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Full text of "Die Grenzboten 78.1919, Bd 1"

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DieGrenzboten 


Beitfchtift fü ) 
Politik, Literatur und Kunſt 


— — — 





— 


EEE von Georg Cleinow- 


or Teak 


78. Dahrgang — 2 — 


Nr. 1u.2 


— — 
Die Revolution, die wir brauchten. Don Dr. Mar Hildebert Boehm 1 

Preußen — ein — —— Don Dr. heinrich Otto 
Meisner... — ——— 
Bolſchewiſtiſche Derräcdiheiten in — Schule, Don Oberlehrer Rodin 13 

Großgrundbefiß, Sozialifierung und innere Kolonifation. Don ER 
anwalt Dr. jur. et rer. pol. Stodebrand . . . . .» . 18 
Arbeit! Dom Geheimen ©berregierungsrat Dr. Bittmanın . . . 23 
Hur Doltshochfchulfrage. Don Profefior Dr. Robert Pe — — 


Maßgebliches und Unmaßgebliches 


A. Hoffmann und K. Hhäniſch (S. 299. — Das deutſche Heldentum in 
den Befreiungskriegen (S. 30). 


VNeue Bücher ... TE ——— 
Ein Kapitel zur Dernichtung on ——— Geiſteslebens Ken 


Ausgegeben am 7. Januar 1919 


nein 
I Mark das Heft Berlin SM. II 6 Mack | 


| 2 Mark das Doppelbeft ne pierteljährlich 


— 




















h 1 ee Ta Anzeigenpreis: 600 Pi, die 
den Verlag der erehzirien, ı . YA: Te we: 3 gespaltene Nonpareille- 
Berlin SW 11, "und "‘dürch $ TZCIP vu zeile oder deren Raum. 
alle Annoncenexpeditionen. D 25%, Teverung:zuschlag 


—144 — * Städtische 
Badiſch er S chw arzw ald Handels -Realschule 
Grziehungsheim (Realjjule) von Dr. Plähn, zu Dessau 


Waldkirch i. Breisgau. vermittelt allgemeine Bildung bis 
Einzige Privatichule in Baden und ben Reichölanden, die (jeit 1874) das Recht zur Reife der Obersekunda einer 


Anzeigen - Annahme „durch. 









bat, jelbit Zeugnifie über die wiflenichaftl. Befähigung ihrer Schüler zum Oberrealschule und bildet gleich 

— ilttärdienft ne f. Oberjelunda) ausgujtellen. Beite Empiehl. zeitig für den kaufmännischen 

PAR PRR NEN IB. OR OD SERBIEN, Dr. Bläbn. | — Fon Nähere; durch Jahres- 
' bericht. 





Unterrichts-Änstaiten 















ren 

= = 

Dr. Fischersche Vorbildungsanstalt 
Berlin W 57, Zietenstrasse 22—23 — Leiter Dr. Schünemann — Gegründet 1838 
für alle Schulprüfungen, auch tür Damen, in Tages- u. Abendkursen. Üimpiehlungen aus ersten Kreisen, hervor- 
ragende Erfolge, Stamm atbewährter Lehrkräite. Untersu wahrend der Areszent olne Finsch' ankung. Bis 
I. Januar 1918 bestanden 5045 Zögl., 1917 u.a. noch 33 Abitur. (5 Damen), 22 Prim, 144 Einjähr. Sonderkurse 

für Kriegsteilnehmer. 








 Teenische Kocnsehnledanzig 
| Am 1. Kebruar 1919 beginnt 
nad) Beendigung des jegigen nod)= 
mals ein Wınterjemeiter mit dem 
' gewöhnlihen Programm. Außer— 
ı dem werden Borbereitungsfurje zur 
ı Mberleitung in den Hochichulunters 
| richt und Wiederholungsfurfe nad) 
Bedarfabgehalten. Einichreibungen 
bis zum 15.2. Die Studierenden 
| finden aud) fbon vorher Anleitung, 
um am 1. Februar dem Unterricht 
folgen zu fönnen. Kurze Programme 
find vom Gefchäftszimmer der Hoch» 
ihule ſchon jegt zu beziehen, aus» 
führlihe Programme etwa dom 
5. Sanuar 1919 ab gegen Einjen- 
dung von 80 bezw. 65 Pfa. 
Der Rektor. 


v. Hartung*che Anstalt 


Cassel = Wilheilmshöhe 


Verbereitung für alle Schul- und Notexamina, besenders 
Pähnrichexamen. — Prospekt durch den Direktor K. Topf. 
















Das Guang. Pädagogium Godesberg z; 
Gymnafum, Realgyınnafium, Realidyule m. Ginj.-Beredhtig. 
bietet feinen Schülern gediegenen Unterricht in Fleinen Klaffen. Förderung 
ihres geiltigen und leiblihen Wohled durch eine familienhafte Erziehung 


in @ruppen von 10-20 Knaben in den 15 Wohnbäufern der Anitalt. Biel 
förperlihe Bewegung bei reichlicher, vernünftiger Ernährung. 


wR Nugend-Sanatorium in Berbind.mit | Zweiganftaft in Herhena.b Sieg in 
9 Dr.med ©: rauers ärztl.päd. Inititut | Jandi. Umgebung u. herr. Waldluft 


a Drudiahen dur den Pireftor Brof. D. Kütne in Godesberg a. Rh. 


— * Der Verfaſſer iſt ſeit vielen 
et 0 erbund Zahren amtlich an der Verbefjerung 
| der internationalen Nechtsverhält- 

von 


niffe tätig; er fchöpft daher nicht 
nur aus der gefamten vorliegenden 
Dr. D.P. Trautmann Literatur, die ipm zugänglich ift, 


fondern auch aus einer mehr als 
10jährigen perfönlichen Erfahrung. 










— — — — — — 













M. 1,25 und 259%, Teuerungszufchlag 









: ꝛ: GonderAbdrud des gleichnamigen Artitels in Heft 84 und 35 der Grenzboten. :: 


Verlag der Grenzboten G. m. b. 9., in Berlin SW 11 


Strtenzboten 


Heitfchrift für 
_ Dolitif, fiteratur und Kunft 


Herausgeber « 


Georg Lleinow 


78. Jahrgang 


Erftes Dierteljahr 


Berlin 
Derlag der Grenzboten G. m. b. H. 
1919 


—J 
KV 
ax 
Se 


Inhaltsverzeichnis 


SKabrgang 1919. 


Heft Eeite 
Politit, ins — — 


Bekenntnifſe und de nad 
beigiihen Originalbriefen, von Penn 


Dr H Bitte . 9/10, 182 
Bslichewiemuß, Der Anmarſch ‘des — und 
der deutiche Diten, von Dr. M. H. Boehm Bj4, 48 
Deutihen Bolleitauted, Zur Neugeftaltung 
bed —, von einem Württemberger. . . 5/6, 66 
Deutihöitereih, Die Wablen in —, don 
Brofeiior Dr Robert Cırger. . . 11/12, 172 
Eljap- :tothrinaens, Über die Zukunft _, von 
Studienrat Dr. Manfred Eimer. . 718, 109 
Stanfreih und die Teutichpoien, von Dr. 
Mar H:ldebert Boebm . . 11/12, 168 
Stantreih und bie riebenstonfereng, von : 
Menenus. . 7/8, 1% 
Geigen, Zertrimmerte —, von Georg Cieinow 8/4, 59 
Gemwalien. Bom Auibau der —, von Dr. 
Heintih Dito Meisner . 9/10, 147 
Grenzihug deö Ditens, Was muß der Weiten 
für den — tun? . . 718, 9 
Groggrundbeiig. Sozialifterung "und innere 
Kolonvation, vo Nedtdanwalt Dr. jur. 
et rer. pol Stodebrand . 1/2, 18 
Heldbentum, Das deutihe — in den Be- 
freiungetriegen . . .. 17% 80 
Hofmann, A —, und R. Hänifh . .. 32% 28 
Holftein, von 8 ©. . 18, 210 
Sirhe und politiihe Varteien, von "Prof. 
Dr. Yon. Wendland . . . 2 13, 202 
Kirche und Staat Xrennung von — von 
Lie Martin Teterd . . « 84, 38 
Negediitrift, Die Sonderftellung v8... 6/6, 86 
Diierreih:linnarne, Die Auſlöſung — und ° 
„Mutteleurova” von Bıof Zr Rob Sieger 8/4, 40 
Bapit Bereditt XV. und die Friedenskonfe⸗ 
renz. von Acdivrat Dr % Sud... 9/10, 129 
Rolıtihen Zeitbübne, Die Role der Ges 
bideten auf der —, von Dr. Alegander 
Rıngleb . 34, 5 
Bolniihen Sebietsaniprücde im Lichte der 
Etatiitif, Die —, von Dr. Eaenger, Brä- 
fibent des Breußifhen Statijniſchen Landes⸗ ss 8 
amts 
— Landt a, Dos preußiſche Keil: 
gebiet und die Wahlen zum — . 8/4, 64 
Breußen — ein aeographiicher Begriff? von 
Dr Heinrih Dito Meisner . 12, 6 
Nätegedanfe. Der ‚von Dr. Morig Bolditein 13, 197 
Neichsverf ffung, Das Kernproblem des neuen 
J—— der —, von Dr. Heinrich Otto 
Mei 5/6, 89 
Religion uns Politit, von Dr. Richard Wüler- 
Steienfeld. - © © 2 2 000... 11/12, 176 
en 


( 


Erftes Vierteljahr 


ce 


Heit Seite 
Revolution. Das Vorbild ber beutfden —, 
von W Nodın . 


, Bd 46 
Revolution, Die —, die wir braudten, don 


‚ Dr. Ror Hideber Bochm . 1 1 
Revolution, Echmaroger der—, von 9 DOM. 8/4, 62 
Gee'entotichhlan. von Dr. 9. D. Meisner 7/8, 124 


Eoziatdemotratie, Die — und die deutlichen 
Boitsräte, von Robert Heinz Heygrodt . 11/12, 181 


Tirol, Im Rampf um —. . 1/8. 118 
Vae victoribus! von Dr. Richard Hennig. 9/10, 155 
Boikträte, Die deutichen — in ber Oftmarl, 
von Beorg Cleinow . 11/12, 161 
Boltsräte? Worubrauden wir die deutfchen —, 
vrn Georg Cleinow.. . 18. 18 
Wirfon und Giemencean, von Merenius . 9/10, 158 
Zukunftéheer, Gedanken über ba® deutihe —, 
von Oberft Heinz D. Hof . . » - . . 9/10, 142 
Bollswirtihaft, Berwaltung, 
Sozialweien 
wie von Geh. Oberreg -Rat a Bitte m 2 
— Auf den Pfaden der — —, von 
3 Wittiſchewsky. . . 11/12, 168 
Boitewirtihaft, Der Todetgang unferer —, 
von Dipl cam. Otto Leibrod . . 6/6, 71 
Bertzumanhe, Der unverdiente — von Grund 
und Foden unter den neuen Berhältnifien 
von Dr Bollinger. ; 8/4, 852 
BWöchnerinnerchug. Der — in dem nenen 
deutihen Entwurf eines internationalen 
Arbeiterrechtd, von Dr. med. Agnes Bıuhm 7/8, 116 
Rechtsfragen, Bildung und 
Erziehung, Kirche 
Bolicemiltiihe Berrüdtheiten in ee Säule, 
von OÖbgrlehrer Rodin . . . 12, 13 
Gemwalten, Rom Aufbau der —, "von Dr. 
Heantih Otto Meisner. . . 110, 147 
Bine und po:ttiiche Barteien, von Profe ſſor 
D. Zoh. Wendiaund . . : 13, 202 
Kirhe und Etaat, Zrennung von —, von 
Le Martin Keters ; 34, 3 
Kirhliber Patriotismus, von Dr. Karl 
Butbeim . - 20 - 2 2 ne nen. 5 78 
Ne höveriafung, Das Kernproblem des 
neuen Entwurf der —, von Dr Heinrich 
Dtto Meisner . 6/6, 89 
Univerfitäten, Die neue Demofratie und die 
fFreibeıt der —, von Prof ©. vo. Below 7/8, 119 
Boltsgocihulfzage, Sur —, von Prof. Dr. 
Robert Berich a tee U. 26 
dc 
4208 


Seft Seite 
ulturgeſchichtliches, 
Länder⸗, Bölker⸗ und Sprachenkunde 
Religion und Volitik, von Dr. Richard 
Müller Sgreienfeis . . . . .11/12, 176 
Wiens, Tıe kulturelle Bedeutung —, von 
Dr. U Labmann . . .. .. 78 9 
Ziteratur, Kunft, Bhilofophie 
Hebbeibrief, Ein — —, von ar 
Driahn. . — 1/8, 128 


Bücherbefprecdhung. 


Ein B anflelle ber Eeitenzabl Fedeutet 
Bücherliſte im Anzeigenteil des betr. Heftes 


v. Ndlersteld:Balleitrem, Eufemia, und Dr. 


Hanse Dırtin Eifter: Damentalender 1919 8/4, B 
wlord, Tr Oswald: Gligzen und Sinn 
töpie (M. K) 6/6, 
Frejtich. Dr.: — Siructure Nationale. de 
la Pologne, Eude Statistique (Dr. 
Guenper) . . bie, 81 
Friedjung, Heinrich Das "Zeitalter bes 
Am: eriaismus 1814/1914 (Dr. M. 9. 
Boehm) 56/6, 94 
Sanımunn, Oito: gur Vorgeſchichte des Weli⸗ 
frieges (L S.) 18, 210 
Bauiten, Friedtich: ẽedicht des gelehrten 
Unterriht ıR 8.) . 6/6, 985 
Shäler. Dietrid: Evragenfarte ber deutſchen 
Oitmarten . 9/10, B 
Schotte. er Der Bes zur Gefetziich⸗ 
feit (Dr 9 DO Vieisn . 11/12, 183 
Schwerdtieger, Bernbarb: thur eutopätigen 
Nokıtit 1897/1914 (NR. ©). 11/12, 182 
Zeitier, Julius: Goeihe · Zandbuch (R. $) 12, 81 
Mitarbeiter - Berzeichnis 
Below, Prof. &. von, Die neue Demokratie 
und bıe an der Univenfitäten.. . 718, 119 
Ritimanın. Ech Oberreg Rat Dr, Arbeit 12, 28 
Bluhm, Dr med. Agnes, Der Wöhnerinnen- 
Ichug ın dem neuen deutichen Entwurf eines 
inteinationalen Aıbeiterrehtd. . 7/8, 116 
Boch, Dr. Mar Hildebert, Die Revolution, 
die wır brauchten . . 1/2, 1 
—, Der Anma'ſch des Bolfhewismus und 
ber deutsche Diten . 84, 48 
—, „Das Zertaiter des Imperialismus 
1814/1814°. von Heinrich Friedjung . 5, 94 
—, Franfreih und die Deutihvoien . . 11/12, 168 
Yucdheım. Dr Karl, Kircliher Batrıotigmus Ejd, 78 
Eieınow, Georq, Zertrümmerte Beinen . . 8/4, 658 


—, Die deutihen Bollsräte in der Ditmarf 11/12, 161 
—, Wozu en wir bie en Volls⸗ 


räte? . ‚ 185 
Dollinger, Dr, "Ser unverdiente Werizu⸗ 

wachs an Grund und Boden unier den 

neuen Berhältniiien . i 0 28 8/4, - 52 


IV 


’ 


Helt Geite 


Drabn, Dr. 8. Ein ungebrudter Hebbelbrief 7/8, 128 
Eimer, Studienrnt Dr Manfred, Über bie 


Zukunft Eifah Lothringens. : 7/8, 109 
Goidftein, Dr Morig, Der Rätenedante. . 18% 197 
Hennig, Dr Ridiard, Vae vict«ribus! . 9/10, 168 
Heugrodt, Robert Heinz, Die Eozıaldemo- 

fratie und die deutichen Polldräte . . 11/12, 181 
Hoff. Oberit Heinz Do, Gedanken über das 

deutſche Zumnſieheer. . +. 9/10, 142 
5 © M. Schmaroger der Revolution . . 8/4, 62 
Kakmann, Dr. U.: Die zalttaeli Bedeutung 

Wient . 7B, 9% 
Leibrod. Dil cam. Otto: Der Xodesgang 

unierer ————— — 6/6. 71 
L. S.: Holſiein. i8, 210 
Qulves, Archtorat Dr. J : Bapft BenediltXV. 

und die Sgriedensfonferenz. 22.2. BO, 188 
Meisner, Dr Geinih Dtio: Preußen — 

ein aeographifcher Bearifi? . 182, 

—, D:i8 Kernproblem des neuen Entwurfs 

ber Reihsverraffung . . u BR, 89 
—, Cerlentotihlaan . . .. 78 1% 
—, Bom Aufbau ber Bewalten. . 9/10, 147 

—, „Der Beg zur Beleglichleit” von Walter 

Schotie. 11/12, 188 
Meneniue: Frankreich und ie Griedens- 

konferenz . R . . 18 122 
—, Bujon und Ciemenceau — 9/10, 168 
M.2.: Geſchichte des e— —RX 

von —RW Paulſen — „Skizzen und 

Studienköpfe“ von — Osw. Zloed . . 556, 
Müller : greienfeld, Dr. Richard: Religion 

und Poritil . . . 11f12, 176 
a Lıc Martin: Krennung von Kirche 

und Staat 8/4, 
v. ‚Seel Dr. Robert: Zur Boltdhochihule — 
—288 Dr Alerxander: Die Rolle des Be- 

budelen auf der poniiſchen Zeitbühne. 8/4,. 55 
Rodin, Oberiehrer: Bolihewilsuiche Berrüdt« 

beiten in der Schule . 18%, 3 
Rodın, ®., Das Borbild der deutichen Re⸗ 

volmtion . © 8/4, 45 
5 2 WGoeihe Handbuch von Jul Zeiilet 1j2, 81 

„Yur euiopärcdhen Rolitik 1897/1914” 

a "ernbard Cchmerbdtieuer. . . 11/12, 182 
Saenger, Präſident des Preutziichen Statiftie 

fen Landesamtes Dr.: Die poiniihhen Ges 

bietsanivrude im Lichte der GStatinit. . 56, 8 
Gieger, Pro’. Dr. Robert: Die Aufiölung 

Diterreih: Ungarns und „Mitteleuropa” . 8/4, 40 
—, Die Wahlen in Deitiölterreich . . 11/12, 172 
en Rechtsanwalt Dr. jur. et rer. 

: Großarundbefig, Sozialinerung und 

— ſtoloniſation 18 
Wendiand, Brofeiior D. Johannes, airche 
und politiſche Parteien .. , 202 
Witte, Arhivrat Dr. 9.: Belenntniffe und 

@eibitbeihuldigungen nad beigiiden Drie 

wnalbrıeien 10, 188 
Winichewsku, Vrofeſſor: Auf den Pfaden der 

Gogialıfierung . 11/12, 108 
Bürtiemberger, Ein: "Bur Reugehaltung eb 

Deutihen Boltsftanies . . “ 





5 





Die Revolution, die wir brauchten 
Don Dr. Mar Hildebert Boehm 


I. 
gr 15 ih am 9. November v. 3. mit einem Freunde dur die auf- 
(Ser: 






geregt belebten Straßen Berlins ging, machte diejer die Bemerkung 
N er vermilfe in all den Bildern, die ji unferen Bliden boten, jede 
ı Spur von Entdufiagmus. Diefe Beobahtung fennzeichnet die 


8— ganze deutſche Revolution in ihrem bisherigen Verlauf. Hält man 

4 die Stimmung des Novembers 1918 eima gegen die de3 Augufts 
1914, jv füllt der Bergleich in der Richtung auf den dionyhichen Zon der jeeliichen 
Erregung fehr zu ungunften der Revolution aus. Kein Lied, fein Wort, fein 
Symbol, das dem Geihehen der legten Wochen eigentümlid wäre. Etwas Radau 
und Seniation auf den Straßen, die unfinnig herumfaufenden Militärautos mit 
den roten Fahnen in den eriten Tagen, umgröhlt von Straßenjungen, von den 
Erwahjenen mit ängftlih ftummer Neugierde beitaunt, dazu die Razzia nach den 
Kofarden, eine finnloje Nahahmung des öjterreihiihen BeilpielS (aud) da lieh 
der erite Eifer jchnell nad), die Hifjuig der roten logge auf einigen öffent- 
lihen Gebäuden — mehr ilt an Augdrudeerfcheinungen der Ummälzung faum 
aufzuführen. Eine ärmliche Ausbeute, die nicht gerade für die Tiefe und innere 
Kotwendigfeit der Bewegung Zeugnis ablegt. 

Aber vielleicht itt e3 nicht Sadhe des Deutjchen, einer großen Bewegung 
fofort die finnfällige Zorm zu geben? Bielleiht mußte gerade aus dem Wejen 
unſeres bedächtigen Volkes heraus feine Revolution ein fo ruhiges fachliche Ge- 
präge tragen? Dean könnte an diefe Einwirkung des deutihen Nationaldorafters 
glauben, nur zeigt auch im rein Organilatoriichen die Revolution dielelbe Armut, 
die fie auf dem Gebiet des mufifchen Sınnbildes aufmweilt. Die fchnelle Befeiti- 
gung der Dynajftien be>eutere im Augenblid nicht viel mehr als die Entfernung 
einned deforativen Kinaufe8 an der Spite der einzeljtaatlihen Gebäude, der hohe 
Berjonenmwechlel in den Sentralbehörden war nicht8 neue gegenüber den Erfah- 
rungen der legten Wochen, Monate und Sahre, vor der Satafjtrophe wurden wir 
bewahrt, indem der gejamte Mpparat ruhig, al3 wäre nicht? gejchehen, weiter 
arbeitete, ein Bewei® mehr dafür, dak da3 Schwergewicht feiner Leitung jehon 
borber nicht in den oberen Spigen zu juchen war. Am ftärfiten trat der Wechfel 
im Schwinden der militäriihen Dilziplin zutage. E8 zeigte fih an diefem Buntt, 
daß die Revolution ihrem Wefen nad) eine reine Militärrevolte war, deren Wellen- 
bewegung fih von der Marine auf3 Heimatiheer und die Etappe und erft in 
legter Linie auf die Fsronttruppen übertrug. Da3 eigentlih neue waren Die 
Arbeiter- und Soldatenräte, eine Art berufsftändifcher Vertretung zweier Schichten, 
die für die Dauer des mobilen Zuftandes ji mit einem gemwiflen Recht als das 
Maffenfundament unferes Bolfes betrachten können. Diefe impropifierten Klafien- 


Grenzboten I 1919 1 


> Die Revolution, die wir brauchten 








bertretungen übernabmen im großen und leinen die Rolle der Parlamente, bie 
meilt recht fang- und flanglos in der Berjenfung, verfjäwanden und durd ihr 
unrühmliches Ende ihre politifche Sämmerlichfeit auch denen befundeten, die aus 
Doktrinarismus oder Harmlofigkeit bidher nicht daran Hatten glauben wollen. 
Sndem aber die Erefutive von feiten diefer A.- und ©.-Räte, die fi) ald Träger . 
der revolutionären Gewalt fühlten, doch allenthalben in die Hand der Regierung®- 
organe zurüdgegeben wurde, änderte fi im Grunde in unferer Regierung nichts 
al die Bejegung der widtigften Amter, die mit dem Gro8 ihres früheren Be- 
amtenftandes weiter arbeitete. Und um die Liquidierung diefe8 Schwebezultandes 
ftreiten fich zwei Gewalten: da8 gefamte Bürgertum mitfamt einer jtarfen Mebr- 
beit innerhalb de3 fogialiltiichen Proletariatd wünjdht die Nationalverfammlung, 
die mit einer neuen Geftaltung der Berfaffung den Regierungen wieder eine 
re&htlihe Grundlage geben und die improvilierten Klaffenvertretungen durch eine 
Nationalgefamtvertretung erfegen fol, die Radifalen von der Außeriten Linfen 
bingegen wollen die proletariiche Klaffendiktatur durch Abertragung der gelamten 
Gewalt an die Arbeiter- und Soldatenräte, die bei fortichreitender Demobilifierung 
fih automatic in reine Arbeiterräte verwandeln müflen. Auf dem wadligen 
Voftament, an dem von redht3 und lin! gezerrt mwird, fteht Die derzeitige Re- 
ierung in einem Augenblid, wo e8 um die deuffehe Zukunft für Iahrzehnte und 
Sabrbunderte, wo e8 um Sein und Nichtfein de deutſchen Volkes geht, mo e$ 
ale Sinne und Sedanten auf daß eine große Ziel gu funzentrieren gilt, auß dem 
furchtbaren Schiffbrudy wenigitend noch einige rettende Blanfen für die Zukunft 
unfere3 Bolfe3 zu ergattern, muß die Regierung nod) dauernd gegen die Gewalten 
ankämpfen, die ihren eigenen Beftand bedrohen. Eine wahrhaft furdhtbare Lage 
für unfer fhon zum Außerften geprüftes Bolt. 


II. 


Es iſt ſoviel über die politiſche Ideenloſigkeit des alten Regimes geklagt 
worden, daß die Frage wohl erlaubt iſt, wo denn nun eigentlich die Ideen zu 
ſuchen find, mit denen das neue über das alte Regiment triumphieren will. 
Stellen wir dieſe Frage zunächſt in außenpolitiſcher Richtung, ſo iſt bereits mit 
recht betont worden, daß die einzige Gruppe der ſoialiſtiſchen Linken, die über— 
haupt ſo etwas wie ein außenpolitiſches Programm hat, die Spartakusgruppe 
iſt. Auch ſie hat lediglich fanatiſche Ebigonen zu Führern, die das überkommene 
Programm der kommuniſtiſchen Orthodoxie heute durchſetzen wollen. Wie Trotzki 
und Lenin, die an Originalität der Gedankenführung und an organiſatoriſchem 
Willen den Liebknecht und Konſorten immer noch himmelhoch überlegen ſind, 
erhoffen ſie vom Sieg des Bolſchewismus in Deutſchland, ein Umſichgreifen der 
Weltreoolution und ein gänzliches Aufhören der Sonderftaätlichfeit, die der Ur- 
arund des Staatenwiderſtreits iſt. Freilich wird Hier der außenpolitiiche Pazi- 
figmug mit einem innerpolitiihen Militaridmus, dem zur Dauerform erklärten 
Klaflen- und Bürgerkrieg erfauft. Immerhin aber wäre da8 Zuitandefommen 
der Weltrevolution einer der Wege, da8 deutiche Bolf vor der völligen Vernichtung 
Durch den ententiftifhen Gewaltfrieden zu bewahren. Nur würden deilen mörderifche 
Wirkungen im Falle des Sieged der Spartafusgruppe ftatt von außen eben durch 
Anardie, Bürgerkrieg und fozialed Chao8 von innen ber fommen. 

Die berrichende Gruppe der Sozialifien bat überhaupt fein außenpolitifches 
Programm. Die Mebhrbeitsfozialiiten haben durch ihre unglüdjelige Mittelitellung 
den Anichluß nad linf8 wie nad) recht8 verpaßt und hängen qualvoll in der 
Spalte amilchen beiden. Zum Teil haben fie die Schwankungen der deutjchen 
Siegeshoffnungen und TFriedensziele biß zu einem gewiflen Grade mitgemadjt, 
da3 Bleigewicht ihrer Parteidoitrinen bat fie aber gehindert, die eigenen Ziele 
des deutichen Machtftaates durch eigene Methoden der internationalen Machtpolitik, 
die ihrem Wefen nad) keineswegs bloß militäriicher Art zu fein brauchen, fomeit 
in fih zur Reife zu bringen, daß fie nach dem Zulammenbrud) de3 militariftifchen 
Amperialigmus bei und und nad dem Triumph ber gleihen Haltung bei den 


Die Revolution, die wir brauchten 8 


— 








Feinden, die Fähigkeit zu wirkſamer außenpolitiſcher Abwehr aufweiſen. Es rächt 
ſich an ihnen die Schuld unſerer Sozialdemokratie, die ſich außenpolitiſch mit 
negativer Kritik begnügte, ſtatt zu poſitiver Zielſetzung fortzuſchreiten. In der 
jetzigen Notſtunde iſt es zu ſpät, die brachliegenden außenpolitiſchen Möglichkeiten 
erade des deutſchen Sozialismus fruchtbar zu machen. Was man dem alten 
egime zum ſchweren Vorwurf machen konnte, das ideenloſe Taſten in der 
aͤußeren Politik, das trifft mit noch größerer Wucht die neue Regierung. Außen⸗ 
politiſch hat uns die Revolution keine fruchtbare Idee geſchenkt. Es iſt alles 
beim alten geblieben. 


III. 


Und in der inneren Politik? Dort ſehen wir einſtweilen Adolf Hoffmann 
im Kultusminiſterium eifrig am Werk, begleitet vom Lächeln oder der Entrüſtung 
der Nation die deutſche Frage vom Geſchichts- und Religionsunterricht her zu 
„löien“. Sn innerpolitifcher Beziehung Hat die neue Regierung ein Programm, 
ihr Erfurter Barteiprogramm. Aber wejentlihe Stüde davon fann fie jegt nidyt 
jur Bermwirflihung bringen, weil dazu die Mittel fehlen. So jchweigt fi Adolf 
Hoffmann gefliffentlihh über die Unentgeltlichfeit de3 Unterricht8 und der Lehr- 
mittel aus, die in Erfurt für alle Echulen verlangt wurde!) 


Eine fchnelle Yöfung Hat die Szrage des FrauenwahlrechtS gefunden. Auch 
darüber regt fih niemand im bürgerlichen Lager auf. E8 ift möglich, daß jogar 
die Lonjervativen Gewalten davon den Borteil haben werden. Der Achtitundentag 
wird fi Halten, folange e8 die wirtfchaftliche Yage erlaubt. 


Die große Trage der Sogialilierung der Produftionsmittel aber madjt der 
neuen Negierung peinliches SKopfzerbrehen. Sahrzehntelang Haben fi die 
Zräaume der Maflen um diefen Programmpunft geiponnen, nun fehen die flugen 
sührer ein, daß unfer Wirtichaftslehben eine radifale Ummwälzung in diejem 
tritifchlten Augenblid nicht verträgt. Sa, e8 ift fogar die fehr beachtenswerte 
Erwägung laut geworden, daß die BVergelellihaftung, oder was heute Dasjelbe 
-ift, die Berftaatlihung unfered Wirtichaftälebens unferen Zeinden die wirtichaft- 
lihe Suebelung Deutichlands noch wejentlich erleichtert. Bor einem plöglichen 
Mbergang warnt aljo die Vernunft heute mehr als je. ine allmähliche Ver- 
feaslihung wichtiger Betriebe aber Hatte auch die alte Regierung bereit3 vor- 
gefehen, diefer Brozek war durch den Strieg eingeleitet worden und hätte fidh 
gar nicht aufhalten laffen. Auch Hier alſo bringt die Revolution feine neue dee, 
tondern ınuß alle Mühe daran wenden, daß das alte Geleife nicht verlaflen wird. 
Denn die Ebert Scheidemann— Heine und wie fie beißen mögen, fie willen ganz 
genau: neben diefem jchmalen Wege Hlafft der Abgrund. 

Mas nun freilih über diefe allgemeinften fsragen binausgeht, die Neu- 
aeltaltung der Reihöverfaflung, die Neugliederung der Bundesitaaten, die neue 
Seftaltung der BertretungSkörper, die Bundesorganifation, — in all diejen öragen 
tappt die neue Regierung gerau fo im Dunteln, wie in den großen Fragen der 
äußeren Bolitit, von neuen Ideen und vom Willen zu ihrer Durdfegung ift im 
fozialiftiichen Lager aud) da nicht? gu merfen. Ein bürgerlider Sahmanı, Pro⸗ 
fefjor Hugo Preuß, arbeitet am Berfaffungdentwurf, und unter den namhaften 
Staatöredtlern, die er fich nach einer ZeitungSmeldung für die Vorarbeiten beran- 
rar will, dürften die Männer der herridenden Partei aud nicht gerade zahl. 
reich fein. 

Bei diefer innerpolitifhen Verwirrung und Direftionglofigfeit blüht der 
Weizen bed Separatismus, im Wejten verbindet er fi) mit der Llerifal-fapita- 


1) Sn diefem Punft bat übrigen? bereits friedrih der Große ald gut preußiicher 
Etaatefozialift die Forderung der Sozialdemofratie vorweg erfüllt. So Ent er für die 
Schultinder des von Polen völlig verwahrloft übernommenen Negediltril3 nit nur Schule 
ar und Lehrfräfte beichafit, ante au Lehrbücher druden lafien und unentgeltlich 
dertei 


1* 


4 Die Revolution, die wir brauchten 


vw. nm ME. ir 


liftiichen Realtion, im Süden arbeitet er mit den dumpfen bajumarifchen Snftinften 
unter der Regie eine8 geichidten Literaten. In Berlin aber tämpft man gegen 
den Anarhigmus von lint8 und hofft im übrigen auf den. rettenden Deusex 
machina, die Nationalverfammlung, wo dem deutfchen Bolt da8 Gotiedgeichent 
einer idealen inneren Neuorganifation in den Schoß fallen fol. 

