame behördliche Maßnahmen mit Bezug auf den Alkohol. (XXXVII) 17
keit vom 20. Oktober ab als Ausnahme von dem Einfuhrverbot weiterhin
ohne Bewilligung gestattet (sofern die nach dem 16. Oktober geltenden Zölle
entrichtet werden) die Einfuhr von Branntwein aller Art (also natürlich auch
Likören, Kognak und dergl.), Wein und frischem Most von Trauben.
Aenderungen bezüglich der gemeindlichen Getränkesteuern.
Wiz der Amtliche preußische Pressedienst mitteilte, sind auf Grund des
Reichsgesetzes über Aenderungen des Finanzausgleichs zwischen Reich,
Ländern und Gemeinden vom 10. August 1925 folgende Veränderungen im
Besteuerungsrecht der Gemeinden und Kreise eingetreten: Diese dürfen den
örtlichen Verbrauch von Mineralwässern und künstlich be-
reiteten Getränken vom 1. Oktober 1925 ab nicht mehr
besteuern. Nach dem neuen $ 14a des Finanzausgleichsgesetzes dürfen
Gemeinden und Kreise, die am 1. September 1925 keine kommunalen Getränke-
steuern erhoben, solche nicht neu einführen. Die bis zum 1. September
v. J. eingeführten Steuer® der Gemeinden und Kreise auf den örtlichen Ver-
brauch von Getränken dürfen nur bis zum 31. März 1927 erhoben
und nicht erhöht werden. Diese Vorschriften beziehen sich auch auf
die kommunale Besteuerung des Bieres.
k
Die neue Fassung der Ausführungsbestimmungen zum Weingesetz vom
7. April 1909 ist unterm 1. Dezember v. J. im Reichsgesetzblatt 1925 Teil I
Nr. 52 (S. 413—417) veröffentlicht.
Erlaß des preußischen Ministers für Volkswohlfahrt vom 2. Oktober 1925
an die H. Regierungspräsidenten und den H. Polizeipräsidenten in Berlin
betr. Abwehrmaßnahmen gegen den wieder stärker hervortretenden über-
$ mäßigen Alkoholgenuß.
„Der übermäßige Alkoholgenuß, der während des Krieges, sowie auch
noch in den ersten Jahren nach dem Kriege nachgelassen hatte, tritt jetzt
wieder stärker in Erscheinung, und zwar onders als Ursache von Un-
lücksfällen und Straftaten. s ist deshalb notwendig, daß von
en früheren Abwehrmaßnahmen mit allem Nachdruck
wieder Gebrauch gemacht wird. Vor allem darf keine Gelegen-
heit unbenutzt gelassen werden, um die Bevölkerung in taktvoller Weise über
die schweren gesundheitlichen und sittlichen Gelahren, die der Alkohol-
mißbrauch zur Folge hat, aufzuklären, wobei Uebertreibungen sorg-
fältig zu vermeiden sind. Hierzu sind, abgesehen von den Aerzten, Heb-
ammen, Lehrern usw. in erster Linie die beamteten Aerzte
(Regierungs- und Medizinalräte, Kreisärzte, Medizinalassessoren) berufen
ber: $ 81a der Dienstanweisung für die Kreisärzte). Gelegenheit zur -
ehrung finden sie bei öffentlichen Impfterminen, besonders den Nachschau-
terminen, bei Schulbesichtigungen, Kreislehrerkonferenzen, Meldungen und
Nachprüfungen von Hebammen, bei der Säuglings-, Tuberkulose- und Ge-
schlechtskranken-Beratung usw. (vgl. die Erlasse vom 3. März 1909 —
M. 5447 — und 29. März 1910 — M 567 U. III A. —). Aber auch auf die
Schaffung von Wohlfahrtseinrichtungen, die zur Ver-
hütung oder Beseitigung des Alkoholmißbrauchs geeignet
erscheinen, wie z. B. die Einrichtung von Trinkwasserentnahmestellen an
öffentlichen Orten (Bahnhöfen, Märkten, Plätzen usw.) und in industriellen
Werken, sollen die Medizinalbeamten anregend einwirken.“
Indem er. noch auf frühere einschlägige Erlasse (vom 28. April 1923,
3. September 1911 und 3. November 1924) Bezug nahm, ersuchte der Minister,
„in diesem Sinne die Medizinalbeamten mit Anweisung zu versehen. Wegen
der Verteilung von Merkblättern über die Schädlichkeit des Alkoholgenusses
mache ich auf den Erlaß vom 1. April 1920 — I M IV 757 — aufmerksam.“
Die Alkoholirage, 1926, 2
18 Abhandlungen,
Polizeiverordnung des Oberpräsidenten von Schleswig-Holstein
vom 3. August 1925 betr. das Verabiolgen geistiger Getränke an Trunkenbolde
(in Kraft getreten 10. Oktober).
». . . Ich verordne mit u mung des Provinzialrats für den Umfang
der Provinz Schleswig-Holstein, was folgt:
8 1. Den Gast- und Schankwirten sowie den Branntweinkleinhändlern
ist verboten, geistige Getränke zum sofortigen Genuß oder zum Mitnehmen
an solche Personen, die von der Polizeibehörde als Trun-
kenbolde bezeichnet sind*), sowie an Personen, welche als Be-
auftragte von Trunkenbolden zum Einkauf geistiger Getränk:
für diese erkannt werden müssen, zu verabfolgen.
Den von der Polizeibehörde als Trunkenbolde bezeichneten Persone:
darf der Aufenthalt in den zum Ausschank von geistigen Getränke:
bestimmten Lokalen zum Genuß oder zur Mitnahme geistiger
Getränke nicht gestattet werden.
8 2. Durch allgemeine polizeiliche Vorschriften oder durch besondere |
für einzelne Fälle getroffene polizeiliche Anordnungen kann das Ver-
abfolgen geistiger Getränke auch an andere als die in dem 8 1 bezeich-
neten Personen verboten werden.“ (Folgt der in Heft 2 1923 (S.78 fi.)
wiedergegebene Art. 1 § 5 des Notgesetzes vom Febr. 1923 mit dem Verbot der
Verabfolgung geistiger Getränke an Jugendliche und an Betrunkene, dann:)
„86. Zuwiderhandlungen gegen diese Verordnung werden mit Geld-
strafe bis zu 150 RM bestraft, an deren Stelle im Unvermögensfalle eni-
sprechende Haftstrafe tritt . . .“
Der Oberpräsident von Westfalen gegen die zunehmende Genußsucht
und den gesteigerten Alkoholverbrauch.
Der Oberpräsident hat vor einiger Zeit folgenden Aufruf erlassen:
„Infolge der ernsten wirtschaftlichen Lage leiden weite Teile der werz-
tätigen Bevölkerung bittere Not; andererseits nehmen Vergnügungssucht und
die Gelegenheit zu deren Befriedigung — öffentliche Festlichkeiten und
Veranstaltungen — stetig zu. Ganz abgesehen davon, daß durch die zahl-
reiche Gelegenheit zum Feiern gerade bei den Jugendlichen die Genußsuch!
gefördert, der Alkoholgenuß et und der Sparsinn unter-
raben wird, bedeutet dieser offensichtliche Widerspruch zwischen Not und
lend auf der einen und Vergnügungssucht auf der andern Seite eine ernstliche
Gefahr für die öffentliche Ruhe und Ordnung. Es muß Unzufriedenheit
erregen und Klassengegensätze verschärfen, wenn Familienväter, die kaum
die notwendigen Mittel haben, um ihre Kinder kärglich zu ernähren, Tag
tür Tag sehen müssen, wie andere mit Leichtigkeit sich große Ausgaben fir
ihre Vergnügungen leisten können. Dazu kommt, daß durch derartige laute.
- vielfach sogar aufdringliche Feiern im Auslande der Eindruck erweckt wird.
als ob wir ein wohlhabendes Volk wären, ist doch z. B. nach dem Dawes-
gutachten der Alkoholkonsum ein Maßstab für die von uns an die Entente-
staaten zu zahlenden Summen. Nicht durch rauschende und bis in die tiefe
Nacht währende Festlichkeiten, sondern durch Selbstzucht, Spar-
samkeit und Genügsamkeit können wir den Wiederaufstieg
unseres Vaterlandes fördern.“ (Nach der neuen Zeitschrift „Die
Volksernährung“, November 1925.)
Ein Polizeipräsident in Westdeutschland
hat im Herbst vorigen Jahres in einer Bekanntmachung einen Feldzug
egen die Vergnügungssucht angekündig. Im Einverständnis mit der
egierung werde er in Zukunft gegen die Flut von Festen und Feiern, ins-
besondere das Ueberhandnehmen von Rummelplätzen mit Karussellen, Schiffs-
schaukeln, Glücksbuden und allerhand anderem Kitsch, womit den Arbeitern
*) Also: Trinkerliste. Der Berichterstatter,
Flaig, Bedeutsame behördliche Maßnahmen mit Bezug auf den Alkohol. (XXXVII) 19
die Sparpfennige aus der Tasche gelockt werden, mit allem Nachdruck ein-
schreiten. (Nach „Evang. Pressedienst“, Nr. 41 vom 7. Okt. 1925.)
Der Landrat des Kreises Neuhaus a. d. Oste gegen Polizeistunden-
verlängerung am Sonnabend und gegen neue Schankstätten.
Aus einem Schreiben vom 17. November:
»... Aus den mir ... vorgetragenen Gründen habe ich die Herren
Gemeindevorsteher und Gastwirte des Kreises benachrichtigt, daß fortan
Polizeistundenverlängerungen für geschlossene Ge-
sellschaftenund VeranstaltungenanSonnabendennicht
mehr genehmigt werden. Es verbleibt an diesen Tagen bei der gewöhn-
lichen Polizeistunde 12 Uhr nachts. Oeffentliche Tanzlustbar-
keiten sind schon von jeher an den Sonnabenden überhaupt
nicht zugelassen worden. |
FürneueSchankstättenundneueKleinhandelsstellen
mit geistigen Getränken erteilt der Kreisausschuß grundsätz-
lich keine Genehmigun E Eine Einschränkung der vorhandenen
Schankstätten wegen mangelnden Bedürfnisses läßt sich wegen der erheblichen
Vermögensschädigung im Falle der Veräußerung nur schwer verantworten.
Die Landjäger kennen sämtliche Schankstätten, so daß sie gegen verbots-
widrigen Ausschauk jederzeit einschreiten können.“
Polizeistundenregelung in München und Nürnberg.
In München hat (laut Münchener Zeitung vam 23. Nov.) „die Polizei-
direktion dem Antrag der Interessenkreise auf Verlängerung der derzeit
geltenden Polizeistunde (12 Uhr) im allgemeinen nicht entsprochen, dagegen
wird sie Gesuche von Betriebsinhabern um Verlängerung der Polizeistunde
bis 1 Uhr nachts in einzelnen geeigneten Fällen für längere Zeit genehmigen.“
(Hoffentlich wird von diesen Ausnahmemöglichkeiten kein ausgedehnter
Gebrauch gemacht. D. Ber.)
In Nürnberg ist seit 1. November die Polizeistunde auf 12 Uhr,
an Samstagen 1 Uhr festgesetzt, vorher war sie allgemein 1 Uhr. l
Polizeiverordnung des Regierungspräsidenten in Schleswig vom 8. Sept. 1925
betr. den Schutz von Jugendlichen (gültig ab 10. Oktober).
»... Ich verordne mit Zustimmung des Bezirksausschusses für den
Regierungsbezirk Schleswig, was folgt:
$1. Jugendliche Personen unter 16 Jahren dürfen in der
Zet von 7 Uhr abends bis 6 Uhr morgens keine Gast- und
Schankwirtschaften, Kaffeehäuser u. dgl. besuchen. Gast-
und Schankwirte, deren Vertreter und Angestellte dürfen in dieser Zeit den
Wirtshausbesuch von Jugendlichen nicht dulden. Der Besuch von alkohol-
freien en und Jugendherbergen oder anderen für die Jugend
geschaffenen Einrichtungen, in denen keine alkoholhaltigen Getränke aus-
Ve werden, sowie der Besuch von Gast- und Schankwirtschaften in
egleitung des zur Erziehung Berechtigten oder seines Ver-
treters, sowie die Einkehr auf Reisen und Wanderungen werden
von dem Verbot nicht betroffen.
Gastwirte, ihre Vertreter und Angestellten dürfen die Verabfolgung von
Speisen an Jugendliche nicht unter Berufung darauf verweigern, daß von
den Jugendlichen keine alkoholhaltigen Getränke genossen werden.“
(Es ED dann die wesentlichsten Jugendschutzbestimmungen des oben
erwähnten Notgesetzes vom Februar 1923, nähere Vorschriften betr. Tabak-
verbot, Untersagung der Beteiligung von Fi endlichen unter 16 Jahren
an öffentlichen Tanzlustbarkeiten u. dgl. und des Aufenthalts in dafür be-
summten Räumen.) $
„$ 6. Eltern und andere Erziehungsberechtigte oder ihre Vertreter sind
verpflichtet, die Jugendlichen von Uebertretungen der vorgenannten Be-
2*
20 Abhandlungen.
stimmungen abzuhalten, und machen sich bei Vernachlässigung dieser
Pflicht strafbar.
8 7. Uebertretungen dieser Polizeiverordnung werden mit Geldstrafe bis
zu 150 RM geahndet, an deren Stelle, wenn sie nicht beigetrieben werden
kann, entsprechende Haft tritt . . .“
Empfehlung der Pommerschen Landeshauptstelle gegen den Alkoholismus
durch den Regierungspräsidenten von Stettin.
Seit 1. April v. J haben sich in der Provinz Pommern das Landes
wohlfahrtsamt, der Provinzialverband des Deutschen Vereins gegen den
Alkoholismus und der Zentralverband zur Bekämpfung des Alkoholismus
unter dem Namen „Pommersche Landeshauptstelle gegen den Alkoholismus“
zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen, die folgende drei Gebiete
umfaßt, bzw. in folgende drei Abteilungen gegliedert ist: 1. Allgemeines.
2. Erziehung und Unterricht, 3. Trinkertfürsorge. Der Regierungspräsident
in Stettin machte in einem Rundschreiben vom 16. Oktober den Landräten,
Kreiswohlfahrtsämtern und Magistraten des Bezirks und den städtischen
Wohlfahrtsämtern in Stettin und Stargard hiervon unter Aufführung der
einzelnen Aufgaben und des Inhalts der genannten drei Hauptarbeitsgebiete
Mitteilung mit folgender Empfehlung:
„Wenn die Pommersche Landeshauptstelle gegen den Alkoholismus
unter diesen Gesichtspunkten arbeiten wird, so kann erwartet werden, daß
mehr Vorbeugearbeit geleistet wird, als bisher, da alle Maßnahmen nach
einheitlichen Grundsätzen. erfolgen werden. Dazu bedarf sie aber auch der
- Unterstützung der staatlichen und kommunalen Behörden. Ich ersuche daher.
der Landeshauptstelle weitestgehende Unterstützung zuteil werden zu lassen,
sich ihrer in allen vorkommenden Fällen zu bedienen, ihre Mitwirkung in
Angelegenheiten der Trinkerfürsorge und Trinkerrettung in Anspruch zu
nehmen und ihre Tätigkeit in allen Kreisen und Städten in jeder geeigneten
Weise zu fördern.“
Für Alkoholfreiheit kirchlicher Veranstaltungen.
Der Deutsche evangelische Kirchenausschuß hat eine an ihn ge-
richtete Eingabe des Deutschen Bundes enthaltsamer
Pfarrer den ihm angeschlossenen Kirchenregierungen zur Kennt-
nis gebracht, worin dieser dem Kirchenausschuß seinen Dank für
dessen wiederholte, nachdrückliche Kundgebung zugunsten des Gemeinde-
bestimmungsrechts ausdrückt und in Verbindung damit es als wünschens-
wertes Ziel ausspricht, „daß von allen geselligen Veranstaltungen anläßlich
kirchlicher Tagungen und Feste der Genuß alkoholischer Getränke grund-
sätzlich ausgeschlossen wäre, wie es beim Kirchentag in Bethel bereits
geschehen ist.“ Der Kirchenausschuß möchte (so sagt die Eingabe weiter)
„den ihm angeschlossenen Kirchenregierungen die Anregung geben, daß sıe
immer wieder auf die nachgeordneten Stellen in diesem Sinne einwirken
möchten, damit sich keiner für die Unentbehrlichkeit alkoholischer Getränke
bei gemeinsamen Mahlzeiten auf das Beispiel der Kirche berufen kann.“
Es handle sich hierbei um eine geringfügige Aenderung, die aber „paradig-
matische“ (beispielgebende) Bedeutung habe.
Das Konsistorium der Rheinprovinz in Coblenz (ob auch andere Kirchen-
regierungen, ist uns nicht bekannt) hat unter dem 22. August vorigen Jahres
die Eingabe den Geistlichen und Gemeindevertretungen mitgeteilt.
Ausschuß für die Alkoholirage beim rheinischen Provinzialkirchenrat.
Einem Beschluß der letzten rheinischen Provinzialsynode zufolge: Einen
Dauerausschuß zur Bekämpfung des Alkoholismus dem (neugebildeten) Pro-
vinzialkirchenrat anzugliedern und ihm die Organisierung des Kampfes der
Kirche gegen den Alkoholismus zur Aufgabe zu machen — hat der Pro-
vinzialkırchenrat anfangs Dezember einen solchen Ausschuß eingesetzt.
Flaig, Bedeutsame behördliche Maßnahmen mit Bezug auf den Alkohol. (XXXVI) 21
Das Evangelische Kousistorium der Mark Brandenburg
brachte in seinen „Amtlichen Mitteilungen“ Nr. 36 vom 26. November zwei
Beschlüsse der 18. ordentlichen bran un Provinzialsynode vom
18. und 21. September zur Kenntnis mit der Erwartung bzw. dem Ersuchen
an die Geistlichen und Gemeindekirchenräte, daß sie dementsprechend wirken:
1. u baldigster Vorlage eines Gesetzentwurfs durch die Reichs-
regierung, „um die schweren Auswüchse zu bekämpfen, die durch Alkohol-
Produktion und -Verbrauch im deutschen Volke in erschütternder Weise sich
bemerkbar machen“, einschließend ein brauchbares Gemeindebestimmungs
recht; Bitte arı die maßgebenden staatlichen Stellen, zum Schutz des Sonntags
„die Polizeistunde für die Sonnabend-Abende je nach Lage der Verhältnisse,
aber spätestens auf 12 Uhr festzusetzen und unbedingt durchführen zu lassen“;
an die Lehrerschaft und die pne en u. a. immer wieder auf Be-
wahrung der Jugend vor den Alkoholgefahren hinzuwirken; an die kirch-
lichen Körperschaften und die erwachsenen Gemeindeglieder, u. a. „durch
ihr persönliches Vorbild die einem Christen geziemende Stellung zum
Alkohol. . . zu vertreten“.
2. „Provinzialsynode empfiehlt zur praktischen Bekämpfung der Alkohol-
not die Einrichtung alkoholfreier Wirtschaftsbetriebee Da Mittel dafür von
Ger Synode nicht zur Verügung gestellt werden können, gibt sie den Ge-
meinden und freien kirchlichen Verbänden und Vereinen (z. B. Frauenhilfen,
Blaukreuzvereinen) die Anregung, solche Einrichtungen zu schaffen.“
Die Förschungs- und Erziehungsabteilung
des Bundesrates der christlichen Kirchen Amerikas
über die Verbotslage ').
Von Oberstudienrat i. R. Dr. MartinHartmann-Leipzig.
Die Ausführungen, die Dr. J. Scharffenberg-Oslo Anfang 1925 in Stock-
holm über die Schwierigkeiten bei der Durchführung eines Alkoholverbotes
machte, in einem Vortrage, der zwar zunächst auf den norwegischen Er-
lahrungen beruhte, aber doch wegen seiner en Erörterungen eine
allgemeinere Tragweite hatte, haben gewiß überall einen starken Eindruck
hinterlassen?). Daß sie nur zu sehr begründet waren, geht einwandfrei aus
dem Berichte hervor, den die Forschungs- und Erziehungsabteilung des
Bundesrats der christlichen Kirchen Amerikas unlängst über die Verbotslage
erausgegeben hat und als dessen Hauptverfasser in Amerika der Sekretär
der genannten Abteilung bezeichnet wird, Dr. F. Ernest Johnson. Viele
Leser werden erstaunt sein, daß von kirchlicher Seite ein solcher Bericht hat
veröffentlicht werden können, da doch allgemein bekannt ist, daß gerade die
Kirchen Amerikas am Zustandekommen des Alkoholverbots einen hervor-
ragenden Anteil gehabt haben und daß sie dieses bis in neueste Zeit mit
großem Nachdruck vertreten haben. Jedenfalls macht der Bericht nicht nur
seinem Verfasser, sondern auch den amerikanischen Kirchen die höchste Ehre,
denn er ist von einer penez bewunderungswürdigen Aufrichtigkeit und
Sachlichkeit. Er unterscheidet scharf zwischen Tatsachen und Stimmungen,
er verheimlicht keine Unvollkommenheit in der Durchführung des Gesetzes,
selbst auf die Gefahr hin, den Verbotsfeinden Wasser auf die Mühle zu
leiten, er übt an der bisherigen Art der Durchführung des Gesetzes scharfe
ritik, er vermeidet es sorgfältig, Einzelerscheinungen vorschnell zu ver-
rm
F ') The Prohibition Situation. Published by the Department of Research and Education
peieral Council of the Churches in Christ in America. 105 East 22nd Street New York City.
I g Cents, Research Bulletin No. 5. Copyright 1925, by F. Ernest Johnson, (Publ, Sept.
. in —80),
”) Vgl. die isch Wiedergabe dieses Vortrags in der „Alkoholfrage“, 1925 (Heft 4) S. 216 ff.
22 Abhandlungen.
allgemeinern, sei es nach der günstigen oder nach der ungünstigen Seite.
Lebhaft bedauert der Bericht, daß die Wirkungen des Verbots bisher uoch
nicht zum Gegenstande einer streng wissenschaftlichen Untersuchung gemacht
worden seien, daß namentlich die bisherigen statistischen Untersuchungen
darüber der strengen Methode ermangelten und daher auch keine über-
zeugenden Schlußtolgerungen ermöglichten, mögen nun solche Unter-
suchungen von privater oder selbst von amtlicher Seite unternommen worden
sein. it Recht weist der Bericht darauf hin, daß in dem ungeheuren Ge-
biete der Union, das annähernd ja nur mit dem Gesamtgebiete von Europa
verglichen werden kann, große Verschiedenheiten in der. Durchführung des
Verbots vorhanden sind, daß z. B. die Lage in den Öststaaten mit ihrer stark
von trunkliebenden europäischen Einwanderern durchsetzten Bevölkerung
ungünstig ist, viel günstiger dagegen in den Binnenstaaten, daß im Osten
wieder die Schwierigkeiten besonders groß in New York sind, das kein
eigenes staatliches Durchführungsgesetz hat, während die Lage eines Binnen-
staates, wie z. B. Indiana wesentlich günstig ist. Von den verwaltungsrech-
lichen Hemmungen, die durch die eigenartige politische Organisation der
Union gegeben sind, hat man in Europa bisher kaum eine ausreichende Vor-
stellung gehabt, und erst durch diesen Bericht wird uns vieles klar, was bis-
her schwer verständlich war. Hierbei handelt es sich nicht nur um den Dualis-
mus zwischen Bund und Einzelstaat, auf deren harmonisches Zusammen-
wirken sehr viel ankommt, sondern auch darum, daß an der Durchführung
des Verbotsgesetzes zwei ganz verschiedene Ressorts beteiligt sind, da‘
Finanzministerium und das Justizministerium, von denen das erstere den
Tatbestand der Gesetzesübertretungen festzustellen hat, während die Ab
urteilung dem letzteren zugewiesen ist. Der Bericht läßt keinen Zweils
darüber, daß der Finanzminister (Secretary of the Treasury) bisher kein
tieferes Interesse für das Alkoholverbot bekundet und sich hier in keiner
Weise als geistiger Führer betätigt hat. Darum hat man ihm wohl auch
neuerdings in der Person des Generals Lincoln C. Andrews einen „Assistan:
Secretary of the Treasury“ zur Seite gestellt, der die unmittelbare Veran-
wortung für das Zollwesen, den Küstenschutz und die Verbotsabteilung de
Finanzministeriums zu tragen hat. Erst in neuerer Zeit ist durch organ-
satorische Reformen ein strafferes Zusammenarbeiten zwischen Finanz- uni
Justizministerium hergestellt worden. Erst neuerdings hat auch der Kongreii
durch Bewilligung der notwendigen größeren Geldmittel die Schwierigkeiten
bei der Durchführung ausreichend berücksichtigt. Erst neuerdings geht ma:
dem Alkoholschmuggel mit voller Energie zu Leibe, auf Grund der Ver-
träge zur Bekämpfung des Uebels, die man mit den meisten europäischen
Küstenstaaten des Atlantic abgeschlossen hat, ausgenommen das am Alkoho!-
handel stark interessierte Frankreich. Freilich braucht die volle Auswirkung .
dieser Reformen Zeit. Auch betont der Bericht mit Recht, daß ein so tiet -
eingreifendes Gesetz wie das Alkoholverbot, das uralte Gewohnheiten und
Neigungen gegen sich hat, ganz unmöglich schon in der kurzen Spanne Zei
von 5 Jahren volle Wirkung getan haben kann und daß bis dahin vielleich‘
noch ein Menschenalter vergehen wird. Alles in allem darf man wohl sagen.
daß die dem Verbote bis jetzt entgegenstehenden Hemmungen noch nirgend:
so offen und zugleich so sachlich dargestellt worden sind wie in diesen:
Bericht. Man vermißt darin eigentlich nur eine Würdigung des Einflusses.
den der seit dem Kriege in der Union ungeheuerlich angewachsene Tabak-
verbrauch auf den Alkoholverbrauch ausgeübt hat.
Je rücksichtsioser aber der Bericht die bisherigen Unvollkommenbeitei
in der Durchführung des Gesetzes feststellt, um so höheren Wert dürfen auch
die auf Grund der Tatsachen in ihm niedergelegten Urteile beanspruchen.
die gewissen von der verbotsfeindlichen Propaganda immer wieder verf-
breiteten Behauptungen entgegentreten. So bezeichnet er es als eine zweifel-
lose Tatsache, daß der Alkoholhandel gegen früher einen gewaltigen Rück-
Bang erfahren hat, wenn es auch nicht möglich ist, hier einen bestimmten
rozentsatz einwandfrei anzugeben. Ganz unhaltbar ist es daher natürlich |
Hartmann, Die Forschungs- u Erziehungsabteilung Amerikas über die Verbotslage 23
zu s , daß man jetzt in Amerika mehr trinke als früher. Wiederholi
kommt der Bericht darauf zurück, daß die Schließung der etwa 250 000
Saloons eine Tatsache von weittragender gesundheitlicher, wirtschaftlicher
und sittlicher Bedeutung ist, wenn auch die Auswirkungen dieser Tatsache
nicht scharf statistisch zu erfassen seien. Ja, der Bericht hält es auf Grund
der Lage für sicher, daß die meisten Staaten der Union, wenn man das
Alkoholverbot jetzt zum Gegenstande einer neuen Abstimmung machte, es
von neuem bestätigen würden. Was die angebliche Zunahme des Gebrauchs
von Betäubungsmitteln anlangt, zu denen man nach Behauptung der Alkohol-
freunde in Ermangelung von Alkohol greifen soll, so bezeichnet der Bericht
dies als einen reinen Mythus und erklärt, daß nach allem, was man zuver-
ae er das gerade Gegenteil der Fall ist. Daß heimliche Herstellung
von Wein und Bier an vielen Stellen vorkommt, gibt der Bericht zu, hält
es aber nicht für eine Tatsache, die für das große Ganze erheblich ins
Gewicht fällt. Wenn der Bericht findet, daß die wohltätigen Wirkungen des
Verbots sich viel weniger der Aufmerksamkeit aufdrängen und in den
Zeitungen eine viel geringere Rolle spielen als die unliebsamen Begleit-
erscheinungen, die ein Einschreiten der Behörden herbeiführen, so wird das
jedem Unvoreingenommenen ohne weiteres einleuchten.
Der Bericht hat gewiß vielen überzeugten Verbotsanhängern eine Ent-
täuschung bereitet, und seine erstaunliche Offenheit und Ehrlichkeit wird
vielleicht sogar an manchen Stellen Bedauern auslösen, aber seine endgültige
Wirkung wird gewiß nur heilsam sein. Er wird auch den Alkoholgegnern
ihre Verantwortung in dieser wichtigen Frage voll zum Bewußtsein bringen,
er wird ihre Gewissen schärfen und sie zu neuen Anstrengungen anspornen.
Wenn hier und da die Meinung aufgekommen ist, daß der Bericht eine Um-
kehr in der Haltung der amerikanischen Kirchen zum Alkoholverbot bedeute,
so kann davon in alle Wege keine Rede sein, und es ist auch schon offiziell
bekannt gegeben worden, daß die Kirchen nach wie vor fest auf dem Boden
des Verbotes stehen. Als sicher aber darf man annehmen, daß der Bericht
eine erhöhte und vertiefte Tätigkeit der Kirchen und auch der Schulen in
bezug auf die Erziehung des Volkes zur Nüchternheit herbeiführen wird, eine
Aufgabe, die man seit 1920 allzu sehr in den Hintergrund hat treten lassen.
Der Bericht sagt darüber selbst im Schlußwort, und diese Stelle mag zugleich
auch den ganzen Geist dieser so bemerkenswerten Veröffentlichung unmittel-
bar kennzeichnen: „Die Lage bedeutet für die Schulen und Kirchen eine
größere Verantwortlichkeit als wie sie jemals bisher bestanden hat. Bisher
yst die Schuld der Kirchen sogar größer als die der Bundesregierung. In
früheren Jahren legte man großen Wert auf den Nüchternheitsunterricht als
auf einen Bestandteil der Erziehungsarbeit der Kirchen. Er war gewiß oft
nur minderwertig, aber die Bedeutung eines nüchternen Lebens und die der
Selbstbeherrschung wurden der Jugend doch beständig vor Augen geführt.
Seit Annahme des Verbotsgesetzes jedoch hat man die Aufgabe der sittlichen
Erziehung zu einem nüchternen Lebenswandel fast ganz aus den Augen ver-
loren. Im Zusammenhange mit der hier vorgelegten Untersuchung wurden
die jetzt eingeführten Hilfsbücher unter dem Gesichtspunkte des Nüchtern-
heitsunterrichts und der -aus dem Verbotsgesetz folgenden staatsbürgerlichen
Verantwortlichkeit sorgfältig geprüft. Die Ergebnisse waren aber wesentlich
negativer Art. Sogar das rauhe Erwachen, das auf den Ausbruch der Zucht-
losigkeit erfolgte, machte sich mehr in bloßen Protesten geltend, mehr in
Entmutigung und Unzufriedenheit mit dem Verbote, als in dem sich doch
aufdrängenden Entschluß, eine Erziehungsarbeit in Angriff zu nehmen, die
niemals durch irgendwelche soziale Gesetzgebung befriedigend ersetzt werden
kann. Jetzt nun eröffnet sich eine neue Gelegenheit. Die Krisis, die sich
bei der Durchführung des Alkoholverbots entwickelt hat, legt uns die Pflicht
auf, den Tatsachen offen ins Gesicht zu sehen und eine neue Verantwortung
auf uns zu nehmen. Die Bundesregierung hat ein neues Blatt in der Durch-
führungspolitik angekündigt. Das ist die Aufgabe der Regierung. Nicht
aber ist es ihre Aufgabe, die Gesinnung des Volkes zu wandeln. Das ist
24 Abhandlungen,
Sache der Religion und .der Erziehung. Nur energische und ausdauernde
ne kann die Unterlassungssünden der Vergangenheit wieder
gut machen.“
Noch auf einen Punkt möge zum Schluß hingewiesen werden. An ver-
schiedenen Stellen bemerkt der icht, daß das Schicksal des Alkoholverbots
in letzter Linie davon abhängt, wie die öffentliche Meinung sich in naber
Zukunft dazu stellen wird. Dem wird man gewiß beipflichten können, voraus-
gesetzt, daß man dabei die unverfälschte, unabhängige öffentliche Meinung
von der durch die Alkoholinteressenten beeinflußten öffentlichen Meinung
zu unterscheiden weiß. Dr. J. Scharffenberg wies in Stockholm mit Recht
darauf hin, daß das Alkoholkapital geradezu ein Lebensinteresse daran habe,
das Alkoholverbot vor der großen Oeffentlichkeit als einen Fehlschlag zu
erweisen. Das ist zweifellos richtig, und darum kann die Stellung der ölfent-
lichen Presse in dieser Frage nur mit dem größten Mißtrauen betrachte
werden. Für Deutschland darf man als sicher annehmen, daß die wahre |
Stimmung des Volkes über alles, was irgendwelche Einschränkung de
Alkoholhandels angeht, im größeren Teile der Tagespresse gar nicht zum Aus-
druck kommt. Zwar gibt es bei uns keine Zensur mehr, und die Reichs-
verfassung gewährleistet sogar in Artikel 118 ausdrücklich jedem Deutschen
das Recht, ınnerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung
frei zu äußern. Aber die deutschen Alkoholgegner wissen doch nur zu gut, |
daß zahlreiche Organe der Tagespresse diese Freiheit praktisch zunichte
machen, indem sie nur zu oft alkoholgegnerische Stimmen überhaupt gar nicht
vor die Oeffentlichkeit gelangen lassen, und daß sie in diesem Sinne die öffent-
liche Meinung geradezu fälschen. Man denke nur an die Enthüllungen, die
ein Mann wie Prof. Kräpelin seinerzeit darüber veröffentlicht hat oder an die
Mitteilungen Prof. D.Strathmanns in der Reichstagssitzung v. 18.Feb. 1925. Nach
den as Si aber darüber, die 1921 auf dem Internationalen Anti-Alkohol-
kongresse in Lausanne aus Schweden, Holland, England und anderen Ländern
gemacht wurden, liegen die Dinge außerhalb Deutschlands nicht viel anders.
Auch der neuerdings von Prof. pe mann in Rudolstadt herausgegebenen
Sammlung: „Alkoholverbot? Offizielle Erklärungen amerikanischer Zeitungen
zur Prohibition und zum „Gemeindebestimmungsrecht“ kann eine wirkliche
Beweiskraft nicht zugesprochen werden, zumal da diese Erklärungen zum
allergrößten Teile von Deutsch-Amerikanern stammen, deren innere Ein-
stellung zur Alkoholfrage sattsam bekannt ist. Einen ganz anderen Wert als
Gradmesser der öffentlichen Meinung dürfen die in diesem Jahre veröffentlich _
ten Querschnittsurteile beanspruchen, d. h. Urteile von Persönlichkeiten, die
eine hervorragende Stellung im amerikanischen Leben einnehmen, so z. B. die
Urteile über das Alkoholverbot von mehr als 80 Rektoren und Professoren
amerikanischer Universitäten und Hochschulen, wie sie von der in Washington
erscheinenden Zeitschrift „The International Student“ (Mai und Okt.) 1935
herausgegeben worden sind, und die ganz überwiegend die Wohltaten des
Verbotsgesetzes anerkennen. Ferner die Ergebnisse der von der Zeitschrifi
„Manufacturers’ Record“ bei mehr als 200 hervorragenden Vertretern der In-
dustrie, des Handels und anderer einflußreicher Kreise veranstalteten Umirage,
wie sie in der Schrift „Prohibition has justified itself“ (Baltimore, 1925) ım
Wortlaut veröffentlicht worden sind. Letztere Urteile fallen besonders deshalb
schwer ins Gewicht, weil sie von denselben Persönlichkeiten stammen, die
schon 1922 von der Redaktion derselben Zeitschrift über ihre Stellung zum
Alkoholverbote befragt worden waren: 1922 wie 1925 war die überwältigende
Mehrheit dieser Stimmen der Anerkennung voll über das, was die Prohibition
für das amerikanische Volk als Ganzes zu bedeuten habe‘). Diese Ausschnitte
aus wichtigen Kreisen der öffentlichen Meinung Amerikas lassen schon jetzt
erkennen, daß es selbst der Tagespresse, so mächtig sie auch sein mag, Au
-e nn nn
!) Ein großer Teil der Urteile aus den beiden oben genannten Gruppen liegt jetzt in
deutscher Uebersetzung vor, in der sehr zeitgemäßen Schrift: „Das Alkoholverbot im
Urteil amerikanischer Akademiker und Wirtschaftsführer“, Hamburg !®,
Neuland-Verlag G. m. b. H., 32 S. in 8°. Preis 80 Pf.
Blücher, Ottilie Hoffmann zum Gedächtnis, 25
die Dauer doch nicht gelingen wird, das öffentliche Urteil über die Wirkungen
des Alkoholverbots zu entstellen.. Auch der oben angezeigte Bericht, der
weder in die optimistischen noch in die pessimistischen Urteile einzureihen
ist, wird schließlich doch die Wirkung haben, daß er einer gerechten und
Cayen Würdigung des amerikanischen Alkoholverbotes zum Durchbruch
verhi
Ottilie Hoffmann zum Gedächtnis.
Von Gustel von Blücher.
„Mit ihr ist wieder eine der ganz großen Persönlichkeiten dahingegangen‘“,
so schrieb mir unmittelbar nach Ottilie Hoffmanns Tod ein langjähriges Vor-
standsmitglied des Bundes deutscher Frauenvereine. Wieder eine der ganz
Großen und der ganz Gütigen! So steht sie wohl allen denen vor Augen,
denen es vergönnt war, ihr persönlich nahezutreten oder gar ein Stück Weges
mit ihr gehen zu dürfen, und jeder ihrer Freunde und Gesinnungsgenossen
wird schmerzlich die Lücke empfinden, den ihr Tod in den Kreis ihrer Ge-
Sinnungsgemeinschaft gerissen hat.
„Ich will Dich segnen und Du sollst ein Segen sein“, so klang es wohl
aus der Höhe, als sie am 14. Juli 1835 das Licht der Welt erblickte. Ihre
Wiege stand in Bremen in einem angesehenen Kaufmannshause, wo sie von
hochgebildeten, liberal gesinnten und sozial empfindenden Eltern als ältestes
von vier Kindern liebevoll gehegt und erzogen wurde. Schon früh bewies
sie die Selbständigkeit ihres Charakters, indem sie ihr Examen als Lehrerin
ablegte und eine Stellung auf der Insel Wight annahm, in damaliger Zeit für
junge Mädchen ihres Gesellschaftskreises etwas ganz Ungewöhnliches, ja
Unerhörtes. Fünf Jahre blieb sie in England und benützte diese Zeit zu
ihrer Weiterbildung. In die Heimat zurückgekehrt, machte sie bald die Be-
kanntschaft der Begründerin der deutschen Frauenbewegung Luise Otto-Peters,
für deren auf Ertüchtigung und höhere Bildung des weiblichen Geschlechts
erichtete Bestrebungen sie von vornherein volles Verständnis zeigte. Ihre
esensart drängte sie, theoretische Kenntnisse möglichst schnell in praktische
Taten umzusetzen. Bezeichnend dafür ist, daß sie ihre ganze Wirksamkeit im
öffentlichen Leben damit begann, daß sie in ihrer Vaterstadt mit gleich-
gesinnten Frauen den „Frauenerwerbsverein‘“ gründete; er sollte Gelegenheit
und Wege zur Ausbildung der heranwachsenden weiblichen Jugend bieten, um
sie auf die Pflichten vorzubereiten, welche die ersten Vorkämpferinnen
der Frauenbewegung gleichbedeutend mit den Rechten einschätzten, für die
sie sich einzusetzen begonnen hatten. Mehr als drei Jahrzehnte war Ottilie
Hoffmann als Vorstandsmitglied dieser ihrer ersten Schöpfung tätig, nachdem
sie 1867 dazu erwählt worden war. Ihrer Initiative entsprangen später die
Samariterkurse und kaufmännischen und gewerblichen Abteilungen für deren
Schülerinnen allwöchentlich zwei gesellige Abende eingerichtet wurden. Eine
ununterbrochene Tätigkeit für das öffentliche Wohl konnte O. H. erst ent-
falten, nachdem ein zweiter langjähriger Aufenthalt in England ihren sozialen
Neigungen eine bestimmte Richtung gegeben hatte. Der Wunsch, ihren nach
dem Tode der Eltern ebenfalls nach ngland übergesiedelten Geschwistern
nahe zu sein, mochte wohl einen Anstoß zu diesem zweiten Aufenthalt in England
aen haben, doch fühlte sie sich besonders angezogen und gefesselt durch
das außerordentlich geistig anregende und harmonische Leben, welches ihr
ım Hause des Lord Carlisle und seiner Gemahlin als Erzieherin ihrer beiden
Töchter, Lady Cecilia und Aurea geboten wurde, mit denen allen eine warme
uendige Freundschaft sie lebenslänglich verbunden hat. Dort lernte sie neben
vielen bedeutenden Persönlichkeiten und führenden englischen Frauen, durch
die vorbildliche soziale. Arbeit, welche die ganze Familie Carlisle für das
nwohl leistete, die grundlegende Bedeutung der Alkoholfrage kennen.
Lady Carlisle’s umfassende vorbildliche Tätigkeit als damalige Vorsitzende
26 Abhandlungen.
der British Women‘s Temperance Association, einer Frauenvereinigung mit
1100 Ortsgruppen und 108000 Mitgliedern zeigte ihr die Wichtigkeit der
weiblichen Mitarbeit und sie kehrte in ihr Vaterland zurück mit dem festen
Entschluß, die Bekämpfung des Alkoholismus als ihre wichtigste Lebens
aufgabe zu betrachten und vor allem die Frauen dazu zu mobilisieren.
Seit 1882 persönlich abstinent, hat Ottilie Hoffmann sich dieser großen |
Aufgabe gewidmet und es bleibt ihr unbestrittenes Verdienst, die deutschen
Frauen zum Kampf gegen den Bedroher und Zerstörer des Frauen- und
iger Kain aufgerufen und organisiert zu haben. Zu klug, um nicht mit
den gegebenen Verhältnissen zu rechnen — der Begriff der „Abstinenz“ war
damals noch kaum geprägt und auch von den Frauen noch nicht erfaßt —.
begann sie ihr Werk damit, durch positive Arbeit die ihr nahestehenden
Frauenkreise für ihre Ideen zu gewinnen, indem sie den Vaterländischen
Frauenverein zur Einrichtung und zum Betrieb einer Kaffeehalle bewog, ir
der die mit dem Abbau der Gewerbe- und ee | beschäftigten
Arbeiter in den kalten Spätherbsttagen des Jahres 1890 Zuilucht und Er-
wärmung fanden. Dieser bescheidene Anfang war der Vorläufer ihrer
umfassenden praktischen Tätigkeit auf dem Gebiete der Gaststättenreform. In
dem „Bremer Mäßigkeitsverein“ schuf sie sich mit sachverständigen Freunde:
i. J. 1891 den Apparat dazu und gründete nach und nach 13 alkoholfreie
Kaffeestuben, Milchhäuschen und alkoholfreie Volksspeisehäuser, die weit über
Bremen hinaus vorbildlich und anregend gewirkt haben. Mit welchem feinen
liebevollen Verständnis sie immer bemüht war, den darin aus- und eingehenden
Gästen, die sich größtenteils aus der Arbeiterschaft zusammensetzten, gerech!
zu werden, das wurde in ergreifenden schlichten Worten an ihrer Bahre vor: |
Vorsitzenden des Arbeiter-Abstinentenbundes zum Ausdruck gebracht.
Positive Arbeit am Wohle der Allgemeinheit waren auch die Volks-
unterhaltungsabende, die sie in den neunziger Jahren einrichtete und die sich
immer regsten Zuspruchs erfreuten. Mathilde Plate-Bremen schrieb darüber
anläßlich ihres neunzigsten Geburtstages in der „Nationalen Rundschau“:
... Gleich im Beginn ihrer sozialen Tätigkeit steht die Schaffung der
Volksunterhaltungsabende. Kunst, Belehrung und Humor — äußerlich in
bescheidensten Rahmen — wurden geboten als Gegengewicht gegen die her-
kömmlichen Verlockungen des Wirtshauses, als Gegengewicht ebenso
gegen die Leere und Langeweile unausgefüllter Mußestunden. Wer jemals
diese Unterhaltungsabende mitgemaät hat, wird sie nie vergessen. Der alt:
gemütliche Gewerbehaussaal, nicht übermäßig reichlich erleuchtet, darin vor
der kleinen Bühne ein aufmerksam lauschender Zuhörerkreis. Menschen m!
harter Arbeitshand neben geistigen Arbeitern, glückliche Jugend neben müden
Sorgengesichtern, alle froh über den Strahl von Wärme und
Fröhlichkeit, der
ihren Alltag unterbrach. Und mitten darin, als alles belebender Mittelpunkt.
die gütige Frau mit dem energischen Gesicht und den klaren Augen.
„Lichte Sonntage“ im wahrsten Sinne für alle Beteiligten, Zuhörer
sowohl wie Mitwirkende, eine notwendige und segensreiche Einrichtung —
bis sie in größeren Volksbildungsveranstaltungen unterging, denen sie selbst
hatte die Bahn bereiten helfen.“ Keiner dieser Abende verging, ohne den
Zuhörern ein Quäntchen Belehrung und Aufklärung über die Schädlichkeit
des Alkohols mitzugeben und manches Samenkorn, was dort ausgestreul
wurde, hat unvermutet reiche Frucht getragen. So erzählte mir einer unsere!
streitbarsten abstinenten Pfarrer, da
er die ersten Eindrücke von der Be
deutung der Alkoholfrage als kleiner Junge in der Begleitung seiner Mutter
in Ottilie Hoffmanns Volksunterhaltungsabenden empfangen habe und seitdem
nicht mehr davon losgekommen sei.
Nie ihr Hauptziel aus den Augen lassend, beteiligte sich Ottilie Hoffmann
i. J. 1894 an der Gründung des Bundes deutscher Frauenvereine, dessen
Vorstand sie längere Zeit angehörte. Ihrer Initiative entsprangen zumeist die
Eingaben, welche die führenden Frauen jener Zeit- schon ein Jahr später
an Erzieher und Schulbehörden richteten, um sie zur Aufnahme von
lehrung über die Schädlichkeit des Alkohols in den Unterrichtsplan z”
Blücher, Ottilie Hoffmann zum Gedächtnis. 27
bewegen. 1899 folgte dann eine Eingabe des Bundes deutscher Frauenvereine
an die Kultusministerien aller deutschen Staaten, welche die gleiche
Belehrung in den Seminaren und Schulen forderte. Schritt für Schritt in
unermüdlicher Wachsamkeit und unumstößlicher Hartnäckigkeit drang Ottilie
Hoffmann mit ihren Ideen in diesen Frauenkreisen vor, immer nur das
Erreichbare fordernd, aber niemals ihren radikalen Standpunkt verleugnend.
In zahlreichen Vorträgen im ganzen Reiche wandte sie sich an die damals
zu organisierter Arbeit sich zusammenschließenden Frauen und suchte zu-
gleich in den Frauenzeitschriften Interesse für die Alkoholfrage zu erwecken.
gehörte damals ein viel größerer Mut und eine größere Unerschrockenheit
dazu, den Enthaltsamkeitsgedanken zu propagieren, als wir gegenwärtig
aufzubringen haben, denn damals bedeutete die Tendenz zur Mäßigkeit schon
einen Fortschritt und die Notwendigkeit der völligen Enthaltsamkeit lag auch
den Kreisen der gebildeten Frauen noch so fern, daß sie nur ein mitleidiges
oder spöttisches Lächeln für ihre Verkünderin erübrigen konnten. Zwar gab
es schon eine kleine Anzahl von Frauen, die auf dem Boden der Enthaltsamkeit
mit den Männern zusammenarbeiteten. Ottilie Hofimann hatte sie gefunden
und kennengelernt im „Blauen Kreuz“, im „Alkoholgegnerbund‘“ und im
„Guttemplerorden“, Organisationen, denen sie als hochwillkommene Mit-
arbeiterin beigetreten war. So lernte sie sie kennen und schätzen und hat
sie ihr Leben lang hochgehalten. Aber gerade die hier gemachten Er-
fahrungen und Beobachtungen bestärkten sie in der Ueberzeugung, daß wie
überall, so auch innerhalb der Nüchternheitsbewegung die Frauen „unter sich“
gesondert und auf sich selbst gestellt, erst Gelegenheit und genügend starken
Antrieb zur Entfaltung ihrer eigensten Wesensart gewinnen und zur Tat
schreiten würden. So war es denn ein tiefbeglückender Lebensabschnitt für
sie, daß ihre zähe und unermüdliche Vorarbeit nach einem vollen Jahrzehnt
dazu führte, daß sie am 17. Juli 1900 in Bremen den deutschen Bund
abstinenter Frauen gründen konnte. Die Begründerin und damalige Führerin
des christlichen Weltbundes abstinenter Frauen (World’s Woman’s Christian
Temperance Union) Frances Willard hatte sie schon 1895 damit beauftragt
und mit freudigem Stolz konnte Ottilie Hoffmann’ den kleinen deutschen
Zweig dem großen Frauenbunde angliedern, der damals schon % Million
abstinenter Frauen in allen fünf Weltteilen umfaßte, die nach dem gemeinsamen
Ziele, einer alkohofreien Kultur, strebten. Der Ausbreitung und Erstarkung
ihrer eigensten Schöpfung galt fortan ihre Hauptarbeit. Eine wesentliche
Förderung brachte der i. J. 1904 in Bremen tagende Internationale Kongreß
gegen den Alkoholismus, zu dessen Vorbereitung sie außerordentlich wich-
tige Dienste geleistet hatte, sowohl auf Grund ihrer ausgebreiteten inter-
nationalen Beziehungen und ihrer Sprachkenntnisse wie auch dank ihrer
organisatorischen Begabung. Das Verständnis für diesen Zweig der Frauen-
wegung wuchs seitdem zusehends, so daß i. J. 1912, als Ottilie Hoffmann,
77 Jahre alt, ihr Lebenswerk jüngeren Händen anvertrauen durfte, der
deutsche Bund abstinenter Frauen annähernd 40 Ortsgruppen und 1200 Mit-
glieder umfaßte. Sins angeschlossen dem Bund deutscher Frauen-
vereine wie dem Allgem. deutschen Zentralverband zur Bekämpfung des
Alkoholismus (der Zusammenfassung aller Abstinenzorganisationen, an der
A. auch wesentlich mitgearbeitet hatte), stellte er dar, was seine Be-
gründerin damit bezweckt hatte: die Brücke zwischen Frauen-
und Nüchternheitsbewegung, den beiden großen Kultur-
bewegungen unserer Zeit. Ihre Pfeiler waren fest verankert im unergründlich
tiefen Boden echter Mütterlichkeit, deshalb ist ihre Tragfähigkeit so groß und
ihr kühner Bogen umspannt die intellektuellen wie die gefühlsmäßigen Kräfte,
die sich vereinigen müssen, um in dem gewaltigen Ringen gegen die Mächte
der Finsternis den Sieg davonzutragen.
, Oft hat Ottilie Hoffmann den Ausspruch Hiltys angeführt: „Wenn in
irgend einem Lande ein Mißbrauch überhand nimmt, so ha dieFrauen,
die Hüterinnen der Sitte, nicht ihre Schuldigkeit getan.“ Ihr Glaube an die
Mütterlichkeit in jeder Frau war ebenso unerschütterlich wie die Zuversicht,
28 Abhandlungen.
daß die deutschen Frauen aus dem Kampf gegen den verhängnisvollen gesell-
schaftlichen Trinkzwang als Siegerinnen hervorgehen werden, sobald sie nur
einmal die Tragweite dieser Unsitte erkannt haben würden. Sie wußte, daß
die Frauen, die Mütter unentbehrlich bei der alkoholfreien Jugenderziehung
sind — so warb sie um ihre Einsicht und Mitarbeit zuerst, sie organi-
sierte die Mutterliebe und erblickte in jedem gewonnenen Bundesmitglied
die Trägerin einer alkoholgegnerisch gerichteten Familie — die Keimzelle
neuer vom Rauschtrank befreiter Geschlechter. Ihnen den Boden zu bereiten
und öffentliche Zustände zu schaffen, die eine alkoholfreie Jugenderziehung
BEN war einer der Gesichtspunkte, die die weitblickende gültige
rau von Anbeginn in ihr Programm und in die Satzung des Bundes auf-
enommen hatte. Als eine der Allerersten schuf sie nicht nur alkoholfreie
aststätten, sondern begehrte bessere Gesetze gegen den Alkoholhandel und
Ausschank. Zu einer Zeit, als selbst innerhal
noch die tapfersten Männer davor zurückschreckten, schrieb sie die Forderung
der Nüchternheitsbewegung
des Gemeindebestimmungsrechtes auf ihre Fahne und pflanzte sie unerschrocken
auf wie die Flagge für Frauenstimmrecht, zu deren Trägerinnen sie längst
gehörte. Jahrelang hat sie im Bund deutscher Frauenvereine die Idee ds
üemeindebestimmungsrechtes verfochten und es war einer ihrer glücklichsten
Tage, als i. J. 1910 seine Generalversammlung beschloß, in die Vorarbeit für
diese gesetzliche Forderung einzutreten. Mit gespanntester Aufmerksamkeit
verfolgte sie diese Vorarbeiten, auch nachdem sie den Vorsitz en |
atte.
und sich mehr und mehr auf ihre Wirksamkeit in Bremen beschränkt
Es war ihr eine köstliche Genugtuung noch erleben zu dürfen, daß die
gesamte Alkoholgegnerschaft sich auf die laute und energische Forderung des
Gemeindebestimmungsrechtes festlegte und schließlich ein später Lebensabend
ihr die Vereinigung aller einsichtigen Volksfreunde, der Vertreter der Kirchen,
der Inneren Mission, der organisierten Frauen und des wertvollsten Teiles
der deutschen Jugend mit den Alkoholgegnern zum gleichen Kampfruf
bescherte.
Neben der Gewinnung der Frauen hat ihr nichts so sehr am Herzen
elegen, als die geistigen Führer des Volkes zu Mitkämpfern für die Be
reiung des Volkes vom Alkohol zu gewinnen und sie hat es aus ihrem
eigenen tief religiösen Empfinden, aus ihrer wahrhaft seelsorgerischen
Tätigkeit nie verstehen können, daß sich die Geistlichkeit — abgesehen von
vielen löblichen Ausnahmen — der Alkoholirage gegenüber so schwerhörig,
ja ablehnend verhielt. Um so inniger war ihre Freude, wenn aus diesen,
wie überhaupt den akademisch gebildeten, so schwer zu gewinnenden
Kreisen, neue Köpfe und neue Herzen sich kampfbereit erklärten und die
liebenswürdige Art, wie sie ihnen zu danken und ihrer Freude Ausdruck zu
geben verstand, wird jedem unvergeßlich bleiben. Auf die harmonische
Zusammenarbeit der Frauen mit den Männern, wie sie nur auf das Vertrauen
in die beiderseitige Gleichwertigkeit und a gegründet sein kann, hat
sie immer großen Wert gelegt, wie denn ihr Blick stets auf's Große, Ganze
erichtet blieb und bei aller ausgesprochenen nationalen Gesinnung über die
renzen des eigenen Vaterlandes hinaus alle Gesinnungsfreunde nah und
fern suchte und mit lebendiger Sympathie umwarb und umfaßte. So war
sie bei Internationalen Kongressen stets eine viel umworbene Persönlichkeit,
die sich der allgemeinen Ehrerbietung und dankbaren Anerkennung: ihrer
Verdienste erfreuen durfte.
Ihr Lebensabend wurde dunkel überschattet von der tiefen Trauer über
den Krieg und seine für ihr über alles geliebtes Vaterland so entsetzlichen
Folgen. Deutsch im innersten Kern ihres Wesens gab es keinen größeren
Schmerz für sie, als ihr Volk verleumdet, entrechtet und geknechtet seben
zu müssen und ihr ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl bäumte sich kräftig
dagegen auf. Aber niemals fanden Haß- und Rachegefühle Raum in ihrem
edien Herzen und alle bitteren Erfahrungen vermochten nicht, ihre im buch-
stäblichen Sinne des Wortes „friedfertige“ Gesinnung zu erschüttern, i
schweige denn sie irre zu machen in ihrem unerschütterlichen Glauben an das
Blücher, Ottilie Hoffmann zum Gedächtnis. 29
Walten der göttlichen Vorsehung und die Wiedererhebung ihres Volkes. Und
darum ging es ihr, das war das Ziel all ihrer Arbeit, ihrer Kämpfe. Die
Abstinenz war ihr nicht Selbstzweck. Sie sah in dem siegreichen Vorwärts-
dringen des Enthaltsamkeitsgedankens eine der unerläßlichen Vorbedingungen
der religiös sittlichen Erneuerung ihres Volkes. Deshalb überstrahlte die
Schatten des Abends, die sich allmählich über sie neigten, eine freudige
Zuversicht, daß sie nicht umsonst dafür gewirkt habe. Ihre müde Seele
erlabte sich noch an der tatenfrohen, tüchtigen, begeisterten Jugend, die
in Bremen in ihrer unmittelbaren Nähe ihre Gefolgschaft bildete und der
geliebten Führerin im „Ottilie-Hoffmann-Haus“ ein lebendiges Denkmal
errichtet hat. Kein höheres Glück, kein schönerer Dank konnte der großen
ütigen Frau beschieden sein, deren Triebkräfte aus dem unerschöpflichen
rn echter Mütterlichkeit und wahrer Nächstenliebe entsprungen sind —
als die Gewähr, daß ihres Geistes Kinder weiter die Wege bahnen werden
zu einer vom niederziehenden Joche des Alkohols befreiten Kultur.
Wir aber, die wir ein Stück Weges mit der Verklärten gehen durften,
getrösten uns des Wortes von Platen:
„Ein jedes Band, das noch so leise
Die Geister aneinanderreiht,
Wirkt fort auf seine stille Weise
Durch unberechenbare Zeit.“
Chronik
für die Zeit vom 1. November bis zum 31. Dezember 1925.
Von Pastor Dr. Christian Stubbe.
A. Zwischenstaatliches.
Die deutschen Parlamentarier, die jüngst die Vereinigten Staaten besuchten,
haben sich z. T. ebenso oberflächlich wie absprechend in der Oeifentlichkeit
über das Alkoholverbot geäußert (z. B. Dr. a), Besonnener hat
sich der Reichstagspräsident Loebe dem Vorsitzenden des Deutschen Arbeiter-
Abstinentenbundes Dr. Drucker gegenüber ausgesprochen. Er sagte u. a.:
„Tatsächlich habe ich von der öffentlichen Auswirkung des Alkohol-
verbots einen geradezu imponierenden Eindruck erhalten. Immer wieder habe
ich die Kräfte des Staates bewundert, die zur Durchführung des Verbots ein-
gesetzt werden. In den Hotels, bei den Mahlzeiten und Festlichkeiten wurde
uns niemals ein anderes Getränk vorgesetzt als klares Wasser. In den großen
Speisehäusern von Newyork und Chicago, wo täglich viele Tausend Arbeiter
und Angestellte ihre Mahlzeiten einnehmen, konnte ich niemals ein alko-
holisches Getränk feststellen. Niemals habe ich in den Straßen einer
amerikanischen Stadt einen Betrunkenen gesehen!“
Auch das Urteil des Reichstagsabgeordeten Sollmann, der gleichfalls
kürzlich „drüben“ war, über das Alkoholverbot der Vereinigten Staaten ist
bemerkenswert. Er hat sich in einem Bericht ebenfalls günstig über seine
Beobachtungen ausgesprochen. Den Unterschied zwischen den amerikanischen
und den deutschen Verhältnissen formulierte er kurz dahin: „In Amerika muß
jeder, der Alkohol zu sich nehmen will, ihn mit viel Mühe suchen, in Deutsch-
and wird er auch dem, der nicht trinken will, aufgedrängt.“
In ähnlichem Sinne äußerte sich auch Prof. Schücking.
Gegen die Meldung englischer und amerikanischer Zeitungen, daß der
Schmuggel geistiger Getränke nach Amerika hauptsächlich von Hamburger
Firmen betrieben werde, wendete sich die deutsche Tagespresse (Voss. Zig..
Kieler Ztg. v. 24. 12. 25 u. a.) auf Grund von Umfragen bei Hamburger
Behörden:
„Im Gegensatz zu der englischen Auffassung stehe die Hamburger
Handelskammer und die deutschen Schiffahrtsgerichte auf dem Standpunkt,
daß der Handel mit Schmugglern oder mit Firmen, die an Schmuggler liefern,
als unehrenhaft anzusehen sei.“ i
Zurzeit gibt es 18 alkoholgegnerische Pressedienste in
FD davon 12 in deutscher Sprache. („Deutsche Gemeinsch.“ Nr. 6—7.)
ie Ausfuhrstatistik Italiens zeigt, daß die Schweiz 1924 mit der
Abnahme von 893339 hi Wein und 3036 hi Wermuth der beste Kunde
Italiens für diese beiden Waren war. („Frht.“ Nr. 14.)
Dr. Legrain weist darauf hin, wie in der Verzollung unvergore-
ner Wein (alkoholfreier Obst- und Traubensaft) vielfach törichterweise
schlechter behandelt wird als vergorener. Belgien z. B. erhebt für 1 hl
unvergorenen Wein 60, für vergorenen 50 Fr., Dänemark für ı Flasche
süßen Traubensaft 4,50 Fr., für 1 Flasche Wein 0,75 Fr., Norwegen für
unvergorenen Wein 2, für vergorenen 1 Fr., Polen für 1 Flasche unvergorenen
Wein 20 Fr. Zoll, während es den Einfuhrzoll für französischen Wein um
90 % vermindert hat. ee Nr. 18.) i
Der Verein für skandinavische Seemannsheime hat
zurzeit Seemannsheime in Hamburg, Rotterdam, Antwerpen, Rouen, Cardiff.
Stubbe, Chronik, 31
Liverpool, Hull und Newcaste (Shields); Norwegen bestreitet etwa 60,
Schweden 30 und Dänemark 10 % der Unkosten. („Bl.Seemannsmiss.“ H. 3—4.)
DerInternationaleVerbandenthaltsamer Eisenbahner
hielt seinen 7. Kongreß 18. bis 20. Juni in Prag ab. — Der Deutsche Verein
enthaltsamer Eisenbahner in der Tschechoslowakei zählt 650 Mitglieder; in
den erg de des Landes ist keine Alkoholreklame gestattet. („Het
veil. Spoor“ No. $.)
B. Aus dem Deutschen Reiche.
Allgemeines.
Auf Reparationskonto sind an Frankreich im August u. a.
100000 hi Alkohol im Werte von 2,6 Millionen M geliefert worden.
(„Der Westen“ 28. 9.)
Im Hauptausschuß des Preußischen Landtags war mit Hilfe der Sozial-
demokraten und Kommunisten ein Antrag der Deutschnationalen, von der
Reichsregierung die baldige Vorlage eines Gesetzentwurfes mit GBR. zu
fordern, angenommen; im Plenum (1. 10. 25) stimmten die Sozialdemokraten
und Kommunisten, versehentlich aber nicht die Deutschnationalen, dafür,
so daß der Antrag abgelehnt wurde. („Voss. Ztg.“ 2. 10.)
Der Braunschweiger Landtag hat beschlossen, das Staats-
ministerium zu ersuchen, bei der Reichsregierung darauf hinzuwirken, daß
zur-Sicherung des öffentlichen Verkehrs die Autoführer durch Reichs-
verordnung verpflichtet werden, unmittelbar vor und während ihrer Tätigkeit
sich jeglichen Älkoholgenusses zu enthalten. („Asbt. Arb.“ Nr. 9.)
Der Landrat von Herford hielt vor Weihnacht eine Versammlung vor
allem für Pfarrer und Lehrer des Kreises über den Kampf gegen
Schmutz und Schund. Nachdrücklich wurde Bekämpfung des Alko-
holismus (u. a. durch Aufklärung in den Schulen, Förderung von Abstinenz-
vereinen und Unterstützung von Jugendheimen und -herbergen) gefordert.
(„Aufwärts“ Nr. 299.)
Ueber die 64 Probeabstimmungen über Einführung des GBR., die im
November und Dezember stattfanden, vgl. Seite 46 dieses Heftes.
Der „Deutsche Industrie- und Handelstag“ hat sich erneut
an die zuständigen Stellen mit einer Eingabe gegen das Gemeindebestimmungs-
recht gewandt und darauf hingewiesen, daß sich bisher 75 Handelskammern
für eine Ablehnung des Gemeindebestimmungsrechtes ausgesprochen hätten.
(„Kiel. Ztg.“ 29. 12.)
„Angesichts der bevorstehenden Beratung der Anträge betr. Einführung
des Gemeindebestimmungsrechts im Reichstag, die die Alkoholfrage mit
gefährlichen Mitteln zu lösen suchen, die nicht mehr und nicht weniger
euten als den Beginn und die Vorbereitung der Vernichtung aller
gastronomischen Gewerbe, die uns von dieser Seite her droht“, hält es „Das
Jasthaus“ Nr. 133 für „angebracht, das innerlich verlogene, verleum-
erische, blindwütige Treiben des Vereins gegen den Alkoholismus in letzter
Stunde noch einmal gebührend zu kennzeichnen und die amtlichen Stellen, die
bei diesem Tun mitwirken, zu warnen.“ Seine Arbeit sei Maulwurfsarbeit:
der Ersatz des Wortes „Alkoholmißbrauch“ durch „Alkoholismus“ im Vereins-
Namen wäre „geistige Falschmünzerei“; um Alkoholmißbrauch und Trinker-
ürsorge kümmere er seit 1921 sich wenig; sein Ziel sei die TEOCHENIEGUNG.
Gefürchtet wird, daß der „geistige Seuchenherd“, der im D. V. g. d. A.
egt, die amtlichen Organe infiziere (!!).
T An Anwürfen dieser Art ist die Interessentenpresse und zum Teil auch die
‚agespresse gegenwärtig sehr reich. Vgl., was im vorigen Hefte und auch
n diesem über Prof. Bornhak gemeldet wird.
32 Stubbe, Chronik.
Statistisches.
Nach der statistischen Aufnahme im Juni d. g} beträgt inGroß-Berlin
die Zahl der Gast- und Schankwırtschaften einschließlich Klein-
handlungen mit Branntwein 16350, d. h. rund 1000 weniger als 1919, aber
immerhin noch 1 Kneipe auf 5 bebaute Grundstücke oder auf rund 240 Ein-
wohner. („Abst. Arb.“ Nr. 8.)
Im Freistaat Danzig wurden in den Jahren 1919 bis 1922 durch-
schnittlich 12003 hl Branntwein und 89921 hi Bier jährlich erzeugt,
aber 17137 hl Branntwein, 87232 hl Bier, 8085 hi Wein, 287 hl Obstwein
verbraucht. Verausgabt wurden 10 280 000 Gulden für Branntwein, 12 960 000
Gulden für Bier, 4040 000 Gulden für Wein, 140 000 Gulden für Obstwein.
(„Der Kämpfer“ Nr. 14.)
Nach „Wirtschaft und Statistik“ Nr. 10 ergibt sich bei der Verbrauch-
und Aufwandsteuer folgendes Bild:
Rechnung Voranschlag Vorl.Ist-Ein- In Proz.
1913 1924 nahme 1924 der Gesamt-
M M M einnahme
Biersteuer 171 970 500 126 000 000 195 664 000 2,7
Weinsteuer
= 48 000 000 93 918 700 1,3
Schaumweinsteuer 10 406 000 -._ — =
Branntweinmonopol
bzw. -steuer 214 376 300 140 000 000 141 485 300 2,0
376 752 800 314 090 000 431 068 000 6,0
insg. Alkoholsteuer
Aus dem „Statistischen JahrbuchfürdenFreistaatPreu-
Ben“ (Berlin 1935): An Säuferwahnsinn starben 1918 110, 191
162, 1920 155, 1921 297, 1922 572, 1923 294 Personen. — In den Irren-
und Nervenheilanstalten befanden sich wegen Alkoholismus am
1. 1. 23 991 männliche und 92 weibliche Personen; ugang 2361 m. und
148 w., — Summe aller Behandelten 3592. Abgang überhaupt 2381 m. und
164 w., zusammen 2545, davon durch Tod 60 m., 5 w.
Aus den Vierteljahrsheften zur Statistikdesdeutschen.
Reichs 195, H.2, über Weinverbrauch undWeinbesteuerung: |
31. 3. 24, waren 269610 Betriebe (Hersteller, Händler usw.) vorhanden.
1. 4. 23 bis 31.3. 24 wurden hergestellt 55 321 966 1 Wein und Most aus Trauben
in Fässern, 2570108 Flaschen zu 1 1, 23757 Fl. zu 0,96 bis 0,901.
44 870 328 Fl. zu 0,75 1, 29447216 Fl. zu 0,72 bis 0,70 1, 981 Fl. von 0,61
bis 0,60 1, 1134805 Fl. zu 0,50 1, 4579 Fl. zu 0,40 1, 2415071 Fl. zu
0,375 1, 153160 Fl. zu 0,37 bis 0,36 1, 1399397 Fl. zu 0,35 1, 157 114 A.
zu 0,33 bis 0,30 1, 233790 Fl. zu 0,25 1, 9666 Fl. zu 0,20 1, 1825 Fl. zu
01888 bis 0,130 1, 16825 Fl. zu 0,125 1, 20896 Fl. zu 0,10 1, 39 Fl. zu
0,09 bis 0,05 1. — Weinähnliche Getränke sind 65900227 | in
Fässern, 8137488 1 in Flaschen, — weinhaltige Getränke 539 346 |
in Fässern, 785528 in Flaschen, — Fruchtschaumwein i. g. 892174 |
in Flaschen, — anderer Schaumwein und schaumweinähnliche Getränke
4118101 l in Flaschen im Rechnungsjahr hergestellt.
Aus den „Vierteljahrsheften z. St. d. D. R.“ H.3: UeberBranıt-
weinbrennerei, Branntweinverbrauch und Branntweinbelastung im
deutschen Monopolgebiet im Betriebsjahr 1923—24. (Es wird ausdrücklich
bemerkt, daß aus dem besetzten und dem Einbruchsgebiet keine genauen
Unterlagen eingegangen sind.) Der Branntweinabsatz der Reichs-
monopolverwaltung hat betragen 6234 hl (und zwar gegen Entrichtung de
regelmäßigen Verkaufspreises 315 905 hl, gegen Entrichtung des Ausfuhrpreises
118338 hi, — von der Reichsmonopoliverwaltung unmittelbar ausgeführt
136 078 hl, gegen une des ermäßigten Verkaufspreises a) nach voll-
ständiger Vergällung 376 264 hl, b) nach unvollständiger Vergällung 306 149 hl.
Stubbe, Chronik. 33
Vereinswesen.
Die NEO ER UDRe des Bundesdeutscher Aerztin-
nen nahm folgende Enitschließung an: „Als Aerztinnen fühlen wir uns
verpflichtet, auf die gesundheitlichen, wirtschaftlichen und moralischen Ge-
fahren hinzuweisen, die der Alkoholmißbrauch erfahrungsgemäß gerade in
den Stunden nach Mitternacht mit sich bringt. Wir haben die schlechten
gesundheitlichen Zustände Deutschlands und seine fortschreitende Verarmung
vor Augen und müssen im Interesse des Volkswohls verlangen, daß die
Polizeistunde nicht verlängert oder gar aufgehoben wird.“ („Ldkche“ Nr. 49.)
Der DanzigerAlkoholgegnertag im Oktober brachte überfüllte
Massenversammlungen, einstimmige Kundgebungen für das Gemeinde-
bestimmungsrecht und alkoholgegnerische Jugendgesetzgebung, sowie einen
guten Verlauf der Jugendversammlung. („Der Kämpfer“ Nr. 12.)
Die gewerkschaftliche Jugendkonferenz in Hamburg
6. und 7. 8. beschloß einen Aufruf, dessen Schluß lautet: „Angesichts der
vielen Schäden, die der Alkoholismus jetzt wieder der Arbeiterschaft in wirt-
schaftlicher, gesundheitlicher und kultureller Hinsicht bringt, ruft die Jugend-
konferenz allen Jugendgenossen zu: Meidet den Alkohol und bekämpft die
Trinksitten.“ („Der Wille“ Nr. 9.)
Kirchliches.
Evangelisch. Seit etwa Jahresfrist ist jeder in Sarepta (Bethel)
ausgebildeten Schwester Enthaltsamkeit zur Pflicht gemacht.
(„Dtsch. Alkoholgegn.“ Nr. 12.)
Berlin, Dezember 1925, erschien zum ersten Male „Evangelischer
Aufklärungsdienstgegenden Alkoholismus“ (Schriftleitung:
P. Seyferth, Geschäftsstelle der Arbeitsgemeinschaft evangelischer Enthaltsam-
keitsverbände, Berlin-N. 24, Oranienburger Straße 13/14). Er wird fortan
unentgeltlich an alle evangelischen Pfarrer, Kirchenbehörden, Verbände und
Anstalten der Inneren Mission monatlich geliefert. Die Schriftleitung erklärt
zur Alkoholfrage: „Wir sind der Meinung, daß für uns das entscheidende
Wort nur vom evangelischen Gewissen gesprochen werden kann.“
Die Rheinische Provinzialsynode hat, wie wir dem „Auf-
klärungsdienst“ Nr. 1 entnehmen, in ihrer diesjährigen Tagung zu Neuwied
beschlossen, einen Dauerausschuß zur Bekämpfung des Alkoholismus dem
Provinzialkirchenrat anzugliedern, Mittel hierfür (sowie für Wandervorträge
und Lehrgänge) bereit zu stellen, einen Berufsarbeiter hierfür (vielleicht zuerst
nebenamtlich) anzustellen, sowie den Landeshauptmann um Änstellung eines
Wanderlehrers zu bitten und den Antrag um Aufnahme des Gemeindebestim-
mungsrechts in das baldigst vorzulegende Schankstättengesetz (an den Reichs-
tag) zu erneuern.
Auch die Pommersche Provinzialsynode erklärt (26. 9. 25)
es für gebieterisch nötig, „daß die organisierte Kirche den Kampf gegen
die Alkoholgefahr) mit äußerster Energie fortsetzt“ und fordert u. a. weitere
inschränkung des Alkoholverbrauchs in Gemeinde- und Vereinshäusern
durch Darbietung alkoholfreier Getränke und ein wirksames Gemeinde-
bestimmungsrecht (Ebenda, Januar-Nr.).
Die letzte OstpreußischeProvinzialsynode hat einen Aufruf
erlassen, der in der ganzen Provinz verteilt wird. Er fordert Abwendung von
den Trinksitten im Familienverkehr, wie in öffentlichen und privaten Festen,
— Schärfung der Behörden im Kampfe gegen den Alkoholismus, — Förderung
blat 7 en Alkoholismus tätigen Vereine und Verbände. („Dtsch. Pfarrer-
r. 51.)
Auf dem Christdeutschen Bundestag (1. bis 3. 6 auf der
Jugendburg Hohensolms) zeigte Prof. Schmidt, Gießen, die sozial-ethische und
-Politische Bedeutung der Alkoholfrage und Schlauck, Berlin, zog dann die
olgerungen für die Christdeutschen. Der Grundton war „Verantwortung für
Andere“, („Das junge Deutschland“ H. 8.)
Die Alkobolfrage, 1926. 3
N
34 Stubbe, Chronik.
Katholısch. Auf dem as era | des Kreuzbündnisses zu Münster
wurde beschlossen, eine Beilage für i
freund“ einzurichten und eine Flugschrift zu verfassen, die eine Anweisung
zur Trinkerfürsorge enthält. („Volksfreund“ Nr. 7—9.)
Sonstiges.
Das Deutsche Rote Kreuz hat ein Merkblatt, bearbeitet vom Preußi-
schen Landesausschuß für hygienische Volksbelehrung und der Arbeitsgemein-
schaft sozialhygienischer Reichsfachverbände: „Wie erhalten wir uns
gesund?“ „Zehn Gesundheitsregeln für jedermann“ herausgegeben, von
dem jetzt schon eine zweite Auflage vorbereitet wird. Darin heißt es in
Regel 5: „Kaffee in kleinen Mengen ist belanglos, in größeren ungesund,
besser Malz- oder Getreidekaffee oder coffeinfreier. Das beste Getränk isi
Milch. Unvergorene Trauben-, Obst- und Fruchtsäfte sind sehr zu empfehlen.“
rinkerfürsorge zum „Volks
In Regel 6 wird unmittelbar die Alkoholfrage behandelt und auf die Reichs-
hauptstelle gegen den Alkoholismus und ihr angehörenden Verbände hir-
gewiesen. Es wird darin u. a. gesagt: „Meide den Alkohol! ... . Für Kinder
und Jugendliche bedeutet der Alkohol eine besonders schwere Gefahr. Auch
Erwachsenen bringt nicht bloß unmäßiger, sondern auch schon gewohnheits-
mäßiger „mäßiger“ Genuß geistiger Getränke gesundheitliche, wirtschaftliche
und sittliche Nachteile; er schä
Nachwuchs.“
igt die Keimzellen und beeinträchtigt den
Um die Verbindung mit seinen früheren Pfleglingen aufrechtzuerhalten,
ab die Heilstätte Lintorf von Februar 1904 bis August 1914 ein eigenes
orrespondenzblatt heraus. Das im Weltkrieg entschlafene Blatt ist
Weihnachten 1925 zu neuem Leben erwacht.
Am 21. 12. 25 starb — 90 Jahre alt — Frl. Ottilie Hoffmannn
Bremen, die Veteranin der deutschen Alkoholgegnerbewegung. Ihr ist ein
Aufsatz in dem vorliegenden Hefte der „Alkoholfrage‘ gewidmet.
C. Ausanderen Ländern.
Afrika. Im Ronagebiet in Südafrika besteht ein Blaukreuz-
Bund, dem 1924 240, 1925 416 Mitglieder angehörten (und zwar 14 Missio-
nare, 12 Missionsschwestern, 2 eingeborene Prediger, 33 Evangelisten, 1%
eingeborene Männer und 169 eingeborene Frauen); eine neue Abteilung isi
in Shilovane (Transvaal) gestiftet. („De Wereldstr.“ 1926, No. 1.)
Belgien. Die Belgischen Enthaltsamkeitsvereine hielten
ihren Kongreß 17. und 18. 10. in Lüttich ab. U. a. führte Boulenger über die
Wirkung des Gesetzes vom 28. 8. 1919 aus: Der Alkoholismus an gebrannten
Getränken ist seit 1920 stehen geblieben, der an Bier und Wein hat seitdem
zugenommen. —
Cuba. In 6000 Schulen ist Antialkoholunterricht; der Leit
faden von Miß Stoddard (Boston) wurde ins Spanische übersetzt. („Schw
Abst.“ No. 15.)
Dänemark. Der Verband dänischer Enthaltsamkeits-
y i an umfaßt jetzt 34 Enthaltsamkeits-Hotels in 28 Orten. (,„Folke-Vennen"
r. 18.
‚ Der Dichter Harald Bergstedt hat zusammen mit Larsen-Lede!
einen Roman geschrieben, der das dänische Trinkleben geißelt und, zumal als
„Schlüsselroman“, ungeheures Aufsehen und bei den Älkoholfreunden einen
Sturm der Entrüstung erregt hat. Der Roman, der bereits die 2. Auflage und
eine schwedische Uebersetzung erlebt hat, wird voraussichtlich auch in deut-
scher Sprache erscheinen.
Estland. Auf dem Sozialistenkongreß dieses Jahres wurde
beschlossen Temperenz und Prohibition ins Parteiprogramm aufzunehmen.
(„The Int. Rec.“ o. 36.)
Stubbe, Chronik. 35
Finnland. Nach Angaben des finnländischen Oberzollamts sind
den ersten 9 Monaten 1925 i. gz. beschlagnahmt: 374768 ] Spiritus,
81 Flaschen Kognak, 2885 Flaschen Whisky, 3048 Flaschen Wein, 300
aschen Champagner. („Der Kämpfer“ Nr. 14.)
Die Verbrechen gegen Person und Eigentum haben sich unter dem Verbot
ark verringert; sie betragen
von 1906 bis 1910 durchschnittlich 1705
von 1911 bis 1925 or 1091
im Jahre 1919. . . 2... 2 22 nn 00.0. 55
Te 1920... 8 dere ee ae 72
0 1921. 3: 2-2. 3.2 2 Eee 023
ee’ 1922... 3... % <... 145
Wenn trotzdem gewisse Vergehen und Verbrechen, z. B. Morde, in
innland verhältnismäßig häufiger vorkommen als in den rein skandinavischen
ändern, so ist das auf die große Verschiedenheit der Rasse und der Ver-
ältnisse (z. B. Nachwehen des Bürgerkrieges) zurückzuführen.
Frankreich. Das Land, wo der W ein am billigsten und oft leichter
rhältlich ist als frisches Wasser, ist auch das Land der meisten
.isenbahnkatastrophen. 1923 kamen dort 27, 1924 39, im ersten
lalbjahr 1925 bereits 50 Menschen um. „Sicher würden die Signale von
\bstinenten weniger häufig übersehen.“ (Schw. Abst.“)
195 gibts in Frankreich.8000 Wirtschaften mehr als im Vorjahr;
lie Gesamtzahl beträgt 460 274, d. h. 1 auf 90 Personen. (,„Wereldstr.‘“ No. 49.)
_, Anläßlich des 100jährigen Jubiläums der Erfindungen des Chemikers
-hevreul wird darauf aufmerksam gemacht, daß dieser gaer und volks-
reundliche Mann sein Leben lang Abstinent war und 103 Jahre alt wurde.
(Schw. Abst.“ No. 22.)
DieLigueNationalecontre l’alcoolisme hielt ihre General-
‚ersammlung 24. und 25. Oktober in Laon. Gärungslose Früchteverwertung
nd Te Filmvorführung standen im Vordergrund. („L’E’t. BI.“
No, 11.
‚ Der Verein vom Blauen Kreuz in Straßburg feierte 25. 10.
sim Wjähriges Bestehen.
Anläßlich der Tagung der Guttemplergroßloge in Paris 3. 10.
sprachen Vertreter von 12 verschiedenen Organisationen über „Frau und Kind
im Kampfe gegen den Alkohol“. („Rev. ant. et hyg.“ No. 9—10.)
Großbritannien. Miß Slack ist zur Vorsitzenden der Natio-
nalen britischen Frauen-Temperenzgesellschaft gewählt
worden; die Nat. Brit. Wom. Temp. Ass. hat in einem Jähre um 10 117 Mit-
glieder gewonnen und zählt jetzt 143 019. (The Int. Rec.“ No. 35.)
‚ Die United Kingdom Alliance veranstaltet in diesem Winter .
emen „Feldzug“ in England und Wales zugunsten des Gemeindebestimmungs-
rechts. Die erste große Versammlung ist in der Freihandelshalle in Manchester
19. 10. abgehalten. („Clipsh.“ des meth. Board of Temp.“ 26. 10.) Dort kam
Lloyd George mit zu Wort. Er erklärte u. a., daß nach seiner Ansicht die
Vereinigten Staaten ihren wirtschaftlichen Aufschwung vor allem der Prohi-
tion verdanken, während England seine schlechte Handelsbilanz dem Um-
stand zuschreiben müsse, daß es jährlich 316 Millionen Pfd. St. für Spirituosen
ausgebe. („Schw. Abst.“ No. 23.)
Auf sozialistischen Antrag hat der Gemeinderat von Glasgow
ast einstimmig beschlossen, von allen Gemeindeveranstaltungen den Alkohol
auszuschalten. („Schw. Abst.“ No. 23.) l
hä Dank einer großzügigen Aufklärungskampagne der Obst-
„adler ist in England 1924 1 Million Pfund Obst mehr verzehrt worden
as im Vorjahre. („Frht.“ No. 18.)
ein Licensing Statistics für England und Wales ergeben für 1924
inen Rückgang von 493 Schankstellen, aber eine Zunahme von 38 Klein-
3°
u
36 Stubbe, Chronik.
verkaufstellen und von 345 Klubs mit Verkaufsrecht für alkoholische Getränke;
es gab Ende 1924 auf 10000 Einwohner 16,68 Schankstätten, 5,11 Klein-
verkaufstellen und 2,65 Klubs. Wegen Trunkenheit wurden 79 082 Personen
Me von 16 % Frauen) gegen 77094 im Vorjahre. („Int. Ztschr. g.
d. A.“ No. 6.
Italien. Mussolini äußerte sich gegenüber Lady Drumont Hay.
der Sonderberichterstatterin des „Daily Expreß“, über die Alkoholfrage:
„Verbot? Warum soll ich andere Leute ihres persönlichen Vergnügens be-
rauben? Etwa, weil ich selbst seit 10 Jahren keinen Alkohol genossen hab’
Das ist kein Grund. Ich werde aber ein Gesetz befürworten, das die
heranwachsende Generation vor den zerstörenden Folgen des
Alkohols bewahren soll.“ („Schw. Abst.“ No. 19.)
Lettland. Für 1926 sollen rund 40 WeinhandlungeninRiga
keine neue Konzesion erhalten. („Der Kämpfer“ No. 14.)
Litauen. 21. 12. 25 beschloß der Seim eine Abänderung des Gesetzes
über den Kleinverkauf von Alkoholgetränken. Nach § 1 werden die-
jenigen Getränke, welche über 2% Alkohol enthalten, zu den stark alk-
olischen Getränken gerechnet. Nach 8 5 wird der Verkauf von Bier, Porter.
Met und einheimischem Wein in den Klubs gestattet. — In den Verhandlungen
kündigte Titjunaitis (Christl. Dem.) die Bildung einer alkoholgegnerischer
Einheitsfront an; Frau Gwildiew (Chr. Dem.) forderte, daß die abgefaßien
Betrunkenen photographiert und Name und Photographie öffentlich bekannt-
gegeben würden. („Memel. Dampfb.“ 25. 12.)
Niederlande. In den Staatshaushaltsplan für 1926 ist en
Betrag von 75000 Fr. zur Bekämpfung des Alkoholismus eingestellt. (.D:
Bl. V.“ No. 39.)
Hunderte kleiner Gewerbebetriebe inSchiedam sind zugrund:
gegangen, aber mehrere Großbetriebe blühen. Z. B. hat die Firma Melcher:
einen Betonbehälter von 600 000 1 Inhalt (in 4 Abteilungen geteilt), — den
prosen Geneverbehälter der Welt — und Hollandia einen Solchen für 100000.
erstellen lassen. („De Geheelonth.“ No. 36
Der Volksbund hat den Justizminister um strafrechtliche Bestin-
en ersucht, durch die besserungsfähige Trinker gezwungen
werden können, sich einer Behandlung zu unterziehen, die zur Genesung
führen kann. (‚De Blauwe Vaan“ No. 45.)
Norwegen. Die norwegische Regierung hateine provisorische Verordnung
erlassen, durch die dieStrafbestimmungen gegen den Schmugge!
erheblich verschärft werden. Bisher konnten Zoll und Polizei die
Sermi gpler erst dann anhalten, wenn sich diese auf der Rückfahrt von den
außerhalb der Territorialgrenze liegenden größeren Spritfahrzeugen befanden.
also bereits geschmuggelt hatten. Nach der neuen Verordnung kann Geldstrate
oder Gefängnis bis zu drei Monaten verhängt werden gegen Personen, die
„unter verdächtigen Umständen Verbindung mit den Spritfahrzeugen außerhalb
der Territorialgrenze suchen“. („K. Ztg.“ 1. 12. 25.)
~ Der Norwegische Verein abstinenter Studierender hát
im Jahre 1924/25 um 25 % zugenommen; 6 neue Ortsgruppen wurden be-
gründet. Die Mitgliederzahl wuchs von 808 auf 1001. („Frht.“ No. 16.)
Dr. J} Scharffenbe rg hat im Auftrage der Kommission für Alkobol-
t verfaßt, welche die Hauptangaben über Alko-
unterricht eine Flugschri
holverbrauch, Verhaftungen wegen Trunkenheit, en e Bestimmungen und
r eo der Volksabstimmung von 1919 enthält. („Int. Ztschr. g. d. A”
elt 0.
Oesterreich. Auf dem Delegiertentag der sozialistischen
Studenten Oesterreichs im Floridsdorfer Arbeiterheim wurde der
von den Mittelschülern gestellte Antrag, Rauchen und Trinken am Delegierten-
tag zu verbieten, mit großer Mehrheit angenommen. („Der Abst.“ Nr. 5-1.)
zu
Stubbe, Chronik. 37
„Polizeiliche Einschreitungen“ erfolgten in Wien während
des Februars 1925 an Sonntagen 290 (davon „Beanstandungen“ wegen Ein-
wirkung des Alkohols 200), an Montagen 288 (197 alk.), an Dinstagen 239
(152 alk.), an Mittwochen 255 (169 alk.), an Donnerstagen (Lohnauszahlungs-
tag) 294 (191 alk.), an Freitagen 264 (156 alk.), an Samstagen (Hauptlohntag)
406 (288 alk.). („Der Abst. Nr. 5—7.)
Die Turnerjugend des Steinfeldgaus hielt ihr erstes Jugend-
treffen in Sauerbrunn im Burgenlande. Das ganze Turnfest war alkoholfrei.
(„Deutsche Gemeinsch.“ H. 6—7.)
Mit dem gutbesuchten Bundestag der Deutschen Gemein-
schaft für alkoholfreie Kultur in Spittal an der Drau war eine
Alkoholgegnerwoche verbunden. — Broschek, der vor zwei Jahren die Bundes-
oaa rdr in Wien a Mr seither geleitet und besonders durch För-
rung der gärungslosen Früchteverwertung sich verdient gemacht hat, tritt
von seiner Führerstelle zurück, da er nach Meran verzieht. (Ebenda.)
Polen. Der Polnische Kongreß gegen den Alkoholismus fand 25. bis
21.9. in Kattowitz statt. Es gab ee ne für Lehrer, Priester,
Eisenbahner, Polizeibeamte und Studenten. („De Bl. V.“ No. 42.)
Schweden. Mitte Juli hielt der Verband „Schwedens Gut-
templer-Jungmannschaft“ in Oestersund seine Jahresversamm-
Jung ab. Der Verband zählte 1. 1. 1925 8613 Mitglieder in 159 Ortegruppen,
außerdem 100 unmittelbar angeschlossene Jungmannschaftler. Besondere Pflege
hat man den Volkstänzen gewidmet. Die Jahresversammlung beschloß
die Bildung einer besonderen Abteilung „Sport und Volkstänze“, „eingedenk
der Statuten, die die Verediung des Vergnügungslebens als eine der vor-
nehmsten Aufgaben der Guttempler-Jungmannschaft bezeichnen“. (,„Schw.
Abst.“ No. 17.
Der Verein studierender Abstinenten stellte auf seiner
Jahresversammlung ein Wachstum um 8% im letzten Jahre fest; er hat
135 De kuppen und stieg von 4140 auf 4460 Mitglieder. (,„Frht.“ No. 16.)
‚ Der Vereinenthaltsamer Eisenbahner zählte im August 2442
Mitglieder in 74 Abteilungen; 1924 wurden 322 Versammlungen und 35 Fest-
versammlungen abgehalten. Vom Staate gab es 1000 Kr., von der Eisenbahn-
u 500 Kr., von der Fachorganisation 500 Kr. Zuschuß. („Het Veil.
p.“ No. 8.)
Schweiz. Das alkoholfreie Züricher Volkshaus am Helvetia-
platz schloß die Betriebsrechnung für 1924 mit 23531 Fr. Ueberschuß ab.
(„Der Abst.“ No. 5—7.)
‚ Am Kraftwerk Wäggital A.-G. ist auf jeder der drei Baustellen.
ène alkoholfreie Wirtschaft eingerichtet; die erste wurde 1922 begründet.
Ihre Führung ist dem Schweizer Verband Volksdiepst übertragen. („Die Ge-
meindestube“ Nr. 17.)
, Der „Wegweiser durch die alkoholfreien Wirtschaften und Gemeinde-
häuser“ („Gemst.“ Nr. 17) führt — neben den 13 Wirtschaften des Züricher
Frauenvereins für alkoholfreie Wirtschaften in Zürich 38 Wirtschaften in
en der Schweiz auf.
Das neue Verzeichnis der Jugendherbergen in der Schweiz
p beziehen für 30 Rp. von Kern, Oerlikon, Züricherstr. 97), weist über
Herbergen und reichlich 150 Genossenschafter nach.
. Die 2500 Pfadfinder aus allen Teilen des Landes, welche vom 27. 7. bis 4. 8.
m „Ersten Schweizerischen Pfadfinderlager“ auf der
rT Allmand versammelt waren, haben völlig alkoholfrei getagt. („Schw.
Abst“ No. 17.)
Der Verband der Deutsch-schweiz. Jugendbünde vom
Blauen Kreuz zählte 1. 9. 25 81 Sektionen, 1400 Aktivmitglieder, 408
Anhänger Benj., 448 Anhänger über 14 Jahre, 249 Altmitglieder, i. g. 2505
Mitglieder (1924: 2475). („Jünglingsbd.“ No. 12.)
u nn o l e ae ~
38 Stubbe, Chronik.
Pfarrer Marthaler, Gründer der Heilanstalt Nüchtern, ist in Bern
68 Jahre alt 31. 10. gestorben. Er schrieb „Alkoholismus und Charakter-
bildung“. („Frht.‘“ No. 21.)
Während aller Manövertage der 5. Division folgten 2 Last-
wagen der Meilener Alkoholfreie Weine A.-G. von morgen bis abend den
Truppen mit Süßmost und fanden freudige Abnehmer. (,Frht.“ No. 19.)
Die Evangelische Volkspartei hat in Basel eine volle Liste
mit 5 Abstinenten für die Nationalratswahl aufgestellt. (,„Frht.“ No. 19.)
Der Bundesrat hat den Voranschlag der Alkoholverwal-
tung für 1926 genehmigt, welcher einen Einnahmeüberschuß von
5527 000 Fr. vorsieht; davon sollen 80 Rp. auf den Kopf der Bevölkerung an
die Kantone verteilt werden. („Bund“ 24. 10.)
Tschechoslowakei. Die tschechische sozialistische
AD n nro w gung geht auf das Jahr 1909 zurück, entschlummerte
im Weltkrieg und wurde 21. 12. 24 wieder ins Leben gerufen. Anfang 19235
wurde mit der Herausgabe einer Zeitschrift „Zdravy zivot“ begonnen. Auch
in der Slowakei gewinnt die NE Boden. Es bestehen 11 Ortsgruppen,
außerdem sind 300 Mitglieder der Hauptstelle unmittelbar angeschlossen. Di?
Bundeszeitschrift erscheint in einer Auflage von 4000 Stück. („Der Wille“ No. 6.)
VereinigteStaatenvon Amerika. Nach Bericht des öffentlichen
Gesundheitsamts kamen 1900 D 264 000 Vergehen bezügl. Vertrieb
vonOpium, Morphium, Kokain u. dgl. zur Verhandlung, während
1924 die Zahl auf 110 000 sank. („Der Kpfr.“ No. 14.)
In Chicago unternehmen 65 Hotelgesellschaften Erweiterun-
gen und Neubauten im Wert von 65 Millionen Dollar. (Ebenda.)
Kräftig äußert sich der sozialistische Schriftsteller Upton Sin-
clair über den Alkoholkonsum bei der Prohibition: „Wir machen jetzt in
den Vereinigten Staaten einen Versuch mit der Prohibition. Selbstverständlich
ist es unmöglich, in 5 Jahren die Gewohnheiten eines Volkes umzuwandeln
und wir haben daher noch zahlreiche Uebertretungen des Gesetzes zu ver-
zeichnen. Aber es sind nicht die arbeitenden Klassen, welche
sich Alkohol verschaffen, und ich habe gar nichts dagegen einzuwenden, wenn
ein Teil der Faulenzerklasse entschlossen ist, sich selbst zu vernichten.“ („Der
Wille“ No. 8.)
Der Verbrauch von Zucker und Zuckerwerk hat unter der Prohibition
gewaltig zugenommen. Die Zuckerfabrikanten wollen jetzt jährlich 500 000 Dollar
e aufwenden, um großzügige nationale Reklame für Zuckerverzehr zu treiben.
(„Cliph.“ des method. Board of Temp.“ 13. 7.)
Auf der Jahreskonferenz der NationalProbationAssociatioı
in Denver erklärte der Generalsekretär dieser Gesellschaft, Charles L. Chute:
„Verbrechen Jugendlicher haben in den Vereinigten Staaten abgenommen, sei!
die Prohibition in Kraft trat. Die Gesamtzahl von Gesetzesverletzungen aller
Art unter Jugendlichen ist ständig zurückgegangen, seit das nationale Alkohol-
verbot wirksam wurde.“ (Dgl. 21. 9.)
Frank A.Dudley,der Vorsitzende der United Hotel Company
von Amerika und der American Hotel Association, erklärt: Man
nahm an, daß das 18. Amendement das Hotelgeschäft vernichten werde. Nichts
der Art sei eingetreten. Aber der Hotelbetrieb sei jetzt eine „Wissenschaft“
(a Science) geworden; das alte Schlumpen sei vorbei. „Ein Hotel muß, um
einen Verdienst abzuwerfen, genau nach denselben kaufmännischen Grund-
De werden wie irgend ein anderer kaufmännischer Konzert.
gl. 12. 10.
‚ Die größte VersammlungderAntisaloon-Liga seit 12 Jahren
(in Columbus) wurde im November in Chicago in der ersten Methodisten-
Stubbe, Chronik. 39
kirche genen. Eine Reihe von Entschließungen wurde gefaßt, u. a. hieß es:
„Die Antisaloon-Liga muß und will ihr großes Erziehungswerk für Voll-
enthaltsamkeit fortführen, und a gilt es vor allem, auf Achtung vor dem
Gesetz zu dringen. („The Am. issue“ No. 11.)
Die Behörden in Maryland haben angeordnet, daß Motor-
führer für Angetrunkenheit 1000 Dollar Strafe zu zahlen haben. (,20 Cent.
Progr.“ Nr. 5.)
In New York wird jeder Betrunkene, der am Abend oder in der
Nacht eingeliefert wird, photographiert. Am nächsten Morgen wird
ihn außer der Quittung über 5 Dollar sein Bild übergeben, was sehr
ernüchternd wirken soll. (,„Ill. Arbrfrnd.“ No. 11.)
Viele en haben mitgeteilt, daß der Kongreß der Vereinigten
Staaten die Au BPUnE des Alkoholverbots beschlossen habe.
Andere berichten nur, daß der Widerstand gegen das Alkoholverbot im
Kongreß von Tag zu Tag mehr Boden gewinne, daß der mit so viel Wucht
onnene Kamp? gegen den Schmuggel zu lächerlichen Ergebnissen führe,
daß die Gerichtshöfe sehr oft solche Leute freisprechen, die.der Uebertretung
des Alkoholverbotes überführt werden, daß in keinem Lande die Zahl der
Trunksuchtsfälle bei Frauen so groß ist wie in den Vereinigten Staaten. —
Auf eine telegraphische Anfrage des Internationalen Bureaus gegen den Alko-
holismus in Lausanne hat James E. Jones, Direktor der Alkoholverbots-
abteilung in Washington, folgendes Kabeltelegramm gesandt: „Die in Europa
veröffentlichten Berichte gegen das Alkoholverbot sind nichts als Propaganda.
In der entscheidenden AB Ummung vom 22. Dezember hat sich der Kongreß
mit 139 Stimmen gegen 17 für das Alkoholverbot ausgesprochen. er
Schmuggel nimmt stark ab. Es ist selten, daß wir betrunkene Frauen zu
verhaften haben. Die von den Gerichtshöfen ausgesprochenen Strafurteile
lauten immer strenger.“ („Int. Bur. z. B. d. A.“ Bull. No. 19.)
Mitteilungen.
. 1. Aus Landesversicherungsanstalten.
Aus dem Verwaltungsbericht der Landesversicherungsanstalt
Westfalen für das Geschäftsjahr 1924.*)
In den Richtlinien, die als dee Asa für die bei der Durchführung
von Heilverfahren Beteiligten aufgestellt wurden, heißt es mit Bezug aví
unsere Frage: „Mit Trinkern werden Heilverfahren nur durchgeführt, wenn
besonders günstige Heilungsaussichten bestehen, und wenn mindestens die
Hälfte der Kosten von anderer Seite (Wohlfahrtsamt usw.) übernommen wird.“
Ferner ist darin gesagt, daß die Landesversicherungsanstalt gemäß § 1214
RVO. Beihilfen unter anderem an Trinkerfürsorgestellen, sowie an Vereine,
en Bestreben der allgemeinen Volksgesundheit und Volkswohlfahrt dient.
ähre.
EFT Dem Abschnitt „Fürsorgestellen für Alkoholkranke“ sind folgende Mit-
teillungen zu entnehmen: Unterstützt wurden 17 Fürsorgestellen mit zusammen
6148 M. — 7 mehr als im Vorjahr —, mehrere Fürsorgestellen, die ihre
Tätigkeit in der Geldentwertungszeit wegen Mangels an Mitteln eingestelli
hatten, haben sie wiederaufgenommen. „Wenn auch die wirtschaftliche Not
groß ist, so hat sie doch leider keine Abnahme der Trunksucht
gebracht, in sämtlichen Berichten der Trinkerfürsorgestellen wird hervor-
gehoben, daß die Trunksucht zugenommen habe. Das ist ein bedauerliches
und ernstes Zeichen für unser Volk.“ Sehr richtig wird beigefügt: „Es ist
unsere besondere Pflicht, Fürsorgestellen, die im Verein mit den alkohol-
gegnerischen Vereinen die Fürsorge größtenteils durch ehrenamtlich
tätige Kräfte ausüben, ganz erheblich zur Seite zu stehen, damit sie in
ihrer Tätigkeit nicht erlahmen, sondern sie weiter ausbauen und neu beleben.“
Auch die Ruhrknappschaft in Bochum, als Trägerin der Ver-
sicherung für die Bergarbeiter, hat der Westfälischen Zentrale der Trinker-
fürsorge wieder eine Beihilfe von 5000 M überwiesen zur Verteilung an die
Trinkerfürsorgestellen des rheinisch-westfälischen Bergbaubezirks; sie erkennt
damit die Wichtigkeit dieser Fürsorge erneut an.
Die genannte Zentrale wird geleitet von einem A ss des Vorstands
der L. V. A., und ihre Geschäftsstelle befindet sich in dieser, von der sie
auch im Berichtsjahr mit 500 M unterstützt wurde.
Die L. V. A. hat, vorläufig versuchsweise, in Fällen, in denen die Unter-
bringung in einer Heilanstalt sichere Aussicht auf Besserung bot, sich wieder
an Heilverfahren für Trinker beteiligt. ‚Leider konnten wir mit
Rücksicht auf unsere Wirtschaftslage das Trinkerheilverfahren nicht in dem
Umfange wie vor dem Kriege durchführen ... . Die Dauererfolge erscheinen
in vielen Fällen zweifelhaft; sie hängen wesentlich von der Tätigkeit guter
Fürsorgestellen ab.“
In dem Bericht der Geschäftsstelle Lippspringe wird erwähnt: „Das
sittliche Verhalten der Kranken war im allgemeinen als gut zu bezeichnen.
Nur am Jahresschluß schien es, als ob wir Trinker in großer Zahl hier
hätten. Strafweise Entlassungen erfolgten in 8 Fällen, durchweg wegen
Trunkenheit bzw. Ausschreitungen infolge Trunkenheit.“ Fl.
*) Kürzlich erschienen.
Mitteilungen. 41
Trinkerfürsorge der Landesversicherungsanstalt Schlesien.
Nach dem Geschäftsbericht für das Rechnungsjahr 1924 befanden sich
am Ende des Jahres 1923 keine Versicherten mehr in Heilbehandlung und
sind im Jahre 1924 wegen der schlechten Geldlage der Landesversicherungs-
anstalt keine Heilverfahren für Trunksüchtige durchgeführt worden.
Von den in den Jahren 1920—1923 mit Erfolg einem Heilverfahren Unter-
enen wurden 27 kontrolliert, um festzustellen, ob und welchen anhaltenden
Eriolg die Heilstättenbehandlung hatte. Diese ung geschieht un-
auffällig durch jährliche Nachfrage bei den Fürsorgestellen, Trinkerrettungs-
vereinen, Trinkerheilanstalten und Vertrauenspersonen. In 6 Fällen ergab
sich Rückfälligkeit, und zwar wurde diese festgestellt in 1 Falle nach 8 Mo-
naten, in 2 Fällen nach 1% sn in je 1 Falle nach 2, 2%, 2% Jahren.
Hiernach ist in 21 von 27 Fällen — 77,7 v. H. ein Dauererfolg erzielt worden.
Von 21 Gebesserten gehörten 7 einem Enthaltsamkeitsverein an. FI.
2. Aus der Trinkerfürsorge.
Oeffentliche Trinkerfürsorgestelle Lübeck.
Die Trinkerfürsorgestelle hat im Jahre 1925 58 Fälle, darunter 38 neue,
tearbeitet. Der Fürsorger machte 850 Hausbesuche, die Sprechstunde wurde
280mal von Ratsuchenden in Anspruch genommen. Entmündigt sind 6 Trunk-
süchtige, ebenso viele wurden einer Heilanstalt zugeführt. 4 Trinker traten
dem Guttemplerorden, 3 dem Blaukreuzverein bei. Mit 4 Ausnahmen waren
alle neu gemeldeten Trinker verheiratet. Dem Berufe nach waren 7 selb-
ständige Gewerbetreibende, 4 kaufmännische Angestellte, 8 gelernte und 16
ungelernte Arbeiter, sowie 3 Berufslose. Die sozial niedrigste Bevölkerungs-
schicht stellt demnach die meisten Trinker. Der Branntweintrinker ist am
schwersten zu heilen, immer wieder fällt er ın seine Leidenschaft zurück.
Das erstrebte Trinkerfürsorgegesetz wird hoffentlich eine in der Trinker-
fürsorge oft empfundene Lücke in der Ger zgr sung schließen, so daß es
künftig möglich sein wird, auch gegen nicht entmündigte Trinker mit
Zwangsmaßnahmen vorzugehen.
Die Trinkerfürsorge in Baden im Jahre 1924.
„Auf allen Trinkerfürsorgestellen ist ein starkes Anwachsen der Fälle
zu verzeichnen“ — heißt es im Geschäftsbericht des Badischen Landesverbandes
gegen den Alkoholismus für das Jahr 1924 —, „ein Beweis für die Zunahme
es Alkoholismus und zugleich für die Mangelhaftigkeit der bisherigen vor-
beugenden Gegenmaßnahmen durch Gesetz ebung und Erziehung, eine
Tatsache, die im Hinblick auf die geschwächte wirtschaftliche, körperliche
und moralische Widerstandskraft unseres Volkes um so bedenklicher ist“.
Ein Vergleich der Neuanmeldungen in a 1924 und 1923 veranschau-
licht obige Angabe (die eingeklammerten Zahlen beziehen sich je auf 1923):
Mannheim 615 (286), Pforzheim 110 (83), Karlsruhe 107 (77), Konstanz 96 (98
— hier zufälliger kleiner Rückgang), Freiburg 89 (72), Heidelberg 66 (52). Die
amtzahl der Neuanmeldungen im Berichtsjahr beträgt 1083, darunter
Frauen. Zusammen sind in diesen verschiedenen Fürsorgestellen bis jetzt
ee nicht weniger als 6581 Personen, wovon in Mannheim 3118, in
arlsruhe 1088, in Pforzheim 830, in Freiburg 804. In laufender Fürsorge
standen 1924 3224, wovon in Mannheim 2000, in Freiburg 342, in
Konstanz 301, in Pforzheim 296, in Heidelberg 285. Dabei werden — aus
naheliegenden Gründen — bei weitem nicht alle der Bearbeitung bedürftigen
älle von der Trinkerfürsorge erfaßt; auch war z. B. in Pforzheim der
Lanorger bis Oktober 1924 nur in beschränktem Maße für die Trinkerfürsorge
Sprechstundenbesuche fanden insgesamt 7069 statt, wovon in Mannheim
3410, in Konstanz 1567, in Freiburg 1182. Trinkerbesuche wurden 4106
42 Mitteilungen.
gemacht. Vormundschaften und Pilegschaften wurden angeregt 68, geführt 92,
m A überwiesen 236 Fälle, polizeiliche Maßnahmen angeregt in
ällen.
Seit 1. Juli 1924 dient die Heilstätte des Bad. Landesverbandes g. d. A.
Renchen wieder restlos ihrem ursprünglichen Zweck als Trinkerheilanstalt:
zur Zeit der Abfassung des Berichts hatte sie 16 Pfileglinge. fl.
Frauengruppe für Trinkerfürsorge in Stuttgart.
In der A edera Kasse Landeshauptstadt hat sich zur Unterstützung
der Trinkerfürsorgestelle des Bezirksvereins gegen den Alkoholismus und
ihrer Berufsfürsorgerin eine Frauengruppe gebildet, die sich bis jetzt günstig
entwickelt hat und als wertvolle Hilfstruppe bewährt. „Eine gro Er-
leichterung für die Berufsfürsorgerin“, schreibt die letztere selbst. Insbesondere
leistet die Gruppe äußere, wirtschaftliche Hilfsdienste für die Trinkerfrauen
und -kinder. Es ist eine Hauptaufgabe für sie, „bei sich und ihren Bekannten
etragene, noch gut erhaltene Kleider und Schuhe hervorzusuchen und sie
er Fürsorgerin zu bringen.“ Von gesammelten Geldgaben werden Lebens-
mittel und Stoffe zu Wäsche gekauft, diese zum Teil selbst genäht. e
Woche einmal kommen die Helferinnen zusammen, um sich von der Für-
sorgerin „über das namenlose Elend unter den Trinkerinnen und Trinker-
familien“ und aus ihren Erfahrungen in Ausübung der Fürsorgetätigkeit
erzählen zu lassen. Einmal im Monat werden Trinkerinnen „zu einem kleinen
Kaffeefestchen‘‘ eingeladen, bei dem gut ausgewählte, für die Hausfrauen
wertvolle kleine Geschichten erzählt, musikalische Darbietungen gegeben
werden und das Beisammensein ausmündet in religiöse (biblische) Sammlung
und Vertiefung. Fl.
Die Heilstätte für Trinkerinnen in Wassenberg.
Im Rheinland, zwischen M.-Gladbach und Aachen, liegt, durch die
natürliche Lage schon ihrem Zweck dienend, auf einer Höhe, rings von Wald
umgeben, die Heilstäte Marienheim in Wassenberg. Von der Station
Wassenberg ist sie zu Fuß in 20 Minuten zu erreichen. Pater Anno
Neumann, der verdienstvolle Vorkämpfer für die katholische Abstinenz-
bewegung, hat diese Anstalt dem Zweck der Heilung für weibliche Trinke-
rinnen zugeführt. Es ist heute die einzige katholische Heilanstalt
für weibliche Trinkerinnen in Rheinland und Westfalen. Und sie steht
in starker Gefahr, uns genommen zu werden! Was dieser
Verlust bedeuten würde, begreifen alle die, die in der Trinkerfürsorgearbeit
stehen und wissen, wie die Irunksucht beim weiblichen Geschlecht, besonders
in den besseren Ständen, zugenommen hat.
Es gilt jetzt, den Kampf aufzunehmen und das Marienheim seinem ur-
sprünglichen Zweck zu erhalten!
Der Krieg, der in der Heimat das Alkoholelend verminderte, brachte es
mit sich, daß auch das Marienheim Erholungszwecken dienen mußte und
auch nach dem Kriege noch diente. Die Trinkertürsorgestellen lebten auch nur
schwach oder gingen ganz ein. Und den neu eingerichteten Stellen ist die
Anstalt kaum bekannt. Daher ist sie heute trotz der zunehmenden Zahl an
weiblichen Trinkerinnen nur zu einem Drittel belegt. Das veranlaßt das
Städtchen Wassenberg, mit geldlichen Anerbietungen an die Oberin heran-
zutreten, die die Heilstätte in ein Krankenhaus umwandeln sollen. Die Ver-
handlungen darüber dauern an. Die Schwestern halten grundsätzlich daran
fest, ihr Haus dem ursprünglichen Zweck zu erhalten. Aber die Geldnot ist
roß und Hilfe tut not. Die beste Hilfe ist die Vollbelegung der Anstalt.
ann kann sie erhalten bleiben. 45—50 Betten sind vorhanden, die sich auf
drei Klassen verteilen. Davon sind elf heute nur belegt.
Ich richte deshalb an alle Trinkerfürsorgestellen die dringende Bitte,
ihre katholischen Patientinnen, soweit sie anstaltsbedürftig sind, der Heil-
anstalt in Wassenberg zuzuführen, damit durch eine Vollbelegung die Anstalt
Mitteilungen. 43
wieder lebensfähig wird. Es ist auch angebracht, der Oberin jetzt schon Mit-
teilung zu machen, in welcher Weise man mit ihr zu arbeiten gewillt ist,
damit sie gegenüber den immer dringender werdenden Anerbieten des Städt-
chens Wassenberg einerseits und der finanziellen Not der Anstalt andrerseits,
Unterlagen für die Zukunft besitzt. Vor einigen Wochen habe ich einige Tage
in der Anstalt geweilt, um an Ort und Stelle Einsicht in die Verhältnisse zu
nehmen, und zu dem Zwecke mit den Schwestern und den Patientinnen ge-
arbeitet. Ich kann daher aus praktischer Ueberzeugung sagen, unsere weib-
lichen Alkoholkranken sind in dieser Anstalt an Leib und Seele geborgen.
Anfragen sind zu richten an die Oberin in Wassenberg, Rhein-
land, Sanatorium Marienheim. l
Schnelle Hilfeistdiebeste! M. L. FloBß.
3, Aus Vereinen.
Zehn Jahre praktische Frauenarbeit
zur Bekämpfung des Alkoholismus.
Der Königsberger Frauenverein für alkoholfreie Volksspeisehäuser hat
kürzlich unter obigem Titel einen ausführlichen, mit Bildern geschmückten
Bericht für die Jahre 1915—25 veröffentlicht, der in ein Jahrzehnt von Arbeit,
reich an Sorgen und Mühen, aber auch an Erfolgen einen fesselnden Einblick
tun läßt. Die Gründung eines „alkoholfreien Kaffee- und Speisehauses Zur
weißen Schleife“ durch Frau Ida Wittschell im Jahre 1912 mit Hilfe der
Königsberger Ortsgruppe des Bundes abstinenter Frauen bildete den Aus-
angspunkt. Als dieses Unternehmen, und ebenso die Leitung alkoholfreier
Idatenrasten, die im Jahre 1914 letzterem Verein übertragen wurde, sich über
Erwarten günstig entwickelte, führte der Wunsch, auch der übrigen Be-
völkerung die Wohltat alkoholfreier Gaststätten in größerem Maßstabe zu
gewähren, zur Gründung des berichterstattenden Vereins im Dezember 1915
mit Frau Else Migge als Vorsitzender, Frau Wittschell als 2. Vorsitzender
und gleichzeitiger Leiterin des Betriebsvorstandes. Diese unterrichtete sich
bald darauf durch Augenschein über die Organisation des mustergebenden
Züricher Frauenvereins für alkoholfreie Wirtschaften und die Einrichtung
seiner Betriebe.
Mit einem zinsfreien Darlehen von rund 10000 M, worunter 6000 durch
den damaligen Oberpräsidenten von Batocki, 2000 vom Vaterländischen
Frauenverein, ging’s ans Werk. Der durch den großen Umsatz bei bescheidenen
reisen erzielte geldliche Erfolg der beiden ersten, im Frühjahr und Herbst
1916 errichteten Speisehäuser ermöglichte die Rückzahlung der Kapitalien und
die Inangriffnahme der Einrichtung weiterer Betriebe. ai 1917 wurde mit
schon viel behaglicherer Einrichtung das 3. Speisehaus (Vorstadt nahe bein
Bahnhof, mit viel Provinzbesuch) eröffnet, dem im Laufe des Jahres 1918 zwei
weitere folgten. 1919 konnte dann das Grundstück des 2., umsatzreichen
Speisehauses käuflich erworben werden. 1920 folgte als 6. Betrieb ein solcher
(„Saisonbetrieb“) im Ostseebad Cranz, Juli 1921 die 7. und 8. Einrichtung.
1922 wurde an Stelle eines früheren Speisehauses des Vereins, das wegen
Veränderung der äußeren Verhältnisse aufgegeben werden mußte, an anderer
Stelle ein neues, hauptsächlich von Hafenarbeitern benutztes, eingerichtet, in
dem auch zehrfreier Aufenthalt gestattet wird. Der 9. Betrieb, ein 1923
eröffnetes zweites Lokal im Hafenbezirk, mußte nach Beendigung des Hafen-
baues nach einiger Zeit leider gleichfalls infolge ungünstiger äußerer Umstände
schlossen werden. 1924 wurde aber als nunmehriges 9. Lokal ein Ledigen-
eim im ehemaligen städtischen Waisenhaus aufgetan, in dem 80 männliche
Personen aller Stände billige, saubere und behagliche Unterkunft über Nacht
oder für längere Zeit finden, und das stets voll besetzt ist. Ein saalartiges
Zimmer darin ist als Festraum eingerichtet und wird gern von Vereinen zu
einen Veranstaltungen und Versammlungen benutzt, dient andererseits für
44 Mitteilungen.
die Unterhaltungsabende für die Heiminsassen und für die Feste für die
Angestellten des Vereins.
Eine Uebersicht über die im Berichtszeitraum ee Mittagessen,
Abendessen und Suppen gibt ein für die einzelnen Jahre und Betriebe unter
sich ziemlich verschiedenes Bild, das aber für alle Fälle zeigt, daß diese einen
. groBen Umsatz haben und einem dringenden Bedürfnis nn Aller-
dings äußert sich seit der Festigung der Währungsverhältnisse gegen
Ende 1923 die Notlage weiter Bevölkerungskreise im Zurückgehen der
sucherzahlen; erst neuerdings heben sich diese wieder.
1921 war auch die Bewirtschaftung der drei Milchhäuschen des Bezirks-
vereins gegen den Alkoholismus übernommen worden, sie mußten aber 1924
wieder aufgegeben werden.
Die Grundsätze und Ziele des Werkes werden im Bericht selbst
durch folgende Sätze gekennzeichnet: „Wir wollen nicht, wie uns vielfach
unterstellt wird, nur durch Billigkeit das Publikum anlocken und eine billige
Speisegelegenheit nach Art der Volksküchen bieten, sondern wir wollen
durch unsere Speisehäuser eine Konkurrenz der Alkoholbetriebe sein und
für den Gedanken des alkoholfreien Gasthauses werben. Wir wünschen, daß
alle Kreise der Bevölkerung sich heimisch in unseren Betrieben fühlen und
ern darin verweilen. Darum wollen wir sowohl einfache Gaststätten, in
enen sich der schlichte Mann wohl fühlt, als auch Speisehäuser einrichten, die
einem verwöhnteren Geschmack genügen. Die widrigen Verhältnisse der
Kriegs- und Inflationszeit haben sich der Erreichung dieses Zieles hindernd in
den Weg gestellt; doch versuchen wir jetzt der Verwirklichung unserer Pläne
näherzukommen . . . Eine Forderung allerdings wird an alle Betriebe gleich-
mäßig gestellt: Das Lokal muß zweckmäßig eingerichtet, hell und freundlich
sein,-die Tische sauber gedeckt, die Bedienung aufmerksam und liebenswürdig.“
Auf große Auswahl an Speisen, wie an alkoholfreien Getränken wird gehalten,
unter rund zwei Dutzend heißen und kalten Getränken hat der Gast die
Auswahl. Auch mancherlei Lesestoff wird den Besuchern geboten.
Obwohl zum Dienst der Allgemeinheit die Preise sehr niedrig angesetzt
sind, wird doch kaufmännisch gewirtschaftet, das Unternehmen
„muß sich selbst erhalten. Wir wollen auch nicht durch zu billige Abgabe der
Speisen und Getränke Privatpersonen das Halten alkoholfreier Wirtschaften
unmöglich machen. Unser Streben geht lediglich dahin, zu beweisen, daß
auch eine Gastwirtschaft ohne Alkoholausschank lebensfähig ist. Nach
gesunden geschäftlichen Grundsätzen wollen wir die Betriebe führen. Ein
kleiner Gewinn muß uns bleiben.“ Dieser wird lediglich für die Erweiterung
der Betriebe und zur Unterstützung alkoholgegnerischer Arbeit verwendet. —
Die meisten Einrichtungen gehen auf das Muster des schon genannten Züricher
Vereins zurück. (Genaueres über die geschäftliche Organisation muß man in
dem Bericht selbst nachlesen.)
Von den Schwierigkeiten und Mühen, die das in eine ungünstige Zeit
Kriegs- und Nachkriegsjahre!) gefallene Werk und seine Urheberinnen und
rägerinnen durchzumachen hatten, gibt der Bericht einen lebhaften Eindruck.
Diese ließen sich aber dadurch nicht abschrecken, die Arbeit fortzuführen und
weiter auszubauen. Auch die gärungslose Früchteverwertung
bezogen sie in ihren Tätigkeitskreis ein. Im Sommer 1924 nahm eine der
Leiterinnen des Vereins an einem Lehrgang darüber teil, um die Bereitung
alkoholfreier Weine mittels des Baumann’schen Flächenerhitzers zu lernen.
Sie hielt dann im Laufe des genannten Jahres 20 Vorträge über den Gegen-
stand vor verschiedenen Vereinen in Königsberg und der Provinz. Im ver-
gangenen Herbst nahm man die Herstellung alkoholfreien Mostes selbst in
die Hand, welcher jetzt in den Betrieben des Vereins glas- und literweise
vom Faß verschänkt wird.
Der Umfang des Werkes geht u. a. daraus hervor, daß die Einrichtungen
des Vereins jetzt gegen 150 Personen beschäftigen. Nur wirklich geeignete
Mitteilungen. 45
Kräfte werden eingestellt. Für das Personal ist eine eigene, freundliche Dienst-
kleidung eingeführt. Soziale und menschliche Fürsorge wird ihm zugewandt.
Mit Befriedigung wird festgestellt, daß mit den alkoholfreien Speise-
häusern ein gangbarer praktischer Weg zur Bekämpfung des Alkoholismus
beschritten wurde; täglich werde in and mit ihnen in unaufdringlicher Weise
wertvolle alkoholgegnerische Erziehungsarbeit am Volke geleistet, auch z. B.
a dem Ausrichten von Hochzeiten, Einsegnungsfeiern und anderen Festlich-
eiten.
Als Aufgaben für die nächste Zukunft werden ins Auge gefaßt der
Ausbau der Betriebe, weiter der Bau eines richtigen Saales für alkoholfreie
Festlichkeiten — denn „Gott sei Dank, daß sich heute immer mehr Menschen
finden, die empfinden, daß der Rausch der Freude und Begeisterung unendlich
höher steht als alkoholischer Rausch, weil er keine Reue, keinen bedauernden
Gedanken über die verlorene Zeit hinterläßt“. Für diese Pläne wird die
Unterstützung der Behörden erhofft, die schon bisher die Unternehmungen
mannigfach gefördert haben. Fl.
Aus dem Tätigkeitsbericht der Groß-Berliner Arbeits-
gemeinschaft für alkoholfreie Jugenderziehung über ihr
zweites Arbeitsjahr 1924.
‘Der Bericht kann das vorverflossene Jahr als „ein Jahr langsamen, aber
stetigen Aufstiegs“ für die noch junge Vereinigung — deren Bestehen schon
an sich eine bemerkenswerte Tatsache darstellt — bezeichnen. Die Arbeits-
gemeinschaft (Vors.: Studienrat E. Otto, Geschäftsführer: Lehrer O. Grün),
die auf 1. Januar 1925 79 A zählte, setzt sich zusammen aus der
Landesgruppe Groß-Berlin des Deutschen Bundes enthaltsamer Erzieher und
einer Gruppe von „Freunden der alkoholfreien Jugenderziehung“. Erstere
Zihlte zum angegebenen Zeitpunkt 53 Mitglieder: 10 Philologen, 1 Philologin,
14 Lehrer, 24 Lehrerinnen, 1 Seminaristen und 3 Angehörige anderer
erziehlicher Berufe, die letztere 26. Die starke Zunahme um insgesamt
36 Mitglieder während des Jahres 1924 wird hauptsächlich auf den erteilten
Nüchternheitsunterricht zurückgeführt. Daneben stehen noch außerhalb der
Arbeitsgemeinschaft eine größere Anzahl von enthaltsamen Erziehern und
Bang die nur unmittelbar dem Deutschen Bund enthaltsamer Erzieher
angehören.
Die Arbeit der Vereinigung geht an Umfang und Bedeutung weit über
das hinaus, was sonst bei einem Verein von dieser immerhin bescheidenen
Größe zu erwarten ist, 4 Versammlungen wurden gehalten. Der Nüchtern-
heitsunterricht konnte nach dem verheißungsvollen Anfang im Jahre 1923
noch einmal im Februar 1924 in Neukölln aufgenommen werden, wo der
Geschäftsführer im Auftrag des Provinzialschulkollegiums Vorträge an
l6 Gemeinde- und 2 Mittelschulen hielt, bei denen auch 76 Erwachsene
Zuhörer waren. Wiederaufnahme und Ausbau des Wanderunterrichts wurde
angestrebt. Auf Herstellung und tus der Beziehungen zu den
einschlägigen Landes-, Provinzial- und örtlichen Behörden wird besondere
ufmerksamkeit verwendet. Mit anderweitigen alkoholgegnerischen Ver-
bänden und der Berliner Wohlfahrtsvereinigung (mit einem Fachausschuß
für die Alkoholfrage) wurde an zusammengearbeitet. Eine Ausleih-
sammlung alkoholgegnerischer Bücher und Tafeln wird dauernd erweitert.
Daneben gehen ein wachsender Schriftwechsel, viele persönliche Besuche und
Unterredungen usi. her.
Im abgelaufenen Jahre hatten die Bemühungen um Fortsetzung des
Wanderunterrichts als eine, wenn nicht die Hauptaufgabe Erfolg, indem
err Grün und Fräulein Mancke für den Zweck beurlaubt wurden und im
ober den Unterricht — zunächst in den Gemeinde- und Mittelschulen
Neuköllns — wiederaufnehmen konnten. Fl.
46 Mitteilungen.
4. Verschiedenes.
Probeabstimmungen über Einführung des Gemeinde-
bestimmungsrechts in Deutschland.
Im November und Dezember 1925 sind auf Veranlassung der
Deutschen Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus
in den meisten Ländern des Deutschen Reiches freiwillige Abstimmungen
veranstaltet worden, durch die stichprobenweise festgestellt werden konnte,
wie die Bevölkerung -zur F ripe des Gemeindeabstimmungsrechts steht. Den
Abstimmenden wurden überall dieselben Fragen vorgelegt, nämlich, ob sie
bezüglichetwaiger Vermehrung oder Verminderung der
Schankstätten am Orte und bezüglich der Ausdehnung
der Polizeistunde das Mitentscheidungsrecht der ein-
zelnen Wähler wünschen. Das Ergebnis war über Erwarten gün-
stig für das Gemeindebestimmungsrecht. Mit einer einzigen Ausnahme hat
sich überall eine zum Teil überwältigend starke Mehrheit für das Gemeinde-
bestimmungsrecht ausgesprochen; im Durchschnitt 78 % der Abstimmenden.
Ende Dezember lagen die Ergebnisse von64 Abstimmungen
vor, von denen 35 auf Preußen entfallen, und zwar auf Berlin-Brandenburg 5,
Hannover 1, Hessen-Nassau 2, Ostpreußen 3, Pommern 3, Rheinprovinz 4,
Sachsen 4, Schlesien 11, Westfalen 2. Im Freistaat Sachsen fanden 2 Ab-
stimmungen statt, in Baden 7, Württemberg 1, Hessen 2, Meckenburg- `
aea 2, Oldenburg 4, Schaumburg-Lippe 4, Hamburg 4, Bremen 2,
ü 1.
Es bestand die Absicht, möglichst verschiedenartige Volks-
schichten zu erfassen. Daher wurden die Abstimmungen über Großstädte,
Mittel- und Kleinstädte und Landgemeinden verteilt. In den Groß- und
Mittelstädten beschränkte man sich auf einzelne Wahlbezirke oder Straßen-
züge; in der Mehrzahl der Kleinstädte und in den Landgemeinden erstreckten
sich die Abstimmungen über den ganzen Ort. In einzelnen größeren Städten
nahm man mehrere örtlich voneinander getrennte Abstimmungen vor, um
auch hier wieder nach Möglichkeit verschiedenartige Bevölkerungsgruppen
befragen zu können.
Die Abstimmungen der Großstädte (23 Abstimmungen in
13 Orten) hatten folgendes Ergebnis: In Berlin (wo drei Abstimmungen statt-
fanden, und zwar in Schöneberg, Moabit und Wedding), erklärte sich eine Mehr-
heit von 75 %, 74 und 72 % für das Gemeindebestimmungsrecht, in Hamburg
(4 Abstimmungen: 1 in Eimsbüttel, 1 in Eilbek, 2 in Barmbek) 78, 87, 75 und
86 %, in Leipzig (2 Abstimmungen: 1 in Marienbrunn, 1 in Kleinzschocher)
67 und 60 %, in Breslau (wo die Ergebnisse von 6 Abstimmungen zusammen-
gezogen wurden) 66 %, in Hannover 69, in Elberfeld (3 Abstimmungen: je
eine im 71., 59. und 63. Wahlbezirk) 77, 63 und 86 %, in Düsseldorf 74, in
Kassel 82, in Mannheim (2 Abstimmungen: je eine in M.-Neckarau und M.-
Neckarvorstadt)) 86 und 66 %, in Karlsruhe 84, in Bremen (2 Abstimmungen:
je eine im 24. und 79. Wahlbezirk) 81 und 90%, Königsberg i. Pr. 92
Stettin 88 %.
Die Mittel- und Kleinstädte (27 Abstimmungen in 24 Orten)
lieferten folgende Zahlen: Lübeck 60, Oldenburg i. O. 80, Rüstringen 9.
Delmenhorst 84, Lüdenscheid 86, Hagen-Wehringhausen 87, Homberg i. H. 87,
Offenbach (3 Wahlbezirke zusammengefaßt) 75, Heppenheim 72, Pforzheim 78,
Freiburg i. B. 89, Lahr i. B. 65, Parchim 43, Stolp i. P. 90, Stargard i. P. 75,
Forst i. L. 68, Delitzsch 2 Abstimmungen: je eine in Linde und Schützenhof)
57 und 63, Weißenfels 58, Görlitz (2 Abstimmungen zusammengefaßt) 78,
Bunzlau (2 Bezirke) 88, Schweidnitz 83, Reichenbach i. Schl. (2 Bezirke) 92,
Grünberg 70, Neiße (2 Abstimmungen: je eine in der inneren und der äußeren
Stadt) 84 und 81, Oppeln (3 Wahlbezirke zusammengelaßt) 76 %.
Mitteilungen. 47
Die Landgemeinden (14 Abstimmungen) meldeten folgende Zahlen:
ü ühren in Oldenburg 71, Behrenbusch-Nordholz (Schaumb.-Lippe) 93,
Kobbensen (Schaumb.-Lippe) 99, Meinsen (Schaumb.-Lippe) 96, Steinbergen
(Schaumb.-Lippe) 93, Bettingen a. M. 77, Korntal in Württbg. 93, Frauenwald
e Erfurt) 81, Spornitz in Mecklenbg. 69, Bindow i. M. 68, Weigels-
dorf in Schl. 89, Langenbielau in Schl. 89, Tannenwalde bei Königsberg i. Pr.
88, Kulligkehmen in Ostpr. 89 %.
Zu den Abstimmungen wurden nur männliche und weibliche Personen
wahlfähigen Alters zugelassen. Die Feststellung der Wähler erfolgte
auf Grund der amtlichen Wahllisten. Die Beteiligung an
den Abstimmungen war außerordentlich gut; sie überstieg in ein-
zelnen Landgemeinden sogar 90 % der Wahlberechtigten, aber auch in den
Städten hielt sich die Beteiligungsziffer sehr hoch (z. B. Bunzlau 80 %, Weißen-
fels 90%), sie sank nirgends unter das Maß der bei politischen Wahlen
üblichen Wahlbeteiligung.
Die Abstimmung geschah nach Geschlechtern getrennt. Dabei wurde die
Erfahrung gemacht, daß unter den Männern die Verhältniszahl der Freunde
des Gemeindebestimmungsrechts nicht wesentlich geringer ist als unter den
weiblichen Abstimmenden. Der Unterschied beträgt meistens 2—3 % (z. B.
Berlin, Bunzlau, Neiße).
Im ganzen haben sich rund 31000 Männer und 40000 Frauen
der verschiedensten Gegenden und Volksschichten (Arbeiter, Gewerbetreibende,
Mittelstand, bessergestellte Bevölkerungsgruppen) für die Einführung
desGemeindebestimmungsrechts erklärt.
Die Abstimmungen waren geheim und wurden unter Leitung oder Auf-
sicht von Vertrauenspersonen, in der Regel von amtlichen Persönlichkeiten
vorgenommen, so daß für eineordnungsgemäße Durchführung
der Abstimmungen und für die Zuverlässigkeit der Er-
gebnisse eine ausreichende Gewähr besteht. In einzelnen
Orten (z. B. Berlin und Königsberg) wurden die Abstimmungsergebnisse
unter Aufsicht eines Notars festgestellt, in andern Orten unter Aufsicht von
Mitgliedern oder Beamten der Stadtverwaltung (Stargard, Delitzsch, Breslau,
Bunzlau, Oppeln, Lüdenscheid, Karlsruhe u. a.). en übten Polizei-
personen die Kontrolle aus (Hamburg), in Lübeck der Direktor des Sta-
tistischen Amtes, in den Dörfern zumeist die Gemeindevorsteher (Kullig-
kehmen, Behrenbusch-Nordholz, Kobbensen, Meinßen u. a.).
Ueberhaupt brachten die örtlichen Behörden den Probeabstim-
mungen im allgemeinen viel Interesse und Verständnis entgegen
(besonders hervorgehoben in den Berichten aus Bunzlau, Oppeln, tiep nheim,
Korntal und den Abstimmungsdörfern in Schaumburg-Lippe). Das Gleiche ist
vielerorts den Geistlichen beider Konfessionenundanderer
Kirchengemeinschaften nachgerühmt worden; wo der Abstimmungs-
tag auf einen Sonntag fiel, wurde gelegentlich auch in der Predigt darauf
genommen (Freiberg i. B., Korntal). Besonders bemerkenswert ist ein
nach Kenntnisnahme des Äbstimmungsergebnisses gefaßter Beschluß der
LettinerStadtverordnetenversammlung, der folgenden Wort-
au t:
„Die Stadtverordneten-Versammlung nimmt Kenntnis von dem Ergebnis
der Probeabstimmung für das Gemeindebestimmungsrecht. Sie ersucht den
Magistrat, das Ergebnis der Reichs- und Landesregierung weiterzureichen,
damit es als Material bei den Vorarbeiten zum Schankstättengesetzentwurf
ücksichtigung finde. Die Stadtverordnetenversammlung erkennt in dem
indebestimmungsrecht ein brauchbares Mittel, um den, die Wohlfahrts-
ausgaben der Kommunen stark belastenden Alkoholismus einzudämmen.“
Die praktische Durchführung der Abstimmungen er-
folgte in der Weise, daß von den Helfern, die den örtlichen Ausschüssen
48 Mitteilungen.
zur Verfügung standen, die Stimmzettel*) bei den Wahlberechtigten
des Abstimmungsbezirkes abgegeben wurden. (In der Regel waren die Helfer
mit amtlichen Ausweisen versehen.) Einen bis zwei Tage später (in einigen
Orten auch nach etwas längerem Zeitraum) begaben sich die Helfer mit
amtlich verschlossener Urne und einer Abschrift der Wahlliste wiederum in
die Wohnungen der Abstimmenden und trugen dafür Sorge, daß der zu-
sammengefaltete Stimmzettel in den Schlitz der Urne gesteckt und in der
Liste ein Vermerk über. die ausgeübte Abstimmung gemacht wurde.
Die Helfer — ältere und jüngere Kräfte — setzten sich zusammen aus
Mitgliedernderverschiedenen Alkoholgegnerverbände.
Frauen- und Jugendvereine,kirchlichen Organisationen.
der Wohlfahrts- und Jugendämter, aus Fürsorgerinaen
u. a.
Die Arbeitsgemeinschaft für Gärungsgewerbe und der
deutsche Brauerbund hatten, wie festgestellt worden ist, sich ent-
schlossen, die Probeabstimmungen nach Möglichkeit zu
verhindern, und an die Alkoholgewerbetreibenden entsprechende Wei-
sungen gegeben. Obwohl in mehreren Orten dieser Aufforderung gefolgt
war und in auffallenden Zeitungsanzeigen, Plakaten und Flugblättern irre
führende Behauptungen über das Gemeindebestimmungsrecht und die Frobe-
abstimmungen verbreitet worden waren (z. B. in Hannover, Delitzsch, Bres-
lau), sind die Abstimmungen doch nirgends dadurch wesentlich beeinträchtigt
worden. Auf jeden Fall sind trotz solcher Störungsver-
suchekeinerleiUnruheundStreitdurchdie Abstimmun-
gen in die Bevölkerung getragen worden. Damit fällt
ein stets mit besonderem Nachdruck von den Alkohol-
gewerbetreibenden gegen das Gemeindebestimmungs-
recht angeführtes Beweismittel in sich zusammen. Es
verdient übrigens hervorgehoben zu werden, daß die Vertreter des Gastwirte-
wen nicht überall mit dem eigentlichen Alkoholgewerbe gemeinsame
ache gemacht haben. Wohl versuchten hier und da einzelne Gastwirte die
Abstimmungen zu sabotieren, an andern Orten aber beteiligten sich Gast-
wirte ordnungsmäßig an den Abstimmungen (z. B. Düsseldorf, Hamburg,
Görlitz). In Görlitz waren sogar zwei Vertreter des Gastwirtegewerbe:
(ein Hotelbesitzer und ein Kaffeehausbesitzer) im Abstimmungsausschuß tätig.
An der Da gegen die Probeabstimmungen hat sich an manchen
Orten auch die Tagespresse lebhaft, aber ohne Erfolg beteiligt (Delitzsch.
Bunzlau, Oppeln, Oldenburg, Bremen u. a.). Die Berichte über die günstigen
Ergebnisse sind indessen fast aus allen Abstimmungsorten, so viel uns be-
kannt, von den dort oder in der Nachbarschaft erscheinenden Zeitungen
ebracht worden. Es mag auch ausdrücklich vermerkt werden, daß sich die
egnerschaft gegen das Gemeindebestimmungsrecht — von einigen kleinen
Parteigruppen abgesehen — nicht an bestimmte politische Parteien knüpft.
Politisch rechts wie auch links stehende Blätter sind gelegentlich für das
Gemeindebestimmungsrecht eingetreten.
*) Die Stimmzettel (für die männlichen Abstimmenden weiß, für die weiblichen grün!
hatten folgenden Wortlaut:
Stimmzettel!
Nur wer mindestens 20 Jahre alt ist, 1. Wollen Sie, daß die Gemeinde durch Ab-
wird zur Abstimmung zugelassen. stimmung ihrer Wähler über Vermehrung
oder Verminderung der Schankstätten am
Orte z! entscheiden hat, also das Gemeinde-
bestimmungsrecht erhält ?
Wollen Sie, daß die Gemeinde durch Ab-
stimmung ihrer Wähler über Festsetzung def
Polizeistunde zu entscheiden hat, also auch
tür diesen Fall das Qemeindebestimmungs-
recht erhält?
N
Mitteilungen. 49
Die Seang dieser Probeabstimmungen, die ohne
längere Vorarbeit ins Werk gesetzt wurden, ist ein doppelte. Einmal haben
die Ergebnisse unzweideutig gezeigt, daß die große Masse der Bevölkerung
über die Frage des Gemeindebestimmungsrechts ganz anders denkt, als man
nach den zahlreichen Veröffentlichungen meinen sollte, die einseitig die
Belange der unmittelbar beteiligten Wirtschaftsgruppen vertreten. Zum andern
haben sich die Abstimmungen als eine ganz vorzügliche Gelegenheit erwiesen,
Aufklärung über die Alkoholgefahren in weite Volkskreise zu tragen, und
sollten schon aus diesem Grunde häufiger wiederholt werden. Mit großer
Opferwilligkeit und Geduld haben die, soweit uns bekannt, nur mit einer
einzigen Ausnahme unbezahlten Hilfskräfte mündlich und durch Ueberreichung
von Flugblättern Auskunft über die Alkoholfrage im allgemeinen und ins-
besondere über das Gemeindebestimmungsrecht erteilt. Sie haben sehr
wesentlich dazu beigetragen, das durch einseitige Interessenpropaganda der
Alkoholgewerbetreibenden getrübte Urteil über das Gemeindebestimmungs-
recht zu berichtigen und die Wahrheit zu verbreiten, daß das nicht nur von der
organisierten Alkoholgegnerschaft, sondern von den meisten sozialdenkenden
Kreisen der Bevölkerung für Deutschland geforderte Gemeinde-
bestimmungsrecht nicht Trockenlegung bedeutet und
sieauch nicht herbeiführt, wohlabereinesehrheilsame
VerringerungdesAlkoholverbrauchsunddamiteine Ab-
nahme der Alkoholnot zur Folge haben wird.
Dr. R. Kraut.
Ein Beitrag
zur Ueberkränklichkeit der Brauer und Brenner.
Von Prof. Dr. Georg Rosenfeld, Geh. Sanitätsrat, Breslau.
Die Uebersterblichkeit der Brauer, Wirte und Wirtsangestellten
lehren viele Statistiken. Eine der übersichtlichsten Tabellen gibt eine neuere
englische Anstellung’).
Sterblichkeit.
Alkoholis-
mus und
Leber-
krankheit.
Alle
Erwachsenen 100 100 | 100 | 100 100 100 100
Brauer 139 279 110 140 133 123 121
Wirte und
Angestelite 180 670 178 144 173 248 216
Metallarbeiter | 103 101 106 84
102 79 | 106
Diesem Mortalitätsüberschusse entspricht natürlich auch der Krankheits-
und Unfallüberschuß bei den Alkoholgewerben, die ja sattsam bekannt sind.
‚ Für de Ueberkränklichkeit der Brauer und Brenner gibt aber
die Statistik der Breslauer Krankenkassen in wenigen Zahlen
ein aus klares Beweismaterial. Die Statistik umfaßt nur die Jahre
1914—1917, und gerade diese Jahre geben interessante Aufschlüsse.
mm nn
®) Vgl. Wlassak, Orundriß der Alkoholfrage, Leipzig 1922, S. 35.
Die Alkoholfrage, 1926. 4
50 Mitteilungen.
Im Verhältnis zur Mitgliederzahl zeigen nämlich Prozente an Krankheits-
fällen
die die Branntwein-
Bierbrauerkasse brennerkasse
die Allgemeinheit
aller Kassen
1914 116,05 X 247,00 % 180,52 X
1915 100,54 % 201,95 & 150,37 X
1916 114,65 % 180,08 % 148,21 X
1917 120,98 % 149,61 % 117,40 %
Dies ist nach den Geschäftsberichten des Krankenkassenverbandes aul-
gestellt. Zunächst fällt für 1914 die enorme Ueberkränklichkeit der Brauer
und Brenner auf, und zwar um so mehr, je mehr man an die Hünengestalten
der Brauer usw. denkt! Wenn man die Erkrankungshäufigkeit der Allgemein-
heit im Jahre 1914 mit 100 % ansetzt, so tritt das Verhältnis der Brauer und
Brenner noch klarer hervor. |
Alle Kasse | Brauerkasse | Brennerkasse
1914 | 100% 213 % 155 X
1915 106,54 % 190 % 142 %
1916 114,65 % 158 % 125 %
1917 120,93 % 124 % 97%
Die Brauer sind 1914 also über 2mal so häufig, die Brenner über 1:4 mal
so viel krank gewesen, als alle Arbeiter. Letztere sind nun im Kriege
durch schlechte Ernährung, Sorgen, und vor allem durch Abberufung der
Gesündesten in die Front immer kränker geworden bis zu 120,93 % der
Friedenskrankheitszahlen. Gerade umgekehrt aber die Alkohol-
arbeiter! Die Brauer haben ihre Ueberkränklichkeit verloren fast genau
bis zum Niveau „aller Kassen“ auf 124 %, und die Krankheiten der Brenner
sind immer gesunken, sogar bis unter die Friedensnorm aller Kassen
-auf 97%! Und das ist geschehen zu einer Zeit, wo natürlich auch bei
ihnen die Stärksten und Gesündesten zum Heere eingeiordert worden waren,
die verhältnismäßig Kränklichsten zurückgeblieben waren und der Rest
eigentlich eine höhere Krankheitsziffer erwarten ließ. Was dieses Wunder
bewirkt hat, ist natürlich jedem Einsichtigen ohne Weiteres klar — sie
habenimKriegekeinStarkbierundkeinenSchnaps mehr
als Quelleihrer Krankheiten gehabt und sind so zwangsmäßig
der Gesundung zugeführt worden. Hier haben wir wieder einmal eine
besonders schöne Gelegenheit, die Beziehungen zwischen Alkohol und Krank-
heit aufs klarste und einfachste zu erkennen. |
Bekämpfung des Alkohols in der Türkei.
- Am 2. November 1925 fand der 6. Kongreß des Türkischen Alkohol-
gegner-Vereins (Hilal-i-Ahzar) statt, der besser besucht war, als der des
Vorjahres. Unter den ausländischen Teilnehmern befand sich auch Mr. John-
son (Pussyfoot), der bekante amerikanische Alkoholgegner, Ehrenmitglied
unseres Vereins. Er hielt auch einen Vortrag. -
Mitteilungen. 51
Der türkische Alkoholgegner-Verein wurde im Jahre 1919 gegründet.
Heute zählt er 13 Ortsvereine und 26 Einzelmitglieder in Anatolien. Auf
Anregung des Vereins wurde im vorigen Jahr in der großen National-Ver-
sammlung der Türkei der öffentliche Genuß von Branntwein verboten und
die Bestrafung öffentlicher Trunkenheit beschlossen.
Wir treten für staatliche Monopolisierung der Bierbauerei und hohe
Besteuerung des Alkohols ein. Eine Anzahl Abgeordneter sind Alkoholgegner.
Der Verein bemüht sich durch Versammlungen und Veröffentlichungen
seine Aufgaben mehr bekannt zu machen. Seit drei Jahren hat der Verein
eine Zeitschrift (Hilal-i-Ahzar); Schriftleiter ist Dr. Fachreddin Kerim,
Generalsekretär des Vereins und Chef des Psychologischen Laboratoriums der
Irrenanstalt Top-Tachi.
Der Vorsitzende des Vereins ist Professor Dr. Mazhar Osman, Chefarzt
der Irrenanstalt. Vizepräsident ist Ali-Mahir, Großgrundbesitzer, der jedes
ahr aus seinem Privatvermögen einen Preis von 1000 Türkischen Pfund
die besten landwirtschaftlichen Erzeugnisse (alkoholische Erzeugnisse aus-
genommen) aussetzt. Der zweite Vizepräsident ist Dr. Hazim Newrelge,
der Kassierer Djelal Feyase Adnolsot. Daneben besteht ein Ausschuß von
16 weiteren Mitgliedern. l
Dr.Fachreddin Kerim, Stambul.
4s
Schrifttum.
Uebersicht über die wichtigsten Veröffentlichungen aus den
Jahren 1925 und 1926; mit einzelnen Nachträgen aus 1%4*).
Zusammengestellt von Dr. J. Flaig.
l. Alkohol und alkoh. Getränke.
1. Allgemeines,
Statist. Jahrbuch für das Deutsche
Reich tür 192425. 1925. Verl. f. Politik
und Wirtschaft, Berlin SW 48.
2. Herstellung (technische); Erzeugung
und chemische Zusammensetzung.
S.: „Aus dem deutsehen Branntweinsumpf“
unter Ill. 2g.
3. Vertrieb (Handel).
Don, A.: Der Kopfverbrauch an alkoho-
tischen Getränken in verschiedenen Län-
dern. In: Internat. M.-Schr. g. d. Alk.,
1925, Nr. 4, S. 205—219.
. tenerwesen.
Weinsteuergesetz vom 10. August 1925
nebst Zollvorschriften und Ausführungs-
bestimmungen. Mit Erläuterungen, Ein-
leitung und Sachregister von Dr. U. Stock.
1926. C.H.Becksche Verl.-Buchh., München.
5. Anderweitige Verwendung der Roh-
(Ausgangs-) und Nebenerzeugnisse.
Oettli, M.: Aepfel. Ein Beschäftigungsbuch
für Natur- und Menschenfreunde. 1925.
Franckhsche Verlagshandlung, Stuttgart.
Derselbe: Uebersicht über die verschie-
denen in der Schweiz angewandten Ver-
fahren zur Haltbarmachung der Obstsäfte.
In: Intern. Ztschr. g. d. A., 1924 Nr. 4,.
S. 201—208. .
Sondernummer betr. alkoholfreie
Obstverwertung: Schweizer Abstinent
1925, Nr. 18.
Stahel, E.: Das Rohaufbewahren von
Früchten, Gemüsen usw. 1925 (?). Zu be-
ziehen durch Buchdruckerei Keller und
Eichenberger, Brugg (Schweiz).
Derselbe: Süßer Most das ganze Jahr
durch Zusatz von benzoesaurem Natron.
1925 (?). Ebendaselbst.
Thm, (Theuermeister): Bericht über den
2. Lehrgang des Bezirksausschusses zur
Abwehr des Alkoholismus (in MENU:
1925. Zu beziehen von diesem Ausschuß,
8. Alkoholkapital, Alkoholgewerbe u.Be-
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Baurichter, K.: Volksentscheid oder
Brauereidiktat? Oekonomische Betrach-
tungen zum Schankstättengesetz. 1925.
Neuland-Verlag, Hamburg 30.
Rudolf, F.: Aus dem Lager der Interes”
senten. In: Intern. Ztschr. g. d. A., 19%
Nr. 4, S. 236—243.
Im übrigen s. auch: Amtliche Berichte |
... unter V.14, Hahn unter lil. 9, Mil-
ner unter V. 2.
il.Wirkungen d. Aikohoigenusses,
1. Allgemeines, Statistisches usf.
Dosenheimer
1925. Neuland-Verilag Hamburg 30.
Lauterburg, F.: Belege zur Alkoholoot. |
1 Zürcherische ürsorgestelle für
Alkoholkranke.
2. Physiologische und psychologische
Wirkungen.
v‚Egloffstein: Zeugenaussage und Trunk.
Eine Untersuchung zur gerichtlichen
Seelenkunde. In: Die Alkoholfrage, 12,
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Arbeit durch verschiedene Konzentrationen
von Alkohol. In: Psychologische Arbeiten,
hrsg. v. E. Kräpelin, 1935, H. 1, S. 157-1%.
K.: Untersuchungen über den |
Hansen,
Einfluß des Alkohols auf die Sinnestätig-
keit bei bestimmten Alkoholkonzentra-
tionen im Organismus. M. 16 Abb. und
2 Taf. 1924. C. Winters Universit.-Buchh.,
Heidelberg.
Scharffenberg, J.: La combustion spot-
tanée des buveurs. Une étrange et nn i
r.g. d. Å, |
DEE on In: Intern. Zts
1925, Nr. 4, 93—205
Wiesner, L.: Der Einfluß von Alkohol uad
Nikotin auf die sportliche Leistungsiäbie
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In: Intern, Ztschr. g.d. A, 1925, N
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r. 4, |
Eine statistische Untersuchung.) „IE:
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Neue Aufl. ' 1925. Verlag des Deu
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Archiv f. BE und Nervenkrankt,
1924, H. 2, $. 183—277.
*) Die Mehrzahl befindet sich in der umfassenden Bücherei des Deutschen Vereins g. d. Alk.
Berlin-Dahlem, deren Benutzung Behörden und Mitgliedern des Vereins frei (i. allgem
Ersatz der Zusendungskosten), andern Stellen und
gebübr (und Zusendungskostenersatz) offen steht.
ersönlichkeiten gegen eine mäßige g
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Schrifttum. 53
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Trinkerheilstätte Ellikon a.d.Thur
3%. Jahresbericht über das Jahr 1924. 1925.
Willeke: Die katholische Trinkerfürsorke.
In: Volksfreund, 1925, 7.9. H., S, 115—121,
Im übrigen s. auch Lauterburg unterll.ı.
7. Alkobolgegnerisches Vereins- und
Aufklärungswesen.
a) Allgemeines.
Entwicklung undjetziger Standder
alkoholgegnerischenBewegungin
Deutschland. Festbuch zur Großlogen-
sitzung des Deutschen Guttemplerordens,
17.,—21, Juli 1925 in Barmen - Elberfeld.
1925. Hrsg. v. Rhein- Ruhr-Distrikt des
Deutschen Quttemplerordens.
b) Aufklärungsarbeit.
ABmann d. J., J. L : Freudenmörder und
Freudenbringer. (Neuland-Flugschr. Nr.7.)
1926. Neuland-Verl., MARONIE 30.
Christen, Th.: Die großen Seuchen un-
serer Zeit. Neu bearb., 12.—16. Tausend,
1925, Alkoholgegnerverl., Lausanne.
Flaig,).: vorrags riäuterungs-)Text zem
k inenschr
Film „Ein Volksfeind". Masch
1925, Veri. „Auf der Wacht“, Beriin-Dahl.
Forel, A.: La boisson dans nos moeurs.
Neue, völl. durchges. Aufl. 1925, Secré-
tariat antialcoolique, Lausanne.
Jahrbuch für Alkoholgegner 19%.
Hrsg. v. F. Oösch. 1925, Neuiand - Veri.,
Hamburg 30.
June- Siegtriedskatendet 1926. 192.
e
Ebenda.
Neuland-Kalender 1926. 1925. Ebenda
Plischke, G.: Alkohol der Kraftspender.
8 Blätter zum Sampie wider Rausch und
Rauch. 1925. Hrsg. : Quttempler-Geschäfts-
stelle, Mähr,-Schönberg. Für De
b. Neuland-Verlag.
Polzer, H.: Heraus aus dem Sumpf ! 19%,
Verl. Fr, Bahn, Schwerin i. M., und Ver.
„Auf der Wacht*, Berlin-Dahlem,
Schrey, F.: Die Reiz- und Genußmittel.
Ihr Einfluß auf Gesundheit und Lebens-
genuß. S.-Abdr. aus s. Schritt: „Wie werde
und bleibe ich gesund?" 1925, Verl, F.
Schrey, Berlin SW 19,
Schumann, A.: Etwas vom Alkoholismus
In: Altmärkischer Hausfreund (Kalender
1925, S. 66—74. 1925. Selbstverlag des
Vereins f. Innere Mission, Stendal.
Schweizerischer Taschenkalender
für Abstinenten 1926. 1925. Selbstverl.
d. Herausg. Th. Bachmann-Gentsch, Alko-
holfr. Volkshaus, Zürich 4.
Sollmann, W.: Sozialismus der Tat. 19%.
La 5 Deutsch. Arb.-Abst.-Bunds, Berlin
Störmer, H.: Was jedermann vom Alko-
hol wissen muß. 7, Aufl. 1925. Bilaukreut-
buchhandl., Herford i. W.
Im übrigen siehe auch: De goede Raad-
gever unter V.13.
c) Deutscher Verein gegen den Alko-
holismus,
Bericht über die 35. Jahresversamm-
lung des Deutschen Ver. g, d. Alk.
zu Nürnberg 1924 einschl, T des
Trinkerheilstättenverbandes u. Konierenz
für Trinkerfürsorge 1925. Verl. „Auf der
Wacht“, Berlin-Dahlem.
`
Schrifttum.
r
dAllgemeineund Zentralverbände.
Gerken- Leitgebel, L.: Die Frau im
Guttemplerorden. 1925. Neuland - Verlag,
Hamburg 30.
Deutscher Guttemplerorden (l.O.Q.T.).
Aufgaben, Arbeitsweise, Aufbau. 1925. Ge-
schäftsstelle d. Deutsch. Guttemplerordens,
Hamburg 30.
Hoheneck 1925 Bundestagung des Jung-
born, JUSEnCbEWFRUDE des Kreuzbündnis.
1925. Hoheneck-Verlag, Heidhausen a. R.
Oehring, K.: Innere Arbeit im Guttempler-
orden (I. O. G. T.) 1924. Neuland- Verl.,
Hamburg 30.
¢)Standesvereine und Organisati-
onen mit besonderen Aufgaben.
Tätigkeitsbericht der Groß-Ber-
liner Arbeitsgemeinschaft für al-
koholfreie Jugenderziehung über
das 2. Arbeitsjahr. 1924/25. Hrsg. von dieser,
Berlin-Schöneberg.
g£) Tagungen, Kongresse.
Hercod, R.: La conference internationale
de Genève contre l'alcoolisme. In: Intern.
Ztschr. g. d. Alk., 1925 Nr. 5, S. 257-267.
Konferenz überalkoholfreie Ju-
genderziehung in Reichenberg
am ô. Juli 1925, einberufen und geleitet von
der Deutschen Guttemplergemeinschaft,
Mähr.-Schöneberg 1925.
Lebdenswille und Werktag: 4. Bundes-
Bye ungborn vom 4. —9. im Ernting
1925 zu Heidelberg. Gesammelt und hrsg.
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Verl. des Jungborn, Frankfurt a. M.
Strecker, R.: Die Genfer Konferenz. In:
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8. Ersatz für Alkohol.
Grabmann, H.: Hüte Dich, Junger Sports-
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leben in ihrer Bedeutung für den jungen
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euplimeyer, H.: Wohnung und Kultur.
1925. Buchhdi. d. Arbeiter-Abst.-Bundes,
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koholfreie VolksspeisehäuserE.V.
vn Jahre praktische Frauenarbeit zur
tkämpfung desAlkoholismus“,1915— 1925.
395 Bei dem Verein.
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n Zug. ;
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g.d Aık., 1925 Nr. 5, S. 267—276.
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und Behandlung der Giftsuchten. In:
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10, Geschichtliches und Biographisches.
Bergman-Kraut: Geschichte der Nüch-
ternheitsbestrebungen. Aus d. Schwedisch.
übers. u. in 2., veränd. Aufl. unter Mit-
wirkung von Prof. Bergman und P. Dr.
Stubbe neu bearb. u. hrsg. von Dr. R. Kraut.
') $. zum Teil auch unter V, 2,14.
55
2. Halbbd. 1925. Neulandveri., Hamburg 30.
Im übrigen 8 auch Albert Frhr. v. Seld
unter Ill.5e, Entwickelung unter IlI.7a,
1V. Verwandtes.
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buch. 1925. Neuland-Verl., Hamburg 30.
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g. d. Alk., 1925 Nr. 5, S. 289—295.
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korrespondenz), Rudolstadt.
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56
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or spirtoase. (Rumänisch.) b) zum Gesetz-
entwurf über die geistigen Getränke, von
Dr. H. Siegmund. 1925.
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Koller, A.: L’ alcoolisme chez les ouvriers
francais. In: Intern. Ztschr, g. d. Aik., 1924
Nr. 4, S. 215—223.
10. Großbritannien.
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Schrifttum
17. Rußland.
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18. Schweden.
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1925. Isaac Marcus, Boktryckeri- Actie-..
bolag, Stockholm.
Schweden. (Rundschaubeitrag.) LES
intern. Ztschr. g. d. Alk., 1924 Nr. 4,
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ationalen Verband g. d. Schnapsgefahr, `
Zürich. :
Ders.: Die wirtschaftliche Bedeutung des:
Alkoholverbrauchs für unser Land. le::
Schweizerische Ztschr. f. Gesundheits
pflege, Zürich, und S.-Abdr. daraus. 195.
Tonsbeck, l, W.: indrukken van đe
Zwitsersche geheelonthoudersbeweging.
In: Enkrateia, Juli/Sept, 1925, S. 31-18,
Im übrigen s. auch Helvetia-Liederbuck
unter IIl- 5c, Koller unter II. 7a,
Schweiz. Taschenkalender unter
IN. 7b, Trinkerheilstätte unter 111.68.
20. Internationales.
S.Don unter I.3, Harford unter Ill.3i.
f
Druck von Kupky & Dietze (Inh.: C. und R. Müller), Radebeul-Dresden.
il
22. Jahrgang
(Neue Folge K Bd.)
Die ~
Akohoffrane
Internationale
wissenschaftlich - praktische Zeitschrift
D
und der
Internationalen Vereinigung gegen den Alkoholismus
unter Mitwirkung
namhafter Fachleute aller Länder
von
Professor Dr. med. h. c. I. Gonser und
Präsident a. D. Dr. Reinhard Strecker
In der Schriftleitung
Dr. R. Kraut und Dr. J. Flaig
Preis des Jahrganges (für In- und Ausland) 6 Goldmark
Preis des einzelnen Heftes: 1,25 Goldmark
BERLIN-DAHLEM
Verlag „Auf der Wacht“
HERAUSGEGEBEN
im Auftrage der
Deutschen Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus
1926
=]
Inhalt des Heftes 2.
I. Abhandlungen. | Seite
1. Kraut, Die Anfänge des Kampfes gegen den Alkoholismus in den Vereinigten j
Staaten AMENS oo a Sa a en E a a PERE E ETTI
2. Strecker, Zur Geschichte des amerikanischen Alkoholverbofs . . ..... 6
3. Röder, Philipp der Großmütige im Kampfe gegen den Alkoholismus. „. . . . &
4. S5fubDeE; Speer und der AOO 2 2 24-5 nr TE |
5. Stubbe, Kirchenvisitation in Kursachsen 1555 -. . . . . en ee
6. Flaig, Bedeutsame behördliche Maßnahmen und Bekundungen mit Bezug aui
den: AKONO TARANYEN u ee ea ER |.