Die Partei, die nod) geftern fid) mit Leib und Seele für den Rarlamen- 
tari8muß einfegte, fieht Heute der Verdrängung der Parlamente ruhigen Blutes 
zu. Die fanatiihen Gegner eined berufßftändiichen Wahlrehts jchaffen in den 
Arbeiter- und Soldatenräten nad) treulih fopiertem ruſſiſchen Muſter eine neue 
berufzftändiiche Vertretung£organifation. Die überzeugten Berfechter des dinefien 
Wahlreht3 bringen in diefem Bertretungsiyftem ein bödhft vermideltes indirettes 
Wahlrecht zur Geltung. Wo ijt in alledem Klargeit und Bemußifein, mo ift 
die Sdce, die um fich weiß, und aus diefem Wiffen den ftarten Antrieb und die 
nroße Gebärde findet? Die Spee fehlt. Das Alte arbeitet nach einem Geist 
biftorifher Zrägbeit einftweilen noch weiter, wie der Xeib einer Natter nod) 
eine Weile zappelt, nahdem man ihr den Kopf abgeichlagen bat. Neu ijt Die 
Berwirrung und die Ratlofigfeit, oder vielmehr: dort an den oberen Stellen ift 
aud) fie nicht neu. Das ganze Schaufpiel wäre zum Lachen, wenn e8 nicht zum 
Beulen wäre. 


IV. 


Barum fehlen die neuen Jdeen? Weil die neuen Kräfte fehlen. In allen 
Parteien, von der Außerfien Rechten biß zur radikalen Linfen, find aud) heute die 
alten Männer am Steuer. Die Schifflein find neu angeftriden, tragen vor allem 
neue Namen, die fih an Demofratismuß zu überbieten fuchen, audy die Reflame- 
plafate der Barteiprogramme zeigen zeitgemäße Netouchen, wobei die fchöne Ehr- 
lichkeit angenehm auffällt, mit der die Internativnalliberalen um Theodor Wolff, 
die geftern noch ad) fo Saifertreuen. fih nunmehr aus tieffter Überzeugung zum 
Jtepublifanismuß befennen. Alfo die Zaffade ift allenigalben neu aufgemacht, 
aber Hinter den Yenfterfcheiben fieht man all die leider nur au wohl bekannten 
Gefihter. Wenn fie nicht mit einer politiihen Vergangenbeit „behaftet“ find, in 
der Zuverficht zum deutjchen Sieg, Vertrauen in die deutiche Straft und ähnliche 
heute ausgejtorbene oder verfehmte Tugenden eine Rolle jpielien, dann haben fie 
eben Glüd gehabt. Aber auch die Rauen und TFlaumader von geftern und vor- 
geftern, denen die Stunde Redht zu geben fcheint, obgleich fie ihnen im tiefiten 
Unredht gibt, folen fi) da8 eine gefagt fein lafien: aud fie find viel zu erg mit 
den Zufiänden und Einrichtungen verbunden, an deren Überwindung die fommende 
Revolution arbeiten muß. Die eigentlichen Drabtzieher und deren fläglidhe Mit- 
läufer nit nur, aud) die Ihwächlichen und vor alleın die feigen, verlogneren 
Dpponenten der Wilhelminifchen Armee, die Ermonardiiten mit dem frifch aus 
der Taufe gehobenen Republifanertum find gleich belalte. Was fonımen muß, 
ift eine neue, eine querfchiähtige Revolution in allen Barteien und allen Behörden. 
Wir müffen Beute alle wieder in die Schule geben, die Konfervativen fugut wie 
die Liberalen und die Sozialiften. Wer fi innerlich allzuſehr feſtgelegt hatte, 
wem Gicht oder Arterienverfalfung die jugendliche ©elentigfeit de Dentens und 
Wollens geraubt bat, für den ift fein Raum im neuen Deutichland. Gein Alten- 
teil in Ehren foll jedem gegönnt fein, der redli fein Wirken und Wollen für 
eine Bolitit eingelegt bat, die Heute Schiffbrud erlitten hat. Wa8 wir brauden 
ilt die politifche Bluterneuerung, die nur durdh neue Männer, durch jüngere Sträfte 
in unfer öffentlihes Leben fommen fann. Insbejondere find e3 die bürgerlichen 
Barteien fi) fchuldig, fhon bei der Aufftelung der Kandidatenwahl für die 
Nationalverfammlung zu bedenten, wa3 fie der Zukunft de8 bürgerlichen Gedanfens 
Ihuldig find. E8 beitehen leider Anzeihen genug, daß die bürgerlichen Parteien 
aus den Ereigniffen nichtd gelernt haben. Ich fürdte, daB gerade die Nedit8- 
parteien noch viel Xehrgeld werden zahlen müflen, biß fih bei ihnen die Ein- 
fiht durchgerungen Hat, daß nit durd ein TFliden, Ausbeflern und Moderni- 

‚2 alter Bırteiprojramme dem Gebote der Stunde Genüge gefchiebt, 


Preußen — ein geographifcher Begriff? 5 





daß nicht ängſtliches Feſthalten, ſondern nur Wagemut bei allen Parteien heute 
zur Führerſchaft ausweiſt. 

Selbſtverſtändlich iſt damit nicht der Herrſchaft der Halbwüchslinge das 
Wort geredet, zu der ſich das Regiment der Arbeiter- und Soldatenräte vielfach 
auswächſt. Was heute noch im wehrfähigen Alter ſteht, die Generation, die den 
Krieg am eigenen Leibe geſpürt hat, die wie keine von ihm erfaßt und innerlich 
gewandelt iſt, nicht aber die überſtändigen Greiſe oder gar die Rekruten find dazu 
berufen, das Steuer tatkräftig in die Hand zu nehmen. Die Novemberunruhen, 
die unſerer militäriſchen Widerſtandskraft das Rückgrat gebrochen und uns wehr— 
los in die —3* unſerer Feinde ausgeliefert haben, find von ein paar unverant- 
wortlihen ührern mit Hilfe der Hefe de8 Heere8 in Heimat und Etappe ins 
Berk gejegt worden, Die jeder rechte Yrontjoldat auf tiefite mißadtet. Schon 
weit allenthalben ein anderer Wind, feit da Tyrontheer zurüditrömt, das eine zu 
ihwere Schule der Verantwortlichkeit durchgemacht haͤt, um dies zerſetzende, 
ordnungszerſtörende Treiben auf die Dauer zu dulden. Die Front iſt der große 
Krãftebehälter, aus dem auch die politiſchen Talente aller Parteien aufſteigen 
müſſen, denen es obliegt, das eigentliche Werk der Revolution zu beginnen und 
u vollenden. Dazu gehört Zeit. Wie die Probleme des Krieges langſam gereift 
ind, ſo wird auch die Revolution erſt ganz allmählich zu ſich ſelber kommen. 
Das aber wird nicht mehr ein Rummel für Straßenjungen, wird hoffentlich auch 
nicht ein ſinnloſes Wüten aller gegen alle nach dem Traum der Spartakusleute, 
das wird die ſicher nicht ohne ſchwere Kämpfe ſich vollziehende Erneuerung der 
Säfte und Kräfte unſeres geſamten politiſchen Lebens ſein. Alle Schichten und 
Parteien werden daran Anteil haben. Für fie müflen alle Sinne gejchärft, alle 
Musfeln geitrafft werden. 


Aud wir, die jungen und zufunftsjiheren im Lager der Rechten, jubeln 
ihr zu, weil jie groß und innerlich befreiend fein wird, wie ein reinigendes 
Gewitter. 

Dieje, die wahre und große deutfche Revolution, ift auf dem Mari. Wehe 
den lahmen Greifen, die da nicht Schritt Halten können. Ihre Stunde ift vor- 
bei, ihnen ift nicht zu helfen. Heil und Sieg allen jungen und ftarfen Kräften, 
von denen dem deutjchen Bolf da8 Wunder feiner Erreitung fommen muß. 4 





Preußen - ein aeographifcher Begriff P 


Don Dr. Heinrih Otio Meisner 


I °\ 9. November bedeutet re — eine neue Epoche unſerer Ver— 

faſſungsentwicklung, auch das Problem der deutſchen Staaten— 

bildung iſt wieder akut geworden. Daß hier ein innerer Zu— 
% 2 jammenbhang vorliegt, ori De wir noch jehen. ') 

7 Bejteht der Begriff des preußifchen Einheitsitaates heute 
24 noch? Die stage gete t nicht in dem äußerlichen Sinne einer 
Integrität jeines Bebietes, im Hmblid auf tatfächliche Auflöfungserfheinungen, 
wie fie revolutionäre Ariten mit ji bringen könnten, wie fie aber mit allınäh- 
licher Konfolidierung von jelbjt wieder verjchiwinden. Vielmehr, bejteht jener 





1, Diejer Auffag gibt in jeinen Schlußfolgerungen Tediglih die Meinung des 
Deren Berfaffers wieder. Jh vermag ihm nicht in allem zu folgen. Nadhdem aber 
sisher jajtr ausijhlieglid Stimmen für die reftlofe Auflöfung Preußens zu Worte ge- 
kommen ſind, ſcheint e8 mir mügli, auch einer andern Gehör zu verihaffen. ©. El. 


6 Prenfen — ein geographifcher Begriff? 


DBeg & in Zorm einer SPDEN Überzeugung der Staatsbürger von der 
Yo oenigfeit A ‚Inhalts? - Ä 

Dian tann über die Antivort im Zweifel fein. Beunruhigenden Alan: 
nahrichten aus dem Welten wird, jorveit e8 fi um induitrielle Streife handelt. 
der Boden entzogen durch jene Dü eldorfer Erklärung, die energiich in Abrede 
ftellt, jemals den Gedanken einer rheinifch-weitfäliiden Sonderrepubfit ertvogen 
zu haben. Doc) ift Damit die Gefahr des Heritaliftifhen Partilularismus bier und 
anderen Drt3”) — Die Quittung auf Heren Hoffmanns Kulturfampf und Die 
Berliner Wirtichaft überhaupt — nicht gebannt. Und wenn vollends jene oben 
erwähnte ee bei typifchen Xertvetern Des Preußentums ins MWanfen 
nn ift oder gar [chon der gegenteiligen Meinun ung 10 gemacht hat, jo ijt das 
* Symptom, wie es deutlicher und beunruhigender gar nicht gedacht werdet 

nm. 

„E3 ift möglih, ja notivendig, daß Preußen, dem heute durch die Umi— 
wälzung die Dafeinsberechtigung als bejonderes Stantstvefen genommen ift, hit 
jeine Teile zerlegt werden muß.” So jchreibt PBrofeljor Hoegich in der „Neuen 
Preupifchen Zeitung“, die das jchivarz-weiße Kreuz im Bilde führt. Und ahn: 
lich leugnet der Oberpräfident bon Batoch-Stonigsberg (in der „Teutfchen MAL: 
gemeinen Zeitung”) die Dajeinsberechtigung de3 preußifchen Staates, nacyden! 
die Dohenzollernherrihhaft zufammengebrochen fei und „feine ruhnmolle Ge⸗ 
ſchichte — das andere Einheitsmoment — in tiederlage und Schmad) geendet” habe. 

reußen als gejchlojjener Zeilftaat des Deutichen Reiches — fo führt er aus — 
Fl fortfallen, die Beitrebungen, Wheinland zu einem felbftändigen, mit 
Bayern, Baden ufw. gleichberechtigten Gliede des Deutfchen Reiches zu machen, 
Ion fachlich voll berechtigt und würden bei den anderen felbitandigen preußi- 
hen Kultur: und Wirtfchaftsgebieten zweifellos Nahahmung finden. je nad) 
Größe der übrigen zukünftigen deutfchen Bundesitaaten — Batocki erwähnt 
a Zuſammenſ Württembergs, Badens und Heſſens — würde 
der bisherige Hegemonieſtaat bloß in drei bis vier oder in noch zahlreichere Ge— 
bilde zu zerſchlagen ſein, um das erwünſchte „Gleichgewicht“ unter den deutſchen 
Mächten herzuſtellen. 

Die derzeitige preußiſche Regierung verwahrt ſich allerdings in ziemlich 
energiſchem Tone gegen die „in verſchiedenen Gegenden des preußiſchen Staates 
gemachten Verſuche, Teile von Preußen loszulöſen over in Preußen eigenmädtig, 
obrigleitliche Befugniſſe auszuüben“, ) und man ſollte bei der zentraliſtiſch⸗unitari⸗ 
ſchen Neigung des Sozialismus annehmen, daß von dieſer Seite etwaige Par- 
zellierungsbejtrebungen wenig Gegenliebe finden werden. 


Aber — von offiziellen Dekreten bahnen ſich Uberzeugungen und 
Stimmungen ihren Weg, und bei einer ſpruchreifen Frage, wie ſie nun einmal 
Preußens weiteres —— Schickſal darſtellt, gilt es beizeiten und ſorgfältig 
das Für und Wider abzuwägen. Für Herrn v. Batocki iſt Preußen in erſter Linie 
das Werk ſeiner Fürſten, und mit dem Sturze ihrer Macht fällt die haltende 
Klammer fort, können die „lediglich durch die Hohenzollernherrſchaft, aber nicht 
durch die Natur der Dinge zum einheitlichen preußiſchen Staat zuſammen— 
geſchweißten deutſchen Gaue“ das Recht „ſelbſtändigen ſtaatlichen Lebens“ für 
br an Anſpruch nehmen. Auch ihm wird der Abſchied von dem ſtarken, einheit⸗ 

regierten Preußen der Vergangenheit fchwer, aber er fieht nur die Alter- 
native: Wiederherjtellung des Königtums — die er für unmöglich hält — oder 
den „Haren Entichluß, ganze Arbeit zu machen und den Gauen des feiner are 
lihen Macht bemaubten alten ‘Preußens die Selbitändigfeit der übrigen lieder 
des Neiches zu verichaffen”. Gibt es wirklich nur diefe enge Wahl? Um uns 


2) Vgl. vie Beichlüffe der beiden Kölner Zentrumsverjammlungen vom 4. 12., 
Die darauf Bezug nehmende Erklärung der preußifhen Regierung vom 11. 12. und die 
Vorgänge in Oberidlejien. 

) Belanntmadhung vom 10. Dezember. ° 











Prenfen — ein geographifcher Beuriff ? 7 


— — — — — — — 
ö— — — — — ¶ — 


darüber ſchlüſſig zu werden, bedarf es eines Blides auf die Geneſis des preußi— 
ſchen Staates. 
*. 


Er iſt in der Tat ein Produkt der Beiten unter feinen Monarchey, wie 
übrigens mehr oder weniger ſämtliche Ba Staatenbildungen. enn 
wir den Entwidlungsprozeß vom zufammengejesten Zerritorialitaat de3 fieb- 
jehnten Jahrhunderts über die Fdee de3 Sefamtjtaates zum Einheitsftante des 
weungehnten verfolgen, Ai treten die Gejtalten des Broken Kurfürften, Fried- 
ch Wilhelms de8 Eriten und feines genialen Sohnes beherrihend in den 
Vordergrund. — er von dem Brandenburg Johann Einigmunds galt das 
fpricdyiwortliche Heiratsglüd der Habsburger. Dit dem fur; hintereinander er- 
folgenden Anfall der preußifchen und Eevifchen Länderlomplere fahte das big dahin 
in thpifch territorialem Stilleben hauptfächlich zwischen Elbe und Oder eingellemmte 
Kurfürjtentum am Rhein und jenfeits der oe Boito, Jo gleihfam die Ziele 
und Umrifje des künftigen Großſtaates markierend. Als dann, von kleineren Er— 
mwerbungen abgejehen, eine Generation I (1648) Hinterpommern, Halber: 
ftadt und Minden, forie der 1680 realijierte Anfpruc) auf Magdeburg Hinzu- 
fam, war jener Zujtand des zufammengefegten Territorialjtaates erreicht, wie er 
für die Regierungsperiode des Großen Nurfüriten zunächit noch charakterijtiich 
if. Es war ein Bündel durch Perſonalunion zuſammengehaltener, ſonſt höchſt 
eigenwilliger Gebiete mit ausgefprodhen partifulariftiichen interefien, mo man 
Bo unter dem „lieben Vaterland” die engere Heimat, beileibe nicht den 
brandendburgifchen Gejamtjtaat begriff und die Turfürftlihen Räte als „jremde 
Yentjter” titulierte. Lag Doch der einende Staatsgedante felbjt an der Steile, 
wo man ihn überall zuerjt fuchen anuß, nämlich bein Fürjten und feiner nädjten 
Umgebung — dies die Kortbedeutung don lo stato in der Renaiſſance — noch im 
Gemenge mit älteren primitiveren Vorftellungen. Die halb territorial-partiku— 
lariitiijhe, halb einheitsjtaatlide Staatsauffaflung des Kurfürjten Friedrich 
Wilhelm, wie jie in feinen Zeftantenten begegnet, paßt, was neue Forihungen 
eriwiejen haben, durchaus zu der inneren Bolitif Diefes Tsürften, für die der 
Srundjag jtraffer yZentralifation feinesmegs von vornherein maßgebend mar, 
vielmehr fich erjt an und mit der von ihn felbft inaugurierten Machtpolitik ent- 
widelte. Tenn allerdings ijt es ſeine Perfönlichkeit gewwefen, die zum erjten 
Diale die beiden großen fornenden Strafte des fünftigen KEinheitsitaates ent- 
bunden hat: Macdhtpolitit und Militarismus. Friedrih Wilhelm Hatte die 
VJähigkeiten, aus dem dreifachen Exrbfall in Stleve, Preußen und Pommern die 
madtpolitiichen Stonjequenzen zu ziehen, aber un feine Bläne zu verwirklichen, 
bedurfte e3 der ultima ratio in Gejftalt eines ftehenden Heeres. <ndern der 
miles perpetuus auf die Steuerleiftungen Sämtlicher Ginzellande begründet 
wurde, twvar forwohl das Mittel wie das Ziel, die überterritoriale, dynaftiiche 
Sropmachtspolitit, dazu angetan, Dem Gedanken des GSejamtitantes immer 
mehr zum Durchbruch zu verhelfen. Ein anderes Mittel zu dem gleichen Zweck 
wird cbenfallS noch von. Friedrich” Wilhelm angebahnt: es tft der großartige 
Neubau einer füritlich-zentraliftifhgen VBevmwaltungsbehorden-Örganifation, der 
die ftandifch-partikulariftiichen Einrichtungen zum Teil befeitigte, zum Teil-über- 
wölbte, ein Werk, das in feiner eriten, bi3 1698 reicheuden Periode fchon 1630 
begann. Die zweite, von 1713 bis 1723 reichende Bauperiode fteht bereits unter 
dem Zeichen des neuen Meilters, dem unjtreitig da3 Hauptvewienft an der Ge- 
ftaltung des preußifhen Kinheitsitaates gebührt, Friedrich Wilhelms des 

ten. 


Auf Einzelheiten fan hier natürlich nicht eingegangen werden, e8 genügt 
an die Namen: Generaldireltorium, Kriegs: und Domänenlanmern, Kantor: 
reglement zu erinnern. Preußens größter innerer König — Jo nannte ih [päter 
der Reformer Schon — hat die Politik feines Großvaters, nun aber Bang beivußt 
and ohne Hemmungen, fortgeführt. Als er ftarb, war jene” einheitlihe Be- 
bördengliederung — das Symptom einheitlicher Staatsftruftur — wie fie bis auf 
sie Etein-Hardenbergiche Ara beitanden hat, im twejentlichen fertiggejtellt. 


8 Preußen — ein aeographifwer Begriff ? 


Friedrich der Zweite hat nur noch in der Bezirks- und Lokalverwaltung 
des platten Landes Ungleichmäßigkeiten zu beſeitigen brauchen, alle ſeine Pro— 
vinzen bildeten, wie er im Teſtament von 1752 mit Befriedigung feſtſtellt, trotz 
en Lage — nit ohne Grund jpottete man über den „roi des 
lisieres” — doc Ihon einen gemeinfamen Körper (un corps ensemble). 

Die Zentralijation greift unter dem großen Stönige auf Gebiete über, deren 
Probleme von der alteren Zeit noch nicht gelöjt worden waren, 3. B. die Zuljtiz, 
two die Reformen Gocoejis und feiner Hacfolger — gefamtitaatlide Prozeßord⸗ 
nung, gleicyförniger, in eime Spite zufammenlaufender nitanzenzug, *) einheit- 
lidyes preußisches Hecht — den Staatsgedanten auch im NReichsleben an die Stelle 
territorialer xsntereflen und Gewohnheiten jeßte. Anderjeit fchreitet man auf 
Wegen fort, die der Vorgänger jchon gewandelt it, fo in der Wirtichaftspolitik, 
wo die merfantiliftifche Bewegung, die befannte wirtichaftliche en 
de3 jtaatlihen Verfchmelzungsprozeiles, Diesmal befonders in jtraffer Zus 
jammenfaflung der mittleren Provinzen zu einem einheitliden Markte gipfelt. 
ar die Sentralifationzpolitit Friedrich Wilhelms im Gegenfab zu der feines 
Sropvaters ein Akt bemußter Zivedjegung, jo rüdt fie bein Pbilojophen von 
Sansjouci noch eine Stufe weiter in die Sphäre fyftematifcher Reflexion. Bei 
diejer Gelegenheit — etwa im politifchen Teitament von 1752 — geichieht es, Daß 
der König jich auch die gsrage nad) den pfychologifchen Bindentitteln vorlegt, die 
einen Staat zufammenhalten. Der Einheitsgedanfe verliert dabei gleichjan von 
der Erdenjchiwere, wie fie ihın bei einer nichr raumlich-adminiftrativen Politik 
eignet, um fich in jene Bezirke des Geijtes zu fublimieren, wo er nicht nur an der 
Scholle vder am grünen Tifch der Bureaufcatie haftet, fondern Bejigtum der auf 
jener wohnenden, von diejer verwalteten Menfchen zu werden beginnt. Nicht 
aller, jondern zunäcdhjft nur derjenigen, die für den Öefanttitaat geblutet Hatten 
und durch Die politifche Schule der Armce gegangen twaren, alfo der adligen Dffi- 
ziere und der bäuerliden Soldaten. Für legtere auch ihrem ganzen intellef- 
tuellen Zuftande gemäß erit in verfhiwommenen Formen. Um fo jtärfer bei den 
Geichlechtern von Kolin und Leuthen, die nun wirklich neben dem esprit de corps 
einen esprit de nation eingeimpft befamen, tie es der König al3 „Maxime“ 
feiner Adelspolitif ausgeiprodhen hat. So etwas Mkpäre unter Kriedrid 
Wilhelm dem ÜEriten, der fh noh mit venitenten Ständen 
berumärgern und „die Sunklers ihre Autorität ruinieren” mußte, 
ganz undenkbar geweſen. Welch Abſtand auch zwiſchen dieſem preußi— 
ſchen Nationalempfinden und der kleviſchen und magdeburgiſchen, Nation“, die im 
ſelben Jahrhundert noch herumgeiſtert! Allerdings jener preußiſche esprit de 
nation des achtzehnten Jahrhunderts iſt von anderer Natur als ſein deutſcher 
Namensvetter im neunzehnten. Er iſt überhaupt mehr Staats- als National⸗ 
geiſt, und wie man bei Staat und Nation verſchiedene Organiſationselemente 
unterſcheiden kann, nämlich hier das der genoſſenſchaftlichen Lebensgemeinſchaft, 
dort das der herrſchaftlichen Autorität, ſo beruhte auch das ſtaatliche Gemein— 
ſamkeitsbewußtſein des preußiſchen Adels damals mehr auf einem verſtandes— 
mäßigen Erfaſſen der „Staatsräſon“ als auf volklichen Solidaritätsgefühlen, Die 
bei der vom Abſolutismus gefliſſentlich feſtgehaltenen Kaſtenſcheidung der Stände 
gar nicht aufkommen konnſen. Wohl aber verſtand der friderizianiſche Offizier 
Schillers Ferdinand in „Kabale und Liebe“, wenn er auf die Worte der Lady: 
„Dieſen Degen gab Ihnen der Fürſt“ voll ernſter Entſchiedenheit entgegnet: 
„Der Staat gab ihn mir durch die Hand des Fürſten“. Denn dieſen begrifflichen 
Unterfchied hatte ihm der „erjte Beantte” im preußifchen ancien rögime ſelbſt — 
und nicht nur im Worte — Elar gemad)t. 

Tropßdem! ALS fich die Augen des Unermüdlichen fchloffen, da zeigte fich Do 
bald, daß der Staatsmaschine die treibende Kraft fehlte, Daß die Untertanen no 
gar fehr der fünftlichen Stüße in der PBerfon de Monarchen bedurften, um jtaat- 








— 


2) Genauer: in die Doppelſpiße Obertribunal-Kammergericht und abgeſehen von 
ſonſtigen kleineren Schönheitsſehlern. 


En 5 Preußen — ein geographifher Begriff? g 








fi} gu denten. „L'Etat, c’etait lui” — gerade jo wie bei Ludwig dem Bier: 
sehnten, und alles Zentraliftifche war, um ein befanntes Wort bon Goethe zu 
verivenden, doch mehr Aa als preußisch geweien. So gejchah da, daß man 
in den legten Jahrzehnten des ahtzehnten Sahrhunderts fich geradezu twieder von 
den yornten des Einheitsitantes entfernte, Das zeigte fi) Jomwohl bei den jüngft 
erworbenen Gebieten, wo die gefamtitaatliche „Liosmofe” ausblieb, wie bei den 
ur prodinz-, alſo bruchjtüdiweije durchgeführten Reformen feit 1786. Sympto- 
matisch fiir ton unfertigen Zuftand der preußifchen Ctaatseinheit ift der Sprad)- 
gebrauh. Co kannte der Stanzleiftil des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts 
bei inneren Regierungsangelegenheiten nur „Seiner Königlihen Majejtät Staa- 
ten und Brobingen“, © erging das Allgemeine Yandrecht (1794) für die „preußi- 
den Staaten“ ebenjo wie die jechzchn „Jahre jpäter begründete offizielle Geſetzes— 
ſammlung.“) Wo St. Bürofratius fich fo altfrantifch gebärdete, fonnte nıan von 
den „Bartiluliers” feine moderne Auffaffung erwarten. Gin Teil von ihnen 
ltand den: Staate noch völlig fremd gegenüber und murde in diefer Fremdheit 
von Obrigleits wegen beitärft. Der Bürger follte nad) ?sriedrichg des Großen 
Meinung es gar nicht merben, wenn die Armce fich fchlägt, und auch dem Bauer, 
der als Stern des Heeres mit von der Bataille ivar, wurde docy durch die abjicht- 
li Iofal und territorial orientierte Stantonverfaffung, die eine Reklrutenmishung 
ausfchloß, das ihm in feiner Eigenfchaft als preußifcher Grenadier etwa auf- 
dammernde Gejamtitaatsgefühl wieder unterbunden. Noch 1803 äußerte Die 
Militärorgantfationstommifjion: „Die Gattung des Patriotismus und National- 
ftolzes ift jeder Provinz eigentümlih, und wir halten es für durchaus bedent- 
id, fie darin zu reformieren, inden der angeborene Patriotisnms dadurd zer- 
jtört werden müßte, ohne dat ettvas Belleres an feine Stelle träte.” 

Damals war die Stunde nicht niehr fern, in der Diefes Beflere gefunden 
werden follte. 

Mit dem Blide des Staatsmannes jchrieb Hardenberg jhon (1307) in der 
KRigaer Tentichrift: „ES Scheint mir tweife, dem Banzen einen einzigen National- 
haralter aufzuprägen. Der ganze Staat heiße fünftig Preußen. Syn Diefem 
Nanten fliege der eigentlihe PBoeuße, der Ponmer, der Brandenburger u 
jammern.” Solch fategorifcher Jmperativ hatte aber zwei Vorausfegungen. An 
der an der einen war fein Verfünder felber beteiligt. Denn fie be- 
Kand in der Wtetaniorphofe des bis dahin in dumpfer VBerpuppung palfiver 
Untertanenfchaft dahinlebenden Bourgevis und Bauers zum vollberetigten 
Staatsbürger, was Durch die Stein-Dardenbergfchen KRefornten int wefentlichen 
geleiftet wurde. Die andere fhuf nicht Menfchenhand, fondern die Ölut des 
Sreiheitsfampfes, die vom Stahlblod des preußiichen Einheitsitantes die legten 
partitulariftiihen Schladen löfen folit:. Auf den Schlachtfeldern Dentjchlands 
und Franireihs find „der eigentliche ‘Preuße, der Ponmter, der Brandenburger 
zufanımengefloffen” nicht nur im Namen des gemeinfamen Waterlandes, Yoie 
Hardenberg e8 ausdrüdt, fondern irı der todbereiten Gefinnung ibm gegenüber. 
Wenn Slörner fang: E3 ift fein Sirieg von dem die ironen willen — es tjt ein 
Kreuzzug, '3 ift ein heiliger Siriog, fo wurde damit doch troß der dichterifch über- 
triebenen Antithefe der Unterjchied zur friderizianifchen Epoche an der rechten 
Stelle deutlih. War im jener der esprit de nation — wie wir fahen — nidjt viel 
mehr als ein Staatlich gefärbter KKorpsgeift im preußifchen Adel, fo erfüllte jebt 
das Einheitsgefüihl nicht nur alle Tiefen und Höhen des Preußentung, fondern 
flutete in warmer Woge weit über die Grenzen des Einzeljtaates. „Teer Name 
der Freußen begann fich mit dem der Teutfchen zu verichmelzen.” 

Doch der ſo charakteriſtiſche dramatiſche Verlauf der preußiich-deutjchen 
Geſchichte brachte noch einmal ein „retardierendes Moment“. Wie im weiteren 
deutſchen Vaterlande noch 1815 ein deutliches Zurückſinken der Maſſen von der 


5) La Prusse fannte nur der dDiplomatijhe Spracdhgebraud)! RR 
°, „Bejepfammlung für die Igl. preußijhen Staaten“ 1810 f., erjt Durch Erlap 
vom 24. j1. 1906 in „Breußiiche Gejegfamntung“ (ab 1907) umgetauft! 


10 Preußen — ein geographifher Begriff? 


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ſchon erreichten Stufe nationalen Bewußtſeins feſtzuſtellen iſt, ſo blieb auch in 
Preußen der letzte Schritt zum Einheitsſtaate vorläufig ungetan. Es iſt das 
hiſtoriſche Verdienſt des europäiſchen Abſolutismus, die Völker aus der terri⸗ 
torialen Zerſplitterung zu zentraliſierten Staaten zuſammengeballt zu haben, 
aber erſt der Konſtitutionalismus konnte das Werk ſeines Vorgängers vollenden, 
indem er zur äußeren die innere Einheit fügte. Gerade in Preußen aber wurden 
die Brücken, die vom Freiheitskampfe zum Verfaſſungsſtaate führten, nicht ge- 
ſchlagen — im Gegenſatz vor allem zu Süddeutſchland. Die Erwerbungen im 
Weſten und Süden der Monarchie ließen neue Elemente in das Atpreubentum 
einjtrömen, wodurch neue Affimilierungen erforderlich wurden. Hier begann das 
Beamtentum, der eigentliche Herricher . Übergangszeit vom Abjolutismus 
jur Verfaffungsmonarchie, abermals feine Verdienite um den Einheitsftaat zu be- 
weifen. Tod) der Schlußftein im Gewölbe fehlte immer no. bgleich der kon— 
ferbative Ntationaljtaatsgedanfe — der zugleich der der politifchen Romantik war 
— in der Folge auf die ftaatlihe Einheit der Sefamtnation verzichtete und fidh 
bewußt auf den Einzelftaat ala Träger de8 dDeutjchen Nationalftaatsgedantens 
jurüdzog, ’) bot diefe glangvolle Steigerung der jchlichten preußischen Einheits- 
Idee — „ der fie jih fonjt nie erhob, weil das parallele Wachstum der deut- 
hen Wationalidee Dies verhinderte — keinen genügenden Erjab für die noch 
hlenden Werte innerpolitifcher Ybatur. Die gerade im Zeitalter der Rejtau- 
ration verbreitete Xehre dom — Prinzip — nach welcher alle Rechte 
der Staatsgewalt im Oberhaupte desſelben vereinigt ſind — beweiſt doch, wie die 
Gedanken Der Zeit mangels einer vechten Anſchauung von wirklicher ſtaat— 
licher Einheit als ſolcher in die Irre gingen und ſich mit dem ſinnlichen Sub— 
ſtrat des Herrſchers begnügen mußten, weil ihnen das konkvet-abſtrakte Weſen 
ſtaatlicher Gebietskörperſchaft als Zentraliſationspunkt noch nicht aufgegangen war. 
Erſt die Verfaſſung von 1850 iſt das, wenn auch von unwilliger Hand 
vollzogene, Siegel auf eine Entwicklung. deren einzelne Stadien wir an uns Dor- 
überfliegen ließen. Durch das geſamiſtaatliche Parlament gewann Preußen ein 
weithin ragendes unitariſches Symbol neben der Dynaſtie und unabhängig von 
ihr. Was nachher kam, die ruhmvollen Kriege von 1864, 18606 und 1870/71, 
das glich nur mehr prüfenden Hammerſchlägen an das klingende Metall der 
preußiſchen Staatseinheit und Staatsfeſtigkeit, wenn auch der Wachsſtumsprozeß 
erſt im zweiten dieſer Kriege ſeinen Abſchluß fand. 
2 


Tantae molis erat Prussianam condere gentem! Und da follte mwirflich 
ein unglüdlicher Strieg die Ar:flöfung zwingend machen, die ruhmvolle Geichidte 
dieier „Prussia gens“ in Niederlage und Schmach enden, wie Herr von Batocli 
meint? Ale wenn wir nie ein Sena oder Tilfit übermunden und der preußiide 
Mar jih phönirgleich au8 der Afche ded Zufammenbruc3 erhoben Hätte! Aber die 
Berivendung ded Wortes Ehmadh in Verbindung mit jener Niederlage wollen 
wir bier nid;t rechten, ur8 Scheint da3 jchmähliche erft an einem anderen, ſpäteren 
Bunfte einaufegen — mwohl aber beitreiten wir im Hinblid auf die uns foeben 
ins Gedächtnis zurüdgerufenen Entwidlungsftadien au8 der Geihidhte der preu- 
Büihen Stenisbildung, daß die preukifhen Provinzen „Iediglic) durch die Hohen- 
gollernherrichaft und nicht durch Die Natur der Tinge“ zufammengebalten werden, 
daß alio zwiihen dem modernen, Eonftitutionellen Einheitsftaate und dem Halb 
territorial-partifulariftifchen, Halb fürftlich-zentrolittifhen Länderftant det Großen 
Kurfürften eigertlih fein Unterichied beftehbt. Tas heikt die Arbeit von Ichr- 
bun‘certen ignorieren, da8 bedeutet, geheimnispoll-Icbendiges Wurgelgeflecht der 
Ziicfe zerichneiden wegen einiger Schörheitefehler und NReibungen an Stronen und 
Stämmen! Wohl kennen wir die lauten und fillen Gegenläße zwilchen Oft und 
Welt, auf politiihem und religiöiem, wirtihaftlihdem und fHammesfundlichen 
@ebicte; heute, vor 50, 100 und 2C0 Sahren. „Wir Deputierte Rheinlandg und 


) Bgl. Meinede, Hiftor. u. polit. Auffäge, 187, 189. 