7. Donath, Die Wirkung des amerikanischen Alkoholverbots auf die Tuberkulose . ©
8. Nicholl, Die Sterblichkeit der Enthaltsamen . . . 2. 2: 2 ee 2.2 0.%. Da M
Il. Chronik. (Stubbe, Kie) . . .....8
i
II. Mitteilungen.
1. Aus der Trinkerfürsorge: Die Trinkerfürsorge des Hamburger Wohl-
fahrtsamts. — Trinkerfürsorge Elberfeld 1925. — Die Trinkerfürsorge in
Straßburg i. E. im Jahre 1925. — Gerichtshilfe und Trinkerfürsorge. —
Beiträge zur Beleuchtung der Notwendigkeit eines eingreifenden Schutz-
gesetzes gegen den Alkoholismus. . . . . 22222 nn. ieh
2. Aus Vereinen: Die alkoholfreie Obstverwertung im Vormarsch. — Nüchtern-
heitsarbeit in Oldenburg im Jahre 1925. ..... ERTL EERETE
3. Verschiedenes: Aus dem Statistischen Taschenbuch der Stadt Berlin,
Ausgabe 1926. — Weiterer Rückgang der deutschen Weinbaufläche. —
Herzogliche Tischordnung von 1687. — Wirkungen eines Gesetzes zur
Bekämpfung der Trunksucht. — Aus England. . . 2. 2. 22 2 2 18
x
Verantwortlich für Schriftleitung und Verlag: Prof. Dr. med. h. c. I. Gonse!,
Berlin-Dahlem, Werderstr. 16.
Verlag und Versand:
Verlag „Auf der Wacht“ (Verlag des Deutschen Vereins g. d. A.), Berlin-Daklen,
Werderstr. 16. Postscheckkonto: Berlin NW. 7, Nr. 9386.
Anzeigen:
Anzeigenpreis nach Vereinbarung.
Ze
Die Anfänge
des Kampfes gegen den Alkoholismus
in den Vereinigten Staaten Amerikas.
Von Dr. R. Kraut.
Wenn es heute noch notwendig wäre, die allgemeine Aufmerksamkeit auf
die Bekämpfung des Alkoholismus in Nordamerika zu lenken, so hätte dazu
guten Anlaß der 13. Februar d. J. geboten, der Tag, an dem vor 100 Jahren
in den Vereinigten Staaten der Grundstein zur organisierten Arbeit gegen den
Alkoholismus gelegt wurde: der Geburtstag der Amerikanischen
Temperenzgesellschaft. |
Unsere Kenntnis von jenen Anfängen der amerikanischen Bewegung gegen
den Alkoholismus stützt sich im wesentlichen auf einen ausführlichen Arbeits-
bericht der Amerikanischen Temperenzgesellschaft, den einer ihrer Leiter,
Robert Baird, 10 Jahre nach Gründung der Vereinigung aus einem
ganz besonderen Anlasse unter der Ueberschrift „Geschichte der
äßigkeitsgesellschaft in den Vereinigten Staaten
Nordamerikas“ veröffentlicht hat. Der Preußische Pong Friedrich
Wilhelm III. hatte nämlich in Besorgnis über den wachsenden Branntwein-
alkoholismus seines Landes sich 1833 offiziell an die Regierung der Ver-
enigten Staaten gewandt, um Auskunft über die hier angewandten Methoden
der Bekämpfung der Trunksucht zu erhalten. Die Auskunft wurde in prak-
tischster und umfassendster Weise erstattet: die rührige amerikanische
Temperenzgesellschaft sandte Robert Baird nach Berlin, der dem
Preußischen Könige seinen in französischer Sprache verfaßten Bericht über
die Tätigkeit der amerikanischen Temperenzgesellschaft (Histoire des sociétés
de tempérance des Etats unis d'Amérique) überreichte. Außerdem besuchte
Baird verschiedene andere europäische Höfe und hatte den Erfolg, daß sein
Buch überall in die Sprache des betreffenden Landes übersetzt und in großer
Auflage verbreitet wurde. Trotzdem ist Baird’s Buch, das in deutscher
Sprache 1837 bei Gustav Eichler in Berlin erschien und 340 Druckseiten
in Kleinoktavformat umfaßte, heute eine buchhändlerische Seltenheit.
‚,Roberd Baird's „Geschichte der Mäßigkeitsgesellschaft in den Ver-
einigten Staaten Nordamerikas“ gibt in dem ersten seiner sieben Kapitel einen
Ueberblick über Verbreitung und Auswirkungen des Alkoholismus in
Nordamerika. Nach Baird’s Auffassung muß in den vier Jahrzehnten von
1790 bis 1830 sich der amerikanische Alkoholismus besonders stark ent-
wickelt haben. In diesem Zeitraum sollen an Branntwein und Rum etwa
ch Aillionen Gallonen eingeführt worden sein, also etwa 10 Millionen
oliter ?).
Zu dem eingeführten Branntwein kam der im Lande Eee Whisky,
dessen Fabrikation sich rasch ausbreitete. Man rechnete in den 20er Jahren
des vorigen Jahrhunderts, also zu einer Zeit, in der die Einwohnerzahl der
ereinigten Staaten etwa 12 Millionen betrug, mit einem Jahresverbrauch von
rund 70 Millionen Gallonen Branntwein, und bezifferte den Wert dieser
ienge auf 48 Millionen Dollars. Baird’s statistischer Gewährsmann schätzt
die Zahl der Trinker des Landes für diese Zeit auf 375000 und den Jahres-
ausfall an Arbeitstagen infolge Trunkes auf 15 Millionen Dollars. Die vor-
ge Toaestille infolge Alkoholismus werden auf 37 500 jährlich angesetzt und
der durch sie entstehende volkswirtschaftliche Verlust mit 18 750 000 Dollars
') Ich nehme an, daß schon damals die Gallone etwas über 4!/, Liter ausmachte.
58 Abhandlungen.
bewertet. Die Gerichtskosten für Untersuchung und Aburteilung von Alkohol-
vergehen und -Verbrechen sollen etwa 6 525 000 Dollars betragen haben. Der
Verlust an Einkommen von rund 9000 Verbrechern, die infolge Alkohol-
genusses ihre Freiheit einbüßten, wird mit jährlich 450 000 llars an-
gegeben. Die durch Alkohol verursachten Armenlasten, die Staat und Private
zu tragen hatten, werden auf 5 700000 Dollars geschätzt.
Das sind insgesamt über 94 000 000 Dollars. Nun soll im Jahre 1829
der Wert des Ben Landes der Vereinigten Staaten mit Häusern und
Sklaven 2519009 222 Dollars betragen haben. Die durch Alkohol verur-
sachten volkswirtschaftlichen Verluste würden sich nach der von Baird mit-
nen Berechnung nach einem Zeitraum von 30 Jahren mit Zins und
inseszins auf 2832 750 000 Dollars belaufen haben. Eine Summe also, die
den Wert des Landes um 300 Millionen Dollars überstiegen hätte.
Ob diese Zahlen wissenschaftlicher Kritik standhalten können, ist schwer
zu sagen, ist in diesem Zusammenhange auch nur von geringerer Bedeutung.
Entscheidend ist, daß sie damals für richtig gehalten und. ihre Kenntnis
verbreitet wurde. Sie lieferten die Grundlage für die in den 20 er Jahren ein-
setzende organisierte Bewegung gegen den Branntweingenuß Bier- und
Weingenuß spielte in jener Zeit im Vergleich zum Branntweinverbrauch eine
untergeordnete Rolle.
Sıeht man von einigen schüchternen Versuchen des zweiten Jahrzehntes
des vorigen Jahrhunderts ab, Vereine gegen die Trunksucht zu bilden, s9
wird man die amerikanische Temperenzgesellschaft, deren Gründer, einige
einflußreiche Männer in Bosfon, in einer Versammlung am 10. Januar 18%
sich eingehend mit der Frage befaßten, „was zu tun seı, damit die Unmäßig-
keit aus den Vereinigten Staaten verbannt würde“, als die erste amerikanische
Organisation gegen den Alkoholismus bezeichnen können. Einer zweiten
Versammlung am 13. Februar desselben pe der eigentlichen Gründungs-
versammlung, wurden von einem Ausschusse die Satzungen zur Beschluß-
fassung vorgelegt, die dann am selben Tage genehmigt wurden.
Das Vorwort dieser Satzungen ist so bezeichnend für die noch heute
vertretene Auffassung des Kampfes gegen den Alkoholismus, daß es hier
im Wortlaut wiedergegeben werden möge: |
„Da die Erfahrung gelehrt hat, daß der unmäßige Genuß der be-
rauschenden Getränke die Quelle von unberechenbaren Uebeln ist für
die göttlichen und ewigen Interessen nicht nur einzelner Menschen, son-
dern auch ganzer Familien und Gemeinden; — da dieses Laster eins der
mächtigsten Hindernisse ist für die Wirkungen aller der Mittel, die Gott
zur sittlichen und religiösen Vervollkommnung des Menschen bestimmt
hat; — und da die verschiedenen Versuche, die die Freunde der christ-
lichen Moralität bis jetzt angestellt haben, wenn auch nicht ganz frucht-
los, doch bei weiten nicht hinreichend gewesen sind, um dem herrschen-
den Uebel vollkommen und für die Dauer Einhalt zu thun; — da &
daher augenscheinlich ist, daß es hierzu kräftigerer Mittel und all-
Be Maßregeln bedarf, die sowohl auf diese, als auf die künftigen
enerationen einen mächtigen und bleibenden Eindruck zu machen ver-
mögen und eine gänzliche Veränderung in der Gesinnung und Gewohnheit
des Volkes in Bezug auf den Genuß berauschender Getränke hervor-
zubringen im Stande sind, um auf diese Weise der immer mehr und mehr
um sic En Unmäßigkeit, welche schon so große Verheerungen
in allen Theilen des Landes angerichtet hat und welche die theuersien
Interessen unserer großen und mächtigen Republik zu vernichten drohet.
einen Damm entgegen zu setzen: so haben die gegenwärtig hier ver
sammelten Freunde des gesellschaftlichen und häuslichen Glückes, von
dem Wunsche beseelt, Alles, was in ihren Kräften steht, für die Wohl-
fahrt ihrer Mitmenschen zu thun, beschlossen, eine Gesellschaft zu bilden.
die nach folgenden Statuten eingerichtet sein soll“,
Von den 9 Artikeln der Satzungen ist der dritte der wichtigste. Er lautet:
„Jeder, der zum Fond der Gesellschaft jährlich fünf Dollars oder ein für
Kraut, Die Anfänge des Kampfes gegen den Alkoholismus in Amerika 59
alle mal dreißig Dollars beiträgt, wird Mitglied der Gesellschaft, voraus-
gesetzt, daß er folgende Verpflichtung unterschreibt: »Ich verpflichte mich
zur gänzlichen Enthaltsamkeit von spirituösen Getränken, mit der alleinigen
Ans wenn sie mir in einem Krankheitsfalle von einem Arzte verordnet
wergen.« .
Die weitere Entwicklung der amerikanischen Temperenzgesellschaft, die
eine ungewöhnlich tatkräftige Werbung in Wort und Schrift entfaltete, ging
so rasch, daß bereits sechs Jahre nach der Gründung — wie auf dem ersten
groBen Temperenz-Konvent in Philadelphia am 24. Mai 1833 festgestellt
werden konnte — die Gesellschaft über 6000 Ortsvereine mit mehr als
einer Million Mitglider zählte. Ueber 2000 Brennereien — so behauptet
ein im Dezember 1832 vom Vorstand der Gesellschaft versandtes Rund-
schreiben — hatten ihre Betriebe einstellen müssen, über 5000 Kaufleute
hatten den Handel mit Branntwein aufgegeben. Heer und Marine hatten den
Branntwein aus ihrem Bereiche verbannt. Und über 5000 Trinker waren
gerettet worden.
Diese Zahlen nachzuprüfen, ist natürlich nicht möglich. Uebrigens kann
sich das Baird’sche Buch nicht genug tun in der Häufung von Zahlen, durch
welche die segensreiche Arbeit der Temperenzgesellschaft und ihre Wir-
kungen ins rechte Licht gerückt werden. Es berichtet ausführlich über das
Fortschreiten des Enthaltsamkeitsgedankens in den einzelnen Schichten und
Ständen der Bevölkerung: der Geistlichen, der Aerzte, der Frauen, der Jugend
usw. Es gibt eine Fülle praktischer any und Widerlegungen für junge
Organisationen und Widerlegungen landläuliger Einwände gegen die Ent-
haltsamkeit.
Interessant ist, daß sich schon zeitig in einzelnen Ortsvereinen ein
Grundsatz entwickelte, auf den noch heute in manchen Alkoholgegner-
verbänden (z. B. im Guttemplerorden) großer Wert gelegt wird, nämlich, von
den Mitgliedern zu verlangen, daß sie über das Versprechen persönlicher
Enthaltsamkeit hinaus, auch das Anbieten, Verkaufen und Vorrätighalten
von Branntwein ablehnen (zuerst wohl im Verein zu Andover in Massachu-
setts, dessen Satzung bereits den Verbotsgedanken durchblicken läßt) ?).
Auch die heute ın Amerika allgemein verbreitete Auffassung von der
Unsittlichkeit des Handels mit geistigen Getränken und die daraus sich
ergebende Stellungnahme gegenüber dem Alkoholhandel und Alkoholkapital
tritt, wie man an der Hand von Baird nachweisen kann, schon sehr früh-
zeitig zutage. Bereits im 5. Jahresbericht der Temperenz-Gesellschaft findet
sich ein längerer Aufsatz mit der Ueberschrift „Die Unsittlichkeit des
Handels mit spirituösen Getränken“. Baird selbst sagt in diesem Zusammen-
hange: „Die Freunde der a konnten, sobald sie einmal den Grund-
satz aufgestellt und durchgeführt hatten, daß dieser Handel eine
Unsittlichkeit sei, nicht mit Gleichgültigkeit die Gesetze betrachten,
welche jeden Gastwirt, Materialhändler und jeden Andern, der sich mit dem
Detailverkauf dieser Getränke befaßte, zu demselben autorisierten“.
Kein Wunder, daß der Gedanke des Gemeindebestimmungsrechts, wie
Baird andeutet, ebenfalls schon damals — in den dreißiger Jahren des
vorigen Jahrhunderts! — auftauchte, wenn auch zunächst nur in schüchternen
Ansätzen, und zwar vorwiegend in nördlichen Staaten. Es ist zweifelhaft,
ob es sich um ein direktes Abstimmungsverfahren oder um die Wahl von
Ausschüssen handelte. Jedenfalls erstreckte sich dieses Gemeinde-
bestimmungsrecht nur auf den Branntwein, wurde allerdings in einer äußerst
radikalen Form ausgeübt, wie sie sich in europäischen Ländern nicht ein-
gebürgert hat. Es ging immer nur um ein Ortsverbot, das Verbot bezog
nicht nur auf den Ausschank, sondern auch auf jeglichen Verkauf von
ranntwein.
”™) In den Satzungen dieses Vereins heißt es u. a.: „... wir haben beschlossen, uns des
Genusses spirituöser Getränke zu enthalten, es sei denn in Krankheitsfällen als Medizin;
auch den Gebrauch derselben in unsern Familien nicht zu dulden, noch auch unsere Freunde
damit zu bewirten, oder unsern Dienstleuten davon zu reichen, sondern aus allen Kräften
n zu arbeiten, daß der Gebrauch derselben ganz aufhöre.“
60 Abhandlungen.
Bemerkenswert ist, daß Baird an verschiedenen Stellen seines Buches
über den eigentlichen Stoff seiner Darstellung hinausgreift und auch auf
die Anfänge der KEDI New gung anderer Länder verweist. Wie
weit schon vor Mitte der dreißiger Jahre Zusammenhänge mit der amerika-
nischen Bewegung bestanden oder gar ein unmittelbarer Einfluß von dieser
ausgeübt worden war, läßt sich schwer erkennen. Sicher ist nur, daß durch
die Europareise, die Baird im Jahre 1835 antrat, ein Zusammenhang her-
gestellt und die Bewegung in mehreren europäischen Ländern — unter-
apeere in Norddeutschland — nach amerikanischen Grundsätzen eingeführt
worden ist. |
Das dritte und vierte Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts war die eigent-
liche Blütezeit der amerikanischen Temperenz-Gesellschaf. Sobald der:
moderne Abstinenzgedanke, der die Enthaltsamkeit von sämtlichen geistigen
Getränken fordert, zur Herrschaft gelangte, mußten die Ortsvereine der
amerikanischen Temperenz-Gesellschait sich im Sinne des modernen Ge-
dankens wandeln und zu neueren Organisationen hinüberführen. l
Gleichzeitig mit der modernen Abstinenzbewegung entstand in den Ver-
einigten Staaten — darin unterscheidet sich der amerikanische Kampf gegen!
den Alkoholismus grundsätzlich von dem europäischer Länder — die Ver-
botsbewegung, deren Beginn schon in die 40er Jahre fällt. Im Gründungs-
jahr der ersten modernen Abstinenzvereinigung, die sich zu einer inter-:
nationalen Organisation erweitern sollte, des Guttemplerordens, erlebte‘
Amerika das erste Alkoholverbot. Es trat im Staate Maine am 2. Juni 1851
in Kraft.
Zur Geschichte
des amerikanischen Alkoholverbofts.
Von Professor Dr. Reinhard Strecker- Berlin.
Wenn man die deutschen Zeitungsartikel über das amerikanische
Alkoholverbot liest, und von allen Seiten die Beteuerungen hört, wie un-
möglich ein solches Gesetz in Deutschland wäre, wird einem die Ver-
schiedenheit der Volkscharaktere deutlich. Man erkennt dann aber auch zu-
leich die Schwierigkeiten, die für ein gegenseitiges Verstehen der Völker
stehen. Dasjenige, was am anderen Volke fremd anmutet, wird vielfach
ins Lächerliche oder Verächtliche gezogen, und zwar vielleicht grade dann
am meisten, wenn eine heimliche Stimme im eignen Innern dem andern Volke
recht gibt. So hat man auch bei den deutschen Berichten über das amerika-
nische Alkoholverbot manchmal den Eindruck, als sollte das schlechte
Gewissen über deutsche Trinksitten und ihre übeln Folgen vor dem Beispie
der amerikanischen Nüchternheit übertönt werden. Wer die Entstehung des
amerikanischen Alkoholverbots begreifen will, muß schon zunächst eınmal
mit dem billigen Vorurteil aufräumen, als ob die Mehrzahl der amerika- :
nischen Bevölkerung ein bißchen verrückt oder furchtbar dumm oder ganz
raffiniert geschäftstüchtig wäre. Letzteres wird dann behauptet, wenn das
Verbot als Werk derjenigen hingestellt wird, die nach Ausschaltung des
normalen Alkoholgeschäftes ihre onderen Schleichhandels- und Schieber-
profite einheimsen können. So wenig es auch in Amerika an Dummen und
Geschäftstüchtigen fehlt, so sehr beruht natürlich auch drüben Staat und
Geselischaftsordnung auf positiveren Elementen. Da ist vor allem der starke
christliche Einfluß zu nennen, der von den Puritanern ererbt noch heute von
den verschiedenen dem . Staate gegenüber unabhängigen Kirchen ausgeht.
Was das amerikanische Christentum an Gelehrsamkeit weniger hat, das hat
es dafür an sozialer Praxis mehr. Und aus dieser christlich-sozialen Prax:ıs
heraus erwuchs auch der leidenschaftliche Kampf gegen den Alkohol. Auf
diesem Boden entstanden die großen alkoholgegnerischen Organisationen.
voran die jetzt nach Millionen zählende Enthaltsamkeitsvereinigung der
Frauen, dann die Anti-Saloon-League, der Guttemplerorden und so
Strecker, Zur Geschichte des amerikanischen Alkoholverbots. 61
andere. ype man hiermit die schwachen Organisationen in Deutsch-
land, so wird einem schon manches klar. Man darf wohl sagen, daß ebenso
wie in Deutschland die Einflüsse des Verbindungsstudententums bis in die
höchsten behördlichen Stellen hinaufreichen, so in Amerika die Einflüsse
jener alkoholgegnerischen Vereinigungen. Man sieht schon daraus, daß der
Amerikaner keineswegs der ideallose Dollarjäger ist, als welcher er in der
Phantasie unsres Durchschnittspublikums existiert. Ist doch auch ein großer
Teil der Einwanderung in die Vereinigten Staaten aus idealen Motiven
erfolgt, um religiöse oder politische Glaubensfreiheit zu retten. Um dieser
idealen Güter willen wurden Gefahren und Mühen bestanden, die ein
kerniges und opferbereites Geschlecht schufen. In den Urwäldern und
Prärieen, in den Gebirgen und Wüsten da drüben entwickelte sich der
Pioniergeist, wie ihn Wald Whitmann feiert und wie er sich im Stolz auf
das Sternenbanner immer wieder begeistert ausspricht. Ohne diesen idealen
nung ware auch der nationale Entschluß zum Verzicht auf den Alkohol
nicht ar.
Die amerikanische Politik ist schon seit Menschenaltern konsequent
alkoholgegnerisch gewesen. Ehe man an das Verbot dachte, ging man schon
in den einzelnen Staaten mit scharfen Regulierungen zunächst gegen die Un-
mäßigkeit vor. Truppen und Schulen wurden geschützt, indem für ihren
Umkreis Schankstätten verboten wurden; Sonn- und Feiertage sollten nicht
durch Alkohol entweiht werden; Neger und Indianer wurden schon aus
Sicherheitsgründen nach Möglichkeit- vom Alkohol ferngehalten; die große
Methodistenkirche, die stärkste unter den Konfessionen drüben, schrieb
Alkoholfreiheit für Pfarrer und Kirchenvorstand vor. 1901 wurde der
Alkohol im Heere verboten — 1902 im Kongreßgebäude, dem Kapitol, 1909
in Alaska. Die Post durfte Alkohol so wenig wie Kokain befördern. Für
den Eisenbahntransport bestanden strenge S le Han In dieser ganzen
lo pnare konnte sich der Verbotsgedanke verhältnismäßig leicht ent-
wickeln.
Zur politischen Wirklichkeit wurde er zuerst 1851 im Staate Maine. Der
Bürgermeister Neal Dow von Portland hatte den Gesetzentwurf ausgearbeitet
und die nötige Stimmenzahl der Abgeordneten für ihn gewonnen. Zu-
bereitung und Verkauf aller alkoholischen Getränke waren verboten außer
zu medizinischen und gewerblichen Zwecken. Dem Alkoholkapital fuhr ein
mächtiger Schreck in die Glieder, zumal als das Beispiel von Maine im Laufe
der nächsten 4 Jahre von 11 weiteren Staaten befolgt wurde. Und nun setzte
die Gegenwirkung ein, Neal Dow wurde in der niederträchtigsten Weise
persönlich angegriffen. Es kam stellenweise sogar zu Gewaltsamkeiten. Es
elang der Älkoholpartei diese ersten Verbotsgesetze wieder zu stürzen.
Fr in Maine selbst brachte sie 1856 einen der Ihren auf den Gouverneurs-
posten. Aber freilich nur für 2 Jahre. 1858 trat das Verbot in Maine schon
wieder in Kraft und blieb bestehen bis zur Durchführung des Verbots für
die ganze Union. Von 1881 an konnte auch Kansas und von 1890 an Nord-
Dakota sein Verbot halten. Die übrigen Staaten gingen teils mit sehr hohen
Lizenzgebühren, teils mit dem Gemeindebestimmungsrecht gegen den Alkohol
vor. Eine Freiheit des Alkoholausschanks und der Alkoholreklame, wie wir
sie heute in Deutschland haben, gibt es in Amerika schon seit Jahrzehnten
nicht mehr. Ueber alle Einzelheiten unterrichtet das bekannte Buch von
Dr. Marta Küppersbusch „Das Alkoholverbot in Amerika“.
Grade die Verschiedenheit der einzelstaatlichen Gesetzgebung führte
aber zu großen Schwierigkeiten. Die drei trocken gelegten Staaten litten
nicht nur unter dem Schmuggel der Nachbarstaaten, sondern auch unter den
Transportbestimmungen der Eisenbahn, deren Regulierung erst 1913 unter
die Kompetenz der Einzetstäaten estellt wurde. Gemeindebestimmungsrecht
und Lizenzgebühren reizten zu allerhand Umgehungen, die durch die Nähe
alkoholfeuchter Nachbarschaft leicht möglich war. Andrerseits mußten die
trotz alledem günstigen wirtschaftlichen und gesundheitlichen Folgen, die
sich in den Verbotsstasien beobachten ließen, aufklärend und werbend
62 Abhandlungen.
wirken. So entstand eine neue Verbotsstimmung, die 1907 die Staaten Okla-
hama und Georgia eroberte, 1908 Nord-Karolina und Mississippi, 1900
Tennessee, 1912 Westvirginien, 1914 Virginien, Kolorado, Oregon, Washing-
ton, Arizona, 1915 Arkansas, Alabama, Südkarolina, Idaho, Jova, 1916 Süd-
Dakota, Nebraska, Montana, Michigan, 1917 Indiana, Utah, Neu-Hampshire,
Neu-Mexiko, 1918 Texas, Florida, Ohio, Wyoming, Nevada. Der Kongreß
hatte von sich aus inzwischen auch noch für Puertorico, für die Panama-
kanalzone, für Hawaii, Guam, und die Virginischen Inseln den Alkohol ver-
boten. Es bestand also schon im Kongreß die Geneigtheit, höhere politische
Gesichtspunkte über die Geschäftsinteressen des Alkoholkapitals zu stellen.
Die entsprechenden Entscheidungen der Einzelstaaten konnten solche Se
heit nur fördern. In diese Entwicklung hinein wirkte dann der Krieg. Er
hat der Verbotsgegnerschaft den letzten Stoß versetzt. Der Umstand, dañ
die meisten Bierbrauer deutscher Abstammung waren, wurde in freilich
nicht immer einwandfreier Weise zu Propagandazwecken ausgebeutet
Andrerseits aber muß man auch bedauern, daß sich die deutsche Geschäfts-
tüchtigkeit drüben prade so stark auf das Gebiet der Alkoholproduktion ver-
legt hatte, und dadurch in Widerspruch mit der allgemeinen und kulturel!
sicherlich erfreulichen Entwicklung geriet. Es haben ja schon vor dem Weh-
kriege Amerikakenner wie Münsterberg, Kühnemann u. a. diesen Umstand
betont. Grade wem die Geltung des Deutschtums am Herzen liegt, sollte
daraus entsprechende Lehren für die Zukunft ziehen.
" Schon dieser kurze Ueberblick zeigt, wie abwegig die Behauptung ist.
das Alkoholverbot sei nichts weiter als ein Produkt der Kriegspsychose. Die
letztere hat sein Zustandekommen wohl beschleunigt, aber gommen wäre e:
schließlich auch ohne Krieg. Der ganze Zug der Entwicklung ging dahin.
und diejenigen Brennereien, Brauereien und Gastwirtschaften, die diesem
Zuge der Zeit Rechnung trugen, haben jedenfalls klüger gehandelt, al:
solche, die selbst heute noch ihre Betriebe lieber stillstehen oder halb leer
laufen lassen, weil sie auf die Wiederkehr der Alkoholtrinksitten rechnen.
Schon im Jahre 1914 bestand im Kongreß eine einfache Mehrheit für das
allgemeine Reichsverbot. Weil aber die Alkoholgegner mehr wollten als em
bloßes Gesetz, warteten sie das Wachstum bis zur Zweidrittelmajorität ab.
um das Verbot als Verfassungsartikel fest verankern zu können. Und da:
erreichten sie am 1. August 1917 im Senat, am 17. Dezember des gleichen
Jahres im Repräsentantenhaus. Ersterer stimmte mit 65 gegen 20, letzteres
mit 282 gegen 128 Stimmen für das Verbot. Damit aber war es noch langt
nicht angenommen. Denn nun mußten erst noch alle 48 Staaten einzeln befragt
werden, wobei jeder von ihnen wiederum 2 Parlamente (Oberhaus und
Unterhaus) mit der Sache beschäftigen mußte. Nur wenn innerhalb von
7 Jahren eine Dreiviertelmajorität der Staaten sich für Annahme des Ver-
botes an, wurde es ein Jahr pe Gesetz. Wie leicht hätte noch
jetzt das Verbot zu Fall gebracht werden können! Wenn von den % Par-
amenten nur 13 gegen das Verbot gewesen wären, hätte keine Dreiviertel-
majoritätdafürbestanden. Es ist ein Zeichen für dieStärke der Verbotsbewegung.
daß in Wirklichkeit aber schon nach wenig mehr als einem Jahr 36 Staaten
in ihren 72 Parlamenten das Verbot bestätigten. Das war am 16. Januar
1919 und damit war erreicht, daß vom 16. Januar des nächsten Jahres an
das Verbot tatsächlich in Kraft treten konnte. Das Gesetz hat nur emen
einzigen Artikel, dessen erster Absatz Herstellung, Verkauf und Transpo
Einfuhr und Ausfuhr von berauschenden Getränken verbietet. Der zweite
Absatz verlangt ein Durchführungsgesetz, welches später von dem Ab
geordneten Volstead ausgearbeitet worden ist. Der dritte Absatz erinnert
an die vorgeschriebenen Formalitäten für das Inkrafttreten des Verbote.
Sollte dieses Gesetz aus der Verfassung wieder entfernt werden, so müßte
genau der gleiche umständliche Weg zurückgegangen werden, der zu seiner
Annahme führte. Es ist so gut wie ausgeschlossen, daß dies jemals mögli
würde. Auch die Gegner des Alkoholverbots geben sich darüber keine
Illusionen hin. Ihr Kampf richtet sich deshalb nur gegen das Ausführungs‘
Strecker, Zur Geschichte des amerikanischen Alkoholverbots. 63
gesetz, in welchem vor allem der Begriff „berauschende Getränke“ definiert
werden müßte. Es werden da alle Getränke als berauschend bezeichnet, die
mehr wie ein halb Prozent Alkohol enthalten. Nun geht der Kampf darum,
diesen Prozentsatz soweit in die Höhe zu setzen, daß man schließlich wieder
wenigstens Bier und Wein verkaufen kann. Die Wiederkehr des Schnapses
wagt niemand zu fordern. Ebensowenig wagt man für die Wiedereröffnung
der sogenannten Saloons, der eigentlichen Kneipen, einzutreten. Wie man
dann freilich das Volk vor der Kneipe bewahren, dagegen den besitzenden
Schichten die feinen Restaurants für Alkoholausschank wieder eröffnen will,
ist auch eines von den unlösbaren Problemen, vor denen die Verbotsgegner
stehen. All ihr lautes Geschrei kann keinen Einsichtigen über die schlechten
Aussichten ihrer Position hinwegtäuschen.
Uebrigens darf mit diesem in der Verfassung festgelegten Alkoholverbot
nicht das einfache Kriegsverbot verwechselt werden, das im Oktober 1919
DH AngIE von jenem bloß zu Kriegszwecken beschlossen wurde. Letzteres
wäre für die Kriegszeit also auch dann in Kraft getreten, wenn die Alkohol-
gegner jenen Verfassungszusatz, der für ewige Zeiten gilt, nicht durchgesetzt
hätten. Bezeichnend für die Stellung des damaligen Präsidenten Wilson ist
es, daß er gegen das Kriegsverbot sein Veto einlegte.e Aber drei Stunden
nach Empfang seines Vetos nahmen Senat und Repräsentantenhaus das
Kriegsverbot zum zweitenmal an und damit war der Einspruch des Präsi-
denten beseitigt. Praktisch hat das Kriegsverbot die Bedeutung gehabt, daß
es bereits Oktober 1919 die Trockenlegung einleitete, die vom 16. Januar
1920 ab verfassungsmäßig in Kraft trat. Das waren aber in Praxi nur.
3 Monate Zeitgewinn.
Daß mit der Einführung des 18. Verfassungszusatzes der Kampf um den
Alkohol auch in den Vereinigten Staaten noch nicht erledigt ist, ist eine
Selbstverständlichkeit. Gibt es doch kein Gesetz in der Welt, das nicht
übertreten würde und auch keines, um dessen Aenderung oder womöglich
gar Aufhebung nicht gelegentlich gestritten würde. Trotz der qualifizierten
Mehrheit bestand doch auch bei der Einführung des Alkoholverbots eine
beträchtliche Minderheit gegen dasselbe, und diese Minderheit verfügt
über starke Lungen, das will sagen, über starke Mittel zu Propaganda-
zwecken. Hinter dem amerikanischen Alkoholkapital stehen jetzt außerdem
die Geschäftsinteressen des Alkoholkapitals der ganzen Welt, dem alles daran
gelegen ist, das amerikanische Verbot zu diskreditieren und die Nachahmun
in andern Ländern zu verhüten. Eine internationale Organisation, die mit
Millionen arbeitet und in Frankreich ihren Sitz hat, sucht die öffentliche
Meinung im Geschäftsinteresse der Alkoholproduzenten zu beeinflussen.
Möge sich doch dieser Tatsache jeder erinnern, der verbotsfeindliche Artikel
ın seiner Zeitung liest! Damit soll gewiß nicht gesagt sein, daß alle Ein-
wände gegen das Verbot und seine Durchführung völlıg unbegründet wären.
Aber die Pflicht hat man schon, alle solche Einwände mit sehr viel Vorsicht
und Kritik aufzunehmen.
Unter der heute lebenden Generation in den Vereinigten Staaten sind
natürlich noch viele alte mäßige oder unmäßige Gewohnheitstrinker. Sie
sind nur allzu geneigt, den Schlagworten des Alkoholkapitals zu glauben,
ihrerseits zu deren. Verbreitung mitzuhelfen und, wo sich Gelegenheit bietet,
das Gesetz selbst zu übertreten. Daß zu ihnen auch Senatoren und Ab-
eordnete, auch Richter und Staatsbeamte gehören, wird niemand wundern.
kannt ist die Geschichte des Senators Hıll von Maryland, der vor einem
Jahre öffentlich zu einem Gesellschaftsabend einlud, wo er den Gästen Wein
eigenen Gewächses vorsetzte.e Der Bestrafung konnte er sich nur dadurch
entziehen, daß er mit seinen Freunden beschwor, sie hätten nach Genuß des
Getränks keine berauschende Wirkung verspürt. Ein andrer Abgeordneter
nagegen, Herr Langley von Kentucky mußte wegen Uebertretung der Ver-
botsgesetze sein Mandat niederlegen. Gelegentlich beschweren sich die An-
hän r des Verbotes darüber, daß es manche Richter mit der Bestrafung der
erbotsgegner zu leicht nehmen. Wenn nämlich bloße Geldstrafen verhängt
64 Abhandlungen.
werden, so sind diese oft nur ein kleiner Teil des Gewinns, den die Schleich-
händler machen oder des Preises, den der Trinker von vornherein zu be-
zahlen bereit ist. Wir kennen ja solches Mißverhältnis von Gesetzesüber-
tretungen und Geldstrafen auch aus so manchem deutschen Schieberprozeß.
Was aber Spritschiebungen, Beamtenkorruption und Gewalttätigkeiten bei
solchen Gelegenheiten betrifft, so haben wır wohl grade jetzt in Deutsch-
land Grund genug, den Amerikanern deswegen keine allzu lauten Vorwürfe
zu machen. icht ohne Schadenfreude, zu der man ihnen nicht alles Recht
absprechen kann, berichten jetzt amerikanische Zeitungen darüber, wie Berlin
in die Hände der „Bootleggers“ geraten sei. Der Spritweberprozeß liefert
ihnen reichlich Material dafür und so können sie sich für die vielen Artikel
revanchieren, durch welche deutsche Zeitungen die amerikanischen Verhält-
nisse lächerlich gemacht haben. Auch der Bericht der eat en a
verwaltung an den Reichstag beweist ja, daß zu all derartigen Ver
kein Alkoholverbot, sondern einfach die Gewinngier und die Trunksucht als
Erklärung vorauszusetzen ist. Will man also nicht auf jegliche Regulierung
des Alkoholgeschäfts verzichten, so wird man auch ımmer mit solchen
Gesetzesübertretungen zu rechnen haben, wobei noch sehr die Frage ist, ob
wirklich ein Verbot weniger schwer durchzuführen ist als andere Methoden
der Regulierung. Man macht sich wohl die Lage in Amerika am besten klar,
durch einen Vergleich mit der Durchführung unsrer Weimarer Verfassung
oder mit der Verwirklichung unsrer monogamischen Regelung des Verkehrs
der Geschlechter! Auch da wäre es wahrlich leicht, über die Fülle der
Uebertretungen so laut zu klagen, daß einem einsichtslosen Beurteiler schließ-
lich die völlige Aufhebung als einzig mögliche Lösung erscheinen könnte.
Seitens der Regierung geschieht alles, um die Durchführung des Ver-
botes stetig zu verbessern. Die Zahl der Prohibitionsbeamten wurde ver-
mehrt und der Küstenschutz zum Kampf gegen die Schmuggler verstärkt.
Die Rezepte der Aerzte werden strenger kontrolliert. ‘Mit auswärtigen
Mächten, darunter auch mit Deutschland, wurden Verträge abgeschlossen,
die den Schmuggel erschweren. Es handelt sich dabei vorwiegend um die
Ausdehnung der Hoheitszone an der Küste von 3 Seemeilen auf 12. Sowohl
der verstorbene Präsident Harding, dessen Aeußerungen vielfach sinn-
entstellend aus dem Zusammenhang gerissen wiedergegeben worden sind.
wie auch Präsident Coolidge setzen sich für strenge ara des Ver-
botes ein. Bei Eröffnung der gegenwärtigen Kongreßtagung hat sich Coolidge
in diesem Sinne sehr energisch geäußert. Ein Unterausschuß des Parla mentes
hat über eine amtliche Enquete Bericht zu erstatten gehabt, auf Grund deren
er nicht etwa Milderung, sondern schärfere Durchführung des Verbotes
für das Richtige erklärt. Der Senat hat sich bereit erklärt, sowohl Gegner
wie Freunde des Verbotes anzuhören. Nur die Stimmen der ersteren sind
in die deutsche Presse gelangt. Der Senat selbst steht in seiner Mehrheit
auf der Seite der Verbotsfreunde. Zeitungsstimmen gegen das Verbot, die
in der deutschen Presse eifrig gesammelt werden, haben natürlich keinerlei
Beweiskraft. Manche amerikanische Zeitungen haben aus sehr durchsichtigen
Beweggründen sogenannte Abstimmungen unter ihrer Leserschaft vor-
genommen, wobei die Abstimmungszettel einfach per Post eingeschickt
werden konnten. Die Verbotsfreunde haben sich natürlich an diesem primi-
tiven Verfahren Bun! nicht beteiligt. Was dabei herauskommt, zeigt
beispielsweise die letzte Bürgermeisterwahl in Seattle am Stillen Ozean. Das
Zeitungsreferendum hatte eine niederschmetternde Niederlage der Trockenen
festgestellt, bei der Wahl aber ging die „trockene“ Kandidatın gegenüber dem
„nassen“ Kandidat geradezu glänzend als Siegerin hervor. So haben über-
haupt die Parlamentswahlen ın der Zwischenzeit keinerlei Schwächung der
Front der Verbotsfreunde gebracht.
Nun wird noch viel mit den Ergebnissen des Verbotes hin und her
operiert. Dazu ist zunächst im allgemeinen zu sagen, daß es keine einfache
Sache ist, diese Ergebnisse statistisch zu greifen, ganz besonders nicht in
eınem Lande, wo die Statistik noch mit so großen Schwierigkeiten zu
Strecker, Zur Geschichte des amerikanischen Alkoholverbots. 65
rechnen hat wie in Amerika. Man denke an die farbige Bevölkerung! Man
denke an die ausgedehnten Wüstengebiete! Man denke an das noch vielfach
verbreitete Analphabetentum! Aber auch die Kürze der Zeit — 6 Jahre seit
Inkrafttreten des Verbotes — macht abschließende Urteile zur Zeit noch
unmöglich. Der Uebereifer der Alkoholinteressenten, schon jetzt den angeb-
lichen Fehlschlag des Verbotes feststellen zu wollen, ist deshalb für jeden
vernünftigen Menschen von vornherein verdächtig.
Auch wo sich der Einzelne vom gewohnheitsmäßigen Alkoholgenuß
freimacht, treten die günstigen Folgen nicht unmittelbar danach ein und
werden auch gelegentlich durch ungünstige Einflüsse andrer Art kompensiert.
Wie unendlich viel komplizierter aber sind nun erst die Zusammenhänge
in einer Volksgemeinschaft von 115 Millionen, noch dazu in einer durch
Einwanderung aus allen Gebieten der Erde entstandenen wie in den Ver-
einigten Staaten! Außerdem wirken in diese Verhältnisse jetzt auch noch
die Folgen des Weltkrieges hinein, der z. B. die Zahl der Gewalttätigkeiten
und der Geisteskrankheiten in allen beteiligten Ländern gewaltig gesteigert
hat. Angesichts des Ineinanderspielens so vieler Faktoren eutet es in
der Tat schon etwas, wenn man mit gutem Gewissen sagen darf: erhebliche
Tatsachen oder ug von erheblichem Umfang, die unbedingt ‚gegen
das Verbot sprächen, sind keinesfalls hervorgetreten und für alle dahin-
gehenden Behauptungen sind uns die Gegner bis heute noch den zahlen-
mäßigen Beweis schuldig geblieben. Dagegen haben sich die gesundheit-
lichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in den Vereinigten Staaten nach der
Einführung des Alkoholverbotes besonders glücklich weiter entwickelt. Ohne
nun behaupten zu wollen, daß diese Entwicklung lediglich dem starken
Rückgang des Alkoholkonsums zuzuschreiben wäre, spricht doch eine sehr
hohe Wahrscheinlichkeit dafür, daß dieser Umstand mindestens einen beacht-
lichen Faktor neben allen übrigen darstellt. Natürlich wird niemand ohne
Bedauern erfahren, daß seit Einführung des Verbotes die Zahl der Ver-
giitungen mit Methylalkohol und andere akute alkoholische Erkrankungen
wieder im Steigen begriffen sind. Es soll auch nicht verschwiegen werden,
daß die Zahl solcher Erkrankungen in besonders ungünstigen Städten, wie
z. B. Chikago, die Zahl der Erkrankungen vor dem Verbot erreicht und zum
Teil übertroffen habe. Dem steht aber ein starkes Zurückbleiben solcher
Erkrankungen an anderen Orten gegenüber. Es sei auf die entsprechenden
Ausführungen von Dr. A. Koller ın der internationalen Zeitschrift gegen den
Alkoholismus Nr. 2 von 1925 und Nr. 2 von 1926 hingewiesen. Schließlich
kann es doch auch nicht die Aufgabe sein, die Methylalkoholvergiftungen
wieder durch Leberzirrhose und Delirium Tremens zu ersetzen. Die letzteren
beiden Krankheiten, deren Basis der langdauernde Gebrauch des normalen
Alkohols zu sein pflegt, sind jedenfalls in stetigem Rückgang begriffen. Es
also nur noch darauf ankommen, jetzt auch die neuen Krankheits-
erscheinungen, sozusagen die Kinderkrankheiten der Verbotsperiode, gleich-
falls zu berw iden. Die allgemeinen gesundheitlichen Verhältnisse sind
jedenfalls nach Einführung des Verbotes so erheblich viel besser geworden,
namentlich die Sterblichkeit an Tuberkulose und Lungenentzündung, daß in
medizinischen Kreisen hier der Zusammenhang mit dem Alkoholverbot kaum
noch bezweifelt wird. Zu beachten ist, daß es sich dabei sowohl um direkte
wie indirekte Zusammenhänge handelt. Die größere Nüchternheit des weit
überwiegenden Teiles der Bevölkerung macht nicht nur den Körper wider-
standsfähiger, sondern läßt auch Geldmittel, die früher in die ungesunden
Kneipen getragen wurden, in bessere Wohnung Ernährung und Kleidung
‘ließen. an beachte die starke Zunahme des Milchverbrauchs, das rapide
Anschwellen der Sparkasseneinlagen und die weite Verbreitung des Eigen-
ems! Damit werden die hauptsächlichsten Vorbedingungen für die Ver-
breitung der Tuberkulose stark verringert. .
‚ Wieder kennzeichnet man die Lage wohl am besten durch einen Ver-
gleich mit anderen Ländern. Für Deutschland und die Schweiz ist statistisch
nachweisbar, daß der Rückgang des Alkoholkonsums während des Krieges
Die Alkoholfrage, 1925. 5
66 Abbandlungen.
moralisch, gesundheitlich und wirtschaftlich von den besten Folgen begleitet
war. Als nach dem Kriege der Alkohol wieder zugelassen wurde, tüllten
sich auch wieder Gefängnisse und Besserungsanstalten, Armenhäuser und
Krankenhäuser. In Amerika hat die fortschreitende Verbotsbewegung eine
fortschreitende Besserung der Wirtschafts- und Gesundheitsverhältnisse mit
sich gebracht. Der Höhepunkt wurde kurz nach der Einführung des Reichs-
verbots erreicht. Nun ist zwar in den Vereinigten Staaten der Alkohol nicht
wieder zugelassen worden, aber es haben sich Schleichhandel und Schm
organisiert. Die Zunahme des Genusses von illegal beschafftem Alkohol
zeitigt nun drüben ein ähnliches Wiederanschwellen der Unglückszifiern,
wie bei uns die Zunahme des legalen Alkoholgenusses. Ein Unterschied
ist nur, daß bei uns die unglücklichen Folgen schon allgemein wieder die
Höhe der Vorkriegszeit erreicht haben. Das ist in Amerika bei weitem
nicht der Fall. Das kann man drüben höchstens für vereinzelte alkoholische
Krankheitserscheinungen, und auch da nur für einzelne besondere Plätze
konstatieren. Die Frage der Zukunft ist nun: Wird es Europa leichter haben.
seinen legalen Alkoholkonsum so zu regulieren, daß seine unglücklichen
Folgen verschwinden? Oder wird Amerika mit der Bekämpfung des illegalen
Alkoholkonsums rascher ans Ziel kommen? Die Wahrscheinlichkeit spricht
zur Zeit wahrhaftig noch nicht zu gunsten Europas.
Philipp der Großmütige
im Kampfe gegen den Alkoholismus.
Von Wolfgang Röder.
Luther hat einmal gesagt, wenn jedes Land seinen Teufel habe, so werde
der deutsche Teufel wohl ein Weinschlauch sein und „Sauf“ heißen?!).
Daß dieses Wort im Hinblick auf den Alkoholmißbrauch zu Anfang des
16. Jahrhunderts nicht übertrieben ist, beweisen uns Literatur und Gesetz-
gebung aus jener Zeit.
Treffend gekennzeichnet werden die damaligen Trinkunsitten durch ein:
im Jahre 1552 erschienene Strafschrift von Matthäus Friederich: ‚Wider den
Saufteufel — Item — Ein Sendbrief des Höllischen Satans — an die Zu-
trinker . . . — Item — Ein Sendbrief . . . — an die vollen Brüder in deutschem
Lande.“ Ueber das Zutrinken heißt es dort: „Man findet auch immer eime
neue Weise über die andere. Etliche spielen den Wein oder Bier einander zu.
etliche fluchen’s einander zu, die anderen singen’s einander zu, andere tanzen5
einander zu, etliche füllens einander mit Füllhälslein oder Trichtern ein.“
An einer anderen Stelle: „Es üben auch solche Laster jetzt nicht allein die
Mannspersonen, sondern auch die Weiber, nicht allein die Alten, sondern auch
die jungen Kinder: Nun laß sehen, spricht der Vater zum Söhnlein, was du
kannst: Bringe ihm ein Halbes oder Ganzes“?).
Schon Ende des 15. Jahrhunderts war auf zwei Reichstagen über das „Zu-
trinken“ verhandelt worden. Alle Erlasse hatten aber nichts genützt, denn
weder der Adel, noch die Bürger, noch gar die Studenten richteten sich danach.
So sahen sich denn die Gesetzgeber in den einzelnen deutschen Ländern ver-
anlaßt, gegen den übermäßigen Alkoholgenuß einzuschreiten.
Die einschlägigen hessischen Verordnungen stammen von Philipp der
Großmütigen. Dieser Satz kann ohne Einschränkung gelten. Denn auch.
soweit sie unter Philipps Nachfolgern erlassen sind, gehen sie auf ihn zurück
und bringen seine Gedanken zum Ausdruck.
In der Literatur über Philipp den Großmütigen werden seine Verdienste
um die Justiz wenig BEWURRIG. Und doch ist er unter den hessischen Fürsten
ohne Zweifel der genialste Gesetzgeber gewesen. Genial ist hier nicht als
schmückendes Beiwort gebraucht, sondern zur Kennzeichnung eines Mannes.
1) bei v. Leixner: Geschichte der deutschen Literatur, 1893, S. 281 oben.
nach v. Leixner a. a. O
Röder, Philipp der Großmütige im Kampf gegen den Alkoholismus. 67
der schon vor vierhundert Jahren die schädlichen Folgen des Trunkes für
die Volksgesundheit und seinen unheilvollen Einfluß auf die Kriminalität klar
erkannte und großzügi bekämpfte.
Des alten Tacitus Wort?) die Deutschen könnten „minime sitim a:
hat bis auf den heutigen Tag seine Geltung behalten. Die Alkoholilut nac
der Ebbe der Dünnbierzeit beweist das schlagend. Leider begnügen sich, wie
Kanowitz in einem sehr lesenswerten Aufsatz „Alkoholstatistik und Alkohol-
esetzgebung*“ — meines Wissens der neuesten umfassenden Arbeit auf diesem
ebiete — zutreffend ausführt, die modernen Gesetze damit, „dem angerich-
teten Schaden nachzuhinken und sich mit den Folgeerscheinungen des Alko-
holismus irgendwie abzufinden. So gibt es auch ın Deutschland kein wirk-
sames Gesetz, das den Alkoholismus als solchen trifft, fast nirgends wird der
Versuch ern der Ausbreitung der Trunksucht vorzubeugen. Und wenn
manche der geltenden Bestimmungen in diesem Sinne wirksam sein könnten,
so sind sie darum belanglos, weil die ausführenden Organe kein Interesse
daran haben, sie im alkoholgegnerischen Sinne zur Anwendung zu bringen.
Die maßgebenden deutschen Gesellschaftskreise sind in der Mehrzahl noch zu
sehr in den herrschenden Trinksitten befangen, um von einer Möglichkeit,
dem immer stärker anwachsenden Alkoholismus in Deutschland entgegen-
zutreten, Gebrauch zu machen.“
Die hessischen Gesetze dagegen versuchten wenigstens, — wie im Folgen-
den gezeigt werden wird — die Axt an die Wurzel des Uebels zu legen.
& F *
Es ist oben gesagt worden, daß die Landesgesetzgebung eingrift, da die
Maßnahmen des Reiches sich als ungenügend erwiesen. Von Erfolg gekrönt
konnte dies Bestreben aber nur dann sein, wenn in einem Ben Bezirk
die gleichen Bestimmungen galten. War es doch sonst leicht möglich, daß
beispielsweise ein Wirt, dem in einem der vielen deutschen Staaten sein Ge-
werbe gelegt wurde, in dem angrenzenden den Betrieb in alter Munterkeit
wieder eröfinete.
So beschloß denn Ponp im Jahre 1524 „mit viel oberländischen und
rheinischen Kurfürsten und Fürsten“ vertraglich ein gemeinsames Vorgehen
gegen den Alkohol. Für Hessen hat das seinen Niederschlag in dem an die
mtleute gerichteten „Fürstlichen Ausschreiben“ vom 18. Juli 1524 gefunden.
Bemerkenswert ist die Begründung, die Philipp für die Notwendigkeit
seiner Maßnahmen gibt. Er sagt, es sei „vom Zutrinken und der Völlerei
viel Unschicklichkeit, Uneinigkeit, Sünde, Laster; Seelen, Leibs und Guts
Verderben; unchristliche, unehrliche Gotteslästerung und nichts denn aller
Unrat“ gekommen. Das müsse beseitigt werden „Gott dem Allmächtigen zu
Lobe und Ehren, zur Verhütung vieler Sünden und Laster und zur Förderung
eines christlichen, züchtigen und ehrlichen Lebens.“
Es scheint fast, daß der Landesvater selbst nach dem Vorbilde des Kalifen
Harun al Raschid in die Kneipen gestiegen ist, um das Leben und Treiben
dort kennenzulernen und die Angrifispunkte für seine gesetzgeberische Tätig-
keit zu finden. Am grünen Tisch läßt sich m. E. so viel Sachkunde nicht
erlangen, wie das Ausschreiben sie verrät:
‚ Niemand soll „dem andern zu vollem, halbem oder gleichem Maß zu-
trinken, auch nicht deuten oder winken . . ., in keiner Weise. Auch niemand
vom andern keinen gleichen Trunk oder Bescheid fordern oder warten, noch
denn für sich selbst heimlich . . .„ damit doch dem andern sein Wille und
Trunk geschehe . .. Sondern so jemand mit einem andern ehrliche Gesell-
schaft haben will, soll und mag er die angemessenen und unbedingt nötigen
Trünke tun“.
‚ Das Verbot des unmäßigen Trinkens richtete sich gegen Grafen, Herren,
Ritter, fürstliche Knechte und Dierr in gleicher Weise wie gegen ge-
*) Germanien, 4, Kapitel: Leibesbeschaffenheit.
N frei übersetzt: den Durst sehr schlecht vertragen.
‘) Archiv für Psychiatrie, 71. Band, 2. Heft; s. auch die dort angegebene Literatur.
58
68 Abhandlungen.
wöhnliche Sterbliche „bei Vermeidung Unserer ungnädigen Sirafe“ und —
gegebenenfalls — „Verlust eines jeden Dienstes“.
Hier zeigt sich die Zweckmäßigkeit eines gemeinschaftlichen Handelns:
Ein wegen Trunksucht entlassener Mann wurde nämlich von den anderen
Kurfürsten und Fürsten, die mit Philipp den „Vertrag zur DALE des
Alkoholunwesens‘“ — wie ich ihn nennen will — geschlossen hatten, als Diener
nicht angenommen. Er mußte schon recht weit von der Heimat fortziehen,
wenn er einen neuen Dienst finden wollte.
Diese Bestimmungen wurden — wie es früher mit den Gesetzen vielfach
eschah — auch von den Kanzeln herab bekanntgemacht. Die Amtsleute
ielten die Pfarrherren an, „von mäßigem Trinken“) zu predigen und ihre
Pfarrkinder von ‚„Völlerei . . . mit höchstem Fleiße abzuziehen“. Die Pfarrer
mußten dabei gleichzeitig bekanntgeben, daß Philipp „aus christlichen Lehren
und Geboten . . . schuldig, willig, und geneigt sei, jetzt alsbald das Zutrinken
und Bewegen zu gleichen Trünken . . . bei hohen schweren Strafen insgemein
allen Untertanen, welchen Standes oder Wesens die seien . . .. ganz und gar
zu verbieten . . .“, wenn sie sich nicht warnen ließen.
Daß Philipp zunächst so milde vorging, hat seinen Grund darin, „daß
solches Trinken leider in Unserm Fürstentum und Landen so hart eingerissen,
daß ihm nicht leichtlich ohne große Mühe und Arbeit beizukommen‘ war.
Immerhin enthält das Ausschreiben bereits neben den vielen Verwarnungen
eine wichtige positive Bestimmung: der Ausschank und der Verkauf von
Branntwein wird bei Strafe von „drei Pfund“ für jeden Fall der Zuwiderhand-
lung antaa Praktischerweise ließ Philipp das Verbot erst Michaelis
1524 in Kraft treten, damit in der Zwischenzeit „ein jeder seinen Brand-
wein, den er jetzt bei ihm hat, verkaufen möge“.
Die Mitte des Jahres 1526 ergangene „Reformationsordnung in Polizei-
Sachen“ wiederholt in ihrem Artikel I „Von übermäßigem Zutrinken“ ım
wesentlichen die Drohungen des Ausschreibens.
* &
ad
Philipp hatte sich von diesen ersten Versuchen eine Bess ver-
sprochen. Er hatte gehofft, daß „aus Anweisung des Göttlichen Worts“
ein jeder sich selbst „mäßigen und erziehen“ und dadurch den Erlaß
eigentlicher Strafbestimmungen unnötig machen werde. 1
Seine Erwartungen erfüllten sich jedoch nicht. Das Alkoholunwesen
wurde im Gegenteil nur noch schlimmer. In der „Ordnung der Visitation“
von 1537”) beklagt der Fürst sich bitter über das Anwachsen der Alkoholilt,
„wodurch ohne Zweifel Gott erzürnt, Teurung, Mißwachs, Krankheit und
andere billige Strafen uns sendet und auferlegt, auch dem Evangelium eın
roßer Anstoß begegnet und widerfährt“. Weiter heißt es dort: „SO
ringet Uns, als die verordnete Obrigkeit Unser Gewissen und Gottes Ehre
solches Zutrinken bei Strafe zu verbieten, wie Wir es hiermit tun .. ."
Es folgen nun die oben angeführten „Tatbestände“ des Zutrinkens.
Die Uebertretung des Trinkverbotes wird an „Amtsverwaltern, Befehls-
habern, Rentmeistern, Schultheißen, Vögten, Amtsknechten, Bürgern, Bauern
und anderen Untertanen, geistlichen oder weltlichen, gelehrten oder un-
elehrten, die nicht vom Adel“, mit 10 Weißpfennigen, an „dem Wirt, Bürger,
auern oder Hausmann, der solches in seinem Hause gestattet und nicht
anzeigt“, mit 10 Gulden bestraft. Ferner muß sogar ein jeder, der dabeisitzt,
wenn solches geschieht“, 10 Weißgroschen zur Buße geben. Um zu ver-
hindern, daß die Amtleute, Befehlshaber und sonstigen landesherrlichen Avf-
sichtsbeamten, pegno den Trinkern ein Auge zudrücken, werden sie „mit
20 Gulden Strafe und Amtsentsetzung „nach Unserm Ansehen und Gefallen
bedroht, wenn sie die Bestimmungen der Ordnung nicht mit aller Schärfe zuf
Anwendung bringen.
) In ee Zeit wurde ja auch „vom Nutzen der Stallfütterung“ gepredigt.
unter 8.
Röder, Philipp der Großmütige im Kampf gegen den Alkoholismus. 69
Adlige dagegen sollen, „nach Inhalt der vorigen Ordnung“, d. h. nach
fürstlichem Ermessen bestraft werden. Diese Sonderstellung führte aber nicht,
wie man annehmen könnte, dazu, daß es adeliges Vorrecht wurde, sich un-
ga zu betrinken. Vielmehr durften die Gasthalter auch den Adligen das
utrinken nicht gestatten; besonders dann nicht, wenn sie mit Bürgern, Bauern
oder „gemeinen Leuten“ zusammensaßen. Eine Bestimmung, die sicher im
Interesse der Adligen lag! War aber, wie Philipp sich ausdrückt, „das ganze
Gelöch vom Adel“, so mußte der Wirt die Zecher zunächst „insgeheim gütlich
warnen“, ehe er sie bei der Obrigkeit anzeigte. Anzeige hatte aber selbst
dann zu erfolgen, wenn das age etwa Gästen zu Ehren stattfand. Philipp
prüfte solche Fälle persönlich nach, damit er „nach Gelegenheit der Personen
gebührliche Versehung tun möge“,
Neben diesen Bestimmungen, die polizeilicher Natur sind und — um mit
dem alten lateinischen Sprichwort zu reden — den Anfängen entgegenwirken
wollen, enthält die Ordnung auch zwei wesentliche Bestimmungen, die sich
auf die Folgen des Alkoholismus beziehen.
Es ist seit langem eine kriminalpolitische rn, daß das Strafgesetz
der Trunkfälligkeit den Stempel des strafbaren Vergehens aufdrücken, daß
jeder, der im Zustande ofienbarer Trunkenheit auf der Straße, im Wirtshaus
oder anderen öffentlichen Orten gefunden wird, einer Gesetzesstrafe verfallen
solle. Man verweist zur Begründung der Zweckmäßigkeit und Durchführ-
barkeit eines solchen „Trunkenheits-Paragraphen“ auf das ie Amerikas,
. Englands, Frankreichs und Oesterreichs, wo mit ihm gute Erfolge erzielt
worden seien?). |
Das geltende Strafgesetzbuch hat diesem Verlangen nicht Rechnung ge-
tragen. it Haft wird allerdings nach $ 361 Ziffer 5 RStGB. bestraft,
„wer sich dem Trunk hingibt“. Voraussetzung ist aber, daß er dadurch
„in einen Zustand gerät, in welchem zu seinem Unterhalte oder zum Unter-
halte derjenigen, zu deren Ernährung er verpflichtet ist, durch Vermittlung
der Behörde fremde Hilfe in Anspruch genommen werden muß‘®) 1°),
Philipp der Großmütige dagegen verordnet schon im Jahre 1537: „Findet
man einen Bürger, Bauern oder gemeinen Mann, der nicht vom Adel, der oft
so voll ist, daß er ungeschickt wird, den soll man darum vornehmen und
ziemlich nach Gelegenheit strafen“.
Noch interessanter ist in heutiger Zeit, wo Trunkenheit vielfach als
mildernder Umstand angesehen wird, die weitere Bestimmung im Nachsatz
m a „er in der vollen Weise etwas übertritt, soll er doppelt gestraft
werden‘°).
Es ist bereits ep worden, daß Philipp sich in seinem Kampf gegen
den Alkohol auch des Einflusses der Kirche bediente. In der „Ordnung der
christlichen Kirchenzucht für die Kirchen im Fürstentum Hessen“ von 1539
gibt er den Pfarrern eine ausführliche Anweisung, wie sie in dieser Richtung
ätıg werden sollen. MEN
‚ Paulus, so heißt es dort, zähle die „Trunkenpelze“ auch unter diejenigen,
die gebannt werden müssen. Trunkenpelze aber gebe es leider zurzeit in
Hessen eine Menge. Die Trunksucht verwüste nicht nur die teure Gottes-
abe des Tranks jämmerlich, sondern auch den Menschen selbst an Gut,
ib und Seele. Deshalb sei es nötig, daß die Prediger mit allem Fleiß dem
armen Volke die „Erkenntnis und X eheu vor dieser verderblichen Sünde“
durch das Wort des Herrn erwecken und recht ins Gewissen brächten. Sie
sollten dazu ‚wie der Heilige Augustinus lehrt, sich der so erschrecklichen
Ruten und Plagen des Herrn, die er uns täglich zusendet, gebrauchen“, damit
sie von „solchem ganz unsinnigen und viehischen Laster der Füllerei zu der
allerernstesten Bußfertigkeit gewaltig erweckten und treiben . . . alle, die nur
glauben, daß ein Gott und künftiges Leben ist“.
vergi. Sturaberg Die Bekämpfung der Völlerei auf dem Wege der Gesetzgebung,
9
Düsseldorf 1877, S s
s. dazu 362 u. 365 R.St.G.B.
Entwurf 1919 88 91, 92, 274.
70 Abhandlungen.
Die Pfarrer waren aber auch nur Menschen und den Aniechtungen der
Sünde nicht immer gewachsen. Am 1. Juni 1542 muß ein „Fürstliches Aus-
schreiben an die Diener der Kirche wegen der üblen Aufführung einiger
Prediger“ ergehen, in dem ihnen das „Vollsaufen‘ verboten wird. An einer
anderen Stelle'!) findet sich die besondere Bestimmung für Predikanten und
Kirchendiener: „Wenn sich einer vollsöffe, dem sollen ’s unsere Beamten das
erste Mal gütlich untersagen. Würde er’s aber darüber noch einmal tun,
so soll er seines Kirchenamtes entsetzt werden“.
Ein ins einzelne gehendes Strafensystem enthält die enie wider das
Gotteslästern, Vollsauien . . . usw.“ vom 3. Juni 15437, in der Philipp sich
auch über das Wesen des Alkoholismus verbreitet. Seine Ausführungen sind
noch heute, nach fast 400 Jahren, so treffend, daß sie wörtlich folgen mögen:
„Nachdem man leider vor Augen siehet, daß die schändliche Sünde und
groß Laster des Vollsaufens so sehr hat überhand genommen, auch man
agen mit Sünde, Schande und Schaden befindet, was Böses und Arges daraus
folgt, als nämlich, daß die, so sich sonst wohl miteinander vertragen, uneini
werden, einander schlagen und ermorden. Item, daß viele, so sonst (natürli
davon zu reden) wohl lang Leben haben möchten, sich durch das Vollsaufen
ihren Leib und Leben abkürzen. — Wir wollen allhier geschweigen der großen
Unzucht, so begangen wird, indem daß man sich so schändlich bricht und die
Gottesgabe so unsauber verschwendet und durchbringt.
Item, daß mancher, so mit Weisheit und Vernunft wohl begabt, durch
das lästerlich Vollsaufen in Verlierung seiner Gesundheit und guten Gedächt-
nisses und letztlich wohl zu ganzer Zerrüttung des Kopis gerät.
Desgleichen findet man manchen Mann, der wohl schweigen kann, dem auch
geheime und wichtige Sachen zu vertrauen sein; aber wann derselbig voll
so schlägt er los, und tut der Mund die vertrauten Geheimnisse offen-
aren.
Es folgt aus diesem lästerlichen, vermaledeiten Vollsaufen alle Gott-
losigkeit, Uneinigkeit, Verderbnis Leibs, Seelen, Gemahls, Weiber, Kinder,
zeitlichen Guts und soviel Arges, Uebles und Böses, daß es unzählbar ist.
wie es denn die Erfahrung täglich gibt, daß den Vollen kein Schenkel! oder
Fuß trägt, und daß weder Kopf, Füße oder Hände des Vollen ihre Werke
verrichten. Desgleichen, daß mancher durch Vollsaufen sein Angesicht und
Gestalt, so ihm von Gott gegeben, also verdirbt, daß es seine natürliche Farbe
verliert, gelb, wassersüchtig, rot und ungeschickt wird, daraus dann letztlich
der Aussatz und andere Krankheit folget.“
Können die verheerenden Folgen des Alkoholmißbrauchs erschütternder
und lückenloser dargestellt werden, als es in dem naiven Ton dieser alten
Ordnung geschieht?
Die Strafen sind höher bemessen als in den vorhergehenden ungen
Der Trinker „soll das erste Mal einen Ort eines Gulden'®) zur Buße n,
der zweite Teil in gemeinen Gotteskasten folgen und der dritte Teil den
Amtsknechten und Stadtknechten, so solches vollstrecken, bleiben soll“. „Rück-
fällige“ werden strenger angefaßt: Beim zweiten Mal müssen sie einen halben,
beim dritten einen ganzen Gulden bezahlen. Beim vierten Mal tritt Turm
für acht Nächte ein oder dreimonatige Ausweisung aus ihrem Wohnort
und beim fünften Landesverweisung.
Die Gastwirte, die ein Gelage dulden und ihren Gästen Alkohol geben,
obgleich sie dessen „nicht notdürftig sind, sondern ihn zum Ueberfluß ge-
brauchen“, trifft eine Strafe von zwei und vier Gulden für die beiden ersten
Male. Beim dritten Male kommen sie einige Tage in den Turm, beim vierten
müssen sie auf drei Monate aus ihrem Wohnort, beim fünften endlich aus
dem Lande. Mit diesen härteren Strafen soll die Gewinnsucht der Wirte
getroffen werden.
11) Ordnung vom 3. Juni 1543 unter 2.
r
3
3) = Gulden.
Stubbe, Spener und der Alkohol. 7l
Selbst diese Strafen scheinen nicht den nötigen Erfolg gehabt zu haben.
Denn ein „Ausschreiben der Fürstlichen Statthalter und heimgelassenen Räte“
vom 12. August 1546 droht auf Befehl des Landgrafen, der bei Donauwörth
im Felde lag, durchweg für übermäßiges Trinken 4 Wochen Turm an.
pe hatte erfahren, daß seine Untertanen ‚in Städten, Flecken und Dörfern
das Vollsaufen wider Gottes Gebot und derhalben ausgegangene Ordnung
unbetrachtet jetziger geschwinden und gefährlichen Zeitläufe sich befleißigen“.
Auch in einem auf kirchliche Dinge bezüglichen „Ausschreiben der
Fürstlichen Statthalter, Kanzler und Räte” vom 25. März 1549 wird auf den
Einluß des Alkohols erneut hingewiesen: „Die Untertanen“, so heißt es,
„suchen anstatt des Reiches Gottes den gebrannten Wein und andere Zechen ...
und brauen Bier ...“
Unter dem 12. Juli 1551 ergeht ein Ausschreiben, das die bisher erlassenen
Ordnungen gegen das Trinken besser gehalten werden sollen. 1558'* wendet
sich Philipp gegen das „unmäßige Brandweintrinken“ insbesondere. In der
Begründung der Maßnahmen klingt die Ordnung vom 3. Juni 1543 an. Das
Brandweintrinken wird überhaupt verboten, „damit kein Gelage mehr, weder
von Wirten, Bürgern, Bauern, Edlen und Unedlen gehalten“ werden könne.
Brandwein darf nur noch „kranken und gebrechlichen Manns- und Weibs-
personen, die seiner von wegen Schwachheit und Gebrechlichkeit ihres Leibs
oder sonst zu notwendigen Dingen zu gebrauchen von Nöten haben, ver-
kauft werden“.
k * k
Philipps Nachfolger sind eine Zeitlang auf dieser Bahn weitergegangen.
Wirkliche Erfolge konnten der mangelnden MELDE en lungen wegen
nicht erzielt werden. Sollten aber die Gesetzgeber von heute aus diesen alten
Bestimmungen nicht manche Anregung schöpfen können?
Spener und der Alkohol.
(Zum 250 jährigen Jubiläum der „Pia Desideria“.)
Von Pastor Dr. Stubbe.
Kirchen- und kulturgeschichtlich bedeutsam ist das Erwachen des Pietis-
mus nach den Wirren des dreissigjährigen Krieges. Wenn von ihm die
Losung ausgegeben wurde ein reines Leben gegenüber einer reinen Lehre,
so musste das naturgemäss auf die gesamte Lebenshaltung einwirken und
zugleich eine Kampfesparole gegen die üblichen Trinksitten sein. Die pieti-
stischen Kreise, die ecclesiolae in ecclesia, wurden zu Nüchternheitsinseln
ım Meere des deutschen Alkoholismus.
Vater des Pietismus ist Philipp Jakob Spener, geboren 13. Januar 1635
in Rappoltsweiler im Oberelsass (t 5. Februar 1705). Er studierte in Strass-
burg und ward dort 1663 „Freiprediger‘“, darnach 1666 Senior der Geistlich-
keit in Frankfurt a. M. Hier begann er mit den berühmten Erbauungs-
versammlungen (collegia pietatis), die verhindern sollten, daß das christliche
Leben über dem Buchstabenglauben verloren gehe. Hier schrieb er 1675 auch
seine „Pia Desideria oder Hertzliches Verlangen, nach GOttgefälliger
Besserung der wahren Evangelischen Kirchen“, — ein Buch, welches in seiner
Wirkung unmittelbar den großen reformatorischen Schriften Luthers und
Schleiermachers Reden über die Religion zur Seite zu stellen ist. Mir liegt
die Ausgabe Frankfurt a. M. 1676 „in reng pam David Zonners“ vor.
Wie Luther in seinem Sendschreiben an den Christlichen Adel deutscher
Nation, nimmt er in dieser grundlegenden Schrift des Pietismus zur Alkohol-
irage Stellung. Wir zitieren wörtlich (S. 37 f.): „Wir müssen bedenken, daß
die Trun ken heit unter die Zahl gehöre, welche nicht nur an hohen und
geringen orten bey geist- und weltlichem Stande regieret, sondern auch Mre
vertheidiger findet, welche ob sie wohl bekennen, daß derjenige, welcher gar
ein handwerk daraus machen wolte, sich damit versündigte, dennoch immer
14) Verordnung vom 8, Juli.
72 Abhandlungen.
davor halten wollen, daß bey gelegenheit einem guten freund zu gefallen, dass
eben nicht zu offt geschehe, einen rausch zu trincken, keine, oder eine kaum
deß anders würdige sünde sey. Daher -wird solche niemahl bußfertig er-
kannt; dann solte sie erkannt werden, so muß einmahl der haß gegen sie
efasset seyn, nun und nimmermehr dieselbe jemand zu gefallen zu begehen.
em kommt aber bey dem gemeinen hauffen dieses nicht gantz frembd und
ungereimt vor, daß er auch diese sünde ein vor alle mahl verschweren müsse,
solle er ein kind GOttes seyn? Vielmehr gedenken solche leute, diejenige.
welche wider solche sünde eyffern, müssen sonst seltzame leute, oder aus
andern ursachen dieser ergötzlichkeit feind seyn, daß sie dero lehre in
diesem punckt vor Göttlich solten erkennen; und gleichwohl ist sie Göttlich.
Massen S. Paulus I Cor. 6, 10 die trunckenbolden unter keine (vor GOTT)
ehrliche gesellschaft setzet, als zu den hurern, ehebrechern, weichlingen,
knaberschändern, dieben, geitzigen, lästerern, raubern: Die alle überhaupt
vom reich GOttes von ihm außgeschlossen werden.
Und gilt hie nicht, die distinction zu versuchen, daß ein unterschied seye
unter einem, welcher es eben alle tage that, und seyne freude selbst darinnen
suchet, und anderen die es seltener nach ereignender gelegenheit anderen zu
gefallen thäten: gleich ob wären nicht diese, sondern jene nur gemeynet: dann
Zu geschweigen, daß die nichtigkeit dieses einwurffs auch anderweitlich auß
der Schrifft darzuthun ist, so wolte ich nur solche leute fragen, ob sie nur
derer jenigen leben vor verdammlich halten, welche alle tag hureten, ehe
brechen, knabenschändeten, stehleten, raubeten, etc. oder ob sie nicht glauben.
daß auch deß jahrs einmal, geschweige denn jeglichen monat einmal, solches
zu thun zuviel seye, und wo sie nicht solche sünde allerdings mit eifferi
vorsatz ablegeten, solche lasterhaffte unbußfertige leute der seligkeit tehi
gehen. Wie ich mich nun, daß dieses letztere von allen werde erkannt werden,
so nur etwas von Göttlicher erkantnuß haben, versehe: Wie kommts damn,
daß wir allein von dieser sünde so gering achten, und sie kaum anders al;
auß dero öfftern begehung straffbar erkennen wolten? Dann was haben wir
mehr zu deroselben vertheidigung, als die alte der Teutschen und Nord-
länder hervorgebrachte und von einigen dero temperament beförderte gewon-
heit? Meynen wir aber, daß solche GOttes wort aufhebe? Gewiß solches
vermag sie so wenig zu schützen, als Pauli außspruch an die Corinther mit
bestand hätte dieses mögen entgegen gehalten werden, daß bey den Griechen
solche gewonheit auch eingerissen gewesen. Ja, so wenig wir andem |
Völckern, die etwa zu unzucht, diebstal, und dergleichen mehr möchten geneigt
seyn, gestehen, daß deßwegen solche ihre laster geringer zu achten; so ee
werden sie uns in unserer trunckenheit lassen entschuldiget seyn, und
so viel weniger wird der gerechte GOTT ihm von uns einen strich durch seyn
gesetz machen lassen.
Wann dann nun einige mit diesem argument auffgezogen kommen, daß
die trunckenheit nicht müsse so schwere sünde seyn, weil ın dem gegensatz
die wahren Christen unter uns gar zu dünne möchten gesäet seyn. So lasst
ich vielmehr diese folge gelten, und schließe noch weiter, daß solche sünde
so viel gefährlicher, so viel mehr sie überhand genommen und von ur
erkannt wird. Also, daß man sich auch mit jenen zu Sodom, dersell
rühmet, oder sie je schmücket, oder für ein Peccatillum geachtet haben will.“
Demgemäß sollen auch die Professoren ihren Studenten ein gute
Beispiel geben und „auff der ihnen anvertrauten Studiosoren leben so wo
als auff die Studia acht geben, und denen, die es bedörffen deßwegen ofit zu
sprechen, auch gegen die jenige, welche zwar staatlich studiren, aber audi
stattlich schwermen, sauffen, prachtiren“ — — — zeigen, daß sie nur genng
eingeschätzt werden (S. 135).
Angehängt ist den „Piis Desideriis“ ein „erfordertes Be-
dencken“; (der Verfasser, ein Gesinnungsgenosse Speners ist nicht ge
nannt) darin wird über den Stand der W irte Folgendes ausgeführt: _
„Zu der Handlung 6 h. zum Handelswesen, zum Kaufmannstand) ziehe :
Jch etlicher massen die Wirthschafften, bey denen so viel sünden $i
den; daß Jch bedencken trage, bey diesen gottlosen zeiten einem Frommen
Stubbe, Kirchenvisitation in Kursachsen 1555. 13
zu rathen, Wirthschafft zu treiben; dann indem er einmal der frembden Laster,
Sünd und untugenden, wann er gleich sein von GOtt ihm anbefohlenes
riesterliches Ampt beobachten solte, nicht allezeit ändern kan, sondern aller-
d unzüchtige Reden, fluchen, schweren, rasseln, und viel anderes hören
muß, und die zarte Jugend der Gäste allerhand seltzame Aufzüge mit
wincken, deuten, spielen, huren, etc. siehet; So kan nichts anders als ärgernüß
darauff er Daher Jch wünschen wolte, daß zur Zierde unserer Evange-
lischen und nachfolg der alten Christlichen Kirchen, die so hoch beliebte und
gelobte Gast-freundlichkeit unter uns allen wieder a möchte werden,
da von jeglichem fromme frembde mit-Christen oder Glaubens-genossen rühm-
lich aufgenommen, mit nothdürfftiger Speiß und Tranck versehen, und mit ge-
bührlicher Ruhe erquicket würden. Wie aber noch zur zeit schlechte Hoffnung
derselben sich blicken lässet, und zu fortführung Handel und Wandels in der
Welt, die Wirthschafften fortgeführet müssen werden, so werden Christliche
Wirth ermahnet, auch in diesem stück ihre Sełigkeit mit furcht und zittern zu
würcken, daß sie die Gäste ja nicht übersetzen oder schinden, sondern auff
die außlagen nur das schlagen, was die angewendete Mühe der Hausgenossen
erfordert, wie dann die Arbeit und bemühung, daß einige Mittel sind, davon
eh ständen ins gemein deß Lebens, Unterhalt und Segen ver-
ordnet hat.
So ist der Wirth zu seinem Gewissen verbunden, denen Gästen ihre
Sünden, muthwill, etc. bescheidentlich vorzuhalten und sie zum guten zu er-
mahnen, auch auff den verweigerungs-fall ihnen das Losament und den Tisch
auffzukündigen: Und wie 3. fast Landbräuchlich werden wil auff die heilige
Sonntage in Wirths-häusern zu spielen und zu sauffen, wäre mein rath,
diesem bösen so zu steuern, daß der Wirth von Gottes wegen denen Gästen die
unfug vorhielte, und wo sie darauff sich von selbst nicht änderten, keinem
einheimischen etwas in Gesellschafft, Frembdlingen aber nur was zur blossen
Nothdurfft dienet, reichete. Wie dann 4. ohne dem denen Gästen nicht mehr
solte vorgesetzet werden zu jeden zeiten, als was Standes-gebühr jeglicher zu
seiner Nahrung bedörfftig, und ist das unverantwortlich, wann umb deß
nutzens oder ab angs willen denen leuten mehr Weins gegeben wird, als die
Natur ertragen kan: Da bey erfolgten todsfällen, dergleichen wir innerhalb
wenig zeit dieser Orten drey gehabt, die Blutschulden auff den Wirth und
seine Kinder kommen biß is dritte und vierhte Glied. Deut. 22,8.“
Unendlich viel kommt auf das gute Beispiel des Predigers an. „Heut
iebet das scharpffe Welt-aug darauffacht, ob Prediger — — — zur frölich-
eit über ordiner trincken; Ob nun wol an sig. selbst dergleichen Dinge nicht
allerdings böß sind, und zu wünschen, daß der Splitter-richter nichts mehr
zu beurtheilen hätte, so hat man doch darauff zu reflectiren, und mit Paulo,
daß man auch macht hätte nicht zu gebrauchen, daß ja dem Evangelio kein
hindernüß gemacht werde.“
Kirchenvisitation in Kursachsen 1555.
Die alten kirchlichen Visitationsprotokolle sind eine Fundgrube für die
Kenntnis des Volkslebens, insonderheit auch der Unsitten einer Zeit. Berg-
man-Kraut heben die Visitationsberichte des schwedischen Erzbischots
Abraham Angermannus aus dem Jahre 1856 hervor, die zeigen, wie ernst
es dieser wackere Mann mit dem Trunke nahm!).
Wir wollen „Die Kirchen- und Schulvisitatioa im sächsischen. Kurkreise
vom Jahre 1555“ betrachten. Nr. 90 und 92 der Schriften des Vereins für
Reformationsgeschichte?) bringen eine eingehende Darstellung (nach größten-
teils sonst noch nicht veröfentlichtem Aktenmaterial) von Prof. W. Schmidt.
Ihr folgen wir.
Der sächsische Landtag wünschte eine neue?) Kirchen- und Schul-
visitation. Eine der ersten Regierungsmaßnahmen des Kurfürsten August
') B.-Kr., Geschichte der Nüchternheitsbestrebungen, 2. Aufl., S. 77.
?) Halle a. S., Verlag von Rudolf Haupt.
”) Die erste fand 1528 statt.
74 Abhandlungen.
1553—1586) war die Anordnung derselben. Für das Programm war
elanchthons Urteil mit entscheidend. Besonderes Gewicht wurde darauf
gelegt, daß sich die Visitation eingehend auf die Sitten der Geistlichen und
emeinden erstrecken müsse, wobei namentlich u. a. auch gegen all
Unmäßigkeit vorgegangen werden solle. Bei dem Gutachtenentwurt machte
bei dem Abschnitt „Von sitten der priester‘ Melanchthon persönlich den
Zusatz: „von etzlichen, die Bier schenken oder sunst negatiationes haben“.
Zu Visitatoren wurden Johann Forster, Paul Eber und Moritz von Theumen
ernannt.
Im allgemeinen kann sowohl den Geistlichen und Lehrern, wie den Ge-
meinden ein gutes Zeugnis gegeben werden. Es sind doch in der Vor-
bildung und Wirksamkeit des Pastorenstandes seit 1528 bedeutsame Fort-
schritte anen und die Arbeit an und in den Gemeinden hat Früchte ge-
tragen. Wir heben jedoch hier die Mängel, die alkoholischen Mißstände, her-
vor, ob sie nun in alten Sitten und Gewohnheiten, oder in persönlicher Un-
vollkommenheit und zeitgeschichtlichen Nöten wurzeln mögen. (Daß die Visi-
tatoren ihrer gedenken, ist ja eben ein Zeichen, daß sie dagegen kämpfen
und sie ausmerzen wollen.) Bei den einzelnen Kreisen kommen zuerst
die Geistlichen, dann die Gemeinden an die Reihe.
l. Kreis Wittenberg.
Wegen seinerTüchtigkeit wird der Diakonus von Schmiede-
berg gelobt, aber er ist angeklagt, „das, nachdem er vor etlichen jaren ein
brauerb erkauft und jerlich wie ander burger 7 oder 8 bier breue, er solchs
den meisten teil pflege im haus außzuschenken und gleich andern burgern gest
zu setzen‘; (daneben treibe er das Seilerhandwerk). Den Visitatoren fällt es
schwer, gegen den armen Diakonus vorzugehen, der sich damit entschuldigt.
daß seine geringe eaung ihn zwinge, im Hause „Garn stricken“ zu lassen,
und daß er „um des erkauften Hauses halben, noch tief in schulden stecket“
und darum allerdings „biß weilen sein weib und döchter hat bier schenken
lassen, do er dasselbe bei fassen und vierteln nicht hat können vorkaufen.“
Die Visitatoren nehmen ihm das Versprechen ab, wenigstens keinen „wisch
auszustecken und also das bier oeffentlich außzuschenken‘; do er aber ein
viertel oder faß für seinen tisch aufthun und seinen nachbarn, do sie begerei.
kandelweise aus dem haus verlassen wurde, solle ihm doch aus gunst nicht
verwehret sein.“
Bei den Gemeinden wird öfter Unmäßigkeit im Trinken getadelt. So
wird berichtet, daß in Rahnsdorf „an den hohen festen als weihnachten
pfingsten grosse seuferei, welche balt am feierabent angefangen, getrieben
wirt.“ In Pratau beschwert sich der Pfarrer, „daß bißweilen die krüger unter
der predigt gast halten und zech gestatten“ und er fügt hinzu: „sonderlich der
in Geßners krug soll bißweilen auch unzüchtige weiber herbergen.“ In Rotto
heißt es geradezu, daß der Krüger „unzucht in seinem hause leid.“
ll. Die Aemter Schweinitz, Lochau und Seyda.
1 häßlicher Fall liegt vor: Der Pfarrer von Knüppelsdorf „soll stets
im krug ligen, darein ehr auch jetzt 5 alte schock schuldig sei, saufe sich
auch so voll, daß er uf dem mist sich sühlet wie eine alte sau und laß
sein weib und kind sehr schlammig gehen, versauf lieber das gelt, denn das
er ihnen was an leib kaufte.“ Das Amt wird natürlich vernachlässigt.
Der ek Pfarrer schenkt gegen Verordnung der früheren
Visitatoren das selbstgebraute Bier öffentlich aus und läßt sogar „auf die
3 furnemsten festtag bursche und zech halten.“
Aus den Gemeinden heißt es: In Herzberg herrsche „grosse unord-
nung nach den kindteuffen;“ „da alsbald der tag, so das kindlein getauft
worden, die gevattern zu gast geladen werden und darnach wol die halbe
nacht der armen kindbetterin überm Hals sitzen.“ Aus den Abendhochzeiten
machen die Leute manchmal 3, 4 Festtage. In Plössig wird gerügt, daß die
Gemeinde bei Abhaltung der Kirchenrechnung zu viel Kirchengeld vertrunken
Stubbe, Kirchenvisitation in Kursachssen 1555. 75
hat. In einigen Dörfern finden bei ,zechen“ und Hochzeiten „unzuchtige
tenze“ statt, so daß alle Tänze „bei der zechen“ gänzlich verboten werden
sollen.
III. Die Aemter Schlieben und Liebenwerda.
In Liebenwerda und Baruth lassen sich viele Leute während der Mit-
tagspredigt „zum gebrannten wein oder auf dem markt finden“, so daß der
Bürgermeister eine Strafe darauf gesetzt hat.
IV. Die Aemter Bitterfeld und Gräfenhainichen.
Bei 3 Pfarrern klagt der Junker über Neigung zum Trunke, — bei
dem zu Beyersdorf die Gemeinde, „daß er gern im krug wer und doselb zu
tinden dann uf der pfarren ob den buchern.“
In Gräfenhainichen beschwert sich der Pfarrer über „stetes schweigen
und sauleben“ der Gemeinde. Insbesondere herrscht auf den Hochzeiten
„sehr grosse unordnung mit schwelgen und andern, und werde das saufen
vor dem kirchgang und trauen angetangen, also daß ihr vil trunken in die
kirchen kömmen und aldo mit offentlichem gelechter, getummel und geschrei
wie die groben cyclopes sich gebaren.“ Ein weiterer Mißbrauch ist, „das
die krüger uf den döriern, domit sie vil biers können außschenken, gesellen-
schießen und boß- oder kugelpletz anrichten uf die feiertag mit ufwerfung
etlicher cleinoten.... Und uber das, das sie ihr gelt unnützlich aldo ver-
zeren mit zechen und spielen, bleiben sie uber nacht und wol etliche tag
im krug ligen mit grossen verdacht geübter unzucht und ufs wenigst mit
verseumnis der arbeit und mit schaden ihrer eltern und herren, denen sie
dienen.“ Aehnlich wird in Brehma das „ubermas mit dem pfingst- und weih-
nachtbier‘ getadelt. Bei Beiersdorf wird ausdrücklich erwähnt, daß allent-
halben im Bitterfeldischen amtpt in dörfern der gebrauch gewesen, daß sie
das pfingstbier in die kirche gelegt haben.“ Solches sei durch kurfürstlichen
Befehl durchaus abgeschafft.
V. Die Aemter Belzig und Gommern.
1 Pfarrer ist zu rügen. Der Hauptmann zu Belzig beschuldigte den
Pfarrer von Lüssa, daß er „vilmals im rug sei, mit den bauern sich voll-
saufe“ und dabei „beschwerliche worte“ von dem Hauptmann gebraucht habe;
er wird „solches seines saufens willen hart bestraft.
In Brück wird es den Bürgern verboten, unter der Nachmittagpredigt
„bier zu schenken oder geste zu setzen, außgenommen frembde oder wander-
leut.“ In Rottstock erklärt der Pfarrer, daß „uf den hochzeiten vor dem kirch-
gang die bauern sich vollsaufen.“ In Plötzky gingen die Leute, meistens
olzhauer, „wenn den sonabend das gelt np ingen, so sie die wochen uber
verdient hatten, alsbald in den krug, sassen da bis in die mitternacht, kemen
des sonntags ihr gar wenig in die predigt.“ Deshalb wird ihnen die Sonn-
abendzeche verboten; wenn sie zechen wollten, sollten sie’s Sonntags nach
der Mittagspredigt abmachen.
Der gemeine Kasten,
welcher der Armenpflege dient, besitzt in einigen Orten ein eigenes „Kasten-
brauhaus“, dessen Benutzung auch den Bürgern gegen eine Abgabe zu-
steht. Häufig hat er Braupfannen gekauft, die er gegen eine bestimmte
Abgabe für jedes Gebräu ausleiht („brauhausgelt“ und „pfannengelt‘“).
Die Nachwirkung
der Kirchenvisitation war gut. Der hohe Ernst, der nicht nur seitens der
Visitatoren, sondern auch seitens der Mehrzahl der Geistlichen bei der Be-
kämpfung der Schäden des kirchlichen und sittlichen Lebens bewiesen wird,
bleibt nicht ohne Erfolg fürs Volksleben; in der Gesetzgebung aber sind die
Generalartikel des Kurfürsten August von 1557 als ein unmittelbares Er-
gebnis der Visitation anzusehen. Stub
16 Abhandlungen.
Bedeutsamebehördl.Maßnahmen undBekun-
dungen mit Bezug auf den Alkohol. (XXX VII)
Zusammengestellt von J. Flaig').
Aenderungen in der reichsmäßigen Besteuerung
der geistigen Getränke.
Durch das „Gesetz über Steuermilderungen zur Erleichterung der Wirt-
schaftslage“ vom 31. März 1926 wurden folgende Aenderungen in der Be-
steuerung der geistigen Getränke getroffen:
1. Die Weinsteuer wurde mit Wirkung vom 1. April ab aufgehoben.
2. Die durch Gesetz vom 10. August v. I. beschlossene Erhöhung der
Bier- und Tabaksteuer — bei Bier um % der a 1925 H.4
S. 204) tritt statt op 1926 erst auf 1. Januar 1927 in
raft. (Der aus-
ländische Kommissar tür die verpfändeten Reichseinnahmen hat sich aller-
dings laut Zeitungsnachricht zunächst nur mit Verschiebung der Erhöhung
bis 30. Juni einverstanden erklärt, wobei aber die Anwendbarkeit seines
Bu rcon noch geklärt werden soll.
. Die Schaumweinsteuer wird mit Wirkung vom 1. Juli d. J. ab
folgendermaßen festgesetzt:
„l. Für Schaumwein und für schaumweinähnliche Geträuke mit Aus-
nahme solcher aus Fruchtwein ohne Zusatz von Traubenwein: eineReichs-
markfürdie gonzi Flasche, 2. im Be 20 Reichspfennig
tfürdieganzeFlasche. (Ziffer I gilt also ollenbar für Schaumweine aus
Trauben oder unter Zusatz von Traubenwein, Ziffer 2 für Fruchtweine. D. Ber.)
Für jede halbe Flasche ist die Hälfte und für jede kleinere Flasche ein Viertel
der auf die Flasche entfallenden Steuer zu entrichten.“
Als ganze Flaschen gelten solche von über 425 bis 850 ccm, also von |
nahezu ; l aufwärts, als halbe solche von über 230 bis 425 ccm, also von etwa
4% bis nahezu % 1. Die Steuer hat der Hersteller oder der Einführer zu be
zahlen (durch Anbringung eines Steuerzeichens — „Banderole“ — an der
Umschließung). Auf Verkürzung oder Gefährdung der Steuer ist hohe Geld-
strafe gesetzt.
Das sächsische Wohlfahrtspflegegesetz
und die Bekämpfung der Alkoholnot.
Das sächsische Wohlfahrtspflegegesetz vom 38. März v. J. bezieht in die
Pflichtaufgaben der ötfentlichen Wohlfahrtspflege auch
„die Bekämpfung des Alkoholismus und die Trinkerfürsorge‘“ mit ein. Der
Landesfürsorgeverband (der Staat) hat u. a. dafür zu sorgen, daß zur Unter-
bringung von Trinkern den Bezirksfürsorgeverbänden ausreichend öffentliche
und Beate Anstalten zur Verfügung stehen. Für die wichtigsten Zweige der
Wohlfahrtspflege (also wohl auch für die Alkoholfrage) müssen ehrenamtliche
Fachausschüsse gebildet werden, die dem Landes-Wohlfahrts- und -Jugendamt
als sachkundige Berater dienen. (Das Arbeits- und Wohlfahrtsministerium hat
im Einvernehmen mit den beteiligten Ministerien die erforderlichen Aus-
führungsbestimmungen zu treffen.
In der unterm 20. März 1926 vom Arbeits- und Wohlfahrtsministerium
erlassenen Ausführun 5 sverordnung (Sächsisches Gesetzblatt 1920
Nr. 10) wird nun zu $ 2 Ziffer 7 des Gesetzes bestimmt:
„Bekämpfung des Alkoholismus und Trinkerfürsorge.
8 58.
(1) Die Wohlfahrts- und Jugendämter haben an der Aufklärung über
die Gefahren des Alkoholismus tatkräftig mitzuwirken. Bei der Erörteru
von Fürsorgefällen, insbesondere ın den Fällen von Gefährdung un
1) Im übrigen s. jeweils auch unter „Chronik“ !
Flaig, Bedeutsame behördliche Maßnahmen mit Bezug auf den Alkohol. (XXXVIII) 77
Verwahrlosung, ist zu rüfen, inwieweit der Alkoholismus als
Ursache mitgewirkt hat.
(2) Jedes Wohlfahrts- und Jugendamt hat sich der Beratung der
Trinker und ihrer Familien, im Falle des Bedürfnisses ın ge-
sonderten Fürsorgesprechstunden und Trinkerfürsorgestellen, an-
zunehmen. Es soll sich hierbei der von den alkoholgegnerischen re de en
eingerichteten gemeinnützigen Stellen, insbesondere der Sächsischen Landes-
hauptstelle gegen den Alkoholismus, bedienen und diese fördern.
L Die Maßnahmen zur Behandlung Alkoholkranker sind
Pflichtaufgaben der Wohlfahrts- und Jugendämter. -
(4) In Ben Fällen ist auf gerichtliche Entmündigung wegen
Trunksucht nac 680 der Zivilprozeßordnung und $ 9 des Gesetzes zur
Ausführung der Zivilprozeßordnung und der Konkursordnung vom 20. Juni
1900 in der Fassung des Gesetzes vom 20. Dezember 1924 (GBI. 1924 S. 620,
1925 S.32), sowie auf Schutzaufsicht hinzuwirken.“
*
Erlaß des Evangelischen Konsistoriums der Provinz Westfalen
vom 23. Januar 1926 betr. „Bekämpfung des Alkoholismus“.
„Wir weisen darauf hin, daß sich die alkoholgegnerischen Vereine West-
falens zu einer „Westfälischen Landeshauptstelle gegen den Alkoholismus
E. V., Sitz Bielefeld“ zusammengeschlossen haben, und benutzen diese
Gelegenheit, aufs neue die Bitte auszusprechen, daß sich die Herren Geist-
lichen mit den Fragen der Alkoholnot in unserem Volke befassen und ins-
besondere die ihnen anvertraute Jugend auf die Gefahren des Alkohols in
ernster und eindringlicher Weise aufmerksam machen. Die genannte Stelle
verfügt über ein reiches Material an Broschüren und Flugblättern, das u. a.
zur Verteilung und Verwendung im kirchlichen Unterricht verwendbar ist;
weiteres geeignetes Material ist vom Deutschen Bund evangelisch-kirchlicher
Blaukreuzverbände durch die Blaukreuzbuchhandlung Hertord zu beziehen.
Wir bitten, sich mit den genannten Stellen unmittelbar in Verbindung
zu setzen.‘‘
Te
Kirchliche Oberbehörden für Gemeindebestimmungsrecht und
Unterschriftensammilung.
Rundschreiben des Deutschen evangelischen Kirchenausschusses
vom 12. Februar d. J. an die angeschlossenen Oberkirchenbehörden.
„Nach einer Mitteilung des Reichsausschusses für Gemeinde-
bestimmungsrecht in Berlin-Dahlem soll am Sonntag, den 14. März d. Js.,
wieder mit einer Sammlung von Unterschriften für Einführung des Gemeinde-
bestimmungsrechts begonnen werden.
Von dem Deutschen Verein gegen den Alkoholismus sind dazu folgende
Drucksachen eingegangen: 1. Will: „Warum brauchen wir ein Schankstätten-
gesetz?“. 2. Dr. Kraut: „Das Gemeindebestimmungsrecht“. 3. Verzeichnis
neuer Schriften über das GBR. — die ich in der DnE mit einem Formular,
wie es bei jener Unterschriftensammlung Verwendung finden soll, zur
an en Kenntnisnahme ergebenst übersende. Ich füge nachstehend einige
usführungen bei, die mir zur Sache von dem Deutschen Verein gegen den
Alkoholismus zugegangen sind, und darf im übrigen auf das vorjährige Rund-
schreiben vom 15. April 1925 — K.-A. 904/25 — ergebenst Bezug nehmen.
Die kirchlichen Oberbehörden bitte ich hierdurch ergebenst, prüfen
zuwollen,obundin welcher Weise den Geistlichen eine
Mitwirkung bei dieser Unterschriftensammlung nahe-
zulegen sei.
Gleichzeitig sende ich dem Wunsche des Zentralausschusses für Innere
Mission entsprechend in der Anlage dessen Rundschreiben betr. Begründung
eines Archivs: „Die evangelische Kirche und die Alkoholfrage“ nebst Anlage;
18 Abhandlungen.
es wird eine Sammlung der Veröffentlichungen, die von evangelisch-kirch-
lichen Behörden oder freien Organisationen ausgegangen sind, ichtigt;
w Förderung dieses Zweckes dürfte im allgemeinen kirchlichen Interesse
iegen“.
Bekanntmachung des Evang. Konsistoriums der Provinz Westfalen, Münster,
vom 26. Februar (veröffentlicht im Kirchlichen Amtsblatt).
„In der Zeit vom 14. März bis 18. April d. Js. soll durch ganz Deutsch-
land hindurch eine Unterschriftensammlung für das Gemeindebestimmungs-
recht veranstaltet werden. Wir vertrauen, daß Pfarrer, Presbyterien und
Vereine diese Gelegenheit benutzen werden, um aufs neue sich gegen die
schweren Schäden und Gefahren tatkräftig einzusetzen, die durch den
Alkoholismus über unser Volk heraufbeschworen werden, und die angesichts
der erschütterten Volkskraft und der schweren Wirtschaftsnot nur um so
verderblicher sind.
Wir ersuchen die Herren Pfarrer unseres Aufsichtsbezirks, im Haupt-
ent am 14. März in geeigneter Weise der Gemeinde
ie Alkoholnot und die Pflicht zum Kampfe gegen den
Alkoholmißbrauch vor Augen zu führen. Auch wollen sie
den kirchlichen Vereinen die Mitarbeit bei der Unter-
schriftensammlung nahelegen. Wo ein Ortsausschuß für die
Unterschriftensammlung nicht besteht, können Unterschriftenbogen upd
Flugblätter durch die „Westfälische Landeshauptstelle gegen den Alkoholis-
mus E. V. in Bielefeld“ bezogen werden. Im übrigen verweisen wir aul
unsere Verfügung vom 25. April 1925 Nr. 6007 ( irchl. Amtsblatt S. 51)
und vom 23. Januar 1926 (Kirchl. Amtsblatt S. 42)“.
Aehnliche Bekanntmachungen haben erlassen: das Evang.-lutherische
Landeskirchenamt von Schgleswig-Holstein, das Konsistorium von Schlesien,
der badische Evangelische Oberkirchenrat und wohl noch andere evangelische
Kirchenbehörden.
In dem schleswig-holsteinischen Erlaß vom 18. März heißt e
unter anderem: „... In Verfolg unserer Bekanntmachung gelegentlich der
vorjährigen Werbewoche für Gemeindebestimmungsrecht . . . halten wir es
für angezeigt, erneut auf die hohe Verantwortung hinzuweisen, die hin-
sichtlich der Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs auf der evangelischen
Kirche ruht. Wir empfehlen den Herren Geistlichen, in geeigneter Weise
auf die Bedeutung der Beschränkung des Alkoholgenusses für das sittliche
und Gemeinschaftsleben aufmerksam zu machen und auf die Notwendigkeit
solcher Beschränkung im Blick auf die schweren Schäden unseres Volks-
lebens ernstlich hinzuweisen. Inwieweit die Kirchenvorstände sich un-
mittelbar in den Dienst der Unterschriftensammlung stellen wollen, wird von
den jeweiligen örtlichen Verhältnissen abhängen und ihrer eigenen verant-
wortlichen Be ecung überlassen bleiben müssen“.
Die badische Be Aa nE vom 5. März empan den Geist-
lichen unter Ankündigung der Uebersendung einiger Flugschriften samt
Unterschriftliste durch den Badischen Landesverban g en den Alkoholis-
mus, „nicht nur selbst diese Zusendung einer gründlichen und gewissen-
haften Durchsicht zu unterziehen, sondern auch ihren Gemeindegliedern, S0-
weit sie es wünschen, behilflich zu sein, ihrer Zustimmung zum Ged
des Gemeindebestimmungsrechtes durch Eintrag ihres Namens in die Unter-
schriftenliste Ausdruck zu geben“.
Aehnliche Kundgebungen haben
katholische obere kirchliche Stellen
ergehen lassen. An der Spitze der Vorsitzende der Fuldaer Bischofskonferenz.
Kardinal Fürstbischof Dr. Bertram, Breslau.
Er hat dem „Kreuzbündnis“ unterm 18. Februar folgendes Rundschreiben
übersandt:
„Gemeindebestimmungsrecht zur Einschränkung
des Alkoholausschanks. Die Bestrebungen, den Gemeinden €m
Flaig, Bedeutsame behördliche Maßnahmen mit Bezug auf den Alkohol. (XXXVII) 79
Recht zur Einschränkung des Alkoholausschanks und Alkoholhandels zu
geben, um in vernünftigem Maße einer. das Gemeinwohl schädigenden Ver-
mehrung des Alkoholbetriebes entgegenzutreten, verdienen allgemeine Unter-
stützung. Es handelt sich hierbei nicht nur um Rettung einzelner, sondern
auch um Gesundung des Familienlebens,: um Schutz von Frauen und Kindern
gegen Ausschreitungen genußsüchtiger Männer, um das christlich-sittliche
epräge des öffentlichen Lebens in den Gemeinden, um Erhaltung von Volks-
kraft, Volksvermögen und Volksbildung. Das sind Güter, an deren
Bewahrung und Rettung die ganze Gemeinde beteiligt ist. Daher die Ver-
antwortung der ganzen Gemeinde. Ganz besonders ist es Sache der kirch-
lichen Autorität als Hüterin von christlicher Sitte und Ordnung, Be-
ee mit aller Kraft zu unterstützen, die dem fortschreitenden Nieder-
ga er christlichen Sittlichkeit einen Damm entgegenzusetzen geeignet
sind. Es ist daher sehr zu wünschen, daß die Bemühungen des katholischen
Kreuzbündnissess um Sammlung von Unterschriften für anllnrung des
Gemeindebestimmungsrechts vom hochwürdigen Klerus und allen katho-
lischen Organisationen wirksam unterstützt werden“.
Eine Rei nantıge Stellungnahme ist uns vom Bischof von Rottenburg
vom 19. Februar, vom Bischof von Paderborn vom 9. März und von dem-
jenigen von Meißen bekannt geworden. Wir geben die erstere Bekundung
als besonders bemerkenswert hier noch wieder:
„Gegen den Mißbrauch des Alkohols. Die steigende
Alkoholflut zieht von neuem seit den letzten Jahren bedeutende religiöse,
sittliche und soziale Schäden nach sich. Die Bekämpfung dieser
Schäden ist dringliche Pflicht. Im Mittelpunkt des Kampfes gegen den
Alkoholismus steht zur Zeit das Gemeindebestimmungsrecht. Die Be-
deutung dieses Rechtes liegt einmal darin, daß, wie anderwärts, wo
dieses Recht besteht, so sicher auch bei uns die Zahl der Alkohol-
verkaufsstellen vermindert würde. Sodann böte eine etwa erfolgende Ab-
stimmung über die Vermehrung der Konzessionen in der Gemeinde Gelegen-
heit, die weitesten Kreise über die Alkoholfrage eingehend aufzuklären. Die
Erfahrung in anderen Ländern beweist, daß bei Anwendung des GBR. ein
nachhaltiger Rückgang des allgemeinen Alkoholverbrauchs mit Sicherheit zu
erwarten ist.
Der Reichsausschuß deutscher Katholiken für das Gemeindebestimmungs-
recht (Geschäftsstelle: Haus Hoheneck in Heidhausen-Ruhr) teilt uns mit,
daß am 14. März mit einer allgemeinen Unterschriftensammlung im Reich
für das GBR. begonnen werden soll. Die Unterschriftensammlung soll dem
Reichstag den Beweis erbringen, daß nicht nur die kleinen Kreise der
anno ganlsationen, sondern weite Wählerkreise das GBR. als wirk-
sames Mittel gegen den Alkoholismus fordern.
Der hochwürdige Klerus wolle diese Bestrebungen in geeigneter Weise
unterstützen und namentlich in der Fastenzeit an einem ee in Predigt
und Christenlehre die Gläubigen ruhig und sachlich, aber auch ernst und
entschieden über das Verderbliche und Verwerfliche des Alkoholmißbrauchs
belehren und vor demselben warnen. Paul Wilhelm, Bischof“.
”
Bekundung der bayerischen Unterrichtsverwaltung für alkoholfreie Gestaltung
er Jugendwanderungen.
Der Bayerische Landesverband gegen den Alkoholismus hatte gelegentlich
der Tagung für alkoholfreie Jugenderziehung in Augsburg im Mai 1923 an
das Bayer. Staatsministerium für Unterricht und Kultus den Antrag gestellt,
es möchten alle Veranstaltungen der Schule (Ausflüge, Wanderungen, Schul-
este) Ber alkoholfrei durchgeführt werden, auch seitens der Führer;
und die Nürnberger Elternvereinigung war im Vorjahre mit einem gleich-
gerichteten Ansuchen an die Unterrichtsbehörde herangetreten. Dem ist nun
in den Richtlinien für die Leitungen der höheren Unterrichtsanstalten zur
80 Abhandlungen.
Durchführung des Schulwandertags, die im Amtsblatt des genannten
Ministeriums vom Januar d. Js. veröffentlicht wurden, Rechnung getragen,
indem es in Ziffer 18 heißt:
„Das Rauchen ist bei den Wanderungen grundsätzlich zu verbieten,
besonders auch unter dem Hinweis, daß rauchende Schülergruppen bei der
Bevölkerung Aergernis erregen.
Der Alkoholgenuß ist wenigstens in der Unter- und Mittelstufe grund-
sätzlich zu verbieten, in der Oberstufe — 7. bis 9. Klasse — ist er tunlichst
zu vermeiden oder doch einzuschränken. Den Schülern soll der freiwillige
Verzicht als das Erstrebenswerte nahegebracht werden. Auf jeden Fall darf
die a a zu solchem Genuß höchstens einmal am Tage und nur in so
beschränktem Maße gegeben werden, daß jede Ausschreitung unmöglich ist.
Den Lehrern wird es dringend ans Herz gelegt, durch das Opfer des eigenen
Verzichts den Schülern ein Beispiel zu geben“.
Das Landesjugendamt (Landeswohlfahrtsamt) von Niederschlesien fördert
Alkoholfreiheit der Jugend-Einrichtungen und -Veranstaltungen.
In den Richtlinien für die Verwendung der Mittel des ss te ons:
die kürzlich vom Landeshauptmann erlassen wurden, heißt es (Ziffer 5):
En LUDGER und Veranstaltungen, die... . Beihilfen aus dem Provin-
ziellen Jugendpilegefonds erhalten, müssen unbedingt und ausnahmslos
alkoholfrei gehalten werden. In den Fällen der Ziffer 4 (betr. Beihilfen an
ae treibende Vereine für einzelne Anschaffungen und Maß-
nahmen. D. Ber.) ist die Gewährung einer Beihilfe grundsätzlich nur an
solche Vereine zulässig, deren Vereinsleben alkoholfrei gestaltet ist. — Beim
Vorliegen besonderer Gründe, was im Einzelfalle nachzuweisen ist, ins-
besondere, wenn eigene Räumlichkeiten fehlen, soll es zunächst genügen.
wenn diese Bedingung in der Jugendabteilung des Vereins erfüllt ist“.
Die Wirkung des amerikanischen
Alkoholverbofs auf die Tuberkulose‘).
Von Prof. Dr. Julius Donath.
Wie ug auch frische Luft, Sonnenschein, genügende Nahrung und
Reinlichkeit in der Verhütung und Heilung der Tuberkulose sein mögen, so
können sie durch Alkoholismus unwirksam gemacht werden. Dafür gibt es
sehr lehrreiche Beispiele. Nach E. Martin!) ist bei den Chinesen, die g
die einfachsten Gesundheitsregeln sündigen, die Tuberkulose unvergleichlich
seltener als bei den Europäern, was er in erster Linie der großen Mäßigkeil
der Chinesen im Genusse geistiger Getränke zuschreibt. Nach Becker (M.m
W. 1904 Nr. 9) findet sich unter den fast vog enthaltsamen Fellachen kaum
ie Tuberkulose, umso häufiger ist sie bei den durch Trunksucht verkommenen
opten sowie bei den Nubiern, welche als Hausdiener bei den Weißen deren
Trinkgewohnheiten angenommen haben. Die Gesamtbevölkerung der Ver-
einigten Staaten zeigt nach Fischber go eine ungefähr dreimal so A
Sterblichkeit als die unter ihnen wohnenden Juden. In New-Yorks bevöl
ten Stadtteilen, wo die Juden in der größten Armut zusammengedrängt
leben, ist diese Sterblichkeit wesentlich geringer als die der Nichtjuden. Das
selbe gilt für Whitechapel, den elendesten Stadtteil Londons. In der ehe
maligen russischen Armee ist nach N. Schepotjeff (Die Tuberkulose der
+*+; Nach einem in der Jahresversammlung des „Tuberkulosenvereins Ungarischer Aerzte”
in Balatonfüred am 6. September 1925 gehaltenen Vortrage.
. „u, 1% tuberculose dans la race jaune. Zit. H.Hoppe, Die Tatsachen über den Alkohol,
. u . . .
?) H. Hoppe, Der Einfluß der Mäßigkeit der Juden auf ihre Mortalität und Morbiditåt.
Internat. Monatsschr. zur Bekämpfung der Trinksitten 1903, 11.10 u. 11.
Donath, Die Wirkungen des amerik. Alkoholverbots auf die Tuberkulose 81
russichen Armee, 1899) die Tuberkulosensterblichkeit unter den jüdischen Sol-
daten, trotz der elenden Ernährung der russischen Juden, eine auffallend ge-
ringe. Ob diese geringere Tuberkulosensterblichkeit der Juden eine Rassen-
eigentümlichkeit ist, wie manche behaupten, ist nicht erwiesen, obgleich die
Möglichkeit einer solchen relativen Rassenimmunität nicht geleugnet werden
kann. Diese stärkereWiderstandsfähigkeit ist von Hoppe für Deutschland
nachgewiesen, für Großungarn fand A. Fäy in seiner 1917 veröffentlichten,
eingehenden Tuberkulosenstatistik auf 100 000 Einwohner die -Tuberkulosen-
sterblichkeit bei aa zu 213, Reformierten 385, Röm.-Katholischen 464 und
Griech.-Katholischen 551. Jedem, der die Verbreitung des Trinkens in Ungarn
einigermaßen kennt, wird der Parallelismus zwischen dieser Sterblichkeit und
dem Alkoholismus in die Augen springen. Zur Erklärung genügt auf die
größere Enthaltsamkeit und die damit einhergehenden besseren Lebensverhält-
nisse hinzuweisen. Ein starker Beweis hierfür ist, wie ich hier zeigen werde,
die amerikanische Prohibition, derzufolge die Tuberkulose selbst in New-York,
der „feuchtesten” Stadt der Union, stark abgenommen hat. Anderseits leben
die australischen Landwirte (Crivelli) viel im Freien, trinken aber auch
viel und gehen stark an Phthise zugrunde; dasselbe gilt für die reichen
Bauern der Normandie (Brunon), sowie für die ungarischen Bauern in der
Bäcska und Somogy.
Aus dem Vorangehenden sowie den übrigen zahlreichen Alkoholschäden
aben nur wenig europäische Staaten die vollen Konsequenzen gezogen. Ein
solcher Staat ist Finnland, welcher seine Unabhängigkeit sofort mit der
Prohibition inauguriert hat; die übrigen baltischen Randstaaten machen An-
stalten, ihm nächstens zu folgen. Die skandinavischen Staaten, besonders Nor-
wegen und außerdem Island, konnten die Prohibition nur deshalb nicht
vollständig bei sich einführen, weil Spanien und Portugal nur unter der Be-
dingung geneigt waren, deren Fische, den wichtigsten Handelsartikel jener
Länder bei sich zuzulassen, wenn sie ihre starken Weine dort absetzen können.
Dagegen ist in den Vereinigten Staaten Nordamerikas schon am 16. Januar
1920 die allgemeine (National) Prohibition in Rechtskraft getreten. Um ihre
Auswirkung beurteilen zu können, will ich vorausschicken, daß schon im Jahre
1846 achtzehn Nordstaaten der Union, an ihrer Spitze der Staat Maine, die
Prohibition auf ihrem Gebiete eingeführt haben (State prohibition). Bis
zum Jahre 1918 hatte schon mehr als die Hälfte der Unionstaaten die
Prohibition angenommen, doch schon im Jahre 1917, als die Union in den
Weltkrieg getreten war, wurde vom Präsidenten, kraft seiner discretionären
Macht, das Alkoholverbot über das ganze Gebiet der Union und ihrer in
Europa kämpfenden Armee ausgesprochen (Wartime Prohibition). Dieses
blieb ununterbrochen in Rechtskraft, bis es im Jahre 1920 als 18. Amendement
(Ergänzung) ein integrierender Bestandteil der Unionsverfassung wurde.
ieses Gesetz verbietet die Herstellung jeden Getränkes, welches % Volum-
prozent Alkohol oder darüber enthält, sowie dessen Verkauf, Transport, Ein-
und Ausfuhr auf dem ganzen Gebiet der Union.
Die gesundheitlichen, volkswirtschaftlichen und sittlichen Wirkungen des
Verbotes treten natürlich vor allem in jenen Staaten und Städten hervor,
unter letzteren besonders in New-York, Chicago und San-Francisco, welche
sich als die „feuchtesten“ hervorgetan haben und teilweise es noch jetzt sind,
u. z. infolge des starken Alkoholschmuggels, Ausländerverkehrs, der Ausland-
reichen europäischen, an Alkohol gewöhnten Einwanderung, der Ausland-
reisen der Wohlhabenden, die dann Gelegenheit haben, wieder Trinkgewohn-
heiten anzunehmen. Umso beweisender sind die von solchen „feuchten“ Ge-
bieten gewonnenen statistischen Angaben. Für New-York, welches nach der
1920 er Volkszählung rund 6 Millionen Einwohner zählte, lauten die offiziellen
Daten folgendermaßen?):
3) A. Koller, Die Ergebnisse der amerikanischen Mortalitätsstatistik und das Alkohol-
verbot. Internat. Zeitschr. g. d. Alkoholismus. 1924 Nr.6. (Die Angaben rühren her von Dr.
Deeds Picket im statistischen Bundesamt in Washington).
Die Alkoholfrage, 1926. 6
82 Abhandlungen.
Sterblichkeit der Stadt New-York auf 100 000 Einwohner
Allgemeine Sterblichkeit infolge jeder
Jahr Sterblichkeit Art von Tuberkulose
1914 1455 202 .
1915 1458 1%
1916 1464 180
. 1917 1455 186
1918 (Influenza) 1788 184
1919 1335 152
1920 1293 124
1921 1117 102
1922 1193 100
1923 1172 96
Demnach von 1914—1923 Abnahme der Tuberkulosensterblichkeit um 525 %.
Während also die Abnahme der Tuberkulosensterblich-
keit von 1914—1917 7,9% beträgt, beläuft sie sich — mit
Außerachtlassung des Influenzajahres 1918 — seitder Prohibition
1910-1923 auf 38,2%. Wird erstere Zahl von der letzteren in
bracht, soergibtsichfür New-YorkalsunmittelbarePro-
ibitionswirkung dieAbnahme der Tuberkulosensterb-
lichkeitum 30,3%.
Die 1918 stark emporgeschnellte Mortalität ist die Folge der Influenza-
epidemie. Die Abnahme im darauffolgenden Jans welche sogar die Sterb-
lichkeit von 1917 übertrifft, ist an sich nicht auffällig, weil nach Epidemien —
infolge des Hinweggerafftwerdens der Schwächeren — die Sterblichkeit in der
Regel absinkt. Aber die Sterblichkeitsabnahme nach 1920 ist wohl den ge
besserten Gesundheitsverhältnissen zuzuschreiben. Doch zeigt die Tuber-
kulosensterblichkeit auch während der Influenzaperiode eine wenngleich ge
ringere Abnahme. Interessant ist auch die Tatsache, daß auf der Tuber-
kulosenabteilung der New-Yorker Kommunalspitäler nach der Prohibition
1000 Betten leer geblieben sind. Dabei hat aber die Bevölkerung von New-York
von 1918—1923 um 439395 Einwohner zugenommen (The National Ad-
vocate, 1925 Nr. 5).
Die Tuberkulosensterblichkeit hat aber auch auf der „Registration Area“
abgenommen, worunter jene Staaten und Städte zu verstehen sind, deren An-
gaben vom Statistischen Bundesamt in Washington für genügend verläßlich
und einheitlich befunden werden, um zu Bene namen abellen verarbeitet
zu werden. Diese Registration Area umfaßte im Jahre 1921 82,3 % der Be-
völkerung, rund 90 Millionen Einwohner. |
Tuberkulosensterblichkeit der Städte der „Registration Area“ auf
100 000 Einwohner
Jahr Sterblichkeit infolge jeder Art von Tuberkulose
1914 143,7
1915 142,3
1916 136,8
1917 142,0
1918 (Influenza) 145,2
1919 117,5
1920 104,0
1921 88,6
1922 86,8
Demnach von 1914—1922 Abnahme der Tuberkulosensterblichkeit um 39,6 %-
Während also die Abnahme der Tuberkulosensterblich-
keitvon 1914-1917 nur 1,2% beträgt, beläuft sie sich -
mit Außerachtlassung des Influenzajahres 1918 — seitder Prohibition
1919-1922 auf 41,2%. Wird auch hier erstere Zahl von der letzteren
in Abzug gebracht, so ergibt sich als unmittelbare Prohi-
tionswirkungfürdie egistration Area die Abnahmeder
Tuberkulosensterblichkeitum 40,0%.
Donath, Die Wirkungen des amerik. Alkoholverbots auf die Tuberkulose 83
Das Influenzajahr 1918 ist auch hier wahrzunehmen, aber die starke Ab-
nahme der Tuberkulosensterblichkeit von 1921—1922 ist wesentlich dem
Alkoholverbot zuzuschreiben, denn in wenigen Städten der Union sind die
Abwehrmaßregeln gegen die Tuberkulose so entwickelt wie in New-York.
Charakteristisch sind die Erfahrungen auf dem Gebiete der Lebens-
versicherung. Von den 14 Millionen Versicherten der Metropolitan In-
surance Company, die über die ganze Union und Kanada verbreitet sind,
kommen auf 100
im Jahre 1916 . . . . . . . 190,2
» » 190... . . . 1379
Pe T2 o a ee A
Todesfälle von Tuberkulose, also eine Abnahme von 1916—1921 um 38,3 %6).
Esfindetalsoauf derganzenLiniegeradezueinAbsturz
der Tuberkulosensterblichkeit statt, dem in Europa
nichts an die Seite zu setzen ist. Um diesen Gewinn an Leben-
den für die Stadt New-York auch in Zahlen auszudrücken, führe ich an, daß
während 1910—1918 von 100000 jährlich im Durch-
schnitt um 3 Personen weniger an jeder Art von Tuber-
kulose sterben, stieg diese Zahl 1918—1922 auf 21.
Was die Lungentuberkulose anlangt, starben in New-York
im Jahre 1910 . . . . . . . 8,692
» » 199 ....... 713%
» » 12 ...... . 5038
also 1922 um 3654 Personen d. i. 58 % weniger als 1910, die geringste bisher
in dieser Stadt beobachtete Ziffer’).
Durch die Prohibition ist sozusagen ein Massenexperiment an 106 Mil-
lionen Menschen erfolgt, wo alle übrigen Faktoren: Erwerbs- und öffentliche
Gesundheitsverhältnisse, a Aa gesellschaftliche Zustände usw. im
oßen und ganzen unverändert geblieben sind und nur die durch die plötz-
iche Alkoholentziehung geschaffenen Zustände sich geändert haben. Die in
den Vereinigten Staaten auf 2 Milliarden Dollar geschätzte Summe, die im
Jahre 1914 auf geistige Getränke verausgabt wurde, diente jetzt zu besserer Er-
nährung, Kleidung, zur Hebung der Wohnungsverhältnisse, gesünderen Lebens-
weise — ganz abgesehen von der besseren Befriedigung geistiger Bedürfnisse,
von Spareinlagen usw. — und all dies verursachte eine so rasche und hoch-
gradige Abnahme der Tuberkulosensterblichkeit, wie sie durch die sonst
musterhaften prophysektischen Maßnahmen und Heilanstalten von New-York
bisher nicht erreicht werden konnte. Das wird nach Her cod’), der sich
zum Studium der Prohibition zu wiederholten Malen nach Amerika begeben
hat, von der „New-York Tuberenlosis Society“ sowie von dem hervorragenden
Chirurgen Kelly anerkannt.
Aehnliche Ergebnisse weisen der Staat Massachusetts und dessen Haupt-
a Boston auf, der Staat Montana und die Städte Chicago, Michigan und
uis?).
u wollen wir auch die diesbezüglichen Verhältnisse in Rumpf-Ungarn
streifen.
Daß sich mit dem Zusammenbruche und der damit ae! Sean unge-
heuren Verschlimmerung der wirtschaftlichen, Ernährungs-, Wohnungs- und
anderen Verhältnisse die allgemeine und im besonderen die Tuberkulosen-
Sterblichkeit eine Steigerung erfahren werde, war vorauszusehen. Die vor
em Kriege sich zeigende geringe, aber stetige Besserung der Tuberkulosen-
Sterblichkeit zeigte wieder während und nach dem Kriege einen Rückgang, so
die Zunahme der Tuberkulosensterblichkeit in
Rumpf-Ungarn von 1921—1924 35,2% beträgt. In dem-
9C M. Gordon and Gifford Gordon, 35000 Miles of Prohibition, 1923, Melbourne,
Austr 2.
Anti-Saloon League Year Book, 1924, S. 126.
R. Hercod, Die Prohibition in den Vereinigten Staaten. Lausanne, 1924.
)L.c.C.M. Gordon and G. Gordon.
6*
84 Abhandlungen.
selben Zeitraum betrug in Budapest die Steigerung der
SterblichkeitanLungentuberkulose 11,3%.
Wenn wir nun — und dies gilt nicht nur für Ungarn, sondern auch für
viele andere Länder Europas — nach Jahren das New-Yorker Niveau in der
Abwehr der Tuberkulose erreicht hätten, blieben wir noch weit zurück hinter
der durch die amerikanische Prohibition bewirkten Abnahme der Tuberkulose.
Und wenn das alles nicht für genügend erachtet werden sollte, daß man in
Europa den Pfad der Prohibition betrete, dann muß daran erinnert werden,
daß die erstaunliche Abnahme der allgemeinen und der Tuberkulosensterblich-
keit nur eine Episode der Prohibitionswirkung ist. Hierher gehört auch die
Abnahme der Geschlechtskrankheiten, denn der Alkoholismus ıst zugleich das
Warmbett der übrigen beiden Volkskrankheiten, der Tuberkulose und der Ge
schlechtskrankheiten. Außerdem schützt die Prohibition den häuslichen Herd
und die künftigen Generationen, ist sie eine wichtige Förderin von Wohlstand
und Kultur, verringert in hohem Maße die Kriminalität sowie die Aus-
aben für Kranken- und Armenhäuser, Strafrechtspflege und Gefängnisse.
abei hat die Errichtung von Schulen aller Stufen, selbst von Hochschulen
für die Lernbegierigen, die sich zu ihnen drängen, einen wunderbaren Avf-
schwung genommen. Bezüglich Ungarns, welches seit seiner Verstümmelung
an einer schweren Weinkrise leidet, habe ich die. volkswirtschaftliche Durch-
führbarkeit des Alkoholverbotes in einer selbständigen Schrift nachgt-
wiesen”).
Welch mächtig verbreitete materielle Basis für die weitere Kulturent-
faltung der Union durch das Alkoholverbot geschaffen wurde, dafür will
ich unter vielem anderen nur eine einzige Tatsache anführen. Nach Irving
Fischer, Amerikas gefeiertem Nationalökonomen an der Yale Universität,
mehrt sich das Vermögen der Union infolge der Prohibition um jährlich
5 Milliarden Dollar bei einem schätzungsweisen Gesamtwerte von 300 Mi-
liarden. Und ich füge hinzu, dieses Plus ist eine Folge der gesteigerten
Leistungsfähigkeit.
Die großen Kulturen des Orients sind ohne Alkohol groß geworden.
Nach den verheerenden Wirkungen des Weltkrieges scheint es, daß Europa die
Fackel der Kultur, welche es einst von Asien übernommen hat und von dem
es jetzt eine Erneuerung erhofft, an Amerika wird weitergeben müssen, wo
eine alkoholfreie Kultur ihre Wiederauferstehung feiert. Dieser Vorgang
könnte durch die Annahme der Einrichtung Amerikas verlangsamt, vielleicht
auch verhindert werden.
Die Sterblichkeit der Enthaltsamen.
Von C. C. Nicholl, Chef-Mathematiker der „United Kingdom Temperance
and General Provident Insititution“.
Aus dem Englischen übertragen von S. J. Koning- Potsdam.
Auf eine Anfrage bei der „United Kingdom Temperance and
General Provident Institution“ in London, einer Lebensversiche-
rungsgesellschaft, die die größte Sonder- Abteilung für Abstinenien
besitzt, übersandte mir der Chef-Mathematiker Mr. C. C. Nicholl
den folgenden Aufsatz. S.J.Koning.
Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß zwar verschiedene Ver-
hältnisse, wie Gesundheit, Beschäftigung und Aufenthaltsort einen Zuschlag
zu den normalen Prämiensätzen erfordern können, damit das mit diesen
Verhältnissen verbundene größere Risiko ausgeglichen werde, aber nur eine
Möglichkeit besteht, eine umgekehrte Beurteilung bei Bemessung der Prämie
zu rechtfertigen, nämlich dann, wenn der Antragsteller sich völlig des
Genusses geistiger Getränke zu enthalten pflegt; denn der nachteilige ınfluß
Die ‚Alkoholgenusses auf die Lebensdauer des Menschen ist hinreic
wiesen.
5 J. Donath, Die Durchführbarkeit des Alkoholverbotes in Ungarn. Budapest, 19%.
Ker. Könyveshäz (Ungarisch).
Koning -Potsdam, Die Sterblichkeit der Enthaltsamen. 85
In England gibt es drei Lebensversicherungsgesellschaften, die satzungs-
gemäß das Verhältnis des Antragstellers zum Alkoholgenuß in Betracht
ziehen. Diese Unterlagen üben einen wesentlichen Einfluß auf die Ausstellun
des Versicherungsscheines aus. Ferner gibt es drei andere bekannte Gesell-
schaften, die den Abstinenten eine Prämienermäßigung einräumen. Diese
Gesellschaften verfügen über eine Garantiesumme von 50000000 Pfund
Sterling und haben eine Gesamtversicherungssumme von 120 000 000 Pfund
Sterling. Das Kapital dieser wenigen Gesellschaften macht einen bedeutenden
Teil der Gesamtversicherungssumme des Landes aus. Es besteht keine Gesell-
schaft, die nur Enthaltsame versichert. Allerdings hat die „United Kingdom“
als Pionier dieser besonderen Art von Lebens-Versicherung wirklich während
der ersten sieben Jahre ihres Bestehens (die Gesellschatt wurde 1840 ge-
gründet) nur diese Abstinenten-Versicherungen betrieben. Der Vorstand
beschloß aber dann, diese einseitigen, auf viele Schwierigkeiten stoßenden
Arbeiten einzustellen und das Geschäft auf breitere Grundlage zu stellen.
Die Abteilung für Abstinenten wurde beibehalten, und heutzutage sind die
Versicherungssummen in der allgemeinen und in der Abstinenten-Abteilung
fast gleich groß. Die Sterblichkeit in den beiden Abteilungen hat sich seit
1866 regelmäßig verringert, was den Vorstand veranlaßt hat, den Mitgliedern
der Abstinenten-Abteilung eine besondere Dividende auszuzahlen. Im Jahre
1904 hat der damalige Chef-Mathematiker der Gesellschaft, R. M. Moore,
in einer Rede die Mindersterblichkeit der Abstinenten festgestellt. Er verglich
die Sterblichkeit in den beiden Abteilungen von der Gründung der Gesellschaft
bis 31. Dezember 1901 und fand, daß die Sterblichkeit der Abstinenzler
günstiger war als die der anderen Versicherten, und zwar 4 Jahre im Alter
von 20 und ungefähr 1 Jahr im Alter von 60 Jahren. Der Uebertritt von der
einen in die andere Abteilung hat keinen nennenswerten Unterschied in der
Sterblichkeit hervorgerufen. Bemerkenswert war, daß, obwohl im mitteleren
Alter die Sterblichkeit bei den Abstinenten geringer war als in der allgemeinen
Abteilung, diese im Alter von 75 bis 79 Jahren größer war als in der
allgemeinen Abteilung. Diese Eigentümlichkeit ist nicht nur bei unserer
Gesellschaft in Erscheinung getreten, sondern auch von der „North Western
Mutual Life“ beobachtet worden. Man glaubt dies dadurch erklären zu
können, daß, da der Erfolg der Abstinenz eine durchschnittliche Verlängerung
des Lebens ist, viele schwache Personen infolgedessen das hohe Alter haben
erreichen können, die sonst früher gestorben wären, während die Personen
in der allgemeinen Abteilung im Alter von 75 bis 79 Jahren durchschnittlich
kräftiger Natur sind.
Folgende Aufstellung gibt ein Bild von den Verhältnissen der tatsächlichen
gegenüber der erwarteten Sterblichkeit:
Abstinenten- | Allgemeine
von Abteilung Abteilung Unterschied
1866—1870 74,9 % | 93,7% 188 %
1871—1875 707% 105,1 % 34,4 Y%
1876—1880 69,8 % 99,7% 29,9 %
1881—1885 70,8 % 91,6 % 20,8 %
1886— 1890 68,9 % 94,8% 25,9 %
1891—1895 71,3 % 99,7% 284 %
1896—1900 738% 90,5 % 16,7 %
1901— 1905 720% 83,3 % 16,3 %
1906—1910 65,7% 83,3 % 17,6 %
1911—1915 62,8 % 83,9 % 21,1 %
1916—1920 774% 82,6 % 52 %
1921—1923 53,5 % 72,2 % 18,7%
1924 54,1 % 64,2% 10,1%
86 Abhandlungen.
Nicht berücksichtigt ist hier die Kriegssterblichkeit; sie betrug 62,1%
in der Abstinenten- und 71,8% in der allgemeinen Abteilung. Die Sterb-
lichkeit der bei unserer Gesellschaft Versicherten im Jahre 1925 wird durch
folgende Zahlen veranschaulicht:
Abstinenten-Abteilung. erwartete: tatsächliche: Prozentsatz:
Todesfälle 935 492 52,6
ausgezahlte Vers.-Summe Pfd. St. 393637 Pid. St. 229 741 58,4
Allgem. Abteilung.
Todesfälle 586 437 74,6
ausgezahlte Vers.-Summe Pfd. St. 300 439 Pfd.St. 249 054 83,2
Die aus der „Scottish Temperance“ weisen eine tatsächliche
Sterblichkeit von 54 % in der Abstinenten- und von 69 % in der allgemeinen
Abteilung auf.
Seit 1866 ist die Sterblichkeit in der allgemeinen Abteilung stets größer
en als in der der Abstinenten. Mit Ausnahme des Jahres 1918, ohne
rücksichtigung der Kriegssterblichkeit in diesem Jahre war die Sterblichkeit
in der letzten Abteilung etwas größer, Wie die obige Aufstellung zeigt, ist
der Sterblichkeitsunterschied, der am Ende des 19. Jahrhunderts 25 % betrug,
seitdem auf ungefähr 15 % gesunken. Der Rückgang der allgemeinen Sterb-
lichkeit ist wohl hauptsächlich eine Folge der verbesserten hygienischen
Verhältnisse und der erhöhten Körperkultur, die jetzt allgemein betrieben wird.
Auch die Erfahrungen der „Mutual Life Insurance Comp. of Ney York“,
die W. E. Porter in den Tahren 1905—1912 feststellte, sind recht bemerkenswert.
Porter hat die Versicherten in drei Gruppen eingeteilt: 1. die Enthaltsamen,
2. die a ta und 3. die allgemeine Gruppe (selbstverständlich ohne aus-
gesprochene Irinker) und fand, daß die Sterblichkeit um 10 % höher bei der
mäßigen und 20 % höher bei der allgemeinen Gruppe als bei den Enthalt-
samen war.
Die statistischen Untersuchungen der „North Western Mutual Experience“
von 1886—1900, zusammengestellt von E. B. Phelps, berücksichtigen ebenfalls
drei Gruppen: 1. Enthaltsame, 2. Bier- und Weintrinker und 3. Schnapstrinker.
Die Sterblichkeit der 2. Gruppe war etwas höher und die der 3. Gruppe um
14 % höher als in der ersten Gruppe.
Diese Zahlen, zusammengestellt in verschiedenen Zeitabschnitten und
von Gesellschaften verschiedener Länder, beweisen die erhöhte Lebenskraft
und, als Folge davon, die Mindersterblichkeit der Enthaltsamen. Auch zeigen
sie, daß der Enthaltsame ein höheres Alter erreichen wird als der Mäßige
und daß die regelmäßigen Genießer alkoholischer Getränke für eine Lebens-
versicherungsgesellschaft weniger günstige Risiken bedeuten.
Chronik
für die Zeit vom 1. Januar bis zum 28. Februar 1926.
Von Pastor Dr. Christian Stubbe.
A. Zwischenstaatliches.
..„ Die organisierte Abstinenzbewegung feiert ihr hundert-
ähriges Jubiläum. Am 13. Februar 1826 wurde in Boston „the American
emperance Society“ begründet, deren Mitglieder sich verpflichteten, sich des
Branntweirıs und branntweinhaltiger Getränke zu enthalten (ärztliche An-
ordnung in Krankheitsfällen ausgenommen). (Vgl. die beiden ersten Aufsätze
in diesem Heft der „Alkoholfrage‘.)
Die Drangsalierung der Deutsch-Südtiroler durch Italien hat u. a. dazu
pl, daß 116 verschiedene Gesellschaften in W ien sich verpflichtet haben,
is zu einer Aenderung der Verwelschungsdekrete Wein Schnäpse und andere
Ausfuhrartikel Italiens zu boykottieren („Gaz. de Laus.“ 20. 2.).
Der Vorsitzende des Deutschen Bergarbeiterverbandes, Friedrich Huse-
mam, teilt über die Eindrücke der deutschen Bergarbeiter-
delegation in Amerika mit: „Wenn auch das Alkoholverbot an allen
Ecken zu durchbrechen versucht wird, so ist die Tatsache nicht zu leugnen,
daß sich der Wohlstand des amerikanischen Arbeiters seit der Durchführung
der Prohibition in bemerkenswerter Weise gehoben hat. Der Einfluß des
Alkoholverbotes auf die Kriminalität ist ungeheuer. In ihrem vollen Umfange
werden sich die Auswirkungen der Prohibition in der kommenden Generation
zeigen“. (,Gumbinner Volksfreund“ 14. 1. 26.
Unter dem Vorsitz des Bischofs von London wurde im Kirchen-
hause zu Westminster, 2. 2., eine bedeutsame andern Au op in der
ein Schreiben Sir Austen Chamberlains zur Verlesung kam: Die Regierung tue
alles, was sie könne, um den Vereinigten Staaten beizustehen, einen illegalen
Getränkehandel, den sie mißbillige, zu unterdrücken. Der Bischof von London
legte eine Statistik vor: Vom 1. Juli 1925 bis 1. Januar 1926 seien 24 aus-
wärtige Spirituosenschiffe von den a de taaten beschlagnahmt; 20
davon seien britisch. Sir Donald Maclean forderte Versammlungen in allen
großen Zentren, um gegen den gesetzwidrigen, den internationalen Frieden
erschütternden Schmuggel zu protestieren. (,Morn. Post“ 3. 2.
Der Internationale Ausschuß der Weltverbotsvereinigung ver-
anstaltete einen Danksagungstag und Bazar zu Gunsten der Weltverbots-
bewegung 18. bis 20. 5. in London („The Int. Rec.“ Nr. 36).
B. Aus dem Deutschen Reiche.
Allgemeines.
Der Bericht über den zweiten Deutschen Alkoholgegner-
tag und die Konferenz für Trinkerfürsorge in Düsseldorf ist soeben er-
Schienen, — herausgegeben von der Reichshauptstelle gegen den Alkoholis-
mus, Berlin-Dahlem (165 S., Preis: 3 M).
Die deutschnationale A hat folgende
Erklärung zur Schankstättenfrage festgelegt: (Die Fraktion) „sieht in der
Wahrung der christlich-sittlichen Volksgüter ihre wichtigste Aufgabe und
wünscht, daß der Kampf gegen die Trunksucht im Interesse der Volks-
Besundung mit allem Ernste geführt wird. Die Fraktion ET des-
alb einmütig nicht nur verschärfte Maßnahmen zum Schutz der Jugend-
lichen, sondern auch eine wirksame Reform des Konzessionswesens. Fine
Trockenlegung Deutschlands lehnen wir mit gleicher Einmütigkeit ab.“ —
88 ~ Stubbe, Chronik,
„In der Frage, ob das Gemeindebestimmungsrecht hierzu ein brauchbares
Mittel darstellt, ist die Fraktion geteilter Meinung. Das ist um so natürlicher,
als ja noch gar nicht feststeht, wie dieses Recht ausgestattet sein würde.
Die Fraktion wünscht, daß diese Frage bei der Beratung des bald vor-
zulegenden Schankstättengesetzes in gründlicher Untersuchung geklärt wird“.
(„Aufwärts“ Nr. 2.)
Der Reichstag behandelte 2. 1. eine Entschließung des Haupt-
ausschusses auf Einführung eines Schutzgesetzes gegen den Alkohol unter
Einbeziehung eines brauchbaren Gemeinde u FA über die Kon-
zessionierung von Schankstätten. Dazu lagen Abänderungsanträge vor, die
sich gegen das Gemeindebestimmungsrecht und gegen die Trockenlegung
wandten. Abg. Guerard (Ztr.) beantragte die Zurückverweisung der Ent-
schließung und der Abänderungsanträge an den Hauptausschuß. Abg.
Sollmann (Soz.) verlangte dagegen die sofortige Entscheidung. Im Hammel
sprung wurde mit 191 gegen 164 Stimmen die Zurückverweisung an den
> tausschuß beschlossen, so daß die Entscheidung wieder einmal ver-
schoben ist.
Die Winzerunruhen im Mosel- und Saargebiet Ende Februar haben
wiederholte Besprechungen im preußischen Landtage und deutschen Reichs-
tage zur Folge gehabt. Vor allem einigte man sich auf .eine rasche Geld-
hilfe. Dem Öberpräsidenten der Rheinprovinz wurden 1,6 Millionen M zur
Verteilung an die Winzer übermittelt. Weitere Unterstützungen und Hilfen
stehen in Aussicht.
Der Preußische Minister für Volkswohlfahrt teilt über
die Verwendung der vom Reichsministerium des Innern im Rechnungsjahre
1924 zur Bekämpfung des Alkoholismus überwiesenen Mittel aus dem
Branntweinmonopoltonds u mit: Im ganzen hat erhalten Sen
0804, Brandenburg-Berlin 229, Pommern 11920, die Grenzmark 2500,
Niederschlesien 18229, Oberschlesien 9853, Sachsen 19072, Schleswig-
Holstein 11 170, Hannover 17406, Westfalen 18242, Hessen-Nassau 1118,
Rheinprovinz-Sigmaringen 25114 M. — Es sind verwandt im ganzen für
Fürsorgestellen und ähnl. 24332, Heilstätten 2790, Arbeitskolonien 3%,
Gasthäuser und Heime 44 202,70, Milchhäuschen 2985, Lehrgänge 11 769,35,
Ausstellunger 7235, Propaganda 5874,30, Sonstiges 68 759,55 M.
Oeffentliche arnevalbelustigungen waren in Rüc-
sicht auf die Not der Zeit untersagt; privatim hat man sich um so mehr aus-
obt. „Trotz aller ernsten Aufrufe ist von einer Abnahme der an ngs-
ust, wie eine Berliner Großzeitung nicht ohne Genugtuung feststellt, nichts
zu spüren. Eine andere große Tageszeitung unternimmt den bemerkens-
werten Versuch, die Kosten nur einer e dieser Veranstaltungen zu
berechnen. Sie werden bei einem durchschnittlichen Eintrittspreis von 10 M
(nicht zu hoch bemessen; es gibt bekanntlich auch Eintrittskarten zu 35 M!)
und einem Besuch von 4000 Gästen, einschließlich Anschaffung von
Kostümen, Frisieren, Schminken, Fahrt (z. T. im Auto), Tombola-Lose aul
mindestens 175000 M veranschlagt. In der Berliner Faschingszeit finden an
manchem Abend ein Dutzend Bälle statt („Voss. Ztg.“). Mithin wurden ın
Berlin allein an einem Tage schätzungsweise über 2 Millionen M für Fast-
nachtsvergnügungen verausgabt. Und welche Summe im übrigen Reiche?"
(„Schl.-H. Sonntagsbote“ Nr. 19.) n
Als Alkoholinteressenten haben der Verein der Spiritus-
fabrikanten in Deutschland, der Deutsche Gastwirte-Bund und der Deutsche
Brauerbund einen „Reichsinteressenverband im deutschen Gaststätten-
gewerbe“ geschlossen; sie sind jetzt sehr regsam; vor allem kämpfen ste
egen das Gemeindebestimmungsrecht, welches sie Berne einer drohenden
rockenlecuns gleichsetzen. Besonders wird mit Flugschriften gearbeitet,
welche in einflußreichen Kreisen massenhaft verbreitet werden. Als „Bei-
träge zur Prohibitionsfrage“, herausgegeben von Dr. Hans Ehlers, sind
bereits 4 Schriften erschienen; als Verlage, die in dieser Richtung benutz
werden, sind mir bekannt geworden „Selbstverlag der Arbeitsgemeinschaft
der Gärungsgewerbe“ (Berlin), „Verlag der D. P. K.“ (Rudolstadt), „Freier
Stubbe, Chronik. 89
Literarischer Verlag“ (Berlin-Tempelhof), Hoffmann und Campe (Hamburg),
„Mitteldeutscher Verlag“ (Halle), — als Schriftsteller Bornhak, Delius,
Dührssen, Milner, Neumann, Pütter-Hesse.
Andererseits stehen auch die Alkoholgegner auf dem Plan; eine große
Zahl neuer Schriften und ae ist von den alkoholgegnerischen Ver-
lagen herausgegeben und wird besonders bei der für März und April be-
ossenen Unterschriftenwerbung für das GBR. vertrieben.
Kirchliches.
Evangelisch. Unter dem Titel „Die Alkoholfrage in der
Religion“ werden Studien und Reden im Neuland-Verlag, Hamburg, von
Prof. D. Schmidt und Sup. D. Rolffs rl de ware — jährlich 4 bis 6 Hefte
(Mitarbeiter des ersten Bandes sind Schmidt, hmer, Hempel).
‚ Der Thüringische Verband für Innere Mission hat eine
Eingabe an die Reichsbahndirektion Erfurt zur Beseitigung der überhand-
nehmenden Anpreisungen von Alkohol-, Nikotin- und Luxuswaren in den
Einrichtungen der Eisenbahn gerichtet (Schl.-H. Sonntagsbote“ Nr.7).
Katholisch. Der Papst hat im heiligen Jahr die Pilgergruppe des
Kreuzbündnisses pangen und den Bund und seine Bestrebungen gesegnet.
Er erklärte: „Wir haben die Vertretung des Kreuzbündnisses mit seinen
30000 Mitgliedern, sowie die Vertretung vom Jungborn und Schutzengel-
bund gesehen. Dies erfüllt uns mit Freude. ir kennen die wohltuende
Wirkung, die der Kreuzbund ausübt, für den Einzelnen, für die Familien,
für die Völker, die er durch den Kampf gegen den Alkoholismus zur
Abstinenz erzieht, der christliche Entsagung übt am Fuß des Kreuzes, zu
Füßen des Gekreuzigten, der die Entsagung mit so mächtiger Beredsamkeit
gepredigt hat“. („The Int. Rec.“ Nr. 36)
Im Caritashandbuch von Kuno Joerger (2. und 3. Auflage, Frei-
burg i. Br., en behandelt W. Baumeister „rettende und vor-
beugende Fürsorge gegen die Schädigungen des Alkoholismus“, Dr. Hüfner
die „Fürsorge für Gasthofangestellte“ und Dr. Ricking die „Fürsorge für die
Wanderarmen‘.
Vereinswesen.
Der Berliner Frauenverein gegen den Alkoholismus
verkaufte 1925 in seinen 12 Betrieben im ganzen an Getränken 410529 und
an Speisen 205342 Portionen. Die Trinkerfürsorge hat bisher im ganzen
875 Fälle behandelt; der Bestand von 1924 betrug 71, — 1925 kamen neu
91 Fälle hinzu. Nach 1926 wurden 86 übernommen. Die Geschäfts-
führerin Frau Gerken-Leitgebel hat auch eine rege Vortrags-
und schriftstellerische Tätigkeit entfaltet. Die bisherige Vorsitzende Frau
Exzellenz Schering trat nach anger Vereinsleitung von ihrer Stellung
zurück und wurde zur Ehrenvorsitzenden ernannt: Erste Vorsitzende ist jetzt
Frau Generalarzt Schuster (zweite: Frau Prof. Gonser, dritte: Frau Major
von Hertzberg).
‚Sonstiges.
Große Propaganda wird neuerdings für Hausweinbereitung
(durch sogen. Vierka-Weinhefen) gemacht. Uns ist ein eigenes Blatt dafür
„Die Vierkaburg“ zugegangen! |
Dr. Flaig hat einen neuen Bildstreifen „Der Alkoholismus
und seine ämpfung“ (Stehfilm) mit Vortrag im Filmdienst-Verlag,
Dresden, erscheinen lassen. on
Von der a a A, Arbeitsgemeinschaft in
Hannover ist ein Stofiplan für den sexualpädagogischen Unterricht an den
Volksschulen der Stadt Hannover ee und hat als „Versuchsplan“
die Genehmigung der Regierung gefunden. Gefordert wird in der „Menschen-
kunde“ (7. und 8. Schuljahr) auch Belehrung über Gefahren des Alkohols
und in der „Staatsbürgerkunde“ Unterweisung über Fürsorge für Alkohol-
gefährdete. („Mitteilungen der D. G. B. G.“ Nr. 1.)
90 Stubbe, Chronik.
Die Sieg-Rhein-Arbeitsgemeinschaft für Lebens-
erneuerung hielt 31. 1. eine Arbeitstagung für Jugendführer auf der
Freusburg. ehrere Hundert waren erschienen. Nach Vortrag von Bau-
richter, dem Vorsitzenden des Deutschen Bundes enthaltsamer Studenten,
wurde eine Entschließung zu Gunsten des Gemeindebestimmungsrechtes und
des Jugendschutzes gefaßt.
C. Aus anderen Ländern.
Großbritannien. Auf Grund des Kompromisses wurde für die
inneren Bezirke Londons 10 Uhr abends an Sonntagen und 11 Uhr an
Wochentagen als Polizeistunde festgesetzt, für das übrige London 9 Uhr
Sonntags und 10 Uhr Wochentags. Der Getränkehandel re jetzt kräftig
für die Gleichtstellung der ganzen Stadt. („The Times“ 4. 2.)
Auch die Klubs rühren sich, um eine Verlängerung der Polizeistunde
zu erreichen. Vertreter von 2000000 Klubmitgliedern waren beim Home
Secretary, der sich ablehnend verhielt, während er die Temperenzabordnung,
die eine Ablehnung der Klubwünsche forderte, freundlich empfing. („The
Times“ 30. 12. 25.) |
The United Free Church von Schottland, welche die Grundsätze
der Local option hochhält und als Kirche kräftig für die Temperenz in
Schottland mit eintritt, hat sich in ihrem Organ „The Record“ gegen Dr.
Moffet, eines ihrer angesehenen Mitglieder gewandt, der nach einem Besuche
Nordamerikas die Prohibition in der Presse scharf kritisierte, indem u. a.
betont wird, daß das Alkoholverbot in der angelsächsischen Bevölkerung
ordnungsgemäß durchgeführt, allerdings in den mit Eingewanderten anderen
Stammes gemischten Bezirken weniger erfolgreich sei. — Ebenda wird über
die Temperenz in Schottland bemerkt: Die Local option erweise sich nützlich;
das Schutzalter der Jugend sei jetzt 18 Jahre; die Polizeistunde sei verkürzt;
seit 1900 seien über 2000 Lizenzen eingegangen. (, Christ. Sci. Mon.“ 12. 12. 25.)
In bestimmter Veranlassung hat die Aerztekammer vonLondon
General Medical Council) ıhre Grundsätze bei Behandlung ärztlicher
runkenheit bekannt pegeben: eder Fall einer Ueberführung (conviction)
wird der Kammer amtlich gemeldet. Beim ersten Trunkenheitsfall wird der
betreffende Arzt brieflich verwarnt; bei einem zweiten Fall wird ihm eröffnet,
daß bei einer Wiederholung er vor die Kammer werde geladen werden. Bei
einem dritten Fall wird er vor die Kammer geladen; zeigt er dann Reue,
so wird der Fall auf 6 bis 12 Monate vertagt, um zu sehen, wie der
betreffende sich hinfort führt. Ist die Führung einwandfrei, wird nichts
weiter unternommen. — Würde ein Arzt bei der Behandlung eines Kranken
oder bei der PS nuog eines Autos betrunken sein, so würde die Kammer
ihn sofort vorladen und je nach der Lage des Falles unmittelbar gegen ihn
vorgehen. (,„Morn. Post 2. 1.)
Lettland. Die Deutsch-Baltische Arbeitsgemein-
schaft gegen den Alkoholismus hat bereits 5 Flugblätter heraus-
ge eben. Nr. 4 behandelt „die Wirkungen des Gesetzes vom 24. Dezember
924 zur Bekämpfung der Trunksucht in Lettland“: „Ein Ueberblick ergibt
gegenüber 28 ungünstigen 41 pinsiiee Beobachtungen, was . ungefähr einem
erhältnis von 4 zu 6 entspricht oder 100 zu 150. Von den 12 behandelten
Auswirkungen des Gesetzes zeigt eine ein negatives, vier zeigen ein un-
entschiedenes und 7 ein überwiegend positives Ergebnis“.
Niederlande. Zweimal hat die erste Kammer die Einführung des
Gemeindebestimmungsrechtes abgelehnt; jetzt werden zum
dritten Mal Massenunterschriften für dieses Recht gesammelt. („De
Wereldstr.“ Nr. 9.)
Polen. In der Sitzung des Finanzausschusses des Sejms haben Ver-
treter mehrerer Parteien eine Interpellation betr. das Spiritusmonopol 22. 1.
eingebracht, die Rozmaryn vom jüdischen Klub begründete: Statt, daß das
Monopol ca. 400 Millionen Zloty einbringen solle, habe es 1925 kaum 150
Stubbe, Chronik. 91
Millionen gebracht. Der Voranschlag für 1926 sehe 210 Millionen Ein-
nahme vor. In Wirklichkeit bringe die Wirtschaft des staatlichen Monopols
nur Verluste. — In der Monopoldirektion seien 200 Beamte P als
Delegierte bei den einzelnen Finanzkammern weitere 120, während früher
diese Sachen von einigen Beamten beim Finanzministerium eh seien. —
Der Direktor des Staatlichen Spiritusmonopols erklärte, es handle sich um
einen unberechtigten Angriff. („Prag. Presse“ 22. 1.)
Rumänien. In der Bukowina hat der Kampf gegen den
Alkoholismus eigentlich erst nach dem Weltkrieg begonnen. Auf Anregung
des Rechtsanwalts Dr. Ambros Comorosan wurde eine „Liga antialcoholica
in Bucovine‘“ ins Leben gerufen, von. der eine rege Vortragstätigkeit ent-
faltet ist. Daneben ist eine Bewegung gegen die Trunksucht auf dem Lande
durch den Regierungssekretär Stelan Bidnei eingeleitet, — Trezvia genannt.
(„Int. Ztschr. g. d. A.“ Nr. 1.)
Schweden. 1924 wurden wegen Spritschmuggels bestraft
im Stockholmer Zollbezirk 2051, 1925 im ersten Halbjahr 862, in allen Zoll-
bezirken Schwedens 1924 2863, 1925 im ersten Halbjahr 1139 Personen, —
an Sprit wurden beschlagnahmt 1924 im Stockholmer Zollbezirk
47 744 1, 1925, erstes Halbjahr 17 319 1, in allen Zollbezirken Schwedens 1924
180 757 1, 1925, erstes Halbjahr 71 755 l, davon wieder gerichtlich freigegeben
1924 97022 1, 1925, erstes Halbjahr 51 621 I. — Die Zahl der ertappten
Alkoholschmuggler machen 1924 79,8, im ersten Halbjahr 1925 784 % aller
entdeckten Warenschmuggler aus. Der Hauptschmuggel fällt auf Stockholm
und Umgebung. (,Int. Ztschr. E d. A.“ Nr. 1.
Die Gesamtkosten für ung A ee he
werden für eine Zeit von 4 Jahren auf 150 Kr., also jährlich 37 500 Kr.,
berechnet. Es gibt 3 staatliche und 3 „anerkannte“ private Trinkerheil-
anstalten. Abgesehen von den für Vermöglichere bestimmten, rein privaten
Anstalten und 2 Staatsanstalten für besondere Arten von Trinkern (Kriminelle
und Vagabunden) stehen in der dritten Staatsanstalt 100 und in den 3 an-
erkannten Privatanstalten 72 Anstaltsplätze zur Verfügung. (Ebenda.)
Schweiz. Der Bundesrat hat 30. 1. die Vorlage des Finanz-
departements über die Revision des Alkoholwesens genehmigt.
Die Obstbrennerei soll neu geordnet werden. Die Einschränkung des
Schnapskonsums durch Einwirken auf die Preise aller geistigen Getränke
und die rationelle Obstverwertung bilden Hauptzwecke der Reform. Wichtig
ist die Regelung der Hausbrennerei. Im allgemeinen wird dem Landmann
estattet, für den Hausgebrauch frei Obst zu brennen, doch wird der Bund
as Recht erhalten, die Zahl der Hausbrennereien durch gütliche Verein-
barung mit den Besitzern tunlich einzuschränken. Die Berutsbrennerei wird
der Kontrolle und der Besteuerung unterworfen. (,„Zürich. Volksztg.“ 1. 2.)
Anfang Februar wurde in Bern eine selbständige Gesellschaft
für Trinkerfürsorge begründet (Vors.: Handelslehrer Thomet),
Ca alsbald die Einrichtung einer neutralen Trinkerfürsorgestelle beschloß.
„bern. Tagw.“ 13. 2.)
Der echnungsabschluß über 1924 gestattete der Alkohol-
verwaltung, neben den zur teilweisen Den des, Passivsaldos ver-
wendeten 2,08 Millionen Fr. die Auszahlung von 1,94 Millionen Fr. an die
antone, was einer Kopfquote von 50 Rp. entspricht. Der von den Kantonen
für die Bekämpfung des Alkoholismus zu verwendende Zehntel beträgt somit
194000 M. („Linth“, 5. 2.)
Syrien. „L'E't. Bleue“ (1. 1.) teilt mit, daß in Syrien, wo der Arrak
und verwandte Getränke Unheil anrichten, Gouverneur Julien zwei Sektionen
er „Ligue nationale contre l'alcoolisme“ in Verbindung mit
dem dortigen französischen Schulwesen eingerichtet habe. .
Tschechoslowakei. In der Kampagne 1924-25 stellt sich der
Konsum an reinem Alkohol auf 272401 hi (1923-24: 261 126 hl). Er verteilt
92 Stubbe, Chronik.
sich auf Böhmen 96 200 hl, Slowakei 77828, Mähren 64 463, Schlesien 20 000
und subkarpathisches Rußland 13000. — Der Verbrauch an denaturiertem
Alkohol beträgt in Böhmen 105211 hl (1923-24: 98500) und in Mähren
31 357 (1923-24: 26 585). — (,L’ Exp. Belge“, 23. 12. 25.)
Vereinigte Staaten von Nordamerika. Im zweiten Halb-
jahr 1925 sind 24 Schiffe wegen Alkoholschmuggels beschlag-
nahmt worden, davon 20 englischer, 2 französischer und 2 kubanischer
Nationalität. (,„Kämpfer“, Zürich, 22. 1.
Mit 1. 2. sind zwei neue Alko olverordnungen des Schatz-
amtes in Kraft getreten, welche die Verarbeitung von Whisky, Gin und
OnIWED. in nl Präparate untersagen. (Tel. der „United Preß“
in „Frki. Ztg.“
Nach dem Berichte des Statistischen Amtes von Kalifornien sind 1916:
8477 Eisenbahnwagen mit Trauben, 1924 dagegen 57 700 Waggons befördert.
‚Ihe California Grape Grower“ schreibt, daß 1924 426 000 to. Trauben für
Weinbereitung, 500 000 to. unmittelbar zum Essen verwandt, nicht weniger
als 1 400 000 to. getrocknet seien. (‚Terre Vaud.“ 28. 11. 25.)
In San Francisco wurde in dn Weihnachtstagen keinerlei
Trinken in den öffentlichen Versammlungsplätzen bemerkt und keinerlei Ver-
haftung wegen Trunkenheit vorgenommen. (,„Christ. Sci. Mon.“ 7. 1.)
Der Anwalt (attorney) der Vereinigten Staaten Bruckner erklärte, das
Hauptproblem sei nicht mehr der Kampf mit der Rumflotte, sondern die Auf-
findung einer Methode, den Strom vergifteten industriellen Alkohols auf-
zuhalten. (Reuters Tel. „Nat. Merc.“ 19. 12. 25.)
John Langley aus Kentucky, der fast 20 Jahre dem Kongreß an-
hörte, ist in die Strafanstalt von Atlanta eingetreten, um zwei Jahre
efängnis wepi Vergehens gegen das Alkoholgesetz abzubüßen. Er hat
im Janur als Mitglied des Kongresses seinen Rücktritt genommen.
(„Arbr.-Ztg.“ 14. 1.)
Die Zeitungen haben mE daß die Temperenzgesellschaft
der amerikanischen Bischöflichen Kirche — die nicht mit
der Bischöflichen Methodisten-Kirche zu verwechseln ist, — eine dem Verbot
ungünstige Entschließung angenommen habe, in der sie die Milderung des
Verbotes und die Rückkehr zum Verkauf von Wein und Bier verlangt. Daraus
hat man geschlossen, daß die amerikanischen Kirchen anfangen, sich vom
Verbot abzuwenden. Die Tatsachen sind folgende:
Die Bischöfliche Kirche zählt in Amerika eine verhältnismäßig kleine
Zahl von Anhängern, die sich hauptsächlich aus wohlhabenden Kreisen
zusammensetzen, in denen die Gegner des Verbotes zahlreicher sind als in
den Volksklassen. Der Bischöflichen Kirche ist wirklich eine Temperenz-
gesellschaft angeschlossen, die, als ein Unikum in den Vereinigten Staaten,
als Mitglieder auch Leute aufnimmt, die selbst alkoholische Getränke
enießen. Man begreift aus dieser Tatsache, daß die Gesellschaft die
ilderung des Verbotes verlangen konnte, da seine Mitglieder den Wein-
und Biergenuß zulassen. Aber die Bischöfliche Kirche selbst steht dem
Verbot ganz günstig gegenüber. Einer ihrer einflußreichsten Führer, Bischof
W. T. Manning hat mit aller Energie verneint, daß die Bischöfliche Kirche
sich mit der Tempetenzzesellschalt solidarisch erklären könne; denn die
Kirche hat in ihrer letzten Versammlung ihre vorbehaltlose Unterstützung
Curie 10 support) des Verbotes betont, und sie hat ihre Ansicht nicht
eändert.
i Die Bischöfliche Kirche gehört übrigens dem Bundesrat der christlichen
Kirchen von Amerika nicht an, der die meisten protestantischen Kirchen Ir
den Vereinigten Staaten vereinigt und der neulich noch einmal feierlich
erklärte, er trete vorbehaltlos für die Beibehaltung des Verbotes ein. (,„Int.
Bur. g. d. Alk.“, Pressebull. Nr. 2.)
Mitteilungen.
1. Aus der Trinkerfürsorge.
Die Trinkerfürsorge des Hamburger Wohlfahrtsamts.
Einem Bericht der „Hamburger Nachrichten“ vom 25. März d. T im
Anschluß an einen Vortrag von Sg rungsi Dr. Jaques ist folgendes zu
entnehmen: Das Hamburger Wohlfahrtsamt hat sich seit 1922 der Trinker-
fürsorge zugewandt, und es kann von über 2000 Trinkerfällen, die es seitdem
bearbeitet hat, nach vorsichtiger Schätzung doch bereits 50—60 v. H. als
geheilt oder wegen günstig verlaufend betrachten. Dieser Erfolg war
allerdings nur dadurch möglich, daß das Wohlfahrtsamt sich der Mithilfe
der freien Trinkerfürsorge, d. h. Guttemplerlogen, Blaukreuzvereine, des
Arbeiterabstinentenbundes usw., versicherte, die zu einer großzügigen
Arbeitsgemeinschaft in der Trinkerfürsorge ambara zusammengeschlossen
sind. Die Trinkerfürsorge des Wohlfahrtsamtes Hamburg ist nach dem
enannten Berichterstatter und Fachbearbeiter ein typisches Beispiel
ür den Wert der Zusammenarbeit zwischen öffentlicher Fürsorge
und freier Wohlfahrtspflege. Zuerst nimmt sich jeweils die private Trinker-
fürsorge nach den vom Wohlfahrtsamt ausgegebenen Richtlinien für Trinker-
pfleger der gemeldeten Fälle an. Wo diese Betreuung nicht zum Ziel führt,
schreitet das Wohlfahrtsamt mit Antrag auf Entmündigung bzw. vorläufige
Vormundschaft ein, um den Trinker der
Trinkerheilstätte des Hamburger staatlichen
Versorgungsheims
zur Zwangsheilung zuzuführen — der ersten staatlichen Trinkerheilstätte in
Deutschland.
Eine durch den Anstaltsgeistlichen ins Leben gerufene Vereinigung hält
die Pfleglinge auch nach ihrer Entlassung zusammen, damit sie sich gegen-
seitig im Kampf gegen neue Versuchungen stützen. — Auch hier wird eine
steigende Zahl von Trunksuchtsmeldungen verzeichnet. Sie wird aber zu-
peich als ein Beweis wachsenden Vertrauens der Oeffentlichkeit für dieses
ebiet vorbeugender Wohlfahrtspflege angesehen, bei der mit dem nötigen
Takt und, solange angängig, unter Schonung des Ehrgefühls vorgegangen
werde.
Trinkerfürsorge Elberfeld 1925.
Die Trinkerfürsorgearbeit des Bezirksvereins g. d. Alk. Elberfeld ist seit
Februar v. Js. wiederaufgenommen, nachdem sich die Notwendigkeit dieser
Arbeit mehr und mehr wieder fühlbar gemacht hatte. Dem Bericht von
Schwester H. Klaas im „Gemeinwohl“ (Beilage des „Täglichen Anzeigers
für Berg und Mark“ vom März d. Js.) sind die folgenden Angaben zu
entnehmen:
Gemeldet wurden 217 Fälle leichterer und schwererer Art; soweit zu
ermitteln, 127 Evangelische, 60 Katholiken, 31 Andersgläubige. Davon wurden
17 in Trinkerheilstätten oder sonstigen Anstalten untergebracht, 9 entmündigt,
während 7 Entmündigungsanträge noch laufen. In 3 Fällen wurde aus
erzieherischen Gründen der Entmündigungsantrag ausgesetzt; in 3 weiteren
zogen die Frauen aus Angst vor ihren Männern den Äntrag zurück. Haus-
94 Mitteilungen.
besuche wurden 933 gemacht, von 851 Ratsuchenden die Fürsorgestelle in
An pridi genommen. In Bedarfsfällen wird natürlich Arbeit zu affen
gesucht.
Zuerst wird immer versucht, auf guam Wege den Trinker zur Ein-
sicht zu bringen: durch De ühlungnahme auf der Geschäftsstelle,
soweit der Eınladung Folge geleistet wird, oder durch Beeinflussung durch
die treu mithelfenden Enthaltsamkeitsvereine. In ersterer Hinsicht wird
festgestellt: „Gerade die eindringliche Ermahnung und Belehrung über die
Folgen der Trunksucht in der Fürsorgestelle, also nicht im isein der
anderen Ehehälfte, hat schon manchen zum Nachdenken und zur Einsicht
gebracht“. Auch hier wird beklagt, daß der Spott der trinkenden Arbeits-
so oft den Befreiungskampf und die Wiederherstellung erschwert.
n Fällen, wo schärfere Maßnahmen erforderlich sind, wird Anstaltsunter-
bringung möglichst auf freiwilligem che bewerkstelligt, zwangsweise nur,
wenn die Familie durch Gemeingefährlichkeit des Trinkers gefährdet ist
oder durch die entstandene äußere Not der Oeffentlichkeit zur Last fällt.
Bedauert wird — wie so oft —, daß es an gesetzlicher Handhabe zur Unter-
bringung eines Gemeingefährlichen auf schnellstem Wege fehle. — Aus
der Praxis heraus werden eine Reihe von erschütternden Bildern aller Art
entrollt.e. Dabei wird nicht verschwiegen, daß viele Frauen an der Trunk-
sucht der Männer mindestens wesentlich mit schuld sind. Man bemüht sich
darum, auch auf die Frauen in hauswirtschaftlicher und sonstiger Beziehung
einzuwirken. So wurde ein Nähabend zur Unterweisung von Frauen im
Flicken, Stopfen und Nähen eingerichtet, der im Dezember in ein gemüt-
liches Adventsbeisammensein mit Kaffee, Kuchen, Ansprache usf. ausklang.
Auch hier wird die Beobachtung bestätigt, daß die Arbeit an trinkenden
Frauen noch schwerer ist als an den Männern. Ebenso die düsteren Bei-
trage, die die Aage in der Trinkerfürsorge zu den en Alkohol
und Schädigung der Nachkomnienschaft und Alkohol und Zerstörung des
sittlichen Wesens des Menschen liefern. — Zur Mitarbeit an dem schweren
und ragen Werke werden besonders die Frauen nachdrücklich ae
gerufen. 4
Die Trinkerfürsorge in Straßburg i. E. im Jahre 1925.
Die vor 15 Jahren gegründete, im städtischen Gesundheitsamt unter-
gebrachte „Fürsorgestelle für Alkoholkranke“ in der alten Perle des Elsaß
arbeitet auch seit dr aa ang der Stadt unter französische Botmäßigkeit
weiter, in Fühlung mit den in Frage kommenden Behörden, den Krankenkassen-
Wohlfahrtsvereinen usf. Im Laufe des genannten Zeitraums bis Ende 1925
sind 625 Trinker und 174 (!) Trinkerinnen, zusammen 799 Personen bei der
Fürsorgestelle angemeldet worden. Auch hier stieg die Zahl in den letzten
Jahren: 1922—25 waren es 18, 19, 49, 58. Im verflossenen Jahre wurden mit
den 215 aus den früheren Jahren übernommenen zusammen 273 Fälle betreut.
Davon waren 63 von Angehörigen, 58 von der Polizei, 42 vom Blaukreuz-
verein, 24 von andern Nüchternheitsvereinen, 28 von der Lungenkranken-
a race Dem Beruf nach überwogen Handwerker (94) und Tag-
öhner (93).
Der ee) Bericht kennzeichnet mit einigen knappen Tatsachen-
angaben „die traurigen Folgen des Alkoholismus“ — beispielsweise 19 Pfleg-
linge wegen Vergehen und Verbrechen im Rausch zu gegen 12 Jahren Ge-
fängnis verurteilt, 11 in Nervenklinik oder Irrenanstalt untergebracht, 9 dem
Pfründnerheim oder der Bezirkspflegeanstalt verfallen — und greift eine
Anzahl erschütternder kleiner Einzelbilder aus den vorliegenden. Erfahrungen
heraus. Lehrreich ist auch die Kinderstatistik. Unter den betreuten
Familien blieben 38 kinderlos. In den übrigen 204 verstarben von der (wie
meist in Trinkerfamilien) großen Kinderschar, 942 an der Zahl, in den ersten
zwei Lebensjahren nicht weniger als 135, unter 14 Jahren insgesamt 1%,
d. i. mehr als der 5. Teil. 33 Eltern standen imal, 15 2mal, 8 3mal.
ebenso viele 4mal, 5 5mal, 4 Tmal an Kindersärgen. Von den noch lebenden
Mitteilungen. 95
Kindern (747) mußten 19 in Zwangserziehung gegeben werden, :7 sind
anormal, 5 krank, 3 VEET pPI: (Eine genauere ärztliche Untersuchung
würde gewiß die letzteren Zahlen erhöhen. D. Ber.) Die Sterbefälle und die
Anormalen und Kranken usf. zusammengenommen, bedeuten diese Angaben
über 24 v. H. Ausfälle.
Aus der Tätigkeit der Fürsorgestelle selbst: 95 Sprechstunden, 6 Aus-
schußsitzungen wurden 1925 gehalten, 245 Hausbesuche, 334 Gänge zu
Behörden, Arbeitgebern usf. gemacht. Im laufenden Jahre hofft man endlich
zu einer eigenen Trinkerheilstätte für das Elsaß zu kommen, nachdem die
Behandlung in ausländischen Heilstätten wegen der hohen Kosten (Währungs-
lage!) sich ausschließt. Was den Erfolg betrifft, so können nach mensch-
lichem Ermessen als Berne angesehen werden 16 der 273 Trinker und
Trinkerinnen — etwa 6 v. H. —; als gebessert oder als noch unentschieden,
aber mit Aussicht auf Erfolg werden gebucht 124 — gegen die Hälfte —.
Für eine Anzahl Trinkerkinder konnte mit Hilfe des Jugendamts und anderer
Stellen Unterbringung in Heimen oder in einer Ferienkolonie erfolgen.
Gerichtshilfe und Trinkerfürsorge.
Der Ruf nach Gerichtshilfe ist nach dem Krieg bei uns laut geworden;
aus seelsorgerischen und politischen Kreisen heraus, nicht zum mindesten bei
den Gerichten selbst. An achtzig verschiedenen Stellen haben sich Gerichts-
hilfen gebildet, aus den verschiedensten Einstellungen. Jetzt werden die An-
fänge zusammengefaßt. Oberstaatsanwälte, Regierungspräsidenten, Gefäng-
nis-, Gerichtsvorstände haben sich an die Spitze gestellt. Hilfe für die Ge-
richte bei der fürsorgenden Arbeit soll der Zusammenschluss bezwecken. Die
Gerichtshilfe soll angefordert werden können in dem Augenblick, da Polizei
und Gericht zum erstenmal eingreifen müssen, bei der Strafverbüssung, nach
der Entlassung, in der Bewährungszeit, und wann sonst noch der Verurteilte
der schützenden Aufsicht bedarf. Wir wissen, dass zahlenmässig die Hälfte
der Verbrechen und von vielen Verbrechensarten dreiviertel und mehr durch
Trunk verursacht sind und auch bei den übrigen der Trunk im Vorleben,
Umwelt, Abstammung seine Rolle gespielt hat. Wir wissen auch, dass fast
mor Versuch, die Gefallenen zu heben, an ihren Trinkergewohnheiten
scheitert.
Darum wird auch die Gerichtshilfe wertlos sein, wenn sie nicht zugleich
Trinkerfürsorge ist.
Schon beim ersten Betreten. In den meisten Fällen wird hier schon die
trinkerische Ursache zu Tag treten. Unter dem Eindruck des gerichtlichen
Vorgehens werden Täter oder seine Angehörigen einer Beeintlussung zu-
gänglich sein. Mancher wird vor Strafe bewahrt werden können, wenn er
sich in Fürsorge begibt. Ist die Strafe gering oder wird sie gestundet oder
ist der Täter freigesprochen, aber es bleibt eine trinkerische Schuld bestehen,
so ist von Vorteil, wenn schon alles zur Trinkerfürsorge vorbereitet ist. Eine
in der Trinken orge erfahrene Gerichtshilfe wird den Richter am besten be-
raten und aufklären können.
Während der Strafe. Die Leitung einer Strafanstalt ist immer im Unklaren
über Familie und Umwelt des Gefangenen. Die Gerichtshilfe kann ihr un-
ermesslich viel nützen. Ganz besonders in der Trinkerfürsorge. Vielen geht
auch erst im Gefängnis nach längerer Enthaltsamkeit die Einsicht über ihr
Trinkerleben auf. Gerichtshilfe kann zugleich Gefängnismission und Trinker-
rettung sein.
Bei der Entlassung. Entlassenenfürsorge hat immer an den Trinker-
unarten des Schützlings versagt. Darum muss sie sich als Gerichtshilfe mit
Trinkerfürsorge verbinden.
Gerichtshilfe wird auch die Arbeiten einer künftigen Schutzaufsicht über-
nehmen müssen, wo die Strafe bedingt erlassen oder der Gefangene bedingt
entlassen wurde. Schutzaufsicht muss nach neuem Recht zugleich Trinker-
fürsorge sein, wenn die Tat durch Trunk verursacht ist. Sie wird es in sehr
96 Mitteilungen.
vielen Fällen sein müssen, wo das Gericht nicht ausdrücklich die Schutz-
aufsicht zur Trinkerfürsorge angeordnet hat.
Die ganze, wunderschön gedachte Gerichtshilfe kann ihr Ziel verfehlen,
wenn sie nicht zugleich vor dem Trunk schützt. Darum dürfen wir uns der
Mitarbeit nicht entziehen. . Oberregierungsrat Leo von Eglofistein.
Beiträge zur Beleuchtung der Notwendigkeit
eines eingreifenden Schutzgesetzes gegen den Alkoholismus.
1
Wir bestreiten in keiner Weise, daß es viele anständige Gastwirte gibt,
die auf Mäßigkeit und Ordnung halten und eher dem Alkoholmißbrauch zu
wehren suchen, als ihm Vorschub leisten. Leider lehrt aber die an
— und das wird auch in den organisierten Wirtekreisen selbst vielf
zugegeben und bedauert —, daß von recht vielen Gast- und Schankwirten das
Gegenteil gilt — sie wollen lediglich verdienen, ohne Rücksicht auf Wohl
und Wehe der betreffenden Gäste und ihrer Familien. Einem einzigen kurzen
Berichte einer großstädtischen Trinkerfürsorgestelle („Beratungsstelle für
Alkoholkranke“ ın H.) entnehmen wir folgende wörtliche
„Klagen der Frauen der Trinker gegen die Wirte“:
1. Es sind zuviel Wirtschaften vorhanden. Wenn ein anständiger Wirt
meinem Manne den Schnaps verweigern möchte, gibt ihm ein anderer Wirt
Schnaps: „Weshalb also soll ich (so sagt der Wirt) meinen Konkurrenten
das Geschäft machen lassen?“
2. Oft verheimlichen die Wirte die Anwesenheit des Mannes.
3. Trotz Ersuchens, meinem Manne nicht zu borgen, wurde doch geborgt,
so erhielt er wieder einen Zahlungsbefehl.
4. Mein Mann kommt um 2 und 3 Uhr nachts nach Haus. Er hat bei
verschlossener Tür in der Wirtschaft . . . weitergekneipt.
5. Meinem Manne wurde sehr oft Alkohol verabfolgt, als er schon
betrunken war.
6. Ich bin mit meinem Manne 3 Jahre verheiratet. Er hat täglich
en war nur selten nüchtern. Die Wirte haben ihm auch in der
runkenheit Alkohol verabfolgt ... Der Mann wurde entmündigt ... Die
Wirte geben ihm, trotzdem sie wissen, daß er entmiündigt ist, Alkohol,
sogar auf Pump.
7... . Mein Mann trinkt seit Jahren. Er hat sehr gute Stellen verloren.
... Die ganze Familie ist durch seine Trunkenheit verarmt. Er steht auf der
Trinkerliste. Trotzdem bekommt er Schnaps, auch flaschenweise. .. Er wurde
3 Wochen krank. Die Hannoversche Ortskrankenkasse wurde dadurch unnötig
belastet. Meine Hoffnung, daß die Wirte in diesem Falle meinem Manne
keinen Alkohol mehr ge würden, hat mich getäuscht. Sie haben vor den
Gesetzen wohl keine Achtung. Was kümmert es die Wirte, ob ich mit meiner
Familie zugrunde gehe. ...
. Mein Mann, ein Handwerksmeister, trank seit Jahren. Das Uebel
verschlimmerte sich. Er bekam auch, wenn er betrunken war, Alkohol gegen
bar und auf Borg... . 5
Daß die nen und bequemen Gelegenheiten zum Alkoholgenuß
in Gast- und Schankwirtschaften, Konditoreien mit Ausschank geistiger
Getränke, Likörstuben, Bars und Dielen, Kleinhandelsstellen für Branntwein,
Flaschenbierhandlungen usf. Trinker und Trinkerinnen machen, ist eine
offensichtliche Tatsache. In
weibliches Trinkelend,
an das man für gewöhnlich nicht denkt, und das sich auch der Natur der
Sache nach der öffentlichen Kenntnis mehr entzieht, lassen die folgenden
Bilder aus demselben Bericht einen Einblick tun:
Mitteilungen. 97
Der Beratungsstelle wurde eine Frau gemeldet, die in Wirtschaften mit
Blumen handelte. Sie huldigte während der Zeit dem Alkohol, trank tagsüber
noch einen halben bis dreiviertel Liter Schnaps. Im Rausche lag sie oft in
der Gosse, wurde von der Polizei zur Wache gebracht, wo sie ihren Rausch
ausschlief. Zu Hause hatte sie mit den Angehörigen immer Streit. Sie wurde
schließlich in eine Anstalt gebracht, führt sich dort ohne Alkohol gut.
Gäbe es keine alkoholischen Getränke, so wäre sie nie soweit gekommen.
Ein Mann klagt: „Meine Frau trinkt, vernachlässigt den Haushalt. Oft
haben ich und mein Junge im Alter von 15 Jahren nichts Warmes zu essen.
Alle Ermahnungen haben keinen Wert. Sie lügt. So hat sie die Kohlenvorräte
im Keller verkauft und mir dann vorgelogen, die Kohlen seien gestohlen
worden. Das erlöste Geld vertrank sie ın Schnaps.“
Eine Mutter klagt: „Meine Tochter ist periodische Trinkerin. Sie trinkt
oft 8 Tage lang in einer Tour, dann hält sie sich wieder wochenlang. Sie
ibt alles Geld für Alkohol aus. Sie nahm mir aus dem Schrank: Eier, Butter,
arte Mettwurst, Seife, Leinen und meine Hebekarte für meine Invalidenrente.
Alles schleppte sie zu einem Wirte und bekam dafür Alkohol, trotzdem ich
dem Wirt vorher sagte, ihr nichts abzunehmen, da sie nur meine Sachen
entwendet und vertrinkt. Die Wirtin hatte bereits auf die Rentenkarte Alkohol
et f und wollte die mir zustehende Invalidenrente durch ihren Sohn
abholen lassen, um sich schadlos zu halten. Das ist doch Hehlerei. Wo bleibt
das ehrliche Wirtsgewerbe?! (Auch hier wieder ein Beleg zu dem unter 1
Gesagten. D. Ber) Wenn es keinen Alkohol gäbe, würde meine Tochter
Br sich soweit vergessen. Sie sitzt dann in der Küche des Wirtes und
trinkt.“
Eine Trinkerin wurde gemeldet, deren Mann Kellner ist. Sie stammt aus
dem Gastwirtsgewerbe aus gutsituierter Familie. Sie ist erblich belastet.
Hat ihr groBes Vermögen vertrunken, die Wohnung verloren und fiel ver-
schiedenen Polizeirevieren zur Last. Sie steht auf der Trinkerliste, bekommt
trotzdem Alkohol. (Wie unter 1.) Wenn sie nüchtern ist, ist sie brauchbar. Sie
selbst sieht ein, wenn Deutschland keine alkoholischen Getränke hätte, so
wäre sie eine achtbare und gutsituierte Person.
Ein Mann meldete seine Frau: Sie trinkt seit Jahren. Er kann ihr nur
tägliches Geld geben. Trotzdem trank sie, und zwar verschaffte sie sich
Brennsprit, den sie verdünnt trank. Der Haushalt sah ganz erbärmlich aus.
Eine Frau, die auch Brennsprit trank, wurde gemeldet. Die Erhebungen
ergaben: sie stammte von reicher Gastwirtsfamilie. Ihr Mann war Major. Sie
hatten beide ein großes Rittergut. Bis 1914 war das Gut verschuldet durch
Trunksucht und Verschwendung der Frau. Eine Summe von 240000 Mark
wurde beim Verkauf noch erlöst. Dieses Geld war bis 1919 auch durch-
gebracht. Der Mann ließ sich scheiden nd starb kurz danach. Die Frau ist
dem Wohlfahrtsamt zur Last gefallen. Fl.
2. Aus Vereinen.
Die alkoholfreie Obstverwertung im Vormarsch.
Aus der Tätigkeit des Badischen Landesausschusses für gärungslose
Früchteverwertung (Sitz Karlsruhe) im Jahre 1925.
‚ Nach dem erstatteten kurzen Bericht konnte der Ausschuß dank der
Unterstützung sowohl der Behörden, wie in Frage kommender Vereine
und der Presse im abgelaufenen Jahr besonders erfolgreiche Arbeit leisten.
Diese bewegt sich in der Hauptsache auf drei Linien, von denen die erste
den breitesten Raum einnimmt:
l. Aufklärungstätigkeit mit dem Ziel, daß jedermann mit dem
Gedanken der gärungslosen Obstverwertung, insbesondere mit der Her-
stell von naturreinen, unvergorenen Fruchtsäften (Süßmosten) vertraut
emacht werden soll. Sie erfolgte durch Herausgabe und Verbreitung eines
lugblattes, durch Artikel in Zeitungen und Zeitschriften, durch Erteilung
Die Alkoholfrage, 1926. 7
98 Mitteilungen.
von schriftlichen Auskünften und gelegentliche Beteiligung an Ausstellungen.
insbesondere aber durch Abhaltung von etEingen und Vorträgen und
durch Vorführung des Baumann’schen Flächener
Säften in Holzfässern bei Einzelpersonen. Die Reihe der Lehrgänge wurde
eröffnet durch einen AtA Rigen Kursus über Süßmostbereitung in der
Trinkerheilstätte Renchen. r zählte 36 Teilnehmer, worunter der Fach-
bearbeiter für Obstbau bei der württembergischen Landwirtschaftskammer.
5 badische Kreis-Obstbauinspektoren, die Wirtschafter der badischen Irren-
anstalten und eine größere Anzahl von Personen aus den Kreisen des Obst-
baus und der Obstverwertung. Es folgte — wie der erste Lehrgang durch
Obstbaulehrer pn Baumann abgehalten — ein dreitägiger Ausbildungs-
kursus in Karlsruhe. Der Geschäftsführer Gerdon hielt sodann an nic!
weniger als 30 Orten, zum Teil auch in andern deutschen Ländern, zu-
sammen 37 Lehrgänge und Vorträge mit Teilnehmerzahlen zwischen 1t
itzers und Herstellung von |
und 200 im Einzelfalle und insgesamt rund 1850 Besuchern. An 13 Orten
war Saftbereitung damit verbunden. An 11 weiteren wurde die schon er-
wähnte Herstellung von alkoholfreiem Most in Holzfässern bei Einzel
personen pan vorgeführt und ausgeübt mit einer Erzeugung von zu-
sammen über 2000 Litern.
2. Daneben wurde auf Grund der Erfahrun der letzten Jahre ein
Gerätevertrieb auf gemeinnütziger re aufgenommen:
Flächenerhitzer, Faßausrüstungen, Anstichvorrichtung für Korbflaschen, weit-
halsige Entkeimungsflasche mit federndem Verschluß. Vom Flächenerhitzer
wurden 40 Stück abgesetzt; eine Anstalt, ein Kreis und ein Hof wurden jt
mit einem Betriebsapparat beliefert.
3. Verschiedene praktische Bedürfnisse und Gesichtspunkte gaben Anlaß.
eine une Mosterei einzurichten, was auf kleiner, solider Grundlag:
— im Keller eines früheren Offizierskasinos, der einst an andere Ding
gewöhnt war, geschehen konnte. Hier wurden für den verflossenen Herb
noch rund 7000 1 Trauben- und Apfelsüßmost hergestellt.
Der Bericht mündet auf Grund von alle dem und der dabei gemachten
Erfahrungen in die Feststellung aus, „daß der Gedanke der Süßmost-
bereitung vorwärts schreitet und die Sache eine große Zukunft hat“. Es
leuchtet ein, daß die Entwicklung in dieser Richtung von größter praktischer
Bedeutung ist, sind doch reine, natürliche Säfte für alle Fälle mit die besten
und gesündesten ae le und hängt doch für die Nüchternheits-
bestrebungen außerordentlich viel davon ab, die Verwendung des Obstes und
der Trauben in andere als die herkömmlichen alkoholischen Bahnen zu
lenken. Das Bestehen und die Tätigkeit von Landesausschüssen für gärungs-
lose Früchteverwertung auch in Württemberg, Bayern und Hessen, praktische
wichtige Erfindungen wie — neben dem Baumann’schen Flächenerhitzer —
die des leicht zu handhabenden und zu befördernden Aluminium-Süßmost-
fasses (Dr. Finckh Apparate-Gesellschaft, Stuttgart) berechtigen in der Tat
zu guten Hoffnungen. Fl.
Nüchternheitsarbeit in Oldenburg im Jahre 1925.
Nach dem gedruckten Jahresbericht der Oldenburger Geschäftsstelle
zur Bekämpfung des Alkoholismus.
Drei Vereinigungen haben sich in dieser Geschäftsstelle (Geschäftsführer
Eisenbahn-Oberingenieur a. D. Stöver) als ihre Träger zusammengeschlossen:
Oldenburger Landesverband gegen den Alkohblismus (Vorsitzender Ober-
schulrat Dr. Korte), Bezirksverein Sre g. d. Alk. (Deutsch. Ver. g.
d. A. — Vorsitz. Studienrat Dr. Hollweg) und Oldenburger Arbeitsgemeinscha
zur Bekämpfung des Alkoholismus (Vorsitzender Hr. Stöver). Es war einerseits
der Eindruck der Zunahme des Trunks, andererseits die Aufgabe der Wer
woche im Mai v. J., was den Gedanken der Gründung einer eigenen Geschäfts-
stelle förderte. Zur Durchführung jener Woche wurde die Arbeitsgemeinschalt
Mitteilungen. 99
zur Bek. d. A. gebildet, der sich alle Wohlfahrtsvereine, insbesondere aber
auch die Frauenvereine anschlossen. Im Juni v. J. folgte dann die genannte
Erweiterung.
Eine mannigfaltige Tätigkeit wurde und wird entfaltet. Vor allem suchte
man die Oeffentlichkeit mehr als bisher für die Nüchternheitsarbeit zu inter-
essieren. In der Presse fand man bei den hauptsächlichsten Zeitungen des
Landes Entgegenkommen und Aufnahme für richtigstellende Artikel.
„Eine gute Gelegenheit, die Gefahren des Alkoholismus einem weiten
Kreise zu schildern, und um Mitarbeit gerade in den Kreisen zu bitten, die
die Jugend zu erziehen haben, bot sich ın der Veranstaltung der Volksschul-
woche, die Ende September in Oldenburg abgehalten wurde, sehr großen Zu-
spruch fand, und die wohl alle Lehrer des Oldenburger Landes und noch
darüber hinaus besichtigt haben.“ Innerhalb der Abteilung für Schulhygiene
war der Vereinigung zu Ausstellungszwecken ein größerer Platz zur
Verfügung gestellt, der tüchtig benutzt wurde. Zu dieser einmaligen gesellte
sich eine dauerndere Ausstellung: die eigen- und bis jetzt einzigartige Ein-
richtung einer Zeltausstellung. Es dient dafür ein einfaches Zelt von
etwa 50 qm Grundfläche, welches ın drei Abteilungen eingeteilt ist, leicht
von einem Ort zum andern befördert werden kann und, weil es eben ein Zelt
ist, als solches leichter besucht wird und ohne große Unkosten auf jedem
Platz aufgebaut werden kann. Eine besondere kleine Schrift, die auf Wunsch
gern von der Geschäftsstelle een wird, gibt nähere Auskunft über dieses
wertvolle und wirksame Aufklärungsmittel, mit dem man im Laufe dieses
Jahres eine großzügige Werbearbeit leisten zu können hofft. Im September war
das Zelt in Wilhelmshaven und Rüstringen auf dem Platz vor dem Rathaus
aufgeschlagen und unter sachkundiger Führung in Tätigkeit. Die örtlichen
Unkosten sind mäßig. Der Besuch war sehr gut, besonders durch die Schulen:
in den weriigen Tagen nach vorsichtiger Schätzung rund 5000 Personen. „Die
ganze Veranstaltung verlief ohne jede Störung und machte auf alle großen Ein-
druck. Die Zeitungen brachten gute Artikel, und damit hatten auch diejenigen,
die nicht das Zelt besucht hatten, Gelegenheit, etwas von dem Volksübel
„Alkoholismus“ zu erfahren.“ Aehnlich in Varel (Besuch in 4 Tagen wohl
mindestens 3000 Personen). In ang damit wurde zugleich der Versuch
gemacht, gute alkoholfreie Getränke bekannt zu machen und einzuführen
(Verteilung von Rezepten, Abgabe von Proben). Es gelang, überall Ver-
tretungen Tür den Verkauf von alkoholfreien Weinen usf. einzurichten. Auch
um Begründung und Förderung alkoholgegnerischer Vereine bemühte man
sich bei der Zeltarbeit.
Der günstige Verlauf der Aufklärungsarbeit durch das Zelt ermutigte.
dieses auch unter der Aufschrift „Erfrischungszelt zur fröhlichen Einkehr“ als
Schankzelt bei öffentlichen Veranstaltungen, bei Märkten,
Schützenfesten usw. zu benutzen, wobei die Mithilfe der Frauenvereine sich
sehr wertvoll erweist. Ein Versuch auf dem Kramermarkt in Oldenburg vom
4. bis 8. Oktober fiel über Erwarten günstig aus. Es wurden zur Ausschmük-
kung des Zeltes Kränze gebunden, Lampions angefertigt, Blumen und
Bilder gestiftet und für das leibliche Wohl Heringssalat angefertigt. Verkauft
wurden: Kaffee, Tee, Kakao, Milch, heiße Limonade, alkoholfreier Glühwein,
Brause, Selters, alkoholfreier Wein in Gläsern und Flaschen, Torte mit und
ohne Schlagsahne, sonstiger Kuchen, Heringssalat mit Brot, Butterbrot mit
Käse oder Wurst usw., alles zu mäßigen Preisen. Bei dem überaus starken
Besuch ergab sich ein — im Blick auf die sehr billigen Verkaufspreise „und
die überall gerühmten Getränke und Eßwaren“ sehr ansehnlicher — Ueber-
schuß von rund 577 Mark. Auch die eigentliche Akaning kam zu einem
gewissen Rechte, indem man jedem erwachsenen Gast ein kleines Flugblatt
und jedem Kind ein Lesezeichen mit einem Hinweis auf die Bedeutung der
Alkoholfrage einhändigte. — Es ist beabsichtigt, das Zelt für solche Ver-
anstaltungen zu vergrößern und einen eigenen Wagen zu seiner Beförderung
anzuschaffen. l
An sonstigen Einrichtungen sind zwei Kaffeeschänken des Bezirks-
vereins g. d. Alk. zu nennen, von denen die eine — unter der ständigen Auf-
7e
100 Mitteilungen.
sicht von vier Damen — gut geht, die andere erst seit Herbst wieder neu-
eingerichtet ist. Durch die Arbeit in der Trinkerrettung, die sehr oft
und mit manchem Erfolg in Anspruch genommen wurde, gewann man immer
mehr Einsicht, „wie sehr die zahlreichen Opfer des Alkoholismus, namentlich
die Frauen und unschuldigen Kinder, leiden“.
An den Probeabstimmungen beteiligte man sich mit Eifer und
Erfolg: In Oldenburg selbst kamen auf 100 für das Gemeindebestimmungs-
recht abgegebene Stimmen noch nicht 3 gegen dasselbe, in Delmenhorst etwas
über 5, in Grüppenbühren gegen 8.
Mit den verschiedenen alkoholgegnerischen Vereinen wurde
in der ar und im allgemeinen mannigiach zusammen-
gearbeitet, mit Behörden reger Schriftwechsel gepflogen, beispiels-
weise um die Erteilung neuer Schankerlaubnisse zu verhindern oder sonst die
Gelegenheiten zur Veralkoholisierung des Volkes herabzumindern. In dieser
Hinsicht kann der Bericht die erfreuliche, aber leider nicht allzu häufige Er-
fahrung aussprechen: „Wir fanden in fast allen Fällen Unterstützung und
Verständnis für unsere Anregungen und haben damit erreicht, daß wir in
besonderen Fällen gutachtlich gehört werden.“ p.
3. Verschiedenes.
Aus dem Statistischen Taschenbuch der Stadt Berlin,
Ausgabe 1926.
Ende 1924 gab es in Groß-Berlin 18 499, in Alt-Berlin 10 112 Schank-
stätten im weitesten Sinne, darunter 3660 bzw. (Alt-Berlin) 2037 Klein-
handelsstellen für Spirituosen und 702 bzw. 335 Schankstätten für alkohol-
freie Getränke. Es kam je eine Gast- und Schankwirtschaft, ohne Klem-
verkaufsstellen, auf 275 bzw. 250 Einwohner (1923: 267 bzw. 239), rechnet
man die Kleinhandelsstellen mit Branntwein mit ein, dann in Groß-Berlin
eine Ausschankgelegenheit auf 221, in Alt-Berlin auf 199 Einwohner. An
Dielen, Bars, Likörstuben, Schlemmerlokalen und Luxusgaststätten werden
angegeben: für Groß-Berlin 203, für Alt-Berlin 99.
Wegen Trunkenheit wurden in Groß-Berlin in Polizei-
ewahrsam ge nommen 1923: 475 Personen (399 Männer, 76 Frauen),
1924: 795 (!) (644 bzw. 101) — wobei aber sicher auch von anderen Ver-
haftungsgründen wie Unfug, sonstige Uebertretungen und dergl. noch em
nicht geringer Teil auf Rechnung des Alkohols zu setzen wäre.
Von den Zusammenstößen und Unfällen im Straßen-
‘verkehr in den drei Vierteljahren April bis Dezember 1924 werden 162
auf Betrunkenheit zurückgeführt, wobei aber jedenfalls wiederum an-
zunehmen ist, daß auch von den 3708 Fällen, deren Ursache unbekanıt
geblieben ist, und von den auf anderweitige Ursachen zurückgeführten noch
ein gut Teil dem Alkohol schuld zu geben ist.
Als an „akuter und chronischer Alkoholvergiftung‘
en werden angegeben 79 Personen (71 männliche und 8 web
u: — eine Zunahme um 19 gegen das Vorjahr —, womit natürlich wieder
die Rolle des Alkohols als Todesursache bei weitem nicht erschöpft ist. N.
Weiterer Rückgang der deutschen Weinbaufläche.
Der Zeitschrift des Statistischen Reichsamts „Wirtschaft und Statistik“.
1926, Nr. 5, ist zu entnehmen:
Der Weinbau in Deutschland umfaßte im Jahre 1925 eine im Ertrag
stehende Rebfläche von insgesamt 73274 ha. Gegenüber 1924 ist im Umfang
der Rebfläche im ganzen eine weitere Verringerung um rund 1000 ha
oder 1,4 v. H. eingetreten, die zum größten Teil auf Hessen entlällt
wo allein eine Abnahme um 806 ha erfolgt ist, davon um 718 ha im Wein-
baugebiet von Worms und Umgebung. Im übrigen hat sich in wichtigere!
Mitteilungen. 101
Ve die im Ertrag stehende Rebfläche in stärkerem Maße noch
in Unterfranken (um 172 ha), im preußischen Nahe- und Rheingebiet (um
107 bzw. 97 ha), im hessischen Gebiet von Alzey und Umgebung (um 91 ha)
und in der bayerischen Rheinpfalz (um 87 ha) vermindert, während im
Mosel-, Saar- und Ruwergebiet, im Rheingau und in einigen Gegenden
Badens eine geringe Erweiterung des Weinbaus stattgefunden hat. Fl.
Herzogliche Tischordnung von 1687.
Ein Aufsatz von A. G. Krueger (,Heimat‘“ 1926, Nr. 5) behandelt die
„Tischordnung, wornach sich alle Hof-Bediente, welche außer der Cavailler-
Taffel, an was Ort es wolle, bey Hoff gespeiset werden, sich jederzeit zu
richten ...“, gegeben von Herzog Johann Adolf zu Schleswig 1687, — eine
Ordnung, welche ebenso sehr für die eingerissenen Unsitten, wie für das
Streben, ihnen abzuhelfen, bezeichnend ist.
Wir geben die beiden Abschnitte der „Ordnung‘ wieder, welche das
Trinken betreffen:
„Drittens: Die Mahlzeit solle in aller Sittsamkeit für ehrbarlich und
stille, ohne einig secundiren und anziemliches vexiren oder ungezogene,
garstige und grobe Reden zu führen, ohne alles Schalten, Schmähen, Fluchen
und Sacramentiren und Gotteslästern, auch Schreyen und Jauchtzen innerhalb
drey Viertel-Stunde verrichtet werden, und solle, sobald abgespeißet ist, sich
ein jeglicher zu sein Dienst- und Ambtsverrichtung wieder verfügen. Wer
das nicht thut, und des Mittags in der Hof-Stube über 11 Uhr, an den
anderen Ohrten aber, wo gespeiset wird, über 12 Uhr, und des Abends über
6 und 7 Uhr, besitzen bleibet und mit andern ein Gesöffe hält, der zahlet
den Armen, in der Hof-Stuben 3 Schilling, an den andern Tischen aber
4 biß 6 Schilling. Und derjenige, so sonst diesem dritten Punct in irgend .
einem zuwider handelt, der büßet solches in der Hof-Stuben mit 1 ssl., an
den andern Tischen aber mit 2 biß 3 Schilling in die Armen-Büchs und der,
so es höret und nicht anmeldet, zahlet überall die Heliffte.
Viertens: Keiner, der berauscht ist, soll sich unterstehen, so wenig
in der Hof-Stube als sonst zu einem andern Tisch zu kommen, thut er’s, so
wird er in der Hof-Stuben umb 6 Schilling gestraffet, anderwärtig aber umb
12 ssl.; und sollen desselben Tisch-Cameraden zusehen, daß sie ihn alsbald
chne rumor in der stille wieder hinaus und an seinen Ort ornen mögen;
sollte er aber darüber Händel anfangen, so wird er am Tisch noch um
so viel gestraffet, ohne der Hoff-Strafte, darin er sonst bey Verbrechen den
Hoff-Marschall oder Hoff-Meister noch dazu alsdann verfallen ist.“ St.
Wirkungen eines Gesetzes zur Bekämpfung der Trunksucht.
Lettland hat zu Weihnachten 1924 ein solches Gesetz eingeführt. Im
September vorigen Jahres hat zu ihm der in Riga zusammengetretene Aerzte-
kongreß in Anwesenheit von 454 Medizinern eine Entschließung gefaßt, in
der er sich dafür aussprach, daß „in Anbetracht der günstigen Wirkungen
der Antialkoholgesetzgebung für die Volkswohlfahrt“ auch in Lettland das
Gesetz nicht gemildert werden soll. Welches diese Wirkungen sind, geht
aus den Erfahrungen und Beobachtungen der ausführenden Stellen, namentlich
der Polizeibehörden, aus den Monaten Juli bis September v. Js. hervor, die
der „Polizeianzeiger“‘ in seinen Nrr. 85—88 1925 veröffentlichte. Ein Flug-
blatt der Deutsch-baltischen Arbeitsgemeinschaft zur Bekämpfung des
Alkoholismus macht darüber bemerkenswerte Ausführungen.
Ein Ueberblick ergibt danach gegenüber 28 ungünstigen 41 günstige
Beobachtungen, was ungefähr einem Verhältnis von 2 zu 3 entspricht. Dabei
hebt das Flugblatt als beachtenswert hervor:
„a) Die hervortretenden Schwierigkeiten erklären sich leicht aus dem un-
leugbaren Mangel an aufklärender und volkserzieherischer Vorarbeit, er-
scheinen aber durchweg als mit der Zeit überwindbar. '
102 Mitteilungen.
b) Jeder der Schattenseiten steht eine Lichtseite gegenüber, und die
unerwünschten Begleiterscheinungen werden größtenteils reichlich aví-
gewogen durch die beabsichtigten guten Wirkungen.
c) Wenn ein solches Gesetz zu voller, ungestörter und klar übersehbarer
Auswirkung billigerweise eine ganze Reihe von Jahren beanspruchen dari,
und wenn so unverkennbare Besserungen, wie oben berichtet, bereits im
Anfangsstadium der Gesetzesgeltung und bei nur 3-monatiger Beobachtungs-
dauer gezeitigt werden, dann erscheint die Resolution des Aerztekongresses
als durchaus begründet“.
Wohl schmälert dieser Antialkoholkampf zunächst „bedeutende private
und staatliche Einkünfte“ in starkem Maße, ist doch infolge des Gesetzes
nn den ZONEN Angaben der Steuerverwaltung) der Verbrauch von
rauereibier um 50—55, der von Branntwein um 15—17 v. H. gesunken.
Aber die anscheinenden wirtschaftlichen Verluste bedeuten, wie die Aws-
führung sehr zutreffend hervorhebt, in Wirklichkeit, auf weitere und tiefere
Sicht, hohen Gewinn für Volkswirtschaft und Volkswohl. „Herabsetzung
des Alkoholkonsums ist ja gerade der Zweck des Gesetzes; je mehr der
Alkoholkonsum sinkt, desto mehr hat also das Gesetz seinen Zweck erfüll.
Nämlich: —
1. Verminderter Alkoholkonsum (vergl. das Gesamtergebnis des obigen
Berichtes) bedeutet — nach den Erfahrungen in aller Welt — Minderung der
Verbrechen, Minderung der Verkehrs- und Betriebsunfälle, Minderung der
allgemeinen Erkrankungs- und Sterbehäufigkeit, Minderung der Geistes-
störungen, Minderung der Verarmung und Verlumpung, Minderung von
mannigfacher Arbeitsuntüchtigkeit.
2. Verminderter Alkoholkonsum bedeutet ferner: Das sonst für Spiri-
tuosen verausgabte Geld bleibt frei für Ausgaben zu besserer Lebenshaltung
in jeder Hinsicht: bessere Ernährung, bessere Kleidung und Wohnung, sowie
für Natur- und Kunstgenuß und für Bildungszwecke aller Art.
Durch all dies wird nun einerseits das reale Wohl der Konsumenten
Bean gesundheitlich, wirtschaftlich, kulturell; andrerseits erwächst den
roduzenten all der nunmehr stärker verlangten Güter eine vermehrte
Absatz- und Gewinnmöglichkeit, d. h. auch eine erhöhte Steuerkraft, der
Kommune und dem Staate zugute. Somit werden im Endergebnisse Prof:ie
höchst anfechtbarer Art aufgegeben zugunsten realer, dauernder Vorteile
der Gesamtheit; denn jene Protite sind ohne Schädigung des Volkswohles
schlechterdings nicht möglich, während die gewonnenen Vorteile auf wirklich
solider Grundlage ruhen.
Wenn dergleichen schon vom reell geschäftlichen Gesichtspunkt aus
erechtiertigt und geboten erscheint, um wieviel mehr wird der Staat so
andeln müssen, dessen wirtschaftliches Gedeihen keine sicherere Grundlage
hat als eine gesund basierte Volkskraft“.
Doch noch einem immer wieder sich erhebenden Einwand ist zu
begegnen: — das angebliche unabweisbare Bedürfnis nach „Aufheiterung
und Ausspannung durch ein gutes Glas im lustigen Kreise“ unter der Last
und Hast des Lebens? ! „Wer will mir das Recht bestreiten, einen Teil des
selbst erarbeiteten Geldes in unmittelbare, feuchtfröhliche Lebenslust um-
zusetzen?“ — Wir geben auch hier die treffende Entgegnung wieder:
„Gewiß, Alkohol schafft momentane Lustigkeit; aber gibt es denn wirk-
lich nicht Freuden, welche ohne die dem Alkohol anhaftenden Schäden
und Gefahren das Lebensgefühl En wahre Erquickung und Entspannung
bieten, Freuden wie Naturgenuß, Musik, häusliche Geselligkeit, gehaltvolie
und interessante Bücher usw.? Alle diese Freuden lassen uns wirkliche
Kräfte zufließen, — und solche Freuden brauchen wir.
Wenn wir uns also auch ohne Rauschgetränke Freude, die freilich kein
Mensch entbehren kann, zu schaffen vermögen, dann taucht um so ernster
die Frage. auf: Dürfen wir für bloße Scheinwerte so große, insgesamt in
viele Millionen gehende unproduktive Ausgaben uns erlauben, während
Mitteilungen. 103
| wichtige Kulturbedürfnisse so- vielfach unbefriedigt bleiben? Ist da eine
' einmütige Einschränkung gerade des Alkoholgenusses nicht vielmehr ein
' ernstes Pflichtgebot?
| Daß aber Staat und Kommunen hierbei mitwirken müssen, weil sie
dem tausendfachen Verderben, das der Alkohol in den Volksorganismus und
das öffentliche Leben hineinträgt, nicht passiv zusehen können, ist ohne
weiteres klar. Darum wird eine Verminderung der Gelegenheiten zum
Alkoholgenuß durch Einschränkung der Zahl der Schankstätten und der
Ausschankzeit sicherlich nicht unwirksam bleiben“.
Natürlich bedürfen aber die staatlichen und gesetzlichen Maßnahmen,
:um den richtigen Erfolg zu erzielen, der Unterstützung durch die Einsicht
und den Willen der Bevölkerung. Hier haben „die führenden Faktoren im
kulturellen Leben: Kirche und Schule, Volksliteratur und Presse“ eine ernste
und bedeutsame Aufgabe. J. Flaig.
Aus England.
Starker Rückgang des Alkoholmißbrauchs und
-verbrauchs ua
Wir waren gefragt worden, ob es wahr sei, daß in England die
Straffälligkeit bedeutend gesunken sei, und ob dieser Rückgang mit der
Verminderung des Alkoholverbrauchs zusammenhänge. Die Frage hatten
wir an zwei englische Kampfgenossen WEISTBEREDEN und haben darauf
von dem bekannten Nüchternheitsvorkämpfier Arthur Sherwell,
dem Aerius geber der „Monthly Notes“ der „Temperance Legislation
League“, und von Herrn Theodore Neild folgende Antwort erhalten:
Von Herrn Sherwell:
Seit 1913 ist in England ein allgemeiner Rückgang der Straffälligkeit und
nders auch der Trunkenheitsvergehen zu verzeichnen. Die Bestrafungen
wegen Trunkenheit in England und Wales betragen jetzt irotz der Zunahme
der Bevölkerung lange nicht mehr die Hälfte von 1913, 42 v. H. Auch der
Verbrauch an geistigen Getränken hat sich stark vermindert, wie die folgenden
Zahlen zeigen, die sich auf ganz Großbritannien beziehen:
Bier.
TonnenNormal-oder Tonnen wirkliches Ver-
Steuerbier. kaufsbier (verdünnt)
1913 31,705 000 oder 33,960 000
1925 20,863 000 = 26,600 000
(Eine Tonne enthält 36 Gallonen zum 4,34 1.)
Das Verkaufsbier ist heute und seit langem schwächer als vor dem
Kriege, so daß der Unterschied zwischen der Zahl der Normal- und der
Verkaufsbiertonnen heute größer ist als 1913.
Spirituosen.
Steuer-Gallonen mit 57 Volumprozent Alkohol ;).
England und Wales Schottland Großbritannien insgesamt
1913 22,004 000 6,709 000 28,713 000
1425 11,253 000 2,757 000 14,010 000
Wein.
‚Die Weinverbrauchszahlen haben sich seit dem Kriege erhöht, der
Weinverbrauch ist aber in unserem Lande ganz gering. i
‚Die Ausgaben für geistige Getränke haben sich seit dem
Kriege gesteigert, obgleich die wirkliche Verbrauchsmenge an letzteren viel
kleiner ist als früher. Dies ist der bedeutenden Steuererhöhung
1...) Die Spirituosen, wie sie tatsächlich zum Verkauf kommen, sind viel schwächer, obige
Verbrauchszahlen also zu niedrig.
104 Mitteilungen.
zuzuschreiben. Mehr als 40 v. H. der gesamten Alkoholausgaben in unserem‘
Lande fließen in die Regierungskasse in Form von Steuern. Zugleich ist
die viel höhere Besteuerung und der damit zusammenhängende höhere Preis
der geistigen Getränke eine der Ursachen des Rückgangs des Alkoholver-
brauchs seit 1914. Weitere Erklärungsgründe sind die kürzeren Ver-
kaufszeiten und die Wirkungen des Krieges auf Gewerbe
und Beschäftigung. Während des Weltkrieges beschränkte die Re
gierung die Herstellung von Bier und Spirituosen. Eine solche Ein-
schränkung besteht jetzt nicht mehr, aber die Preise sind zu hoch, um einen
Ausg ngen Verbrauch aufkommen zu lassen, besonders angesichts der
schlechten Wirtschaftslage.
Herr Theodore Neild nennt als weitere Ursache des Rückgangs die
behördliche Beschränkung des Alkohols (abgesehen von den schon am
Je Umständen). r macht seinerseits noch folgende Bemerkungen:
ie Beschränkung der Alkoholverkaufsstunden hat zweifellos eine gute
Wirkung hervorgebracht, obwohl die Bestimmungen seit dem Kriege be-
ständig übertreten werden. Ein besonderes Verdienst an der Verminderung
der Trinkmißstände schreibt er — wie übrigens Herr Sherwell in seiner Zeit-
schrift immer wieder — dem bekannten Carlisle-System zu, der staat
lichen Beaufsichtigung, Bewirtschaftung und Verbesserung der Gast- und
Schankwirtschaften, worüber wir in dieser Zeitschrift schon mehrmals be
richtet haben. „Diese Maßnahmen haben den Alkoholverbrauch außer-
ordentlich verringert, und es wird nicht lange anstehen, so sind die ganzes
Kosten des Aufkaufs von Wirtschaftsanwesen und Brauereien abgetragen. Da-
bei pee yolle Möglichkeit, jede Verbesserung einzuführen, die örtlich ge
wünscht wird.“
Herr Sherwell erwähnt das Gesetz von 1904 für England
Wales, wonach, wenn die Schankerlaubnisbehörden eine damals tehen
Gerechtsame dem Inhaber als überflüssig entziehen, diesea
einem bestimmten dafür gebildeten Grundstock (aus jährlichen En
schädigungsabgaben der bestehenden Wirte) abgegolten werden muß (vof-
her ging es ohne Entschädigungspflicht.. Unter diesem Gesetz seien bis
heute gegen 15000 Schankerlaubnisse auf diese Weise eingezogen worden,
in n letzten Jahren 600 bis 700 jährlich, im Anfang waren — |
mehr.
Druck von Kupky & Dietze (Inh.: C. und R. Müller), Radebeul-Dresden.
DE en
Media is NUT 29 1920.
-~ Juni/August 1926
ze Min
Alkooltage
Internationale
wissenschaftlich - praktische Zeitschrift
HERAUSGEGEBEN
im Auftrage der
Destschen Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus
und der
Internationalen Vereinigung gegen den Alkoholismus
` unter Mitwirkung
namhafter Fachleute aller Länder
von.
Professor Dr. med. h. c. I. Gonser und
Präsident a. D. Dr. Reinhard Strecker
In der Schriftleitung
Dr. R: Kraut und Dr. J. Flaig
Preis des Jahrganges (für In- und Ausland) 6 Goldmark
Preis des einzelnen Heftes: 1,25 Goldmark
BERLIN-DAHLEM
Verlag „Auf der Wacht“
1926
.— LAUTE Ar eas
L. Simon, Der Alkoholismus in einer deutschen Hochschulstadt .
2. Flaig, Bedeutsame behördliche Maßnahmen mit Bezug auf den Alkohol (XXXIX)
‚38. Stenzel, Bier und Bierbrauerei . ... .
4. Koning, Lebensweise und Sterblichkeit a š
5. Kra ut, Die Unterschriftensammlung für ein deutsches EN CE REIN
6. Stubbe, Der Gelehrte Ranzau und der Alkohol
Inhalt des Heftes 3.
I. Abhandlungen.
. ‘ “
II. Chronik. (Stubbe, Kiel) .
II. Mitteilungen.
1. Aus Trinkerheilstätten: Die größte deutsche Heilstätte für Alkoholkranke
2. Verschiedenes: Die Alkoholfrage in der Denkschrift des Reichsgesundheits-
amtes. — Einstimmige Entschließung des Deutschen Aerztetages, —
Statistisches aus Skandinavien. — Vorschläge und Entschließungen des
Nationalen Temperenzbundes in Japan. — Wirkungen des Alkohols auf
Körper und Geist. — Der Alkoholismus im Wirtschafts- und Sıaatsleben. —
Alkohol, Zivilisation und Kultur. — Zur volkswirtschaftlichen Seite der
AIKERBOULSRE: 2, 2 55 pag
aan ee a m
IV. Besprechungen.
Pütter und Hesse, Der Alkoholist, sein Wesen und seine Bekämpfung (Dr.
Juliusburger)
Berlin- Dahlem, Werderstr. 16.
Verlag und Versand:
Se
TR
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Verantwortlich für Schriftleitung und Verlag: Prof. Dr. med. h. c. 1. Gonse
Verlag „Auf der Wacht“ (Verlag des ‘Deutschen Vereins g. d. A.), Berlin-Dahlc
Werderstr. 16. Postscheckkonto: Berlin NW. 7, Nr. 9386.
Anzeigen:
Anzeigenpreis nach Vereinbarung.
Der Alkoholismus
einer deutschen FHochschulstadt.
Ein Beitrag zur Frage des Alkoholismus
von cand. rer. pol. Marie Simon.
Einleitung: Quellen, Zeitraum und Zweck der Studie.
Die Quellen der vorig enam Studie sind die in der gemeinten „Hoch-
schulstadt“ erscheinenden Ta a SA und die amtlichen Akten, die von
der Stadtverwaltung bereitwillig zur Verfügung gestellt wurden.
Der Zeitraum der Untersuchungen umiaßt ein volles Jahr: die Zeit vom
1. Oktober 1924 bis zum 30. September 1925. Das gesellige Leben des Jahres
mit allen seinen Auswirkungen wie auch das Alltagsleben zu den ver-
schiedenen Jahreszeiten werden mithin in die Beobachtungen hineingezogen.
Die Studie untersucht Vorkommnisse des Straßen- und Stadtlebens, die
unter dem Einfluß von Alkohol geschehen sind. Eine erschöpfende Dar-
stellung ist ausgeschlossen, da unmöglich alle derartigen Vorkommnisse
von Presse und Polizei erfaßt werden können. Aber das, was von diesen
beiden Organen berichtet oder tatsächlich festgestellt wurde, soll hier dar-
| gelegt werden.
n
Rücksicht auf die wissenschaftlichen Absichten, die mit der vor-
liegenden Studie verfolgt werden, ist die Darstellung so gewählt worden, daß
eine Erkennung der Oertlichkeit, um die es sich handelt, ausgeschlossen ist.
I. Darstellung auf Grund der örtlichen Tageszeitungen.
a) Artender Exzesse.
Auf Grund der Berichte in den örtlichen Tageszeitungen lassen sich die
en Ausschreitungen in unserer „Hochschulstadt“ in 6 Gruppen
gliedern:
1. Rüpeleien und Flegeleien von Angetrunkenen und Angeheiterten gegen-
über Passanten und Polizei;
2. Araning Ruhestörungen durch lautes Lärmen, Schlägereien, Streitig-
eiten;
3. Sachbeschädigungen und Zerstörungsversuche, wie Zertrümmern von
Reklameschildern, Ausheben und Wegschleppen von Gartentüren, Zer-
trümmern von Fensterscheiben, Laternen usw.;
4. Verunreinigungen der Straßen und Plätze, u. a. auch durch Ausleeren
und Zerstreuen von gefüllten Mülleimern, Zerschlagen von Bier- und
Weinflaschen und von Gläsern auf den Straßen;
5. Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch achtloses Wegwerfen von
brennenden Fackeln, durch Auslöschen und Wegschleppen von Sicher-
heitslaternen, die an gefährdeten Stellen angebracht sind;
6. Widersetzlichkeit gegen die Polizei.
Die gesammelten Zeitungsberichte — ein überaus reichhaltiges Material,
das aus Raumgründen hier weder vollständig noch stichprobenweise auf-
eführt werden kann — geben eine an nschauung von dem Tun und
reiben der Angetrunkenen, zu denen Studenten, Arbeiter und andere
Personenkategorien des bürgerlichen Lebens gehören. Man kann im Einzel-
fall die Objektivität der Berichte anzweifeln; im Ganzen geben sie doch
unzweifelhaft typische Vorgänge wieder.
b) Ergebnis.
Die wissenschaftliche Auswertung der Zeitungsberichte ist freilich be-
grenzt durch ihre Lückenhaftigkeit (Tageszeitungen wollen und können nicht
106 Abhandlungen.
immer ee |
Entstellung der Tatsachen, ein Umstand, der mit der parteipolitischen oder
klassenbewußten Haltung der Tageszeitungen zusammenhängt. Der Wert
dieser Berichte besteht vielmehr darin, daß durch sie bestimmte Aus-
wirkungen des Alkoholismus der Oeffentlichkeit zur Kenntnis gebracht
werden. Exakte Schlüsse daraus ziehen zu wollen, ist nicht angängig.
Aus diesen Erwägungen heraus ergab sich die Notwendigkeit, amt-
liche Material zur weiteren Bearbeitung heranzuziehen.
lIi. Darstellung auf Grund der Polizeiakten.
a) Anteil der Alkoholdelikte an den polizeilichen
Uebertretungen überhaupt.
sein), sie ist ferner eingeschränkt durch gelegentliche
Von 3012 Personen, die sich innerhalb des Jahres 1924/25 polizeilicher
Uebertretungen schuldig gemacht haben, waren 844 Personen an Exzessen
beteiligt, die auf Alkoholgenuß zurückgingen, mithin 28,02 Prozent der
Gesamtzahl. Unter diesen 844 Personen waren 30 Personen, die sich mehr-
facher, oft vier- und fünffacher Uebertretungen, und über 100 Personen, die
sich mehrerer Uebertretungen zugleich schuldig machten.
Die Zahl der Delikte belief sich auf 633, wovon 339 im Winterhalbjahr.
294 im Sommerhalbjahr verübt wurden.
b) Verteilung der Alkoholdelikte auf die
Bevölkerungsschichten.
Zahl der Alkoholdeliquenten
Personenkategorie relativ
absolut | (in v. H. ihrer Gesamtzahl)
Studenten . . . 2 22 22000 0.. 407 48,21
Arbeiter ... u. .:2.% Ze wu 203 24,05
Angestellte .. „10-2... Su sera 101 11,97
Selbständige aller Art . . . . 22... 63 7,46
Akademik. m. abgeschi. Hochschulbildung 32 3,79
Mittlere Beamte . . .. 20202000 5 0,59
. Matrosen. . 2 2 2 2 N 2 2 0,24
Jugendliche... . 2. 2: 2 22000 12 1,43
Weibliche (davon 4 Ehefrauen) . .. . . 10 1,19
Beruf unbekannt . . . 22220200 9 1,07
zusammen | 84 | 100,00
Aus der Aufstellung geht erfreulicherweise hervor, daß die Jugend-
lichen (Cehdinge Schüler) — wohl im Zusammenhang mit der kräftigen
antialkoholischen Bewegung der Jugendvereine — einen sehr geringen
Prozentsatz der an den Exzessen Beteiligten ausmachen. Andererseits weist
die Aee Jugend absolut und relativ die größte Be
teiligung auf.
s sei noch bemerkt, daß alle Fälle, die ein gerichtliches Nachspiel
hatten, bei der obigen Aufstellung nicht in Betracht gezogen sind.
c) Spezialisierung der Delikte. i
Die Delikte verstoßen sämtlich gegen den § 360, Ziffer 11 des Reichs-
Strafgesetzbuches betr. ruhestörenden Lärm und groben Unfug, und gegen
die 4, 56, 156, 157 der Polizei-VO. von 1919 betr. Verunreinigung der
Straßen, Betreten und Verwüsten öffentlicher Anlagen, Zuwiderhandlungen
gegen die Polizei-Verordnungen.
Zwecks größerer Klarheit wurden bei der ognara Aufstellung — unter
Benutzung der oben vorgenommenen Einteilung der Exzesse — die in Frage
kommenden Verstöße gegen die angeführten g spezialisiert; gleichzeitig tut
Simon, Der Alkoholismus einer deutschen Hochschulstadt. 107
die Aufstellung die Beteiligung der einzelnen Bevölkerungsschichten an den
verschiedenen Delikten dar.
|
|
|
|
Zusammen |
Studenten
Arbeiter
Angestellte
Selbständige
Altakademiker |
Beamte
Weibliche
Lehrlinge
Schüler
Matrosen
Unbekannt
Ruhestörenden Lärm, Lautes | |
Pfeifen, Lachen, Singen, | |
Schreien, Jodeln, Gröhlen . |488| 224 119, 56 36 23 3 9 6 3 2| 7
Schlägerei, Streitigkeiten . .| 95] 15 47 1812 1 — 1) 1
Zerstörungsversuche | | |
Sachbeschädigungen . . .| 22| 20| 1| 1 — —|ı- -|1—-| —
Gefährdung der öffentlichen |
BE een 81| 0 5 12 2- — 1-— — —
Verunreinigungen aller Art. .| 49] 27, 9 I) = -—|1—- ||| —
Sonstiger Unfug (Erregung von | |
Menschenauflauf durch sinn- |
lose Betrunkenheit u. a.) .[101| 70| 11| 7| 8| 2/1 - 1|—|—| ı
Widersetzlichkeit gegen |
Polizeibeamte . . . . . . Bee ee
zusammen | 844 | 407 |203 1101 |63|32| 5|10| 9| 3| 2| 9
Daraus ergibt sich, daß ruhestörender Lärm,
Unfug aller Art,
Schlägereien und Streitigkeiten
die am meisten verübten Delikte sind, und daß in der Rubrik „ruhestörender
Lärm“ alle hier angeführten Bevölkerungsschichten mit der Höchstzahl
ihrer Beteiligungsziffer vertreten sind.
Wir sehen ferner, daß bei allen Delikten — mit Ausnahme der groben
Schlägereien und Streitigkeiten, wo die peteiliguvg der Arbeiter und An-
gestellten stärker ist — die Studenten den höchsten Prozentsatz stellen.
d) Statistik der Alkoholdelikte nach Monaten und
Halbjahren (nebst Anhang aus der Tagesstatistik).
„|g 2; sn «2 |Win- Som- 3
D | 8 BiI=|=-|5|2=| 3| 8] ter |mer-
g : ; E JE < = z peig En F
SELE yo) Gaia kima
Studenten . . . . {26 |45| 70| 26 | 52 | 22 13 |39 41 49 18| 61241 | 1661407
r OCENE 14 |11| 14| 23 | 10 | 12|25 | 23| 16 | 2818| 9] 84 | 1191203
Angestellte . . . .I10| 2| 9| 9|11| 8[17| 8| 8| 11| 1| 7| 49| 521101
Selbständige . . .| 6| 9| 4| 9| 3| 2| 9| 8| 3| 4! 8| 3| 33| 80| 68
Altakademiker . .| 3| 2| 5|—| 4| 2| 1| 2| 4| 4| 4| 1| 16| 16| 82
o I WOA —|— | —|—|—|— 2|—|—| 2 1|—| —| 5| 5
Lehrlinge, .... . ah ehe LT a L a
Schüler... . . 11—| -' — | — | 1| 11—|—| — —|—| 2| 1| 3
Matrosen... ... —|—| — 2 —-|-I—-|-|—| — —|—-| 2 —| 2
weibliche .... .|5| 1 ne Ha! waa are as Bee aa MW 2| 6 4] 10
Beruf unbekannt —| 1| 3—|—| 1| 1| 1|—| —| 2| 1] 4| 5| 9
zusammen |66 | 71 |104| 69 | 80 | 49|69 | 76 | 77 |100| 53 | 30|439 | 405 |844
108 | Abhandlungen.
Die Zahlen für die Halbjahre zeigen, daß bei der Studenten-
schaft die Beteiligung an den Alkoholdelikten im Winterhalbjahr größer
ist, als im Sommerhalbjahr; das Verhältnis ist 241 : 166. Das entsprechende
Verhältnis bei den Arbeitern ist 84: 119,. mithin im Gegensatz zu der
bei den Studenten beobachteten Bewegung. Man kann wohl annehmen, daf
die stärkere Teilnahme des Arbeiters an den Alkoholdelikten im Sommer-
halbjahr kein Zufall ist und durch vorwiegend wirtschaftliche Vorgänge
begründet wird: der Winter mit seinen — gegen den Sommer — grö
Ausgaben für Heizung und Kleidung, für die notwendigen Wintervorräte.
für Anschaffungen der manigfachsten Art aus Anlaß des Weihnachtsieste.
das Alles zung den Arbeiter (wenigstens den wirtschaftlich rationell
denkenden) sein Einkommen vorzüglich zur Deckung des höheren Aufwande
für die Lebensnotdurft zu verwenden, zwingt mithin zur Einschränkung im
Verbrauch entbehrlicher Genußmittel; aber auch die in den Wintermonaten
eintretenden Arbeitseinstellungen und -streckungen, und die hierdurch ver-
ringerten Einnahmen werden mitsprechen. Die Gründe für das Anschwellen
der Beteiligungszahl im Sommer werden demnach in den leichteren Lebens-
verhältnissen des Sommers für den Arbeiter zu suchen sein, auch der
Sommerhitze — Ursache erhöhten Durstes und Getränkeverzehrs — wird
man eine gewisse Bedeutung beimessen können.
Bei der Studentenschaft läßt das Deliktverhältnis von Sommer und
Winter einen Zusammenhang mit wirtschaftlichen Tatbeständen nich
erkennen. Angesichts der geringeren De Lgung im Sommer muß berüc-
sichtigt werden, daß das gesellige Studentenleben im Sommer sich oft auber-
halb des Weichbildes der Stadt abspielt (Spaziergänge, Wanderungen), und
die außerhalb der Stadt vorkommenden Alkoholdelikte können in der Rege
von der Gemeindepolizei nicht erfaßt werden. Es ist deshalb nicht anging.
auf eine Abnahme des studentischen Alkoholismus im Sommer zu schließen.
Auffallend ist die geringe Beteiligung der Beamten an den Alkohol
delikten: im Winter sind überhaupt keine Delikte verzeichnet; sicher sprechen
dabei — wie beim Arbeiter — die wirtschaftlichen Verhältnisse mit. Das
bescheidene Diensteinkommen des mittleren Beamten gestattet kaum Aufwand
für entbehrliche Genußmittel. Andererseits darf nicht übersehen werden, dat
erade beim mittleren Beamten moralische Qualitäten (Standesbewußtsei.
erantwortungsgefühl) vorhanden sind, die sich in der Abkehr und Abwehr
von allen die Ruhe und Sicherheit des öffentlichen Lebens und die Staats-
autorität gefährdenden Ausschreitungen äußern.
Von den 10 weiblichen Deliquenten beteiligten sich 6 un
verheiratete Arbeiterinnen an Lärmszenen, die in die beiden ersten Monate
des Winterhalbjahres fallen, die 4 anderen Fälle spielten sich in den Sommer-
monan ab und betrafen Ehefrauen, die sich an Lärm und Schlägerei be
eiligien. |
ie Monatsstatistik läßt erkennen, daß im Wintersemester der
Dezember, im Sommersemester der Juli die Höchstzahlen der
Studenten delikte aufweisen; andererseits ergibt sich, daß im Anfangs
monat, sowohl von Sommer- als auch von Wintersemester (April.
Oktober; März und September sind studentische Ferienmonate), die
niedrigste Zahl innerhalb des Semesters verzeichnet ist. Die letztere Er
scheinung kann damit begründet werden, daß der Student — besonders der
jüngere — zu Semesterbeginn etliche unerläßliche Vorbereitungen für den
Arbeitsbetrieb an der alma mater zu treffen hat (Belegung von Vorlesungen
und Plätzen, persönliche Anmeldungen bei Dozenten, Wohnungsbeschaffung
usw.) und diese z. T. zeitraubenden und anstrengenden Vorarbeiten lasses
den studentischen Alkoholismus zu Semesteranfang nicht zur vollen Entfaltung
kommen. In diesem Zusammenhange sei erwähnt, daß die offiziellen „Ar
trittskneipen“ erst in der zweiten oder dritten Woche des Anfangsmons!
stattfinden — eine allbekannte Tatsache, die auch durch eine anläßlich der
vorliegenden Untersuchung vorgenommene Ta und Wochenstatistik be
stätigt wird; — erst danach entwickelt sich der studentische Knei
Simon, Der Alkoholismus einer deutschen Hochschulstadt. 109
in Richtung ständigen und großen Alkoholkonsums. Bei den oben erwähnten
Monaten mit den Höchstzahlen der Studentendelikte ist zu berücksichtigen,
daß dr Dezember im Zeichen der „Weihnachtskneipen“, der Juli im
ng der „Stiftungsfeste“ u. a. alkoholischer Sommerveranstaltungen
S
Im bezug auf die einzelnen Tage, an denen die Delikte geschehen,
konnte an Hand der Tagesstatistik festgestellt werden, daß im Sommer-
halbjahr die Sonntage die größte Beteiligung aufweisen, sodann der
Sonnabend und weiter der Dienstag. Im Winter: Sonntag und Mon-
tag. Für die Studenten ist im Sommer ebenfalls der Sonntag und dann der
a. am meisten belastet, im Winter dagegen der Donnerstag und der
nntag.
Bei den Arbeiter delikten ist bemerkenswert, daß regelmäßig der
letzte Monat eines Quartals eine starke Senkung der Ziffer gegenüber der
des nächstfolgenden Monats aufweist. Dazu kurz die folgende Uebersicht:
Monat Zahl der Delikte Monat Zahl der Delikte
Dezember 14 Januar 23
März 12 April 25
Juni . 16 Juli 28
September 9 Oktober 14
Die beobachtete Senkung der Deliktziffer in den Endmonaten der
artale wird mit Quartalszahlungen oder ähnlichen aufgesummten Ver-
pllichtungen zusammenhängen, daneben vielleicht auch ein Anzeichen für die
wirtsc iche „Baisse“ sein, die sich in vielen Haushalten am Ende eines
Vierteljahres bemerkbar macht.
e) Dielokale Verteilung der Alkoholdelikte.
Die Delikte spielen sich zum größten Teil in der Altstadt ab, und zwar
auf dem Markt und seinen Zugangsstraßen, auf den Hauptverkehrsstraßen,
die die Altstadt durchziehen, und auf den Ringstraßen; dann auf den an-
stoßenden Straßen, die nach den Randgebieten der Stadt führen und die Alt-
stadt mit den anderen Stadtteilen verbinden.
Verhältnismäßig wenig Delikte geschehen in den Arbeiterwohnbezirken:
etwa 16 Fälle in einem reinen Arbeiterviertel, etwa 8 in den langen Arbeiter-
wohnstraßen des Westens. Im Westviertel selbst, dem Sitz der wohl-
habenderen Bevölkerung, sind etwa 40 Fälle verzeichnet; der entgegengesetzte
Teil der Stadt, das Osbviertel, weist 58 Fälle auf, von denen etwa die Hälfte
auf die Hauptverkehrsstraße dieses Stadtteils fällt.
‚Daß sich die Delikte in den angegebenen Straßen abspielen, ist zunächst
bedingt durch die Verkehrslage derselben: diejenigen Straßen und
Plätze, die am Tage das Leben der Stadt aufnehmen und weiterleiten,
kommen auch für das nächtliche Leben der Stadt in Betracht. Aber eine
zweite sehr ausschlaggebende Ursache dürfte die yoia — oder besser
Jin ai „Ansammlung“ — der Schanklokale in vielen der bezeichneten
aben sein.
III. Die konzessionierten Alkoholvertriebsstätten.
a) Einige Zahlen zur Nahrungsmittel- und
Alkoholversorgung der Stadtbevölkerung.
Bei einem Vergleiche zwischen konzessionierten Alkoholvertriebsstätten
und Betrieben, die der Ernährung der Bevölkerung dienen, ergibt sich, daß
auf je 872 Köpfe der Bevölkerung 1 Bäcker
auf je 925 Köpfe der Bevölkerung 1 Fleischer
a auf je 269 Köpfe der Bevölkerung 1 Alkoholvertriebsstelle
O :
Der außerdem noch bestehende — nicht konzessionspflichtige — Klein-
handel mit Flaschenbier und Wein konnte bei diesem Vergleiche nicht mit
in die Berechnung einbezogen werden, da es z. Zt. der Materialsammlung
für die vorliegende Studie aus technischen Gründen nicht möglich war, die
110 Abhandlungen.
Zahl der Betriebe zu erfassen. Nach vorsichtiger Schätzung können
mindestens noch 50, wenn nicht 100, solcher nicht konzessionspflichtigen
Verkaufsstätten von Flaschenbier und Wein zu der Zahl der konzessionierien
Alkoholvertriebsstätten hinzugerechnet werden; dann ergibt sich, daß aul
je 214 (180) Köpfe der Bevölkerung eine Alkoholvertriebsstätte kommt.
Eine Vermehrung der Schankkonzession hat innerhalb des hier be-
arbeiteten Zeitraumes nicht stattgefunden, obgleich mehrere Konzessions-
Peune vorlagen; diese wurden jedoch mit der Begründung abgelehnt, daß
ein Bedürfnis vorläge.
b) Dielokale Verteilungderkonzessionierten
Schankstätten.
Etwa % der konzessionierten Alkoholschankstätten befindet sich in der
Innenstadt.
Der Markt, der Mittelpunkt der Stadt, nimmt bezüglich der Zahl der
Schankstätten eine Vorrangstellung ein: auf noch nicht jedes dritte Haus am
Markt kommt eine Schankstätte!
In einer der Verkehrsstraßen kommen auf 27 Häuser 7 Schankstätten. In
dem vorhin erwähnten Arbeiterviertel werden 7 Schankstätten gezählt, in den |
Arbeiterstraßen des Westens 8, im Westviertel 14 (von denen 7 auf eine kurze
Durchgangsstraße fallen), im Ostviertel 14 (davon 7 in der sehr langen Haupt-
verkehrsstraße).
Bei Zusammenstellung der Zahl der Häuser und der Zahl der Alkohol-
schankstätten ergibt sich für die Altstadt, daß auf fast jedes 7. Haus eime
Alkoholschankstätte kommt.
c) Lokale Verteilung der Alkoholdelikte und lokale
Verteilung der Alkoholschankstätten.
a bilden die Straßen und Plätze, die eine Ansammlung und damit
Auswahl von Alkoholschankstätten darbieten, einen Anziehungspunkt für
Alkoholliebhaber, bilden gewissermaßen Sammelbecken für die alkoholfreund-
liche Masse der Bevölkerung. Ebenso steht fest, daß dadurch die Häufung von
Alkoholexzessen und -delikten in solchen alkoholistisch durchsetzten Straßen
und Plätzen bewirkt und begünstigt wird. Von einer irgendwie zahlenmäßig
nachweisbaren „Gesetzmäßigkeit“, von einem „geraden“ Verhältnis von
Deliktziffer und Schankstättenziffer auf der Grundlage lokaler Einheitlichkeit
kann aber nicht gesprochen werden.
Als Beleg dieser Angaben kann mitgeteilt werden, daß der Markt unserer
Stadt bei 9 Älkoholschankstätten eine Deliktziffer von über 150 hat; für eine
der Verkehrsstraßen der Innenstadt mit 7 Alkoholstätten wurden 97 Delikte
verzeichnet, und in einer der ganz kurzen Zugangsstraßen zum Markt, die
keine Schankstätte aufweist, fanden über 30 Delikte statt.
IV. Polizeiaufgebot und Alkoholexzesse.
. Oben wurde darauf hingewiesen, daß nicht alle Alkoholexzesse, die sich
im Straßen- und Stadtleben abspielen, auch wirklich von der Polizei erfaßt
und registriert werden. Tatsächlich beklagen sich auch öfters Einwohner dar-
über, daß in den vom Stadtkern entfernten Straßen durch Betrunkene Radav-
szenen aufgeführt werden, die offenbar nur selten von der Polizei beobachtet
und abgestellt werden, — und es fällt dann leicht die Bemerkung: wenn man
die Polizei braucht, ist sie nicht zur Stelle. | ei
. Das „Versagen“ der Polizei hat folgende Ursachen: Der Stadtbezirk ist
in 4 Polizeireviere eingeteilt. Der Außendienst in diesen Revieren muß von
insgesamt 72 Polizeibeamten versehen werden. Während beim Tagesdiens!
eder Polizeibeamte seinen Bezirk nach eigenem Ermessen begehen kann, sind
ür den Nachtdienst — von 8 Uhr abends bis 8 Uhr morgens — zeitlich und
örtlich ganz bestimmte Patrouillen planmäßig festgelegt. Des Nachts hat also
jeder Beamte seine genau vorgeschriebene Dienstroute zu erledigen. Innerhalb
einer festgelegten Zeit muß er eine bestimmte Anzahl von Straßen begehen.
um t/z und um ?/, jeder Stunde muß er zwecks Kontrolle durch seinen Vor-
gesetzten an einer vorher bestimmten Stelle anwesend sein und sich dort etwa
Simon, Der Alkoholismus einer deutschen Hochschulstadt. 111
5 bis 10 Minuten aufhalten; dann setzt er seine Patrouille bis zum nächsten
Treffpunkt fort.
Es ist erklärlich, daß bei der großen Ausdehnung der Reviere und bei
der verhältnismäßig kleinen Anzahl der Polizeibeamten diese unmöglich
immer da gerade zur Stelle sein können, wo ein nächtlicher Sänger in den
entfernteren Stadtteilen seiner Wein- oder Schnapslaune lauten Ausdruck ver-
leiht, da die Beamten in den erfahrungsgemäß durch Exzesse am meisten
gefährdeten Straßen vollauf zu tun haben, um für Ruhe zu sorgen.
Laut der unten angeführten Stundenstatistik der Alkoholdelikte sind die
Polizeibeamten gerade ın den mittleren Nachtstunden ungemein stark in An-
spruch genommen.
Die nächtlichen Alkoholexzesse finden zwischen 10 Uhr abends und
5 Uhr morgens statt; der Höhepunkt liegt zwischen 1 und 2 Uhr morgens.
Der größte Teil aller Exzesse spielt sich — wie dargelegt — hauptsäch-
lich in der Altstadt ab, und oft genügt das einfache Polizeiaufgebot nicht, es
muß Verstärkung heran geholt werden, um die Streit- und Radaulustigen zur
Ruhe zu bringen oder zur Wache abzuführen.
Winter-Halbjahr Sommer-Halbjahr
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Bei einigen Delikten konnte die Stunde nicht ermittelt werden; die Statistik ist mithin
unvollständig. Die Ungenauigkeit ist en so gering, daß die aufgezeigten Ergebnisse
bezüglich ihrer wissenschaftlichen Haltbarkeit keinen Schaden erleiden.
V. Was ist nun das Ergebnis dieser Untersuchungen?
Wir haben feststellen können, auf Grund der Polizeiakten, welche Ueber-
tretungen im Rausch begangen worden sind, welches die am häufigsten ver-
übten Delikte sind, und welche Kreise der Bevölkerung für diese Alkohol-
delikte in Betracht kommen und in welchem Ausmaß sie daran beteiligt sind.
Es muß freilich noch einmal darauf hingewiesen werden, daß nicht alle Vor-
kommnisse erfaßt werden konnten, einmal aus dem oben angeführten Grunde,
daß die Beamten nicht ausreichen, um alle Uebeltäter festzunehmen, dann aber
auch, weil viele Vorkommnisse im Schutz des Privathauses vor sich gehen,
und somit der Oeffentlichkeit nicht zugänglich sind.
112 Abhandlungen.
Leider war es nicht möglich, einen Einblick zu bekommen in die absolute
Größe des Konsums, da die Steuerbehörden die Auskunft darüber verweigern.
Aber ein Blick in den Annoncenteil der Tageszeitungen läßt ahnen, mit
welcher Intensität dem Alkohol gefröhnt wird. — Die Vergnügungsanzeigen
überstürzen sich: Erntefestbälle, Hausbälle, Gesindebälle, Schlachttieste,
Sängerfeste, Turnfeste, Sommer- und Winterfeste der unzähligen Vereine —
Stimmungskonzerte ‚ernste und heitere Veranlassungen jeder Art sollen das
Publikum in die Schanklokale locken, und bei keiner dieser Anpreisungen
fehlt der Hinweis auf die „schmackhaften Biere“, den „guten Tropfen“, die
„feine Blume“. Der Gastwirt kennt die Psyche seiner Kunden! Voll-
ständigkeit halber sei noch auf den „Haustrank‘“ hingewiesen, der ebenfalls
nicht statistisch faßbar ist, der aber doch eine bedeutende Rolle spielt, da es
nach der noch vielfach herrschenden Ansicht zur eher A und „Belebung“
der Geselligkeit der „anregenden“ geistigen Getränke bedart, eine Auffassung,
die noch in fast allen Schichten der Gesellschaft zu finden ist.
Der selbstbereitete Fruchtwein, der aus den oft selbst gezogenen Beeren
hergestellt wird, und der sich oft gerade im Arbeiterhaushalt findet, mag für
den Besitzer vielfach ein Grund sein, weniger oft das Wirtshaus aufzusuchen.
Es konnte ferner festgestellt werden, in bezug auf die Verteilung, daß die
Alkoholstätten sich hauptsächlich in lebhaften Verkehrsstraßen und Plätzen
befinden, daß also ihre lokale Verteilung dem Bedürfnis der Bevölkerung
Rechnung zu tragen scheint. Und die nicht erteilten Konzessionen zeigen das
Bestreben, die Bedürfnisfrage streng zu prüfen. Aber es muß darauf bin-
gewiesen werden, daß die so starke Zusammendrängung von Alkoholstätten in
den kürzeren Straßen eine große Belästigung für die Anwohnerschaft ist.
Es sei aus vielen ähnlichen Zusammenballungen in den verschiedenen
Gegenden der Stadt folgendes Beispiel herausgenommen. In 3 beieinander-
liegenden Straßen und auf Platz B, ın den sie münden, befinden sich 16 kon-
zessionierte Alkoholstätten, dazu kommen noch 5 Verkaufsstätten für den
Kleinhandel von nicht konzessionspflichtigen alkoholischen Getränken, also
zusammen 21 Alkoholvertriebsstellen.
Es wird von den nicht am Alkohol interessierten Bewohnern jener
Straßen, Privatleuten, Kleingewerblern usw. lebhafte Klage geführt über die
täglichen furchtbaren Lärmszenen und andere mißliebige Folgeerschein
des unmäßigen Alkoholgenusses, die in den späten Abend- und Nachtstunden
durch die Bezechten veranlaßt werden. — Dem sei hinzugefügt, daß in diesen
‚betreffenden 3 Straßen nur 13 ExzesseimLaufe des ars regi-
striert worden sind. Diese Lärmszenen usw. sind demnach ein sehr
unliebsames Plus zu den nur polizeilich erfaßten Alkoholdelikten.
Ueber ähnliche Erscheinungen wird auch in anderen Stadtteilen lebhaft
geklagt, und es wird von der Anwohnerschaft sehr energisch der Wunsch
eäußert, daß einige von den vielen Lokalen aus den eben dargelegten
ründen geschlossen werden möchten.
Eine weitere Feststellung über die Auswirkung des Alkoholismus in
Familie und Gemeinde in bezug auf gesundheitliche und soziale Erschei-
nungen, muß einer späteren Untersuchung vorbehalten bleiben.
Bedeutsame behördliche Maßnahmen
mit Bezug auf den Alkohol. (XXXIX.)*)
Zusammengestellt von Dr. J. Flaig. |
Aenderungen in der Getränkebesteuerung.
Durch das Gesetz über Steuermilderungen zur Erleichterung der Wirt-
schaftslage vom 31. März d. J. wurde die Weinsteuer ab 1. April auf-
gehoben; 2. die im August v. J. beschlossene Erhöhung der Bier-
*) Im übrigen s. auch jeweils unter „Chronik“!
Flaig, Bedeutsame behördliche Maßnahmen mit Bezug auf den Alkohol. (XXXIX 113
und Tabaksteuer — beim Bier um t/s der Sätze — vom 1. April d. J.
um ®/ı Jahre hinausgeschoben Dis Anfang 1927); 3. die Schaum-
weinsteuer ab 1. Juli d. J. neu festgesetzt.
Wanderunterricht in Pommern.
Solcher ist auf Veranlassung bzw. mit Ermächtigung der Oberbehörden
seit einiger Zeit im Gang.
U. a. Bekanntmachung der en zung in Stettin, Abt. f. Kirchen-
und Schulwesen, vom 29. Mai an die Schulräte:
„Wir haben genehmigt, daß der Lehramtsbewerber Riggert aus Kupfer-
dreh (Rhld.) in den uns unterstellten Schulen Nüchternheitsunterricht mit
insgesamt 4 Wochenstunden erteile. Er ist angewiesn, sich je zunächst bei
hei Schulrat zu melden, und Sie wollen danach das Weitere
veranlassen.
Das Landesjugendamt Berlin gegen den Alkoholgenuß bei der Jugend.
Mitteilung des Magistrats von Berlin vom 14. April 1926.
»: .. Die Bestrebungen des Landesjugendamtes gehen dahin, die
[jugend von dem Genuß alkoholischer Getränke abzu-
rıngen. In Verfolg dieser Bestrebungen ist seitens des Landesjugend-
amtes beim Wohlfahrtsministerium der Antrag gestellt worden, weitere
MittelzurErrichtung von Verkaufsstellenfür Milchund
weitere alkoholfreie Getränke bereitzustellen. Was den
Getränkeausschank auf den Spiel- und Sportplätzen anbetrifft, so
werden wir uns nach wie vor an den von den Stadtverordnetenausschüssen
am 27. 8. 25 aufgestellten Leitsatz, daß grundsätzlichalkoholische
Getränke dort nicht ausgeschenkt oder feilgehalten werden sollen,
halten. Irgendwelche Schritte gegen früher ausgesprochene Konzessions-
Lungen zu unternehmen, ist das Landesjugendamt zurzeit nicht in der
age.‘
Das Polizeipräsidium Berlin
hat ein kurzes „Alkoholmerkblattfür Kraftfahrzeugführer“
herausgegeben, welches es unter den Kraftfahrern verbreitet.
i dieser Gelegenheit sei auch an die vom Deutschen Verein gegen den
Alkoholismus herausge ebene Merkkarte: „Was muß der Kraftwagenführer
vom Alkohol wissen?“ erinnert, die bereits in Zehntausenden von Stücken
a o verbreitet ist und beispielsweise im Gliedstaate Sachsen amtlich
verteilt wird.)
Rundschreiben des Landrats in Bischofsburg vom 9. März d. q
an die Lehrer und Pfarrer des Kreises Rössel, betr. Alkoholmißbrau
und seine Bekämpfung.
Das Schreiben enthielt folgende Fragen: 1. Hat die Verteilung der kurzen
Belehrungsblätter gelegentlich der Impfung Erfolge gezeitigt? 2. Welche der
sonst verteilten Schriften gegen den Alkoholismus erscheinen im hiesigen
Kreise besonders wirksam? 3. Sind Kinder in der Schule vorhanden, deren
Erziehung, Ernährung oder Bekleidung dadurch leidet, daß der Vater trinkt?
4. Wie steht es mit der schulentlassenen Jugend? 5. Welche Vorschläge für
ämpfung des Alkoholmißbrauchs wollen Sie machen? Das Ergebnis hat
der Landrat unter Anlage einer Zusammenstellung über die Aeußerungen
der befragten Stellen an den Regierungspräsidenten in Allenstein berichtet.
Aus einer Kreisblattbekanntmachung desselben Landrats vom 10. Mai d. J.
befr. „Schädigung der heimischen Wirtschaft durch Be-
vorzugung ausländischer Erzeugnisse:
„Ausländischer Wein strömt in ungeheuren Mengen nach Deutschland
erein. Während die Keller der deutschen Winzer überfüllt sind und der
Absatz des Rhein- und Moselweins fast vollkommen ins Stocken geraten ist,
hat der Verbrauch ausländischer Weine besonders im letzten Jahre ‚in
erschreckender Weise zugenommen. Das verarmte Deutschland sollte seine
Die Alkoholfrage, 1925. 8
114 Abhandlungen.
Bedürfnisse einschränken, keineswegs aber so viele Millionen für Luxus-
ausgaben ins Ausland senden . . .“
Die Raufboldliste in der Grafschaft Schaumburg.
Der Landrat in Rinteln veröffentlichte vor einiger Zeit eine vom
Regierungspräsidenten genehmigte neue Polizeiverordnung, durch die für den
Umfang der Grafschaft Schaumburg die „Raufboldliste‘“ eingeführt wird.
Danach sind alle „Personen, die offenkundig zu Gewalttätigkeiten neigen oder
sich bei öffentlichen Tanzlustbarkeiten oder ähnlichen Veranstaltungen nicht
friedlich zu verhalten pflegen“, in eine bei der Ortsbehörde zu führende
„Raufboldliste“ einzutragen. Die ee erfolgt auf Verfügung des
Landrats. Die Raufboldliste wird allen Schank- und Gastwirtschaften, sowie
den angrenzenden Polizeibehörden mitgeteilt. Den in die Liste eingetragenen
Personen dürfen keine geistigen Getränke verabfolgt
werden, auch darf der Wirt ihnen den Aufenthalt ın
seinen Räumen nicht gestatten. Die Raufboldliste selbst wird
in den Wirtschaften öffentlich ausgehängt.
Erlaß des Bischofs Dr. Schreiber, Meißen, vom 12. März:
„Gegen den Mißbrauch des Alkohols.
Die steigende Alkoholflut zieht von neuem seit den letzten Jahren
bedeutende religiöse, sittliche und soziale Schäden nach sich. Diese Schäden
zu bekämpfen und einzudämmen ist unsere dringlichste Pflicht. Im Mittel-
punkt des Kampfes gegen den Mißbrauch alkoholischer Getränke steht
zurzeit das Gemeindebestimmungsrecht (GBR.). Durch das GBR.
wird nun einerseits, wie die Erfahrung in anderen Ländern bestätigt, mit
Sicherheit die Zahl der Alkoholverkaufsstellen vermindert; andererseits bietet
eine etwa erfolgende Abstimmung über die Vermehrung der Konzessionen in
der Gemeinde Gelegenheit, die weitesten Kreise über die Alkoholfrage ein-
gehend aufzuklären.
Die Erfahrung in anderen Ländern beweist, daß bei Anwendung des
GBR. ein nachhaltiger Rückgang des allgemeinen Alkoholverbrauches mit
Sicherheit zu erwarten ist.
Der Reichsausschuß deutscher Katholiken für das Gemeindebestimmungs-
recht (Geschäftsstelle Haus Hoheneck in Heidhausen, Ruhr) teilt uns nun mit,
daß am 14. März d. J. mit einer allgemeinen Unterschriftensammlung im
Reiche für das GBR. begonnen wird.
Die Unterschriftensammlung soll dem Reichstag den Nachweis erbringen.
daß nicht nur die kleinen Kreise der Abstinenzorganisationen, sondern auch
ni Wählerkreise das GBR. als wirksames Mittel gegen den Alkoholismus
ordern. '
Da es vor allem Sache der Kirche als Hüterin von christlicher Sitte
und Ordnung ist, Bestrebungen mit aller Kraft zu unterstützen, die dem fort-
schreitenden Niedergang der christlichen Sittlichkeit einen Damm entgegen-
zusetzen geeignet sind, so wollen die hochwürdigen Herren die Bemüh
des Katholischen Kreuzbündnisses um Sammlung von Unterschriften fü
Einführung des GBR. wirksam fördern.“
Aehnliche Veröffentlichungen erließen die Bischöfe von Hildesheim.
Osnabrück, Rottenburg, Münster, Breslau.“
Bier und Bierbrauerei.
Von Dr. Otto Stenzel.
„Wer erstlich Bier gebrauet, ille fuit pestis Germaniae.“ Ais Martin Luther
diesen Ausspruch in seinen Tischreden tat, da hatte er gewiß nicht die volks-
wirtschaftliche Seite der Bierbrauerei im Auge. Aber es ist recht interessant.
wie ein Mann, der so stark in seinem Volke wurzelte, der seine Lebens-
weisheiten so wuchtig auf einige klare Sätze zu bringen verstand, sich gerade
Stenzel, Bier und Bierbrauerei. 115
zu dieser Frage stellte. Er erschaute sozusagen mit seinem über die einzelnen
Teilgebiete hinausgehenden Blick die tiefsten Zusammenhänge, und so formt
sich diese Schau zu dem Satz: Ille fuit pestis Germaniae.
Wenn heute über irgend ein Gebiet, das den Alkohol berührt, ein Urteil
egeben wird, so bleibt es im allgemeinen auf halbem Wege stecken. Es
ist beschwert von Sentimentalitäten, es ist aber auch beschwert von privat-
wirtschaftlichen Sonderinteressen. Heute werden z. B. volkswirtschaftliche
Gutachten von Handelskammern und anderen Körperschaften über die
Alkoholfrage abgegeben, die aus allem anderen, nur aus keinem „volks“wirt-
schaftlichen Gesichtspunkt entstanden sind, und es war die höchste Zeit, daß
die Vertreter der Wissenschaft selbst Stellung genommen gegen diesen Miß-
brauch und klar herausgestellt haben, welchen Standpunkt eine wissenschaft-
liche Betrachtung gewinnen muß +). Der von engherzigen Fachgedanken, um
nicht zu sagen Privatinteressen — „Privat“ allerdings in einem weiteren
Sinn — diktierte Standpunkt hat sogar Eingang in so treffliche Werke, wie
das Handwörterbuch der Staatswissenschaften gefunden ?).
Was in dem Artikel: „Bier und Bierbrauerei“ an Zahlen und sonstigem
Material beigebracht wird, ist sicher wertvoll und entbehrt gewiß nicht der
Beweiskraft. Aber es ist doch zu fragen: Ist das die ganze volkswirtschaftliche
Bedeutung? Blättert man im ersten Band des Werkes, so trifft man beim
Artikel „Alkoholismus“ doch auch auf anderes Zahlenmaterial °).
Schon die Angaben über den Mißerfolg des amerikanischen Alkohol-
verbots sind zu beanstanden. Wenn dieser so klar vor Augen läge und wenn
das allgemeine Urteil tatsächlich so eindeutig wäre, wie es der Artikel uns
glauben machen will, dann nimmt es uns nur Wunder, daß dieses Gesetz
nicht schon längst wieder gefallen ist. Kenner der Vereinigten Staaten von
Nord-Amerika erzählen uns, wie sehr die Abgeordneten dort Rücksicht auf
die Stimmung ihrer Wähler nehmen müssen. Und trotzdem stimmen min-
destens ?/, der Senatoren und Abgeordneten immer wieder für die Durch-
führung des Gesetzes *).
Es gibt natürlich eine große Anzahl von Bürgern, die das Gesetz be-
kämpfen. Und es gibt sicherlich sehr viele, die es übertreten. Die Großstädte
des Ostens geben dazu gute Gelegenheit. Aber sicher ist eines: Die Ver-
sorgung mit Alkohol ist gegenüber früher viel schwieriger, wenn auch gewiß
der Reiz des Verbotenen eın Moment zur größeren Verbreitung darstellen
mag. Entgegen wirkt aber gewiß die drohende Strafe. Mögen nun die —
in vielen Fällen sicherlich als Tendenznachrichten zu beanstandenden —
Meldungen über Schmuggel und verbotswidrige Herstellung wahr sein, sie
eben doch noch durchaus keinen Maßstab dafür, in welchem Verhältnis
er heutige illegale Verbrauch zu dem früheren ungehinderten steht. Dagegen
ist als sicher anzunehmen: Nach wie vor ist mindestens ®/, der Bevölkerung
verbotsfreundlich.
Eine neuere Umfrage der „Manufacturers Record“ in Baltimore bei den
führenden Männern der Wirtschaft, des Verkehrs und der Finanzwelt hatte
nun das interessante Ergebnis, daß in sehr vielen Antworten betont wurde,
daß es in der Hauptsache Menschen in besserer Stellung seien, die die
offensichtlichen Gesetzesfeinde und Uebertreter sind, daß aber gerade der
Arbeiter das Verbot als Wohltat empfinde. Die Führer der großen Gesell-
schaften und Verbände weisen auch besonders auf seine guten Wirkungen
auf die Arbeiterschaft hin.
Schließlich sind doch auch eine Unmenge Vergleichs zahlen über
Spartätigkeit, Unfälle, Armenunterstützung, Todesfälle, Verhaftungen bekannt
1) Volkswirtschaft und Gemeindebestimmungsrecht. Ein Gutachten, veranlaßt durch die
Kundgebungen deutscher Handelskammern, gegen dieses Selbstbestimmungsrecht der Gemeinden
von Dr. Reinhard Weber. Verlag „Auf der Wacht“, Berlin-Dahlem, Werderstr. 16.
®) Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Verlag Gustav Fischer, 1925, II. Bd. Artikel
Bier und Bierbrauerei von Prof. Dr. Ecker.
3) A. a. O. I. Bd. Alkoholismus von Dr. Alexander Elster.
4) Nach einem Telegramm des Direktors der Alkoholverbotsabtellung in Washington,
James E. Jones war das Ergebnis der neuesten Abstimmung im Kongreß am 22. Dezember 1925
sogar 139 für und 17 gegen das Verbot.
8*
u
116 Abhandlungen.
gegeben worden, die bis zu einem gewissen Grade — doch ist hier immer
sser mehr Vorsicht, als zu wenig am Platze, solange nicht die Möglichkeit
anderer Beeinflussung dieser Zahlen ausgeschlossen ıst — einen Rückschluß
auf den guten Einfluß des Alkoholverbotes möglich machen.
Die Zahlen, die der Artikel Eckers bringt, haben gar keine Beweiskraft.
Sie stammen aus der Großstadt; zudem sind keine Vergleichszahlen aus den
Vorkriegsverhältnissen beigegeben. Auch der Ausspruch von Harding ist hier
ohne große Bedeutung. Es könnten jederzeit Dutzende andere Urteile bei-
gebracht werden von eutenden Männern, die das Gegenteil bekunden.
Wie sehr aber die in der Presse verbreiteten Nachrichten über den
Mißerfolg des amerikanischen Alkoholverbots bei Amerikanern selbst Un-
willen erregen und auch unsere Achtung drüben vermindern, zeigt folgender
Brief des amerikanischen Gesandten in Kairo, Dr. Marton Howell vom
15. Mai 1925, veranlaßt durch den Artikel: Die Tragödie des amerikanischen
Alkoholverbotes. Er schreibt u. a.: „Ich möchte gegenüber solchen Ver-
leumdungen der amerikanischen Auffassung feststellen, daß das amerikanische
Volk völlig in der Lage ist, selbst für die Interessen seines eigenen Landes
in bezug auf die Alkoholfrage zu sorgen, so gut wie in anderen häuslichen
Fragen auch, und daß wir mit Mißtrauen auf jeden Fremden sehen, der ent-
weder durch Unkenntnis der Tatsachen oder durch offensicht-
liche Verlogenheit (im Original nicht hervorgehoben) den Wunsch
verrät, den Majoritätswillen unseres Volkes, wie er durch die Wahlen zum
Ausdruck kommt, und unsere Anstrengungen, die physische und moralische
Kraft unserer Nation im Ganzen zu heben, herabzuwürdigen ...... Lassen
Sie diejenigen, welche an der Alkoholfrage interessiert sind, wenn sie wirk-
lich die Wahrheit erfahren wollen, ihre Informationen von den Gouverneuren
der 48 Staaten beziehen, von den 96 Senatoren, welche diese Staaten im
Kongreß vertreten, von den Gerichtshöfen, welche mit dem Problem vor wie
nach der Annahme des 18. Zusatzes und des Volsteadaktes praktisch zu tun
hatten.“ 5)
Die Behauptung, daß das Bier Volksnahrungsmittel sei, ist schon vor
CA von dem Erlanger Physiologen Prof. Rosenthal als „frivole
nwahrheit“ bezeichnet worden. Gewiß enthält das Bier Nährstoffe. Der
im Bier enthaltene Nährwert kommt aber außerordentlich teuer zu stehen.
Das in der Vorkriegszeit erschienene Alkoholmerkblatt des damaligen Kaiser-
lichen Gesundheitsamtes gibt vergleichsweise den Nährwert an, der in ver-
schiedenen Nahrungsmitteln für 30 Pfennig zu erhalten war. Danach erhält
man in:
Milch 70 gr Eiweiß 76 gr Fett 102 gr Kohlehydrate
Brot 75 99 39 6 „ 99 588 99 ?9
Bier 6 „ = 0 u ».4 „ j 37 gr. Alkohol.
Die heutige Preislage bringt eine weitere Verschiebung zuungunsten des
Biers. Wollte man seinen Nahrungsbedarf mit Bier befriedigen, so wäre dies
also eine unverantwortliche Verschwendung.
Auch die Angabe, daß 88 v. H. der Nährstoffe der Gerste durch die
Bierbrauerei verwertet würden, bedarf einer Richtigstellung. Die Berechnung
der Ausnützung muß auf einem gemeinsamen Nenner erfolgen und als
solcher muß folgerichtig die Ausnützung für die menschliche Ernährung
angenommen werden. Nehmen wir einmal die Erhaltung von 60 v. H. der
Nährwerte im Bier als richtig an — wir werden unten noch darauf zurück-
kommen — so dürfen die Hundertteile in den Abfallstoffen nicht ohne
weiteres als solche in die Rechnung eingesetzt, sondern nur insoweit berück-
sichtigt werden, als sie tatsächlich in der Milch oder im Schlachtgewicht
der Tiere der menschlichen Ernährung zugute kommen. Trillich®) kommt zu
dem Ergebnis, daß nur 3,5 % durch die Verfütterung erhalten bleiben, also
nur diese für die menschliche Ernährung in Frage kommen.
*) Zit. B. Bürck, Für Wahrheit und Recht, Volkswohlverlag Karlsruhe 1926.
Stenzel, Bier und Bierbrauerei. 117
Nun ist die Erhaltung der Nährwerte im Bier selbst aber auch etwas
zu hoch a eben. Sowohl Trillich®) als Eltzbacher”) kommen zu niedrigeren
Zahlen. Während Eltzbacher de Gesamtausnützung der in der Bier-
brauerei verwendeten Gerste für menschliche Ernährung mit 60 % angibt, kommt
Trillich zu dem Hundertsatz von 57,9. Davon wäre also noch die Aus-
nützung der Abfallstoffe mit 35 % abzurechnen. v. Gruber) kommt zu etwas
höheren Werten, die allerdings die angegebenen 60 % nicht erreichen.
Nun ist aber in diesen Zahlen der Alkohol als reiner Nährwert eingesetzt.
Man wird ungefähr annehmen können, daß von den Nährwerten die Hälfte
erhalten bleibt, die andere Hälfte in Alkohol verwandelt wird. Gewiß kann
dem Alkohol theoretisch eine Nährwirkung zugesprochen werden’): er spart
bei ruhendem Körper andere Heizstoffe in gleichwertigen Mengen. Genaue
Untersuchungen‘’) haben aber ergeben, daB dieser theoretische Nährwert
sofort wieder aufgehoben wird durch die dem Körper schädlichen Eigen-
schaften®). Die dem Alkohol innewohnende Energie kann also nicht aus-
genützt werden. ja nach kurzer Zeit überwiegen die schädigenden Eigen-
schaften wesentlich. Es kann aus diesen Gründen der Alkohol nicht als
Nährmittel angesprochen werden, da ihm eine Grundvoraussetzung fehlt:
Unschädlichkeit für den menschlichen Körper in der für die Ernährung in
Betracht kommenden Menge.
So schrumpfen die 88% wesentlich zusammen. An reinem Nährwert
bleibt für die menschliche Ernährung noch 33,5 % übrig, an Alkohol 30 %.
Was nun die Bedeutung der Bierbrauerei in der gesamten Volkswirtschaft
betrifft, so muß gewiß zugegeben werden, daß hier hunderttausende Menschen
ihre Beschäftigung finden, auch daß große Kapitalien mit gutem Ertrag an-
gelegt sind. Doch ıst hier schon eine Einschränkung zu machen: Das Alkohol-
ital gibt im Verhältnis bedeutend weniger Menschen Arbeit, als andere
industrielle Betriebe. Schon im Jahre 1910 kamen auf 1 Million Alkohol-
apin 40, auf 1 Million sonstiges industrielles Anlagekapital im Allgemeinen
172 Arbeiter. Dieses Verhältnis hat sich während und nach dem Kriege
bei dem starken Rückgang der kleinen und mittleren Betriebe, deren Lage
schon vor dem Kriege immer bedrohlicher geworden war, und bei der starken
Zusammenfassung der Brauindustrie in Konzernen sicherlich noch bedeutend
verschlechtert, obwohl diese selbst sich über die Brauerei hinaus durch
Aufnahme von Limonaden, Selterswasser- und Preßhefefabrikation und im Zu-
sammenschluß mit dem Landesproduktenhandel verbreitert haben.
‚ Und schließlich bleibt bei der volkswirtschaftlichen Betrachtung der
Wirtschaftsfaktor „Mensch“ ganz unberücksichtigt. Nun ist aber gerade er
mit seinen körperlichen und geistigen Anlagen der wichtigste Faktor. Es
ist durch eine Unmenge von Material erwiesen, daß die Brauereien die am
stärksten menschenverbrauchenden Betriebe sind. Die Statistik der Leipziger
Ortskrankenkasse !t) zeigt, daß der Gesundheitszustand der Brauereiarbeiter
äußerst schlecht ist. Selbst nach Abzug der Betriebsunfälle und Verletzungen
ist die Zahl der Krankheitsfälle noch wesentlich höher als die der übrigen
Pflichtmitglieder 383 : 303. Der Gesundheitszustand der niedrigen Jahres-
klassen, obwohl auch schlechter als der Durchschnitt, ist noch am besten,
wohl ein Zeichen von der körperlichen Güte des Menschemmaterials — zum
Brauer eignen sich nur kräftige Menschen. Dann aber verschlechtert sich
das Verhältnis zusehends: zwischen 35 und 45 Jahren 485 : 345, zwischen
54 und 74 Jahren gar 953 : 493.
©) Heinrich Trillich, Die Nährstoffausnutzung der Gerste bei ihren wichtigsten Ver-
se sanen paur besonderer Berücksichtigung der für die Ernte 1916 gegebenen Verhält-
nchen).
”) Paul Eltzbacher, Die deutsche Volksernährung und der englische Aushungerungsplan,
Braunschweig 1914.
M. v. Gruber, Kriegsbereitschaft des Ernährungswesens und Biererzeugung. Münch.
Med. Wochen März 1915, ii SRSA
*%) M. v. Gruber, Ueber den Nährwert des Alkohols. Alkoholfrage, Berlin 1911/12.
10) Hoppe, Tatsachen über den Alkohol. München 1912.
“) Krankheit und Sterblichkeitsverhältnisse in der Ortskrankenkasse für Leipzig und
Umgebung, bearb. im Kais. Stat. Amt, Berlin 1910,
118 Abhandlungen.
An Betriebsunfällen kommen nach derselben Quelle auf 1000 ‚beobachtete
Jahrespersonen 93 Betriebsunfälle der Brauer gegen 42 in allen Berufen. Also
auch hier wesentlich höhere Zahlen in der Brauerei.
Besonders wichtig ist natürlich auch der Menschenverbrauch durch Tod.
Es starben — immer noch nach derselben Quelle —, wenn man die Todesfälle
aller Berufe gleich 100 setzt, 150,7 Bierbrauer. Dieses Zahlenmaterial steht
aber nicht vereinzelt da. Auf Grund der englischen Statistik errechnet
Westergaard '?) ähnliche Zahlen: Es kamen 1890—92 auf 100 erwartete Todes-
fälle bei den Brauern im Alter von 25—65 Jahren 143 tatsächliche. Aehnlich
liegen die Verhältnisse bei Selbstmord: Nach der neuen englischen Berufs-
statistik betrug die Selbstmordzahl, wenn man die allgemeinen gleich 100
setzt, bei den Brauern 121.
In diesen Zahlen ist aber erst die direkte Einwirkung auf die Volks-
wirtschaft ausgedrückt. Berücksichtigt man die Tatsache, an allen Er-
scheinungen des Alkoholismus der Biergenuß einen wesentlichen Anteil hat,
daß also nicht, wie früher angenommen, der Branntwein eine erden
Rolle spielt, so ist leicht zu übersehen, welche Schädigungen die Bierbrauerei
indirekt der Volkswirtschaft zufügt. Diese Tatsachen sind in den letzten
Jahren so deutlich nachgewiesen worden, daß es sich erübrigt, hier darauf
einzugehen t°).
amit stellt sich aber auch die so viel gerühmte Ergiebigkeit als Steuer-
uelle von einer höheren Warte gesehen als Ergebnis einer recht ungenauen
echnung heraus. Zwar ist diese Steuerart leicht zu erheben, aber sie ist
doch erkauft mit so großen allgemeinen Schädigungen und Nachteilen, die im
Gefolge des Alkohols erscheinen, daß die Frage nicht von der Hand zu
weisen ist, ob nicht durch Verminderung anderer Steuereinnahmen und Er-
höhung von Ausgaben diese Ergiebigkeit nicht vollständig aufgehoben, ja
sogar ins Gegenteil verwandelt wird.
So wird durch eine sachliche Kritik das von Ecker lee Bild der
volkswirtschaftlichen Bedeutung der Bierbrauerei wesentlich verändert. Zum
Schluß wollen wir nicht versäumen, die Worte beizufügen, die Adam Smith,
der Begründer der nationalökonomischen Wissenschaft geschrieben hat: „Die
Arbeit, welche zur Erzeugung starker Getränke dient, zum Säen, Pflegen
und Ernten des Korns, zu der weiteren Zubereitung, zum Brauen und Destil-
lieren, kurz zu der ganzen Herstellung, Versendun und dem Verkauf dieser
Getränke, ist ganz und gar unproduktiv. Sie produziert nicht solche Dinge,
die man gerechterweise Güter nennen könnte. Die Arbeit, welche auf diese
Getränke verwendet wird, vermehrt nicht den Wohlstand der Gesellschaft,
die Nahrungsmittel, die Quellen wahren Genusses, sondern erzeugt im
Gegenteil nur, was den Interessen der Menschheit schädlich ist.“
Lebensweise und Sterblichkeit.
Tatsächliches aus Amerika.
S. J. Koning, Potsdam.
Einen tiefen Einblick in die Wirkungen des Alkohols erlaubt uns
eine Mitteilung aus dem statistischen Bureau der „Metropolitan Life Insurance
Company“ zu New York, die mir durch den Leiter Mr. Louis J. Dublin
zur Verłügung gestellt wurde. In diesem „Bulletin“ heißt es, daß das Jahr
1925 das gesundeste Jahr überhaupt war unter der industriellen Bevölkerung
der Vereinigten Staaten und Canada. Die Sterblichkeit des Jahres 1925 war zwar
ı2) Westergaard, Die Lehre von der Mortalität und Morbilität, Jena 1901.
18) Unter der vielen neuen Literatur sei hingewiesen auf: i
Handwörterbuch der Staatswissenschaften I. „Alkoholismus“ von Alex. Elster 1925.
Handbuch der Hygiene IV, 3 „Grundriß der Alkoholfrage“ von Rud. Wlassak 1922.
A. Elster, Das Konto des Alkohols in der deutschen Volkswirtschaft. eh 19:
R. Wilbrandt, Der Alkoholismus als Problem der Volkswirtschaft, Stuttgart 1924.
O. Stenzel, Alkohol und Wirtschaftlichkeit. Tüb. Dissertation 1923.
Koning, Lebensweise und Sterblichkeit. 119
sehr wenig niedriger als die des Jahres 1924, so daß es notwendig war, die
Berechnung auf zwei Dezimalstellen auszudehnen, um die leichte Besserung
enüber dem Vorjahre zu veranschaulichen. Die Sterblichkeit der Ver-
sicherten der Gesellschaft war 8,46 auf 1000 Personen im Jahre 1925, während
sie 1924 8,48 auf 1000 Personen betrug. Dies ist das Sterbeverhältnis unter
mehr als 17 Millionen Versicherten, die aus der industriellen Bevölkerung
hervorgehen. Das ist etwa !/, der ganzen Bevölkerung der beiden Länder;
16 Millionen Versicherte leben in den Vereinigten Staaten und eine Million in
Canada. Ihre Sterbilchkeit bildet immer einen Maßstab für die der ganzen Be-
völkerung. Im Jahre 1925 waren 137 697 Todesfälle eingetreten, um 3 v. H.
weniger als 1924, doch ist diese Zahl um 66 288 Sterbefälle niedriger als 1911.
Die Erhaltung so vieler Menschenleben unter Versicherten, die diese Zahlen
veranschaulichen, ist sehr bemerkenswert. Bei einem Vergleich mit der ganzen
Bevölkerung in den Jahren 1911—1924 (das letzte Jahr, von dem Zahlen
zu bekommen waren) zeigt sich, daß die Sterblichkeit bei der Gesellschaft
um 32,3 v. H. zurüc gegangen war, während der Rückgang bei der ganzen
Bevölkerung 19,9 v. H. betrug. Der Unterschied kommt daher, daß die
Versicherten ausgesuchte Risiken sind. Sehr auffallend und erfreulich ist
der Sterblichkeitsrückgang bei verschiedenen Krankheiten. Die Sterblichkeits-
yet für Schwindsucht (aller Arten), Masern, Scharlach, Diphtheritis und
inderkrankheiten war so niedrig wie nie zuvor. Am verhältnismäßig
niedrigsten waren die Quoten für Schwindsucht und Kinderkrankheiten. Vor
allen Dingen für die Schwindsucht ist das Jahr 1925 von großer Bedeutung,
da die Sterblichkeit, die dieses Jahr aufweist, vorher nie so niedrig war;
betrugen doch die Sterbefälle noch nicht 100 auf 100 000 Personen. Vor zehn
Maren hat der größte Optimist diesen Rückgang nicht vorauszusagen gewagt.
amals entfielen noch 198 Todesfälle auf 1 0 Versicherte. Das Jahr 1925
wies nur 98 auf. Für diesen Fortschritt sind zehn Jahre eine kurze Periode.
Seit 1911 ist die Sterblichkeit an Schwindsucht unter allen Versicherten der
Gesellschaft um 56,3 v. H. zurückgegangen.
Leider ist die Sterblichkeitsquote für Alkoholismus nicht so günstig.
Folgende Tabelle gibt einen Ueberblick über die Todesfälle durch Alkoholis-
mus während der ar 1910 bis 1925, festgestellt vom U.S. A. statistischen
Amt und von der Gesellschaft.
U. S. A. Stat. Amt. „Metropolitan“.
Jahr: Quote per 100 000 Quote per 100 000
der Bevölkerung: der Versicherten:
1910 5,9 i
1911 4,9 4,0
1912 5,3 5,3
1913 5,9 5,2
1914 4,9 4,7
1915 4,4 4,1
1916 5,8 5,1
1917 5,2 4,9
1918 2,7 1,8
1919 1,6 1,4
1920 1,0 0,6
1921 1,8 0,9
. 1922 2,6 2,1
1923 3,2 3,0
$
u
m
to
?
ím as 1918 (bald zwei Jahre vor dem Inkrafttreten des Prohibitions-
gesetzes) war die Sterblichkeit sehr zurückgegangen, die dann 1920 ihren
niedrigsten Stand erreichte, sowohl in der amtlichen als in der privaten
Statistik. Seit 1920 steigt die Sterblichkeit an Alkoholismus, ohne jedoch
bisher die alte Höhe erreicht zu haben. Im ersten Quartal 1926 wurden bei
der Gesellschaft 168 Todesfälle an Alkoholismus verzeichnet; diese Zahl
|
120 Abhandlungen.
entspricht einer Quote von 3,9 per 100 000 Versicherten. Während derselben
Periode war die Quote 1925 3,0 und 1924 29. Die schwere ng und
Lungenentzündung-Epidemie im Monat März d. J. hat hauptsächlich diese
höhere Sterblichkeit verursacht.
Was lehren uns nun diese Zahlen? Sie zeigen uns, daß das 1919 ein-
er Prohibitionsgesetz einen wohltätigen Einfluß auf die Gesundheit der
esamtbevölkerung ausübt. Die Todesopier der gefährlichsten Krankheiten
werden von an zu Jahr weniger. Die verheerende Macht des Alkohols ist
ebrochen. Tausende von wertvollen Menschenleben bleiben jährlich der
emeinschaft erhalten. So bedauernswert es ist, daß die Todesopfer an
Alkoholismus sich vermehren, so ist diesen Zahlen nicht der Wert bei-
zumessen, wie den ersten. Die erlaubte und unerlaubte Herstell von
geistigen Getränken und der Alkoholschmuggel fordern zweifellos
jedoch so wenig die Herstellung und der Schmuggel gegenüber den frü
oßen Alkoholfabriken zu bedeuten haben, so wenig bedeuten auch die
LONG: gegenüber der durchschnittlich guten Gesundheit des ganzen
olkes.
Die Unterschriftensammlung für
ein deutsches GGemeindebestimmungsrecht.
Am 14. März d. J. begann die vom Deutschen Reichsausschuß für
Gemeindebestimmungsrecht (G.B.R.) veranstaltete e E s &
welche die Aufgabe hatte, für die an den deutschen Reichstag zu ric
Forderung des G.B.R. möglichst viele wahlberechtigte Unterzeichner zu ge
winnen. Die auf.den Einzeichnungslisten abgedruckte G.B.R.-Formel, die der
Werbung zugrunde gelegt wurde, hatte folgenden Wortlaut:
Das Gemeindebestimmungsrecht gibt den wahlberechtigten
Männern und Frauen der Gemeinde (des Gemeindebezirks) das Recht,
für den Ausschank ‚Beistiger Getränke oder den Kleinverkauf von Brannt-
wein in geheimer Abstimmung nach ihrer freien Wahl eine oder
auch mehrere der folgenden Bestimmungen einzuführen:
1. Die Zahl der vorhandenen Schankstätten darf nicht vermehrt werden.
2. Erloschene Schankerlaubnisse dürfen nicht erneuert werden (das
Recht der Witwe und der minderjährigen Kinder eines verstorbenen
Schank Ines auf Fortführung des Betriebes wird dadurch nicht an-
getastet!). l
3. Bie Zeit des Ausschanks oder Verkaufs ist herabzusetzen (die
Wähler setzen die Polizeistunde fest!).
4. Ausschank und Verkauf von Branntwein, äußerstenfalls der Aus-
schank geistiger Getränke überhaupt, ist in der Gemeinde ganz unt
Für diese timmungen (Ziffer 4) wird man zweckmäßig die Zu-
stimmung von etwa 60 Prozent aller Stimmberechtigten fordern.
Jede dieser uk kann nach freier Entschließung der Wähler
auf eine oder einige Arten der geistigen Getränke beschränkt werden. Es
ist dabei z.B. möglich, den Branntweinausschank und
Branntweinkleinhandel allein zu beschränken oder
ganz zu untersagen. Ä
Die letzten vier Wochen, die der Unterschriftensammlung VOrAE ZU
dienten umfassender Vorbereitung. Alle erreichbaren Ortsausschüsse und Ver-
bände wurden zur Mitarbeit auigefordert. Die Unterschriftslisten, im Er
935 000, deren jede Platz für 20 Unterschriften hat, wurden durch den eichs-
ausschuß versandt, ebenso durch seine Vermittlung etwa 2 bis 3 Millionen
Flugblätter. Wieviel Flugblanir und Flugschriften von anderer Seite ur
mittelbar verbreitet worden sind, entzieht sich genauer Feststellung. Sicher
wird auch diese Zahl sehr beträchtlich gewesen sein.
Kraut, Die Unterschriftensammlung für ein deutsches Gemeindebestimmungsrecht. 121
Der ursprünglich in Aussicht genommene Schlußtermin der Unterschriften-
sammlung, der 25. April, mußte, wie sich bald herausstellte, um einen vollen
Monat hınausgeschoben werden. Ihren endgültigen Abschluß fand die Samm-
lung Ende Mai.
Am 21. Mai wurden die bis zu diesem Tage vorhandenen 2 Millionen
Unterschriften dem Präsidenten des Reichstages von Vertretern des Reichs-
ausschusses für G.B.R. persönlich überreicht. Die Unterschriften waren in
200 Bänden zu je 10 000 gebunden und wurden von 60 Jugendlichen in das
Reichtagsgebäude befördert. Die Einlieferung ist im Bild festgehalten und
durch verschiedene Blätter an econ r Reichstagspräsident erklärte
bei Entgegennahme der Unterschritten, daß seines Wissens eine von Privat-
verbänden an den ee E ice Eingabe nur ein einziges Mal eine so
große Zahl von Unterschritten aufgewiesen habe. Der Vorsitzende des Reichs-
ausschusses Direktor Dr. F. H. Otto Melle betonte in seiner Ansprache,
daß die Unterschriftenwerbung nur zu einem kleinen Teile von alkohol-
PeBner chen Verbänden getragen sei, daß vor allem eine große Zahl sozialer
erbände (Wohlfahrts-, Frauen-, Jugend-, kirchliche Organisationen u. ä.)
an dieser Werbung beteiligt seien.
In der Zeit vom 21. Mai bis zum Abschluß der Sammlung sind dann
noch weitere 565 000 Unterschriften eingelaufen, die nachträglich dem Reichs-
tage eingereicht wurden +). Diese 2565 000 Unterschriften verteilen sich auf
die einzelnen Länder und Provinzen etwa in folgender Weise:
1. Preußen: > Einwohner: Unterschriften:
Brandenburg mit Groß-Berlin . . . 6249675 341 500
Pommern ‘ . . . . 2 2 2... . 1789300 82 000
Ostpreußen . . 2 2 2 2 20202... 2228500 139 000
Grenzmark . . . a. 2 2 2.2.2... 325 000 8 500
Ober- und Niederschlesien . . . . 4245962 255 000
Provinz Sachsen . ©... . . 3120 200 45 000
Schleswig-Holstein 1 462 700 48 000
Hannover . A 3 030 000 100 000
Hessen-Nassau . 2 250 000 76 500
Westfalen . oo 2.22. 2.4470 000 381 000
Rheinprovinz . . . . 2 . . . . 6787800 316 500
2. Bayern ee ar 714033 24 000
3. Sachsen... 4 663 500 212 000
4. Württemberg 2 519 000 236 000
3. Baden. . . 2 208 503 56 500
6. Thüringen 1 500 000 18 000
7. Hessen . . ... 2... 2.0. . 1284000 26 000
8 Mecklenburg-Schwerin . . . 660000 19 000
9. Mecklenburg-Strelitz . . . 107000 5 000
10. Oldenburg . ..........517800 15 000
il. Braunschweig. . . .. . . . 480599 6 000
12 Anhalt .. a... . . . 333920 5 000
13. Lippe-Detmold .... . . . 160000 18 000
14. Schaumburg-Lippe 46 400 4 000
15. Hamburg ....... . . . 1050000 100 000
16. Bremen .:. .:.. 2 2 2 2 2 2 2. 311 266 19 000
17. Lübeck 127 900 8 500.
1) Awch diese Zählung wird voraussichtlich noch nicht die endgültige sein, da seitdem
noch mehrere tausend Unterschriften eingelaufen sind und mit weiteren Nachzüglern zu rechnen
ist. Die in die Zeit der Werbung fallenden Reichstagsverhandlungen hatten bei manchen
Helfern die irrtümliche Auffassung erzeugt, daß die Unterschriftensammlung ihren Zweck ver-
fehlt habe und nicht zu Ende geführt werde. Erst später, nach Schluß der Sammlung über-
zeugten sie sich von Ihrem Irrtum.
122 Abhandlungen.
aus den Zahlen auf die Verbreitung des Alkoholismus oder des alkohol-
gegnerischen Gedankens zu ziehen, ist natürlich unzulässig. Der einzig
mögliche Schluß ist, daß dort, wo sich die geeigneten Persönlichkeiten zur
Durchführung der Werbung zusammenfanden, im allgemeinen günstige Er-
gebnisse erzielt wurden.
Zur Werbung in Bayern noch eine besondere Bemerkung: Die dortige
alkoholgegnerische Zentrale, der Bayerische Landesverband gegen den Alko-
holismus, hielt es nicht für zweckmäßig, der über das Reich ausgedehnten
Werbung sich anzuschließen. Man sammelte in Bayern Unterschriften auf
besonders hergestellten Listen, deren G.B.R.-Formel die Möglichkeit eines
Ortsverbotes nicht vorsah. Nur die Bayerische Pfalz gab man tür die Reichs-
werbung frei. Außerdem konnten einzelne Bogen des Reichsausschusses, die
vor der Vereinbarung mit dem Bayerischen Landesverbande bereits nach
Bayern gesandt waren, nicht mehr zurückgezogen werden. So kommt es, daß
die Reichswerbung in Bayern ein zahlenmäßig nur unbedeutendes Ergebnis
hatte, während der Bayerische Landesverband für seine gemäßigtere Form
des G.B.R. rund 75000 Unterschriften gesammelt hat. Diese Unterschriften
sind mit eigener Eingabe dem Reichstage überreicht worden.
Aus der besonderen Art der Werbung und den allzu geringen Mitteln
erklärt sich zu einem guten Teil die Verschiedenheit der Ergebnisse. In
keinem einzigen Land und in keiner Provinz war es möglich, ausnahmslos
jede Gemeinde durch die Unterschriftenwerbung zu erfassen. Sehr oft mußte
man zufrieden sein, wenn nur in einigen größeren Orten die Sammlung,
und auch hier nicht immer ganz planmäßig, vorgenommen werden konnte.
Erklärlicherweise hat man auf dem Lande und in kleineren Orten,
soweit die Werbung gut durchgeführt wurde, einen größeren Prozentsatz
der Bevölkerung für die Unterzeichnung gewinnen können. Nicht selten —
besonders aus Württemberg und aus dem Erzgebirge, gelegentlich aber auch
aus anderen Landschaften — wurde gemeldet, daß die gesamte oder doch
nahezu gesamte nd Einwohnerschaft ihre Unterschrift abgegeben
habe. In Großstädten darf das Ergebnis als recht befriedigend bezeichnet
werden, wenn ganz oder annähernd 10 Prozent der Einwohnerschaft erreicht
wurden. Dieses Ergebnis ist erzielt worden u. a. in Düsseldorf (40 161 Unter-
schriften), Elberfeld (16374), München-Gladbach (6542), Bochum (18 154),
Dortmund (22711), Iserlohn (3.005), Münster (12265), Kassel (21 443), Hildes-
heim (5546), Harburg a. d. Elbe (9 084), Merseburg (2847), Kottbus (5 409),
Stettin (30 976), Allenstein i. Ostpr. (3770), Elbing (10 453), Breslau nn 791),
Liegnitz (7951), Neustrelitz (1403), Schwerin (4953), Darmstadt (10567),
Gießen (3202), Zwickau (10782), Zittau (3 606).
Einen immerhin beachtenswerten Erfolg haben die beiden größten Städte
des Reiches, Berlin (303576) und Hamburg mit Altona (95 367), erzielt.
Weit über 10 Prozent der Einwohnerschaft hinaus war das Ergebnis in
Stuttgart (59791) und zahlreichen anderen Städten Württembergs, ferner in
Pirmasens (8232, also über 20 Prozent!), in verschiedenen Orten Westfalens,
z. B. Gütersloh (4900). Hamm (17233), Minden (9 159), Hersfeld (3 180);
ebenso in den hannoverschen Orten Emden (7 153), Lingen (3805) und Leer
4422). Ueber dem Durchschnitt steht auch eine Reihe pommerscher Orte:
öslin (4 758), Stolp (7486), Treptow a. d. Rega (1 B, Kolberg (8261),
Pyritz (3 194); in der Grenzmark Schneidemühl (8 430); in Ostpreußen ons
berg (46 720) und Tilsit (12773). Eine große Anzahl schlesischer Orte hat
den Durchschnitt ebenfalls zum Teil wesentlich überschritten: Beuthen (14 in
Bunzlau (4574), Glogau (6191), Grünberg (4197), Langenbielau (5 077).
Oppeln (7632), Reichenbach (5 972), Trebnitz (2747), Groß-Strehlitz (2272,
das sind 43 Prozent!). Rund 55 Prozent hat Detmold mit 8502 Unterschriften
erreicht; nahezu ebensoviel Bückeburg mit 3124. Fast 50 Prozent erzielte
Meldorf i. Holstein mit 1902 Unterschriften. Besonders ergebnisreich war
die Sammlung auf einzelnen Nordseeinseln: Nordstrand (917, etwa 40 Prozent)
und Föhr (1209, 80 Prozent).
Kraut, Die Unterschriftensammlung für ein deutsches Gemeindebestimmungsrecht. 123
So verschieden die Zahlen, so verschieden die zu. überwindenden
able niit der Mut, die Hoffnungen und der Eindruck, den die Wer-
bung auf einzelne und die Gesamtheit gemacht hat.
Die Hinternisse sind zum Teil ungeheuer groß gewesen, jedenfalls ganz
wesentlich größer, als sie wo in der Werbewoche verspürt wurden.
Fast aus allen Gegenden des Reiches kamen gelegentlich lebhafte Klagen über
auBerordentliche Schwierigkeiten; manche hielten sogar die Werbung für
das G.B.R. für verfrüht: „Es ist ee h notwendig, daß die Menschen mehr
aufgeklärt werden, und daß Aerzte, Lehrer und Behörden den Alkohol-
interessenten sagen, daß die Hetze gegen die aufklärend wirkenden Menschen
sehr ungerecht ist.“ So schreibt eine Frau, die sich fleißig an der Arbeit
beteiligt hat. Ein Helfer aus Holstein meldet: „Die Ausbeute blieb mager..
Dies -ist zum Teil auf die tief eingewurzelten Trinksitten zurückzuführen, zum
Teil auch auf die von den Gegnern großartig betriebene Propaganda.“
Diese gegnerische Propaganda hat in der Tat ganz außerordentliche:
Kräfte entfaltet und keine Mittel verschmäht. Mit großen Plakaten, teuren
Zeitungsanzeigen, öffentlichen Versammlungen versuchte man, zum mindesten
ın den großen Städten, die Unterschriftensammlung unmöglich zu machen.
Unablässig hämmerte man den Satz? „G.B.R. ist Trockenlegung!“ in die
Gehirne. Dazu persönlicher Terror schlimmster Art. Sammler wurden viel-
fach bedroht, sogar gelegentlich mißhandelt, nicht selten Unterzeichner durch
wirtschaftlichen Druck veranlaßt, ihre Unterschriften zurückzuziehen u. a. m.
Ein Hilfslehrer in Süddeutschland muß wegen seiner Beteiligung an der
Uxterschriftenwerbung Konflikte mit der vorgesetzten Behörde befürchten.
Gegen einen Pfarrer einer norddeutschen Stadt wird von seiten der Wirte
beim Konsistorium Beschwerde geführt, weil er, der übrigens die Trinker-
fürsorge im Orte zu leiten hat, die Unterschriftenwerbung mig gefördert habe.
Das geschah in derselben Stadt, in der vor nicht allzu langer Zeit ein hoch be-
gabter Geistlicher wegen Alkoholismus aus dem Amte scheiden mußte. Ein
anderer Bericht sagt: „Es hat allerhand Arbeit gekostet, die Stimmen zu-
sammenzubekommen, stellenweise sind wir geradezu hinausgeflogen.‘“ Ein
Geistlicher aus Ostpreußen meldet: „Bemerkenswert war der Widerstand der
Behörden (Bürgermeister, Landgerichtspräsident) und Einschüchterung der
Geschäftsleute durch die Brauerei; Brauereiangestellte fürchteten die Ent-
lassung.“ In einem Briefe aus der Gegend der Unterweser heißt es: „Einige
Unterschriften sind leider dadurch verloren gegangen, daß im Arbeiter-
sekretariat, das wir auch für die Unterzeichnung der Listen interessierten,
von unbekannter Hand drei Listen geraubt worden sind.“ Aehnliches be-
Tichtete ein Helfer aus Hamburg. Aus dem Hannoverschen: „...auch Schläge
at man uns angeboten.“ Eine Frau aus Bayern schreibt: „Es sieht hier
traurig aus. Der Herr, der sich bereit erklärt hat, Unterschriften zu sammeln,
bekam es mit der Angst, weil ihm mit Schlägen gedroht wurde. So mußte
ich allein weiter sammeln.“ Besonders bedauerlich ist, daß vielfach auch
rauen, und zwar von angeblich gebildeten Personen beschimpft und tätlich
roht worden sind (Umgegend von Glogau und Berlin).
Nicht minder zahlreich sind aber erfreulicherweise auch die fröhlichen
und zuversichtlichen Berichte, die von viel Entgegenkommen und guten Er-
folgen melden: ,... eine hiesige Guttemplerin hat 460 Stimmen abgeschickt, die
Sie persönlich auf einer einzigen Straße gesammelt hat. Sie wollte damit
èm Schulbeispiel für ganz gewissenhafte Arbeit liefern.“ Aus dem Rheinlande:
„Unterschriften habe ich auch in einer Weinbaugemeinde erhalten. Die Winzer
sind vielfach empört darüber, daß die Alkoholinteressenten bei der Be-
ämpfung den gefährdeten Weinbau vorschützen.... Ich habe persönlich
60 Unterschriften gesammelt. Nur in einem einzigen Falle hat man sie mir
verweigert.“ Aus Holstein: „Ich rechne etwa 5000, die durch mein direktes
irken unterschrieben haben, darunter Gastwirte, Lehrer, Gerichtspersonen,
‚Tofessoren, Pastoren usw.“ Ein Berliner Bericht meldet: „Mehrere Helfer
lieferten an 2000 Unterschriften. Ein Wehrtempler allein hat im Laufe von
wenigen Tagen 1200 Unterschriften im Arbeitsnachweisbureau gesammelt.
124 Abhandlungen.
Eine 73jährige Frau sammelte 300, eine andere Frau 1500, ein Vater zv-
sammen mit seinem Sohn 800 Unterschriften.“ Ein Prediger aus der Provinz
Hessen schreibt: „Die vier ältesten meiner Kinder beteiligen sich an der
Arbeit und waren täglich wohl zwei bis drei Stunden unterwegs. ... Mein
Sohn, der Student der Theologie ist, benutzte einen Teil seiner Ferien, der
andere Sohn, ein Gymnasiast, brauchte alle seine freie Zeit. Auch unsere
Tochter, die in den Tagen der Mutter viel fehlte, ging fleißig mit ihren
Bruder. Abends wurde ımmer berichtet...“
' Ueber die Arbeit in den verschiedenen Volkskreisen gehen die Berichte
weit auseinander. Die einen beklagen sich darüber, daß die Gebildeten völlig
versagten oder gar die Unterschriftenwerbung bekämpiten. Andere waren
erstaunt über geringe Erfolge in Arbeiterkreisen. Aus dem Vogtlande schreibt
ein Helfer: „Meine Erwartung eines stärkeren Erfolges bei den Sozial-
demokraten ist enttäuscht worden, denn das Stimmenergebnis bei ihnen war
kläglich.“ Die Erfahrung zeigt eben, daß nur da, wo hinreichend Aufklärung
über die Alkoholnot verbreitet worden ist, auch Erfolge erzielt wurden, un-
abhängig von Stand und Beruf und politischer Ueberzeugung.
Bei der Vorbereitung‘ der Unterschriftenwerbung hatte man besonders
Augenmerk auf die kirchlichen Kreise gerichtet. Evangelische Kirchen-
behörden und katholische hohe Geistliche unterstützten die Werbung. Die
Geistlichen aller Bekenntnisse wurden zur Mitarbeit aufgefordert, vıeliach.
wie anzuerkennen ist, mit ausgezeichnetem Erfolge. Nicht ganz selten freilich
war auch das Gegenteil zu verspüren. Aus Thüringen wurde geschrieben:
„Leider hat unsere evangelische Kirche vollkommen versagt, anders dit
katholische Kirche und die christlichen Gemeinschaften in unserer Landes-
kirche.“ Aus anderer Gegend wird über das Versagen katholischer Geistlicher
geklagt (u. a. Ostpreußen).
Frauen und Jugend sind wirksame Helfer im Kampfie gewesen, wen
auch mit Bedauern festgestellt werden mußte, daß der eine und andere größere
Frauenverband abseits stand. Die Leiterin eines Berliner Frauenvereins hat |
mit Hilfe ihrer Organisation nicht weniger als 15000 Unterschriften zu-
sammengebracht. Aus einer anderen Stadt in der Nähe Berlins wurde ge
meldet: „...ein großes Verdienst in der Propaganda haben sich die Jugend-
organisationen und die Organisationen der Frauenhilfe erworben. Letztere
haben unter den schwierigsten Verhältnissen Unterschriften gesammelt.“ Au:
der Lausitz: „...an der Sammlung ist hier die christliche Jugend unseres
Ortes beteiligt, und zwar: Jugendbund für Entschiedenes Christentum, Evan-
elische Jungmännervereine, Evangelische Jungmädchenvereine und die christ-
iche Pfadfinderschaft. Die Arbeit machte uns Freude.“
Enttäuscht hat zweifellos das Verhalten des Reichstages während seiner
April- und Maisitzungen, in denen das Gemeindebestimmungsrecht erörtert
wurde. Aber die große Masse der Helfer ist nicht entmutigt und wird auch
voraussichtlich nicht entmutigt sein, wenn bei der Behandlung des Schans-
stättengesetzentwurfes, den die Reichregierung dem Reichtage vorlegen wird.
dieser sich nochmals gegen das Gemeindebestimmungsrecht erklärt. Man ist
sich in allen Kreisen völlig klar darüber, daß die Arbeit, die soviel Auf-
klärung über die Alkoholfrage verbreitet hat, nicht vergeblich gewesen ist.
und daß Saat gesät wurde, die, wenn nicht heute oder morgen, so doch sicher
später einmal aufgehen wird. Mit Recht schreibt ein Helfer aus dem Rhen-
lande: „Im Sinne einer großzügigen Propaganda für Aufrollung der Alkohol-
frage hat die Sammlung hier sehr viel geleistet und erleichtert sehr die
weitere Arbeit.“ Ein anderer schreibt: „Immerhin ist auch hier die Frage i
nach den Gefahren des Alkohols nie so erörtert worden wie in diesen Wochen.
Die fast über das ganze Reich ausgedehnte Werbung bedeutet zweifel-
los im weiteren Sinne einen so großen Erfolg, wie ihn die deutsche Alkohol-
gegnerbewegung kaum je zuvor errungen hat, einen Erfolg, für den die Ver-
anstalter jedem einzelnen Helfer zu größtem Danke verpflichtet sind. Er
möge hiermit auch an dieser Stelle ausgesprochen sein. Die stille, uneigėn-
nützige Arbeit, die von Tausenden oft unter den widrigsten Umständen
Stubbe, Der gelehrte Ranzau und der Alkohol. 125
geleistet wurde, verdient allergrößte Anerkennung. Viele der in der Zentrale
eingegangenen Berichte haben auf die Empfänger einen tiefen Eindruck
gemacht. Wenn eine 83jährige Frau die von ihr selbst gesammelten Unter-
schriften mit der Entschuldigung einsendet, daß sie wegen hohen Alters nicht
mehr habe leisten können; wenn ein ugendlicher, der noch nicht das wahl-
fähige Alter erreicht hat, in seinem Heimatorte selbständig die ganze Wer-
bung organisiert; eine durch tägliche Berufsarbeit überlastete Gemeinde-
schwester von Haus zu Haus geht und unermüdlich Unterschriften sammelt:
manche Familie sich wochenlang fast vollzählig in den Dienst der Werbung
stellt, und viele, viele in ähnlichem Sinne berichten, so glauben wir der
Beweise genug erhalten zu haben, daß Idealismus und Opferwilligkeit im
deutschen Volke nicht erstorben sind, daß für weitere Arbeit an unserm
Volke auf tausendfache Hilfe zu rechnen ist, und uns um die Zukunft nicht
bange zu sein braucht.
R. Kraut.
Der gelehrte Ranzau und der Alkohol.
Von Pastor Dr. Chr. Stubbe.
Heinrich Ranzau ist die glänzendste und sympathischste Gestalt der
Renaissance in unserem Norden, — Staatsmann, Schriftsteller zur Geschichte
und Landesbeschreibung, Naturforscher, Dichter, dabei Kunstfreund, der sich
in Errichtung von Bauten und Denksteinen zur Ehre seiner Heimat betätigte,
— wohl vergleichbar einem der edlen Medizäer. — Am 11. März 1526 ist
er auf der Steinburg (bei Itzehoe in Holstein) geboren und in der Silvester-
nacht 1598 gestorben. Von seinem Ruhme war sein Jahrhundert voll, weit
über die Grenzen von Dänemark und Deutschland. ine Grabschrift (von
dem Rostocker Dichter Eilhard Lubinus) sagt stolz:
Henrici tumulus hic. Caetera norunt
Europae gentes orbis et occiduus.
(Von Haupt verdeutscht:
Heinrich Ranzaus Grab. Das Uebrige wissen die Völker
In Europa rings und in der westlichen Welt.)
Der Widerhall seines Ruhmes erscholl auch nach seinem Tode in einer
Menge von Schriften, die seine Unsterblichkeit verkündeten, und bis auf
diesen Tag schwebt sein Name als des Größten, den sein geliebtes Heimat-
land Holstein hervorgebracht hat, auf den Lippen der Wissenden. Er wird
gefeiert als der Name des Mannes, der konnte, was er wollte, und wollte,
was er konnte, des großen Beförderers alles Guten und Bedeutenden, des
mächtigen Pflegers der Kunst und Wissenschaft, von Allem, was geistig
oder wissenschaftlich Bedeutsames im Lande geschah. So Richard aups
der greise, noch immer jugendfrische frühere Provinzialkonservator der
Provinz, den der 400. Geburtstag des Ritters auf den Plan gerufen hat, das
Andenken des großen Mannes durch eine Schrift
„Heinrich Ranzau und die Künste“
(Kiel, Gesellschaft für schleswig-holsteinische Geschichte, 1926) zu ehren.
hr entnehme ich auch die nachstehenden Notizen. |
Die Zeitgenossen konnten den Ritter kaum verstehen, den reichsten
ann in Deutschland, der Gedichte machte, Bücher sammelte und nicht
trank. Man genügte sich, ihn den gelehrten Ranzau zu nennen. Unter seinen
Standesgenossen war er ein weißer Rabe, der Trunkenheit haßte, nicht
spielte, nicht raufte, — aller Rohheit ein Widerspiel. Der sittliche Wandel
es in der Fürsorge für die Seinen Unermüdlichen, des treuesten Familien-
vaters war untadelig.
Einen guten Trunk mochte er wohl schätzen, war es nun Braun-
schweiger Bier, das die Fürsten so liebten, wovon er dem Großherzog von
126 Abhandlungen.
Florenz ein Gebinde und noch eines verehrte, oder Wein. Den aus Italien
Ben griechischen wie auch Saveller, Muskateller oder Lacrimas
hristi wußte er zu würdigen, wie auch die Sendung von köstlichem Ein-
gemachten und Apfelsinen. Das Bier, das man zu Breitenburg braute, ward
von den Leckermäulern hoch gepriesen. Groß war seine Gastfreundschaft.
— Von dem „Willkommen“ bringen wir die Hauptsche Uebertragung:
Der du dich neu anschließest dem Kreis, willkommener Gastfreund,
Greif zu, laß dich des Tischs freundlich Gebotnes erfreun.
Hebe den Humpen ührlich, den gastlichen, trink mit Behagen —
Aber vor Zank und Streit, Trunkenheit sei auf der Hut.
Freundschaft knüpft sich am Becher, — am Becher zerbricht sie, die
Freundschaft.
Trink mit Bedacht, aufrecht bleibe der Geist und der Gang.
(Pocula amicitiam faciunt et pocula solvunt;
Si bibis, ut valeant mensque pedesque, sapis.)
Aus seiner Ehe mit Christine von Halle entsprossen zwölf Kinder, davon
7 Söhne.
Der Fürsorge für die Seinen verdankt ein Büchlein seinen Ursprung, au |
welches wir genauer a wollen. (Es ist sicher das, welches im Ver-
zeichnis der R.schen Schriften von Haupt „De annis climacteriis. 15%
registriert ist. — In dem von mir benutzten Exemplar der Schlesw.-Holst.
Landesbibliothek ist handschriftlich 1580 beigefügt.)
Henrici Rantzovii Equitis Holsati
de conservanda valetudine liber, in privatum liberorum suorum usum ab
ipso conscriptus, ac editus a Dethleuo Syluio Holsato. In quo de diaet.
itinere, annis climacteriis, et antidotis praestantissimis, breuia et utilia prac-
cepta continentur. „Lipsiae Cum Privilegio.“ (s. a, — die Vorrede ist
datiert: Segeberg, 1573.) —
In der Einleitung erklärt R.: Der Mensch bestehe aus Leib und Sede
Zum Heile der Seele sollten sich seine Söhne mit der Religion beschäftigen;
er wolle ihnen hier nur einige Regeln zur ung des gebrechlichen
Körpers bieten, die er ihnen zu Liebe aus ärztlichen Schriften zusammen
getragen habe; abgesehen von Cornelius Celsus gäbe es keine weitere 0
umfangreiche Sammlung. — Wir haben es also mit einer Darstellung der
in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts über die Gesundheitspflege gang-
baren Ansichten zu tun. |
Zuerst werden die Elemente Luft, Wasser und Feuer in ihren Be
ziehungen zum Menschen besprochen, dann Speise und Trank erörtert.
Ueber das Wasser lernen wir: „Das Wasser ist am gesündesten m
Sommer, danach im Frühling und Herbst, am wenigsten zuträglich (pessima)
im Winter. Es ist aber das Trinken von keinerlei Wasser, sei es gut
schlecht, zumal euren Körpern heilsam, die in diesen nördlichen Gegenden
feuchten Krankheiten (morbis humidioribus) unterworfen sind. Sollet ihr
dennoch genötigt und gezwungen sein, von jenen besseren Wassern (nämlich
Regen- oder Quellwasser) zu trinken, so kocht es zuerst über langsamen
Feuer ab. Durch solche Abkochung wird sowohl die Dicke (crassities) des
Wassers aufgehoben, als auch jegliche Verdorbenheit (pravitas) verbessert.
Bei der „Speise“ werden Milch und Früchte mit angeführt. „Milch
ist warm und feucht, ähnlich der menschlichen Beschaffenheit, bekomm!
Kindern und Greisen, aber nicht sehr den Fiebernden.“ „Betr. Früchte.
o Söhne, so halte ich euch in jeder Weise vor ihrem Genusse zurück; Sie
bringen nämlich mehr Nachteil als Vorteil. Indessen wird aus Nüssen un
Feigen ein Heilmittel hergestellt.“ Der Genuß von Trauben wird morgens
bei nüchternen Magen empfohlen. Was mit Freuden gegessen wird, bekomm
am besten. Vor Uebersättigung im Essen und Trinken muß man sich hüten.
Es kommen mehr durch die Gurgel als durchs Schwert um.
Stubbe, Der gelehrte Ranzau und der Alkohol. 127
„Das Trinken ist nicht weniger notwendig als das Essen, damit es
den Körper anfeuchte . . .“
„Mäßiges Trinken des Weines erneuert die Kräfte, ie die natür-
liche Wärme, mildert die Säfte (humores), und reinigt durch Schweiß und
Urin, reizt den Appetit und die yere auung, und macht das Gemüt, zumal
derer, die ruhigen Temperamentes sind, froh und heiter. Unmäßiger Genuß
von Wein verletzt jedoch alle Sinne des menschlichen Körpers, unterdrückt
die Kräfte des Geistes, entnervt die Spannkraft der Seele und stumpft sie ab,
schädigt außerordentlich Gehirn und Nerven und führt Zittern der Glieder,
Spasmus, Apoplexie, Paralyse und plötzlichen Tod herbei. — Vor allem möge
solcher Wein gewählt werden, der guten Geruch, Farbe, Glanz (nitor) und
Geschmack hat. Alter Wein ist warm im dritten, neuer im ersten Grade.
Aber je edler (generosius) er ist, desto wärmer ist er, je süßer desto weniger
stark (validum).“ Vergorener Wein ist dem Moste, der leicht Blähungen
und Nierensteine bringt, vorzuziehen.
„Bier werde aus gutem Korne hergestellt, gut gebraut; — es sei klar,
vicht zu frisch, noch so alt, daß es einen säuerlichen Geschmack annimmt.
Bier ernährt die Nerven, schafft gute Farbe, fließt leicht aus Magen und Ein-
geweiden, bekommt am besten in heißer Zeit, löscht den Durst und ist
unserem Körper nicht minder heilsam als Wein.“ Besonders hat das Ham-
burger Bier außer der nährenden und wärmenden auch eine heilende Kraft.
Daß das Bier in unseren nördlichen Gegenden besonders zuträglich ist,
zeigen die blühende Farbe, die feine Gestalt (forma elegans) (!!) und die
wohlige Beschaffenheit des Körpers. Selten nämlich leiden unsere Lands-
leute an Gliederreißen oder Podagra, werden aber bisweilen von Katarrh
oder Asthma oder Nierenkrankheit belästigt. — Wenn aber jemand Bier bis
zur Betrunkenheit sich eingurgelt, wird er davon sehr großen Schaden haben.
Er wird nämlich erfahren, daß Kopfschmerz, Blähungen und kalte Krank-
heiten (morbi frigidi, — Erkältungen?) daraus entstehen. Es ist also der
Rausch am Bier schlimmer als der aus Wein, zumal wo Phlegma und
Katarrhe in dem Körper herrschen. Möge jeder sich das Bier aus der Fülle
der Arten aussuchen, welches ihm am bekömmlichsten ist.
Ein besonderes Kapitel handelt von der Trunkenheit, weil die
Söhne doch in Geschäften und im menschlichen Verkehr an freundschaft-
lichen Gelagen teilzunehmen gezwungen sein werden. „Die Trunkenheit ist
nichts anderes als Verwirrung des Geistes und aller seiner Handlungen,
erwachsen aus unmäßigem Trinken und ein freiwilliger Wahnsinn.“
„l. Um dieses Uebel zu vermeiden, ist das erste und wichtigste, wenig
trinken und nicht mehr, als die Notwendigkeit erfordert.
2. Sich sodann starker Getränke enthalten, schwächere Biere dazwischen
mischen und nach und nach (pedetentim) trinken, nicht in einem
Schluck alles leeren.
3. Zwischen dem Trinken ein wenig essen; denn die Speise hält den
Trank im Leibe zurück.
4. Vor der Speise ein wenig Absinthwein oder 8 oder 9 bittere Mandeln
nehmen; oder ein klein wenig Milch. Einige verzehren Lorbeerblätter,
andere anderes.
‚ Africanus will in seinen Tagebüchern darauf hinaus, daß, wer geröstete
Ziegenlunge ißt, keine Trunkenheit spüren wird.
Ich pflege immer an der Brust einen großen Amethyst zu tragen,
weil einige schreiben, er sei heilsam gegen Trunkenheit, weil er nicht zuläßt,
daß Feuchtigkeit zum Gehirn aufsteigt, und mir scheint, daß er etwas leistet,
überlasse aber einem jeglichen sein Urteil.
Alle Süßigkeiten und Zuckerwerk, zwischen dem Trinken genommen,
verhindern die Betrunkenheit, weil sie keine Dämpfe aufsteigen lassen und
en Wein und seinen Geschmack brechen. Die augenblickliche Heilung ist
ein Erbrechen oder ein anderer Abfluß (aliud uvium), gemäß Hippo-
krates: Denn aus der Fülle kommen gewisse Krankheiten, die Entleerung heilt.
128 Abhandlungen.
Schließlich heilt der Schlaf vollkommen die Trunkenheit, und man muß
ihn so lange ausdehnen, wie das Rülpsen oder Gähnen andauert; denn (nach
Gallenus) der Schlaf kocht zusammen (concoquit), das Wachen zerteilt
(digerit). Legt euch jedoch nicht gleich nach dem Trinkgelage zum Schlafen
hin, sondern wandert mindestens erst eine Stunde ım Zimmer umher
und wacht.
Avicenna schreibt folgenden Syrup gegen den Trunk vor, aber ich habe
seine Heilkraft nicht erprobt; denn ich pflege mich lieber durch bittere
Mandeln, einen Amethyst, Süßigkeiten, kalte Gerüche, wie Rosen, Veilchen,
Kampher zu schützen, wenn ich wegen des Allgemeinbefindens nicht ein
Erbrechen anregen will.“
Das Rezept gebe ich lateinisch wieder:
„Succi alborum caulium,
Succi granatorum,
Aceti vini optimi ana unciam unam.
Fervebant ebullitionibus aliquot et fiat syrupus.“
Mit der moralischen Mahnung, mit der der Graf dieses Kapitel ab-
schließt, wollen auch wir unsere Uebersicht beenden:
„Das weiß ich gewiß, daß Trunkensein unnatürlich und keinem
Menschen nützlich ist. Daher hoffe ich, daß ihr meiner Mahnung eingedenk
sein werdet und, soweit es die gewöhnliche Ordnung des Lebens zuläßt,
diese allgegenwärtige Pest (praesentissimam pestem) fliehen werdet und dem
allgütigen erhabensten Gott, der das untersagt, mehr gehorchen werdet, als
daß ihr um der Genossen und Freunde willen freiwillig den Tod be-
schleunigt.“
Wir verzichten darauf, die Rezepte wiederzugeben, welche unter Ver-
wendung von Wein oder Bier gegen allerlei Gebrechen nützlich sein sollen.
— Wie „de purgatione“, findet sich auch ein besonderes Kapitel „de vomitu“.
Das Erscheinen mehrerer Auflagen bezeugt, daß die Schrift
der Anschauung und dem Bedürfnis jener Zeit entsprach. Der vierten
Auflage („Francofurti ex officina Palthenia Sumtibus viduae Petri Fischer
MDXCVI ist als Anhang beigegeben Guilielmi Grataroli Berga-
motis, Medici Clarissimi de Litteratorum et eorum, qui Magı-
stratum gerunt, conservanda valetudine liber, omnibus,
quibus secunda valetudo cura est, apprime utilis et necessarius.“
Chronik
für die Zeit vom 1. März bis zum 30. Juni 1926.
Von Pastor Dr. Christian Stubbe.
A. Zwischenstaatliches.
Ein neues deutsch-portugiesisches Handelsabkommen
ist am 20. 3. in Lissabon unterzeichnet worden. Portugal sind u. a. Zoll-
erleichterungen für Dessertweine und Ananas gewährt worden.
Der deutsch-spanische Handelsvertrag ist vor Pfingsten
vom Reichstag angenommen. Die Zölle des italienischen Handelsvertrags
gelten auch für die spanischen Weine, jedoch ist für roten spanischen Ver-
schnittwein (welcher für die Aufmachung eines großen Teiles der deutschen
Rotweine nötig ist) eine Zollermäßigung auf 20 M zugestanden.
Der Deutsche Reichstag nahm am 26. 3. das auf der Konferenz zu Helsing-
fors geschlossene Abkommen zur Bekämpfung des Alkohol-
Schmuggels und über die Verfrachtung alkoholischer Waren an.
Das Institut für Milchversorgung in Kiel hat den Preis errechnet für
1000 Netto-Kalorien und dabei festgestellt, daß 1000 Kalorien Vollmilch
48 Pfennige kosten und Milch somit von allen Nahrungsmitteln das
billigste ist (Tilsiter Käse 52 Pfennige, Leberwurst 1,02 Mark, Rind-
fleisch ohne Knochen 1,550 Mark usw.). In Nordamerika hat sich der
Milchkonsum in den letzten vier Jahren gewaltig gehoben (in den großen
Städten um 27%), was zum großen Teil auf die Aufklärungstätigkeit des
National Dairy Council zurückzuführen ist. In England ist (in London) ein
National Milk Publicity Council errichtet mit ähnlicher Aufgabe wie die
amerikanische Einrichtung. In Deutschland rechnet man für 1925 etwa
18 Milliarden Liter Milchertrag, aber nur mit einem durchschnittlichen Milch-
verbrauch von !/, bis t/s Liter täglich auf den Kopf, und in einigen Industrie-
een sogar nur mit t/o Liter, während er in einigen amerikanischen
roßstädten bis zu ?/, Liter betragen soll. Ein Reichsausschuß zur Förderung
des Milchverbrauchs ist gegründet worden; seine Tätigkeit hat selbstverständ-
lich auch alkoholgegnerisch die größte Bedeutung (vgl. „Heimatdienst“ 1. 5.)
Aergernis hat es erregt, daß von Matrosen des deutschen Kreuzers
Hamburg bei einem Besuche in San Pedro im Mai an Nord-
amerikaner Bier verkauft wurde. Das Staatsdepartement hat in einer Note an
die deutsche Botschaft anheimgestellt, deutscherseits die erforderliche Unter-
suchung einzuleiten. — Der Kommandant hat den Verkauf von Bier in den
amerikanischen Häfen an Besucher verboten; die Leute, die Bier verkauft
haben, sind bestraft.
Nach der „Volkswacht“ er 4.) erhält der Staat in der Schweiz für jeden
Franken, der vertrunken wird, durchschnittlich 9 Rp. an Abgabe, in Eng-
land dagegen rund 43. In Dänemark sind die Staatseinnahmen aus dem
Schnaps noch höher; sie betragen alles in allem 64 bis 66 ct. auf 1 fr.
(„St. Gall. Stadtanzeiger“ 3. 5.).
Die „Volkswacht“ schreibt am 15. 5.: Der schwedische Kronprinz ist
abstinent, desgl. der oesterreichisce Bundespräsident, der finn-
ländische Landespräsident, seit 10 Jahren alle englischen Ministerpräsidenten,
der Präsident der U. S. A. Coolidge; der tschechische Präsident ist Verfasser
von Abstinenzschriften, der mexikanische arbeitet für das Alkoholverbot, der
norwegische für das Weiterbestehen des Schnapsverbotes (d. h. Mowinckel,
jetzt abgegangen, St.); Mussolini trinkt seit 10 Jahren keine gebrannten Ge-
tränke. — Und wie steht’s mit unseren Würdenträgern
. Die englische Regierung, die schon mit den Ver. Staaten
eınen Vertrag abgeschlossen hat, um den Alkoholschmuggel besser zu unter-
drücken, hat ihre Bereitwilligkeit erklärt, zu untersuchen, ob es ihr möglich
Die Alkoholfrage, 1926. 9
130 Stubbe, Chronik.
sei, noch mehr in dieser Hinsicht zu tun. Eine diesbezügliche Konferenz hat
im Juni in London stattgefunden. Der amerikanischen Delegation gehörten
u. a. General Andrews, der Chef der Prohibition, und Kontreadmiral Billard,
Kommandant der Küstenwacht, an. Dazu hat noch die britische aug die
Wachtschiffe der Ver. Staaten ie ohne Formalitäten in die Territorial-
wasser der Bahamainseln zu fahren. (,Int. Bur. z. Bek. d. Alk.“ Nr. 7.).
B. Aus dem Deutschen Reiche.
Die Reichsgesundheitswoche (18. 4. ff) beachtete fast allenthalben
auch die Volkskrankheit Alkoholismus. Durch’s ganze Reich verbreitet sind
u. a. vom Reichsausschuß für hygienische Volksbelehrung ein „Schriftennach-
weis für die Gesundheitslehre und -pflege‘ (von Adam u. Lorentz), in der ein
Abschnitt die „Bekämpfung der Rausch- und Genußgifte‘“ behandelt, und „Hin-
weise für die Mitwirkung der Geistlichkeit an der hygienischen Volksbeleh-
rung insonderheit in der Reichs-Gesundheits-Woche‘“ (von Harmsen), die gleich-
falls einen Abschnitt über den Alkohol bringen.