Preußen — ein geographifcher Beariff? 1 


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VWeftfalens werden unfere fchönen Provinzen nicht in das Ecdhlepptau der Berliner 
Republit nehmen laflen, fondern nochhaufe gehen und dort unfere eigene Ber- 
faffung einrichten”, fo Schreibt ein NAheinländer, 1918? — mit Berlaub: 18481 . 
Und doc liegt 1866 und 1870/71 und 1914 dazwilchen! Welches Boll ift fo 
öde nipelliert und zentralijiert, daß ihm Stammesgegenläge fehlten! Und ber 
Deutiche bleibt nun einmal der geborene PBartitularift und SIndividualil. Dan 
wird diefe Strömungen achten, aber ihnen nid fchrantenlojen Zauf laflen dürfen. 
Denn die Zeiger der Gefhichte weifen auf Arrondierung und Sentralifierung der 
ftaatlihen Gebilde, nicht aber auf ihre Auflöfung und Zerfall. 

Der Stönigäberger Oberprüfident ertlärt ferner: Da c8 mohl feitftehe, daß 
nunmehr das preußiihe Parlament feine auf brei Fünftel de8 Neiches fih er- 
ftredenden Aufgaben infolge deafelben Wahlreht3 auch auf derfelben politiichen 
Batis löjen würde wie der Reichdtag, und die fünftigen Regierungen im Reich 
und Preußen die gleiche Richtung verfolgen würden, jo „fallt damit gerade die 
Berechtigung für ein ftaatlihe8 Sonderleben eined geichloilenen Preußens fort. 
Das Nebeneinanderbeftehen einer NReichd- und einer preupilchen Sentralbehörde 
ide da8 Innere, für die Zuftiz und die jontigen mit zur Zultändigfeit de8 Reiches 
achörenden Mrbeitgebiele wird für die zu Preußen gehörenden drei Zünftel des 
Reiches zu einer finn- und zwedlofen Anhäufung der „Snitanzen“. Hier werden 
aus zweifellos richtigen Vorausjegungen inerfwürdige Schlüfle gezogen. Wenn 
an die Stelle des einheitliden preußiihen Großitaated, wie Herr von Batocki 
will, drei biß vier oder noch mehr Zeilitaaten treten jollen, jo ift da8 Mlbel der 
doppelten Verwaltung mit.ihrer „finn- und zwedlofen Anbäufung der Inftanzen“ 
doc in feiner Hinficht gebetlert, fondern nod) vervielfacht! Statt ziveier Minifterien 
für da8 Ssnnere oder die Juftiz erhielten wir dann ein Halbe Dugend. Mit . 
vollem Rechte macht ein Kenner wie Mar Weber auf die „finanziellen und ver- 
waltungstehriiihen Schwierigkeiten“ aufmerffam, die bei einer dauernden Zer- 
— Preußens in Teilſtaaten zu beſorgen ſind. Wollte und müßte man 
chon einmal ſo radikal vorgehen, wie es von Batocki empfiehlt, dann verdient das 
konſequent unitariſche Verfahren den Vorzug, das uns beſonders um 1848 vielfach 
und bei verſchiedenſten Parteien begegnet, nämlich der Verſuch, nach der be— 
rühmten Beitformel®): Preußen gebt in Deutſchland auf, den Hegemonieſtaat zum 
unmittelbaren Reichsland herabzudrücken, ein Ausweg, den linksdemotratiſche 
Publiziſten, wie z. B. Anſchütz im Kriege erneut empfohlen haben. Aber zunächſt 
wäre das Beſtehen jenes Zwanges zur Radikalkur zur erweiſen und da gibt es 
wieder nur eine Möglichfeit der Betrachtung, wie ſtets bei preußiſchen Problemen 
des Ietten Sahrhunderts, die nämlid, melde ihre Berfledytung mit denen de& 
Reiches in den Gerichtäfreid rüdt. 

Drei Fälle muß man dod) unterfcheiden. Entweder — der günftigjte — 
wir erhalten eine Berfaffung des deutjchen Geſamtſtaates, wie fie indbelondere 
jozialiftiiche Kreife im Intereffe ihrer jpezifiichen Intereffen erhoffen und erfämpfen, 
eine zentralijtifh-unitarifche deutiche Republif mit ftarfer Beichränfung der Blied- 
itaaten, eima nad) dein Diufter Kanadad. Dann ilt dad Scidjul der preußilchen 
Provinzen ziemlid gleichgültig, bei der völligen Berrüfdurg ded Schwerpunfted 
ihre Gruppierung mehr oder weniger Eadje der politiichen Aithetitl Diejer Aus- 
gang fcheint uns jedoh troß ftarfer Unterftügung auch aus dem bürgerlichen 
Xager zum mindelten ungewiß. Sebenfalld wird man heute ebenfo und wohl 
ftärfer noch mit einer föderaliftiichen Rölung rechnen müjjfen, und dann gewinnt 
die Stärke und Widerftandsfähigfeit de8 preußifchen Einzelitaate®, au) gerade 
im Ssnterefle des Neiches, fofort aftuelle Bedeutung. Die „Streuszeitung” mad, 
unferes Eraditeng mit gutem Grunde, gegenüber Herrn von Batockis Idee geltend, 
daß ein Verzicht auf die Einheit Preußens nicht unbedenklich ift in einem Augen- 
blide, wo wir noch) nicht willen, wa8 dag NReih uns fein wird. Auch joldhe 


8) Sie ftammt in ihrer betannteften Baflung don Heinrich von Arnim, dem Minifter 
Friedrich Wilhelms des Vierten. 


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2 Preußen — ein geographifcher Begriff? 





‚Kreife, die einer Auflöfung Preußens an fi fompatbifch gegenüberjtehen, fnüpfen 
daran doh die Bedingung, daß fie nicht augunften irgendwelcher partiftularer 
SKträfte, fondern augschlieglih zugunften de Neiches, dag eine „jehr ftarfe” 
Stellung erbalten fol, vor fi gehen müfle.°) Gerade bier aber liegt eben 
die Zukunft bejonders duniel vor uns. Sollten fich nun vollends — was der 
deutſche Genius verhüten möge — die trübeften Ahnungen erfüllen und das Werk 
Bismarcks zerfallen, dann würde die bewußte Auflöſung Preußens geradezu einer 
Selbſtverſtümmelung gleichkommen, hätte man ſich doch damit jener Macht beraubt, 
die an ebeiten nody imftande wäre, als Krijtallifationsfern einer neuen Einigung 
zu wirken. 

Herr von Batocki — damit ſchließen wir die Reihe unſerer Bedenken — 
ſetzt ſich mit großer Wärme für die angeblich vernachläſſigten und unterdrückten 
Intereſſen ſogenannter „ſelbſtändiger Kultur- und Wirtſchaftsgebiete“ innerhalb 
des preußiſchen Staatskörpers ein. Auf die Vorteile, die auf kulturellem Ge— 
biete gerade ein Großſtaat bietet, ebenſo auf die für gewöhnlich übertriebene 
Kritik gegenüber der ſogenannten Berlinifierung wollen wir bier nicht eingeben, 
ad) die bvermunderte rage, wozu eigentlih Liit und der Zollverein gewirkt 
baben, ftil unterdrüden. Aber, Hat ih der Verfechter fandichaftliher Autonomie 
nicht flar geinadht. — bei der in Frage ftehenden Berfönlichteit follte man e8 er- 
warten —, wad die wirtichaftlihe und poluische Ifolierung ded Dftelbiertums 
für Folgen zeitigen fönnte ? 

Dody die ganze auf Zerihlagung oder Berfleinerung Preuß:nd Hinaus- 
Iaufende Richtung fcheint und aus beitimmten Anlichten geboren zu fein, die in 
der Vergangenheit berechtigt waren, feit der Revolution aber Hinfällig geworden 
find. Da3 Broblem Preußen-Deutfchland, um deffen Löfung vor und im Striege 
die beiten Geifter gerungen haben, bat doch mit dem Sturz der Hohenzollern, mit 
der völlig veränderten politiſchen Struktur in Reich und Einzelſtaat ein ganz 
anderes Ausſehen gewonnen. Im neuen Reich, wenn wir es bekommen, wird 
die Rolle Preußens als Hegemonieſtaat fürs erſte ausgeſpielt ſein, und um zu 
verhindern, daß ſie etwa jemals die den anderen ſo ‚läftige Form wieder annehmen 
könnte, gibt es ſtaatsrechtliche Mittel genug, die eine gewaltſame Operation mit 
ihrem widernatürlichen Eingriff in den lebendigen Organismus erſetzen können. 

Einer der begabteſten Publiziſten aus der erſten Hälfte des neunzehnten 
Su hunderts, Paul Pfizer, ſchrieb 1832 die Worte: 

„Um auf der Grundlage völliger — LOBEN den Wiederaufbau Deutſchlands 
zu vollenden, ſcheint beinahe nichts geringeres erforderlich, als eine ganz veränderte 
Landerabgrenzung und Staateneinteilung in Deutſchland. Die preußiſche Mon—⸗ 
archie muͤßte in einige Staaten von dem Umfang Bayerns oder Sachſens auf— 
gelöſt werden“. Man ſieht, es iſt das Batoctiſche Programm vor hundert 
Sahren. Ssnmer wieder branden die Wellen ded PBartifularitmug, Föderalismus 
und Unitarismus an dem rocher de bronze des preußiſchen Einheitsſtaates. 
Bi3 heute bat er allen wohl- und übelgemeinten Berfuchen feiner Sprengung 
widerltanden. 

Heute ift e8 merkwürdig ftil im Zager des fogenannien „echten“ PBreußen- 
tum8 und die „vaterlandslojen Gefellen“ von ehemald müjlen für feine Integrität 
eine Lanze brechen. 

Muh don ihnen übrigend nicht alle, wenn man Herrn Eidnerd gedenft. 
Und dabei liegt eine Zragif über ihrem Tun. Gie wollen Einheit nnd Gejhlofjen- 
heit bewahren, aber durd) unbedachte Handlungen ihrer verantwortlichen Politiker 
weden fie gerade Stürme ber Entrüftung, die jener Einheit gefährlich werden, 
wie da3 Beifpiel Hoffmann und rheinisches Zentrum zeigt. 

Staatenbildung und Berfaflunasentwidlung, jo fagten wir im Anfang, 
fteben in einer inneren Beziehung zueinander. Ständiliche Berfaffung und Terri- 


9%) Vgl. einen W. K. gezeidineten Artilel: „Das Ende der preußifchen Hegemonie” 
in der „grantfurter Zeitung” Pr. 344, 1. M. B. 


Bolfchewiftifche Derrüdtheiten in der Schule 


13 


—— 








torialftaat, Abjolutigmus und werdender Gefamtjtaat, Konftitutionalismus und 
Einheitsftaat, da8 waren die bißherigen Entipredhungen. 

Wird nun auch die fozialiftiich-demofratiihe Berfaffung unferer nächiten 
Zulunft eine. neue Ausdrudsform der äußeren Staatöbildung heifchen ? 

Wird die Metamorphoje nur daS Rei) oder au die Einzelftaaten, 
Preußen voran, ergreifen ? 


RER 
ER NEE 


— 





Bolſchewiſtiſche Verrücktheiten in der Schule 


Selbfterlebtes von ©berlehrer Rodin 


Br et, wo alles Ichwankt, wo jeder mit Bangen in die ungemiffe 
rl u Zukunft fieht, mo das Reich zerriffen ift, die Parteien hadern, und 
hr El die Gefahr ver Herrichaft der —— Sozialiſten droht, legt ſich 
bieder die Frage vor: was haben wir zu erwarten, wenn dieſe 
er 2 Slemente die Oberhand gewinnen? Das verführte und verblendete 
ET de Proletariat, das mit augenblidlihen hohen Tageseinnahmen und 
durch viele Berjprechungen diefer Gruppe zugeführt wird, tft nicht imıftande, die 
Tragweite feiner Handlungen zu ertennen, und es ift daher notwendig, daß vor 
bolihewijtifchen Sdeen eindringlichit gewarnt werde. Ya, es äjt nicht nur not- 
wendig, jondern Pflicht, moralifche Pfliht eines jeden, der über pofitives 
Material verfügt, inımer und immer wieder möglichjt eindringlich zu warnen, 
und die ihm bedannten Schredbilder, die Die unausbleiblihe Folge diefer 
ee, bilden, den Einjichtigen und Überlegungsfähigen vor die Augen 
zu fuhren. 

Uns Auslandsdeutfchen, die wir in Rufland den Untergang der Mon- 
archie und dann das Verfagen der Temofratie, und fchlieglicdy das Auffonmen 
de3 Bolfchewismus mit feinem Gefolge — der Anarchie — gejehen, miterlebt 
und miterlitten haben, fommt in erjter Linie die Aufgabe zu, ald Warner auf- 
zutreten, jeder auf dem Gebiete, das ihm am nächjten Iiegt, das er am eütt- 
gehenditen hat verfolgen können. — ©o fann ich, als Schulmann und abjoluter 
Segner der Anarchie, möge fie auftreten in welcher Form fie tolle, es nicht 
unterlajjen, am Leben der Schule, joweit ich es jelbit erlebt habe, die Zerjtörung 
jegliher Bildung — welche die Sozialiſierung der Schulen nach ſich 
zieht, namentlich wenn ſie ſo extrem betrieben wird, wie es die bolſchewiſtiſch 
geſinnten Elemente auf allen Gebieten tun. 

Das warnende Beiſpiel entnehme ich ſelbſtredend der ruſſiſchen Republik, 
denn ſie ſcheint ja auch en ertvemen Soztaliiten als leuchtende Beijpicl 
vorzufchiweben, jteht man doch aus allem, was hier gejchieht und bis jebt 
geihehen it, daß nach rufjifchem Vorbild organifiert wird, ja es macht fogar auf 
ung den Eindrud, als fei in vielem der eingejchmuggelte rufjiiche Bolfchewif auch 
hier der Leiter der Bewegung. ch betone hier bejonders „da3 mwarnende Bei- 
Iptel”. Denn ob ich diefes dem Leben der Schule oder dem Gebiet des Gericd)t3> 
wejens entnehme, ob ich mich auf das Banktiwefen, die Synduftrie oder auf irgend 
etivas anderes beziehe, ift ganz einerlei, denn überall haben wir dasjelbe traurige 
Bild des Niederganges, der abjoluten Zerjtörung. Der Staatsfarren ijt einntal 
ins Rollen gelommen, eines zieht da3 andere nad fich, und mit faufender 
Seihmwindigfeit geht es in den Abgrund — in den Sumpf — und ivie, wo und 
warın das Ende diejes Abmwärtsgleitens erreicht jein wird, kann niemand boraus- 
jagen, nicht einmal vorausahnen. 

E3 ijt nicht zu verwundern, da die Sozialdemokraten fi) an die Schulen 
machen. Sn Rußland ift ihnen die Schule mit ihren ftrengen Vorjhriften und 






14 Bolldyewiitifche Detrüudtheiten in der Schule 








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ihren feiten Towerungen auf wifjenfchaftlidem Gebiete ftets ein Torn im Auge 
gun um fo mehr, als dort die Eltern, viel zu fCvach zur Erziehung, in dem 

inde Ihon den vollgültigen Dienfchen mit ausgeprägtem Selbitgefühl! und 
eigenem Willen jehen. Celbit jeder Diiziplin abhold, fordern fie auh vom 
Kinde nur dann Unterordnung, wenn e3 ihren aigenblidlichen Zaunen ent: 
Dh Unbelannt mit den Stelen der Schule, mit dem Unterfchiede ziviichen 

hbildung und allgemeiner Bildung, verlangen die Eltern von der Schule nur 
das, toas jte für fich perfönlich ald notwendig erachten. 

Nur fo ijt e8 zu veritehen, daß die ruffifhe Schule jtets ein Objeft der 
Experimente tvar und noch ift, und daß aud) die Bolicherwiten e8 fih nicht nehmen 
lichen, ihr „unfehlbares Rezept” aud) auf die Schule anzuwenden. Bor alleıı 
Dingen will der Bolfyewif alles bejeitigen, was ihm für feine Perjon 
— nicht aber auf andere angewandt — als Zıvangq erfcheint, wie überhaupt die 
reiheitsfchreier nur für die Freiheit ihrer Perfon und Sleichgefinnter find, 
während jie die Freiheit anderer nicht anerfennen. Man denfe nur an Die 
geforderte Prefje- und Itedefreiheit, Die in Rußland damit geendet hat, daß jede 
nicht foztaliftifche, jeßt Jogar bolfhemwiltiiche Zeitung einfach verboten tft, daß jeder 
Kedner, der dem bolichemiltiichen Bolfsreödner imiderjpricht, einfach nieder— 
gejchrien oder fortgejagt wird, vie e8 hier in Diefen Tagen auf der Straße geichab, 
wo ein Dann, der dem Spartakusvertreter widerjprad), zum NRüdzuge veranlagt 
twurde mit den drohend zugerufenen Worten: „Set mach aber, daß du fort- 
tommft.” — Bor allem alfo will jest der Bolfchewif die Schule fo jtellen, daß 
nicht der Lehrer, fondern nur Schüler und Eltern maßgebend find. | 

Die Reorganifation der Schule in bolfchereiftifchem Sinne begann daher 
fofort nad) der Übernahme der Gewalt durch die a — Zunächſt waren 
es Forderungen allgemeiner Natur: es ſollten die Programme, die Beziehungen 
zwiſchen Schule und Haus überprüft werden und den Kindern ſollte mehr Frei— 
heit gegeben werden. — Eine nähere Beſtimmung dieſer Forderungen fand zu— 
nächſt nicht ſtatt, aber mit derſelben Schnelligkeit, mit der die Tekrete auf allen 
Gebieten erſchienen, folgten dann auch die Erlaſſe auf dem Gebiete der Erziehung 
und des Unterrichts. Es begann damit, daß die Freiheit des Wortes und der 
Verſammlungen auch den Schülern und Schülerinnen gewährt wurden. Zu 
dem Zwecke berief die Leitung des Lehrbezirks eine Verſammlung der Schüler 
ein. Von jeder Schule mußten aus den drei oberſten Klaſſen je zwei Vertreter 
erſcheinen. Als einziger Erwachſener wohnte dieſer Verſammlung der Delegierte 
des Miniſteriums bei, einer der Inſpektoren des Lehrbezirks, der in der 
Eröffnungsrede die Jugend darauf hinwies, daß die Schule durch und durch faul 
ſei, daher bis auf den Grund niedergeriſſen werden müſſe, und daß ſie, die 
Schüler, dem Miniſterium beim Aufbau der neuen Schule zu helfen haben. 

Es bedarf kaum des Hinweiſes, welchen verderblichen Erfolg dieſe An— 
ſprache hatte. Gleich in den darauffolgenden Tagen zeigten ſich die Früchte 
dieſer Verſammlung. Die Schüler kamen mit einer Reihe Forderungen; als 
Punkt eins und zwei forderten ſie in faſt allen Schulen: Beſeitigung jeglicher 
Aufſicht ſeitens des Lehrerperſonals in den Zwiſchenſtunden und Rauchfreiheit, 
forohl auf der Straße, als auch) in den Raumen der Schule. Die gemäßigteren 
Schüler bejchräntten jih auf Furderung der Einräumung eines Rauchzinmers 
u die oberen Klafjen. Femmer verlangten fie freie Wahl des Klaffenordinarius, 

ntlafjung unliebfamer Lehrer und Beeinfluffung des Programme. Intereſſant 
ift die Beobahtung, daß die Öymnafiaften in ihren Tsorderungen bedeutend 
gemäßigter waren, ald8 die Realiſten. — Jede Schule hatte ihre Schüler- 
verfammlungen, auf denen folhe und ähnliche, nody viel toildere v. e 
efaßt wurden. An den Wänden der Klafien und Korridoren erichienen allerlei 
fanntmadhungen, Einladungen zu Verfammlungen mehrerer Stlaffen, aud) 
mehrerer Schulen, forie mannigfache Stundgebungen. Laut Rundichreiben des 
Lehrbezirkts hatte fein Lehrer dag Yiccht, fi) in diefed Treiben irgendwie einzu- 
mifchen. In einem Gymnafium gingen die Echüler jogar fo weit, daß fie vor 
Den Eingängen zu den Räunten, die fie für ihre Verfanmmlungen auserjehen 


Bolihewiftifhe Derrüdtheiten in der Schule 15 


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hatten, regelvechte ee die mit Flinten umd Revolver beivaffnet waren, auf- 
kellten, 5. B. im elften Gymnafium und im Zarstoje Sjelo. — Meift aber 
begnügten jie jich mit einer Icharfen Stontrolle der für die betreffende Beriamm- 
king berumgeichidten Einladungstarten. Kein Wunder, wenn unter joldhen 
Umjtänden in einem Öymnalium das gefamte Lehrerfollegium mit dem Divelior 
an der Zpite in den Ausitand tat. 

Ecyon vor der Revolution war eine andere Trage, Die der Eltern- 
verfammliungen, alut getworden, und e8 war zwtfhen dem Minifterium uns 
dem Lehrerperjonal einerjeits, fowie gwifhen Schule und Haus andererfeits, zu 
heitigen Stämpfen gelommen. Meift war der Verlauf folgender: war die Eltern- 
verfammtlung einer Schule nicht zuftande a fo wurde fie mit hellem 

rei verlangt, und hatte man jie durchgeiegt, jo verlangten alle die Auf- 
lung Dderjelben. Die Revolution madte . ltandigen Stampfe ein Ende: 
die Elternverja ee Brass Sefeg. Die Uuittung darauf blieb nicht aus. 
Die mildeiten und widerſprechendſten Beſchlüſſe und Forderungen waren jetzt 
«a der Tagesordnung. | 

Beijpielstweife: aus einer Schule murde ein etwa fünfzehnjähriges 
Mädchen von der Konferenz ausgeichlofien, weil es an den Folgen eines Fehl- 
teitte8 zu tragen hatte und demnadit Mutter werden Sollte. Die Eltern- 
verfammilung jtellte da3 Verlangen, die betreffende Schülerin wieder auf- 
saunehmen, da ihr Vergehen fein Grund fei, einem Mädchen die Bildung bor- 
wmenthalten, dasfelbe fei nur Privatjache der Eltern. Das ijt nur ein bejonders 
ice 1. Was aber die große Diafje der Eltern, die doch von 

tziehung meift jehr wenig verfteht, für Beichlüffe faßte, Taßt fich gar nicht alles 
bergählen und beichreiben. Cs jollte ja eben nad) der Borfchrift der Bolfcherviken 
zunächſt alles niedergeriſſen werden — das geſchah, und zwar gründlid). 

Der Aufbau der neuen Schule, d. h. des Gymnaſiums, mußte aber doch 
auch erfolgen, und da galt es denn, den Einfluß des in alten imperialiſtiſchen 
Bahnen wandelnden Lehrers zu beſeitigen. Der Lehrer bekam zu der alten, ſeit 
Jahrzehnten beſtehenden Kontrolle von ſeiten des Lehrbezirks eine neue 
Kontrolle: die Vertreter der Elternverſammlung erhielten das Recht, die 
Unterrichtsſtunden zu beſuchen, ſpäter ſollten alle Eltern dieſes Recht haben; — 
wie weit die Eltern das ausgenutzt haben, iſt mir nicht bekannt. 

Jedenfalls aber ſchien das nicht zu genügen, denn das Volk ſoll ſelbſt 
entſcheidend mitſprechen können; und ſo wurden denn als Vertreter des Volkes 
zunächſt die am bequemſten zu Erreichenden beſtimmt — die Schuldiener. Dieſen 
wurde ein Teil der Kontrolle auferlegt; ſie ſollten auch hinzugezogen werden zu 
den Beratungen über die neu einzuführenden Schulpläne. Ihre Tätigkeit begann 
Bamit, daß fie bei der Verwaltung der dem Volke gehörenden Staatsgelder ein 
Wort mitzureden hatten: e8 durfte den Lehrern das Gehalt nur gezahlt werden, 
wenn Die Abrechnung außer von der Schulleitung noch von zwei Schuldienern 
unterichrieben war. Überhaupt wurden diejen zivei Schuldienern vicle Rechte 
Pen und Pflichten auferlegt. So hatte 3. B. der Urlaubsichein eines 

brers nur Gültigkeit, wenn die Unterfchrift der beiden Schuldiener darauf 
brangte. | 

Yn den Mädchengymnafien ging e3 noch fchöner zu: die Leiterin 
(Direktrice) der Schule wurde durch eine Schuldienerin erfegt; die Ktlaffendamen, 

deren Obliegenheiten e3 unter anderem gehört, wahrend der Stunden, die bon 
even erteilt werden, in ihrer Stlafje gemwifjermaßen ald Anjtandsdame an- 
wejend zu jein, wurden alle durch Schuldienerinnen (Aufmwartefrauen) erjegt. 

Schließlich wurden durch ein Tefret alle Xehrer, als der Entwidlung der 
Schule hinderliche Elemente zum 1. Juni entlafjen. Die Neuanftellung follte zum 
dexbit erfolgen auf Grund einer befonderen Wahl. jeder Lehrer mußte einzeln 
ein Gefuch einreichen, — die Schulen verfuchten diejes zuerft Durch den Direktor 

ganze egium in corpore zu tun. Diejem Anftellungsgefud mußte 
ein Nachweis über Die vorherige Ausbildung (Univerfitätsdiplom) und ein Gut⸗ 





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Boijihewutifhe Derrüdihriten in der Schule 


achten der politiichen Partei, bei der der Lehrer eingefchrieben tar, beigelegt 
werden. Ta aber nah alter Porjchrift Fein Lehrer einer politifchen riei 
angehören Durfte, fo mußten diejenigen Lehrer, vörlche aud) nad) der erften 
Revolution „parteilos” geblieben waren, ihr politiihes ®laubensbeleuntnis 
fchriftkic) darlegen. Nicht zu vergefjen tft, daß die Prüfung diefer ‘Papiere vun 
ser bolichemwiftiihen Regierung vorgenommen wurde, von einer Partei, die jede 
andere Partei als gegenrevohutisziar befampft. Die Neumahl der Lehrer war in 
folgender a angeorönet: e3 mußten erjcheinen Vertreter des SKtonımillariats 
der Volfsaufllärung (des Ministeriums), Verireter ver Stadt, des Arbeiter» und 
Soldatenrats, der Schuldiener, Vertreter der Eltern und Schüler, je zwei aus 
zedoer der oberen Slaffen; — zur Tireltorwahl aud) die Xehrer. Tiefelbe 
Zufanmenfegung war aud) vorgefehen für die Beratungen der neu einzuführen: 
den Lehrpläne und auch bei ven Sonferenzen. Die Zahl der Lehrer und Schiller 
gufammen darf aber nicht mehr als die Hälfte der ganzen Verfammlung ar:e- 
machen. Bei tveldyen Fragen eine Ausnahme gejtattet wird, ift mir nicht befannt, 
jedenfalls nicht bei den Wahlen und bei Tsejtiegung des Lehrjtoffes. Den Borjik 
bei den Eitungen und Stonferenzen führt einer der Volksvertreter, nicht aber der 
Direktor, der bei diefer Neuordnung überhaupt eine merlwürdige Stellung 
einnimnit. 


Das Programm der Gymnaſien wurde völlig geändert. Die Religion als 
Unterrichtsfach wurde nicht nur geſtrichen, ſondern direkt verboten. Die 
Lutheraner dürfen wegen der Konfirmation zunächſt privatim in der Religion 
unterrichtet werden, jedoch nicht in den Räumen der Schule, auch darf die 
Religionsſtunde nicht in den Stundenplan aufgenommen werden. Das Morgen— 
gebet iſt ſelbſtredend u Latein und Griechisch find ganz befeitigt. Fan 
den modernen Sprachen tjt der Unterricht eingejchräntt; er befchränft fich auf das 
Überfegen aus der neuen Sprache ins ARuffifhe. Seder Schüler follte die Wahl 
haben zwiſchen den drei Sprachen: Teutich, Franzofifh und Engliih. Damals, 
im legten Frühjahr, war noch die srage offen, ob nicht eine neue Eiprache 
obligatorisch fein jollte und die ziveite wahlfrei. — Für die rufliihe Sprache 
wurde die neue Orthographie eingeführt, „die Bauernorthographie”, wie fie bon 
vielen genannt runde. — Sn der Seographie follte nur die Geographie Ruplands 
genau bearbeitet werden. Die übrigen Länder Europas und die anderen Erd- 
teile follten faft gar nicht befprochen werden. — AYn der Gefcichte wurde das 
Progranım jtark geändert. Es darf nur die Gefchichte Ruflands in allgemeinen 
Zügen, jorwie die Sefchichte der franzöfiich”en Revolution recht eingehend durch— 
genonmien werden. Bejondere Aujmerkjanteit jedoh ilt ver vwuſſiſchen 
Revolution zu jchenken; auch unterliegt dag Wefen des Bolldyewismus ver 
genauen, beileibe aber nicht abfälligen Beiprechung. 


Eine Kürzung erfahren natürlich auch die anderen Fächer, foll doch dus 
Symnaftum die Kinder nicht jo lange feithalten wie früher. Die Zöglinge der 
Abiturientenklaſſen wurden zunächſt noch in der Schule belaffen, fie wurden aber 
jegt im Tezember (daS Schuljahr begann am 1. Oftober) mit dem Neifezeugnis 
entlafjen, und damit hört die oberfte Stlafje auf zu eriftieren — das ift fe in den 
Symnajlien die achte Stlafje, in den Nealjchulen die jiebente. EINEN iſt es 
nicht, daß noch eine oder zwei Klaſſen geſtrichen werden, denn die Kinder ſollen 
mit ſpäteſtens 16 Jahren mit der Schule fertig ſein, um dann ins Leben treten 
zu können, oder die Hochſchule zu beziehen. 


Die neue Schule iſt eine Einheitsſchule, d. h. man wünſcht den Unter- 
ſchied zwiſchen Gymnaſium, Realſchule und Handelsſchule, Knaben- und 
Mädchenſchule aufzuheben. Mit der Abſchaffung der alten Eprachen fowie des 
oberſten Klaſſen fällt der erſtere Unterſchied faſt von ſelbſt weg. Den Ubergang 
zur Koedukation erzielt man durch folgende Anordnung: alle neu eintretenden 
Mädchen werden in die entſprechenden Klaſſen der Knabenſchulen aufgenommen, 
alle neu eintretenden Knaben in die Mädchenſchulen, und das wird fortgeſetzt ſo 
lange, bis in jeder Klaſſe die Zahl der Knaben und Mädchen die gleiche iſt. 