Das Weinsteuergesetz vom 10. 8. 1925 ist in der Tat mit Wirkung
vom 1. 4. 1926 außer Kraft gesetzt worden. — Vom 1. 4. bis 1. 7. fällt die
Schaumweinsteuer fort; mit 1. 7. wird eine Banderolsteuer von 1 RM
für die Flasche bezw. 20 Pf. für Fruchtsaft wieder eingeführt. Dann noch vor-
handene Sektbestände müssen nachversteuert werden. Am 25.6. wird gedrahtet,
daß die Regierung die ErhebungderSchaumweinsteuerbis 1. 10.
verschieben wolle. |
Der Reichstag hat am 22. Januar 1926 eine Entschließung gefaßt, worin
die Reichsregierung ersucht wird, die Verordnung vom 24. August 1920,
wonach der Reichsernährungsminister das Verarbeiten von Kar-
toffeln in Brennereien, Trocknereien und Stärkefabriken verbieten.
beschränken und bestimmen kann, in welchem Umfang und unter welchen
Bedingungen Kartoffeln und Erzeugnisse der Kartoftel-Trocknereien und
Kartoifel-Stärkefabriken zur Herstellung gewerblicher Erzeugnisse verwandt
werden dürfen, aufzuheben und eine entsprechende Gesetzesvorlage dem
Reichstage vorzulegen. Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft
hat dieser Entschließung folgend unterm 16. März d. J. dem Reichstag den
Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung dieser Verordnung zugehen lassen. In
der Begründung des Gesetzentwurfes wird darauf hingewiesen, daß ein Be-
Sarn für die Aufrechterhaltung der gesamten Verordnungen nicht mehr
stehe.
Im Preußischen Landtag empfahl am 24. 3. in zweiter Beratung
des Haushalts des Ministeriums für Volkswohlfahrt der Haupt-
ausschuß Beschaffung und Verbreitung von Material über die Alkoholfrage
Dr. Böhm erklärte, das Gemeindebestimmungsrecht sei kein geeignetes Mittel
im Kampfe gegen den Alkohol. |
Bei der zweiten Beratung des Etats für die landwirtschaftliche
Verwaltung am 27. 4. erklärte Minister Dr. Steiger, der Kartoffelbau sei
in besonders ungünstiger Lage; de Erzeugung von Branntwein (!)
und Stärke aus Kartotfeln dürfe eine Hemmung erfahren.
Der Reichsinnenminister Dr. Külz hielt am 10. 3. im Reichs-
tag eine Programmrede, worin er auch auf die Alkoholfrage einging. Zur Be-
kämpfung des Alkoholmißbrauchs seien erhebliche Mittel aufzuwenden. Eine
wesentliche Einschränkung des Alkoholgenusses liege im gesundheitlichen und
kulturellen Interesse des Volkes; sie zu erreichen, sei in erster Linie Aufgabe
der Erziehung und nicht der Gesetzgebung. Eine Ueberzahl von Schankstätten
sei vom Uebel, doch der Typ des deutschen Schankgewerbes sei ehrbar. Nev-
konzessionen seien aufs äußerste zu beschränken und mißbräuchliche Be-
nutzung bestehender Konzessionen zu bekämpfen.
Nach umfangreicher Debatte über die Frage des Gemeindebestimmungs-
rechtes im Haushaltungsausschuß am 28. 4., an der Freunde und
Gegner desselben teilnahmen, wurde ein Antrag, der das Gemeindebestim-
mungsrecht im Entwurf des Schankstättengesetzes ausgenommen wissen will,
Stubbe, Chronik. 131
mit 15 gegen 14 Stimmen angenommen. Desgleichen wurde eine Zentrums-
entschließung angenommen, die eine Prüfung der Mißstände im Konzessions-
wesen verlangt. Endlich wurde mit allen ge en 2 Stimmen ein Antrag an-
genommen, der schleunige Vorlegung eines utzgesetzes gegen den Alkohol-
ismus verlangt.
Im Reichstag wurde am 8. 5. über das Schankstättengesetz verhandelt.
Namens des Ausschusses schlug Budjuhn folgende Entschließung vor:
a) die Reichsregierung zu ersuchen, das vom Reichstage schon am
18. Februar verlangte Schutzgesetz gegen den Alkohol nunmehr schleunigst
vorzulegen.
b) die Reichsregierung zu ersuchen, baldigst in eine Beratung einzutreten
über die erschrecklichen Mißstände im Schankstättenwesen, über Mißstände
bei Verleihung von Konzessionen und ob zur Bekämpfung der Mißstände
ein stärkeres Heranziehen der Gemeinden überhaupt dienlich ist.
c) die Reichsregierung zu ersuchen, baldigst in eine Beratung einzutreten
über Mittel zur Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs und zum Schutze der
Volksgesundheit und des Familienlebens insbesondere auch der Jugend gegen
die Gefahren des Alkohols und über Neuregelung des Konzessionswesens.
Schließlich wird die Regierung ersucht, durch geeignete Maßnahmen sicher-
zustellen, daß von den im Etat des Innern zur Bekimplung des Alkoholmiß-
brauchs bewilligten Mitteln mindestens ein Teilbetrag von zweidrittel aus-
schließlich praktischen Zwecken, der Rest aber keineswegs der Propaganda
ür das Gemeindebestimmungsrecht zugute kommt. Das Gemeindebestim-
mungsrecht hat der Ausschuß mit apor Mehrheit abgelehnt. In der Not-
wen igkeit einer Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs hat Einstimmigkeit ge-
herrscht, nur über die Mittel ist man uneinig gewesen.
Als Mitberichterstatter und Freund des G.-B.-R. betonte Sollmann noch-
mals, daß eine u Bereit durch das G.-B.-R. nicht beab-
ug sei. Bickes (D. V. P.) behauptete, die Anhänger dieses Systems hätten
außerhalb des Be oft ee daß das Ziel die Trockenlegung
auf dem Wege des G.-B.-R. sei; in Nordamerika und in Norwegen seien aber
mit dem Verbot üble Erfahrungen gemacht. Die Kommunisten brachten einen
Antrag zugunsten des G.-B.-R. ein. — Die Abstimmung erfolgte am 11.5.: Der
ommunistische Antrag wurde abgelehnt, ebenso der sozialdemokratische An-
trag auf Einführung des Gemeindebestimmungsrechts mit 241 gegen 163
Stimmen bei 6 Enthaltungen.
Die Entschließung des Ausschusses auf Vorlegung eines Gesetzes gegen
den Alkoholmißbrauch wurde angenommen. — Am 21. 5. wurden auf zwei
Autos 200 Bände mit Unterschriften für das G.-B.-R. abgeliefert; jeder Band
enthält etwa 10 000 Unterschriften; später wurden noch 565 000 Unterschriften
nachgeliefert, so daß also im ganzen über 2% Millionen Unterschriften zu-
sammengekommen sind.
Ein neuer Regierungsentwurf eines Schankstätten-.
gesetzes liegt vor. Er ist auch der Reichshauptstelle gegen den Alkoholis-
mus zur | übergeben. Sie hat im Juni ein ausführliches Gutachten
erstattet. Die Abänderungsvorschläge wollen durchaus denselben Zielen
dienen, zu denen sich die überwiegende Mehrheit des Reichstages am 18. 2.
1925 bekannt hat, und zu dem Zwecke schärfer herausarbeiten: 1. ausgiebigen
Schutz der gugend gegen die en 2. befriedigende Verbesse-
rungen des Schankstättenwesens (durch Bestimmungen zur Eindämmung der
Trunksucht, zum Schutze der Trunksüchtigen und ihrer Familien, zur Förde-
fung eines achtbaren, seiner Verantwortung bewußten Gastwirtestandes, im
Interesse der Angestellten des Gastwirtegewerbes). Ueberdies schlagen sie
aus gleichen Beweggründen die Einfügung des Gemeindebestimmungsrechtes
in maßvollster Form und mit weitgehenden Sicherungen gegen eine Schädi-
gung berechtigter Interessen der Alkoholgewerbe vor.
. ‚Reichsfinanzminister Reinhold betonte in einem Interview (26. 5.), daß
ie jetzigen Erträgnisse der deutschen Monopolverwaltung von jährlich etwa
170 Millionen RM einer Steigerung auf mindestens das Doppelte fähig seien.
9%
132 Stubbe, Chronik.
Hierzu sei aber eine Umorganisation der Monopolverwaltung, besonders eine
größere Selbständigkeit nach der kaufmännischen Seite hin erforderlich. Den
Absatz hoffe man, weniger durch Konsumsteigerung des Trinkbranntweins
zu heben als vielmehr durch Einführung des Monopolins, eines neuen Be
triebsstoffes für Automobile. Der Minister wies zum Schlusse darauf hin, daß,
wenn es gelinge, die Einnahmen aus dem Branntweinmonopol zu steigern, er
eine Ermäßigung der in Deutschland besonders hohen Zuckersteuer vor-
zunehmen gedenke.
Dem Reichsuntersuchungsausschuß für das Brannt-
weinmonopol hat die Monopolverwaltung mitgeteilt, daß zurzeit 5941
Strafverfahren wegen Spritschiebungen und Hinterziehungen schweben, die
sıch gegen 8808 Beschuldigte richten; die hinterzogenen Alkoholmengen be
tragen 611 700 hl; die hinterzogenen Gebühren etwa 14,9 Millionen RM, eine
Summe, die ungefähr den zehnten Teil der gesamten Einnahme ausmacht, die
das Reich aus dem Monopol hat.
Der Oberpräsident von Niederschlesien hat mit Zw
stimmung des Provinzialrats verordnet, daß (abgesehen von bestimmten
wenigen Ausnahmen) in Gast- und Speisewirtschaften, Weinhandlungen und
Kaffees der Ausschank von Branntwein oder Spirituosen von 9 Uhr abends
bis 8 Uhr morgens verboten ist. Auf Betreiben der Gastwirte und Brenne-
Are HR die Preußische Regierung die Polizeiverordnung des Oberpräsidenten
aufgehoben.
* Berlin und andere Gegenden leben“ heißt es „Landeskirche“ 4. 4. „im
Zeichen des Bockbier-Anstichs. Bekränzte Hallen, beflaggte Bier-
wagen, buntkostümierte Kapellen — alles wirkt miteinander, um einige frohe
Stunden über des Lebens Misere hinwegzutrösten. Aber in den brausenden
Jubel mischen sich Kinderstimmen. Wir sehen bockbiertrinkende Kinder auf
dem Schoße der Mütter, dann wieder Kinder unter dem schulpflichtigen Alter,
die die Gänge entlang toben, erhitzt zurückkommen, um aus Vaters Glas den
Durst zu löschen .... .“
In der A eung für Gesundheitspflege, soziale Für-
sorge und Leibesübungen (Gesolei) zu Düsseldorf machen sich freilich Wein
und Bier breit, aber es fehlt auch eine Abteilung zur Alkoholfrage nicht, für
die u. a. Jacopin einen nban von „La paye“ zur Verfügung gestellt hat, und
es sind nicht nur ein alkoholfreies Restaurant und ein Volksspeisehaus dort,
sondern auch eine Anzahl von Milchhäusern. Anläßlich der Ausstellung hat
ein Ortsausschuß unter Leitung von Pastor Ilgenstein vom 21, bis 24. Jun
einen Lehrgang für alkoholfreie Ju enderziehung veranstaltet, auf dem u. a.
die Universitätsprofessoren Aschaffenburg, Niebergall und Schmidt mit-
wirkten.
Statistisches.
Aus den „Vierteljahrsheften zur Statistik des Deutschen Reichs“ 19%,
H. 1: Der Weinbau Deutschlands umfaßte 1925 eine im Ertrag
stehende Rebfläche von 73 274 ha, darunter 57 378 ha Bestände mit Weißweın-
ewächsen, 8975 ha mit Rotwein- und 6921 ha mit gemischten Weingewächsen.
Gegenüber 1924 ist die Rebfläche um reichlich 1000 ha oder 1,4 v. H. zurück-
gegangen. (Allein in Hessen ein Rückgang von 723 ha an Weißweinfläche.) —
An Mostertrag ergab die deutsche Weinernte 1925 eine Gesamtmenge von
rund 1,59 Millionen hl, darunter 1,29 Millionen hl an Weißwein, rund
177500 hl an Rotwein und 124500 hl an gemischtem Wein (rund 213 000 hl
oder 12 v. H. weniger als 1924 mit seiner geringen Mittelernte). Die für
Weinmost bezahlten Preise schwankten in den wichtigeren Weinbaugebieten
bei Weißwein zwischen 38 und 123 RM und bei Rotwein zwischen 33 un
130 RM je hl. Die höchsten Preise wurden für beide Weinarten in Würtiem-
berg, die niedrigsten in Hessen erzielt.
Kirchliches.
Katholisch. Der Zentralausschuß des Katholischen deut-
schen Frauenbundes faßte in seiner Sitzung zu Koblenz die Ent-
Stubbe, Chronik. -> 133
schlieĝung: möglichst baldige Vorlage des Entwurfes eines Schankstätten-
E welches das Gemeindebestimmungsrecht enthält in dem Sinne, daß die
emeinden das Recht erhalten, die Schließung von Likörstuben anzuordnen, die
Konzession für Wirtschaftsbetriebe zu beschränken, die Abgabe von Alkohol
an Jugendliche zu verbieten und jene Wirte, die Alkohol an Betrunkene vere
abreichen, mit Ordnungsstrafen zu belegen. (A. d. Wacht“ Nr. 3/4.)
Evangelisch. Mit Bedauern haben wir zu berichten, daß Johannes
Zauleck, Wettern a. d. Ruhr, sein seit 8 Jahren erscheinendes Blatt „Mutiges
Christentum“ mit 1. März d. fh eingehen ließ. Das Blatt hat stets auch „mutig“
und „christlich“ zur Alkoho ans Stellung genommen. — Z. verweist seine
Leser auf Gubelke „Die Unruhe, evangelisches Monatsblatt für mutiges
Christentum“, für welches er (Z.) fortan monatliche „Schlußbrieie“
schreiben wird.
Der Minister des Innern hat (lt. „Amtl. Pr. Pressedienst“) für Lokale
mit Schankbetrieb am Karfreitag musikalische Darbietungen jeder Art,
also auch ernste Musik, grundsätzlich verboten. Verboten sind auch alle
privaten Lustbarkeiten in öffentlichen Vergnügungslokalen.
Die Meron Ipung Evangelischer Frauenverbände Groß-
Berlins hielt am 23. Februar einen „Evangelischen Frauentag für sittlichen Auf-
bau“ ab; 16 Versammlungen fanden statt; in allen wurde eine Entschließung
gefaßt, in der es heißt: „Alkoholmißbrauch und Wohnungsnot stehen in
enger een} mit der Zunahme von Unsittlichkeit, Sittlichkeitsverbrechen,
Verbrechen am keimenden Leben. Deshalb rufen wir auf zum Kampf alle,
denen es mit uns Ernst ist um diese tiefe Not unserer Tage ... Op erwille
und Liebe sollen unsere Heilmittel sein für unsere kranke Zeit... .‘
e. e.
Vereinswesen.
‚ Auf dem Bundestag des Arbeiter-Abstinentenbundes
in Berlin, 21. und 22. November 1925, wurde beschlossen, die Bemühungen
zur Schaffung einer Internationale sozialistischer Alkoholgegner, sowie zur
Herstellung einer einheitlichen Front der sozialistischen Abstinenten in
Deutschland fortzusetzen. Dr. Drucker wurde zum Vorsitzenden und Schrift-
leiter wiedergewählt. Auf der öffentlichen Versammlung redete u. a. Sollmann
über Amerika: „In Amerika muß jeder, der Alkohol haben will, ihn mit
viel Mühe suchen; in Deutschland wird auch dem, der nicht trinken will,
der Alkohol aufgedrängt.“ (,„Abst. Soz.“ Nr. 12.)
‚ Der Frauenbund für alkoholfreie Kultur gibt jetzt ein
eigenes „Aufklärungs- und Werbeblatt für Frauen“ unter dem Titel „Frau
in Not“ heraus, welches jeden zweiten Monat (nach Bedarf öfter) erscheint.
‚ Der Bericht über die 36. Jahresversammlung des Deutschen Ver-
eins gegen den Alkoholismus zu Kiel vom 1. bis 4. November
1925 einschließlich Jubiläumstagung des Trinkerheilstätienverbandes ist nun-
mehr im Druck erschienen. (Verlag: „Auf der Wacht“, Berlin-Dahlem, 1926.)
„Kirche und Alkohol“ und „Verkehrswesen und Alkohol“ waren die Haupt-
themen. Auch die Hauptvorträge der Nebenversammlungen und 3 Predigten
sind wiedergegeben.
‚ Auf dem Deutschen Aerztetag in Eisenach wurde 26. 6. nach
einem Vortrag von Ministerialrat Dr. Beyer über die Bedeutung der Alkohol-
irage für Volk und Staat und einer sich daran anknüpfenden Aussprache eine
Entschließung angenommen, die auf S. 143 f. dieses Heftes im Wortlaut
abgedruckt ist.
Der Norddeutsche Gastwirteverband tagte Ende Mai in
Lübeck. Die allgemeine Geschäftslage wurde als wenig befriedigend be-
zeichnet; der tägliche Besuch habe in allen Gaststätten nachgelassen, außer-
dem habe die Krediteinschränkung das Gastwirtegewerbe besonders hart
etroffen. Erfreulich seien die Aufhebung der Herbergssteuer, die Senkun
er Umsatzsteuer und der Fortfall der Weinsteuer. Gehofft werde, daß nac
134 Stubbe, Chronik.
dem Finanzausgleich alle „Sondersteuern‘“ fürs Wirtsgewerbe fortfallen. An-
genommen wurde der Antrag auf Schaffung eines „Einheitsbieres“ zur Er-
Zielung eines Einheitspreises, desgl. ein Antrag auf Herabsetzung der Kohlen-
säurepreise. Es sollen auch Schritte zur Erniedrigung der Konzessions-
steuern und zur Wiederherstellung des „Rechtes geschlossener Gesellschaften
bezüglich der Polizeistunde“ getan werden.
Sonstiges.
In der Heilstätte Bethesda (Lintorf) wurden 1925 88 alkoholkranke
Männer behandelt; Durchschnittsaufenthalt: 4 Monate. Bestand am Jahres-
beginn 17, am -schluß 29. Prof. Dr. Lenzmann, Duisburg, hat wieder die
fachärztliche Behandlung übernommen. — Die entlassenen Patienten schlossen
sich durchweg sofort alkoholgegnerischen Vereinen an. („Bl. Kr.“ Nr. 4.)
Im sog. kleinen Spritprozeß in Berlin wurden die Angeklagten
Kaufleute aus und Weber zusammen zu 18 Monaten Gefängnis und
448000 RM Geldstrafe, zwei Zollbeamte zu 1% ar Zuchthaus bzw. 18
Monaten Gefängnis und zusammen 160 000 RM Geldstrafe verurteilt.
In der Gemarkung Burgen hat eine Reihe von Winzern onnen,
Kirschbäume in den Weinbergen zu pflanzen. („Enth. Erzieh.“
H. 5, nach dem „Gasthaus‘.)
C. Ausanderen Ländern.
Afrika. In Bloemfontein legte die Synodalkommission der ho!l-
ländisch-reformierten Tagung auf ihrer Halbjahrsversammlung
Verwahrung ein gegen gewisse Bestimmungen des neuen Getränkegesetzes
(u. a. gegen Errichtung besonderer Bars für Frauen und gegen Spirituosen
verkauf in Eingeborenenbezirken) und forderte Zuziehung von Vertretern der
Kirche zu den Konzessionsbehörden (licensing boards). („The Star“ 29.)
Australien. Durch Parlamentsbeschluß ist die Abgabe auf Whisky,
die 1921 auf 30 S. für den Gallon festgesetzt wurde, auf 35 S. tür den Gallon
erhöht. („The Times“ 27. 3.)
Weil im nächsten Jahre ungefähr gleichzeitig die Local-Option-Ab-
stimmungen und die Parlamentswahlen stattfinden, organisieren die Ver-
botsfreunde einen großen „Feldzug“, zumal im jetzigen Parlament die
Mehrheit verbotsfeindlich ist. („The Times“ 5. 6.)
Finnland. Nach „Social Tidskrift“ Nr. 2 wurden 1925 547735 |
reiner Spiritus beschlagnahmt (1924: 511902 1), 6367 1 Kognak, Whisky,
Rum, Liköre (1924: 5 520 1), 2908 1 Wein (aa: 3658 1). — Die Hauptmenge
der Schmuggelware stammte früher aus Estland, jetzt aus Deutschland und
der Tschechoslowakei; Danzig ist Hauptumschlagsplatz dafür, und estnische
Schiffe sind die Haupttransporteure. (,„Int. Ztschr. g. d. A.“ Nr. 2.)
Frankreich. In Paris starb im Alter von 59 Jahren der Besitzer
des größten europäischen Hotel-Konzerns, Eugen Cornuché, bekannt
unter dem Namen „König Cornuche“. Er begann seine Laufbahn als
Flaschenspüler in einem Pariser Kaffee und starb als einer der reichsten
Männer Frankreichs. Sein Konzern umfaßt mehrere Pariser Luxushotels,
Kasinos und Restaurants. Außerdem gehörte ihm das Bad Deauville. Es
war früher ein armseliger Ort an der Küste der Normandie und zählt heute
zu den besuchtesten Seebädern Frankreichs. („Kiel. Ztg.“ 8. 4.)
Der kürzlich begründete elsaß-lothringische Heimatbund
fordert in seinem Programm Schutz des Weinbaus in Handelsver-
trägen wie gegen die innerfranzösische Konkurrenz.
Die Weinernte betrug 1925 62411 166 hl gegen 67312236 hl 19.
(„De Blauwe Vaan‘ Nr. 3.)
Prof. Dr. Carnot, Paris, ist zum Vorsitzenden der Ligue Nationale
contre l’alcoolisme gewählt. („L’E’t. Bl.“ Nr. 2.)
Stubbe, Chronik. 135
Die genannte Liga hat an den Minister einen feierlichen Protest gegen
den Verkauf gebrannter Getränke (spiritueux) durch die
Apotheker eingereicht. („L’ E’t. Bl.“ Nr. 1.)
Großbritannien. In Schottland sind durch Gemeinae-
A nmunE (Loc. opt.) die Stimmbezirke Kilsyth und Kirkintillock
S
trocken gelegt. ergaben sich günstige Wirkungen. Es betrugen im Bezirke
Kilsyth im trockenen Jahr 1925 im letzten nassen Jahr Abnahme
alle Verurteilungen 136 216 37 %
Trunkenheitsverurteilungen 12 72 83%
Kirkintillock
alle Verurteilungen 164 206 20%
Trunkenheitsverurteilungen 21 |
71 71%
(„De Wereldstr.“ Nr. 17.)
Nachdem das Temperenzhospital in London erst 1925 einen
Neubau für 38 000 Pfund Sterling erhalten hat, erbittet es jetzt weitere 25 000
Pfund Sterling, um ein Gebäude für moderne Untersuchungen über physio-
logische und pa ooi ene Wirkungen des Alkohols zu errichten. („The Nat.
Temp. Quart.“ Nr. 72.) `
or Malins starb 5. Januar 1926 in Birmingham. Selbst Sohn
eines Trinkers, ward er Führer der englischen Guttempler. 1866 lernte er
in Pennsylvania den Orden kennen. 1868 begründete er nach seiner Heim-
kehr in Birmingham die erste Loge, 25. 7. 1870 die englische pe: er
wurde 1897 zum Welttempler gewählt. Von der Zeit an hat er sich nicht nur
in Großbritannien, sondern auch in allen anderen Ländern Europas um die
Ausbreitung des Ordens bemüht. („The Am. ]ss.“ Nr. 3.)
Mc Clures Magazine teilt mit: 1924 gab das englische Volk 3 750 000 000
Gulden für. Rauschgetränke aus, aber nur 937500 000 Gulden für Milch.
(„De Wereldstr.“ Nr. 14.)
‚ Das Oberhaus hat mit 47 gegen 37 Stimmen zum Strafrecht eine Be-
mnog angenommen, wonach der Fahrberechtigungsschein
eines Autoführers automatisch für 12 Monate eingezogen wird, falls
der betreffende wegen Trunkenheit verurteilt wird; doch kann er nach
Monaten auf frühere Aufhebung der Einziehung Antrag stellen. („De
Geh.-Onth.“ Nr. 3.)
Italien. Das italienische Parlament hat in den letzten Wochen einige
interessante Maßnahmen gegen den Alkoholismus getroffen. Das Gesetz zum
Schutze der Mütter und der Kinder verbietet, den Kindern in den Schulen,
Internaten, Anstalten alkoholische Getränke, Wein inbegriffen, zu verab-
reichen. Auch können die Kinder selbst keine solchen Getränke in die
Schulen bringen (Wein für die Mittagsmahlzeit). Es ist im allgemeinen
verboten, den Kindern, die weniger als 7 Jahre alt sind, ‚gegorene Getränke
zu verabreichen; eine Ausnahme ist für die ärztlichen Verordnungen vor-
gesehen. Es ist verboten, in den Wirtschaften junge Leute, die weniger als
18 Jahre alt sind, und die nicht zur Familie des Wirtes gehören, anzustellen.
Diese Bestimmungen sind ins Gesetz Bun worden, um, wie sich
der Berichterstatter im Senat, Professor Marchiafata, ausdrückt, die Kinder
daran zu gewöhnen, die alkoholischen Getränke als nicht notwendige zu
achten, um sie zu lehren, daß man darauf verzichten und trotzdem eine
ausgezeichnete Gesundheit haben kann.
‚ Das Parlament hat ferner die Verordnung vom 7. Oktober 1923, die
die Zahl der Schankstätten auf eine für 1000 Einwohner beschränkt, zum
Gesetz erhoben. Das Gesetz bestimmt ferner, daß die Lokale, die ausschließ-
lich alkoholische Getränke, Wein, Bier, Branntwein, Likör ausschenken, vor
10 Uhr vormittags in den Wochentagen und vor 11 Uhr am Sonntag nicht
Bet werden dürfen. Sie müssen vom 15. Mai bis zum 31. Oktober um
Uhr und vom 1. November bis zum 14. Mai um 22 Uhr geschlossen
werden. Jeder. Verkauf von alkoholischen Getränken in den Bars, Pad
hallen, Gasthöfen usw. ist vor 10 Uhr vormittags (am Sonntag 11 Uhr) und
136 Stubbe, Chronik.
nach 22 Uhr im Winter und 23 Uhr im Sommer verboten. (,Int. Bur. z. Bek.
d. Alk.“ Bull. No. 8.)
Japan besitzt ein Gesetz, das den Verkauf von alkoholischen Getränken
an junge Leute von weniger als 21 Jahren verbietet. Die japanischen Anti-
Alkoholvereine verlangen, daß die Verbotsgrenze auf das 25. Jahr erhöht
werde. 14 Vertreter der 5 politischen Parteien haben im Parlament einen
diesbezüglichen Antrag gestellt, der am 25. März von der zweiten Kammer
angenommen worden ıst. Da aber die Frage in der ersten Kammer vor dem
Schluß der Sitzung nicht besprochen werden konnte, so wird das Parlament
sich im nächsten Tahre wieder damit befassen.
Aus Anlaß der Diskussion über diesen Gesetzentwurf fand in Japan
ein Anti-Alkohol-, oder genauer ein Anti-Sake-Tag statt. „Sake“, Reis-
branntwein, ist das in qoran verbreitetste alkoholische Getränk. Ueberall
im Lande hat man an diesem Tage, dem 15. März, große Kundgebungen,
namentlich in den Schulen, veranstaltet. (,Int. Bur. z. Bek. d. Alk.“ Bull. Nr. 6.)
Der Jatea des großen Erdbebens (1. September) soll
Ti nationaler Prohibitionstag für ganz Japan sein. („Ihe Int. Rev.“
r. 37.
Luxemburg. Wie uns brieflich mitgeteilt wird, hat die Regierung (Sani-
tätsabteilung) durch Beschluß vom 22. 1. 26 eine neungliedrige Beratungs-
kommission zur Bekämpfung des Alkoholismus eingesetzt mit dem Auftrag,
der Abgeordneten-Kammer und der Regierung darauf bezügliche Vorschläge
zu machen. Die Kommission hat ihre Arbeiten bereits begonnen und sich
im Prinzip für die Prohibitionsgesetzgebung, subsidiarisch für eine Ver-
schärfung des bestehenden Wirtshausgesetzes ausgesprochen, vornehmlich für
die Einschränkung der Schenkenzahl u. ä.
Niederlande. Die Alkoholgegner des Landes freuen sich, daß ihr
Führer Prof. Dr. Slotemaker de Bruine zum Minister von Arbeit,
Handel und Gewerbe ernannt ist. Die neue Regierung hat in ihr Programın
die Einführung des Gemeindebestimmungsrechtes aufgenommen. („De We-
reldstr.“ No. 12 u. 13,)
Oesterreich. Das Bundesministerium für Finanzen meldet, daß im
letzten Berichtsjahre (1. 9. 24 bis 31. 8. 25) die 145 Brauereien des Landes
5153683 hl Bierwürze erzeugten, — 463000 hl mehr als im vorletzten
Berichtsjahre. Die Einfuhr betrug nur 15688 hl. („Enth. Erzieher“ No. 5.)
Die erste Ausstellung über „alkoholgegnerische Erziehung‘
in Wien, um die Prof. Dr. Smola ein Hauptverdienst hat, wurde vom Bundes-
präsidenten Dr. Hainisch persönlich eröffnet; sie währte vom 7. bis 20. 4.
und fand allgemeine Beachtung. („Enth. Erz.“ No. 5.)
1925 wurden in Oesterreich 5165068 hl Bier, 659812 hi Wein.
366 327 hi gebrannte Getränke und rund 800000 hi Obstmost ge
trunken; es entfallen also auf den Kopf der Bevölkerung 78 1 Bier, 10 1 Wein,
5,54 1 gebrannte Getränke und 12 1 Most, zusammen 105,54 1 geistige Getränke.
1924 waren es 70 1 Bier, 14,4 1 Wein, 5,62 1 gebrannte Getränke und 18 I
Most, zusammen 108,02 1. (,„Voralb. Volksbl.“ 11. 5.).
Rumänien. Die Arbeit der Guttempler macht Fortschritte
Die Gesamtzahl der Grundlogen (hier „Grundlauben“ genannt) beträgt im
alten deutschen Kolonialgebiet 14 (davon sind 2 rumänisch,
2 magyarisch und 10 deutsch) — dazu 5 deutsche Wehrlogen und 2 deutsche
Jugendlogen. In den 2 Wehrlogen in Hermannstadt sind allein 40 Studenten
und 30 Lehrlinge. Die rumänischen Guttempler zählen insgesamt 315 Er-
wachsene, 478 fügendliche — Außerdem hat das Blaue Kreuz in Her-
mannstadt und Kronstadt rund 90 Mitglieder. Daneben besteht ein „Alkohol-
enthaltsamkeitsverein“ mit 35 Mitgliedern. — Unter den Deutschen in der
Dobrudscha.hat eine religiöse Erweckung dazu geführt, daß in vielen
deutschen Gemeinden es überhaupt kein Wirtshaus gibt, wenigstens Deutsche
Stubbe, Chronik. -= 187
sich nicht dafür hergeben, und daß das Anstoßen mit Weingläsern als unan-
ständig gilt. („Flamberg“ 1925, Nr. 10.)
Schweden. Sommer 1926 zählte man rd. 300 000 organisierte Absti-
nenten, davon gegen 110000 Kinder; der stärkste Verband ist der der
Guttempler mit fast 210000 Mitgliedern. (,„Int. Ztschr. g. d. Alk.“ No. 2.)
Der Zentralverband für Nüchternheitsunterricht,
dessen Lehrgänge für die Schulung der Lehrerwelt und die alkoholgegnerische
Aufklärung ım allgemeinen so bedeutsam geworden sind, feiert am 20. 8. sein
3jähriges Jubiläum. („Soz.-Dem.‘“ 23. 5.)
Von den Mitgliedern der neuen Regierung gelten Ministerpräsident
Ekman, der Minister für nationale Verteidigung Rosen, der für Ackerbau
Hellström als „prohibionistischeLiberale“. („N. Berner Ztg.“ 8.6.)
Schweiz. Vor 30 Jahren betrugen die Einnahmen des „Martha-Höfle“,
des ersten Restaurants des ZüricherFrauenvereinsfüralkohol-
lfreieWirtschaften, täglich 17 Fr. Heute wirft ein einziges der großen
2 oholireien? in Zürich brutto 2000 Fr. ab; der Reingewinn beträgt un-
gefähr 3%.
Im Dezember 1925 ıst eine Bernische Genossenschaft für
alkoholfreie Obstverwertung begründet. („Frht.“ No. 1.)
Der Züricher Frauenverein für alkoholfreie Wirt-
schaften hatte 1925 Fr. 4 555 678,55 Einnahme und Fr. 4 550 832,35 Ausgabe.
Die Fonds des Vereins betragen jetzt Fr. 819 499,80. Der Prozentsatz der
Enan Es für Betriebsspesen 49,5, für Lebensmittel 46,5. (Schw. Haus-
alt. BI.“ 29. 5.
Ueber die Anzahl der notorisch Trunksüchtigen der vom ge
setzlichen Armenwesen Unterstützten sind 1924 Erhebungen veranstaltet, über
die P. Wild, „Armenpfleger“ 1926, 1. 2., berichtet. Am meisten belastet ist
die Armenpflege Freiburg; dort beträgt die Gesamtunterstützungssumme für
alle Unterstützten 103078 Fr., die für die notorisch Trunksüchtigen
3617 Fr. — 24,8%. Dann folgen die Armenpflege Schwyz mit 18,8, Kriens
mit 12,7, Romanshorn mit 10,7, Glarus 10,6 %; tür Basel werden 6 %, für
Zürich 4,7, für Bern 4,4 für St. Gallen 4,1% angegeben. Bei der Unter-
stützungssumme, die von der organisierten freiwilligen Armenpflege auf-
gebracht wird, herrscht ungefähr das gleiche Verhältnis. Der Alkoholismus
als solcher belastet das Ärmenwesen viel stärker; bei den Anstalts-
versorgungen im Kanton Glarus rechnet der Anstaltsdirektor Tschudy
gegen 80 % ; die Gemeinde Liestal gibt ihre Belastung durch den Alkoholismus
N J AEE auf fast 35, Netstal auf wohl 33% an. (,„Frht.“
0. 4.
Eine Gesellschaft Berner Fürsorgestelle für Alkohol-
kra nke wurde 10. 2. errichtet; Geschäftsstelle im städtischen Wohnungsamt;
Präsident Thomet. („Frht.“ No. 4.)
‚Der Inspektor des Basellandschaftlichen Armenvereins
berichtet, daß 1920—24 dem Verein anvertraut wurden
wegen außerehelicher Geburt 33 Kinder = 15,2%,
» Tod oder Krankheit in der Familie 62 — 28,6 %,
- „Alkoholismus 122 — 56,2%.
Seit 1. August 1925 gibt die Schweizer Zentralstelle zur Bekämpfung des
Alkoholismus auch einen Zeitungsdienst für Jugend- und
Familienblätter (für inländische Benutzer unentgeltlich) unter der
riftleitung von Dr. Oettli mit dem Titel „Schmitz“ heraus.
Die von den Teilnehmern aus 10 Kantonen besuchte 7. Jahresver-
sammlung des Verbandes schweizerischer Trinkerfür-
Sorger in Schaffhausen faßte folgende ULB: „Die 7. Jahres-
Versammlung des Verbandes schweizerischer Trinkerfürsorge, der etwa
138 Stubbe, Chronik.
40 Fürsorgestellen und Heilstätten umfaßt, macht die Behörden und alle ver-
antwortlichen Persönlichkeiten unseres Landes mit Eindringlichkeit darauf :
aufmerksam, daß eine Neugestaltung unserer Alkoholgesetzgebung nur ge-
nügt, wenn sie die seelischen und sittlichen Gefahren des Alkoholelends in
ihrer ganzen Schärfe erfaßt und ihre Berücksichtigung allen anderen Er-
wägungen voranstellt“. („Bündn. Tgbl.“ 12. 5.)
Nationalrat Wuillamoz hat beim Bundesrat zwecks Verminderung des
Alkoholgenusses und Bekämpfung der Schnapsgefahr angeregt, den gesetz-
en Räten Bericht und Antrag einzubringen im Sinne eines Ver-
otes der Herstellung und des Verkaufs der Branntwein-
verschnitte (Fassonbranntweine) und der künstlichen Branntweine im
Gebiete der gesamten Eidgenossenschaft. („Graub. Anz.“ 27. 2.)
Im Anschluß an den Nationalen Verband gegen die
Schnapsgefahr bildete sich eine Studienkommission zur Förderung des
Süßmostabsatzes und des Frischkonsums, sowie in Appenzell ein Kantonales
Komitee zur Aufklärung der öffentlichen Meinung über die Notwendigkeit
; umfassenden Neuordnung der Alkoholgesetzgebung. (,Volksstimme“
Die nationalrätliche Kommission betr. Revision der
Alkoholgesetzgebung hat beschlossen, einem Begehren des Schwei-
zerischen Weinhändlerverbandes und des Schweizerischen Wirtevereins ent-
gegenzukommen durch Aufnahme einer nung in den Verfassungs-
artikel, wonach der Bund befugt sein soll, auf dem Wege der Gesetzgebung
Vorschriften für die Ausübung des Handels mit nichtgebrannten geisti
Getränken in Mengen von 20 oder mehr Litern aufzustellen; diese Vor-
schriften dürften aber die Handels- und Gewerbefreiheit nicht beeinträchti
— Die von den alkoholgegnerischen Verbänden der Schweiz zur Prü
der Vorlage eingesetzte Kommission sieht hierdurch die volksgesundheit-
liche Bedeutung der Vorlage völlig in Frage gestellt und behält sich die
weitere Stellungnahme vor, bis die a ae: Räte die Vorlage fest-
gestellt haben. („Appz. Ztg.“ 18. 5.) — Von allen Seiten melden sich ideelle
und noch mehr materielle Interessen.
i Dr. Pahnd in Romainmotier hat festgestellt, daß in Waadtland
je nach der Obsternte in einigen Gegenden 2000 bis 10000 |
chnaps in einem Jahre gebrannt werden, von denen nur ein kleiner Teil
nach auswärts geht; es gibt Familien, die 200—300 1 Schnaps im Jahre
verbrauchen. („Arbeiterztg.‘“ 13. 4.)
Die Generaldirektion der Bundesbahnen hat erneut in
einer allgemeinen Dienstvorschrift an das Personal Weisungen über die
SAMPE des Alkoholmißbrauchs erlassen; sie weist u. a. auf die unent-
eltliche Abgabe alkoholfreier Getränke in den Bahn-Wohlfahrtseinrichtu
in und verbietet grundsätzlich den Genuß alkoholischer Getränke in der
Arbeitszeit. („Berner Jura“ 10. 4.)
Der Bundesrat hat die Preise für- Trinksprit wesentlich erhöht
(von 170 auf 180 Fr. für 1 hl 100 %, feinere Arten bis zu 210 Fr.), Industrie-
sprit dagegen bei Lieferungen waggonweise (von 51 auf 47, bei geringeren
Arten bis zu 45 Fr.) frei jede schweizerische Bestimmungsstation ermäßigt.
(„Volkswacht“ 27. 9.)
Vereinigte Staaten von Nordamerika. Fräulein Marie
Brehm, eine Vorkämpferin der W.C.T.U., weithin auch durch ihre Tel-
nahme an den Internationalen Kongressen gegen den Alkoholismus bekanıt,
starb 66 Jahre alt am 21. Januar d. J. in Long Beach, Cal
In Chicago sind vom Verbotsadministrator im Januar 75 ärztliche Er-
laubnisscheine (permits) beanstandet und 293 Stätten in der Stadt wegen Ver-
letzung der Verbotsvorschriften seit Mitte September auf ein Jahr ge
schlossen (padlocked). — The Am. Jss. No. 2. .
Es sind 1925 so viele Autos undsovieleHäuser gebaut wie niemals
zuvor, — 2678327 Verkehrsautos (passenger cars), und für 6 bis 7 Billionen
Stubbe, Chronik. 139
Dollars Häuser, von denen 47% dürch Bau- und Spargesellschaften finan-
ziert wurden und mehr als die Hälfte aus Kleinhäusern bestand. Man sieht
darin einen Segen des Alkoholverbots. („The Am. Jss.“ No. 2.)
Gegenüber verbotsfeindlichen öffentlichen Aeußerun-
gen jüdischer Rabbiner, römisch-katholischer Kardinäle und Bischöfe, pro-
testantisch-bischöflicher Geistlicher usw. und entgegen der naupo, die
Kirchen der Vereinigten Staaten hätten ihre Stellung zur Prohibition ge-
ändert und begünstigten et eine Aenderung des Verbotsgesetzes, erlassen
de Führer der methodistischen Kirche eine gemeinsame Er-
klärung, welche den Segen der Prohibition betont und gegenüber den Ge-
setzesverletzungen strengere Durchführung der Gesetze, besonders auch eine
Prohibitionserziehung fordert. Unterzeichnet ist sie von Bischof Cannon '
(Ausschuß für Temperenz- und sozialen Dienst), Rev. Levis (Generalkonferenz
der Meth. Prot. Kirche), Bischof Mc Dowell (Präsident), Clar. T. Wilson
Board of Temp: Proh. and Publ. a Bischof Bell (Vereinigte Brüder-
irche.) — „Clipsh.“ des meth. Board of Temp. 1. 3. 26.
Die Gesellschaft gegen das Prohibitions-Amende-
ment rühmt-sich, eine Jahreseinnahme von 300 000 Dollar zu haben, sam-
melt für ihre Zwecke einen Fonds von weiteren 300 000 Dollar, „Emergency
Fund.“ („The Am. Jss.“ No. 3.)
Prof. Cortright von der Universität New York hat eine Um-
frage bei den älteren Semestern (senior college shedants) verschie-
dener Universitäten nn New York, 3 colleges, Amherst Connecticut,
weibliches college, niversität Minnesota, Seland Stanford, Universität
Michigan, Universität Texas, Universität Nord-Carolina) gehalten, wie sie
sich zu folgenden Fragen stellten: 1. Sollte das 18. Amendement strenge
durchgeführt werden? 2. Sollte das 18. Amendement abgeschafft werden? —
Von allen Abteilungen wurde geantwortet. Auf Frage I kamen die meisten
Ja von der Monet Holyoke Seniorgruppe, nämlich 97 %, die wenigsten von
der Handelsschule der New Yorker Universität, nämlich 55 %. Auf die zweite
rage antworteten am meisten Nein 90 % der Minnesota Universität, die
Amherstgruppe am wenigsten mit 50%; dagegen stimmten 57% der
Washington Square college-Gruppe mit Ja. Die weiblichen Studenten waren
trockener als die männlichen, meint C. Von den Studentinnen hatten 83 %
für die Prohibition, von den Studenten nur 66 % für die Prohibition ge-
stimmt. (Clipsheat des meth. Board of Temp. 3. 5.)
-Eine katholische Verbotszeitschrift „The Father Mathew Man“
ist dem Chronisten "zugestellt (Publisher, Miß Alida H. O'Connor, Chi-
cago Ill). Ich kann ihr bezeugen, daß sie an kräftiger Deutlichkeit nichts zu
wünschen übrig läßt. An der Spitze jeder No. steht im Sperrdruck:
‚ExcommunicatetheBootlegger.“
Der Anti-Alkoholverband der amerikanischen Stu-
denten hat sich an Professoren im ganzen Lande gerichtet und sie ge-
Iragt, ob die Studenten jetzt mehr trinken als früher. hlreiche Antworten
sind eingetroffen, die von großen Universitäten, Yale in Connecticut, Stan-
ord in Kalifornien, von Staatsuniversitäten und von vielen „Colleges‘ (höhere
Schulen) kamen. Alle erklärten mit einer fast vollständigen Einstimmigkeit,
daß die Trunksuchtsfälle unter den Studenten sehr stark abgenommen haben
und daß die Lage viel besser sei, als vor dem Verbote. Wir erwähnen hier
2. D. die Antwort des Professors der romanischen Sprachen an der Yale-
Universität, Dr. Clark: „Ich bin nicht Prohibitionist und bin es nie ge-
wesen. Ich gebe aber zu, daß die Wirkung des Verbotes für die Yale-Uni-
versttät gut war. Ich weiß, wovon ich spreche. Seit langen Jahren Mit-
glied des Disziplinarausschusses der Universität kenne ich die Verhältnisse
gründlich und sage, daß die Aenderung ganz einfach revolutionär war.
rüher hatte sich unser Komitee immer mit Trunksuchtsfällen unter den
Studenten und den daraus entstehenden Skandalen zu befassen. Jetzt kennen
wir fast keine solchen Fälle mehr. Es muß hinzugefügt werden, daß wir
140 Stubbe, Chronik.
uns früher mit einfachen Trunksuchtsfällen selten befaßten, nur mit denen,
die ein Öffentliches Aergernis verursacht hatten. Heute ist die einfache Trunk-
sucht allein als einer strengen Strafe würdig betrachtet.“ („Int. Bur. z. Bek.
d. Aik.“ Bull. No. 8.)
Die Zahl der Verhaftungen wegen Trunksucht betrug im Jahre 1925 in
der Stadt Boston nach dem Bericht der Polizei 36 316 für die Männer und
1628 für die Frauen, also 1592 weniger als im ale 1924, Abnahme von
4,02 % (obgleich die zer zugenommen hat). 39,32 % der Verhafteten
sind ausländischen Ursprungs. (Ebenda.)
Miß Evangeline Booth, Generalin der Heilsarmee in den Ver-
einigten Staaten, erklärte die Agitation gegen das Alkoholverbot für ein
vorübergehendes Gerassel der „Bootlegger“. Die Arbeiterschaft habe kein
Interesse am Saloon mehr; dafür sei die Freude am Familienleben ge-
wachsen. Sie sehe die Zeit kommen, in der die Heilsarmee sich der reiche:
Faulpelze mit ihrem heimlichen Trinken werde annehmen müssen wie früher
der armen Opfer der Saloons. (,„Manch. Guard.“ 24. 2) -
Die im Ausschuß des amerikanischen Senates vorgenom-
mene Untersuchung über die Ergebnisse des Alkoholverbotes
hat in der ganzen Welt ein großes Interesse geweckt. In der Presse
wurde im allgemeinen über die dem Verbot ungünstigen Zeugnisse ein-
gehend berichtet (auf deren Wiedergabe wir deshalb hier verzichten), wäh-
rend man die Erklärungen ter Freunde des Verbotes nicht einmal erwähnte
und doch waren mehrere wirklich bemerkenswert. Wir meinen nicht die
jenigen der Vertreter der Antialkoholvereine und sogar der Kirchen, weil
man behaupten könnte, sie seien nicht unparteiisch genug., Das kann man
aber nicht behaupten von dem u des weltbekannten Nationalökonomen
der Universität Yale, Prof. Irving Fisher, und des früheren Pen
der kanadischen Provinz Ontario, W. E. Raney, der eingeladen wurde, vor
dem Senate zu erscheinen. — Prof. Fisher hat zuerst von einer in seiner
Universität durchgeführten Enquete über den Alkoholmißbrauch unter den
Studenten gesprochen. Obgleich die Studenten der Yale-Universität aus den
feuchtesten Gegenden der Vereinigten Staaten kommen, und aus diesem
Grunde sehr oft gegen das Verbot sind, so behaupten die Disziplinar-
ausschüsse der Universität, daß die Fälle von Trunkenheit unter den Stu-
denten viel seltener sind als vor dem Verbot. Es ist also der Beweis, daß
das Verbot die amerikanische Universitätsjugend nicht verdirbt, wie man es
so häufig behauptet. — Prof. Fisher hat dann als Nationalökonom ge
prona und es ist gut, daran zu erinnern, daß er früher eher ein Gegner
es Verbotes war. Er hat vor dem Komitee behauptet, daß er nach reif
licher Ueberlegung und sorgfältiger Berechnung zu dem Schlusse gekommen
sei, daß das Alkoholverbot der Bevölkerung der Vereinigten Staaten jährlich
ein Extraeinkommen von 6 Milliarden Dollar sichert. — Herr Raney, der sich
auf zahlreiche Gerichtsakten und Statistiken stützte, erhob einen energischen
Protest gegen diejenigen seiner Landsleute, die vor dem Staat erklärt haben.
daß das in der Provinz Ontario inkraft getretene Verbot ein Fiasko sei.
und daß die Ergebnisse des unter der Kontrolle der Regierung stehenden
Alkoholverkaufs, den man in den Provinzen Quebec, Manitoba und Alberta
Sag hat, ausgezeichnet seien. Nach Herrn Raney hat bei diesem letzten
System die Geheimbrennerei und der Geheimverkauf gar nicht abgenommen.
und dieses trägt noch viel mehr zur Bestechung der Beamten bei, als das
Verbot. Es ist ein Irrtum, zu glauben, daß die Erlaubnis, Bier mit einem
Alkoholinhalt von 2—3 % herzustellen, jedermann befriedigen wird, und da
man so die Beibehaltung des Branntweinverbotes sichern kann. Man hat i10
der Provinz Ontario einen Versuch mit diesem System gemacht, und die
Bürger, die sich früher nach dem Bier zu 2,5% Alkohol sehnten, finden
es jetzt viel zu fade und verlangen etwas Stärkeres. (,Int. Bur. z. Bek. des
Alk.“ Bull. No. 6.) — Die Senatskommission spricht sich gegen ein natio-
nales Referendum aus. („N. Zürch. Ztg.“ 4. 6.)
Stubbe Chronik. 141
Der Vorsitzende des Newyorker Apothekervereins erklärte
in der letzten Generalversammlung, daß den Apothekern aus der Erlaubnis,
Alkohol zu führen, nur Unannehmlichkeiten entstehen. Vor 6 Jahren habe
man deshalb beschlossen, keinen Whisky mehr zu verkaufen. Die große In-
luenzaepidemie habe einen amtlichen Zwang, Alkohol an Kranke abzugeben,
Bi Indessen nur ein Drittel besitze jetzt die Lizenz. Nunmehr aber
ätten Wirte und Kellner unter falschen Angaben vielfach Apotheken eröffnet,
um unter medizinischem Vorwand Alkohol zu verkaufen; 1916 bis 1922 sei
die Zahl der Apotheken von 4565 auf 5190 ee und steige weiter.
Endlich gehe die Regierung daran, die „Alkohol-Apotheken“ zu sperren
und damit den Skandal zu entfernen. („Med. u. Pharm. Rundschau“ 10. 4.)
Die Ausfuhr Kalifornischer Trauben ist von 21605 Wagen-
ladungen 0) 1919 auf 72116 1925 angewachsen. („Brooklyn D. Eagle‘ 7. 3.)
Das Internationale Bureau zur Bekämpfung des Al-
koholismus schreibt im Presse-Bulletin Nr. 9 (Lausanne, den 4. 6. 1926):
Bei der Wahl eines Senators der Ver. Staaten für den Staat Pensylvania
hat Herr William S. Vare den Sieg davongetragen. S. Vare ist ein Gegner
des Verbots. Diese Tatsache darf jedoch nicht gedeutet werden, als ob die
Wähler dieses Staates in ihrer Mehrheit dem Verbot feindlich gegenüber-
üänden, denn die zwei trockenen Kandidaten, die gegen Vare kämpften,
Gouverneur Pinchort und Herr Pepper haben zusammen ungefähr 250 000
Stimmen mehr erhalten als der feuchte Kandidat. In der Wahl für das
Amt des Gouverneurs von Pensylvania hat übrigens der trockene Kandidat
S. Fischer mehr Stimmen als sein feuchter Gegner erhalten.
Während die Gegner des Verbotes ihre Agitation fortsetzen, bemüht sich
die Verwaltung in Washington, das Verbotsgesetz immer wirksamer durch-
zuführen. Präsident Coolidge hat soeben eine Verfügung unterzeichnet, die
von jetzt ab der Bundesverwaltung erlauben wird, die Staats-, Bezirks- und
Gemeindebeamten gegen ein nominelles Gehalt als Bundesbeamten für die
Durchführung des erkole anzustellen. Die Ortsbeamten, die bereit sind, mit
der Zentralverwaltung zusammenzuarbeiten, werden also über die Autorität
verfügen, die den Bundesbeamten zukommt. Diese Verfügung des Präsidenten
wird zuerst in Kalifornien angewendet werden, dann in anderen Staaten
mit Ausnahme derjenigen, wo das Gesetz den Beamten verbietet, Bundes-
ämter anzunehmen. Diese Neuerung, von der General Andrews viel Gutes
erwartet, ist von den Führern der feuchten Bewegung mit Entrüstung und
Bestürzung aufgenommen worden.
Mitteilungen.
1. Aus Trinkerheilstätten.
Die größte deutsche Heilstätte für Alkoholkranke,
Waldfrieden bei Fürstenwalde a. d. Spree,
die — unter der Leitung von zwei Irrenärzten stehend — am 3i. August v. J.
ihr 25jähriges Bestehen feiern konnte, hatte 1925 zu den vorhandenen 173
Pileglingen einen Zugang von nicht weniger als 195 Kranken — nämlich
73 von Wohlfahrtsämtern, 72 von Krankenkassen, 42 Selbstzahler, 7 geistes-
kranke Alkoholiker von der brandenburgischen Provinzialverwaltung, 1 Fail
vom Reichsversicherungsamt — gegen einen Zugang von 111 im Vorjahr.
Die Aufnahme von Kassenpatienten und Selbstzahlern hat sich im verflossenen
Jahre gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt: 188 gegen 82. Wegen
dieses sehr starken Andrangs mußte, da das nur für frische Alko-
holiker bestimmte Haus A überfüllt war, sogar das Haus B mit frischen
Alkoholikern belegt werden, was seit Bestehen der Anstalt noch nie der Fall
gewesen war. Abgingen im Laufe des Jahres 1925 208 Behandelte, insgesamt
wurden 368 Männer verpflegt.
Von den 188 neuaufgenommenen Kassenpileglingen und Selbstzahlern
stammen 140 aus Groß-Berlin, 28 aus dem übrigen Brandenburg, der Rest
teils aus anderen preußischen Provinzen, teils aus Braunschweig, Mecklen-
burg, Danzig, einer sogar aus Ungarn. Dem Glaubensbekenntnis nach waren
von den 208 Ausgetretenen 166 evangelisch, 21 katholisch, 18 Dissidenten,
2 mosaisch, 1 Menonit. Auf das Lebensalter gesehen waren 3 noch nicht
20 Jahre, 20 erst zwischen 20 und 30. Dem Berufe nach waren die verschie-
densten Gattungen vertreten, auch aus den höheren Ständen waren eine
Anzahl Pileglinge vorhanden.
Fragt man nach dem Erfolg, so wurden unter Nichtberücksichtigung der
nur bis 6 Wochen Verbliebenen, der nach andern Anstalten Ueberführten und
der Verstorbenen aus der offenen Abteilung als geheilt entlassen 76, als ge-
bessert 43, als ungeheilt 23, aus der geschlossenen als geheilt 1, als ge
bessert 7, ungeheilt 2. Die Gebesserten bzw. Geheilten der offenen Abteilung
waren durchschnittlich nur etwa 3 Monate dagewesen, die der ee
etwa 3 Jahre. In den 25 Jahren ihres Bestehens gin en 3493 9 lkoholkranke
durch die Anstalt, von denen 40 v. H. als geheilt, 50 v. H. als gebessert,
10 v. H. als ungeheilt entlassen wurden.
Waldfrieden erhält sehr viel Besuch sowohl von Einzelpersonen, sowie von
Kommissionen aus aller Herren Ländern, die seine Einrichtung und seinen
Betrieb kennenlernen wollen. Außerdem kamen alle 4 Wochen am Sonntag
etwa 100 Guttempler aus Groß-Berlin, um hier eine feierliche Logensitzung
abzuhalten, während die Fürstenwalder Guttemplerloge alle 14 Tage ihre
Sitzung hier abhielt. Amtliche Besichtigungen seitens einschlägiger Behörden
fanden im verflossenen Jahre zwei statt. — Auskunft über die Anstalt und
ihre Bedingungen wird gern zugesandt. Ein P NUR Bericht anläßlich der
25-Jahrfeier gibt eine ausführlichere Uebersicht. fl.
2. Verschiedenes:
Die Alkoholfrage in der Denkschrift
des Reichsgesundheitsamts.
In dieser Veröffentlichung, die der Reichsminister des Innern im
Dezember 1925 dem Reichstag vorlegte, wird aus der Statistik der deutschen
Großstädte zum Punkte Sterblichkeit hingewiesen „auf die Zunahme der
Mitteilungen. 143
Todesfällean Hirnschlag von 11180 im Jaare 1923 auf 12408 im
Jahre 1924 (zum Teil wohl durch syphilitische Erkrankung und
Alkoholismus bedingt), anAlkoholiısmusvon81lauf131*)
und an Selbstmord von 4096 auf 4883“. An sonstigen bedenklichen Er-
scheinungen im Zusammenhang mit dem Trunke wird erwähnt: „Es wird
noch mit auffallender Häufigkeit über psychische
Störungen berichtet, die sich in Depressionszuständen, in Lebensmüdig-
keit und auge rochenen geistigen Erkrankungen kundgeben und zum Teil
in der wirtschaftlichen Notlage, zum Teilin der unverkennbaren
Zunahme des Alkoholismus ihre Ursache haben dürften“.
An anderer Stelle heißt es: „Diese wirtschaftlichen Nöte dürften zu einem
steigenden Mißbrauch von berauschenden Mitteln Anlaß
geben, zu denen neben dem Alkohol besonders in den Großstädten, aber
manchmal anscheinend auch schon auf dem Lande, noch das Morphin und
das Kokain treten. Auch die vielfach noch immer bestehende Häufigkeit der
Selbstmorde, wie sie z. B. aus Stuttgart und Lübeck berichtet wird,
ne mit beiden Uebelständen zum wenigsten teilweise im Zusammenhang
stehen“. 7 2
Im Kapitel „Ernährungs- und Gesundheitszustand von Kindern und
pemanan endlich wir gesagt: „Vielfach wird auch über eine der
esundheithöchstabträgliche Zunahme des Tabak- und
Alkoholmißbrauchs unter den Jugendlichen geklagt, die
sich namentlich in den größeren Städten der preußischen Regierungsbezirke
Stettin, Schleswig, Hannover, Magdeburg, Stralsund, sowie ın Bayern und
Anhalt bemerkbar macht. — Demgegenüber kann die erfreuliche Tat-
sache hervorgehoben werden, daß die sportliche Betätigung in
Gestalt von Spiel und Wanderungen unter den Jugendlichen in
wachsendem Maße Anhänger findet, und daß die günstigen
Einflüsse dieser Bestrebungen in manchen Berichten anerkannt werden“. FI.
Einstimmige EntschließBung
des deutschen Aerztetages in Eisenach
am 26. Juni 1926.
Der 45. Deutsche Aerztetag in Eisenach, die Vertretung von fast
39000 deutschen Aerzten, hat nach einem Vortrage von Dr. Beyer,
Ministerialrat im Preußischen Ministerium für Volkswohltahrt, über das
Thema: „Die Bedeutung der Alkoholfrage für Volk und
Staat“, nachdem zahlreiche Vertreter, besonders der abstinenten Aerzte-
schaft (Dr. Rodewald-Kiel, Prof. Delbrück-Bremen, Geh. S.-R. Prof. Dr.
Rosenfeld-Breslau, Dr. Holitscher-Komotau, Dr. Bornstein-Berlin, Dr. Boscamp-
Düsseldorf, S.-R. Dr. Bandel-Nürnberg u. a.), das Wort ergriffen hatten,
folgende Entschließung einstimmig gefaßt:
Der 45. Deutsche Aerztetag erblickt in der gegenwärtigen Höhe des
Alkoholverbrauches, namentlich in Hinsicht auf die wirtschaftliche und
gesundheitliche Lage des deutschen Volkes, eine Gefahr für die Volks-
ganadat die um so größere Beachtung verdient, als der Verlauf der
etzten Jahre einen Anstieg des durchschnittlichen Alkoholverbrauches
erkennen läßt.
Der Deutsche Aerztetag verspricht sich weniger von harten gesetz-
poenae Maßnahmen, als von weitgehender Auf ärung, von Nüchtern-
eitsunterricht in den Schulen und von alkoholfreier Erziehung der Jugend,
von der Unterdrückung der Alkoholpropaganda, von der Bekämpfung der
Trinksitte und der Unterstützung der Abstinenz- und Mäßigkeitsvereine.
Die tatkräftige Förderung der Alkoholbekämpfung durch Staat, Ge-
meinde und private Organisationen ist erforderlich. Die bestehenden
‚ Vorschriften zum Schutze der Jugend sind streng durchzuführen. Bei
Konzessionierung von Schankstätten müssen die persönliche Eignung der
*) Sperrungen von uns. D. Ber.
144 Mitteilungen.
Bewerber und die Bedürfnisfrage sorgfältig geprüft werden. Wünschens-
wert ist die Herabsetzung der Vergnügungssteuern bei Volksveranstal-
tungen, wenn an sie ein Verbot des Alkoholausschanks geknüpft ist. Als
eeignet für die Eindämmung des Alkoholverbrauchs erscheinen dem
erztetage die Unterstützung der Sporo wegung: die Förderung des
Wohnungsbaues, des Siedlungswesens und der Kleingartenbewegung,
sowie die Sorge für physiologisch und A günstige Arbeits-
bedingungen und für gute und wohlfeile Erholungsmöglichkeit und
bildende Unterhaltung.
Statistisches aus Skandinavien.
Aus den jetzt vorliegenden amtlichen Alkoholstatistiken Norwegens,
Schwedens und Dänemarks über die Jahre 1924/25 seien hier die folgenden
Zahlen mitgeteilt: 1. Norwegen:
Der gesetzliche Alkoholverbrauch auf den Kopf der Bevölkerung betrug
im Jahre 1924 1,95 Liter absoluten Alkohol,
im Jahre 1925 2,12 Liter absoluten Alkohol.
Der gesetzliche Branntweinverbrauch (ärztliche Verordnung) betrug in
absolutem Alkohol auf den Kopf der Bevölkerung:
im Jahre 1924 0,39 Liter,
im Jahre 1925 0,26 Liter,
der Verbrauch (in absolutem Alkohol) an
| Wein: Bier:
1924 0,46 Liter 1,10 Liter,
1925 0,66 Liter 1,20 Liter.
Den ungesetzlichen Verbrauch von Branntwein ziffernmäßig genau zu
bestimmen ist unmöglich. Beschlagnahmt wurden
1923: 628 256 Liter absoluter Alkohol und 14 885 Liter Branntwein,
1924: 248 850 Liter absoluter Alkohol und 9682 Liter Branntwein,
1925: 88949 Liter absoluter Alkohol und 6918 Liter Branntwein.
Der Schmuggel hat sich also infolge stärkerer Bewachung offenbar
wesentlich verringert. Schwarzbrennereien scheinen verhältnismäßig wenig
verbreitet zu sein. Auch die Verhaftungen wegen Trunkenheit haben ab-
genommen, wie aus folgenden Zahlen hervorgeht:
— —— nn Le LE Le e e
1905 - 1913
Höchste Zahl Niedrigste Zahl
der Verhaftungen | der Verhaftungen
auf 1000 Einwohner | auf 1000 Einwohner! -
ER, 56,8 36,9
Oslo . 2.2 2 2220. 67,8 40,4
Alle Städte außer Oslo 51,8 32,7
~ 2 Schweden:
An Branntwein (50%ig) wurde im vergangenen Jahre hergestellt:
in landwirtschaftlichen Brennereien 23315 667 Liter,
60,3 | 529
26,8 | 232
in Hefefabriken 3 499 954 Liter,
in Sulfitbrennereien 11 240 695 Liter.
Der Branntweinverbrauch (50%ig) betrug auf den Kopf
1924 28 452 676 Liter 4,74
1925 29673511 Liter. 4,95
Der Weinverbrauch betrug auf den Kopf
1924 3391 245 Liter 0,57
1925 3968 083 Liter 0,66
Bierverbrauch pro Kopf: i
Steuerklasse I Steuerklasse II
1924 12,7 22,5 Liter
1925 14,4 Liter 23,4 Liter.
Mitteilungen. 145
3. Dänemark:
Der Brantweinverbrauch betrug 1878000 Liter, der Starkbierverbrauch
Pi mit mehr als 2% % Alkohol) 1418000 hl, Schwachbier und steuerfreies
ier (Alkoholarm) 895 000 hl.
Der Verbrauch an absolutem Alkohol auf den Kopf der Bevölkerung
betrug 1925
an Branntwein 0,69 Liter,
an Starkbier 1,58 Liter,
an Schwachbier 0,40 Liter,
an Wein 0,19 Liter,
2,86 Liter,
gegen 2,88 Liter im Jahre 1924. Krt.
Vorschläge und Entschließungen des Nationalen
Temperenzbundes in Japan.
Dieser führende alkoholgegnerische Verband opan hielt vom 9. bis
11. April d. J. unter sehr starker Beteiligung (133 „offizielle Delegierte“ und
eine allgemeine Besucherzahl von über 600 Ortsgruppenvertretern und sonsti-
gen Teilnehmern) seine 7. Jahresversammlung ın der großen Handelsstadt
saka ab. Dabei wurden u. a. folgende Forderungen erhoben:
1. Erneute Einbringung eines Gesetzentwurfs, der das Alkoholverbot für
Jugendliche durch Erhöhung des Schutzalters von 20 auf 25 Jahre erweitert.
2. Antrag an die Behörden, Fürsorge dafür zu treffen, daß die An-
gestellten des Alkoholgewerbes vor dem Alkohol geschützt werden.
3. Verbot des Verkaufs berauschender Getränke auf den Bahnhöfen.
4. Bei den Wahlen sollen möglichst diejenigen Bewerber, welche für
Alkoholverbot sind, unterstützt werden. Ä k
5. Abschaffung der Gewohnheit, bei Ausstellungen und ähnlichen An-
lässen den Sake-(Reiswein-)Becher zuzuerteilen.
6. Geistige Getränke sollen in Schulgebäuden nicht zugelassen werden.
7. Schaffung eines Forschungs- und Veröffentlichungsbüros über die Al-
koholschäden durch die regierung.
8. Einführung wissenschaftlicher Belehrung über die Alkoholfrage in die
Lehrbücher der Schulen.
9. Anstellung eines besonderen Polizeibeamten seitens der Regierung zur
Durchführung des Alkohol-Jugendschutzgesetzes. ;
Wirkungen des Alkohols auf Körper und Geist.
Leitsätze,) von prakt. Arzt Dr. Steidle, München.
l. Einwirkung des Alkoholsaufdie Zellen und
Organe.
‚1. Jede Zelle braucht lebensnotwendig u Fettstoffe, genannt
Lipoide. Der Alkohol schädigt den Lipoidstoffwechsel, besonders in den
lipoidreichen Gebieten des Gehirns und der Nerven. Deshalb machen sich
besonders hier Störungen im elektrischen Stromablauf am stärksten geltend;
teils Hemmungen, teils ungeordnete Erregungszustände im Nervensystem sind
die Folge. Die Sinneswahrnehmungen werden abgestumpft.
Gefahr des Einschläferns von Kleinkindern durch Bier. |
2. Sämtliche Körperzellen werden von der Alkoholwirkung getroffen.
Da Alkoholismus fast immer mit We ne ung N Duden ist, macht
er sich in den Körperorganen besonders in der Neigung zu Arterien-
verkalkung, Herzverfettung, Schrumpfniere, Magenkatarrh, Verstopfung,
Zuckerkrankheit, Basedow’scher Krankheit, Gicht, Fettleibigkeit, Nerven-
entzündung, Ischias, Fallsucht, Schlaganfällen u. dgl. bemerkbar. Alle diese
') Zu einem Vortrag auf einem Führer-Lehrgang im Rahmen der Augsburger Werbewoche
für alkoholfreie Jugenderziehung vom 21.—28, März 1925.
Die Alkoholfrage, 1926. 10
146 Mitteilungen.
Krankheiten haben während des Krieges — durch Mängel an Alkohol und
Fleisch — eine bedeutende Verminderung erfahren.
3. Auch die Ei- und Samenzellen sind in den Körperkreislauf ein-
geschaltet und unterliegen daher der Alkoholwirkung. Das nicht erblich
geschädigte Kind leidet dennoch schwer durch den Alkoholismus der Eltern
ın seiner Erziehung und Entwicklung. Trinkerkinder!
Il. Folgerungen aus physiologisch-psychologischen
Versuchen.
1. Die Versuche über die Alkoholwirkung auf die geistigen und körper-
lichen Fähigkeiten haben ergeben, daß eine einmalige Alkoholgabe von
25 bis 100 ccm absolutem Alkohol auch am Tage nach dem Versuche in
ihrer Wirkung noch nachweisbar ist.
2. Mehrmonatliche, tägliche Gaben von 25 bzw. 100 ccm absolutem
Alkohol (entsprechend etwa % bzw. 2% Liter Bier der Vorkriegszeit) be-
einflussen nachweisbar Gedächtnis, Merkfähigkeit, Aufmerksamkeit, Ge-
schwindigkeit der Entschlüsse, Art der Entschlüsse, Rechnen, feine und grobe
- Arbeitsleistung im au zu denselben Anforderungen bei Versuchen ohne
Alkoholzufuhr; es macht sich eine Herabsetzung der Leistung bemerkbar, die
dauernd hinter der Kurve der normalen Leistung zurückbleibt. Allerdings wird
nach einiger Zeit eine gewisse Besserung der Leistung trotz Alkohol-
zufuhr erkennbar, als Äusdruck der Gewöhnung an den Alkohol. Von
mäßigem Alkoholgenuß kann nur dann gesprochen werden. wenn nicht
täglich, sondern mehrmals wöchentlich Alkohol in kleinen Mengen (unter
100 ccm) verbraucht wird. Für heranwachsende Jugend sind aber auch solche
einmalige kurzdauernde Einwirkungen schädlich.
Daher alkoholfreie en: ung.
3. Die Stärke der Einwirkung täglicher kleiner Alkoholgaben auf den
Körper kann daraus ersehen werden, daß noch nach dreiwöchentlicher Aus-
schaltung der Alkoholgaben das Nachklingen der Schädigung im Versuch
nachgewiesen werden konnte.
..Kurzdauernde Versuche sind zur Darstellung der Alkohol-
wirkung ungenügend, da die dauernde Schädigung erst nach einiger Zeit
in einem plötzlichen Absinken der Leistung wırksam und erkennbar wird.
Wenigtägige Versuche werden manchmal von alkoholfreundlicher Seite im
Zusammenhang mit der Leistungssteigerung durch Uebung mißbraucht, um
darzutun, daß der Alkohol leistungsfördernde Wirkung habe.
Ill. DieEinwirkungdesAlkoholsaufdasSeelenleben.
1. Er des seelischen Raumes der Höhe, Breite und Tiefe nach.
Nachlassen des jugendlichen Idealismus und Versumpfung in Philistertum.
Ersatz der wirklichen Welt durch eine Scheinwelt. Bedürfnis nach
starken Eindrücken: Reklame, Kino, Massenbetrieb. Rückwärts
richteter Blick. Euphorisches Lächeln des alten Trinkers. — Gewalttätı
Erfüllung sozialer Verpflichtungen durch gewaltsame Eingriffe in Schule,
Familie und Kirche, Ehescheidungen! — Verlust der Gewissenhaftigkeit, be-
sonders im Rausch (uneheliche Kinder, Geschlechtskrankheiten) und Steigerung
des Geschlechtstriebes in der triebhaften Erregung.
2. Schwere Schädigungen des Alkohols führen zu Alkoholver-
brechen (Gewalttätigkeiten) und Geisteskrankheiten. Stärkste Ab-
nahme während und stärkste Zunahme nach dem Kriege infolge Alkoholismus-
ab- bzw. -zunahme.
IV. Wertrinkt? — Besonders seelisch Minderwertige.
Durch Enthaltsamkeit wird seelische Minderwertigkeit nicht aufgehoben,
aber leichter beherrscht und aus oe Warum wird getrunken? Einfluß
und Zwang der Trinksitte! Einluß und Zwang einer neuen alkoholfreien
Geselligkeit wird auch seelisch Minderwertige zu ihrem Wohl vom Alkohol
fernhalten.
V. Alkoholkein Nahrungsmittel, sondern teueres Genuß-
mittel und gleichzeitig schädlich, Kalium im Bier, Herzgift.
Mitteilungen. 147
Der Alkoholismus im Wirtschafts- und Staatsleben.
Leitsätze!) von Pfarrer M. Bürck.
Gegenwärtige wirtschaftliche Lage:
1. Wir sind heute ein an Rohstoffen und Geldmitteln verarmtes Volk. Die
langfristigen, sozial guten Waren sind selten und teuer, dagegen herrscht
eberfluß an sozialschlechten, kurzfristigen Degenerationswaren (Alkohol,
Tabak, Schund, Tand). Hinzu kommt unter dem Druck des Londoner
Vertrages und als Nachwirkung der Inflation die Neigung zum Raubbau
auf allen Wirtschaftszweigen.
2. Tatsachen über Zunahme des Alkoholismus seit 1918:
a) Vordringen der Spirituosen in den Lebensmittelgeschäften. Alkohol-
reklame. Wiederkehr der Trinksitten bei Festen und Tagungen. Frauen-
Alkoholismus.
b) ge Zahlen: Gesamt b ier produktion 1923: 26,4 Mill. hi, 1924:
3 Mill hl. — Mindestausgabe 1924 für Alkoholika: 2 Milliarden.
Trinkerfürsorgestelle Mannheim 1920: etwa 300 Fälle, 1924: 3000.
3. Die sozialschädliche Wirkung des Alkohols wird heute gesteigert durch
allgemeine Verarmung, Wohnungsnot, seelischen Druck; ihre Eindämmung
wird erschwert durch die Verwurzelung des Alkoholismus in der Sitte
und den landwirtschaftlichen und gewerblichen Betrieben.
4. Helfen kann nur eine neue Einstellung zum Wirtschaftleben, die es unter
die Leitung der Vernunft und sozialen Verartwortlichkeit stellt. Voraus-
setzung hierzu ist der Glaube, daß der Geist stärker ist als die Verhältnisse.
5. Prüfen wir im Lichte einer durch Vernunft und Verantwort-
lichkeit geleiteten Wirtschaft die Alkoholindustrie an ihren
einzelnen „Produktionsmitteln“, so ergibt sich:
a) Es werden heute noch mindestens 8000 qkm deutscher Ackererde
(= Fläche des Freistaates Sachsen) mit Rohstoffen für Alkoholika be-
baut. Das ist für ein unterernährtes Volk zu viel.
b) Die Maschinen, Fabrikanlagen, Verkehrswerkzeuge und Ausschanklokale
der Alkoholindustrie können produktiver verwendet werden.
c) Es arbeiten in ihr über % Million Menschen; ihre körperliche und
geistige Arbeitskraft geht für Notwendiges verloren.
d) Seit 1918 belastet die Alkoholindustrie unsere Außenhandelsbilanz. An
der Mehreinfuhr im Oktober 1924 von 244 Millionen Goldmark waren
die Alkoholika und deren Rohprodukte mit 14 Millionen GM. beteiligt.
e) Es ist nicht richtig, daß ohne die Abfallprodukte (Schlempe, Malz usw.)
die Produktion von Milch und Schweinen zurückginge.
Direkte Verfütterung des Getreides ist vorteilhafter als über
den Umweg der Alkoholerzeugung. Gärung ist stets Nähr-
stoffverlust.
f) Die Staatseinnahmen durch Steuern und Zölle für Alkoholika sind keine
wirklichen Einnahmen; denn die unwirtschaftlichen Mehr-
ausgaben des Staates und der Gemeinden für die direkten und
indirekten Schädigungen des Alkoholismus betragen mindestens
das Sechsfache der gesamten Steuer- und Zollein-
nahmen aus der Alkoholindustrie.
. Die Alkoholindustrie erfüllt die Forderung einer produk-
tiven Wirtschaft nicht; denn sie vermindert schrittweise das
materielle und ideele Nationalvermögen.
Im Interesse der Erhaltung und des Wiederaufbaues unserer Volkskraft
muß eine allmähliche Umstellung der Genußmittelindustrie in lebensnotwendige
Industrie erstrebt werden. Das ist aber nur bei gleichzeitiger Erziehung der
Taucher zu sozial verantwortlichen Menschen möglich.
für l Zu einem Vortrag auf einem IE utenE im Rahmen der Augsburger Werbewoche
alkoholfreie Jugenderziehung vom 21.—28. März 1925.
190°
148 Mitteilungen.
Alkoholismus, Zivilisation und Kultur.
Leitsätze!) von Pfarrer M. Bürck.
1. Kultur ist Beherrschung der Natur durch den Geist. „Zivilisation“ ist
Entstellung und Verfälschung der Natur. Am deutlichsten tritt die zivili-
satorische Entstellung der Natur in der heutigen Nahrungsmittel- und
Alkoholindustrie in Erscheinung.
2. Der frühe und BeWOhnDE t mabige Genuß der Alkoholika verdirbt den
menschlichen Nahrungsinstinkt und trübt infolge des innigen Zusammen-
hangs von Körper und Geist auch das Seelenleben.
3. In der Kunst (sowohl im produktiven Schaffen wie im empfangenden
öffentlichen Geschmack) zeigt sich die zivilisatorische Entartung zu Schund
und Schmutz infolge der Narkotika besonders deutlich. Gleichzeitige Blüte
der Spirituosenindustrie und der Fabrikations- und Darbietungsstätten von
Kitsch und Schund aller Art.
4. Folgende Zusammenhänge von Alkoholismus und After-
kunst sind festzustellen:
a) Alkohol bewirkt quantitative Vermehrung, beschleunigten Ablauf und
qualitative Entleerung der Phantasiebilder. Physiologische Parallele:
falsche und vorzeitige Wahlreaktionen.
b) Entfesselung des Sexualtriebes und damit Verarmung und Erniedrigung
des Kunstwerks und Verrohung des öffentlichen Geschmacks.
c) Grenzverwischung zwischen edel und gemein. Physiologische Parallele:
Alkohol setzt die Unterschiedsempfindlichkeit der Sinne herab.
d) Die eigentliche narkotische Wirkung: der Alkohol führt am künstle-
rischen Schöpferschmerz vorbei, ohne den Werk und Persönlichkeit nicht
wirklich reifen können; er verstärkt die heutige Flucht vor dem Leide,
erniedrigt das Heroische zum Philisterhaften. Physiologische Parallee:
Alkohol lähmt die Schutzempfindungen, z. B. Kälte, Müdigkeit.
Ergebnis: Unsere gesamte Kunst ist zivilisatorisch erkrankt und
droht zu entarten. Die Narkotika verhüllen diese Tatsache, beschleunigen ihre
Entartung und verhindern die Heilung. Erlösung wird unserer Kunst nur
über den Weg zur Wahrheit, Güte und Schönheit der Natur.
Zur wirtschaftlichen Seite der Alkoholfrage.
Der volkswirtschaftliche Wert der Alkoholgewerbe und ihrer Er-
zeugnisse wird von Freund und Gegner sehr verschieden beurteilt. Den
unbestreitbaren mannigfaltigen und schwerwiegenden Passivposten
derselben für das Volksganze werden von seiten der Alkoholgewerbe
und -freunde große und angeblich überwiegende positive Posten ent-
gegengestellt. Demgegenüber sind aber Stimmen so gewich-
tiger Volkswirtschaftler und Politiker wie G. v.
Schmoller, Adam Smith, G. Rümelin, Fürst Bülow u. a. zu beachten.
Schmoller (vom deutschen Trunk): „Millionen und Milliarden
verschwinden in diesem Schlund; die ganze Lebenshaltung unserer
Mittel- und unteren Klassen hängt von dieser Frage ab, man könnte
sogar fast ohne Uebertreibung sagen: Die Zukunft unserer Nation... “
Ad. Smith (der Begründer der neueren \Volkswirtschaftslehre):
„Die Arbeit, welche zur Erzeugung starker Getränke dient, zum Säen,
it Zu einem Vortrag auf einem Führer-Lehrgang im Rahmen der Augsburger Werbewoche
für alkoholfreie Jugenderziehung vom 21.—28. März 1925.
Mitteilungen. 149
Pflegen und Ernten des Korns, zu der weiteren Zubereitung, zum
Brauen und Destillieren, kurz zu der ganzen Herstellung, Versendung
und dem Verkauf dieser Getränke, ist ganz und gar unproduktiv. Sie
produziert nicht solche Dinge, die man gerechterweise Güter nennen
könnte. Die Arbeit, welche auf diese Getränke verwendet wird, vermehrt
nicht den Wohlstand der Gesellschaft, die Nahrungsmittel, die Quellen
wahren Genusses, sondern erzeugt im Gegenteil nur, was den Inter-
essen der Menschheit schädlich ist.“
Aehnlich der ehemalige Tübinger Kanzler Rümelin von den
Wirtshäusern:
„Die Blüte der Wirtschaft eines Volkes steht mit der Blüte seiner
Wirtshäuser eher in der umgekehrten als der direkten Proportion....
Die Wirtshäuser gehören im großen und ganzen (sofern oder soweit
sie nämlich, wie er nachher ausführt, [Alkohol-]Trinkhäuser sind) nicht
zu den Güter erzeugenden, sondern zu den Güter zerstörenden und
vermindernden Gewerben.“
Fürst Bülow in seiner „Deutschen Politik“: „Es kommt nicht
allein darauf an, was durch verschiedene Arten des Erwerbs materiell
gewonnen wird. Es kommt auch darauf an, wie die Erwerbsgebiete auf
die Erhaltung der physischen und ideellen Kräfte des Volkes wirken...
Physische, sittliche und geistige Gesundheit sind auch heute noch der
größte Volksreichtum.“
Und um auch zwei hervorragende Schweizer Fachmänner zum
Wort kommen zu lassen: Der bekannte Statistiker Prof. Dr. Milliet,
Bern, der frühere langjährige Leiter der Eidgenössischen Alkohol-
verwaltung, sagt: „Der Alkoholgenuß bildet in der Bilanz der Volks-
kräfte nicht erst dann einen Verlustposten, wenn er zu Krankheiten und
Tod führt, sondern schon dann, wenn er durch sinnlose Vergeudung
von Geld und Zeit, durch Hemmung von Energie, durch Zerrüttung
des Familienlebens, durch Verderbnis guter Sitten vitale Potenzen
lähmt.“ Und Prof. Schorer, Freiburg (i. d. Schweiz), in einem Vor-
trag in der gemeinsamen Jahresversammlung der Schweizerischen ge-
meinnützigen Gesellschaft und der Schweizerischen statistischen Gesell-
schaft am 12. Dez. 1925: „Bei Verwertung wirtschaftlicher Vorgänge und
Tatsachen finden die Beziehungen und Rückwirkungen auf die soziale
Gesellschaft, auf das Volk, viel zu wenig Beachtung. Der Erwerbs-
gewinn obherrscht; wenn nur mit möglichst wenig Aufwand möglichst
viel gewonnen wird — der soziale Wert des Produktes, der
Erwerbstätigkeit mag gering oder gar negativ sein.“
Zur Frage der Alkoholsteuern
(Steuern aus geistigen Getränken) im besonderen.
Immer wieder hält man uns, besonders bei unseren Bestrebungen
auf gesetzgeberischer Linie, den Trumpf von den hohen Steuereinnahmen
aus den geistigen Getränken entgegen, die Reich, Länder und Gemeinden
en entbehren könnten. Wie dachten weitblickende Staatsmänner
arüber?
150 Mitteilungen.
König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen schrieb einmal:
Ich würde es für den größten Segen meiner Regierung ansehen, wenn
während derselben die Branntweinsteuer auf Null herabsänke.“
Die Engländer sind weltbekannt als gute Rechner und Wirklichkeits-
politiker. Und ‘doch sagte der ehemalige große Staatsmann Glad-
stone seinerzeit zu einer Abordnung von Brauern, die wegen an-
geblich zu hoher Malzsteuer vorstellig wurde und auf die mit dem
Rückgang des Bierverbrauchs verbundene Steuerabnahme hinwies:
„Meine Herren, Sie müssen sich nicht wegen unserer Steuereinnahmen
beunruhigen. Die Frage des Steuerertrags darf nie notwendigen Re
formen im Wege stehen. Ueberhaupt, mit einer nüchternen Bevölkerung,
die ihren Verdienst nicht verschleudert, weiß ich gewiß, woher die
Steuern zu bekommen sind.“
Lloyd George erklärte, nachdem durch die von ihm veranlaßte
starke Erhöhung der Branntweinsteuer 1909 eine erhebliche Abnahme
des Schnapsverbrauchs eingetreten war: „Obwohl ich wegen der
Finanzen des Reiches schon manche schlaflose Nacht hatte, würde ich
mich über eine starke Verminderung dieser Einnahmen nur freuen.“
A. Chamberlain sprach das Wort: „Wenn wir morgen die
Gier nach berauschenden Getränken zerstören könnten, wir würden
bald sehen, daß unsere Steuern um Millionen herabgesetzt werden
könnten.“ Und Sir George Murray, der Vorsitzende der eng-
lischen Steuerkommission: „Es ist für ein Volk unmöglich, aus dem
Alkoholhandel etwas zu gewinnen, die Einnahmen werden nie auf-
kommen gegenüber den Verlusten.“
kad
Wir weisen noch auf einige bemerkenswerte, teils mehr wissen-
schaftliche, teils mebr volkstümliche einschlägige Veröffentlichungen
hin: Alex. Elster, Das Konto des Alkohols in der deut-
schen Volkswirtschaft (2. Aufl., 1922); R. Wilbrandt, Der Alko
holismus als Problem der Volkswirtschaft (3. Aufl., 1926); Hartwig,
Die wirtschaftliche Bedeutung des Biergewerbes (1914); T r o m mers-
hausen, Die Spiritusinteressenten und das Brennereigewerbe (1917);
Fuchs, „Die Bedeutung der Alkoholfrage für den wirtschaftlichen
Wiederaufbau Deutschlands“ (im Bericht über den 2. deutschen Kongreß
für alkoholfreie Jugenderziehung, 1922, S. 30—58); Baurichter,
Volksentscheid oder Brauereidiktat?; Bürck, Für Wahrheit und Recht!
Gläß, Zahlenmaterial zur Alkoholfrage; Flaig, „Von der Um
stellung der Alkoholgewerbe während des Krieges“ in „Alkoholfrage“
1918 H. 4 (S. 257—266); Weber, Volkswirtschaft und Gemeinde-
bestimmungsrecht (Flugschrift, unterzeichnet von einer großen Anzahl
von Volkswirtschaftsprofesoren); Flaig, Tatsachen zu einer zeit-
wichtigen Frage (Flugblatt). FI,
Besprechungen.
Geh. Reg.-Rat E. Pütter und Sanitätsrat Dr. P. Hesse: Der Alkoholist,
seinWesenundseine Bekämpfung. Verlag v. Hoffmann u. Campe,
Berlin-Hamburg 1926.
Der Direktor der Charite, Herr Geheimer Regierungsrat Pütter, und
Herr Sanitätsrat Dr. P. Hesse haben sich nicht auf ihre Lorbeeren schlafen
gelegt, die sie bekanntermaßen mit ihrer famosen Schrift: „Bekämpfung des
ikoholmißbrauchs ohne Gemeindebestimmungsrecht und ocken gung sich
reichlich gepflückt hatten. Nun sind die Herren wieder auf dem Kampiplatze
erschienen; diesmal wollen sie uns aber etwas über „das Wesen des
Alkoholisten“ erzählen. Früher hatten sie sich zu ihrem lobesamen Tun den
„Freien Literarischen Verlag, Berlin-Tempelhof“ erkoren, — oder vielleicht
hatte auch der ausgezeichnete „Freie Literarische Verlag“ seine Aufforderung
an die Herren ergehen lassen. Meinem vielbewanderten Buchhändler war
dieser Verlag weder aus der Erinnerung, noch aus dem Nachschlagebuch für
Buchhändler irgendwie bekannt; daher wandte sich mein Buchhändler tele-
poms an Herrn Geheimrat Pütter, der die Liebenswürdigkeit hatte, zur
eststellung der näheren Adresse des Verlags an Herrn Dr. llgenstein zu
verweisen. Nach einer Mitteilung der Zeitschrift „Neuland“ ist Herr Dr. Ilgen-
an mA literarische Leiter des Freien Literarischen Verlags in Berlin-
empelhof.
n einem Rundschreiben vom Januar 1925 betr. Schaffung eines
Antiabstinenz-Films, das vom Deutschen Brauerbund, der Arbeitsgemeinschaft
der Gärungsgewerbe usw. ausging, unterzeichnete dieser Herr: „Dr. Ilgenstein,
Pressechef des Deutschen Brauerbundes“. Nun wird es vielleicht auch den
Herren Pütter und Hesse nicht uninteressant zu hören sein, wenn ich ihuen
sage, daß im Jahre 1907 Herr Dr. Ilgenstein zusammen mit dem berühmten,
von mir wahrhaft hochverehrten, verstorbenen ‚Bremer Pastor Kalthoff das
damals erschienene, dann eingegangene „Blaubuch“ herausgegeben hatte.
1907 in Nr. 13 des zweiten Jahrganges des Blaubuchs war von mir ein
Aufsatz erschienen: „Behandlung des Verbrechers.“ An Stelle einer sinn-
losen Strafe verlangte ich damals wie heute planvolle Heilerziehung und
schrieb u. a. den Satz: „Alkoholkranke Menschen können aber nur genesen,
wenn sie in sachgemäßer Weise zur abstinenten Lebensweise erzogen werden.“
Ich erwähne dies nicht nur zur nützlichen Beleuchtung der bemerkenswerten
Verwandlung, die sich bei Herrn Dr. Ilgenstein vom Redakteur des Blau-
buchs zum Bressechef des Deutschen Brauerbundes vollzogen hat, sondern
um die grundsätzliche Stellung anzugeben, die allen Alkoholkranken gegen-
über eingenommen werden muß. Herr Pütter und Herr Hesse meinen freilich,
daß man „abstinenten Vereinen nicht ein solches Vertrauen entgegenbringt —“,
wie nämlich seinen früheren Trinkerfürsorgestellen. — In der Einleitu
zu ihrer Schrift erklären die Herren: „Es wird allen Ernstes gefordert, da
man aus sittlichen Gründen keinen Tropfen Alkohol zu sich nehmen darf,
um zur Verbesserung der Welt und Beglückung seiner Mitmenschen sein
eil beizutragen.“ Warum soll das nicht a werden, meine Herren?
Ist unsere Zeit so reich an sittlichen Gefühlen und entsprechenden Willens-
tigungen, daß wir nicht mehr nötig hätten, eine „ideale Forderung“
aufzustellen? i .
. Ist den Herren die erhabene buddhistische Ethik völlig unbekannt ge-
ieben, worin der Genuß alkoholischer Getränke und der Handel mit solchen
verboten ist? Ich empfehle ihnen die aufmerksame Lektüre der wundervollen
kleinen Schrift: „Das fünfte Silam“, in der ausgezeichneten Uebersetzung des
Berliner Stadtarztes Dr. Wolfgang Bohn. — In dieser kleinen Schrift finden
152 Besprechungen.
wir erstaunlicherweise schon eine große Zahl wichtiger Wirkungen
des Alkohols auf unser Seelenleben klar und zutreffend mitgeteilt; in dieser
Schrift lesen wir, meine Herren Pütter und Hesse, nämlich wirklich
etwas Wertvolles und Richtiges über das „Wesen des Alkoholisten“, worüber
Sie in Ihrer Schrift auch nicht ein Wort verloren haben. In Ihrer
ganzen Schrift, auch nicht in dem Kapitel, welches die stolze Ueberschrift
trägt: „Wer ist ein Alkoholist?“, verspüren wir auch nur einen psycho-
logischen Hauch; nirgends auch nur der Versuch, uns etwas von dem
Seelenleben des Alkoholisten zu sagen, geschweige denn der wissenschaftliche
Hinweis auf die große aeueo der experimentellen psychologischen
Arbeiten Kräpelins und seiner Schule; ferner darf sich heute niemand mehr |
beikommen lassen, über das Wesen des Alkoholisten reden und schreiben
zu wollen, ohne wirkliche Kenntnisse der Psychologie des Ober- und Unter-
bewußtseins zu besitzen, mit anderen Worten, die Ergebnisse der Freudschen
und namentlich der Adierschen Forschungen auch tür die Psychologie des
Alkoholisten kritisch zu verwerten, wie ich dies in verschiedenen Arbeiten
bereits getan habe. Daher ist schon von diesem Hauptgesichtspunkte aus
betrachtet und beurteilt die neueste Schrift der Herren Pütter und Hesse
wirklich als völlig belanglos zu bezeichnen. Diese Schrift hat gar keinen
wissenschaftlichen, — aber auch gar keinen praktischen Wert. Selbstverständ-
lich lassen die Herren auch nicht die Gelegenheit vorübergehen, um gegen
das amerikanische Alkoholverbot zwar von keiner Sachkenntnis getrübt, aber
desto affektvoller loszugehen. Es hat keinen Sinn, mit ihnen hierüber in eine
Erörterung einzutreten, da sie wiederum keine wissenschaftlich festgestellten
oder kontrollierbaren Tatsachen zur Grundlage nehmen, sondern nur kühn
Behauptungen aufstellen, die uns aus der Tagespresse zum Ueberdruß geläufig
sind. Die ohnmächtigen Ausfälle gegen den Deutschen Verein und namentlic
gegen Herrn Oberverwaltungsgerichtsrat Dr. Weymann bedürfen keiner ernst-
alten Widerlegung; es ist zu durchsichtig, aus welcher Quelle ihre Tränen
fließen; im übrigen kann sich die Leitung des Deutschen Vereins mit einem be-
kannten Goetheschen Verse trösten, den ich aber aus Höflichkeit nicht her-
setzen werde. In ihrem Schlußwort sprechen die Herren den Alkohol als
„ein Genußmittel an, dessen Vorzüge nicht zu verkennen sind“. Sicherlich
ist der Alkohol ein Genußmittel, — aber überwiegen nicht in der Tat.
besonders vom sozialen, allgemeinen Standpunkte gesehen, die schädlichen
Wirkungen die subjektiv euphorischen, — und sind letztere gerade in
unserer Zeit noch irgendwie zulässig? Gilt nicht gerade von unserer Gegen-
wart im Hinblick auf die Zukunft unseres Volkes, was im ersten Kapitel des
Evangeliums nach Lukas steht: „Denn er wird groß sein vor dem Herrn‘
Wein und berauschende Getränke wird er nicht trinken und von heiligem
Geiste wird er erfüllt sein von Geburt an.“ Wollen wir nicht lieber statt des
Genußmittels Alkohol unser Volk mit „heiligem Geiste“ sich erfüllen lassen?
Doch ich will schließen mit den denkwürdigen Worten eines Mannes, dessen
Andenken dem Verlage Hoffmann und Campe doch einigermaßen nahe
stehen sollte, nämlich Heinrich Heine sagt in seinen Gedanken und Einfällen
— 1845—1856: „In den Flaschen sehe ich Greuel, die ihr Inhalt erzeugen
wird — und ich glaube im Naturalienkabinett Flaschen mit Mißgeburten,
Schlangen und Embryos zu sehen.“ Ich denke Heines in die Zukunft g
richtetes Seher-Auge hat nur zu richtig gesehen. Meine Herren, die sittliche
Forderung zur Abstinenz läßt sich heute weniger denn je so leicht abtun,
versucht Raben.
San.-Rat Dr. Otto Juliusburger.
Druck von Kupky & Dietze (Inh.: C. und R. Müller), Radebeul-Dresden.
Fe win
September 1926
I: |
Be Ir. Di e Hett 4
Alkoholfrage
Internationale
wissenschaftlich - praktische Zeitschrift
HERAUSGEGEBEN
im Auftrage der
Deutschen Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus
und der
Internationalen Vereinigung gegen den Alkoholismus
unter Mitwirkung
namhafter Fachleute aller Länder
von
Professor Dr. med. h. c. I. Gonser und
Präsident a. D. Dr. Reinhard Strecker
In der Schriftleitung
Dr. R. Kraut und Dr. J. Flaig
Preis des Jahrganges (für In- und Ausland) 6 Goldmark
Preis des einzelnen Heftes: 1,25 Goldmark
BERLIN-DAHLEM
Verlag „Auf der Wacht“
1926
|
de a
S B*e A
Inhalt des Heftes 4.
I. Abhandlungen. Set
1. Kraut, Vom 18. Internationalen Kongreß gegen den Alkoholismus in Dorpat . 15:
2. Reinheimer, Der alkoholisierte Mensch . . 2 22 2 2 nn man. Isi
3. Merbitz, Die Einbeziehung einer planmäßigen Bekämpfung des Alkoholismus
in die Wohlfahrtsgesetzgebung . .. ... 2.222020 a 1°
4. Pusch, Die Trinkerfürsorge und die Verordnung über die Fürsorgepflicht ve vom
13. Februar 1924 . oo 0er 18
5. Flaig, Zur „Reform des Branntweinmonopols“ . . . 2.2... ae re
6. Böhme, Die deutsche Spiritusbewirtschaftung . . . . . 2... ne ee
7. Die Polizeistunde in Deutschland. . ..... ; 14
8. Berichtigungen zum Aufsatz von Prof. Julius Donath: Die Wirkung. des smet
kanischen Alkoholverbots auf die Tuberkulose (Heft 2) . .. .2.... N
II. Chronik. (Stubbe, Kie) .. ...... E
III. Mitteilungen.
l. Aus der Trinkerfürsorge: Städtische Trinkerhilfe Frankfurt a. M. — IEE |
Heilstättenarbeit. — Zürcherische Fürsorgestelle für Alkoholkranke . ... iz
2. AusVereinen: Jahrestagung des Deutschen Quttemplerordens. — Die 13.Bundes-
tagung des Deutschen Bundes evang.-kirchi. Blaukreuz-Verbände vom 8. bis
12. Juli 1926 in Kiel. — Reichsausschuß deutscher Katholiken gegen den
Alkoholmißbrauch. — Aus der alkoholgegnerischen Arbeit in Bayern ... D
3. Verschiedenes: Aus der Arbeit des Internationalen Bureaus zur Bekämpfung
des Alkoholismus, Lausanne, im Jahre 1925. — Vom alkoholfreien Volkshaus
in Zürich. — Gemeinnützige Gasthausgeselischaft für Rheinland und West-
falen G. m.b. H. 1925. — Der Deutsche Seeschiffahrtstag gegen den Sprit-
schmuggel. -- Verkehrsunfälle durch Alkohol. — Der neue schweizerische
Entwurf zur Revision der Alkoholgesetzgebung. — Englands Alkoholausgaben
1925. — Befreiung vom Alkohol: der Anfang nationaler Freiheit . . .. . !
IV. Schrifttum. (Dr. J.Flaig. ...... ®
Verantwortlich für Schriftleitung und Verlag: Prof. Dr. med. h. c. I. Oonsei
Berlin-Dahlem, Werderstr. 16.
Verlag und Versand:
Verlag „Auf der Wacht“ (Verlag des Deutschen Vereins g.d. A.), Berlin-Dahler:
Werderstr. 16. Postscheckkonto: Berlin NW. 7, Nr. 9386.
Anzeigen:
Anzeigenpreis nach Vereinbarung.
Vom 18. Internationalen Kongreß
gegen den Alkoholismus in Dorpat
21. bis 29. Juli 1926.
' I. 1
Es ist die alte Erfahrung: der Hauptwert unserer Kongresse
besteht weniger im Belehren und Belehrtwerden, weniger in der Ver-
mittlung neuer Gedanken und Erfahrungen als in der persönlichen
Verbindung der Teilnehmer untereinander, der Anknüpfung neuer, der
Wiederbelebung alter, halbvergessener Beziehungen. Ueber den sach-
lichen Inhalt der Vorträge und Verhandlungen unterrichtet später
schneller und sicherer der Verhandlungsbericht, als Teilnehmer an den
einzelnen Sitzungen es vermögen, zumal ja eine Reihe von Veranstal-
tungen zeitlich zusammenfällt und niemand an allen Verhandlungen
teilnehmen kann.
Obwohl fern im Osten tagend — der „Ööstlichste aller bisherigen Inter-
nationalen Alkoholgegner-Kongresse“ — war der Dorpater Kongreß doch
außerordentlich gut besucht. Zwar waren die Angelsachsen nur sehr
schwach vertreten (3 Engländer und 3 Amerikaner), noch schwächer
die Romanen (3 Abgesandte aus Italien), aber die Randstaaten (211
Estländer, 26 Lettländer, 17 Litauer, 14 Polen), Skandinavien (36
Schweden, 28 Finnländer, 3 Norweger, 8 Dänen, i Isländer) und
Deutschland (35 Besucher) hatten sich umso lebhafter beteiligt. Im
ganzen verzeichnete die Kongreßzeitung vom 24. Juli 418 Teilnehmer
aus 21 verschiedenen Ländern.
An charakteristischen Gestalten war gerade dieser Kongreß viel-
leicht besonders reich. Die besten Köpfe der estländischen Geistes-
welt haben ihr Interesse für die Tagung bekundet. Die führenden
Persönlichkeiten des Staatslebens hatten das Ehrenpräsidium über-
nommen, die wissenschaftliche Welt, die Geistlichkeit und auch das
Militär waren während der ganzen Tagung vertreten. Die ganze Ver-
anstaltung mit allen Einzelheiten ihrer Vorbereitung ließ deutlich er-
kennen, daß dieser Kongreß für den jungen estländischen Staat eine
Kulturangelegenheit ersten Ranges bedeutet.
Manchen alten Kongreßbesucher hatte die weite Reise von der
Teilnahme zurückgehalten, aber besonders aus den skandinavischen
Ländern konnten wir doch viele alte Freunde wiederbegrüßen. Männer
wie die Schweden Björkman, David Oestlund, Professor
Bergman, die DänenLarsen-LedetundAdolphHansen,
der Norweger Lars O. Jensen hatten den (für die Schweden freilich
weniger) weiten Weg nicht gescheut. Die unentwegte baltische Vor-
kämpferin unserer Sache Frl. v. Grewingk aus Riga durften wir
154 Abhandlungen.
ebenfalls begrüßen. Aus der Schweiz war natürlich der langjährige
ständige Sekretär des Kongresses Dr. H e r c o d und ebenso der Sekretär
des Schweizerischen Abstinenzsekretariats Dr. Oettli erschienen; von
den österreichischen Vertretern waren u. a. Professor Ude und Prof.
Smola zur Stelle; einer der drei anwesenden Amerikaner war der
bekannte Johnson-Pussyfoot; auch Bischof Cannon fehlte
nicht.
Die offiziellen Sprachen der internationalen Kongresse gegen den
Alkoholismus sind deutsch, englisch und französisch. Je nach der Lage
des Kongreßortes und der Nationalität der Besucher pflegen eine oder
zwei Sprachen den Vorrang zu haben. Dieses Mal herrschte die
deutsche Sprache vor.
Eine Fülle, man darf ruhig sagen: Ueberfülle von Einzelgebieten
der Alkoholfrage stand auf dem Programm dieses nicht weniger als
acht Tage beanspruchenden Kongresses').
In der Eröffnungssitzung wurde über die Wirkungen des Alkohols,
insbesondere auf die Lebensdauer, gesprochen, in den Sondersitzungen
der medizinischen Abteilung über die Behandlung der Trinker, u. a.
durch Hypnose, über die Zusammenhänge zwischen Alkohol und
Tuberkulose, Alkohol und Geschlechtskrankheiten und Alkohol und
Vererbung. Weitere Stoffgebiete des Kongresses waren: „Die Kirche
im Kampfe gegen den Alkohol“, Jugend und Alkohol“, „Alkohol und
Unfälle“, „Alkohol und Heer“, „Die Landwirtschaft im Kampfe gegen
den Alkohol“, „Alkohol und Armenunterstützung‘“, sowie gesetz-
geberische Fragen, vor allem das Gemeindebestimmungsrecht und das
Verbot. Den Schluß bildete am letzten Tage ein Vortrag über „Nationale
Propagandawochen und Welttag gegen den Alkohol“.
Für die Behandlung dieser Fragen waren im allgemeinen min
destens je 2—3 Redner gebeten worden.
Was bei einem so vielseitigen Programm mit so zahlreichen
Rednern und gleichzeitig in einem so abgelegenen Kongreßorte fast
mit Sicherheit vorauszusehen war, traf ein: eine leider nicht ganz
kleine Zahl von Rednern war ausgeblieben, und man mußte sich mit
der Verlesung der Referate begnügen oder ganz auf sie verzichten.
Das hat die lebendige Kraft der Tagung doch beeinträchtigt, zumal es
nicht die schlechtesten Redner waren, auf deren persönliche Gedanken-
vermittlung wir Verzicht leisten mußten. Fehlten doch Persönlich-
keiten wie Holitscher, Westergaard, Legrain, Cher-
rington, Miß Stoddard, Gonser, Scharffenberg u. a.
So erklärt es sich, daß die einzelnen Sitzungen mit dem, was an Vor-
trägen und Verhandlungen geboten wurde, sich nicht immer auf gleicher
Höhe halten konnten. Besonders starkes Interesse nötigten die Ver-
handlungen ab, die sich mit der Jugend im Kampfe gegen den Alkohol
befaßten, mit den gesetzgeberischen Fragen und dem Thema „Alkohol
1) Länger als 3 bis 4 Tage sollten eigentlich unsere Kongresse nicht
dauern. Es wäre auch wünschenswert, daß man für die künftigen Kongresse
und deren Arbeitspläne neue, praktischere Grundsätze aufstellte.
Kraut, Vom 18. Internationalen Kongreß gegen den Alkoholismus in Dorpat. 155
und Heer“, zu dem allerdings nur einer der auf dem Programm
stehenden Redner, Generalmajor Bauer aus Kassel, sprach; die beiden
andern Redner, Dr. Legrain und der Finnländer Major Heikin-
heimo waren am Erscheinen verhindert.
Das Gebiet „Jugend im Kampfe gegen den Alkohol“ behandelten
drei Vortragende: der Leiter des Kongresses Prof. Pöld (Prorektor
der Dorpater Universität) in Ausführungen über das Thema „Ist die
Enthaltsamkeit der Erwachsenen für die Jugendarbeit notwendig?“,
Dr. Oettli, der über die Frage sprach: „Wie weckt man das Inter-
esse am Anti-Alkohol-Unterricht?“ und Theo Gläß, dessen Vor-
tragsthema „Beeinflussung der Psyche der Jugendlichen durch die
Enthaltsamkeit“ lautete.
Besonders eingehend sollte die Frage des Gemeindebestimmungs-
rechts auf diesem Kongreß erörtert werden. Man hatte namentlich
etwas von den Erfahrungen der Länder hören wollen, in denen das
Gemeindebestimmungsrecht ausgeübt wird, oder wenigstens gewisse
Gedanken des Gemeindebestimmungsrechts Wirklichkeit geworden sind.
So waren Redner aus Dänemark (Larsen-Ledet), aus Schottland
(R. A. Munro), aus Lettland (Rechtsanwalt Friedenberg), aus
Litauen (Dr. Gylis) und aus Schweden (Alexis Björkman) ge-
beten worden. Ueber die GBR.-Werbearbeit in Deutschland sollte
Dr. Kraut berichten. Aber der Schotte war leider nicht erschienen,
und für Dr. Friedenberg, der ebenfalls abwesend war, mußte Dr. Rein-
hardt aus Riga einspringen. Immerhin hat man ein ganz anschauliches
Bild von der Verschiedenartigkeit des Gemeindebestimmungsrechts und
seinen Wirkungsmöglichkeiten erhalten.
Ueber die Durchführung des Alkoholverbots in den Vereinigten
Staaten sprach an Dr. Cherrington's Stelle sein Mitarbeiter
Herr Richardson; über das finnländische Verbot Minister
Liakka. Auf des letzteren Ausführungen werde ich noch zurück-
kommen.
Zahlreicher noch als die Hauptsitzungen des Kongresses waren
de Sondersitzungen und de Sonderveranstaltungen
einzelner Organisationen. Etwas bänglich konnte einem werden, wenn
man in diesen Sitzungen den Organisationseifer beobachtete und eine
ganze Anzahl internationaler Verbände entstehen sah. In besonderen
Sitzungen tagten die Aerzte, die Geistlichkeit, die Sozialisten, die
Studenten, die Eisenbahner, die Lehrer (die über 100 Teilnehmer zählten),
die Militärpersonen, die Vertreter der Jugend. Fast aus jeder dieser
Sondersitzungen ging eine Dauerorganisation mit mehr oder minder
internationalem Charakter hervor. Warten wir ab, was in der Zeit
bis zym nächsten Kongreß von diesen Verbänden geleistet wird. Die
Frauen hatten schon im Anschluß an den nordischen Nüchternheits-
kongreß, der dem Internationalen in Dorpat vorausging, ihre besondere
Tagung gehabt und einen nordischen Frauenverband gegründet.
Im übrigen hatten ältere Verbände wie die World League against
Alcoholisme, die World Prohibition Federation, die Internationale Ver-
156 Abhandlungen.
einigung gegen den Alkoholismus, die Internationale katholische Ver-
einigung gegen den Alkoholismus und die Guttempler ebenfalls ihre
besonderen Sitzungen abgehalten, die Guttempler mit dem Erfolge, daß
eine bereits vor Jahren in Dorpat gegründete Loge mit 16 neuen Mit-
gliedern wieder ins Leben gerufen wurde.
Auch einige öffentliche Werbeveranstaltungen kamen zustande:
Volksversammlungen mit Vorträgen unter freiem Himmel, vor. allem
Werbung mit und unter der Jugend. Ob der guten Beteiligung auch
die weiteren Auswirkungen entsprechen werden, muß die Zukunit
zeigen.
Am Schlußtage des Kongresses gelangten eine Reihe von Ent-
schließungen zur Annahme, von denen die wichtigsten an dieser Stelle
Platz finden mögen.
Der Völkerbund und die Alkoholfrage.
Der Kongreß schließt sich den Resolutionen an, die in der inter-
nationalen Konferenz über den Alkoholismus in Genf (September 1925)
angenommen worden sind, und verlangt, daß der Völkerbund sich
mit der Alkoholfrage in der gleichen Weise wie mit der Opiumfrag:
befaßt.
Er ist der Kommission des Völkerbundes dankbar dafür, daß si:
beschlossen hat, die Alkoholfrage in ihrer Beziehung zur Jugend in iht
Arbeitsprogramm aufzunehmen.
Selbstbestimmungsrecht.
1. Der Kongreß betont, daß jedes Volk das Recht hat zu be-
stimmen, wie es das Alkoholübel bekämpfen will, ohne das Einschreiten
einer anderen Regierung befürchten zu müssen. Er betont ferner, daß
im Interesse des zwischenstaatlichen freundschaftlichen Verkehrs keine
Regierung ihre eigenen Bürger aufmuntern sollte durch den Schmuggel
und durch Handelsrepressalie den in legaler Weise geäußerten Willen
eines anderen Landes zu durchkreuzen.
2. Ueberall, wo nicht weitergehende allgemeine prohibitive Mab-
nahmen eingeführt worden sind, empfiehlt der Kongreß, den stimm-
berechtigten Bürgern der Gemeinde oder des Bezirks das Recht zu
erteilen, selbst durch Volksabstimmung über die Zulassung des
Alkoholverkaufs im betreffenden Gebiete zu entscheiden. (Gemeindt-
bestimmungsrecht.)
Alkohol undVerkehrsunfälle.
In Anbetracht der Tatsache, daß ein sehr hoher Prozentsatz der
Verkehrsunfälle dem Alkohol zuzuschreiben sind, ersucht der Kongreß
alle Regierungen für alle, die ein konzessioniertes Verkehrsmittel zu
führen oder überhaupt mit dem Verkehr direkt zu tun haben, ein voll-
ständiges Alkoholverbot zu erlassen und für dessen strenge Durch-
führung zu sorgen.
Kraut, Vom 18. Internationalen Kongreß gegen den Alkoholismus in Dorpat. 157
Untersuchung über Verkehrsunfälle und das
Internationale Arbeitsamt.
Der Kongreß dankt dem internationalen Arbeitsamt in Genf für
das Interesse, das es dem Alkoholproblem entgegen bringt.
Da der Alkohol die physische und geistige Leistungsfähigkeit der
Arbeiter beeinflußt und dadurch zur Ursache von Unfällen wird, da
die Untersuchung dieses Zusammenhanges von größter Wichtigkeit für
den Kampf gegen den Alkoholismus sowie für den Schutz und die
Sicherheit der Arbeiter ist, so spricht der Kongreß den Wunsch aus,
daß das Internationale Arbeitsamt seine Studien über den Zusammen-
hang zwischen Alkoholismus und Unfällen bei industriellen und
anderen Unternehmungen, in denen Arbeiter beschäftigt sind, fort-
setzen möge.
”
Ein besonderes Kapitel ist die Frage der Kongreßaus-
stellung. Auch dieses Mal waren wieder von einzelnen Ländern
kleinere oder größere alkoholgegnerische Ausstellungen gesandt und
aufgebaut worden, die zum Teil — besonders gilt dies von Schweden,
Finnland, Estland und Oesterreich — außerordentlich interessantes
Material boten. Aber mehr denn je zuvor trat der Mangel an ein-
heitlicher Leitung zutage. Es sollte sich nicht wiederholen dürfen, daß
im Anschluß an einen Kongreß jeder jedes, was ihm beliebt, ausstellen
darf, und daß außer durch’ den Raum keinerlei Beschränkungen auf-
erlegt werden. Vielmehr ist es dringend notwendig, daß diese Kongreß-
ausstellungen von fester Hand geleitet werden und einen bestimmten
Zweck erfüllen, sei es, daß sie eine Uebersicht über die alkoholgegne-
rische Arbeit der wichtigsten Kulturländer bieten, oder Kritik an den
bestehenden Werbesystemen üben wollen, wie es die schweizerische
Abteilung in Dorpat tat, oder sonst irgendeine Sonderaufgabe erfüllen
wollen.
Neben den zahlreichen Arbeitsveranstaltungen fehlte es natürlicher-
weise auch nicht an geselligen Darbietungen. An Begrüßungstestlich-
keiten, Empfängen, Festmählern, zwanglosen Zusammenkünften, Kon-
zerten und anderen künstlerischen Darbietungen gab es des Guten
soviel, daß man notgedrungen auf manche dieser Veranstaltungen
verzichten mußte. |
Was an organisatorischer Vorbereitungsarbeit geleistet worden
ist, kann gar nicht hoch genug angeschlagen werden. Die Teilnehmer,
denen in so liebenswürdiger Form so vieles geboten wurde, und um die
man sich mit dem größten Entgegenkommen bemühte, sind den Ver-
anstaltern und deren zahlreichen Helfern und Helferinnen, insbesondere
dem langjährigen ständigen Kongreßsekretär Dr. Hercod und dem
unermüdlichen Sekretär des 18. Internationalen Kongresses Herrn
Magister Ernits, der uns an einem der Festabende in 10 oder
12 Sprachen begrüßte, sowie dem Leiter des Organisationsausschusses
und der Tagung Herrn Prof. Pöld den allergrößten Dank schuldig.
>
158 Abhandlungen.
Leider fiel ein Schatten auf den Kongreß, auf dem so viel tüchtige
Arbeit mit froher Unterhaltung gewechselt hatte. Schon während der
ersten Kongreßtage erkrankte in Dorpat einer der Veteranen der deut-
schen Alkoholgegnerbewegung, der besonders um die Arbeit unter der
Lehrerschaft und der Jugend hochverdiente, fast zweiundsiebzigjährige
Oberstudienrat Dr. Hartmann aus Leipzig. Er kehrte als Sterben-
der heim und wurde wenige Wochen nach seiner Rückkehr zur letzten
Ruhe geleitet. — Auch an dieser Stelle sei der Dank ausgesprochen, den
die deutsche Bewegung gegen den Alkoholismus dem hervorragenden
Mitstreiter und unsere Zeitung ihrem langjährigen Mitarbeiter schulden.
II.
Im Anschluß an den Internationalen Kongreß haben etwa 20 Teil-
nehmer eine Studienreise durch Finnland unternommen, bei deren
Vorbereitung sie den liebenswürdigen Rat und die freundliche Hilfe des
Herrn Ministers Liakka, des Chefs des finnländischen Sozial-
ministeriums, dankbar in Anspruch genommen haben. Die Hälfte der
Teilnehmer beschränkte ihre Reise auf das südliche Finnland (bis
Kuopio), während die übrigen, zu denen auch der Berichterstatter zählte,
die Fahrt über den Polarkreis hinaus (bis zum Vikasee) ausdehnten.
Die von uns gemachten Beobachtungen waren für uns um so wert
voller, als gerade in letzter Zeit die deutsche (und vermutlich auch ein
großer Teil der übrigen europäischen) Tagespresse von einem sehr
abfälligen Urteil der finnländischen Parlamentskommission zur Prüfung
der Wirkungen des Alkoholverbots berichten zu können glaubte und
das Verbot in Finnland als völligen Fehlschlag bezeichnete.
Was man freilich auf dem Dorpater Kongreß von so sach-
kundigen Persönlichkeiten wie dem Minister Liakka, dem Professor
Voionmaa (Mitgliedern der finnländischen Parlamentskommission
zur Prüfung der Wirkungen des Alkoholverbots) und dem be-
kannten Helsingforser Physiologen Professor Laitinen über das
Verbot zu hören bekommen hatte, lautete wesentlich anders.
Ganz gewiß wurde nicht in Abrede gestellt, daß infolge des
Schmuggels der letzten Jahre der Alkoholgenuß zugenommen
hat. Es wurde aber andererseits betont, daß sich die finn-
ländische Parlamentskommission keineswegs in ihren Feststellungen
einig sei. Eine ganze Reihe von Erscheinungen sind durchaus nicht
eindeutig zu beurteilen. Wenn nach dem Kriege bestimmte Gattungen
von Vergehen und Verbrechen besonders grell zutage traten, so ist
vor allem die Tatsache zu berücksichtigen, daß Finnland, ganz ähnlich
wie Deutschland, ungeheuer unter den Auswirkungen des Krieges und
der furchtbaren Revolutionswirren gelitten hat. Krieg und Revolutions-
kämpfe haben die Achtung vor dem Menschenleben in den meisten
Ländern stark vermindert und die Neigung zu Roheitsvergehen ver-
stärkt, ganz besonders natürlicherweise dort, wo die Revolution die
blutigsten Formen annahm. Es ist zu verwundern, daß Finnland die
Schreckenszeit und ihre Wirkungen so rasch überwunden hat, und
Kraut, Vom 18. Internationalen Kongreß gegen den Alkoholismus in Dorpat. 159
es fehlt nicht an Stimmen, die diese Tatsache als eine Folge des
1919 eingeführten Alkoholverbots bezeichnen. Die vielfach erhobene
Behauptung, daß heute in Finnland mehr getrunken werde als vor
dem Verbot, läßt sich selbstverständlich nicht beweisen. Wo das Ver-
bot gesetzlich besteht, ist eine Statistik nur über den Alkohol-
verbrauch durchführbar, der als Ausnahmefall (für medizinische und
rituelle Zwecke) zugelassen ist. Der ungesetzliche Alkoholgenuß ent-
zieht sich so gut wie jeder Statistik. Zwar gibt die Beschlagnahme ge-
schmuggelter Alkoholmengen und die polizeiliche Feststellung von
Geheimbrennereien gewisse Anhaltspunkte, aber niemals ist auch nur
mit annähernder Sicherheit festzustellen, wieviel Schmuggelware und
wie große im Geheimen hergestellte Alkoholmengen unbemerkt zum
Genuß gelangt sind. Es liegt in der Natur der Sache, daß die Gegner
des Verbots diese Mengen als sehr beträchtlich bezeichnen, die Freunde
des Verbots die Sachlage anders beurteilen.
Eine auch von den Gegnern des Verbots zugegebene Tatsache aber
ist, daß durch bestimmte Verschärfungen des Gesetzes, insbesondere
das tatkräftige Vorgehen gegen Aerzte, die unerlaubterweise den Genuß
alkoholischer Getränke vermittelt haben, ferner durch internationale
Vereinbarungen, die sich gegen den Schmuggel richten, das Verbots-
gesetz wesentlich wirksamer geworden ist. Nach wie vor stehen zweifel-
los die Mehrzahl des finnländischen Volkes und drei Viertel der Parla-
mentsmitglieder zum Verbot. Geschlossen treten für das Verbot ein:
die Bauernpartei, die Sozialdemokraten und die Kommunisten, während
ein Teil der bürgerlichen Parteien das Verbot bekämpft. .
Prof. Laitinen hob im Laufe der Kongreßverhandlungen hervor,
daß nur 15 Prozent der finnländischen Bevölkerung in der Stadt leben,
und diese hauptsächlich den bessergestellten, verbotsfeindlichen Klassen
angehören; auf dem Lande und vor allem in den unteren Schichten
der Bevölkerung sei der Segen des Verbots deutlich zu spüren; es
werde geradezu als Arbeiterschutzgesetz empfunden.
Was auf dem Kongreß in Dorpat berichtet wurde, haben wir auf
unserer Studienfahrt im wesentlichen bestätigt gefunden. Wir haben
uns davon überzeugt, daß die Zeitungsnotizen, die von einer unge-
heueren Verbreitung der Trunksucht in Finnland, von einer „zunehmen-
den Roheit der Trinksitten“ und dergleichen mehr melden, mit den
Tatsachen in Widerspruch stehen. Wohl haben wir vor den Schären
der finnländischen Küste Schiffe beobachtet, die uns als Schmuggler-
Schiffe bezeichnet wurden; wohl ist uns von glaubwürdiger Seite ver-
sichert worden, daß auch auf den Binnengewässern Schmugglerschiffe
anzutreffen seien; wir sind auch überzeugt, daß in den Städten und
ganz besonders in Helsingfors, der Hauptstadt, viel im geheimen ge-
trunken wird, doch ist es unseren Führern in Helsingfors nicht ganz
leicht gewesen, uns solche Schankstätten nachzuweisen, in denen
zweifellos der mit den Verhältnissen Vertraute geistige Getränke wird
bekommen können. Auffallend war uns, daß man nirgends auf
den Straßen und auch in den Wirtschaften, die wir besuchten,
160 Abhandlungen.
Spuren des Alkoholgenusses wahrzunehmen vermochte. Wir sind in
Hafenkneipen gewesen, die bekanntlich in den Hafenstädten der meisten
Länder für den Nüchternen keine angenehmen, mitunter sogar ge-
fährliche Aufenthaltsstätten sind. Wir haben in diesen Wirtschaften
sowie in den von der einfachen Bevölkerung zahlreich besuchten
Konzert-Cafes keinen auch nur Angetrunkenen feststellen können.
Ueberall ging es ruhig, sauber und ordentlich zu. Wir haben uns abends
zur Zeit der Promenadenkonzerte in Helsingfors durch die dichten
Menschenmengen gedrängt, wir haben keinen Betrunkenen fesehen,
keine Rüpelszene, wie sie in anderen Großstädten bei ähnlichen Ge-
legenheiten nicht selten sind, sondern den allerbesten Eindruck von der
großstädtischen Bevölkerung erhalten. Wir sind von Helsingfors nach
Wiborg gereist, haben von dort das ganze Seengebiet durchquert,
sind über Kuopio und Kajani nach Uleäborg gekommen. Von dort sind
wir nach Tornio und Haparanda gereist und noch weiter nach Norden
bis über Rovaniemi, die nördlichste finnländische Bahnstation, hinaus.
Wir haben auf unserer ganzen Reise drei Personen beobachtet, die von
einigen von uns für Betrunkene gehalten wurden. Eine dieser Personen
trafen wir auf der Brücke nach Haparanda. Es bleibt also‘ zweifelhaft,
ob dieser Mann auf finnisches oder schwedisches Konto zu setzen ist.
Ich selbst habe in Tornio fast eineinhalb Stunden in einer Apotheke
gesessen und den Betrieb beobachtet, habe wahrgenommen, wie eim
altes Zigeunerweib in dieser Zeit dreimal den Versuch machte, Brantt-
wein oder Wein zu kaufen, aber nichts von alledem bekam. Wir haben
in Dörfern und auf einsamen Gehöften die Bewohner aufgesucht und
uns überall über die Nüchternheit der Bevölkerung und die auffallende
Sauberkeit ihrer Behausungen gewundert, wie wir überhaupt über das
ruhige und liebenswürdige Verhalten der Finnländer voll der An-
erkennung sind.
Wir haben im Seengebiet inmitten einheimischer Ausflüglerscharen
eine sonntägliche Wasserfahrt gemacht und uns daran erinnert, wie
solche Wasserfahrten beispielsweise in Deutschland zu verlaufen
pflegen. Wir mußten insbesondere auch an eine ähnliche Fahrt denken,
die wir acht Tage früher in Estland über den Embach nach dem Paipus-
see unternommen hatten, eine Fahrt, auf der wir wüste Trunkenheits-
szenen zu beobachten Gelegenheit hatten. Hier auf den finnischen
Seen war nichts dergleichen wahrzunehmen. Wir sind uns dessen wohl
bewußt, daß auch bei solchen Gelegenheiten unter Umständen von
einzelnen mitgebrachte geistige Getränke genossen werden mögen, und
müssen die Versicherung eines Kapitäns, daß er auf seinem Dampfer
keinen Alkoholgenuß dulde, in diesem Sinne deuten. Auch der gedruckte
Anschlag in den Speisewagen der finnländischen Eisenbahn, der den
Genuß geistiger Getränke ausdrücklich untersagt, läßt auf versuchte
Gesetzesübertretungen schließen. Aber selbst wenn wir von einen!
merkwürdigen Zufall begünstigt gewesen sein sollten, und andere
gelegentlich weniger Erfreuliches beobachtet haben mögen, so müssen
unter allen Umständen jene Notizen deutscher Blätter, die von einer
Kraut, Vom 18. Internationalen Kongreß gegen den Alkoholismus in Dorpat. 161
Verrohung der Trinksitten und dergleichen mehr melden, auf das ent-
schiedenste zurückgewiesen werden.
Auf der zweitägigen Seefahrt, die uns von Helsingfors nach Stettin
zurückführte, hatten wir Gelegenheit, zahlreiche andere deutsche
Finnlandbesucher zu sprechen und sie über ihre Eindrücke, namentlich _
mit Rücksicht auf den Alkoholgenuß, zu befragen. Unter diesen Fahr-
gästen, die in der Mehrzahl keine Alkoholgegner waren, hatte kaum
ein einziger etwas wesentlich Nachteiliges beobachten können. Alle
rühmten die auffallende Nüchternheit der finnländischen Bevölkerung
und sprachen ihr lebhaftes Bedauern darüber aus, daß der Ausländer
von Deutschland einen ganz anderen Eindruck empfangen müsse. Sie
waren mit uns darin einig, daß die Sauberkeit, die Ordnung, der Wohl-
stand (Finnland hat eine aktive Handelsbilanz!), die auch sie beobachtet
hatten, mindestens zu einem guten Teil als Wirkungen des Alkohol-
verbots anzusprechen seien.
R. Kraut.
Der alkoholisierte Mensch.)
Ueberblick über den derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse
von der Alkoholeinwirkung auf den menschlichen Körper.
Von Stadtarzt Dr. Reinheimer, Frankfurt a. M.
Die gesundheitliche Seite der Alkoholirage ist entgegen allgemeiner
Meinung nur ein kleiner Ausschnitt aus einem Gebiet, das in erster Linie
volkswirtschaftlicher und bevölkerungspolitischer Natur ist. Die schweren
gesundheitlichen Schädigungen, die auch dem Laien auffallen, sind: vielfach
erst Spätfolgen. Längst sind schwere soziale Schäden für die Familie und
die Allgemeinheit durch den Trunksüchtigen erzeugt worden, bevor der ge-
sundheitliche Untergang eintrat. Zudem sind schwere und dauernde, d. h.
chronische durch Alkoholmißbrauch sicher verursachte körperliche Krank-
heitszustäinde um vieles seltener als man bei der allgemeinen Verbreitung des
Genußmittels Alkohol, wenigstens bei der älteren Generation — bei der
Jugend ist ja eine erfreuliche Aenderung schon eingetreten — vermuten sollte,
viel seltener auch als man in Erinnerung an die früher so häufig vorge-
zeigten abschreckenden Darstellungen von Trinkerorganen glauben möchte.
Weitaushäufigerund wesentlichersinddievomAlkohol
erzeugten Veränderungen der Psyche, besonders der
Intelligenz.
Wenn es erst durch die Trunksucht zu einer Se Schrumpf-
leber und dergleichen gekommen ist, dann kommt jede Hilfe zu spät. Genau
wie bei der Bekämplung der ansteckenden Krankheiten, etwa der Lungen-
schwindsucht, der Ansteckung vorgebeugt oder nach bereits erfolgter An-
steckung unverzüglich mit Abwehrmaßnahmen eingegriffen werden muß, so
kann eine wirksame Tronieuchiibekimpiung nicht warten, bis die zu Be-
treuenden dem Untergang verfallen sind, sie muß mindestens einsetzen, ehe
schwere Gesundheitsstörungen Platz gegriffen haben.
‚ Damit ist gleichzeitig zum Ausdruck gebracht, daß nicht erst die trau-
rigen Endzustände der chronischen Alkoholvergiftung, sondern bereits die
Vorstufen die Aufmerksamkeit aller wahrhaften Menschenfreunde verdienen.
Leider sind diese Vorstufen der chronischen Alkoholvergiftung nach keiner
Seite hin fest abgrenzbar. FlieBende Uebergänge bestehen namentlich auch
nn
1) Der Aufsatz ist den Frankfurter Wohlfahrtsblättern (Jg. 1926, Nr. 5) entnommen.
Die Alkoholfrage, 1926 11
162 Abhandlungen.
zu anderen das Leben bedrohenden und das Lebensglück zerstörenden
Krankheiten, die erfahrungsgemäß mit Vorliebe bei bestehendem Alkohol-
mißbrauch erworben werden, wie die Syphilis, Nikotinvergiftung, Gicht,
Zuckerkrankheit, Lungenentzündung und viele andere mehr. |
Um zu verstehen, inwiefern die fortwährende Alkoholzufuhr den Boden
für alle diese Krankheiten vorzubereiten vermag, und inwiefern eine meh:
oder minder chronische Alkoholisierung des menschlichen Organismus für
sich eine Krankheit darstellt, sei der Einfluß des Alkohols auf den Stoff-
wechsel, auf die inneren Bunte und auf das Gehirn einer
kritisch auswählenden, jedoch keinesfalls erschöpfenden Betrachtung unter-
zogen. |
Zum Stoffwechsel gehört der Nahrungsumsatz, die Verdauung, der
Wärme- und Wasserhaushalt, der Stoffwechsel der Muskulatur. Vorweg die |
Frage, ob der Alkohol ein Nährstoff ist. Daß dem Alkohol, der ım Körper
fast vollständig zu Kohlensäure und Wasser verbrannt wird, ein bedeutender
theoretischer Nährwert zukommt, ist an sich zu bejahen, aber deshalb
ist der Alkohol genau so wenig, wie etwa giftige Pilze, die auch einen ge-
wissen Nährwert durch ihren Eiweißgehalt besitzen, ein Nahrungsmittel.
Die Giftwirkung des Alkohols ist allerdings nicht so schnell wie bei den
Giftpilzen zu erkennen, aber kann dies seine Empfehlung als Nährmittel oder
vielleicht gar als Kräftigungsmittel rechtfertigen? Selbst seine arzneiliche
Anwendung als Notnährmittel auf Grund ärztlicher Verordnung ist durchaus
umstritten.
Trotz theoretisch restloser Verbrennbarkeit des Alkohols im Körper
haben sehr gründliche Versuche des Wiener Physiologen D ur ig bewiesen,
daß auch kleinere zu keiner Berauschung führende Alkoholgaben bedeutend
Einschränkungen der auf Grund der Errechnung zu erwartenden Energit-
verwertung zur Folge haben.
Auch ohne wissenschaftliche Versuche hat die Erfahrung des sportlichen
Trainings schon längst dargetan, daß Dauerhöchstleistungen nur bei völliger
Nüchternheit zu erreichen sind — eigentümlich ist nur, daß die naheliegen-
den Schlußfolgerungen aus diesen Eriahrungen noch nicht volkstümlicher
geworden ad Als ein die Sachlage treffend kennzeichnendes Gegenbeispiel
sei an die auffällig geringe Nahrungsaufnahme der ausgesprochenen Trinker
erinnert. Sie scheint auf's deutlichste zu beweisen, daß der Alkoholgenuß
die Nahrungszufuhr ersetzen kann. Aber der auffällige Kräfterückgang, Ja
Kräfteverfall, der Trinker zeigt nach geraumer Zeit doch an, nicht nur da)
die Giftwirkung sich bemerkbar macht, sondern daß der so gerühmten
Ersatznahrung Alkohol ein lebenswichtiger, zur Erhaltung der Körperkrait
unentbehrlicher Baustein, nämlich das Eiweiß, fehlt.
Die wärmende Wirkung, die dem Alkohol zugeschrieben wird, beruht
teils auf einer örtlichen Reizung der Schleimhäute, sofern der Gehalt an
Alkohol genügend hoch ist, teils an einer lähmungsartigen Erweiterung der
Hautgefäße. Größere Alkoholmengen bringen durch diese allgemeine Er-
weiterung der Gefäße die Körpertemperatur zum Sinken, welcher Umstand
es gut erklärt, warum gerade Berauschte so leicht den Erfrierungstod finden.
Also genau die gegenteilige Wirkung, die eine seit Jahrhunderten eingewurzelie
Volksmeinung dem Alkohol beimißt. Es ist nur ein einziges Glied ein
Ben Kette von alkoholischen Selbsttäuschungen, die auf falschen Selbst-
bachtungen beruhen.
Wie wirkt der Alkohol auf die Verdauungsorgane ein? Einiger-
maßen steht fest, daß der Alkohol die Magendrüsen zur Absonderung anregt,
während über die verdauungsbefördernden oder hemmenden Einflüsse keine
gesicherten Forschungsergebnisse vorliegen. Für den chronischen Magen-
katarrh (sog. Säuferkatarrh), der auf Biermassengenuß und die dadurch
verursachte Kältereizung und Wasserwirkung zurückgeführt wird, steht der
ursächliche Zusammenhang zwischen Krankheitsentstehung und Alkoholgenuß
noch nicht sicher fest. Aus dem gleichen Grunde seien der chronische Rachen-
ne u 9 ade - u Ram 084
Reinheimer, Der alkoholisierte Mensch. 163
katarrh und der chronische Luftröhrenkatarrh nur beiläufig erwähnt; auch
hier spielen anderweite Umstände, z. B. der Einfluß des Tabakrauches und
-Saftes mindestens als Hilfsursache eine bedeutsame Rolle.
Dagegen kann der ursächliche Zusammenhang zwischen der Schrumpf-
leber (Leberzirrhose) und dem Alkoholmißbrauch als gesicherte Tatsache
gelten. Nicht jede Leberschrumpfung braucht allerdings durch Alkohol ver-
vrsacht zu sein, da auch andere Krankheiten, z. B. Syphilis, die Leber zum
Schrumpfen bringen können. Nach den amtlichen Feststellungen der New
Yorker Gesundheitsbehörde (Bogusat: „Das Alkoholverbot ın Amerika“,
Seite 15, Berlin 1924) sind die Sterbefälle an LD rumpung im Jahre 1921
um 53,1 Prozent zurückgegangen BRD. dem Durchschnitt der Lar
1913—1917, d. h. der Zeit vor der Einführung des Alkoholverbotes. Nach
Fleischer (internationale Zeitschrift zur Erforschung des Alkohols, Nr. 5,
Seite 285, 1925) wiesen von den in einem Dresdener Krankenhause sezierten
Leichen eine Schrumpfleber auf: |
1910—1913 . . . . 234 Prozent
1918. . 2 22.20.07 2
1920 . 2 2 2 2 2.08 M
193. 2 2 2 2 . . 20 =
Nicht immer wird bei der Sektion notorischer Säufer eine ausgesprochene
Schrumpfleber gefunden. Häufig läßt sich erst unter dem Mikroskop die für
die beginnende Schrumpfung kennzeichnende Veränderung des Lebergewebes
erkennen. Bei den meisten Alkoholisten deckt die Sektion das Vorliegen einer
Fettleber mit oder ohne SOLIDE NSSDERÄNgE auf.
Neben der Leberzirrhose werden mung en eınungen
der Bauchspeicheldrüse mitoderohne Zuckerkrankheit
(je nachdem ob die für den Zuckerstoffwechsel unentbehrliche Langerhans-
schen Zellinseln in der Bauchspeicheldrüse geschädigt wurden) dem chro-
nıschen Mißbrauch berauschender Getränke zur Last gelegt. Ob mit Recht
oder Unrecht, ist noch nicht sicher entschieden.
Ein ähnlicher, zwar sehr wahrscheinlicher, aber ebenfalls noch nicht
völlig sichergestellter ursächlicher Zusammenhang besteht zwischen der
Schrumpfniere und dem Alkoholismus. Unsere Kenntnisse der ver-
schiedenen Formen der Schrumpfniere, ihre Beziehungen zur Aderverkal-
kung der großen oder kleinen Nierenschlagadern, zur
Blutdrucksteigerung sind zwar in den letzten Jahren stark vertieft
und erweitert worden. Trotzdem sei ofien zugestanden, daß über den Anteil
des Alkohols und der übermäßigen Flüssigkeitszufuhr der Biertrinker an
der Entstehung der verschiedenen Schrumpfnierenarten keine Uebereinstim-
mung besteht. Jedenfalls aber gibt die Statistik der an. Nierenerkrankungen
(Wlassak, Handbuch der Hygiene von Rubner, Gruber, Ficker, Abs. „Alkoho-
lismus“, 1923, Seite 151) einen deutlichen Hinweis: Wenn die Mortalität an
Nierenerkrankungen bei allen Erwachsenen gleich 100 gesetzt wird, so betrug
sie für die Brauer 123, für die Wirte und ihre Angetllen 243.
Auch für die dem Alkoholmißbrauch zugeschriebenen Herzverände-
rungen, Herzvergrößerung, Herzmuskelentartung, Fettdurchwachsung der
Herzmuskulatur, Verhärtung und Verkalkung der Kranzschlagadern dürfte
bisher ein bündiger Beweis der alkoholischen Entstehung noch nicht ge-
liefert sein. Aber es ist im höchsten Maße wahrscheinlich, daß der über-
mäßige Biergenuß eine Herzerweiterung oder ENTE STUNG: das so-
genannte Münchener Bierherz, erzeugen kann, wobei nach B. Fischer
der schädliche Faktor nicht so sehr ım Alkohol selbst als in den über-
mäßigen Flüssigkeitsmengen gesucht werden kann. Die gesunde Natur in
uns würde sich aufbäumen, wenn wir versuchten, an einem Tage 10 Liter
Wasser zu trinken. Ohne Mühe jedoch vertilgt der Gewohnheitstrinker an
einem Tage 10 Liter Bier! Wie ist das möglich? Eben nur, weil der Genuß
des Bieres zur weiteren Zufuhr reizt, den Durst nicht löscht, sondern ver-
mehrt. Der arme Körper muß das im Uebermaß aufgenommene Waser zur
11*
164 Abhandlungen.
Ausscheidung bringen. Der Weg geht über das Blut. Das Blut wird verdünnt.
die Blutmenge wird steigen, der Blutdruck — abhängig von der Elastizität
der Gefäße — sich erhöhen, die Herzarbeit also sieh in zweifacher Hinsicht
vermehren müssen. Der Enderfolg ist eine Vergrößerung des Herzens, Zu-
nahme seiner Muskulatur, Erweiterung seiner Hohlräume. Damit geht Hani
in Hand eine ungewöhnliche Beanspruchung des Ausscheidungsorgans, der
Nieren (Schrumptniere!) und der Schlagadern, die, vorzeitig abgenutzt, ihr:
Elastizität verlieren und hart und brüchig werden. Nach der Statistik der
Leipziger Ortskrankenkasse (zitiert von Wlassak, a. a. O. Seite 150) beträgt die
Sterblichkeit der Brauer im Alter von 35—54 Jahren an Krankheiten der
Kreislauforgane 420,8 Prozent des Durchschnittes der männlichen Pflicht-
mitglieder gleichen Alters! Eine viermal höhere Sterblichkeit der Brauer
an Kreislaufkrankheiten muß in der Tat den Schluß, daß hier der Alkohol
eine verderbliche Rolle spielen muß, sehr nahe legen!
Nach den bisher mitgeteilten, wirklich wissenschaftlich sichergestellten
und auch von den Nüchternheitsgegnern nicht bestreitbaren Tatsachen könnt:
man geneigt sein zu glauben, daß nur der fortwährende, also chronische
und unse Genuß berauschender Getränke solche Verheerungen an lebens-
wichtigen Organen bewerkstellige. Es sei zugegeben, daß mit unseren
heutigen Untersuchungsrüstzeug trotz feinster S(Oirwechselverzuche es mit
Sicherheit noch nicht gelungen ist, an den inneren Organen durch kleine
Alkoholgaben deutliche krankhafte Gewebsveränderungen nachzuweisen.
Tatsächlich aber werden unser Gehirn und unser Be
wegungsapparat,unsere Muskulatur,auch durchklein:
ja winzige Alkoholgaben merklich beeinflußt. Wenn a»
schon ganz geringe Alkoholgaben meßbare Störungen am Nerver-
system hervorzurufen imstande sind, so ist es nur zu begreiflich, &
fortgesetzte Unmäßigkeit im Alkoholgenuß stufenweise schwere und schwatt
Veränderungen an dem so besonders empfindlichen Nervensystem erzeugt!
muß. Das Gehirn und die Nerven werden durch den Alkohol narkoltisiei.
d. h. betäubt. Die Anfänge dieser Lähmung, die bei oberflächlicher Be
trachtung z. T. nicht als Lähmung oder ‚Betäubung, sondern als Erregung
sich offenbaren können, sind nur mit feinsten psychologischen Prüfmethoden
feststellbar. Sie sind trotzdem leicht verständlich als Vorstufe zu jenem be-
kannten schweren Narkosezustand, den man Rausch oder Trunkenheit nennt.
Das feinste Zusammenspiel unserer Muskulatur (die Koordination) ist
im wesentlichsten eine Leistung unserer Großhirnrindee Man kann Z.
die Zeit zwischen dem von außen zugeführten Reiz, etwa einem Lichtsignal.
und der Ausführung einer gewollten bestimmten Bewegung messen. Man
kann die Sicherheit des Nadeleinfädelns, die Trefisicherheit beim Schießen
prüfen: übereinstimmend rufen wenige Kubikzentimeter Alkohol eine merk-
liche Leistungsverschlechterung hervor. Die völlig unsicheren, gewollten oder
en Bewegungen, der schwankende Gang des stark Berau
stellen nur eine hundertfache Vergrößerung dieser eben geschilderten —
anscheinend harmlosen — Störungen dar, die immer dann gefährlich werden
können, wenn von der Präzision und Genauigkeit der Tätigkeit etwa der eme
Lokomotivführers oder Kraftwagenlenkers die Sicherheit vieler Menschenleben
abhängt. Die mangelhafte Zusammenarbeit der Muskeln, das Fehlen der zwecs:
mäßigen Kraftverteilung, erklären z. T. die auffallende Tatsache, warum bei
größeren Alkoholgaben die reine Muskelarbeit trotz des subjektiven
efühles der Erleichterung der Arbeit sich meßbar verschlechtert. Uebrigens
ein weiteres Beispiel von alkoholischer Selbsttäuschung. Die Sportleute wisse!
es längst, daß man Dauerhöchstleistungen nur bei Enthaltsamkeit vollbringe!
kann, und daß auch die systematische ernste Vorbereitung dazu, das Tramng,
die Entsagung auf alle Rauschgetränke erheischt. RE
DieSinnesempfindlichkeit für Licht und Farbe ist nach überein
stimmenden Angaben der Untersucher von 10 auf 40 Gramm Alkoholzufuhr
zwar gesteigert, aber die Unterscheidungsfähigkeit leidet und die Neigung ZU
-
Reinheimer, Der alkoholisierte Mensch. 165
Trugwahrnehmungen, zu_illusionären Gesichts- und Gehörerscheinungen,
scheint erhöht zu sein. Die Auffassungsfähigkeit z. B. für kurz
vorgezeigte Bilder ist nach Alkoholeinnahme herabgesetzt. Nicht minder wird
die Merkfähigkeit, d. h. das Einprägungsvermögen für Sinnesreize
und ihre Wiedergabe, durch die Narkosewirkung selbst kleiner Alkoholmengen
auf das Gehirn beeinträtigt.
Die Vorstellungsverbindungen, die Assoziationen scheinen nach
zahlreichen, zum Teil sich widersprechenden Versuchsergebnissen zunächst
— und besonders für Klangassoziationen — erleichtert vor sich zu gehen.
Dagegen dürfte die reine Verstandestätigkeit, gemessen an der Zahl
richtig gelöster Rechenauigaben, mindestens bei der Mehrzahl aller Menschen
bereits durch kleine Alkoholgaben merklich in Mitleidenschaft gezogen
werden. Alle diese psychiatrisch-psychologischen Erkenntnisse stehen in
sichtlichem Widerspruch zu den angeblich auf Selbstbeobachtung beruhenden
Angaben der Alkoholfreunde über eine durch den Alkohol bewirkte „Er-
leichterung“ der geistigen (und körperlichen) Arbeit. Auch hier wieder ein
weiteres Beispiel einer groben Selbsttäuschung, hervorgerufen durch eine
gewisse ebenfalls als teilweise Gehirnnarkose aufzufassende Urteilsschwäche,
durch eine auffällige Verkennung der eigenen Leistungsfähigkeit, durch eine
Verringerung der Selbstkritik. Klar erkennbar nur die Vorstufen der rausch-
artigen ITrunkenheit mit ihrer tiefgehenden Urteilsschwäche und mit völligem
Fehlen einer regulierenden Selbstkritik. Die stärkere einmalige
Alkoholisierungdes Gehirns äußert sich ul durch eine erhöhte
Erregbarkeit. Auch diese Erregbarkeitssteigerung ist nichts anderes als eine
Narkose, eine Lähmungserscheinung.
Gelähmt sind die sogenannten Hemmungen; die Schranken,
die durch Takt, Gesittung, Rücksicht auf den Nebenmenschen gesetzt sind,
sınd gefallen. „Der Alkohol löst die Zunge.“ Die Gefühlsäußerungen werden
lebhafter, unmittelbarer, hemmungsloser. Die sonst in der Tiefe schlummern-
den Triebe werden übermächtig; die Stimmung, meist zuerst gehoben, oft
rührselig und überschwenglich: leicht kommt es jetzt zum stürmischen Um-
schlag, zu Wutausbrüchen und Aehnlichem.
Ganz unmerklich sind die Uebergänge von solchen Trunkenheits-
zuständen zur chronischen Trunksucht. Allmählich stellen
sich schwere Charakterveränderungen ein. Die Alkoholwirkung
kann bei der fortwährenden Zufuhr gar nicht mehr zum Abklingen kommen
und zu der Alkoholgewöhnung, die immer größere Mengen Alkohols zu der
Erreichung der vom Trinker angestrebten rosigen Stimmung erfordert, tritt
hinzu die Häufung der übrigen krankhaften Erscheinungen. Die dauernd in
Wegfall gekommenen Hemmungen haben an Stelle von sozialer Verantwort-
lichkeit und Nächstenliebe krasseste Selbstsucht, an Stelle von Taktgefühl,
Sitte und Erziehung erschreckende Rücksichtslosigkeit und Gefühlsroheit ent-
stehen lassen. Das ganze Sinnen und Trachten des Trinkers ist auf die
Beschaffung des Alkohols gerichtet. Längst ist dabei das Familienleben
zerrüttet worden, die beruflichen Pflichten wurden auch schon lange ver-
nachlässigt, die produktive Arbeit nahm immer mehr ab. Die geistigen Fähig-
keiten haben schwer gelitten, immer tiefer sinkt der Süchtige herab — selten
werden in diesem Zustand neben den tiefgehenden und teilweise bleibenden
en Veränderungen nunmehr auch die Zeichen körperlichen Verfalls
und die körperlichen Merkmale der chronischen Alkoholvergiftung, wie Ent-
zündung der Nervenstränge, Zittern, Erweiterung der feinen Hautgefäße an
der Nase, im Rachen und ähnliches vermißt. Noch jetzt ist durch entsprechende
ärztliche Maßnahme, d. h. durch eine langwierige Entziehungskur, eine
eilung dann möglich, wenn der ehemalige Trinker nach der Kur nicht etwa
mäßig wird — selbst die schlimmsten Trinker behaupten nur sehr mäßig
zu trinken — nein, völlig enthaltsam lebt. Wie aber sähe es mit der Trinker-
rettung aus, wenn es keine willensstarken Menschenfreunde gäbe, die ihren
alkoholkranken, bedauernswerten Mitbrüdern und Mitschwestern zuliebe auf
den Genuß von Rauschgetränken freiwillig und uneigennützig verzichten?
166 Abhandlungen.
Leider waren bisher sehr viele Trinker nicht mehr zu retten. Wie isi
ihr Schicksal, wenn sie nicht an Alkoholentartung innerer Organe, etwa einer
Leberschrumpfung, zugrunde gehen? Die Charakterveränderungen führen
schließlich zu einer Art von unheilbarem Schwachsinn. Manchmal stellen
sich überdies Erregungszustände ein, von denen eine — allerdings die
häufigste — Abart, das Delirium tremens, der Säuferwahnsinn im engeren
Sinne, auch weiteren Kreisen bekannt geworden ist. Hier treten bei starker,
oft ängstlicher Unruhe oder gehobener, humorvoller Stimmung aus-
gesprochene Gesichts-, Gehörs- und Gefühlstäuschungen auf. Der Eifersuchts-
wahn, Gedächtnis- und Merkfähigkeitsverlust, vom Gehirn ausgehende epilep-
tische Krämpfe und Lähmungen, die sogenannte Alkoholparalyse, beherrschen
bisweilen für sich das Krankheitsbild, so daß es möglich ist, die schweren
alkoholischen Gehirnzerstörungen nach ihrem vorherrschenden Einzelmerkma
in Unterarten zu unterscheiden. Außerordentlich schlimm kann sich der
Alkoholgebrauch und erst recht Alkoholmißbrauch auswirken, wen
das Gehirn schon vorher krank oder krankhaft veranlagt war. Namentlich
die Leichtschwachsinnigen und die mit faliender Krankheit (Epilepsie) be-
hafteten Personen sind in hohem Maße gefährdet. Auch ein Einzelrausch,
ja selbst so geringe Alkoholmengen wie in einem Glas Bier enthalten sind,
önnen bei einem krankhaft veränderten Gehirn die auslösende Ursache für
schwere, mehr oder weniger rasch vorübergehende Geistesstörungen abgeben.
Die sogenannten Quartalssäufer, die Dipsomanen, mit ihren anfallswetse
auftretenden Trinkausschreitungen besitzen zum Teil ein solch überempfind-
liches Gehirn.
Die größtenteils sicher erwiesenen Zusammenhänge zwischen Alkohol
vergiftung und Erbmasse, der alkoholische Kleinwuchs, die Schwachsin-
entstehung, die EPUCDE ZUBE bei den Abkömmlingen alkoholvergikker
Erzeuger, die mangelhafte Stillfähigkeit der Alkoholikertöchter sind gewist-
maßen nur mittelbare, wenn auch sozial sehr bedeutungsvolle Alkohð-
schädigungen, beleuchten greli den unmittelbar schädigenden und selbst zer-
störenden Einfluß des Alkohols auf die Keimdrüsen beider Geschlechter. _
So erschreckend auch die Störungen und Zerstörungen sein mögen, die
der Teufel Alkohol im menschlichen Körper hervorzubringen vermag, so sehr
die körperlichen Alkoholschäden einem weiteren Kreise bekannt zu werden
verdienten — im Vordergrund müssen für die Wohlfahrtspflege die rein
wirtschaftlichen Mißstände stehen. Unentbehrlich ist die Mitarbeit der Heil-
ärzte und Fürsorgeärzte bei den sozialen Trunksuchtsbekämpfungsmaßnahmen
aber dennoch, und man muß dringend wünschen, daß diese Zusammenarbeit
vielerorts stärker ausgebaut werden möge. Die soziale vereinsmäßige oder
öffentliche „Trinker“-Fürsorge muß mit ihrer wirtschaftlichen und erziebe
rischen Hilfe einsetzen, bevor die geschilderten groben gesundheitlichen
Dauerschäden h ei l ärztliche Maßnahmen unumgänglich nötig gemacht haben.
Frühzeitigste fürsorgeärztliche Mitwirkung tut not, damit Heil-
behandlung erspart werden kann. Nicht die schon dem Laster Verfallenen.
vielmehr bereits die Gefährdeten zu retten, muß das ernste Ziel jeder plan-
wirtschaftlichen Giftsuchtsfürsorge sein oder werden.
Die Einbeziehung
einer planmäßigen Bekämpfung des Alkoholismus
in die Wohlfahrtsgesetzgebung.
Von Studienrat Merbitz- Dresden.
Die Verhandlungen über das Gemeindebestimmungsrecht im deutschen
Reichstag haben trotz der verschiedenen Einstellung der Redner zu diesem
Rechte selbst doch gezeigt, daß sich kein Denkender mehr der Erkenntnis ver
schließen kann, daß der Alkoholismus eine Schädigung unseres Volkes IS}
gegen die wir ankämpfen müssen. Wie alle Lebensgebiete, Sittlichkeit, Gesund- |
Merbitz, Die Einbezieh. ein. planm. Bekämpf. d. Alkoh. i. d. Wohlfahrtsgesetzgeb. 167
heit und Wirtschaft des Einzelnen und der Gesamtheit unter diesem Volks-
feinde leiden, muß den Lesern unserer Zeitschrift nicht erst im Einzelnen
re FN werden. Seit langem haben sich daher ja sozial denkende
Männer und Frauen freiwillig in den Kampi hineingeworfen, um unserm
Volke aus dieser Not zu helfen, und manch schönen Erfolg haben sie errungen.
Aber bei dieser Arbeit ist ihnen auch immer klarer geworden, wie der
Alkoholismus nicht allein der Schädling ist. Neben ihm nagen all die andern
sozialen Nöte an unseres Volkes Mark: Geschlechtskrankheiten, Tuberkulose,
körperliche und geistige a 7 Wohnungsnot, Erwerbslosigkeit,
Jugendnot und eng u. v. a. nd sie sind alle unter einander
verknüpft, besonders aber finden wir den Alkoholismus als Begleiter, Er-
schwerer, ja Verursacher all der Nöte. Schon aus diesem Grunde wird ihn
die öffentliche Wohlfahrtspflege mit in ihr Arbeitsgebiet einbeziehen müssen.
Praktisch tut sie es ja bereits meistens, aber vielfach fehlen ihr noch die
gesetzlichen Grundlagen und damit die rechte Kraft dazu. Die Wohlfahrts-
pflege ist ja noch ein junger Zweig unserer Verwaltung, wenigstens in dem
Ausmaße, das sie jetzt annimmt. Hat man doch auch in dieser „sozialen
Heilkunde“ lange wie in der Medizin immer nur die Krankheiten zu heilen
esucht, statt das Vorbeugen und damit das Vermeiden des Erkrankens als
auptziel zu erfassen und zu erstreben. Der Bedeutung der vorbeugenden
Fürsorge ist man sich in den führenden Kreisen der Wohlfahrtspflege heute
durchaus bewußt. Mehr und mehr schlägt man auch in der Praxis diesen
Weg ein und erkennen Regierungen und Parlamente ihre Aufgabe, auch auf
dem Gebiete der Alkoholismusbekämpfung diesem neuen, großzügigen Ge-
danken Raum zu schaffen. Sachsen ist mit seinem Wohltahrtsgesetz vom
28. März 1925 und seiner Ausführungsverordnung vom 20. März 1926 auf
diesem Wege vorangegangen. Es ist zu wünschen, daß andere Länder und
ar Reich selbst diesen Weg nun ebenfalls betreten und die Arbeit weiter-
ühren.
Warum fordern wir Alkoholgegner die Einbeziehung einer planmäßigen
Bekämpfung des Alkoholismus in die gesetzliche Regelung der öffentlichen
Wohlfahrtspflege? Hat die private Tätigkeit bisher nichts geleistet? Niemand
wird dies behaupten können. Im Gegenteil, gewissen Kreisen tuen die
Alkoholgegner schon viel zu viel. Sie sind nur sehr damit einverstanden,
daß die Opfer des Trunkes möglichst rasch aus den Augen der
Oeffentlichkeit beseitigt werden; denn sonst könnte diese doch endlich
die Alkoholnot erkennen, in der unser Volk sich befindet. Daher wünschen
ste eifrige Trinkerfürsorgearbeit, aber entsetzt wehren sie ab, wenn wir
Alkoholgegner straffe Maßnahmen fordern, die die Entstehung des Trinkers
und damit all des durch ihn verursachten Elends möglichst verhindern sollen.
Dann käme ja ihr Geschäft zu kurz- und dies ist „Beeinträchtigung der
persönlichen Freiheit“ und „Schädigung der deutschen Volkswirtschaft“. Ob
aber diese Volks wirtschaft nicht mehr dadurch geschädigt wird, daß ihr
durch den unheimlich hohen, völlig überflüssigen Alkoholgenuß gewaltige
Summen entzogen werden, die wertschaffend in ihr arbeiten sollten, daß weitere
nicht geringere Summen nötig sind, die durch den „Genuß“ verursachten
äden nur notdürftig auszubessern, und daß schließlich und vor allen Dingen
durch ihn die Grundlage aller Volkswirtschaft, nämlich die lebendige Schaffens-
kraft der Volksgenossen, zerstört wird. Langsam zwar aber doch un-
leugbar beginnt die Erkenntnis der Bedeutung des Alkoholismus in unserem
Volke aufzudämmern. Hat doch der Reichstag mehrfach nun die Alkoholfrage
behandelt und nicht unter der „Heiterkeit“ des Unverstandes früherer Jahre,
sondern recht ernst und in scharfen Debatten. Das sind Erfolge unserer
unermüdlichen Aufklärungsarbeit. Und wieviele sind in treuer Fürsorge aus
den Klauen des „Teufels Alkohol“ gerettet, wie viel Frauen- und Kinderelend
ist damit gebessert worden! Und wie mit der Bekämpfung dieser sozialen Not
steht es auch mit der der anderen. Aber gerade dies unser Arbeiten hat uns
auch die Grenzen und Mängel gezeigt, die unserer wie jeder rein privaten
Wohlfahrtspflege anhaften. Da sie sich im allgemeinen auf den Einzelfall
168 Abhandlungen.
richtet, verliert sie leicht die großen allgemeinen Gesichtspunkte. Die von
mir bekämpfte Not sehe ich wohl als die wichtigste, ja die einzige an und
laube durch ihre Beseitigung alle sozialen Schwierigkeiten zu lösen. Das
ührt zuweilen zu Unduldsamkeit und Einseitigkeit und kann enge Fanatiker
erziehen. Da weiter jede Gruppe für sich und von ihrem engen Standpunkte
aus den Kampf gegen die soziale Not aufnimmt, wird viel nebeneinander, ja
durch- und gegeneinander gearbeitet und dadurch wertvolle materielle und
ideelle Energie vergeudet. Endlich entziehen die Organisationen der Arbeit
und ihre Finanzierung dem eigentlichen Wirken sehr viel Zeit und Kraft
um so mehr, da durch die Vielheit der Gruppen und durch die Machtlosigkeit
und den engen Machtbereich ihrer Leitungen sehr viel umständlich, unnütz
und dabei mit geringem Erfolge nur getan wird.
Gerade dieser Kraftvergeudung durch Zerrissenheit, Planlosigkeit und
Mangel an Macht kann aber ein Ende gemacht werden durch eine gut
arbeitende Behörde. Das Wohlfahrtsamt, meist mit dem Jugendamt verbunden,
hat alle Zweige der Wohlfahrtspflege zu betreuen. Es wird als erste Pflicht
anzusehen haben, all die verschiedenen Richtungen zusammenzufassen zu
planmäßigem Wirken, so daß die Maßnahmen gegen die verschiedenen Nöte
sich ergänzen und damit verstärken, zugleich aber auch verbilligen. Es wird
weiterhin bei den zuständigen Volksvertretungen die Bereitstellung aus-
reichender Mittel fordern und durch Beschaffung von Unterlagen, Bearbeiten
der Erfahrungen usw. die Notwendigkeit dieser Forderung erweisen. Es
wird vor allem dabei den Volksvertretern und der Oeffentlichkeit nachweisen.
daß auch auf dem Gebiete der Alkoholfrage vorbeugende Wohlfahrtspiegt
wirtschaftlich vorteilhafter ist als das nachträgliche Wegräumen der Opfer
der sozialen Not, und daß daher klare gesetzliche Bestimmungen den rid-
sichtslosen Egoismus der jeweiligen „Interessenten“ ausschalten, ja die Reit
dieser „Interessenten“ beschneiden müssen, wenn es das Wohl des Ganzen
nötig macht. Aber, wird man uns einwenden, ist es nicht gerade für dit
Wohlfahrtspflege eine Gefahr, wenn sie behördlich wird? Müssen wir mit
in erster Linie Menschen haben mit Herzen von tätiger, opferbereit!
Nächstenliebe? Und wenn auch die behördlichen Organe praktische Einze-
arbeit leisten und zwar mit liebevollem Eingehen, ihre Zahl wird schon aus
Finanzgründen immer nur gering sein können und daher bei weitem nicht
ausreichen für die vielen, vielen Fälle sozialer Not. Und Behörden sind
„lieblos“, müssen es sein. Werden nicht Schematisierung und Bureaukra-
tisierung das Leben erstarren lassen, das jetzt so frisch aus den Seelen
quellend Segen spendet? Dieser Einwand ist nicht unberechtigt, besonders
in unserm lieben deutschen Land, wo so gern dem „System“ die Vernunft
geopfert wird. Aber prüfen wir einmal das oben Erwogene. Finden wif
a nicht, daß der Mangel der privaten die Stärke der behördlichen Wohl
fahrtspflege ist und umgekehrt? Daraus aber ergibt sich ja ohne weiteres
der rechte Weg, der beide zu gemeinsamer Arbeit vereinigt.
Die Wohlfahrtsbehörde stellt gewissermaßen den Generalstab dar, die
einzelnen Verbände und Vereine, die Wohlfahrtspflege treiben, sind die
Truppen. Der Generalstab hat die Truppen planmäßig einzusetzen, ihr Zu
sammenarbeiten zu veranlassen und zu sichern, er hat für die Munition (das
Geld) zu sorgen und sie dort hinzuleiten, wo sie am wirkungsvollsten ver
wendet werden kann, er hat die Akten zu führen und das Schreibwerk zU
vereinfachen und zu verringern (nicht zu vermehren). Die Truppen ihrerseits
müssen durch klare und ausführliche Berichte den Stab auf dem Laufenden
halten, wo und wie der Feind droht und zu packen ist, und untereinander
Fühlung halten und zusammenwirken. l
Auch das Zusammenwirken der Behörde mit den alkohol perischen
Vereinen wird dadurch sicherzustellen sein, daß jede Wohlfahrtsbehörde si
einen Beirat schafft, in dem Vertreter aller Vereine sitzen, die auf den Gebieten
der Alkoholismusbekämpfung arbeiten. Der Beirat setze nun einen Arbeit-
ausschuß ein, der, kleiner und nur aus aktiven Persönlichkeiten bestehend.
in häufigen Besprechungen die Behörde berät, kritisiert, anfeuert.
Merbitz, Die Einbezieh. ein. planm. Bekämpt. d. Alkoh. i. d. Wohlfartsgesetzgeb. 169
wird diese in enger g mit der lebendigen Einzelarbeit und unter
ihrem Einfluß vor dem Erstarren im Schema bewahrt bleiben. Sie
wird durch die Berichte und Anregungen aus der Praxis, die bei ihr
zusammenlaufen, Ueberblick und Einblick gewinnen und nun der Not ganz
anders zu Leibe gehen können, aber auch ganz andere Unterlagen für ihre
Forderungen an die Volksvertretungen haben. Zum Dank dafür wird sie die
Arbeiter zusammenführen und ihnen ganz andere Mittel zur Verfügung stellen,
als sie bisher hatten, sei es Geld zur notwendigen Hilfe, sei es ihre behörd-
liche Macht zum Zurückweisen von unsozialem Egoismus oder zur Durch-
führung energischer Maßnahmen, die wirklich dauernde Besserung der Not
bringen. Sie wird weiterhin die praktische Arbeit erleichtern durch Ein-
reichen übersichtlicher Akten, so daß sie jederzeit Auskünfte erteilen, Unter-
Lagen bereitstellen und Zusammenwirken verschiedener Zweige der Wohl-
fahrtspflege anregen kann, und durch Einführen einheitlicher Vordrucke und
eines einheitlichen Instanzenweges möglichst im ganzen Reich. So werden
die beiden scheinbaren Gegner: bureaukratisches Zentralisieren und liebe-
volles Eingehen auf den Einzelfall sich vereinigen und dadurch sich ergänzend
Großes leisten. So sollen also öffentliche und private Wohlfahrtspflege
auch auf dem Gebiete der Alkoholismusbekämpfung sich durchdringen;
denn beide sind nötig, jede in ihrer Eigenart, und wir müssen an
das Reich und die Länder die araning richten, daß sie, soweit es noch
nicht geschehen, durch eine entsprechende Gesetzgebung, ähnlich der
des sächsichen Staates, ihre Zusammenarbeit regeln und fördern. Alle aber,
die wir in den verschiedenen Zweigen der Wohlfahrtspflege tätig sind, haben
die Pflicht, mit hinzuwirken auf dies gron Einigungswerk und soweit die
bestehenden Bestimmungen es ermöglichen, es durch Zusammenarbeit unter-
einander und mit den Behörden zu fördern. Denn das freilich gilt auf diesem _
Gebiete des wirklichen Dienstes an der Gemeinschaft mehr noch als asf
allen anderen: die besten Gesetze sind wert- und wirkungslos, wenn sie nicht
in Behörde und Volksgemeinschaft getragen und durchgeführt werden von
Menschen, in denen die wahre Liebe zu ihrem Volke glüht, die nicht streitet
und nicht feiert, sondern hilft und handelt.
Die Trinkerfürsorge und die Verordnung
über die Fürsorgepflicht
vom 13. Februar 1924.”)
Von Dr. Pusch.
Der pretßische Landtag hat in seiner Sitzung vom 1. Oktcber 1925 den
Antrag angenommen, das Staatsministerium zu ersuchen, auf die Reichs-
regierung einzuwirken, ein Trinkerfürsorgegesetz einzubringen.
Dieser Beschluß muß eine Prüfung der Notwendigkeit eines Trinker-
fürsorgegesetzes und der gegenwärtig tehenden gesetzlichen Unterlagen
für eine Trinkerfürsorge — insbesondere der Verordnung über die Fürsorge-
pflicht — veranlassen.
Es besteht kein Zweifel darüber, daß durch Trinker die Haushaltpläne
von Reich, Staat, Gemeindeverbänden und Gemeinden erheblich astet
werden. Sie sind die Ursache eines wesentlichen Teils der Ausgaben für
Irrenhäuser, Gefängnisse, Polizei, Rechtspflege, Seuchenbekämpfung, Kranken-
äuser, Armen- und Fürsorgewesen, beträgt doch die Zahl der Alkohol-
kranken in Deutschland nach den Zusammenstellungen von Lazarus 300 000.
Fine Rundfrage an die Städte und Kreise vom Juli 1925 ergab für den
Regierungsbezirk Merseburg mit 1415376 Einwohnern 1029 Alkohol-
Be nn a E
°) Der Aufsatz ist in der „Sozialen Praxis“, Archiv für Volkswohlfahrt, Berlin, 1926,
Nr. 31, erschienen. Wir drucken die Ausführungen mit Genehmigung des Verfassers und der
„Sozialen Praxis“ ab. Die Schrifti.
170 Abhandlungen.
gefährdete und Kranke, von denen 110 sofort kurbedürftig waren. Um
welche Ziffern es sich bei den Irrenanstalten handelt, mag man daraus ent-
nehmen, daß sich in Deutschland 50000 Geisteskranke in Irrenhäusern be-
finden, bei denen die Ursachen der Krankheit auf Alkoholismus zurück-
zuführen sind. Für den Einfluß des Alkoholismus auf die Kriminalität hat
Hoppe in seinem Buch „Alkohol und Kriminalität“ Zusammenstellungen
i it Vorwiegend dem Rausch verdanken die Rohheits-, Sittlichkeits-,
uflehnungs- und Fahrlässigkeitsdelikte, dem chronischen Alkoholismus eine
Reihe anderer ihre Entstehung. Nach den Zahlen Hoppes ergibt sich für
diese Delikte ein Schuldkonto des Alkohols von 70 bis 80 v. H., während
für sämtliche Delikte sich eine Ziffer von 30 bis 40 v. H. ergibt. Wie groß
der Anteil der Trinker an der Belegung unserer Krankenhäuser ist, ergibt
sich aus einigen Zahlen aus Klatts Buch „Die Alkoholfrage‘“). Danach war
in der Berliner Charité im Jahre 1913 jeder 8. Aufgenommene ein Alkoho-
liker; in dem Münchener Krankenhaus Schwabing betrug die Zahl der
männlichen Alkoholkranken vor dem Kriege 8 bis 9 v. H. der aufgenommenen
Männer, in der psychiatrischen Klinik zu Königsberg waren unter den aul-
enommenen Männern 1913/14 16,75 v. H., 1921/22 12,58 v. H. chronische
Alkoholiker, im Jahre 1914 wurden in den preußischen Heilanstalten 11260,
— 1921 annähernd die gleiche Zahl — alkoholkranke Personen aufgenommen.
Ganz besoiuders groß ist aber der Anteil der Trinker an den Armen- und
Fürsorgelasten. ach Elster „Das Konto des Alkohols ın der deutschen
Volkswirtschaft‘) wird der Einfluß des Alkoholismus auf die Verarmung,
das Anheimfallen an die öffentliche Armenversorgung, für Hamburg au
50 v. H., für eine Reihe anderer Städte bis zu 20 bis 30 v. H., ja auch
gleichfalls 50 v. H. aller Verarmungsfälle geschätzt. Wie aber die Trunk-
sucht als Armutsursache fortzeugend immer neue Armut gebären muß, is
auch der Trinker nicht nur in seiner Person, sondern auch in seinen Nach-
kommen eine Last der öffentlichen Fürsorge. Nach Geheimrat Pütters
Schrift „Trunksucht und städtische Steuern‘) besteht wissenschaftlich kem
Zweifel, daß der Alkoholismus vererblich ist und geistige und körperliche
Minderwertigkeit, Hang zu Verbrechen und Trunksucht auf die Nachkommen
fortpflanzt, daß von Alkoholikern nur rund 20 v. H. gesunde Deszendenten
und 80 v. H. abnorme, von Normalen aber 80 v. H. gesunde und 20 v. H.
minderwertige Kinder abstammen.
Bei dieser wesentlichen Belastung unserer Volkszukunft und unserer
Wirtschaft durch die Trinker erscheint eine Trinkerfürsorge in weitgehenden
Maße geboten. Die bisher zur Verfügung stehenden gesetzlichen Maß-
nahmen halfen jedoch hier nur in geringem Umfange.
Nach § 120 der Reichsversicherungsordnung können Trunksüchtigen ganz
oder teilweise Sachleistungen gewährt werden und zwar auch durch Avt-
nahme in eine Trinkerheilanstalt oder durch Vermittlung einer Trinker-
fürsorgestelle. Zweifellos ist auf diesem Wege vielen Alkoholikern zu helfen
und Krankenkassen und Versicherungsanstalten haben in dankenswerter
Weise hiervon Gebrauch gemacht. Aber zur Wirksamkeit dieser Maßnahme
gehört eine Einsicht des Trinkers. Wenn dieser sich sträubt, ist mit diesen
Vorschriften nicht entmündigten Trinkern, obwohl die Sachleistungen auf
Antrag des Armenverbandes oder der Gemeinde nach ausdrücklicher gesetz-
licher Vorschrift gewährt werden müssen, nicht zu helfen, denn, auch wenn
ihm die Barleistungen entzogen werden, wird ihn das unter Umständen
wenig kümmern. Und im übrigen trifft die Vorschrift doch auch nur einen
Teil der Trinker, nämlich die von der Reichsversicherungsordnung umfaßten.
Einen weiteren Kreis der Trinker umfaßte die Armenfürsorge, die ihre
Regelung in dem durch die Fürsorgepflicht-Verordnung aufgehobenen Unter-
stützungswohnsitzgesetz vom 6. Juni 1870 (30. Mai 1908) gefunden hatte.
1) Stuttgart 1925 S. 138/139.
2?) 2. Aufl, Hamburg 1922 S. 58, vgl. auch Dresel, Die Ursachen der Trunksucht und ihre
Bekämpfung durch die Trinkerfürsorge in Heidelberg, Berlin 1921.
3) 3. Aufl. S. 6.
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Pusch, Die Trinkerfürsorge u.d.Verordnung üb.d. Fürsorgepflicht v.13. Febr.1924. 171
Hier bestand ein Anspruch auf Fürsorge für alle Hilfsbedürftigen, die nicht
imstande waren, für sich und ihre Familie zu sorgen. Die Hilisbedürftigkeit
mußte jedoch eine gegenwärtige unmittelbare, die Fürsorge eine armen-
rechtlich notwendige sein, eine nur präventive Armenpflege, wie sie gerade
bei Trinkern oft notig ist, wurde durch diese Vorschriften nicht gedeckt’).
Auch hier war eine Einsicht des Trinkers erforderlich, denn irgendwelche
Zwangsmittel, die Fürsorge auch gegen den Willen des Trinkers durch-
zuführen, waren nicht gegeben.
Eine zwangsweise Unterbringung von Trinkern in Trinkerheilstätten
war bisher nur im Wege der Entmündigung durchzuführen. Das gesetzlich
geregelte Entmündigungsverfahren kann nach $ 6 Ziffer 3 BGB. Platz greifen,
wenn jemand infolge Irunksucht seine Angelegenheiten nicht zu besorgen
vermag oder sich oder seine Familie der Gefahr des Notstandes aussetzt
oder die Sicherheit anderer gefährdet. Das Gericht kann gemäß $ 681 ZPO.
die Beschlußfassung über die Entmündigung aussetzen, wenn Aussicht auf
Besserung besteht. In vielen Fällen hat die Androhung der Entmündigung
und die über den Trinker verhängte Bewährungsirist Trinker zur Befolgun
der in ihrem Interesse angeordneten Maßnahmen, insbesondere dazu, sic
entgegen ihrer erst entwickelten Auffassung nunmehr freiwillig in eine
Trinkerheilstätte zu begeben, veranlaßt. Wenn eine Entmündigung aus-
en ist, kann der Vormund den Entmündigten auch gegen dessen
illen in einer passenden Anstalt, einer Trinkerheilanstalt, unterbringen
und dort unter Umständen auch zwangsweise festhalten lassen.
Weitere gesetzliche Zwangsmittel finden sich im Strafgesetzbuch. Hier
ist nach § 361 Ziffer 5 StrGB. mit Haft bis zu 6 Wochen zu bestrafen, wer
sich dem Spiel, Trunk oder Müßiggang dergestalt ergibt, daß er in einen
Zustand gerät, in welchem zu seinem Unterhalte oder zum Unterhalte der-
jenigen, zu deren Ernährung er verpflichtet ist, durch Vermittelung der
Behörde fremde Hilfe in Anspruch genommen werden muß. Die gleiche
Strafe erleidet nach Ziffer 7 wer, wenn er aus öffentlichen Armenmitteln
eine Unterstützung erhält, sich aus Arbeitsscheu weigert, die ihm von der
örde angewiesene, seinen Kräften angemessene Arbeit zu verrichten, und
nach Ziffer 10 wer, obschon er in der Lage ıst diejenigen, zu deren Er-
nährung er verpflichtet ist, zu unterhalten, sich der Unterhaltspflicht trotz
der Auiforderung der zuständigen Behörde derart entzieht, daß durch Ver-
mittelung der Behörde fremde Hilfe in Anspruch genommen werden muß.
Außerdem kann in Fällen der Ziffer 5 und 7 neben der Strafe Ueberweisung
an die Landespolizeibehörde und damit die Unterbringung in einem Arbeits-
haus bis zu 2 Jahren ausgesprochen werden. Das Anwendungsgebiet dieser
Vorschriften ist jedoch wegen ihrer Umgrenzung in der Praxis nur ein
ziemlich geringes.
Einen weiteren Rahmen für die Trinkerfürsorge brachte tatsächlich die
Fürsorgepflichtverordnung vom 13. Februar 1924; die Festlegung dieses
Rahmens findet sich in den Reichsgrundsätzen über Voraussetzung, Art und
Maß der öffentlichen Fürsorge vom 4. Dezember 1924, sowie in der Preu-
Bischen Ausführungsverordnung vom 17. April 1924. Wenn auch in den
$ 6 der Fürsorgepflichtverordnng erlassenen Reichsgrundsätzen iA
3 eine vorbeugende Fürsorge nicht zwingend vorgeschrieben, sondern nur
auf ihre Mö lichkeit hingewiesen ist, so liegt doch auch hierin schon ein
erheblicher Fortschritt, der sich aus den guten Erfahrungen mit der vor-
beugenden Fürsorge besonders auf dem Gebiete der Gesundheits-, ArBkiter-
und Jugendfürsorge ergibt’). Diese vorbeugende Fürsorge hat ja gerdde*auf
dem Gebiete der Trinkerfürsorge ihre besondere Bedeutung. Leider ist aber
aus vorbeugender Fürsorge kein Erstattungsanspruch an anderg;;Bezirks-
fürsorgeverbände gegeben’). Von allergrößter Bedeutung sind die1M9sr
een A ssd
*) Eger, Unterstützungswohnsitzgesetz, 6. Aufl. Breslau 1909 S. 11. i tie sie aiw
®%) Vgl. Amtliche Erläuterungen zu §§ 2 und 3 der Reichsgrundsätze.
®) Vgl. Baath, Fürsorgepflichtverordnung 3. Aufl. Berlin 1925 S. :6 anderei"Arbient; Kracht.
Das materielle Fürsorgerecht, Zeitschrift für das Heimatwesen, 30, 97. .i.:.:a21l0i0f1 15b II
172 Abhandlungen.
schriften der 88 6 und 11 der Reichsgrundsätze. Danach gehören zum not-
wendigen Lebensbedarfe auch Krankenhilfe, sowie Hilfe zur Wieder-
herstellung der Arbeitsfähigkeit. Hierzu gehört auch die Unterbringung in
Trinkerheilstätten. Die Hilfe kann ausdrücklich sowohl in Geld auch in
Sachleistungen oder persönlicher Hilfe bestehen und in offener oder ge-
schlossener (Anstalts) Pflege gewährt werden. Dadurch, daß die Uhnter-
bringung in Trinkerheilstätten, in Form der Krankenhilfe und Hilfe zur
Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit zum notwendigen Lebensbedari
gehört): wird die Unterbringung und die Kostentragung für die Behandlung
von Alkoholkranken für alle die Trinker, die die Mittel hierfür nicht aus
ET Se aufbringen können, zu einer Pflichtaufgabe der Bezirksfürsorge-
verbände.
Ueber diese mit dem Einverständnis des Trinkers oder seines Vormunds
vorzunehmenden Maßnahmen hinaus kann auch gegen den Willen des Fir-
sorgeberechtigten selbst eine zwangsweise Unterbringung in einer Trinker-
heilstätte nach Maßgabe der §§ 20 der Verordnung und 21 Abs. 2 der Preuß.
Ausführungsverordnung vom 17. April 1924 vorgenommen werden. Danach
kann, wer trotz Arbeitsfähigkeit infolge seines sittlichen Verschuldens der
öffentlichen Fürsorge selbst anheimfällt oder einer Unterhaltsberechtigten
anheimfallen läßt, wenn er Arbeit beharrlich ablehnt oder sich der Unter-
haltspflicht beharrlich entzieht, auch gegen seinen Willen auf Antrag des
Fürsorgeverbandes durch Beschluß des irksausschusses in eine Trınker-
heilanstalt eingewiesen werden.
Wenn auch eine vorbeugende Trinkerfürsorge, die bei der erheblichen
Bedeutung dieses Zweiges der Fürsorge erforderlich erscheint, nicht
zwingend vorgeschrieben ist, ist doch das Verfahren der Trinkerfürsorge
durch die Fürsorgepflichtverordnung und die Preußische Ausführungs-
verordnung erleichtert, indem die zwangsweise Unterbringung in Trinker-
heilstätten im Verwaltungsverfahren, erfolgen kann. Die Trinkerfürsorge ist
ferner, soweit es sich um Fälle der u a handelt, ausdrücklich
als eine Pflichtaufgabe der Bezirkfürsorgeverbände bezeichnet, indem zum
notwendigen Lebensbedarf auch Krankenhilfe und Hilfe zur Wiederherstellung
der Arbeitsfähigkeit gehören. Weiter als die preußische Ausführungs-
Verordnung zur Fürsorgepflichtverordnung geht die sächsische Ausführungs-
Verordnung zum Wohlfahrtspflegegesetz vom 20. März 1926 — Sächsisches
Gesetzblatt Seite 55 —. Nach § 58 dieser Verordnung hat sich jedes Wohi-
fahrts- und Jugendamt der Beratung der Trinker und ihrer Familien, ım
Falle des Bedürfnisses in besonderen Fürsorge-Sprechstunden und Trinker-
fürsorgestellen anzunehmen. Im § 58 Absatz 3 sind die Maßnahmen zur
handlung Alkoholkranker ausdrücklich als Pflichtaufgaben der Wohlfahrts-
und Jugendämter bezeichnet.
iese Ausführungsverordnung geht also über die Fälle der Hilfsbedürftig-
keit hinaus auf eine allgemeine Trinkerfürsorge.
Es ist jedoch auch in Preußen Aufgabe der Bezirksfürsorgeverbände, m
Rahmen der A Gern Vorschriften auch auf dem wichtigen Gebiete der
Trinkerfürsorge Durchgreifendes zu unternehmen, um nicht nur dem Trinker
selbst, sondern auch seinen Familienangehörigen, seiner Umgebung und der
Allgemeinheit durch die Fürsorge zu nützen.
Zur „Reform des Branntweinmonopols“.
Von Dr. J. Flaig.
Es ist bekannt, daß seit längerer Zeit in der deutschen Oeffentlichkeit, 1M
Reichstag wie in der Presse und anderwärts, mancherlei und vielfach.
scharfe Kritik an der Branntweinmonopolverwaltung des Deutschen Reiche,
wie sie sich im Laufe der letzten Jahre gestaltet hatte, geübt und ihr nament-
1) Baath, Fürsorgeoflichtverordnung, 3. Aufl. Berlin 1925 Anm, 3 zu § 6 und Anm. 2 19
§ 11 der Reichsgrundsätze.
Flaig, Zur „Refoım des Branntweinmonopols“. 173
lich zu wenig kaufmännische Geschäftsführung vorgeworfen wurde. Diese
Angriffe und die tatsächlich gemachten Erfahrungen selbst haben zur Vor-
lage des Entwurfs eines neuen Spiritusmonopolgesetzes geführt, der seiner-
seits schon mannigfache Öffentliche Erörterung gefunden hat.
I
Es sei hier zunächst kurz der wesentlichste Inhalt des Gesetzentwurfs und
des Einführungsgesetzentwurfs (je vom 7. Mai d. J.) wiedergegeben, soweit
er für die Alkoholgegner- und Wohlfahrtskreise Interesse haben dürfte.
Das Monopol umfaßt in gewissen Grenzen:
t. Ein Herstellungsmonopol. Die Monopolverwaltung hat das.
ausschließliche Recht der Spirituserzeugung aus den sogenannten Ersatz-
oder Monopolstoffen: vor allem Zellstoffe (einschließlich Zellstoff-
ablaugen) und Kalziumkarbid. Sie kann, soweit sie nicht selbst den Brannt-
wein herstellt, ihn auch durch andere herstellen lassen. „Ist in einem Betrieb
ein Verfahren, das die Herstellung von Branntwein aus Monopolstoffen be-
trifft, nach dem 1. Oktober 1919 erfunden oder in wirtschaftlich wertvoller
Weise vervollkommnet worden, so kann die Reichsmonopolverwaltung pe
statten, daß der Betrieb in dem Verfahren Branntwein aus Monopolstofien:
herstellt; dies darf jedoch nur für gewerbliche Zwecke des Betriebs geschehen.“
„Die Branntweinmenge, die in einem Betriebsjahr aus Monopol--
stoffen hergestellt werden darf (Monopolkontingent), beträgt 250000
Hektoliter Weingeist“, einschließlich der etwa auf die eben angedeutete Art
erzeugten Mengen. Kann der Bedarf an Brantwein, der zu nu Ver-
kaufspreisen (s. unten) abzugeben ist, nicht rss werden, so kann die
Reichsmonopolverwaltung von dieser Vorschrift abweichen. Die Herstellung
aus anderen Stoffen wird privaten Betrieben überlassen.
2. Ein Reinigungsmonopol. Die Monopolverwaltung kann das.
Recht der Reinigung des Branntweins auch durch andere ausüben. Aus-
a von diesem Monopol kann sie für ablieferungsfreien Branntwein.
zulassen.
3. Ein Bezugsmonopol, d. h. ein ausschließliches Recht auf Ab-
lieferung des hergestellten Branntweins an sie und zugleich die Pflicht zu
dessen Uebernahme. Keine Ablieferungspflicht und für die Monopolverwal--
tung keine Uebernahmepflicht besteht für Obst- und Kornbranntwein aus
Verschlußbrennereien, Branntwein, der in einer Abfindungsbrennerei, von
einem Stoffbesitzer in einer Gemeinschaftsbrennerei, in einer kleinen land-
wirtschaftlichen Verschlußbrennerei (nicht mehr als 4 hl Jahreserzeugung)
hergestellt ist; in den letzteren beiden Fällen nur auf Antrag.
4. Ein Einfuhrmonopol, mit Ausnahme der feineren und teureren
Schnäpse: Rum, Arrak, Kognak und Likör, woneben noch weitere Aus-
nahmen möglich sind.
5. Ein Handelsmonopol, betr. den Handel mit (nur) unver-
arbeitetem Branntwein (also nicht mehr, wie früher, auch Herstellung von
und Großhandel mit Trinkbranntwein. D. Ber.), welches Recht die Monopol-
verwaltung aber ebenfalls auch durch andere ausüben lassen kann. „Die
Reichsmonopolverwaltung ist verpflichtet, nach Maßgabe einer vom Reichs-
minister der Finanzen zu erlassenden, allgemein verbindlichen Lieferungs-
ordnung Branntwein an jeden inländischen Besteller abzugeben.“ Das Monopol
erstreckt sich nicht auf ablieferungsfreien oder einfuhrfreien Branntwein. —
Das Einführungsgesetz (Uebergangsvorschriften) bestimmt in Artikel 30, daß
ım Inland Trinkbranntwein nur unter Kennzeichnung des Weingeist-
gehalts in Raumhundertteilen in den Verkehr gebracht werden darf und
dieser bei Arrak, Rum und Obstbranntwein sowie Verschnitten davon und
Steinhäger mindestens 38 v. H., bei sonstigen Trinkbranntweinen min-
destens 35 v. H. betragen muß.
Das Monopol soll an ein selbständiges Unternehmen
des Reiches sein, in dem nach kaufmännischen Grundsätzen zu verfahren ist.
An der Spitze der Reichsmonopolverwaltung steht ein Präsident, der
174 Abhandlungen.
*
selbstverantwortlicher Reichsbeamter ist. Die Verwaltung besteht aus den
Reichsmonopolamt — einer Reichsbehörde —. Der Präsident hat dem
Reichsfinanzminister auf Verlangen Auskunft über die wirtschalt-
liche Lage und über den Geschäftsbetrieb der Reichsmonopolverwaltung
sowie Einsicht in ihre Geschäftsbücher und Se a Unterlagen zu geben.
ist aber sonst in seiner Geschäftsführung dessen Anweisungen nicht unter-
stellt. Der Reichsfinanzminister hat nur darüber zu wachen, daß d:r
Präsident das Monopol nach den gesetzlichen Vorschriften verwaltet.
An die Stelle des bisherigen, zu sehr von starken Interessenteneinflüssen
beherrschten Beirats soll ein Verwaltungsrat als mitwirkende Körper-
schaft treten, bestehend aus 3 Mitgliedern der Monopolverwaltung und 5
auf 5 Jahre zu berufenden ehrenamtlichen Mitgliedern. Von letzteren sollen
11 vom Reichsfinanzminister berufen werden — dem dabei nicht mehr, w:?
bisher, die Wahl von unmittelbaren Interessenvertretern vorgeschrieben ist —.
7 vom Deutschen Landwirtschaftsrat, je 3 von den Spitzenverbänden einer-
seits von Handel und Industrie, andererseits der Gewerkschaften, und 1 von
deutschen Handwerks- und Gewerbekammertag. „Als ehrenamtliche Mit-
glieder des Verwaltungsrats sollen nur Personen berufen werden, die ext
weder erfahrene Kenner des Wirtschaftslebens sind oder über besonders
Sachkunde auf dem Gebiete der Branntweinwirtschaft verfügen. Der Reichs-
minister der Finanzen soll bei der Auswahl der von ihm zu berufenden Mit-
glieder die Größe der einzelnen Länder und ihre Bedeutung für die Brann-
weinwirtschaft berücksichtigen“. (Bemerkenswert ist, daß Reichsratsmii-
glieder, Mitglieder der Reichs- oder einer Landesregierung für den Ver-
waltungsrat nicht mehr in Frage kommen sollen.) Der Präsident soll de
Verwaltungsrat in jedem Vierteljahre mindestens einmal einberufen. Er mu"
den Verwaltungsrat einberufen, wenn sechs Mitglieder dies verlangen. $ 1?
führt die Angelegenheiten auf, in denen der Präsident der Zustimmung de
Verwaltungsrats bedarf: 24 Punkte, worunter die Regelung der Preisiragen
und Aufschläge u. dgl. Auch in allen sonstigen wichtigen und grundsätz-
lichen Fragen soll der Verwaltungsrat gehört werden. (Er hat offensichtlich
wesentlich weitergehende Befugnisse als der bisherige Beirat. D. Ber.) Eni-
scheidet er anders als der Präsident der Monopolverwaltung, so kann dieser
die Entscheidung des Reichsfinanzministers anrufen.
Ferner steht der Monopolverwaltung, ähnlich wie bisher, ein Gewerbe
ausschuß zur Seite als Vertreter der einschlägigen Erwerbskreise e-
schließlich ihrer Angestellten und Arbeiter. Er kann 5 Mitglieder mit b-
ratender Stimme zu den Sitzungen des Verwaltungsrats entsenden.
Das Monopolvermögen ist künftig von dem übrigen Reichsvermögei
re zu halten, haftet also nicht für die sonstigen Verbindlichkeiten des
eiches, wie andererseits das Monopol sich nach rückwärts und vorwärts selbst
zu tragen hat, einschließlich einer angemessenen Entschädigung an die
Reichskasse für die Mitwirkung der Finanzbehörden bei der Durchführu:
des Monopols. Die Einführungsbestimmungen sehen vor, daß das Rei
aus allgemeinen Mitteln der Monopolverwaltung einen Betriebsmittel-
fondsbis zu 75 Millionen Mark zur Verfügung stellt, der von
ihr angemessen zu verzinsen ist, wie andererseits dem Reichfinanzminıster
jährlich bis zu einer halben Million aus Monopolmitteln zur and
des Branntweins für öffentliche Kranken usw. -Anstalten und wissenschaft
liche Lehr- und Forschungsanstalten zur Verfügung gestellt werden.
Die Verwaltung ist nach einem genauen, jährlich aufzustellenden Wirt-
schaftsplan zu führen. Geschäftsbericht, Bilanz, Gewinn- und Verlustrechnung
sollen je binnen 6 Monaten nach Schluß des Geschäftsjahres dem Reichstag
und Reichsrat vorgelegt werden. Die Monopolverwaltung hat an die
Reichskasse 1. für jedes zum regelmäßigen Verkaufspreis abgegebene hl
Weingeist 280 Mark (sogenanntes Monopolreichsgeld), 2. den bilanz-
mäßigen Rei En inn abzuführen. Das Einführungsgesetz bestimmt um-
gekehrt (in Artikel 28): „Aus dem Aufkommen aus den Branntweinsteuerm
Flaig, Zur „Reform des Branntweinmonopols“. 175
werden der Reichsmonopolverwaltung die Beträge gutgebracht, um die die
Branntweinsteuern das Monopolreichsgeld . . . . übersteigen“.
Das Brennrecht der Eigen-(Privat-)Brennereien stellt nicht etwa eine
allgemeine Beschränkung der Herstellung von Branntwein aus
Nicht-Monopolstoffen dar, sondern besagt nur, daß das Uebernahmegeld
lediglich für ihre festgesetzte Jahresmenge zum Normalpreise berechnet wird,
für Ueberbrand dagegen dieser nicht verlangt werden kann. Die bisherigen
Brennrechte bleiben im großen ganzen unverändert bestehen; neue sollen
nicht erteilt, bestehende nicht erweitert werden noch übertragbar sein. Die
Monopolverwaltung kann im übrigen das Brennrecht der Marktlage dadurch
anpassen, daß sie die für ein Betriebsjahr geltenden Brennrechtsmengen sämt-
licher Eigenbrennereien oder einzelner Brennereigruppen nach einheitlichem
Maßstab erhöht oder in gewissen Grenzen herabsetzt.
Bei Festsetzung des Grundpreises für die Uebernahme des
Branntweins durch die Monopolverwaltung, zu dem je nach den verschiedenen
Fällen Abzüge (für Nicht-Kleinbrennereien, also für solche von über 10 hl
im Jahre und für gewerbliche Brennereien) und Zuschläge in Arn-
wendung kommen, „ist einerseits die Marktlage zu berücksichtigen, anderer-
seits darauf Bedacht zu nehmen, daß die durchschnittlichen Herstellungs-
kosten eines Hektoliters Weingeist in gut geleiteten landwirtschaftlichen
Kartoffelbrennereien mittleren Umfangs gedeckt werden. Dabei ist davon.
auszugehen, daß bei angemessener Verwertung der Kartoffeln die Schlempe
dem Brennereibesitzer kostenfrei verbleibt“. Ausgleichsabzüge am Grund-
preis können gemacht werden, um einen Teil (höchstens !/s) des Verlusts zu
decken, der im vorausgegangenen Betriebsjahr der Monopolverwaltung durch
die Abgabe von Branntwein zu ermäßigten Verkaufspreisen entstanden ist.
Abgegeben wird der Spiritus von der Monopolverwaltung im all-
gemeinen zum regelmäßigen Verkaufspreis. Zum ermäßigten
Preis darf er abgegeben werden zum Kochen, Heizen, Putzen und Be-
leuchten, zu besonderen gewerblichen Zwecken, als Treibstoff, zur Bereitung
von Speiseessig, endlich zur Herstellung von Branntweinerzeugnissen für die
Ausfuhr. Durch den regelmäßigen Verkaufspreis müssen mindestens gedeckt
werden: das Monopolreichsgeld, das Uebernahmegeld (der Einkaufspreis),
die Verwaltungs- und Geschäftsunkosten einschließlich eines angemessenen
Teils des Verlustes durch den Absatz zu ermäßigten Verkaufspreisen, der
Aufwendungen zur Verbilligung des Branntweins für die obengenannten
Anstalten und von Entschädigungen, die im Zusammenhang mit der Ein-
führung des Monopols zu zahlen sind. Ablieferungs- und einfuhrfreier
Branntwein, dessen Vertrieb frei ist, darf nicht unter dem regelmäßigen Ver-
kaufspreis der Monopolverwaltung gehandelt werden.
An Branntweinsteuern sind folgende vorgesehen:
1. Soweit der Branntwein nicht an die Monopolverwaltung abzuliefern
ist, unterliegt er der, ggf. um die spätere Vertriebssteuer sich er-
mäßigenden, Herstellersteuer. Sie entspricht der Spannung, die
innerhalb des Monopolbetriebs zwischen dem Uebernahmepreis (un-
nn die Ausgleichsabzüge und -zuschläge) besteht, den die
onopolverwaltung für den Spiritus bezahlt, und dem etwas ver-
ringerten- Betrag des regelmäßigen Verkaufspreises, zu dem sie ihn
abgibt.
2. Für Einbringung von Branntwein und weingeisthaltigen Erzeugnissen
die Branntweineinfuhrsteuer — im wesentlichen wie Ziffer 1.
3. Die Branntweinvertriebssteuer für den Uebergang von Brannt-
wein in den freien Verkehr, unter bestimmten Bedingungen.
4. Die Essigsäuresteuer, desgleichen.
H.
Sehr bemerkenswert ist die Begründung, die die Regierung für die Not-
wendigkeit einer Aenderung der bisherigen Regelung gibt (wir folgen einem
176 Abhandlungen,
ausführlichen Abdruck derselben in der ‚Berliner Börsenzeitung‘“ vom
20. Mai d. Js.). Der Trinkbranntweinverbrauch ist in den letzten Jahren in
seiner Ergiebigkeit als Steuerquelle zurückgegangen. Die Ursache liegt zu-
nächst in der Verminderung des Verbrauchs, der vor dem Kriege unter Ab-
rechnung der abgetrennten Gebiete rund 1670000 hl reinen Alkohols betrug,
während er 1925 rund 600 000 hl (612200) ausmachte.. Dieser Rückgang, so
erklärt die amtliche Darlegung, „ist in der Hauptsache zurückzuführen auf
die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Bevölkerung, auf den
Verlust gerade für den Branntweinkonsum besonders wichtiger Gebiete
(Oberschlesien, Westpreußen und Posen), nicht minder aber auch auf die
unverkennbaren Fortschritte der Mäßigkeits- und Enthaltsamkeitsbewegung;
weiter aber auch auf die hohe Belastung des Branntweins, die namentlich im
Vergleich zum Bier seit dem Kriege erheblich gestiegen, zurzeit etwa ver-
dreifacht ist. Von nicht geringem Einfluß auf den geringen Ertrag des
Monopols sind auch die zahlreichen Monopolhinterziehungen, die namentlich
in Form der sogenannten Schwarzbrennerei und der Branntweinschiebung
begangen werden“. Mit Genugtuung ist vom alkoholgegnerischen Standpunkt
die Erklärung zu begrüßen, daß „jedenfalls gesetzliche Maßnahmen, die einen
stärkeren Trinkverbrauch bezwecken, nicht in Erwägung gezogen werden
können“. Andererseits sei Erhöhung des Trinkspritpreises der Monopol-
verwaltung unratsam, da sie zu weiterem Verbrauchsrückgang und weiterer
Zunahme der Steuerhinterziehungen führen würde. Dagegen müsse an Hand
Be Maßnahmen möglichst aller zum Verbrauch kommende Trink-
ranntwein von der Monopolverwaltung voll erfaßt werden. Hierzu sind
vorgeschlagen:
1. Beseitigung des he her Branntweinaufschlags auf den ablieferungs-
freien Branntwein der kleinen Obst- und Abfindungsbrennereien;
2. Einschränkung der Branntweinherstellung in Abfindungsbrennereke;
3. Beseitigung der Preisvergünstigung für Spiritus zu Heilmitteln, Par-
fümerien und Essenzen;
4. Verbot des Handels mit Trinksprit unter dem Monopolpreise.
Eine weitere Schwierigkeit liegt in dem Mißverhältnis zwischen Er-
zeugung und Verbrauch. Die den landwirtschaftlichen Brennereien zu
zahlenden Herstellungskosten liegen erheblich über dem Weltmarktpreis. Und
doch wäre Herabsetzung des Uebernahmepreises auf diesen für jene Bren-
nereien, die doch aus agrarwirtschaftlichen Gründen erhalten bleiben müßten,
untragbar. Man will aber der Uebererzeugung und einer „allzu weitgehenden
Bu ung de Uebernahmepreises“ durch verschiedene in dem Entwurf vor-
gesehene Maßnahmen bezüglich Brennrecht und Uebernahmepreis-Gebaru
entgegengetreten. Besonders weit unter dem Einstandspreis muß die Monopoi-
verwaltung den Sprit zu allgemeinen technischen und gewerblichen und (am
allerniedrigsten) zu Antriebszwecken abgeben. Dies kann nach Lage der
Dinge nicht wesentlich geändert werden. So will man nun u. a. die Brenner
zum Mittragen dieser Verbilligungslasten heranziehen.
‚ Endlich wird die Lage der Monopolverwaltung beträchtlich durch ihre
bisherige Organisation erschwert, die eine freie, kaufmännische Betätigung
vielfach unmöglich macht: die Art und Zusammensetzung des Beirats, die
Befugnis des Reichsrats, endlich die Unterstellung unter die Aufsicht des
Reichsfinanzministers und die daraus sich ergebende politische Verantwor-
lichkeit. „Die politische Beeinflussung, die sich auf dem Wege über den
Reichsminister der Finanzen dem Monopol gegenüber geltend macht, hat
nach den bisherigen Erfahrungen die Monopolverwaltung wiederholt ge-
nötigt, von dem von ihr aus wirtschaftlichen und kaufmännischen Erwägungen
für richtig gehaltenen Standpunkt abzugehen.“ — Wenn allerdings als Beispiele
dafür angeführt werden die „unzweckmäßige“ Aufrechterhaltung der ım
Oktober 1922 verfügten Trinkspritsperre bis zum Februar 1923 und das der
Monopolverwaltung vom Reichsfinanzminister auferlegte Verbot der Reklame
für ihre Schnäpse, so sind wir hierin anderer Meinung. — Durch die oben
Flaig, Zur „Reform des Branntweinmonopols“. 177
ersichtliche Umbildung der Einrichtung der Monopolverwaltung soll ein
Lunar und gewinnbringendes Arbeiten des Monopols gewährleistet
werden.
II.
Welche Aufnahme hat der Entwurf bis jetzt gefunden ?
Zunächst die Stellung des Reichswirtschaftsrats. Sein
wirtschaftspolitischer und sein finanzpolitischer Ausschuß nahmen (nach
Zeitungsbericht) am 13. Juli unter Zuziehung des Ausschusses für Ernährung
und Landwirtschaft den Bericht des Arbeitsausschusses zur Beratung des Gesetz-
entwurfs nebst Einführungsgesetz entgegen. Sie kamen (nach der „Täglichen
Rundschau“ vom 14. Juli, Beilage „Wirtschaft und Börse“) zu dem ee
daß die Vorschläge des Gesetzentwurfs an sich geeignet sind, die bestehenden
Verhältnisse weitgehend zu verbessern, wünschen aber, daß eine Bestimmun
ein eiügt werde, die die Besteuerung des Spiritus und Trinkbranntweins dur
andere Stellen als das Reich ausschließt. Bei der Bemessung des Brennrechts
der Gemeinschaftsbrennereien schlagen sie vor, für jede Abfindungsbrennerei
statt 150 Liter 300 Liter Weingeist zu gewähren. Die Uebertragung des
Brennrechts soll bis zum 30. September 1928 nach Maßgabe der jetzt geltenden
Bestimmungen gestattet werden. Zu am dr Preisen soll auch Spiritus
zur Verwendung in der kosmetischen und in der Heilmittelindustrie abgegeben
werden können. Das Reichsmonopolgeld soll dann 40 v. H. dieses Preises,
mindestens aber 80 RM betragen. Auch empfehlen sie der Regierung Vor-
nahme einer allgemeinen neuen Nachprüfung der lebensmittelpolizeilichen
Bestimmungen.
Sodann einige Proben aus den Betrachtungen und Erläuterungen, die
dem Entwurf und der ganzen Frage in der Presse gewidmet wurden.
Zunächst die Stimmen zweier führender Berliner Tageszeitungen, denen wir
unter besonderer Ueberschrift die wörtlichen Ausführungen eines bisher den
Dingen nahestehenden Mannes folgen lassen‘),
Ein eingehender Aufsatz im „Vorwärts“ vom 5. August: „Reform des
Branntweinmonopols, Forderungen der Arbeiterschaft“ geht davon aus, daß
im Steuerkompromiß von Ende März zwischen den Regierungsparteien und
der Sozialdemokratie vorgesehen war, daß mittels einer Einnahmesteigerung
beim Branntweinmonopol die Zuckersteuer abgebaut werden sollte. Der Re-
gierungsentwurf kümmere sich nicht um diesen Reichstagsbeschluß. Er lasse
die Grundlage der heutigen Branntweinwirtschaft unverändert: die Be-
günstigung der landwirtschaftlichen Kartoffelbrennerei als einer angeblichen
ol can Notwendigkeit ersten Ranges, während doch z. B. im Jahre
1924 nur 3 v. H. der deutschen Kartoffelernte von den Brennereien bearbeitet
worden seien und in den ÖOstprovinzen ausweislich der Statistik nur ein
geringer Bruchteil derselben gebrannt werde. Es müßte mindestens die Fest-
setzung der Brennerei-Verbrauchsabgabe jährlich im Zusammenhang mit der
Haushaltberatung erfolgen. Ebenso müßte sowohl um der Reichskasse, wie
um der Volkswirtschaft willen statt der Kartoffelbrennerei vielmehr die un-
verhältnismäßig viel billigere Ersatzbrennerei (Sulfit usw.) nachdrücklichst
fördert und so der bisherigen verhängnisvollen Verlustwirtschaft der
onopolverwaltung ein Ende gemacht werden. Statt dessen schlage das
Reichsfinanzministerium sozusagen die Verpachtung des Monopols an die
Branntweininteressenten bei starkem Uebergewicht der landwirtschaftlichen
Interessenten vor, die lediglich vom Hektoliter rentablen Absatzes eine feste
Abgabe zahlen sollen. „Dieser Gesetzesvorschlag ist für uns unannehmbar.“
Anders in der „Täglichen Rundschau“ (Nr. 376 vom 14. August) Professor
Wittschewsky. Nach ihm war es die Tatsache des verringerten Ab-
Satzes von Trinkbranntwein und demzufolge die Minderung des Steuerertrags,
die zur „Sanierung“ drängte, und ist eine wesentliche Steigerung der Brannt-
1) Vgl. den folgenden Aufsatz „Die deutsche Spiritusbewirtschaftung“, der (mit einigen
Kürzungen) der „Deutschen Handelswacht“ entnommen ist.
Die Alkoholfrage, 1926. 12
178 Abhandlungen.
weinsteuer nicht zu raten. Im übrigen wird hier in der Auslegung des
Entwurfs und den Betrachtungen zu ihm eher die Partei der Brenner
genommen.
Die deutsche Nüchternheitsbewegung wird auch ihrerseits zu dem Plare
der Regierung Stellung zu nehmen haben.
Die deutsche Spiritusbewirtschafftung.!)
Der wirtschaftspolitische und der finanzpolitische Ausschuß des vor-
läufigen Reichswirtschaftsrates haben jetzt die von der Regierung NOrBe ep
Entwürfe eines neuen Spiritusmonopolgesetzes und eines Ein
führungsgesetzes zum Spiritusmonopolgesetz durchberaten und mit einigen
Aenderungen angenommen.
In den beiden letzten Jahren häuften sich die Kritiken über die deutsche
Branntweinbewirtschaftung und zugleich die Vorschläge zu deren Gesundung.
Der neue Entwurf hält an dem Grundgedanken der bisherigen Monopoigeseiz-
gebung fest, nämlich, daß auch zukünftig für Spiritus ein Staatsmonopol be-
stehen soll; er will aber die seit Einführung des staatlichen Branntwein-
monopols, also seit 1. Oktober 1919, bzw. seit dem letzten Branntweinmonopoi-
esetz vom 8. April 1922 aufgetauchten Schwierigkeiten auf dem goldenen
ittelwege beheben. Die in dem Entwurf vorgesehenen einzelnen Maßnahmen
sind, jede für sich genommen, von nicht allzu einschneidender Wirkung für
die beteiligten Gewerbekreise.
epflogene Preis-
Die in der deutschen Branntweinbewirtschaftung 5
politik, nämlich die wesentlich höhergestellten Preise tür Trinkbranntwein
zur Verbilligung des Spiritus für nützliche gewerbliche Zwecke zu benutzen.
setzt voraus: je mehr Spiritus für uützliche technische Zwecke (chemische
Industrie, Heilmittel, Beleuchtungs-, Koch- und Heizmittel, motorische Zwecke!
ebraucht oder verkauft wird, je höher muß auch der Ertrag oder der
msatz an Trinkbranntwein werden, damit die Mehreinnahme aus dem
Trinkbranntweinumsatz die bei dem Verkauf des Spiritus für technische
Zwecke entstehenden Verluste decken kann. Der Selbstkostenpreis der
Monopolverwaltung beträgt unter Berücksichtigung der Monopolspesen, ins-
besondere der Reinigungskosten, etwa 70 RM für 1 hl Weingeist, während
die Monopolverwaltung den Spiritus gegenwärtig zu 15 RM für 1 hl für
motorische Zwecke, zu 30 RM für technischen Bedarf und Haushaltungs-
zwecke, dagegen zu 430 RM für Trinkzwecke verkauft. Von den 430 RA
muß die Monopolverwaltung einen Betrag von 280 RM an die Reichskasse
als Branntweinsteuer (bisher Hektolitereinnahme genannt, später soll ste
Monopolreichsgeld heißen) abführen.
Der Entwurf versucht, mit diesem, aus kaufmännischen und sozial-
politischen Gründen unerträglichen Preissystem zu brechen, indem zukünftig
die Brennereien zu der Verbilligungsaktion herangezogen werden sollen.
Der überwiegend größte Teil des der Monopolverwaltung zur Verfügung
stehenden A wird aus den besonders in Ostdeutschland liegenden
landwirtschaitlichen Brennereien bezogen, und zwar kamen im letzten Ge-
schäftsjahr der Reichsmonopolverwaltung, das vom 1. Oktober 1924 bis
30. September 1925 läuft, von der 1765039 hl Weingeist umfassenden
Gesamtproduktion allein 1 275 581 hl aus den landwirtschaftlichen Brennereien.
Dort wird der Spiritus hauptsächlich (in dem vergangenen Betriebsjahre
1 121 628 hl) aus Kartoffeln gewonnen. Die Landwirtschaft wendet gegen
die Auffassung, daß die eh S von Kartoffeln zur Spirituserzeugung
einen sehr erheblichen Verlust an Nährstoffen bedeute, ein, daß für den
1) Der Aufsatz ist, gekürzt, der „Deutschen Handelswacht“ 33. Jg. Nr 14 entnommen. Au‘-
führlicher schrieb derselbe Verfasser „zur Reform des Branntweinmonopols* in H. TJuli) der
„Deutschen Arbeit“.
Böhme, Die deutsche Spiritusbewirtschaftung. 179
landwirtschaftlichen Betrieb bei leichtem Ackerboden, wie er in Ostdeutsch-
land zu finden ist, der Brennereibetrieb eine Notwendigkeit sei. Die land-
wirtschaftlichen Brennereien erhielten als Nebenprodukte bei der Erzeugung
von Spiritus die für die Viehhaltung und für die Düngung unentbehrliche
Schlempe. Die Unentbehrlichkeit der Kartoffelbrennerei für die Landwirt-
schaft bei leichtem Boden ist übrigens auch in Fachkreisen nicht unwider-
sprochen geblieben. ......
Gegenwärtig werden etwa zwei Drittel der deutschen Spiritusproduktion
für technische und gewerbliche Zwecke verbraucht, während etwa ein Drittel
als Trinkbranntwein Verwendung finde. Für eine Anzahl wichtiger
und nützlicher Industriezweige (Farben, Lacke, Sprengstoffe,
Kunstseide, Kunstleder, Zelluloid, Films, Essenzen, Heilmittel usw.) ist man
auf den Bezug von billigem Spiritus angewiesen, und als Beleuchtungs-,
Koch- und Heizmittel spielt dieses Produkt auch heute noch in Millionen
von Haushaltungen trotz Ausdehnung der Gas- und elektrischen Beleuchtung
eine nicht zu unterschätzende Rolle. Für motorische Zwecke erobert sich der
Spiritus immer neue Absatzmöglichkeiten. Kurz und gut, selbst bei zu-
nehmendem Rückgange des Trinkbranntweinverbrauches bieten sich dem
Spiritus noch große Verkaufsmöglichkeiten für technische Zwecke. Voraus-
setzung hierzu ist eine erhebliche Senkung der Selbstkostenpreise, denn der
Weltmarktpreis beträgt etwa 25 bis 30 RM für 1 hl.
Wirtschaftliche und politische Rücksichten sowohl auf die ostdeutschen
Brennereibetriebe, wie auf die vielen Tausende süddeutscher Kleinbrenner
erschweren allerdings eine rationelle und preissenkende Spiritusbewirt-
schaftung. Die bisher von der Reichsmonopolverwaltung zumeist unter dem
Drucke der parlamentarischen Gesetzgebung und im Hinblick auf die von
starken Interessen beeinflußte Zusammensetzung des Beirates betriebene un-
kaufmännische Produktions- und Preispolitik führte zu manchen volks- und
rivatwirtschaftlichen Absonderlichkeiten. So sitzt das Monopol schon seit
angem auf einem Lagerbestande fest, der ungefähr der gesamten deutschen
lahreserzeugung gleichkommt. Nach dem Entwurf soll das Monopol zu-
künftig ein selbständiges Unternehmen wie etwa die deutsche Reichspost dar-
stellen. Durch eine Neutralisierung des Beirates, der zukünftig den Namen
Verwaltungsrat führen soll, hofft man die zu starken Interessenteneinflüsse
auszugleichen und die Schwierigkeiten mildern zu können.
Böhme.
Die Polizeistunde in Deutschland.
Seit einer Reihe von Jahren wird die Frage der Polizeistunde in Deutsch-
land und insbesondere in Preußen fast unausgesetzt erörtert. Auf der einen
Seite fordern die Wirte, und zwar, wie es scheint, nur eine einflußreiche
Minderheit von ihnen, die Verlängerung und neuerdings die völlige Auf-
hebung der Polizeistunde. Die sozialen Organisationen treten diesen Forde-
rungen entgegen und haben bisher mit Erfolg eine ungünstige Aenderung
der Bestimmungen über die Polizeistunde verhindert. Immerhin besteht ständig
die Gefahr, daß die Preußische Regierung (der Minister des Innern) dem
Drängen der Interessenten wenigstens zu einem Teil nachgeben wird.
euerdings ist nun in der Gastwirtsgehilfen-Zeitung, die in Berlin er-
scheint (Nr. 30 vom 29. 7. 1926) ein sehr lehrreicher Aufsatz erschienen, der
überzeugend darlegt, wie wenig gerechtfertigt auch vom Standpunkt des
Gastwirtestandes aus die Forderung nach einer Verlängerung oder Aufhebung
der Polizeistunde ist. Wir lassen die wichtigsten Absätze dieses Aufsatzes
hier folgen:
Weshalb verlangen die Unternehmer die Beseitigung bzw. Verlängerung
der Polizeistunde? Schon die Frage enthält einen Fehler, denn nicht „die
Unternehmer“, sondern nur „gewisse Unternehmer“ stehen hinter dieser
12°
180 Abhandlungen.
Forderung. Der großen Mehrzahl der gastwirtschaftlichen
Unternehmungen ist die Polizeistunde völlig sen
gültig. Ihre Inhaber wissen, daß nach Mitternacht in normalem Geschäfts
betrieb nicht mehr viel zu holen ist. Sie sind froh, wenn sie um I Uhr
morga endlich die Bude schließen können, genau so wie fast jeder Klein-
händler froh ist, daß er Sonntags seinen Laden nicht mehr zu öffnen braucht.
Und unter dieser Mehrzahl der Abseitsstehenden sind gar viele, wahrschein-
lich sogar die meisten, die nur mit Schrecken an eine Verlängerung der
Polizeistunde denken. Der Großbetrieb braucht die Polizeistunde nicht. Fūr
ihn ist das Geschäft um Mitternacht vorbei, und wenn er auch zur Be-
quemlichkeit der bereits Anwesenden noch bis 1 Uhr offen hält, so sucht
er doch gleichzeitig sich die in dieser Stunde noch eintreffenden Spätlinge
vom Halse zu halten. Wie aber steht es mit dem einfachen Gastwirt, der
nicht gerade im Strudel des Nachtverkehrs fischt, sondern in einem soliden
Wohnviertel sein Gewerbe treibt? Einer seiner Zunft kommt auf die un-
glückliche Idee, es mit dem Längeroffenhalten zu versuchen. Er beantragt
also und erhält, da gegen ihn absolut nichts einzuwenden ist, eine bis 2 oder
4 Uhr verlängerte Polizeistunde. Natürlich nützt er sie zunächst ganz ohne
Rücksicht auf ihr wirtschaftliches Ergebnis aus, um seinen Nachtbetrieb be-
kannt zu machen. Die Folge ist, daß schon nach drei bis vier T
die anderen Wirte der Gegend von ihren getreuen Stammgästen verwund
gefragt werden, warum denn nicht auch sie länger offen hielten. Gewöhnlich
ehlt dann auch die freundliche Bemerkung nicht, daß man es „wahrscheinlich
nicht nötig habe“. Natürlich bemühen sich nunmehr auch alle anderen Wirte
der Nachbarschaft, wenn auch im stillen fluchend, um eine Nachtkonzessior.
Sie ist jetzt zur Ehrensache geworden, und wer sie nicht besitzt, kommt
in den Verdacht, etwas ausgefressen zu haben. Und wer sie nicht ausübt,
kommt in den Verdacht, sie nicht zu besitzen. Es kommt hinzu, daß viele
Wirte nicht mit Unrecht fürchten, die Gäste, die länger sitzen bleiben wollen,
würden dann gleich zu Anfang in die Lokale mit längerer Polizeistunde
Es ist ein offensichtlicher, auf die Oberflächlichkeit des breiten Publikums
und der Tageszeitungen berechneter Schwindel, wenn die Gastwirteorganı-
sationen behaupten, wo kein Bedürfnis sei, werde auch keiner länger aul-
halten, als er nötig. Die langjährigen Erfahrungen aus der Vorkriegs-
zeit beweisen das Gegenteil und würden noch erdrückender sein, wenn nicht
damals die Polizeibehörden mit der Erteilung von Nachtkonzessionen ziemlich
sparsam gewesen wären. Man sollte doch auch nicht an der Tatsache vorüber-
schen, daß z. B. der Bayerische Gastwirteverband im Vorjahr mit großer
ehrheit den Antrag ablehnte, die Polizeistunde ganz aufzuheben, und daß
er sich nur für eine gleichmäßige Ausdehnung bis 1 Uhr nachts aussprach....
In München wurde Anfang November 1925 eine große Protest-
versammlung gegen die Polizeistunde (12 Uhr) veranstaltet, bei welcher
der Referent, Cafehausbesitzer Stüber aus Berlin, als ultima ratio den Steuer-
streik an die Wand malte. Das hinderte aber eine ganze Reihe von Dis-
kussionsrednern nicht, ganz energisch gegen jede Verlängerung der Polizei-
stunde zu sprechen. Selbst der Vorsitzende der Gastwirteinnung erklärte,
er müsse zwar aus Solidaritätsgründen für eine Verlängerung der Polizei-
stunde stimmen, er persönlich aber habe mit seiner Frau schon genug daran,
Tag für Tag bis 12 Uhr nachts aufbleiben müssen. — Die Protestresolution
wurde natürlich angenommen, aber beinahe gleichzeitig mit ihr ging dem
Münchner Polizeipräsidenten eine andere, von 80 Wirten (darunter den be-
kanntesten und größten) unterzeichnete Eingabe zu, in der gegen die von
der Versammlung verlangte Verlängerung der Polizeistunde nachdrücklichst
protestiert wurde. ......
‚ London, New-York und andere Weltstädte haben
einen weitgrößeren Fremdenverkehr als Berlin, obwohl
inihnen der nächtliche Junkel-Funkel unbekannt ist. Wie
sah denn das wieder so heiß angestrebte Berliner Nachtleben der Vorkriegs-
Die Polizeistunde in Deutschland. 181
zeit aus? Nach außen übertriebene Eleganz, an welche der Fachmann freilich
nicht allzu nahe herangehen durfte. In den Cafes wurde jedes Stückchen alt-
backene Torte von mindestens sechs Glühbirnen bestrahlt. Aber die eigent-
lichen Darbietungen waren doch immer nur recht unbeholfene und unzu-
reichende Imitationen der Pariser und Brüsseler Nachtlokale und des da-
maligen amerikanischen Vergnügungsrummels. Und das Publikum, bestand
es wirklich aus Fremden? Es ist doch öffentliches Geheimnis, daß es sich
einem recht erheblichen Teile aus Leuten zusammensetzte, für die sich be-
sonders Staatsanwälte und Polizei interessierten: Rennbahnschieber, Falsch-
spieler, Portokassenjünglinge, Lebemänner mit widernatürlichen Neigungen
auf der einen, Dirnen mit und ohne „Buch“ und deren „Beschützer“ und
„Freunde“ auf der anderen Seite, Und dazwischen tatsächlich ein paar
Fremde, die sich den Rummel einmal ein bißchen ansehen, und ein paar
brave Berliner purger mit ihren Ehefrauen, die im Anschluß an einen Theater-
besuch auch einmal ihre Neugierde befriedigen wollten. ......
Nun sagen die braven Gastwirte, durch die Polizeistunde würden nur
dieverbotenen Nachtlokale gefördert. So schrieb z. B. das „Gast-
haus“ Ende Oktober 1925: „Es kann außerdem von keinem Sachkenner ge-
leugnet werden, daß die vorzeitig (1 Uhr) festgesetzte Polizeistunde und ihre
strenge Ueberwachung immer und überall ganz erheblich dazu beigetragen
hat, ein obskures, ein Keller- und Hinterhofnachtleben mit Nackttanz und
wüsten Ausschreitungen aufkommen zu lassen.“ Selbstverständlich sind der-
artige Unternehmungen, deren Zahl und Bedeutung übrigens von der immer
sensationslüsternen Presse und von gern öffentlich hervortretenden Polizei-
beamten wesentlich übertrieben wird, nicht nur den Herren Gastwirten,
sondern allen anständigen Leuten ein Stein des Anstoßes, und niemand wird
ihre Beseitigung verhindern wollen. Aber glauben denn die Gastwirte
wirklich im Ernst, daß auch nur ein Gast mehr zu ihnen kommen wird, wenn
diese Betriebe verschwinden? Das hieße doch die sinnliche Einstellung dieser
Art Gäste aufs gröbste verkennen. Sie verlangen Bordelluft um jeden Preis
und dazu, wenn möglich, etwas Sensation, wenn sie auch nur in einem
lötzlichen Einbruch der Polizei bestände. Dieses Dirnenmilieu und diese
‚ Der „Berliner Lokalanzeiger“ behauptet, daß die Polizeistundenbriefe,
die er bekomme, durchaus nicht nur von jungen Schwerenötern und Sause-
winden sein, nein, auch ergraute Herren schrieben, daß die vermaledeite
Polizeistunde endlich fallen müsse. „Fort mit der für eine Weltstadt unpassen-
den Polizeigrenze!“ schreibt ihm „ein alter Oberst, der sich auch einmal ein
bißchen amüsieren will“... ....
... alle diese guten Leute scheinen nicht zu wissen, daß man in ganz
England, wo nur ganz wenig zahlreiche Tanzlokale bis 2 Uhr offen halten
ürfen, eine um 11 Uhr eintretende, sehr streng gehandhabte Polizeistunde
hat, daß diese für Holland auf 12 Uhr (Ausnahmen bis 1 Uhr), in der Schweiz
auf 12 Uhr (Ausnahmen bis 1 Uhr) und in Oesterreich spätestens auf 1 Uhr
festgesetzt ist. Auch in Frankreich gehen die spätesten Kneipgäste infolge
polizeilicher Anordnung um 1 Uhr nach Hause, und nur in Paris, im
immlischen Paris, dauert der Spaß bis 2 Uhr, auf Montemartre und in der
Gegend der Markthallen sogar die ganze Nacht hindurch. Was freilich nicht
ausschließt, daß die weitaus meisten Geschäfte schon zwischen 10 und 11 Uhr
Unsere Herren Arbeitgeber sind, von zählbaren rühmlichen Aus-
nahmen abgesehen, jeden sozialen Verständnisses und jeden sozialen Willens
- Wenn die Herren Cafehausbesitzer jetzt auf ihrem Münchner Verbands-
tage wider besseres Wissen behaupten, daß eine Verlängerung der Polizei-
de eine vermehrte Personaleinstellung nach sich ziehe, so hüten sie sich
wohlweislich, darauf hinzuweisen, daß das bei den bisherigen wiederholten
182 Abhandlungen.
Polizeistundenverlängerungen der Fall nie gewesen sei. Wir aber haben ihnen
immer wieder nachgewiesen, daß diese Behauptung in schroffem Widerspruch
zu den Beschlüssen ihrer Organisation steht... ....
„ ». Was die Unternehmer unseres Gewerbes wollen, das sagt ganz
klar erkenntlich ein Artikel „Ruhetage‘“ der „Deutschen Gastwirte-Zeitung“
vom 10. 7. 1926. Hier heißt es in der Einleitung: „Wer auch nur einiger-
maßen Einblick in die Wesensart des Gastwirte- und Hotelbetriebes hat, der
wird ohne weiteres anerkennen, daß ein fester bestimmter wöchentlicher Ruhe-
tag hier nicht in Frage kommen kann, daß aber jeder verständige Betriebs-
leiter seinen Angestellten und Mitarbeitern, wann und wo immer möglich.
Ruhepausen und Erholungsurlaub von Herzen gönnt, sofern dadurch nicht
die Durchführung des gesamten Betriebes gefährdet wird. So haben wir in
Deutschland auf Grund schiedlich-friedlicher Vereinbarungen eine, wenn auch
nicht tadellos wirksame Regelung der Sonntags- und Ruhepausen in gast-
wirtschaftlichen Betrieben, so doch eine den realen Verhältnissen und ab-
soluten Erfordernissen der Betriebe anp panie Ordnung der Arbeits- und
Erholungspausen.“ — Eine geradezu großartige Irreführung, denn wir haben,
abgesehen von einigen Dutzend Tarifvereinbarungen in Großädten, für einen
sehr großen Teil der gastwirtschaftlichen Arbeitnehmer überhaupt keine
Regelung der Ruhetage. Zwar schreibt eine Bundesverordnung vom 23. 1. 1902
vor, daß in allen Städten mit mehr als 20000 Einwohnern in jeder zweiten
Woche, in kleineren Orten in jeder dritten Woche im Anschluß an eine Nacht-
ruhe eine 24stündige Pause zu gewähren ist; aber diese Verordnung gilt
erstens nur für das gelernte Personal, also keineswegs für das zahlreiche
Hilfspersonal, und zweitens wird sie auch heute noch in schier unglaublichem
Umfange übertreten. Demgemäß haben viele Tausende gastwirtschaftliche
ar das Vergnügen, jahraus, jahrein 365 Tage hintereinander 14 bis
15 Stunden täglich zu arbeiten. ...... s
Berichtigungen
zum Aufsatz von Prof. Julius Donath: „Die Wirkung des ameri-
kanischen Alkoholverbots auf die Tuberkulose“ (in Hef 2
unserer Zeitschrift).
S. 82 18. Zeile von oben: statt 1910 lies 1919 und
„ 38,2 % „ 36,8 %
29 92) 21. 99 39 29 „ 30,3 % 99 28,9 %
»» & „ „ unten „ 412% „ 261%
u o u = „ 40,0% „ 24,9%
Chronik
für die Zeit vom 1. Juli bis zum 31. August 1926.
Von Pastor Dr. Christian Stubbe.
A. Zwischenstaatliches.
Das finnländische Komitee zur Prüfung der Ueberwachungsmaßnahmen
des Alkoholverbots hat angeregt, daß Finnland die Bekämpfung des Sprit-
schmuggels durch den Völkerbund für dessen Septembertagung beantrage.
(„Arbeiterzeitung‘“ 12. 7.)
Im Handelsvertrag zwischen Deutschland und Finn-
land ist für die finnländischen Preißelbeeren (gleich den schwedischen) Zoll-
freiheit vorgesehen (1925 Ausfuhr nach Deutschland 20 Millionen finn. M.).
Der Zoll für Milch und Rahm beträgt 40 RM. Beide Länder haben sich ver-
pflichtet, keine Ein- und Ausfuhrverbote zu erlassen; nur das Alkoholverbot
hat sich Finnland vorbehalten. („Voss. Ztg.“ 3. 7.)
Ein vorläufiger Handelsvertrag tritt zwischen Deutschland
und Frankreich 20. 8. in Kraft. Ueber Einzelheiten wird 6. 8. amtlich
u. a. rahtet: Von der französischen Wirtschaft genießt die Hauptvorteile
des Abkommens die französische Landwirtschaft, besonders auf die Einfuhr
von Früchten, Apfelsinen, Zitronen und landwirtschaftlichen Kolonialproduk-
ten. Im allgemeinen wird die Einfuhr frei. Hopfen ist kontingentiert. Be-
troffen wird Frankreich durch den Ausschluß der gewöhnlichen Weine von
den Vorteilen des Abkommens.
Dorpat stand für die Zeit vom 17. bis 29. Juli im Mittelpunkte
des Weltinteresses der Nüchternheitsfreunde. Eine ganze
Reihe von internationalen und nationalen Veranstaltungen schloß sich zu
einem stattlichen Kranze zusammen. Die Hauptveranstaltung war der 18. Inter-
nationale Kongreß gegen den Alkoholismus. Ueber ihn erscheint in dieser
Zeitschrift ein besonderer Aufsatz (vgl. S. 153 ff.). An dieser Stelle sei deshalb
nur bemerkt, daß auch literarische Gaben nicht fehlten. Wir zählen die von
den Nordanierikanern zur Verteilung gebrachten Schriften auf, sämtlich
neuesten Datums, weil dadurch ein Ueberblick über die aktuelle Verbots-
literatur geboten wird: Billard: Coast Guard Service of the U. S. strikely
effektive in Prohibition enforcement. — Borah, The Constitution and Pro-
hibition. — Cannon, Drink. — Cassidy, Prohibition a great success. —
Cherrington, What became of the distilleries, breweries and saloons in
the U. S. of America. — Johnson, The Church in action against the drink
traffic. 10 years prohibition in Oklahama. The South Carolina Liquor
Dispensary. — Isman, The effect of the prohibition upon realty values. —
Manning, The question of prohibition. — Sargent, Adress before New
York State Bar Association. — Stoddard, More Massachusetts Records
and Prohibition. Prohibition and youth. — Sullivan, Law Breaking
before and since the prohibition. — Wishart, The latest about prohibition
in the U. S. of America. — Außerdem die Flugschriften: Federal Council of
the churches unshaked in its stand for American prohibition. — Report of
ubcommittee of the Committee on alcoholic liquor traffic. House of Repre-
sentatives 168 congr., L. Session.
Das Abgeordnetenhaus in Paris hat beschlossen, in Paris ein inter-
nationales Weinbureau einzurichten (entsprechend zwei Weinkonfe-
Tenzen, auf welchen Italien, Griechenland und Frankreich vertreten waren).
Seit den Konferenzen sind Anschlußwünsche aus Oesterreich, Ungarn, Luxem-
burg, Mexiko, Chile und Tunis gekommen. Als Zweck des Bureaus wird
184 Stubbe, Chronik.
der Welt zukommt“. („The Am. Iss.“
Die Versammlung der Direktoren des Rechabitenordens, welche
in Manchester stattfand, erklärte den Brüdern in den Vereinigten Staaten |
ihre Anerkennung wegen des Alkoholverbotes, verurteilte die Gesetzes-
verletzung durch britische Bürger um schnöden Gewinns halber und gelobte,
ihren Einiluß auf die öffentliche Meinung geltend zu machen, daß der Bruch
amerikanischer Gesetze durch britische Individuen nicht mehr geduldet
werde. („The Am. Iss.“ No. 7.)
Strittig ist, ob die in den Papa Staaten geltende Prohibition auch
für die Philippinen Gesetz ist. Das nordamerikanische Staatsdeparte-
ment bejaht, das Kriegsministerium verneint die Frage. Es hat sich die „
Praxis herausgebildet, daß auf den Inseln Alkohol getrunken, aber jede
Schiff, welches Alkohol bringt, mit 10 Dollar Strafe belegt wird. Die eng-
lische Regierung hat dagegen Vorstellungen in Washington erhoben. Auch
andere Regierungen drängen auf Klärung. („Hamb. Fremdenblatt“ 14. 7.)
Die deutsche Hopfenernte für 1925 wird von den „Münch. N. N.“
(2. 7.) auf 30 000 Ztr., in der Tschechoslowakei auf 143800 Ztr., die Welt-
ernte auf 1,16 Millionen Ztr. — nach dem Bericht der Hopfenbaufirma Barth
und Sohn — angegeben. Die Weltbiererzeugung hat 1925 eine weitere
Erhöhung von 159 auf 174 Millionen hl erfahren. Die hohen Preise des 1925er
Hopfens haben zu einer ee P der Anbaufläche (in Deutschland 2%
bis 30 Prozent) geführt. Die deutsche Hopfenausfuhr betrug 1925 nur 1100
Zentner, die Einfuhr dagegen von September 1925 bis April 1926 rund
108 000 Ztr. Deutschlands Anteil an der europäischen Hopfenanbaufläche ging
von 56 Prozent 1900 auf 35 Prozent 1925 und sein Anteil an der Hopfen- 1
ernte von 57 Prozent auf 25,8 Prozent zurück. Im März d. J. wurde ın
Deutschland eine Gesellschaft für Hopfenforschung begründet, in der sich
aii ln Handel und Produktion unter Mitwirkung der Regierung
tätigen.
bezeichnet: „dem Wein den Platz zu geben, Na ihm auf jedem Tisch in
o. 6.
B. Aus dem Deutschen Reiche.
Allgemeines.
Der handelspolitische Ausschuß der Vereinigung deutscher Bauern-
vereine hat 28. 6 in Berlin Stellung zu den schwebenden zollpolitischen
Fragen genommen; u. a. verlangt er zur Gerstenzollfrage, daß „die Brau-
ge ? ste im richtigen Verhältnis zu den übrigen Getreidearten geschützt“
werde.
Es ist zwischen dem Reichsfinanzministerium und dem Kommissar für
die verpfändeten Einnahmen Mac Fadyean jetzt eine Verständigung über die
Biersteuer zustande gekommen. Der Kommissar hat sich damit einverstanden
erklärt, daß die Erhöhung der Biersteuer bis zum 1. Januar 1927 verschoben
wird, während der Reichsfinanzminister sich bereit erklärt hat, eine Garantie
dafür zu übernehmen, daß eine Schädigung der Reparationskasse durch die
Steuerermäßigungen nicht eintritt und daß, falls die ee Son Bier-
steuererhöhung einen Ausfall DR sollte, der ausiallende Betrag aus
anderen Einnahmen des Reiches gedeckt werden würde. („Kiel. Ztg.“ 29. 7.)
Der wirtschaftspolitische und der finanzpolitische Ausschuß des vor-
läufigen Reichswirtschaftsrates nahmen den Bericht des Arbeitsausschuses
zur Beratung des Entwurfes eines Spiritus-Monopolgesetzes ent-
gegen. Der Gesetzentwurf bringt gegenüber dem zurzeit bestehenden Plan
im Monopolgesetz wesentliche Aenderungen. Das Monopol wird ein selb-
ständiges Unternehmen der Reichsbetriebe. Die Mitglieder des Verwaltungs-
rates werden zu einem Teil vom Reichsfinanzminister, zum andern Teil von
den großen Spitzenverbänden berufen. Die Ausschüsse sind zu dem Er-
gebnis gekommen, daß die Vorschläge des Gesetzentwurfes weitgehend zu
verbessern, haben auch zahlreiche Abänderungsvorschläge gemacht.
Stubbe, Chronik. 185
DieBranntweinbrennerundLikörfabrikantendes Mosel-,
Saar- und Eifelbezirkes haben (entsprechend der Landwirtschaftskammer der
kheinprovinz) in einer außerordentlichen Hauptversammlung Stellung gegen
den genannten Entwurf genommen: Die Abfindungsbrennereien seien vor
allem fürs Weinbaugebiet von größter wirtschaftlicher Bedeutung; man ver-
lange statt der Schädigung durch das neue Gesetz vielmehr Förderung und
Aulbau dieser Brennereien. (Cobl. „Gen.-Anz.“ 26. 7.) — Auch der Badische
Winzerverband faßte auf seiner Generalversammlung 4. 7. eine Ent-
IE au Ablehnung des neuen Spiritusmonopolgesetzentwurfes. („Bad.
resse“ 7. 7.)
Der Kampf um den Entwurf -des Schankstättengesetzes geht weiter. Wäh-
rend der Reichsverband des deutchen Handwerks grundsätz-
lich zustimmt und sogar einer Verschärfung der Bestimmungen wünscht,
die es ermöglichen, ein Entstehen weiterer Bars, Likörstuben und dergleichen
zu verhindern und die Ueberzahl der schon konzessionierten Betriebe auf
ein erträgliches Maß zurückzuführen („Bäcker- und Kond.-Ztg.“ 19. 7.),
machen die Gastwirte kräftig dagegen mobil: „Der neue Entwurf ist
den früheren verschärft worden. Es muß alles aufgeboten werden, um
die Gesetzwerdung zu verhindern.“ („Berl. Gastw.-Ztg.“ 24. 7.) Auch die
Kolonialwarenhändler sehen ihre Interessen bedroht und haben z. B. in
Mecklenburg eine Entschließung gegen den Entwurf gefaßt. (Dtsche. Kolonial-
waren- und Lebensm.-Rundschau“ 7. 7.
Der preußische Minister für Volkswohlfahrt hat unter dem 19. Februar
d. J. einen Erlaß an die Regierungspräsidenten gerichtet, worin er die Ein-
richtung ärztlich geleiteter Eheberatungsstellen in Gemeinden und
Kreisen empfiehlt. In dem beigefügten Entwurf des Preußischen Landes-
undheitsrats für den Gang solcher Beratung ist unter den Fragen nach
rankheiten des Ehebewerbers auch diejenige nach dem Gebrauch von
Alkohol (wie von andern len usf.) vorgesehen. (Zeitschrift für Volks-
aufartung 1926, Nr. 4, „Zeitungsdienst der Reichshauptstelle g. d. A.“ Nr. 6.)
Auf das kräftigste treten die Gastwirtsgehilfen in der „Gast-
wirtsgehilfen-Zeitung Nr. 30 (29. 7.), („Zentralverband der Hotel-, Restaurant-
und Cafe-Angestellten‘“) für die Erhaltung der Polizeistunde ein.
(Vgl. S. 179 if. dieses Heftes der „Alkoholfrage“.) Ä
Statistisches.
ErstaunlichstarkeZunahmedesFlaschenbierhandels
meldet Nr. 25 der „Süddeutschen Brauer-Nachrichten“. Für Nürnberg (330 000
Einwohner) seien 1925 nicht weniger als 204 Neuanmeldungen zu verzeich-
nen (!). Dabei hat der Kleinhandel im Regierungsentwurf des neuen Schank-
stättengesetzes sogar Freigabe des Flaschenbierhandels im Umherziehen
durchsetzen können! („Ztgs.-Dienst der R. g. d. A.“ Nr. 6.)
„Ein gesegnetes Geschäftsjahr“ überschreibt das „Gasthaus“
vom 5. Juni einen eingehenden Bericht über die Ergebnisse der deutschen
Brauereien im Jahre 1925. Die ausgezahlten Dividenden (10—18 v. H.) drück-
ten durchaus nıcht das wirkliche eschäftsergebnis aus; sie seien miehr Aus-
druck einer stark zurückhaltenden Finanzpolitik der Gesellschaften. Außer-
ordentlich hohe Abschreibungen (bei Berliner Kindl sogar 29 v. H. des
Aktienkapitals!) seien möglich gewesen. Durchweg steigende Reingewinne
ı steigenden allgemeinen Unkosten bewiesen am besten die glänzende
onjunktur der Brauindustrie im abgelaufenen Jahre. Eines stehe fest,
so schließt der Bericht: die Großbanken seien heute auch an der Brau-
industrie die bestimmenden Faktoren (!!). (Ebenda.)
Preußen hatte 1925 18644,1 ha Rebfläche, von denen 16 156,5 ha
ertragsfähige Fläche waren (15 347,2 ha weißes, 809,3 ha rotes Gewächs); das
Rofetretene Land und das Saargebiet sind nicht mitgerechnet. Die preußische
Rebfläche beträgt 0,101 Prozent der landwirtschaftlichen, bzw. 0,064 Prozent
der Staatsfläche (das Deutsche Reich hatte 1925 81 141 ha Rebfläche, die
186 Stubbe, Chronik.
0,172 Prozent des Gesamtlandes ausmachen). Im ganzen hat sich die Wein-
fläche von 1878 bis 1925 nicht sehr verändert. 1878 waren es 1374 ha. Das
Hauptweingebiet liegt am mittleren Rhein und seinen Nebenflüssen. In der
Inflationszeit, als der ausländische Wettbewerb fast ausgeschaltet war, nahm
der Weinbau abnorm zu (z. B. wuchs er im Regierungsbezirk Trier von
3377 ha auf 5552 ha 1923, sank aber 1924 bereits wieder auf 5307 ha). („Statist.
Korr.“ Nr. 27 — 22. 7.)
fm Rechnungsjahr 1925 hat das Reich 256 Millionen an Biersteuer
verannabm = sind noch nicht 4 Prozent der gesamten Einnahmen. („Abst
rbr.“ Nr. 7.
Aus dem „Statistischen Jahrbuch für die Freie und Hansastadt
Hamburg 1925“ Hamburg 1926: Am Schlusse des Jahres 1925 gab es ın
nun im Stadtgebiet im ganzen 3290 Schankstätten mit Branntwein-
ausschank,
212 ohne Branntweinausschank, 332 ohne Alkoholausschank (die
entsprechenden Zahlen für 1920 lauten: 3812, 185, 326; die für 1915: 3904,
302, 266; die für 1903: 2486, 1577, 102), im Landgebiet 363 Schankstätten
mit Branntweinausschank, 7 ohne Branntwein-, 36 ohne Alkoholausschank
(die entsprechenden Zahlen für 1920 lauten: 372, 9, 34; für 1915: 408, 23, 35;
die für 1903: 419, 11, 26). Kleinhandlungen mit Branntwein gab es im Stadt-
ee Ende 1925 994, im Landgebiet 100 (die entsprechenden Zahlen lauten
ür 1920: 667 bzw. 76; die für 1915: 617 bzw. 81; die für 1903: 653 bzw. 8).
Anträge auf Erteilung der vollen Konzession wurden im Staatsgebiet 195
858 gestellt, davon 778 genehmigt, 80 abgewiesen, Anträge auf Erteilung der
halben Konzession 6 (genehmigt 2, abgewiesen 4), Anträge auf Erteilung der
Erlaubnis zum Kleinhandel mit Branntwein 192 (genehmigt 104, abgewiesen
88), Anträge auf Erteilung der Erlaubnis zum alkoholfreien Ausschank 16!
(genehmigt 144, abgewiesen 17), Rekurse gegen die Entscheidung 88 (zurüd-
genommen 13, als indet anerkannt 14, verworfen 45, unerledigt 16), ent-
zogene Konzessionen 3.
Vereinswesen.
Ueber den deutschen Guttemplertag in Hamburg, der zum
guten Teil sich zu einer Ehrung des jetzt 25 Jahre amtierenden Großtemplers
gestaltete, vgl. Nr. . . dieser Zeitschrift.
In der 97. Generalversammlung des Vereins Pommerscher
Brennereiverwalter wurde u. a. von Dr. Dehnicke in einem Vortrag
über den Stand der Brennereitechnik ausgeführt, daß Kartoffelflocken an Stelle
von Mais in der Kornbrennerei zu verwenden seien; auf diesem Gebiete se
die Maiseinfuhr völlig zu entbehren. Aehnlich liegen die Dinge bei der Ver-
sorgung unserer Wirtschaft mit Motortriebstoff; hier sei der Spiritus berufen,
den größten Teil der Benzineinfuhr überflüssig zu machen. („Deutsche
Tagesztg.“ 27. 7.)
Kirchliches.
Evangelisch. Der ZentralausschußfürdielnnereMis-
sion hat 11. 5. 26 Richtlinien zur Weiterführung der Bekämpfung des
Alkoholismus beschlossen. Er weist hin auf die Bildung einer Arbeitsgemein-
schaft evangelischer Enthaltsamkeitsverbände, fordert die ihm angeschlossenen
Verbände zur Bildung von Antialkoholkommissionen auf und gibt dafür
verschiedene Winke (Enthaltsamkeit empfohlen aus taktischen Gründen,
Gründen der Nächstenliebe und aus Rücksicht auf das Volkswohl) — Abdruck
der Vfg. z. B. „Evg. Aufkl.-Dienst g. d. Alk.“ Nr. 6.
Die 13. Bundestagung desKirchlichen Blauen Kreuzes
fand 8. bis 12. Juli in Kiel statt. (Siehe Seite. .... )
Der Deutsche Bund evangelisch-kirchlicher Blau-
kreuz-Verbände hatte 1. 1. 1926 im ganzen 166 Vereine mit 3180 Mit-
gier 918 Anhängern, der Hoffnungsbund 26 Vereine mit 1125 Mitgliedem,
er Treubund 21 Vereine mit 448 Mitgliedern, — insgesamt 213 Vereine mit
5671 Mitgliedern.
aa a S ——
=a m
Stubbe, Chronik. 157
Auf der Hauptversammlung des Verbandes sächsischer Gast-
wirte wurde folgende Entschließung gefaßt: „Die 40. Jahreshauptversamm-
lu des sächsischen Gastwirteverbandes, die über 8000 selbständige Gast-
wirtsbetriebe vertritt, hat mit tiefem Bedauern davon Kenntnis nehmen müssen,
daß sich die evangelische Kirche dazu benutzen läßt, den Vorspanndienst
für die Abstinentenbewegung zu leisten. Eine Anzahl Geistlicher hat sich
dazu hinreißen lassen, von der Kanzel sowie bei Begräbnissen und in Wort
und Schrift gegen das Gärungs- und Ira he Bot: zu kämpfen. Die
Anwesenden erklären sich solidarisch, mit ihren Familien und Angehörigen
der evangelischen Kirche den Rücken zu kehren, wenn das Landeskonsistorium
nicht umgehend Veranlassung nimmt, den Geistlichen anheim zu geben, daß
sie ihren Dienst in Zukunft nicht mehr zu agitatorischen Zwecken der Ab-
stinenzbewegung benützen dürfen.“ („Christl. Welt“ Nr. 14.)
Katholisch. Am 18. Juli besteht das Kamillushaus in Heid-
hausen an der Ruhr 25 Jahre als katholische Trinkerheilstätte. Bis zum Welt-
aut hatten ca. 3000 Alkoholkranke dort Aufnahme gefunden.
achdem Anfang dieses Jahres ein Reichsausschuß deutscher
Katholiken für das Gemeindebestimmungsrecht gegründet
war, dem sich außer den 6 abstinenten Verbänden 20 nichtabstinente katho-
lische Verbände anschlossen, wurde in der Haupttagung dieses Ausschusses
8. 7. der Name geändert in Reichsausschuß deutscher Katho-
likengegendenAlkoholmißbrauch und damit der Ausschuß auf
ein breiteres Arbeitsziel eingestellt. (Vgl. S. . . . dieses Heftes der „Alkoholfr.‘‘)
Sonstiges.
Ein Weinschiff, welches von Düsseldorf kam und Faßweine sowie
Kisten mit Flaschenweinen geladen hatte, kenterte an der Kölner Süd-
brücke. Ein großer Teil der Ladung trieb ans Land und wurde vom
Publikum in Besitz genommen. Allgemeine Betrunkenheit. Die Polizei lieferte
etwa 20 sinnlos Betrunkene an Kölner Krankenhäuser ab, von denen bald
4 starben. („Berl. Lok.-Anz.“ 7. 7.) Zwei der Männer, die nach „Strandgut“
fischten, fielen in den Fluß und ertranken. („D. Allg. Ztg.“ 7.7.) Auch in
Duisburg und in Hohenbugsberg trieben Fässer an und verursachten Wein-
orgien. (‚„Berl. Börsen-Cour.‘“ 10.7.)
Im letzten Winter starben in Münster und Haltern nach vorhergehender
Erblindung 14 Personen, die Schnaps aus der Branntweinfabrik des Kauf-
manns H. Dulle in Münster a hatten. Die Untersuchung ergab einen
Zusatz von 2 Prozent Methylalkohol, der als Todesursache zu gelten
habe. Dulle wurde 8. 7. zu 8 Monaten Gefängnis verurteilt wegen Vergehens
4 das Nahrungsmittelgesetz und fahrlässiger Tötung. („Gen.-Anz. f.
Ib. u. Barm.“ 8. T5
C. Aus anderen Ländern.
Amerika. Im „Rundgang durch die Weltmission“ heißt es in „Schl.-H.
Missionsblatt‘“ Nr. 8: Die era: hat namentlich in Chile
und Uruguay Fuß gefaßt. Chile steht unter den Wein produzierenden, aber
auch dem Trunke verfallenen Ländern mit an erster Stelle. Jetzt ringen vier
Bon Vereine mit der Trunksucht. Punta Arenas, der südlichste Hafen von
hile, ist schon trocken gelegt. Dasselbe gilt von einem Bezirk von Valparaiso.
In den Schulen und in öffentlichen Vorlesungen wird gegen die Trunksucht
zu Felde gezogen. Der Präsident Alessandrii unterstützt diese Bestrebungen.
In Uruguay ist die Enthaltsamkeitsbewegung so stark, daß man hofft,
dieses Land demnächst trocken legen zu können.
Dänemark. Die dänischen Abstinenzvereine haben auf ihrer Landes-
versammlung zu Kopenhagen beschlossen, eine Agitation um Unterschriften
mit dem Ziele einzuleiten, spätestens 1930 in Dänemark eine Volksabstimmung
über das Alkoholverbot durchzuführen.
188 Stubbe, Chronik.
Italien. Im Zusammenhang mit der Maßnahme gegen den Ueberfluß
hat Mussolini nach „Lavore d’Italia“ eine Bestimmung in Aussicht genommen,
daß alkoholische Getränke, sowie Tee und Kaffee nach 10 Uhr abends nicht
mehr ausgeschenkt werden dürfen. („D. Allg. Ztg.“ 1.7.)
Wirtschaften, in denen ausschließlich Alkohol (also auch Bier und
Wein) verkauft wird, dürfen während der Woche nicht vor 10, Sonntags nicht
vor 11 Uhr geöffnet werden. Vom 15. Mai bis 31. Oktober müssen sie
abends um 11 Uhr und vom 1. November bis zum 14. Mai abends um 10 Uhr
geschlossen werden. („De Wereldstr.‘“ 10.7.)
Litauen. Der Bund litauischer Landwirte hat mit Regierungsunter-
stützung große Obsttrockenanstalten — bis jetzt sind 15 bereit —
eingerichtet; man rechnet vor allem auf Eroberung des deutschen Marktes.
(„La Coop.“ 15.7.) |
Oesterreich. Bei der Eröffnung der Ausstellung über
alkoholgegnerische Jugenderziehung in Wien erklärte Bundes-
präsident Dr. Hainisch, er habe bei Begnadigungsgesuchen gefunden, dafi
die meisten Fälle von Totschlag durch Alkohol verursacht seien. Polizeilich:
Feststellungen, die auf seinen Wunsch vorgenommen seien, hätten ergeben.
daß 80 bis 90 Prozent aller Ausschreitungen und Sittlichkeitsvergehen auf die
Lohntage oder die Tage danach entfielen. („Nürnbg. Ztg.“ 2.7.)
Polen. Während der Wirren, welche die Pilsudsky-Revolution
brachte, waren die Wirtschaften geschlossen. („The Int. Rec.“ No. 39.)
Rußland. Inder Hygieneabteilungder MoskauerStadt:
verwaltung wurde berichtet, daß im Jahre 1926 in drei Monaten mehr
Fälle an Trunksucht festgestellt wurden als im ganzen Jahre 1925. Auch die
Zahl der an Alkoholismus Erkrankten war in diesem Jahre zweimal 0
hoch wie im Jahre 1924. Die Zahl derjenigen, welche die Beratungsstellen
gegen den Alkoholismus aufgesucht haben, war siebenmal so groß; % Proz.
von ihnen waren Alkoholiker, 10 Proz. Kokainisten und Morphinisten. In den
Schulen ist festgestellt worden, daß 60 Proz. der Schüler Alkohol genießen
und nur 15 Proz. niemals Alkohol zu sich genommen haben. Der Bericht
spricht geradezu von einer Alkoholepidemie. („Lpzg. Volkszig.‘“ 1.7.)
Die Erhöhung des Alkoholgehaltes des Wodka (von 30 al
40 Prozent im Oktober v. J.) hat freilich der Staatskasse genützt und die
bäuerlichen Geheimbrennereien geschädigt, aber den Trunk stark gemehrt.
Diesozialen Wirkungen sind höchst bedenklich. Die Arbeitsleistungen
der Einzelnen bleiben um 30 oder 40 Prozent zurück. Kraval, der Leiter
der wirtschaftlichen Abteilung des Höchsten Wirtschaftlichen Rates, empfiehlt
Vorschriften betr. Enthaltsamkeit während der Arbeit und ähnliches. („New
York Her.“ 13.7.) |
In der Aprilsitzung des Zentralen Exekutivkomitees hat der Finanz-
kommissionär Brjuchanov auf Grund der Einnahmen der verflossenen 6 Monate
festgestellt, daß die Einnahmen aus dem Schnapsverkauf im Etat dieses Jahres
410 bis 460 Millionen Rubel betragen werden, fast das Dreifache des Vor-
jahres, etwa ein Achtel des Gesamtbudgets. („Abst. Arbr.“ Nr. 7.) |
Schweden. Der Nüchternheitsverband schwedischer
Lehrer feierte 25. bis 27. Juni in Borgholm sein 25jähriges Bestehen.
Begründet im Juni 1906 in Upsala hat er es auf rund 4000 Mitglieder
gebracht und viel für die Nüchternheitsaufklärung des schwedischen Volkes
gewirkt. (Reformatorn“ 19. 6.)
Eine große Konferenz von fast 300 Abgeordneten, Vertreterinnen
der Frauenorganisation Schwedens, wurde kürzlich in Stockholm
abgehalten, um Frauenprohibitionskomitees in den verschiedenen Landes
teilen zu errichten und zu stärken und Vorbereitungen für die nächsten Parla-
mentswahlen zu treffen. — Auf der Tagung berichtete u. a. Prof. Bergman
Stubbe, Chronik. 189
über die Erfolge des Alkoholverbots in dem kürzlich von ihm besuchten
Nordamerika. („The Int. Rec.“ No. 39.)
Schweiz. Die Alkoholverwaltung hat die Monopolgebühr für
das aus dem Ausland eingeführte Mostobst mit Bezug auf dessen Trester
für dieses Jahr auf 2 Fr. für 100 kg festgesetzt. Auf Sendungen, die als
re erkennbar sind, wird eine Monopolgebühr nicht erhoben. („Bund“
Die Konferenz der Unterrichtsdirektoren der fran-
zösischen Schweiz, die in Genf tagte, hat beschlossen: 1. Ueber das Problem
Alkoholismus und Schule ist besonderes Material zu sammeln. 2. In den
Kantonen der französischen Schweiz ist die Aufklärung gegen den Alkohol
in stärkerem Maße durchzuführen. 3. Der Konferenz der schweizerischen
Unterrichtsdirektoren ist vorzuschlagen, im ganzen Gebiete der Schweiz eine
ähnliche Aktion durchzuführen. („Das Volk“ 21.6.)
Die 40. Jahreskonferenz der bischöflich-methodi-
stischen Kirche in der Schweiz (15. bis 22. Iuni in Winterthur) hat
einmütig an Bundesrat Musy und die zuständigen Kommissionen die Bitte
gerichtet, ihren ganzen Einiluß zur Unterdrückung der freien Distillation
einzusetzen. („La Rev. Laus.“ 24. 6.)
Die schweizerische Gesellschaft für Gesundheits-
pflege erklärt auf ihrer Jahresversammlung zu Schwyz, daß die Kom-
missionsberatungen der eidgenössischen Räte in der zu schaffenden Alkohol-
vorlage die gesundheitlichen und sozialen Fragen zu wenig berücksichtigen
und erinnert an ihre Resolution von 1925: 1. Die Einschränkung des Alkohol-
genusses ist heute eine der wichtigsten nationalen Aufgaben. 2. Es ist Pflicht
cer Behörden und der gemeinnützigen Organisation, die nötige Aufklärungs-
arbeit nach Kräften zu fördern. 3. Trotz Scheitern der Vorlage vom 3. 6.
1923 soll wieder eine umfassende Lösung gesucht werden, die geeignet ist,
unser Volk vor den Gefahren der Eigenbrennerei zu schützen und die Inter-
essen der Volksgesundheit allem anderen voranzustellen. („Kpir.‘“ 17.6.)
Tschechoslowakei. Die neue sog. Bedeckungsvorlage sieht u. a.
auch eine Erhöhung der Spiritussteuer vor. Zurzeit wird der
Sprit mit 25 Kr. das Liter reinen Alkohols besteuert, bei einem Verkaufs-
preis von 35 Kr. Eine Erhöhung von 2,80 Kr. soll in der Weise vor-
genommen werden, daß der Erzeuger 1,80 Kr., der Konsument 1 Kr. zu
tragen hat. („Prager Presse‘ 26. 6.)
Türkei. Die Regierung hat zur Durchführung des Monopols von
Alkohol und von Spirituosen ein Abkommen mit der Geschäftsbank der
Türkei und der Gesellschaft Natchelea abgeschlossen. Das Monopol soll vom
1. Juni 1926 bis zum 1. Juni 1951 dauern.
VereinigteStaatenvonNordamerika. Die Generalversamm-
lung der Vereinigten Presbyterianischen Kirche faßte 31. 5.
In Sharon, Pa., eine Entschließung gegen ein Referendum jeglicher Art über
das Alkoholverbot als illegal und billigte die Anordnung des Präsidenten
Coolidge, daß örtliche Beamte als „Bundes-Trockenheitsagenten“ verwandt
werden dürften. Sie gelobten wirksame Hilfe zur Durchführung des Pro-
grammes in den örtlichen Bezirken. („The Am. Iss.“ No. 6.)
Ein Protestzug von mehr als 10000 Jugendlichen bewegte sich
2. 5. durch die Straßen von Atlanta, Ga., hauptsächlich aus Sonntagsschul-
kreisen. Die Losung war: „Halte fest, Amerika“; man protestierte einerseits
egen eine Aenderung der Prohibitiongesetze, andererseits gegen die von den
assen ausgesprengte Behauptung, die Jugend sei (infolge des Alkoholverbots!)
dem Trunke verfallen. (Ebenda.)
Während des Jahres 1925, berichtete die Gesellschaft zur Ver-
hütung vonGrausamkeit gegen Kinder in Massachusetts, mußte
man sich einer Zahl von mehr als 13000 Kindern annehmen. Aber während
190 Stubbe, Chronik.
vor dem nationalen Alkoholverbot in 47,7 Prozent der Trunk eine Rolle
spielte, ist dieser Faktor jetzt fast auf ein Drittel von vormals gesunken.
1921 waren es 16,8 Prozent, 1922 20,2 Prozent, 1923 23,2 Prozent, 192
21,9 Prozent, 1925 18,9 Prozent. („Clipsh.“ des meth. „Board of Temp“ 21.6.)
Die Generalkonferenz der methodistischen Kirche des Südens,
die 2600000 Mitglieder umfaßt, betonte 1. 5. in Memphis, Tenn., 1. ihre
'Gegnerschaft gegen alle Maßnahmen zu etwaiger Erweichung oder Beseiti-
ung des Alkoholverbots, 2. den Wunsch, die von der Prohibitionsabteilung
er Bundesregierung zur Durchführung‘ der Verbotsgesetze vorgeschlagenen
Maßnahmen während der laufenden Kongreßsitzung zum Gesetz erhoben zu
sehen. („The Am. Iss.“ No. 7.)
1925 sind 450000 Häuser gebaut, so viele, wie in keinem Jahr zuvor.
Der Lebensunterhalt von mehr als 11 Millionen Menschen beruhte auf dem
Baugewerbe. Alle Kundigen erklären, daß das Alkoholverbot zwar nicht der
eesi R aber doch ein wichtiger für diese glückliche Entwicklung ist
nda.
Oft ist darauf hingewiesen, daß die Uebertretungen des
Alkoholverbots weniger auf die eingesessene als auf die zugewan-
derte Bevölkerung fallen. — Der Clipsheet des methodistischen Board
of Temperence vom 5. 7. bietet auf Grund amtlicher Mitteilungen folgende
Zahlen: Der Anteil der Fremden oder auswärts Geborenen an den Ver-
haftungen wegen Verletzungen des Alkoholverbots betrugen in Arizona
85 Prozent, Colorado 52 Prozent, Maryland 75 Prozent, Georgia 5 Prozent.
Idaho 10 Prozent, Jowa 10 Prozent, Illinois 90 Prozent, Louisiana 10 Prozent,
Missouri 88 Prozent, Nevada 50 Prozent, Neu-Mexiko 4 Prozent, New Jersey
65 Prozent, New York 50 Prozent, Utah 80 Prozent, Vermouth 45 Prozent,
Washington 28 Prozent, Wisconsin 90 Prozent, Wyoming 50 Prozent.
Während sonst die Alkoholmengen, die nach dem Prohibitionsgesetz be-
schlagnahmt wurden, einfach ins Meer oder in die Abflußkanäle chüttet
wurden, hat man jetzt in Chicago begonnen, sie in Brennstoff tür Post-
automobile des Bezirkes umzuwandeln; kürzlich ist das z. B. mit 70000 |
besten schottischen Whiskys geschehen. („Kiel Ztg.“ 25. 8.)
Die amtliche Statistik ist gezwungen, langsam zu arbeiten; so
hat erst jetzt das Handelsdepartement in Washington die ersten vorläufigen
Ergebnisse der Zählung der Gefangenen im Jahre 1923 veröffentlicht.
Daraus ergibt sich, daß die berühmte Verbrechenswelle, von der man so
viel spricht und die man oft dem Alkoholverbot zuschreibt, eine reine Er-
findung ist. Während im a 1910, d. h. im Jahre der letzten ähnlichen
Zählung, 5,217 Personen tür 100000 Einwohner zu Gefängnisstrafen ver-
urteilt wurden, war im Jahre 1923 das Verhältnis 3,251 für 100 000, eine
Abnahme von 37,5 Prozent.
Die Zahl der Trunksuchtsdelikte war 1910: 170,941 und 193:
91,367, trotz der en Strenge der Polizei und der Zunahme der Bevölke-
rung. Unter der Rubrik: Körperverletzungen verzeichnet man im Jahre 1910:
22,509 Gefängnisstrafen; 1923: 12,606. Dagegen ist die Zahl der Morde
größer geworden. 1910: 2,876; 1923: 3,906.
‚Soeben erscheint die amtliche Sterblichkeitsstatistik der Ver-
a be Staaten. Hier die Zahlen für den akuten Alkoholismus und die Leber-
zirrhose, eine Krankheit, deren Ursache in den meisten Fällen der chronische
Alkoholismus ist.
Alkoholismus Leberzirrhose Alkoholismus Leberzirrhose
(Todesfälle für 100 000 Einw.) (Todesfälle für 100 000 Einw.)
1913 5,9 13,4 1919 1,6 7,9
1914 4,9 13,0 1920 1,0 7,1
1915 4,4 12,6 1921 1,8 7,4
1916 5,8 12,3 1922 2,6 7,5
1917 5,2 11,4 1923 3,2 7,2
1918 2,7 9,6
Stubbe, Chronik. 191
Sehr oft veröffentlicht die Tagespresse Nachrichten über zahlreiche Todes-
fälle als Folge des Genusses von denaturiertem Alkohol. Die
Zahlen der amtlichen Statistik sind viel bescheidener:
1920 nn Todesfälle oder 0,4 für 100 000 Einwohner
1921 ”„ ”» 0,2 ” 100 000 ”„
1922 201 j » 0,2 „ 100000 j
19233 143 j » 0,1 100
” 000 29
(„Int. Bur. g. d. Alk.“, Bull No. 11.)
Die durchschnittliche Traubenerzeugung in Kalifornien
betrug 1919 1000000 to. 1925 waren es rund 2000 000, während die Preise
sich vervierfacht haben. Auch die Versendung auf der Eisenbahn nach den
östlichen Märkten hat sich ungefähr vervierfacht. („The New York Times“
13. 6.
Ri eneral Andrews schätzte vor dem Hause des Representative Com-
mittee die Kosten der Durchführung der Prohibition im nächsten Jahre auf
28 500 000 Dollar. Die Alkoholkonsumenten in den Vereinigten Staaten würden
auf mehr als 40 Millionen geschätzt. Er meinte, 15 Millionen Gallonen ge-
werblichen Alkohols wären im letzten Jahre in Bootleg-Whisky umgewandelt.
(„Ihe Times“ 26. 6.
Gegenüber dem Gerücht, daß die Christian Science in ihrer Stel-
lung zur Prohibition zwiespältig sei, erklärte der Christian Science Monitor:
Die oberste Behörde der Kirche der Christlichen Wissenschaft, der Board
of Directors of the First Church of Christ. Scientist, in Boston habe 15. 4.
eine Entschließung an das Untersuchungskomitee des Senates geschickt, worin
herzliche Unterstützung des 18. Amendents und seiner Durchführung
gelobt wurde. 283 Kirchen der Christlichen Wissenschaft, 75 Gesellschaften
und 506 Telegramme haben das unterstützt; keinerlei amtliche Erklärung aus
den Kreisen der Christlichen Wissenschaft ist prohibitionsgegnerisch. („The
Int. Rec.“ No. 39.)
Gegenüber skeptischen Aeußerungen einzelner katholischer Kirchen-
fürsten bringt der „Clipsheet“ des meth. Board of Temp. vom 16. 8. eine
Aeußerung des Erzbischofs Spaulding: „Nach allem, was über die Unwirk-
samkeit (inoperativeness) der Prohibitionsgesetzgebung gesagt werden kann,
bleibt doch wahr, daß nichts so wirksam den Trunk und die Verbrechen,
deren Quelle er ist, unterdrückt.“
Viel bemerkt ist eine Niederlage der „Nassen“ im Unter-
hausedesKongresses, als sie bei dem Antrage auf Zurückverweisung
des Antrages auf eine De a unie iung von 2686 760 Dollar für
Prohibitionszwecke von 200 Stimmen nur 33 für sich aufbrachten. („The
Outlook of New York City“ 21. 7.)
Mitteilungen.
1. Aus der Trinkerfürsorge.
Städtische Trinkerhilfe Frankfurt a. M.
Ueber die Tätigkeit der „Städtischen Trinkerhilfe“ des Wohlfahrtsamtes
in Frankfurt a. M. während der Zeit vom 1. April 1925 bis 31. März 19%
entnehmen wir einem Bericht der „Frankfurter Wohlfahrtsblätter‘‘ Nr. 5, 192
die folgenden Einzelheiten:
Neu gemeldet wurden 245 (im Vorjahr 193) Kranke — 230 (180) Männer
und 15 (16) Frauen — von folgenden Stellen: Amtsgericht 1, Angehörige 80.
Psychiatr. Klinik 43, Arbeitsamt 1, Arzt 4, Zentrale f. priv. Fürsorge |.
Evang. Volksdienst 2, Fürsorgestelle f. Gemüts- u. Nervenkranke 2, Gefängnis-
Fürsorge 4, Gemeinde-Waisenrat 1, Jugendamt 5, Krankenhaus-Fürsorge 1,
Kreisstellen und Kreisstellenzentrale 63, Polizei 25, Selbstmeldungen 2,
Sozial- und Sexual-Beratungsstelle 1.
Unter den Kranken befinden sich 159 Arbeiter, 2 Aerzte, 3 Beamte,
16 Kaufleute, 2 Musiker, 2 Wirte, 17 Angehörige der Fuhrberufe, 5 Invaliden.
Diese Zahlen könnten zu der irrtümlichen Äuffassung verleiten, daB der
Alkoholismus unter den Gebildeten verhältnismäßig wenig verbreitet sei. In
Wahrheit besagen sie nur, daß aus naheliegenden Gründen die öffentliche
Trinkerfürsorge von Gebildeten weniger in en lea enommen wird.
Wesentlich größer als die Zahl der gemeldeten Kranken ist natürlich
die der Ratsuchenden: 3045 (2513) Personen, darunter 1276 (1110) Frauen.
Durch die Krankheit der 245 Personen werden nicht weniger als 457
Kinder in Mitleidenschaft gezogen. ,
Zusammen mit dem Gesamtverband gegen den Alkoholismus hat die
„Städtische Trinkerhilfe“ des Frankfurter Wohlfahrtsamtes Lehrgänge zur
Alkoholfrage veranstaltet und weitere vorgesehen. Bilder und Plakate sollen
in Polizeirevieren, Warteräumen, Werkstätten, Büchereien usw. für Auf-
klärung sorgen. Besonderes Augenmerk ist den Herbergen, Logierhäusern
und Animierkneipen zugewandt. Krt.
25 Jahre Heilstättenarbeit.
Das St. Kamillushaus in Heidhausen an der Ruhr, die einzige katholische
Heilstätte für alkoholkranke Männer in Deutschland, konnte am 18. Juli
auf ein 25jähriges Bestehen zurückblicken. In den 90er Jahren des vergange
Jahrhunderts machte sich in katholischen Kreisen, vom Westen ausgehend,
eine starke Bewegung geltend, um auch auf katholisch-konfessioneller Grund-
lage dem immer größer werdenden Alkoholelend entgegenzutreten. Der da-
malige Kölner Weihbischof und spätere Kardinal Dr. Fischer brachte der
Bewegung das größte Interesse entgegen und lenkte die Aufmerksamkeit emes
im Jahre 1898 in Essen gegründeten Komitees zur Errichtung einer katho-
lischen Trinkerheilstätte auf den Kamillianerorden, als dem berufenen Träger
dieser Charitasarbeit. Der Bahnbrecher auf dem Gebiete der katholischen
Abstinenzbewegung, Pfarrer Neumann, Vorsitzender des katholischen Kreuz-
bündnisses nahm die Verbindung mit dem Provinzial der neugegründeten
Kamillianerprovinz P. Vido in Vaals auf, und der Orden erklärte sich bereit,
Errichtung und Betrieb der Heilstätte zu übernehmen. Mit tatkräftiger Unter-
stützung der kirchlichen und weltlichen Behörden wurde der Bau, für den
man mit glücklicher Hand einen herrlich gelegenen Bauplatz auf den Rubr-
höhen bei der alten Abtei Werden ausgewählt hatte, in Angriff genommen
Mitteilungen. 193
und am 18. Juli 1901 konnte Weihbischof Dr. Fischer die ausgedehnten Ge-
bäulichkeiten der Heilstätte in feierlicher Einweihung ihrer idealen Aufgabe
übergeben. Kurz und treffend kennzeichnete Landesrat Klausener bei der
Einweihungsfeier den Zweck des Hauses mit den Worten: „Jedem Anklopfen-
den werden die Tore der neuen Anstalt geöffnet werden, gleichviel, ob er
schuldios durch Verführung und mangelnde Erziehung, oder ob er schuldvoll
durch Leichtsinn auf die abschüssige Bahn gelangt, an deren Ende ihm aus
klaffendem Abgrund die düsteren Mauern des Irrenhauses entgegenstarren.
Nur das Vorliegen des guten Willens, der Absicht sich zu bessern, ist der
Begleitbrief des Eintretenden, die nach Erfüllung derjenigen Vorschriften,
die die Gesellschaft und die Hygiene erfordern, liebevoll aufgenommen und in
gleicher Weise gepflegt werden.“
Gleich im ersten he fanden 144 Patienten Aufnahme in der Heilstätte
und weit über 3000 Alkoholkranke fanden in den 25 Jahren zum größten Teil
Heilung im St. Kamillushause. Während der Kriegsjahre diente das Haus
als Lazarett für nervenerkrankte Kriegsteilnehmer und eine kurze Zeit nach
dem Kriege auch als Erholungshaus für Kinder auf dem Schlachtfeld Ge-
fallener. Gar bald aber mußte das Kamillushaus no Be des schnell steigen-
den Alkoholismus wieder voll seinem ursprünglichen Zweck zugeführt
werden, um den starken Ansprüchen, die bis heute an das Haus gestellt
werden, genügen zu können.
Bis zur Erwerbung des Hauses Hoheneck im Jahre 1921 durch P. Syring
beherbergte das Kamillushaus auch die Zentrale des katholischen Kreuz-
bündnisses, so den Stützpunkt der katholischen deutschen Abstinenzbewegung
bildend. Hier haben verschiedene Patres als Geschäftsführer das Kreuz-
bündnis und den Verlag desselben geleitet.
So ist vom Kamillushause in den 25 Jahren ein reicher Strom von Segen
in die Lande gegangen. Die Jubelfeier fand am 18. und 19. Juli in einem,
den Zeitverhältnissen entsprechenden Rahmen statt. Eine große Zahl von
Freunden des Hauses war von Nah und Fern herbeigeeilt, um an derselben
teilzunehmen.Nach einem feierlichen Gottesdienste fand im schön geschmückten
Saale ein Festakt statt, bei dem es sich zeigte, welch hohe Anerkennung man
dem Kamillushause und seinem Wirken in allen Kreisen zollt. Vertreter welt-
licher und kirchlicher Behörden waren erschienen, um ihre Glückwünsche aus-
zusprechen und der Hoffnung Ausdruck zu geben, daß das Kamillushaus auch
fernerhin zum Wohle leidender Mitmenschen seine segensreiche Tätigkeit
ausüben werde.
Zürcherische Fürsorgestelle für Alkoholkranke.
14. Jahresbericht 1925.
. Der vom Leiter der Stelle, Herrn Fritz Lauterburg, erstattete Bericht be-
ginnt mit einem Hinweis auf die Ausdehnung der Trunksucht: ‚,.. Unsere
l4jährige Tätigkeit hat, trotz stärkster Entwicklung in letzten Jahren, immer
noch erst einen verhältnismäßig geringen Teil des gesamten Alkoholismus
in Zürich und Umgebung erfaßt.“ Obwohl die Fürsorgestelle „wegen genug-
samer Arbeit“ seit bald 7 Jahren im allgemeinen nicht mehr öffentlich auf
ihr Bestehen aufmerksam macht, hält der Zustrom hilfebegehrender Personen
unvermindert an. Der Bericht nimmt für das Züricher Stadtgebiet schätzungs-
weise 5000—6000 Alkoholkranke, oder etwa 3 v. H. der Bevölkerung an,
hatte die Fürsorgestelle doch auf Jahresende noch etwa 1380 Pfleglinge in
Behandlung, und kenne sie doch sicherlich nicht mehr als jeden vierten oder
fünften Trinker. Das bedeute, die Familien mitgerechnet, 20- bis 25 000
Menschen, die unter dem Alkoholismus und seinen Auswirkungen leiden —
dabei noch von Nachbarsfamilien (bei engen Wohnverhältnissen) ganz ab-
esehen. „Wie die verbitterten Trunksuchtsopfer die Saumseligkeit unserer
hörden auf diesem Gebiete (besonders Schnapsnot laut dem Bericht) be-
urteilen, können wir diesen Blättern nicht anvertrauen.“ Zugenommen haben
Die Alkcholfrage, 1926. 13
194 Mitteilungen.
(wie auch anderwärts vielfach. D. Ber.) die weiblichen Schützlinge, die dies-
mal mit 38 an der Zahl 15,5 v. H. der Gesamt-Neumeldungen ausmachen.
Die Wirksamkeit des neuen „Gesetzes über die Versorgung von Jugend-
lichen, Verwahrlosten und Gewohnheitstrinkern“, das Unterbringung von
heilbaren Trinkern in Heilstätten und von unverbesserlichen Haltlosen usw.
in Verwahrungsanstalten ohne vormundschaftliche Maßnahmen oder „Armen-
genössigkeit‘“ gestattet, wird als recht wohltätig empfunden.
Besuche bei Flleglingen oder ihren Angehörigen wurden nicht weniger
als 3215 ausgeführt, Besuche von seiten derselben gab es 1134.
Größere Ausdehnung hat auch das auf die verschiedensten Teile der
Schweiz sich erstreckende Auskunftswesen über Trinkerbehandlung und
-fürsorge gewonnen. Die Zahl der schweizerischen Trinkerfürsorgestellen hat
sich 1925 auf 38 erhöht.
Die hinter der Züricher Fürsorgestelle stehende Gesellschaft (Körper-
schaften mit mindestens 10 Fr., Einzelpersonen mit mindestens 3 Fr. Jahres-
beitrag) hat im abgelaufenen Jahr einen Zuwachs um 33 auf 464 Mitglieder
zu verzeichnen. Die größeren Beiträge fließen, abgesehen von 5000 Fr. vom
Regierungsrat, aus dem Alkoholzehntel, von gemeinnützigen Vereinen und
Stiftungen, Kirchenpflegen, Enthaltsamkeitsvereinen, Banken, Fabriken und
dergleichen. Fl.
2. Aus Vereinen.
Jahrestagung des Deutschen Guttemplerordens.
In den Tagen vom 10. bis 14. Juli dieses Jahres veranstaltete der Deutsche
Guttemplerorden seine Hauptversammlung, das Großlogenfest, in Hamburg,
das dadurch seine besondere Bedeutung erhielt, daß der Großtempler
Hermann Blume auf eine 25jährige Tätigkeit als Chef des Ordens
zurückblicken konnte. In öffentlicher Versammlung sowohl wie in ge-
schlossener u wurde dieser besonderen Bedeutung der Tagung in
mannigfachen Kundgebungen Rechnung getragen und auf die pronen er-
dienste hingewiesen, die Herr Blume sich in seiner Eigenschaft als Groß-
ap um die Entwicklung des Deutschen Guttemplerordens erworben hat.
Nicht nur aus dem engeren Kreise des Ordens, sondern aus der gesamten
deutschen Alkoholgegnerbewegung heraus wurden dem Leiter des Ordens
die herzlichsten Glückwünsche und Dankesgrüße dargebracht. Mit Recht
wurde in einer der Reden hervorgehoben, daß die vom Großtempler geleistete
Arbeit, sein Lebenswerk, ein Stück Geschichte sei, die für die Zukunft unseres
Volkes in gewissem Sinne richtunggebend werde.
Der erste der Großlogen-Festtage begann mit dem Begrüßungsabend am
10. Juli im großen Sagebielschen Saale, der von etwa 2000 Personen besucht
war und außer Begrüßungs- und Beglückwünschungs-Ansprachen eine Reihe
musikalischer Darbietungen brachte.
Der zweite Tag, der Sonntag, wurde mit einem Festgottesdienst in der
Michaeliskirche eingeleitet, dem sich dann im Versammlungslokal die Fest-
sitzung der Großloge anschloß.
In der Geschäftssitzung am Montag wurden die Berichte der Großlogen-
beamten vorgelegt, von denen die des Großtemplers und des Großsekretärs
ein besonderes Interesse beanspruchen. Aus diesen Berichten geht hervor,
daß der Deutsche Guttemplerorden im letzten Jahre eine recht günstige Ent-
wicklung durchgemacht und die Zeit der Nachkriegskrisen überwunden zu
haben scheint.
Der Mitgliederstand der letzten drei Jahre ist folgender:
Am 31. Januar der Jahre Mitglieder Logen
1924 31 392 873
1925 32 976 867
1926 35 254 916
Mitteilungen. 195
Die Einnahmen der Großloge aus den Mitgliederabgaben betrugen im
verfllossenen Jahre 26 633,95 Mark. Der Schriftenverkauf aus dem der Groß-
loge angegliederten Neulandverlage ergab einen Umsatz von 119 409,87 Mark.
Der Wert des gegenwärtigen Schriften- und Bücherbestandes ist 102 156,51
Mark. Der Reingewinn betrug 8640,70 Mark. Die Zeitschriften des Ordens
eriorderten im verflossenen Jahre geldliche Zuschüsse und zwar: das Haupt-
organ des Ordens „Neuland“ 4441,— Mark, die Wehrlogenzeitschrift „Deutsche
Jugend“ 1422,91 Mark und. die Kinderzeitschrift „Jung Siegfried‘ 1248,56 Mark.
An Neuerscheinungen brachte der Verlag im Rechnungsjahre 1925/26 47 Ver-
lagswerke sowie neun neue Auflagen heraus.
Die Druckerei, die der Orden einige Jahre lang besaß, ist vor kurzem,
vornehmlich mit Rücksicht auf die bevorstehende Uebersiediung der Ordens-
geschäftsstelle von Hamburg nach Berlin, verkauft worden.
Auch die Arbeit unter der Jugend hat im verflossenen Jahre zum Teil
gute Erfolge gezeitigt. Die Zahl der Jugendlogen hat sich von 200 auf 224
und die ihrer Mitglieder von 6736 aut 7311 erhöht. Die Zahl der Mitglieder
in den Wehrlogen (das ist die Organisation der Halberwachsenen) hat sich,
namentlich infolge der ungeheuren Arbeitslosigkeit, um ein weniges ver-
ringert; sie betrug im Jahre 1925 4324, gegenwärtig 4201. Von diesen rund
ei Mitgliedern gehören 852 (über 21 Jahre alte) gleichzeitig einer Grund-
oge an.
Der wichtigste Beschluß, den die Großloge in ihrer diesjährigen Haupt-
versammlung faßte, war wohl die Bestätigung eines früheren Beschlusses, die
Geschäftsstelle der Großloge nach Berlin zu verlegen. Die Uebersiedlung, die
voraussichtlich noch im Öktober dieses Jahres erfolgt, wurde einstimmig
beschlossen.
Die Beamten sind im wesentlichen dieselben geblieben. Die nächste
Jahresversammlung wird in Danzig tagen.
Den Schluß des Festes bildeten am Dienstag eine gemeinsame Fahrt
nach Cuxhaven und am Mittwoch eine Totenfeier auf dem Ohlsdorfer Friedhofe,
die den heimgegangenen Mitgliedern des Ordens galt. a
Die 13. Bundestagung des Deutschen Bundes evang.-kirchi.
Blaukreuz-Verbände vom 8. bis 12. Juli 1926 in Kiel.
Im kleinen Saale des Lutherhauses wurden am Donnerstag, den 8. Juli,
die Teilnehmer an der Tagung durch die leitenden Persönlichkeiten des
Kieler Blaukreuz-Vereins, Pastor Dr. Minor, Stadtmissionar Meyer,
sowie durch Diakon Gr ieb e- Neumünster, Pastor Schröder- Rends-
burg und andere begrüßt. Am Freitag morgen begannen die ee E
Superintendent Dr. Bronis ch- Züllichau berichtete über die von dem
Brandenburgischen Blaukreuz-Verbande geplante Trinkerheilanstalt, der
undesvorsitzende, Pfarrer Demandt, über das in Bad Oeynhausen zu
erwerbende Blaukreuzhaus, zu dem der Blaukreuzverein Corbach eine
namhafte Summe geschenkt hat. — Von auswärts waren etwa 100 Teilnehmer
erschienen, die nach dem gemeinsamen Mittagessen die Anstalten der Inneren
Mission der Hafenstadt besichtigen. Am Abend fand im großen Saale des
Lutherhauses die offizielle Begrüßungsfeier statt, gleichzeitig wurde die
Weihe eines Blaukreuzbanners für den Kieler Verein vorgenommen. Neben
der Rednertribüne prangte eins der ältesten Blaukreuzbanner des Bundes, das
Banner des Blaukreuzvereins Neumünster. An der Feier, bei der Reden
und musikalische Vorträge wechselten, nahm auch ein Vertreter der theo-
logischen Fakultät der Universität Kiel, Professor D. Kögel, ein Mitglied
des Blauen Kreuzes, teil. ,
Am Sonnabend wurde die Mitgliederversammlung vom Landesbischof
Völkel und anderen Ehrengästen begrüßt. Sodann hielt Pastor Seyferth
vom Zentralausschuß für Innere Mission in Berlin einen Vortrag über
13°
196 Mitteilungen.
„Innere Mission und Blaues Kreuz“. — Abends hielt Diakon Hoffmanı-
Hamburg, der vom 1. Juli 1926 an den beiden Verbänden Schleswig-Holstein
und Hannover dienen soll, Bundessekretär Veer und Diakon Lüke-
Hannover Evangelisationsvorträge. Die Festgottesdienste am Sonntag morgen
in den verschiedenen Kirchen Kiels waren gut besucht; den luß der
` Tagung bildete am Abend der Vortrag von Pastor B o d e- Hannover: „Die
Innere Mission und ihr größter Arbeitgeber“.
-
Reichsausschuß deutscher Katholiken gegen den
Alkoholmißbrauch.
Der Kampf um das G.B.R. rief auch führende Kreise der katholischen
Verbände auf den Plan, um dem Gedanken einer größeren Abwehrgemein-
schaft der deutschen Katholiken gegen den Alkoholismus näher zu treten.
Die Verhandlungen führten zunächst zur Gründung des Reichsausschusses
deutscher Katholiken für das Gemeindebestimmungsrecht, der am 3. März
1926 auf Haus Hoheneck unter Beteiligung von 26 katholischen Verbänden ins
Leben gerufen wurde. Die praktische und erfolgreiche Tätigkeit dieser Aus-
schusses für die Durchführung des G.B.R. führte dazu, denseiben unter Er-
weiterung seines Aufgabenkreises zu einer ständigen a: innerhalb
der großen katholischen Vereinsorganisationen auszubauen. Am 8. Juni trat
der bisherige Ausschuss zur Beratung dieser Angelegenheit zu einer Sitzung
zusammen, zu der auch weitere katholische Verbände, wie der katholische
Lehrerverband und der Volksverein für das katholische Deutschland ihre
Vertreter entsandt hatten. Nach längeren Beratungen wurde beschlossen, den
Ausschuß fortan: „Reichsausschuß deutscher Katholiken
gegen den Alkoholmißbrauch“ zu nennen. Den Arbeiten dieses
usschusses wurden folgende Richtlinien zugrunde gelegt:
1. Zweck. Aufgabe des Reichsausschusses deutscher Katholiken
gegen den Alkoholmißbrauch ist es, für den Kampf g en jeglichen
Alkoholmißbrauch und für die Abwehr aller gesundheitlichen, sozialen,
sittlichen und religiösen Alkoholschäden möglichst weite Kreise der
deutschen Katholiken, abstinente und nichtabstinente, zusammenzufassen.
2. Mitgliedschaft. Der Reichsausschuß deutscher Katholiken
gegen den Alkoholmißbrauch ist eine Arbeitsgemeinschaft innerhalb
er katholischen Verbände. Mitglied des Ausschusses können die katho-
lischen Verbände werden. Einzelpersonen können außerordentliche Mit-
glieder werden.
3. Regelung der Arbeit. Für die Bearbeitung der verschiede-
nen Arbeitsgebiete werden folgende Ausschüsse bestimmt: 1. Ausschuß
für die aufklärende Bearbeitung in den katholischen Vereinen und in
der Presse. 2. Ausschuß für alkoholfreie Jugenderziehung. 3. Aus-
schuß für Gesetzgebung. 4. Ausschuß für Trinkerfürsorge. 5. Aus-
schuß für Gasthausreform. 6. Ausschuß für Früchteverwertung. Der
Verwaltungsausschuß tagt wenigstens zweimal im Jahr. Die Ausschüsse
werden von ihren Vorsitzenden je nach Bedarf einberufen. Die Zu-
sammensetzung der Ausschüsse eralgi durch den Verwaltungsausschuß.
6. Mitteilungsblatt. Die angeschlossenen Verbände erklären
sich bereit, in ihren Verbandszeitschriîten Raum für die einschlägigen
Fragen zur Verfügung zu stellen. Entsprechendes Material sowie die
ee Mitteilungen gehen vorläufig den Mitgliedern durch Rund-
schreiben zu.
Weiterhin wurde beschlossen, für die Sachbearbeiter der verschiedenen
Verbände vom 15. bis 17. November einen Kursus über die Alkoholfrage
auf Haus Hoheneck abzuhalten. Bezüglich der künftigen Arbeit wurde fest-
elegt, daß von der Geschäftsstelle aus weniger organisatorische Arbeit durch
ildung von Diöcesan- und Ortsausschüssen geleistet werden soll. Vielmehr
sollen die Vertreter der Reichsverbände von Zeit zu Zeit zusammenkommen,
Mitteilungen. 197
um die besonderen Fragen zur Bekämpfung des Alkoholmißbrauches zu be-
sprechen und es soll weiterhin von der Geschäftsstelle aus den Verbänden das
geeignete Schrifttum zugeführt werden und auf den großen Tagungen der
erbände die Frage der Bekämpfung des Alkoholmißbrauches von Zeit zu
Zeit behandelt werden.
Aus der alkoholgegnerischen Arbeit in Bayern.
Bericht des Bayerischen Landesverbands g. d. A. für 1. September 1924
bis 31. Dezember 1925.
Der Verband — 1. Vorsitzender Stadtschuloberarzt San.-Rat Dr. Bandel,
Nürnberg — besitzt seit 1. Januar 1925 einen eigenen Geschäftsführer, wofür
ihm die Stadt Nürnberg einen städtischen Verwaltungsbeamten zu zwei
Dritteln seiner Arbeitskraft überließ, wogegen der Verband zwei Drittel der
Besoldung desselben samt Nebenleistungen zu tragen hat. Der Arbeitsaus-
schuß, in dem die verschiedenen alkoholgegnerischen Vereinigungen: Gut-
templerorden, Blaues Kreuz, Kreuzbündnis, Arbeiter-Abstinentenbund u. a.,
aus praktischen Gründen überwiegend durch Nürnberger Persönlichkeiten
vertreten sind, hielt 1925 vier Sitzungen.
Die Hauptarbeit galt zuvörderst der Aufklärung, Werbung und
N E OF Was zunächst die letztere betrifft, so war man für
Belebung und Neugründung alkoholgegnerischer Vereinigungen in Bayern
bemüht. Im Dezember v. J. versandte der Verband an die bayerischen Amts-
ärzte und an eine große Zahl von protestantischen Geistlichen Werbeschreiben
mit Aufforderung zum Anschluß. Ein ähnliches Schreiben an die katholische
Geistlichkeit und ein Aufruf an die Lehrerschaft in der Fachpresse wurde vor-
bereitet. Aus den Reichs- bzw. Landesgeldern für Bekämpfung des Alkoholis-
mus wurden verschiedene alkoholgegnerische Verbände und Unternehmungen
Bayerns mit Zuschüssen bedacht, u. a. auch die auf Anregung von Staats-
bibliothekar Dr. Zucker (Mitglied des Arbeitsausschusses) begonnene Bücherei
für die Alkoholfrage bei der Universitätsbibliothek in Erlangen.
Um die Aufklärung war man auf mannigfache Weise bemüht. Der
1. Vorsitzende hielt eine Reihe von Vorträgen in verschiedenstem Rahmen.
Eine durch mehrere Wochen sich hindurchziehende Vortragsreihe, zu der
die Stadtschulbehörde von Nürnberg Einladung hatte ergehen lassen, während
die Mittel vom Unterrichtsministerıum zur Verfügung gestellt wurden, diente
Lehramtsbewerbern. Teils bei diesen Anlässen, teils sonstwie wurden, be- .
sonders unter Lehrern, ausgiebig Schriften verteilt. Eine angeschaffte Licht-
bilderreihe steht den Mitgliedern des Verbandes leihweise zur Verfügung.
In den „Blättern für Gesundheitsfürsorge‘“, die in Gemeinschaft mit dem
Landesverband herausgegeben und dessen Mitgliedern zugestellt werden, er-
schienen verschiedene Aufsätze von diesem; ebenso veröffentlichte der 1. Vor-
sitzende gemeinsam mit dem Verein abstinenter Aerzte im Aerztlichen
Vereinsblatt einen Artikel „Sportarzt und Alkoholabstinenz“. Ueber die Not-
wendigkeit der vertraulichen Sterbekarte für die Todesursachenstatistik nach
Schweizer Muster wurden in verschiedene Zeitschriften Aufsätze gebracht, die
auch zahlreichen Persönlichkeiten und Behörden vorgelegt wurden. Dem
1. Vorsitzenden gelang es als Vorsitzenden des Bezirksvereins g. d. A. Nürn-
berg, die Nürnberger Aerzteschaft und den Stadtrat zur Mitwirkung an dieser
Statistik zu gewinnen, welche seit 1. April 1925 in Nürnberg in Uebung ist
und bereits zu wertvollen Ergebnissen geführt hat. An der Werbewoche im
Mai v. J. beteiligte man sich nach Möglichkeit. Anläßlich der Schankgesetz-
irage wurden der Anregung der Reichshaupistelle g. d. A. entsprechend zahl-
reiche Zuschriften an Reichstagsabgeordnete gerichtet und veranlaßt. Der
Tagespresse schenkte man gebührende Aufmerksamkeit und sandte ihr Zu-
schriften, die auch öfters abgedruckt wurden. Auch Gesinnungsfreunde in
verschiedenen bayerischen Städten wurden mit aufklärenden Artikeln zur
Pressebedienung versorgt.
Eine besonders wichtige Aufgabe sieht der Verband in der Förderung
der alkoholfreien Jugenderziehung mit Hilfe der Schule.
198 Mitteilungen.
Diesem Zweck diente eine ausführliche Denkschrift an das Ministerium für
Unterricht und Kultus, die die Veranstaltung von Lehrgängen für die Lehrer-
schaft, von Vorträgen vor Schülern und Schülerinnen an den höheren Lehr-
anstalten und l.ehrerseminaren und unter Beigabe eines ausführlichen Ver-
zeichnisses des für Lehrer und Schüler geeigneten Schrifttums Verbreitun
von Schriften und Tafeln zur Alkoholfrage an den Schulen empfahl und na
dem Muster anderer deutscher Länder die Bestellung von Wanderlehrern und
-lehrerinnen als vorläufigen pädagogischen Notbehelf befürwortete. Ferner
eine Anregung an die bayerischen Bischöfe und die Präsidenten der evan-
gelischen Kirchen rechts des Rheins und der Pfalz, die Religionslehrer möchten
sich an der Erteilung aono Ru Lehen Unterrichts beteiligen und hierfür
an den Universitäten vorgebildet werden; ebenso die zahlreichen Vorträ
des 1. Vorsitzenden vor Schülern und Lehrern. Ein Widerhall dieser Bemüb-
ungen darf wohl in den zwei Erlassen des Unterrichtsministeriums gegen
den Alkoholgenuß und das Rauchen bei den Wanderungen der Volks- und
der höheren Schulen gesehen werden.
Anträge und Anregungen mannigfaltigsten Inhalts wurden an Behörden
und sonstige Stellen gerichtet und fanden vielfach Beachtung. FI.
3. Verschiedenes.
Aus der Arbeit des Internationalen Bureaus
zur Bekämpfung des Alkoholismus, Lausanne, im Jahre 19%.
Das Bureau hat, wie der gedruckte Bericht gleich zu Anfang hervorheben
muß, ein bewegtes und schwieriges Jahr hinter sich: ständig zunehmende
Arbeit, dabei durch den Wegfall großer amerikanischer Unterstützungen
(Temperenzausschuß der Bischöflichen Methodistenkirche und Weltliga gegen
den Alkoholismus) empfindlichste geldliche Bedrängnis, die zum Abbau
mehrerer Personalkräfte, worunter des wertvollen wissenschaftlichen Mit-
arbeiters Dr. Koller führte. (Letzterer arbeitet allerdings freiwillig auch
weiterhin mit, behielt namentlich die praktische Leitung der „Internationalen
Zeitschrift“ bei.) Um so mehr muß man der geleisteten vielseitigen Arbeit
Anerkennung zollen.
Aus dem Auskunftsdienst treten als wichtigere Fragegruppen
- hervor die Beteiligung der Schule im Kampfe ge n den Alkoholismus, die
alkoholfreie Trauben- und Obstverwertung, alkoholgegnerisches Ausstellungs-
wesen, Gesetzgebung. — Im Pressedienst wurden die Korrespondenz
(„Presse-Bulletin“) und, in vermehrtem Maße, die Hinausgabe besonderer
Entgegnungen usf. an und für die Presse — vorwiegend bezüglich des
amerikanischen Alkoholverbots — fortgesetzt. Zur Erleichterung und Be
schleunigung der Bericht- und Berichtigungserstattung betreffend entfernte
und namentlich überseeische Länder besteht der Wunsch und das Bemühen,
mit Hilfe der großen zwischenvölkischen Nüchternheitsverbände einen geord-
neten Drahtdienst einzurichten. — Die Fortführung der Herausgabe
„Internat. Zeitschrift g.d. Alk.“ in der jetzigen Ausdehnung be-
deutete eine sehr große Arbeit und erhebliche Geldopfer. An sonstigen
Veröffentlichungen sind — neben der Fortführung der „Abstinence“
und der Auslandschronik der schwedischen Zeitschrift „Tirfing‘ durch
Dr. Hercod — hervorzuheben: das Internationale Jahrbuch 1925—1926, die
(in französischer Sprache erschienene) Arbeit von Dr. Koller über Herstell
und Verbrauch der alkoholischen Getränke in den verschiedenen Ländern un
eine von Dr. Hercod in London gehaltene „Norman Kerr Lecture“.
Die größte außerordentliche Arbeit im Jahre 1925 war die Vorbereitung
der zwischenstaatlichen Tagung in Genf. Das Bureau, das
beauftragt wurde, die gefaßten Entschließungen dem Völkerbund und den
Regierungen zu übermitteln und sich für ihre tatsächliche Beachtung und Aus-
führung einzusetzen, veröffentlichte einen vollständigen Bericht über die
Konferenz in englischer Sprache (160 S.). Auch sonst steht es bereits ın
Mitteilungen. 199
Beziehungen zum Völkerbund: zu seiner gesundheitlichen, seiner
Mandats- und seiner Jugendschutz-Abteilung. Für die beratende Kommission
zum Schutz des Kindes und der Jugend wurde ein Bericht mit eingehenden
Unterlagen geliefert.
Die ausgedehnte Reisetätigkeit des Direktors nahm ihren Fortgang.
Von sonstigen Betätigungen sind noch zu erwähnen die Vor-
bereitung des Internat. Kongresses g. d. A., der im Juli d. J. in Dorpat
stattfand, eine Rundfrage über Antialkoholunterricht in den verschiedenen
Ländern, deren Ergebnisse noch veröffentlicht werden sollen, und die Mit-
hilfe für die Alkoholfrage-Sitzung der christlichen Weltkonferenz in Stock-
holm im August v. J.
Zu den acht Regierungen, die das Bureau mit Beiträgen unterstützen,
sind drei neu naua eko mimea: mit weiteren schweben Unterhandlungen. Fl.
Vom alkoholfreien Volkshaus in Zürich.
Das Haus hatte nach dem gedruckten Bericht des Volkshausvereins im
A aenen ar eine glänzende Entwicklung zu verzeichnen. Die Betriebs-
rechnung schloß mit einem Reingewinn von 36892 Fr. ab. Wie mannig-
faltigen Zwecken und Bedürfnissen des gesellschaftlichen und öffentlichen
Lebens das Haus dient, zeigt die Angabe, daß die drei vorhandenen Säle
und zwei Klub- und ein Vorstandszimmer 1924 nicht weniger als 1514 mal,
1925 1528 mal für gewerkschaftliche, politische, wissenschaftliche, musikalische
und religiöse Vorträge und Versammlungen, neben politischen und gewerk-
schaftlichen Vorstandssitzungen, benützt wurden. Dies erbrachte im Jahre
1925 eine Einnahme von 18 657 Fr. Sehr stark in Anspruch genommen wurden
auch die Bäder und Brausen, die gleichfalls, wie die Saalvermietungen, eine
stattliche Einnahme brachten. Im Laufe des eei 1926 hofft man mit nach-
haltiger Unterstützung der Stadt die Vollendung des Volkshauswerkes durch
den Anbau eines pora Saales, der bereits eingehend vorbereitet ist, mit
einem Kostenanschlag von 1 650 000 Fr. in Angriff nehmen zu können.
Gemeinnützige Gasthausgesellschaft
für Rheinland und Westfalen G. m. b. H. 1925.
Nach dem sehr kurzen Bericht der Gesellschaft (Sitz: Dortmund, im Ver-
waltungsgebäude der Harpener Bergbau-A.-G.; Geschäftsführung: Korvetten-
kapitän a. D. Dr. Reche, Reg.-Rat a. D. Meißner) über ihr 17. Betriebsjahr
1925 hat sich die allgemeine Geschäftslage auch im abgelaufenen Jahr infolge
von Betriebseinstellungen und -einschränkungen auf Zechen und industriellen
Werken weiter verschlechtert. Doch gelang es, den fallenden Umsatz einiger-
maßen durch Personalabbau auszugleichen, so daß man mit einem geringen
Verlust davonkam. Eine Zechen-Speiseanstalt und ein Betrieb in einem Ledigen-
heim mußten wegen starker Verringerung der Belegschaft geschlossen werden.
In zwei anderen Fällen wurde die Gesellschaft von den Werksleitungen, die
vermeintlicher größerer Billigkeit wegen den Betrieb ihrer Ledigenheime
ihr ab- und in eigene Verwaltung genommen hatten, nachdem sich dieselben
von der Irrigkeit jener Erwartung bzw. Vorspiegelung hatten überzeugen
müssen, gebeten, die Verwaltung wieder zu übernehmen, in einem Fall außer-
dem auch die eines der betreffenden Firma gehörigen Gasthauses und eines
fertigzustellenden Mädchenheims.. Um Uebernahme neuer Betriebe ist die
Gesellschaft bemüht. Fl.
Der Deutsche Seeschiffahrtstag gegen den Spritschmuggel.
Die Verhandlungen des 13. Deutschen Seeschiffahrtstages
am 22. März 1926 im Bürgerschaftssaal des Rathauses in Lübeck“ sind jetzt
im Druck erschienen. Richter Dr. Bramslöw, Hamburg, behandelte namens
der Kommission des Deutschen Nautischen Vereins in Hamburg „Die Schiff-
fahrt im amtlichen Entwurf eines deutschen Strafgesetzbuches“. Nach Er-
örterung der Diebstahlsbestimmungen kommt er zur Frage der „Konter-
bande“. Das geltende Recht behandelt diese Frage in $ 297, der Entwurf
200 Mitteilungen.
in $ 216 unter dem Titel „Schiffsgefährdung durch Branntwein“. Nach dem
eltende Rechte, führt B. aus, können nur Reisende, Schifisleute oder Schiffer
traft werden; nach dem Entwurf wird es anders. Da wird außer dem
Reeder, dessen Eigentum durch diese Vorschrift gegen Mißbrauch geschützt
werden soll, jeder mit Strafe bedroht, der eine solche Tat begeht. So wird
die strafende Gerechtigkeit in voller Schwere in Zukunft auch die Händler
treffen, die im allgemeinen die Hauptschuld haben und die
besten Früchte des Schmuggels einzuheimsen pflegen. Zurzeit können sie aller-
falls als Gehilfen oder Anstifter bestraft werden. In dem Entwurf haben wir
also eine Erweiterung des Täterkreises.
(Die Besprechung zweier kleiner Einschränkungen betr. Schiffsleute und
Kapitäne lassen wir als weniger belangreich hier weg. Br. fährt dann fort:)
Eine weitere zwecks einheitlicher Bekämfung des Schmuggelunwesens
auf ausländische Schiffe ausgedehnte Geltung der
Schmuggelvorschriften ist von der Kommission begrüßt worden,
und zwar im Interesse der allgemeinen Bekämpfung des Schmuggels. Wenn
es heißt: „die im Inland beladen werden‘, hält die Kommission es für zweck-
mäßig, den Schutz noch weiter auszubauen durch den Zusatz: „oder wenn
die Tat in deutschen Gewässern begangen wird“.
Die soeben besprochene Konterbandevorschrift dient in erster Linie dem
Schutz der Reederei. Darüber hinaus hat sie vor allem in den letzten Jahren
die Bedeutung allgemeinen Rechtsschutzes erlangt, nämlich
in den Fällen, die in Schiffahrtskreisen und sonst allgemein als überaus
sittenwidrig angesehen werden. Es erscheint nötig, auch den
Reeder, der sein Schiff zu derartigen Schmuggelgeschäften hergibt, unter
Strafe zu stellen, nicht allein als Gebot der Gerechtigkeit gegenüber den
Schiffsleuten, sondern auch zum Schutze des allgemeinen Reedereiberuifes:
denn sein Ansehen wird ebenfalls erheblich gefährdet, das gilt in erster
Liniefürden SEITEN KEE, der sehr oft zu unerquicklichen Er-
örterungen in der deutschen und ausländischen Presse geführt hat. Die
Kommission in ihrer Mehrheit teilt diesen Standpunkt und hat unter
Zustimmung des Nautischen Vereins für Hamburg bè
schlossen, die Kar ung zur Einführung einer derartigen Vorschrift dem
Deutschen Sceschiffahrtsiage zu unterbreiten. Von einer bestimmten Formu-
lierung sollte Br. als Referent absehen, weil die Meinung in dieser Hinsicht,
wie es bei der Schwierigkeit der Sache begreiflich ist, sehr auseinander geht.
Er selber aber schlägt folgende Vorschrift vor:
„Wer aus Eigennutz den Ruf der deutschen Schiffahrt oder die
Sicherheit der an Bord befindlichen Personen dadurch erheblich ge-
fährdet, daß er mit seinem oder dem Schiffe eines anderen Schmuggel-
ware befördern läßt, wird mit Geldstrafe, in besonders schweren Fällen
mit Gefängnis bestraft.“
Er betont, daß damit nicht etwa der generelle Schutz ausländischer Zoll-
und Einfuhrvorschriften bezweckt werden soll, sondern in erster Linie ein
Schutz der durch den Schmuggel mancher Gefahr aus-
esetzten Personen an Bord und des Rufs der deutschen
eederei. Stubbe.
Verkehrsunfälle durch Alkohol.
Ueber die Zusammenhänge zwischen Alkoholgenuß und Verkehrsunfällen
hat vor kurzem in einer großen Berliner Zeitung (,Vossische Zeitung‘,
Nr. 442 vom 18. September 1926, morgens, erste Beilage) der Leiter des
Kraftverkehrsamtes in Berlin, Dr. Rudolf Hey, einen Aufsatz veröffent-
licht, der mit einer für amtliche Darstellungen ungewöhnlichen Entschieden-
heit strenge Nüchternheit der Kraftwagenführer fordert.
In Berlin haben sich in der Zeit vom 1. Juli 1925 bis 30. Juni 1926 210
zumeist schwere Verkehrsunfälle ereignet, die nachweislich auf Trunkenbeit
des Führers zurückzuführen sind. Dr. Hey betont aber, es könne für den
Mitteilungen. 201
Kenner der Verhältnisse gar keinem Zweifel unterliegen, daß hier nur ein
Bruchteil der Fälle erfaßt ist, in denen Alkoholgenuß die Ursache des Ver-
Be ri des Führers war. Natürlicherweise ist die Feststellung, ob und in
welchem Maße der Alkohol als Ursache eines Unfalles anzusprechen ist, mit-
unter nicht leicht. Das Berliner Polizeipräsidium legt daher großen Wert
auf eine eindringliche Aufklärung der Kraftwagenführer und. hat zu diesem
Zwecke ein Alkoholmerkblatt herausgegeben, das jedem Führer ausgehändigt
wird. Es hat folgenden Wortlaut:
1. „Der schwere und verantwortungsvolle Beruf des Kraftfahrzeugführers
verbietet jeglichen Genuß alkoholartiger Getränke (Bier, Wein, Obst-
an: Branntwein u. dergl.), sowohl vor als auch während der Berufs-
ausübung.
2. Selbst kleine Mengen Alkohol sind für den Kraftfahrzeugführer schäd-
lich. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, daß kleine Men Alkohol
ungefährlich seien. Sie führen im Gegenteil zunächst durch Steigerung
der Unternehmungslust zum Leichtsinn, hinterlassen aber vorzeitige
Ermüdung und mangelndes Wahrnehmungsvermögen und schwächen
dadurch die Fähigkeit zum schnellen Ueberlegen und Handeln im
Augenblicke der Gefahr.
3. Ein großer Teil der Kraftfahrzeugunfälle entspringt dem Genuß selbst
kleiner Mengen Alkohol.
4. Größere Mengen Alkohol steigern die Gefahr und führen schließlich
zu Trunkenheit mit unüberlegten oder sinnlosen Handlungen und Aus-
schreitungen.
5. Personen, die zum Trunke neigen, wird in allen Fällen die Fahr-
erlaubnis versagt.
6. Ein angetrunkener Kraftfahrzeugführer darf ein Kraftfahrzeug unter
keinen Umständen führen. Wird ein Kraftfahrzeugführer während
seines Dienstes in angetrunkenem Zustande betroffen, so erfolgt
zunächst De Zwangsgestellung und Sicherstellung des Fahr-
zeuges. i festgestellter Irunkenheit wird ihm die Fahrerlaubnis
entzogen.
7. Die schwersten Unfälle ereignen sich bei Ausführung sogenannter
Schwarzfahrten, die regelmäßig mit Alkoholgenuß verbunden sind.
Schwere Bestrafung des Kraftfahrzeugführers und Entziehung der
Fahrerlaubnis sind die Folge.
8. Jeder Kraftfahrzeugführer, der dem Alkohol nicht entsagt, gefährdet
nicht nur seine Mitmenschen und sich selbst, sondern bringt auch seine
Familie ins Unglück.“
„Gewisse Verkehrsunfälle“, so schließt Dr. Hey seine Ausführungen,
„werden sich nie vermeiden lassen, das zeigt die Unfallstatistik in Ländern,
deren Verkehrsregelung und Unfall-Verhütungsmaßnahmen die denkbar besten
sind und deren Bevölkerung sich durch eine straffe Straßendisziplin aus-
zeichnet. Hier finden alle Bemühungen an der Unzulänglichkeit der Menschen
ihre Grenzen. Aber zur Verhütung von Unfällen, die sich vermeiden lassen,
muß alles auf ten werden. Dazu gehören in erster Linie die durch
Alkoholgenuß hervorgerufenen Unfälle.“
Der neue schweizerische Entwurf
zur Revision der Alkoholgesetzgebung.
Seit mehreren Jahren schwebt in der Schweiz die Abänderung der eid-
genössischen Branntweingesetzgebung. Die freie Obst-Hausbrennerei hat sich
im Laufe der Zeit zu einem schwerer Mißstand ausgewachsen. Sie IEOR
weit die Erzeugung und den Vertrieb der staatlichen Branntweinmonopol-
verwaltung. Diese hielt bis zuletzt hohe Preise ein, um auch hierdurch den
erbrauch zu verringern. Der staatliche Schnaps wurde aber durch den haus-
gebrannten niederkonkurriert. Der Regierungsentwurf, der nun die Haus-
202 Mitteilungen.
brennerei besteuern oder monopolisieren wollte, wurde im Juni 1923 vom
Volke verworfen. Darauf erniedrigte der Bundesrat die staatlichen Schnaps-
preise, wogegen aber die Bauern be Sa Einspruch erhoben. Das Finanz-
departement arbeitete nun einen Verfassungsentwurf aus, der vom
Bundesrat unter dem 29. Januar d. J. veröffentlicht wurde und Ersatz des
bisherigen „Schnapsartikels“ der Bundesverfassung durch folgende Bestim-
mungen vorschlägt: i
„Artikel 32 bis. Der Bund ist befugt, auf dem Wege der Gesetz-
ebung Vorschriften über die Herstellung, die Einfuhr, die Reinigung,
en Verkauf und die fiskalische Belastung gebrannter Wasser zu er-
lassen. Erzeugnisse, welche entweder ausgeführt werden oder eine den
Genuß ausschließende Zubereitung erfahren haben, unterliegen keiner
Besteuerung.
Die Herstellung von Trinkbranntwein aus Wein, Most, Obst und
deren Abfällen, aus Enzianwurzein, Wacholderbeeren und ähnlichen
Stoffen, wenn es Eigengewächs inländischer Herkunft betrifft, ist ge-
stattet und fällt, soweit es sich um Trinkbranntwein für den Bedarf
des eigenen Haushaltes des Produzenten handelt, nicht unter die Be-
steuerung. Der Bund ist befugt, auf dem Wege der freiwilligen Ueber-
einkunft mit den Eigentümern und gegen Entschädigung, sowie durch
Förderung des Brennens von Obst und Obstabfällen ın den Drittmanns-
brennereien die Zahl der Hausbrennapparate allmählich zu verminden.
Der Bund stellt die zur Durchführung dieser Grundsätze erforderlichen
Vorschriften auf.
Die Gesetzgebung ist so zu gestalten, daß sie die Herstellung und
den Verbrauch von Branntwein vermindert. Zu diesem Zwecke
sie die Verwertung einheimischer Brennereirohstoffe für die Ernährung
are und. dem Produzenten den Absatz seines Brennerzeugnisses
sichern.
Die Einnahmen aus der Besteuerung des Ausschanks und des
Kleinhandels innerhalb des Kantonsgebietes gehören den Kantonen
des Bezuges.
Von den Reineinnahmen aus der fiskalischen Belastung gebrannter
Wasser erhalten die Kantone die Hälfte, die nach dem Verhältnis der
durch die jeweilige letzte eidg. Volkszählung ermittelten und erwahrten
Wohnbevölkerung unter sie zu verteilen ist. Von seinem Anteil hat
jeder Kanton wenigstens 10 Prozent zur Bekämpfung des Alkoholismus
in seinen Ursachen und Wirkungen zu verwenden. Die andere Hi
der Reineinnahmen verbleibt dem Bunde, wovon er 5 Prozent für
die Bekämpfung des Alkoholismus zu verwenden hat.
Der Ueberschuß soll der Sozialversicherung vom A punk ihres
Inkrafttretens an und der Bekämpfung der Tuberkulose zufallen.“
Unter Artikel 31 der Bundesverfassung soll eingesetzt werden:
Fe der Freiheit des Handels und der Gewerbe ausgenommen
sind:
c) Das Wirtschaftswesen und der Kleinhandel mit geistigen Ge-
tränken in dem Sinne, daß die Kantone auf dem Wege der Gesetz-
gebung die Ausübung des Wirtschaftsgewerbes und des Kleinhandels
mit geistigen Getränken in Mengen unter zwei Liter den durch das
öffentliche Wohl geforderten Beschränkungen unterwerfen können.
Der Handel mit nicht gebrannten geistigen Getränken in Mengen
von zwei bis zehn Liter kann innerhalb der Grenzen von Artikel 3l,
lit. c, von den Kantonen auf dem Wege der reg ong von einer
Bewilligung und der Entrichtung einer mäßi ebühr abhängig
gemacht und der behördlichen Aufsicht unterstellt werden.
Juristische Personen dürfen von den Kantonen nicht ungünstiger
behandelt werden als natürliche. Die Produzenten von Wein und Most
Mitteilungen. 203
können ihr Eigengewächs in Mengen von zwei und mehr Liter ohne
a und ohne Gefahr verkaufen.
Der Verkauf nicht gebrannter geistiger Getränke darf von den
Kantonen außer den Patentengebühren mit keinen besonderen Steuern
belastet werden.“
Der Beiratder Schweizerischen Zentralstelle zur Be-
kämpfung des Alkoholismus anerkennt in einer Denkschrift
an die Mitglieder der eidgenössischen Kommissionen zum Studium der Revi-
sion des Alkoholwesens gewisse Vorzüge der Vorschläge dieses Entwurfs,
so besonders die Abzielung auf Förderung der alkoholfreien Verwertung ein-
heimischer Brennereirohstoffe (Absatz 1 und 3 von Artikel 32 bis) — sei
doch die Sicherung des Absatzes dieser Stoffe eine sehr berechtigte Forde-
rung der Landwirtschaft —, findet aber vom Standpunkt der Volksgesundheit
aus wesentliche Punkte zu beanstanden:
1. Die beabsichtigte Steuerfreilassung des Eigen-
verbrauchs an Schnaps (Abs. 2 von Artikel 32 bis). Diese Be-
stimmung stehe nicht im Einklang mit der vornehmsten Aufgabe der neuen
Vorlage, als welche die bundesrätliche Botschaft bezeichnet; „Den Schnaps-
‚verbrauch durch die Preisverteuerung auf sämtliche Branntweine einzu-
schränken.“ Warum ausgerechnet die bäuerliche Bevölkerung von dem volks-
gesundheitlichen Fortschritt ausgenommen werden solle? Handle es sich doch
auch bei ihr um einen Luxusverbrauch, nicht um einen wirklichen Bedarf.
Es wird in der Denkschrift auf eine Erklärung der französischen Regierun
vom Jahre 1915 Bezug 1 singen wonach der Hausverbrauch „in gesund-
heitlicher und sozialer Hinsicht die größte Gefahr darstellt“. Zum mindesten
de der steuerfreie Verbrauch strengen Gesetzesmaßnahmen unterstellt
werden.
‚„2 Die Hausbrennerei müßte — unter Wahrung aller wirtschaft-
lichen Belange der Obstverwertung — aufgehoben werden, da ihre Gefährlich-
keit (auch in der bundesrätlichen Botschaft) anerkannt sei und so viele ein-
fache Möglichkeiten der Steuerhinterziehung und damit der verheerenden
Geheimbrennerei gegeben seien, deren Benutzung psychologisch und er-
fahrungsgemäß habe liege. Habe doch die deutsche Branntweinmonopol-
verwaltung die von den Kleinbrennereien wirklich hergestellte Schnapsmenge
auf das 4- bis 5fache der vorschriftsmäßig angezeigten geschätzt. Sei schon
die wirksame Beaufsichtigung der Erzeugung bei den Zehntausenden von
Brenneinrichtungen schwierig, so noch mehr die des Verkaufs und der Ver-
wendung der für den a zurückbehaltenen Mengen. Damit sei auch
ausgeschlossen, daß die Schnapspreise in der wünschenswerten Weise erhöht
werden können, denn jede BETON würde auch einen vermehrten Anreiz
zur Hintergehung bilden. „Ohne hohe Schnapspreise und ohne die Möglichkeit
einer allmählichen, die wirtschaftliche Anpassungsfähigkeit des Verbrauchers
schließlich übersteigenden Erhöhung müßte aber nach den Erfahrungen in
anderen Ländern die Hoffnung auf eine verbrauchsvermindernde Wirkung der
neuen Vorlage fallen gelassen werden.“
3. Die Bestimmung für das den Kantonen zufließende Alkoholzehntel
(aus den Roheinnahmen der Alkoholverwaltung): „Zur Bekämpfung des
Alkoholismus in seinen Ursachen und Wirkungen“ möge auch
auf den zu gleichem Zweck bestimmten en Bundesanteil erstreckt
werden, während von den übrigen 95 v. H. angenommen wird, daß sie un-
geschmälert für die Sozialversicherung bestimmt werden.
4. In dem „Doppelliter-Artikel“ 31 möge in c, Absatz 3 die Bestimmung:
„Die Produzenten von Wein und Most können ihre Eigengewächse in Mengen
von zwei und mehr Litern ohne Bewilligung und ohne Gebühr verkaufen“
strichen werden, da ihre Belassung eine künftige gesunde Regelung des
irtschaftswesens stark erschweren könnte. i :
Man kann nun auf die Entwicklung der Angelegenheit, mit der sich die
schweizerischen Kampfgenossen in ihren Zeitschriften usw. lebhaft be-
schäftigen, gespannt sein.
— o m ea _-
204 Mitteilungen.
Englands Alkoholausgaben 1925.
Im letzten Heft brachten wir (Seite 103 f.) Mitteilungen aus England.
die den starken Rückgang des dortigen Verbrauchs an geistigen Getränken
gegenüber der Vorkriegszeit zeigten, während — vor allem infolge des
starken Anziehens der Steuerschraube — die Alkoholausgaben sich beträcht-
lich gesteigert haben. Um welche Beträge es sich handelt, geht (laut der Preg-
korrespondenz des „Board of Temperance“ usw. der Bischöflichen Methodisten- `
kirche, Yashingion, vom 21. Juni) aus einem Bericht der United Kingdom
Alliance über die britische Trinkrechnung für 1925 hervor. Diese wird auf
315,2 Millionen Pfund Sterling — 6304 Millionen Mark geschätzt (gegen;
über 316 Millionen Pfund im P davon 199 Mill. Pfd. für Bier, 91 Mill.
Pfd. für Spirituosen und 24 Mill. Pid. für Wein. Das macht zusammen etwa
7 Pfd. und 4 Schill. (144 M) auf den Kopf, auf die nicht-enthaltsame Familie
mindestens 35 Pfd (700 M) im Jahr.
Bemerkenswert ıst ein Vergleich mit den Aufwendungen für öffentliche
und soziale Zwecke. Die sozialen Ausgaben betrugen 307,7 Mill. Pfd.; davon
für das Erziehungs- und Bildungswesen 86,6, für die Arbeitslosen 50, für
rg Armenunterstützung 46, für das Arbeiterwohnungswesen 16,5 Mill.
on den danebengestellten sonstigen Posten erwähnen wir: Verzinsung der
nationalen Schulden 305, Gesamtunterstützungen für Arbeits- und Erwerbs-
lose vom Waffenstillstand bis Februar 1926 300,9, Ausgaben für Brot 80,
für Milch 76, Mitgliedsbeiträge der eingetragenen Gewerkschaften 192:
8,2 Millionen.
Der Tribut, den das Alkoholgewerbe im Jahre 1925 von den Ver-
brauchern geistiger Getränke erhob, belief sich auf 134,1 Mill. Pfd. oder
43 v. H. der gesamten Alkoholrechnung. A.
Befreiung vom Alkohol: der Anfang nationaler Freiheit.
Diese alte Tor cerong Mahatma Gandhis, des edlen Glaubenshelden
und geistigen Führers der Inder, wird jetzt bereits von der überwiegenden
Mehrheit seines Volkes anerkannt. Das indische Parlament hatte am 2. Mai
1925 mit 69 gegen 39 Stimmen dem Generalgouverneur Vorbereitung eines
Alkoholverbotes empfohlen. Alle Vertreter der Inder stimmten dafür; die der
Europäer aber und die indischen Beamten dagegen. Der Finanzminister
sprach sich aus finanzpolitischen Gründen dagegen aus. Zur Ueberraschung
der Engländer trat dann Ende Januar in Delhi ein großer Kongreß der
drei einander sonst feindlichen indischen Religionsbekenntnisse zusammen —
der Hindus, Mohammedaner und Christen — und beschloß, den Kamp!
gegen den Alkohol mit dem Endziel des Verbotes von nun an mit aller Krafi
pe meinsam zu führen. Zwei Eingeborenenstaaten, Bhopal und Bhawnagar.
aben bereits Erzeugung, Einfuhr und Verkauf von Alkohol verboten, ın
Trawankur wird dies vorbereitet. — Befreiung vom Alkohol ist für Indien
eine Frage nationaler Ehre. Bis vor wenigen Jahrzehnten lebte das indische
Volk in der Hauptsache noch alkoholfrei. Die beiden großen nationalen
Religionsgemeinschaften verbieten ja aus religiösen Gründen den Alkohol-
genuß. Die Engländer haben es dann verstanden, besonders den Schnaps-
verbrauch gerade in den ärmeren Schichten außerordentlich zu steigert
und die Alkoholsteuer fast zur Grundlage der provinzialen Einkünfte werden
zu lassen. Indien steht also vor langen und harten Kämpfen. Es ist verständlich,
daß sie dort fast nur für oder gegen das Verbot gehen. In einzelnen Provinzen
versucht man es zwar mit dem Gemeindebestimmungsrecht; anscheinend aber
mit wenig Erfolg, außer auf dem hochentwickelten Ceylon. Sonst hat sich
die Bevölkerung meist als für Abstimmungen zu passiv erwiesen.