Bolfheimiftiiche Derrüdtbeiter in der Schule 17 


sn der neuen Schule ift ferner jegliche Beurteilung des Kenntnisſtandes 
ausgedrückt durch Nummerurteite unterſagt. Auch darf der Lehrer die Schüler 
nicht nach ſeinem Belieben durch Fragen beunruhigen, oder ihre Nerven durch 
Extemporalien erregen. Will ein Schuler gefragt ſein, ſo meldet er es dem 
Lehrer vor der Stunde mit Angabe des Abſchnittes jenes Faches, aus welchem 
er gefragt zu werden wünſcht. Der Lehrer hat nicht das Recht, eine ſolche An— 
meldung zurückzuweiſen. Tie Verſetzung findet ſtatt auf Grund der allgemeinen 
Reife — die Leiſtungen fönnen dabei auch ungenügende ſein. Nachexamina ſind 
naturlich verboten. Uber die Verſetzung entſcheidet die Konferenz durch Ab— 
ſtinmmen; die anweſeuden Schüler ſind ſtimmoberechtigt. Eine Altersgrenze für die 
einzelnen Klaſſen gibt es nicht. Cbenſo iſt die Tauer des Beſuches einer Klaſſe 
durch keine Vorſchriften eingeſchrankt. Es daun ſomit vorkommen, daß Zehn— 
jahrige und Sechzehnjährige zuſammen in einer Klaſſe ſitzen. 

Ferner haben die Eltern nicht das Recht, ihren Kindern den Beſuch einer 
beſtimmten Schule vorzuſchreiben; die Kinder haben ſelbſt darüber zu beſtimmen, 
ob ſie heute ins Alexandergymnaſium oder morgen ins Nikolaigymnaſium gehen. 
Da die Bildung allen zugänglich ſein ſoll, ſo iſt jegliches Schulgeld ganz 
abgeſchafft. — Tas Jahresbudget des Miniſteriums der Volksaufklärung iſt auf 
1,4 Milliarden feſtgeſetzt (wohl nur fürs erſte Jahr!?). 

Selbſtredend iſt, daß die Beaufſichtigung in den Zwiſchenſtunden und erſt 
recht auf der Straße ſeitens der Lehrer fortfällt. Primus, Sekundus und derartige 
Einrichtungen ſind eo ipso als veraltet verpönt. Die Schüler jeder Klaſſe wählen 
ihre Vertreter, die den Lehrern die Wünſche ihrer Klaſſe vortragen. Unter 
anderem können die Schüler auch den Lehrer erſuchen, in einer Stunde einen Vor— 
trag zu halten über eine beſtimmte Frage, über die ſie aufgeklärt zu ſein wünſchen 
— meiſt handelt es ſich um Fragen, die nicht in den Schulkurſus hineingehören: 
Fragen politiſchen und anderen Inhalts. 

Entſchuldigungszettel nach Verſäumniſſen brauchen nicht mehr vorgelegt 
zu werden. 

Die Abiturientenexamina bei Abſchluß der Schule fallen weg. Haben die 
Schüler ihr Zeugnis über die Abſolvierung des Gymnaſiums erhalten, ſo 
ſind ſie berechtigt als Studenten in die Hochſchule einzutreten. Der Kurſus der 
Hochſchulen iſt auf drei Jahre herabgeſetzt, ſo daß ein Jüngling bereit? mit 
achtzehn bis neunzehn Jahren die Univerſität abſolviert haben kann. 

Die Zuhörer der Hochſchulen zerfallen in drei Gruppen: erſtens eigentliche 
Studenten — die mit dem Reifezeugnis eintreten, zweitens Studenten — freie 
Zuhörer — von denen kein ſolches Jeugnis verlangt wird und drittens Beſucher, 
was jedermann ſein kann. 

In der früheren Militär-Mediziniſchen Akademie zu Tt. Petersburg wurde 
im Herbſt dieſes Jahres die Immatrikülation nach altem Muſter vollzogen. 
Dann wurde durch ein Setret dieſe Nufnahme neuer Studenten für ungültig 
erklärt, und es wurden in erſter Linie „wiſſensdurſtige Vertreter des Volkes“ 
aufgenommen, das heißt Liebyaber von leicht zu erwerbenden Arztdiplomen —— 
Hausknechte, Laſtfuhrleute, Fabrikarbeiter uſw. und dann erſt, ſo weit noch Platze 
frei waren, die jungen Leute aus den Gymnaſien und den übrigen Mittelſchulen. 

So ungefähr iſt das Bild der Schule unter bolſchewiſtiſcher Herrſchaft; 
ebenſo aber ſieht es auch auf allen anderen Gebieten aus, und es iſt traurig zu 
ſehen, daß, unſer Volk den Spuren der ruſſiſchen Unkultur folgt. 


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18 Großgrundbefig, Sozialifierung und innere Kolonifation 





Großgrundbefiß, 


Sozialifierung und innere Holonifation 
Don Rechtsanwalt Dr. jur. et rer. pol. Stodebrand 


J. 


llgemeine Uberzeugung des deutſchen Volkes iſt, daß Privatmonopole 
— — nicht mehr geduldet werden können, und daß ſolche Betriebe und 
1” * Produktionsmittel vergeſellſchaftet, d. h. in das Eigentum der Ge— 
ſamtheit, des Staates, überführt werden müſſen. Dies haben auch 
= fait alle deutiche Parteien in ihr Programm aufgenommen. Zu 
ee den gefährlichitin und für das deutihe Volk drüdenditen Monopolen 
gehört auc) Daßjenige ded übermäßigen Beliges an landwirtichaftlihem Grund 
und Boden, da der deutfhe Iandwirtichaftlihe Boden nicht mehr beliebig ver- 
mebrbar ift. 

Gab e8 an Licht, Luft, Wafler und Erde, joweit diefe Sachen als Teile der 
Natur überhaupt im Eigentum eined einzelnen zu ftehen vermögen, Ichon ftetg, 
wenn man fi fo ausdrüden darf, ein Eigentum de3 gejamten Bolfes. Sit doch 
da3 Eigentum überhaupt nicht ein für allemal und jede Zeit feitjtehend und be- 
grenzt; jondern ein Begriff, deffen Grenzen nach den Bedürfnifien des Volkes von 
diejem bald enger bald weiter gejtedt werden müjjen. 

Der landwirtfchaftlih benugbare Boden bildet nun die Grundlage jedes 
einzelnen Volfes, jedes Bolf tft einem Baum vergleichbar, defjen Wurzeln fi in 
da3 Erdreich eritreden müflen, wenn der Baum nicht fränfeln und abfterben fol. 
Handel, Gewerbe und Induitrie find die Zweige diejfe8 Baumes, alfo von der 
Sejundheit der Wurzeln abhängig. Aus der landwirtihaftlichen Bevölferung 
ergänzt fi) diejenige der Städte, die ohne Zufluß vom Lande außfterben oder 
Degenerieren würde. Das Landvolf ift aljo die Quelle und der Gejundbrunnen 
des Volkes felbit, der erhalten und gejtärft werden muß. 

Übermäßig hohe landmwirtihaftlide Zölle, allzu geringe Steuerfäße gegen- 
über dem Großgrundbejig bei der Grund- und Einfommenftener und allzu wohl- 
wollende Einihäßung, VBorjchriften über die Bindung de3 Bodens bei Fidei- 
fommijjen, Niedrighaltung der Yöhne für Landarbeiter durch unbeichräntte Einfuhr 
von billig arbeitenden und auf niedriger Kulturftufe ftehenden jlaviichen Arbeitern, 
Beſchränkung der politiihen Freiheit und Bewegungsfähigfeit der Landbevölterung 
durch eine überlebte Verfaflung der Gemeinden und Gutsbezirfe, kurz, alle Mapß- 
regeln einer fogenannten Zandratspolitit haben fünftlih den Großgrundbefiger 
get getärkt und die Preife des Grund und Bodens übermäßig in die Höhe 
getrieben. 

Dazu fam nod, dag ftädtilche Kapitaliften Schon vor dem Sriege eine fichere 
Anlage für ihre Kapitalien fuchten und in der Lage waren, jeden Liebhaberpreis 
zu bezahlen, eine Zatjache, die während und auch nad Beendigung des Strieges 
infolge der Zebenzmittelnot und Unsicherheit aller ftaatlihen und wirtjchaftlichen 
Berhältniiie ih noch auf das jchlimmite verfchärft Hat und verichärft. 
Die Folge davon war, daß die Yandbevölferung in die Städte drängte, wo 
jtet3 Arbeit und ausreichender Verdienit erwartet werden und man hoffen durfte, 
vielleicht eine8® Tages jelbitändig werden zu fünnen, während bei einem Ber- 
bleiben auf dem Lande der einzelne nur fchwer eine Möglichkeit fah, eine jelb- 
ftändige Eriitenz zu gründen und ein Stüdchen Land zu erwerben, dab ihn 
ernährte. Dies ijt die wirkliche Urjache der Landfluht und Entvölferung des 
Landes, nicht die Bergnügungsjucht oder Arbeitsjcheu der Yandbevölferung oder 
etwa die „Sehnjucht nad) dem Kino“. So fand denn gerade aus den Gegenden 
mit überwiegendem Großgrundbelig die Abwanderung nad) den Städten ftatt, 
während dies in Gegenden mit vorwiegendem Ktleingrundbeiig nicht der Fall war. 

Da ferner gerade oft die tatfräftigiten und intelligenteiten Sträfte der Land- 






Großgrundbefig, Sozialifierung und innere Kolonifation 19 


bevölferung da8 Land verlaffen, jo muß der Nahwud8 der Landbevölferung 
und mit ihm allmählich das deutfhe Volk in geiftiger und Lörperlicher Beziehung 
gefährdet werden. Sodann füllen ftatt der abwandernden Deutichen flawıfde, 
auf tieferer Kulturftufe ftehende Wanderarbeiter die leer gewordenen Räume. 

Eine Feftigung des deutihen Volkebodens durch innere Kolonifation muß 
erfolgen, wenn da8 deutiche VBolfätum nit wie Spreu im Winde dor den anderen, 
e8 umbrängenden Böltern verwehen fol. Notwendig ift demnad), daß da8 Land 
wieder bevölkert und feine VBoltsdichtigfeit erhöht wird. Dies fanrı nur gejchehen, 
wenn man den übermäßigen Großgrundbelig bejeitigt. 

Dazu kommt noch, daß die Ausfichten für eine neue Blüte unferer Snduftrie 
bei den unficheren und trüben politifchen und wirtjchaftlichen VBerhältnifien, wenig- 
jtens für die nächfte Zeit, nicht allzu groß find. ES muß alfo ein größerer Zeil 
des deutſchen Volkes wieder in der Landwirtſchaft Unterfunft finden, wenn er nicht 
zur Auswanderung gezwungen ſein ſoll. Auch gefährdet ein übermäßiger Groß— 
grundbeſitz in Privathänden wie jedes Monopol, auf die Dauer die politiſche 
Freiheit des Voltes. | Ä 

Durch Zerkleinerung der Güter mirdb der Boden intenfiver bemwirtichaftet 
werden und dies auch der deutichen Bolfswirtfhaft augute fommen. Wird dod) 
auf der gleichen Fläche Land defto mehr Vieh gehalten, je Xleiner die einzelnen 
Wirtichaften find. Dasfelbe gilt vom Objft-, Semüfebau und von demjenigen der 
Handelsgewächſe. Auch der Hadfrüchtebau, der Zuderrübenbau, wird nicht leiden, 
da Güter in genügender Größe beftehen bleiben müflen und auch genojjenjcdaft- 
liher Zujammenfchluß des Stleingrundbefiged Erfaß bietet. 


ll. 


Auf welhe Reife fol nun eine Befeitigung de3 übermäßigen Großgrund- 
befige8 gejchehen, fol und kann überhaupt aller Zandwirtichaft benugte Grund und 
Boden ın fozialistiiches Produftiveigentum umgemandelt und fämtliche landwirt- 
Ihaftliden Betriebe vergejelfchaftet werden? 

Dad ift unmöglid, da der Aderbau nicht in rationeller und intenfiver Reife 
dur Produftivgejellichaften beirieben werden fann. E8 gibt daher aud Feine 
Aktiengeſellſchaften oder ſonſtige Geſellſchaften des bürgerlichen Rechts, die reinen 
Ackerbau betreiben. Dies hängt damit zuſammen, daß die Maſchine in der Land— 
wirtſchaft nie derart menſchliche Arbeit erſparen kann wie in der Induſtrie und 
die landwirtſchaftliche Arbeit wegen der Ungewißheit und Unſicherheit des Wetters 
niemals ſo organiſiert und derartig in einzelne Arbeitsprozeſſe zerlegt und geteilt 
werden kann, wie es die Induſtrie mit ſteigendem Vorteil zu tun vermag. Geſell— 
ſchaften des bürgerlichen Rechts in der Landwirtſchaft find erſt möglich, ſobald es 
ſich um die induſtrielle Verwertung von Erzeugniſſen der Landwirtſchaft handelt. 

Die Grundlage des Ackerbaues iſt und bleibt daher das private Eigentum 
und die Selbſibewirtſchaftung des Eigentümers; denn nur der Eigentümer, ſchon 
nicht einmal in gleicher Weiſe der langjährige Pächter, wird im eigenen Intereſſe 
den Boden die nötige Pflege und Melioration angedeihen laſſen, die verhindert, 
daß der Boden verarmt, ſiatt daß ſeine Erirägniſſe, wie es die Vollsernährung 
erfordert, wachſen. 

Der landwirtſchaftliche Grund und Boden iſt eben keine Ware, ſondern ein 
Produktionsmittel. Aber man kann dieſes Produktionsmittel nicht einer Maſchine 

leichſtellen, die in kurzer Zeit durch den Gebrauch verbraucht wird, während der 
oden ewig iſt und immer wieder durch Melioration erneuert werden kann. 

Auch aus politiſchen Gründen kann eine Sozialiſierung der ganzen deutſchen 
Landwiriſchaft nicht ſtattfinden, denn es gibt in Deutſchland keine Macht, die ſo 
ſtark wäre, daß ſie auch der deutſchen Bauernſchaft ihren Grundbefitz nehmen und 
ihn vergeſellſchaften könnte. 

III. 


Weiann nun eine Aufhebung des Grundbeſitzmonopols in der Landwirtſchaft 
nicht im Wege der ſozialiſtiſchen Vergeſellſchaftung möglich und für das deutſche 
2* 


20 Sroßgrundbefi, Soziatifierung und innere Kolonifation 
sen — 


— — — ä — — — — — — — — — — — — — — — — 
— —— — 


Volk nützlich iſt, ſo kann ein ſolches Monopol nur durch Zerteilung und Ver— 
kleinerung des übermäßigen Großgrundbeſitzes in Privathänden und Erſetzung der 
Latifundien durch Bauerngüter und kleine Wirtſchaften beſeitigt werden. 

Es iſt aber zu beachten, daß die im Eigentum des Staates, der Kommunen, 
Kirchen, Univerſitäten, Schulen, Stiftungen und ſonſtigen öffentlichen Körperſchaften 
befindlichen Güter dieſen verbleiben, da ſie der Allgemeinheit oder einem größeren 
Teil des deutſchen Volkes gehören, zur Beſtreitung des Finanzbedarfes der Kultur— 
güter des deutſchen Volkes und als Allmende für die Landbevölkerung dienen 
müſſen, der Einwirkung durch die deutſche Volksregierung und Volkevertretung 
jederzeit zugänglich ſind, alſo kein Monopol bedeuten und auch nicht unter dieſes 
fallen. Sonſt muß der Staat eines Tages dasjenige teuer wieder zurückkaufen, 
was er einſt für wenig Geld aus der Hand gab. Jedoch müſſen dieſe Güter des 
Staates und der öffentlichen Körperſchaften einen Teil der Funktionen übernehmen, 
die früher dem Großgrundbeſitz zufielen; denn der Großgrundbeſitz war in der 
deutſchen Landwirtſchaft der Führer und Lehrer in allen Fortſchritten landwirt— 
ſchaftlicher Technik. Auf den Gütern des Staates und der öffentlichen Korpora— 
tionen ſind daher landwirtſchaftliche Verſuchsanſtalten, landwirtſchaftliche Schulen, 
auch Volksheilſtätten zu errichten. Es haben Ausſtellungen dort ſtattzufinden. 
Kurz, dieſe Güter müſſen in allem ein Muſter und Vorbild für alle übrigen 
landwirtſchaftlichen Betriebe werden und nur die hierzu nicht geeigneten Domänen 
wären zur inneren Koloniſation aufzuteilen. 

In dieſem Falle wird eine Beſeitigung des übermäßigen Großgrundbeſitzes 
keine Schädigung der deutſchen Landwirtſchaft und ihrer Produktion nach ſich ziehen. 


IV. 


Es kommt alſo nur eine Beſeitigung des übermäßigen Großgrundbeſitzes in 
Privathänden hauptſächlich in Frage, die nur in der Weiſe ſtattfinden kann, daß 
"die übermäßig großen Güter in Privathänden durch kleinere Güter und auch durch 
Parzellen zu vollem Eigentum der Erwerber erſetzt werden. 

Es iſt daher in erſter Linie feſtzuſtellen, welche Güter als übermäßig groß 
und in ihrer Geſamtheit als Monopolbetriebe gelten müſſen. Das find zunächſt 
offenbar diejenigen Güter, bei denen nicht der ſelbſtbewirtſchaftende Eigentümer 
oder ein höher gebildeter Gutsbeamter allein die Leitung des Gutsbetriebes be— 
wältigen kann, ſondern der dazu noch mehrerer landwirtſchaftlich höher gebil— 
deter Unterdirektoren bedarf, wo alſo das Gut nicht von einem Mittelpunkte 
verwaltet wird, ſondern außerdem Vorwerke und Nebengüter zur Verwaltung ab— 
geteilt werden müſſen. Wenn man nun ferner annimmt, daß mit Rückſicht auf 
die Entfernung der Ackerflächen vom Hofe die intenſive Zone eines Betriedbes nach 
Werner 250 ha groß iſt und für den Getreidebau, wie Lexis meint, Betriebs— 
einheiten von 100—150 ha am zweckmäßigſien ſind, ſo wird man, — die Mittel— 
größe eines ſächſiſchen Rittergutes beträgt nur höchſtens 240 ha, und Güter von 
100 ha werden nach der Zählung ſchon zu den Großbetrieben gerechnet —, falls 
man den deutſchen landwirtſchaftlichen Boden in drei Wertiſtufen teilt, ein Gut 
als übermäßig groß bezeichnen müſſen, das in der Wertſtufe Jl über 100 ha, in 
der Wertſtufe II über 200 ha und in der Wertitufe III über 300 ha groß ilt; denn 
die Yage zu den einzelnen Abjaggebieten, Unterichiede der Bodenbefchaffenheit, des 
Klimas und dergleichen bedingen verfchiedene Wertklafien de3 Landes. 

Ob dieje Zeltleßungen zu Hoch oder zu niedrig gegriffen find, mag bon 
berufener Seite feitgeitellt werden. E3 muß aber bei der zseftiegung der Hödlt- 
grenze berüdjichtigt werden, daß bei größeren Gütern nocd moderne rationelle 
landwirtichafllihe Bewirtihaftung mit Meafhinen möglich fei. Die frage ift eben, 
ob man intenfive Bodenbearbeitung oder rationelle Bewirtihaftung vorziehen 
will. Die eritere, die Zorm der Sleinwirtichaft, bringt mehr Bodenerzeugniije 
und Vieh hervor und beichäftigt und ernährt mehr Menichen, wofür da3 eigent- 
libe China, in mweldhem die Bodenkultur unftreitig fjehr Hoc) fteht, ein Beifpiel 
bildet, während die rationelle Bewirtichaftung, die Zorm de3 Großbeiriebeg, 


Großgrundbefig, Sozialiflerung und innere Kolonifation 21 





höhere Gelderträgniffe bringt und fich beifer rentiert, wa8 wir bei der nordbameri- 
fanifhen Landwirtfchaft jehen. Wie dem aber auch immer fei, jedenfall® muß, 
damit überjchiegender Boden zur inneren Kolonifation, in3befondere zur Gründung 
von Heimfiätten für die Kriegsteilnchmer frei wird, die Höchſtgrenzen landwirt⸗ 
Ihaftlichen, privaten Grundbefigeigentumg für jede juriftiihe und phyfiſche Perſon 
des bürgerlichen Rechts in Deutichland gejetlich feftgelegt werden. 

Auf melde Weile fol nun die Abitogung des überihüffigen Landes 
organifiert werden? 

Zunächſt findet eine Augfheidung der Waldflächen ftatt, die der Staat 
unter voller Entihädigung der Eigentümer erwerben muß. Da Aderbau auf 
geringem Boden nicht Iohnt, während die Sorftwirtfhaft noch) gute volfwirt- 
IHaftlihe Ergebniffe erzielt und eine Rodung der Waldflähen die größten volfö- 
wirtichaftlihen Nachteile für den Aderbau und die Holzverarbeitenden Induftrien 
Haben mürde, jo müflen die Sorften erhalten bleiben und fjogar die Wieder-* 
aufforitung von Sdländereien oder Slähen mit fchlehtem Boden angeltrebt 
werden. Eine erfolgreihe Waldwirtichaft verlangt indellen eine große Stetigfeit 
in der Bewirtfhaftung und einen Arbeit3plan auf lange Sabre hinaus. Die 
Baldwirtihaft kann fih demnah nur über große Flächen erftreden, wenn eine 
zweckmäßige Bewirtſchaftung möglich fein fol: Dieſe Erfordernifie fan auf die 
Dauer nur der Staat oder öffentliche Körperihaften erfüllen, wenn der über- 
mäßige Großgrundbefig eingejchränft wird. | 

Dasselbe gilt von der Binnenfchifferei, jomweit fie fih über nicht gefchlofiene 
Gemwäjler eritredt, die aljo gleichfall3 der Staat erwerben muß, und von ber 
Jagd, die ebenfo zu verftaatliden ift. Sagd und Filherei muß Regal des Staates 
werden, Pflege des Wildes md der Fische durch ftaatlihe Schugbeamte gejchehen 
und nur die Ausübung der Sagd und SFifcherei an Privatperjonen verpadtet 
werden, wobei bei der Jagdverpacdhtung nur der zahlenmäßig fejtgelegte Abichuß 
beftimmmter Wildarten zu vergeben ifl. Wenn dann dem Säger nur die Jagd- 
trophäen, Geweihe, Nehfronen ufw. verbleiben, jo fann fie nur in idealem Sinne 
ausgeübt werden und nicht zur Masjägerei und zum Fleiſchſchießen herabſinken. 
E3 wird dann überall wieder freie Wildbahn geben und das Wild nicht mehr 
degenerieren. Sobald die Wälder, die Sagd und Zifcherei verftantlicht werden, find 
damit auch die alten Forderungen in den 12 Artikeln der deutfchen Bauernidhaft 
im großen Bauernfrieg vom Sahre 1525 (Art. 1, 4 und 5) in zeitgemäßen 
Dane BE Wald, Jagd und Sifcherei find wieder Eigentum der Gejamtheit 
geworden. 

Nach Ausfheidung der Waldflächen und ber nichtgeihhloffenen Gewäfler für 
den Staat unter voller Entfehädigung de8 Eigentümers Hat diefer dann das 
Recht, aus feinem Befigtum ein Gut zu den gejeglihen Hödjitgrenzen nad) Wahl 
ausaufondern, wobei Fideifommißgüter in den angegebenen Grenzen ruhig be- 
itehen bleiben können. 

Aus den übrigen Qändereien werden dann, je nad) den Bedürfnifien der 
einzelnen Gegenden, Anerben-, Nenten- oder fonjtige Güter mit gebundenem 
Hecht gwedd Vermeidung übermäßiger Beriuldung der Ffünjtigen Eigentum- 
nadhfolger und auch jonitige Parzellen gebildet, die frei teilbar, belajtbar ver- 
erbbar und veräußerbar find. Die Hypoidefen und fonftigen in da8 Grundbud) 
eingetragenen Laften jind zwangsmeije ohne Zuftimmung der Gläubiger auf Die 
einzelnen Zeiljtüde ie nach deren Wert zu verteilen. 

Dem Srundeigen‘üner fteht nun während einer vom Gejet zu beitimmenden 
Friſt — vielleiht 5 Ihre — das Necht de8 freihändigen Verkaufs oder der 
Berfteigerung diefer 1eugebildeten Srundftüde und Parzellen zu. Exit nach diefem 
Sriftablauf findet Zwaugsverfauf durch den Staat ftatt, ebenfall8 im Wege frei- 
bändigen Verfauf3 oder durd) Zwangsverfteigerung. Den Reinerlög erhält unter 
Stoftenabaug twieder der frühere Grundeigentümer. 

Auf Diefe Weile wird jede unnötige Härte und übermäßiger Zwang ver- 
mieden. C8 finden feine Stonfisfationen de Eigentums flatt. Der Eigentümer 


22 Großgrundbefig, Sozialifierung und innere Holonifation — 
Zain — — — — 


— 


tann feine Grundftüde auf bie beftmöglicfte Weife verwerten. Er wird voll 
entihädigt. Ihm fteht der freihändige Verlauf ber überfchießenden Ländereien 
zu und ebenjo behält er fein Grundeigentum in den vom ®efeg feitgelegten 


Höchltgrengen. — 
Ferner braucht der Staat zu dieſem Werke innerer Koloniſation nicht außer⸗ 


ordentlich große Geldmittel flüſſig zu machen. ne 

Sogar die zur Aufteilung der überfchiegenden Ländereien nölige Beamten- 
Ihaft ift jchon vorhanden, au8 denen die Stommifjionen, die dies Werf in ben 
einzelnen Zandesteilen vornehmen müllen, zufammenzufegen find. In den Beamten 
der preußifchen Generallommiffionen, der früheren Anſiedlungskommiſſion, der 
Bauernbanf, den fonftigen Seldbereinigungsbehörden der übrigen Bunbderftaaten 
und den gemeifnüßigen Antiedlungsgejellfcaften ijt genug Perjonal vorhanden, 
daS die nötige Erfahrung und Umficht befigt und mit Freuden feine sträfte dieler 
euen Aufgabe innerer Stolonifation zum Segen de deutſchen Voltes widmen 
wird. E53 müfien aber Ddiefen neu für die einzelnen Yandesteile zu bildenden 
Kommilfionen Ausfhüfje der Landbevölterung mit beratender und bejchließenter 
Stimme zur Seite geitellt werden, damit die Stommifitonen über die Bedürfniie 
ber einzelnen Gegenden nicht im Dunfeln bleiben und aus dem Zulanunerarbettan 
beider Zeile Praftiiche8 und Bleibendes hervorgeht. 


V. 

Saflen wir noch einmal kurz da8 Ergebnis unferer Unterfudung zuſammen, 
jo erhalten wir folgende Sorderungen: 

1. Erhaltung der Güter des Staated und der öffentlihen Storporationen 
zum Bmwede der Gemeinwirtichaft, zur Finanzierung von Kulturbedürfrifien, als 
Allmende der Landbevölferung, zur Errichtung von Berfudsanitalten, landwirt- 
ſchaftlichen Schulen, BolfsHeilitätten, al3 Muftergüter u. dergl. EEE 

2. Gejeglihe Teitlegung der Hödftgrenzen privaten landwirtichaftlichen 
Grundbefigeigentums, etwa 100 ha in der 1, 200 ha in der II. und 300 ha in 
der II. Bodenweriftufe für jede juriftifche und phnfifhe Berfon de bürger- 
lichen Rechts. 

3. Aufteilung des dieſe Höchſtgrenzen überſteigenden Großgrundbeſitzes durch 
Kommillionen, melde aus Beamten der Generalfommiffionen, der Anfiedlungs- 
fommiflion, der Bauernbanf, den fonftigen Feldbereinigungsbehörden anderer 
Bundesitaaten oder gemeinnügigen Anfiedlungsgefellichaften u. dergl. neu zu bilden 
find, unter Zugiehung von Ausfchüflen aus der Iandwirtichaftlihen Bevölkerung 
dDiefer Gegenden. 

4. Bildung von Anerben-, Rentengüter und fonftiger Güter mit acbumdenem 
Recht oder von Parzellen, die frei teilbar, belaftbar und vererbbar jind, im jeder 
Größe, je nach den Erforderniffen der betreffenden Gegend, unter zwangsweiſer 
Hypothekenverteilung ohne Zuſtimmung der Gläubiger auf die einzelnen Teilſtücke 
gemäß ihres Wertes, nachdem zuvor für den Grundeigentümer nach freier Wahl 
ein Reſtgut in den geſetzlichen Höchſtgrenzen ausgeſchieden worden iſt. 

5. Antauf ſämtlicher Waldflächen und nichtgeſchloſſener Gewäſſer durch 
den Staat. 

6. Verſtaatlichung der Jagd und Fiſcherei. Hege des Wildes und der 
Fiſche durch ſtaatliche Schutzbeamte. Verpachtung nur des Abſchuſſes beſtimmter 
einzelner Wildarten unter Feſtlegung der Zahl an Privatperſonen. 

7. Volle Entſchädigung des Grundeigentümers für die an den Staat ab— 
gegebenen Forſten und nichlgeſchloſſenen Gewäſſer. Freihändiger Verkauf und 
Verlteigerung der neugebildeten Anerben-, Renten- und ſonſtiger Güter mit 
gebundenem Reht und ferner der Parzellen während einer vom Geiet feftzu- 
legenden Sriit, etwa fünf Sabre durch den Grundeigentümer. Danach erſt Zwangs— 
vertauf der Teilſtücke durch den Staat, auch im Wege der Zwangsverſteigerung. 






— — — — — — a —— — — 


Arbeit! 23 





Arbeit! 


Dom Geheimen ©berregierungsrat Dr. Bittmann 


n langen Sahren de8 StaatSbienftes, vor allem während meiner 
Zätigfeit als Chef ber badijhen Gewerbeaufficht, Habe ih mit zahl- 
reichen Arbeitern in vertraulibem, ja freundfcha tlihem Gedanfen- 
außtaufch geftanden, und id) rechne die Briefe, die ih von diefen 
Männern erhielt, und die Stunden, die ih mit ihnen verlebte, 
dantbar mit zu den beften Gewinnen meined Leben?. 

Belondere Gelegenheit zu Ausiprachen fnüpfte fi) nicht nur an dienftliche 
Berrichtungen, an Sigungen, Spredftunden, Songreffe ujw. an, jondern fand fich 
namentlich auf gemeinfamen Reifen, jo auf dem Ausflug, den ich im Herbſt 1910 
mit 120 Arbeitern unternahm, die aus einem halben Hundert Orten Badens, 
aus Induſtriezentren und entlegenen Gegenden, aus den verſchiedenſten Ge— 
werhen, aus Zahrif und Handwerk ftammten, Gelernte und Ungelernte, Nidt- 
organilierte und Organifierte, darunter mehr al8 fünfzig Sozialdemotraten, An 
ihren Reihen zählten. 

Diefe Reije wurde mir zum Ereignid. Nicht dur) daB, maß id) unter- 
mwegs und in Brüffel an Dingen fah, fondern durch daB, was ich an Menfcden, 
an der mich umgebenden Reiſegeſellſchaft erlebte. Es war für mich zwar nichts 
überraſchend neues, wohl aber eine erhebende Beträftigung der Zuverſicht, die 
ich, ſeit ich ſie fannte, in die deutjche Arbeiterichaft feßte, einer Zuverſicht, ohne 
bie ich mein dornenreiches Amt nicht Hätie führen und zum Lebensinhalt machen 
mögen 





Hohe Bildungsſtufe, erreicht mit dem Rüſtzeug unſerer Volksſchule durch 
raftlofe Weiterarbeit nach ded Taged Mühe und Lalt, Bildungsdrang, geiitige 
Srifhe und Urjprünglichkeit, Bilichttreue, rafhe Auffaffung, gefundes Tritifches 
Urteil, gediegene Zachlenntnis, Belejenheit, Originalität, Gejhmad, Schöndeit?- 
finn, Stolz der rbeit, Stolz auf die deutjche Arbeit, auf die deutfche Induftrie 
und das deutijhe Vaterland Iprahen in beredten Worten zu mir und gaben mir 
Hoffnung und Gemißheit, daß folder Züchtigkeit die Zukunft gehören mülje, daß 
diejer Anftieg nicht mehr unterbrochen werden fünne. 

Bon diejen Eindrüden dürfte ich Heute nicht ſprechen, wenn ich ſie bisher 
im ftillverſchwiegenen Buſen getragen hätte und jetzt erſt die Zeit als gekommen 
exachten wollte, den Mund aufzutun. Doch, ich habe ſchon damals aus meinem 
Herzen keine Mördergrube gemacht und meine Stimme deutlich genug erhoben. 
Im Frühjahr 1911 gab ich ein kleines Buch „Deutſche Arbeiter“ heraus, das 
die an mich gerichteten Briefe der Reiſeteilnehmer über das Geſchaute, Erſchaute 
. und Erlebte enthielt. 

Mein Borwort lautete kurz und bündig: „Wer Obren Hat au hören, der 
böre!”, womit ich nit nur jagen wollte, daß die Arbeiter mit offenen Sinnen 
alles in fi aufnefmen, wa3 jih ihnen bot, fondern daß aud die Xefer da? 
Buch willig auf fih einmirfen lalfen, aud ihm al8 einem ulturdofument be- 
jonderer Art bedeutfane Lehren Schöpfen möchten. 