Nach dem ,„Abkari“, Vierteljahrsschriftt der Engl.-ind. Temperenz-
Gesellschaft vom Juli 1926.) Dr. Polzer.
Schrifttum.
Uebersicht über die wichtigsten Veröffentlichungen
aus den Jahren 1925 und 1926.
Zusammengestellt von Dr. J. Flaig.
1. Alkohol und alkoh. Getränke.
1. Allgemeines,
Dresel s. unter II. 1.
2. Herstellung (technische); Erzeugung
und chemische Zusammensetzung.
Bauer, M.: Das deutsche Nationalgetränk.
Allerlei Geschichtliches vom edlen Gersten-
saft. 1925? 1926? Vereinigte Verlags-
gesellschaft, bie
Baurichter, K.: Die Lage des deutschen
Weinbaues. S.-Dr. aus „Deutscher Al-
koholgegner“ 1925, Nr. 7. Deutscher Al-
Te nolgegnerbund, Dresden-A.
G148, Th.: Zahlenmaterial zur Alkohol-
frage. 1926. Neuland-Verl., Hamburg 30.
3. Vertrieb (Handel).
Hayduck, F.: Alkohol in Zahlen. (1926).
Verl. Ceres, Gesellschaft f. volkstümliche
Ernährungspolitik, Berlin-Charlottenburg.
Usteri, P.: Kulturhistorische Notizen über
den Weingenuß bei den alten Griechen
und Römern. In: Intern. Ztschr. g. d. A.,
1925 Nr. 6, S. 313—322.
im übrigen s. auch: Bürck unter III, 7.
5. Anderweitige Verwendung der Roh-
(Ausgangs-) und Nebenerzeugnisse.
Leuthold, R.: Einfachste und billigste
Selbsiherstelfung von alkoholfreien Volks-
konserven als Obst-, Trauben- und Beeren-
säfte, sowie eingemachte Früchte und Ge-
müse. 8., illustr. Aufl. 1926 (?). Für die
Schweiz beim Verfasser, Wädenswil, für
Deutschland bei Hans Albus, Nürnberg,
ord. Sterngasse 1.
6. Anderweitige Verwendung des
Alkohols.
Trier, G.: Die technische Verwertung des
Alkohols. In: Intern. Ztschr. g. d. A., 1925
Nr. 3, S. 129—154.
7. Umwandiung der zur Alkohol-
erzeugung dienenden Einrichtungen.
Baurichter s. unter 1. 2.
8. Alkoholkapital, Alkoholgewerbe u.Be-
kämpfung der Antiaikoholbewegung.
Bäumer, G.: Das Alkoholkapital im Kampf
um die heiligsten Güter. In: Die Frau,
1926 H. 8, S. 477—81
Kalender mit Notizbuch 1926. Anti-
Abstinenz-Kalender. 1925. Veri. Gust.
Meyer, Leipzig-Schö.
Im übrigen s. auch: Bauer unter I. 2,
Bürck unter I. 7.
I1.Wirkungen.d. Alkoholgenusses,
1. Allgemeines, Statistisches usw.
Dresel, E. G.: Der Alkohol und seine Be-
kämpfung In: Handbuch der sozialen
Hygiene und Gesundheitsfürsorge, 3. Bd.,
a g - 71550. 1926. Verl. von Jul. Springer,
erlin.
Im übrigen s. auch: Klatt unter Ill. 3d,
Kommerell unter lll. 7.
2. Physiologische und psychologische
Wirkungen.
Benedict, F. G.: Alcohol and human
physiology. 1925. Nutrition Laboratory,
arnegie Institution of Washiagton,
Boston, Mass.
Strecker, R.: Das Narkotikum Alkohol im
sozialen Organismus. S.-A. aus „Die Al-
koholfrage“, 1926 H.1. Verlag auf der
Wacht“, Berlin-Dahlem, und Neuland-
Verlag, Hamburg 30.
Winterstein, H.: Alkohol und Arbeits-
leistung. In: v. Wasielewski, Rosenfeld,
Winterstein, Alkohol und Volksgemein-
schaft, drei Vorträge Rostocker Hoch-
schullehrer, gehalten auf Einladung der
Rostocker Studentenschaft, S. 24—30. 1926.
Verl. von Jul. Springer, Berlin.
Im übrigen s. auch: Huntemüller unter
111.8, Schönholzer unter Ill. 3f.
3. Alkohol und Krankheit.
Arnould, E.: Existe-t-il des concordances
statistiques entre l’alcoolisme et la tuber-
culose? In: Revue d'hygiène, 1925 Nr. 7,
S. 614—27.
Flaig, J.: Wesen und Ursachen der Trunk-
suc Y In: Reichsgesundheitsblatt, 1926
r.11,
Kankeleit: Alkohol und Geisteskrank-
heiten. 1926. Neuland-Verl., Hamburg 30.
Koller, A.: Tuberculose et alcoolisme. In:
Intern. Ztschr. g. d. A., 1925 Nr.6, S. 337
bis 347.
Mey er, G.: Tuberkulose und Alkoholismus.
Ein sozialhygienischer Vergleich. S.-A.
aus Revue antialcoolique et hygiénique,
1925 (?).
Pfeifer, B.: Behandlung der Vergiftungen
mit Alkohol. S.-A. a. d. Handbuch der
gesamten Therapie, 6,umgearb. Aufl., Bd.1.
1926. Verl. von Q. Fischer, Jena.
Rosenfeld, M.: Alkohol und Geistes-
störungen. In: Alkohol und Volksgemein-
schaft (s. Winterstein unter II, 2), S. 17—23.
5. Alkohol und Unfall, Invalidität.
R. H(ercod): Alkohol und Unglücksfälle.
In: Intern. Ztschr., 1925 Nr. 3, S. 172—76.
206 Schrifttum.
6. Alkohol und Sittlichkeit.
Kankeleit, Alkohol und Verbrechen. 1926.
Neuland-Verl., Hamburg 30.
7. Alkohol und Entartung.
Bluhm, A.: Dnpiechung der Arbeit von
Rost und Wolf: Zur Frage der Beein-
flussung der Nachkommenschaft durch
den Alkohol im Tierversuch, aus dem
Physiologisch - pharmakologischen Labo-
ratorium des Reichsgesundheitsamts, Ar-
chiv für Hygiene, Bd. 95, Intern. Ztschr.
£: d. A., 1925 Nr. 6, S. 355—57.
Christen, Th.: Die menschliche Fortpflan-
zung, ihre Gesundung und ihre Veredlung.
8. Aufl. 1926. Verl. E. Reinhardt, München.
Knauer, P.: Alkohol und Nachkommen-
schaft. 1926. Mimir-Verl., Stuttgart.
Ludwig. K.M.: Alkohol. Ein Beitrag zur
Rassenfrage. S.-A. aus d „Oberösterreich.
Aegeszehung. 1926. Gau Oberösterreich
`- d. Deutschen Gemeinsch. f. alkoholfreie
Kultur, Linz a.D.
van der Smissen, H.: Der Alkohol und
die Zukunft unserer Rasse. 2. Aufl. 1926.
Neuland-Verl., Hamburg 30.
8. Alkohol und Volkswirtschaft.
Statistisches.
Baurichter, K.: Ueber die Gegensätzlich-
keit gärungsgewerblicher und gesamtwirt-
schaitlicher Interessen. 1926. Neuland-
Verlag, Hamburg 30.
Berg, R., und Vogel, M.: Die Grundlagen
einer richtigen Ernährung. 5.—7. Taus.
(Alkoholfrage berücks. S. 152-58, 194-218.)
1926. Deutscher Verl. f£. Volkswohlfahrt,
Dresden.
v. Wasielewski: Alkohol und Volkser-
nährung. In: Alkohol und Volksgemein-
schait (s. Wintersteia unter II. 2), S. 1—16.
9. Wirkung des Alkohole auf das Kind
und die Jugend.
Gerken-Leitgebel,L.: Ein Feind unserer
Kinder. 3. Aufl. 1926. Neuland-Verlag,
Hamburg 310.
10. Verbreitung des Alkoholismus usw.
Hercod, R.: Deux enquêtes, deux mondes.
In: Intern. Ztschr. g. d. Alk., 1925 Nr. 3,
S. 176—180.
Il.Bekämpfung desAlkoholismus.
1. Allgemeines, Sammelarbeiten ust.
S. Dresel unter Il. 1, Pfeifer unter II. 3.
2. Staat und Gemeinde, Gesetzgebung
und Verwaltung.
Das Gemeindebestimmungsrecht —
eine Irreführung der Oeftentlichkeit ? 1926.
Verl. Ceres, Gesellschaft f. volkstümliche
Ernährungspolitik, Berlin-Charlottenburg.
Hansen, A.: Söndagen og Alkoholen. 1925.
De Unges Forlag, Aarhus.
Juliusburger, O.: Der 8 51 in gegen-
- wärtiger und zukünftiger Gestaltung. S.-A.
aus Bd. V.H. 4 der Deutschen Ztschr, f.d. _
sanis gerichtliche Medizin, S. 415 bis
. 1925.
Die deutschen Katholiken und das Ge-
meindebestimmungsrecht. Denk-
schrift des Reichsausschusses deutscher
Katholiken für das Gemeindebestimmungs-
recht an die katholischen Verbände und
. Parlamentarier. 1926. Hoheneck - Verlag,
~“ Heidhausen a. R,
Oldenberg, B.: Der Alkoholismus und
das Recht. Die Verantwortlichkeit der
Mutter im Eherecht. Beitrag zu den be-
vorstehenden, auch für unsere Kinder so
bedeutungsvollen Rechtsreformen. 198.
Verl. Auf der Wacht.
Scharffenberg, J.: The difficulties of
prohibition enforcement In: Intern. Ztschr.
g. d. A., 1 Nr. 2, S. 68—86.
Die Wirkungen des Gesetzes vom 24. De-
zember 1924 zur Bekämpfung der Trunk-
sucht in Lettland. Flugblatt Nr. 4 der
Deutsch - baltischen Arbeitsgemeinsch. z.
Bek. d. Alk. 1926.
Im übrigen s. auch: Baurichter unter
. 8, Dührssen, Kaufmann,
Löckermann unter Ill. 9.
3. Einzelne bestimmte Gruppen und
Gebiete.
d) Jugend und Erziehung.
Alkohol-Sondernummer von „Die neue
Erziehung“. 1925 H. 2.
Beltz, Bogenlesebuch.Bearbeiter.Fr.Schierl.
Berufsschule, Lebenskunde. Bogen,
nußgifte“. Anti-Alkohol-Heft. 1426. Ven.
von Jul. Beitz, Langensalza.
L’enseignement antialcoolique
dans nos écoles. Réflexions et conseils
du groupe medical vaudois de lutte coatre
l’alcoolisme. 1926. Imprimerie A.-P.
Rochat, Lausanne.
Klatt, G.: Die Alkoholfrage. Eine Gesamt-
. darstellung mit besonderer Berücksich-
tigung der Aufgaben der Schule. 1%.
Mimir-Verl., Stuttgart.
Sonderheft „Alkoholgegnerische
Jugenderziehung” der „Pädagog.
arte“, 1926 H.5; S.-H. „Nüchternkeits-
unterricht“: H. 14.
Vorschläge für den Unterricht über
die Wirkungen der Genußgiite
innerhalb des biologischen Unterrichts
und anderer Fächer nach den Richtlinien
für die Lehrpläne der höheren Schulen if
Preußen. Hrsg. v. „Deutschen Bund est-
halts. Erzieher“ und der „Deutschen Zen-
trale für Nüchternheitsunterricht“. 19%.
Deutsche Zentrale f. Nüchternh.- Unterr.,
Bielefeld.
e) Flotte, Heer, Krieg.
Fick, A.: Unsere Trinksitte im Kriege. 19%.
Veri. von Anton Pachmayer, Herrsching.
f) Verkehrswesen.
Schönholzer: Die Beziehungen zwischen
demAlkoholismus und derArbeitsfähigkeit.
Vortrag a. d. Kongreß d. Intern. Eisenbahn-
Alkohoigegner- Verbands in Prag am
20. Juni 1925. 1926. Buchdruck. Gehring u.
Ryffel, Wintherthur-Töß. Gekürzt abgedr.
im „Pionier“ (Verl. Auf der Wacht).
g) Einzelne Stände und Berufe.
Alkohol und Polizei. Vorträge, gehalten
im Februar und März 1925 bei der Polizei-
direktion in Wien. 1. Folge 1926. In: Po-
lizei-Rundschau „Oeffentliche Sicherheit“.
Selbstverlag der letzteren, Wien.
4. Kirchlich-Religlöses.
Hempel, J.: Mystik und Alkoholeksta#.
1926. Neuland-Verl., Hamburg 3%.
Reetz: Kirche und Antialkoholbewegung.
1925? Druckerei der „Beigarder Zeitung ,
Belgard a. Pers.
et =
Schrifttum. 207
Roch, M.: Kirche und Alkoholnot, ein
evangelischer Gewissensruf, 1925. Neu-
land-Verl., Hamburg 30.
im übrigen s. auch: Püschei unter III. 9.
5. Kulturelles.
d) Politisches.
Bericht über die 197. —1%. Sitzun
des Reichstags am 8.,10.und 11.Ma
1926 (betr. Alkoholismus, Gemeindebe-
stimmungsrecht usw.). Verl. d. Reichs-
druckerei, Berlin.
Merki, A.: Alkoholfrage, Nationalismus
und Internationalismus. In: Intern. Ztschr.
g. d. A., 1925 Nr. 3, S. 154-68
Im übrigen s. auch Jenssen unter III. 7.
e) Kunst und Literatur.
Albrecht, P.: Der verlorene Sohn. Lust-
spiel in einem Aufzug. 1926. Neuland-Verl,,
amburg 30.
Bethge, E. H.: Die letzte Flasche. Ein
Gleichnis am Feuer. 1926. Ed. Bloch, The-
aterverlag, Berlin C 2.
Ders.: Rausch. Ein Spiel im Freien um
Freiheit. 1926. Ebenda.
Hähnel, Fr.: Der Weg zum Glück. Volks-
erzäblung. 24.—26. Taus. 1925. Neuland-
Verl.. Hamburg 30.
Müsken. W,: Der alte Veteran und sein
Sohn. Erzählung nach einer wahren Be-
gebenheit. 1926? Verlag der Großstadt-
mission, Altona a. E.
Wolff, H: Die Leute vom Möhlenhof.
Erzählung aus dem niedersächsischen
bauernieben. 1926. Neuland- Verl., Ham-
urg 30.
6. Trinkerfürsorge, Trinkerhellung.
Delbrück, A.: Zur Asylierung der Trinker.
In: Ztschr. tł. Psychiatrie und psychische
gerichtliche Medizin, Bd. 84 (1926) S. 101
s 122.
Flaig, J.: Trinkerfürsorge und -heilung.
Karun ätzliches und gemeine). In:
on Geaundheltablatt, 26 Nr. 19, S. 471
8 473.
Grunert, W.: Trinkerfürsorge und Gut-
a orden Or Nen Verl. Hambarg 10.
Im übrigen s. auch: Bericht... unter lll.7g,
Plaig und Pfeifer unter II.3, Olden-
berg unter Il. 2.
7. Alkoholgegnerisches Vereins- und
Aufklärungswesen.
b) Aufkiärungsarbeit.
Almanak vor spoor-entramweg-
personeel 196. Brochurenhandelaar
der S. O. V., P. C. Lagas, Utrecht.
Bürck, M.: Für Wahrheit und Recht! Die
Propaganda der Alkoholinteressenten und
die deutsche Alkoholnot. 1925. Volkswohl-
Vfl, Karisruhe i. B., und Verl. Auf der
Dohrn, K.: Gesundheitspflege im täglichen
Leben. Bd.9 von „Leben und Gesundheit“,
gemeinverständliche Schriftenreihe, hrsg.
vom Deutschen Hygiene- Museum, 1926.
Deutscher Verl. f. Volkswohlfahrt, Dresden.
Ebert-Stockinger, C.: Elternsünden.
Ein Beitrag zur Erziehung der Eltern. 1926.
Verl. E. Pahl, Dresden.
Fiaig, J.: Der Alkoholismus und seine Be-
kämpfung. Vortrag zu einem vom Verf.
zusammengesteliten Bildstreifen (Steh-
tilm). 1926. Filmdienst-Verl., Dresden.
Führer durch die Wanderausstellung „Ge-
sundes PIBenalcben Hrsg vom Bezirks-
ausschuß zur Abwehr des Alkoholismus,
Merseburg. 1926.
Jenssen, O.: Sozialistische Lebensreform.
Marxismus und Alkoholismus. 1925. Verl.
er nsutschen Arb.-Abst.-Bundes, Berlin
Kommerell, E.: Der Alkoholismus. Ge-
meinverständlich dargestellt. 1926. Ver-
lagsanstalt Erich Deleiter, Dresden-A.
Schulwandbilder der Schweiz.
Zentralst. z.Bek.d. Alkoh. 1. Polar-
Landschaft mit Ausspruch von Nansen.
2. Die Gärung. 3. Süßer Most. Mehr-
farbendruck. fe mit Textblatt. 1926. Al-
koholgegner-Verl., Lausanne, und Neul.-
Verl., Hamburg 30.
Steidle, R.: Sankt-Jürg-Fibel. Zweites
Büchlein. Will einfachen Leuten die Ge-
fahren der Trinksitte und den Sinn der
Enthaltsamkeit weisen. Als Muster ge-
druckt. 1925. Vertriebsstelle: Josef Müller,
München, Oberanger 28.
Im übrigen s. auch: Erziehung... unter
I1.7g, Strecker unter II. 2.
c) Deutscher Verein gegen den
Alkoholismus.
Bericht über die36. Jahresversamm-
lung des D. V.g.d.A. zu Kiel vom 1. bis
4. November 1925 einschl, re
des Trinkerheilstättenverbands. 1926. ern
Auf der Wacht.
Stubbe, Chr.: Der Deutsche Verein gegen
den Alkoholismus, 1926. Verlag Auf der
Wacht.
Im übrigen s. aueh Stubbe unter III. 10,
d) Allgemeine und Zentralver-
bände
Morel, A.: Die Heldenzeiten des Blauen
Kreuzes. Erinnerungen eines Veteranen.
(Ins Deutsche übers. von Schwester C.K.)
. Verl. Victor Attinger, Neuenburg
(Schweiz).
Im übrigen s. auch Grunert unter Ill. 6.
f) Internationale u. ausländische
Vereine und Angelegenheiten.
TheAwoki Kyosai Zaidan, Inc. (Awoki
Temperance Reform Foundation.) Report
to the 18. Intern. Congress against alcoh.
1926. Tokio,
Cherrington, E.H.: The challenge of a
world crusade. Five years’ record of the
World League against alcoholism. 1925.
The American Issue Publishing Comp.,
Westerville, Ohio.
Stoddard, C. F.: L'union chrétienne des
femmes abstinentes. In: Intern, Ztschr.
g. d. A., 1925 Nr, 2, S, 100—112.
g) Tagungen, Kongresse.
Bericht über den 2. Deutschen Al-
koholgegnertag und die Konferenz für
Trinkerfürsorge in Düsseldorf (1.—4. Juni
1925). 1926. Hrsg. von der Deutschen Reichs-
hauptstelle g. d. Alk., Berlin-Dahlem.
Erziehung und Alkohol. Ein ernster
Mahnruf an Eltern, Lehrer und Erzieher.
Bericht über den 3. Lehrgang des Bezirks-
ausschusses z. Abwehr des Alk. vom 14.
bis 18. Dez. 1925, Merseburg. 1925.
8. Ersatz für Alkohol.
Huntemüller, O.: Der Einfluß des Al-
kohols auf die Körperleistung. In: Hygien
u. biolog. Abhandlungen, S. 56-63. 1925°
Verl. von Alfred Töpelmann, Gießen,
208 Schrifttum.
Rudolf,P.: Vom Wohnen und vom Trinken.
a Intern. Ztschr. g. d. Aik., 1925 Nr. 1.
Schuster F. und Schacherl, F.: Prole-
tarische Kulturhäuser. 1925. Buchhdi. d.
Arb.-Abst.-Bunds in Oesterr., Wien VII.
9. Polemisches.
Dührssen, R.: Kommunaloolitik und Ge-
meindebestimmungsrecht. 1926. Verl. Erich
Reiß, Berlin.
Engelen, P.: Der Alkohoigenuß und der
Alkoholmißbrauch vom ärztlichen Stand-
punkt. 1926. Repertorienverlag, rg S
Kaufmann, P,: Der erste Schritt. 1935.
Verl. Hoffmann u, Campe, Berlin-Hamburg.
Löckermann, Das Gemeindebestim-
mungsgrecht (G.B.R.). Seine politische
und staatsrechtliche Bedeutung. 1926. Verl.
H. Debus, Geisenheim a. Rh.
Püschel, E.: Bibel und Alkohol. 1925.
E. W. Plischeis Verl., Neudietendorf und
Leipzig.
Pütter.E., und Hesse, P.: Der Alkoho-
list, sein Wesen und seine seräptung:
1926. Verl. Hoffmann und Campe, Berlin-
Hamburg.
Im übrigen s. auch: Das Gemeindebe-
stimmungsrecht .. unter 11l.2, Hay-
duck unter I.3, Reetz unter Ill. 4,
10. Geschichtliches und Biographisches.
Burckhardt, R.:Arztund Menschenfreund,
Der St. Galler Doktor J. L. Sonderegger.
1.—3.Taus. (Alkoholfrage: S. 101—112 u.a.)
1925. Veri. der Evang. Gesellschaft, St.
Gallen.
Stubbe, Chr.: Schleswig-Holstein und der
Alkohol. 1925. (Zugleich Jahresbericht des
Provinz.-Verbands g. d. Alk.). 1925. Prov.-
Verb. g. d. Alk., Kiel.
Im übrigen s, auch Usteri unter 1.3,
IV. Verwandtes.
Das Reichsgesundheitsamt 1876 bis
1926. Festschrift, hrsg. vom R.Q.A. aus
Anlaß seines 50jährigen Bestehens. 1926.
Verl. von Jul. Springer, Berlin.
Was das Rote Kreuz tut. Bilder und
Zahlen aus der Arbeit der deutschen
Männer- und Frauenvereine vom R.Kr.
(Berlin W. 10). 1925.
V. Aus anderen Ländern.
2. Amerika.
Bogusat, H.: Das Alkoholverbot in den
Vereinigten Staaten von Amerika und seine?
Folgen. 4., durchges. Aufl. 1926. Verl.
Auf der Wacht.
Hercod, R.: The american situation. In:
Intern. Ztschr. g. d. Aik., 1925 Nr. 6, S. 39°
bis 337.
Kalle: Vereinigte Staaten. Aus der Ge-
ängnisstatistik New Yorks. In: Int. Ztschr.:
. d. A., 1925 Nr. 2, S. 116—120. l
shart, Ch. F.: The latest about probi-
bition in United States of America. 195.
The World League against Alcoh., Wester-
ville, Ohio.
9. Frankreich,
Ri&main, F.: L'effort antialcoolique fran-
gms de guerre et la reaction alcoolique
'après guerre, In: Intern. Ztschr. g.d.
Alk., 1925 Nr. 1, S. 4-31.
10. Großbritannien.
Carter, H.: The drink problem in Enst
land and Wales and the responsibility &
the churches in relation thereto. (Univ
christian conference on life and
Stockholm, 1925.) In: The New Cam:
aigner, 1925 Nr.9, S.10—15. Abbey Hoss:
estminster.
the alcohol problem. In: Intern. Ztschr.
g. d. Alk., 1925 Nr. 1, S. 1—9. |
13. Niederlande.
S. Almanak unter lil. 7, b.
14. Norwegen.
S. Scharffenberg unter III. 2.
17b. Ostseeländer.
S. „Die Wirkungen® unter II. 2.
18. Schweden.
Gahn, H.: Die Alkoholgesetzgebung it:
Schweden. In: Intern. Ztschr. g. d. ir..
1925 Nr. 2, S. 91—100. ,
K(oller): Schweden. Die Betrunkenkeits-.
vergehen in den Jahren 1917—192. In:
Intern. Ztschr. g.d. Alk., 1925 Nr. 1, $.©
bis 50.
Im übrigen s. auch: L'enseignement...
unter III. 3 d.
Druck von Kupky & Dietze (Inh.: C. und R. Müller), Radebeul-Dresden.
`.
-ERE Dn
-
Lib J |
ai Oktober November 1926 AN 4192
kohafrage
Internationale
wissenschaftlich - praktische Zeitschrift
HERAUSGEGEBEN
im Auftrage der
Deutschen Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus
und der
Internationalen Vereinigung gegen den Alkoholismus
unter Mitwirkung
namhafter Fachleute aller Länder
von
Professor Dr. med. h. c. I. Gonser und
Präsident a.D. Dr. Reinhard Strecker
In der Schriftleitung
Dr. R. Kraut und Dr. J. Flaig
Preis des Jahrganges (für In- und Ausland) 6 Goldmark
Preis des einzelnen Heftes: 1,25 Goldmark
BERLIN-DAHLEM
Verlag „Auf der Wacht“
1926
Inhalt des Heftes 5.
I. Abhandlungen.
Seit:
I. Gaupp, Emil Kraepelin + ; eh
2. Käding, Anstalten für unheilbare Alkoholkranke : o zul
3. v. Dassel, Zum neuen Entwurf eines Reichsschankstättengesetzes : Ai
4. Flaig, Bedeutsame behördliche Maßnahmen mit Bezug auf den Alkohol XL) 2
5. Müller, Die Landwirtschaft und der Kampf gegen den Alkohol . IN
vb. Stubbe, Gottes Ebenbild und der Alkohol . . Es
i Il. Chronik. (Stubbe, Kiel) .
e|
IH. Mitteilungen.
l. Aus der Trinkerfürsorge: Rotterdamer Fürsorgestelle für Alkoholkranke :
. AusVereinen: Jahresversammlung des Deutschen Vereins gegen den Alko-
holismus, Barmen, 26.— 29. September 1926. — Hauptversammlung des
Deutschen Frauenbundes für alkoholfreie Kultur, Leipzig, 26.— 29. September.
— Aus der Jahresversammlung der Deutschen Gesellschafi zur Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten . . . 2 2: Co Co on ren. .N
3. Verschiedenes: Der Völkerbund ind die Alkoholtrage.. — . Die Polizeistunde
in europäischen Großstädten. — 50 Jahre Antialkoholarbeit in Japan
IV
t-
. e o. >’
f
IV. Besprechungen.
Handbuch der sozialen Hygiene und R RE nn von A. Gott-
stein, A. Schloßmann, L. Teleky . . . ... le nee ua ae ne
V. Schrifttum.
Flaig, Uebersicht über die wichtigsten Veröffentlichungen aus. den Jahren 1925
uad IB wur win ne a a ea DENTE
Verantwortlich für Schriftleitung und Verlag: Prof. Dr. med. h. c. 1. Gon::
Berlin- Dahlem, Werderstr. 16.
Verlag und Versand:
Verlag „Auf der Wacht“ (Verlag des Deutschen Vereins g. d. A.), Berlin-Də: *
Werderstr. 16. Postscheckkonto: Berlin NW. 7, Nr. 9386.
Anzeigen:
Anzeigenpreis nach Vereinbarung.
Emil Kraepelin T.
Am 7. Oktober 1926 starb in München nach kurzer schwerer Herz-
erkrankung einer der bedeutendsten Männer medizinischer Wissen-
schaft, der Altmeister der deutschen Psychiatrie Emil Kraepelin.
Geboren am 15. Februar 1856 in Neustrelitz (Mecklenburg), erreichte
er in rascher wissenschaftlicher Laufbahn schon mit 30 Jahren das
Ordinariat der Psychiatrie in Dorpat, wirkte von 1890—1903 in Heidel-
berg, von 1903 bis zu seinem Tode in München, wo er von 1904 ab
die weithin berühmt gewordene psychiatrische Klinik leitete und 1917
die deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie gründete, deren Aus-
gestaltung er nach Aufgabe seines Lehramts (1922) seine ganze Tat-
kraft zuwandte. Mitten aus den Vorbereitungen zu einer Reise in den
fernen Osten (Indien), wo er neue Erkenntnis über die Ursachen der
Geisteskrankheiten gewinnen wollte, rief den geistig frischen, lebens-
freudigen Siebzigjährigen der grausame Tod ab. Mit ihm wurde eine
der interessantesten und krafitvollsten Persönlichkeiten der deutschen
Gelehrtenwelt dahingerafft, der vielen ein Führer und seiner Wissen-
schaft ein Bahnbrecher war.
Was Emil Kraepelin als Experimentalpsychologe und Systematiker
der Psychiatrie in der Geschichte seiner Wissenschaft bedeutet, soll an
anderer Stelle eine eingehende Würdigung finden. Die Gegner des
Alkoholismus, die den Leserkreis dieser Zeitschrift (Die
Alkoholfrage“) bilden, haben allen Grund, den Tod dieses außerordent-
lichen Mannes aufs tiefste zu betrauern; denn eristesgewesen,
der allen unseren Bestrebungen im Kampfe gegen
den heimtückischen Feind unseres Volkes die
wissenschaftliche Grundlage gegeben hat. Im
Laboratorium des von ihm hochverehrten Philosophen Wilhelm
Wundt hatte er sich mit den exakten Methoden der experimentellen
Psychologie vertraut gemacht; auf Grund dieser Schulung ging er an
seine Aufgabe, die Ursachen der Geisteskrankheiten und psycho-
pathischen Zustände aufzusuchen und durch künstliche Erzeugung
psychisch abnormer Zustände einen tieferen Einblick in das Wesen
endogener und exogener seelischer Erkrankungen zu gewinnen. So
entstand sein denkwürdiges Buch: Ueber die Beeinflussung
einfacher psychischer Vorgänge durch einige
Arzneimittel. (Jena, G. Fischer 1892.) Hier finden wir erstmals
eine wissenschaftlich eingehend begründete Analyse der Alkohol-
wirkung, nachdem Kraepelin schon in den Jahren vorher (seit 1886)
Die Alkoholfrage, 1926 14
210 Abhandlungen.
in kleineren Aufsätzen das Problem der psychischen Wirkungen des
Alkohols (und anderer Gifte und Genußmittel) in Angriff genommen
hatte. Immer wieder kam er später auf diese Fragestellungen zurück.
In den von ihm bei Engelmann (Leipzig) und später bei J. Springer
herausgegebenen „Psychologischen Arbeiten“ finden sich
zahlreiche Einzeluntersuchungen, welche die Wirkung des Alkohols
auf die psychische Leistungsfähigkeit (Auffassung, Aufmerksamkeit,
Uebungsfähigkeit, Gedankenablauf, Willensspannung, Muskelleistung
nach Menge, Güte und Tempo) zum Gegenstand haben. Während
des Krieges (1916) machte er in einer Studie auf die Schädigung der
Treffsicherheit beim Schießen durch Alkoholgenuß aufmerksam. In
seinem vierbändigen Lehrbuch, das uns in der 8. Auflage vorliegt und
von dem er die 9. Auflage vorbereitete, bildet das große Kapitel über
die alkoholischen Geistesstörungen eine Glanzleistung. Hier finden
wir in anschaulichster Form alles zusammengestellt, was die Wissen-
schaft über diese große Gruppe seelischer Erkrankungen auszusagen
vermag; überall besteht dabei das Bestreben, die ausgesprochene
Störung aus den leichten Veränderungen des Seelenlebens heraus zu
erklären, die der psychologische Versuch aufgedeckt hatte, — eine
wissenschaftlich einzigartige und bewundernswerte Leistung!
Kraepelin verdanken wir vor allem die Kenntnis der wichtigen
Tatsache, daß ein chemischer Stoff, der als Genußmittel auf dem Blut-
weg das Gehirn erreicht, die verschiedenen Seiten des Seelenlebens
ganz verschieden beeinflußt: Erschwerung der Auffassung, Ver-
flachung des Gedankenganges neben Erleichterung der Bewegungs-
auslösung, objektive Leistungsminderung bei subjektivem Gefühl der
Leistungssteigerung infolge Schwächung der Kritik und Erleichterung
der motorischen Innervation ergaben sich als das innerste Wesen der
psychiatrischen Alkoholwirkung und erklären die unheilvollen Folgen
des Alkoholmißbrauchs für den Trinker und die menschliche
Gesellschaft.
Ein Mann von der unbestechlichen Wahrheitsliebe, dem tiefen Ver-
antwortlichkeitsgefühl und der ungeheuren Willenskraft Kraepelins
blieb nicht bei der theoretischen Erkenntnis der Alkoholwirkung stehen
— er zog zunächst für sich selber die Folgen aus der ihm gewordenen
Einsicht: er wies jeden Alkoholgenuß von sich und trat als mutiger
und unbeirrter Vorkämpfer für die völlige Enthaltsamkeit von allen
geistigen Getränken an die Oeffentlichkeit — kein ängstlicher Hypo-
chonder, der nur um des gesundheitlichen Vorteils willen dem Wein
entsagt, kein finsterer Asket, der jede Lebensfreudigkeit von sich weist,
sondern der willensstarke, allem Schönen der Welt in Natur und Kunst
zugewandte, frische und lebensvolle Mann, der das Unheil der Trink-
sitten unseres Volkes sah und es in seiner leidenschaftlichen Vaterlands-
liebe von diesem Schandfleck befreien wollte. So sehen wir ihn in den
letzten 30 Jahren seines Lebens immer wieder zur Feder greifen, um
seine Einsicht allen, die guten Willens sind, zu vermitteln. 13 Aufsätze
und Vorträge in vorbildlich schöner Sprache zeugen von diesen volks-
Käding, Anstalten für unheilbare Alkoholkranke. 211
freundlichen Bestrebungen, die ihm den bitteren Haß des Alkohol-
kapitals zuzogen. Das Braukapital machte gegen ihn mobil; in fünf
geistvoll-polemischen Abhandlungen mußte er sich gegen die Angriffe
des Braugewerbes wehren, und er hat diesen Streit nicht ohne Schärfe
und mit kampfesfreudigem Mut ausgefochten, — er, der selbstlose
Idealist und kenntnisreiche Volksfreund gegen das profitgierige
Alkoholkapital, das heute machtvoller als je nach Erhöhung seiner
Verzinsung strebt und das doch dereinst, wenn unser Volk einmal zur
Erkenntnis und Willensbetätigung kommen wird, durch die Arbeit
Kraepelins und seiner Arbeits- und Gesinnungsgenossen seine Macht
wird zerschellt sehen müssen, wenn anders nicht dieses Volk in niederer
Genußsucht und fortschreitender Entartung dem Untergang anheim-
fallen soll.
Mit EmilKraepelin verlor unser deutsches Volk in einer Zeit
scines schweren Kampfes gegen ein grausames Schicksal einen seiner
besten Vorkämpfer für eine bessere und lichtere Zukunft. Ehre dem
Andenken des großen Gelehrten und deutschen Mannes!
R. Gaupp (Tübingen).
Anstalten für unheilbare Alkoholkranke.
Die nachfolgenden Ausführungen stellen eine an das
Arbeits- und Wohlfahrtsministerium des Freistaates Sachsen
gerichtete Eingabe dar, eine
„Aussprache über den Antrag des Rates der Stadt Leipzig
zur Errichtung von geschlossenen Heilanstalten für
unverbesserliche Trinker.“
Wenn man es unternimmt, an eine Aussprache über die oben er-
wähnte Frage heranzutreten, darf es wohl als gerechtfertigt erscheinen,
einen kurzen Ueberblick über deren Berechtigung vorauszuschicken.
Der Alkoholverbrauch und mit ihm der aus der sogenannten
Alkoholmäßigkeit herausgewucherte Alkoholmißbrauch und seine
Folgen sind in jüngster Zeit so stark angewachsen und die Diagnose:
„Alkoholkrankheit“ ist bei den in ı’rage kommenden Aerzten
so erschreckend häufig geworden, daß die Berechtigung des -Staates,
dieser Krankheit, als einer das Einzel- und Gemeinschaftswesen be-
er Volksseuche entgegenzutreten, zur Pflicht geworden sein
e.
. Erfreulicherweise steht die menschliche Gesellschaft den Fragen, die
dieses Gebiet betreffen, sozialer denkend und menschlicher, als es vor
dem Kriege der Fall war, gegenüber.
Viele Entgleisungen aus der Bahn der gesellschaftlichen Norm, die
man früher kurzerhand als nicht entschuldbares Laster, als unmoralisch
und unfair ansprach, ist man heute geneigt, in vielen Fällen als krank-
haft, nicht immer dem Richter, sondern dem Arzt als zuständig zu-
zuweisen.
Man ist ohne Zweifel im Allgemeinen menschlicher geworden.
Das Verhältnis vom Menschen zum Nebenmenschen hat an Pflicht-
gefühl für gegenseitige Hilfsbestrebungen vorteilhaft gewonnen.
14®
212 Abhandlungen.
Die Fürsorge- und Wohlfahrtsbestrebungen finden einen allgemein
günstigen Boden vor.
Die Sozialfürsorge von privater Seite hat den Boden geebnet und
das Eingreifen des Staates erleichtert.
In jeder Stadt, auch in kleineren, ist die Fürsorge für Alkohol-
kranke organisiert und in wirksamer Tatigk keit.
Wir sehen dies an dem Bilde, das einen Momentquerschnitt
durch das gesamte Gebiet der Alkoholfrage darstellt.
Der Alkoholkonsum hat sich in kurzen, steilen Kurven nach dem
Kriege zu der früheren Höhe emporgeschwungen.
eben vorkrieglichen Trinkern wurden nach einer alkoholarmer,
fast alkoholfreien Zwischenzeit neue Kreise erfaßt.
Sind doch von den Insassen unserer Heilstätte „Seefrieden‘“ sechzig
(60) Prozent, die im Anschluß an den Krieg, oder ganz nachkrieglich,
aus früher durchaus nüchternen und arbeitsfreudigen Menschen,
Alkoholsüchtige geworden.
Und doch ist uns glücklicherweise das früher tägliche Bild des
sinnlos betrunkenen Mannes in der Straßenrinne zu etwas Unsichtbarem
geworden.
Aus diesem Umstand ziehen bestimmte Kreise den leichten Schluß,
der Alkoholmißbrauch habe nachgelassen.
Daß wir die krassesten Formen des Alkoholismus nicht mehr in
der Oeffentlichkeit zu Gesicht bekommen, ist eine der dankbaren
Früchte eben der Alkoholfürsorge, die bei eintretendem Alkoholismus
oder bei dessen Gefahr fürsorglich eingreift und diese Fälle der
Beeinflussung der organisierten Alkoholentziehung oder der ärztlichen
Behandlung zuführt.
Daß aber trotz dieser frühzeitigen Maßnahme der Alkoholverbrauch
so erschreckend hoch bleibt, dürfte beweisen, daß die Ausdehnung
des Alkoholverbrauches in die Breite größer geworden ist und daß
die bisherigen Maßnahmen gegen eine Totalverseuchung, besonders
der jüngeren Generation, noch nicht genügend sein dürfte, wenn man
dem Staate das Einzelindividuum und der Familie das wertvolle Mitglied
erhalten will.
Die Bekämpfung des Alkoholismus dürfte sich in drei Haupt-
kategorien gliedern lassen:
I. Prophylaxe bei der Jugend.
(Aufklärung über die Gefahren des Alkohols in Schul- und Er-
ziehungsanstalten. Einführung in Sport, Spiel, Natur, Kunst.)
II. Erfassung und Sicherung der Alkoholgefährdeten.
(Fürsorgestellen, Privatorganisationen.)
Ill. Aerztliche Behandlung der bereits Erkrankten.
Davon wieder:
a) Behandlung der Besserungs- und Heilungsfähigen in offenen
Heilstätten.
b) Unterbringung der unverbesserlich Erscheinenden und schwer
Behandelbaren in Dauerheilbehandlung geschlossener
w -Trinkerheilanstalten.
Run des ungünstigen Beispieles aus der Oeffent-
ihkan, icherstellung von asozialen, der Gesellschaft und dem
Staate Schaden bringenden Individuen.)
_— - „2 Sn u ao
Käding, Anstalten für unheilbare Alkoholkranke. 213
IV. Bewahrung der geretteten Trinker in Enthaltsamkeitsvereinen.
Beide Arten von Anstalten müssen Spezialanstalten sein
unter bewährter und in der gesamten Alkoholfrage erfahrener wirtschaft-
licher Leitung und unter direkter Behandlung eines Facharztes für
Alkoholkranke stehen.
Der Trinker ist gewöhnlich durch die Behandlung privater Für-
sorge hindurchgegangen und ist nach erfolglosen Versuchen, ihn zum
geregelten Leben zurückzuführen, einer Trinkerheilanstalt zugeführt
worden.
Nach Absolvierung einer längeren oder kürzeren Entziehungskur
wurde er gewöhnlich nach kurzer Zeit, häufig sogar im Anschluß an
die Kur, wieder alkoholrückfällig. Ä
Eine erneute Anstaltsbehandlung zeitigte bei ihm dasselbe Resultat.
Im Laufe der Zeit hat er so verschiedene Anstalten und Kranken-
a zum Teil in geschlossenen Stationen (Delirium tremens), ab-
solviert.
Während dieser Zeit, die sich über eine Spanne von Jahren er-
streckt, hat er persönlich ein menschenunwürdiges Dasein geführt,
seiner Frau, seiner Familie, die gesetzlich immer noch machtlos gegen
ihn waren, unsagbare Qual und entsetzliches Elend bereitet.
Er ist unzählige Male mit Staatsanwalt und Gesetzesparagraphen
in Konflikt gekommen und hat eine Reihe Vorstrafen hinter sich.
Er selbst ist nicht nur ein asoziales Glied des Staates, sondern
eine nutzlos und ohne Ergebnis durchgeschleppte Last für Familie,
Gemeinde und Behörde.
Die Kosten, die dieser aussichtslose Fall den Fürsorgeverbänden
und Wohlfahrtsämtern bereitet hat, sind enorm und sind gesundungs-
fähigen anderen Hilfsbedürftigen entzogen.
Dieser Alkoholkranke gibt seinen Arbeitskollegen und der vom
ed on unberührten empfangsfähigen Jugend ein gefährliches
eispiel.
Er setzt körperliche und geistige Krüppel als entsetzliche Be-
lastungszeugen seiner selbst und vielleicht als Anklagezeugen gegen
eine unserer modernen Staatsverfassung noch nicht entsprechende Für-
sorge für solche Fälle, in die Welt.
Diese degenerierten Trinkerkinder und deren Nachkommen brin-
gen der Menschheit neue Qualen und sind der Ursprung zu Stamm-
bäumen, die, durch Generationen hindurch verfolgbar, eine Quelle zur
Pnopallischen Entartung, zu Verbrecher- und Dirnentum, Ballast
ür Sozialentwickelung, Kostenfordernde vom Staate bilden.
Hier hört die Krankheit auf, Privatangelegenheit des Individuums
zu sein; hier beginnt die Verantwortlichkeit des Staates, seinen Mit-
gliedern als Sozialindividuen gegenüber und hier beginnt die Pflicht
des Staates, schützend einzugreifen.
m eine Krankheit handelt es sich!
Sind die Befallenen doch fast alle sogenannte Psychopathen, d. h.
Menschen mit einer Seelenkonstellation, die man nicht als normal an-
sprechen kann und die im allgemeinen den Anforderungen des moder-
nen Gemeinschaftslebens nicht gewachsen sind, die aber auf der anderen
Seite noch nicht reif für das Irrenhaus sind.
Es sind Grenzpfähle zwischen gesund und krank mit plötzlichen
unberechenbaren Auswucherungen in das Pathologische, Unglücks-
214 Abhandlungen.
geburten, mit sich se!bst unzufrieden und der Mitwelt zur Qual, Halt-
lose, bis zu sinnlosen Wutausbrüchen erregbar, moralisch und ethisch
Een Begriffsdurchbildete und hemmungslos ihrer Sucht Ver-
allene.
Nicht der Staatsanwalt, sondern der Arzt möchte in diesen
Fällen das Wort reden!
Nicht geschlossenes Gefängnis, sondern geschlossenes
Krankenhaus!
Der Freistaat Sachsen schreitet rüstig und beispielgebend in allen
Fragen, die das soziale Gebiet betreffen, voran.
Und fürsorglich arbeitet der Freistaat Sachsen mit anerkennung-
verpflichtendem Erfolge.
Die Alkoholfürsorge ist auch in kleinen Orten im Entstehen.
Und doch hat ganz Sachsen nur eine einzige Heilstätte für
alkoholkranke Männer, das ist — „Seefrieden‘“ — bei Moritzburg.
Alle in Frage kommenden Stellen werden mit mir der Ueber-
zeugung sein, daß der augenblickliche Ansturm der Alkoholkranken
erst die erste Welle einer ansteigenden alkoholverseuchenden Flut ist.
Um so mehr müßte man der Verwirklichung eines Planes Eriolg
wünschen, der die Einrichtung einer geschlossenen Anstalı
für unheilbare Trinker zur Aufgabe hat.
Denn dadurch würden einerseits die Heilanstalten und Irrenhäuser
entlastet, anderseits aber würde die Möglichkeit gegeben, den Bezirks
Fürsorgeverbänden und Behörden die Dauerkosten für diese Kranken
zu ersparen oder doch auf ein Mindestmaß herabzusetzen, dadurch, daß
man imstande ist, diese Spezialkrankengruppe behandlungstechnisch
zusammenzufassen und durch Organisation ihre Arbeitskraft bis zu
einer gewissen Grenze produktiv zu gestalten.
Doch davon später.
Bei der Einrichtung einer derartigen Anstalt müßte man versuchen.
allen Anforderungen gerecht zu werden, die die Behandlung dieser
Menschen auf der einen Seite, das Sozialempfinden, die Staatssicher-
heit und die Sicherheit der Familie auf der anderen Seite stellen.
I. 1. In Frage kommen also Trinker, bei denen die Unmöglichkeit
der selbständigen Lebensexistenz im Daseinskampfe als sicher
nachgewiesen ist (erfolglose Behandlung in offenen Anstalten,
ärztliches Gutachten), die also zum Schutze für sich
selbst untergebracht werden.
2. Trinker, die durch chronische oder zu häufig wiederholte akute
Alkoholgiftwirkung sich zu asozialen oder antisozialen Ge-
meinde- oder Familienschädlingen (unnütze Belastung von Wohl-
fahrts- und Staatskassen) entwickelt haben.
Unterbringung zum Schutze gegen Sie.
Vorbedingung für jede Aufnahme ist die vorherige, zwangs
weise Entmündigung.
II. Die Anstalt selbst wird zweckmäßig, wirtschaftlich und verwal
tungstechnisch (Verkehr mit Behörden!) einer bestehenden Heil
anstalt für Alkoholkranke angegliedert. Es ist eines der ersten
Erfordernisse, daß diese Anstalt oder das einzurichtende Haus
räumlich von jeder anderen Anstalt getrennt und vollkommen
isoliert von menschlicher Ansiedelung liegen muß.
III.
Käding, Anstalten für unheilbare Alkoholkranke. 215
Es hat sich als unmöglich erwiesen, eine derartige Anstalt
u räumlicher Angliederung an ein anderes Unternehmen zu
ühren.
Weder kann man diese Menschen in einem Gebäudekomplex,
in dem sie mit direkten Geisteskranken zusammenkommen,
unterbringen, noch würde es sich empfehlen, sie mit Alkohol-
kranken, von denen man eine Dauerheilung erhofft, in Be-
rührung kommen zu lassen.
Der heilungsfähige und gesundungsgewillte Kranke, dessen
Nervensystem in jedem Falle zum mindesten sehr aus dem
Gleichgewicht geworfen ist, kann nur zu leicht suggestiv beein-
flußt, in seinem Gesundungsprozeß geschädigt und zu Mutlosig-
keit und Rückfällen verleitet werden, wenn er das Beispiel er-
folgloser Entziehungskuren bei anderen Kranken vor Augen hat.
Auf der anderen Seite aber ist die Kenntnis von dem Be-
stehen eines geschlossenen, zwangsweisen Hauses eine ge-
bührende Warnungstafel für ihn und eine wirksame Unter-
stützung der behandelnden Organe.
Die Behandlung dieser Kranken würde die der Alkohol-
kranken im Allgemeinen sein, d. h. also, ein körperliches
und seelisches Behandlungsprogramm, wie es
sich in der Heilstätte „Seefrieden“ als erfolgreich und den
modernsten Anforderungen entsprechend erwiesen hat.
Dieses neue Haus müßte errichtet werden in einer Ent-
fernung von der Haupt-Trinkerheilanstalt, die eine einheitliche
Oberleitung durchaus möglich macht, aber doch soweit, daß die
Insassen beider Anstalten keine Möglichkeit haben, miteinander
in Verkehr zu treten.
Am geeignetsten für diese Zwecke wäre ein in der weiteren
Umgebung abgelegener Gutshof, ein altes Schloß oder der-
gleichen.
Der Hauptteil des Tages würde ausgefüllt von einer be-
tont produktiven körperlichen Arbeit.
Und das ist ein anderes Hauptmoment: Schaffung von
ausgiebiger und für lange Zeit ausreichender Arbeit in freier
Luft (Abholzung, Ausrodung eines Waldbestandes mit Urbar-
machung, Entwässerung bisher unbebauten Geländes, Gärt-
nereien und Landwirtschaft).
Es ist Aufgabe des geschickten und erfahrenen Leiters der
Anstalten, die zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte der In-
sassen durch Zusammenfassen und zweckentsprechende Aus-
wertung ökonomisch so produktiv zu gestalten, daß ihre Kur-
kosten aus dem Ertrag ihrer Arbeitsleistung ganz oder vielleicht
zum größten Teil gedeckt werden können.
Vielleicht auch könnte man die Kranken, eben weil sie
Kranke und nicht Gefangene sein sollen, um ihnen den Lebens-
mut nicht zu nehmen, leicht entschädigen.
Die Anstaltsleitung müßte sich zusammensetzen aus einem, in
~ Trinker-H e i l - Behandlung, sowohl als auch im Verkehr mit
alkoholkranken Patienten und besonders deren Angehörigen, als
auch ganz besonders im Verkehr mit behördlichen Organen er-
fahrenen Manne, ebenso müßte natürlich der abstinente ärzt-
216 Abhandlungen.
liche Leiter über Erfahrungen der Anstaltsbehandlung von
Alkoholkranken verfügen.
IV. Was die Dauer der Aufnahme betrifft, so dürfte man, da ja alle
Patienten schon anderweitige, erfolglose Kurbehandlung hinter
sich haben, zunächst die feste Zeit von zwei Jahren ansetzen.
Nach Ablauf dieser Zeit könnte man vorgeschrittenen
Patienten, die in der letzten Zeit Gelegenheit hatten, ihre Be-
währung im öffentlichen Leben zu zeigen, eine Probeentlassung
mit Stellung unter vorläufige Aufsicht und Beobachtung bei
festem Anschluß an eine gut organisierte Enthaltsamkeitsvereini-
gung zubilligen, unter der Drohung einer sofortigen Wieder-
einlieferung bei dem ersten Rückfall.
Schlußbetrachtung.
Es ist Absicht des Verfassers, im Schlaglicht des oben Geschilder-
ten die Notwendigkeit beleuchtet erscheinen zu lassen, die eine bald-
mögliche Einrichtung einer geschlossenen Heilanstalt für un-
verbesserliche Trinker im Freistaate Sachsen zur Aufgabe hat, und die
Richtlinien darzulegen, die nach eingehenden Rücksprachen mit dem
seit zwanzig Jahren in dieser Tätigkeit stehenden, über reiche Er-
fahrungen verfügenden Direktor der Heilstätte „Seefrieden“, Herrn
Edmund v. Döhren, und anderen Fachmännern als die geeignetsten
sich ergeben haben.
Dr. med. Fritz Käding,
Leitender Arzt der Heilstätte „Seefrieden“
bei Moritzburg, Bezirk Dresden.
Zum neuen Entwurf
eines Reichsschankstätfengesetzes.
Von Regierungsassesor Dr. v. Dassel, Stralsund.
Es ist zu erwarten und dringend zu hoffen, daß der Reichstag im Laufe
der jetzt beginnenden Sitzungsperiode ein Schankstättengesetz beschließt, für
welches seit langer Zeit Vorarbeiten geleistet sind. Nachdem bereits in den
um 1881 und 1892 Entwürfe vorgelegt waren über die Bestrafung der
runkenheit und die Bekämpfung der Trunksucht, wurde 1914 eine Novelle
zur Gewerbeordnung entworfen, die durch eine umfassendere Regelung Rech-
nung tragen sollte der inzwischen erheblich gewachsenen Bedeutung der
Alkoholfrage. Infolge des Krieges kam der Reichstag nicht mehr zur Ver-
abschiedung dieser Novelle. In den Folgejahren erschien dann ein Einschreiten
des Gesetzgebers immer weniger geboten. Der Rückgang des Alkoholkonsums
in Deutschland war starkt), und entsprechend die Milderung aller Schäden,
für die er die Ursache gebildet hatte. In den letzten Jahren mußten wir jedoch
ein erneutes kräftiges Ansteigen jener verhängnisvollen Kurve beobachten’).
Das Konzessionswesen begegnete mehr und mehr scharfer Kritik. Die Ge-
fährdung der jugend wuchs een So entschioß man sich zur
erneuten Vorbereitung gesetzlicher Maßnahmen. Im Reichswirtschafts-
ministerium wurden von 1921 bis 1923 zwei Entwürfe zu einem Schank-
1) Z. B. sank in den Kriegsjahren der Bierverbrauch von 69 Millionen hi auf 23 Millionen,
der Branntweinverbrauch von 1,7 auf 0,1.
2) Der Bierverbrauch stieg bis 1925 wieder auf 46 Millionen hi, derBranntweinverbrauch auf 0,6.
v. Dassel, Zum neuen Entwurf eines Reichsschankstättengesetzes.. 217
stättengesetz ausgearbeitet. Gesetzeskraft haben aber auch diese nicht ern
Nur die allerdringendsten Abänderungen des unhaltbar gewordenen Rech
zustandes brachte das Notgesetz vom 24. Februar 1923 (RGBI. S. 147). Durch
einen mit großer Mehrheit gefaßten Beschluß?) forderte schließlich der
Reichstag seinerseits im Februar 1925 von der Reichsregierung ein „Gesetz
zum Schutz der Jugend gegen die Gefahren des Alkoholismus und zur Ver-
besserung des Schankkonzessionswesens.‘ Seitdem haben Haushaltsausschuß
und Vollversammlung die Notwendigkeit eines solchen Gesetzes wiederholt
ausgesprochen, der Reichstag zuletzt nach einer zweitägigen Aussprache am
8. und 10. Mai dieses Jahres. Darüber hinaus hat in den letzten Monaten die
weiteste Oeffentlichkeit Anteil genommen an der Erörterung der Alkohol-
e, namentlich in Form eines lebhaften Kampfes für und gegen das Ge-
meindebestimmungsrecht. Die von Mitte März bis Ende Mai veranstaltete
Unterschriftensammlung für eine an den Reichstag zu richtende Eingabe ergab
immerhin über 2; Millionen Stimmen Wahlberechtigter für eine derartige
Form des Bürgerschaftsentscheids'). Doch steht jetzt zunächst der im ver-
angenen Frühjahr von der Reichsregierung vorgelegte Entwurf zur
rörterung, der eine Umarbeitung des im Oktober 1925 abgeschlossenen
Referentenentwurfs des Reichswirtschaftsministeriums darstellt°).
Wenn wir uns fragen, welche unmittelbaren Ziele jener SEE nur
verfolgt, so treten zwei Gesichtspunkte in den Vordergrund, die auch bei
sämtlichen Debatten im Reichstag und in seinen Ausschüssen allseitige Würdi-
gung fanden:
1. Ausgiebiger Schutz der Jugendlichen gegen die Alkoholgefahren.
2, Verbesserungen des Schankstättenwesens
a) im Interesse der Verringerung des Alkoholkonsums,
b) im Interesse der Berufsehre und des Ansehens des Wirtestandes,
c) im Interesse der Angestelltenschaft,
) zum Schutz Trunksüchtiger und ihrer Familien.
Der Entwurf besteht aus 36 Paragraphen, die sich auf 7 Abschnitte ver-
teilen:
I. Erlaubnis zum Gewerbebetrieb ($ 1—ii),
II. Verlust der Gewerbebefugnis (88 12u.13),
III. Umfang der Gewerbebefugnis (88 14—17),
IV. Verfahren (8S 18—22),
V. Anwendungsbereich 23—27),
VI. Strafvorschriften rer
VII. Uebergangs- und Schlußvorschriften (88 30—36
I
Entsprechend der Fassung, die der § 33 der Gewerbeordnung durch das
Notgesetz erhalten hat, soll auch in Zukunft die Erteilung der Erlaubnis zum
Betriebe der Gastwirtschaft, der Schankwirtschaft und des Kleinhandels mit
Branntwein vom Nachweis eines Bedürfnisses abhängig sein (§ 1).
Gegen das gesetzliche Erfordernis des Bedürfnisnachweises ist ernstlicher
Widerspruch m. W. nicht laut geworden. Man wird gegen den Grund-
satz auch nichts einwenden können, es fragt sich nur, wie es mit seiner An-
wendung bestellt ist. Die Tatsache, daß in den letzten Jahren, der Geltung
des Notgesetzes zum Trotz, eine riesige Anzahl neuer Erlaubnisse erteilt
worden ist, daß namentlich die Wirte-Organisationen selbst über eine zu
großzügige Auslegung des Begriffs „Bedürfnis“ seitens der Konzessions-
örden zu klagen beginnen, läßt reichsrechtliche Richtlinien dazu erwünscht
erscheinen. Deshalb ist es zu begrüßen, daß § 1 Abs. 3 der Reichsregierung
das Recht verleiht, mit Zustimmung des Reichsrats die Voraussetzungen zu
3) 305 : 53 bei 6 Enthaltungen.
*) S. hierzu unten Seite 223 f.
*) Letzterer im folgenden kurz Referentenentwurf genannt.
218 Abhandlungen.
bestimmen, unter denen ein Bedürfnis anzuerkennen oder zu verneinen ist.
Mir erscheint es darüber hinaus empfehlenswert, eine absolute Grenze für
Konzessionserteilungen festzulegen. Es würde wohl das Verhältnis zwischen
der Zahl der Schankstätten und der Einwohnerzahl als Maßstab dienen
können; gegebenenfalls wären für Stadt und Land verschiedene Verhältnis-
zahlen festzusetzen.
Ferner müßte, dem Wunsch der Turn- und Sportverbände entsprechend,
im Gesetz gesagt werden, daß ein Bedürfnis niemals anzuerkennen ist für
Turn-, Spiel- und Sportplätze und -Hallen sowie deren nächste
Umgebung. Dasselbe gilt für Kleingartenanlagen®°).
$ 2 zählt die Voraussetzungen auf, unter denen trotz vorhandenen Be-
dürfnisses die Erlaubnis versagt werden muß. Ziffer 2, 4 und 5 enthalten
geltendes Recht (vgl. § 33 Abs. 3 Ziffer 1, 2 und 3 der Gewerbeordnung). Neu
sind die Bestimmungen über den Nachweis der zum ordnungsmäßigen Be-
trieb erforderlichen Mittel seitens des Antragstellers, über den in den letzten
3 Jahren wiederholt rechtskräftig bestraften Verstoß des Antragstellers gegen
„Vorschriften über die Beschäftigung von Personen in Gast- oder Schank-
wirtschaften“, wie endlich die Bestimmung in Ziffer 6: „... wenn die zum
Betriebe des Gewerbes bestimmten Räumlichkeiten zu den in Ziffer 2
nannten Zwecken mißbraucht worden waren”), sofern nicht anzunehmen ıst,
daß der Betrieb ordnungsmäßig geführt werden wird.“
Es würde im Interesse des Wirtestandes liegen, eine fachmännische Aus-
bildung vorzuschreiben, bei deren Fehlen die Erlaubnis ebenfalls zu ver-
sagen wäre.
Nach $ 3 ist die Erlaubnis, wie schon heute Rechtens ist, in jedem Falle
für bestimmte Räume zu erteilen. Neu ist, daß bei Gast- und be
Schankwirtschaften die Erlaubnis für eine bestimmte Be-
triebsart und für bestimmte Arten von Getränken zu erteikn
ist. Diese Verschärfung der Bestimmungen ist dazu bestimmt und m. E. gt
eignet, die mißbräuchliche Benutzung von Schankkonzessionen zur Errichtung
von Likörstuben und dergl. zu erschweren oder gar zu verhindern?).
Auch in Zukunft soll die Erlaubnis grundsätzlich nicht auf Zeit oder
auf Widerruf) erteilt werden können. Letzteres ist zwar zweckmäßig.
Dagegen wäre zu erwägen, ob nicht die Dauer der Erlaubnis auf eine be-
stimmte Zahl von Jahren beschränkt werden könnte. Das würde auf der einen
Seite beim Konzessionsinhaber zu einer Stärkung des Verantwortungsbewußt-
seins führen, auf der anderen Seite den sinnlosen Vorteil beseitigen, den der
Eigentümer eines Hauses mit einem lebenslänglichen Schankbetrieb ohne jede
Gegenleistung erhält. In verschiedenen Staaten sind solche Bestimmungen em-
eführt worden), ohne daß sich die befürchteten Nachteile gezeigt habes.
ormalerweise wird die Erlaubnis nach Fristablauf weiter bewilligt. _
§ 4 (Erlöschen der Erlaubnis durch Nichtbeginn bzw. spätere Nicht-
ausübung des Betriebes) entspricht im Wesentlichen dem geltenden Recht
(§ 49 der Gewerbeordnung).
Bei juristischen Personen und nicht rechtsfähigen Vereinen ist nach $ 5
die Konzessionsdauer auf den Zeitraum von 20 Jahren beschränkt.
Die „Stellvertretung“ regelt § 6 abweichend von der allgemeinen
Bestimmung im § 45 und $ 46 der Gewerbeordnung. Den geltenden Rechts
zustand mißbrauchen heute zahlreiche Betriebsinhaber zu, durch
stellung von „Stellvertretern“ deren Neukonzessionierung zu umgehen.
°) In der preußischen Praxis wird bereits entsprechend verfahren auf Grund Erlasses dts
Volkswohlfahrtsministers vom 30. November 1923.
3) Völlerel, Hehlerei, Glücksspiel, Unsittlichkeit usw.
8) Vgl. hierzu unten S. 222.
® Nur „bei einem vorübergehenden Bedürfnis" kann der Betrieb vorübergehend auf
Widerruf gestattet werden (8 8).
20) In England beträgt die Dauer 1 Jahr, in Dänemark 8 Jahre.
v. Dassel, Zum neuen Entwurf eines Reichsschankstättengesetzes. 219
Zukunft soll deshalb der Stellvertreter einer besonderen Erlaubnis bedürfen,
die nur erteilt wird
„i. wenn nach Erteilung der Erlaubnis .... Umstände eingetreten sind, die
den Inhaber hindern, das Gewerbe persönlich auszuüben, insbesondere,
wenn er in der Verfügung über sein Vermögen beschränkt worden ist;
2. wenn der Betrieb nach dem Ableben des Inhabers für seine Witwe wäh-
rend ihres Witwenstandes oder, wenn minderjährige Erben vorhanden
sind, für sie fortgeführt werden soll.“
Anstatt „‚minderjährige Erben“ hieß es im Referentenentwurf „minderjährige
Abkömmlinge“. Diese Fassung müßte meines Erachtens wieder hergestellt
werden. Denn es fehlt durchaus an einem sachlichen Bedürfnis, den Kreis der
Anspruchsberechtigten nach den sehr weit gehenden erbrechtlichen Bestim-
mungen des bürgerlichen Rechts zu bemessen. Sogar Nichtverwandte können
danach bekanntlich Erben sein.
Eine Art „vorläufiger Erlaubnis“ für Personen, die einen Be-
trieb von einem anderen übernommen haben, sieht $ 7 vor. Sie wird auf
Widerruf und grundsätzlich nicht auf länger als 3 Monate erteilt.
Hinsichtlich des vorübergehenden Bedürfnisses, von dem
§ 8 spricht, wäre vorzuschlagen, daß die Anerkennung eines solchen für den
Verkauf und Ausschank von Branntwein reichsgesetzlich ausgeschlossen
werden müßte. Denn gerade in Fällen, wie sie hier der Gesetzgeber im Auge
hat (Schützenfeste, Manöver, Märkte, große Erdarbeiten, Bauten und dergl.),
spielt heute der Genuß von Branntwein eine in verschiedenster Hinsicht be-
sonders verhängnisvolle Rolle. Seine Fernhaltung wäre da ebenso angebracht,
wie an Lohnzahlungstagen, Sonntagen und dergl.‘‘). Endlich dürfte ein
ee Bedürfnis ebenso wenig wie ein dauerndes in Betracht
ommen bei
a) Schul- und Jugendfesten,
b) Sportfesten, an denen Jugendliche beteiligt sind,
c) in Kleingartenanlagen.
Die 88 9 und 10 behandeln den Ausschank von Milch und
selbsterzeugtem Wein oder Apfelwein. Hier soll mit Recht
unter gewissen Voraussetzungen keine besondere Erlaubnis notwendig sein.
Bedeutungsvoll erscheint § 11. Danach können dem Betriebsinhaber A u f-
E e macht werden, bei Erteilung der Erlaubnis oder auf Antrag der
Polizeibehörde nach Erteilung derselben:
„a) zum Schutz der Gäste, Angestellten und Arbeiter gegen Gefahren für
Leben, Gesundheit oder Sittlichkeit;
b) zum Schutze der Bewohner des Grundstücks und der Nachbargrund-
stücke sowie der Bevölkerung gegen erhebliche Nachteile oder Be-
lästigungen.“
Aus dieser Kann-Vorschrift sollte man im Interesse der Allgemeinheit
eine Muß-Vorschrift machen. Darüber hinaus erscheint die Frage erwägens-
wert, ob nicht reichsgesetzlich demjenigen Wirt, der Jemanden vorsätzlich
oder fahrlässig in den Zustand der Trunkenheit versetzt hat, die Verpflichtung
aufzuerlegen ist, diesen Trunkenen heimwärts zu befördern.
II.
8 12 bringt wesentliche Neuerungen gegenüber dem geltenden Recht. Ein-
mal werden die Konzessionsentziehungs-Gründe erheblich vermehrt, zum
anderen wird für bestimmte Fälle vorgeschrieben, daß die Konzession ent-
zogen werden muß. Der Zwang zur Zurücknahme der Erlaubnis besteht in
zwei Fällen:
„i.wenn sie der Antragsteller vorsätzlich durch unrichtige Angaben er-
wirkt hat; l |
1) Für diese Fälle sieht § 15 einschränkende Bestimmungen der Länder-Regierungen vor,
$. unten Seite 221.
220 Abhandlungen.
2. wenn der zur Zurücknahme zuständigen Behörde Tatsachen bekannt wer-
den, welche die Versagung der Erlaubnis nach $ 2 Abs. 1 Ziffer 2 und 3°)
rechtfertigen würden.‘
Die anderen Entziehungsgründe („die Konzession kann entzogen werden‘)
sind folgende:
1. Die Erlaubnis ist durch Angaben erwirkt worden, deren Unrichtigkeit
der Antragsteller fahrlässiger Weise nicht gekannt hat.
2. Unbefugte Aenderung der Betriebsart, Ausschänken anderer als der zu-
gelassenen Getränke, Verwendung anderer Räume als der zugelassenen
zum Betriebe.
3. Betriebsführung durch Stellvertreter ohne Erlaubnis.
4. Nichtvollziehung der nach § 11 gemachten Auflagen durch den Inhaber
oder Stellvertreter.
5. Beschäftigung von Personen durch den Inhaber oder Stellvertreter, von
denen er weiß oder annehmen muß, daß ihre Beschäftigung .nach § 17
Abs. 1 untersagt ist.
Diese Bestimmungen, die, wie gesagt, größtenteils Neuerungen sind, er-
scheinen ausnahmslos als begrüßenswert, namentlich im Interesse eines acht-
baren, seiner Verantwortung bewußten Wirtestandes.
$ 13 enthält einen Untersagungsgrund für Fälle, die § 12 nicht
trifft, nämlich für den Kleinhandel mit Bier und Wein und den
Milchausschank. Gegen diesen kann eingeschritten werden, wenn
der Gewerbetreibende innerhalb der letzten 3 Jahre rechtskräftig bestraft wor-
den ist wegen nieht erlaubten Betriebes einer Schankwirtschaft oder eines
Branntweinkleinhandels. iii
Die Vorschriften über die Polizeistunde (§ 14) bringen gegenüber denen
des Notgesetzes nichts Neues. Die Regelung bleibt im Einzelnen Sache der
Landesbehörden.
Bekannt ist der lebhafte Streit um diese zeitliche Beschränkung des täg-
lichen Schankbetriebes. Auf der einen Seite wird für eine wesentliche Ver-
schärfung der Bestimmungen und ihrer Handhabung im Einzelfall ein-
getreten, auf der andern Seite die „Verlängerung der Polizeistunde“ oder gar
ihre gänzliche „Abschaffung“ angeregt. Dies wird, soweit nicht ohne
sondere Begründung lediglich gegen „eine überilüssige Beschränkung der
Gewerbeifreiheit‘ Sturm gelaufen wird, meist mit der Behauptung motiviert,
der Fremdenverkehr leide unter solch einengenden Bestimmungen. Die Gegen-
seite beruft sich auf arbeitsphysiologische Untersuchungen, die gezeigt haben,
in wie hohem Maße die Leistungsfähigkeit des Menschen durch Alkoholgenuß
und fehlende Nachtruhe herabgesetzt wird. Ferner bestehe ein enger Zusam-
menhang zwischen der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten und gesteigerter
Kriminalität einerseits und dem Alkoholmißbrauch in den späten Abendstunden
andererseits. Das alles bedrohe namentlich die Jugend, sodaß im Interesse
der Volksgesundheit und der Jugendwohlfahrt ein Abbau der betrefienden
Schutzbestimmungen nicht zu verantworten sei, im Gegenteil genügten diese
für einen wirkungsvollen Jugendschutz noch nicht!?). l
M. E. haben wir alle Veranlassung, von der „Polizeistunde“ zwecks Ver-
ringerung der Alkoholschäden ausgiebigen Gebrauch zu machen, — jeden-
falls nicht weniger, als z. B. die Engländer’*). Andererseits dürfte es richtig
sein, die Regelung dieser Frage den Ländern zu überlassen, im Interesse mög-
lichst weitgehender Berücksichtigung örtlicher und zeitlicher Besonderheiten.
12) Vgl. oben Seite 218.
32) In diesem Sinne spricht sich eine Eingabe der „Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung“"
an den Preußischen Innenminister vom 18. April 1925 aus.
4) Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet erscheint das Entgegenkommen des preußischen
Innenministeriums gegenüber den Wirte- usw. Organisationen unerträglich: nach dem Erlaß
vom 16. Oktober dieses Jahres ist die Polizeistunde festzusetzen in Städten von 100000 bis
Te N Einwohner auf I Uhr, in solchen mit mehr als 300000 Einwohnern auf 2 Uhr, in Berlin
au r.
— S-
v. Dassel, Zum neuen Entwurf eines Reichsschankstättengesetzes. 221
Wieweit die Polizeistunde auch für Vereine und geschlossene Gesell-
schaften „gilt“, sagt der Entwurf im $ 23.
$ 15 sieht das von den verschiedensten Seiten seit langer Zeit geforderte
Branntweinverbot für bestimmte Tage und Stunden vor. Der Brannt-
wein-Ausschank und -Kleinhandel. kann von Landeswegen ganz oder teilweise
verboten oder beschränkt werden
z| an Lohnzahltagen,
b) für bestimmte Morgenstunden,
c) an Sonn- und Festtagen, |
d) an dem diesen (siehe c) unmittelbar vorhergehenden Tage.
Die hier und da geäußerte Befürchtung — CER Bestimmungen ver-
größerten das Uebel, das sie bekämpfen wollten, die Bevölkerung gewöhne
sich an, den Branntwein zu Hause zu trinken, und so werde der Schaden auch
noch in die Familien getragen — halte ich für ganz unbegründet. Die Art
Alkoholismus, die hier getroffen werden soll, beruht zum geringsten Teil
auf einem wirklichen Trinkbedürfnis. Die Wurzel liegt vielmehr in der
Unmenge der Versuchungen, die heute den nicht ganz Willensstarken um-
geben, ferner dem unheilvollen Einfluß von Kameraden, Kollegen und
„Freunden“. Ich möchte im Gegenteil eine Verschärfung obiger Bestimmung
befürworten, etwa nach der Richtung hin, daß von Reichs wegen ein
teilweises Branntweinverbot eingeführt würde. Die Statistik würde nach
a Jahren die Erfolge einer solchen Maßnahme ad oculos demonstrieren!
inen Rückschritt gegenüber dem geltenden Recht ($ 56 Abs. 2 Ziff. 1
der Gewerbeordnung) bedeutet $ 16. In Ziffer 1 werden nämlich
geistige Getränke nicht schlechthin vom Ankauf oder Feil-
bieten im Umherziehen ausgeschlossen, sondern für Bier und Wein
in Flaschen und Fässern wird eine Ausnahme gemacht. Dem entspricht auch
die Regelung hinsichtlich des Feilbietens und des Ankaufs zum Wiederverkauf
innerhalb des Wohnorts oder der gewerblichen Niederlassung von Haus zu
Se auf Öffentlichen Wegen, Straßen, Plätzen oder an anderen öffentlichen
en.
Nach Ziffer 2 ist es verboten, geistige Getränke auf Jahr-
und Wochenmärkten feilzubieten.
Die Ziffern 3 und 4 gelten dem Schutz der Jugendlichen.
Nach Ziffer 3 ist es verboten
„an Personen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben,
Branntwein oder branntweinhaltige Genußmittel im Betriebe einer
Gast- oder Schankwirtschaft oder zu eigenem Genuß im Kleinhandel
zu verabreichen“,
nach Ziffer 4:
„an Personen, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, in
Abwesenheit des zu ihrer Erziehung Berechtigten oder seines Ver-
treters andere geistige Getränke als Branntwein oder nikotinhaltige
Tabakwaren im Betriebe einer Gast- oder Schankwirtschaft zu eigenem
Genusse zu verabreichen“.
Der Rechtszustand, wie er durch das Notgesetz geschaffen wurde, bleibt also
aufrechterhalten, obwohl ein wirksamer Schutz der Jugend heute nicht erreicht
ist. Zu fordern wäre — schon zwecks leichterer Kontrolle und besserer
Durchführbarkeit — eine Zusammenfassung der beiden Ziffern in folgender
Vorschrift:
„Verboten ist jeglicher Ausschank und Verkauf geistiger Getränke,
sowie der Verkauf branntweinhaltiger Genußmittel und nikotinhaltiger
Tabakwaren an Jugendliche unter 18 Jahren in Betrieben einer Gast-
. oder Schankwirtschaft oder im Kleinhandel.“
Diese Fassung hat auch der Reichsausschuß der deutschen
Jugendverbände verlangt, die offizielle Vertretung von 3% Millionen
Organisierter Jugendlicher. Zum mindesten müßten in den Ziffern 3 und 4
e Worte „zu eigenem Genusse“ fallen, ebenso in Ziffer 4 die Worte: „in
222 Abhandlungen.
Abwesenheit des zu ihrer Erziehung Berechtigten oder seines Vertreters“.
Denn, ob das Getränk dem Jugendlichen „zum eigenen Genusse“ dienen soll,
wird dem Verkäufer nicht stets erkennbar sein, und als „Vertreter des Er-
ziehungsberechtigten‘“ kann jeder beliebige Unverantwortliche auftreten.
Zilfer 5 verbietet das Verabreichen geistiger Getränke im Betriebe einer
Gast- oder Schankwirtschaft oder im Kleinhandel „a n Betr u n k en e$), oder
an solche Personen, die von der zuständigen Behörde als Trunkenbolde
bezeichnet oder in eine Trinkerliste aufgenommen sind“. Ob die Fassung
„an Betrunkene“ ausreicht, erscheint mir zweifelhaft, da unter Betrunkenheit
meist nur das schlimmste Stadium des Rausches, die sinnlose Trunkenheit,
verstanden wird. Und doch wäre es gut, überhaupt die Abgabe geistiger Ge-
tränke an denjenigen zu verbieten, der bereits erkennbar unter ihrer Ein-
wirkung steht. Auch diese Erweiterung des Entwurfs würde im Interesse des
Wirtestandes liegen, dessen Ansehen durch nichts mehr gefährdet ist, als
durch das unverantwortliche Ausnutzen der Trunkenheit von Gästen seitens
einzelner Wirte.
Ziffer 6 verbietet das Feilbieten von Branntwein oder branntweinhaltigen
Genußmitteln durch Automaten. Nach Ziffer 7 ist verboten, „das Verab-
folgen von Speisen in Gast- oder Schankwirtschaften von der Bestellung
von Getränken abhängig zu machen oder bei Nichtbestellung von Ge-
tränken eine Erhöhung der Preise eintreten zu lassen“.
8 17 spricht im Abs. 1 von der Beschäftigung einer Person als „Betriebs-
leiter“. Die Beschäftigung kann beim Fehlen der erforderlichen Zuverlässig-
keit behördlicherseits untersagt werden. Nach Abs. 2 können für die Zulassung,
Beschäftigung und Art der Entlohnung weiblicher Angestellter in
Gast und- Schankwirtschaften landesrechtliche Vorschriften erlassen werden.
da diese Materie bisher zum Teil reichsrechtlich geregelt war '*), das betr.
Gesetz aber durch I Ziffer 2 aufgehoben wird, besteht die Gefahr, daß der
Schutz der weiblichen Angestellten Einbußen erleidet. Vielleicht kann die
Pencraig gewisser Grundsätze den Landesregierungen zur Pflicht gemacht
werden.
Eine wertvolle Neuerung gegenüber dem geltenden Rechtszustande sah der
Referenten-Entwurf vor:
„In Gast-, Schank -und Speisewirtschaften dürfen Personen, die an
offener Lungen- oder Kehlkopftuberkulose oder an einer ekelerregenden
oder ansteckenden Haut- oder Geschlechtskrankheit leiden, oder die
dauernd Typhus- oder Ruhrbazillen ausscheiden (Bazillenträger), bei
der Zubereitung und Verabfolgung von Speisen und Getränken und
bei der Reinigung des EBß-, Trink- und Küchengeschirrs nicht tätig sein.“
Diese Bestimmung müßte wieder hergestellt werden. Sie iiegt nicht nur im
a ETE Interesse der Allgemeinheit, sondern namentlich auch in dem
der Wirte und der Angestellten.
IV
Die §§ 18 ff. stellen gewisse reichsrechtliche Grundsätze auf für das
Verfahren in Konzessionssachen. § 18 erklärt zunächst die
oberste Landesbehörde für zuständig, die Behörden zu bestimmen und das
Maea zu regeln. Für dieses schreibt indes der Entwurf folgende Grund-
sätze vor:
1. Der Bescheid muß schriftlich erteilt werden,
2. der Bescheid muß mit Gründen versehen sein, es sei denn, daß die
Erlaubnis zur Weiterführung eines bestehenden Betriebes erteilt wird,
3. bei der Konzessionierung einer Gast- oder Schankwirtschaft oder eines
Branntweinkleinhandels müssen bezeichnet werden
a) die Betriebart,
b) die zugelassenen Räume,
15) Insoweit mit dem Notgesetz gleichlautend.
1¢) Gesetz über weibliche Angestellte in Gast- und Schankwirtschaften vom 15. 1.20
(R. G. BI. S. 69).
v. Dassel, Zum neuen Entwurf eines Reichsschankstättengesetzes. 223
3 die dem Betriebsinhaber etwa gemachten Auflagen, außerdem
d Pa aa und Schankwirtschaften die Arten der zugelassenen Ge-
ränke,
4. das Verfahren muß den Vorschriften der §§ 20—2la der Gewerbe-
ordnung genügen,
5. die Antechtungsbefugnis muß nach näherer Bestimmung der obersten
Landesbehörde auch einem Vertreter des öffentlichen Intereses zustehen.
Zu Ziffer 5 dieser Zusammenstellung möchte ich vorschlagen, die Anfechtungs-
befugnis unter allen Umständen demjenigen von den im § 19 genanten Ver-
tretern des öffentlichen Interesses zu garantieren, der der Erlaubniserteilung
widersprochen hat.
Ueber die Instanzen, die vor der Erteilung oder Zurücknahme der Er-
laubnis gehört werden müssen oder sollen, spricht nämlich 8 19. Zu
ersteren gehören nur die Ortspolizei- und die Gemeindebehörde, nicht — wie
der Referentenentwurf richtigerweise bestimmte — auch das Jugendamt. Im
übrigen nennt der Entwurf: das Gewerbeaufsichtsamt, gemeinnützige Vereine,
die örtliche oder bezirksweise Vertretung des Gast- oder Schankgewerbes,
die Beruisvertretung der betr. Arbeitnehmer.
§ 20 lautet:
„Ist die Erlaubnis mangels eines Bedürfnisses versagt worden, so darf
innerhalb dreier je nach Rechtskraft der Entscheidung die Er-
laubnis für denselben oder einen gleichartigen Betrieb auf demselben
Grundstück nur erteilt werden, wenn sich die Verhältnisse inzwischen
wesentlich geändert haben. Gegen die Entscheidung, durch welche diese
Erlaubnis versagt wird, ist ein Rechtsmittel nicht gegeben.“
Diese Bestimmung wird man dahin auszulegen haben, daß bei dem „Wieder-
ee Bere 1 die zweite Instanz nicht angerufen werden kann. Ich halte
das für unbillig.
Erhebliche Bedeutung kann § 21 erlangen. Abs. 1 spricht von einem Ver-
zeichnis über die erteilten Erlaubnisse, das der obersten Landesbehörde oder
einer von dieser zu bestimmenden Stelle jährlich vorzulegen ist. Abs. 2 fährt
dann fort:
„Die oberste Landesbehörde oder die von ihr bestimmte Stelle kann,
wenn nach ihrem Ermessen die Zahl der nach § 1 Abs. 1 erlaubnis-
flichtigen Betriebe in einem Bezirk das Bedürfnis erheblich übersteigt,
ür längstens ein Jahr anordnen, daß in dem Bezirk Erlaubnisse nicht
oder nur für gewisse Arten von Getränken oder nur mit ihrer Genehmi-
ung erteilt werden dürfen. Die Anordnung kann nach Ablauf eines
Nas seit Beendigung der Sperrfrist wiederholt werden.“
Daß die Zahl der Erlaubnisse das Bedürfnis erheblich übersteigen
muß, bevor die Landesbehörde einschreiten darf 1), wird man nicht zu
fordern brauchen. Es sollte dazu genügen, daß überhaupt Konzessionen er-
teilt worden sind, die nicht mehr dem vorhandenen Bedürfnis entsprechen.
Von der Anwendung unmittelbaren oder mittelbaren Zwanges gegen
die Fortsetzung des Betriebes T 1) und von seiner vorläufigen
Schließung (Abs. 2) spricht § 22. Ersteres ist möglich, wenn der Betrieb
ohne Erlaubnis begonnen oder die Erlaubnis erloschen, widerrufen oder
zurückgenommen ist, letzteres „in den Fällen des § 12“. Der geltende Rechts-
zustand ist bereits ähnlich (§ 3 des Notgesetzes).
Dass Gemeindebestimmungsrecht, das frühere Entwürfe,
namentlich der von 1923, vorsahen, fehlt im neuen Entwurf. Tatsächlich haben
alle in den letzten Jahren durchgeführte Abstimmungen in der Vollversamm-
lung und den Ausschüssen des Reichstages eine Mehrheit gegen dasselbe
ergeben, meist allerdings eine recht knappe 1°). In der Bevölkerung ist jedoch
die Bewegung für eine in solcher Weise durchgeführte Beteiligung der Ge-
srıeinde-Wählerschaft an der Entscheidung von Konzessions-, Polizeistunden-
31) Letzten Endes kommt es allerdings doch auf ihr eigenes Ermessen an.
224 Abhandlungen.
und dergi. Fragen stark im Wachsen. Und auch in den Parlamenten wird die
Frage immer wieder angeschnitten werden, namentlich zweifellos bei der
bevorstehenden Reichstagsdebatte.
Eine Besprechung des den Lesern dieser Zeitschrift bereits bekannten
Gemeindebestimmungsrechts dürfte sich erübrigen.
V
Aus dem Abschnitt „Anwendungsbereich“ ist die wichtigste Bestimmung
die im $ 23 über Vereine. Nach Abs. 1 findet das Gesetz auf diese in
vollem Umfang Anwendung *), „wenn sie Getränke ausschänken oder Brant-
wein im kleinen absetzen“, selbst wenn kein Gewerbebetrieb vorliegt. Da-
gegen unterliegt dieser Ausschank und Absatz an eigene Angestellte und
rbeiter nur im Fall der Gewerbsmäßigkeit den Bestimmungen des Gesetzes.
Abs. 2 bestimmt”), daß Vereine und geschlossene Gesell-
schaften insoweit an die Bestimmungen über die Polizeistunde ge
bunden sind, als ihre Zusammenkünfte in Gast- oder Schankwirtschaften statt-
finden, oder in Räumen, die mit einer solchen verbunden sind, und in denen
Schankwirtschaft betrieben wird. Landesrechtlich können die Bestimmungen
ausgedehnt werden auf Zusammenkünfte in eigenen, gemieteten, geliehenen
oder sonstwie überlassenen Räumen, — allerdings stets nur, „soweit im
diesen Räumen Getränke ausgeschänkt werden“.
8 24 spricht von Realgewerbeberechtigungen, $ 3 von
Speisewirtschaften®), § 26 vom Kleinhandel mit Bier und
ein). 8 27 erklärt, in 5 Ziffern, de Unanwendbarkeit des Ge
setzes für bestimmte Fälle, z. B. Kantinen, Offiziers- und Kamerad-
schaftsheime der Wehrmacht und Polizei, wenn der Betrieb sich auf den betr.
Personenkreis beschränkt. In Ziffer 3 sind auchBahnhofswirtschaften
und Speisewagen ausgenommen, „soweit diese nach $ 16 Abs. 5 des
Gesetzes über die deutsche Reichsbahngesellschaft vom 30. August 194
RGBI. II S. 272) den Bestimmungen der Gewerbeordnung nicht unteren
kanntlich ist die Frage, ob auch in den Bahnhofswirtschaften die Polizei-
stunde innegehalten werden muß, in den letzten Monaten lebhaft erörtert
worden. Fast allgemein, namentlich aber von seiten der durch solche Kon-
kurrenz geschädigten Wirte, wurde verlangt, daß den Bahnhofswirtschaften
in dieser Hinsicht keine Vorzugsstellung eingeräumt werden dürfe bzw. diese
beseitigt werden müsse. Der Gesetzgeber sollte m. E. diesem berechti
Wunsch Rechnung tragen und mindestens in bezug auf den Genuß geistiger
Getränke die §§ 14 und 15 gegenüber Bahnhofwirtschaften für anwendbar
erklären. i |
VI. :
Dieser Abschnitt enthält die Strafbestimmungen, die gegenüber
dem geltenden Recht wohl vermehrt, nicht aber verschärft werden sollen.
Von Vergehen handelt § 28, von Uebertretungen $ 29. Die Frei-
heitsstrafe für erstere ist nicht mehr Gefängnis bis zu sechs Monaten, sondern
nur bis zu drei Monaten. Daneben oder anstatt dessen Geldstrafe. Bemerkens
wert ist im übrigen bloß, daß die Ueberschreitung der Polizeistunde nach
dem Entwurf in jedem Fall nur als Uebertretung bestraft wird, während
das Notgesetz den Verstoß des Betriebsinhabers und des Gastes als Ver-
gehen ansieht. vii
Der § 30 verfolgt den Zweck, mit dem Likörstubenunwesen au-
zuräumen. Dielen, Bars, Likörstuben und dergl. sind in den Beenden,
tatsächlich in einer Weise aus dem Boden geschossen, daß in weitesten Kreisen
s) Z. B. im Haushaltsausschuß am 28. April 1926 mit 14 : 13.
19) Die VOR eh ene Regelung entspricht trotz abweichenden Wortlauts im wesentlicher
dem geltenden Recht.
s In fast wörtlicher Uebereinstimmung mit § 2 Abs. 2 des Notgesetzes,
21) In beiden Fällen findet das Gesetz zum großen Teil entsprechende Anwendung.
1) Landesgesetzlich kann das Gesetz ganz oder teilweise für anwendbar erklärt werden.
v. Dassel, Zum neuen Entwurf eines Reichsschankstättengesetzes. 225
eine lebhafte Entrüstung sich geltend gemacht hat. Dabei waren das keines-
wegs nur „Umstellungen“, in der Art, daß etwa einem Bierlokal auf
Grund der bestehenden Konzession eine Likörstube angegliedert oder jenes
in diese umgewandelt wurde. Sondern eine Menge neu erteilter Erlaubnisse
hat dazu beigetragen, das Alkoholelend unserer Groß- und Mittelstädte zu
vergrößern. Da ist der Wunsch begreiflich, daß einerseits alle seit dem
l. Januar 1919 erteilten, den Branntweinausschank betreffenden Konzessionen
auf das heute vorhandene Bedürfnis hin nachgeprüft werden, und daß zum
anderen gegen die Likörstuben, Bars, Dielen und dergl., die seit dem
l. Januar 1919 auf Grund einer allgemeinen Erlaubnis eingerichtet worden
sind, mindestens ebenso scharf vorgegangen wird’). Der Entwurf trägt
diesen Wünschen nicht genügend Rechnung. Mit den als Likörstuben neu
konzessionierten Betrieben beschäftigt er sich überhaupt nicht. Die auf Grund
einer allgemeinen Erlaubnis entstandenen Likörstuben glaubt er wohl
zu treffen, aber in den meisten Fällen wird das nicht der Fall sein. Denn da
hat es sich meist nicht um eine Umgestaltung des Gesamtbetriebes
nn sondern z. B. um die Angliederung einer Diele an das bisherige
einrestaurant. In solchen Fällen kommt es doch nicht auf den Umfang des
Branntweinverbrauches im Gesamtbetrieb an°*), sondern der Gesetz-
geber müßte sein Augenmerk auf die Diele als solche richten. Wirklich
elfen kann nur die Wiederherstellung des Referentenentwurfs:
„Die seit dem 1. Januar 1919 erteilten Erlaubnisse sind, soweit sie
den Auschank von Branntwein betreffen, darauf nachzuprüfen, ob noch
ein Bedürfnis im Sinne des § 1 besteht. Ist dies nicht der Fall, so
sind sie zurückzunehmen. Für das Verfahren gelten die Vorschriften
dieses Gesetzes entsprechend.
Einrichtungen zum ausschließlichen oder vorwiegenden Ausschank
von Branntwein, die auf Grund einer allgemeinen Erlaubnis zum Be-
trieb einer Gast- oder Schankwirtschaft seit dem 1. Januar 1919 her-
tellt worden sind (Likörstuben, Bars, Dielen usf.), müssen innerhalb
dreier Monate nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes beseitigt werden,
wenn nicht auf Grund seiner Vorschriften eine besondere Erlaubnis
dafür erteilt worden ist. Der Betrieb kann jedoch so lange fortgesetzt
werden, bis über den Antrag auf Erteilung der Erlaubnis rechtskräftig
entschieden worden ist.“
Die Branntweinreklame in und an öffentlichen Verkehrsanstalten
und -mitteln verbietet mit-Recht $ 31. In der Tat hat diese einen derartigen
Umfang angenommen, daß fast von einem öffentlichen Aergernis gesprochen
werden kann. Die übrige Alkoholreklame von quasi-amtlicher Seite ist jedoch
nicht weniger unangebracht, und man sollte jegliche derartige Anpreisung
von geistigen Getränken verbieten.
Äut ie anderen Schluß -und Uebergangsbestimmungen einzugehen,
erübrigt sich.
Bedeutsame behördliche Maßnahmen
mit Bezug auf den Alkohol. (XL.)
Zusammengestellt von Dr. J. Flaig.
Erweiterung der Erlaubnisireiheits-Grenze des Schnapshandels in Bayern
durch Verordnung des Staatsministeriums für Handel, Industrie und Gewerbe
vom 23. Februar 1926.
Der 8 12 Abs. 3 der Verordnung vom 29. März 1892 über den Vollzug
der Gewerbeordnung erhielt durch obige Verordnung folgende Fassung:
=) Ein schärferes Vorgehen ist deshalb nicht unbillig, weil der alte Betrieb nicht an-
et zu werden braucht und so dem Inhaber erhalten bleibt.
2) Worauf jedoch der Entwurf eingestellt ist.
Die Alkoholfrage, 1926. 15
226 Abhandlungen.
„Als ig nngep LI hUger D. Ber.) Kleinhandel ist der Ver-
kauf in Mengen unter zwei Liter anzusehen. Der Verkauf solcher
Arten von Branntwein oder Likör, deren Vertrieb nach feststehen-
dem Geschäftsgebrauch in festverschlossenen, verkapselten
und vorschriftsmäßig gekennzeichneten Flaschen statt-
findet, gilt nicht als Kleinhandel, wenn die Abgabe in Mengen von min-
destens. drei Achtel Liter erfolgt.“
Bisher war die Grenze beim Verkauf in Flaschen % Liter, also vier
Achte. Als Begründung der Aenderung wird uns mitgeteilt: „Anlaß
ee ED hatte die Feststellung gegeben, daß seit langen Jahren in
Bayern Spirituosenindustrie und -handel nicht auf das Maß der %-Liter-
Flasche eingerichtet sind, sondern auf die sogen. halbe Flasche zu ?/s Liter;
mit Rücksicht hierauf hatten vielfach die Außenbehörden den Verkauf von
Branntwein und Likör in ?/s-Liter-Flaschen ohne Erlaubnis entgegen der
Vorschrift der Vollzugsordnung geduldet.“
Verfügung des Regierungspräsidenten in Merseburg
betr. die Prüfung der Schankerlaubnisanträge.
„Um eine gleichmäßige Handhabung der Prüfung bei der Gewährung
von Konzessionen zu erreichen, ordne ich an, daß die Ortspolizeibehörden
auchbeieintretendem Wechsel in jedem Falle die Bedürfnis-
frage zu verneinen und gegen trotzdem erfolgte Erteilung von Kon-
zessionen Berufung einzulegen haben. Wenn ein tatsächlich allgemeines Be-
dürfnis vorliegt, ist in solchem Falle meine ee Genehmigung en-
zuholen.“ (Nach „Neuland“ Nr. 28 vom 11. Juli.)
Verordnung des Regierungspräsidenten in Schleswig vom 3. Juli d. ].
betr. Alkoholmißbrauch und Tabakgenuß Jugendlicher*).
1. Organisation.
Die gegen den Alkoholmißbrauch gerichtete Tätigkeit in den Gemeinden
und Kreisen ist möglichst zusammenzufassen in Arbeitsgemeinschaften oder
Kreis- und Ortsausschüssen, um ein zweckmäßiges Arbeiten und eine bessere
Wirksamkeit zu erreichen. Die Tätigkeit aller den Alkoholmißbrauch be
kämpfenden Vereine ist nach Möglichkeit zu fördern.
2. Unterstützungen.
Sportliche und Jugendveranstaltungen, bei denen der Alkoholgenuß aus-
geschaltet ist, verdienen besondere Unterstützung, während bei Zulassung
des Alkoholgenusses eine besondere Bedürftigkeit im allgemeinen kaum wird
angenommen werden können. Förderung verdienen weiter alkoholfreie Gast-
stätten und Jugendheime.
3. Aufklärung.
Die Aufklärung der Bevölkerung durch Vorträge auch in den Berufs-
er auf Elternabenden und in Berufsschulen sowie durch Ver-
teilung von Merkblättern ist eifrig zu betreiben. Geeignete Redner können die
den Alkoholismus bekämpfenden Vereine stets namhaft machen.
4. Konzessionswesen.
a) Bei der Prüfung der Bedürfnisfrage bei Schankkonzessionsanträgen ist
der schärfste Maßstab anzulegen. Die Zahl der Alkoholausschank- und
verkaufsstellen darf nicht in einem falschen Verhältnis zur Zahl der Lebens-
mittelgeschäfte (Bäcker, Fleischer, Milch- und Gemüsehändler, Kolonialwarel-
handlungen) stehen.
b) Besonders schädlich sind die hauptsächlich von den unbemittelten Teilen
der Bevölkerung aufgesuchten Destillationen, in denen in der Hauptsa
*) Veröffentlicht im Amtsblatt der Regierung Nr. 29 vom 17. Juli. — Der Erlaß bezieht ae
wie man sieht, hinsichtlich des Alkoholmißbrauchs nicht bloß auf Jugendliche, sondern Ist
Flaig, Bedeutsame behördliche Maßnahmen mit Bezug auf den Alkohol. (XL.) 227
Schnaps glasweise ausgeschänkt und im Stehen genossen wird. Gerade die
besondere Erleichterung der Verabfolgung und des Trinkens des Schnapses
gewissermaßen im Vorbeigehen, ohne sich niederzulassen, bildet für viele
eine große Verführung, die um so gefährlicher ist, als es sich um den Alkohol
in seiner schädlichsten Form handelt. Für die Neu- und Wiedereröffnung der-
aign Schankstätten wird ein Bedürfnis grundsätzlich nicht anerkannt werden
önnen. -
c) Zu den Konzessionsanträgen sind die den Alkoholmißbrauch be-
kämpfenden Vereine (Arbeitsgemeinschaften usw.) sowie der Kreismedizinal-
rat oder Stadtarzt und gegebenenfalls die Ne nung des Ortes
rechtzeitig zu hören. Ihre Stellungnahme ist der entscheidenden Behörde mit
vorzulegen.
d) Die Konzessionsbehörden bitte ich, den Verhandlungstermin der den
Alkoholmißbrauch bekämpfenden Vereinigung (Arbeitsgemeinschaft) und der
Gastwirtevereinigung mitzuteilen, damit deren Anwesenheit und etwaige An-
hörung als Sachverständige möglich ist, wie dies auch bei dem Bezirks-
ausschuß geschieht.
e) Wird eine Konzession entgegen dem Gutachten der Ortspolizeibehörde
erteilt, so hat die Ortspolizeibehörde Berufung an den Bezirksausschuß unter
gleichzeitigem Bericht an mich einzureichen.
f) Allen Versuchen, die Bestimmungen zu umgehen, z. B. durch un-
zulässige Stellvertreter, Ausdehnung des Betriebes auf nichtkonzessionierte
Räume und dergl., ist entgegenzutreten, unter Umständen durch Schließung
der Wirtschaft, maung des Inhabers und Klage auf Konzessionsentziehung.
Gegen Gastwirte, die selbst dem Trunke ergeben sind, wird in der Regel
die Klage auf Konzessionsentziehung am Platze sein.
g) Dem Wunsche nach Abstimmung der Bevölkerung über eine Kon-
zession ist Entgegenkommen zu zeigen. Die Behörde hat sich jedoch jeder
Einmischung zu enthalten. Sie soll sich nur vergewissern, ob das Ergebnis
der Abstimmung einwandfrei festgestellt ist.
Ausschank auf Märkten.
Die Erlaubnis zum Alkoholausschank auf Märkten und Volksfesten
(§ 42a RTO) muß weiterhin erheblich eingeschränkt werden. Ich behalte
mir vor, die Konzessionserteilung in den Polizeibezirken nachzuprüfen.
6. Betrunkene Personen.
Auf Straßen und Plätzen betroffene Betrunkene sind, falls das durch sie
erregte Aergernis nicht sofort sicher beseitigt werden kann oder es zu ihrer
oder anderer Personen Sicherheit nötig ist, stets bis zur Ernüchterung in
Gewahrsam zu nehmen. Ihre Namen sind zur Kontrolle in eine Liste auf-
zunehmen. Bei der Entlassung ist ihnen zu eröffnen, daß sie bei wiederholter
Trunkenheit auf die Trinkerliste gesetzt und ihre Namen der Trinkerfürsorge-
stelle oder dem Ortsausschuß (Arbeitsgemeinschait) genannt werden können.
Die Namen der wiederholt in Gewahrsam genommenen Personen werden
zweckmäßig vertraulich der Trinkerfürsorgestelle oder dem Ortsausschuß
(Arbeitsgemeinschaft) mitgeteilt. In die oben genannte Liste (nicht Trinker-
and sind auch diejenigen Personen aufzunehmen, welche in der Trunkenheit
straibare Handlungen begangen haben.
Die Wirtschaft, in der die Trunkenheit verursacht ist, ist festzustellen.
Der Wirt ist polizeilich zu vernehmen und zu verwarnen und auf die Möglich-
keit der Konzessionsentziehung hinzuweisen. Sein Name ist in eine Liste ein-
zutragen. Bei Häufung von Frunkenheitsfällen in ein und derselben Wirt-
schaft ist die Konzessionsentziehung zu betreiben.
7. Trinkerfürsorge.
. Wo Trinkerfürsorgestellen noch nicht vorhanden sind, ersuche ich, sie
im Benehmen mit den den Alkoholismus bekämpfenden Verbänden einzu-
15%
228 Abhandlungen.
richten. Der Provinzial-Trinkerfürsorger in Kiel, Projensdorfer Str. 14, ist
stets zur Beratung bereit.
Einige Kreise haben die Kosten für die Unterbringung von Trinkern in
einer Heilanstalt übernommen. Ich bitte die Herren Landräte und Oberbürger-
meister der Stadikreise, sich für ein gleiches segensreiches Vorgehen bei
ihren Körperschaften einzusetzen.
8s’Polizeistunde.
Die Einhaltung der Bestimmungen über die Polizeistunde ist genau zu
überwachen. Vereine, bei deren Veranstaltungen bemerkenswerte Trunkenheits-
fälle vorkommen, sind mir zur Kenntnis zu bringen. Sie werden Beschrän-
kungen in der Polizeistundenverlängerung unterworfen werden.
9. Tabakgenuß.
Ein besonderes Augenmerk ist dem immer mehr überhandnehmenden
Tabakgenuß jugendlicher Personen zuzuwenden (s. die Polizeiverordnungen
vom 3. August 1925 — Amtsblatt S. 353 — und vom 8. September 1925 —
Amtsblatt S. 353 —.). |
10. Bisherige Bestimmungen.
Ich weise auf die in meiner Bekanntmachung vom 12. Oktober 1923.
Amtsblatt S. 426, enthaltenen Bestimmungen allgemeiner Natur (Ziffer |
bis 3 und Ziffer 9 zweite Hälfte) hin, die weiter zu beachten sind.
Neuregelung der Polizeistunde in Preußen durch Runderlaß
des neuen Ministers des Innern vom 15. Oktober
an die Ober- und A E e und an den Polizeipräsidenten
von Berlin:
„Zum Zwecke der Neuregelung der Polizeistunde in Gast-
und Schankwirtschaften bestimme ich in Abänderung der Verordnung: über
Schankerlaubnis und Polizeistunde vom 20. Ks 1923 unter Aufhebung meins
früheren Runderlasses vom 25. März 1924 folgendes:
1. Der Beginn der Polizeistunde ist festgesetzt:
a) in Städten von 100000bi1s 300000 Einwohnern auf I Uhr,
b) in Städten von mehr als 300000 Einwohnern auf 2 Uhr,
c) in Berlin auf 3 Uhr.
2. Die örtlichen Polizeibehörden werden ermächtigt,
beinachgewiesenem Bedürfnis a) für einzelne Veranstaltungen.
b) aus besonderem Anlaß vorübergehend allgemein eine Verlängerung
der Polizeistunde zuzulassen. Eine vorübergehende allgemeine Verlängerung
der Polizeistunde darf nur nach Anhörung der Fachorganisationen der
Arbeitnehmer und Arbeitgeber und.nach sorglältiger Prüfung
der Bedürfnisfrage erfolgen. 3. Für Kur- und Badeorte kam
wegen der Sommer- und Wintersaison die Polizeistunde allgemein ver-
A ert Poroa: 4. Im übrigen gelten die Vorschriften der Verordnung vom
. Juni 1923.
Für Groß-Berlin nal der Polizeipräsident Ausführungsbestim-
mungen nachstehenden Inhalts getroffen:
ür Gast- und Schankwirtschaften jeder Art ist Polizeistunde die Zeil
von 3Uhr morgens bis 6 Uhr morgens. In den Frühstunden
bis 8 Uhr morgens ist der Ausschank von Branntwein oder brannt-
weinhaltigen Getränken verboten. Während der Zeit von 3—6 Uhr sind
die Schankräume für den Verkehr geschlossen zu halten. Ausnahmen können
in einzelnen, besonders gearteten Fällen vom Polizeipräsidenten Ben
werden. Diese Festsetzung der Polizeistunde gilt für geschlossene Gesell-
schaften (Klubs usw.), in denen Gast- oder Schankwirtschaft betrieben wird.
oder die mit einer solchen in Verbindung stehen. Das Verbleiben der Gäste
in den Wirtschaftsräumen über die Polizeistunde hinaus ist verboten, ohne
Müller, Die Landwirtschaft und der Kampf gegen den Alkohol, 229
daß es einer besonderen Aufforderung zum Verlassen der Schankräume
bedarf. Vorsätzliche Zuwiderhandlungen werden mit Gefängnis bis zu sechs
Monaten und mit Geldstrafen bis zu 10000 RM oder mit einer dieser Strafen,
fahrlässige Zuwiderhandlungen mit der vorgenannten Geldstrafe bestraft.
Ein neuer § 7 will die Angestellten gegen De ur schützen. Er
bestimmt, daß der Beginn der Polizeistunde in einzelnen Fällen auf eine
frühere Stunde festgesetzt werden kann, wenn sich der Wirt oder sein
Stellvertreter in der Aus varing seines Gewerbes als unzuverlässig erweist,
insbesondere wenn durch das lange Aufhalten in einer Gast- oder Schank-
wirtschaft die Arbeitszeit der darin beschäftigten Arbeit-
nehmer in ungesetzlicher Weise ausgedehnt wird oder
durch Nichtbeachtung der Polizeistunde sich Unzuträglichkeiten ergeben. Jene
Maßnahme muß aber im allgemeinen zur Voraussetzung haben, daß die
BeschwerdenvondenbetreffendenÄrbeitnehmernselbst
ausgehen.
Auch für öffentliche Veranstaltungen sind in Groß-Berlin hinsichtlich der
Handhabung der Polizeistunde künftig die Polizeiämter zuständig.
Die Landwirtschaft |
und der Kampf gegen den Alkohol.!)
Von Dr. Hans Müller-Großhöchstetten (Schweiz),
Sekretär des Schweizerischen Verbandes abstinenter Bauern.
Heute noch macht das Alkoholkapital, wenn es sich in seinen Geschäften
bedroht sieht, im Bauernstande seinen mächtigsten Bundesgenossen mobil, in-
dem es geschickt seine gefährdeten Interessen mit denjenigen des Bauernvolkes
verquickt und identifiziert.
Wenn der Kampf gegen den Alkoholismus in einem Lande von dauerndem
Erfolge sein soll, dann muß er mit dem Bauern und nicht gegen ihn aus-
agen werden. Es lohnt sich deshalb schon, wenn die Führer unserer
eltbewegung einen Augenblick stille halten und sich auch über die Ver-
hältnisse auf diesem bis jetzt wenig begangenen Teilgebiete unseres Vor-
marsches, das aber für den Erfolg unserer Sache von ausschlaggebender
Bedeutung sein kann, Rechenschaft geben.
Von den besonderen Schwierigkeiten, die sich dem
Vordringen unserer Ideen im Bauernstande entgegen-
setzen:
eder, der es auch nur ein einziges Mal versucht hat, unter Bauern für
die Sache der Nüchternheit zu arbeiten, hat es erfahren, wie schwer es schein-
bar ist, hier festen Fuß zu fassen. Viele unserer Freunde schließen daraus,
daß die Trinksitten am stärksten im Bauernstande verankert geblieben seien.
Nichts aber erschwert uns unsere Arbeit unter der landwirtschaftlichen Be-
a | eines Landes so sehr, als wenn wir im Bauern das Gefühl auf-
kommen lassen, sein Stand hätte in bezug auf die Trunksucht unsere ganz be-
sondere Fürsorge nötig. Wenn wir in ihm dieses Gefühl aufkommen lassen,
verriegeln wir uns selbst die Tür, durch die wir in das Bauernhaus ein-
zutreten hofften. Bei der Gründung des Verbandes abstinenter Bauern der
Schweiz wurde uns aus führenden Kreisen der schweizerischen Landwirt-
schaft entgegengehalten, unsere Gründung sei eine Herausforderung an die
Adresse der Landwirtschaft, durch sie werde der Bauer schlechtweg als
Trinker hingestellt.
Dann sınd es wieder andere Hemmnisse, die uns ganz besonders bei der
Arbeit unter Bauern entgegentreten:
3) Die Ausführungen stellen einen Vortrag dar, eine Arbeit, die dem Internationalen Kongresse
gegen den Alkoholismus in Dorpat im August 1926 vorgelegt worden ist.
230 Abhandlungen.
Da ist einmal der konservative Sinn des Bauern, das ganz außerordenti-
liche Mißtrauen, das der Bauer allem Neuen gegenüber, das auf seinem Heim
erscheint, entgegenbringt. Kein Redehalten und Predigen ist im Stande, dieses
furchtbare Mißtrauen zu beseitigen. Stille, treue, selbstlose, jahre- und jahr-
zehntelange, aufopfernde Arbeit der werktätigen Nächstenliebe wird die Mauern
einreißen, diese Mauern des Mißtrauens, die sich im Bauernvolke in Jahr-
hunderten aufgerichtet haben. Dieses stille Arbeiten läßt ihn Vertrauen zu
uns fassen. Jenes Vertrauen, auf dem gegründet unsere Arbeit erst von Erfolg
gekrönt sein kann. .
Dann dürfen wir nicht vergessen: Der Lehrer, der Pfarrer, der Arzt und
Beamte, sie alle nehmen für ihre Person Senne zur Nüchternheitsfrage.
Der Bauer aber tut es für seine ganze Wirtschaft, für seinen ganzen Betrieb.
Dabei kommen wir aber schon mit den ernstesten Besonderheiten, die
sich unseren Arbeiten — wenigstens in ihren Anfängen — unter dem Bauern-
volke entgegenstellen, in Berührung, Besonderheiten, die in der Natur seiner
Arbeit begründet sind: Die Heu- und Getreideernten in heißer Sommerszeit,
die harte Waldarbeit in strenger Winterkälte — wenn ich da nur an die Ver-
hältnisse unseres kleinen Landes denke. Auch hier, wie überall, tief ein-
gewurzelte Vorurteile, alte Sitten und Gebräuche.
Jeder Bauer weiß im Grunde, aus ureigenster Erfahrung selbst, daß er
sich bei harter Wald- und Feldarbeit am wohlsten fühlt ohne geistige Ge
tränke. Wenn er trotzdem glaubt, nicht ohne sie auskommen zu können, so
ist es neben allen anderen Gründen wohl sicher auch deshalb, weil er
meistens noch gar nicht weiß, was er an ihre Stelle setzen kann. Zeigen
wirihm deshalb, wo immer sich uns Gelegenheit bietet,
wie leicht er sie durch die unvergorenen, naturreinen
Erzeugnisse, die seiner eigenen Scholle entwachsen
sind, ersetzen kann.
Mit dieser Frage aber, der Verwertung seiner
Produkte, berühren wir den schwerwiegendsten Grund,
warum der Bauer, der Wein- und Obstbauer ganz be-
sonders, in uns Nüchternheitsfreunden heute noch die
ärgsten Feinde seines geschäftlichen Erfolges erblickt.
Dies sind wohl die schwerwiegendsten Besonderheiten, die sich unserer
Arbeit unter den Bauern. entgegenstellen. Sie weisen uns auch die ganz be-
sonderen Wege, die wir einschlagen müssen, wenn wir mit unseren Gedanken
Eingang im Bauernhaus finden wollen.
Gerade was die zuletzt erwähnte, die rein wirtschaftliche Frage an-
betrifft, werden wir nie müde werden, darauf hinzuweisen und an
Beispielen aus der Praxis zu zeigen, daß wirtschaftlich niemand
vom Fortschreiten unserer Bewegung so sehr gewinnt,
wiegerade der Bauer.
Zeigen wir ihm, wie in den Städten der erg Staaten von Amerika
der Milchkonsum nach der Trockenlegung des Landes um nicht weniger als
20 % stieg. (Besonders in diesen Tagen, in denen der Absatz von Käse zu
stocken beginnt, wäre gerade die schweizerische Landwirtschaft ungeheuer
froh, wenn sich der Milchkonsum des Landes selbst erhöhen würde.)
Sagen wir ihm, daß im Augenblicke, wo in der ganzen Welt neben
anderem wohl sicher auch in erster Linie als Folge schwerer Absatzkrisen’)
das Weinbauareal ständig zurückgeht, Marta Küpperbusch in ihrem
Buche: „Das Alkoholverbot in Amerika“ auf Grund amtlicher
Zahlen über den Weinbau dieses trockenen Landes schreiben kann:
?) Aus einem Briefe, der mir vor kurzem zugegangen ist: „Gestatten Sie mir, daß ich mir
erlaube, Ihre Gefälligkeit in nachstehender Angelegenheit in Anspruch zu nehmen.
In meiner Eigenschaft als Agent und Importeur in Fremdweinen habe ich seit vielen
Jahren die Erfahrung gemacht, daß die heutige Produktion an Trauben und Obst, welche für
die Umarbeitung in Alkohol in Frage kommen, viel zu groß ist, sowohl in den fremden
Ländern, wie auch bei uns in der Schweiz, und es sollte diesem Uebel derart abgeholfen werden,
daß eine andere Verwendungsart in Frage käme.“
Müller, Die Landwirtschaft und der Kampf gegen den Alkohol. 231
„Der Weinbau stand vor der Aufgabe, die der Weinbereitung dienenden
Flächen und ihre Ernten zu anderer Verwertung als zur Herstellung von
alkoholischen Weinen nutzbar zu machen. Viele kalifornische Weinbauern
verkauften aus Furcht vor der Prohibition ihre Weinpflanzungen schon vor- `
her, andere begannen zu roden; wo der Anbau von Rebpflanzen für Tafel-
trauben und Rosinen auf diesen Flächen nicht geeignet war, machte die seit
der Prohibition besonders große Nachfrage nach Früchten für alkoholfreie
Getränke und Obstkonserven es durchaus leicht, das Rebland in gewinn-
bringende Obstkulturen umzuwandeln. Außerdem entwickelte die Ver-
wendung von Trauben zu alkoholfreiem Traubensait und die Herstellung von
hochwertigen Traubensyrupen und einer besonderen Art von Trauben-
konserven, der sogenannten „Grapelade‘“ (Marmelade), einen ganz neuen
kalifornischen Industriezweig?). Interessant ist die vollständige Verwertung
der Rosinen, aus deren Kernen Cremor Tartari und Oel bereitet und deren
Rückstände zu Briketts gepreßt werden. Die Folge war, daß nach Mitteilun
der Welsh Grape Juice Comp., New York’), der Traubenpreis statt durch
die Prohibition auf einen ruinösen Stand herabzusinken, von 50 auf 130 Dollar
pro Tonne im Jahre 1920/21 stieg und damit eine bis auf den heutigen Tag
unbekannte Höhe erreichte“. -
Das Areal für Weinbau konnte daher im Jahre 1921 um 78000 ha
‚re 16 % der Gesamtanbaufläche) erweitert werden, und zwar das Areal
ür Weinbereitung um 5 %, das für Rosinen um 25 % und das für Tafel-
trauben um 17 0).
Die Blüte der Traubenindustrie verdankt der Weinbau, wie Dr. Woods
Hutchison®) ausführt, zum Teil seiner besorfderen Trockenmethode, die es
ermöglicht, den Ausfall europäischer Weinernten durch Export von Trocken-
trauben zu decken; hauptsächlich aber der ungeheuren Nachfrage nach
Früchten aller Art, besonders von Weintrauben für den Tisch, für Kon-
serven, Konfitüren, wahrscheinlich auch zur Herstellung von Hauswein, einer
Nachfrage, die dem Eintritt der Prohibition in Erwartung eines gesteigerten
Bedarfs schon voranging’). Die früheren Weinbergbesitzer haben die Her-
stellung von Fruchtsäften, Extrakten, Konserven usw. selbst in die Hand
genommen, so daß die Prohibition einen ganz neuen blühenden Industrie-
zweig der Weinbaugegenden ins Leben gerufen hat; in ihnen wird heute die
Rückwärtsbewgung der Prohibition gefürchtet wie vordem das Kommen
derselben’).
Wir brauchen aber nicht nach Amerika zu gehen, gehen wir mit unseren
Bauern auch in die großen alkoholfreien Gasthäuser unserer Städte und Dörfer.
Wir Schweizer denken da in erster Linie an die mustergültig geführten Wirt-
schaften des Zürcher Frauenvereins für alkoholfreie Wirtschaften, in denen
heute Tag für Tag über 10 000 Personen verpilegt werden und zu deren Ver-
sorgung mit Milch nach den Berechnungen des schweizerischen Bauern-
sekretariates nicht weniger als 52 Schweizer Bauerngüter nötig sind. Nicht
3) „Die landwirtschaftliche Abteilung der Kalifornischen Universität machte sich verdient
um die Traubenindustrie durch Einführung neuer Verfahren zur Traubenverwendung*.
*) „Nach derseiben Quelle fiel der Preis jedoch im Herbst 1922 wieder auf 60 bis 85 Dollar
r Tonne, einmal, weil die Ernte sehr groß war, und weil die Nachfrage nach Trauben für
einbereitung im Hause wieder nachgelassen hatte,“
5) „Report of the California Departement of Agriculture“ 30. Juni 1921 uri 30. Juni 1922,
6) Saturda Evening Post, 20. März 1920,
”) Nach Mitteilung des United States Departement of Agriculture erforderte der Versand
von Trauben in den Vereinigten Staaten im Jahre 1922 = 50000 Waggons, die höchste bisher
erreichte Ziffer.
*) Kalifornien wählte im November 1922 ein strenges staatliches Durchführungsgesetz mit
einer Stimmenmehrheit von 43000, nachdem es dasselbe einige Jahre früher mit 64000 Stimmen
abgelehnt hatte. In dem Jahresbericht des U St. Departement of Agriculture vom Jahre 1916
heißt es: „der gegenwärtige Konsum von Rosinen in den Vereinigten Staaten ist weniger als
l'i Pfund pro Kopf. Wenn wir soviel konsumierten wie Großbritanien — 5 Pfund pro Kopf —
so könnten wir die Rosinengewinnung vervierfachen, ohne damit eine Ueberproduktion zu er-
zeugen. „Bezüglich der Zukunft des Weinbaues heißt es dort im Bericht vom Juli 1920: „man
kann annehmen, daß in naher Zukunft die jährliche Traubenproduktion nicht annähernd mehr
die Nachfrage nach Trauben für Saft, Marmeladen, Gelees und tür den Tisch befriedigen kann.“ *
232 Abhandlungen.
zu reden von den gewaltigen Mengen von alkoholireiem Most, Obst und
re die unsere Bauern jahraus, jahrein in diesen Betrieben absetzen
nnen.
Sagen wir unseren Bauern dann noch, daß unser kleines Land nicht
weniger als 60 solcher, wenn auch nicht so großer Vereine hat, die im Sinn
und Geist der Zürcher Frauen arbeiten, dann werden sie recht bald einsehen,
daß gerade die vorher so gut gehaßten oder doch wohl verschmähten Nüch-
ternheitsfreunde es sind, die ihrem notleidenden Obst- und auch Weinbau
neue gewaltige Absatzgebiete zu schaffen berufen sind. Für uns Abstinenten
und unsere en öffnet sich hier ein neues Arbeitsgebiet, das außer-
ordentlich reiche Ernte verspricht. Ein Gebiet, auf dem in erster Linie alle
jene Naturen in unseren Reihen ihre Kräfte einsetzen werden, die ihre Be-
riedigung weniger mehr in der formalen Begründung unserer Ideen als ın
werktätiger Arbeit finden?).
Welches wird nun die Arbeitder Abstinentenaufdem
Gebiete der gärungslosen Obst- und Traubenver-
wertung sein?
Hier möchte ich unsere Freunde dringend davor
warnen, daß sie ihre Hauptkraft, ihr Hauptaugenmerk
auf das Erfinden, das Auspröbeln und Herstellen immer
neuer Sterilisierapparate und Einrichtungen verlegen
Nicht hieher darf das Hauptgewicht unserer Arbeit verlegt werden.
Was die Süßmosterei auf dem einzelnen Bauernbetriebe selbst anbetrifft,
müssen wir dem Landwirte zejgen können, daß das ganze Süßhalten seiner
Säfte ohne kostspielige Apparate und Einrichtungen möglich ist. Mit teuren,
gar komplizierten Apparaten, mögen sie noch so sinnreich gebaut sein.
werden wir im Bauernhause nie Eingang finden. Und was die Apparate
für die genossenschaftlichen — rein gewerblichen Betriebe anbetrifft, so ist
dies das Arbeitsfeld geschulter Fachleute. Ermuntern wir alle technisch gut
vorgebildeten Freunde unserer Sache, unsere staatlichen Wein- und Obstban-
schulen zu Versuchen ‘auf diesem Gebiete. Wenn auch wir Abstinenten auf
diesem rein technischen Gebiete etwas tun möchten, dann ist es wohl ın
erster Linie, daß wir unseren Bauern zeigen, mit welch einfachen Mittelo
sie heute schon ihre. Obst- und Traubensäfte süßhalten können.
Viel Geld, viel Mißerfolge, viel Enttäuschungen blieben dem Einzelnen
wie unserer ganzen Bewegung,erspart, wenn wir uns an diese natürliche
Arbeitsteilung der Kräfte halten würden.
Unsere wichtigste Aufgabe wird das Erschließen,
das Schaffen der Absatzgebiete für die alkoholfreien
ErzeugnissedesLandmannes sein.
Hier wollen wir unsere ganze Kraft einsetzen. Erziehen wir durch
unermüdliche, nie erlahmende Aufklärungsarbeit unser Volk dazu, daß es
im Obste, in den frischen Trauben wiederum ein gesundes und außer-
ordentlich bekömmliches Nahrungsmittel erblickt.
Es wird und muß dazu kommen, daß der süße Most zum Haustrunk
des Bauern wird, an Stelle der vielen fremden Weine und des Schnapses.
Daß er aber, auch das Getränk des Städters, des Arbeiters wird, an Stelle
seines Bieres, an Stelle auch der vielen künstlichen Ersatzgetränke.
Durch diese Arbeit aber leisten wir nicht nur wertvolle Pionierarbeit
im Kampfe gegen die Trunksucht, wir erschließen unserem notleidenden
Wein- und Obstbau neue gewaltige Absatzquellen. Wir werden so zum Helier
und wirtschaftlichen Bundesgenossen des Bauern auf einem Gebiete, von dem
°) Der schweizerische Bauernführer, Nat. rat Meili, schreibt im „Ostschweiz. Landwirt‘:
„Die Zeiten sind endgültig vorbei, wo man in ihnen (den Abstinenten)
eine Konkurrenzierung des Obstbaues befürchten zu müssen glaubte. Sie
arbeiten heute Seite an Seite mit uns zur Eroberung neuer Abdsatzgebiete
und zur Erhaltung des stark gefährdeten Obstbaues“.
-
Müller, Die Landwirtschaft und der Kampf gegen den Alkohol. 233
er glaubte, daß es durch die Arbeit der Abstinenten vollends seinem Ruin
entgegengehen würde. Diese Arbeit, in der wir Bauern-Abstinenten gerade
in unserem Lande durch viele tapfere Gesinnungsfreunde in den Städten
unterstützt werden, wird für den Vormarsch unserer Sache in obst- und
weinreichen Ländern von ausschlaggebender Bedeutung sein.
Wenn in unserem Lande die Nüchternheitsbewegung eine Bewegung ge-
worden ist, deren Wurzeln sich tief im Volke verankert haben, dann sind es
in erster Linie zwei Dinge gewesen, denen wir dies zu verdanken haben:
da ist das Werk der Trinkerfürsorge, dem wir in unserem Lande die Zu-
neigung weiter Volkskreise zu verdanken haben. Und neben aller tapferen
Arbeit unter der Jugend für die Gasthausreform sicher, namentlich in
neuester Zeit, all die gewaltige Arbeit im Dienste der gärungslosen Ver-
wertung unserer Obsternten.
Das Problem der alkoholfreien Verwertung der großen Ernten wein-
und obstreicher Länder ist eine Frage, die ihrer volksgesundheitlichen wie
volkswirtschaftlichen Bedeutung wegen die Aufmerksamkeit der Behörden
aller dieser Länder verdient. Durch weise Verfügung, Frachtermäßigung usw.
würde es sehr leicht möglich sein, nicht nur die Städte, sondern ganz be-
sonders auch die obstarmen Gegenden, ganze Gebirgstäler eines Landes mit
süßen Säften und frischem Obst und Trauben zu versorgen. So gut, wie
durch vernünftige Zollabkommen zwischen den einzelnen Ländern das gleiche
für obst- und weinarme Länder erreicht werden könnte. Welche Mißstände
aber pan hier zur Zeit noch herrschen, hat uns unser verdienter fran-
zösischer Vorkämpfer Dr. Legrain aufgedeckt. Auf seinen- Angaben
beruhen folgende kurze Ausführungen Odermatts im „Vorspann“,
dem Blatte der abstinenten Schweizer Bauern:
„Die Zölle haben eine zwiefache Aufgabe. Erstens müssen sie dem Staate
Einnahmen bringen, sind also eine indirekte Steuer. Als solche sollten sie
in erster Linie Luxuswaren und mehr oder minder fragwürdige Genußmittel,
wie Alkohol und Tabak belasten. So hat beispielsweise Großbritannien
lange Zeit die Erhebung von Einfuhrabgaben auf eine kleine Zahl von Waren
beschränkt, die als Luxus taxiert wurden; die geistigen Getränke befanden
sich selbstverständlich auch darunter.
In fast allen Staaten Europas aber sahen sich die Regierungen gezwungen,
die Zölle auch noch zu einem zweiten Zwecke zu benützen, nämlich zur
Verteuerung gewisser ausländischer Waren, um Landwirtschaft oder Gewerbe
des eigenen Landes vor einer ruinösen Konkurrenzierung zu schützen.
Weder vom ersten noch vom zweiten Standpunkte aus kann man die Zoll-
litik verstehen, die von den meisten Staaten gegenüber den alkoholfreien
bst- und Traubensäften befolgt wird und auf die der verdiente französische
Abstinentenführer Dr. Legrain vor kurzem wieder aufmerksam machte. (Die
untenstehenden Werte sind in französischen Franken zu verstehen, 1 franz.
Franken entspricht zurzeit rund 25 Schweizerrappen, Aug. 1926.)
Belgien, dessen Weinbau ganz unbedeutend ıst, erhebt pro Hektoliter un-
vergorenen Wein 60 Fr. Zoll, auf vergorenen nur 50 Fr.
Dänemark, dessen nordisches Klima den Weinbau nicht gestattet, be-
lastet die Flasche süßen Traubensaftes mit 4,50 Fr., während es sich für die
Flasche vergärten mit 75 Cts. begnügt.
use fordert vom Liter vergorenen Wein 1 Fr. Zoll, vom harmlosen,
gesundheitsiördernden aber das doppelte.
In Schweden, wo die Einfuhr von Wein einer staatlich anerkannten
„Monopolgesellschaft“ übertragen ist, besteht für unvergorenen Trauben-
saft De das Einfuhrverbot, indes der Gärwein gegen nur 0,30 Kronen
auf den Liter eingelassen wird.
Polen, das vor kurzem aus lauter Franzosenliebe den Einfuhrzoll auf
Weine aus Frankreich um 90 Prozent verminderte, verunmöglichte die Einfuhr
von unvergorenem französischen Traubensaft durch eine Einfuhrgebühr von
sage und schreibe 26 Fr. pro Flasche.
234 Abhandlungen.
Diese unsinnige Zollpolitik hat auch für unseren schweizerischen Wein-
und Obstbau eine gewaltige Bedeutung. Denn es ist klar, daß keine Aussicht
besteht, unsere noch in den Kinderschuhen steckende Industrie alkoholfreier
Obst- und Traubensäfte zu einer Exportindustrie auszubauen, so.lange gerade
jene Länder, die infolge der Dürftigkeit oder des Mangels eigenen Wein- und
Obstbaues und infolge ihrer teilweise hochentwickelten run
besonders wichtige Absatzgebiete bilden, die Einfuhr unvergorener Obst-
und Traubensäfte derart erschweren.
Die sogenanten Weinländer haben schon zu wiederholten Malen zu-
sammengearbeitet, um für die vergorenen und gebrannten Erzeugnisse Ein-
fuhrerleichterungen zu erzwingen. Die Regierungen dieser gleichen Länder
aber werden wohl noch auf lange lahre hinaus nicht zu bewegen sein, den
„erprobten Druck“ auch zugunsten der unvergorenen Obst- und Traubensäfte
anzuwenden. Aber könnte nicht, von einer internationalen Stelle
aus, mit Hilfe der — besonders in Skandinavien — starken Alkohol-
gegnervereine eine Einfuhrerleichterung erzwungen werden, von der gleich-
zeitig die Bevölkerung der betreffenden Staaten und die alkoholfreie Obst- und
Traubenverwertung in den sogenannten „Wein- und Mostländern‘“ den größten
Nutzen zögen? Hier liegt eine große, praktische internationale Aufgabe vor.
deren Lösung unverzüglich an die Hand genommen werden sollte.“
Und nun zum Schlusse: Wie machen wir die Bauern mital!
diesen Tatsachen bekannt? Heute, wo der Bauer aller Länder noch
sehr schwer dazu zu bringen ist, die Versammlungen und Veranstaltungen der
Alkoholgegner zu besuchen, eben weil er in uns ın erster Linie Feinde seines
geschäftlichen Erfolges erblickt. Heute, wo uns die landwirtschaftliche Presse
aller Länder noch nicht ohne weiteres zugänglich ist.
Wir dürfen nicht ruhen, bis alle oben ausgeführten Gedanken selbstver-
ständliches Lehrgut aller ländlichen Volksschulen, wie der landwirtschalt-
lichen Fachschulen geworden sind. |
Es ist für unsere Sache außerordentlich wichtig, daß die Lehrer auf den
Lande schon in den Lehrerfortbildungsanstalten auf diese Fragen und ihre
Bedeutung für unser Landvolk hingewiesen werden.
Aber auch die Kirche kann uns hier in unserer Arbeit unter den Bauern
ganz außerordentlich wertvolle Hilfe leisten. Ist ja doch das Bauernvolk in
allen Ländern derjenige Volksteil, der am treuesten zu seiner Kirche hält.
Gesetzliche Maßnahmen (ich denke da in erster Linie an die
Branntweinfrage) nützen nur dann etwas, wenn der Großteil
der landwirtschaftlichen Bevölkerung hinter ihnen
steht,wennsiemitdemBauernundnicht gegen ihn haben
verfügt werden können. Auch hier sind die Sitten eines
Volkes stärker als jedes Gesetz.
Es ist Tatsache, daß sich der Bauer auch in diesen Fragen am leichtesten
von seinesgleichen aufklären läßt. Das war mit ein Grund, warum wir m
unserem Lande vor drei Jahren den „schweizerischen Verband
abstinenter Bauern“ gegründet haben. Dieser kleine Verband hat mit
seiner Zeitung, dem „Vorspann“, nicht nur in den Kreisen der Abstinenten.
sondern auch unter der landwirtschaftlichen Bevölkerung unseres Landes
2 en alles Erwarten gute Aufnahme und viele wertvolle Unterstützung
gefunden.
Wir fassen die ganze Nüchternheitsfrage unter den Bauern als einen Teil
jener großen andern für das Bauerntum aller Länder heute brennenden Frage
auf: der Frage der Abwanderung des Landvolkes in die Industrie, in die
Städte, der landwirtschaftlichen Arbeiterfrage, der Frage der innern un
äußern Gesundung unseres Bauernvolkes überhaupt.
Das ist der Kern unseres Problems: Die Schaffung eines ın
seinen Fundamenten kräftigen und gesunden Baueri-
tums, das gewillt ist, den ampf aufzunehmen gegen
alles Niedere, das sich auch im Bauernhause breit zu
Stubbe, Gottes Ebenbild und der Alkohol. 235
machen droht. Die Schaffung eines gesunden Bauern-
volkes, das mit Ehrfurcht und Zähigkeit seine heimat-
licheScholleliebt,anihrhängtundsiemitalldenvielen
schweren Sorgen bebaut.
Ein vom Fluche des Alkoholismus befreites, kraft-
volles Bauerntum als Jungbrunnen unseres ganzen
Volkes, das ist das Ziel unserer Arbeit.
Ich spreche da ohne irgendwelche Ueberhebung. Wir wissen genau, wie
groß die Widerstände sind, wie stark der Gegner ist, der sich uns da in den
eg stellt, und wie gering und schwach unsere eigenen Kräfte sind. Nach
uns kommen unsere Söhne, junge, unverbrauchte Kämpfer. Auf an eTe Jugend
setzen auch wir unsere ganze, unsere frohe Hoffnung. Sie wird die Morgen-
röte einer neuen Zeit anbrechen sehen, in der der Bauer sich aus ureigen-
ster Kraft vom Fluche des Alkoholismus befreit hat.
Der BaueristeinFanatiker der Freiheit. Werden wir nie
müde, ihm zu zeigen, wie nichts so sehr seinen Aufstieg aus großen Tiefen
pm hat und hemmt, wie die Trunksucht, die Trinksitten in allen ihren
ormen, zeigen wir ihm, daß der Weg zu wirtschaftlicher Freiheit und innerer
Größe über ein nüchternes Bauerntum führt!
Gottes Ebenbild und der Alkohol.
Predigt gehalten in der St. Johannes-Kirche in Dorpat anläßlich des 18. Int.
Kongresses gegen den Alkoholismus von Pastor Dr. Chr. Stubbe, Kiel.
In diesen Tagen wird hier in Dorpat ein Internationaler Kon-
1 gegen den Alkoholismus geai Von den verschiedensten
ändern Europas und sogar aus anderen Erdteilen sind Männer und Frauen
hierher gereist, um hier zu lernen. Denn der Name Dorpat hat in der Welt
einen guten Klang. Dorpat ist eine Heimstätteder Wissenschaft.
Bedeutende Gelehrte haben hier gewirkt. Als ich auf dem Gymnasium mir
eine Kirchengeschichte wünschte, wurde mir die von Kurtz empfohlen, als
ein hebräisches Wörterbuch not tat, das von Mühlau-Volck angeschafft. Auf
der Universität mußten wir uns in der Ethik mit Alexander von Oettingen,
ın der praktischen Theologie mit Theodosius Harnack auseinandersetzen.
Eine ganze Reihe von Schülern der Dorpater Universität ist zu Meistern
in Deutschland, ja zu Lehrern der Menschheit geworden. — Insonderheit
wir Alkoholgegner guten Grund, Dorpat dankbar zu sein. Hier
hat einst Kreutzwald in der älteren Mäßigkeitsbewegung gearbeitet, hier
Bunge, der Vater der modernen Abstinenzwissenschaft, seine Laufbahn be-
gonnen, hier Rauber seine Untersuchungen über den Einfluß des Alkohols
auf Pflanzen und Tiere gemacht.
‚Die Wissenschaft ist international, sie dient der Menschheit. Und sie
ist in ihrem Wahrheitsdrange etwas Heiliges. Sie steht mit unter den Segens-
worten der Verheißung: "Den Aufrichtigen läßt es der Herr gelingen“ und
abermals: „Suchet, so werdet ihr finden“.
Auch ein Kongreß gegen den Alkoholismus will der Menschheit dienen,
— theoretisch, wie praktisch.
‚ Ist dem aber so, — handelt es sich in dem Kampfe gegen den Alkohol
wirklich um eine Sache der Menschheit, dann dürfen wir auch
feierlich bekennen: er ist Gottes Sache; denn „Gott schuf den Menschen
ihm zum Bilde; zum Bilde Gottes schuf er ihn“. Wenn der Alkohol zu den
Dingen gehört, die das Ebenbild Gottes verunehren, dann muß der Christ
pegen den Alkoholismus arbeiten. Wo Menschen sich vom Geiste Gottes
eiten lassen, da helfen sie mit, daß die Menschheit von den Fesseln des
Alkohols frei werde.
236 Abhandlungen.
Im ersten Kapitel der Bibel wird uns von einem Propheten die Symphonie
der Senop ung gesungen. Die Worte „Gott schuf“ klingen durch das
anze Kapitel hindurch. Vom Einfachsten geht's weiter bis zum Voll-
ommensten, — immer weiter, organisch vorwärts, immer höher, — ein
Aufstieg, eine Entfaltung, eine Entwicklung von der Pflanze bis zu den
Fischen und Vögeln, vom Gewürm und Getier der Erde bis zum Menschen.
Die Zelle ist der Lebensträger: Dieser Lebensträger kann keinen Alkohol
ertragen. In die Lebensfülle der Natur greift der Alkohol störend ein. Ich
erinnere an die Untersuchungen Raubers. Die Pflanze verkümmert, wenn
Du dem Wasser, womit Du sie begießt, Alkohol beimischest, — je mehr
Du hinzutust, desto rascher das Verwelken. Der Wurm, der Fisch, die
Eidechse werden betäubt, wenn in dem Wasser, worin sie sich aa
Alkohol enthalten ist, und müssen sterben, wenn sie längere Zeit dem Ein-
flusse des Alkohols ausgesetzt sind. Die Intelligenz und die Leistungs-
fähigkeit der Säugetiere nimmt ab, wenn man sie an Alkohol gewöhnt, und
ihre Jungen werden dann minderwertig. Alles wie beim Menschen, der
durch den Alkohol betäubt wird, verroht, in seiner Leistungsfähigkeit zurück-
geht, herunterkommt und vorzeitig stirbt.
„Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war
sehr gut“.
Im Ruhmesregister dessen, was Gott gemacht hat, fehlt der Alkohol.
Ueber ihn ist kein göttliches Wohlgefallen ausgesprochen. Er ist kein un-
mittelbares Erzeugnis der Natur, sondern ein Kunstprodukt, das pas
einer Zersetzung; er wirkt kein Leben, gibt weder Kraft, noch Nahrung,
sondern ist ein Giftstoff, der mit entsprechender Vorsicht und Sachkunde
behandelt sein will, — gut für den Arzt, den Techniker, gefährlich für den
Laien, für die Masse des Volkes.
Freilich hat man behaupten wollen, daß der Alkohol „schöpferisch“
wirke, — daß unter seiner Anregung und Kraft Dichter und Künstler Großes
und Schönes leisten. Das ist als Irrtum und au erwiesen; Hemmungen
beseitigen, die Zunge lösen kann der Alkohol, — aber eine Poesie, die
er schafft, die ist auch danach. Reine, erhabene Kunst erfordert Reinheit.
Innerlichkeit, etwas von göttlicher Schöpferkraft.
Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes
schuf er ihn. — Es gibt auch das Umgekehrte.e Der Mensch macht
sich seinen Gott, — der Neger formt seinen Fetisch; der Grieche
schafft Götterbilder in Menschengestalt; der Römer verehrt die Majestät
des Staates im Standbild des Kaisers. Der Dichter sagt uns:
„Wie der Mensch, so ist sein Gott;
Drum ward auch Gott so oft zum Spott.“
Der lebensfrohe Hellene will in seinem Olymp auch einen Gott des Weine.
einen Gott des Trunkes haben, — und versetzt in das Gefolge des Dionysos
taumelnde Halbgötter, Faune und Silene. Alles sprüht von Lebenslust. Das
ist antike Naturreligion. Und wie ist's in der modernen Welt? Das mag
uns der Apostel Paulus beschreiben. In seinem Briefe an die Philipper redet
er von Leuten, „denen der Bauch ihr Gott“, „die irdisch gesinnet sind“. In
diesen Kreisen wurde und wird noch heute der Alkohol als Abgott oft und
viel verehrt. Ein Rosegger hat beißenden Spott für Menschen, denen das
Wirtshaus zur Kirche, der Kneipwirt zum Priester, das Wirtshausgegröhle
zum Kirchengesang, das Gelage, der Kommers zu einer Kommunion
Paulus redet anders darüber; er sagt es „mit Weinen“. Und diese Tränen
des Apostels sind aus derselben Quelle geflossen, wie jene Tränen, die der
Heiland auf der Höhe des Oelbergs weinte über das dem Verderben geweihtt
cheat „dieweil es nicht bedachte zu dieser seiner Frist, was zu seineM
rieden diente“.
Wir aber wollen weder vergangene Niere on, noch modernen
Materialismus; wir halten uns an das Wort der Offenbarung: „Gott
schuf den Menschen ihm zum Bilde; zum Bilde Gottes schuf er ihn“. —
Stubbe, Gottes Ebenbild und der Alkohol. 237
Was heißt das? — Er sollherrschen über die Vögel unter dem Himmel
und über die Fische im Meer und über alles Getier, welches auf Erden
kräucht, — also der Mensch soll Herr sein über die ganze Natur.
Das ist die magna charta der Kultur. Wenn das Dampfroß das weite Land
durchquert, oder das Unterseeboot wie ein Fisch das Meer durchschwimmt
oder ein Flugzeug adlergleich in den Lüften schwebt, dann zeigt sich der
Mensch als Herr der Elemente. Ein Kulturfortschritt war es ohne Fra
auch, als arabische Gelehrte im Mittelalter die Destillation des Alkohols, die
Reinherstellung des Spiritus entdeckten (Möchte nur immer der Mensch Herr
bleiben über den Alkohol, und der De und die Spirituosen nicht Herren
werden über den Menschen!). Auch moderne Brauereien und Brennereien
mit ihren a kunstvollen Maschinen sind Wunderwerke der Kultur,
der Technik. — Aber nicht jede Kultur ist ein Segen. Es gibt auch eine
Afterkultur und eine Kulturentartung. Moderne Bierpaläste, Bars und Likör-
stuben sind noch keiner Stadt, keinem Lande zu einem Segen geworden, und
Alkoholkultus hat noch keiner Familie Glück, keinem Menschen einen inneren
Gewinn gebracht. Wir dürfen im Gegenteil sagen: Je mehr ein Mensch
für Alkoholkultur Sinn hat, um so mehr stumpft er für feinere Kultur ab,
und je mehr für Alkohol ausgegeben wird, desto weniger ist für wahre
Kultur, für Bedürfnisse des Herzens und der Seele übrig.
Eines müssen wir uns vor allem merken: Es kann keiner über andere
herrschen, der nicht zuvor gelernt hat, sich selbst zu beherrschen.
Wer sich dem Alkohol ergibt, verliert bald genug die Selbstbeherrschung.
Ein christlicher „Selbstherrscher‘“ läßt sich weder von seinem Fleisch und
Blut, seiner Leidenschaft und Begierde bezwingen, noch vom Alkohol nieder-
kriegen, mag auch noch so viele Reklame für ihn gemacht werden und das
Getränk noch so lieblich im Glase blinken! — Menschenkind, beherrsche
Dich selbst! Das bedeutet auch: Ueberwinde Deine Feigheit, auf daß Du
Dich nicht fürchtest, wenn die Leute über Dich reden, falls Du veraltete
Trinksitten nicht mehr mitmachen und mit den Wölfen nicht heulen willst.
Gottes Ebenbild sollen wir sein. — Was ist denn Gott? Unser Heiland
lehrt am Jakobsbrunnen: „Gott ist Geist“ Also sollen wir im Geiste
wandeln; die der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Es sind
aber Weingeist und Gottesgeist, heiliger Geist unversönliche Gegensätze,
und geistige Getränke haben noch keinen Menschen geistreich gemacht.
Manches kirchliche und vaterländische Fest wurde im Geiste, in Begeisterun
begonnen und endete im Fleische, im Schmutz. — Doch sagen wir’s anders!
Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Philosophisch sagt man: „Die
Vernunft“, wir reden von einer „unvernünftigen Kreatur“. Nun, dann
soll der Mensch auch „vernünftig“ sein und das meiden, was ihm selbst
und der Gesamtheit schädlich ist, — soll seine Vernunft sich erhalten und
sie gut gebrauchen und alles ausschalten, was die gesunde Vernunft, was
das klare Denken trüben kann — und das tut der Alkohol. Man vergleicht
einen betrunkenen Menschen gelegentlich mit einem Tier und spricht von
viehischer Betrunkenheit. Man tut damit den armen wehrlosen Tieren bitter
Unrecht. Ich wenigstens habe bis jetzt noch niemals ein betrunkenes Schwein
oder ein betrunkenes Rindvieh gesehen. Nein, in der Trunkenheit verliert
der Mensch seine Würde und sinkt auf eine untertierische Stufe hinab. Das
Tier durchweg läßt sich vor dem Alkohol warnen durch seinen Instinkt; der
Mensch soll sich warnen lassen durch seine Vernunft.
Auf die Frage nach dem Gottesebenbild erhalten wir im Neuen Testament
noch eine andere, noch eine herzlichere Antwort. Im Sinne seines Meisters,
der den allumfassenden Geist „Vater“ nannte, schreibt der Johannesjünger:
„Gott ist Liebe“. Wer in Liebe handelt und in der Liebe bleibet, der
verwirklicht Gottes Ebenbild.
Alle Geschöpfe, die ganze Natur, auch die Tiere mit Vernunft und Liebe
zu behandeln, das ist im Sinne des Schöpfers aller Dinge; der Trunk jedoch
macht nachlässig und roh. — Was unterscheidet den Menschen vom Tier?
238 Abhandlungen.
„Edel sei der Mensch, hilfreich und gut;
Denn das allein unterscheidet ihn
Von allen Wesen, die wir kennen“.
Wie viel Familienunglück, wie viel Herzeleid, wie viel Not, wie viel sittlichen
Verfall bringt der Trunk.
— „Gut sein, gut sein, das ist die Sach’;
Alles And’re ist nur wenig!“ -
Vielleicht kannst Du durch Dein Beispiel einen Mitmenschen vor dem Fall
bewahren, durch Deine Handreichung einen Notstand lindern, durch Deime
Aufklärung einem Schwankenden nützen, durch Deinen Anschluß an einen
Antialkoholverein die Kämpferschar fürs Reine und Gute stärken, — vid-
leicht, wenn Gott Gnade gibt, einen dem Trunk Verfallenen retten, — —
und wenn’s nur ein Einziger wäre, den Du zum Segen würdest, denke an
Gellerts Wort:
„O Gott, wie muß das Glück erfreu’n,
Der Retter einer Seele sein“.
Einen Zug unseres Bibelwortes müssen wir noch betrachten- um voll-
ständig zu sein: Gott schuf den Menschen, einen Mannundein Weib.
Ihnen gemeinsam gab er seinen Schöpfersegen: „Seid fruchtbar und mebret:
Euch und füllet die Erde.“ Erst vereint sind sie Ebenbild des Schöpiergottes
und Träger des Lebens, der Lebensentwicklung. Familienglück und Volks-
wohlfahrt erwachsen aus dem Bunde von Mann und Weib.
Auch hier ist der Alkohol der Störenfried der Schöpfungsharmonie. An
zwei ernste Kapitel erinnere ich: „Alkohol und Ehescheidung‘“, ‚Alkohol
und Vererbung“.
Ein traurıges Bild: Mann und Weib lebten glücklich. Es wurde bald
anders. Die gegenseitige Achtung schwand; der Friede des Hauses war dahin;
der Alkohol hatte das men! übernommen.
Traurig, wo der Alkohol Kuppler wird, Mann oder Weib zum Ehebruch
verführt oder Geschlechtskrankheiten ins Haus bringt.
In den Ehescheidungsprozessen spielt der Alkohol eine unheilvolle Rolle.
Trauriger ist das zweite Kapitel: Alkohol und Entartung oder Alkohol
und Vererbung. Es nimmt uns Wunder, wie bei gesunden, stattlichen Menschen
in der Reihe schmucker begabter Kinder mit einem Male ein geistig, vid-
leicht auch körperlich verkümmertes Kind sich findet. — Wie ist's nur möglich?
— Der Arzt wird Dir ernst sagen: Vielleicht war in jener Stunde, in der
dieses Leben empfangen ward, Mann oder Frau betrunken oder „angeheiiert“;
dafür muß das unschuldige Kind nun büßen.
Komm mit mir in eine Anstalt für idiotische Kinder. Welch ein Jammer
dort. Die blöden Augen
‚sehn mich fragend an:
Was hat man ir, du armes Kind, getan?“
Die Antwort ist bitter ernst: Wohl neunundneunzig vom Hundert der elenden
Geschöpfe sind Alkoholerzeugnisse. „Die Sünde der Väter und Mütter wird
heimgesucht an den Kindern.“ — Mann und Weib — welche große Ver-
antwortung tragen sie vor dem heiligen Schöpfergott, welche Verantwortung
für ein kommendes Geschlecht!
Zusammen sind sie Gottes Ebenbild, — Ebenbild des Gottes der
Liebe, — des Gottes, der aus lauter väterlicher göttlicher Liebe und Barm-
herzigkeit schafft und erhält, herrscht und dient.
nd dieser Gott ist zugleich der selig e Gott. In einem reinen, nüchternen
Leben, in Selbstzucht und Vernunft, im Geiste barmherziger Liebe sollen und
dürfen wir Anteil an göttlichem Frieden und himmlischer Seligkeit haben, —
wir, freilich arme, sterbliche, fehlbare Menschen, — wir als Gottes Ebenbild.
Chronik
für den Monat September 1926.
Von Pastor Dr. Christian Stubbe.
A. Zwischenstaatliches.
Im Rahmen des Internationalen Kongresses gegen den Alkoholismus zu
Dorpat (21. bis 28. Juli) kam es zu einer Besprechung der sozialistischen
Arbeiter-Enthaltsamkeitsvereinigungen. Es wurde folgender
Antrag der deutschen Arbeiterabstinenten angenommen: „Die sozia-
listischen Abstinenzorganisationen vereinigen sich und
bilden ein internationales Sekretariat, das seinen Sitz in Berlin
hat. Die in Dorpat versammelten Delegierten verpflichten sich, diesem Bureau
je nach ihren Kräften die Mittel zuzuführen, die zur Deckung der Geschäfts-
unkosten nötig sind. Diesem Bureau sind alle diejenigen Organisationen an-
geschlossen, die der Richtung des Internationalen Gewerkschaftsbundes an-
gehören. ...““ Zum internationalen Sekretär wurde Genossin Dr. Wegscheider
ewählt. Das Internationale Komitee besteht aus den Genossen Voionmaa
Finnland), Björkman (Schweden), Dr. Kurz (Wien), Holitscher (Tschecho-
slowakei). („Das Volk“, 16. 8.)
Die Völkerbundsversammlung in Genf beschloß 21. 9., den
von Finnland, Schweden und Polen gestellten Antrag, wonach sich der Völker-
bund mit der Antialkoholarbeit befassen soll, der nächsten Völkerbunds-
vollversammlung zu überweisen. („Hbg. Nchr.“, 22. 9.)
Nachdem die Vereinigten Staaten mit Großbritannien zu einer Verein-
barung zur besseren Unterdrückung des SD mug
gels gelangt sind, verhandeln sie jetzt in gleicher Richtung mit Kanada.
(„The Chic. Trib.“, 6. 9.)
. Die gärungslose zung marschiert. Baumann,
ihr Vorkämpfer, ist ersucht, auch in Oesterreich, Südslavien, Ungarn und
Lettland Vorträge zu halten. („D. Alkoholgegn.“ Nr. 10).
>~ Weinertrag in den wichtigsten Ländern 1924: Deutschland 1,8 Mil-
lionen hl, Bulgarien 1,3 Mill. hl, Frankreich 70,0 Mill. hl, Griechenland 2,3 Mil-
lionen hl, Italien 44,7 Mill. hl, Südslavien 2,9 Mill. hl, Oesterreich 0,3 Mill. hl,
Portugal 5,3 Mill. hl, Schweiz 0,4 Mill. hl, Spanien 21,7 Mill hl, Ungarn
1,4 Mill. hl, Nordafrika 10,6 Mill. hl. („Wirtsch. u. Stat.“ Nr. 5/26, S. 146.)
Von neuen Erfahrungen über die Tuberkulose bei Haustieren
weiß nach dem „Kosmos“ der Luxemburgische Schlachthausdirektor Spartz
zu berichten. Während in den Kriegsjahren die Krankheit bei den Kühen
stark zurückging, hat sie seit 1921 wieder zugenommen. Spartz führt den
Rückgang darauf zurück, daß im Kriegedielandwirtschaftlichen
Branntweinbrennereien geschlossen waren. Die Ernährung
mit Brennereiabfällen begünstige nämlich zum mindesten die Tuberkulose.
Die Brauereiabfälle hält Spartz für nicht so gefährlich. Vielleicht ist es nach
seiner Ansicht überhaupt nicht der in den Abfällen enthaltene Alkohol, der
die Schädigung verursacht, sondern die vergorene Maische überhaupt. Jeden-
alls hat er inachtzehnjährigerErfahrung festgestellt, daß unter
demSchlachtviehderBrennereibesitzer, wie auch unter jenen
Tieren, die viel mit Brauereirückständen gefüttert werden, die
rankheit besonders häufig ist.
Gegenüber der Anschauung von der Unentbehrlichkeit der Treber und der
lempe wäre diese Feststellung, wenn sie sich bestätigen sollte, von großer
Bedeutung. (Mitteilg. von Georg Klatt, Görlitz.)
240 Stubbe, Chronik.
B. Aus dem Deutschen Reiche.
Allgemeines.
Auf einer Konferenz in Berlin 23. 9. erstattete Reichsminister a. D.
Schiele einen Bericht über die landwirtschaftlichen Nebengewerbe. Die
Kartoffelernte habe 1925 mit nahezu 42 Millionen Tonnen fast die
von 1913 wieder erreicht; das Gleiche gelte von der Anbaufläche mit 2 809 000
Hektar. Verbraucht wurden von der Ernte je ein Drittel für Speise- und
Futterzwecke, 20 Proz. für Saat, 4 bis 6 Proz. für Gewerbe. In den Jahren
1909 bis 1913 haben die Brennereien 2,40 Millionen Tonnen, die Trock-
nereien 0,60 Millionen Tonnen, die Stärkefabriken 1,40 Millionen Tonnen
verbraucht. Im Jahre 1924/25 seien diese Zahlen auf 1,09, bzw. 0,20 und 0,40
Millionen Tonnen gefallen. Große Bedeutung habe die Spiritusbereitung. Nach
einer Besprechung ım Landwirtschaftsministerium sei ein Gemisch von Spirilus
und anderen Brennstoffen (z. B. Benzol) aussichtsreich für Automobil-
zwecke. Zur Steigerung des Absatzes müßten vor allem die Hemm
der Gesetzgebung fallen. Die Kartoffeltrocknung müßte vor allem für Futter-
mittelzwecke gefördert werden. — Dr. Bade erklärte: Mit der Hoffnung aut
den Absatz von Motorspiritus könne man sich nicht beruhigen; die
Frage sei noch ein Problem. Um mit dem Benzin konkurrieren zu können,
müsse heute die Monopolverwaltung den Spiritus für Motorzwecke mit 15 RM
abgeben; die Herstellung koste ihr selbst aber 75 RM. Auf diesem Gebiete
müsse man sich also sehr zurückhalten. Technisch sei dies Problem zu lösen,
wirtschaftlich sei es aber noch nicht gelöst. Eine neue Gesetzesvorlage wolle
die Schäden der Branntweinwirtchaft beseitigen, bringe aber keine prinzipiellen
Aenderungen. — („Hann. Kour.“, 24. 9.
Die Kartoffelernte 1926 wird auf mehr els 30 Millionen Tonnen
geschätzt (1925 über 41,7 Millionen). Nicht ganz 10 Millionen kommen als
menschliches Nahrungsmittel in Betracht. Und wo bleibt, fragt die „Beilage
der Täglichen Rundschau: Wirtschaft und Börse“ 5.10., der Rest? Das Blati
rät zur Herstellung von Halbfabrikaten, nämlich der Kartoffelflocke
Allerdings vermögen die uns nach Abtretungen an Polen usw. verbliebenen
etwa 320 Flockenfabriken einschl. der Schnitzelfabriken nur rund 1 Million
Tonnen zu 250 000 Tonnen Flocken zu verarbeiten (1916 hatten wir 853 Trock-
nungsanlagen; es müssen zum Ersatz der verlorenen baldigst neue geschaffen
werden). — Andererseits wird die ein, Mo Motors p r i t empfohlen.
„Das Starren auf den Sprit als besondere Einkommensquelle ist doch nun
einmal wenig zeitgemäß, da die „Trockenlegung“ infolge der Ausbreitung des
Sports immer mehr um sich greifen muß, und da obendrein die Monopol-
behörde über rund 1,5 Millionen hl Spiritus verfügt. Nicht nur aus Sulfitlauge
(Holz) erhalten wir jetzt mindestens ein volles Fünftel der deutschen Sprit-
a überhaupt, sondern auch die neuerlich vordringenden synthetischen
Verfahren werden hier über kurz oder lang umwälzend wirken.“ Die Her-
stellung von Kartoffelmehl leidet stark unter -der Konkurrenz der (amerika-
nischen) Maizena-Werke in Barby a. d. Elbe, die, 1924 begründet, täglich
etwa 1000 Tonnen Maisstärke erzeugen. „Die Propaganda für den Motor-
sprit nach französischem Muster (carburant national; müßte bei uns erheblich
wirksamer werden, wenn die alten behördlichen Verkaufsmethoden der
Monopolverwaltung einer moderneren Gestaltung Platz machen würden.“
Alle an den Unruhen der Winzer in Berncastel beteiligten und ver-
urteilten Personen sind mit Bewährungfsrist begnadigt worden. (Drahtung
Koblenz, 21. 9.)
In München wurde in Verbindung mit dem Oktoberfest vom 18. 9.
bis 3. 10. eine Deutsche Brauereiausstellung gehalten, auf der
die Berliner Versuchs- und Lehranstalt für Brauereien hervortritt. Diese Ar-
stalt hat auch der wissenschaftlichen Sektion für Brauerei in München an-
läßlich deren 50jährigen Bestehens eine große goldene Ehrendenkmünze über-
reicht. An der Ausstellung rühmt die „Deutsche Allg. Ztg.“ (29. 9.) die
„heitere rhythmische Einrichtung“!
Stubbe, Chronik. 241
Der Deutsche Städtetag bemüht sich darum, daß den Gemeinden
das Recht auf Erhebung von Getränkesteuern über 1. 4. 1927 hinaus erhalten
bleibt. Nach „Gasthaus“ (Nr. 92) betrug das Einkommen „an Gemeinde-
en allein in Preußens größeren Gemeinden mehr als 38 Millionen
eichsmark“.
Mit Machenschaften von Alkoholinteressenten rechnen scharf ab u. a.
Gertrud Bäumer: „Das Alkoholkapital im Kampf um die heiligsten Güter“
(„Die Frau“, Mai-Nummer) und Gustaf Dabelstein: „Korruption in Presse
und Parlament. Wie Zeitungen und Gesetze gemacht werden“ (Hagen i. W.,
Verlag „Der Wille“).
Ein Millionen-Spritschmuggel ist aufgedeckt. Eine große
Segeljacht Pelikan nahm in Danzig jeweils 20 000 I Sprit (für 25 Pf. das Liter)
ein; auf hoher See (bei Adlergrund) wurde die Ladung von einer Motorjacht
nachts übernommen und nach Berlin (gelegentlich auch anderswohin) ge-
schmuggelt I DOBaED kostet in Deutschland 4,30 RM das Liter). Allein
durch zwei Fahrten hat der Pelikan das Reich.um 750000 RM betrogen.
(„K. N. N.“, 5. 10.)
Statistisches.
Aus dem „Statistischen Jahrbuch für den Freistaat
Preußen“, 22. Band 1926: Wegen Alkoholismus befanden sich 1. 1. 1924
indenIrren- undNervenheilanstalten 961 männlich, 70 weiblich;
Zugang: 3577 m., 259 w.; Summe aller Behandelten 4867. Abgang überhaupt
3328 m., 235 w., im ganzen 3563; davon durch Tod 59 m., 8 w., im ganzen 67.
Nach dem neuen Statist. Jahrbuchf.d. DeutscheReich betrug
der Gesamtverbrauch an Trinkschnaps im abgelaufenen Geschäftsjahr 1924/25
rs zu Herbst) 641 353 hl hundertteiligen Weingeists (davon
3000 hl Auslandswahre), oder 1 I Weingeist auf den Kopf. Zu gewerblichen,
technischen und dergleichen Zwecken dagegen war es fast die doppelte Menge,
1123000 hl. Im Vorjahr waren es an Tr nkschnaps nur 355 000 hl. Die Zu-
nahme des Branntweinabsatzes im allgemeinen (gewerblich-technischer und
Trinkbranntwein) erklärt das Statistische Reichsamt erstens daraus, daß die
besetzten Gebiete im Berichtsjahr wieder beliefert werden konnten; zweitens
aus der schärferen Ueberwachung des Branntweinverkaufs, die mit ihrem
erfolgreichen Vorgehen gegen Geheimbrennerei und Spritschiebungen erheb-
lich zur Steigerung des Absatzes von Monopolsprit beitrug. Der Trink-
schnapsvertrieb der Monopolverwaltung ist wegen sehr geringer Ergebnisse
seit August 1925 aufgegeben.
Kirchliches.
Der ev. Oberkirchenrat von Württemberg hat auf Grund der vom
Schwäbischen Gauverband gegen den Alkoholismus und von der Landes-
gruppe enthaltsamer Pfarrer angeregten Verhandlungen des Landeskirchen-
tages 6. 7. 26 eine Bekanntmachung erlassen, welche mit gewissen Kautelen
für besondere Feiern alkoholfreien Abendmahlswein gestattet. („Christl.
Abst.“ Nr. 5.)
Vereinswesen.
Die 3. Jahresversammlung des Deutschen Bundes enthalt-
samer Erzieher fand 12. 7. in Hamburg statt. Freudig begrüßt wurde
die Mitteilung von Prof. Dr. Weygandt (Hamburg), daß die Universität Ham-
burg, obwohl jung, sich bemühe, einmal, die Studentenschaft über die Be-
eutung der Alkoholfrage aufzuklären, dann aber auch der Wissenschaft und
dem Leben zu dienen durch Errichtung eines Forschungsinstitutes
für die Alkoholfrage. Prof. Dr. Hartmann (Leipzig) legte den von
ihm ausgearbeiteten Entwurf eines Gesetzes für alkoholfreie Jugenderziehung
vor. Der Bundesvorstand wurde beauftragt, die Forderungen wirksam zu
gestalten. („Der enth. Erz.“, H. 9.)
‚ Der Verband für Deutsche Jugono herbergen widmet in dem
Reichsverzeichnis 1926/27 (Hilgenbach 1926) der Aufzählung der reichs-
Die Alkoholfrage, 1926. j
242 Stubbe, Chronik.
deutschen Jugendherbergen 165, der Oesterreichs 26 Seiten; im ganzen handelt
es sich um rund 2500 Jugendherbergen.
Der DeutscheVereingegenden Alkoholismus tagte %. bis
29. 9. in Barmen. Eine Trinkerfürsorgekonferenz und die 26. Jahresversamm-
lung des Verbandes der Trinkerheilstätten deutscher Zunge waren ihr ein-
egliedert. Weiteres über die Tagung siehe S. 247 ff. dieser Zeitschrift.
Auf der 18. Hauptversammlung des Reichsverbandes der Kaffee-
hausbesitzer in München 7. 7. wurde vor allem über die Polizeistunde
verhandelt. Die frühe Polizeistunde (1 Uhr) schädige den Fremdenverkehr!
Der Vorsitzende Stüber faßte die einmütige Ansicht der Versammlung dahin
zusammen, daß einzig und allein die Rentabilität eines Betriebes der Grad-
messer für die Sperrstunde sein müsse! („Gasthaus“, Nr. 84.)
Die zum Aschinger-Konzern gehörende Berliner Hotelgesell-
schaft schließt 1925 mit 299583 RM Reingewinn ab und zahlt 6 Prozent
Dividende. („Gasthaus“, Nr. 82.)
Der Deutsche Alkoholgegnerbund führt fortan den Unter-
titel „Arbeitsgemeinschaft für alkoholfreie Kultur“. Zum zweiten Vorsitzenden
ist Präs. Dr. Strecker gewählt; erster Bundesvorsitzender ist Dr. med. Vogel,
Geschäftsführer Ferd. Goebel; Geschäftsstelle Hamburg-Ahrensburg, Man-
hagener Allee 105. — In Bremen ist die Ortsgruppe, der auch Prof. Dr.
Delbrück angehört, neu begründet. (,„D. Alkoholgegn.“, Nr. 10.)
Der Württembergische Landesausschuß für gärungslose
Früchteverwertung hält jährlich ein- bis zweimal Kurse in Stuttgart
ab; 1. 9. führte Baumann die neuen Herstellungsarten von Säftemost und die
Flächenerhitzer Modell 10 und 11 vor. („D. Alkoholgegn.“, Nr. 10.)
Auf Anregung des Reichsbundes der Standesbeamten ist in Berlin em
Deutscher Bund für Volksaufartung und Erbkunde be
ründet, welcher durch gemeinsamen Erlaß der Minister für Wissenschaft,
es Innern und für Volkswohlfahrt (20. 2. 1926) empfohlen wird. Der Bund
bezweckt, „die deutsche Volksgesamtheit über die bestehenden bedrohlichen
Gefahren der menschlichen Entartung aufzuklären, sowie die Mittel und Wege
nicht nur zur Verminderung dieser Schäden, sondern auch zur Erhaltung
und Mehrung des im deutschen Volke vorhandenen wertvollen körperlichen
und geistigen Erbgutes in den weitesten Kreisen zu verbreiten“. Seine Zeit-
schritt heißt „Zeitschrift für Volksaufartung und Erbkunde“ und wird von
Obermedizinalrat Dr. N. Ostermann im Preußischen Ministerium für Volks-
wohlfahrt, Berlin W 66, herausgegeben. Wir stellen gerne fest, daß die Alkohol-
- frage darin ausgiebig Berücksichtigung findet.
Der Deutsche Gastwirtstag in Cassel (im September) forderte
die völlige Aufhebung der Polizeistunde und die Gleichstellung von Stadt und
Land dabei, sowie die Errichtung von Gastwirtskammern, lehnte alle Ab-
stinentenbestrebungen ab und re die Ablehnung des G
bestimmungsrechtes durch den Reichstag. („Christl. Welt“, Nr. 18.)
Der Bezirksverein und der Frauenbund des D. V. g.d. A. in Nürnberg
haben 29. 7. die erste alkoholfreie Gaststätte der Stadt m
Stadtjugendhaus zur Krone eröffnet. („Nürnbg. Ztg.“, 30. 7.)
Sonstiges.
Oberstudienrat Dr. M. Hartmann, Leipzig, Mitgründer und
langjähriger Vorsitzender des Vereins abstinenter Philologen, dritter Vor-
sitzender des Deutschen Bundes enthaltsamer Erzieher, Mitglied des Ver-
waltungsausschusses des Deutschen Vereins gegen den Alkoholismus, ist
72 Jahre alt, 17. 8. verstorben. Noch am Internationalen Kongresse g. d. A.
in Dorpat nahm er teil. Er ist ein fruchtbarer Schriftsteller und eifriger Redner
gewesen. Wir nehmen von seinen Schriften „Die Stellung der Schule zur
Forderung alkoholfreier Jugenderziehung‘“, „Die höhere Schule und der Alko-
holismus“, „Turnvater Jahn und seine Stellung zum Alkohol“, „Das gerichtliche
Nachspiel zum 12. Deutschen Turnfest in Leipzig“, „Der neuere Stand der Anti-
alkoholbewegung in Nordamerika“; besonders hat er auch die Nikotinfrage
Stubbe, Chronik. 243
bearbeitet und bei allen Gelegenheiten auf die Zusammenhänge zwischen
Alkohol- und ee A hingewiesen. Das Letzte, was er den deutschen
Pastoren in Dorpat ans Herz legte, war die Bitte, dafür einzutreten, daß bei
en: Abendmahlsfeiern für die Konfirmanden alkoholfreier Wein gebraucht
werde.
Die erste Genossenschaftsbrauerei Berlin-Friedrichshagen
feierte 1. 9. ihr 25jähriges Bestehen. Sie hatte zuerst hen Jahresausstoß von
10000 hl, 1925 aber 267 000 hl. Nach dem jetzigen Umbau kann eine Steige-
rung auf 400 000 hl erfolgen! („Gasthaus“, Nr. 97.)
Dr. Peltzer hat den Weltrekord Nurmis geschlagen (Pe. 1500 m
in 3 Minuten 51 Sekunden, Nu. 3 Min. 52,6 Sek.). Nu. war enthaltsam. Ueber
Pe. schreiben die „K.N.N.“ 16. 9.: „Dr. Pe., dreifacher Weltrekordmann, hat
eigt, was man durch eisernes Training und größte Enthaltsamkeit erreichen
ann. Er selbst sagt: „Der erfolgreichste Typus im Sport ist auf jeden Fall
derjenige, der sein Können nicht einer überragenden Veranlagung verdankt,
sondern sich durch fleißige und überlegte Trainingsarbeiten hochringen muß“.“
C. Ausanderen Ländern.
Afrika. Diesüdafrikanische W. C. T. U. (Christlicher Frauen-
Welttemperenzbund) hat durch „Kettensammlung‘“ über 1000 neue Mitglieder
gewonnen. 10000 Stück des Traubenrosinen-Kochbuchs von Emilie Salomon
wurden auf den landwirtschaftlichen Ausstellungen verteilt. (D. Alkohol-
gegner“, Nr. 2.
Die Alkoholeinfuhr in Französisch-Westafrika war
über der Vorkriegszeit merklich zurückgegangen. 1911 lieferten die
oholzölle 48 Prozent der Gesamteinnahmen, 1920 nur noch 20 Prozent.
Der hohe Zoll trug wesentlich zur Besserung bei. Mit der Entwertung des
Franks fällt der Zoll jedoch immer weniger ıns Gewicht; die Folge ist eine
Steigerung des Alkoholkonsums. („Berner Tagw.“, 9. 8.)
Bulgarien. Der Unterrichtsminister weist die Direktoren
aller staatlichen Schulen auf die Alkoholschäden hin und fordert auf, den
Verband von Temperenzgesellschaften in Bulgarien bei seinem Feldzug gegen
den Alkoholismus zu unterstützen. Insonderheit soll die Schule durch Er-
teilung von alkoholgegnerischem Unterricht und durch geeignete Vorträge
helfen. („Chri. Sci. Mon.“, 22. 6.)
Canada. Der „Chri. Sci. Mon.“ 14. 6. weist (zum Zeichen, daß die
Staatskontrolle den Brauereien gut bekommt) auf folgende Anzeigen in
den Blättern von Vancouver hin, die neues Kapital für Brauereien anwerben
sollen: „Wissen Sie, daß eine wohlbekannte Brauerei in Britisch-Columbien
ihren Teilhabern 800 Proz. für ihre Anteilscheine zahlt? Wissen Sie, daß der
Jahresbericht einer Brauerei in Quebec letztes Jahr einen Ueberschuß (surplus)
von mehr als 3 000 000 Dollars aufwies und für das Jahr einen Gewinn (profit)
von mehr als 1250000 Dollars auszahlte, indem sıe das Bier 8 Dollars das
Barrel billiger verkaufte, als der Preis hiesiger Brauereien war? Wissen Sie,
daß an einer Brauerei in Britisch-Columbien mit einem Verkauf von 200 Barrels
täglich mehr Profit zu machen ist als mit einer fließenden Oelduelle mit einer
Erzeugung von 2000 Barrels den Tag?“
Finnland. Die Zoll- und Polizeibehörden sind auf ein neues Mittel
zur Bekämpfung des Alkoholschmuggels verfallen: Die Wege werden durch
Drahtverhaue gesperrt, in die zur Verstärkung der Hindernisse noch scharfe
Nägel eingenietet werden. Etwa fünfzig Meter von diesen Drahtverhauen ent-
fernt werden ne ausgestellt, die den sich nähernden Automobilen
Haltesignale geben. Im Bezirk Nyland ist diese neue Methode der re
bekämpfung bereits mit sehr gutem Erfolge erprobt worden. („Kieler
Zeitung.“, 10. 9.)
16*
244 Stubbe, Chronik.
Frankreich. Die diesjährige französische Weinernte wird
auf 65 Millionen hl geschätzt, was gegenüber dem Vorjahr einen Minder-
ertrag von 7 Millionen hl bedeuten würde. Infolge der starken Kaufaufträge
ist der Weinpreis ab Weinberg schon jet um das Doppelte gegenüber dem
Vorjahr gestiegen. Die Weinbauern halten indessen noch mit den Verkäufen
zurück. („Berlin. Lok.-Anz.“, 25. 9.)
Großbritannien. Während vor dem Kriege der Ertrag der
Heeres- und Flottenkantinen zu 25 Prozent vom Bierverkaui
stammte, sind es jetzt nur noch 6 Prozent. Die Fürsorge für gute Mahlzeiten,
süße Kuchen, Spiele aller Art hat den Wandel gebracht: Der London Sunday
Express sagt 27. 6.: „Gib uns Brotkuchen (Bues), nicht Bier“, scheint heute
die Losung von Heer und Flotte zu sein. Die Kantinen sind von Kaffeetrinkern
und Kuchenessern bevölkert, und man hört das Klappen von Teelöffeln an-
statt des Klingens der Trinkkannen (Ankards). („The Am. Iss.‘“, No. 8.)
Auf der 33. Jahresversammlung der Royal Army Temperance
Society Caxton Hall, Westminster, erklärte der Vorsitzende Generalmajor
Sir Walter P. Braithwaite: „Ich glaube, daß das Heer heute die nüchternste
Gemeinschaft von Männern auf den britischen Inseln ist“. (Als Gründe führt
er an: Aufklärung durch die R. A. T. S., die Schaffung vieler Erholungsplätze,
die Pflege des Sports.) — Die Gesellschaft hielt über 200 Vorlesungen vor
23000 Mann. 182 neue Zweigvereine entstanden im letzten Jahr; über 7000
Mitglieder wurden eingetragen. — In einem Heere von 199002 Mann gab es
1925 nur 248 Verurteilungen wegen Trunkenheit; 1924 waren es 296, 1923 4%,
1922 850 Fälle. („Manch. Guard.“, 28. 5.)
Gegenüber 7222 Verurteilungen (convictions) von Frauen
wegen Trunkenheit 1918 gab es 1924 12924 dieser Art. („The
Times“, 4. 8.)
Lettland. Die „Rigasche Rundschau“ (4. 5.) berichtet, daß die Prüfungs-
stelle („Staatskontrolle‘“‘) bei der Abrechnung über die Unkosten, die durch
den Besuch des französischen Senators Reynald 6. und 7. 4. erwachsen sind,
die Ausgabe füralkoholische Getränke (538 Lat) beanstande.
Niederlande. Auf der allgemeinen Versammlung der Nieder-
ländischen Gesellschaft zur Abschaffung alkoho!-
haltiger Getränke 2. 8. in Utrecht wurde der eg für 1927
auf 56 000 Gulden in Einnahme und Ausgabe festgesetzt. P. van der Meulen
und H. Sloeg jr. wurden mit der Schriftleitung von „de blauwe Vaan“ beauf-
tragt. Man sprach sich gegen die Spirituosenrationierung und gegen Er-
niedrigung der Abgabe auf gebrannte Getränke aus. Man will sich weiter
um die Einführung des Gemeindebestimmungsrechtes bemühen und demnächst
eine Schrift „Sport und Alkohol“ herausgeben. ((,Tel.“, 4. 8.)
Verschiedene alkoholgegnerischen Verbände haben an den Gemeinderat
einen Antrag eingereicht, daß in einer Reihe von Stadtbezirken
eo. 3 S i a keine Konzessionen mehr erteilt werden sollen. (,Ni. Rott.
our.“, 16. 7.
Polen. Nach „Glos Prawdy“, dem Organ Pilsudskys, ist der Staat im
Ree monopo um 250 Millionen Zloty betrogen worden; die Gewinne des
piritusmonopols, heißt es da, bleiben in den Taschen der Besitzer von
Spiritusbrennereien und Likörfabriken, die wie Pilze emporsprießen. („Kied.
tg.“ Nr. 405, 31. 8.)
Der Landesverband abstinenter Pfarrer hielt 27. 4. seine
Ver nung in Posen. 20 Prozent der Geistlichen gehören ihm an.
as Wichtigste, was die Tagung brachte, war die Anregung, dem Gemeinde-
blatte eine Blaukreuz-Beilage mitzugeben. („Christl. Abst.“, Nr. 4.)
Der Finanzminister hat eine ap erlassen, nach der das Alkohol-
monopol in die Grafschaften Bialastock, Lublin, Krakau und Schlesien mit
Stubbe, Chronik. 245
dem 1. Dezember d. J., in die Grafschaften Warschau, Lodz und Kielce mit
1. Januar 1927, in die Grafschaften Posen und Pommerellen mit 1. April 1927
eingeführt wird. („Mess Polon.“, 1. 9.)
Schweiz. Im Kanton Bern sind acht neue Jugendherbergen
errichtet. Auch in St. Moritz (Engadin) gibt es jetzt eine solche, wie dort
schon ein alkoholfreies Volksheim besteht. („Bl. Kr.“, 23. 7.)
In Zürich fand eine vom eidgenössischen Finanzamt einberufene Kon-
ferenz mit etwa 40 Vertretern der Gewerbebrennereien, Liköristen
und Spirituosenhändlern unter Vorsitz von Bundesrat Musy statt, wobei
auch die Alkoholverwaltung vertreten war. Die Konferenz erklärte sich damit
einverstanden, daß die genannte gewerbliche Herstellung von gebrannten
Wassern der Konzession zu unterstellen sei, und daß auch bei Hausbrenne-
reien (mit Ausnahme der Spezialitäten) die Abgabepflicht verbunden mit der
nanpi des Bundes für die erzeugten gebrannten Wasser festzusetzen
sei. Auch über die Entschädigungsfrage einigte man sich. („Bündn.
Bauer“, 3. 9.)
Vereinigte Staaten von Nordamerika. Die amerika-
nischen Farmer treten mehr als je für Prohibition ein. Ein Mr. Faber,
der alle 48 Staaten (mit Ausnahme von 5) bereist hat, berichtet an den Präsi-
denten Coolidge: „Vom Standpunkt des Geschäfts und Geldes aus ist es
wichtiger denn I das Staatsverbot aufrecht zu erhalten; denn es ist zum
großen Teil die Ursache unseres augenblicklichen Wohlstandes.“ (D. Alkohol-
gegner‘“, Nr. 10.)
Die Gesellschaft gegen das Prohibition Amendment
hat einen Sammelfonds von 300 000 Dollars Are el um in diesem
pure die Wahl nasser Kongreßleute zu unterstützen. Sie wirbt vor allem in
rauenkreisen um weitere Gelder. („The Am. Iss.“, No. 8.
Haiss, der Leiter des amerikanischen Filmwesens, erklärt, es würden die
Filme keinerlei Szenen vom Trinken, Herstellen oder Verkauf von Spirituosen
(En außer wenn dergleichen ein notwendiger Teil einer Erzählung sei.
Ebenda.
Das Recht der ausländischenDiplomaten, sich alkoholische
Getränke zu halten, ist eingeschränkt worden. Der Alkohol muß jetzt vom
Einfuhrbafen in eigenen Autos der Diplomaten nach Washington gebracht
werden. („Christl. Welt“, Nr. 18.)
Der Appellationsgerichtshof (United States Circuit Court of
Appeals) hat entschieden, daß die BeschlagnahmevonSpirituosen
innerhalb der Zwölfmeilengrenze ebenso aufdie fremden Schiffe
wie auf die amerikanische Flagge anzuwenden ist. („Neptune“, 2. 8.)
Veröffentlichungen mit Anzeigen von Spirituosen
dürfen nicht mehr in die Vereinigten Staaten eingeführt werden. Aus diesem
Grunde wurden z. B. einige Tausend Stück der Zeitschrift „The Rey of
London“ von den Hafenbehörden in Ney York angehalten. („Inform.“, 20. 8.)
Weil mit sakramentalem Wein Mißbrauch getrieben wurde, hat
Major Chester Mills, Prohibitionsverwalter des Bezirkes New York, den
Schluß von 250 Läden, die hiermit handelten, angeordnet; für jüdische Sakra-
mentsfeiern muß fortan der Wein von den Rabbinern bezogen werden. (,New.
York. Her.“, 20. 8.
- __, In New York wurden 27 Aerzte, 36 Apotheker und 14 Vertreter von
Distillerinen wegen Verletzung des Alkoholverbots vom großen Bundesgericht
verkla gt; die Aerzte und Apotheker sollen sich mit falschen Verordnungen
befaßt haben. („La Suisse“, 7. 8.)
Mitteilungen.
1. Aus der Trinkerfürsorge.
Rotterdamer Fürsorgestelle für Alkoholkranke.
(„Consultatie-Bureau voor Alcoholisme‘.)
Die Stelle zählt nach dem von ihrem Schriftführer, Herrn T. Vleeming,
erstatteten Jahresbericht für 1925 206 persönliche, 16 körperschaftliche Mit-
lieder und 84 Gönner. Sie hat neben jenem als ihrem „pädagogisch-sozialen
eiter“ einen ärztlichen Leiter (in ihrem zweiten Vorsitzenden) und einen
rechtskundigen Berater (im ersten Vorsitzenden). Zweimal in der Woche gegen
Abend hält der Fürsorgestellenleiter eine Sprechstunde für die zahlreich sich
einfindenden Besucher, während (in einem zweiten Zimmer) der ärztliche
Leiter in der Regel nur d i e Pfleglinge untersucht, die zum ersten Mal kommen.
Die Zahl der neu Gekommenen belief sich im abgelaufenen Jahr auf 383,
während es im Vorjahr 330 waren und die bisherige Höchstzahl 355 betragen
hatte. Außerdem empfing der Leiter noch 3186 Besuche von alten Pfleglingen
und solche von 214 Familiengliedern und 83 sonstigen Personen. Die meisten
kamen um Hilfe, Unterstützung oder Arbeit, ohne zu bekunden, daß sie unter
die Leitung der Fürsorgestelle kommen wollten; und wenn möglich, wird
ihnen ein anderer Weg gewiesen. Welchen Umfang die Arbeit angenommen
hat, zeigt die Tatsache, daß die Gesamtzahl der empfangenen Besuche 3953,
also durchschnittlich reichlich 41 auf die Sitzung betrug. Ausgeführt wurden
außer den Tausenden von Besuchen, die die Fürsorgerin machte, vom Leiter
persönlich 491 Besuche bei Pfleglingen, Familienangehörigen, Arbeitgebern,
Gerichten und Anstalten usw. |
Was das Alter der neuen Pfleglinge betrifft, so waren unter ihnen
31 unter 21 Jahren, davon 4 Mädchen.
Bezüglich der Artder mißbrauchten Getränke trat der Wein
neuerdings stärker hervor: 24 tranken Wein (meist neben Bier und vereinzelt
up). „Hübsche Namen (Chinawein, Blutwein, Fieberwein), die auf
falsche Bahn führen und der Bevölkerung suggerieren, daß Wein so
sei, Unkenntnis, daß auch im Wein zuweilen ziemlich viel Alkohol enthalten
ist, Nachäffung der begüterten Stände, um bei allerlei Gelegenheiten Wein
auf der Tafel zu haben, der niedrige Preis des vornehmen Getränks .. ..
die bequeme Möglichkeit, Wein in Läden aller Art zu bekommen — dies
scheinen mir die Hauptursachen, die den Weinverbrauch in letzter Zeit so
stark zunehmen ließen.“ Die Verhältniszahl der Trinker, die sich nur an
starke Getränke halten, ist seit 1917 sehr stark zurückgegangen, ebenso bei
den ungefähr in gleichem Maße Bier und Schnaps Trinkenden, während die
Zahl der ausschließlichen Biertrinker beträchtlich gestiegen ist. „Wo bleibt
die „Unschuld“ des Bieres, wenn man bedenkt, daß in 291 Trinkerfällen, d. ı.
81 v. H., das Bier die beherrschende Rolle spielt?“
Hinsichtlich des Erfolges der Betreuung wird berichtet, daß von den
Pfleglingen, die auf eine Aufforderung im ae einer Geldstrafe
öffentlicher Trunkenheit erschienen, nur 22 v. H. es zur Enthalts t
brachten, woran nach dem Bericht höchstwahrscheinlich die Zunahme des als
harmlos geltenden Bierverbrauchs mit beteiligt ist.
Mitteilungen. | 247
Die soziale und sittliche Bedeutung der Trinkerfürsorge wird u. a. da-
durch beleuchtet, daß die enthaltsam Gewordenen und die bedeutend Ge-
besserten zusammen 225 Kinder hatten: „Für diese 225 Kinder wird die Für-
sorgestelle ganz sicher sehr viel günstigere Lebensverhältnisse geschaffen
haben, als die waren, in denen sie vorher lebten.“
Als Lohn und Renten nahm die Stelle 1925 2142 Gulden in Empfang
und vom ‚Sozialen Hilfsdienst“ 528 Gulden zu wöchentlichen Auszahlungen
an Krankenunterstützungsempfänger. Spargelder von Pfleglingen wurden emp-
iangen und verwaltet 2390 Gulden.
Dem Bericht des ärztlichen Leiters ist zu entnehmen, daß bei den
172 Pfleglingsfamilien mit Kindern 66 Fehlgeburten, d. 6. 8,42 v. H. (im Vor-
jahr 11,13 v. H.), vorkamen. Auch die Kindersterblichkeit war — wie nach
den sonstigen Erfahrungen — groß: 156 von 784 Kindern, d. s. 20 v. H.
(im Vorjahr 28,43 v. H.). Der vierte Teil der Betreuten hatte an Geschlechts-
krankheiten gelitten — „ein deutlicher Beweis für den engen Zusammenhang
zwischen Bacchus- und Venusdienst“.
Insgesamt verzeichnet die Fürsorge in den 14 Jahren ihres Bestehens
2455 Pfleglinge, von denen die kleinere Hälfte, gut 48 v. H., in Behandlung
blieben, von welchen wieder zwei Drittel es zur Enthaltsamkeit a
2. Aus Vereinen.
Jahresversammlung des Deutschen Vereins gegen den
Alkoholismus, Barmen, 26.—29. September 1926.
Der Deutsche Verein gegen den Alkoholismus hielt in den letzten
Septembertagen in Barmen seine aa nn ab, mit der die 13. Kon-
ferenz für Trinkerfürsorge und die Tagung des Verbandes der Trinkerheil-
stätten des deutschen Sprachgebietes verbunden waren.
Ein Radiovortrag und Gottesdienste mit alkoholgegnerischen Predigten
gingen der Tagung voraus. In der (nicht öffentlichen) Sitzung des Ver-
waltungsausschusses des Deutschen Vereins wurden eingehende Berichte über
die Arbeit des verflossenen Jahres erstattet, darunter ın sehr anschaulicher
Darstellung über den Kampf um das Gemeindebestimmungsrecht. Der Haupt-
versammlung war das Thema: „Schutz der Jugend gegen die Alkohol-
fahren“ gestellt. Dem meisterhaften Einleitungsvortrage des Studienrats
erbitz, der die Forderungen moderner Erziehung zur Alkoholfrage
zusammenfaßte, folgte eine Reihe kürzerer Ansprachen aus verschiedenen
Lebens- und Erziehungskreisen: Für die Frauen und Mütter sprach Frau
E. Krukenberg-Conze, für die Reichsarbeitsgemeinschaft für alkohol-
freie Jugenderziehung Professor Dr. Strecker. Der bekannte Sportsmann
Dr. Peltzer erörterte die Möglichkeiten, im Rahmen der körperlichen und
portiichen Erziehung der Alkoholismusbekämpfung gereci zu werden.
eitere Ansprachen erfolgten aus den Kreisen der Schulen, der Jugend- und
Wohlfahrtsämter, der Jugendbewegung, und der Jugendpflege.
Im Zusammenklang mit der Hauptversammlung veranstaltete die Barmer
Lehrerschaft am gleichen Tage (nachmittags) eine Konferenz, in der Lehrer
Temme aus Nordhausen einen längeren Vortrag hielt und Lehrer Hüff-
mann (Düsseldorf) eine Lehrprobe gab.
Die Ergebnisse der Verhandlungen dieses Tages wurden in der folgenden
Entschließung zum Ausdruck gebracht:
race ung Anpreisung und Anbieten alkoho-
lischer Getränke steigt beständig. Dadurch sehen wir
vorallemdie Jugend aufsschwerstebedroht.
Zum Schutz unserer Jugend gegen die Alkohol-
geiahren erbitten, erwarten und fordern wir daher:
248 Mitteilungen.
Von jedem einzelnen — zumal in verantwortlicher
Stellung —: Einsicht in die deutsche Alkoholnot und ihre Ursachen —
u. ußtsein seiner Mitverantwortlichkeit für die Zukunft unseres
olkes.
Im besonderen:
Von a Ei ung und Reichstag, von den nach-
geordneten Staats- und Gemeindebehörden:
Endliche Durchführung der bestehenden Schutz-
bestimmungen — Verbot jeder Abgabe alkoholischer
Getränke und Genußmittel an Jugendliche unter 18
Jahren; besonders: baldigstes Verbot der Abgabe alkoholischer Getränke
und Genußmittel auf Turn-, Spiel- und Sportplätzen, bei Schul- und Jugend-
festen, an denen Jugendliche beteiligt sind — Verbot jeglicher Alkoholrekliame
an und in Verkehrsmitteln und öffentlichen Gebäuden — Zuziehung der
Jugendämter, Elternvertretungen und alkoholgegnerischen Vereine zur Be-
ratung über Schankerlaubnisse.
VondenKirchen:
Tiefgehende Behandlung unserer Alkoholnot im
Religions- und Konfirmanden- (Kommunion-) Unter-
richt, in Kindergottesdienst und Seelsorge — Vermehrie
Gründung und Förderung alkoholgegnerischer Jugend- und Kampigruppen —
Alkoholfreiheit aller kirchlichen Jugendfeste.
Von Unterrichtsverwaltung und Lehrerschaft:
Aufnahme der Alkoholfrage in die Lehrpläne sämt-
licher Schulen, grundlegend in die Ausbildung der
Lehrer selbst — durch Staatsbeihilfen und Beurlaubung ausgiebig
unterstützte Kurse für Lehrer und Junglehrer — zielbewußte Förderung des
Nüchternheits-Wanderunterrichts für die Uebergangszeit — Ausrüstung der
einzelnen Schulen mit den nötigen Fachschriften und gutem Anschauungs-
stoff — Versorgung aller Schüler der Oberstufe miteinem
guten Handbüchlein über die Alkoholirage — Aufklärung
der Eltern über die Alkoholgefahren — Empfehlung und Förderung des
„Goldenen Buches“ — Pflege des Jugendwanderns, echten Volksliedes und
edler Geselligkeit — Alkoholfreiheit aller Schulfeste als
selbstverständliche Pflicht für Schüler und Lehrer wie
auch für alle Gäste — Förderung des Milch- und Obst-
genussesinden Schulen und durch die Schulen.
Von Wohlfahrts- und Jugendpflege:
Alkoholfreiheit der Spiel- und Sportplätze als Vor-
bedingung jeder öffentlichen Unterstützung unter Vor-
sorgefür gutealkoholfreie Erfrischungsmöglichkeiten
— ar E der öffentlichen Jugendtage zu vorbildlichen Volksiesten
ohne Alkohol und Nikotin — weitgehende Förderung alkoholfreier Jugend-
heime und -Herbergen, Pflege echten Volksliedes und edler Geselligkeit —
von allen beamteten Jugendpflegern das Beispiel der
Enthaltsamkeit.
VondenTurn-undSportführern:
Aus dem Willen zu innerer Zucht und höchster
Leistungsfähigkeit das Vorbild der Enthaltsamkeit —
entschlossenes und zähes Eintreten für Säuberung der
Turn- und Sportplätze von Alkoholund Nikotin — plan-
mäßige Fiziehung ihrer Jugend zu einem von Alkobol
und Nikotin unabhängigen Leben.
Von den Gastwirten:
Vertieftes Bewußtsein ihrer großen Verantwortun
gegenüber der heranwachsenden Jugend — Ausschlu
gewissenloser Elemente aus ihren Standesvereinen —
Mitteilungen. 249
Bereitstellung guter und preiswerter alkoholifreier
re (namentlich Milch und unvergorener Obst-
sälte).
Von den deutschen Eltern:
Das Vorbild, das ihre Kinder brauchen — Schärfung des Wissens und
Gewissens der Kinder gegenüber der deutschen Alkoholnot — un-
bedingte Bewahrung der Kinder vor Alkoholgenuß.
Von der organisierten Jugend:
Tatkräftiges Eintreten für Sicherung alkoholfreien
Jugendlebens — bewußte Mitarbeit am Aufbau einer alkoholfreien Ge-
selligkeit — unbedingte Ablehnung der überlebten Trink-
sitten aus Gründen der Reinheit und Männlichkeit, der
ErhaltungundEntfaltung deutscher Volkskraft — Treue
zu der in der Jugendzeit gewonnenen Unabhängigkeit
von Alkohol und Nikotinauch imspäteren Leben.
Halte keiner sich für zu gering oder zu einflußlos,
hier sein Bestes miteinzusetzen! Helfe jeder mit, die
gesellschaftliche und berufliche Stellung aller derer
zu stärken, die sich für diese Ziele einsetzen! Nur tat-
kräftiges, hingebendes Zusammenwirken aller ver-
bürgt eine bessere Zukunft. Aufjedeneinzelnen kommt
esan!“
Außer der Versammlung des Verbandes der Trinkerheilstätten und der
ESEL LIU OIE On Senn. in denen dringende De Fragen erörtert
wurden, brachte die Tagung noch verschiedene Veranstaltungen, von denen
die im Barmer Vereinshause abgehaltene Volksversammlung besonders
hervorgehoben zu werden verdient. Den Hauptvortrag in dieser Versamm-
lung hielt der bekannte Jenenser Volkswirtschaftler Professor Dr. Keßler,
der die Frage: „Werden wirklich Millionen von Existenzen vernichtet, wenn
weniger getrunken wird?“ miit wissenschaftlicher Gründlichkeit und in einer
sehr glücklichen volkstümlichen Form beantwortete.
An die Tagung des Deutschen Vereins knüpfte sich eine Fahrt nach
Düsseldorf zur ıchtigung. der Hygiene-Ausstellung. K
rt.
Hauptversammlung des Deutschen Frauenbundes für
alkoholfreie Kultur, Leipzig, 26.—29. September.
Der Deutsche Frauenbund für alkoholfreie Kultur hielt in Leipzig seine
14. Hauptversammlung vom 26.—29. September ab, die von 43 egierten
aus 56 Vereinen und vielen Mitgliedern und Gästen auch aus Oesterreich
und Dänemark besucht war. Neben theoretischer Arbeit leistete der Bund
raktische durch Einrichtung alkoholfreier Gaststätten, Milchhäuschen und
edigenheime. Durch allgemeine Aufklärung, alkoholfreie Erziehung der
Jugend, Einführung von Nüchternheitsunterricht in den Schulen und durch
die Bekämpfung der die persönliche Freiheit des Einzelnen beschränkenden
aa glaubt er seinem Ziel, eine alkoholfreie Kultur zu schaffen, näher
zu kommen.
In einer öffentlichen Versammlung sprach Landtagsabgeordnete Frau
Planck, Württemberg, über das Thema: „Zeitgemä mstellungen in
der Haus- und Volkswirtschaft“. Eine Entschließung wurde einstimmig an-
genommen, die lautet wie folgt:
„In Erkenntnis der steigenden Alkoholnot unseres Volkes richten wir an
alle deutschen Frauen und Mütter die dringliche Aufforderung, an der
alkoholfreien Jugenderziehung mitzuarbeiten und eine von Rauschgetränken
Pa edle Geselligkeit heranzubilden, wozu die Anfänge schon gegeben
sind.
250 Mitteilungen.
Von den deutschen Regierungen, den maßgebenden Behörden und den
Gemeindeverwaltungen erwarten wir, daß sie dem immer noch zunehmen-
den Alkoholismus ihre Aufmerksamkeit schenken, an der Volksaufklä
über das Wesen des Alkohols mitwirken und ein Schankstättengesetz
schaffen, daß die Jugend ausgiebig vor dem Alkohol schützt und ferner die
Zahl der Schankstätten allmählich und planmäßig vermindert.“
In einer zweiten öffentlichen Versammlung behandelte Frau Babette
Oldenberg, Göttingen, das Thema: „Was können wir für den
lichen Schutz der Trinkerfrauen und -Kinder tun?“ Auch über diese
brennende Frage wurde eine Entschließung folgenden Inhalts einstimmig
angenommen:
„In ernster a um das Schicksal der stetig wachsenden, großen
Zahl von Frauen und Kindern, die schutzlos den brutalen Angriffen und
Mißhandlungen ihrer durch den Rausch geistesgestörten Männer und Väter
ausgesetzt sind, richtet eine am 28. 9. 26 vom Deutschen Frauenbund für
alkoholfreie Kultur ins Königin-Luisehaus in Leipzig einberufene Ver-
sammlung an die Reichs-, Landes- und Gemeindebehörden die dringende
Aufforderung, gesetzliche Maßnahmen zu schaffen, um diesem furchtbaren
Notstande zu begegnen.
Im Entwurf zur Strafgesetzrefiorm ist bereits die Verbringung von
straffälligen Trunksüchtigen in eine Trinkerheilanstalt vorgesehen. Wir
fordern, daß die darauf bezüglichen Bestimmungen schon jetzt auf dem Ver-
ordnungswege geregelt werden. Wir fordern ferner einen weg zur schnellen
Internierung von Gewalttätigen und die Schaffung von geschlossenen Heil-
stätten für Trunksüchtige“. Str.
Aus der Jahresversammlung der Deutschen Gesellschaft
zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten.
In der am 18. September abgehaltenen Jahresversammlung der Deutschen
Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten ist auch die Alkohol-
frage erörtert worden. Die Ortsgruppe Frankfurt a. M. hatte im Ausschuß
beantragt, es möge die DGBG. bei den gesetzgebenden Instanzen des Reiches
und der Länder die Forderung um Unterdrückung bzw. Aufhebung der
Animierkneipen, Bars und aller gen durch Förderung des Alkohol-
mißbrauches zur Verbreitung der Geschlechtskrankheiten unter dem Einfluß
des Alkohols führenden Lokale erheben.
Begründung: Nachdem durch eine skrupellose Agitation die Aul-
nahme des Gemeindebestimmungsrechts in das kommende Schankstätten-
gesetz verhindert worden ist, nachdem weiter dieselbe Agitation bereits ein-
gesetzt hat, um eine Einschränkungsmöglichkeit gegenüber den zum Alkohol-
mißbrauch ausartenden Betrieben zu verhindern, ist im Interesse der Be
schränkung des zu gemeingefährlicher Ausbreitung der Geschlechtskrank-
heiten führenden Animierkneipenwesens unabhängig von dem Schankstätten-
gesetz die Eindämmung des A De unerlaßlich, die nur durch
ein radikales, auch die Umgehung schari bestrafendes gesetzgeberisches Vor-
gehen möglich ist.
Der Verhandlungsbericht gibt die folgende Aussprache wieder:
Professor Stern schlägt vor, den Antrag einstimmig abzulehnen.
Professor Hoffmann fragt, ob dieser Äntrag nicht schon von anderer
Seite durchgeführt ist, insbesondere ob nicht rdamen usw. einer ge
sonderten Ueberwachung zugeführt werden können.
Vorsitzender betont den Standpunkt, daß es richtig sei, immer
wieder die Beziehungen zwischen Alkohol und Geschlechtskrankheiten
hervorzuheben, und daß die DGBG in allererster Linie verpflichtet ist, dazu
etwas zu tun. Er glaubt, daß die vorliegende Fassung etwas zu weit gehl.
Frau Fritsch: Die DGBG muß zu der neuen Gesetzgebung Stellung
nehmen, nachdem das Gemeindebestimmungsrecht abgelehnt worden ist. Wir
wollen verlangen, daß dem überhandnehmenden Animierkneipenwesen ge
Mittellungen. : 251
steuert wird. Im Kriege ist es möglich gewesen, dagegen vorzugehen, es
muß auch jetzt wieder gelingen.
Professor Flesch wünscht eine scharfe Fassung, nachdem er jetzt
wieder die Erfahrung gemacht, daß in einem Artikel von Müller de la Fuente
die Beziehungen zwischen Alkohol und Geschlechtskrankheiten als sehr
geringe hingestellt werden. Es muß energisch betont werden,
daßwiraufeinemanderen Standpunkt stehen.
Vorsitzender: Es handelt sich also jetzt um die Frage, ob die Ver-
sammlung den Antrag der Ortsgruppe in der eingebrachten Fassung an-
nehmen will oder in einer vom Vorstand auszuarbeitenden Form.
Es wird beschlossen, die endgültige Fassung zwischen der Ortsgruppe
Frankfurt und dem Vorstand zu regeln, und jetzt nur zu beschließen, daß
ein Antrag an die Regierung und die gesetzgebenden Körperschaften in
diesem Sinne zu richten ist. _
3. Verschiedenes.
Der Völkerbund und die Alkoholfrage.
Im September 1925 versammelte sich in Genf eine internationale Kon-
ferenz gegen den Alkoholismus, an der sich 15 Regierungen vertreten
ließen, um die internationalen Probleme, die in Beziehung zur Alkoholfrage
stehen, Kies zu prüfen: Konflikte zwischen Alkohol ausführenden
Staaten und Staaten mit strenger OB SE LE, Alkohol in den
Kolonien, internationale Bekämpfung des Alkoholschmuggels usw. Unter
den von der Konferenz angenominenen Entschließungen befand sich auch
ein allgemeiner Wunsch, der Völkerbund möge sich mit der Alkoholfrage
befassen, wie er es schon mit der Opiumfrage tut. Nachdem dieser Wunsch
zur Kenntnis mehrerer Regierungen gebracht worden war, beschloß die
finnländische Regierung, die Sache vor den Völkerbund zu bringen und
ihre Delegation an der VII. Le u UNE des Völkerbundes wurde damit
beauftragt, einen diesbezüglichen Antrag der Versammlung zu unterbreiten.
Nachdem die Delegation ihren Antrag samt Begründung aufgestellt hatte,
setzte sie sich mit der schwedischen und polnischen Delegation in Verbin-
dung, die den Antrag durch ihre Unterschrift zu unterstützen beschlossen.
Die Minister des Auswärtigen von Belgien und der Tschechoslowakei
hatten schon früher ihre grundsätzliche Zustimmung gegeben, konnten aber
aus verschiedenen Umständen den Antrag nicht unterzeichnen, obgleich sie
ihn vollständig billigten. So haben am 14. September die Herren Setälä,
Minister des Auswärtigen und erster Delegierter von Finnland, Zaleski,
Minister des Auswärtigen und erster Delegierter von Schweden der Ver-
sammlung des Völkerbundes folgenden Antrag gestellt: „Die Versammlung
des Völkerbundes wird ersucht, zu beschließen, daß die Prüfung der
Alkoholfrage ins Arbeitsprogramm des Völkerbundes aufzunehmen sei und
den Völkerbundsrat zu bitten, die nötigen Maßnahmen zu treffen.“ In der
Begründung dieses Antrages betonen die drei Delegationen, daß der Völker-
bund immer mehr dazu gebracht wird, sich mit der Alkoholfrage zu be-
fassen. So hat die konsultative Kommission zum Kinder- und Frauenschutz
beschlossen, die Alkoholfrage, soweit sie in Beziehung zu ihrer besonderen
Arbeit steht, zu verfolgen. Dann hat die Mandatkommission die Einfuhr und
den Verkauf der alkoholischen Getränke in den Mandatgebieten zu kontrol-
lieren. Dazu empfindet man in den zivilisierten Ländern das Bedürfnis
einer leitenden internationalen Aktion gegen den Alkoholismus, nämlich in
der Frage des Alkoholschmuggels, die erst dann in befriedigender Weise ge-
löst werden kann, wenn allgemeine Vereinbarungen gegen den Schmuggel
getroffen werden.
Eine solche Aktion von seiten des Völkerbundes wird schon seit man-
chen Jahren von den Alkoholgegnern gewünscht. Die internationale Studien-
konferenz in Paris 1919, die Genfer Konferenz 1925 und endlich der
252 Mitteilungen.
18. internationale Kongreß gegen den Alkoholismus in Dorpat in diesem
Jahre haben sich in diesem Sinne geäußert, daß der Völkerbund sich mit der
internationalen Seite der Alkoholfrage zu befassen habe. Es gib:
Divergenzen in der Alkoholfrage, sagt der Bericht der drei Delegierten, es
gilt jetzt, die Frage sorgfältig zu prüfen, um die richtigen Maßnahmen vor-
zubereiten. Eine solche Arbeit, die die verschiedenen Regierungen im Geiste
des Völkerbundes und auf der Grundlage unparteiischer, wissenschaftlicher
Untersuchungen gemeinsam unternehmen würden, hätte ganz sicher eine
segensreiche Wirkung.
Nach der Arbeitsordnung der Völkerbundsversammlung müssen alle
der Versammlung unterbreiteten Anträge zuerst an die Tagesordnungs-
kommission überwiesen werden, die ihrerseits der Versammlung Anträge
stellt, wie die betreffenden Propositionen zu behandeln seien. Die Tages-
ordnungskommission, an deren Spitze Lord Robert Cecil steht, beschloß nun.
in Anbetracht der großen Bedeutung der Alkoholfrage und der Tatsache.
daß eine eingehende Prüfung des Antrages der Delegationen amı Ende der
Session nicht gut möglich wäre, der Versammlung vorzuschlagen, die Frag:
in der nächsten Session zu behandeln, was von der Versammlung, auch von
den Antragstellern, einstimmig angenommen wurde. Wir werden also im
paar 1927 eine große Alkoholdebatte in der Völkerbundsversammlung
aben. Uebrigens hat man sich auch mehrere Male in der gegenwärtigen
Session mit der Alkoholfrage beschäftigt. Nicht nur, daß die Mandatkom-
mission 0 Jahr über die Alkoholfrage in den Kolonien Bericht erstattet
hat, sondern auch in der V. Kommission, die sich mit der humanitären und
sozialen Tätigkeit des Völkerbundes befaßt, hat man den Bericht der Kom-
mission für Kinder- und Frauenschutz eingehend geprüft, und nach einer
lebhaften Debatte haben sowohl die V. Kommission als auch die Ver-
sammlung der Kommission zugestimmt in diesem Wunsche, auch die
RUE: in ihren Beziehungen zur Kinder- und Frauenfrage zu ver-
gen.
Die von der 7. Versammlung des Völkerbundes gefaßten Beschlüss
bedeuten eine wichtige Etappe im Kampfe gegen den Alkoholismus. Selbst-
verständlich wird die Alkoholfrage immer vor allem eine nationale Frage
bleiben, sie hat aber auch eine internationale Seite. Es ist gut, daß unter der
Leitung des Völkerbundes die verschiedenen seeng sich verständigen.
um die beste Lösung für das internationale Alkoholproblem zu finden. 3
tr.
Die Polizeistunde in europäischen Großstädten.
In einem Erlaß, der mit dem 20. Oktober d. J. in Kraft getreten ist, ha:
der Preußische Minister des Innern die Bestimmungen über die Polizei-
stunde in Preußen geändert. Trotz zahlreicher Mahnungen, die dem Mini-
sterium aus den Kreisen sozialer Organisationen zugegangen sind, hat der
Minister sich dazu verstanden, eine Aenderung zu treffen, die wenigstens
für Berlin eine wesentliche Hinausschiebung der Polizeistunde bedeutet.
In den preußischen Städten mit 100000 bis 300000 Einwohnern gilt
jetzt 1 Uhr nachts als Polizeistunde, in den preußischen Städten mit mehr
als 300 000 Einwohnern 2 Uhr nachts und in Berlin 3 Uhr nachts. „Bei
nachgewiesenem Bedürfnis‘ sind die örtlichen Polizeibehörden befugt, noch
weitere Verlängerungen der Polizeistunde zuzulassen. Schon kurz nach In-
krafttreten dieser ministeriellen Verordnung hat sich gezeigt, was von den
meisten Sachkundigen vorausgesehen war, nämlich, daß die überwiegende
Mehrheit der Berliner Bevölkerung ein Bedürfnis nach Verlängerung der
Polizeistunde nicht empfindet. Mit unglaublicher Frivolität wird von den-
selben Tageszeitungen, die den Wirten weitestgehende Helferdienste ge-
leistet hatten, jetzt erklärt, daß der Berliner erst wieder zur Unsolidität
erzogen werden müsse. In Wirklichkeit hat der Preußische Minister des
Innern lediglich einer ganz dünnen Interessentenschicht einen wirtschaft-
lichen Vorteil gesichert, der vom volkswirtschaftlichen Standpunkte aus ge-
Mitteilungen. 253
sehen, jeder Berechtigung entbehrt. Die einzige anerkennenswerte Verfügung
in diesem Erlasse, dıe für die Morgenstunden von 6 bis 8 Uhr ein Brannt-
weinverbot anordnet, bestand schon früher.
Die Deutsche Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus hat, als der
neue Erlaß des Preußischen Ministers erwartet wurde, eine Rundfrage bei
den Polizeidirektionen europäischer Großstädte veranstaltet, um testzu-
stellen, welche Bestimmungen über die Polizeistunde in diesen Städten
gelten. Die eingelaufenen Antworten zeigen, daß Berlin auf Grund des
neuen Erlasses tatsächlich die späteste Polizeistunde besitzt, und daß nur in
anz wenigen Großstädten, praktisch genommen, geringere Beschränku
es Alkoholausschanks bestehen, als dies in Berlin der Fall ist. Wir g
im folgenden eine kurze Uebersicht der von der Deutschen Reichshaupt-
stelle festgestellten Polizeistunden-Bestimmungen:
In ien unterscheidet man zwischen Branntweinschenken und
anderen Schankstätten. Die ersteren dürfen wochentags von morgens 6 Uhr
bis 7 Uhr abends ausschenken, müssen an Sonn- und einigen hohen Fest-
tagen aber ganz schließen, an anderen Festtagen mittags um 12 Uhr. Sonn-
abends ist der Ausschank von 6 Uhr morgens bis 5 Uhr nachmittags ge-
stattet. Ausnahmen werden grundsätzlich nicht zugelassen. Die übrigen
Schankstätten dürfen von moram 6 bis nachts 12 Uhr (Kaffeehäuser bis
1 Uhr) geöffnet sein. Einwandtreien Betrieben werden auf Antrag gelegent-
lich Verlängerungen zugebilligt.
In London dürfen die Schankstätten wochentags nur 9 Stunden lang
in den Vororten 8 bis 8; Stunden) geistige Getränke ausschenken, an
nn- und Festtagen nur 5 Stunden, und zwar findet der Ausschank statt
im Zentrum der Stadt und im Westen wochentags 11 Uhr 30 morgens bis
3 Uhr nachmittags und 5 Uhr 30 nachmittags bis 11 Uhr abends; a
von 12 Uhr 30 nachmittags bis 2 Uhr 30 nachmittags und 7 bis 10 Uhr
abends. Für das übrige London sind die Ausschankzeiten wochentags
ii Uhr vormittags bis 3 Uhr nachmittags und 5 Uhr nachmittags bis
10 Uhr abends, Sonntags von 12 Uhr mittags bis 2 Uhr nachmittags und
7 bis 10 Uhr abends. Während der Sperrstunden am Mittag, in denen der
Alkoholausschank verboten ist, brauchen die Wirtschaften nicht zu
schließen, sie tun es aber meistens.
In Rotterdam wird der Alkoholausschank von morgens 5 Uhr bis
12% Uhr nachts (Sonnabends 1 Uhr) zugelassen.
In Amsterdam geht die Schankzeit im allgemeinen von 6 Uhr (im
Winter von 7 Uhr) morgens bis 12 Uhr nachts. Eine Verlängerung bis
] Uhr nachts bedarf der besonderen Erlaubnis des Bürgermeisters.
Im Haag ist die Frühpolizeistunde im Sommer 5 Uhr, im Winter
6 Uhr, die abendliche Schlußstunde 12% Uhr (Sonnabends 1% Uhr) nachts.
Verlängerungen kann der Bürgermeister gestatten.
In Oslo unterscheidet man drei Gruppen von Schankstätten, die
Wein und Bier von morgens 8 Uhr bis nachmittags 5 Uhr bzw. 10 oder
12 Uhr abends ausschenken dürfen. Sonntags haben alle Wirtschaften erst
von 12 Uhr mittags aı den Ausschank frei. Branntweinausschank ist —
auch nach der Volksabstimmung am 18. Oktober d. J. einstweilen noch —
ım ganzen Lande verboten.
in Kopenhagen dürfen die Wirtschaften um 5 Uhr morgens
öffnen, aber erst von 8 Uhr an ist der Alkoholausschank frei 3
Polizeistunde ist 12 Uhr nachts. 75 Wirte dürfen gegen eine Sondersteuer
ihre Gäste bis 1 Uhr, 25 Wirte ebenfalls gegen eine erhöhte Sondersteuer
bis 2 Uhr behalten. Kein Gast aber darf auch in den zugelassenen Aus-
nahmefällen nach 12 Uhr ein Lokal betreten. Neuerdings ist die Polizei
geneigt, einer noch größeren Zahl von Wirten die verlängerte Schlußstunde
zuzugestehen.
‚In Stockholm ist der Ausschank geistiger Getränke von 12 Uhr
mittags (Wein von 9 Uhr morgens) bis 10 Uhr abends gestattet, Sonntags
254 Mitteilungen.
überhaupt und wochentags vor 3 Uhr nachmittags darf der Ausschank nur
bei Mahlzeiten erfolgen. Während des Hauptgottesdienstes ist jeder Aus-
schank verboten. Verlängerung der Ausschankzeit gestattet das Oberstatt-
halteramt meistens nur bis 12 Uhr nachts, der Aufenthalt im Lokal ist den
Gästen allerdings bis 1 Uhr nachts gestattet.
In Moskau dürfen Wein- und Kolonialwarenhandlungen von 9 Uhr
(bzw. 8 Uhr) morgens bis 7 Uhr (bzw. 11 Uhr) abends ausschenken. Die
Ausschankzeit für Kaffee-, Gast- und Speisehäuser mit Bierausschank geht
von 9 Uhr morgens bis 11 Uhr abends. Einige Ausnahmen werden bis
Ne en zugelassen. An Festtagen müssen alle Schankstätten geschlossen
eiben.
In Zürich geht die Ausschankzeit von 5 Uhr morgens bis 12 Uhr
nachts. Der Kleinverkauf geistiger Getränke in Konditoreien und Geschäften
ist wochentags bis 7 Uhr abends gestattet, Sonntags in Konditoreien von
10% Uhr morgens bis 8 Uhr abends. In den Läden ist Sonntagsruhe.
Die Schankzeit in Bern ist von 5 Uhr morgens bis 11 Uhr abends
(Sonntags 12 Uhr).
In Bukarest ist die Polizeistunde für die meisten Wirtschaften 1 Uhr
nachts. Die Kabaretts, die um 11 Uhr abends erst öffnen dürfen, haben bis
3 Uhr nachts Erlaubnis.
In Italien ist der Alkoholausschank durchweg von 10 Uhr mor
(Feiertags 11 Uhr) bis 11 Uhr abends (im Winter bis 10 Uhr abends) gestattet.
An Feiertagen und Wahltagen ist der Branntweinausschank und -Verkauf
völlig verboten. Verlängerungen der Ausschankzeiten dürfen die Präfekten
bzw. die Polizeibehörden gestatten. Ro m hat von dieser Erlaubnis Gebrauch
gemacht und für kleinere Speise- und Wirtshäuser, in denen Wein verabfolgt
wird, die Polizeistunde auf 12 Uhr nachts festgesetzt. Kaffeehäuser, Bars
u. ä. Lokale müssen um 1 Uhr schließen.
In Warschau, Budapest und Paris sind die Beschränkungen
des Alkoholausschanks durch die Polizeistunde praktisch sehr gering.
Warschau gestattet den Alkoholausschank offiziell von 9 Uhr
morgens bis 11 Uhr abends bzw. 1 Uhr, fast alle größeren Restaurants sind
aber gegen Entrichtung einer Steuer die ganze Nacht geöffnet. Der Bramt-
weinausschank und -Verkauf ist allerdings von Sonnabend nachmittags
3 Uhr bis Montag morgens 10 Uhr gesetzlich nicht gestattet.
Eine ähnliche Einschränkung kennt Budapest, das Sonntags den
Branntweinausschank vollständig verbietet und den Verkauf von Wein,
Most und Bier an Feiertagen nur morgens von 7 bis 9 Uhr zuläßt. Im
übrigen aber ist der Ausschank geistiger Getränke von 5 Uhr mor bis
2 Uhr nachts (Kaffeehäuser 3 Uhr) erlaubt. Verlängerung der ankzeit
kann auf Antrag von Fall zu Fall bewilligt werden.
Paris besitzt keine besonderen Beschränkungen des Branntwein-
ausschanks. Die Schankzeit für geistige Getränke reicht im allgemeinen von
4 Uhr morgens bis 2 Uhr nachts. ee ee wird auf Antrag bewilligt.
Einzelne Schankstätten (in der Nähe der Bahnhöfe und Markthallen) haben
ohne weiteres die ganze Nacht offen. Weihnachten, Ostern und am National-
tag (14. Juli) besteht überhaupt keine Einschränkung durch die Polizei-
u R.Kraut.
50 Jahre Antialkoholarbeit in Japan.
Bericht der „Awoki Antialkohol-Stiftung“ Shaker. von ihrem Schriftführer
T. Chiba, Tokio) an den 18. Internationalen Kongreß gegen den Alkoholismus.
übersetzt von J. Flaig:).
Da die Religion Buddhas mit ihrer strengen Alkoholenthaltsamkeits-
vorschrift in Japan schon vor rund 1300 Jahren eingeführt worden ist, kana
a geben diesen Bericht, der gegenüber dem kurzen geschichtlichen Ueberblick In
H.1 1 (S. 32—34) ein abgerundeteres und bis zur Gegenwart fortgeführtes, dabei in manchen
Punkten genaueres Bild bietet, gern (etwas gekürzt) hier wieder.
Mitteilungen. l 255
man annehmen, daß der Verbotsgedanke in Japan schon eine lange Ent-
wicklung hat; und in der Tat ergingen auch in den verschiedenen Zeiten der
japanischen Geschichte kaiserliche Erlasse ‚gegen das Trinken — das erste
erbotsgesetz ist nach den geschichtlichen
in Kraft getreten.
Andererseits ist die Alkoholfrage in Japan lange Zeit als eine persönliche
Angelegenheit oder vielmehr Nüchternheit als eine persönliche Tugend an-
en worden, und die Antialkoholbewegung im heutigen
inne ist eigentlich erst seit der Einführung des Protestantismus vor un-
ned 60 Jahren in Fluß gekommen, seit der Zeit, da Japan abendländische
edanken und Gesittung aufzunehmen begann.
Die erste japanische Nüchternheitsbewegung wurde im Jahre 1875 von
einigen Mitgliedern der japanischen Presbyterianischen Kirche in Yokohama
gegründet, aber erst um 1886 nahm sie feste Gestalt an. Das Widerstreben
er Oeffentlichkeit gegen Bekundung antialkoholischer Bestrebungen war
damals so bitter wie die Verfolgung des christlichen Glaubens.
1877.wurde dann in Kyoto von Studenten der buddhistischen Schule in
Verbindung mit der führenden buddhistischen Religionsgemeinschaft (Nishi-
Honganji) ein zweiter alkoholgegnerischer Verein gegründet; es war der erste
auf den Grundsätzen des Buddhismus beruhende. Diese Vereinigung ent-
wickelte sich später zu einem starken nationalen Nüchternheitsverband mit
vielen Tausend Mitgliedern; es folgte aber bald ein Gegenschlag, infolge
dessen er zusammenschmolz und aufgelöst wurde. Doch bestehen noch etwa
50 buddhistische Ortsvereine dieser Art wenn auch ohne Anschluß an den
Nationalen Bund.
1887 wurde in Hokkaido (der Nordinsel Japans) eine weitere Vor-
kämpfervereinigung in Verbindung mit der Unabhängigen christlichen Kirche
von Sapporo ıns Leben gerufen. Kazutaka Ito, jetzt im Nationalen Bund,
war damals einer ihrer Führer. 1883?) folgte in Tokio der japanische. christ-
liche Frauen- und Enthaltsamkeitsbund unter der Leitung von Frau Mary
Clement Leavitt und Frau Kaji Yajima.
Im Jahre 1890 hielt Frl. Jessie Ackermann, eine Nüchternheitsmissionarin,
eine Reihe sehr erfolgreicher Antialkoholversammlungen in Tokio. Dies
führte zur Gründung des Tokioter Alkoholgegnervereins unter Führung des
ehrenwerten Herrn Taro Ando, ferner von Pfarrer Kwanichi Miyama,
Katzutakalto, Dr. Julius Soper u. a. Sein Vorsitzender Herr Ando wurde
von der Zeit an die Hauptgestalt in der Nüchternheitsbewegung von Japan.
Er legte seine Stellung als kaiserlicher Konsul auf Hawaii nieder, um sich
anz der Antialkoholsache zu widmen. Bis 1894 hatte sich der Verein in
okio zum größten und einflußreichsten Japans mit vielen Zweigvereinen
und einem Gesamtmitgliederstand von über 5000 aufgeschwungen. Durch die
vereinten Bemühungen der Herren Ando und Ito wurde dann ein Ausschuß
gebildet, der einen Zusammenschluß aller einschlägigen örtlichen Vereine
zustandebringen sollte, und schließlich im Jahre 1898 der Japanische Anti-
alkoholbund unter Vorsitz von Herrn Ando errichtet, der seine führende
Stellung innehatte, bis er infolge geschwächter Gesundheit sich zurückziehen
mußte. Er ist im Oktober 1924 verschieden. 1925 zählte der Bund 76 an-
geschlossene Gruppen mit zusammen 7000 Mitgliedern.
Auch die Heilsarmee, die 1895 von London aus in Japan Fuß faßte, hat
unter Leitung ihres Obersten Yamamuro Erhebliches für die Förderung der
Nüchternheitsbestrebungen im Lande geleistet.
Im Jahre 1897 wurde in Tokio von Missionaren und sonstigen Aus-
ländern ein „Vereinigter Ausschuß“ gebildet mit dem Zweck, die Nüchternheits-
vereine zu beraten und deren Bestrebungen bei den Kirchen und Geistlichen
mehr zur Geltung zu bringen (Vorsitzender: Dr. Julius Soper).
achrichten vor etwa 800 Jahren
”) In der Vorlage 1886, aber offenbar Druckfehler. Fl.
256 Mitteilungen.
1903 trat unter der tüchtigen Leitung von Frl. Azuma Moriya die „Jugend-
Eaa amie Legion. in Verbindung mit der Arbeit des Christlichen
Frauen-Enthaltsamkeitsbundes ins Leben. Sie zählt jetzt über 30 000 Mitglieder
und spielt eine sehr einilußreiche Rolle innerhalb der Gesamtbewegung.
1922 gelang es den unablässigen Bemühungen des ehrenwerten Herrn
Nemoto und seines Kollegen, des ehrenwerten Herrn Soroku Ebara, endlich
mit Hilfe des angesehenen Oberhausmitglieds Baron Sakatani den schon_im
lori 1904 zum ersten Mal eingebrachten Gesetzesantrag, der den Ge-
rauch von Reiswein (Sake) durch Minderjährige ver-
bietet, im Oberhause durchzubringen.
Wie der obige Abriß zeigt, hatte also in der organisierten Nüchternheits-
bewegung Japans immer das christliche Element stark vorgeherrscht. 1918 er-
hoben dann auf der Jahresversammlung des Bundes die Vertreter des Osakaer
Vereins und einige andere Einspruch: der Bund sollte in religiöser, wie in
poia Hinsicht streng unparteiisch sein, um sich zu einem nationalen
erbande zu gestalten; und da keine Einigung erzielt werden konnte, trat der
Osakaer Verein nebst einigen andern aus dem Bunde aus und bildete ein selb-
ständige Vereinigung für sich. Da die beiden Verbände jedoch dieselben Ziełe
verfolgten, wirkten sie auch weiter immer einhellig zusammen. Um diese Zeit
begann Shozo Awoki, ein ins Privatleben zurückgezogener Geschäfts-
mann und früheres Mitglied des Stadtrats von Osaka, sich ausschließlich der
Nüchternheitsarbeit zu widmen. Er war lebhaft von der En a der Einig-
keit unter den Antialkoholkämpfern durchdrungen, und es gelang ihm unter
Mitwirkung von Jiuzo Takahashi und andern eifrigen Mitarbeitern, die
Bildung eines religiös neutralen Nationalen Antialkohol-
bundes zustandezubringen. Der verstorbene Dr. Gandier von der ameri-
kanischen Anti-Saloon League, der zu der Zeit Japan besuchte, half kräftig
dabei mit. Er und die Herren Awoki und Makino sprachen auch beim Premier-
minister Harah und dem Innenminister Tokonami vor und betonten ihnen
die Notwendigkeit eines völligen Alkoholverbots als Mittel zur Beförderung
der nationalen Wohlfahrt Japans.
1919 wurde der neue Bund unter dem Namen: „Nationaler Verbotsbund
Japans’ eingetragen. Als seine Ziele verkündete er: Einreichung einer Ein-
p: an die Volksvertretung für Einführung eines Verbotsgesetzes, ;
hrung eines großen Aufklärungs- und ng zug in der Stadt
Tokio, Aufbringung von einer Million Yen für die Fortsetzung der Arbeit.
Und es wurde dann die Mitarbeit des Tokioter Japanischen Antialkoholbundes
zu gon nnen gesucht und tatsächlich gewonnen, mit sehr erfolgreichen und
lücklichen Te Dies führte fast gleichzeitig zur Verschmelzung der
iden Verbände unter dem Namen: „Nationaler Antialkoholbund
von Japan“ (National Temperance League of Japan). Dieser umfaßt zurzeit
mehr als 250 Vereine mit rund 25000 Mitgliedern.
Das bedeutsamste Ereignis vielleicht in der japanischen Nüchternbeits-
bewegung war das oben erwähnte Jugend-Verbotsgesetz, das im Jahre 192
nach einem in 18 Sitzungen immer wiederholten Anlauf endlich erreicht
wurde. Die Nüchternheitsarbeit gilt seitdem zu einem beträchtlichen Teile
der Sorge für die Durchführung dieses Gesetzes.
Von neueren Ereignissen ist noch folgendes zu erwähnen:
1923 wurde der Hochschul-Verbotsbund Japans ründet,
unter dem Vorsitz von Dr. Masataro Sawayanagi, dem Präsidenten der Kaiser-
lichen Gesellschaft für Erziehungswesen. Im gleichen Jahre errichtete Herr
Awoki, der geschäftsführende Direktor des Bundes, die „Awoki Anti-
alkohoi-Stiftung“ mit dem Zwecke wissenschaftlicher Forschungsarbeit
über den Alkohol und Verbreitung der durch sie gewonnenen Erkenntnisse,
ferner Zusammenschluß von Vereinigungen und Einzelpersonen in allen
Ländern zur ung der Abschaffung des Gebrauchs geistiger Getränke
Herr Awoki hat neuerdings im Zusammenhang mit dieser Stiftung, für die
er alle Mittel aufbringt, eine Studienreise durch die Welt gemacht.
Mitteilungen. 257
1925 sodann entstand in Tokio die Buddhistische nationale
Antialkohol-Vereinigung. Sie tritt für ein vollständiges Alkohol-
verbot gemäß der Lehre Buddhas ein. Dr. Kuniyoshi Katayama, Ehren-
professor der Kaiserlichen Universität, ebenfalls ein alter Nüchternheits-
vorkämpfer Japans, wurde zum Vorsitzenden gewählt, während manche her-
vorragende Buddhisten dem Stabe der Vereinigung angehören.
1926 wurde das Gesetz zur Erhöhung des Alkohol-Schutzalters vom 20.
auf das 25. Jahr zwar im Unterhaus einstimmig durchgebracht, aber zu spät,
um noch die Aufmerksamkeit des Oberhauses zu finden.
Eine stetige Zunahme der sogenannten „trockenen
Dörfer“, was in Wirklichkeit Ortsverbot lediglich auf dem Wege der Ver-
einbarung bedeutet, und einestarkeMehrungderNüchternheits-
vereine, deren es jetzt über 600 sind, mögen die bedeutsamsten Tat-
sachen sein.
e
Ueber die im Frühjahr d. J. beschlossenen Forderungen des Nationalen Anti-
alkoholbundes haben wir in Heft 3, Seite 145, kurz berichtet. Ebenso über den
japanischen Alkoholverbrauch und seine Tragweite im Januar/Februar-Heft
1925 (Seite 57). Neuere Angaben in letzterer Hinsicht bietet der vorliegende
Bericht. „Das japanische Volk gab über 1% Milliarden Yen (zu 2,09 M
für geistige Getränke aus, ein Betrag, der fast dem ganzen Reichshaushalt
glei kommt und mehr als das Fünftache des gesamten Jahresaufwands für
öffentliche und private Schulwesen ausmacht. Auf den Kopf macht es
mehr als 20 Yen, während die nationale Schuld von etlichen 30 Yen auf den
Kopf der Bevölkerung noch ungetilgt bleibt. So betrübend schon diese wirt- `
schaftliche Verschwendung ist, so ist sie doch noch nicht zu vergleichen mit
den ungeheuren Verwüstun an den Menschen selber — den zahllosen,
schrecklichen Verbrechen, Krankheiten, all dem Elend und den Todesfällen,
die das Land durch den Trunk erleidet.“
Der Bericht schließt — namentlich im Blick auf die schrankenlose Tätig-
keit, die das Alkoholkapital jetzt in Asien entfalte — mit Befürwortung eines
baldigen Zusammentretens des Internationalen Kongresses gegen den Alko-
lismus in Asien. Die Alkoholfrage sei heute für Asien eine brennendere
Lebensfrage als für Europa oder sonst einen Erdteil.
Die Alkoholfrage, 1926. 17
Besprechungen.
Handbuch der sozialen Hygiene und Gesundheitspflege,
herausgegeben von A. Gottstein, A.Schloßmann,L. Telexy.
3. Band. ohlfahrtspflege, Tuberkulose, Alkohol, Ge-
schlechtskrankheiten. — Berlin Verlag von Julius
Springer. 1926. —
Das umfangreiche bedeutungsvolle Werk umfaßt vier Hauptteile: Die
rechtlichen Grundlagen und die Organisation der Fürsorge einschließlich
des Armenrechtes und des Rechtes des Kindes, die Tuberkulose, den Alkohol
und seine Bekämpfung und die Geschlechtskrankheiten einschließlich der
Prostitution.
Zu den oe ale Aufgaben gehören die wirtschaftliche, die
esundheitliche und die erzieherische Fürsorge für die
Ilgemeinheit und in Sonderheit für die Jugend. Ein Drittel des
ganzen Buches ist allein der schwersten Volksseuche, der Tuberkulose, ge-
widmet, zum größten Teile ihrer Bekämpfung.
In seiner Äbhandlung „Der Alkohol und seine Bekämpfung“
sagt Dresel einleitend: „Ganz abgesehen davon, ob Alkoholgenuß an sich
esundheitsschädlich ist oder nicht, belasten Trinksitten und Alkoholverbrauch
en Haushalt weitester Kreise so. nachhaltig, daß dadurch die Aufwand-
möglichkeiten für Gesundheit und Kulturbedürfinisse in gefährlichen Maße
eingeschränkt werden.“ Dieser Gesichtspunkt dürfte maßgebend und richtung-
gebend sein für den Kampf gegen den Alkoholismus.
Entstehung und Zusammensetzung, Erzeugung und Verbrauch der
geistigen Getränke werden in besonderen Abschnitten behandelt. 54 kg wert-
vollste Bestandteile werden von 100 kg Gerste durch das Brauen der Volks-
ernährung entzogen.
Außerordentlich bedenklich stimmt die vielfach stärkere Zunahme des
Schnapsgenusses als des Bierverbrauchs seit dem Kriege. In den
Städten nehmen Likörstuben, Bars und Dielen überhand, der Verkauf in den
offenen Branntweinläden hat erheblich zugenommen. Dazu hat u. a. die un-
verständliche und teilweise unwürdige Reklame des Reichsbranntweinmonopols
mit beigetragen. Auffallend ist die Zunahme des Schaumweinverbrauchs. Er
übertraf bereits im Jahre 1921 wieder den vom Jahre 1913. Inwieweit
unsere „Neureichen“ an diesem Luxus beteiligt sind, ist nicht feststellbar.
Jedenfalls hat es unser verarmtes Volk noch nötig, Sekt in Massen zu trinken
und war schamlos genug, nach alter Weise zu „saufen“, während man die
Kinder von den Amerikanern durchfüttern ließ. Unbegreiflich und unentschuld-
bar bleibt es, daß Regierung und Reichstag nicht nach den ausgezeichneten
Erfahrungen der Enthaltsamkeit im Kriege, tatkräftig der erneut einsetzenden
Alkoholflut begegnet sind. Statistische Angaben belegen, wie hoch noch
immer der einzelne Haushalt durch Alkoholausgaben belastet ist und wie
darunter der Aufwand für hygienische und kulturelle Bedürfnisse leidet.
In längeren Ausführungen wird der Zusammenhang von Alkohol und
Krankheiten in Sonderheit Erkrankungen des Nervensystems, behandelt.
Eine für Alkoholwirkung spezifische Organerkrankung gibt es nicht. Es
fehlt noch an genaueren Untersuchungen über das Zusammenwirken der ein-
zelnen Bestandteile der geistigen Getränke auf unseren Organismus. Sicher
ist, daß die verschiedensten, die Widerstandskraft des Gewohnheitstrinkers
mindernden Einflüsse, wie ungeregelte Lebensweise, zeitweilige Unter-
Besprechungen. | 259
d
ernährung, Aufenthalt in schlechter Kneipluft u. a. m. im Verein mit dem
Alkoholverbrauch den Körper und Geist schädigen und leicht den Krankheits-
erregern Bahn schaffen. kannt sind die Statistiken der Schweiz und vieler
Lebensversicherungsgesellschaften über Erkrankung und Sterblichkeit Trinken-
der und Enthaltsamer, sowie über diejenigen der sogen. Alkoholberufe. Eine
absolute Beweiskraft kommt im allgemeinen den bisher gewonnenen Ergeb-
nissen nicht zu. Immerhin ist der starke Rückgang der alkoholischen Geistes-
krankheiten während des Krieges mit seiner Zwangsenthaltsamkeit bemerkens-
wert.
Im Gegensatz zu vielen Autoren betont D., daß die Trunksucht allein
nicht die Kriminalität auslöst, sondern daß psychopathische Persönlich-
keiten besonders dazu neigen, zusammenfallend trunksüchtig und kriminell
zu werden. An einem engen Zusammenhang von Alkoholismus und Prosti-
tution ist nicht zu zweifeln, auch daran nicht, daß der Alkohol der häufige
Suppe: und Vermittler der Geschlechtskrankheiten wird. Anschaulich und
packend wird der Alkohol als Zerstörer des Familienlebens
geschildert, der gesellschaftliche, nicht auszurottende Trinkzwang, der in
neuerer Zeit endlich durch unsere Jugendbewegung eine Minderung erfahren
hat. (Schule, Erziehung, Sport.)
Das Kapitel Alkohol und Ernährung bedarf noch ein-
gehender wissenschaftlicher Bearbeitung. D. selbst hat hinsichtlich der
erblichen Belastung der Alkoholirren festgestellt, daß bei den Fällen der
Belastung durch die weibliche Ascendenz anscheinend Geisteskrankheit
und ihr zunächst Nervenkrankheiten als ursächlich belastende Krankheits-
erscheinungen überwiegen, während bei den Fällen der Belastung durch
die männliche Ascendenz offensichtlich die Trunksucht selbst oder die
Anlage zur Trunksucht als vererbliche Krankheitserscheinung am häufigsten
hervortritt. Auch die’noch nicht genügend geklärte Frage vom Einfluß des
Alkoholismus auf die Nachkommenschaft muß noch durch eine sorg-
HINE aufgebaute Erforschung einzelner Geschlechter gelöst werden.
as Schlußkapitel behandelt die Bekämpfung des Alkoholismus. Die Be-
deutungderAlkoholfrageliegtnichtaufindividuellem,
sondern auf sozialem Gebiete. Sie ist ein Massenproblem, es
handelt sich beim Alkoholismus um eine psychische Massenintektion. Die
Vorbeugung bleibt wie bei jeder Seuche die erste Pflicht der Verant-
wortlichen und hier zuvörderst eine pooma nier Aufklärung. Gesetze, Ver-
ordnungen und gemeinnützige Tätigkeit müssen sich die Hand reichen.
Konzessionswesen und Gasthausreform bedürfen weitgehender Beachtung und
müssen aus den Privatinteressen dem Gemeinwohl zugeführt werden. Dank-
bar zu begrüßen war das Notgesetz vom 24. Februar 1923 über Schank- und
Gasthausbetrieb, schärfere Fassung und vor allem apei der Be-
dürfnisfrage bleiben aber noch zu fordern. Das Gleiche gilt für die Polizei-
stunde. ie Wirtschaften müßten zu und der Wohlfahrts-
flege werden. Das ganz unzureichende Branntweinmonopol hat keinen
Nutzen in sozialhygienischer Hinsicht gebracht. Von Zwangsmaßnahmen
und radikalen Gesetzen ist nicht viel zu erhoffen: „Nicht das Volk wird der
Menschheitskultur Führer sein, das mit Zwangsmaßnahmen seine Haltun
dem Alkoholismus gegenüber erkauft, sondern das Volk, das den Alkoho
innerlich so überwindet, daß seine gewaltige schädigende Seite ausgeschaltet
wird und seine guten Wirkungen der vernünftigen Handhabung unterliegen“.
Das Letztere dürfte freilich von der großen Masse kaum zu erhoffen sein.
Der letzte große Abschnitt des Buches behandelt Geschlechts-
krankheiten und Prostitution. Wirtschaftliche und gesellschaft-
liche Schäden der verschiedensten Art sind ihre Förderer und andererseits
die stärksten Hindernisse in ihrer Bekämpfung. Ueberdies sind sie durch
Ansteckungsmöglichkeit und Uebertragung auf die Nachkommen neben der
eigenen Schädigung des Trägers von außerordentlicher sozialhygienischer
eutung. In gleicher Weise wie die ersten ist auch dieses umiangreiche
Kapitel mit reichem Zahlenwerk belegt. Der am Schtusse erwähnten
17°
260 Besprechungen.
& =
sexuellen Erziehung und Aufklärung inHaus und Schule
ist besonderer Wert beizulegen. Daß hier die Persönlichkeit des Erziehers
alles bedeutet, ist einleuchtend. Die gesetzlichen Bestimmungen und polizei-
lichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten in den ver-
schiedenen Ländern sind unentbehrlich. Sie können aber nur dann von durch-
ifendem Erfolge sein, wenn in den breiten Volksmassen Wesen und Ge-
ahren dieser Volksseuche klarer erkannt und Gleichgültigkeit und Gewissen-
losigkeit weitgehend gemindert sind. In einer Zeit schwerster Entsittlichung,
wie wir sie jetzt durchmachen, und einer großen Arbeits- und Wohnungs-
not ist das freilich eine gewaltige Aufgabe. Aber sie muß geleistet werden,
soll unser Volk aus seinem Elend wieder gerettet werden.
Dem ausgezeichneten 794 Seiten umfassenden Buche ist weiteste Ver-
breitung zu wünschen. Es sollte vor allem in alle größeren Büchereien
Eingang finden.
Schrifttum.
Uebersicht über die wichtigsten Veröffentlichungen
aus den Jahren 1925 und 1926.
Zusammengesteftt von Dr. J. Flaig.
1. Alkohol und alkoh. Getränke.
2. Herstellung (technische); Erzeugung
und chemische Zusammensetzung.
Das Institut für Gärungsgewerbe
und Stärkelfabrikation zu Berlin.
Festschrift zur Feier seines 50jährigen
Bestehens am 29. September 1924. 1825.
Verlag Paul Parey, Berlin SW 11.
Geisler, K. W.: Die deutsche Spiritus-
industrie. In: Technik und Wirtschaft,
, H. 7, S. 187—195.
Günther, A.: Neuere Verfahren der Wein-
behandlung (Schwefelung und Schönung).
In: Arbeiten a. d. Reichsgesundheitsamte,
57. Band., S. 112—121, 1926. Verlag Jul.
Springer, Berlin.
Polzer. H.: Zur Regelung des Schank-
stättenwesens. In: Freie Wohlfahrtspflege,
1926, H. 5, S. 225—230.
Im übrigen s. auch Ehle unter 1.4.
3. Vertrieb (Handel).
Neuman n, Die steuerliche Ueberlastung des
Qastwirts- u.Beherbergungsgewerbes. 1925.
Selbstverlag der Arbeitsgemeinschaft der
Gärungsgewerbe, Berlin N 24.
4. Steuerwesen.
Ehle, W.: Der Einfluß. der deutschen
Branntweinsteuergesetzgebung auf die
Entwicklung des Brennereigewerbes. Dr.-
Dissertation der Landwirtschaftlichen
Hochschule zu Berlin. 1926.
Müller, H.: Gärungslose Obst- u, Trauben-
verwertung. Herausg. v. Schweizerischen
Verbande abstinenter Bauern. 1926. Ver-
bandsdruckerei A.G., Bern.
as Sußmost-Büchlein. Anleitung zur
gärungsiosen Haltbarmachung von Obst-
Säiten in Fässern und Flaschen. 3. Aufl.
1926. Genossenschaft für gärungslose
Obstverwertung, Zug.
8. Alkoholkapital, Alkobolgewerbe u.Be-
kämpfung der Antialkoholbewegung.
Dabelstein, G.: Korruption in Presse
und Parlament. Wie Zeitungen und Ge-
Setze gemacht werden! 1926. Verlag „Der
Wille* (Gust. Riep), Hagen i. W.
m übrigen s. auch „Das Institut...“
unter [. 2.
ILWirkungen.d. Alkoholgenusses.
1. Allgemeines, Statistisches, Sammel-
werke.
Le Brain: Les grands narcotiques sociaux,
l Editeurs A. Maloine et fils, Paris.
Vogel, M., und Neubert, R.: Grundzüge
der Alkoholfrage. Bd.12 von „Leben und
Gesundheit“, gemeinverständi. Schriften-
reihe, hrsg. v. Veutschen Hygienemuseum.
1926. Deutscher Verlag f. Volkswohlfahrt,
Dresden.
2. Physiologische und psychologische
Wirkungen.
Bornstein, K.: Alkohol und Beruf. In:
Gesundheitsiehre für die a anugr.
Berufs- und Fachschulen, S. 98—107. 1926.
Verl. von F. C. W. Vogel, Leipzig.
Rost, E., und Braun, A.: Zur Pharma-
kologie der niederen Glieder der ein-
wertigen aliphatischen Alkohole. In: Ar-
beiten a.d. Reichsgesundheitsamt, 57. Bd.,
S. 580— 597. 1926. Verl. Jul. Springer, Berlin.
3. Alkohol und Krankheit.
Keeser, E. und J.: Untersuchungen über
chronische Alkoholvergiftung. S.-A. aus
Bd. 113, H.3;4 des Archivs für experiment.
Pathologie und Pharmakologie, S. 188-200.
1926, Verl. F. C. W. Vogel, Leipzig.
Legrain: Les causes psychologiques de
l'alcoolisme. 1925. Editions-Librairie „Je
Sers“, Clamart.
S.J; v. d.: Alcoholisme en Tuberculose. In:
nkrateia Pa Mant 1925, S, 1—18.
. W.: Alhoholismus und Tuber-
kuloge. In: Say ien. Mitteilungen,
. 2, S. 37—39.
Im übrigen s. auch Donath unter V. 2,
5. Alkohol und Unfall, Invalidität.
Voionmaa,T.: L’alcoolisme et les acci-
dents du travail. In: Revue internationale
du travail, 1925 Nr. 2, S. 211—240.
7. Alkohol und Entartung.
Pfleiderer,A : BiologischeVolksbewegung
und Nüchternheitsbewegung. In: Die
biologische Volxsbewegung, 1926. Nr. 4
S. 41—50. Beil.z. Sonder-Nr.: „Von Alkohol
zu Most“ der „Neuen homöopathischen
Zeitung“ 1926. Nr. 9.
Siemens, H. W.: Grundzüge der Verer-
bungslehre, der Rassenhygiene und der
Bevölkerungspolitik. 3., umgearb. u. stark
verm. Aufl. (Alkoholfrage: S. 53f., 8 72f.,
78, 86, 93.) 1926. I. F. Lehmanns Verlag,
München,
8. Alkohol und Volkswirtschaft.
Statistisches.
Wilbrandt, R.: Der Alkoholismus als
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(Inh. Franz Mittelbach), Stuttgart, und
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262
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Dannmeier, H.: Kind und Alkohol. 4. Aufl.
1926. Neuland-Verlag G. m. b. H., Ham-
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Sche enz, C.: Jugend und Alkohol. Vor-
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10. Verbreitung des Alkoholismus usw.
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Schmidt, P.: Praktische Maßnahmen zur
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Deutsch. Mediz. W.-Schr., 1926 Nr. 25.
Im übrigen 8. auch Legrain und Vogel-
Neubert unter Il. 1.
2. Staat und Gemeinde, Gesetzgebung
und Verwaltung.
Bogusat, H.: Aerztliche Wünsche zum
amtlichen Entwurf eines Allgemeinen
deutschen Strafgesetzbuches. In: Arbeiten
a. d. Reichsgesundheitsamte, 57. Bd., S.
198—211. 1926. Verl. Jul. Springer, Berlin.
Der neue Entwurf des Allgemeinen
deutschen Strafgesetzbuches vom
ärztlichen Standpunkte. Bericht über die
Sitzung des verstärkten Ausschusses (für
erichtl. Medizin usw.) des (preußischen)
ndesgesundheitsrats am 30. und 31. Okt.
1925. Veröffti. a. d. Gebiete d. Mediz.-Ver-
waltung, 2!. Bd., 2. H. 1926. Verl.-Buchh.
von Rich. Schötz, Berlin.
Entwürfe eines Spiritusmonopol-
gesetzes und eines Einführungs-
esetzes dazu. 7. Mai 1926 vom Reichs-
nanzminister dem Vorläufigen Reichs-
wirtschaftsrat zur Begutachtun vorgelegt.
Gdsch, F.: Das Gesetz als Schwert im
Kampte gegen den Alkohol, In: Festschrift
für Hermann Blume, S. 39-63. 1926.
Neuland-Verl., Hamburg 30.
Riß, Fr.: Der Kampf gegen den Alkohol
im künftigen Strafrecht. In: Münch. Mediz.
W.-Schr., 1925 Nr. 19, S. 778 f,
Theuermeister, R.: Amtliche Fürsorge
zur Abwehr des Alkoholismus. Kurzer
Auszug aus Gesetzen und gesetzlichen
Bestimmungen, sowie aus inisterial-
erlassen seit 1900. 1926. Neuland-Verl.
Hamburg 30.
Weidner,Th.: Das Gemeindebestimmungs-
recht nach Notwendigkeit, Inhalt und Be-
deutung für das Volkswohl. 1925. Verlag
„Auf der Wacht“,
Im übrig. s. auch „An die Mitglieder...“
unter V. 19.
3. Einzeine bestimmte Gruppen und
Gebiete.
d) Jugend und Erziehung.
Alkohol-Sondernummer der „Päda-
gogischen Warte”, 1926 H. 14.
Parkinson, G. A.: The great adventurers.
Temperance lessons for bands of hope
and other girls’ and boys’ organizations.
6. Series. 1926. Westeyan Methodist
Church Temper. and Social Welfare De-
partement, London SW 1.
Polzer, H.: Jugend und Alkohol. In: Das
junge Deutschland, 1926 H.4, S. 119—126.
Sachs, P.: Die unterrichtliche Behandlung
der Alkoholfrage. In: Die Volksschule,
1926 H.3, S. 72—78.
Schrifttum.
Temperance lessons for Sunda
Schools, 1926. Temper. and Social Wel-
fare Departement of the Wesleyan Me-
thodist Church, London SW. 1.
Ulbricht, W.: Die Alkoholfrage in der
Schule. 2. umgearb. Aufl. 1926. Verlag
„Auf der Wacht“.
Im übrigen s, auch Bornstein unter Il, 2.
e) Flotte, Heer, Krieg.
Muff, Alkohol und Wehrkraft. Vortrag.
S.-A. a. „Die Alkoholfirage”, 1925, H.6.
Schmidt, H.: Das Kronprinzen-Tele
gramm. 1926. Neuland-Verl., Hamburg 3).
f) Verkehrswesen.
Bonne: Nüchternheit und Verkehrssicher-
heit. 1926. Neulaud-Verl., Hamburg 3%.
g) Einzelne Stände und Berufe.
Gerken-Leitgebel, L.: Eine Frauen-
flicht. 5. Aufl. 1926. Neuland - Verlag,
amburg 30.
Straßer,Ch.: Der Alkoholismus und seise
Bekämpfung durch den Nervenarzt, 19%.
Sozialistischer Abstinentenbund, Bern.
4. Kirchlich-Religlöses.
Dittrich, G.: Die zwiefache Schicksals-
frage. Predigt über Gal. 6 V. 7f. 195.
Verl. d. Deutsch. Bundes enthalts. Pfarrer.
Durch die Stadtmission Chemnitz.
Rolffs, E.: Die Seele unserer Arbeit. Fest-
predigt. 1926. Neuland-Verl.. Hamburg I.
Schmidt, H.: Die Alkoholfrage im alten
Testament. Bd.ı, H.ı von: „Die Alkohol-
frage in der Religion, Studien und Reden’,
hrsg. von E. Rolffs und H. Schmidt. 19%.
Ebendaselbst,
5. Kulturelles.
Forel. A.: Der wahre Sozialismus der
Zukunft. Autoris. Uebers. a. d. Französ.
von P. Chr. Plottke. 1926. Verl. des Deutsch.
Arb.-Abst.-Bundes, Berlin SO 16.
Hähnel, Franz.: Harro Tienbeck. Er
zählung. 5. Auti. 1926. Neuland-Verlag,
Hamburg 30.
Zola, E.: Die Schnapsbude. Einzig be
rechtigte eg Uebertr. von A.E.
Ruthra. 1.—3. Taus. 1925. Kurt Wolff Verl.
A.G., München.
6. Trinkerfürsorge, Trinkerheillung.
S. Consultatie-Bureau unter V. B,
Straßer unter Ill. 3. g.
7. Alkoholigegnerisches Vereins- und
Aufklärungswesen.
a) Allgemeines.
Flaig, J.: Kurzer Ueberblick über die
heutige deutsche Nüchternheitsbewegung.
In: Pädag, Warte, 1926 H. 14. S. 095—M!.
Auch im S.-Abdr. im Verl. „Auf derWacht‘.
b) Aufklärungsarbeit.
Der Aufrechten-Kalender 1927. 198.
Hoheneck-Verl., Heidhausen a.R.
Eipidius: Patronentasche des Abstinenten.
.. ergänzte Aufl. 1926. Hoheneck-Verl.
G.m.b.H., Heidhausen a.d. Ruhr.
Führer durch die Wanderausstel-
lung „Gesundes Jugendlieben .
1926. Bezirksausschuß zur Abwehr des
Alkoholismus, Merseburg.
Jung-Siegfried-Kalender 1927. 1%.
Neuland-Verl., Hamburg 30.
Schrifttum. 263
Neuland-Kalender 1927. 1926. Ebenda.
Sondernummer „Von Alkohol zu Most“
der Neuen homödopath. Zeitung, 1926 Nr.9.
Schweizerischer Taschenkalender. für
Apstinenten 1927. 1926. Selbstverl. von
Th. Bachmann-Gentsch, Alkoholfr. Volks-
haus, Zürich 4.
Trinken oder Nichttrinken? Versuch
eines Appells an Frauen und Männer der
gebildeten Stände. Von einem Laien. 2.,
verbess. Auflage. 1925. Neuland-Verlag,
Hamburg 30.
d) Allgemeine und Zentralver-
bände.
Festschrift für Hermann Blume.
Zum 25 jährigen Jubiläum als ontenpler
des Deutschen Quttemplerordens. Hrsg.
vom Rat der Großloge des Deutschen
Guttemplerordens. 1926. Neuland-Verlag,
Hamburg 30.
Jahresarbeit 1925/26 des Deutschen
Guttemplerordens. 1926. Ebenda.
37. Jahresversammlun des Deut-
schen Guttemplerordens vom 9. bis
12. Juli 1926 in Hamburg. 1926. Ebenda.
Schmidt und Schumann: Die Predigt
des Blauen Kreuzes. Was das Blaue Kreuz
will und nicht will. In: Samariter und
Säemann. 1926. Hrsg. im Selbstverlag des
Vereins f. Inn, Miss., Leipzig. Für den
Buchhandel durch Paul Eger Verl., Leipzig.
Strecker, R.: Die Arbeit unserer Gut-
templerjugend. 1926. Neuland - Verlag,
Hamburg 30.
Weg und Ziel des Deutschen Gut-
templerordens. Gesammelte Aufsätze.
3926. Ebenda. '
e) Standesvereine und Or anisa-
tionen mit besonder. Aufgaben.
Verband für deutsche Jugendher-
bergen, Jahresbericht 1925. 1926.
Veri. des Verbandes, Hilchenbach i. W.
g) Tagungen, Kongresse.
XVIIIe Congrès international contre
l'alcoolisme 1926. Rapports. 1926.
Edition du Comité d'organisation, Tartu
(Dorpat).
8. Ersatz für Alkoħol.
Bericht über den Betrieb des al-
koholfreien Volkshauses in Zü-
rich 4 im Jahre 1925. 1926. Volkshaus-
verein, Zürich.
Obstgenuß und Gesundheit. Ein
ernstes Mahnwort an jung und alt, ins-
besondere an die deutschen Mütter. On:
vom Bayerischen Landesverband für Obs
und Gartenbau, Nürnberg. 1926.
9. Polemisches.
Backert,E.: Feststellungen über die Aus-
wirkungen des amırikanischen Alkohol-
verbots. 1926. Erich Reiß Verl., Berlin.
Ein Wort zur Alkoholfrage In:
Deutsches Pfarrerblatt, 1925 Nr. 40,47,48,50.
Im übrigen s. auch Dabelstein unter 1.8.
10. Geschichtliches und Biographisches.
Hercod, R: L'année antialcoolique 1924.
In: L’Abstinence 1925 Nr. 1.
Röder. W.: Philipp der Großmütige im
Kampfe gegen den Alkoholismus. In: Die
Alkoholfrage, 1926 H, 2., S. 66—71.
V. Aus anderen Ländern.
2. Amerika.
Borah, W. E.: The constitution and prohi-
bition. 1926. The American Issue Publi-
shing Comp., Westerville, Ohio.
Cassid iy, J.E.: Prohibition a great success.
1926. Ebenda.
College-student drinking since prohi-
bition. In: The Literary Digest 1926, Vol.
90 Nr. 2. S. 30f. und 45—73. New York
and London.
Donath, J.: Die Wirkung des amerika-
nischen Alkoholverbots auf die Tuber-
re In: Die Alkoholfrage, 1926 H.2,
S. 80-84.
Hercod,R., Das Alkoholverbot in Amerika.
> Pädagogische Warte, 1926 H, 14, S. 717
8 724.
The national prohibition law. Hea-
rings before the Subcommittee of the
Committee on the Judiciary United States
Senate, Sixty-ninth Congress first session.
In 2 volumes. 1925. Government Printing
Office, Vashington:
Stoddard, C. Fr.: More Massachusetts
records and prohibition. (Reprinted from
The Scientific Temperance Journal vol.
XXXIV Nr. 2, 1925.) The American Issue
Publishing Comp., Westerville, Ohio.
Dieselbe: Prohibition and youth. 1925
oder 1926? The Scientific Temperance
Federation, Boston. i
Strecker, R.: Zur Geschichte des ameri-
kanischen Alkoho'verbots. In: Die Alkohol-
irage 1926 H. 2, S. 60—66.
Im übrigen s. auch Backert unter III. 9.
3. Asien.
Awoki Kyosai Zaidan, inc. (Awoki
Temperance Reform Foundation). Report
to the 18th International Songrese aga nst
alcoholism. 19.6. Offices: Tokio. (Gekürzte
Uebers. in „A.-Fr.“ 1926, H. 5.)
8. Finnland.
Gahn, H., Finska Förbudsstudier. In: Tir-
fing, 1925 H. 1—2, S. 1—7.
10. Großbritannien.
Siehe Parkinson und Temperance
Lessons unter Ill. 3d.
13. Niederlande.
Consultatie-Bureau voor alcoholisme, Rotter-
dam. Jaarverslag 1926.
19. Schweiz.
An die Mitglieder der eidgenössi-
schen Kommissionen zum Studium
der Revision des Alkoholwesens. Vom
Beirat der Schweiz, Zentralstelle z. Bek.
d. Alk., Lausanne im Februar 1926.
Im übrigen s.auch Bericht.... unter III 8.
Schweiz. Taschenkalender unt. 11I.7b.
Druck von Kupky & Dietze (Inh.: C. und R. Müller), Radebeul-Dresden.
4 l Modes Ue 4 o go
ol
-
22.) ne ee Di ie
Dezember 1926
Alkoholfrage
Internationale
wissenschaftlich - praktische Zeitschrift
HERAUSGEGEBEN
` im Auftrage der
Deutschen Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus
und der
Internationalen Vereinigung gegen den Alkoholismus
unter Mitwirkung
namhafter Fachleute aller Länder
von
Professor Dr. med. h.c. I. Gonser und
Präsident a. D. Dr. Reinhard Strecker
In der Schriftleitung
Dr. R. Kraut und Dr. J. Flaig
Preis des Jahrganges (für In- und Ausland) 6 Goldmark
Preis des einzelnen Heftes: 1,25 Goldmark
BERLIN-DAHLEM
Verlag „Auf der Wacht“
1926
. Flaig, Bedeutsame behördliche Maßnahmen mit Bezug auf den Alkohol (XL) Far
. Das polnische Gesetz vom 23. April 1920. 2. 2: 2 Co m rn ln nn. WW
. Taktik des Alkoholgewerbes . . . . 2 2 2 aa a
Inhalt des Heftes 6.
l. Abhandlungen. Sehr
. Strecker, Ein Rückblick auf das Jahr 1926 . .. . . ur
. Baurichter, Die Bedeutung des Alkohol- und Te ‚akkonsums für die Höhe
der deutschen Reparationszahlungen .
H. Chronik. (Stubbe, Kiel) . . . 2.2.2...
JII. Mitteilungen.
. Aus der Trinkerfürsorge: Trinkerfürsorge im Bereich der Ländesver-
sicherungsanstalt Westfalen. — Die Trinkerfürsorge im Geschäftsbericht 1925
der Landesversichefungsanstalt Schlesien. — Aus dem Bericht der Evan-
gelischen Abteilung der Fürsorgestelle für Alkoholkranke und Trinkerrettung
` in Dortmund. — Trinkerfürsorgestelle München, 16. Jahresbericht 1925 |
. Aus Vereinen: Die Tagung der AUTINE Gefängaisgesellschaft zur
Alkoholfrage .... EEE
. Verschiedenes: Sport und Alkohol. _ Abslimmüng det Bevölkerung über ein
Wirtschaftsgesuch in einer Nürnberger Siedlung. — Die norwegische Volks-
abstimmung vom 18. Oktober 1926 und ihre voraussichtlichen Folgen. — |
Wirkungen des belgischen Branntweingesetzes vom 29. August 1919. —
Neuere Gesetze und Bestimmungen zur 'Alkoholfrage in Italien. — Irving
Fisher über das amerikanische Alkoholverbot. . . Bee ee
VI. Schrifttum.
Flaig, Uebersicht über die wichtigsten Veröffentlichungen aus den Jahren 1925
und zum Teil 1925 und 1927
Verantwortlich tür Schriftleitung und Verlag: Prof. Dr. med. h.c. I Ges:
Zzerhn-Dahlem, Werderstr. 10.
Verlass und Versand: |
Verlag „Auf der Wachte (Verlag des Deutschen Vereins g. d. A.). Berlin-Di |
Woerderstr. 16. Postscheckkonto: Berlin NW. 7, Nr. 9386.
NEIL
AnZzagec peis nach Ak |
il
Ein Rückblick auf das Jahr 1926.
Von Prof. Dr. Reinhard Strecker, Berlin.
Das Jahr 1926 wird mit einigen besonders markanten Tatsachen
in der Geschichte der alkoholgegnerischen Bewegung verzeichnet
bleiben. Wir erinnern an die Abstimmung über das Branntweinverbot
in Norwegen und an die amerikanischen Kongreß-
wahlen;fürDeutschlandan den Kampf um das Gemeinde-
bestimmungsrecht und an die Verlängerung der Polizei-
stunde. Wie haben nun wir Alkoholgegner die Gesamtlage im
Weltkampf gegen den Alkohol gegenwärtig einzuschätzen? Rosig ist
sie gewiß nicht, und gerade wir als nüchterne Leute werden am wenig-
sten Trost in einer Schönfärberei suchen, die sich zuletzt an uns selbst
rächen müßte. Es kommt nur darauf an, ein klares Bild zu gewinnen,
um ihm die Richtlinien für die erfolgreiche Fortführung unseres
Kampfes zu entnehmen. Denn allerdings, daß wir diesen notwendigen
Kampf fortsetzen und uns durch keinen zeitweisen Rückschlag ent-
mutigen lassen, das steht für uns auch fest.
In Deutschland ist zweifellos noch eine Fülle sehr dringender
Aufgaben z. erledigen. Im Jahre 1923 wurde dem Reichstag durch den
volksparteilichen Minister Heinze der Entwurf zu einem Schankstätten-
gesetz vorgelegt, der in § 26 das Gemeindebestimmungsrecht erhielt.
Es war freilich so ängstlich verklausuliert, daß auch bei den deutschen
Alkoholgegnern Zweifel bestanden, ob die Annahme dieses Para-
graphen zu praktischen Erfolgen würde führen können.
Immerhin war doch grundsätzlich damit der Weg angedeutet, auf
dem auch endlich in Deutschland einmal eine ernsthafte Aufklärung
über die Schäden des Alkoholismus, die Voraussetz.ng für die nötige
Energie zu seiner Bekämpfung, hätte einsetzen können. Die im Verlag
„Auf der Wacht“ erschienenen Gegenvorschläge von Geheimrat
Weymann, aus reifer verwaltungsjuristischer Einsicht und Erfahrung
erwachsen, hätten als Grundlage für eine sachgemäße Beratung im
Parlament dienen können. Aber leider ist es zu dieser Beratung nicht
mehr gekommen. Die Regierungen wechselten, die Inflationszeit nahm
mit der Stabilisierung der Währung ihr Ende und die schlimmste Not
hörte auf. Mit ihr verflog leider auch der gute Wille zu einschneiden-
den Reformen. | |
Erst Anfang 1925 wurde das Interesse für den Regierungsentwurf
neu erweckt durch einen Antrag des sozialdemokratischen Abgeordneten
Müller-Franken: „Die Regierung wolle beschließen, die Reichsregierung
zu ersuchen, umgehend dem Reichstag den Entwurf des Schankstätten-
esetzes vorzulegen.“ Im bevölkerungspolitischen Ausschuß fand dieser
trag eine erhebliche Mehrheit. Trotzdem wurde er am 18. Februar
1925 in der Plenarsitzung abgelehnt. Es stimmten 165 für ihn 199 da-
gegen, bei 16 Stimmenenthaltungen. Allerdings wurde dann wenigstens
265 Abhandlungen.
ein Eventualantrag des deutschnationalen Abgeordneten Strathmann
angenommen. Er lautete: „Der Reichstag wolle beschließen, die Reichs-
regierung zu ersuchen, schleunigst ein Gesetz zum Schutze der Jugend
gegen die Gefahren des Alkoholismus und zur Verbesserung des
Schankkonzessionswesens unter Ablehnung der Trockenlegung Deutsch-
lands vorzulegen.“ Für diesen Antrag stimmten 303, gegen ihn 53, bei
6 Stimmenenthaltungen. Die Absicht des Antrages war, das Schreck-
gespenst der Trockenlegung aus der künftigen Diskussion auszu-
schalten. Er sprach aber leider auch nicht mehr vom Gemeinde-
bestimmungsrecht.
Sein Ziel hat er jedenfalls nicht erreicht, weil es die Propaganda
des Alkoholkapitals trotzdem verstand, die falsche Gleichung in die
Köpfe zu hämmern: „Gemeindebestimmungsrecht ist Trockenlegung.“
Immerhin bedeutete die Annahme des Antrages Strathmann den Zwang
der Fortsetzung der Debatte im Reichstag. So hatte sich dessen Haus
haltausschuß am 13. Juni 1925 wieder mit der Frage zu befassen, der
dann eine Entschließung annahm: „Die Reichsregierung zu ersuchen,
das vom Reichstag schon am 18. Februar verlangte Schutzgesetz gegen
den Alkoholismus unter Einbeziehung eines brauch-
baren Gemeindebestimmungsrechtes nunmehr schleu-
nigst vorzulegen.“ Unter der Führung des volksparteilichen Abgeord
neten Bickes wurde hierzu für die Plenarberat.ng von mehreren Ab-
ans der Zusatz vorgeschlagen: „welches eine Trockenlegung
eutschlands ausschließt.“ Noch mehr im Sinne des Alkoholkapitals
war der Antrag, der an erster Stelle den Namen des demokratischen
Abgeordneten Brodauf trägt, die Worte „unter Einbeziehung eines
brauchbaren Gemeindebestimmungsrechtes‘“ einfach zu streichen.
Am 22. Januar 1926 hätte nun der Reichstag den Entschluß fassen
müssen, ob er im Sinne dieses Ausschußantrages oder eines der Ab-
änderungsanträge einen Entwurf von der Regierung verlangen wollte
oder nicht. Wie dieser Entwurf dann ausgesehen hätte, und was aus
ihm bei den Beratungen im Reichstag geworden wäre, stand natürlich
noch dahin. Von großer Tragweite wäre also ein Entschluß des Reichs
tages am 22. Januar gar nicht einmal gewesen. Trotzdem fand die
Mehrheit den Mut zur Stellungnahme nicht. Der sozialdemokratisch®
Abgeordnete Sollmann wies auf das Unsinnige dieses Vorschlages hin.
Es mußte dann durch Hammelsprung entschieden werden, wobei tat
sächlich mit 193 gegen 164 Stimmen die Zurückweisung beschlossen
wurde. (138 Abgeordnete fehlten in. dieser Sitzung.)
Es war ein lächerlich-trauriges Schauspiel, das der deutsche Reichs
tag damals bot, als er so sichtlich seinen Aengsten vor einer Stellung-
nahme gegenüber der Alkoholfrage Ausdruck gab. Irgendwann mußte
ja nun freilich ein Entschluß für oder gegen das Gemeindebestimmungs-
recht doch gefaßt werden. Er fiel in der Sitzung am 11. Mai 1926 und
zwar, wie nach allem Vorhergegangenen nicht mehr anders zu ef-
warten war, mit 241 Nein gegen 163 Ja bei 6 Stimmenenthaltungen.
Die Mehrheit gegen das Gemeindebestimmungsrecht war also seit der
Sitzung vom 18. Februar 1925 noch erheblich gewachsen. Geschlossen
für das Gemeindebestimmungsrecht stimmten die Sozialdemokraten
und die Kommunisten. Ebenso geschlossen mit nein stimmten die
Bayrische und die Deutsche Volkspartei, die Wirtschaftliche Vereinigung
Strecker, Ein Rückblick auf das Jahr 1926. 267
und die Völkischen. Von den übrigen Parteien stimmten nur Minder-
heiten für das Gemeindebestimmungsrecht.
Damit hat der Reichstag seinerseits ausdrücklich auf den Wunsch
verzichtet, einen Regierungsentwurf zum Schankstättengesetz mit „Ein-
beziehung eines brauchbaren Gemeindebestimmungsrechtes“ zu be-
kommen. Die vom Reichshaushaltausschuß vorgeschlagene Entschlie-
Bung aber, die alle zu diesem Gegenstand eingegangenen Petitionen
und Anträge erledigt und mit 241 gegen 163 Stimmen angenommen
wurde, hat folgenden Wortlaut:
„Der Reichstag wolle beschließen, folgende Entschließungen an-
zunehmen:
a) die Reichsregierung zu ersuchen, das vom Reichstag schon am
18. Februar verlangte Schutzgesetz gegen den Alkoholismus
nunmehr schleunigst vorzulegen; -
b) die Reichsregierung zu ersuchen, baldigst in eine Prüfung ein-
zutreten
1. über die derzeitigen Mißstände im Schankstättenwesen unter
dem Gesichtspunkt der Volksgesundheit, des Familienlebens
- und des Jugendschutzes;
2. über die Mißstände bei Verleihung von Konzessionen;
3. ob zur Bekämpfung dieser Mißstände eine stärkere Heran-
ziehung von Gemeindeangehörigen dienlich ist;
c) die Reichsregierung zu ersuchen, baldigst in eine Prüfung ein-
zutreten
1. über die Mittel zu einer wirksamen Bekämpfung des Alkohol-
mißbrauchs und über den Schutz der Volksgesundheit und des
Familienlebens, insbesondere aber unsrer Jugend gegen die
Gefahren des Alkohols;
2. über eine Neuregelung des Konzessionswesens unter Heran-
ziehung der zur Förderung und Ueberwachung der Volks-
gesundheit zuständigen Faktoren;
d) die Reichsregierung zu ersuchen, durch geeignete Maßnahmen
sicherzustellen, daß von den bei Kap. 2 Tit. 52 im Haushalt des
Reichsministeriums des Innern bewilligten Mitteln mindestens
ein Teilbetrag von zwei Dritteln ausschließlich praktischen
Zwecken, der Rest aber keinesfalls der Propaganda für das Ge-
meindebestimmungsrecht zugute kommt.“
Der auf Anregung des Herrn Bickes angefügte Schlußsatz spiegelt
noch einmal in geradezu komischer Weise die Angst vor dem Selbst-
bestimmungsrecht des Volkes dem König Alkohol gegenüber. Im
übrigen muß die Zukunft lehren, ob die guten Absichten der Ent-
schließung ebenso ernst gemeint sind wie diese Angst.
Die Regierung ihrerseits hatte aber inzwischen auch schon das
Gemeindebestimmungsrecht fallen lassen. Der Regierungsentwurf,
welcher demnächst dem Reichstag vorgelegt werden wird, und der das
Ergebnis vieler Hin- und Herberatungen und Zwischenentwürfe dar-
stellt, enthält das Gemeindebestimmungsrecht nicht mehr. Anstelle der
empfehlenden Begründung vom Juni 1923 fügt jetzt das Reichs-
Schaftsministerium ein Begleitschreiben bei, worin das Gemeinde-
mmungsrecht „als eine dem deutschen Verwalt_ngsrecht fremde
und für deutsche Verhältnisse nicht brauchbare Einrichtung“ abgelehnt
268 m Abhandlungen:
wird. Ein bedauerliches Zwischenspiel hinter den Kulissen ist dieser
neuen Stellungnahme vorangegangen. Es ist unwiderrufen geblieben,
daß die Reichsregierung der deutschen Wirtschaftspartei die Auf-
opterung des Gemeindebestimmungsrechtes zugestand, um dafür die
Zustimmung der genannten Partei zur letzten Biersteuererhöhung zu
gewinnen.
Das Alkoholkapital triumphiert. Unersättlich wie es nun einmal
ist, genügt ihm aber natürlich die Zerschlagung des Gemeinde-
bestimmungsrechtes nicht. Aeußerst selbstgewiß versichern seine Ver-
treter, wie kürzlich beim Zwickauer Alkoholgegnertag, daß der jetzt
vorliegende Entwurf, auch ohne Gemeindebestimmungsrecht, noch nicht |
Gesetz werden dürfe, weil er Bestimmungen enthalte, die dem Geschäfts-
‚ interesse zuwiderlaufen. Der Kamm ist den Leuten auch dadurch
mächtig geschwollen, daß nach dem Abgang des preußischen Inner
ministers Severing sein Nachfolger Grzesinski im schroffen Gegensatz
zu seinem Vorgänger alsbald die Polizeistunde verlängerte und zwar
für Berlin bis 3 Uhr morgens, in Städten mit mehr als 300 000 Ein
wohnern bis 2 Uhr morgens, in den Städten mit 100 000 bis 300 00
Einwohnern bis 1 Uhr.
Alle Warnungen und Proteste volkswirtschaftlicher und volks-
erzieherischer Instanzen, auch die Proteste der Angestellten des Gast-
hausgewerbes kamen gegen die Wünsche der Bierbrauer und Schnaps:
brenner nicht auf. Selbst ein großer Teil der Gastwirte hat von der
verlängerten Polizeistunde mehr Nachteil als Vorteil. Zeitungen aler
Richtungen müssen auf Grund der Tatsachen jetzt schon feststellen,
daß der Erlaß ein völliger Fehlschlag war, außer wenn es gelänge, das
Publikum noch nachträglich zur längeren Ausdehnung der nächtlichen
Trinkerei zu „erziehen“. In den Augen vernünftiger Menschen freilich
eine merkwürdige Erziehungsaufgabe! |
Der Dank des Alkoholkapitals aber besteht darin, daß es den
preußischen Innenminister aufs heftigste angreift, weil er die Polizer
stunde noch nicht vollständig und nicht für alle preußischen
Städte beseitigt habe. In fettester Schrift bringt „Das Gasthaus“ am
10. November die neue Kriegserklärung: „Solange sich das preußische
Ministerium des Innern nicht zu diesem Standpunkte bekennen kann,
solange wird es keinen Frieden in dieser wichtigen Streitfrage geben.‘
Und auch gegen den Schutz der Jugend, gegen ihre Aufklärung
durch einen planmäßigen Nüchternheitsunterricht nimmt das Alkohol
kapital und seine Freundschaft bereits Stellung. Ein deutlicher Beweis
dafür, was man von den großartigen Zusicherungen derjenigen vom
Alkoholkapital in den Reichstag entsandten Abgeordneten zu halten
hat, die ihre Ablehnung des Gemeindebestimmungsrechts dadurch zı
beschönigen suchten, daß sie sich mit Maßnahmen des Jugendschufze*
einverstanden erklärten. Aber das alles ist ja nur zu begreifen bei der
schwächlichen Haltung von Parlament und Regierung einerseits und
bei dem rücksichtslosen Profitegoismus auf der anderen Seite, der ni
mals andre Methoden gelten lassen wird, als diejenigen des bekannten
Sprichwortes: „Wasch mir den Pelz, aber mach ihn nicht naß!“
Man begreift, wie schwer unter diesen Umständen für uns Alkohol-
gegner der Kampf war. Wir haben den Millionen des Alkoholkapitals
im wesentlichen nur. unseren Idealismus entgegenzusetzen. on
Strecker, Ein Rückblick auf das Jahr 1926. 26%
während unsrer Werbewoche vom 10. bis 17. Mai 1925 verspürten wir
die starke Gegenwirkung des Geschäfts. Aber doch war das nur
ein Kinderspiel gegenüber der ganz großzügigen Propaganda, die man
unserer Unterschriftensammlung für das Gemeindebestimmungsrecht,
die am 14. März 1926 begann, entgegensetzte. Fast ausnahmslos alle
Zeitungen, alle Plakatsäulen, bis ins kleinste Dorf hinein, standen dem
Alkoholkapital für seinen weitgeöffneten Geldbeutel zur Verfügung.
Ebenso eine große Anzahl von mehr oder weniger erfolgreichen Propa-
andarednern, mehr oder weniger „sachverständigen‘“ oder „gelehrten“
hriftstellern. Es ist wirklich nicht zuviel gesagt, wenn man in diesem
Zusammenhange von einer Korruption der öffentlichen Meinung spricht.
(Vergl. das reiche Material in dem Schriftchen von Dabelstein a
tion in Presse und Parlament“. Verlag „Wille“, Hagen in Weitsalen,
Talstraße 10.) o
Was demgegenüber an Idealismus unsererseits aufgeboten werden
mußte, hat Dr. Kraut in Heft 3 der „Alkoholirage‘“ auf Grund seiner
besonderen Einsicht in die ganze Arbeit. ergreifend dargestellt. Dem
Ergebnis unserer Unterschriftensammlung wird nur derjenige gerecht,
der die Kräfte auf beiden Seiten richtig einzuschätzen versteht. In der
Mehrzahl der deutschen Ortschaften und in weiten deutschen Gebieten
verfügten wir überhaupt über keinerlei Beziehungen und Hilfskräfte,
wāhrend natürlich auch die letzte Bier- und Schnapskneipe noch auto-
matisch als Agentur des Alkoholkapitals funktionierte. Daß wir unter
diesen Umständen für unsere Petition an den Reichstag mehr als
2% Millionen Unterschriften zusammenbrachten, daß sich an der Unter-
stützung dieser Petition vornehm denkende Menschen aller Parteien,
aller Konfessionen, aller Stände beteiligten, das bleibt ein historisches
Faktum von Bedeutung. Und die Zahl dieser Millionen wird wachsen,
je mehr die Schäden des Alkoholismus steigen. Letzteres kann das
Alkoholkapital auf die Dauer weder verhindern noch verheimlichen.
Schon heute liegen erschütternde Berichte genug von amtlichen Stellen
über die stetige Zunahme der alkoholisch verursachten Krankheiten,
Unfälle und Verbrechen vor. Diese Tatsachen selbst sprechen letzten
Endes eine noch deutlichere Sprache als selbst die schreiendste Reklame
und Propaganda des Alkoholkapitals. So werden auch denjenigen, die
heute noch blind sind, und zum Teil blind sein wollen, die Augen auf-
gehen. Schrecklich nur, daß durch die Verzögerung einer wirklich
durchgreifenden Gesetzgebung erst noch Hunderttausende von neuen
pfern — getretene Frauen, verhungerte Kinder, Verunglückte, Ver-
stummelte, Ermordete — dem rohen Moloch zum Opfer fallen müssen.
Das Alkoholkapital hat seine riesigen Geldmittel und seine aus-
gebauten Organisationen natürlich auch wieder dazu ausgenutzt, um
in Anschluß an die am 2. November in Amerika vorgenommenen
Wahlen und Abstimmungen das nahe Ende des Verbotsgesetzes anzu-
kündigen; es soll sich dabei angeblich erwiesen haben, daß die Mehr-
heit der Bevölkerung von der Prohibition nichts mehr wissen will.
Weshalb ist dieses Siegesgeschrei aber so bald nach den ersten Bluff-
meldungen verstummt? Nun, in Wirklichkeit hat sich in der Zusammen-
setzung des Abgeordnetenhauses gar nichts geändert, es wird
ebenso „trocken“ sein wie bisher. In den Senat wurde der Führer der
„Irockenen“, Senator Willis im Staate Neuyork nach heißem Kampf
270 Abhandlungen.
wiedergewählt, während zwei Führer der „Nassen“, Wadsworth in
Neuyork und Brennau in Illinois, geschlagen worden sind.
Die Niederlage des Senators Wadsworth bedeutet wohl den größten
Sieg der „Trockenen“ seit der Annahme des Alkoholverbotes. Seit
Präsident Coolidge und die republikanische Regierung eine Politik der
energischen Durchführung des Verbotes eingeleitet haben, war Senator
Wadsworth, der Vorsitzende des sehr einflußreichen Komitees für
Steuer- und Militärangelegenheiten, der Führer der Opposition. Die
„trockenen“ Republikaner von Neuyork erkoren als Kandidaten Franklin
Christman, einen unabhängigen Republikaner. Er erreichte 225 000
Stimmen, was eine Mehrheit von 100000 gegenüber Wadsworth be
deutet, sehr zum Erstaunen der „nassen“ Republikaner, welche ge-
waltige Anstrengungen gemacht hatten, um dessen Wiederwahl zı
sichern. (Es handelt sich hier um die Wahl des aufzustellenden Kan-
didaten innerhalb der republikanischen Partei selbst.) Diese Spaltung
in den Reihen der Republikaner endigte mit der Wahl des Richters
Wagner, der zwar ein „nasser“ Demokrat ist, aber in keiner Weis
die gleichen Dienste für die Alkoholinteressen leisten kann wie Senator
Wadsworth. Der Bezirksleiter der Anti Saloon League New York,
Herr I. Davis, erklärt, daß diese Niederlage des Senators Wadsworth
ein Sieg von größter Tragweite sei. Auch in der Presse des Staates
an wird die Niederlage von Wadsworth in dem gleichen Sinn
ewertet.
Den „nassen“ Demokraten wiederfuhr ein ähnliches Schicksal in
Illinois. Trotzdem sich hier die „Trockenen“ spalteten und zwei Kar
didaten aufstellten, erlitt der „nasse“ Demokrat, Mr. Georg E .Brennät,
eine Niederlage durch Mr. Frank L. Smith, einen der „trockenen
Republikaner.
Man sollte überhaupt nicht annehmen, wie es vielfach in der Press
geht daß die republikanische die „trockene“ Partei sei und die
emokratische die „nasse“. Die Situation ist vielmehr nach der Januar-
Nummer des International Record folgende: Im Senat waren 1917 in der
entscheidenden Abstimmung 36 Demokraten und 29 Republikaner für
das Verbot, 12 Demokraten und 8 Republikaner dagegen, im Ab-
geordnetenhaus 141 Demokraten und 137 Republikaner für das Verbot
und 64 Demokraten und 62 Republikaner dagegen. Das Ergebnis der
letzten Wahlen aber zeigt, daß die Mehrheitsverhältnisse in beiden
Häusern des Parlamentes völlig aufrecht erhalten blieben. Von den
35 erwählten Senatoren sind 26 „trocken“ und von den 435 gewählten
Abgeordneten sind 311 „trocken“. Die Verbotsfreunde dürfen also mit
dem Ergebnis der Wahl, besonders im Hinblick auf die wütenden und
mächtigen Anstrengungen der Gegner, höchst zufrieden sein.
Von besonderem Interesse waren auch die Abstimmungen,
welche über die Milderungsvorschläge zum Volstead-Akt in einzelnen
Staaten gleichzeitig mit der Wahl veranstaltet wurden. Sie fanden merk-
würdigerweise nur in 8 Staaten statt; und auch da wurde nicht übe!
dasselbe abgestimmt. In 4 Staaten handelte es sich darum, den einzel-
nen Staaten das Recht zu geben, selbst zu bestimmen, welche Getrankt
als „berauschend“ anzusehen und infolgedessen zu verbieten 8&6-
Das ließe sich aber nur durch ein neues Bundesgesetz, nicht durch die
Gesetzgebung der Einzelstaaten machen. Die „Trockenen“ hatten e
halb diesen Abstimmungen jede gesetzliche Grundlage aberkannt w
Strecker, Ein Rückblick auf das Jahr 19286, 271
die Stimmenthaltung beschlossen, so daß die Abstimmung jede Be-
deutung verlor; es waren das die Staaten Neuyork, Illinois, Wisconsin
und Nevada; und deshalb hatten dort natürlich die „Nassen“ jene ge-
waltigen Mehrheiten, mit denen das Alkoholkapital in der ganzen Welt
krebsen ging. Hingegen sollten sich die Staaten Missouri, Arizona,
Kalifornien und Montana über Beibehaltung oder Aufhebung des
Staatsverbotsgesetzes aussprechen, das heißt über die Frage, ob der
Einzelstaat seine Beamten mit denen des Bundes bei der Durch-
führung des Verbotes zisammen wirken lassen will oder. nicht. Hier
beteiligten sich die „Trockenen“ am Kampfe, denn das zu entscheiden,
liegt in der Tat in der Kompetenz jedes einzelnen Staates für sich. Der
Erfolg war der, daß sie nur in dem kleinsten dieser Staaten, in Montana,
geschlagen wurden, in den drei andern großen Staaten jedoch den Sieg
davontrugen. So endete die heftige, seit dem Frühjahr währende Offen-
sive, von der die Gegner des Verbotes, wenn nicht die Aufhebung, so
doch wenigstens die erste Abschwächung der Verbotsgesetzgebung
erwartet hatten. In Europa aber glauben die meisten Menschen dank
der lügenhaften Berichterstattung auch heute noch, daß die Prohibition
drüben vor dem Ende stehe.
Die Worte des Präsidenten Coolidge bei Eröffnung der
Kongreßtagung Dezember 1925, die in den Presseberichten über diese
Botschaft in Europa auch fast allgemein unter den Tisch fielen, lauteten:
„Entsprechend den grundlegenden Verfassungsbestimmungen wurde in
ordnungsgemäßem Verfahren das Amendement betreffs Alkoholverbot
aufgenommen. Der Kongreß nahm ein Ausführungsgesetz an, und ähn-
liche Ausführungsgesetze bestehen in den meisten Staaten. So ist das
Alkoholverbot das Gesetz unseres ganzen Landes, und alle diejenigen,
welche unter dessen Gerichtsbarkeit kommen, haben die Pflicht, den
Geist dieses Gesetzes zu beachten. Das Justizministerium und das
Schutzamt aber haben die Pflicht, das Gesetz durchzuführen. Der
Bundesregierung liegt es vor allem ob, den Schmuggel zu unterbinden,
den gesetzwidrigen Transport im zwischenstaatlichen Handel, den
Mißbrauch der Erlaubnisse und die Schaffung von Ersatzquellen für
den gesetzwidrigen Handel. Durch Verträge mit den auswärtigen Re-
ierungen und vermehrte Tätigkeit des Küstenschutzes, der Steuer- und
erichtsbeamten und der besonderen Verbotsbeamten ist Vorsorge ge-
troffen, jeder Gesetzesübertretung zuvorzukommen; aber die Verfassung
bedingt auch eine entsprechende Verpflichtung der einzelnen Staaten.
Wir haben ihre tätige und kräftige Mitwirkung, die Wachsamkeit ihrer
Polizei und die Rechtsprechungen ihrer Gerichtshöfe bei der Durch-
führung des Verbotes nötig. Ich fordere das Volk auf zur Gesetzes-
beachtung, die Beamten zur Fortsetzung ihrer Bemühungen um die
Durchführung und den Kongreß zu günstiger Gestaltung des Budgets
mit Rücksicht auf die Fortführung dieses Werkes.“
Ueber die Stellung des Senates hat die Presse im Dienste des
Alkoholkapitals auch ganz irreführende Darstellungen veröffentlicht.
Es handelt sich dabei um folgendes: In jeder Session des amerikanischen
Kongresses pflegen die „nassen“ Mitglieder des Abgeordnetenhauses
und des Senates Anträge zu stellen, die die Milderung oder die Auf-
hebung des Verbotes beabsichtigen. Es handelt sich von vornherein
um eine platonische Kundgebung; denn jedermann weiß, daß die große
Mehrheit der Mitglieder des Kongresses entschieden verbotsfreundlich
272 Abhandlungen.
ist. Bis jetzt hat der Senat ganz einfach diese Anträge nach einer
summarischen Prüfung seines Rechtsausschusses abgelehnt.
Dieses Jahr wollte der Rechtsausschuß zuerst das gleiche tun.
Schließlich aber hat er gemeint, es sei besser, da man von verschiedenen
Seiten eine Untersuchung über die Wirkung des Verbots verlangte,
den „Nassen“ eine allerdings wenig sagende Genugtuung zu geben,
denn das Ergebnis der Abstimmung ist von vornherein sicher. Ein
Unterausschuß von 5 Mitgliedern, deren 4 Anhänger des Verbotes
sind, beschloß, eine unparteiische Untersuchung zu veranstalten, _
während 6 Tagen die Gegner und während 6 Tagen die Anhänger
des Verbotes zu hören, wie auch einige hohe Beamten, ganz besonders _
den Unterstaatssekretär, General Andrews, das Oberhaupt der Verbots
abteilung. |
Man versteht, daß der Rechtsausschuß des Senates diese Enquete
beschlossen hat, um so seine Unparteilichkeit zu bezeugen. Er hat den
Zwecken der „Nassen“ nur insofern unwissentlich gedient, als diese im
Lande selbst und in der ganzen Welt aus den vor dem Ausschuß ab-
gelegten Zeugnissen sehr geschickt Kapital geschlagen haben. Sie
haben die dem Verbot günstigen Zeugnisse wohlweislich verschwiegen,
dafür aber der Weltpresse lange Telegramme über die ungünstigen
Zeugnisse geschickt. Die Erklärungen der Vertreter der Verwaltung
sind in einer kaum glaublichen Weise entstellt worden. Derjenige, der
sich objektiv unterrichten will, sei nur darauf verwiesen, daß das Proto-
koll dieses Untersuchungsausschusses in zwei umfangreichen Bänden
(The National Prohibition Law. Hearings before the Subcomittee di
the Comittee on the Judiciary United States Senate) erschienen ist und
von der Regierungsdruckerei in Washington bezogen werden kann.
Zu den Ausagenden gehörte u. a. der berühmte amerikanische Volks-
wirtschaftler Irving Fisher. Er hat sich auch in einem eigenen Buch
geäußert, das unter dem Titel „Prohibition at its worst“ in Neuyork
erschien. Ohne irgend etwas von den Schwierigkeiten der Durch-
führung des Verbotes zu verkennen, ist er doch strikter Gegner jeder
Abschwächung des Gesetzes. |
Eine Debatte über das Alkoholverbot fand am 10. Dezember 1925
im Abgeordnetenhaus in Washington statt. Es handelte sich
um die von der Verwaltung vorgeschlagenen Maßnahmen, um das-
Verbot besser durchzuführen. Die Gegner des Verbotes haben die Ver-
waltung heitig angegriffen, aber schließlich haben sich 140 Abgeordnete
für den Vorschlag ausgesprochen und nur 22 dagegen. Die Frage des
legalen Verbrauchs, d. h. des in der Industrie verwendeten Alkohols,
ist in Amerika lebhaft umstritten. Die amerikanischen Behörden be-
mühen sich, den Alkohol in einer so wirksamen Weise zu vergällen, daß
er zu Genußzwecken nicht verwendet werden kann. Einige Zeitungen
haben behauptet, daß die Verwaltung mit Absicht besonders giftige
Substanzen gebrauche, die bei einer ungenügenden Reinigung des
Alkohols tödlich wirken. Darauf hat der Direktor des Bureaus für den
industriellen Alkohol der Presse eine längere Erklärung zugestellt,
in der er sich aufs entschiedenste dagegen verwahrt, daß man vorzugs-
weise sehr toxische Substanzen benutze. Die Verwaltung wünscht aber,
solche Stoffe zu verwenden, die eine Renaturierung unmöglich machen,
und deren Geruch und Geschmack so abstoßend sind, daß diejenigen,
mw} AA
Strecker, Ein Rückblick auf das Jahr 1926. 273
die vergällten Alkohol trinken möchten, sofort vor der Gefahr ge-
warnt sind. |
Der oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten hat mit
5 gegen 4 Stimmen erklärt, daß die Bestimmung des Verbotsgesetzes,
die es den Aerzten verbietet, ihren Patienten für eine Periode von
10 Tagen mehr als eine Pinte (0,568 1) Whisky zu verschreiben, die
Bundesverfassung nicht verletzt. Das Gericht ist der Meinung, daß
das vorgeschriebene Maximum die Freiheit der Aerzte nicht in einer
den.Kranken schädlichen Weise beschränkt, und daß, wenn die Aerzte
ganz frei Alkohol verschreiben könnten, einige von ihnen dies Vor-
recht gewiß mißbrauchen würden. Das Urteil des Gerichtshofes er-
wähnt auch, daß viele Aerzte dem Whisky jede Heilwirkung absprechen.
Abweichend von den Vereinigten Staaten sucht Canada mit der
Alkoholfrage fertig zu werden. Das Verbot herrscht hier nur noch in
den kleinen Provinzen Neubraunschweig, Neuschottland und Prinz
Edward-Insel. Erst in Alberta, jüngst in Ontario ist das Verbot wieder
aufgehoben worden. Es hat hier freilich auch nur als bloßes Gesetz
und nicht als Verfassungsbestimmung bestanden und erstreckte sich
auch nicht auf sämtliche geistige Getränke. Ueberflüssig zu sagen, daß
sich das nee der ganzen Welt nicht nur über die Wieder-
aufhebung des Verbotes gefreut, sondern auch materiell kräftig sein
Teil dazu beigetragen hat. i
In Ontario hängt die Aufhebung des Verbotes mit den Wahlen vom
l. Dezember 1925 zusammen, welche eine konservative Mehrheit ans
Ruder brachten. Wenn auch das Verbot nicht eigentlich Wahlparole
war, und die letzte vorangegangene Verbotsabstimmung immer noch
eine Mehrheit für das Verbot ergeben hatte, so glaubte doch der neue
Premierminister die Situation für seine Politik ausnützen zu dürfen. Er
entschuldigt sich damit, daß er darauf hinweist, die letzte Mehrheit für
das Verbot seit viel geringer gewesen als bei früheren Abstimmungen.
Er kündigt dann große Gewinne für die Provinz aus dem Alkohol-
geschäft an. Er begegnet aber auch scharfen Protesten. Der General-
staatsanwalt W. F. Mickle hat sein Amt niedergelegt, weil er mit der
alkoholfreundlichen Politik nicht einverstanden ist. Er nennt in seinem
Abdankungsschreiben die Legalisierung des Verkaufes alkoholischer
Getränke einen schweren Fehler und verurteilt sie als „verführerisch
und betrügerisch“. Die Arbeiterpartei der Provinz veröffentlicht eine
Erklärung, wonach sie nur „die stetige Zurückdrängung des Alkohol-
geschäftes bis zum denkbar niedrigsten Grade“ für die einzige Politik
- hält, die sich „mit der Verantwortlichkeit einer Regierung vertrage“.
Sie bezeichnet die alkoholfreundliche Politik der neuen Regierung als
einen „Betrug an Wohlfahrt und Gesundheit des Volkes“.
Aehnlich ist die Lage in der Provinz Britisch-Columbien, wo der
Premierminister Oliver voll Stolz auf seine Einnahmen aus dem Alkohol-
geschäft hinweist. Sie betragen in der Tat nicht weniger als 1% Mil-
lionen Dollars für ein halbes Jahr. Von dieser Summe werden 550 000
Dollars an die Gemeinden verteilt und 230 000 Dollars an die Kranken-
häuser. Die Freunde des Alkoholverbotes wehren sich auch hier gegen
ein solch zweifelhaftes Geschäft, wodurch Steuerzahler und Wohlfahrts-
einrichtungen dazu verführt werden, den Alkoholhandel zu erhalten.
Das sei nicht anders, als ob man einem Hunde seinen eigenen Schwanz
Die Alkoholfrage, 1926. 18
274 Abhandlungen.
zu kauen gäbe. Begreiflich ist die veränderte Einstellung in Ontario
und Alberta durch die Nachbarschaft der Provinzen mit Alkohol
ausschank. Die nächste Zeit mag nun lehren, ob die Tatsachen mehr
für das amerikanische Verbot oder für das canadische Kontrolisystem
sprechen.
Wenden wir uns wieder nach Europa, so sind es die skandi-
navischen Länder, die mit ihrer Alkoholbekämpfung bisher am
weitesten gekommen sind. Von ihren verdienstvollen Versuchen wird
ohne Zweifel das übrige Europa künftig zu lernen haben. Gutes
Material über die skandinavische Gesetzgebung und ihre Wirkung ent-
hält das Schriftchen von Dr. Günther Schmölders „Prohibition im
Norden“ (Verlag Gebr. Unger, Berlin SW 11). Die Schlußfolgerungen,
die er aus seinem Material zieht, braucht man freilich nicht in allen
Einzelheiten zu teilen. Er selbst bekennt, daß „unbedingt exakte grad
messende Symptome des Alkoholismus“ noch nicht festgestellt sind.
Auch er muß deshalb manche Frage offen lassen.
Wenn er zum Schluß vor dem Verbot warnen zu müssen glaubt,
so läßt sich das vielleicht auf Grund der Schwierigkeiten, mit denen
Finnland noch zu tun hat, begreifen. Vorsichtiger aber wäre eine
Warnung nur vor der Verfrühung des Verbotes. Es erscheint
durchaus nicht ausgeschlossen, daß auch Finnland seine Zwecke noch
erreicht. So sehr hier die Presse und die oberen Klassen dem Verbot
widerstreben, so entschieden sieht die Arbeiterschaft in ihm einen wert:
vollen Schutz. Man unterschätze auch nicht, in Finnland ebenso we
in Amerika, die überaus erzieherische Wirkung der alkoholfreien öflet
lichen Gastlichkeit in Hotels, Cafes und Wartesälen, bei Versammlungen
und Festlichkeiten. Was sich an Schwierigkeiten herausstellt, wird von
der finnischen Regierung selbst mit aller Gründlichkeit geprüft.
In Nr. 4 der „Internationalen Zeitschrift gegen den Alkoholismus“
1926 findet man den ausführlichen Bericht über eine amtliche Unter-
suchung. Die eine Hauptquelle der Uebertretungen sind demnach die
Rezepte der Schnapsdoktoren, die andre Hauptquelle die Schmuggler.
Um die letzteren erfolgreicher bekämpfen zu können, ist in Helsingfors
der Vertrag zwischen den Ostseestaaten abgeschlossen worden, den
erfreulicherweise, wenn auch nach langem Zaudern, auch Deutschland
anfangs 1926 ratifizierte.e Er enthält Bestimmungen über das inter-
nationale Zusammenwirken der Zollbeamten und sonstigen Behörden
sowie über die Größe der Schiffe mit Alkoholfracht und über ihre
Ausklarierung. Allerdings betrifft der Vertrag nur alkoholische Ge
tränke mit 18 Raumhundertteilen auf 180 Gramm im Liter, ein Prozent-
satz, der im Interesse der deutschen Alkoholhändler für diese sogar
noch auf 22 Raumhundertteile erhöht worden ist. Immerhin kann dieser
Vertrag, ähnlich wie die zwischen Amerika und alkoholproduzierenden
Ländern abgeschlossenen Verträge, zur Grundlage für die Entwicklung
eines internationalen Rechtes auf dem Gebiete der Alkoholbekämpfung
dienen. In diesem Sinne hat sich auch die Sachverständigenkonterenz 1n
Genf im Sommer 1925 mit diesen Verträgen beschäftigt und tritt
wiederum zu einer solchen Konferenz im Januar 1927 zusammen, UM
möglicherweise Fühlung mit dem Völkerbund zu nehmen, der bei semer
letzten Tagung beschloß, die Alkoholfrage auf die Tagesordnung seine!
nächsten Hauptversammlung zu setzen. Schmölders gibt in semer
Strecker, Ein Rückblick auf das Jahr 1926. 275
Schrift dem schwedischen Rationierungssystem, dem
von Dr. Bratt korrigierten Gotenburger System, den Vorzug. Es handelt
sich da um eine ziemlich individuell Rationierung, der in der
Tat Erfolge nicht abzusprechen sind. Immerhin ist die Zufriedenheit
damit in Schweden keineswegs allgemein, wie wir namentlich gelegent-
lich des 18. internationalen Kongresses in Dorpat aus dem schwedischen
Tatsachenmaterial entnehmen konnten.
In Dänemark, wo das Gemeindebestimmungsrecht erst von
den Alkoholgegnern privatim ausgeprobt, dann gesetzlich eingeführt
wurde, hat die Regierung eine Kommission eingesetzt, die über die
Verhältnisse in Amerika, Finnland und Norwegen berichten soll. Sie
gibt ihrer Auffassung Ausdruck, daß für Dänemark die Zeit des Alkohol-
verbotes noch nicht gekommen sei. Die Alkoholgegner aber werden
im dänischen Parlament einen anderen Standpunkt vertreten. Sie
schlagen vor, daß Norwegen, Schweden und Dänemark
sich zusammentun möchten, um für das ganze Gebiet der skandina-
vischen Staaten durch Volksentscheid an einem und demselben Tage
das Alkoholverbot zu erreichen. Es fragt sich, wie weit Schweden,
vor allem aber auch wie weit Norwegen für ein solches Vorgehen zu
haben wären. Schweden war bekanntlich s. Z. der Mehrheit für
ein Verbot sehr nahe gekommen. Es stimmten dort 1922 im August
042880 ge Ki en, 889 100 für das Verbot. Norwegen dagegen hat eben
erst die Niederlage seines 'Branntweinverbotes in einer Volks-
abstimmung erlebt.
Die am 18. Oktober 1926 vollzogene norwegische Volks-
abstimmung, die sich auf das Verbot der schwereren Alkohol-
getränke mit über 21 Prozent Alkohol bezog, bringt wieder einmal die
Frage vor das Weltgericht der öffentlichen Meinung, wie sich das
Selbstbestimmungsrecht kleiner Völker gegenüber den mächtigen
Interessen des Alkoholkapitals in größeren Ländern behaupten soll.
Man weiß, wie das Verbot in Norwegen während des Krieges entstand
und alle alkoholischen Getränke über 14 Prozent Alkohol betraf. Kaum
aber war der Krieg vorbei, als Frankreich auf Norwegen drückte und
die Abnahme von 450.000 I Südwein und Sprit erzwang. Hierdurch
ermutigt tolgte Spanien und verlangte die Abnahme von % Million 1
spanischer Weine, 1923 folgte dann prompt eine Anforderung von
Portugal, daß Norwegen 850 000 I portugiesische Weine kaufen sollte.
So blieb für Norwegen schließlich nur noch ein Schnapsverbot
übrig. Dessen Durchführung aber ist schwierig, weil gerade der
Schnaps sich am leichtesten schmuggeln und durch Schleichhandel ver-
treiben läßt. Eine Anzahl Aerzte und Tierärzte mißbrauchten ferner
in grober Weise ihr Verordnungsrecht, und die Behörden standen dem
schreienden Skandal wehrlos gegenüber. Erst am 1. März 1924 trat
ein neues, einigermaßen wirksames Gesetz über ärztliche Verordnungen
in Kraft. Endlich wurde das Verbot zu einer akuten politischen Frage:
verbotsfeindlich waren die Rechtsparteien. Die Tagespresse in Oslo,
deren Einfluß sich auf das ganze Land erstreckt, trat, von wenigen
Ausnahmen abgesehen, entschieden gegen das Verbot auf.
Unter diesen ungünstigen Umständen nahm die anfangs be-
Obachtete Wirksamkeit des Verbotes ab, man hatte, wenigstens in Oslo,
wieder eine besorgniserregende Zahl von Verhaftungen wegen Trunken-
heit zu verzeichnen. Dies schrieb man dem ungesetzlichen Schaaps-
19°
276 Abhandlungen.
verbrauch allein zu, obgleich der steigende Verbrauch der starken
Weine wohl in erster Linie dafür verantwortlich war. Man erhob
gegen das Verbot den Vorwurf, es untergrabe die Volkssittlichkeit und
zerstöre die Achtung vor dem Gesetze. Im Jahre 1925 verbesserte eine
strengere Durchführung des Verbotes die Lage, aber die am 18. Oktober
1926 vorgenommene Volksabstimmung über das Verbot zeigt, daß die
Unzufriedenheit allzutiefe Wurzeln geschlagen hatte. Eine Mehrheit
von rund 111000 Stimmen erklärte sich gegen das Verbot. Damit
ist seine Aufhebung entschieden. Ueber die nunmehr zu treffenden
Fra Maßnahmen gegen den Alkoholismus steht noch nichts
est’).
Nicht recht wäre es, unter den skandinavischen Staaten das kleine,
aber tapfere Island zu vergessen. Hier hat sich eine Vereinigung
ebildet zu dem besonderen Zweck, den Druck zu bekämpfen, den
panien gegen das Verbotsgesetz des Landes ausübt. Man möchte
ve Handelsvertrag mit Spanien und andern Wein produzierenden
ändern abgelehnt wissen, der eine Verletzung des isländischen Ver-
botsgesetzes darstellen würde. Guttempler, ferner die Vereinigungen
der Geistlichen, der Lehrer, der Frauen, der Sozialisten, der Sport-
verbände usw. haben sich hinter diese Forderung gestellt. Sie findet
in Parlament und Presse ihr Echo.
Ein anderes europäisches Land, im Gegensatz zu Island das größte,
das sich während des Krieges zum Erstaunen der Welt auch zu der
radikalen Maßnahme eines Alkoholverbotes entschloß, Rußland,
ist in letzter Zeit wieder zum Alkoholkonsum zurückgekehrt. Es hat
das Branntweinmonopol eingeführt. Der Spezialkorrespondent de
Zeitung „Reformatorn“ in Stockholm berichtet: „Das Volk hat wieder
sehr stark zu trinken angefangen, und es scheint, als ob Rußland erst
noch wieder tief in die Schnaps-Sintflut versinken müßte, ehe es auf
seinem falschen Wege umkehrt“.
Erinnern wir der Vollständigkeit halber noch daran, daß im
Britischen Weltreich auch außer in Canada noch in andern
ebieten der un gegen den Alkohol wirklich aktiv geführt wird, sO
in Schottland, wo namentlich in den Bergarbeiterdistrikten das
Gemeindebestimmungsrecht wieder seine Mehrheiten findet; so 0
Südafrika, wo der Minister Roos mit seiner alkoholfreundlichen
Gesetzgebung auf so entschlossenen Widerstand besonders der Kirchen
stieß, daß er die Entscheidung vertagen mußte; so in Australien,
wo einzelne „trocken“ gewordene Distrikte schon von sichtbaren Vor-
teilen berichten können; erinnern wir ferner daran, daß zwar die
romanischen Völker durch ihren Weinbau solange belastet sind,
als nicht nach kalifornischem Beispiel die gärungslose Verwertung
dieser Obsternten großzügig organisiert wird; daß aber Chinesen
und Japaner als nüchterne Völker angesprochen werden dürfen,
die ‚sich hotfentlich des aufgedrängten Bier- und Schnapsimportes
auch künftig mit Erfolg erwehren können; daß endlich für die islami;
tischen Völk cer das Alkoholverbot schon im Koran verankert
ist! dann dürfen :wir wohl zusamenfassend sagen: auch unter
I Vgl. S. 310ff.
Baurichter, Bedeut. d. Alkohol- u. Tabakkons. f. d. Höhe d. deutsch. Repar.-Zahl. 27.7
universalem Gesichtspunkt sieht der Kampf gegen das dämonische Gift
Alkohol immer noch ernst und schwer genug aus, aber doch nicht so
trostlos, wie wenn wir ihn lediglich aus der deutschen Perspektive von
heute betrachten. Die gewaltige Bewegung, die da überall im Gange
ist, macht nicht den Eindruck, als ob sie wirkungslos aus dem Gang
der Weltgeschichte wieder verschwinden könnte. Die Nervosität unsrer
Gegner läßt sich begreifen. Und mögen sie, namentlich bei uns in
Deutschland, auch noch den einen oder andern Triumph erleben. Wir
dürfen doch im Hinblick auf die letzten Ziele der Menschheit guten
Mutes zu ihnen sprechen:
„Ihr zittert mehr als wir!“
Die Bedeutung des Alkohol-
und Tabakkonsums für die Höhe
der deutschen Reparationszahlungen.
Von Diplom-Volkswirt Kurt Baurichter.
Es ist bekannt, daß für die Summen, die Deutschland jährlich als
Reparationsbeitrag an seine Weltkriegsgegner zu zahlen hat, im
Londoner Abkommen (Dawes-Gutachten) ein genauer Zahlungsplan
festgesetzt worden ist. Danach sollen die deutschen Leistungen
betragen
im ersten „Dawesjahr“ (1.9. 1924—30. 8. 1925) 1000 Millionen GM
„ zweiten j (1925/26) 120 , r
„ dritten E (1926/27) 1200 , 3
„ Vierten M (1927/28) 1750 „ M
» fünften (1928/29) 2500 ,, j
Dieser Betrag von 2% Milliarden GM soll von 1928/1929
jährlich von Deutschland geleistet werden. Da aber 1924, unmittelbar
nach der Währungsstabilisierung, die wirtschaftliche Lage und Ent-
wicklung noch sehr unübersichtlich war, wurden Bestimmungen in das
Abkommen aufgenommen, um bis zu einem gewissen Grade wenigstens
die Jahreszahlungen einer veränderten Leistungsfähigkeit der deutschen
Wirtschaft anzupassen. Diese Elastizität der jährlichen Reparations-
leistung wurde hergestellt durch zwei Bestimmungen, die in der öffent-
lichen Diskussion nicht immer mit genügender Deutlichkeit aus-
einandergehalten werden.
Bei der ersten handelt es sich um eine Uebergangsregelung, die
nur für die Jahre 1926/27 und 1927/28 Geltung hat. Das Londoner
Protokoll (Unteranlage zu Anlage I, enthaltend das Abkommen vom
9. August 1924 zwischen Deutschland und der Reparationskommission)
sagt darüber:
„Wenn der Ertrag der gesamten kontrollierten Einnahmequellen
im dritten Jahre eine Milliarde oder im vierten Jahre 1% Milliarde
übersteigt, so sollen die Leistungen aus dem Haushalt jeweils um ein
Drittel dieses Ueberschusses, jedoch um nicht mehr als 250 Millionen
erhöht werden. Wenn umgekehrt diese Gesamteinkünfte im dritten
Jahre 1 Milliarde oder im vierten Jahre 1% Milliarde nicht erreichen,
278 Abhandlungen.
so sollen die Leistungen aus dem Haushalt jeweils um ein Drittel des
Fehlbetrages, jedoch um nicht mehr als 250 Millionen, vermindert
werden.“
Das Inkrafttreten dieses sogenannten „kleinen Besserungsscheines“
hängt also davon ab, ob die gesamten kontrollierten Einnahmen (Er-
träge aus Zöllen plus Abgaben auf Branntwein, Tabak, Bier und
Zucker) im dritten Jahre (1926/27) 1 Milliarde bzw. im vierten Jahre
(1927/28) 1% Milliarde überschreiten. Wenn solche Ueberschreitung
stattfindet, dann ist Deutschland verpflichtet, eine zusätzliche
Reparationszahlung in Höhe eines Drittels des überschießenden Be-
trages zu entrichten; jedoch ist diese Zusatzleistung im Maximum auf
250 Millionen begrenzt.
Da wir in dieses dritte Reparationsjahr erst am 1. September 1926
eingetreten sind, läßt sich nur schätzungsweise auf Grund der Ergeb-
nisse der beiden letzten Steuerjahre und der vorläufigen Ergebniss
des laufenden Jahres etwas darüber aussagen, ob diese erhöhte
Zahlungsverpflichtung Deutschlands eintreten wird oder nicht. In den
Rechnungsjahren 1924/25 und 1925/26 hat sich das Aufkommen aus
den kontrollierten Einnahmequellen folgendermaßen gestaltet (in
Millionen RM):
1924 1925
Erträge aus Zöllen 356,6 590,5
Abgaben auf
Branntwein 141,4 153,1
Tabak 513,7 615,5
Bier 196,5 255,9
Zucker 219,1 236,2
(Aus: Wirtschaft und Statistik, Nr. 13, 1926.)
Das Aufkommen hat also im Rechnungsjahr 1924/25 1,4 Milliarden,
im folgenden Jahr sogar 1,8 Milliarden überschritten. Es ist sicher, daß
auch in den nächsten Jahren die Ein-Milliarden-Grenze überschritten
wird, so daß wir 1926/27 bestimmt in einen Zuschlag verfallen werden.
Es ist sogar wahrscheinlich, daß. wir das Maximum (1750 bzw. 2000
Millionen) erreichen und den vollen, in diesem Höchstfall 250 Mil
lionen betragenden Zuschlag werden zahlen müssen. Die Berechnung
dieser Zuschläge soll nach der im Londoner Plan getroffenen Regelung
nach Ablauf des dritten und vierten „Dawesjahres‘“ (30. 8. 1927 und
30. 8. 1928) erfolgen. Tatsächlich hat aber der Reichsfinanzminister
Dr. Reinhold bereits im September dieses Jahres mit dem General
agenten für Reparationszahlungen, Parker Gilbert, ein Abkommen ge
troffen, wonach Deutschland sich verpflichtet, schon im laufenden Jahr
eine Extrazahlung von 300 Millionen RM zu leisten, womit alle Zusatz-
ansprüche der Reparationsgläubiger für die beiden in Frage kommenden
Jahre 1926/27 und 1927/28 abgegolten sein sollen. Offenbar hat also
der Reichsfinanzminister für beide Jahre mit dem Inkrafttreten der
vollen zusätzlichen Zahlungsverpflichtung gerechnet, d. h. damit
gerechnet, daß im dritten Jahre (1926/27) die kontrollierten Einnahmen
1000 + 750 Millionen, im vierten Jahre (1927/28) die kontrollierten
Einnahmen 1250 + 750 Millionen überschreiten werden. Dieses Ab-
kommen bedeutet also im günstigsten Falle, daß Deutschland statt einer
Mehrleistung von zweimal 250 Millionen in den nächsten beiden Jahreo
Baurichter, Bedeut. d. Alkohol- u. Tabakkons. f. d. Höhe d. deutsch. Repar.-Zahl. 279
einmalig, aber bereits im laufenden Jahr, 300 Millionen zahlen wird,
die nach den Abmachungen ausschließlich für die Abdeckung von Sach-
leistungen verwendet werden sollen. Durch diese Neuregelung ist eine
allmählichere, gleichmäßigere Steigerung der Jahresleistungen erreicht
worden, und man kann sagen, daß Reichsfinanzminister Reinhold an-
gesichts der unvermeidlichen Sonderbelastung versucht hat, das Beste
daraus zu machen. Der ursprüngliche Zahlungsplan hat sich dadurch
folgendermaßen verändert:
Rep.-Zahlung 1924/25: 1000 Millionen
j 1925/26: 1220 i;
2 1926/27: 1500 = (statt 1200 + evtl. 250 Mill.)
5; 1927/28: 1750 j (statt 1750 + evtl. 250 Mill.)
K 1928/29: 2500 =
Diese Steigerung der ohnehin drückenden Reparationslast ist
natürlich überaus bedauerlich. Es ist eine sehr umstrittene Frage, ob
sie vermeidbar gewesen wäre. Manche meinen, eine größere Mäßigung
im Alkohol- und Nikotingenuß würde uns diese Mehrausgabe erspart
haben. Tatsächlich haben jedoch allein die Einnahmen aus Zöllen und
Zuckersteuer in der ersten Hälfte des laufenden Rechnungsjahres (April
bis September 1926) über 550 Millionen RM betragen. Zieht man
daraus den naheliegenden Schluß, daß im dritten „Dawesjahr‘“ schon
aus diesen beiden kontrollierten Einnahmequellen sich ein Jahresauf-
kommen von über eine Milliarde RM ergeben wird, dann ist zu sagen,
daß selbst im günstigsten Falle ein heroischer Verzicht, eine totale,
hundertprozentige Enthaltsamkeit vom Konsum dieser Genußmittel
gerade ausgereicht haben würde, um überhaupt den Eintritt, das Fällig-
werden einer zusätzlichen Leistung zu verhindern! Solche radikale
Aenderung und Aufgabe alter Konsumgewohnheiten innerhalb eines
so kurzen Zeitraumes ist natürlich undenkbar. Wohlaber hätte
durch eine wesentliche Einschränkung dieses
Luxuskonsums erreicht werden können, daß wir
nicht gerade den Höchstbetrag der vorgesehenen
Sonderabgabe hätten zahlen müssen.
Auf der anderen Seite wird von den Interessenten nicht so sehr die
Höhe des Konsums, als vielmehr die übermäßige Steigerung der darauf
ruhenden Abgaben verantwortlich gemacht für die Erhöhung der kon-
trollierten Einnahmen und die dadurch eingetretene erhöhte deutsche
Zahlungsverpflichtung. Mit diesem Argument ist auch die zwar be-
schlossene, aber in dem Augenblick, in dem diese Zeilen geschrieben
werden, noch nicht in Kraft getretene Erhöhung der Biersteuer
bekämpft worden. Gerade in diesem Fall aber ist es durch die
Tatsachen selbst widerlegt worden, denn die erhöhte Zahlungs-
verpflichtung De.tschlands ist nach dem Abkommen zwischen Finanz-
minister und Generalagenten bereits eingetreten. Auf der anderen
Seite geht die überwiegende wirtschafts- und finanzpolitische Mei-
nung dahin, daß die Verbrauchsabgaben speziell für Alkoholica in
Deutschland im Verhältnis zu anderen Staaten zu niedrig sind und daß
gerade hier noch erhebliche unausgenutzte Steuerreserven stecken und
realisiert werden müssen. Eine Herabsetzung der Abgaben auf Brannt-
wein, Tabak, Bier und Zucker ist überdies nach den Bestimmungen des
Londoner Abkommens nicht möglich ohne Einwilligung des Kom-
280 Abhandlungen.
missars für die verpfändeten Einnahmen, die in solchem Falle, wie
erade der Biersteuer-Streit gezeigt hat, schwerlich zu erreichen wäre.
dlich ist in diesem Zusammenhang auch hinzuweisen auf die Zoll-
einnahmen, deren erhebliche Steigerung infolge der deutschen Schutz-
zollpolitik ebenfalls beigetragen hat zu jener Erhöhung der kon-
trollierten Einnahmen, welche die Ursache gewesen ist unserer Ver-
pllichtung zu einer zusätzlichen, drückenden Reparationsleistung.
Die zweite Bestimmung im Londoner Abkommen, welche sich auf
die Anpassung der deutschen Reparationsannuität an eine veränderte
Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft bezieht, ist gleichfalls ent-
halten in der Unteranlage zu dem Abkommen vom 9. August 1924
pa ar u ui
zwischen Deutschland und der Reparationskommission. Sie bezweckt,
einen Index zu schaffen, um an ihm Wohlstandsänderungen des deut-
schen Volkes periodisch wahrnehmen und messen zu können. Zu den |
Komponenten, die den Index bilden, gehört auch der Konsum von
Zucker, Tabak und Alkohol (ausgenommen Wein). Es ist darum mit
scheinbarer Berechtigung gefordert worden, den Konsum von Alkohol
und Tabak möglichst niedrig zu halten, um nicht durch eine für uns
ungünstige Indexgestaltung die Reparationslast ohne zwingenden
Grund zu vergrößern. Allein man hat dabei übersehen, daß eine Ver-
flichtung zu solchem Verhalten mit Rücksicht auf den Wohlstands
index erst dann entsteht, wenn die Bestimmungen über die Berechnung
von Zuschlägen auf Grund der Indexänderungen tatsächlich in Kraft
treten. Das aber ist erstmalig frühestens 1929/30 der Fall. Die ganze
Gefährlichkeit dieser Argumentation aber wird erst dann deutlich, wenn
man daran erinnert, daß die Indexbasis errechnet wird aus dem durch
schnittlichen Verbrauch der Jahre 1912 und 1913, 1926, 1927, 1928 und
1929. Der Maßstab also, wonach die Höhe künftiger Zuschläge
berechnet wird, ist der gegenwärtige Verbrauch. Der Konsum dieser
Jahre bis einschließlich 1929 bildet als Durchschnittskonsum die
sogenannte Indexbasis. An dieser Basis werden spätere Veränderungen
gemessen. Das ist ja der Sinn des Wohlstandsindex, soweit die Ver-
brauchszahlen für Alkohol und Tabak für ihn maßgebend sind: wenn
wir später mehr rauchen und trinken als heute, dann ist das ein Zeichen
gehobenen Wohlstandes und ein Grund für die Reparationsgläubiger,
sich an solcher offensichtlichen Wohlstandssteigerung zu beteiligen,
indem sie ein Plus an Leistungen von ihrem Schuldner fordern. Je
geringer darum der gegenwärtige Konsum ist, je tiefer also die Index-
basis (Durchschnittsverbrauch) sich stellt, umso mehr wachsen die
Chancen der Gläubiger, daß wir später mehr trinken oder rauchen
werden als heute, d. h. also, daß wir dann zukünftig durch die Alk ohoł
und Tabakkomponente den Index zu unseren Ungunsten gestalten
werden und Zuschläge zahlen müssen.
Mit dem Hinweis auf die Bestimmungen über den Wohlstandsindex
im Londoner Abkommen eine Einschränkung des Alkohol- und Tabak-
konsums zu befürworten und zu fordern, ist daher gegenwärtig nicht
nur unerlaubt, sondern würde den wirklichen Tatbestand geradezu. auf
den Kopf stellen. Erst wenn 1929/30 das System der Zuschläge auf
Grund des Wohlstandsindex in Kraft getreten ist, wird durch
steigenden Verbrauch dieser Genußmittel als einer der sechs Kom-
ponenten die Indexgestaltung zu unseren Ungunsten beeinflußt und
unsere Leistungspflicht dadurch erhöht werden können. E
=. On — |
|
Flaig, Bedeutsame behördliche Maßnahmen mit Bezug auf den Alkohol. (XLI.)- 281
Bedeutsame behördliche Maßnahmen
mit Bezug auf den Alkohol. (XLI.)
Zusammengestellt von Dr. J. Flaig.
1. Betr. Ausschank- Beschränkung.
Beschränkung des Branntweinausschanks am Sonntag in Ostpreußen. :
Durch Verordnung des Oberpräsidenten vom 14. Juli 1926 ist an
Sonn- und Festtagen der Ausschank von Branntwein und Spiritus
während der Zeit des a dee (9/a„—12 Uhr)
untersagt. Zu Branntwein und Spiritus sind, worauf das Polizei-
präsidium noch besonders hinweist, alle Arten konzentrierten Alkohols, also
auch Liköre, Kognak (desgl. Selter mit Kognak), dänischer Korn, Rum, Arrak
und Grog zu rechnen. Das Verbot gilt auch für Bahnhofwirtschaften.
Branntweinschänken, d. h. Schankstätten, in denen ausschließlich
oder vorwiegend Branntwein oder Spiritus verabfolgt wird, müssen
während der Zeit des Hauptgottesdienstes geschlossen
bleiben. („Zeitschrift für Spiritusindustrie“, 1926 Nr. 34 nach Meldungen der
Königsberger Presse.) Zu
In Schaubuden und auf Rummelplätzen keinen Alkoholausschank.
Die Polizeiverwaltung der Stadt Elbing erteilt Schaubuden
und Rummelplätzen an Jahrmärkten grundsätzlich keine Schankerlaubnis für
berauschende Getränke, mit der Begründung, daß dafür kein Bedürfnis vor-
liege. Nach der Reichsgewerbeordnung (§ 42a, Abs. 3) hat es bekanntlich
die Ortspolizeibehörde in der Hand, hier Erlaubnis zu erteilen oder nicht.
Stellungnahme eines Kreisausschusses zum Bestreben der Neueinrichtung
oder Erweiterung von Bahnhofwirtschaften.