Sn der Tat machten die Arbeiterbriefe damals ftarfe8 Auflehen, fie wurden 
in der deutjhen ‘Brefje viel beiprodhen und, mie aud) richtig, al8 ein glänzendes 
Zeugnid deö im der deutichen Arbeiterjchaft Herrihenden Geiftes dargeftellt. 

Eine argejehene bürgerlihe Zeitung Trieb: „Nun haben wir dad Bud) 
über Die Beltausitellung in Brüfjel im Jahre 1910. Badilche Arbeiter haben 
e8 gejhrieben. Sm diefem Bud ijt eine gewaltige geiflige Arbeit geleiftet. (8 
’ ein ftolged Zeugnis dafür, mad deutiche Arbeiter find und künnın. Was fie 
da fagen, ba3 ift fo ganz aus ihrer Weltanfhauung herausgewachſen, daß wir 
hinter jedem Berichte den Mann, den Kämpfer fühlen“. 

In einem größeren Aufſatz „Nationalgefühl und Arbeiterſchaft“ ſtellte ich 
ſelber Weſen und Bedeutung der Arbeiterbriefe nochmals ins Licht und ſprach es 


aus, daß der deutfche Arbeiter an Heimatgefühl, nationalem Empfinden, Deutfd- 
tum Hinter anderen Ständen nit zurüditehe, und daß hieran auch die „rote 
Snternationale“ nicht8 ändere, die im Grunde doch nur ein Bodenjfat von Sdea- 
Iismud jei, wa8 von manden andersfarbigen Internationalen nicht gerade 
gerühmt werden fönne. Diefe Außerung wurde mir von mancher Seite recht 
übel genommen. Doch biervon fol nicht die Rede fein, vielmehr will ih an 
einige Beijpiele die Srage fnüpfen, ob id damals beredhtigt war, jo und nicht 
ander zu urteilen. 

Ein Ssräfer jchrieb: „Der Gedanfe läßt mich nicht mehr 108, daß die Er- 
findungen nicht dem einzelnen zu danken find, fondern der ganzen geijtig und 
förperlid tätigen Maffe. Die Wiege tehnifcher Erfindungen reicht Sabre zurüd, 
fo daß aud) der geringfte Arbeiter zum Fortichritt beiträgt. Der Arbeit gehört 
die Zukunft!” 

Ein Holzbildhauer: „Zrogig und itarf wie die Stiere in Bronze ftellt fich 
die Mafchineninduftrie Deutfchlandg Hin, al3 ob fie jagen wollte: Hier bin ich 
und will aud) Meijter bleiben.” Ä | Ä 

Ein Zigarrenarbeiter: „Wie vieljeitig ift Doch die Beihhäftigung des deutichen 
Bolfes! Kann ed da mwundernehmen, wenn ein erbebended Gefühl die Bruft 
bewegt bei dem Gedanken, daß alle, die bier mitgearbeitet Haben, Söhne Deutich- 
land, Aıbeiter, find.“ 

Ein Tapezier: „UÜbermältigendes und Großartige3 hat die deutiche Induftrie 
geleiltet. Wenn je ein Bolf Anipruch darauf erheben darf, intelligent genannt 
zu werden, jo dürfen mir Deutiche mit Stolz e3 tun,” 

Ein Schriftfeger: „Bon folden Ausſtellungen fehrt man nicht nur innerlich) 
reicher zurüd, auch mandes fchiefe Urteil über dad Wirtfchaftsleben und die Be- 
ziehungen zwiſchen Arbeitgeber und Wrbeiter korrigieren fich.“ 

Ein Yormer: „Die Autitelung zeigt, daß Deutihland von lauter leiftungs- 
fähigen Snduftrieländern umgeben ift. Will die deutihe Induſtrie ihre hervar— 
ragende Stellung behalten. jo beißt e8 für die Arbeiter: Seder an feinem Plage 
erfüle feine Pflicht!“ 

Ein Schloffer: „Der deutiche Arbeiter muß bejtrebt fein, fich theoretiich und 
praftiih mehr auszubilden, damit der Borjprung anderen Nationen gegenüber 
erhalten bleibt.“ 

Ein Spinner: „E3 ijt unfere Pflicht, mit aller Kraft nicht nur da8 Errungene 
teitzuhalten, jondern nach größerer Vollfommenheit auf allen Gebieten zu ftreben. 
Arbeitgeber und Arbeiter müflen Hand in Hand dafür forgen, daß unfer Bater- 
ad einer fihern und glänzenden Zukunft entgegengeht. Möge au8 unferer 
Reife neue Energie und entichlofjener Wille fpriegen, dag Wohl de3 Arbeiter- 
ſtandes und unſeres Baterlandes zu fürdern.“ 

Ein Schreiner: „Nur ein feltes Weiterfchreiten wird e8 Deutſchland er- 
möglichen, in Zufunft mit gleicher Ehre zu beitchen. Eine Generation muß auf 
die folgende wirfen, auf dag die deutichen Söhne beim Anblid der Werte ihrer 
Häter jtll im Herzen fchwören, fich ihrer Väter würdig zu zeigen.“ 

Ein Buhbinder: „Die Erinnerung an das große friedliche Völferfeft wird 

im Kampf um® Dafein Arbeitsluft und Schaffensfreude nicht erlahmen Taffen, 
daß jeder auf feinem Boten feine Pflicht tue zum Wohle der Selamthrit.” 
Ein Eitendreher: „Wir nehmen die Zupericht nad) Haufe, daf alle Völfer 
da3 Große, daS hier zufanımengetragen ift, nur jchaffen fünnen auf Grund einer 
tiefgehenden Boltsbildung. Wie gewaltig muß fich die Kultur aller Yänder und 
aller Völker nod) entwideln, wern alle diefe Schäge gehoben werden, wenn jeder 
mitwerben fann am tatfräftigen Aufbau alles defjen, wa8 die Bölfer groß, gefittet, 
glüdlih und tüchtig macht!“ 

Und zum Schluß ein Steindruder, der fchärffte unter den an der Reife 
teilnehmenden Sozialdemokraten: ,„Da8 befriedigende Gefühl für ben fittlih 
hohen Wert menjchlicher Arbeit mid erft dDadurdh zur Entfaltung gebracht, daß 
der Arbeiter diefen Wert in fein. fulturellen Bedeutung kennen und fohäken 


— ———— — u 


Arbeit! 2 


— — — — — — — — ——— — 0 — — — — — — —— — — — — — — — 
— — 


O 


lernt und hierdurch ſeiner eigenen Betätigung diejenige Weihe gibt, die ſie ihm 
zur Lebensfreude werden läßt. Der wirtſchaftliche Wettbewerb der Völker ſesßt 
ſolche gehobene Seelenkraft voraus. Das geſamte Kulturleben kann nur dann 
zur höchſten Entwicklung gelangen, wenn dieſer Geiſt in der Lebensarbeit des 
einzelnen fich betätigt. Die Idee, hohe menſchliche Qualität zu ſchaffen, findet 
gerade in der Arbeit des Alltags ihre prägnanieſte Vertörperung. Sie iſt es, 
die die Erziehung zur Menſchenwürde in ſich birgt, im Menſchen die Erkenntnis 
ſeines Wertes als Kulturträger wachruft und ihn ſonſt beſtimmt, ſein beſtes für 
die Menſchheit hinzugeben.“ 

Sei es an dieſen Beiſpielen genug! Die ſo dachten und ſchriehen, das 
waren nicht Bourgeois, die mit ſchöngeſetzten Worten den Arbeitern die Arbeit 
rühmten, ſondern Proletarier. Nicht Männer in „gehobenen“ Stellungen mit 
Wenn und Aber und Einerſeits — Andrerſeits; dafür hatten ſchon die Otganiſationen 
durch die Auswahl der Reiſeteilnehmer geſorgt. Nicht „wirtſchaftsfriedliche“, 
nicht Nurarbeiter, ſondern klaſſenbewußte Männer, unter denen ſich viele über— 
zeugte Sozialiſten befanden. Auch dieſer linke Flügel vergaß in den Tagen 
freudigen Schaffens und Schauens ſeine Uberzeugungen nicht. Bei Beratung 
eines Feſtabends erfuhr ich, durch frühere Erfahrungen gewitzigt, auf vorſorgliche 
Anfrage, daß die Leiter der deutſchen Abteilung, wie ſonſt üblich, Trinkſprüche 
auf Fürſtlichkeiten planten. Mein Wunſch konnte es nicht ſein, daß unſer har— 
moniſches Zuſammenleben durch UÜberraſchung mit einer Formalität geſtört werde, 
die gerade in den ſie ausübenden Kreiſen ſchon längſt als inhalilos und banal 
erkannt und nur als eine rein äußerliche, doch unumgängliche höfiſche Verbeugung 
betrieben wurde, die mechaniſch nach oben hin Geſinnung zeigen, nach unten hin 
Geſinnung erwecken ſollte. Ich verhütete daher die Trinkſprüche und machte jo 
einer großen Anzahl von Reiſegenoſſen, die andernfalls dem Abend fernzubleiben 
entſchloſſen waren, die Beteiligung möglich. 

Weshalb ich heute alte Erinnerungen ausgrabe? Weil ich es an der Zeit 
halte, daran zu erinnern, mit wie vollen Tönen damals das hohe Lied von 
deutſcher Arbeit ertlang, und von welcher Art die Männer waren, die es ſangen. 
Wer möchte ſo kleindenkend und vermeſſen ſein zu ſagen, das Häuflein ſei eine 
vom Zufall zuſammengewehte Ausnahmeerſcheinung geweſen, deren Anſchauungen 
von Pflicht und Ehre, Arbeit und Stolz und Vaterland von der geſchulten, 
organiſierten, ihres Wertes bewußten deutſchen Arbeiterſchaft nicht geteilt wurde? 
War und bin ich ein unbelehrbarer Ideologe, ſo nannte man mich, daß ich aus 
dem Geifte der 120 badijhen Männer auf den Geilt der deutjchen Arbeiterfchaft 
flo und auf ifn meine Zufunftshoffnungen baute? 

Damals, vor acht Jahren, ſtand unſere deutſche Induſtrie nad) einer Periode 
beiſpielloſer Entwicklung auf einem bisher unerreichten Gipfel der Leiſtungsfähig— 
keit. Mit berechtigtem Selbſtbewußtſein ſtellten deutſche Proletarier auf der 
großen Völkerſchau zu Brüſſel den Anteil der arbeitenden Hand an dem Er— 
rungenen feſt und gelobten, daß es auch in Zukunft nicht an ihnen fehlen ſolle, 
denn, ſo erkannten ſie, zum Feſthalten des Vorſprunges bedurfte es der Arbeit 
aller, der Arbeit aller alſo auch im Dienſte der Evolution, die nur in blühender 
Induſtrie Gewähr für Dauer findet. Arbeit! Arbeit! 

Arbeit! Arbeit! ſo ſchallt es auch heute als Mahnruf. Arbeit, nicht um 
den ſtolzen Turm von damals in die Wolken emporzuführen, ſondern um auf 
öder Trümmerſtätte das Fundament zu legen für einen ſoliden Bau, ein neues 
Gemeinwohl. 

Das Gebot der Stunde iſt Arbeit. Wenn wir unſere Betriebsftätten nicht 
ſo raſch als möglich auf Erzeugung von Friedensgütern wieder einrichten, wenn 
wir nicht produzieren, dann ſind wir verloren; denn wir können Nahrungsémittel 
und ſonſt alles, was uns das Ausland etwa zu liefern gewillt iſt, nur mit 
Fabritaten bezahlen. 

Mangel, Hunger, Elend, Zerfleiſchung, Sklaverei, Tod pochen an unſere 
Pforie. Grimm, Haß, Verblendung wollen die Offnung der Tore erzwingen, 


26 Zur Volkshochſchulfrage 


damit das Vernichtungswerk des unſeligen Krieges vollendet werde. Nur einer 
kann dem Zerſetzungsprozeß friedlich Halt gebieten: der deutſche Arbeiter. Nicht 
durch Verſammlungen, Reden, Reſolutionen, ſondern durch ein Einziges, durch 
Arbeit. Geſchieht dies, dann wird das Wort „Die Zukunft dem Arbeiter“ eine 
höhere und ſtolzere Bedeutung gewinnen durch die Auslegung: die Zukunft mit 
dem Arbeiter, für und durch ihn. 





on 


Zur Volkshochſchulfrage 


Von Profeſſor Dr. Robert Petſch 


Br ie Richtlinien, die da3 neue preußifhe Minifterium für Wifen- 
en  Ichaften, Kunft und VolfSbildung foeben veröftentliht hat, fehen 
Fe Wu. a. eine großzügige Ausgeitaltung des BolfShocichuliwejend vor. 
13 C3 ift mit Dant zu begrüßen, daß fih die Staatsregierung einer 
NH A Ungelegenbeit annehmen will, die biöher mehr der Fürſorge von 
ag Bereinen überlalien war, in der aber auch einzelne ftädtijche Be- 
(hit Erjprießliches geleiftet Haben. Bon Staatswegen batte man bisher 
in Breußen und meines Willens im Deutfhen Reihe nur eine einzige Bolfß- 
hochfchule großen Stil3: die Akademie zu Polen, deren fernere Schidijale freilich 
Heute im Dunkeln liegen. Immerhin find die Poiener Hochichuilchrer, deren 
Zahl übrigens während des Strieges bedentlich aufammengefchmiolzen ijt, noch fräftig 
an der Mrbeit; und es ift vielleicht in diefem WMugenblide nicht unangebradht, zu 
einer der wichtigiten ragen unseres Boltsbildungswejend aud den Erfahrungen 
heraus zu Sprechen, Die der Sihreiber diejer Zeilen an der Alademie ded Oftens 
in den leisten Sahren gemacht hat. 

Bor allem gilt es zwei Mißverftändnifie abzumehren, die dem Bolfshod- 
ſchulgedanken bei ernſten Mitbürgern ſchaden können: die Volkshochſchule iſt feine 
bloße volkstümliche „Vortrags-“ Einrichtung und ſie iſt auch nicht gut im Neben— 
amt zu betreiben. 

Man unterſchätze die Arbeit der „Wanderredner“, die heut in kaufmänniſchen 
und morgen in freien Vereinen, am Mittag vor Volksſchullehrern und abends 
vor Arbeitern über wiſſenſchoftliche Dinge reden, nur ja nicht. Sie erfordert ein 
ungeheures Maß an körperlicher Geſundheit und an ſeeliſcher Kraft. Wer nicht 
ganz und gar Herr ſeiner Sache iſt, wer nicht nach ſorgfältigſter Vorbereitung 
(die hier unumgänglich nötig iſt!) ſo gut wie ganz frei ſprechen kann, ohne doch 
ſeine Rede auswendig gelernt zu haben, wer vor allem nicht imſtande iſt, nach 
wenigen Sätzen ſchon ein unmittelbares Gemeinſchaftsverhältnis, ein gegenſeitiges 
Nehmen und Geben zwiſchen Redner und Hörer herzuſtellen, der wird an den 


Fu I 






meijten Chren vorbei und über die Pöpfe Kimmveg reden, wenn er nicht gar unter 


dem Bıldungaitande der Zuhörer bleibt und fie ohne Yörderung und Mnreaung 
löst. ber auch der befte Eingelvortrag bleibt in der Hegel ohne Vertiefung 
und ohne tatlächliche Nachwirkung, wenn der Nedner eben nur fommt und gebt. 
Allonfall3 bleiben ein paar balbverftandene Nedensarten in den Stöpfen haften 
(oft Yehr gegen den Millen des Nednere), die beiten Hörer fprechen und ftreiten 
wehl auch uber daS Gehörte, einer oder der andere Jihlüat daun noch eur gutes 
Yurb nach (wenn eine annehmbare Sammlung vorhanden tt), aber Damit ilt e5 auch) 
aus. ind wie viele folcher Vorträge rechnen mit der Augenblickswirkung, buhlen 
un die Gunst der Zuhörerfchaft mit den Leinen Weitteln der Unterhaliungstunft 
und SJchaden damit dem wirklichen Bildungsdrange, anitatt inneres Leben zu 
werfen und zu fürbern! Erft wo der Yuhorer merft, daß es ıhm an Wiffen fehlt 
und Daß es des Schweißes der Edeln wert wäre, die Yiifen auszufüllen, hat der 
Vortrag wahrhaft gewirtt. 


Zur Volkshochſchulfrage 27 


Viele Abelſtände des Einzelvortrags werden nun durch Vortragsreihen ver⸗ 
mieden, die freilich meiſt nur von einem am Ort anſäſſigen Redner abgehalten und 
durch die ſtete Möglichkeit der Rückfrage fruchtbar gemacht werden können. So haben 
fich denn in den Univerſitätsſtädten vielfach Vereinigungen von Hochſchullehrern 
nach dem Vorbilde der engliſchen „University Extension“ gebildet, um in den 
Abendſtunden ſich an weitere Kreiſe zu wenden. Damit iſt viel gutes geleiſtet 
worden, aber ich bezweifle, 05 eö auf die Dauer genügen fann. Unjere Univerfitätg- 
lehrer müfjen auf ihre Pflihtvorlefungen und vor allem auf die notwendige Vor- 
bereitung im engeren und im meitelten Sinne (d. 5. auf ihre mifjenfchaftliche 
Horhung) ein folhes Maß von Arbeitsfraft verwenden, und die Anforderungen, 
die eine ftudentiiche Yuhörerjchaft an fie ftellt, find von denen der Abendkurje jo 
verihieden, daß man ein fo plößliche8 Umftellen von ihnen nicht verlangen fanrı 
und bie Borträge gerade der beften Univerfitätslehrer nicht immer Hödftleiftungen 
auf dem Gebiet der Bolsbildung bedeuten. Das Bolfshohichulmefen aber er- 
fordert die volle Kraft de3 Lehrers (oder der Lehrerin!) und follte darum nidt 
im Nebenamt, fundern ald Hauptamtlihe, vol gemwürdigte und dementipredend 
bezahlte Tätigkeit ausgeübt werden. Dann erft fann die Bolfshochichule den 
wichtigen und mannigfaltigen Aufgaben gerecht werben, die ihrer harren. 

Senn €8 handelt fich Bier gewiß nicht bloß um einheitliche Kurfe für foldhe, - 
die eben erft die Bultsihyule verlafien haben und zortbildung fuden, im Mittel- 
punft jedes Bolfsichulunternehbmend wird immer die geiftig ftrebende 
Arbeiterfhaft ftehen. Diele aber weilt, wie ich al8 langjähriger Xehrer in 
Arbeiterbildungsfurfen verfichern fann, gang außerordentliche Verfchiedenheiten in 
den geijtigen Borausjegungen und Anforderungen auf. Die VBolfsgochichule fol 
ie alle berüdtichtigen und jol einzelne Hörer big unmittelbar zur Univerfitätsbildung 
binführen. Sa, e3 jcdhadet nicht, wenn joldhe Einrichtungen an Orten, wo feine 
Univerititäten bejtchen (und dahin gehören fie vor allen Zingen!) eine Art Bor- 
jeminar für den Hochſchulunterricht im engſten Sinne darftellen,;, und wenn fie 
endlib (maß für den Unterrüchtenden vielleicht der ſchönſte Lohn für feine auf- 
reibende Tätigkeit wäre), diejenigen, die von der Hocjchule kommen, vor allem 
etwa den Arzt, den Suriften, den Oberlchrer, aud) den Beiftlichen in fteten Yu- 
fammenhange mit den SSortichritien feiner Wiflenfchaft und des willentchaftlichen 
Lebens überhaupt halten fönnten. Wir Haben gerade in Bofen die Freude nehabt, 
„unge Scmeiter“ in großer Zchl in das philologifhe Studium einzuführen, 
denn den Studierenden des Deutfchen und der neueren Spradhen wurden an 
deutjchen Univerfitäten zwei Boiener Halbjahre voll angerechnet und maunder 
junge Student ift aus umnferen Übungen unmittelbar in die Seminare großer 
deutiher Hodhjihulen Binübergearutscht; wir durften una aber auch rühmen, ‚sad)- 
genoffen in Amt und Würden, vor allem deutfhe Oberlehrer, lichter und Ärzte 
in unjeren Borlefungen und Übungen zu fehen und haben damit einer Aufgabe 
borgearbeitet, auf deren Notwendigfeit gerade heut mit vollen Nicht nachdrudlich 
Dingewiejen wird: der dauernden tyortbildung des höheren Lehrers und Beamten, 
dem jteten Zufammenbange zwijchen Wifenichaft und Braris. Someit aljo fellte 
eine gute VBolfshochichule reichen. Sie wird feine eigentliche Fadheildung geben, 
auch eine feichte „Ailgemeinbildung“ anitreden woilen, fondern e3 dent einzelnen 
ermöglichen, nad) Wapitab feiner sträfte und nach dem Leitfaden ſeiner Neigungen 
Ah in einzelnen Wifiensgebieten gründlicher umzufehen. Dadurdh aber wird es 
ihm ermöglicht werden, nicht bloß zu feinem eigenen Heil über die Bildungsphraſe 
— ſondern vor allem die Kenntniſſe, die ſein Fach von ihm er— 
ordert, wirklich zu vertiefen, ſeine Lebensarbeit von höheren Geſichtspunkten aufzu— 
faſſen, ſich bewußt in den Dienſt der geſamten Kulturarbeit zu ſtellen, und nicht 
bloß als Fachmenſch, ſondern als Mitglied einer freien Volksgemeinſchaft „Quali— 
tätsarbeit“ zu leiſten, ohne die wir Deutſche nun einmal in Zukunft nicht mehr 
werden beſtehen können. Was kann eine gute Voltshochſchule dem techniſchen 
Arbeiter, was kann ſie dem jungen Kaufmann, was dem bildungshungrigen 
Volksſchullehrer geben, der, wie die Dinge noch liegen, mit ſeiner Seminarbildung 


38 Sur Dolfshodfchulfrage 


in den Dienft gefhidt worden iftl Wa8 aber kann fie feldit dem Akademiker 
geben, der vielleiht auf der hohen Schule mit Scheuflappen vor den Augen an 
allem vorübergegangen ift, maß nicht zum engften Zad) und auch da wieder zu 
den Prüfungszweigen gehörte! 

Die Notwendigkeit eines freieren Umblid3 des Studierenden Haben feit 
lange die technifhen Hochichulen, bejfonder8 der außerpreußifchen Staaten erkannt. 
3h muß diefen Zufag machen, denn die preußifchen „Bolytechnica” haben jene 
feften Lehrftellen nicht für Philofophie, für neuere Spradyen, für Geichichte und 
vor allem für deutfhe Sprache und Literatur, dur” die ihre mittel- und füd- 
deutjchen Schiweftern fie überragen. Hand in Hau) mit der Einrichtung de3 
ftaatlihen Boltshohfchulmefens follte aljo eine Ausgeftaltung der „allgemeinen 
Salultäten“ an unferen tehnifchen Hodhfdhulen gehen. In den Großftädten, Die 
jolhe Schulen Haben und die zumeift auch über hervorragende Bücherbeitände 
verfügen, mären diejfe Vorlefungen auch Nicht-Afademifern zu öffnen (wie daß ja 
tohl im Süden längft der Zall ift) und fönnten damit einen großen Zeil der 
Boll3hochichularbeit leilten, zumal bier feftangeftellte Lehrer im Hauptamt in 
Betracht kämen. 


Auch die eigentliche Volkshochſchule aber wird dem Akademiker mit „abge— 
ſchloſſenem Bildungsgange“, beſonders außerhalb ſeines eigentlichen Faches, eine 
Fülle von Anregungen und neuen Geſichtspunkten ſelbſt für ſeine Berufsarbeit 
geben können. Ich habe in Poſen die erfreuliche Beobachtung gemacht, daß fich 
nicht bloß die Vorleſungen über deutſche und allgemeine Literaturgeſchichte, über 
neuere Geſchichte und Volkswirtſchaft des hier üblichen Zulaufs erfreuten, ſondern 
daß in einer Vorleſung über die oft als langweilig verſchrieene Geſchichte der 
deutſchen Sprache über 200 eingeſchriebene Hörer ein ganzes Winterhalbjahr durch 
treulich aushielten — und zwar nicht bloß Lehrer und Lehrerinnen, ſondern Ärzte, 
Juriſien, Techniker u. a.,, die ſich alſo doch für den Gegenſtand erwärmt haben 
müſſen. Den gleichen Erfolg konnten ſolche Zweige meines Fachs aufweiſen, die 
ſich an Univerſitäten nicht immer begeiſterter Teilnahme der Studierenden erfreuen, 
wie die deutſche Voltskunde, die vielleicht gerade in den Mitielpuntt alles geiſtes— 
wiſſenſchaftlichen Unterrichtes an der deuitſchen' Volkshochſchule treten fönnte. 
Ahnliche Erfahrungen aber haben der Philoſoph und der Nationalökonom mit 
recht eingehenden Fachvorleſungen, der Kſtunſthiſtoriker mit archäologiſchen Kurſen 
geisumt uſw. 

We! he Fülle von Aufgaben erwartet alſo den Lehrer, der ſeine ganze Kraft 
und ſeine ganze Perſönlichkeit in den Dienſt der Volkshochſchulſache ſtellen ſoll! 
Aber freilich, eins iſt dazu notwendig. Der Lehrer dari nicht dauernd von dem 
zehren, was er ſelber von einem früheren Bildungsgange her mitbringt. Er muß 
durchaus mit der Forſchung Schritt halten und ſie an ſeinem Teil fördern helfen. 
Er darf alſo nicht abgetrieben von anderen Leiſtungen (wie Unterricht, Vraxis 
und Verwaltungsdienſt) in das Lehrzimmer treten, ſondern eher mit heißem Kopfe 
vom Arbeitstiſch herkommen. Er muß Zeit und Mittel haben, um wiſſenſchaftlich 
zu arbeiten. Dazu gehört, außer der hauptamtlichen Stellung, von der oben die 
Rede war. eine reihe, auf den Unterricht, und vor allem auf die Forjchung (aud) 
auf die felbitändige Weiterbildung de3 Yuhörerd berechnete) Bibliothef! Im 
Städten, wo feine jolde beitehen, jind fie zu gründen, und mit reihen Mitteln 
ausaultalten, wie da3 in England und Amerifa der Kal ift. Sonit fehlt der 
Boltshbohihule der belebende Atem, fehlt Xehrern und Schülern das tägliche Brot. 


3m Berein aber mit einer guten Ausleihebibliothet und einem forgfältig ausge- 


ſtatteten Leſezimmer kann der Unterricht der Bolfshochfchule Erfolge zeitigen, 
deren Wert und Bedeutung fid garnicht Hoch nenug eimichägen läßt. Von dem 
Arbeiter und Handwerker an, der tieferen Einblid in feine Arbeit und in fein 
Handwerfezeug gewinnen, der fich auf geihicdhtlicher oder volt3wiriichaftlidder 
Grundlage über feine Bürgerpflidten unterrichten oder in allgemeinere Fragen der 
Welt und de& Meenichenlebens eingeführt fehen will, 6i8 hin zu dem Atademifer, 
der mit der foriichreitenden Wiffenfchaft Schritt Halten oder fein Wiflensgebiet 


Maßgeblihes und Unmaßgeblides 99 





erweitern möchte, müffen fie alle befriedigt werden, die vom Quell der Bildunn 
trinfen wollen. Ie dehnbarer die ganze Anlage des LXehrbetriebes ift, je forg- 
fältiger die jeweilige Yujammenfegung der Hörerichaft und ihre wecjelnden 
Bedürfnifle beachtet werden, je feiner die VBorlefungen und Abungen vom Elementar-- 
furfus 5i8 zum SOberfeminar und zum millenichaftlichen Beiprechungsabend 
gegliedert und abgeftuft werden, um fo vollfommener wird die deutiche „University 
Extension“ ihre große Aufgabe erfüllen und, dank dem feiten Yugreifen der 
Regierung und boffentiih der Opferwilligkeit deutfcher Mitbürger und ftädtiicher 


Verwaltungen, ihr engliches Borbild nicht bloß einholen, jondern überflügeln. 





Maßgebliches und Unmaßgebliches 


4, Hoffmann und 8. Häniſch. Zur Ent⸗ 
Hehungsgefchichte des Neformprogrammıs des 
preußiihen Kultusminifteriums, das Dr. Dar 
Hildebert Boehm in Nr. 50 der Grenzboten 
einer interefjanten Sritit unterzogen bat, ere 
balten wir don beftunterrichteter Seite einige 
Einzelheiten, die wir unferen Xejern nicht 
berenthalten wollen, da fie ein merfmürdiges 
ht auf die Art und Weile werfen, ivte im 
Bannkreis Adolf Hofinanna in Kultur „jee 
madt” wurde. In jpäter Stunde ur mittelbar 
dor einer PBarteiliigung verfamntelte Hoffınann 
einige feiner Getreuen im Minifterium um 
fh und verlangte von ihnen als Ilnterlagen 
für ein Referat vor feinen „Senofjen” ein 
Erpofee über da® neue Kulturprogramın. 
a3 in wenigen Minuten von einem der An» 
weienden hingeworfene Konzept hat Hoffmann 
alddann als offiziöfe Kundgebung des Kultus« 
minifieriung drühmwarm der „Freiheit“ zur 
Veröffentlihung zur Verfügung geftellt. Auch 
die überflürzte Aufroflung der Eniftaatlihung 
der Kirche ilt lediglih auf das Trängen 
Hoffmanns zurüdzuführen, der jogar damit 
gedroht Kat, die ;srage nach Art des Doltor 
Eifenbart durch Plrbeitere und Soldatenräte 
„löſen“ zu laſſen. 

Das lollegiale Zuſammenarbeiten der 
beiden Kulturgewaltigen erinnert immer 
mehr an die „Arbeitsteilung“ zwiſchen einem, 
der ſich mit Petroleumkanne und Streich— 
hölzern als Brandſtifter ſich betätigt und 
einem anderen, der mit Spritze und Löſch— 
eimer hinter ihm her iſt, um das angerichtete 
Unheil halbwegs wieder gut zu machen. 

Die Geduld Konrad Häniſchs, mit der er 
ſich zu der Syſiphusarbeit hergab, wenigſtens 


der gröblichſten kulturpolitiſchen Greueltaten 
ſeines Zehn-Gebote⸗Jenoſſen die Spitze abzu⸗ 
biegen, verdient den Dank und die Anerkennung 
gerade auch des bürgerlichen Lagers. Das heitere 
Treiben Hoffmanns und der kleinen Propheten 
aus ſeinem Stabe — (der „Preſſechef“, weiland 
„Friedhofsverwalter“ Harndt mit ſeinen 
ſtiliſtiſchen Fähigkeiten, die ſeines Meiſters 
wahrhaft würdig ſind, iſt ein beſonders 
drolliger Koch in Neupreußens kulturpolitiſcher 
Garküche) — nötigte Häniſch zu jenen dauernden 
Richtigſtellungen, durch die die Offentlich- 
keit bereits auf das freundbrüderliche Ver⸗ 


hältnis der Hoffmann⸗-Jüngerſchaft und der 


nicht von jeglicher Vernunft und Einſicht 
unabhängigen Gefolgſchaft Häniſchs inner— 
halb des Kultusminiſteriums aufmerkſam ge— 
worden iſt. 

Im erſten Januarheft der „Glocke“ ſucht 
Haeniſch ſeine Partei von dem Vorwurf der 
Religionsfeindſchaft zu reinigen, indem er 
mit großer Offenherzigkeit die auf die Kirche 
und die Pflege der Religion bezüglichen Er— 
laſſe der ſozialiſtiſchen Regierung als toloſſale 
politiſche Dummheiten kennzeichnet. Er ſpricht 
von „rechthaberiſchem Eigenſinn“, der das 
Gute will und das Böſe ſchafft, von „klein— 
bürgerlicher Beſchränkiheit, die ſich wunder 
wie revolutionär dünkt, in Wirklichkeit aber 
durch und durch realtionär wirkt, die gern 
von Weltrevolution faſelt, tatſächlich aber 
nicht über die Grenzen von Berlin O und 
Berlin Nhinauszuſehen vermag“, kurz er läßt 
es nicht an Deutlichkeit fehlen, und man begreift 
wohl, daß er angeliht3 der „Kulturpolitit” 
jeine3 Minifterfolegen an diefer „ahnungss 
Iojen Kleinbürgerei” verzweifeln möchte. Die 


30 Maßgeblides und Unmaßgebliches 


Gegenaktion de3 Zentrums in Oberjchlefien, 
in Weftfalen und im Nheinland bat nämlich 
aufrütielnd gewirkt, zumal der Maflenabmar[d 
der Tatbolifchen Arbeiterfhaft auß dem Zen⸗ 
trum&lager zur Sozialdemofratie, wie Haenifd 
fegt, ind Stoden geraten ift, feit die führen- 
den Bentrumsleute ihren Gläubigen den 
„Bopanz“ diefe® „neuen Kulturfampfes“ an 
die Wand malen fonnten. Wollte Haenilh 
die Sachlage mit völlig nadıten Worten kenn⸗ 
zeichnen, fo müßte er fagen: wir haben und 
in der ftrategifchen Yage getäufcht, jo wie e8 
anderen größeren Geiltern pafliert ift. Sn 
der Berlennung der religiöfen Geſinnung 
weitelter Vollskreiſe lag der politifche Fehler 
der Revolutionäre des Geilted und derer, 


die ihnen nicht in den Arm fielen. An ihrem 


fiegeögewijlen Nationaliemus haben fie über- 
fehen, daß aud) im primitiven Menichen die 
Ahnung von den Grenzen menjdlider Er» 
tenntni3 wirft, und daß er gerade Dort, wo 
nur ein Glauben und Hoffen die Nätiel des 
Lebens Ioit, den Helt in feinem Stampfe 
findet. Über die Bedeutung der Trennung 
ton Kirde und Staat Tönnen fi wohl die 
wenigften Rehenichaft geben, handelt e3 fid 
do hier um ein fehr fompf'zierted Problem. 
Aber wenn in den Schulen leine Weihnadhtö- 
hreder gefuingen werden, da8 Schulgebet fort» 
fült oder feine Beibehaltung von der Ab- 
jtinmung unreifer Schüler abhängig aemadıt 
wird, fo weiß auch der einfache Dann und 
erit recht die Frau aus dem Volle, was die 
Gtode gefchlugen hat, und daß hier nicht der 
verfehrie Wille eined einzelnen wirfiam if. 
Der „Popanz“ der Religionsfeindſchaft un— 
ſerer neuen Kulturverwaltung, die doch nicht 
von Goties, ſondern von Proletarier Gnaden 
eingeſetzt iſt, braucht wahrhaftig nicht erfunden 
zu werden. Mag Haeniſch jetzt betonen, daß 
die Trennung der Kirche vom Staat vor der 
Nationalverſammlung nicht vorgenommen 
werden wird, daß gewiſſe Maßnahmen, z. B. 
die Aufhebung der geiſtlichen Schulaufſicht ſchon 
jetzt gutgeheißen werden mußten, lediglich um 
größeres Unheil zu verhüten, das durch den 
Vollzugérat der Arbeiter- und Soldatenräte 
hätte angeſtiftet werden können, und daß er ent⸗ 
ſchloſſen iſt, die Durchführung des Erlaſſes 
über den Religionsunterricht überall dort, 
wo ſich ihr ernſte Schwierigkeiten entgegen— 


ſtellen, bis zur Entſcheidung durch die National⸗ 
verſammlung aufzuſchieben, ſo muß doch feſt⸗ 
gehalten werden, daß dieſe Konzeſſionen an 
die öffentliche Meinung doch nur aus Gründen 
der Staatsraiſon, d. h. im Intereſſe der 
ſozialdemokratiſchen Partei gemacht werden, 
und daß ſelbſt für den verſtändigen Haeniſch 
die Erlaſſe als ſolche, ihrem geiſtigen Gehalie 
nach, durchaus aufrecht zu erhalten find. 
Der Religionserlaß z. B. enthält nach ſeinen 
eigenen Worten nur Selbſtverſtändliches, 
nämlich die Herſtellung unbedingter religiöſer 
Gewiſſensfreiheit für Lehrer und Schüler. 
Es braucht an dieſer Stelle nicht ausdrück— 
lich betont zu werden, daß man über die 
Gewiſſensfreiheit unreiſer Kinder auch anders 
denken kann, daß für uns erziehen empoer— 
ziehen bedeutet, auch dort, wo alikluges 
Selbſtbewußtſein über letzte Dinge zu urteilen 
ſich vermißt. Hier erſt recht. Aber wie dem 
auch ſei. Wir begrüßen mit Freude die im 
deutſchen Volke allgemein auflodernde Em— 
pörung über tölpelhafte Bergewaltigung im 
Namen der Freiheit, über verſtändnisloſe 
Dünkelhaftigkeit in der Behandlung von 
Fragen des kulturellen Lebens und Haeniſch 
wird es nicht gelingen, durch Verurteilung 
und Rechtfertigung im eigenen Lager ſelbſt 
unter Preisgabe ſeiner Perſon die naiven 
Selbſtoffenbarungen des neueſten Kurſes zu 
löſchen und uns zu überzeugen, daß wir gegen 
ein Phantom im Kampfe ſtehen. „Die ich 
rief, die Geiſter, werd ich nun nicht lös!“* 

Das deuiſche Heldentum in den Befrei— 
ungskriegen. Im zweiten Anguſtheft der 
„Diterreihiihen Rundichau* behandelt Tr. 
Edwin Noilett (Mien) „Die Entwidlung des 
deutschen Heldenideal3*. Nachdem der Ver« 
folfer einleitend die Unterfchiede zivilen 
römiichen, griehtichen und gerin mischen Deldene 
typus beleuchtet und die Einheitlichleit de% 
deutſchen Ideals von der Vöolkerwanderungs— 
zeit bis zum Ende des achtzehnten Jahrhun— 
derts Dargeltellt, [chreibt er, aufdie Befretunggs 
Iriege übergehend: 

„Als kaum nachdem Schillers großes Lied 
erklungen, das Herz des Volkes wirklich in 
den Staud getreten ward und in Jahren ſich 
nicht zu finden wußte, da tauchte neuerdings 
und ſtärker als in der Sturm- und Drang⸗ 
zeit der nationale Einheitsgedanke wieder auf. 


“ Neue Bücher 3l 


Bor der Not ded Baterlandes zerbrad der 
Kogmopolitismud. Der Kosmopolit wurde 
zum Batrioten, der Weltbürger opferte fich 
für fein Vaterland. Der Begriff Volt wird 
dominierend. An den Liedern, die Arndt 
und Körner anftimmen, ift eg meiftend nicht 
mebr der einzelne Held, dem der Aufruf 
gilt; das ganze Volk ift zum Helden geworden. 
Schon Edhiller Hat e8 außgefproden: „Nichts⸗ 
würdig ift die Nation, die nit Ihr alles 
freudig fegt an ihre Ehrel! — „Zu den 
Waffen! Zu den Waffen! Ald Männer hat 
uns Gott gefhaffen“ und „Auf zur Nadel Auf 
zur Rahel Erwade, edles Volt, erwadhel” 
läßt Arndt den Aufertönen. „Das Bolt jteht 
auf, der Sturm bricht [o3“ fingt der begeiiterte 
Körner und in fait wörtlidher Uebereinftim- 
mung mit $leming, der faft zwei Jahrhunderte 
früger die ftolge Yrage ftellte: „Wer wünjcht 


ih no zu fliehen Und um die Ofendbanf 
erbärmlich ber zu kriechen?“ ſchmaͤht auch er 
„die Buben Hinter dem Ofen”. Wie Gleim, 
der Soldatendichter, |priht auch er zu feinem 
Schwerte. 

Das alte ſoziale Element der Heldenſage 
kehrt in geſteigertem Maße wieder. Der Be- 
griff der Nation iſt vergrößert und deckt ſich, 
wenn auch anfangs nur vorübergehend, mit 
dem der politiſchen Einheit. Auch hier fehlt 
der Vorlämpfer, der eigentliche perſönliche 
Held nicht ganz: Gneiſenau, Schill, Dörn⸗ 
berg und Scharnhorſt ſind ſolche Helden 
Arndts, für Erzherzog Karl erklingt die Leier 
Körners und ſpäter noch iſt Radetzky der 
Held des Grillparzerſchen Kriegsgedichtes.“ 

Oh, könnte in hundert Jahren der Er» 
forſcher unſerer traurigen Zeit ähnlich auch 
über uns urteilen! 





Neue Bücher 


Von dem hier wiederholt warm empfohlenen Goethe-Haudbuch, das Julius 
Zeitler gemeinſam mit einen ftaitlichen Veitarbeiterftabe bearbeitet hat, it foeben 


der dritte und legte Barıd erjchtenen, ber die Irtitel „Nachdrud“ 615 „Sivilchen- 
ficterfnocdhen” umfaßt. (Stuttgart. 3. B. Megler, DE. 20,40.) Es will ſchon etwas 
beiten, unter den heutigen Berhäliniften ein dieibändiges Nachſchlagwerk von faſt 
2200 Stichworten in jo ausgezeichnefer und folider Austtattung berzuitellen. Wir 
bartundern die Zatfraft dc3 Verlages und de3 Herausgebers, und wir begrüßen 
dankbar die ;zülle grimdlicher Belehrung, die bier in fneppiter orm dargeboten 
wird, 3.B. um mir eines heranszugreifen, in den freitlichen Ysauftartiieln von 
DO. Brriower. Nu in dem dritten Bande Ind noch neue Vitarbeiter hinzugefommen, 
die ich im ganzen dem Stil dc5 Unternehmens wohl anzupaflen wußten. Bet einer 
Kenauflage, die dringend zu miünschen wäre, wird das Wanze woyl noch an Gleidh- 
mäßigfeit gewinnen. Kinftweilen vermittelt ein außerordentlich reichhaltiges und 
geiaidt angelegtes „Regilter“ gwijchen den verfhiedenen Artikeln. Wir finden da 
etwa bequem beijiammen, mit was für Architeften Goethe perfonlich oder literarifch 
gu tun gehabt Bat, wie er über Unjterblichteit dadte n.a.ım. Das Ganze ift 
dazu angetan, nicht bloße rajıhe und zuverläſſige Auskunft zu geben, ſondern dor 
allem, wa8 widtiger ift, den Leier zu eigenem zyorichen ımd Narbdenien atnzus 
regen. Darum beißen wir das Werkt nochmals herzlich willtommen. R. P. 





32 Ein Kapitel zur Dernichtung des deutfchen Geiftesleben 





Ein Hapitl zur Dernichtung des deutjchen Geijtesleben 


ie Vernichtung der deutschen Stultur, die unfere Krinde während 
de3 Striege prediglen, wird nunmehr, da die Waffen ruken. zwar 
nicht dom deutlichen Bolfe, aber doch von Deutliben volliogen. 
8 6 Ein Sampf ſonderzleichen gegen das Geiſtesleben in Deutſchland 
ZIZA it angeſagt. In wahnwitziger Verblendung rüttelt der deuntiche 

ne Arbeiter an den Örundlagen unferes mirtjchaftlichen Lebens trd 
nern die Möglichkeiten der geiſtigen Durchdringung des Geſchehens. Zen 
ganzes Denken iſt in der Not der Zeit lediglich auf egoiſtiſche Ziele gerichtei. 
Selbſt die Setzer und Drucker, von denen man annehmen müßte, daß ihr Hand— 
werk in ſeiner Bedeutung als Mittel zum Zweck und der Zweck als ſolcher von 
ihnen doch wenigſtens einigermaßen erfaßt werden könnte, ſchrauben ihre Xohn- 
forderungen in einer Weiſe in die Höhe, daß die geiſtige Leiſtung und damit 
der Sinn des Buchdruckgewerbes einfach zum Tode verurteilt wird. Die Grenz— 
boten haben im Laufe der vier Kriegsjahre unter ſchweren Vpfern ihre kulturelle 
Aufgabe zu erfüllen geſucht. Summer wieder haben he dem mwirtchahlihen Drud 
don unten machgegeben. Die zohuneigerungen ner legten vier Worhen marden 
rund 100 Wroz. neue Preiserhöygungen norg! Die emgelner Betriebe fönnen 
unmöglich diefe neue Belaftung traneıı, ohre zufammenzubrechen. Andererjeits ift 
e3 aber vielfach ebenfo unmöglich, diefe Mehrfoften auf die Abnehnier abzuwälzen. 
Berlag und Scriftleitung haben fi; daher jchmeren Herzens entichließen müſſen, 
die Herte vorläufig in 14tägigen Zwilchenräumen ald Doppelnummern in etwas 
verfiärftem Umfange gegenüber den einfahen Heften erfcheinen zu laſſen. Wir 
find und bewußt, wa3 dieje einjchneidende Maßnahme bedeutet und bitten unfere 
Lejer troß alledem um ihre Treue. DMeögen die Aitentate auf unjer Geiftesleben 
da8 Bürgertum endlid) zu Zaten treiben! 








Srudfebler-Berihtigung zum Auffage „Deutih-Hfterreih und feine Nachbarftaaten” 
in Nr. 50 de& borigen Jahres: ©. 253 3.1 von unten lied nur ftatt um, ©. 254 2. 11 
bon oben lied Heidebauern ftatt Heidebeuern, 3. 20 von unten lied germanilierten ftatt 
germanilchen, 3. 18 von unten lie® Goggaueriid ftatt Gogganefih, ©. 255 3. 18 von 
unten lie® Zollgmehren ftatt VBollswadhen, ©. 256 3. 16 von oben lie® neben jenem 
ftatt und jener, 3. 27 von unten lies Bontebba ftart Pontebbe, 3. 25 von unten lieg er 
ftatt es, ©. 257 3. 4 von oben lieg nur ftatt um, 3. 20 von oben lie Bintangehalten 
ſtatt hintangeſtellt. 





an Vianuffripten ift Borto hinzuzufügen, da andernfali$ bei Ablehnung eine Rüdjendung 
nicht verbürgt werden laın. 








Nchdrud fämtliser Auffäse nur wit austrädfticher Crlaubnis des Verlags neftattet. 
Veranimoruich: der Herausgeber Georg eleınom mi — Yicterielde Wei, — Ranuitriphrendungen wed 
Briete werben erbeien sinier de: Adrene: 

An die Schriftleitung der Grenzboten ist Serfin SW 11, Tempelhofer Ufer 352. 
wernipieher des Herausuebers: Yiru Kchter 'eide 438, Des Keriags und dei Sontmiertung: Amı wügoın Haie 
Terlan: Xeriag der Wren;boten Sm db. 9. ın Merlin SW LI, Tempelhoter Uier Ya 
Brul: „Ser Reihsbote: W. m. f 9. in Poriin SW il, Definner Stiige 37 





Trennung von Kirche und Staat 
Don £ic. Martin Peters 


Die Bedeutung ded Problems -der Trennung bon Firde und 
Staat veranlakt und nad den Ausführungen des Pfarrers Aldrecht Kailer 
in Heft 52 des legten Jahres, auch folgende Berradhtung unjeren Lefern 
borzulegen. Die Scriftleitung. 


y7 nter allen Problemen, die dur die geichehene Umgeftaltung in 
% unferem Boife hochgefommen find, hat die frage nad) der Trennung 
von Slirhe und Staat die ftärkjte Bewegung der Geifter Hervor- 
gerufen. Das mag der reund der Kirde nicht ohne Bein emp- 
“ finden, dem die Würde der Stirche gefährdet erjicheint, wenn fie in 
AL) den Mitielpunft des politiichen Kampfes gezogen wird, anderer- 
jeiıs ıjt e8 doch ein erfrewlich«8 Zeichen, wenn die firdhlich-religiöfen Dinge jelbft 
in der gegenwärtigen Lage jo ftarfe Rejonanz in den Gemütern finden. Daß 
fie bei einer jo gewaltigen Umwälzung, wie eine Revolution fie bedeutet, mit- 
berührt werden würden, war ja von vornherein anzunehmen, und man hat nicht 
nötig, da3 noch an dem Beijpiel der franzöjiichen Revolution zu erfennen. Dafür 
hängen Staat und Fire zu eng zujammen und ift im bejonderen die Sozial» 
demofratie zu jtarf firhlid, vielmehr antıfirchlich feitgelegt. WaS die bisherige 
Regierung angebahnt hat, ilt nur die Durchführung der befannten . fozialiftifchen 
Torderungen aus dem Erfurter Programm Bunft 6: „Erklärung der Religion 
zur Privarjahe. Abichaffung aller Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln zu 
firhlichen und religiöjen Zweden. Die firhligen und religiöfen Gemeinſchaften 
find al3 private Vereinigungen zu_ betrachten, welche ihre Angelegenheiten völlig 
jelbitändig oronen.“ Das hemdsärmlige Draufgängertum, in dem der mittler- 
weile jchon verflojjene Kultusgemwaltige in Preußen dieje Ordnung dur einfache 
Verfügung Ddurdazufegen fuchte, hat ihn erwiejen ald einen Zeil jener Kraft, die 
ftet8 daS Böfe will und jtet3 dad Gute jhafit; die Kirchen hätten Grund, ihm 
dankbar zu fein, durdy nichts iſt wirkſamer für fie Stimmung gemadt worden. 
Der Sturmangriff it vor dem energifchen Wideritand, in dem Satholifen und 
Protejtanten fi) zufammengefunden, aufgegeben worden. Aljo wird die preu- 
Biihe Nationalverfammlung die Sache in gejegmäßiger Weije anzugreifen haben; 
daß aber das Verhältnis nicht bleiben wird, wie bisher, daran ift nicht wohl ein 
Zweifel möglid. 

Der Umftand, daß die Trennungsfrage von jogialiftifcher Seite aufgerollt 
ift, der man feine günjtige Meinung für Slirde und Religion zuzutrauen geneigt 
ift, darf doc) nicht verdunfeln, daß die gleiche Yorderung längit jhon au von 
ganz anderer Geite und in ganz anderem Snterejje ernitlid” erhoben worden ift. 
Durch den gejamten neueren Proteitantigmus geht fie, von dem „fatonifchen 
Spruch“ eines Schleiermacher, den er nicht müde ward, zu wiederholen, bi8 zu 


Grenzboten I 1919 3 B 





34 Trennung von Kirche und Staat 


den Eirhenpolitiihen Plänen eine Stöder. Zu tief wurden im ganzen evan- 
geliihen Lager die Schäden ded Gtaatäfirhentum3 empfunden, ald daß man 
nicht immer wieder auf die Trennung von Kirde und Staat ald den Weg zur 
tirchlihen Selbitändigfeit Hinausgefehen Hätte. Allerdingg war ba& gerade in 
der legten Zeit vor dem Sriege doch mehr eine ideale Forderung geworden. Man 
erfannte deutlid) genug aud die Schwierigfeiten der Sade und die Borzüge des 
berrfchenden CEHitemd, dad durd die anfängliden Erfahrungen während der 
Kriegszeit geſtärkt erſchien. So arbeiteten aud) die, die e8 für unvermeidlich 
hielten, our jene Ziel nit direft Hin; man behielt e8 im Auge, aber man 
glaubte fein Kommen abwarten zu follen. Und gewiß wäre ed, wie im Staats- 
leben, fo aud) Hier da8 Erwünichtere gewefen, wenn wir nidt durd) einen ge- 
waltfamen Brud, fondern auf dem Wege ruhiger Entwidlung dahin gelangt 
— — einmal aber hat die Wirklichteit alle Erwartungen weit hinter 
gelaſſen. 

Das Verhältnis von Staat und Kirche, das heute in Frage ſteht, ift eines 
der wirkſamſten Motive der Kirchen- und Weltgeſchichte, deſſen Wandlungen durch 
die Jahrhunderte zu verfolgen lehrreich bleibt, auch wenn wir das Gefühl haben, 
uns heute vor einer ganz neuen Lage zu befinden. 

Es mag untunlich ſcheinen, hier Jeſum ſelbſt, den hiſtoriſchen, heranzuziehen, 
zu deſſen Zeit es noch keine Kirche gab und der ſie, nach manchen Forſchern, 
überhaupt ſelbſt nicht gewollt hat. Doch läßt ſich ſoviel ſagen, daß er die Auto- 
nomie der religiöſen Gemeinſchaft allen anderen Gemeinſchaften, auch der ſtaatlich— 
nationalen, gegenüber klar erkannt und feſtgeſtellt hat. Das folgt nicht ſo ſehr 
aus einzelnen Worten, wie aus dem an Pilatus: Mein Reich iſt nicht von dieſer 
Welt, als aus der ganzen Art, wie er ſeinen Meſſiasberuf aufgefaßt hat, die ihn 
zu der Verquickung von politiſchen und religiöjen Tendenzen im Sudentum feiner 
Zeit in ſchärfften Gegenſatz brachte. Auf der anderen Seite hat er offenbar die 
Rechtmäßigkeit der beſtehenden Staatsordnung in ihren Grenzen anerkannt; dahin 
deutet das bekannte Wort: Gebet dem Kaiſer, was des Kaiſers iſt, und Gott, 
was Gottes iſt. Die alte Kirche hat ſich zunächſt zu einem Staat, der ganz auf 
heidniſchen Grundlagen ruhte, durchaus im Gegenſatz gefühlt, und der Staat zu 
ihm, der die Kirche bald mit Verdächtigungen und Verfolgungen zu unterdrücken 
ſuchte. So ergab ſich für die Kirche Scheidung und Zurückhaltung, die im 
Konfliktsfall zu paſſiver Gehorſamsverweigerung im Märtyrertum, aber nicht zu 
aktivem Widerſtand geführt hat. Doch ſindet ſich daneben ſchon bei Paulus eine 
poſitive Würdigung der Staatsordnung in den bekannten Ausführungen von 
Römer 13: Jedermann ſei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat ... 
die direkt bis in unſere Gegenwart fortwirken. Auch auf ihn wird die frühe 
Praxis der chriſtlichen Gemeinden zurückgehen, in ihrem offiziellen Kirchengebet 
der Obrigkeit zu gedenken. 

Kaiſer Konſtantin hat das Aſchenbrödel der Kirche aus dem Staub zur 
Königswürde erhoben und den folgenſchweren Bund zwiſchen Staat und Kirche 
geſchloſſen, aber ſo viel die Kirche dabei an äußerem Glanz gewann, ſo viel hat 
ſie an innerem Werte verloren. Alle Schattenſeiten des Staatskirchentums traten 
ſofort in den übelſten Erſcheinungen zu Tage, der Staat mißbrauchte geiſtliche 
Mittel für ſeine Zwecke, die Kirche ward nur allzuſchnell Meiſterin in der um— 

ekehrten Kunſt. Die Ehe war ſo, daß der Staat die unbedingte Herrſchaft 
* durch die Übernahme der kirchlichen Gewalt vollendete er ſich zum Cäſaro— 
papismus, der bekanntlich in der byzantiniſchen Kirche noch ein volles Jahr⸗ 
tauſend fortbeſtanden und in dem ruſſiſchen Zartum eine ſpäte Nachfolge ge— 
funden hat. 

Im Abendland trat in den neuentſtehenden germaniſchen Reichen gleichfalls 
eine enge Verbindung zwiſchen Staat und Kirche ein, deren ſchon vorhandene 
Organiſation die Stuͤrme der Völkerwanderung überdauerte. Auch hier, ſo be— 
ſonders im Frankenreich, hatte die politiſche Macht, der König, die Führu 
Ein Karl der Große gebot ebenſo unbedingt in der Kirche wie im Staate, u 


Arennung von Kirche und Staat 35 





— 
x 





die zielbewußte Verwendung der firdlichen Mittel für feine politiiden Zwecke iſt 
eine Grundlage feiner ganzen Politik geweſen. Inzwiſchen war aber in der 
Kirche felbit eine neue Macht Hochgetommen, die in der Solgezeit für da8 Ber- 
hältni3 von Kirhe und Staat maßgebend ward, das PBapittum. Seine ftetig 
und mit einer unerbittlihen inneren Logik gefteigerten Anfprüche, die den firdy- 
lihen Rahmen bald überidritten und den Bapft zum LXehnöherrn des Kaijers 
erhoben, haben dem ganzen Mittelalter dad Gepräge eines Kampfes zwifchen 
Staat und Kirche gegeben, aus dem die Kirche, nicht ohne eigene Wunden, als 
Siegerin hervorgegangen. Niemal3 ift die Machtfülle ihres Dberhauptes aus- 
jhweifender verfündigt worden ald am Ausgang des Mittelalter. Doc wäre 
e8 faljch, wollte man biefe Beriode nur unter dieſem Geſichtspunkt des Kampfes 
anſehen: in Wirklichfeit ift damals zwijchen Kirhe und Staat oder ZBolf Die 
engite Verbindung vorhanden gewefen. Niemal3 war Staat und Gejellichaft, daß 
ganze Kultur», Geiltes- und BolfZleben fo verfirhlicht, wie in jener einheitlichiten 
Epoche unferer Geihichte, um deretwillen fie vielen al8 die eigentlich Llaffiiche 
tirchliche Zeit erjcheint. 

Die Reformation madıte diefer Ede, in der die Kirche tonangebend war⸗ 
in den evangeliihen Ländern ein Ende. Luther Hat eine neue Verbindung 
zwifhen Staat und Kirche begründet. Bezeichnend ift für ihn, der garnidt 
willen8 war, eine neue Slirhe aufzuridten, die verhältnismäßig geringe Ein- 
fhägung, die er den Dingen der äußeren fichtbaren Stirche, der Firhlichen Organi- 
fation, Hat zuteil werden laflen. Das find für ihn, aumal in feiner Blütezeit, 
ragen zweiter Ordnung, denen er mit einer falt findlihen Unbefümmertdeit 
begegnen fann. Bezeichnend ift weiter die hohe Schäßung ded Staates, die ihm 
eigen ift, wobei natürli nicht an den Staat in unferm Sinne zu denten ift, 
fondern au die Obrigkeit ald einen der drei alten Stände, die den Slörper de8 
Hriftlicden Volle augmaden. Sn paulinifhern Bahnen Hat er den göttlichen 
Beruf und daß eigene Recht der Obrigkeit fiarf betont, den „Stand der lieben 
Obrigkeit gerettet“. Er bat denn auch beide, Kirche und Staat, miteinander in 
Berbindung gebracht, ald er die Notiwendigfeit einjah, die Sache des Evangeliums 
durh eine neue firdlide Ordiung zu fihern. Die einzige Madjt, die fi ihm 
dafür darbot, war die der evangelilchen Sache geneigte landesfürftliche Staat$- 
gewalt, und unbedenklich hat er He jür diefen Schugdienft de3 Evargeliung in 
Anipruch genommen. So jind die lutherifchen Landegfirchen in Deutichland ent- 
fanden, in denen wieder eine enge Verbindung zwilhen Staat und Stirche vor- 
handen ijt, aber fo, daß der Staat das Heft ganz in der Hand Hat. Er regiert 
die Stirche, meilten® Durch bejondere Behörden, Stonjilterien genannt, die ganz ihm 
angehören, aud wenn natürlih Geiltlihe darin find. Aus dem anfänglichen 
Notbehelf, den Quther noch empfunden hut, ward bald eine Tugend gemadit; e8 
fehlte nit an Theorien zu feiner Redtfertigung. Der Landesherr ward als 
summus episcopus ausgegeben, auf Den die tirchliche Gewalt übergegangen, der 
befannte Sag: cujus regio, ejus religio gab den Religiongftand der Untertanen 
in feine Sand. Dan wird fi doh vor einem zu fchnellen Urteil über diefe 
Entwidlung hüten müfen. Schwerlich blieb damals etwas anderes übrig, wenn 
überhaupt eine neue firhlihe Ordnung fich Feitigen follte. Auch beweift die 
Geſchichte, daß diefe alten Tutheriihen Lantdestirhen in politiih und moralifch 
Ihiwer gefährdeten Zeiten als VBollgerzicher Tüchtiges geleiftet Haben. zreilich, 
je mehr e3 auif den fürftlihen Abfolutismus Hinausging, defto unangenehmer tritt 
au in der Krche ein ferviler Geift zu Tage, der fie oft alg würdelofe Dienerin 
fürftliher Zaune ericheinen läßt. 

Mit der den firhlidden Gebilden eigenen Zähigkeit haben ich die lutherifchen 
LZandeztirdden in ihren Grundzügen durch allen Wechjel der Seiten biß heute er- 
balten. Sie find noch immer Staatsfirhen: vom Gtaate regiert, der die Mit 
‚glieder der Firchlichen Berwaltungsbehörden ernennt, und von ihm, nachdem er 
fih freilih reihlih an früherem Stirchengut jchadlo8 gehalten, aud) peluniär 
jubventioniert (in Preußen für die gelamten evangelifhen Landestirchen jährlich 


g* 


36 Trennung von Kirde und Staat + 











etwa 3O Millionen Darf). Der Staat erfennt die Kirche al8 eine Gemeinihaft 
öffentliben NRechte8 an und fhügt fie darin durch Gefege zugunften der fird- 
lihen Seiertage und des Gottesdienftes; er fordert den religiöjfen Eid. Für feine 
‚ Beranftaltungen, 3. B. da8 Heer oder die Gefängniffe nimmt er den Dienft der 
Kirche in Anfprud, er läßt in feinen Schulen dhriftlich- fonfefiionellen Neligiong- 
unterricht erteilen. Selbjt da8 NRedht de summus episcopus war keineswegs 
objolet geworden. So war der Stand biß zur Revolution; e8 war im Grunde 
noch die alte Randesfirche. 

Natürlid) aber, wenn fo au die äußere Yorm fi) erhalten Hatte, war an: 
den Anichauungen der Wandel der Seiten nicht fpurlo8 vorübergegangen. Hier 
ift namentlid die Aufflärung von Einfluß gewefen, die im Geiltesleben erit die: 
eigentlihe Wende vom Mittelalter zur Neuzeit bedeutet. Gemwandelt bat fich die 
Unihauung vom Staat; e8 bildete fich der paritätiihe Staatabegriff, der fich 
gegen Religion und Konfeſſion neutral fühlt, da8 mußte jened Geparatverhältnis- 
des Staated zu einer Stonfeflion erjchüttern. ferner entwidelte fid) der Obrigfeit3- 
und Bolizeiftaat mehr und mehr zum modernen Sulturftaat, der in mwachiendem 
Maße viele biß8 dahin von der Kirche gepfligten Stulturaufgaben fich zueignete 
und Damit da8 Bebiet der Kirche immer mehr einengte. Das ift ein Proseß, 
defien lekte Etappen nod die Heutigen erlebt haben: man denfe an bie Gelege 
über Beurkundung des Berfonenitandes und ftaatlihe Ehefchlietung. oder an die 
völlige Berftaatlihung der Volksihule. Der Staat, immer mehr feiner aller um- 
fallenden Aufgabe und aller in ihm fchlummernden geiltigen und fittlichen Kräfte 
bewußt geworden, fchien die Kirche immer weniger zu bedürfen. Andererfeit3- 
wandelte fih auch die Boritelung von der Kirhe. Nah der Erichlaffung im 
Rationaligmug bradte das 19. Jahrhundert eine Erjtarfung des kirdhlichen Bewußt- 
feing, die fi in der Forderung der Selbfiverwaltung der Kirche äußerte. Es 
war die Zeit, wo in den Sirchen, zum Teil unter reformiertem Einfluß und nad 
dem Borgang im ftaatlihen und fommunalen Leben, fi) die Synodalverfafjungen 
bildeten, — aud) diefe nicht ohne ftaatlihe Bevormundung, aber doch fo, daß. 
jest wirflih eine gefeßgebende Vertretung der Stirche erreicht ward, die aus ihr 
felbft hervorgegangen war. So ward ein fonftitutioneller, parlamen.tarifcher Yaltor 
in die Kirche eingeführt, wenn auch die Führung beim Staate verblieb. 

So zeigt die Geihichte da8 Verhältnis zwifchen Sfaat und Fire in 
mannigfadhen Wandlungen, immer aber, trog aller zeitweiligen Spannung und. 
Entfremdung fo, daß eine Verbindung vorhanden ift, ein gegenfeitige8 Auf- 
einanderwirfen, Boneinanderempfangen. Wer Hat aus diefer Berbindung den 
größeren Gewinn gezogen? Ohne den Vorteil zu verfennen, den aud) die Kirche 

avon gehabt hat, wird man dod) jagen müiljen: zweifelloß der Staat. Mit dem 
reichiten geihichtlihen Material Tiege fi} ermeilen, wie auf allen Gebieten der: 
Kultur, die heute der Staat als fein eigen anliebt, ihm durch viele Sahrhunderte 
bi auf diefen Zag von der Kirche und ihrer Arbeit die mannigfachite Anregung 
und Förderung zuteil geworden ift: in der Schule, in Kunft und Ritfenfchaft, 
erjt recht in der fozialen Rettung3- und Liebesarbeit. Während langer Beitipannen 
ift auf al diefen Gebieten die Kirche die eigentlihe Pflegerin gemwejen, aber aud) 
nahdem der Staat in ihre Arbeit eingetreten, bat ihr Einfluß nicht aufgehört. 
Er zeigt fih um fo ftärfer, je mehr e& fi) um Aufgaben handelt, für die e8 auf 
Geift und Gefinnung anfommt, auf die fittlich-religiöie Qualität derer, die fie 
angreifen. Das gilt 3. B. von der Liebestätigfeit im befonderen Maße. Smmer 
it e8 bier fo geweien, daß Männer vorangingen, die von der Stirhe fanıen, mit 
einem Auge, erleuchtet, die Not zu fehen, mit einem Herzen, brennend in barm- 
berziger Liebe. Niemal8 wird der Staat mit feinen Mitteln die unvergleichlichen 
Motive erjegen können, die der Kirche zur Verfügung ftehen und die für diefe 
Arbeit ganz unentbehrlid) find. Man muß aber nody mehr fagen. Die Klirde 
bat nicht nur durch ihre mehr indirekten fulturellen oder fozialen Wirkungen dem. 
Staat gedient: auch ihre eigentliche, innerfte Arbeit ift im höditen Muße ftaai?- 
erbaltend. Sie tft die große Anftalt zur Pflege der Gefinnung in ihrem innerftew 


- Trennung von Kirche und Staat 87 








Kern, mit den Mitteln der Religion und der auß ihr ermachienen Moral. Der 
Staat ift aber an diejer Gelinnung feiner Glieder aufs ftärfjte interejfiert. Er 
definder fid) in der eigentümlichen Lage, daß ihm in diefer Hinficht die Autarkie, 
die Selbitgenügfamfeit abgeht: er fann jene Gefinnung für fein eigened Beftehen 
nicht entbehren und fie doc) von fi auß nit erzeugen, — jedenfall fehlt ihm 
mit der Religion dafür da8 mwirkjamfte Mittel. Der Staat bedarf — niemal$ 
jahen wir die8 deutliher, ald gegenwärtig —, um nicht zufammenzufallen, der 
anerfannten, innerlich bejabten Autorität, Ohne Scheu vor der höchften Autorität 
aber, die die Religion in die Herzen pflanzt, wird fi) auf die Dauer aud) die 
vor der menrfchlichen nicht behaupien. Er bedarf für die Gültigkeit feiner Gefege 
der ethilchen Gefinnung derer, für die fie beftimmt find, fonft bleiben die beften 
ohne Wirfung und aud der Zwang verfagt. Nun mag man einmenden, daß 
aud dem Staat ethiihe Mittel zur Verfügung ftehen; fo Hat da8 moderne Frank⸗ 
reih religiongelojen Moraliunterriht in- jeinen Schulen eingeführt. Wir wollen 
diefen ethiichen Motiven nicht alle Wirkung abiprechen, aber fchwerlich wird, wer 
die Dinge fennt, leugnen können, daß, zumal für die Beeinfluffung der Jugend, 
die religiöfe, die chriftlihe Moral ungleich günftiger geftellt ift, al jolcher fünftlich 
gemachter abitrafter Moraligmud. Der Staat hätte im eigenften Snterefje allen 
&rund, diefe Gefinnungspflege auf alle Weife zu fördern. 