Diesem vielfach sich geltend machenden und beklagten Bemühen der
Reichsbahnverwaltung (aus offenbar geldlichen Gründen) ist der Beeskow-
Storkower Kreisausschuß dadurch entgegengetreten, daß er unter Bezug-
nahme auf eine Entscheidung des preußischen Oberverwaltungsgerichts vom
Dezember 1925 für jede Erweiterung oder Neueinrichtung obengenannter
Wirtschaften Genehmigung durch den Kreisausschuß forderte.
Warnung für Schankstätteninhaber und Bitte an die Eltern, Erzieher
und Vereinsvorstände, erlassen von der Polizeiverwaltung in Erfurt.
(Thüringer Allgemeine Zeitung, Erfurt, 16. Dezember 1926.)
Die fortgesetzten nächtlichen Sachbeschädigungen an
Zäunen, Bänken, Laternen, Feuermeldern, Kabeln usw., die zweifellos von
angetrunkenen jungen Leuten verursacht werden, geben der Polizei Veran-
lassung, vorbeugend zu wirken und die Wirte an Folgendes zu erinnern:
ie übermäßige Verabfolgung von Alkoholgetränken und die Polizei-
stundenüberschreitung ist als Völlerei zu bewerten, die neben der
gerichtlichen Bestrafung die Schließung des Lokales unter Untersagung
des Gewerbebetriebes zur Folge haben kann,
2. das Verabfolgen oder Ausschänken von Branntwein und Likör an alle
Personen unter 18 Jahren ohne Ausnahme, also auch wenn
die Erziehungsberechtigten dabei sind oder wenn diese Getränke für
diese nach Hause geholt werden sollen, sowie das Verabfolgen von
Bier, Zigarren, Zigaretten an Personen unter 16 Jahren zum
eigenen Genuß, es sei denn, daß die Erziehungsberechtigten zugegen
sind oder daß diese Sachen für diese nach Hause geholt werden, ferner
das Verabfol oder Ausschänken von geistigen Getränken aller Art
an Betrunkene ist verboten.
Aber nicht nur an die Wirte ergeht die ang: diese gesetzlichen
Bestimmungen streng zu beachten, sondern auch die Eltern, Erzieher
282 Abhandlungen.
und Vorstände von Vereinen aller Art werden gebeten, die jungen
Leute aufzuklären und sie vor Sachbeschädigungen oder sonstigem groben
Unfug und ruhestörenden Lärm zu warnen. Die übrige Bürgerschaft bittet
die Polizei, sie bei der Feststellung und Festnahme solcher „Helden“ z u
unterstützen und sie ihr namhalt zu machen. Meldungen über solche
Vorkommnisse nimmt jeder Straßenbeamte, jedes Polizeirevier oder das
Polizeipräsidium (Zimmer 26) entgegen.
Der Reichsminister des Innern für Beschränkung von Herstellung und Vertrieb
alkoholhaltiger Süßwaren.
Der Minister hat vor kurzem (laut „Deutsche Kolonialwaren- und Lebens-
mittel-Rundschau“, Berlin, vom 9. Januar) folgendes Schreiben an den
Reichsbund der deutschen Süßwarenindustrie gerichtet:
„Die Deutsche Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus ist bei mir wegen
Abstellung der beim Vertriebbranntweinhaltigen Konfekts
zutage getretenen Mißstände und insbesondere wegen der
häufigen Uebertretungen des Verbots des Verkaufs von
Alkoholzuckerwaren an Jugendliche vorstellig geworden. in
dankenswerter Weise hat sich der Reichsbund der deutschen Süßwaren-
Industrie bisher bereit erklärt, bei den ihm angeschlossenen Fachverbänden
dafür einzutreten, daß bei der Herstellung branntweinhaltigen Konfekts
„größere ouer starker alkoholhaltige Stücke vermieden würden“. Nach dem
Ergebnis von Untersuchungen, die das Reichsgesundheits-
amt in den letzten Wochen an Proben der Erzeugnisse zweier bekannter
Schokoladefabriken ausgeführt hat, von denen angenommen werden darf,
daß sie dem Reichsbund angeschlossen sind, enthalten solche Erzeugnisse
jetzt wieder reine Branntweine oder Liköre in erheblichen Mengen. Daß
diese Verhältnisse auch dort nicht unbekannt sind, entnehme ich den Aus-
führungen auf S.29 bis 30 des Geschäftsberichts des Verbandes deutscher
Schokoladefabriken E. V., in Dresden, für das Jahr 1925/26. Unter Bezug-
nahme auf den in den Jahren 1919 bis 1922 geführten Schriftwechsel darf ich
den Reichsbund der deutschen Süßwaren-Industrie erneut ersuchen, bei den
in Betracht kommenden Fachverbänden mit allem Nachdruck seinen Einfluß
dahin geltend zu machen, daß die Herstellung und auch der
Vertrieb alkoholhaltigen Konfekts, wenn nicht ganz
vermieden, so doch wenigstens bezüglich des Gehalts
an Alkohol auf das geringste Maß herabgedrückt wird.“
Im besondern betr. Polizeistunde.
Polizeiverordnung des Oberpräsidenten von Hannover (Herrn Noske) vom
18. November 1926 über Polizeistunde (unter Aufhebung der Verorda
vom 17. Februar und 8. Oktober 1925) — in entsprechendem Anschluß an
die Verordnungen des Ministers des Innern vom 15. Oktober °).
„Auf Grund der §§ 137 und 139 des Gesetzes über die allgemeine Landes-
verwaltung vom 30. Juli 1883 (GS. S. 195) und der §§ 6, 12, 13 der Ver-
ordnung vom 20. September 1867 (GS. S. 1529) in Verbindung mit Artikel I
88 2 und 4 des Notgesetzes vom 24. Februar 1923 (RGBl. I S. 147) wird mit
Zustimmung des Provinzialrats für den Umfang der Provinz Hannover
folgendes verordnet: 1
8 1.
Die Polizeistunde (Abendpolizeistunde) wird festgesetzt:
1. für Gast- und Schankwirtschaften, Cafes, Weinstuben und Speise-
wirtschaften jeder Art:
a) Inder Stadt Hannover auf 2 Uhr nachts**),
b) In den Stadtkreisen, in den an Stadtkreisen unmittelbar an-
grenzenden Vororten, sowie in den größeren Bade- und
Kurorten während der Kurzeit und während der Zeit des regen
*) S. letztes Heft S 228
+*+) Ais Sıadt von über 300000 Einwohnern, gemäß der Ministerialverordnung,
Flaig, Bedeutsame behördliche Maßnahmen mit Bezug auf den Alkohol. (XLI). 283
Fremdenverkehrs auf 1 Uhr nachts. Die Auswahl der Vororte bzw.
ößeren Bade- und Kurorte, auf welche diese Vorschrift Anwendung
indet, behalte ich mir vor.
c) In den Landkreisen auf 12 Uhr abends.
2. Für Schankwirtschaften mit weiblicher Bedienung
allgemein auf.10 Uhr abends.
Von Eintritt der Polizeistunde ab bis 6 Uhr morgens (Morgen-Polizei-
stunde) sind alle Wirtschaftsräume in den Gastwirtschaften usw. für den
Verkehr geschlossen zu halten. Der Ausschank von Branntwein
vor 8Uhr morgens ist verboten.
8 2. |
Die Bestimmungen über die Polizeistunde finden auch Anwendung auf
geschlossene Gesellschaften, Klubs usw., in den zu einer Gast-
oder Schankwirtschaft gehörigen oder mit einer solchen in Verbindun
stehenden Räumen, soweit damit ein gast- oder schankwirtschaftlicher Betri
verbunden ist. l
Die Bestimmungen finden ferner Anwendung auf Räume, die im Eigen-
tum geschlossener Gesellschaften stehen oder von ihnen ermietet sind, sofern
in den Räumen Gast- oder Schankwirtschaft betrieben wird.
§ 3.
Ausnahmen von den Bestimmungen der §§ 1 und 2 können durch
die Ortspolizeibehörden zugelassen werden
Ri für einzelne Veranstaltungen bis spätestens 5 Uhr nachts,
b) aus besonderem Anlaß vorübergehend allgemein ... (wie in der
Minist.-Verordn. D. Ber.).
Die Ortspolizeibehörden und die Regierungspräsi-
denten find befugt, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicher-
heit und Ordnung eine Verkürzung der Abendpolizeistunde bis auf
8 Uhr abends anzuordnen.
5.
Erweist sich ein Wirt oder sein Stellvertreter oder Geschäftsführer in
Ausübung des Schankgewerbes als unzuverlässig, oder ergeben sich
aus seiner Geschäftsführung Unzuträglichkeiten für die öffentliche Ruhe,
Sicherheit und Ordnung, so kann die Polizeistunde für seinen Betrieb auf
10 Uhr abends durch die Ortspolizeibehörden herabgesetzt werden.
8 6.
Die Ortspolizeibehörden werden ermächtigt, bei nachgewiese-
nem dringendem öffentlichem Bedürfnis für einzelne Wirtschaften
die Morgenpolizeistunde.aufeinen früheren Zeitpunkt, frühestens
jedoch auf 4 Uhr morgens, festzusetzen.
7.
Das Verweilen der Gäste in den Räumen der Gastwirtschaften usw. über
die Polizeistunde hinaus ist nach dem Notgesetz vom 24. Februar 1923
(RGBI. I S. 147) verboten und strafbar, auch wenn eine besondere Aufforde-
rung zum Verlassen der Schankräume nicht ergangen ist.
88.
Die Bestimungen der §§ 1 und 6 finden auf Gasthöfe gegenüber ihren
Logiergästen, soweit diese nach Schluß der Polizeistunde sich auf
ihren Zimmern aufhalten oder nach einer Uebernachtung im Gasthofe ab-
reisen, keine Anwendung.
$8 9 und 10 beziehen sich auf Theater, Lichtspiele, Vergnügungsparks;
usf. und auf Tanzlustbarkeiten.)
; g 11. v.l2
Ich. behalte mir vor, Ausnahmen von dieser Polizeiverordnung zuzulassen::
284 Abhandlungen.
812,
Zuwiderhandlungen gegen die vorstehenden Bestimmungen werden, so-
weit nicht nach den gesetzlichen Bestimmungen, insbesondere denen des Not-
gesetzes vom 24. Februar 1923 (RGBI. 1I S. 147), höhere Strafen verwirkt
er an al bis zu 150 RM, im Unvermögensfalle mit entsprechender
a raft.
Kundgebung von Kardinal Fürstbischof Dr. Bertram, Breslau,
namens der katholischen Bischöfe gegen die Verlängerung der Polizeistunde.
Der Kardinal hat unterm 25. November eine Eingabe an den
preußischen Innenminister gerichtet, in der er zunächst an sein
gleichgerichtetes dringendes Ersuchen namens der Fuldaer Bischofskonferenz
vom 20. April erinnert, das damals günstig aufgenommen, aber hernach nicht
erfüllt wurde, und dann auf die „spontane, in weitesten um das Volkswohl
tief besorgten Kreisen erwachsene Bewegung“ gegen die neue Regelung
der Polizeistunde hinweist. Er fährt dann fort:
„Irotz der vorbezeichneten betrübenden Erfahrung richte ich daher an
Hohes Ministerium nochmals das dringendste Ersuchen, sich nicht den über-
aus schwerwiegenden Gründen zu verschließen, die eine Rückkehr
zurfrüheren,strengeren Ordnung gebieterischfordern.
Was erreicht man mit dem Hinausschieben oder gar Aufheben der
Polizeistunde?
Die nächste Folge ist ein fortschreitender weiterer Niedergang der sitt-
lichen Auffassung. Als in der Kriegszeit die furchtbare Not dem
Volke klar vor Augen stellte, welches Unrecht jede Schwächung der Volks-
kraft und jede Vergeudung irdischen Gutes im Genußleben sei, da hatte die
Reichs- und Staatsregierung den Mut, durch strenge Maßnahmen dem Alkohol-
genuß Einhalt zu tun. Liegt denn diese Notwendigkeit jetzt nicht mehr vor,
da die weitesten Kreise von bitterer Not zermürbt und verbittert sind? Und
wo das ganze Volk nur in starkmütiger Arbeitsleistung und Genügsamıkeit
langsam einen Weg zum Wiederaufstieg sich ar soll? Man vergleiche
damit die Statistik über das unglaublich hohe Anschwellen des Alkohol-
verbrauchs in den letzten Jahren.
Ist es zu verantworten, wenn um der Gruppen von Genuß-
menschen willen und zum Nutzen der Alkoholprodu-
zenten in immer weiteren Kreisen das christliche Familienleben, ehedenı
unserer Vorfahren trautestes Glück, mehr und mehr vergiftet wird?
Ist das Beispiel nächtlichen Genußlebens und das Bewußtsein
einerimmer weitergehenden Duldung durch die Staats-
regierung heilsam für die Jugend, die nach den Jahren der
Verwilderung in Kriegszeit jetzt strenger Zucht, hoher Impulse und vor
allem des vorbildlichen Starkmutes der führenden Stellen, besonders auch
der Regierungsorgane bedarf? Gewiß sind staatliche Zwangsmaßuahmen
nicht genügend zu sittlicher Bildung, die nur in Charakterveredelung ihren
Quell hat; aber die Mithilfe der staatlichen Behörden übt dabei einen sehr tief-
gehenden Einfiuß aus.
Hat die Stimme der Statistik aus Irrenhäusern und Gefängnissen gar
keinen Wert mehr bei Behandlung so folgenschwerer Fragen?
Es ist genügend bekannt, wie jedes Nachgeben gegen die Alkoholsucht
indirekt auch andere Grundpfeiler der Sittlichkeit im Volksleben untergräbt.
Auf den engen Konnex zwischen Alkoholmißbrauch und geschlechtlichen Ver-
irrungen sei hier hingewiesen, um die schlimmste Wunde zu bezeichnen, die
die Volkskraft vergiftet.
Und endlich: die Nachgiebigkeit der Staatsregierung führt zu weiteren
Schwinden der Sonntagsheiligung, die zu allen Zeiten sicheres Erkennungs-
zeichen und ein Grundpfeiler christlicher Kultur war und bleiben wird.
Flaig, Bedeutsame behördliche Maßnahmen mit Bezug auf den Alkohol. (XLI.). 285
Sollte es aus allen diesen Gründen nicht en sein, zurückzukehren zu
zielbewußtern Festhalten an jener Zucht und Ordnung, auf die Preußen früher
so stolz sein konnte?
Nicht an letzter Stelle kommt die Verantwortung für das große Heer
der aa or Angestellten und Bedienungspersonen, für die Arbeitnehmer-
verbände (Gasthausangestellte u. a.), deren körperliches und geistiges Wohl
schon seither zerrüttenden Schädigungen ausgesetzt gewesen ist.
Namens aller in der Fuldaer Bischofskonferenz ver-
einigten Oberhirten wiederhole ich im vollen Bewußtsein unserer
Verantwortung für die Volkssittlichkeit und Volkskraft die Mahnung meiner
Eingabe vom 20. April 1925:
Je lauter und rücksichtsloser Arbeitgeberverbände (Vertreter des Alkohol-
kapitals) die öffentliche zn: im Sinne voller Freigabe ungezügelten
Genußlebens zu beeinflussen suchen, desto ernster muß das deutsche Volk
verlangen, daß die leitenden Stellen pädagogisch und prophylaktisch diesen
Einflüssen entgegentreten, im vollen Bewußtsein der Verantwortung, die der
Staatsregierung vor Gott und vor dem ganzen Volke obliegt.“
Schreiben des Evangelischen Oberkirchenrats, Berlin-Charlottenburg,
vom 27. Dezember 1926 an den preußischen Minister des Innern.
In unserem Schreiben vom 16. April 1925 ... hatten wir uns gegenüber
dem Herrn Minister im Interesse der äußeren und inneren Gesundung unseres
Volkes mit allem Nachdruck gegen eine Aenderung in der Regelung der
Polizeistunde ausgesprochen. Der Herr Minister erwiderte darauf unter dem
19. Mai 1925 ..., daß er bei den in der Angelegenheit zu treffenden Ent-
scheidungen nicht unterlassen werde, die von uns gegebenen Anregungen
besonders in Betracht zu ziehen. Angesichts dieser Zusage sind wir durch
die weitere Entwicklung, welche die Angelegenheit durch den Runderlaß an
die Ober- und Regierungspräsidenten und den Polizeipräsidenten von Berlin
vom 15. Oktober d. J. genommen hat, aufs bitterste enttäuscht worden. Nun-
mehr ist die Polizeistunde für Städte von 100 000—300 000 Einwohnern bis
1 Uhr, für Städte von mehr als 300 000 Einwohnern bis 2 Uhr und für Berlin
bis 3 Uhr verlängert worden.
Wir bedauern diese Maßnahme aufs tiefste, weil sie, um eines kleinen
Teiles der Bevölkerung willen getroffen, die schwersten sozialen, gesundheit-
lichen Schädigungen hervorzurufen geeignet ist.
Um unserer Gemeinden und besonders um der mit den stärksten Ver-
suchungen ringenden Jugend unseres Volkes willen, richten wir an den Herrn
Minister die dringende Bitte, die Verordnung gefälligst wiederaufzuheben.
Vom Polizeipräsidenten von Berlin gegen Ende November 1926 erlassenes
Verbot nächtlicher Ruhestörung nach 11 Uhr.
Im Hinblick auf die bis 3 Uhr verlängerte allgemeine Polizeistunde hat
der Polizeipräsident die ihm unterstellten Beamten darauf hingewiesen, daß
Beschwerden über Störung der Nachtruhe infolge des langen Offenhaltens
der Lokale mit größter Sorgfalt nachzugehen ist. Jedenfalls dürfe nach 11 Uhr
nachts lärmendes Treiben in einer Schankstätte oder vor einer Schankstätte
nicht geduldet werden, wenn Nachtruhe und Gesundheit der im gleichen Hause
oder in der Nachbarschaft wohnenden Personen dadurch gefährdet werden.
Das gilt insbesondere auch für die Störungen, die durch den Aufenthalt
wartender Fahrzeuge, ihr An- und Abfahren und überflüssiges Signalgeben
verursacht werden. Jeder Einzelfall soll eingehend geprüft werden, und wenn
sich mildere Maßnahmen als unzureichend oder fruchtlos erweisen, wird in
schweren Fällen bis zur Herabsetzung der Polizeistunde für das betreffende
Lokal geschritten werden. (Tägl. Rundschau, 27. November 1926.)
286 Abhandlungen.
2. Betr. Jugenderziehung und Jugendschutz.
Bekanntmachung des preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und
Volksbildung vom 6. Oktober 1926 an die Regierungen und das Provinzial-
schulkollegium in Berlin-Lichterfelde betr. Nüchternheitsunterricht in der
deutschen Volksschule.
(Zentralblatt für die gesamte Unterrichtsverwaltung in Preußen, 1926, $.38.)
Zur Förderung der Aufklärung der Jugend über die ihr drohenden Ge
fahren des Alkoholismus hat die Deutsche Zentrale für Nüchternheitsunterricht,
Bielefeld, Roonstr. 5 *), den „Entwurf einer Stoffverteilung für Nüchternheits-
unterricht in der deutschen Volkschule“ in vierter Auflage und neuer Be-
el ung herausgegeben. Der Entwurf stellt einen Versuch dar, das, was
sich in der Volksschule von dem umfangreichen Stoff zur Alkoholfrage be-
handeln läßt, auf die Unter-, Mittel- und Oberstufe zu verteilen. Da er
beachtenswerte Anregungen für die Eingliederung der Belehrungen über die
Alkoholgefahr in den Stoffverteilungsplan der verschiedenen Unterrichtsfächer
der Volksschule gibt, mache ich die Regierung (das Provinzialschulkollegium)
auf ihn aufmerksam. Abdrucke des Entwurfs sind von der Deutschen Zentrale
für Nüchternheitsunterricht in Bielefeld, Roonstr. 5, zu beziehen. Preis: eia
Stück 0,10 RM, 100 Stück 4 RM, 1000 Stück 30 RM.
Die Fuldaer Bischofskonferenz für Schutz der Jugend vor den Alkoholgefahres
und für nachdrückliche Förderung der Nüchternheitsarbeit durch die Geistlichen.
In einer durch Kardinal Fürstbischof Dr. Bertram, Breslau bekanst-
benen Erklärung der Zusammenfassung der katholischen deutschen
ischöfe vom 12. August 1926 heißt es u. a.:
„Die Bischofskonierenz erklärt den Schutz der Jugend g die
Schädigung durch Alkoholgenuß für notwendig und billigt das ernsie Streben
der katholischen Jugend- und Jungmännervereine, ihre Veranstalt
alkoholfrei zu halten, sowie ihre Mitglieder zur Enthaltung von Al
oder zu strenger Mäßigkeit zu erziehen. Eltern und Erzieher legi
sie dringend nahe, Kindern alkoholhaltige Getränke nicht zu geben, sowie
selber in Wort und persönlicher Haltung das Beispiel der Enthaltsamkeit oder
strenger Mäßigkeit zu geben. Empfohlen wird die Unterweisung der künt-
tigen Priester über die Schädigung durch Alkohol und die kluge Arbeit
an der Bewahrung der Jugend ..... Die Konferenz fordert die Geistlichen
u sich die Arbeit gegen den Alkoholmißbrauch sehr angelegen sein zu
assen.“
Warnung des Württembergischen Wirtschaftsministeriums vor Abgabe voa
Likörbonbons und dergi. an Jugendliche im Kleinhandel, verbreitet gegen
Ende Dezember durch die Presseabteilung des Staatsministeriums ').
Frühzeitige Gewöhnung der Jugend an Alkoholgenuß ist verwerflich.
Besonders gefährlich ist es, jugendlichen Personen Alkohol in versteckter Form
durch branntweinhaltige Genußmittel wie Likörbonbons u. a. zugänglich zu
machen. Es scheint nicht genügend bekannt zu sein, daß die Abgabe brannt-
weinhaltiger Genußmittel an Personen, die das 18. Lebensjahr noch nicht
vollendet haben, außer in Gast- und Schankwirtschaften auch im Kleinhande
allgemein verboten und strafbar ist’). Geschäftsleute, die Kleinhandel mil
solchen Genußmitteln treiben, mögen diese Bestimmung beachten, aber auch
Eltern und Erzieher haben an ihrer Einhaltung alles Interesse.
3. Sonstige Maßnahmen.
Biersteuererhöhung ab 1927.
Die durch Verordnung vom 15. März bzw. 4. Mai v. ]. ae Ban Bier-
steuererhöhung um ein Drittel (von 6,10 auf 8,15 RM je hl) tritt laut Bekannt-
*\ Eine Abteilung des Deutschen Bundes enthaltsamer Erzieher, welche neuerdings de
Reichsarbeitsgemeinschaft für aıkoholfreie Jugenderziehung angegliedert worden ist.
1) Angeregt vom Württemb. Landesausschuß g. d. Alk.
N) Durch timmung des Notgesetzes vom Februar 1923, Fi.
Flaig, Bedeutsame behördliche Maßnahmen mit Bezug auf den Alkohol. (XLI.). 287
maciung des Reichsfinanzministeriums vom 9. November mit dem neuen Jahr
in Kraft.
Erlaß des württembergischen Ministeriums des Innern vom 21.Juli 1926
an die Bezirksfürsorgebehörden betr. Trinkerfürsorge.
In Ausführung eines vom Landtag angenommenen Antrags) be-
treffend Einbeziehung der Trinkerfürsorge und der Bekämpfung des Alkoholis-
mus in den Aufgabenkreis der Fürsorgeämter hat das Ministerium des Innern
nunmehr an die Bezirksfürsorgebehörden einen Erlaß folgenden Wortlauts
hinausgegeben:
„Betreff: Trinkerfürsorge. Angesichts der un Bedeutung, die der
Trinkerfürsorge und einer wirksamen Bekämpfung des Alkoholismus zu-
kommt, wird zufolge einer vor kurzem im württembergischen Landtag ge-
gebenen Anregung darauf hingewiesen, daß die Fürsorgebehörden — auch
ohne die u. U. zu erwartende gesetzliche Regelung der Trinkerfürsorge in
einem besonderen Trinkerfürsorge- oder Bewahrungsgesetz — schon jetzt
auf Grund der. zurzeit geltenden Bestimmungen in der Lage sind, eine wirk-
same TI rinkerfürsorge, die im Rahmen der Familienfürsorge bereits zu ihren
Aufgaben gehört, auszuüben. So kann nach $ 3 der Reichsgrundsätze die
Fürsorge, um drohende Hilfsbedürftigkeit zu verhüten, auch vorbeugend ein-
ifen, besonders um Gesundheit und Arbeitsfähigkeit zu erhalten. Diese
oraussetzungen werden nicht selten gegeben sein.
Ein enges Zusammenarbeiten mit den Organen der freien Fürsorge, vor-
nehmlich mit den alkoholgegnerischen Vereinen und ihren bestehenden Trinker- .
soret En ist auf diesem Gebiete besonders angezeigt.
Als Vereinigungen, die sich in besonderer Weise der Trinkerfürsorge
und Bekämpfung des Alkoholismus annehmen, und deren Mitarbeit hier in
Betracht kommt, werden die im Württembergischen Landesausschuß geg. d.
Alk., Stuttgart, Böblingerstr. 26, zusammengeschlossenen Verbände angesehen
(sie werden nun aufgezählt).
Die Oberämter werden beauftragt, der Trinkerfürsorge und der Be-
kämpfung des Alkoholismus ihre Aufmerksamkeit zu schenken und den
Bezirks- und Ortsfürsorgebehörden von Vorstehendem Kenntnis zu geben.“ ?)
Der Preußische Landesgesundheitsrat
hat sich in H. 4 seiner Verhandlungen (Rich. Schötz, Berlin) vom ärztlichen
Standpunkt aus mit dem neuen Entwurf eines deutschen Strafgesetz-
buchs befaßt und dabei auch die auf die Alkoholfrage bezüglichen Teile
desselben erörtert (so S. 9 f., S. 29—32).
Tätige Förderung der Nüchternheitsbestrebungen durch eine Kreisbehörde.
Ein badisches Bezirksamt bezog (vom Verlag „Auf der Wacht“) durch
Vermittlung des Badischen Landesverbandes g. d. A. (anscheinend zur ent-
sprechenden Verteilung an die Gemeinden) eine größere Anzahl Tafeln
aus dem neuen Dresdner Bildtafelwerk. Der betreffende Landrat setzt sich,
wie mitgeteilt wird, in seinem Bezirk, welcher in der Hauptsache aus Wein-
orten besteht, nachdrücklichst für Verbreitung der Nüchternheitsbestrebungen
ein, wobei naturgemäß mannigfache Widerstände zu überwinden sind. Eine
Anzahl Bürgermeister dieser Weinorte schickte er zu einem Lehrgang über
gärungslose a F sagte den betreffenden Ge-
meinden einen Zuschuß von seiten des irksamtes zur en: eines
Entkeimungsapparates zu. Zugleich ist er bemüht, dafür zu sorgen, daß die
2) Eingebracht und beeründet im Anschluß an die EntschließBungen des 2, württemb.
Alkoholgegnertags von der Abgeordneten Math. Planck, dann beim Ministerium nachdrücklich
unterstützi durch den Landesausschuß g. d. Alk.
*) Zur Erleichterung der praktischen Durchführung des Erlasses hat der Württemb,
Landesausschuß gegen den Alk: holismus für die W. h'fahrtsämter „Richtlinien für die prak-
tische Trinkertürsorge“ herauagegeben und eine Schrift über „Die wichtigsten rechtiichen und
gesetzlichen Kesiimmungen für die Trinkeriürsorge” zusammengestellt (letztere im Verlag „Auf
er Wacht“ erschienen).
288 Abhandlungen.
Obst- und Traubenergebnisse dieser Gemeinden, soweit sie nicht in den
Orten selbst gärungslos verarbeitet werden, durch die städtische Bevölkerung
teils in natura, teils als Saft abgenommen werden.
Alkoholfreiheit des Volksbads und der Sportplätze.
Auf eine bezügliche Be bee (seitens des Deutschen Vereins g. d. Alk.)
hinsichtlich des städtischen Freibads Oberspree teilte dass Bezirksamt
Berlin-Treptow vor einiger Zeit mit, daß die zu nie Deputation
beschlossen habe, daß dort nur alkoholfreie Getränke AS. änkt werden
dürften. Man werde überhaupt bestrebt sein, daß „auf den Sportplätzen,
überhaupt auf allen öffentlichen Anlagen, wo Jugend verkehrt, alkoholische
Getränke nicht ausgegeben werden“.
(In letzterer Hinsicht vergl. H. 3 1926, S. 113.)
”*
Wir schließen re noch eine privatgesellschaftliche Maßnahme
an, die uns erst nachträglich bekannt geworden ist:
Verfügung der Berliner Hochbahngesellschaft — Betriebsverwaltung —
vom Oktober 1924.
Verbot des Genusses alkoholhaltiger Getränke während des Dienstes.
Durch die Erfahrung, daß der Genuß alkoholischer Getränke im Eisen-
bahndienst auf die Betriebssicherheit einen sehr ungünstigen Einfluß aus
übt, sehen wir uns veranlaßt, den Alkoholgenuß während des Dienstes
rn zu untersagen. |
| ls Dienst im Sinne des Verbotes ist auch die Dauer der Dienst-
pausen und der Dienstbereitschaft anzusehen.
Das Verbot erstreckt sich auf das gesamte im Verkehrsdienst, einschlie-
lich des Bahnbewachungsdienstes, tätige Personal.
Zu den alkoholartigen Getränken, deren Genuß den Bediensteten verboten
ist, gehören nicht nur Schnaps und schnapsähnliche Getränke, sondern auc
alle Sorten Bier und Weißbier, sowie alle Weine und Obstweine. Das Mit-
bringen solcher Getränke zum Dienst ist streng untersagt.
Die Vorgesetzten, bei welchen sich die Bediensteten vor dem Dienst-
antritt melden, haben sich davon zu überzeugen, daß dieselben imstande sind,
den Dienst ordnungsmäßig zu versehen, und sind dafür verantwort-
lich,daßkeindurch Alkoholgeschwächter Bediensteter
den Dienst antritt oder weiter verrichtet. |
Auch jeder Bedienstete hat die Pflicht, sich beim Dienstwechsel von der
Dienstfähigkeit seines Ablösers zu überzeugen. Er darf den Dienst nicht
übergeben, wenn er annehmen muß, daß der Ablöser nicht imstande ist, ihn
ordnungsmäßig zu versehen, sondern hat auf seinem Posten zu bleiben und
dem nächsten Vorgesetzten Meldung zu erstatten, der das Weitere auch
bezüglich seiner Ablösung zu veranlassen hat.
Ebenso hat jeder Bedienstete, welcher bemerkt, daß in den oben aul-
geführten Dienstzweigen jemand in angetrunkenem Zustande seinen Dienst
verrichtet, sofort dem nächsten erreichbaren Vorgesetzten Meldung zu er-
statten. Dem Vorgesetzten liegt es ob, die sofortige Ablösung des dienst-
unfähigen Bediensteten zu bewirken.
Ueberhaupt dürfen angetrunkene Bedienstete innerhalb des Bahngebietes
nicht geduldet werden. i
Jede Trunkenheit wird als grobes Dienstvergehes
mit sofortiger Entlassung bestraft; jede Uebertretung der
übrigen Bestimmungen wird mit Disziplinarstrafen geahndet, im Wieder-
holungsfalle wird unnachsichtlich die Dienstentlassung verfügt.
Das polnische Gesetz vom 23. April 1920. 289
Das polnische Gesetz vom 23. April 1920
(mitBerücksichtigungder Verschärfungen von 27. 1. 1922)
betreffend die Beschränkungen im Verkauf, Ausgabe und Genuß
alkoholischer Getränke.
Art. 1. Zwecks Verminderung des Genusses alkoholischer Getränke
werden hiermit im Verkauf von Getränken, welche mehr als 2% Prozent
Alkohol enthalten, nachfolgende Beschränkungen eingeführt, die in den
Artikeln 3 bis 6 angegeben sind. Ueber den Ausschluß aus dem öffentlichen
Handel derjenigen Getränke, welche noch weniger Prozent Alkohol enthalten,
wird der Minister der öffentlichen Gesundheitspflege im Einverständnis mit
dem Finanzminister und dem Minister für Handel und Gewerbe entscheiden.
Art. 2. Die Beschränkungen beziehen sich auf Verkauf und Ausgabe der
erwähnten Getränke sowohl in Flaschen wie in offenen Gefäßen.
Art. 3. Es ist verboten, Getränke zu verkaufen, die mehr als 45 Prozent
Alkohol enthalten. Ebenso ist verboten der Verkauf von Getränken, die aus
ungereinigtem Spiritus verfertigt sind und Fusel enthalten.
Art. 4. Die Stadt- und Landgemeinden sind berechtigt, in den Grenzen
ihres Gebietes das gänzliche Verbot des Verkaufs alkoholischer Getränke zu
beschließen. Dieser Beschluß muß zustandekommen mittels allgemeiner Ab-
stimmung mit einfacher Stimmenmehrheit. Die Abstimmung wird angeordnet
durch die Gemeindeverwaltung entweder aus eigener Initiative oder auf den
schriftlichen Antrag von wenigstens !/ı der Gemeindebewohner, die über
21 Jahre alt sind. Die Gemeindeverwaltung ordnet die Abstimmungen
spätestens 4 Wochen nach dem Tage der us des Antrages an.
Die Abstimmung geschieht an einem Feiertage. Die Art und Weise der
ee AE richtet sich nach den Ausführungsvorschriften (Abgeordneten-
wahlen).
Die Revision des Beschlusses kann nicht eher erfolgen als 3 Jahre nach
Inkraftsetzung des Verbotes.
Falls ?/; aller Gemeinden eines Kreises, die wenigstens die Hälfte der
Kreisbewohner umfassen, das vollständige Verbot des Verkaufs alkoholischer
Getränke beschließen, ist die Kreisverwaltung verpflichtet, dieses Verbot
auf den ganzen Kreis auszudehnen.
Der Verbotsbeschluß, den die Gemeinde gefaßt hat oder den die Kreis-
behörde angeordnet hat, muß öffentlich bekannt gemacht werden in der
ortsüblichen Weise und außerdem der entsprechenden Akzisen- und Polizei-
behörde zugeschickt werden und zwar wenigstens 2 Monate vor Beginn des
Kalenderjahres, mit welchem das Verbot in Kraft tritt.
Art. 5. Die Zahl der Stellen, wo alkoholische Getränke im Kleinhandel
oder im Ausschank verkauft werden, wird beschränkt und zwar bis auf eine
auf 2500 Einwohner, wobei höchstens die Hälfte davon für den Ausschank
bestimmt werden darf. Mit dem Tage der Veröffentlichung dieses Gesetzes
darf die Anzahl der jetzt bestehenden Verkaufsstellen für alkoholische Ge-
tränke auf keinen Fall, ohne Rücksicht auf die Einwohnerzahl, vergrößert
werden. Die Verminderung der Kleinverkaufsstellen und der Ausschank alko-
holischer Getränke bis zur oben erwähnten Norm wird am 1. 1. 1921 erfolgen.
Die Reduktion und Liquidation der reduzierten Verkaufsstellen muß bis Ende
des Jahres 1922 beendet sein.
Die Stadt- und Landgemeinden, Wohltahrts- und Wirtschaftsvereine, die
vor .dem 1. 1. 1921 die Berechtigung erhalten haben, das Gasthaus- und Aus-
schankgewerbe auszuüben, sofern sie gleichzeitig Speisesäle unter eigener
Verwaltung führen oder als Pächter Kriegsinvaliden, Witwen von Gefallenen
haben und den Reingewinn für öffentliche Zwecke bestimmen, kommen im
ersten Abschnitt dieses Artikels nicht in Betracht.
Die Groß-Verkäufer dürfen alkoholische Getränke nur den zum Klein-
verkauf Berechtigten zustellen und bedürfen ebenfalls einer speziellen Kon-
zession.
Die Alkoholfrage, 1926 19
290 Abhandlungen.
Der Staat zahlt keine Entschädigung für die Konzessionen, die kraft der
Artikel 4 und 5 entzogen werden.
Art. 6. Die Verkaufsstellen dürfen nicht näher stehen als 50 Meter weit
von Gebäuden, in denen sich Fabrikwerkstätten befinden mit 50 Arbeitern,
nicht näher als 100 Meter weit von den Außengrenzen der Gebäude, in denen
sich Kirchen, Gebethäuser, Schulen, Gerichte, Gefängnisse, Bahnhöfe und
Eisenbahnstationen, Dampferstationen, Kasernen und Werkstätten mit mehr
als 100 Arbeitern befinden.
Die Entfernung von 100 Metern bezieht sich auf die Städte, in Dörfern
soll die Entfernung 500 Meter betragen. Der Finanzminister ist berechtigt
im Einvernehmen mit dem Minister für öffentliche Gesundheitspflege und dem
nn des Innern, in Ausnahmefällen von obigen Grundsätzen Abstand zu
nehmen.
Art. 7. In jeder Hinsicht verboten ist der Verkauf oder das Verabreichen
von Getränken, welche irgendwelchen Prozentsatz von Alkohol enthalten, an
Jugendliche unter dem vollendeten 21. Lebensjahre, ferner an Schüler der
niederen und höheren Lehranstalten ohne Rücksicht auf ihr Alter; ebenso
ist es verboten den übri Konsumenten auf Kredit,: gegen Hinterlassung
irgendwelcher Gegenstände als Pfand oder als Lohn für verrichtete Arbeit
auszuschänken.
Auf den in Art. 1 und 2 vorgesehenen Beschränkungen wird der Ver-
kauf, das Verabreichen und der Genuß von alkoholischen Getränken in
nachstehenden Fällen verboten:
a) in den Buffets der Eisenbahn, im Umfange der Stationsgebäude und
in Eisenbahnzügen, an den Haltestellen von Dampfern und auf den
Dampischiffen selbst;
b) im ganzen Umfange der Kasernengebäude, auf Truppenübungsplätzes.
sowie in Militärkantinen;
c) im ganzen Umfange von Fabrik- und Gewerbebetrieben, sowie in
Turnhallen und auf Plätzen, die für Sport und Leibesübungen ver-
wendet werden;
d) in Volkshäusern und Unterkunftsstätten der Feuerwehr;
e) in allen Ortschaften, wo
1. die Aushebung von Rekruten oder Mobilmachung, Wahlen zu den
gesetzgebenden Körperschaften oder zu den Kommunalbehörden an-
geordnet sind und zwar so lange die vorerwähnten Anordnungen
oder Wahlen dauern,
2. wo zur Aufrechterhaltung der Ruhe und öffentlichen Ordnung
Ministerium des Innern oder durch dieses ermächtigte Admini-
strationsbehörden den Verkauf oder Ausschank von alkoholischen
Getränken für die Dauer von Standgerichten, während des Aus-
nahmezustandes oder großer Volksversammlungen verbieten;
f) an Sonn- und Feiertagen, welche als solche staatlich anerkannt sind,
wobei die Beschränkungen von 3 Uhr nachmittags des Vorfesttages
bis 10 Uhr vormittags des Nachtesttages dauern;
g) in Ortschaften, welche außerhalb der Stadtgrenze einer Kreisstadt,
Wojewodschaftsstadt oder Hauptstadt liegen, an allen übrigen Tagen.
an welchen große Ansammlungen von Menschen, wie Wochen-
Jahrmärkte, Ablaßfeste, Pilgerfahrten, religiöse Volksmissionen usw.
stattfinden, werden die unter Punkt f angeführten Beschränkungen ebes-
falls angewandt;
h) in Gebäuden, welche zu Zwecken der öffentlichen Nutzbarkeit ver-
wendet werden.
Wer im Zustande der Trunkenheit, welche infolge des übermäßige
Genusses von alkoholischen Getränken hervorgerufen wurde, durch
Verhalten Anlaß zu öffentlichem Aergernis gibt, und ebenso, wer sich ia
Taktik des Alkoholgewerbes. 291
diesem Zustande der Trunkenheit an einem öffentlichen Orte befindet, unter-
liegt, ohne Rücksicht auf sein Verhalten, der im Art 8 dieses Gesetzes vor-
gesehenen Strafe.
Derselben Strafe unterliegt jeder, welcher einen anderen zu einem solchen
Zustande der Trunkenheit veranlaßt hat, und außerdem ist er neben dem
Trunkenen mitverantwortlich für alle Schäden und Verluste, welche anderen
durch die Person zugefügt sind, welche er trunken gemacht hat oder zur
Trunkenheit mitveranlaßt hat.
Art. 8. Wer die Bestimmungen dieses Gesetzes oder Verordnungen, die
auf seiner Grundlage herausgegeben sind, überschreitet, wird, sofern seine
Tat nicht einer strengeren Bestrafung nach den in einzelnen Teilgebieten
geltenden nn ann unterliegt, bestraft auf dem Administrationswege
mit Geldstrafe bis zu Zi. oder Gefängnisstrafe bis zu 1 Monat, im
Wiederholungsfalle mit Geldstrafe bis zu 1000,— ZI. oder Gefängnisstrafe
bis zu 3 Monaten.
Die Gefängnis- und Geldstrafe kann gleichzeitig auferlegt werden. Ueber-
dies kann die Entziehung der Konzession auf Verkauf und Ausschank alko-
holischer Getränke verordnet werden.
Zweimalige Uebertretung der Vorschriften dieses Gesetzes zieht un-
abhängig von den vorgesehenen Strafen den Verlust der Konzession nach sich.
Die Verantwortlichkeit für das Uebertreten der Vorschriften dieses Ge-
setzes erlischt nach Ablauf von 5 Jahren vom Tage der Uebertretung ab
gerechnet.
Art. 9. Den in Art. 8 angeführten Strafen verfällt nicht nur der Besitzer
des Betriebes, resp. sein Verwalter, sondern ebenfalls die Angestellten, welche
sich eine Uebertretung der Vorschriften des Gesetzes zuschulden kommen
ließen, sowie alle Personen überhaupt, welche sich gegen die Vorschriften
ieses Gesetzes vergehen.
Art. 10. Alle Verbindlichkeiten, welche unter Hintergehung dieses Ge-
setzes übernommen sind, sind ungültig.
Art. 11. Zwecks Mitarbeit bei der Durchführung der Vorschriften dieses
Gesetzes beruft der Minister der öffentlichen Gesundheitspflege im Ein-
verständnis mit den zuständigen Ministern die Organe der Staats- und Kom-
munalbehörden, ebenso die sozialen Organisationen, welche den Kampf epen
den Alkoholismus zum Ziele haben, und Vereinigungen, die der Vo -
aufklärung dienen und den wirtschaftlichen Zusammenschluß verfolgen.
= Art. 12. Die Durchführung dieses Gesetzes wird dem Minister der
öffentlichen Gesundheitspflege ım Einverständnis mit dem Minister des
Inneren und dem Finanzminister übertragen.
Art. 13. Das vorliegende Gesetz tritt in Kraft mit dem Tage seiner
Bekanntmachung.
Taktik des Alkoholgewerbes.
Im 10. Kapitel des Popertschen Romans „Helmut Harringa‘“ wird ge-
schildert, in welcher Weise das Alkoholkapital sich zum Kampf gegen die
mehr und mehr erstarkende deutsche Abstinenzbewegung rüstet. Es
wünscht, nicht dabei in den Vordergrund zu treten, sondern die Oeffentlich-
keit glauben zu machen, daß es selbst gar nicht den Kampf führe. — Die
Geschehnisse dieses Romankapitels sind der Phantasie des Dichters ent-
sprungen, und Popert wird sich dessen vielleicht kaum ganz bewußt gewesen
sein, wie sehr seine Schilderung der Wirklichkeit nahe kam.
Seitdem sind ähnliche Kampfestormen der Alkoholgewerbe wiederholt
testgestellt worden. Aber man hat doch dieser Art der Kampfesführung viel-
fach nicht die genügende Aufmerksamkeit geschenkt. Daher sollten neue
Beweise nicht als etwas Selbstverständliches übergangen, sondern stets in
das Licht der Oeffentlichkeit gerückt werden. Hier ist ein solcher Fall:
19%
292 Abhandlungen.
In der „Tageszeitung für Brauerei“ Nr. 283 vom 3. Dezember 1926
rühmt ein sächsischer Berichterstatter die Geschäftstüchtigkeit des „Sächsisch-
Thüringischen Brauervereins“, insbesondere im Kampfe gegen die Abstinenten.
Dieser Teil des Berichts, der in die Mahnung ausmündet, sich ja nicht zu
exponieren, ist für die ganze Auffassung der Gegenseite so bezeichnend, daß
er ungekürzt hier wiedergegeben werden soll:
„Ein Gebiet, auf dem der Sächsisch-Thüringische Brauereiverein ....
eine kleine Priorität hat, ist das der Bekämpfung der Abstinenzbewegung.
Im Jahre 1914 hörten wir schon das Gras wachsen. 1914 wurde in Leipzig
der Verein gegen Uebergriffe der Abstinenz gegründet. Also damals war
schon ein Verein der Art vorhanden, aber man hatte im übrigen Deutschland
noch nicht die Erkenntnis von der Notwendigkeit, eine bestimmte Taktik
egen die Gegner aufzuziehen. Im westfälischen und im schlesischen Gebiet,
bender im letzteren, hatten schon lange derartige Gedanken die Geister
beherrscht. Es war aber zu keinem für die Dauer erfolgreichen Ergebnis
kommen. Wir in Leipzig hatten uns derselben Gedankenreihe angeschlossen,
ie uns die Schlesier mit so großem Erfolge entgegengehalten hatten und
hatten 1914 in Mitteldeutschland den ersten Verein zur Abwehr der Abstinenz
gegründet. Dieser Verein zur Abwehr der Abstinenz war aber für die Ent-
wicklung, die heute unser Kampf gegenüber der Prohibition genommen hat,
von großem Wert. Denn hier setzte zuerst die Bewegung ein, die dann
den Deutschen Brauer-Bund veranlaßte, unter genialer Führerschaft seines
Präsidenten eine Organisation ins Leben zu rufen, die nun wirklich der Auf-
gabe in vollstem Maße gewachsen ist.
Dieser Kampf gegen die Abstinenz ist es, der uns veranlaßt, die übrigen
Herren darauf aufmerksam zu machen, daß wir in Leipzig uns schon in
größerem Kreise mit dem Gegenstand beschäftigen. Wir sind besorgt gegen-
über einer Bewegung, die unser ganzes Denken und Fühlen unzubilden droht,
gegen ber dem Einbruch des nüchternen Nützlichkeitsprinzips, wie es in
merika beherrscht. Hier in Leipzig haben sich die Spitzenverbände
zusammengetan, der Vertreter des Verbandes Sächsischer Industrieller hat
schon ausgesprochen, daß der Verband Sächsischer Industrieller uns ireu
zur Seite steht, sowohl in Dresden wie in Leipzig, und ich danke dieser
Organisation. Ich muß aber den Dank noch erweitern auf die anderen
Spitzenverbände. Alle diese Verbände haben erkannt, daß sich eine Gefahr
aufrolit, daß wir es hier nicht mit der bloßen Frage zu tun haben, ob der
Alkohol verwendbar und nützlich ist, sondern daß wir einen Kampf der
nüchternen, kulturlosen Anschauung von der Brauchbarkeit bestimmter
Gegenstände haben, gegenüber einer gepflegten Kultur, wie sie Europa seit
ungefähr zwei Jahrtausenden sein eigen nennt. Das ist der letzte Sinn des
Kampfes, in dem wir die übrigen Verbände an unserer Seite finden. Ich
muß anerkennen, daß die Spitzenverbände sich in vollem Verständnis für die
Gefahren der Bewegung an unsere Seite gestellt haben; in einer Eingabe
an den Reichstag und die Reichsministerien erklären sie, daß sie den in der
Brauindustrie verkörperten Gedanken vertreten.
Das Wort geistige Getränke ist nicht zufällig. Es hat tatsächlich das
geistige Getränk etwas mit Geist zu tun, und unsere Kultur ist in Bem
aße befruchtet worden durch geistige Getränke. Das können wir von
Hafis bis zu Goethe und bis zur Moderne, die nicht gerade in Schlapp-
schuhen durch die Straßen läuft, verfolgen. Alle Kulturen, die wir durdi-
gemacht haben, sind befruchtet worden durch den begeisternden Wein. Eine
offenbar allgemeine Umgestaltung des griechischen Wesens hat sich mit
dem Eindringen des Dionysosdienstes vollzogen. Sie finden sogar in der
Bibel einen Anklang in der Noahgeschichte, die allerdings einen unerfreu-
lichen Beigeschmack hat. Aber Sie sehen, daß die Kultur mit diesen
geistigen Dingen verknüpft ist, und aus diesem Gedanken heraus haben wir,
ie Spitzenverbände, in Leipzig uns zusammengetan, und haben gegen den
Taktik des Alkoholgewerbes,. 293
Einfluß der bloßen Nützlichkeit des nackten Materialismus auf die euro-
paaie Kultur eine Abwehrentschlieĝung verfaßt, die wohl allgemeinen
ifall gefunden hat.
Wir wollen noch weitergehen. Wir denken, daß wir durch eine größere
Kundgebung hier in Leipzig eine Bewegung für unsere westeuropäische
abendländische Kultur in die Wege zu leiten vermögen. Leider hatsich
der tapfere Mann noch nicht gefunden, der die Fülle der
Aufgaben und dieFülle der Gefahren, diesichihm dabei
bieten, auf sich nimmt und uns zur Seite tritt. Denn daß
er aus unseren Kreisen nicht sein darf, ist klar; das
würde ihn sofort verdächtigen und seine Absichten
vereiteln*). Ich denke aber, wenn das hier in Leipzig gelingt, daß dann
‚das Leipziger Beispiel für die Gesamtheit wirken wird.“
Diesen Grundsatz, Bescheidenheit zu üben, um keinen Preis aufzufallen,
scheinen die Alkoholinteressenten auch noch auf einem anderen Gebiete zu
befolgen, nämlich bei der Bilanzaufstellung. Namentlich die Brauereien haben
zu ihrem Schaden beobachten müssen, daß die fetten Dividenden, die eine
große Zahl von Brauereien im letzten Jahre zu zahlen in der Lage war,
nicht nur die Aktionäre, sondern auch die breite Oeffentlichkeit interessiert
haben. Es sind aus dieser günstigen Geschäftslage Folgerungen gezogen
worden, die den Brauern nicht lieb sein konnten.
Infolgedessen sah sich jüngst das Präsidium des Deutschen Brauer-
bundes veranlaßt, an seine Mitglieder ein Rundschreiben zu richten, in dem
diese zu einer „vorsichtigeren“ Bilanzaufstellung aufgefordert werden, damit
die Oeffentlichkeit nicht erfahre, wie glänzend es gegenwärtig um das Brau-
gewerbe bestellt ist. Es heißt in dem Schreiben:
„Wir halten uns verpflichtet, wie bereits chehen, unsere Mitglieder
auf die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit einer vorsichtigen
Dividendenpolitik hinzuweisen. Hohe Dividenden der Brauereien
pflegen in der Oeffentlichkeit den Anschein zu erwecken, als ob die Brau-
industrie im Vergleich zu anderen Industrien übermäßig große Gewinne
erzielte. Hierdurch wird die Oeffentlichkeit gegen unsere Industrie ein-
genommen und es entständen in mehrfacher Hinsicht höchst un-
erwünschte Rückwirkungen. Im Interesse der Konsumenten wird
eine Herabsetzung der Bierpreise verlangt werden, im Interesse der Arbeit-
nehmer eine Heraufsetzung der Löhne. Die Reichsregierung wird die hohen
Dividenden als Argument für Steuerforderungen benutzen, und für die
Abstinenten gibt jeder günstige Brauereiabschluß eine willkommene Ge-
legenheit zu immer neuen häßlichen Ausfällen gegen die Gesamtheit unserer
Industrie. Wir möchten an unsere Mitglieder die dringende Bitte richten,
die vorstehend aufgeführten Gesichtspunkte bei der Erörterung der dies-
jährigen Dividende ernstlich in Erwägung zu ziehen.“
Es hat natürlich keinen Zweck, sich ob solcher Taktiken und Praktiken
umständlich zu entrüsten. Das Braugewerbe wird wie jedes andere Gewerbe
nach kaufmännischen Grundsätzen geleitet, und möglichst hohe Gewinne
sind hier wie dort der Zweck der Arbeit. Hier ist ein moralischer Maßstab
nicht immer angebracht.
Notwendig aber ist, daß sich die Alkoholgegner diese Dinge merken
und sie nicht wieder vergessen; daß sie lernen, die Bilanzen der alkohol-
Pen erolichen Unternehmungen zu lesen; daß sie Augen und Ohren offen
alten, wenn scheinbar von ganz unbeeinflußter Seite ein Angriff auf die
Alkoholgegnerbewegung erfolgt. Man kennt z. B. die „harmlosen“ Aufsätze
über amerikanische Verhältnisse. Mißtrauen ist in solchen Fällen immer am
Platze — auf die Gefahr hin, daß es als „Fanatismus“ gedeutet werde.
R. Kraut.
*) Von uns gesperrt, — Schrifti. d. „Alkoholfrage“.
Chronik
für die Zeit vom 1. Oktober bis zum 30. November 1926.
Von Pastor Dr. Christian Stubbe.
A. Zwischenstaatliches.
Das amerikanische Kriegsschiff „Memphis“ besuchte Deutsch
land. Die „Hamburger Illustrierte“ (8. 10. — Nr. 40) bringt ein Bild:
„Amerikanische Matrosen vom Kreuzer „Memphis“ zu Gast in Berlin. Die
Gäste sind nicht böse darüber, daß es in Berlin nicht so trocken ist, wie in
ihrer Heimat“. (8 Matrosen erheben schäumende Biergläser.) Demnach
scheint das amerikanische Alkoholverbot doch mit besserem Erfolge durd-
geführt zu sein, als es die deutschen Zeitungen sonst wahr haben wollen.
Die „Appenzeller Ztg.“ stellt fest, daß die Schweiz der Hauptabnehmer
für deutschen Sprit ist. Von den rund 27 Millionen 1 Sprit, die 1924/35
ausgeführt wurden, hat die Schweiz allein über zwei Fünftel auft.
Der Freistaat Danzig ist dem Helsingforser Abkommen bei-
getreten. („Kämpfer“ Nr. 10.)
An der Internationalen Polizeiausstellung in Berlin (Anting
Oktober) hat die Reichshauptstelle gegen den Alkoholismus mitgewirkt. —
Es war auch eine Abteilung der Schmuggelbekämpfung gewidme.
Die „Tgl. Rdschau“ Nr. 465 (6. 10.) plaudert darüber: „Was gibt's dem
dort zu sehen? Bilder mit Schiffen auf schäumender See! Schmuggel! Ein
Polizeiboot stellt einen Spritschmuggler auf hoher See. — Und dann macht
man sofort einen ganzen Schmuggelkursus von A bis Z auf einmal durch.
Lernt die Verstecke in der Brigg und im Gaffelschoner kennen, wo die Herren
Schmuggler mit Vorliebe ium oder Sprit, Tabak oder Seiden vor den
gewiß nicht auf den Kopf gefallenen Zollbeamten verstecken wollen, die dam
später doch „den ganzen Laden ausheben‘“, wie es in der Gaunersprache s0
schön zu Lande und auch hier zu Wasser heißt. Strompolizei, Hafenschutz.
Frachtgutdiebstahl — tabelliert und graphisch dargestellt, mit Modell und
Bild gezeigt“. — Während der Polizeiausstellung (bis 25. 10.) ist für Lokale.
die ein Bedürfnis dafür nachweisen können, ein- bis zweimal die Woche die
Verlängerung der Polizeistunde bis 3 Uhr zugelassen (jedoch ist dann eme
Verwaltungsgebühr von 5 bis 10 RM und eine „Hockersteuer“ von 20 Pig.
stündlich für einen Gast zu entrichten)!
Als der Prinzregentvon Japan Paris besuchte, wollte man ibs
dort u. a. mit edelstem Wein traktieren; er lehnte ab mit den Worten: „Wir
haben in Japan ein Gesetz, welches allen Minderjährigen den Genuß alko
holischer Getränke verbietet. Der Sinn dieses Gesetzes aber kann nur sem.
daß sich eigentlich alle vernünftigen Menschen des Alkohols enthalten sollten.
Das ist der Grund, weshalb ich keinen Alkohol anrühre, trotzdem ich
über ar age hinaus bin“. („The Int. Rec.“ No. 40 nach
„Kys-Sai“.
Zwischen Frankreich und Griechenland ist ein Handels-
vertra g abgeschlossen, der 11. 9. in Kraft trat. Frankreich erhält im allg.
die Meistbegünstigung. Traubenweine bis zu 12° in Fässern und Behältern
zahlen 4 Metalldrachmen für 100 Kilo und 5 Drachmen bei Flascheneinfeht,
Schaumweine 10 Drachmen, Schnäpse und Liköre (bei 30 bis 70°) 140 Drach-
men für 100 Kilo; umgekehrt kann Griechenland nach Frankreich zum
Minimaltarif jährlich 250 000 hl gewöhnliche Weine und 22 000 hl Likörwei®
Wermouth und dergl. einführen. (,‚Mon. vin.“ 15. 9.)
Stubbe, Chronik. 295
Das neue Alkoholschmuggelabkommen zwischen Groß-
britannien und den Vereinigten Staaten ist als vom 25. 9. ab
wirksam erklärt. Es sieht die administrative Zusammenarbeit der Behörden
beider Regierungen in der Verhinderung ungesetzlichen Alkoholhandels
zwischen britischen und nordamerikanischen Gebieten vor. Ir Ztg.“ 1. 10.)
Die 4 ResolutionenderinternationalenKonferenzvon
Genf (September 1925) betr. Alkohol und Kolonien, Alkoholschmuggel, sowie
betr. Konflikte, die aus einer Antialkoholgesetzgebung erwachsen können, sind
mit Bericht und Bitte um Mitwirkung von der internationalen Kommission
egen den Alkoholismus in den Niederlanden erneut den zuständigen
ınistern Hollands überreicht. Allen Mitgliedern der Generalstaaten ist eine
Abschrift zugegangen. (Nieuwe Rott. Cour.“ 12. 10.)
Ein erster Kongreß der Internationalen KatholischenLiga
gegenden Alkohol wurde auf Haus Hoheneck (Heidhausen) 30. 10. d. J.
unter Leitung von Kammerpräsident Ruys de Beerenbrouck gehalten. Vom
Ausland waren besonders stark Holland, Frankreich und Belgien vertreten.
Die 51. Generalversammlung des Internationalen Hotel-
besitzer-Vereins tagte 29. 9. bis 3. 10. in Ofen-Pest. Allseitig trat
man für eine Trinkgeldablösung ein („Mit der Hebung des Standes steht
die Abschaffung des Trinkgeldes in der jetzigen Form in untrennbarem Zu-
er und forderte einen gesetzlichen Schutz der Firmenbezeichnung
„Hotel“. („Der Bote“ Nr. 23.)
B. Aus dem Deutschen Reiche.
Allgemeines.
Der neue preußische Innenminister hat an die Ober- und Regierungs-
präsidenten und an den Berliner Polizeipräsidenten ein Rundschreiben
gerichtet, in welchem der Beginn der Polizeistunde neu festgesetzt wird, und
zwar in Städten von 100000 bis 300 000 Einwohnern auf 1 Uhr, in Städten
von mehr als 300000 Einwohnern auf 2 Uhr, in Berlin auf 3 Uhr nachts.
Die örtlichen Polizeibehörden wurden außerdem ermächtigt, bei vorliegendem
Bedürfnis für einzelne Veranstaltungen, wie aus besonderen Anlässen eine
Verlängerung der Polizeistunde zu gestatten. Fiir Kur- und Badeorte kann
während der Sommer- und Wintersaison die Polizeistunde allgemein veg-
längert werden. (Drahtung vom 6. 10.) Wie die Berliner „Nachtausgabe“
zu der Neuregelung der Polizeistunde erfährt, ist diese nur als erster Schritt
zur gänzlichen Aufhebung der Polizeistunde zu betrachten. Schon die gegen-
wärtige Verordnung sieht vor, daß von den zuständigen Behörden aus be-
sonderen Anlässen vorübergehend eine allgemeine Verlängerung der neuen
Polizeistunde zugelassen werden kann. Solche Anlässe sind, wie das Blatt
von zuständiger Seite erfährt, z. B.: große Ausstellungen, Tagungen und
Kongresse, aber auch andererseits die Woche zwischen Weihnachten und
Neujahr, oder die Karnevalszeit oder ähnliche Angelegenheiten. Es steht
schon heute fest, daß während der Zeit der großen Bälle die Polizeistunde
z. B. in Berlin für alle Lokale mindestens bis 5 Uhr früh verlängert
werden wird.
Dem keichsrat liegen z. Zt. „Richtlinien für die Behandlung der Bahn-
hofswirtschaften und Bahnhofsverkaufsstellen“ vor. ir entnehmen
ihnen: „Neue Bahnhofswirtschaften und selbständige Erfrischungshallen
können von der Reichsbahndirektion nur im Einvernehmen mit der höheren
Verwaltungsbehörde zugelassen werden ... Für die Errichtung .. ist das
Bedürfnis des Reiseverkehrs maßgebend ... Nach Eintritt der örtlichen
Polizeistunde ist der Ausschank von alkoholischen Getränken grundsätzlich
verboten ... Der Wirtschaftsbetrieb darf frühestens eine Stunde vor dem
Abgang des ersten der De une dienenden Zuges geöffnet und
nicht später als eine halbe Stunde nach Abgang oder Ankunft des letzten
derartigen Zuges geschlossen werden ... .“ („Kıel. Ztg.“, Beil. für „Handel,
Ind. u. Schiff.“ 28. 11.)
296 Stubbe, Chronik.
Der Preußische Minister für Handel und Gewerbe er-
läßt (weil die Reichsregierung das internationale Abkommen zur Bekämp
des Alkoholschmuggels vom 19. 8. 1925 zum 1. 1. 1927 in Kraft treten läßt)
eine Verordnung, nach der die Oberpräsidenten (Wasserbaudirektionen) in
Königsberg und Stettin, sowie die Regierungspräsidenten in Aurich, Stade,
Lüneburg und Schleswig die mit den Befugnissen des Gesetzes vom 14. 4. 1926
auszustattenden Hafenbehörden ihres Bezirkes zu bestimmen haben. Das
emäß § 4 des Gesetzes erforderliche Zeugnis über die Ehrenhaftigkeit und
ertrauenswürdigkeit des Reeders (Kapitäns?) hat die für den Heimathafen
zuständige Industrie- und Handelskammer auszustellen. („Flensb. Nchr.‘“ 30. 11.)
Gegen die Verlängerung der Polizeistunde hat sich eine Fülle von
Protesten gerichtet, die aus den verschiedensten Kreisen der Bevölkerung dem
Minister zugingen.
Die Zentrumsfraktion des Preußischen Landtags hat bezüglich
der von dem Innenminister erlassenen Verordnung über Verlängerung der
Polizeistunde folgende Anfrage eingebracht:
„Die Verordnung des Innenministers über Verlängerung der Polizei-
stunde hat in weiten Kreisen der Bevölkerung sehr große Mißstimmung
erregt, weil man von der Auswirkung dieser Verordnung Here Schädi-
gungen in sittlicher, sozialer und wirtschaftlicher Beziehung betürchtet.
Was gedenkt der Innenminister zur Verhütung solcher Wirkungen zu tun?“
Eine Anfrage gleichen Inhalts ging auch von der Deutschnationalen
Landtagsfraktion aus.
Der „Börsen-Courier“ (28. 10.) meldet über das 30. 10. abgelaufene
Braujahr: Im allg. werden die Dividendenausschüttungen nicht den hohen
Erwartungen entsprechen, die im Laufe des Jahres entstanden sind. Durch-
weg würde „nur“ dieselbe Dividende wie im Vorjahr verteilt (indessen bei
Patzenhofer 14, vielleicht 15 %). Der Gesamtabsatz der Deutschen Brauereien
betrage etwa 72 % der Vorkriegszeit. Die Bergschloß-Brauerei A.-G. werde
mit der Löwenbräu-Böhmisches Brauhaus A.-G. verschmolzen. — Die Hopfen-
preise übersteigen das Normale drei- und vierfach.
Ueber das schlechte Sommergeschäft klagt das „Gasthaus“
21. 9.: „In diesem Sommer des Unheils haben Wirte teilweise noch nicht ein
rittel des Umsatzes an Bier gehabt wie im Vorjahre.
Zwischen dem Reichsministerium des Innern und den
Regierungen von Preußen, Bayern und Sachsen sowie einigen anderen
Ländern haben Verhandlungen stattgefunden, ob angesichts der wirtschaft-
lichen und politischen Lage für die kommende Faschingszeit ein Kamevals-
verbot zu erlassen sei. Nach eingehenden Erwägungen sind die maßgebenden
Reichs- und Staatsregierungen zu der Ansicht gelangt, daß im Interesse der
Wirtschaft und der zahlreichen mit dem Karneval wirtschaftlich verknüpften
Existenzen bis auf weiteres keine Behinderung von karnevalistischen Ver-
anstaltungen in geschlossenen Räumen eintreten soll. Dagegen bleiben öffent-
liche Umzüge nach wie vor verboten. (Drahtung vom 5. 11.)
Die Weinernte ist wegen der ungünstigen Witterung des Sommers
allgemein dürftig ausgefallen. („De Bl. V.“ No. 41.)
Statistisches.
Aus den „Vierteljahrsheften zur Statistik des Deutschen Reichs“, 3 H.:
Betr. Bierbrauerei und Bierbesteuerung im deutschen Bier-
steuergebiet (ohne Saargebiet) im Rechnungsjahr 1924. Der Gesamtbierabsatz
betrug 1924 Einfachbier 86 107 hl, 201.056 hl Schankbier, 35 442 148 hl Voll-
bier, 482 025 hl Starkbier an untergärigem Bier, 872017 hl Einfach-
bier, 90 009 hl Schankbier, 950 254 hl Vollbier, 25 445 hl Starkbier an ober-
gärigem Bier, i. gz. 36211 336 hl untergäriger und 1937 725 hi ober-
gäriges, zusammen 38 149 061 hl Bier (gegenüber 26 533 533 hl untergäriges
und 1696591 hl obergäriges, zusammen 28 230 124 hi Bier im Rechnungs-
Stubbe, Chronik. 297
jahr 1923). Am Schlusse des Rechnungsjahres waren 14 923 Brauereien vor-
nanden, von denen 10 792 in Betrieb waren. 10112 bereiteten untergäriges,
680 obergäriges Bier. An Braustoffen wurden verwandt 6967 669 dz Malz,
28717 dz Zuckerstoffe, 200 756 dz Ersatzstoffe. Der mutmaßliche Verbrauch
auf den Kopf der Bevölkerung beträgt 1919 48, 1920 37,8, 1921 54,2, 1922
51,2, 1923 44,9, 1924 60,7, 1925 75,3 1.
Kirchliches.
Evangelisch. DerDeutscheBundenthaltsamer Pfarrer
hat nach dem Mitgliederverzeichnis vom 1. 9. 26 1530 Mitglieder; die Landes-
gruppe Oesterreich zählt 34, die Landesgruppe Polen 23, die der Tschecho-
Slowakei 14; die übrigen entfallen aufs Deutsche Reich. Die stärkste ist noch
immer Württemberg mit 241 Mitgliedern. Erster Vorsitzender ist Sup. D. Rolffs
Osnabrück), zweiter Prof. D. Schmidt (Gießen), — der von Württemberg
. lic. Römer (Buoch).
Der u er Landeskirchentag nahm folgende
Entschließung an: „Die furchtbare Gefahr des steigenden Alkoholmißbrauches
ruft gebieterisch zur Abwehr auf. Deshalb billigt es der Br. Landeskirchen-
tag in Uebereinstimmung mit den Vertretungen anderer evg. Landeskirchen,
1. daß in den Gemeinden die Aufklärung durch Predigt, Unterricht, Seel-
sorge, Jugendarbeit und Presse gefördert wird; 2. daß in den kirchlichen
Gemeinde- und Vereinshäusern, sowie bei kirchlichen Veranstaltungen durch
ausreichende Bereithaltung alkoholfreier Getränke der Alkoholmißbrauch
weiter eingeschränkt wird; 3. daß im Interesse der durch den Alkohol Ge-
fährdeten die Möglichkeit einer alkoholfreien Lebensweise gezeigt wird; 4. daß
«einem wirksamen Gemeindebestimmungsrecht die Wege geebnet werden.
(Christl. Abst.“ Nr. 6.)
PastorLensch ur): hat einen Band von Reden und Predigten
verschiedener Verfasser unter dem Titel „Volk in Not“ herausgegeben (Verlag
P. Christiansen, Wolgast), der sich wesentlich mit der Alkohol- und der Sitt-
lichkeitsfrage befaßt.
Katholisch. Nachdem im Gefolge des Fuldaer Bundestages eine
Zweiteilung des Jungborns eingetreten war, führte die diesjährige Tagung in
Haus Hoheneck zur Gründung eines „Jungkreuzbundes“, der durch
seinen Namen „unter starker Betonung seiner Selbständigkeit dokumentiert,
daß aus seinen Reihen überzeugungstreue, mit echtem Neulebensgeist erfüllte
Kreuzbündler hervorgehen sollen“. Bei dem Papste und dem Kardinal Schulte
stellte man sich telegrafisch als „Katholiche abstinente Jugendbewegung“ vor.
(„Sobr.“ H. 3.)
Vereinswesen.
Der DeutscheFrauenbundfüralkoholfreie Kultur tagte
in Leipzig 26. bis 29. 9. Er brachte einen Bericht der Vorsitzenden über die
Zeit vom Herbst 1924 bis 1. September 1926. Das Jahr 1925 sollte als
ubiläumsjahr ein besonders reges Arbeits- und Werbejahr sein. Eine Ottilie-
offmann-Ehrung war dem Berichte eingegliedert. Weiteres über die Tagung
siehe Heft 5 dieser Ztschr.
Sonstiges.
Geheimrat Prof. Dr. Kraepelin in München ist im 71. Lebensjahre
8. 10. gestorben. Einen Nachruf brachte „Die Alkoholfrage‘“ in Heft 5.
Unter der Spitzmarke „Der größte Hamburger Sprit-
schmuggelprozeß‘ berichten die „Flensbg. Nachr.“ 13. 10, daß das
Hamburger Amtsgericht, Strafabt. II c, eine Spritschmugglerbande, die April
bis Juni 1925 in 26 Fällen 338 Faß Feinsprit, 100 Kisten Spirituosen und
10 Faß puren Jamaikarum in der Gesamtmenge von 150000 I aus dem Frei-
hafengebiet ins Zollinland schmuggelte, i. gz. zu 4 Jahren 5 Monaten Ge-
fängnis und zu 10°/, Millionen RM Geldstrafe (im Unvermögensialle dafür
Gefängnis) und fast 2 Millionen RM Wertersatz verurteilt hat.
298 Stubbe, Chronik.
In dem durch seine Kirschblüte und leider noch mehr durch seine
während der Blütezeit gefeierten Trunkorgien berühmten Werder bei Berlin '
hat sich eine umfangreiche Obstkelterei entwickelt. Während vor dem Kriege
sich nur rd. 20 „Winzer“ dort betätigten, zählt man jetzt etwa 200. Der
Absatz soll mindestens 12000 hl betragen. (,„Tgl. Rdsch.“ 13. 11.)
Die Schriften von Prof. D. Schmidt über den Alkohol im Welı-
krieg auf deutscher Seite („Warum haben wir den Krieg verloren?“ „Unsere :
Niederlage im Weltkrieg“, „Das Kronprinzentelegramm“, alle im Neuland-
Verlag, jetzt Berlin W. 8, Kronenstr. 8—9) haben Prof. Oppermann auf den
Plan gerufen, Urteile deutscher Heerführer gegen Schmidt zu sammeln und sie
anonym unter dem Titel „Deshalb haben wir den Krieg nicht verloren“
Hannover, Norddeutsches Druck- und Verlagshaus) zu veröffentlichen.
hmidt bringt eine ausführliche Entgegnung „Neuland“ Nr. 44.
Der Reichs- und Preußische Landesausschuß für hygienische Volks-
belehrung hat „10 Gesundheitsregeln für Jedermann“ heraus-
g eben. Regel 6 lautet: „Meide Alkohol und Tabak. Für Kinder und Jugend-
iche bedeutet der Alkohol eine besonders schwere Gefahr. Erwachsenen bringt
nicht nur ein unmäßiges, oft auch schon ein mäßiges Trinken, wenn es zur
Gewohnheit wird, Nachteile... .. k
C. Aus anderen Ländern.
Angola. Prof. Dr. Schachtzabel, Berlin, schreibt in seinem Buche
„Angola,rorschungenundErlebnisseinSüdwestafrika“
(Berlin, Die Buchgemeinde. 1926): Bei den Mpunden ziere meist die Dach-
spitze ein Vogel, Kuhhorn, Kochtopf, oder — als Wahrzeichen fortgeschrit-
tener Kultur — die Schnapsflasche. In Ndombe Grande bestehen Zuckerrohr-
pflanzen, die früher reichen Gewinn aus Schnapsbrennen erzielten; die Re-
ierung hat dieses jedoch im Interesse der Eingeborenen verboten. Das
ationalgetränk ist (bei den Ngongela, Mbunda usw.) Maisbier, das in jedem
Dorfe bei irgendeiner Familie jederzeit angetroffen wird; die Frauen kochen
es. Nach 3 Tagen ist es Tschiganwe, ein leicht gegorenes, säuerliches, er-
frischendes Getränk; dann kocht die Frau den Stolf zum zweiten Male und
läßt ihn wieder einige Tage gären. Jetzt heißt er Tschipompe, und der Mann
trinkt sich damit einen Rausch an. Ein anderer Rauschtrank ist der Honig-
wein, welcher aus dem von wilden Bienen am Ende der Regenzeit zusammen-
getragenen Honig hergestellt wird, aber üble Nachwirkungen *hinterläßt. —
ei den verschiedenen Feiern (Mannbarkeitserklärung, Hochzeit usw.) gibts
Maisbier. '
Canada. Auf der Generalversammlung der Presbyterianischen
Kirche von Canada in Montreal 10. 6. wurde nach Begründung durch Rev.
Dr. Scott, den früheren Moderator, jetzt Herausgeber des „Presbyterian
Record“, eine Entschließung angenommen, in der es heißt: „Die Versammlung
erneuert ernstlich ihre Entschließung vergangener Jahre gegen den Handel
mit starken, berauschenden Getränken als einen Schandfleck der Zivilisation
und ein Hemmnis des Reiches Gottes und fordert all unser Volk zu äußerster
Anstrengung auf, durch alle gesetzlichen Mittel diesen Handel von unserem
Lande zu verbannen“. („The Am. Jss.“ No. 9.)
Dänemark. Auch in Kopenhagen ist man einem großangelegten
Schmuggel auf die Spur lee Die Polizei hat festgestellt, daß mehr
als 30 000 I 69prozentiger Alkohol, sowie große Mengen Kognak und Whisky
aus dem Freihafen durch eine Schlauchleitung ins Zollgebiet geleitet, dort in
besonders dafür eingerichtete Kraftwagen überführt und dann in der Stadt
abgesetzt wurden. („K. N. N.“ 8. 10.)
Wegen Rausches wurden in Kopenhagen verhaftet 1914 10 000,
1916 10216, 1918 2133, 1921 3614, 1923 4834. („Det Blaa Kors“ No. 13.)
Stubbe, Chronik. 299
Frankreich. Die Weinernte in Frankreich bleibt im Ertrag
weit hinter dem Durchschnitt zurück, in einigen Gebieten bis zu 50 Prozent.
In Medoc, wo der rote Bordeaux wächst, beträgt die Ernte nur ein Viertel
der normalen Menge. Die französischen Südweine sind um 30—40 Prozent
hinter dem Durchschnitt zurückgeblieben. Auch der Burgunder hat nur eine
kümmerliche Ernte abgeworien. Der Grund des schlechten Ertrages liegt in
der ununterbrochenen Trockenheit, die in Frankreich vom Juli an herrschte.
Erst im September fiel Regen, als es zu spät war. Die Qualität der geringen
Ernte wird gerühmt. Man rechnet sicher damit, daß infolge des schlechten
Ernteausfalles die Preise in die Höhe gehen. („Kiel. Ztg.“ 26. 10.)
In der Akademie der Medizin in Paris führte Prof. Marcel Labbé aus,
daß der Alkoholismus unter den Männern in Frankreich ab-, dagegen
unter den Frauen reißend zunehme 9 Uhr- und Nachmittagsschnäpse
spielten unter der weiblichen Arbeiterschaft eine ähnliche Rolle wie 5 Uhr-
orter oder -Sherry in den Teeräumen und Boudoirs der feineren Klassen.
Die Folge sei, daß in den Krankenhäusern ein größerer Prozentsatz alkoho-
\ischer Verletzungen (L&sions) bei den Frauen als bei den Männern sich finde,
z. B. in manchen Fällen die doppelte Zahl von Leberzirrhosen. („New York
Her.“, Paris 8. 9.)
Der Jahreskongreß der französischen abstinenten Katholiken
„Das goldene Kreuz“ wurde in Rennes unter dem Ehrenvorsitz von Kardinal
Mgr. Charost, Erzbischof von Rennes, gehalten. Die Fortschritte des Vereins
sind langsam, aber ständig. („The Int. Rec.“ No. 40.)
Großbritannien. Die britischen Getränkeabgaben (liquor
taxes) brachten im letzten Jahre 700 000 000 Dollar ein. („The Am. Jss.“ No. 9.)
Das berühmte Witzblatt Punch will fortan keine Alkoholanzeige
mehr bringen. (,„Manch. Guard.“ 24. 9.)
In Glasgow gab es 1826 auf 40000 Häuser bei 200000 Einwohnern
2850 Wirtshäuser, also 1 auf 15 bewohnte Häuser. Jetzt gibt es bei einer
beinahe sechsmal so zahlreichen Bevölkerung (einschließlich Krämerlizenzen
und Hotels) 1517. Die hellen freundlichen Teeräume haben die Kneipe ver-
drängt. („Ihe Times“ 4. 10.)
Der Magistrat in Glasgow will beim Besuch der Premier-
ministerder Dominions Ende November in der Bewirtung für einen
Tag die Alkoholbeschränkung aufheben! („Westm. Gaz.“ 2. 11.)
.Die Verurteilungen wegen Trunkenheit betrugen in Eng-
land und Wales 1913 188877, 1918 29075, 1919 57948, 1920 95763, 1921
77094, 1922 76 347, 1923 77 094, 1924 79 082, 1925 75 077. („Daily Tel.“ 7. 10.)
Die Temperenzpartei in Ulster erneuert ihren Feldzug fürs
Gemeindebestimmungsrecht in der Provinz. Sie hat bereits beim „Parlament
des Nordens“ eine gewisse Temperenzreform erreicht: Sonntagsschluß der
Wirtschaften und Verbot des Spirituosenhandels in Kolonialwarenhandlungen.
er der Lizenzen für „Kleinhandlungen“, — spirit grocers) — „Ihe
imes“ 18. 9.
Italien. Der Minister des Innern Federzoni teilte im
Senate mit, daß sich die Regierung entschlossen habe, energisch gegen den
Alkoholismus vorzugehen, weil er die italienische Rasse gefährde. Auch sei
die Hälfte aller Verbrechen in Italien dem Alkohol schuld zu geben. — Die
Erklärung fand wärmste Unterstützung bei Faschisten und Nichtfaschisten.
(„The Int. Rec.“ No. 40.)
Litauen. Von Art. 12 des Trinkgesetzes von 1922, welches Abstinenz-
vereinen bei Uebernahme von Konzessionen den Vorzug gewährt (um Wirt-
schaften in der Art des Gotenburger Systems zu betreiben) machten früher
mehrfach katholische Enthaltsamkeitsvereine Gebrauch, sehen aber neuerdings
davon ab. Um so mehr Wert legen auf sie auf Art. 15, der das Gemeinde-
300 Stubde, Chronik.
bestimmungsrecht ermöglicht. Es gibt im Lande bereits 30 trockene Ge-
meinden, in denen der Verkauf alkoholhaltiger Getränke entweder durch Volks-
abstimmung oder auf andere Weise abgeschafft ist. („De Wereldstr.‘“ No. 41.)
Niederlande. In den Volkskaffeehäusern der Abt. Rotterdam
des „Volksbonds“ wurden 1925 65 000 I Milch, 17000 Glas Buttermilch,
22500 Glas Lagerbier, 105 600 Pilsener, 2500 Flaschen Limonade, 1444 kg
Kaffee und 79 kg Tee verkauft. („De Bl. Vaan“ No. 30.)
Im Haag ist unter dem Titel „Mäßigung ohne Zwang“ eine Ver-
einigung zur Verteidigung des ‚„ehrsamen‘ Handels mit alkoholischen Ge-
tränken und Bekämpfung der Beschränkungs-, Abschaffungs- und Verbots-
bestrebungen errichtet. (‚De goede Temp.“ No. 4.)
Norwegen. 18. 10. fand de Abstimmung über Beibehaltung des
Alkoholverbotes statt. Die Beteiligung war rege. 519 878 erklärten sich gegen
und 408 324 für das Verbot. Während die Landbevölkerung noch heute
meistens für das Verbot ist, hat sich in vielen Städten, besonders in Oslo,
das Verhältnis stark zu Gunsten der Aufhebung verschoben. — Unter dea-
jenigen, welche einen Aufruf gegen das Verbot unterzeichnet haben, be-
anden sich Roald Amundsen, Fritjof Nansen und die Wwe. Caroline Björason.
Nachdem die Volksabstimmung gegen die Aufrechterhaltung des Alkohol.
verbots ausgefallen ist, verlautet jetzt, daß die norwegische Regierung einen
Gesetzentwurf zur An ebung des Branntweinverbots
ausarbeitet. Das Storthing, das erst nach Neujahr wieder zusanımentritt, wird
sich sofort mit dem Gesetzentwurf beschäftigen. Inzwischen wird die jetzige
Regierung den Gedanken der früheren Regierung Berge verfolgen, wonach
auf Branntwein hohe Steuern gelegt werden sollen. (Drahtung v. 20. 10.
„Kieler Ztg.“)
Der legale Alkoholverbrauch auf den Kopf der Bevölkerung
betrug 1924 1,95 I reinen Alkohols, 1925 2,12 1. — Der legale Verbrauch von
Branntwein (medizinischer Gebrauch) betrug (umgerechnet auf reinen Alko-
hol) 1924 0,39 1, 1925 0,26 I, der von Wein 1924 0,46 1 reinen Alkohol, 1925
0,66 I, der von Bier 1924 1,10 I reinen Alkohol, 1925 1,20 1. — Der illegale
Verbrauch von Alkohol läßt sich nicht feststellen 1924 wurden 248 850 1 kon-
zentrierter Alkohol und 9682 1 Branntwein, 1925 88949 1 konz. Alk. und
6918 1 Branntwein beschlagnahmt. — Die Trunkenheitsvergehen weisen einen
merklichen Rückgang auf: 1922 49 019, 1924 43 188, 1925 38 442. („Int. Ztschr.
g. d. Alk.“ No. 5.)
Oesterreich. Im Finanz- und Budgetausschuß wurde 21. 9. nach
längerer Erörterung der Gesetzentwurf über die Regelung der Erzeugung
von Spiritus und des Verkehrs mit diesem und über Abänderung
einiger gesetzlicher Bestimmungen über die Branntweinsteuer mit kleinen Ab-
änderungen und Ergänzungen angenommen. (,„N. Fr. Presse‘ 21. 9.)
Vom österreichischen Spirituosenmarkt berichtet L. Faigl
(„Deutsche Destill.-Ztg.“ 2. 11.): Das Spiritusgeschäft sei im allg. recht
schwach, nur in Inländer-(Kunst-)Rum sei ein reges Geschäft zu verzeichnen.
An Obstbranntwein herrsche d. Zt. Mangel. Sliwowitz werde (nach der reichen
Zwetschenernte) viel angeboten und sei überbillig. In Weinbrand und Wein-
destillat ist das Geschäft weiterhin recht schwach. Die Beratungen über die
Erhöhung der Getränkesteuern sind noch.immer nicht beendet; vorläufig wird
nur von einer Biersteuer gesprochen.
Ostindien. „New York Her.“ 5. 10. berichtet: Darbar Sahib, Fürst
von Jasdan in Kathiawar, Bezirk Bombay, habe den Handel mit berauschenden
Getränken und Opium in seinem Reiche verboten, obwohl er dadurch ein
Viertel seiner Einnahme verliere, und wolle aus seiner Privatschatulle die
Staatskasse für ihren Verlust schadlos halten. |
Die Herrscherin von Bhopal (Mittelindien) hat in ihrem Lande den
Alkoholgenuß verboten. (Christl. Welt“ Nr. 19.)
Stubbe, Chronik. 301
Ru Bland. Ein vom Rat der Volkskommissionäre beschiossenes Gesetz
schränkt den Branntweinverkaufein. Das Höchstmaß von Alkohol,
das an eine Person verkauft werden darf, ist eine Flasche Wodka. Der Ver-
kauf an Jugendliche ist verboten. Die örtlichen Behörden sind ermächtigt,
den Verkauft von alkoholischen Getränken an den Tagen der Lohnauszahlung
oder während einer Wirtschaftskrise ganz zu verbieten. („Bern. Tgbl.‘“ 20. 10.)
Schweden. Auf Antrag des (jetzt zurückgetretenen) Ministeriums
Sandler hat der Reichstag beschlossen, den Betrag, welcher der Staats-
kasse aus den Alkoholsteuern zufällt, für das nächste Haushaltsjahr
auf 85 Millionen Kr. zu beschränken. Für die folgenden 5 Jahre soll dann
dieser Betrag jährlich um 2 Mill. Kr. gekürzt werden. Der Ueberschuß der
Alkoholeinnahmen fällt in einen Fonds, der sr. Zt. angelegt ist, um der Staats-
kasse zu helfen, wenn ein plötzlicher Rückgang der Alkoholeinnahmen
See ae bringen sollte, — jedoch mit der Beschränkung, daß der Fonds:
einschließlich Fondszinsen jährlich nur um 5 Mill. Kr. zu vergrößern ist; der
Rest ist zur Schuldentilgung zu verwenden. (,Int. Ztschr. g. d. Alk.“ No. 5.)
Schweiz. Auf der Abgeordnetenversammlung der Schweizerischen
Gemeinnützigen Gesellschaft wurde nach Referaten von den
Nationalräten Obrecht, Killer und Weber über die gegenwärtige Schnapsfrage
der Zentralkommission der Gesellschaft ein Kredit von 20000 Fr. zur Be-
kämpfung der Schnapsgefahr durch volkstümliche Literatur zu-
gesprochen.. („Aargauer Ztg.“ 15. 9.)
Nach einer Umfrage bei den öffentlichen Irrenanstalten, auf welche
alle mit einer Ausnahme geantwortet haben, sind 1925 nicht weniger als 586
Männer und 81 Frauen interniert worden, die an ausgesprochen alkoho-
lıschen Geisteskrankheiten litten; von diesen waren 440 Männer
und 59 Frauen erstmalig in Irrenanstalten eingeliefert. Bei den erstmalig an
Irrsinn erkrankten Männern kamen auf je 100 Kranke 23 Alkoholiker, bei den
Frauen nur rund 4 Prozent. („Bern. Tagw.“ 25. 9.)
Das alkoholfreie Familienhotel Helvetia in Aarau, er-
wachsen aus dem 1910 von der Sektion Aarau des Bundes abstinenter Frauen
gt alkoholfreien Restaurant, ist jetzt erweitert und wird gelobt.
C arg. Tgbl.“ 1. 10.)
Der Zentralvorstand der Freisinnig-demokratischen
Partei begrüßte in seiner Sitzung 29. 9. die von der nationalrätlichen Kom-
mission 28. 7. gefaßten Beschlüsse zur Revision der Alkoholgesetzgebung
und forderte, daß die mit Revision der Alkoholgesetzgebung verknüpfte Er-
höhung der Einfuhrzölle auf Gerste und Malz es im Zeitpunkt der
Abstimmung über die Alkoholvorlage von der Bundesversammlung durch-
beraten und genehmigt sein sollte. („Vaterld.‘“ 30. 9.)
Die Jahresversammlung der Abgeordneten der
schweiz. alkoholgegnerischen Vereine zu Olten 25. 10.
stimmten folgender Resolution zu: „Die Abgeordnetenversammlung warnt
vor der Verankerung der bäuerlichen Hausbrennerei in der Bundesveriassung.
Sie erneuert ihre Forderung, dem Bunde, unter Wahrung aller wirtschaft-
lichen Interessen der Obstverwertung, das unzweideutige Recht zu geben,
die Hausbrennerei innerhalb nützlicher, vom Ausführungsgesetz zu be-
stimmenden Frist aufzuheben. Sie erklärt ferner, daß in den übrigen Be-
stimmungen der Kommissionsvorlage nicht hinter die Rigi-Beschlüsse zurück-
gegangen werden darf, wenn die Vorlage nicht den Widerstand der alkohol-
gegnerischen Verbände finden soll.“ — Die neuen Schulwandbilder der
weizerischen Zentralstelle zur Bekämpfung des Alkoholismus finden
Anerkennung.
Auch die in Olten tagende Vertreterversammlung der deutsch-
schweiz. Blaukreuzvereine gab ihrer Erwartung Ausdruck, daß
die eidgenössischen Räte nicht hinter das zurückgehen, was die national-
302 Stubbe, Chronik.
SE Kommission in den Rigi-Beschlüssen festgelegt hat. („Nat. Zig.“
Der Bundesrat hat den Voranschlag der Alkoholverwal-
tung für 1927 genehmigt; dieser sieht bei 11 706500 Fr. Einnahmen und
6505000 Fr. Ausgaben einen Ueberschuß von 5201500 Fr. vor, von dem
1,20 Fr. auf den Kopf der Bevölkerung an die Kantone zur Verteilung
kommen sollen. („N. Zürich. Ztg.“ 12. 10.).
Nach einer Schätzung des Sekretariats der Schweizer. Armen-
pfleger-Konferenz mußten im Jahre 1924 die Gemeinden des Landes
rund 2 Millionen Fr. für notorisch Trunksüchtige ausgeben. („Bern. Tagw.“
22. 10.)
Nach dem Jahresbericht der Züricher Trinkerfürsorgestelle
über 1925 beträgt die Zahl der Alkoholkranken in Zürich 5- bis 6000, d. h.
‘3 Prozent der Bevölkerung. Rechnet man die Familien der Trinker hinzu,
so kommt man auf 20- bis 25000 Menschen (d. h. 10 Proz. der Bevölkerung),
die unter dem Alkohol und seinen Auswirkungen zu leiden haben. (,,
Volksst. 6. 10.)
Für die Erweiterung des Volkshauses hat Zürich 600000 Fr.
à fonds perdu und 300 000 Fr. Darlehen zu billigem Zinsfuß auf zehn Jahre
bewilligt. („Gem.-Stube“ Nr. 14.)
Aus der Tätigkeit des Verbandes „Volksaufklärung über
den Alkoholismus“ 1925 heben wir hervor die Schaffung -aufklärender
Wandbilder durch hervorragende schweizer Künstler wie Cardinaux, Liner,
Kammiüller, Anneler, Ernst. Die Originale haben in der Schweiz. Landwirt-
schaftlichen Ausstellung zu Bern ihren ersten Erfolg davongetragen. Den
Vorsitz führt jetzt Direktor Prof. Dr. Preisig. Weiteres siehe „Freiheit“ Nr. 13.
Ungarn. Für 196 wird das Spirituskontingent von 300000
auf 350 000 hl erhöht; im verflossenen Jahre wurden 150 000 hl exportiert.
(N. Fr. Pr.“ 2. 10.)
Vereinigte Staaten von Nordamerika. Im Oktober fanden
die Gesamtwahlen fürs Repräsentantenhaus und Teilwahlen
für den Senat statt. In 26 Staaten haben (nach Pussyfoot-Johnson) Vor-
wahlen zur Bestimmung der Kandidaten stattgefunden; von den so gewählten
Kandidaten für die Kammer sind 75, für den Senat 80 Prozent trocken.
(„Schw. Abst.“ 23. 9.)
Entgegen den ersten in der Tagespresse erschienenen Mitteilungen zeigen
die Wahlen vom 2 November, daß die Lage des Alkoholverbotes
keineswegs erschüttert ist. Das neue Abgeordnetenhaus wird
trocken sein, wie das alte, und was den Senat anbetrifft, der zu einem
Drittel neu gewählt wurde, so ist der Führer der Trockenen, Senator
Willis, nach einem heißen Wahlkampf im Staate Neuyork wieder-
are worden, während zwei der Vorkämpfer der Verbotsgegner,
adsworth im Staate Neuyork und Brennau in Illinois geschlagen
wurden. Am 2. November fanden auch in 8 Staaten Volksabstimmungen, die
das Verbot betrafen, statt. In den Staaten Neuyork, Illinois, Wisconsin, und
Nevada handelte es sich darum, den einzelnen Staaten das Recht zu geben,
selbst zu bestimmen, welche Getränke als berauschend zu betrachten und
infolgedessen zu verbieten seien. Die Trockenen hatten diesen Abstimmungen
jede gesetzliche Grundlage aberkannt und die Stimmenthaltung beschlossen,
so daß die Abstimmung jede Bedeutung verlor. In den Staaten Missouri,
Colorado, Kalifornien und Montana hingegen sollten sich die Wähler über
die Beibehaltung oder Aufhebung des Staatsverbotsgesetzes aussprechen, und
die Anhänger des Verbotes beteiligten sich am Kampfe. Sie sind im kleinen
Staate Montana geschlagen worden, was bedeutungslos ist; in den drei
übrigen großen Staaten dagegen haben sie den Sieg davon getragen. So
endet die heftige, im Frühling begonnene Offensive, von der die Gegner des
Stubbe Chronik. 303
Verbotes, wenn nicht die Aufhebung, so doch wenigstens die ernste Ab-
rn der Prohibition erwartet hatten. (,Int. Bur. g. d. A.“, Bull.
9—12. 11.
Dr. Ellenberger berichtet im „Harrisburg Patriot“, daß die Todesfälle
an Alkoholismus in der Hauptstadt Pennsylvaniens stark seit Annahme des
Prohibition-Amendments abgenommen haben. In den 4 Jahren vor dem
Alkoholverbot (1915—1918) gab es 35 Todesfälle an Alkoholismus und nur
8 Todesfälle aus gleichem Grunde 1920 bis 1925. Im Gesamtgebiet der Ver-
einigten Staaten mit 90 Millionen Einwohnern zählte man in den vier Jahren
vor dem Alkoholverbot 14 720 Todesfälle an Alkoholismus (1914—1917) und
nur 6345 Todesfälle aus gleicher Ursache in den vier Jahren nach Einführung
des Alkoholverbots 1919—1922. („Clipsh.‘“ des meth. Board of Temp. 25. 10.)
in dem 30. 6. abgeschlossenen Rechnungsjahr wurden nach Mitteilung
der Justizabteilung im ganzen 44 022 Uebertreter des Alkoholverbotsgesetzes
verurteilt; im ganzen wurden 7336 995 Dollars Strafe verhängt. Auf den
Staat Neuyork tielen allein 6161 Verurteilungen und 1512856 Dollar Strafe,
während auf den alten Prohibitionsstaat Kansas nur 10 Verurteilungen kamen.
— Die Zahl der Verurteilungen überstieg die des Vorjahres um 4193, dagegen
war die Einnahme an Geldbußen von rund 4000000 Dollars ponge als
1925, — andererseits die Kerkerstrafen von 5 bis 666 Jahren rund 1100 Jahre
höher als im Jahre vorher. („The Am. Iss.‘ No. 10.)
Der Volkswirtschaftler Prof. Irving Fisher an der Universität Yale hat
unter dem Titel „Prohibition at its worst“ ein Buch herausgegeben (erschienen
bei Mcmillan & Co. in Neuyork), in dem mit großer Objektivität Vorzüge
= un des Verbots beleuchtet werden. (Vgl. S.313 dieses Heftes
er „Afr.“
Liz. Dr. H. Werdermann veröffentlicht im „Deutschen Pfarrerblatt“
Nr. 47 f. „Amerikanische Reiseeindrücke“, „Die Prohibition in den Ver-
einigten Staaten“. Der Inhalt ist kurz: Das Alkoholverbot war nicht eine
Ueberrumpelung, sondern das Ergebnis eines langen Kampfes. „Die Saloon-
irage ist gelöst“, der Saloon verschwunden. Schwierigkeiten lagen in den
Prohibitionsbeamten, „aber der Prohibitionsgedanke ist größer als die Un-
zulänglichkeit dieses oder jenes Prohibitionsagenten“. Eine wenig erfreuliche
Rolle haben z. B. viele „Vereinsdeutsche‘“ gespielt, eine unerfreulichere oft
noch Polen, Italiener, Griechen. Eine Zeitlang mochte es Sport sein, sich
heimlich Alkohol zu verschaffen; dieser Sport kommt aus der Mode. Bei
manchen Bürgern ist die Nichtbeachtung der Prohibitonsbestimmungen nur
eine Begleiterscheinung einer allgemeinen Nichtachtung des Gesetzes: Im
letzten Winter war eine Art Krisis eingetreten; es ist leichter, ein Gesetz
ein-, als es durch- und auszuführen. Aber wo es sich um die Frage handelte,
ob Abschaffung oder gründliche Durchführung des Gesetzes, hat man
sich (in Detroit wie in Washington) für das Zweite entschieden. Man weiß
ja nur zu sehr, daß doch die günstigen Folgen des Gesetzes die üblen weit
j iegen. Wie oft habe ich die Antwort gehört: 67 Prozent gute,
33 Prozent unangenehme Folgen.
Mitteilungen.
1. Aus der Trinkerfürsorge.
Trinkerfürsorge
im Bereich der Landesversicherungsanstalt Westfalen.
Nach ihrem Verwaltungsbericht für das Geschäftsjahr 1925 hat die Ver-
sicherungsanstalt in diesem 40 Trinkerfürsorgestellen (Fürsorgestellen für
Alkoholkranke) mit dem Gesamtbetrage von 16 000 M unterstützt. Außerdem
erhielten der Westfälische Provinzialverband g. d. Alkoholismus und der
Landesverband alkoholgegnerischer Vereine Beihilfen. Ueber Steigerung des
Trunks und die Abwehrtätigkeit dagegen sagt der Bericht: „Schon im vor-
jährigen Bericht haben wir hervorgehoben, daß leider die Trunksucht wieder
zugenommen hat. Die uns zugegangenen Berichte der Fürsorgestellen weisen
fast sämtlich auf eine Zunahme auch im Berichtsjahre hin. Dieses ist ein
bedauerliches Zeichen, namentlich im Hinblick auf die allgemeine wirtschaft-
liche Notlage. Wir haben aber auch erfreulicherweise beobachten können,
daß die im Kampfe gegen die Trunksucht in vorderster Linie stehenden
Trinkerfürsorgestellen und Enthaltsamkeitsvereine unermüdlich und erfolg-
reich tätig gewesen sind, um den Gefahren des Alkoholmißbrauchs zu be-
gegnen. Außer der Fürsorge für die Trinker und ihre Familien betreibes
sie eine großzügige Aufklärungsarbeit.“
Eine vom schon genannten Provinzialverband vom 10.—28. Mai v. J. in
Münster veranstaltete Ausstellung, die neben der aufklärenden Bekämpfung
der Alkoholschäden auch derjenigen der Tuberkulose und der Geschlechts-
krankheiten diente, wurde mit Geld und Aufklärungsstoff unterstützt. Die
Geschäftsstelle der Zentrale der westfälischen Trinkerfürsorgestellen befindet
sich nach wie vor im Gebäude der Landesversicherungsanstalt, ihre Leitung
in den Händen von Landesrat Kraß. Die Ruhrknappschaft in Bochum über-
wies der Zentrale zur Verteilung an die Trinkerfürsorgestellen des rheinisch-
westfälischen Bergbaubezirks wieder 5000 M. 8 Trinkerheilverfahren (i. V.0)
wurden im Berichtsjahr übernommen. FI.
Die Trinkerfürsorge im Geschäftsbericht 1925
der Landesversicherungsanstalt Schlesien.
An Trinkerrettungsvereine werden gemäß § 1274 RVO. Beihilfen ge-
währt, wenn sie
a) einen Fürsorger annehmen, der das Aufsuchen von zur Unterbringung in
einer Heilanstalt geeigneten trunksüchtigen Versicherten mit Erfolg be-
treibt, und dessen Unterhaltungskosten aus den eigenen Mitteln des Ver-
eins nicht bestritten werden können;
b) Trinkerheime errichten, in welchen trunksüchtige Versicherte Aufnahme
‘finden können.
Nach diesen Grundsätzen wurden im abgelaufenen Rechnungsjahre 1200 M
Beihilfen bewilligt (eine angesichts der Fülle. und Schwere der auf diesem
Gebiet vorliegenden Nöte und Aufgaben sehr bescheiden erscheinende Summe.
D. Ber.).. Bedauerlich ist, daß viele, anscheinend die meisten Landes-
versicherungsanstalten keine Trinkerheilverfahren mehr durchführen. So wird
auch hier mitgeteilt, daß im Berichtsjahre ebenso, wie bereits im Vorjahre,
solche „wegen der Finanzlage der Landesversicherungsanstalt“ nicht mehr
übernommen wurden.
Mitteilungen. | 305
Um jedoch festzustellen, ob und welchenanhaltenden Erfolg
die in den Vorjahren gewährte Heilstättenbehandlung hatte, wurden 23
Patienten, für die in den Jahren 1920—1923 ein Heilverfahren mit ne
durchgeführt worden war, kontrolliert. Diese Nachprüfung gescha
unauffällig durch Nachfrage bei den Fürsorgestellen, Trinkerrettungsvereinen,
Trinkerheilanstalten und Vertrauenspersonen. Die Ermittelungen ergaben
9 Rückfälle nach 2—3°/, Jahren. Es ist also in 14 von 23 Fällen, — 60,86
v. H., Dauererfolg erzielt worden. Von den 14 Gebesserten gehörten
7 einem Enthaltsamkeitverein an. S
Aus dem Bericht der Evangelischen Abteilung der Fürsorge-
stelle für Alkoholkranke und Trinkerrettung in Dortmund.
Dem Bericht über das 18. Geschäftsjahr — 1. April 1925/26*) — ist zu
entnehmen: „Die wirtschaftliche Notlage hat nicht etwa eindämmend auf den
Alkoholismus gewirkt, sondern im Gegenteil die Verführung und Aus-
schweifung nur noch gesteigert. Manche Erwerbslosen haben ihre Unter-
stützung — den letzten „Stempelgroschen‘“, wie der Volksmund sagt — ver-
trunken, weil sie nicht wußten, wie sie ihre Zeit nutzbringend anwenden
sollten. So haben sich die Fälle der haltlosen Hingabe an die Trinkleiden-
schaft unter dem Zeichen der Arbeitslosigkeit leider gemehrt. Die schwersten
Formen des Alkoholismus mußten uns wiederholt beschäftigen.“
Zu den von früher her vorhandenen Pfleglingen kamen nicht weniger als
56 neue (50 Männer, 6 Frauen), durch Wohltahrtsamt, Polizei oder Angehörige
überwiesen. Nur 14 konnten in Trinkerheilstätten oder verwandte Anstalten
überführt werden. Zur Entmündigung „infolge völliger Zerrüttung der
Willensstärke“ kam es in 12 Fällen; Vormundschaften und Pflegschaften
bestehen bei 19 Männern, 5 Frauen, 11 Kindern. Nicht weniger als 1850 Haus-
besuche wurden vom Berufs-Trinkerfürsorger ausgeführt. Die rege Verbin-
dung mit der Ortsgruppe des Deutschen Vereins g. d. Alk. — Vorsitzender
Stadtarzt Dr. Cäsar — erwies sich in ärztlicher Beratung und Unterstützung
der Belange der Fürsorge bei den Behörden förderlich. Mit dem Mangel an
„Existenzmitteln“ hat diese — wie leider die meisten Trinkerfürsorgestellen —
zu kämpfen.
Beratungsstelle für Alkoholkranke Münster i.W. im Jahre 1925.
Auch hier gegenüber dem Vorjahr ein starkes Ansteigen der Zahl der
Alkoholkranken und damit der Arbeit. Zu den 107 Fällen von 1924**) kamen
nicht weniger als 188 neue hinzu. Außerdem wurden — ein auch ander-
wärts vereinzelt geübtes, sehr empfehlenswertes frühzeitiges Eingreifen —
gegen 200 von der Polizei erstmalig Verwarnte, die nicht alle unmittelbar
als Trinker bezeichnet werden können, betreut. Als ehrenamtliche Helfer und
Helferinnen beteiligten sich im Berichtsjahre an der Arbeit 17 Damen und
30 Herren, die zum Teil aus Mitgliedern der „Vincenzkonferenzen“ der
einzelnen Pfarren gestellt wurden. Dies ermöglichte und erklärt die sehr hohe
Zahl von 3169 Besuchen bei Trinkern und ihren Familien.
Die erforderlichen Mittel erhielt die Stelle von Landesversicherungsanstalt,
Regierung, Wohlfahrtsamt und Allgemeiner Ortskrankenkasse.
Die ansehnliche Zahl von 29 Personen (24 M., 5 Fr.) wurde 1925 durch
Vermittlung der Fürsorgestelle in Trinkerheilstätten untergebracht, wovon
16 in der geschlossenen Abteilung der Arbeitsanstalt Westhof bei Benning-
hausen. Die Kosten des Heilverfahrens übernahm größtenteils das betr. Wohl-
+) Im Auszug wiedergegeben im Verwaltungsbericht der Landesversicherungsanstalt West-
falen für 1925.
"®e, Worunter noch einige von früheren Jahren her.
Die Alkoholfrage, 1926. =
305 Mitteilungen.
fahrtsamt, in einigen Fällen die Angehörigen, in einem Falle je hälftig Ver-
sicherungsanstalt und Wohlfahrtsamt. — Für 26 Pfleglinge wurde Ent-
mündigung bzw. vorläufige Vormundschaft beantragt und durchgeführt.
Wir merken ausdrücklich den Wunsch an, in den der Bericht ausmündet:
daß „möglichst bald ein Trinkerfürsorgegesetz zustande käme, so
daß es möglich wäre, auch gegen nicht entmündigte Trinker mit Zwangs-
maßnahmen vorzugehen, um den Kranken und den Familien die Ent-
mündigung zu ersparen“. FI.
Trinkerfürsorgestelle München, 16. Jahresbericht 1925.
Die von Amtsrichter a. D. Dr. O. Bauer’) ehrenamtlich geleitete
Stelle, deren ärztliche Beratung im Laufe des Berichtsjahres Privatdozent Dr.
Graf übernommen hat, hatte 1925 129 Anmeldungen (worunter 4 Wieder-
aufnahmen aus früheren Jahren), gegen 58 im Vorjahr. Damit ist die Ziffer
des letzten Vorkriegsjahres (1913: 95) nicht nur erreicht, sondern bereits
beträchtlich überschritten. Unter den Angemeldeten waren 5 Frauen. 49
Sprechstunden wurden gehalten; außerdem werden Besuche und Anträge
auch in der Wohnung der beiden Vorsitzenden entgegengenommen. „Wohl
die Mehrzahl der anmeldenden Angehörigen kommt in der Erwartung eines
Trunksuchtsmittels und ist enttäuscht von unserer Erklärung, daß wir solche
Mittel niemals verabfolgt oder empfohlen, sondern stets bekämpft haben.“
Die Mehrzahl der Fälle wird als verschleppt befunden.
Den fast größeren Teil der Arbeit beanspruchten auch im verflossenen
Jahre die früheren Fälle; eine ganze Anzahl von bekannt gewordenen neuen
konnte wegen Ueberbürdung mit den übrigen — bei bis jetzt nur wenigen
freiwilligen, ehrenamtlichen Kräften — nicht behandelt werden. Und auch
abgesehen davon ist man sich bewußt, daß die Fürsorge nur den geringsten
Teil der fürsorgebedürftigen Trinker und Trinkerinnen Münchens erfaßt.
Man kann dem Verfasser nur zustimmen, daß die Aufgaben, vor die eine
Trinkerfürsorgestelle in einer Stadt von der Größe und den sozialen Ver-
hältnissen Münchens gestellt ist, nur durch mehrere ee N Fürsorger
gelöst werden können, für die ständige Mittel im städtischen Haushaltplan
vorzusehen wären.
Auf das Elend in Trinkerfamilien werfen die Angaben ein grelles Streif-
licht, daß von den in Behandlung der Fürsorgestelle Befindlichen 46 ver-
heiratete Männer ihre Unterhaltsptlicht in größerem oder geringerem Grade
verletzten und 47 sich Mißhandlungen und schwere Bedrohungen
Angehörige zu Schulden kommen ließen. 7 davon haben ihre Frau mit dem
Messer bedroht, einer auf sie geschossen. Die zahlenmäßige Uebersicht,
soweit Auskünfte zu erhalten waren, ergibt freilich erbliche Belastung mit
der Trunksucht, bzw. der Anlage dazu, von oben her: in der Hälfte der
betreffenden 98 Fälle waren Vater oder Mutter oder beide Trinker. (Nebenbei
wird die bemerkenswerte Tatsache erwähnt, daß das klinische Archiv der
dortigen Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie sich mit Erhebungen
über das Schicksal sämtlicher an ‚„chronischem Alkoholismus“ leidenden
Personen beschäftigt, die von 1905—22 in der Münchener Universitätsklinik
behandelt wurden.)
Gegenüber der verbreiteten — und von den Interessenten geflissentlich
genährten — Meinung von der Harmlosigkeit des „Gerstensaftes‘ verdient
wieder die große Rolle Hervorhebung, die dieser im Bierlande auch bei der
ausgesprochenen Trunksucht spielt: als Getränk wurde der Fürsorgestelle in
62 ihrer Fälle Bier angegeben. In 30 waren es Bier und Schnaps, in 8
Bier, Wein und Schnaps, in 5 Bier und Wein, in 6 Schnaps, in 1 Wein
und Schnaps. Der günstige Einfluß der Alkoholknappheit während des
Krieges und der ersten Nachkriegszeit wurde bei einer größeren Zahl von
Pfleglingen festgestellt: In 39 Fällen ging es in der Dünnbierzeit gut und
*, Von dem auch der gedruckte Bericht erstattet ist.
En — in u N
Mitteilungen. 307
setzte mit der Voll- und Starkbierzeit das Trunkübel ein oder wieder ein.
ve. auch das bekannte, von Prof. Kräpelin herausgegebene Werk: „Die
irkungen der Alkoholknappheit während des Weltkrieges“.) |
Ueber die Ergebnisse der Arbeit wird gesagt, sie mögen auf den
ersten Blick bescheiden erscheinen, seien aber bei Berücksichtigung der vor-
liegenden Verhältnisse durchaus befriedigend. — Gewünscht wird, daß durch
ein Trinkerfürsorgegesetz die Möglichkeit geschaffen werde, Trinker auch
gegen ihren Willen auf entsprechend lange Zeit in einer geschlossenen
rınkerheilanstalt unterzubringen.
An geldlicher Unterstützung erhielt die Fürsorgestelle von der
bayerischen Regierung (Ministerium des Innern) rund 3000, von der Landes-
versicherungsanstalt Oberbayern 300, der Allgemeinen Ortskrankenkasse
München 50 M. i i ö
2. Aus Vereinen.
Die Tagung der Thüringer Gefängnisgesellschait
zur Alkoholfrage.
Ohne so beabsichtigt zu sein, wurde die diesjährige Hauptver-
sammlung der Thüringer Gefängnisgesellschaft zu einer
entschiedenen Kundgebung gegen den Alkoholismus. Der Verband hatte zur
Beratung einer wichtigen Tagesordnung einen großen Kreis von Interessenten
für den 10. November nach Rudolstadt eingeladen. Die Frage der Gerichts-
hilfe für Erwachsene und die Ankündigung von Referaten namhafter Fach-
leute hatte einen starken Besuch aus den verschiedenen Teilen Großthüringens
zur Soge gehabt. Sogleich nach dem ersten Referate, das Generalsuperin-
tendent Braune (Rudolstadt) über die „Seelsorge an Gefangenen“ hielt, trat
Frau Schulrätin Schäfer (Saalfeld) mit starker Betonung der Alkohol-
gefahren in die Aussprache. Vom religiösen Sozialismus herkommend, wies
sie auf die große Mitverantwortung der Allgemeinheit hin,
der sie den Vorwurf nicht ersparen könne: „Ihr laßt den Armen
schuldig werden, dann überlaßt ihr ihn der Pein“.
Das gelte ganz besonders auch in Hinsicht auf den Alkoholismus,
ohnedeneingroßer Prozentsatzallerstrafbaren Hand-
lungenüberhauptnichtbegangen würde Dieser Mitverant-
wortung sich vollbewußtzu werden und daraus die Schluß-
tolgerungen zu ziehen, hält die Rednerin für eine ernste Notwendig-
keit. Sie wies darauf hin, daß in Deutschland rund eine Million
Trinkerkinder nachweisbar seien und etwa 80 Prozent aller
Straftaten mit dem Alkoholirgendwieursächlichin Zu-
sammenhang gebracht werden können. Bei einem Stande von etwa
2000000 Arbeitslosen, von denen ein erheblicher Teil eine Wochenunter-
stützung von nur 4.65 RM zum Lebensunterhalt hätten, könne das Alkohol-
kapital durchschnittlich 20 Prozent Dividende verteilen. Auf diesem Boden
sah die Rednerin die Straftaten entstehen und fand dabei mit ihren warmen
Worten offenbar starken Widerhall in dem voll gefüllten Saale. Diese Zu-
stimmung zeigte sich besonders deutlich, als sie darauf hinwies, daß trotz
dieser Sachlage der preußische Innenminister als erste Tat nach seinem
Amtsantritt die Polizeistunde bis auf 3 Uhr morgens verlängert habe.
Der 2. Vorsitzende des Reichsverbandes für Gerichtshilfe,
Gefangenen- und Entlassenenfürsorge, Oberstaats-
anwalt Dr. Nötzel (Cassel) teilte mit, daß der Reichsverband mit allen
Mitteln gegen die Verlängerung vorgegangen sei, aber leider keinen Erfolg
gehabt habe. |
Die Leiterin der I le für Thüringen,
Frau Gräfin Bose wandte sich unter allgemeiner Zustimmung gegen die
20°
308 Mitteilungen.
Lügen des Alkoholkapitals auf der „Gesolei“ in Düssel-
dorf, wodurch ein erheblicher Teil der erstrebten Gesamtwirkung wieder
aufgehoben worden sei.
MinisterialratStarke-Dresden, der über die ihm aus Infor-
mationsreisen bekannten Verhältnisse der Gefangenenfürsorge in England
berichtete, teilte mit, daß die zuständigen Kreise dort große Hofinungen
hegen, besonders durch die Beschränkung des Alkoholismus
im mer: der Gesetzgebungeine us der Straf-
fälligkeit zu erreichen. Dort habe man klugerweise nach dem Kriege die
gesetzlichen Maßnahmen gegen den Alkoholismus auf-
recht erhalten.
Noch bei mehreren anderen Anlässen klang die Befürchtung durch, daß
ein wirkungsvolles Abstoppen der Zuflußkanäle der Strafanstalten nicht
möglich sein werde, solange die Alkoholgefährdung in dem heutigen Umfange
anhalte.e Neben der ätiologischen Bedeutung des Alkohols für den Rechts-
bruch in seiner Allgemeinheit wiesen einzelne Redner — so Fräulein Klee-
berg-Halle in ihrem Bericht über die praktische Arbeit der Gerichtshilfe
in Halle — auf die Beeinträchtigung der Entlassenenfür-
sorge durch den Alkohol hin, indem die Entlassenen, oft trotz guter Vor-
sätze, dem Anreiz zum Alkoholgenuß wieder erliegen und dadurch auf die
Bahn des Verbrechens zurücktreiben. x
Diese intensive Betonung der Bedeutung der Alkoholfrage für die Vor-
beugung von Straftaten und zur Besserung der Rechtsbrecher geschah im
Rahmen vielseitiger und lehrreicher Erörterungen über die Gerichtshilie für Er-
wachsene, Gefangenen- und Entlassenenfürsorge; sie war, wie schon eingangs
erwähnt, nicht vorgesehen oder von alkoholgegnerischer Seite vorbereitet,
weshalb die Wirkung wohl besonders hoch eingeschätzt werden muß. Vom
seiten der alkoholgegnerischen Bewegung kann dieses Verständnis für die
Alkoholirage bei einem so aufblühenden Zweige der freien Wohlfahrtspflege,
wie er hier offenbar gegeben ist, mit aufrichtiger Freude und Dankbarkeit
festgestellt werden.
Johannes Thiken- Jena.
3. Verschiedenes.
Sport und Alkohol.
Einem Vortrage, den kürzlich Prof. Dr. Müller-Heß, der Direktor
des Instituts für an und soziale Medizin in Bonn, über das Thema
„Sport und Alkohol“ gehalten hat, entnehmen wir die folgenden beachtens-
werten Gedanken:
An einem Apparat läßt sich durch Gewichtheben nachweisen, daß der
unter Alkohol stehende Mensch anfangs schneller arbeitet als der nüchterne,
daß aber bereits nach 15 bis 40 Minuten die Leistung auf Wirkung von
60 Gramm Alkohol hin wesentlich abfällt.. Man kann das Zurückbleiben der
Arbeitsleistung auf etwa 17 Prozent berechnen. Ein Bergsteiger, welcher im
nüchternen Zustande zwei Stunden und IE Minuten gebraucht zum
Zurücklegen einer Tour, ist in drei Stunden und fünf Minuten unter Wirkung
von 30 bis 40 Gramm Alkohol erst in der Lage, die gleiche Strecke zu
erledigen. Von 60 Bergsteigern haben 62 Prozent angegeben, daß sie voll-
kommen alkoholfrei leben, 8 Prozent nahmen nur am Schluß der Tour wenig
Alkohol zu sich und 30 Prozent versuchten lediglich bei Schwächezuständen
durch geringe Alkoholmengen ihre Kräfte wieder aufzufrischen. Diese letzteren
gebrauchten also den Alkohol gewissermaßen als „Peitsche“.
Neben der Muskelwirkung ıst es vor allen Dingen die Selbsttäuschung,
welche als Folgeerscheinung des Alkoholgenusses auftritt. Die Arbeit wird
schneller und unkontrollierter geleistet; es fehlt eine ökonomische Verteilung
der Kräfte, welche gena für den Sport außerordentlich wichtig ist; es
fehlt ferner an der Selbstkritik, die bei Arbeitsleistung nicht zu entbehren ist.
Mitteilungen. 309
Da das Sportherz an sich groß ist, schädigt Alkoholeinfluß bei Leibes-
übungen außerordentlich, weil auch der Alkohol eine Vergrößerung des
Herzens bedingt und eine Blutsteigerung in den Gefäßen verursacht. Das
Gefäßsystem aber wird beim Sport außerordentlich in Anspruch genommen
und bedarf deshalb der Schonung.
Besonders auffallend ist die Einwirkung des Alkohols auf das Seelen-
leben: Die Sinnesempfindungen werden stark gesteigert. Sinneseindrücke
werden zu spät und falsch empfunden und angegeben. Diese Wirkung tritt
bei einem sonst nüchtern lebenden Manne schon durch Trinken von zehn
Gramm Alkohol, gleich einem Glase Korn, auf. Deshalb sollen die Lokomotiv-
führer im Eisenbahnbetrieb abstinent leben oder während des Dienstes wenig-
stens nicht trinken. Eine weitere Alkoholwirkung besteht in der Verminderung
der Auffassungsfähigkeit. Von 100 Worten werden nur etwa 59 eine halbe
Stunde nach Alkoholgenuß richtig nachgesprochen. Der unter Alkohol Stehende
bleibt „am Wort kleben“, anstatt daß er z. B. auf das Wort Baum als Er-
Jarang wor Wurzel, Ast oder Blatt nennt, kommt er auf gleichklingende
rter zurück.
Die geistigen Leistungen werden unter der Einwirkung des Alkohols
ebenfalls herabgesetzt. Bei einem Versuch an Schriftsetzern ließ die Leistung
unter der Einwirkung von 40 Gramm Alkohol um etwa 8 bis 17 Prozent nach.
Im Zusammenhang damit steht auch, daß ein längerer Alkoholgenuß selbst am
trinkfreien Tage noch nachwirkt.
Es ist keine Seltenheit, daß ein Sportspiel deshalb verlorengeht, weil am
Vorabend des angeblich sicher zu erwartenden Sieges getrunken worden ist.
Durch den Alkohol wird auch eine starke Ablenkbarkeit erzeugt. Neben-
sächliche Dinge werden in den Vordergrund gestellt und Wichtiges rn
2 De beansprucht aber alle Sinne und bedarf angestrengter Auimerk-
samkeit.
Bei der Leichtathletik würden unter der Alkoholwirkung besonders
Muskeln und Herz leiden, die besonders in Anspruch genommen werden.
Beim Wintersport wird durch die gefäßerweiternde Wirkung des Alkohols
das für den Sportler so wichtige Kälte- und Wärmegefühl herabgesetzt. Das
gleiche trifft für den Wassersport zu.
Die Ruderer leben meist wochenlang vor dem Training abstinent, denn
beim Rudern, das in gleichmäßigem Takt erfolgen muß, wird Muskelsinn und
Kraft gefordert, welche der Alkohol stört.
Bei einer Rundfrage an 241 Sportradfahrer haben 202 angegeben, daß
sie vollkommen abstinent leben; mit Rücksicht auf den beim Radfahren stark
beanspruchten Herzmuskel ist ein solches Verhalten auch zu empfehlen. Die
Kraftsportler glauben, häufig ohne den Alkohol nicht auskommen zu können;
es ist das dadurch zu erklären, daß der Kraftsport eine Momentleistung dar-
stellt und die durch das Trinken entstehende Fettleibigkeit und Körperfülle
für den Ringkämpfer zum Beispiel wertvoll ist. Dagegen muß aber angeführt
werden, daß die abstinent lebenden türkischen Ringkämpfer durchaus wert-
volle Leistungen vollbringen.
Zusammenfassend kann man also sagen, daß vor allen Dingen vor dem
Wettkampf und während der Sportarbeit alkoholische Getränke am besten
gemieden werden.
Da für unsere Jugend, die kommende Generation, der Sport einen wesent-
lichen Lebensinhalt bildet, so wird der Alkoholmißbrauch unter den Jugend-
lichen herabgesetzt. Herr Professor Müller-Heß konnte denn auch aus seiner
Praxis als Gerichtsarzt in Bonn berichten, daß zurzeit viel weniger Jugend-
liche im Rauschzustande ins Gefängnis eingeliefert würden als in den Jahren
vor dem Krieg. Wenn die Führer in der Sportbewegung abstinent leben,
so übt das auf die ıhrer Fahne folgende Jugend einen günstigen Einfluß aus.
In diesem Sinne könne die Sportbewegung dazu beitragen, dem Alkohol-
mißbrauch zu steuern und zum Wiederaufstieg Deutschlands beitragen.
310 Mitteilungen.
Eine Abstimmung der Bevölkerung über ein Wirtschaftsgesuch,
| in einer Nürnberger Siedlung.
Da bekannt geworden war, daß in der Siedlung Loher Moos, die
etwa 506 Familien mit etwa 1200 Wahlberechtigten umfaßt, neben der schon
bestehenden Schankwirtschaft eine zweite errichtet werden sollte, wurde von
alkoholgegnerischer Seite*) kurzerhand am Sonntag, 7. November, dort eine
freiwillige Abstimmung unter der Einwohnerschaft veranstaltet. Junge Leute
(Wehrtempler) gingen mit einem Bogen von Haus zu Haus, welcher unter
kurzer Darlegung des Sachverhalts folgende Frage enthielt: Ist ein Bedürfnis
für eine zweite Wirtschaft in der Siedlung vorhanden oder nicht? (Es möchten
nur Personen unterschreiben, die über 20 Jahre alt sind.) Bei der Abstimmung
wurden 540 Personen erfaßt, von denen 500 mit Nein, 36 mit Ja abstimmten,
4 Stimmen mußten als ungültig angesehen werden. Die Abstimmung konnte
nach Lage der Umstände keine umfassende sein, weil zu einer genügenden
Vorbereitung und Werbung Zeit und Möglichkeit fehlten. Die Guttempler-
Jugendgruppe, die sich zur Besorgung der Stimmensammlung bereit erklärte,
konnte erst zwei Tage vor dem nach der Sachlage einzig möglichen Ab-
stimmungstag ihre Mitglieder erreichen, und es standen infolgedessen nur
7 Personen für diese Arbeit zur Verfügung, welche die Unterschriftbogen
wahllos herumtrugen. Dabei trafen sie natürlich viele Einwohner gar nicht
an. So kann, da die Sammler als ganz ortsunbekannt völlig unparteiisch
vorgingen, z. B. sogar den Bewerber um die fragliche Schankerlaubnis um
seine Unterschrift angingen, der Ausfall bei der erreichten ansehnlichen Zahl
von 540 wahlmündigen Personen als eindrucksvoll und beweiskräftig genug
angesprochen werden.
atürlich suchte die Nürnberg-Fürther „Arbeitsgemeinschaft gegen das
Gemeindebestimmungsrecht“ — in einer zwei Spalten umfassenden Auslassung
in der Presse — die Abstimmung und ihr Ergebnis zu diskreditieren. In der
Sitzung des Verwaltungs- und Polizeisenats, die sich bald darauf mit der
Sache beschäftigte, und in der gegenüber starker gegenteiliger Strömung
der Oberbürgermeister Dr. Luppe entschieden gegen Bejahung der Bedürfnis-
frage sprach, wurde diese dann mit 10 gegen 9 Stimmen verneint. (Leider
ist, wie mitgeteilt wird, zu fürchten, daß durch Hervorziehung eines „Real-
rechts“ — dieser in Bayern und z. T. anderwärts noch vielfach bestehenden,
veralteten Einrichtung — die Errichtung der Schankwirtschaft vielleicht
doch erreicht werde.) FI.
Die norwegische Verbotsabstimmung vom 18. Oktober 1926
und ihre voraussichtlichen Folgen.
Am 18. Dezember 1916 hatte die norwegische Regierung ein Branntwein-
verbot erlassen. Dieses Kriegsverbot war ursprünglich nur für die Dauer
von drei Wochen (bis zum 8. Januar 1917) berechnet gewesen. Da es aber
schon während dieser kurzen Zeit gute Wirkungen auf das Volksleben aus-
übte, beschloß die Regierung die einstweilige Verlängerung des Verbotes.
Im Jahre 1919 hielt man es für zweckmäßig, durch Befragung des Volkes
festzustellen, ob eine Mehrheit der Bevölkerung für die weitere Fortdauer des
Verbotes sei oder nicht. Die angeordnete Abstimmung ergab eine verbots-
freundliche Mehrheit von 184 344 Stimmen. Infolgedessen blieb das Verbot,
das sich von 1917 bis 1918 auch auf den Ausschank und Verkauf von Süd-
weinen und Starkbier erstreckte, bestehen.
Inzwischen ist von der durchweg verbotsgegnerischen Tagespresse Nor-
wegens planmäßig gegen das Verbot gearbeitet worden, so daß die Re-
ierung wiederholt vor die Frage der Aufhebung des Verbots gestellt wurde.
aher beschloß das Parlament vor einigen Monaten, am 18. Oktober 1926
*) Die Führung hatte die Vorsitzende des Nürnberger Frauenbundes gegen den Alko-
holismus (Frauengruppe des Deutschen veıeins g. d. Alk), Frau Studienprofessor Leidig-Stark
Mitteilungen. 311
von neuem das Volk zu befragen. Das Ergebnis dieser Abstim-
mungistfür die Verbotsfreunde ungünstig. Es erklärten sich
519 878 gegen und 408324 für das Verbot. Das ist also eine gegnerische
Mehrheit von 111554 Stimmen.
Während die Landbevölkerung der meisten Landstriche Norwegens noch
heute in ihrer Mehrheit für das Verbot ist, hat sich in vielen Städten, ganz
besonders in Oslo, das Zahlenverhältnis stark zugunsten der Aufhebung des
Verbots verschoben.
Die folgende Uebersicht über das Abstimmungsergebnis einiger bekannter
Städte zeigt das deutlich:
für das Verbot: gegen das Verbot:
Oslo 15 419 103311 _
(1919: 18 480 69 578)
Bergen 12 703 26 000
(1919: 14 198 17 136)
Drontheim 5 093 15 587
Drammen 1918 9 186
Moss 926 2 696
Sarpsborg 2 259 2 026
Skien | 2281 3574
Aalesund 4 583 2 322
Sandefjord 711 1 160
Porsgrund 1 429 1653.
Kr. Sand 3011 4 174
Lillehammer 970 1 508
Kongsvinger 166 630
Notodden 1108 1 204
Grimstad 495 496
Stavanger 9 574 6 819
Manda 836 486
Molde 894 483
Tromsö 13% 1 977
Die Beteiligung an der Abstimmung war gut, wenn auch nicht ganz so
stark, wie 1919. In den größeren Städten, besonders in Oslo, kam es wieder-
holt zu leidenschaftlichen Szenen, die deutlich zeigten, daß die Gegner des
Verbotes namentlich in den bessergestellten Kreisen der Bevölkerung zu
finden sind. Während z. B. im Arbeiterviertel Oslos die Abstimmung ruhig
ohne jeden Zwischenfall verlief, wurden in anderen Stadtteilen fast unglaub-
liche Szenen beobachtet, in denen grade gut gekleidete Personen eine bedenk-
liche Rolle gespielt haben sollen.
An dem Stimmungswechsel und dem dadurch bedingten ungünsti
Ausgang der Abstimmung trägt die Tagespresse eine große Schuld. Sie hat
in ihrer überwiegenden Mehrheit seit Jahren ständig zur Uebertretung auf-
efordert und gleichzeitig über die zunehmende Gesetzesverletzung und den
hmuggel laute Klage geführt. Ein schwerer Fehler war es zudem, daß das
Verbotsgesetz ohne jede Vorbereitung in Kraft trat. Polizei und Zoll-
beamtenschaft (wie überhaupt die Verwaltungsbehörden) standen zu einem
sehr großen Teile von vornherein auf Seiten der Gegner des Verbots. Es
war nichts geschehen, um die Beamtenschaft aufzuklären. Außerdem ver-
fügte die Zollbehörde zunächst nur über langsam fahrende Boote, die
höchstens zehn bis zwölf Knoten in der Stunde zurücklegten, während die
Snugele mit ihren schnellen Booten 25 bis 30 Knoten fahren. Erst all-
mählich stellte die Regierung schnellere Boote in Dienst und verschärfte über-
haupt die Maßnahmen gegen den überhandnehmenden Schmuggel. Tat-
sächlich ging auch der Schmuggel in den letzten beiden Jahren zurück. Aber
die Stimmung gegen das Verbot war unter der Einwirkung einer skrupel-
losen Presse gewachsen. Aehnlich verhält es sich mit der Unzahl leicht-
312 Mitteilungen.
fertig ausgestellter Alkoholrezepte. Erst ziemlich spät machte die nor-
wegische Regierung dem unwürdigen Treiben mit diesen Rezepten ein Ende.
Uebrigens sind auch die norwegischen Abstinenten im allgemeinen
keine begeisterten Freunde des Branntweinverbots. Man hält es für eiw
Halbheit, die zu bedenklichen Mißständen (u. a. zu starkem Anschwelle:
des Wein- und Bierverbrauchs!) führen muß. Infolgedessen ist man seit
Jahren für ein völliges Verbot eingetreten.
Immerhin verschließt sich kein Alkoholgegner der Tatsache, daß auci:
das Halbverbot bis zu einem gewissen Grade gute Wirkungen hervo en
hat. Das beweist schon die Statistik der Verhaftungen wegen T
(auf je 1000 Einwohner berechnet).
Im Jahre in Oslo in den anderen norwegischen Städten
1897 111,0 40,5
1915 65,2 42,1
1916 71,2 53,5
1917 43,6 24,9
1918 38,1 14,0
1919 52,0 25,6
1920 40,2 24,1
1921 42,3 24,0
1922 ‚6 29,1
1923 72,7 23,7
1924 60,4 26,1
1925 52,9 23,2,
Volksabstimmungen sind in der norwegischen Verfassung nicht vor-
gesehen. Sie haben daher an sich nicht die Kraft einer gesetzlichen Ent-
scheidung. Aber es unterliegt keinem Zweifel, daß dem Abstimmungs-
ergebnisse Rechnung getragen wird. Es hat auch schon der Sozialminister
Norwegens einen Ausschuß beauftragt, Vorschläge über neue Formen der
Alkoholgesetzgebung dem Parlament zu unterbreiten. Die Mehrheit dieses
Ausschusses ist für Einschränkungsmaßnahmen des Alkoholhandels, die den
in Schweden bestehenden Einschränkungen zwar nicht gleichkommen, aber
doch ähnlich sind. Es wird also, wenn die Vorschläge des Ausschusses den
Beifall der Volksvertretung und der Regierung finden sollten, auf eine Mono-
polisierung des Alkoholhandels hinauslaufen. Ausschank und Verkauf werden
also dem Staate bzw. staatlich kontrollierten Körperschaften vorbehalten
bleiben. Der Branntweinausschank wird ferner zeitlich stark beschränkt sein
(Feiertagsverbot, verkürzte Schankzeiten und dergl.). Auch ein Jugendverbot ist
sehr wahrscheinlich. Der Vertreter der Abstinenten im Ausschusse, hat gegen
einzelne Vorschläge Einspruch erhoben und vor allem gefordert, daß der
Branniwéinvekaul in Gemeinden mit weniger als 4000 Einwohner verboten
bleiben solle. Ob aber die Stimmen der Abstinenten bei der endgültigen
Regelung Gehör finden werden, mag zweifelhaft sein.
Die Entscheidung wird vielleicht schon binnen Kurzem fallen. 7
rt.
Wirkungen des belgischen Branntweingesetzes
vom 29. August 1919.
Das Gesetz verbietet bekanntlich den Ausschank von Branntwein in
öffentlichen Lokalen, besonders in Kabaretts. Ein Kabarettinhaber darf nicht
einmal für seinen persönlichen Gebrauch Branntwein führen. Dagegen ist
der Verkauf von Wein und Bier für den öffentlichen Verbrauch nicht be-
schränkt. Man kann sich in Kolonialwarenhandlungen und anderen Läden
Branntwein verschaffen, aber nur in der Mindestmenge von zwei Litem.
Diese Vorschrift wird streng kontrolliert, und es scheint, daß dieses Mindest-
maß von zwei Litern, das eine Ausgabe von 50—60 Franken ausmacht, ein
Mitteilungen. 313
ernstes. Hindernis für den Branntweinverkauf bedeutet. Die Wirkungen des
Branntweingesetzes lassen sich etwa folgendermaßen zusammenfassen: . :
.- 1. Die Zahl der Kabaretts, deren es vor dem Kriege über 200 000 gab,
ist auf 108000 zurückgegangen. n
2. Der Branntweinverbrauch, der vor dem Kriege 5 Liter auf den Kopf
der . Bevölkerung betrug, ist auf zwei Liter gesunken. Nie zuvor hat ein
Gesetz den Verbrauch so niedrig zu halten vermocht.
- 3. Der Bierverbrauch beträgt 185 Liter auf den Kopf der Bevölkerung,
vor dem Kriege 220 Liter. Der Verbrauch von Wein dagegen hat sich ver-
doppelt. Zurzeit beträgt er etwa 10 Liter auf den Kopf der ölkerung, vor
dem Kriege nur 4—5 Liter.
4. Diesen im großen und ganzen günstigen Zahlen entspricht die Tat-
sache, daß die Irrenhäuser heute weniger Insassen zählen, als vor dem
Kriege. Die Zahl der Erkrankten ist von 20 000 auf 17 000 zurückgegangen.
Man kann ferner beobachten, daß im ganzen Lande die Alkohol-Psychosen
sich um 60—70 Prozent verringert haben. Weiter steht fest, daß, obschon
eine genaue Statistik nicht angestellt ist, die Verbrechen sich verringert
haben. Wesentlich zurückgegangen ist die Zahl der Morde und Totschläge.
Die Gefängnisse haben sich entvölkert. Im Industriebetriebe ist ein Rück-
gang der Unfälle am Montag beobachtet worden.
Trotz allem bedeutet die Alkoholirage noch immer für Belgien ein großes
soziales und wirtschaftliches Problem, da die Bevölkerung, deren wirt-
schaftliche Lage sehr ungonsig ist, noch jetzt für geistige Getränke über
zwei Milliarden Franken ausgibt.
Dr. A. Ley,
Neuere Gesetze und Bestimmungen zur Alkoholfrage
in Italien.
Das italienische Parlament hat auf Vorschlag der Regierung bemerkens-
werte Maßnahmen gegen den Alkoholismus ergriffen.
Das Gesetz zu Schutz und Hilfe für Mutterschaft und Kinderwelt ver-
bietet, den Kindern in Schulen, Internaten und Asylen geistige Getränke ein-
schließlich Wein zu verabreichen. Außerdem ist es seen untersagt,
Kindern unter 7 Jahren gegorene Getränke zu geben, ärztliche Verordnung
ausgenommen. Beschältigung von Jugendlichen unter 18 Jahren, soweit sie
nicht zur Familie des Wirtes gehören, in Schankstätten ist nicht erlaubt. —
Diese Bestimmungen wurden, wie der ya a Kliniker Marchiafava,
der Berichterstatter über die Frage inı Senat, sich äußerte, angenommen, um
die Kinder an den Gedanken zu gewöhnen, daß die alkoholischen Getränke
für den Menschen nicht nötig sind, und damit sie lernen, daß man sich ihrer
enthalten und dabei einer ausgezeichneten Gesundheit erfreuen kann. |
Außerdem hat das Parlament die Regierungsverordnung vom 7. Oktober
1923 zum Gesetz erhoben, die die Zahl der Schankstätten auf 1 für
1000 Einwohner begrenzt. Ferner dürfen Schankstätten, welche ausschließlich
geistige Getränke, Wein, Bier, Branntwein und Liköre, verabreichen, Werk-
tags nicht vor 10, Sonntags nicht vor 11 Uhr vormittags öffnen und müssen
vom 15. Mai bis 31. Oktober um 11 Uhr, vom i. November bis 14. Mai
um 10 Uhr nachts schließen. In Bars, Restaurants, Hotels usw. ist jeder
Verkauf geistiger Getränke vor 10 (Sonntags 11) Uhr vormittags und im
Winter nach 10 Uhr, im Sommer nach 11 Uhr nachts verboten.
(Nach der Internationalen Zeitschrift gegen den Alkoholismus, Lausanne,
1926 Nr. 3, Mai/Juni. — Aus dem Französischen übersetzt von Flaig.)
Irving Fisher über das amerikanische Alkoholverbot.
Der bekannte Volkswirtschaftslehrer der Yale-Universität (Vereinigte
Staaten), Prof. Irving Fisher, hat im September 1926 unter dem Titel „Prohi-
bition at its worst“ (Das Alkoholverbot in Not) ein wissenschaftliches Werk
314 Mitteilungen.
herausgegeben, in dem er die Wirkungen des Verbots in den Vereinigten
Staaten während dessen erster, siebenjähriger Probezeit untersucht. Darin
sagt er u. a.: „Augenscheinlich kam das verfassungsmäßige Alkoholverbot
etwas zu früh über das Land, bevor gewisse Gebiete, besonders der Osten
und die großen Städte, durch Erziehung und Aufklärung dafür vorbereitet
waren.“ Aber trotzdem ist F. der Meinung, daß der Versuch fortgesetzt
werden sollte; denn die neue Einrichtung habe den Alkoholverbrauch im
Lande beträchtlich herabgesetzt, und es lägen neue Tatsachen vor, die darauf
hinweisen, daß das Heer der Trinker an seiner Quelle geschwächt wird. „In
New-York, das manche für die nasseste Stadt der Vereinigten Staaten erklären,
mit einer Bevölkerung, die größer ist als die mehrerer Staaten zusarnmen,
zeigen Berechnungen, die auf Grund von Angaben des „Fingerprint-Bureaus“
beim Stadtmagistrat von New-York für mich gemacht wurden, eine bestimmte
und ausgesprochene Abnahme der Zahl der einmaligen Trunkenheitsvergehen
von 20 auf 10000 Köpfe im Jahre 1914 auf nur 4 im Jahre 1925.“ Es liege
also nach den zahlenmäßigen Feststellungen selbst in New-York keine Be-
rechtigung vor für die laute Behauptung, daß die Trunksucht im allgemeinen,
wie unter der Jugend und der Frauenwelt im besonderen zunehme, im Gegen-
teil: „Wahrscheinlich beträgt der ungesetzliche Verbrauch an Alkohol aus
verschobenem Industriesprit weniger als 8 v. H. des gesamten gesetzlichen
und ungesetzlichen Verbrauchs in der Vorverbotszeit. Dazuzuschlageu sind
natürlich die Mengen aus Schmuggel und verbotener Brennerei und Brauerei;
aber alle Sachverständigen sind darin einig, daß diese zusammengenommen
... weit weniger als 8 v.H.des Vorverbotsverbrauchs ausmachen. Nach Prüfung
aller Angaben (betr. Verhaftungen wegen Trunkenheit und damit verknüpfter
Verbrechen und Fälle schlechten Betragens) habe ich schätzungsmäßig
berechnet, daß der Alkoholstrom, der in den Vereinigten Staaten die mensch-
lichen Hälse hinabfließt, zur Zeit sicher noch keine 16 v. H., wahrscheinlich
nn keine 10, möglicherweise noch keine 5 v. H. des Vorverbotsverbrauchs
rägt.... .‘
Prof. F. stellt eine eingehende Untersuchung der Statistiken über alkohol-
verursachte Sterblichkeit und Krankheit an, wobei er beträchtlichen Gewinn
an Gesundheit und Lebensdauer seit Inkrafttreten der Verbotsmaßnahme fest-
stellt. In wirtschaftlicher Hinsicht wiederholt er die Schätzung auf 6 Mil-
liarden Dollars Jahresgewinn durch das Verbot für die Vereinigten Staaten —
noch ungerechnet alle Ersparnisse an Ausgaben für Gefängnisse, Armen-
häuser, Asyle usw., ebenso die ee durch Verminderung der Sterbe-
ziffer. Er erklärt, man müsse den Tatsachen, von denen manche für die Ver-
botsfreunde, andere für die a nicht angenehm seien, frei ins Auge
sehen. Diese Tatsachen faßt er in folgende Sätze zusammen, die den wesent-
lichsten Inhalt und die a I nen seines Buches wiedergeben:
„Die gegenwärtige Lage der unvollkommenen Durchführung des Verbots-
gesetzes ist unerträglich. Die Verhältnisse sind aber nicht so schlimm, wie
sie gewöhnlich dargestellt werden. Das Verbot hat in gesundheitlicher, wirt-
schaitlicher und sozialer Beziehung viel Gutes gewirkt. Das Argument von
der „persönlichen Freiheit“ beruht großenteils auf Täuschung. Die sogen.
Verbesserung des Volstead-Gesetzes, die die Verbotsgegner anstreben, ist
nicht möglich, ohne den 18. Verfassungszusatz zu verletzen. Andererseits
kommt die Widerrufung dieses Zusatzes nicht in Frage. Die Nichtbeachtung
desselben würde entsittlichendste Gesetzesverachtung bedeuten. Daher ist
die einzige gangbare Lösung Durchführung des etzes, und diese ist
g
praktisch möglich.
| (Nach The Internat. Student, Washington, Nov. 1926
— auszugsweise übersetzt von Fl.)
Schrifttum.
Uebersicht über die wichtigsten Veröffentlichungen
aus den Jahren 1926 und zum Teil 1925 und 1927.
Zusammengestellt von Dr. J. Flaig.
Z. Alkohol und alkoh. Getränke.
2. Herstellung (technische); Erzeugung
und chemische Zusammensetzung.
b) Bier, Brauerei usw.
Der Deutsche Brauerbund auf der
Gesolei, Düsseldorf, 1926. 1926.
Deutsch. Brauerbund, Berlin - Charlotten-
burg ?.
Die deutsche Brauindustrie in Wort
und Bild. I. und Il. Teil. Sonderausgabe.
et Ecksteins Biographischer Verlag,
erlin.
Hayduck, Fr.: Jahresbericht der Ver-
suchs- und Lehranstalt für Brauerei in
Berlin für das Jahr 132526. In: Tages-
atA für Brauerei, 1926 Nr.«250, S. 1247
s 1200.
d) Wein, Weinbau.
S. „Deutsches Land“ unter 1. 8.
h) Geschichtliches.
Philippe: Die Braukunst'der Aegypter im
Lichte heutiger Brautechnik In Tagesztg.
f. Brau., 1926 Nr. 250, S. 1246,
5. Anderweitige Verwendung der Roh-
(Ausgangs-) und Nebenerzeugnisse.
Bartholomäi. Fr.: Die Bekämpfung des
Alkohols durch die praktische Tat, d.h.
durch gärungslose Früchteverwertung 1926.
Selbstverlag des Verfassers, Stuttgart-
Butnang.
8. Alkoholkapital, Alkoholgewerbeu.Be-
kämpfung der Antialkoholbewegung.
Deshalb haben wir den Krieg nicht
verloren! Deutschlands Hecıführer ge-
gen die Prof. Schmidtsche Tendenzschrift
Warum haben wir den Krieg verloren?“
1926. Norddeutsches Druck- und Verlags-
haus, Hannover.
„Deutscher Wein“. Sonderheft (H. 11
1926) von „Deutsches Land“. Helingsche
Verlagsanstalt, Leipzig.
im übrigen s. auch „Die deutsche Brau-
industrie“ unter 1, 2.
il.Wirkungen d. Alkoholgenusses.
1. Allgemeines, Statistisches, Sammel-
werke.
Voionmaa, V.: Yhteiskunnallinen alko-
holikysymys (The social alcohol question).
1925. Verl.: Werner Söderström Osaxeyh-
tið, Porso. (Bespr. von R, Hercod in Intern.
Ztschr. g. d. Alk., 1926 Nr. 3, S. 168f.).
2. Physiologische und psychologische
Wirkungen.
Gaupp: Die psychischen Wirkungen des
Alkohols. In: Alkoholfrage, 1 H. 6,
S. 319—325.
Gruber, G. B.: Alkohol und Leistungs-
fähig<eit. In: Innsbrucker Universitäts-
kalender für das Sıudienjahr 1926/27, S. 89
bis 10%. 1926. Universit.-Verlag Wagner,
Innsbruck.
Hansen, K.: A survey of the problem of
. habituation to alcohol, and a description
of some experiments contributing to the
sohnion of the problem In: Intern.Ztschr.
g. d. Alk , 1926 Nr 2, S. 57—81.
Simonin, C.: Recherches medico-l&gales
sur intoxication aicoolique aigue. In:
Strasbourg médicale, 84. année, Tome l,
fasc. 5, 1926. (Bespr. von A. Koller in
Intern. Ztschr. g.d. Alk., 1926 Nr. 4, S. 230.)
3. Alkohol und Krankheit.
Chaltiol e Pisani: Vinismo e neuropsico-
pani nella città di Roma. 1925. Federici,
esaro. (Bespr. von K. in Intern. Ztschr.
g. d. Alk., 1926 Nr. 4, S. 21).
Frank, L.: Vom Liebes- und Sexualleben.
Erfahrungen aus der Praxis für Aerzte
Juristen und Erzieher. 2 Bände. (Enthält
mehrere Abschnitte betr Trunksucht.)
1: 26. Verl. G. Thieme, Leipzig.
Lewin, L.: Phantastica. Die betäubenden
und erregenden Genußmittel. Für Aerzte
und Nichtärzte. 2., erweit. Aufl. 1927. Verl.
von G Stilke, Berlin.
Reinheimer: Der alkoholisierte Mensch.
Ueberblick tiber den derzeitigen Stand der
wissenschaftlichen Erkenntnisse von der
Alkoholeinwirkung auf den menschlichen
ee Alkoholfrage, 1926. Heft 4,
. 161—166.
7. Alkohol und Entartung.
Menetrier, P.: L’alcoolisme cause de la
degenerescense de la race chez les rois
merovingiens. In: L’Etoile Bleue, 1926
Nr 3, S. 47 f.
Weitz: Alkohol und Gesundheit. In: Alko-
holfrage, 1925 H. 6, S. 309—319.
8. Alkohol und Volkswirtschaft.
Statistisches.
S. Weber unter Ill. 2.
10. Verbreitung des Alkoholismus usw.
S. Challiol unter Il. 3.
IIl.BekämpfungdesAlkoholismus.
1. Allgemeines, Sammelarbeiten, Grund-
sätzliches, Statistisches.
Alkoholismus und soziale Fürsorge.
H. 8 der „Beiträge zur sozialen Fürsorg«“,
hrsgeg. i. Auftr. des Landeshauptmanns
der Provinz Westfalen von Univ.-Prof.
Dr. H. Weber. 1927. Aschendorffsche Ver-
lagsbuchhandlung, Münster i. W.
316 Schrifttum.
2. Staat und Gemeinde, Gesetzgebung
und Verwaltung.
v.Dassel: Zum neuen Entwurf eines Reichs-
schankstättengeseizes. In: Alkoholirage,
1926 H. 5, S. 216-235
Entwürfe eines Spiritusmonopol-
gesetzes und eines Eınführungs-
geseizes zum Spiritusmonopolgesetz
nebst Begründ. Reichstagsdrucks 3.Wahl-
peri de 1924/26, Nr 268788 v. 16 Nov. 1926.
Flaig, J.: Zur „Reform des Branntwein-
monopols“; Böhme: Die deutsche Spiri-
tusbewirtschaftung. In: Aikoholfrage, 1926
H. 4, S. 172—179.
Kraut, R.: Die Polizeistunde in euro-
päischen Großstädten. In: Alkoholfrage,
l
Kraut, R.: Die Unterschriftensammlung
für ein deutsches em LE DEU:
recht. In: Alkoholfr., 1926 H. 3, S 12-285.
Mezgeı: Alkohol und Strafrecht. In: Alko-
holirage, 1925 H. 6, S. 325 - 333.
Schmölders, G.: Prohibition im Norden.
Die staatliche Bekämpfung des Alkoholis-
mus in den nordischen Ländern. 1926.
Verl. Gebr. Unger, Berlin SW 11.
Weber, R.: Volkswirtschaft u. Gemeinde-
bestimmungsrecht. Ein Gutachten, veran-
laßt durch uie Kundgebungen deutscher
Handelskammern gegen dieses Selbstbe-
stimmungsrecht der Gemeinden. (Unter-
zeichnet von 2n Volkswirtschaftsprofesso-
ren.) In Alkoholfrage, 1925 H.6. S M6—
351. Auch im S-Abdruck im Verlag „Auf
der Wacht“.
Weinberg, S.: Der Alkohol vor dem Straf-
tichter, nter besonderer Berücksichti-
guug des neuen Sırafgesetzentwurfs. 1927.
zn g Deutsch. Arb.-Abst.-Bunds, Berlin
16. l
Weymann, K.: Aikoholismus und Gesetz-
gebung. In: H. 8 der Beiträge zur sozialen
Fürsurge (s. unter IHI. 1), S 81—94
Im übrigen s. auch Gahn unter V. 18.
3. Einzeine bestimmte Gruppen und
Gebiete.
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Müller, H., Die Landwirtschaft und der
Kampf gegen den Alkohol S-A. aus
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kretariat des Schweiz. Verbandes absti-
nenter Bauern, Großhöchstetten.
Pastorello, D.: L’Abecedario del maestro
nella lorta contro Palcvolismo. 1926 Segr.
naz c. l’alc., Pellesirina. (Angezeigt in:
Intern. Ztschr. g. d. Alk , 1926 Nr. 4. S 234).
Reinhardt, L.: Akademische Tradition
und studentische Trinksitten der deutschen
akademischen Jugend. In: Intern. Ztschr.
g. d. Alk., 1926 Nr. 4, S. 206—218.
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1926. Pommersche Landeshauptst g.d.Alk.,
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Rodewald, B.: Die Alkohrlfrage im
Schulunterricht. In: Archiv für soziale
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Schmidt, H.: Die Heerführer Deutschlands
und der Alk-hel im Kriege. In: Neuland,
19 6 Nr. 41, Sp 745—756, und als S.-Abdr.
im Neuland - Verlag, Berlin W 8,
Simon, M.: Der Alkoholismus einer deut-
schen Hochschulstadt. In: Alkoholfrage,
1926 H. 3, S. 105—112.
Im übrigen s.auch „Deshalb haben wir
..." unter 1.8, Rodewald unter JIL7b.
4. Kirchlich-Religiöses.
Baumeister, W.: Bekämpfung des Alko-
holismus durch die katnolische "Kırche.
In: H. 8 der Beiträge zur sozialen Für-
sorge (s. unter Ill. 1,, S. 42—52
Stubbe, Chr: Die evangelische Kirche
und der Alkohni. Ebenda, S. 53—62
Stubbe, Chr.: Gottes Ebenbild und der
anener Predigt an N an Kongr.
. Alk. in Dorpat. in: oholfrage
H. 5, S. 235—238. Auch im S.-Abdr. im
Veri. „Auf der Wacht“.
5. Kulturelles.
e) Kunst und Literatur.
Hundt, P.: Wiedenwalde. Erzählung. 1926.
Neuland-Verlag, Berlin W 8.
6. Trinkerflürsorge, Trinkerheilung.
Bousfield, P.: The pathorogie and treat-
ment of alcoholism. (Bespr. von Kolier in:
Intern. Ztschr. g. d. Alk., 1926 Nr. 2, S. 1U6f}.
Die deutschen Trinkerfürsorge-
stellen. In: Jahrbuch f. Alkoholgegner
1927, S.98-118. Neuland-Verl., Berlin W8.
Feld, W.: Aus der praktischen Trinker-
fürsorge und Anregung zum Ausoau der
ahresberichte von Fürsorge-Institutionen,
„A. aus der Schweiz. Ztschr, £ Gesuad-
heitspflege, 1926.
Floß, L.: Die Trinkerfürsorge. In: H. 8 der
Beiträge zur sozialen Fürsorge (s. unter
HI, 1), S. 104—122.
Käding, F: Anstalten für unheilbare Al-
koholkrinke, In: Alkoholfrage, 1926 fi. 5
è —216.
7. Alkohoigegnerisches Verelns- und
Aufklärungswesen.
b) Aufklärungsarbelt.
Hölzli, A., Der Alkohol ein Feind
Lebensführung. 1927. Verl. von M
Peiles, Wien und Leipzig
Jahrbuch für Alkoholgegner 1927.
Neuland-Verl., Berlin W 8.
Ludwig, K.M. Alkohol und Alkoholismus,
Ein Wort von ihrem Wesen und Wirken,
ein Mahnruf zu wehrhaftem Wollen. 1926.
Landesgruppe Oberösterseich des Verban-
des enthalts. Erzieher, Linz a. D.
Rodewald, B., Die sozialhygienische
Wanderausstellung des Roten Kreuzes als
Unterrichtsmittel. S.-Abdr. a d, Oktober-
Heft 1926 der Blätter d. Deutschen Rotes
Kreuzes.
Im übrigen s. auch Fischer unter Ill. 10.
c) Deutscher Verein gegen des
Alkoholismus.
Stubbe, Chr.: Der Deutsche Verein geg. d.
Alk. In: H. 8 der Beiträge zur soziales
Fürsorge (s. unter Ill. 1), S. 73—80.
e) Standesvereine und Organisa-
tionen mit besonder. Aufgabes.
v. Biticher, G.: Bericht über die Arbeit
des Deutschen Frauenbundes für alkohole
freie Kultur vom Herbst 1924 bis 1. See
nu : esuneler Alkohelgegner, Nr. ',
Druck von Kupky & Dietze {Inh.: C. und R. Müller), Radebeul-Dresdesn. -
Deutjche Alkoholgegnerpreffe
Neuland, Blätter für alkoholfreie Kultur, Amtsblatt des Deutjchen Gut-
templerordens IN O. ©. T.), Stägig, Neuland: Berlag, Berlin W 8,
| A Ip 8/9; Preis 6— M vierteljährlich.
Deutidhe REN Monatsihrijt der Wehrlogen des Deutihen Guttempler-
ordens (I. D. ©. T.), derjelbe Verlag; Preis 240 M jährlich.
Der Bergfried, Aelterenblatt der Wehrlogen de;“ Deutihen Guttempler:
ordens (3. D. G. T)., zweimonatlid; Preis 1,60 M jährlich.
Sung Siegfried, Monatsblatt der Tugendlogen des Deutichen Guttempler-
ordens (3. O. ©. T.), derjelbe Verlag; Preis 1,20 M jährlid.
Das Blaue Kreuz, Organ des Deutihen Bundes ev.-tirhl. Blaufreuzver:
. bände, Blaufreuzbuhhandlung, Herford, monatlidh, Preis 15 Pf. die Nr.
Die Treuburg, Monatsblatt der Treubünde des Deutihen Bundes ev.-firdl.
Blaufreuzverbände, derjelbe Verlag; Preis 7 Pf. die Nummer, portofrei.
Der Herr mein Panier, Deutjhes Monatsblatt des Blauen Kreuzes, Bud):
handlung des Blauen Kreuzes, Barmen; Preis vierteljähr!. (3 Nr.) 40 Br.
Rettung, Ilujtr. Wochenb I.d. Blauen Kreuzes, derf. Berl.; Preis viertelj.25 Pr.
Bewahrung, Illujtriertes TJugendblatt des Blauen Kreuzes, wöchentlich,
derjelbe Verlag; Preis vierteljährlich 25 Bf.
Der Ehriftliche Abftinent, Monatsichrift für Enthaltjamkeit und Volts-
. wohlfahrt, Verlag des Traktathaujes, Bremen, Nordjtr. 78; Preis 1.25 M.
Bolksfreund, Monatsbl.d.Rreuzbündnijies, Kreuzbündnisverlag, Heidhaujen= -
Ruhr; Preis 4.20 M jährl., einichl. Beilage „Trinterfürjforge“ frei Haus.
Sunaborn, Monatsbl. f.d. Sungbornbewegung, Jungbornpverl. ğrantfurta. M.
Die Aufredhten, Monatsichrift für den Schugengelbund, Rreuzbündnisverlag,
Ä Heidhaufen:Ruhr.
Sobrietas, Vierteljahresihrift des Priejter-Abjtinentenbundes, Breslau I,
Antonienjtrage 30; Preis 3 M jadrlid). Ä
Sohannisfeuer, Zeitjchrift d. jung. Rreuzbundes, Preis jährl. frei Haus3 M.
Deutidher Alkoholgegner (Neue Folge der Abitinenz), Mitteilungsblatt
verihiedener Alfoholgegnerorganilationen ; Verlag des na rauen-
bundes für altoholfreie Kultur, Dresden-A. 24, Qiebigftrake 22; Preis
vierteljährlih 30 Pf. und Beitellgeld. i °
Der enthaltfame Erzieher, Monatsihrift des Deutihen Bundes enthalt-
jamer Erzieher, mit dem Beiblatt „Deutiher Altoholgegner“, Schrift:
wart Hans Sager, Bergedorf, Brunnenitraße 105; Preis 5 M jährlid.
- Der abftinente Arbeiter, Monatsichr. des Deutjchen Arbeit.-Abjtin.-Bundes,
Geihäftsit. Berlin SO. 6, Engelufer 124; Preis 30 Pf. viertelj.b. Bojtbejtell.
KRorreipondenz für die Arbeiterpreffe, herausgegeben vom Arbeiter:
Abitinentenbund, derjelbe Verlag; Preis der Einzeltorrejpondenz 10 Pİ.
Der Wille, Monatsichriit des Morbandes Jozialijtiiher Abjtinenten, Hagen
i. W., Taljtraße 10; Preis vierteljährlich 75 Pİ.
Aufwärts (Chrifti. Tageblatt) Bethel bei Bielefeld; Preis 1,20 M monatlich
bei der Poft zu beitellen). | |
a Leben, Wonatsichriit des Treubundes für aujjteigendes Leben
.B., Verlag Stuttgart, Schottitraße 42, Preis 50 Pf. das Heft. ;
Auf der Wacht, Monatsichrift des Deutichen Vereins g. d. A., Verlag Auf
der Wacht, Berlin-Dahlem, Werderjtraße 16; Preis jährlid 3 M.
Blätter zum Weitergeben des Deutihen Bereins g. d. AM., derjelbe
Verlag, Preis 1 M für das Jahr (einichl. Porto). l zZ
Der Pionier, Zeitichrift zur Förderung der Nüchternheit und Sicherheit im
Verkehr, 6 Hefte im Jahre, derjelbe Verlag; Preis 2 M jährlid).
Der Kämpfer, Kritiihe Beiträge zu Fragen der Lebenserneuerung. Verlag:
Scildejche: Bielejeld, Schäferjtraße 10. Aahrli 1.50 M.
Der Kämpfer, Zeitichr. f.altoholfr. Kultur, herausgegeb. von der Yandeshaupt-
telle gegen den Alkoholismus in Danzig, monatl., Preis vierteljähtl. 50 Bi.
3eitungsdienft d. Deutihen Reichshauptit. g.d. A., der). Verlag (koltenl.).
Die Alkoholfrage, Internat. willenichaftlich-praktijche Zeitjchrift, derjelbe
Verlag. 6 Hefte jährlih. Jahrg. 6 M.
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wissenschaftliches, wie volkstümliches Schrift-
tum und Anschauungsmaterial über die
heute viel erörterte Alkoholfrage. _
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Er berät gern über geeignetes Schrifttum für bestimmte Zwecke.
Auf Wunsch Zusendung von Schriftverzeichnissen und Anzeige-
blättern, sowie von Proben der Filugblätter, Merkkarten,
Zeitschriften usw.
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