Das find ZTatbeftände, an die zu erinnern nur in der Verwirrung biefer 
Zeit nötig erfcheint, die und mit Experimenten beglüdt, die die ganzen fittlid- 
religiöfen Grundlagen unferer Kultur bedrohen. Kommt man nun von diejem 
geihichtlien Rüdblid "zu der Lofung von Heute: Zrennung von Slirhe und 
Staat, fo ergibt fi) unmittelbar, in welddem Sinne man ihr nicht zuftimmen 
kann. Nicht in dem, daß die beiden fünftighin beziehungslo8 nebeneinander- 
un folten, al& gingen fie fi nicht8 mehr an. . Sol dad Programm dazu 

ienen, die Kirche ihrer äußeren Gubjiiftenzmittel au berauben, ihre öffentliche 
Nolle im Bolfeleben, ihre Bi deutung für da8 VBolfdganze unmöglid) zu machen, 
fo hieße das die Vergangenheit verleugnen und die Zukunft der deutfchen Ge- 
Ihichte aufs ernftifte gefährden. Hier gilt da8 Wort: Was Gott zufammengefügt 
hat. da8 fol der Menjch nicht jcheiden. In Wirklichkeit fan er e8 aud) gar 
nit. Hier, wie oft, wird mit der bloßen Proflamierung der Grenziperre menig 
genügt, die Wirflichfeit der Dinge und da8 unabweisliche Bedürfnis der Menjchen 
fegt ch darüber Hinweg. Staat und Slirche werden auch meiter aufeinander an- 
gemiejen fein, und wenn fie fünftig getrennt marfchieren, hoffentlid um fo jicherer 
vereint fchlagen, wo ed darauf antommt für fie beide. Solde gemeinfame 
Schladhtfelder wird e8 auch fünftig genug geben. Die Kirche Hat alfo allen 
Grıumd zu fordern, daß die bevorfiehende Auseinanderfegung in aller Billigfeit 
geichehe. E3 darf eine nachfolgende Bertrauens- und Arbeit3gemeinichaft dDadurd) 
nit unmöglich) gemadjt werden. 

Dder — die Erwägung kann bier nicht übergangen werden — ift e8 viel- 
leicht da8 Schidjal der evangelifchen Kirche, an ihrem eigenen allmähliden Abbau 
zu arbeiten? Liegt ed, wie mande behauptet Baben, im Welen ded Proteftantid- 
mus, daß er nur die perjönliche Srömmigfeit de3 einzelnen im Auge bat, ihm 
aber feine firchenbildende Kraft innewohnt? Und märe alfo dody da8 Ziel der 
Entwidlung, auf da3 ed nun nad) dem Yortfall der ftaatliden Stüße rajcher los⸗ 
gehen mird, richtig in dem fozialdemolratifchen PBrogrammı bezeichnet, wenn es 
die Religion nur ald Privatiache gelten laflen will, nicht mehr al3 öffentliche 
Angelegenheit? Die unveräußerlihe Wahrheit darf nicht verfannt werden, die in 
jenem Sage liegt, der feine proteftantifche Herkunft nicht verleugnet. Ya Religion, 
Shriftentum, evangeliiched Chriltentum ift allerdings in allererfter Linie ‘Brivat- 
fahe, Herzensiahe. Wenn e8 da3 nicht ift, ift eg nur Schale ohne Kern, Form 
ohne Snhalt. Wie ftark pulfiert Died Gefühl bei Luther, deilen ganzes Werk die 
Entbindung bes religiöjen Individyalismugß bedeutet. Dieje Linie aber geht durch 
den ganzen Proteftantismug. 3 fei nur an den größten evangeliihen Theologen 
im 19. Sahrdundert, Schleiermacher, erinnert: wie jtarf betont er in feinen „Reden 


38 Trennung von Kirhe und Staat 


über Religion an die Gebildeten unter ihren Berädhtern“ den Privaidharafter 
aller echten Gotteßverehrung und bringt fie zum Slirdentum in außgelprodenen 
Begenfag. Und wir wilfen alle: e3 gibt Kirhentum genug, da8 von aller Religion 
verlaffen ift, und wiederum echte Religiofität, die nicht firhlich geformt ift. Den- 
nod ift diefe Auffafiung durhaus einfeitige In Wirklichkeit gehören, troß aller 
Spannungen, Kirche und Religion in erfter Linie zufammen. Die Religion, aud) 
die private, fan die Kirche nidyt enibehren, wenn fie fich felbft behaupten will. 
Man denfe fich daß äußere Kirchentum, Sotteshäufer, Sattesdienfte, Prediger ufw., 
alle öffenılihe Darftelung de Chrijtentumß entfernt, jo würden damit aud) der 
privaten Religion wichtigfte Quellen abgefchnitten fein. Sie würde, wenn nicht 
ganz verfiegen, mindeftens jehr abnehmen und dabei jehr einfeitig werden. Dann 
aber jteht e3 garnicht fo, ald wäre die Aeligion nur Privatjadhe. Sie iſt dies 
querft und im Kern, aber fie ift e8 nicht allein. Sie ift aud) Gemeinſchaftsſache, 
öffentliche Angelegenheit, Kirche. Sein Menjchheitstrieb Hat folche gemeinfchafts- 
bildende Straft, wie der religiöfe.. Bon Anfang an ift da8 Ehriftentum in der 
Welt ald Kirche aufgetreten, hat nur in diefem Leibe gewohnt und wird e8 aud 
in Zufunft tun. Nach evangeliiher Auffafiung bat awar nicht irgendeine äußere 
orm, wohl aber die Kirche felbit al8 Tempel de3 Geiltes Gotted für eine göttliche 

tiftung zu gelten. Man fann die Kunft oder Willenfhaft zum Vergleich Heran- 
iehen. Auch das find zunädft private Angelegenheiten der einzelnen, aber aud 
ffentlide der Gefamtbeit, fo daß e8 eine öffentlide Kunft- und Wiflenichaft?- 
pflege und öffentlihe Anftalten dafür geben muß. Bon der Religion gilt das 
nur in vermehriem Maß. 

Kirhe alfo muß bleiben. Aus der geihictlihen Betrachtung folgt aber 
weiter, in welchem Sinne man dem Zrennungsdgedanten zuftimmen muß: in dem, 
daB die Kirche au der Abhängigkeit vom GStaate entlaffen wird und ihre Ange— 
legenheiten jelbitändig ordnet. Darin entipricht da8 fozialiftiiche Programm durd)- 
aus dem firchlichen Anterefle. Kirche und Staat find ihrer Eigenart fo ftarf 
bewußt und mädtig geworden, daß e8 nicht mehr angeht, daß der eine Teil von 
dem andern regiert wird. Die Schäden des Staatsfirchentumsd waren fon bißher 
nicht verborgen. Die Unjelbftändigfeit hatte Unlebendigfeit im Gefolge. Immer 
ift e8 ja jo, daß Selbitändigfeit für einen lebendigen Organi8mus die wichtigfte 
Borauslegung voller Zebensentfaltung ift. Die Abhängigkeit vom Staat hat der 
evangeliichen Kirche auch ein Hohes Maß von Unpopularität eingebradt. Gie 
ward ald Dienerin der Regierung und der Belitenden, die Geiftlichfeit al3 jchwarze 
Bolizei verdächtigt. So viel Mbertreibung und Vorurteil dabei war, braudht man 
dod) nur 3. B. an die Behandlung zu denfen, die feinerzeit den fog. „Tozialen 
Bajtoren” zuteil ward, um zu erfennen: ed war etwas daran. Für eine StaatB- 
firche wird e8 immer fchwer halten, jo wie e8 ihr göttlider Beruf ift, da8 Gewiflen 
für den Staat zu fein, von dem fie abhängt. Waren nun diefe Abelftände fchon 
bisher vorhanden, wo e8 fich um eine StaatSregierung handelte, die fich ftart in 
den Bahnen der firhlidden Tradition hielt, — wie follte e8 fünftig werden? &3 
tft ganz unmöglich, daß ein interfonfefiionelle8 Parlament, zu dem auch viel Suden 
und Dilfidenten gehören, der evangeliihen Kirche ihre Regierung beitellen follte. 
Vad für Männer würde da ein vielleicht diffidentiih gefinntes Minifterium 
berufen, wa8 für Eingriffe wären zu erwarten! &8 ift ein Gewinn, daß die Ent- 
widlung der Dinge über die Unmöglichkeit weiterer Staat3abhängigfeit volle Klar- 
beit geihaffen hat. Die Kirche muß felbitändig werden und fi) durd) ihre eigenen 
Organe verivalten. Tas können nur die Synoden fein, die nad) dem Wegfall 
de8 Iande£herrlichen Kirchenregiment3 al$ die Inhaber der Kirchengewalt zu gelten 
haben. Wie nun diefe die Dinge ordnen werben, fteht hier nidht in Frage. Nur 
ift foviel fiher, daß fie fih feldft für ihre neue Nolle auf eine viel breitere und. 
populärere Bafi8 werden ftellen müffen, al8 fie fie bisher Hatten. Sie müflen, 
aweifello8 aud) durdy ein gleiche8, allgemeines und direftes Stimmredjt für Männer 
und Tzrauen, wirkliche Vertretung der Gemeinden werden, al in welden bie 
evangeliihe Kirche ihr eigentliche Leben Iebt. Nur von unten ber, von ber 


u ra gen er) nn a 


Trennung von Kirche und Staat .89 


— — — — — | rn 








Gemeinde, fann der Zufunftsbau der Kirche aufgeführt werden. €3 ift nicht zu 
erwarten, daß ber Mbergang in die fynodale Gelbitverwaltung der evangeliichen 
Kirche ganz leicht werden wird, die das Negieriwerden doc mehr gewöhnt war. 
Aber aud) Bier wird die Notwendigkeit bald die Fähigkeit Ihaffen.. Was in fo 
viel andern Ländern, England, Amerifa, Schweiz, Norwegen, bereit3 feit langenı 
erreicht ift, wird im Stammiland der Reformation feine Unmöglichkeit fein. 

Für diefe felbftändige Kirche aber ift die Zorm der Bollö-, nicht der Zrei- 
firche feftzuhalten. Unter greifirhe wird bier nid;t eine ftaat3freie Kirche ver- 
ftanden, fondern eine folche, in die man nicht hineingeboren wird, fondern — in 
ber erften Generation jedenfall® — durd) außdrüdliche Willenserklärung eintritt. ©o 
baben fidh jeinerzeit die Altlutheraner in Preußen als Freitirche organifiert. Auch 
jekt ift vorgeichlagen worden, e8 follten durd) Sammlung von Beitriitöerflärungen 
die Kirchentreuen in den ®emeinden zufammengebradit werden, die dann den 
Kern der zufünftigen Gemeinden bilden würden. Blieben dann aud) viele Gleich- 

ültige zurüd, fo wäre damit die Kirhe nur von einem. längft empfundenen 
emmenben Ballaft befreit; eine Fleine lebendige Gemeinde würde in viel höherem 
Maße ein Salz und ein Licht fein können, al8 eine größere unlebendige. Trotz 
des Borbilde8 ber amerikanifhen Sreilirchen, auf da8 man fi gern beruft, 
beftehen gegen die freifirchlihe Form doc ernfte Bedenfen. Man kann die 
amerifanifähen Berhältniffe, die völlig anders liegen, nicht einfach auf die unjeren 
anwenden; die freitirhlihen Berfuhe in Deutichland loden nicht zur Nachfolge, 
fie haben fid) al8 wenig lebenzfähig ermwiefen und faum ihren uriprüngliden 
Beitand behauptet. Auch wohnt der Be eine ftarfe Tendenz zur Spaltung 
inne. Berliefe die Entwidlung in diejer Richtung, fo ift nicht anzunehmen, daß 
die bisherige Zandesfirde in eine einheitlihe Freitirhe übergehen mwürde, es 
würden verichiedene Bildungen Bervortreten, mindeflens vorausfichtlid) zwei, eine 
pofitive und eine liberale, worauf fchon mande Hinauswollen. Daß eine foldhe 
erflüftung der Kirche für ihre Sache und deren Vertretung im Bolf wirklich ein 

ewinn wäre, ift fhwer zu glauben. Auch würden die Schaitenfeiten der Srei- 
firhe, die da8 amerifanifhe Vorbild nicht verbirgt, 3. B. dad Übergewidt der 
Begüterten, die Abhängigkeit der Geiftlichen und ähnliches auch bei und fi 
zeigen, und ob die Einwirfung auf die Außenftehenden fo viel größer fein würde, 
it fraglid; Freifirchen pflegen gerade jehr erflujiv zu fein. 

Wir glauben alfo, daß, jo lang e8 geht, da& Prinzip der Bolfätirche feit- 
äubalten fei, d. 5. die vorhandenenen Gemeinden find zu Grunde zu legen, ohne 
ausdrüdlich geforderte BeitrittSerflärung de3 einzelnen. Nur der Auztritt müßte, 
wie bißher, dDurc) Anzeige geihehen; der Modu3 dafür wird allerdings vereinfacht 
werben müffen. &8 ift anzunehmen, daß fo auch die SFernerftehenden in erheblich 
be Zahl im Verband ber Kirche verbleiben werden. Denn ed wird mandıer, 

er e3 nicht zu einer ausdrüdlichen Beitritt3erflärung bringt, Doch aud) den Aus- 
tritt: nicht erllären. Man fage nicht. daB dann nur durch da3 Gejeg der Zräg- 
beit ein lediglich papierner Gewinn für die Kirche erreicht werde. Gewik bedeutet 
aud dies etwas in pefuniärer Hinficht, aber da8 Band, daß die TSerneritehenden 
mit der Kirche verbindet, Hat doch auch inneren Wert für beide Zeile und gibt 
der Kirche Wirkungsmöglichfeiten, die fie ihrerfeitS nicht aufgeben follte. Können 
nit auch in diejen Seifen Ummandlungen eintreten, wenn vieleicht für daß 
ganze Geiftesleben nach dem materialiftifh-moniftifhen Seitalter ein anders ge- 
ftimmtes anbrähe? Aedenfall® wäre das künftige Auseinanderfallen des Boltes 
in eine hriftlihe und eine bewußt entchriftlichte Hälfte, die dann nur al? ein 
neues Heidentum angejehen werden fönnte, von großer und bedenfliher Zrag- 
weite. Unjere Geiftestultur würde nod zerrijiener, alS fie e8 fchon ift, wenn 
ein großer Zeil des Bolfes garnicht mehr vom Strome de3 Ehrijtentumg erreicht 
würde. Wir denken dabei befonder audh an die Sugend. Wir wünichen, daß 
ihr in den Staatsfchulen auch fünftig chriftlider Religionzunterricht zuteil werde, 
dag nicht ein Geichledht heranmwadıle, dad mit einem jo eminent bedeutungdvollen 
Zeil unjerer überlieferten nationalen Bildung, wie da8 Ebriftentum es ift, feine 


40 Die Auflöfung Oefterreihslingarns und „Mittelenropa“ 


innere Berührung mehr bat. Das würde eine fhlimme Unbildung, ja eine neue 
Barbarei jchaffen. Offenbar aber ift die Forderung allgemeinen BoltSreligiong- 
unterriht3 nur von einer VBollSfirdhe aufrecht zu erhalten. Yür diefe alfo follte 
die Kirche fich einjegen. Ob fie diefeß Ziel erreicht, Tiegt freilih nicht an ihr 
allein. Möglih wäre, da& der Staat von fi) auß eine freifirhlihe Ordnung 
forderte, möglih aud), daß die AustrittSbermegung einen fo großen Umfang an- 
nimmt, daß die Kirche tatfächlih nur noch einen Ausfchnitt au8 der Bevölkerung 
ausmadht. Prophezeien ift mißlih und und nah den Erfahrungen diefer Zeit 
anz vergangen. Aber die Kirche, die auf diefe Möglichkeiten gerüftet fein fol, 
Bat feinen Grund, fie von fi auß berbeizuführen. 

Wir glauben einftweilen no an die Zukunft der evangeliihen Kirche als 
einer Bolf3firche, und wir Hoffen, daß fie mit dem Gewinn völliger Selbftändig- 
feit diefe Rolle nicht Schlechter, fondern befier als bißher erfüllen wird. Sie wird 
dann um fo rüdhaltlofer und unbedenklicher fi neben dein Staat den Aufgaben 
des Bolt3lebeng widmen können, weil fie dann über den Berdadt Hinauß ift. als 
Bandle fie im Auftrage des Staated. Gie wird um fo völliger ihres göttlichen 
Berufed leben fünnen, den fie al8 Gewifjen des Volfed, ald Lehrerin, Dahnerin, 
Zröfterin auszurichten Hat. Se fchmwerer die Zeiten find und fein werden, dur 
die unfer Bolt Hindurdhgehen muß, defto unentbebrlidher wird ihm diefer Dienft 
feiner Slirdhe fein, wenn e8 feine Seele bewahren und ungebrochen aus der furdt- 
baren gegenwärtigen Tiefe wieder zur Höhe kommen fol. - - 









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4 


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Die Auflöfung Öfterreich-Ungarns und 
„Mitteleuropa“ 


Don Prof. Dr. Robert Sieger 


— N) ie immer die nächte Zukunft fich geftalten möge, die Ofterreichiich- 
u ya Ungariihde Deonardie wird au? den Lehrbücdern der Geographie 
=. verfhwinden. Dad Nativnalitätenprinzip hat bier über tarfe ge- 

\ 2 u ichichtlihe und geographifche Gegebenheiten gefiegt. Stanrı der Ein- 
7 Hug der geographifhen Gemeinfamfeit in Rage, Ausftattung und 
B gegenieitiger Ergänzung, der die Länder der „verfehrögeographifchen 
Südoftabdahhung Mitteleuropad“ immer mieder aufammenführte, dauernd auß- 
geichmliet bleiben? Wird der Selbftändigfeitsdrang und die gegenfeitige Abkehr 
Heiner Bölfer, wird die Anziehung der Nationalftaatsidee auf bisher getrennt 
geweiene Bolfdteile ftarf genug fein, um die trennende Sraft von ®ebiradfämmen 
und Engpäflen, die verbindende von Gebirgsumrahmungen und VBölferpforten auf 
lange binaus zu überwinden? Das ift ein großes geihichtlihed Problem, deflen 
nädhlte Xöfungdformen — unter der Ebbe und Flut groß- und Hleinräumiger 
Zendenzen der Weltgeihichle, im Gegenfag und Wechfel von Abfonderungs- und 
Bölferbundideen — nicht leicht und nicht fampflo8 gefunden werden dürften. Erft 
nad) mandem Hin- und Herfluten der einander befämpfenden Gedanfen, Emp- 
findungen und mwirtfhaftliden Bedürfniife dürfte fich wieder eitte Dauerform ent- 
wideln, wie da8 alte Diterreich biß 1867, dem Anfangsjahr feiner Zerfpfitterung, 
e8 gemejen ilt. Wie fie ausjehen wird, wagt wohl niemand zu prophezeien. 
Aber die Entwidlungsrichtung des Verkehrs auf der einen Seite, die wirtichaft- 
lihen Beziehungen und die völfiihen Beftrebungen der Nationen auf der anderen, 
zeigen Doc) gemwilje Leitlinien, an die fih aud in trüber Zeit beicheidene Sof 
nungen Tmüpfen laflen. Bene mwieß vor dem Srieg auf bie fchrittweife Ber- 





Die Auflöfung OBefterreihelingarns und „itteleuropa” 41 





größerung ber politiihen Bildungen und vor allem ber Verfehrägebiete Bin, durch 
welche die vielgebraudten Worte „Weltverfehr" und „Weltwirtfchaft”" zu den 
Wirklichkeiten zu erwachſen veriprachen. für die man fie vielfach fchon anfah. 
Nah der Mberwindung de in der Kriegszeit aufgeftachelten Völkerhaſſes wird 
diele Rihtung fh wieder mit zunehmender Stärfe geltend maden. Dagegen 
zielen die völkiihen Abneigungen und Sonderbefirebungen auf wirtidaftliden 
und politifchen Abichluß, auf Gegenwehr gegen die verbindenden Einflüife des 
verfehrstechniihen Fortichrittes, auf Zollabihluß und Verkehrseinſchränkungen 
bin. Shnen wirft wieder dad geographifch begründete Austaujchbedürfnig ent- 
gegen und jo wird vielleicht in kurzem, bei nod ftärferer Betonung der politischen 
Abfonderung, eine immer weitergehende wirtichaftliche Annäherung erfolgen. Wirt- 
Ihaftsbündniffe und Zollgemeinichaften, die daraus hervorgehen dürften, müffen 
aber auch politifch verbindend wirfen. So fcheint man auf: den Weg zum Welt- 
völferbund, zu der weltwirtichaftlihen Bemeinfchaft politifch freier und ihre volle 
Unabhängrgfeit ftolz betonender, aber friedlier Volt3itaaten zu fommen, die fi - 
um des Berfehrd willen fchiedlichen Ordnungen unterwerfen. Die Spdeologen, 
die dur den Ausgang des Krieges und die alle Völker ergreifende Kriegsicheu 
ihre Hoffnungen verwirklicht glauben, meinen wohl, riedensverhandlungen oder 
Diktat der Steger vermöge diejen Weltbund mit einem Sclage zu Ichaffen. Sch 
erwarte Dies nicht, der Zorm nad mag er ind Leben treten, aber feine Künftlidh- 
feit ebenfomohl wie die ungleihe Entwidlung, die verfchiedenen Bedürfnilfe und 
die ungleiche wirtichaftliche Ausrüftung der Völker, die zu gegenläglichen In- 
tereffen führen, bedrohen feine Dauer. Ih Halte e8 überhaupt nıcdht fur möglich, 
daß die verjchiedenen Wirtichafttgebiete der Erde insgefamt und gleichzeitig zu 
einem großen Verband fi zulammenfhließen oder ihn aufrecht erhalten können, 
ehe dieje Ungleichartigfeit überwunden ift. Mberwunden werden aber fann fie 
nur inmitten tleinerer, geographiich zufammengehöriger und fih ergängender 
Gebiete. Wird in folhen Staatengruppen die Notwendigkeit empfunden, fi zu 
geichloffenen und reichhaltigeren Wirtjchaftsgebieten mit flaren &renzen, die den 
Berfehr umjchränfen und Sicherheit gegen Angriffe verbürgen, zu vereinigen, fo 
ftelt fich auch die notwendigfte VBorausjegung für einen halıbaren Bölferbund als 
Solge der gemeiniamen gneographiihen Zage und Umgrenzung ein. Ich meine 
die gegenleitige Rüdiichtnahme, die aud) den fchwächeren, aber für das Ganze 
notwendigen: Teilnehmern Schuß und twirtichaftliche Förderung durch die übrigen 
gemwährleiftet. Diefe dienen damit ihrem eigenen Vorteil. Aber fie vermögen ihn 
nur in eınem folden engeren Raum zu erfennen. In der weiten Welt ijt zuviel 
Konkurrenz und zu vieljeitiger Wettbewerb, als daß in ihr jeder Schwade den 
naturgegebenen Schüger jo finden fönnte, wie innerhalb eined Wirtjchaftäreicheg, 
das ald Ganzes mit den andern fonfurrieren muß. 


Die aus folhen Erwägungen abgeleitete alte Anficht, daß der Weg zu 
voller „gerechter“ weltwirticaftlicher Arbeitsteilung und aum friedlidy-[chiedlichen 
MWeltvölterbund — wenn ed überhaupt einen folden Weg gibt — durch das 
Zwiſchenſtadium großer Wirtichaftöreiche führen muß, ift durch den Strieg nicht 
widerlegt worden. Sie wird audh nit durch eine Fünftliche Weltbundichöpfung 
widerlegt werden. Denn in diejfer mügten die Heinen Nationalitaaten einander 
mit einer Yeindfeligfeit gegenüberstehen, die durch ihre friihen friegeriichen Er- 
innerungen und durh die Gewaltjainfeiten in ihrer Abgrenzung (die ihnen ja 
bon außenher auferlegt wird) verfchärft ift; den größeren Mächten gegenüber, 
welhe den Bund und feine Gerichtebarfeit beherrfhen würden, wären fie alle- 
famt Hilflosg. Aus einem folhen Welifiaatenbund müßten fi etwa die Gruppen 
wieder durh Zurüdbildung geftalten, die vor dem Strieg beftanden oder doc in 
Bildung begriffen waren und die fih auf natürlihen Grundlagen aufbauen. 
Solhe waren befannilih da8 Britifhe, dad ruliiihe Neih, die Bereinigten 
Staaten und da3 erit im Entflehen begriffene oftafiatiihe Wirtichaftgreih. Ihr 
naturgemäßed Gegenltüd, dag die Länder der europäilhen Halbinjel, wohl 
mit Einihluß der ftandinavifchen, darftellen würden, war nod nicht au$- 


49 Die Aufldfung Oefterreih«lingarns und „Mitteleuropa“ 





— m 


ebildet. Die erträumten „Vereinigten Staaten von Europa“, au denen Eng- 
ande Snjelreih nicht gehören fönnte, waren noch nicht einmal ein Wirtichaft3- 
bund und felbit ihre naturgemäße Borftufe „Mitteleuropa“ erft erftrebt. Auf 
defien Boden Hatte fih neben dem großen Deutihen Neid) und mehreren 
kleinen Wirtſchaftsgebieten der Völkerſtaat Ofterreidh-Ungarn entwidelt als eine 
Zufammenfaffung fleinerer NRatur- und Wirtichaftsgebiete mit weniger intenfivem 
Wirtichaftsleben zu einer auch wirtfchaftlich feitgeichloffenen Einheit, fomit al8 
eine Vorftufe für „Mitteleuropa*. Diefe Stufenfolge, die von der Donaumonardie 
und Deutichland als Sternen Mitteleuropas zu Liejem, von ihm als Stern weiter 
zu einem weiteuropäilch-feitläandishem Wirtihaftögebiet und noch weiter zu dem 
Beltwirtichaftreich zu weifen fchien, zu dem fich die großen Wirtfchaftsreiche nad 
der Audgeftaltung ihrer inneren Harınonie erft verbinden fönnen, Dieje Stufen- 
folge beweift, wie wenig die mitteleuropäifche Sdee einer Abfonderung dienen jollte. 
Im befonderen für Ofterreih-Ungarn hätte der Zufammenfdluß in Mitteleuropa 
au) die Feitigung jener inneren mirtichaftlichen Einheit bedeutet, die durch 
nationale und ftaatsrechtliche Beftrebungen bereit ftarf nelodert war. Nun Haben 
diefe zur Berjplitierung geführt, die auch der Weltvölferbund, wenn e8 zu diejer 
Epifode fommen follte, nicht verfchieben, faum verfchleiern wird, die aber nidht 
von Dauer fein fann. Die Trage ift, ob aus ihr die gleiche Stufenfolge in der 
Zufammenfaffung Hervorgehen wird, die man vor dem Srieg erwartete. Kann 
ein neues wirtfchaftlihes Ofterreidh-Ungarn als Borftufe eine Tünftigen Mittel» 
europa erftehen oder iſt es wahrſcheinlich, daß der wirtſchaftliche Zuſammen⸗ 
ſchluß — von dem politiſchen ſei hier nicht die Rede — auf einem anderen Weg. 
erfolgen wird? 


Das alte Oſterreich war eine geographiſche Einheit, erwachſen um den 
mittleren Donaulauf aus der gemeinſamen Gebirgsumwallung und dem Zuſammen⸗ 
treffen der gemeinſam umſchloſſenen Länder im Raume von Wien, aus der vor—⸗ 
berrichenden Südoftrichtung feiner Gebirggmauern und feiner natürlihen Berfehrs- 
wege, aber aud) aus dem Übergreifen netürlider Berfehröwege und offener 
Mbergangelandichaften über die Wafferfcheide der Donau, jo daß id) den Boden 
der Monardie furzmeg al8 die „verfehrägeographiihe Südoftabdahung Mittel- 
europa8“ bezeichnet habe. Auch eine ftarfe gegenfeitige wirtfchaftliche und fulturelle 
Ergänzung beförderte den auß dem Bebürfnid gemeinfamer Verteidigung gegen 
den Often bin erwachlenen Zuſammenſchluß. Aber diefe entfernte fid) von wirf- 
licher „Autarfie”* umfjomehr, je rajcher Volf3zahl und Bedarf, au da8 Berlangen 
nad Komfort, ftieg, ohne daß die Produktion energifch genug geiteigert worden 
wäre. Die Abhängigkeit von den nordweftlich angrenzenden Induftriegebieten, 
bald auch) von den öftlih und füdöftlich gelegenen Agrarländern wurde aud in 
ihrer verbindenden Kraft umfo fühlbarer, ald die Monarchie felbjt nach der einen 
Geite ein agrariiches, nach der andern ein induftrielle8 Geficht zeigte. Man bat 
gern von ihrem JanuSfopf geifprohen. Da wäre aber nidyt gu fo vorberrichender 
- Ausprägung gefommen, wenn gewifle gemeinfame Züge nidyt über die Grenzen 
de3 engeren öjterreichiich-ungariihen Berfehrögebiete® Hinauß gewielen, eine 
werdende höhere Berfehreinheit bezeichnet hätten. Die Donaulinie felbft, die 
vorberrfchende Südoftrichtung, bie leichte Mberfchreitbarfeit der Waflerfcheide ver- 
müpfen jene8 ebenjo fehr mit der reichddeutihen Nordabdahhung Mitteleuropaß 
wie mit dem „weiteren“ oder „werdenden“ Mitteleuropa auf der Südofthalbinjel. 
Sn diefen Tatfahen de8 Verkehrd kommen die gemeinfamen Züge im Slima und in 
feinen olgeericheinungen, vor allem im Pflangzentleid und in der Yandwirtichaft, aber 
auch das Mbergreifen der Bölfer zur Geltung. Durch die Verbreitung des Deutid- 
tum8 fonnten die beiden mitteleuropäifchen Großmädhte einander den Rüden deden, 
die Gebirggummallung de& Habsburger Reiches hörte Bier auf, eine militäriich 

erichtete Außengrenze zu fein, fie wurde immer mehr eine innere Grenze, wie 
ke aud innerhalb des deutichen Bolfes nirgends als eine fühlbare Kultur- oder 
Dialektgrenze erfhien. Ziroler, Salzburger, Innviertler und Böhmermwäldler ftehen 
ben benachbarten Baiern eben fo nahe, wie die Egerländer den Yranken, die 


· — 


Die Auflöfung Oefterreih-Ungarns und „Hlitteleuropa“ 43. 





Norbböhmen, Norbmährer und öfterreihiihen Schlefier ihren ſächſiſchen und 
ſchlefiſchen Nachbarn. Eine ebenfolde Brüde nad) dem Südoften bildete das 
©Südflawentum und e8 ift da8 tragiihe Verhängnis der Monardie geworden, daß. 
man dieje Brüde nicht ausbauen wollte und fonnte, weil einerfeit3 das rufiophile 
Großierbentum, andererfeit8 Ungarn und der Dualigmuß eine Zulammenfaflung 
der Sugoflawen in der Monardie und eine für beide Teile befriedigende Ber- 
ftändigung zwilhen ihnen und den Deutſchen verhinderte. Aber nicht davon fol 
Bier die Rede fein; was ich Hier in Kürze hervorheben wollte, ift die Eingliederung. 
der ehemals öjterreichiich-ungarifchen, aber auch) der füdöftlich angrenzenden Gebiete 
in da8 größere Ganze Mitteleuropad.!) Die geographifhhe Xage von Wien mar 
ftarf nenug zu bewirfen, daß fich Hier, wie vor Jahrzehnten gejagt wurde, „um 
eine Stadt ein Staat gebildet Hat“. Aber ihre Anziehungskraft erftredt fih nicht 
über da8 Ganze Mitteleuropas; innerhalb diejes Gebietes finden fih auch andere 
mögliche Anfagpunfte für eine Großftaatbildung. So ift der Traum Stofjutds, 
Ungarn und Budapeft zum Mittelpunft eines füdofteuropäifchen Bundes oder 
Reiches erwachſen zu fehen, nur aus ethnographifchen Gründen, nicht aud geo- 
graphiihen unerfülbar geblieben. Und Böhmen Hätte — namentlih, wenn e3- 
nicht überwiegend tihehilh wäre — ebeniomohl die Zentralfefte eines mittel- 
europäilchen Reiches, wie eine Grenzfeitung Ofterreich8 werden fönnen. Prag alg 
Kefidenz deuticher Kaifer Hatte eine für dad alte Römifche Reich, aber auch) für 
die von einzelnen dieler Herricher erworbenen öftliden und füdöltlihen Länder: 
zenirale Lage und von dort aud Hätte fich wohl der politiihe Dualismud in der 
deutſchen Geſchichte, die Folge der zweifeitigen Abdachung Mitteleuropas, eher 
überwinden laſſen, als von Wien oder Berlin aus. Als eine Art Zentrum: 
Mitteleuropas kommt es gelegentlich bei Lagarde, Naumann u. a. zur Erwähnung.?) 
Das widerſpricht nicht der Tatſache, daß es für das engere Boͤhmen kein unbe— 
ſtritienes wirtſchaftliches Zentrum iſt. Wir wollen aber nicht geſchichtliche 
Phantaſiebilder an Stelle der Wirklichkeit ſetzen; Tatſachen, wie die verkehrs— 
eographiſche Ausſtaltung, insbeſondere das naturgemäße Bahnnetz der Gegenwart 

mpeln Berlin und Wien zu den Brennpunkten des weiteren Mitteleuropa, und 
ſolche Lagen verſchieben ſich langſam. Was unſere beiden Beiſpiele beſagen ſollten, 
ift nicht mehr und nicht weniger, als daß die kleineren geographiſchen Indivi— 
dualitäten innerhalb Mitteleuropas auch andere geographiſch lebensfähige Kombi— 
nationen eingehen können, als die hiſtoriſch gegebenen. Daß gerade dieſe beſonders 
naturgemäß waren, iſt allerdings meine Meinung. Aber die Tatſache, daß das 
eine Reich zerſchmettert, der Fortbeſtand des andern zur Zeit, da ich dies ſchreibe 
(Anfang November 1918), noch keineswegs geſichert iſt, lenkt unſeren Blick auf 
die kleineren natürlichen Provinzen. 

Dieſe aufzuzählen, namentlich ſoweit ſie auf dem Boden Deutſchlands und 
dem der Südoſthalbinſel liegen, würde zu weit führen. Einzelne. wie die Nieder— 
lande und die Schweiz find altunabhängige Kleinſtaaten; andere weniger aus— 
geſprochene dürften gruppenweiſe, leidlich geographiſchen Einheiten eniſprechend, 
aber nach nationalen Geſichtspunkten, ſich zu ſtaatlicher Einheit zuſammenſchließen, 
wie die ſüdſſlawiſchen Länder oder der deutſche DOltniarfenftaat.) Wieder andere 
müſſen entweder im Kampf mit dem nationalen Prinzip „natürliche“ Grenzen 
erzwingen oder in Nationalgebiete ohne ſolche zerfallen, wie gerade die aus— 


1) Vergl. darüber neuerlich Haſſingers Studie „Das geographiſche Weſen Mittel⸗ 
enropad”, Mitt. der ka k. geogr. Geſ. Wien 1917, 487 ff. 

2) Seitdem dies geſchrieben wurde, tritt der Unſpruch der Tſchechen deutlicher hervor, 
daß ihrem Reich auf Grund ſeiner Lage eine führende Stellung gebühre. 

° Die amtlihe Benennung „Deutichöfterreih” findet in der Bevölferung felbft immer 
mehr Wideritand. Sie Hätte in der Tat nur innerhalb eines Öiterreihiihen Staatenbundes 
sder Bundesitaates vollen Sinn; fie bietet aber den naturgemäßen Übergang zu dem ein- 

hen Ramen „Dfterreih”, der innerhalb ded Deutfchen Neiches den alpen- und donaus- 
ndifhen Bundesftaat am beiten bezeichnet. 


44 Die Auflöfung Oefterreihslingarns und „Mitteleuropa“ 





geprägteſten, aber ſprachlich am wenigſten einheitlichen, Ungarn und Böhmen. 
Dadurch werden die Reibungen, die ſich beim Auseinandergehen aus Abrechnung 
und Teilung und vielen anderen Gründen ergeben, verſchärft. Die Abgrenzung 
ſelbſt iſt ein Quell anhaltender Verſtimmungen, da fie die Wünſche des einen 
oder anderen Teils vereiteln muß. Das gilt auch an vielen Stellen der anderen 
Grenzen. So iſt zu erwarten, daß die Staaten, ſoweit ſie geographiſch lebens— 
fähig ſein werden, ihre wirtſchaftliche Unabhängigkeit aufs äußerſte betonen werden, 
auch um ihre politiſche zu wahren; ſoweit oder beſſer fobald fie ein Anihluß- 
bedürfnis empfinden (und das wird bei den ſchlechter begrenzten ſehr bald ge- 
ſchehen), werden fie trachten, es möglichſt unabhängig von der früheren Kom— 
bination zu befriedigen. Die alte hindernde politiſche Grenze des Geſamtſtaats 
beſteht ja nicht mehr, wohl aber iſt die Beſorgnis davor wirtſam, daß dieſer — 
don dem ja alle im Grolle gejhieden find — auf dem Ummeg über wirtidhaft- 
lihe Zufammenfdhlüffe wieder ind Leben gerufen werden fönnte. Soll endlich 
ein Bedürfni8 nad) weiträumigen wirtfchaftlihen Abmachungen befriedigt werden 
(mie e8 3. B. die Sorge der Häfen um ein Hinterland, die Ernährungsprobleme 
gewiller Länder ujm. bedingen), ohne daß daraus eine politiiche Adhängigfeit 
oder do) die Sorge vor ihr erwadfen fol, fo richtet fih der Blid auf einen 
Bund möglichft vieler kleiner Staaten innerhalb eines großen Naturgebield. Beide 
Geſichtspunkte weiſen alſo an Oſterreich- Ungarn vorbei direkt auf Mitteleuropa. 
Sind einzelne Staaten öſterreichiſch ungariſcher Herkunft mit anderen eine Zeit- 
lang in engere wirtſchaftliche oder auch politiſche Beziehung getreten, etwa 

Deutſchöſterreich mit dem Deutſchen Reich, Südſlawien mit ſeinen ſüdöſtlichen 
Nachdarn, ſo knüpfen ſich dadurch Bande oder entſtehen Vereinigungen, die nicht 
ſo leicht wieder zugunſten eines engeren Oſterreich-Ungarn gelöſt werden, wohl 
aber in ein „Mitteleuropa“ eingehen oder in ihm aufgehen können. Sollte der 
Zuſammenhang des Deutſchen Reichs gelockert werden, was unſerem Volk erſpart 
bleiben möge, ſo müßten ſeine Teilgebilde ebenfalls nach einem wirriſchaftlichen 
Mitteleuropa drängen, das der Träger der nationalen Zukunftehoffnungen werden 
müßte, an das aber die altunabhängigen Nachbarſtaaten weit eher ſich anſchließen 
könnten, als an den mächtigen, von ihnen immer mißtrauifh beiradjieten bi3- 
berigen Nachbarn. 


Solhe Erwägungen fpreden dafür, daß Mitteleuropa feinesfals ein über- 
wundener Gedanke ift. Und ebenfo, wenn das weniger wahrfcheinlihe Gegenteil 
- geliebt, wenn Djterreidh-Ungarna Aufteilung durh äußern Zwang oder Wieder- 
zulammenfinden der vom Verkehr verbundenen Bölfer wieder befeitige werden 
follte, fo wird die neue Yorm bdiejes Staats (ftärfer alS die alte) deg meiteren 
MWirtfhaftZbundes bedürfen. Niemand kann in die Werfitatt der Gejchichte 
bliden. Beiten territorialer erjplitterung wechjeln für jeden Erdraum mit folhen 

roßräum:ger Zufammenfaffjung. Aber in dem geographifchen Rahmen, den wir 
üteleuropa nennen, ift immer wieder ein größeres Ganze au8 den aufeinander- 
‚geriffenen Rändern erwadhjfen. Darauf dürfen wir in aller Not der Gegenwart 
die Hoffnung bauen, daß die geographifchen Grundlagen de3 Zuſammenſchluſſes 
‚bald wieder die Grundmauern eined zufunftreihen Baues werden. 





Das Dorbild der deutfchen Revolution 45. 


Das Dorbild der deutfchen Revolution 


‚Don W. Robin 


73 u Beginn des “jahres 1917 lag eine eigentümliche Schtwüle über 
| Petersburg; jeder fühlte es, jeder ahnte es; große Ereignifje jtehen 
bevor. Die hoffnungslofe Lage an der Zront, der immer mehr 
a fühlbar werdende Mangel an Lebensmitteln, die zahllojen, offer« 

PRRAVZI AR baren Dühgriffe der Negierung — alles das zujammengenommen 
a u Yyatte auch die gemäßigten Kreife tarf ervegt, und der größte Zeil 
der fruher dort vecht fonfervativen Sntelligenz war ſtark nach links umgeſchlagen. 
Bezeihnend für die damalige Stimmung jind die Worte, die ein aus altem rujjt- 
fen Udelsgefchlecht jtammender hoher Offizier mir, einem Deutjchen gegenüber, 
fallen ließ: „Heute ift es eine Schande, Nujfe zu fein!” Und nur aus Ddiejer 
Stimmung heraus ift es zu verftehen, da in einer einzigen Nacht das Zaren 
tum gejtiirzt werden fonnte. Petersburg hatte den Umijturz vollzogen, in Peterd« 
burg tam e3 zu einem furzen verzweifelten Widerftand feitens der mit hohen 
PBramien erlauften „zarentreuen“ Polizei. Die Provinz forwie das Frontheer 
wurden einfach vor eine vollendete Tatjache gejtellt und fügten ji auch willig 
der neuen Negievung. 

Reite Sireife der Syntelligenz veichten damals begeiftert dem Proletariat die 
Hände, von einer goldenen Zulunft traumend, ging man gemeinfam an Die 
[here Arbeit des Aufbauens eines neuen Rußland. Doch ſchon Die allernächſten 
Tage brachten die erſten Unzeichen des bevorſtehenden Klaſſenkampfes. Am 
erſten März gab der Petersburger A. und S.-Rat die berüchtigte „Verordnung 
Nr. 1“ heraus, jene Kundgebung, die die Soldaten außerdienſtlich aller 
militariſchen Unterordnung freiſprach und das Militär aller bürgerlichen Frei— 
heiten teilhaftig machte. Dadurch ward die Diſziplin im Heer untergraben und 
durch die Verordnung, die Mannſchaften hätten ſich ihre Vorgeſetzten ſelbſt zu 
wählen, ging die Autorität des Offiziers unwiederbringlich verloren. Ter rohe, 
unkultivierte ruſſiſche Soldat ſah im Offizier ſeinen „Blutſauger“ und mit allen 
nur möglichen Mitteln verſuchte er Rache zu nehmen. Grauenvolles hatte das 
ruſſiſche Offizierskorps zu durchleben, viehiſch-brutal rächten ſich die Soldaten an 
ihren vermeintlichen Peinigern. Anfangs drang nur weniges von den begangenen 
Grauſamkeiten an die Oeffentlichkeit, doch auch dieſes Wenige verfehlte ſeine 
Wirkung nicht; die Begeiſterung der erſten Revolutionstage ſchwand, der Rauſch 
verflog, und mancher ſtellte ſich die Frage, ob die bürgerlichen Kreiſe der 
Arbeiterſchaft nicht doch zu weit entgegengekommen ſeien. Ein gemein—⸗ 
ſchaftliches Vorgehen der geſamten Intelligenz, unterſtützt von der 
Regierung des Fürſten Lwoff, hätte damals doch noch den Gang der Ereigniſſe in 
gemäßigtere Bahnen lenken könnten. Es wurden wohl vereinzelte Verſuche 
gemacht, die bürgerlichen Stände zur Wahrung ihrer Intereſſen zuſammen— 
zuſchließen, doch es blieb bei den Verſuchen. Der Slawe hat ſchon überhaupt 
wenig korporativen Geiſt; ganz beſonders aber in der ſogenannten „beſitzenden“ 
Klaſſe ging jeder ſeinen eigenen Weg. Damals konnte man Karriere machen. 
Viele höhere Beamte wurden penſioniert, und in zahlreichen neugegründeten 
Ausſchüſſen und Kommiſſionen konnte man „gut unterkommen“. Und wer von 
der Woge der neuen Zeit hinweggeſpült wurde, der fügte ſich eben mit echt 
Lenin: Ergebenpheit in fein Schidjal. Wohl richtete die Regierung zahlreiche 

ufrufe an Arbeiter und Soldaten, Mahnungen zur Aufrechterhaltung der Ord« 
nung und Dilziplin. Worte, Worte — ein tatkräftiges Eingreifen ıunterblieb. 
Und die Lofungen und Forderungen, die anläßlich der Maifeier von der Arbeiter« 
haft auf roten Bannern durch die Straßen von Petersburg getragen wurden 

tiefen nur zu deutlich, wie reiche Früchte die radiale Propaganda Ion. 
getragen hatte. Schon in den näcditen Tagen mußte der viel umjhmäarmte 
Kadettenführer Weiljuloff und mit ihm ©utichloff aus der Negierung aus— 
Iheiden; unter Sterenstys. Vorfig wurde ein Koalitionsminifterium gebildet. 










46 Das Dorbild der deutichen Revolution 


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SKerensty, fchon als Duma-Abgeoröneter fehr populär, dann als „Held der 
rufjiihen Revolution“ begeijtert verehrt, twar wohl die geeignete Perfönlichteit 
al3 Vermittler zwifchen den beiden Polen zu wirken, befaß er doch in hohem 
Viaße das Vertrauen jomwohl der ae als auch der jozialiftifchen Kreiſe. 
oa) durch wankelmütige Bhrafen und gejtenreiche Politif verlor er fhon nad 
wenigen Vtonaten jeine Autorität, und jomit war der Mann, vielleicht der 
einzige, der die Gegenfäge zwilchen den Klafjen zu einem Ausgleich hätte. bringen 
fönnen, erledigt. Wohl gelang e3 noch mit tnapper Not, den BolichemwilisAufitand- 
in Petersburg im “suli zu untewdrüden, doch was half e3!. Dian hatte immer 
noch nichts gelernt und Negterung und Parteien ergingen fich in großen Keden, 
SKtundgebungen und a wahrend rings herum das ganze Land in ein riejiges 
tstammenmeer verwandelt rar und Bauern gegen Gutsbejiger, Soldaten gegen 
ffiziere, Arbeitnehmer gegen Arbeitgeber einen verzweifelten Kampf fampften. 
. Und auf allen Fronten jiegte das einige gefchlojjene Proletariat über das 
zerfprengte Bürgertum. Bon der Übermacht gedrängt fchieden fchlieglich auch die 
legten nichtjoztaliftifchen Deinifter aus der Negierung; Ddoh aud das rein. 
fozialiftifche Deinifterium konnte fich jegt wicht mehr halten, der Staatsfarren ſaß 
zu tief im Sumpf. „Frieden — Brot — Land“ verfprachen die Bolſchewiki. Ein 
icharfer Hieb, ein furzer Kampf — und Lenin ward Herr von Rußland. 

Doh nun war man erwadt! Nun waren fie alle einig in dem Schrei: das 
darf jo nicht bleiben! Wir müflen fümpfen um Recht, um unfere Erijtenz! 
Zu jpat! Wohl erklärte die gejantte Beamtenfchaft der neuen Regierung den 
Boplott und trat in den Ausitand. Was half eg — die Streifenden wurden 
furzerhand entlaffen, Arbeiter wurden Gerichtspräfidenten, Portiers Banl- 
direltoren, Soldaten wurden Armeelonmandierende. Und wenn die Regierung 
wähnte, bier und dort ohne intelligente SKträfte nicht ausfommen zu Tonnen, To 
wurde furzer Prozeß gemadıt: ein paar Notgawdiiten erjchtenen in der Wohnung 
des betreffenden Beamten: „Erlennen Sie die Somjet-Negierung an? a — 
Dann haben Sie morgen im Dienft zu erjcheinen, nein — Ste werden als Gegen- 
tevolutionär verhaftet.” Hunderte ind ins Gefängnis geivandert, einige Tehrten 
til auf ihren Polten zurüd aus Rüdjicht auf die Eriltenz, die Tramilie, denn imo 
war jegt eine Stelle zu finden? Es tt ja nicht auf lange, tröjtete man fich, die 
allerunpopulärfte Regierung, die Rußland je gehabt, wird jich ja doch nicht halten 
können. Es ſollte fhylimmer konnen, noch viel jhlimmer. Borurteilalos und 
folgerecht rifjen die neuen Machthaber die beitehende Gefellichaftsordnung nieder, 
einen utopiftifchen Kommunismus an ihre Stelle fegend, grotest gepaart mit der 
abfoluten Vorherrſchaft einer Lleinen, fih auf Vlafchinengervehre und Hand- 
granaten ftügenden Bartei. Verlangend redte der befitlofe Haufe die Hande nad) 
dem mübhjam erworbenen bürgerlidden Wohlitand, gierig griff er nach dem Glan; 
des Reichtums. Nationalifierung des Oroßgrundbeliges, Nationalifierung des 
Bankweſens, der Fabriken! Einguartierung des Broletariats in die Häufer der 
„Bourgeois"! Kampf gegen das Bürgertum, Kampf gegen den Befis! Das 
waren die Lojungen, das war der Köder der Somjet-Ktegierung. Und nur ZU 
willig fchentten breite Vtaffen ihnen Gehör. Die rohen Snftinkte waren gervedt, 
da3 Örundivaffer aufgewühlt. Tragifch waren die Folgen. Täglich wuchs die Zahl 
der Arbeitslojfen. Turch die Temobilifierung und Auflöfung de3 Heeres wurden 
Taufende von Offizieren und Soldaten brotlos, durch Die Schließung der Gericht#- 
tnftitutionen wurde die ganze juriitifche Welt auf die Straße gefegt; durch das 
Eingehen von gahllofen Betrieben, haufig auf Grund rein perfönlicher 
Mißhelligkeiten mit der Arbeiterfchaft, wunden Hundere von Sngenieuren und 
Zechnilern entlafjfen oder durch die Arbeiter buchftäblich auf die Straße geworfen. 
Und jchlieglich wurde dann, Anfang Dezember, der entjcheidende Salıg ger 
bie gejamte befigende Klafje geführt: Durch Sperrung der Banlten und Nichtig 
teitserklärung der Wertpapiere wurde mit einem Schlag, wer geitern noch jeit 
Austommen gehabt, heute an den Bettelitab gebracht. mmer trüber und trüber 
erichien die 3 ut and ein Ende der furdhtbaren Not ift noch heute nicht abzir 
fehen. Und damals tonnte man es öfters hören, erit leife und verihämt, Daun 


Das Dorbild der deutihen Revolution 4; 


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immer lauter und fchadenfroher, auf der Straße, in den Elektrifchen, in den Brot- 
polonäfen: „Na wartet, ihr Schw. ..... ‚ der Deutiche wird euch jchon zeigen! 
Ad, wenn doch die Deutichen erjt hier wären.” Das war der Notichrei des 
gequälten Volkes, der zerichlagenen yntelligenz. Doch der Abichluß des ——— 
Friedens vernichtete auch dieſe Hoffnung. Schutzlos und wehrlos ſteht gr r 
ruſſiſche Bürger der Willkür des Proletariats gegenüber. Der geringſte Verdacht, 
der Schein einer „gegenrevolutionären“ — kann Verhaftung, Erſchießung 
nach ſich ziehen. Namentlich ſind die geweſenen Offiziere keinen Augenblick ihres 
Lebens ſicher. Viele, viele haben den Tod gefunden in dieſem ungleichen Kampf, 
viele ſchmachten im Gefängnis. Leben und Beſitz ſind in ſtändiger Gefahr. Was 
in jahrelanger Arbeit Kultur und Ziviliſation im weiten Rußland errichtet haben, 
ftürzt zufanımen, die Brandfadel des Buirgerfrieges beleuchtet ein troftlojes Grab 
menſchlicher Wünſche und Hoffnungen. Das Bürgertum, der Belig, Der 
Kapitalismus J—— zum Wohle der Arbeiterſchaft vernichtet werden, die 
ſtürzende Intelligenz riß das Proletariat mit in den Abgrund hinein. Die 
riken ſtehen ſtill, die Felder verdorren, die Städte veröden, Hunger und Kälte 
ſchen im Hauſe! Und keine Arbeit! Da tvrat denn an die Intelligenz, an alle 
diejenigen, die nicht unmittelbar an der Staatskrippe ſtanden, die bange Frage 
hevan: woher die Mittel nehmen, um die unerſchwinglichen Preiſe für die Lebens— 
mittel zu bezahlen? Und nun ſchloß man ſich zuſammen, nun war man bereit, 
ae zu arbeiten. So wurde im Metersburg, imo die Berhältnijje 
ekanntlich am allerfchlinmiten find, eine Neihbe von Verbindungen 
gegründet, Die unter dem Namen „Artelle intelligenter Arbeiter” jich zu den 
berichiedenften Dienften verdingten. Da konnte man 3. B. im anuar—Sebruar 
1918 täglich zivei- bis dreihundert Offiziere der Sarderegimenter mit Hade und 
Spaten auf dem Nemsty Schnee fchaufeln fehen. Der Verdienft belief fich auf 
zirta fünfzehn Rubel täglid. Auf den Güterbahnhöfen arbeiteten Offiziere, 
Ingenieure, Syurijten als Laltträger und verdienten bei achtitündigem Arbeitstag 
und vier obligatorischen Überjtunden bi8 fünfundvierzig Rubel täglid. Das 
Seihäft des Zeitungsverlaufens war auch jehr beliebt, bejonders in Kreifen der 
höheren Ariltofratie; die bürgerliche Brejle dedte ihren ganzen Bedarf an 
Straßenverfaufern aus Streifen der Sntelligenz. Ein Zeitungsverfäufer |tand 
ih auf acht bis zwanzig Kubel täglid. Auch Damen der hödjiten ee 
tie fonnte man in Straßenbahniwagen und Kaffeehäufern die neuelten 
Xelegramme ausrufen hören. Andere wieder machten fich die Tagesbedürfniffe 
des Bublitums zu Nuten: etwas gehamitertes Diehl, zeritampfte Sonnenblumen- 
jamen, Hedjel zu Teig angerührt. als „Stuchen” von der Größe eines Hühnereies 
gebaden, fanden an belebten Straßeneden veißenden Abjat. Und neben dem 
Kuchenverkäufer jteht Graf fo und fo und bietet Zigaretten oder Schofolade den 
Borübergehenden an. Unternehmungsluftigere, Energifchere betreiben den 
Xebensmittelhandel in größerem Maßitab, indem fie ein Cafe eröffnen; die 
Deutter Locht, der Vater Steht am Ladentifch, die Töchter bedienen das Publikum, 
während die Söhne ftändig auf der Hamjterfahrt find um die nötigen Lebens- 
mittel herbeizufchaffen — und noch vor einem Syahr fuhren diefe Leute in ihrem 
eleganten Auto jtrahlend in Gold und Sumelen zum Hofbal. Wieder andere 
baben fich auf allerlei Spekulationen verlegt, und der Schleichhandel in allen 
Brandyen blüht, wie nie zuvor. Alle diefe Leute haben fi in die neuen 
Berhältnifje hineingefunden, fie fcheuen fich nicht, durch ihrer Hände Arbeit fich 
die Eriftenzmittel zu verfchaffen. Doch nicht jeder kann fo arbeiten; e3 gibt Alte 
und Stvanke; die PBenfion wird nicht mehr gezahlt, die Wertpapiere find annulliert. 
Wovon Leben?! und fchiweren Herzens muftert man feine Sachen, Möbel, 
Kleidungsftüde, Kunft- und Wertgegenftände, und ein lieber Gegenftand nad) dem 
anderen, manch teures Andenken, wandert in die Hände von Aufläufern oder 
reichgetvordenen Emporlöümmlingen. Reihmeife ftanden fie auf dem Trödelmarft, 
elegante Herren, vornehme Damen neben dem haufierenden Soldaten und 
Zotaren und boten ihre Habe den Vorübergehenden an. An allen Straßeneden 
Ionnte man €3 lefen: in diefer und jener Wohnung werden allerlei Sachen wer- 








--—n — —r— — — — — —— — — 
Rum an — un un — — — — — — — —— — —— — — — — —— — —— ———— — — — — — — — — 


kauft. Anfangs lohnte ſich das Geſchäft, denn beim herrſchenden Warenmangel 
war alles willkommen. Doch bald überſtieg das Angebot die Nachfrage, mit der 
zunehmenden Lebensmittelteuerung ſchwand auch die Kaufluſt, denn wer geſtern 
noch flüſſiges Geld übrig hatte, ſah ſich heute ſelbſt genötigt, ſeine Sachen zu 
Markt zu tragen. 

So iſt es denn dem Proletariat durch ſeine Revolution völlig gelungen, die 
beſitzenden Klaſſen zu treffen, da die Bourgeoſie in keiner Weiſe organiſiert war, 
und ſich auch nicht zu organiſieren verſtand; und heute liegt die 
Intelligenz aus tauſend Wunden blutend am Boden, ein Opfer eben dieſer 
Unorganiſiertheit. 

Was aber die Proletarier und ihre Führer nicht vorausſahen, war der 
dadurch bedingte völlige Ruin des Staates und damit ihr eigener Ruin, daß 
der Selbſterhaltungstrieb ſie eines Tages doch dazu zwingen wird, die Intelligenz 
zum Aufbau des Staates, zur Neuſchaffung von Handel und Gewerbe wieder 
herbeizurufen. 





Der Anmarſch des Bolſchewismus und der 
deutſche Oſten 


Don Dr. Marx hildebert Boehm 2 


Zr ga in den Handen der Boljchewilten! Bartholomäusnadht im 
rei Baltitum! Dftpreußen von Flüchtlingen überfhwemmt! Mit 
a EL diefer Hiobspojt Frönt jich die Reihe von Schredensnadhrichten aus 
D) MD SE dem Baltitum, die die Zeitungen feit Wochen füllen. Der Zu: 
ar U —— der deutſchen Oſtpolitik, die kurzlebige Herrlichkeit 
der lettiſchen und en Bourvgevis-Republifen en miniature 
und nun das VBordringen des Grofrußlands von Trogfi und Lenin, die erneute 
Barbarijierung der auf furze Dauer vom öjtlichen Joche befreiten baltiſchen 
Marten: To jpiegelt jich im öjtlichen Grenzgürtel der beifpiellofe Niedergang 
deutjcher Weltpolitik, den uns die legten Monate gebracht haben. | 
Der fürzlid zum Außerordentlihen Gefandten bei der lettifchen und 
ejtnifchen Nepublif ernannte Generalbevollmädtigte für die baltifchen Lande 
Augujt Winnig hat mit gejgidter Hand und kluger Anpafjung an die Verhältnille 
aus dem großen Bankrott zu retten gejucht, was ich in legter Stunde nod 
vetten ließ. Die Gründung autonomer Letten- und Ejtenjtaaten, jo furzjichtig in 
weltpolitiſchem Betracht diefe Politik eines Heinen Haufleins ehrgeiziger Bürger 
diefer politifch noch jo unreifen Nationen auch war, fonnten wir nicht mehr aufe 
halten, nachdent mit be a militärifchen Macht auch die Möglichkeit vernichtet 
war, dort im T'ften große Politit nach europäifchen und Weltgejichtäpunften zu 
machen. Aufgabe de3 realpolitifchen Konkursvermwalters fonnte es nur fein, die 
gänzliche Überrennung der reichsdeutfchen und der deutfchbaltifchen Snterefjen 
zu verhüten. Als Einjagmittel fonnte Winnig unfere in Lande noch vorhandene 
Zruppermadt nußen. Die — und eſtniſche Unzufriedenheit, die Unbeſcheiden— 
heit ihrer Forderungen hatte in den letzten Jahren nur deshalb ſo groteske Aus— 
maße gewinnen können, weil die deutſche Machtſtellung im Oſten dag ee 
wijtifche Gejpenft ein für allemal verbannt zu haben jchien. Diefe Sachlage 
veränderte ji) von Grund auf mit dem Augenblid, wo unfere militärifche Macht» 
ftellung zufammenbrach und der Bolfchewismus in Deutjchland felber fein Haupt 
aufredte. Damit wurde die boljchewiitifche Gefahr auch im Baltitum wieder 
akut und die Letten und Ejten, die in der deutichen Bejagungsmaht nur dem 






Der Anmarfh des Bolfhewismus und der deutfche Often 49 


Untevdrüder ihrer nationalen Gelbitändigteitspläne gefehen hatten, begannen 
fi) allmählich wieder davauf zu bejinnen, daß gegenüber dem marimaliltifchen 
Zerror die oft recht dDrüdende „Deutfche Ordnung“ immer nod) das kleinere Übel 
4 Ten Augenblid diefer Einficht, des peinlihen Erwacdens der allzu felbit- 
ihrer geivordenen lettiihen und ejtnifchen Bourgeoijie hat Auguft Winnig feyr 
geijchidt benugt, um eine ganze Reihe von Fliegen mit einer Stlappe zu fchlagen. 
„ndem er eime aus Freiwilligen bejtehende Eiferne Divifion fchuf, in der deutfche 
Zruppen, Deutjchbalten, Leiten und Eiten gemeinfam die Verteidigung der 
baltifhen Lande übernahmen, jicherte er zunächſt den Rückzug der deutjchen 
Bejagungstruppen. Diejer an die Spibe geitellte Zimwed Iegitimierte das ganze 
Unternehmen in der öffentliden Meinung Deutichlands, namentlich auch in den 
Ba en Kreifen bis hart an die Grenze von Spartafus. Ferner follte dieje 

bwehraltion uns davor bewahren, daß der Bolihewismus der Triedens- 
konferenz — im Baltikum ein fait accompli ſchaffe, das die letzten Reſte 
unſerer Oſtpolitik hinweg ſchwemmte. Gleichzeitig mußte eine ſolche Löſung im 
Intereſſe der bürgerlichen Republiken Lettland und Eſtland ſein, deren junger 
Beſtand durch den Anſturm des bolſchewiſtiſchen Radikalismus tödlich bedroht 
war. Auch die deutſchbaltiſchen Intereſſen waren natürlich durch dieſe neue 
„tartariſche Invaſion“ aufs ſchwerſte bedroht, auch für ſie war Winnigs Eiſerne 
Diviſion ein letzter Hoffnungsſchimmer auf Rettuͤng. Und ſchließlich hat auch 
der gemäßigte Sozialismus, den Winnig als Parteimann und als Vertreter des 
gegenwärtigen deutſchen Regimes gleichermaßen vertvritt, alles Intereſſe daran, 
eine außenpolitiihe Erftartung der Somjetrepublif und ein Hevanrüden ihrer 
Dahtiphäre an die Tore von Dftpreußen zu verhindern. Bedentt man dazu noch 
die finanztechnifc glüdliche Löfung, daß Ddiefe Eiferne Tivifion zum großen Zeile 
aus baltifchen Yandesmitteln beftritten wivd, und daß die Hilfeleiftung deuticher 
Eoldaten der Teineswegs Deutjchfreundlichen lettilchen Regierung da3 Zus 
Pen entlodt hat, den Ditlämpfern Etedelungslard und volle jtaatsbürger- 
ie Sleichberehtigung im neuen Xettenftaate in jichere Ausficht zu ftellen, k 
lönnen toir Winnig das Zeugnis nicht verjagen, daß er in weitblidender Wetje 
alle Chancen genugt hat, die der wahrhaftig nicht glüdlihe Augenblid der 
dDeutichen Sache noch irgend darbot. 

Eine bejondere VBerwidlung erfuhr or Lage noch Durch das Verhalten 
Englands. Worauf ich in meinen Hadubert-Artiteln an diefer Stelle des öfteren 
warnend hingewiejen habe, ift nunmehr eingetreten. England benußt die deutfche 
Schwäche, um fich bejtimmend in die baltifche Bolitif einzumifchen und damit der 
deutichen VLorherrjchaft in der Dftjee den Todezitoß zu verfegen. immerhin tft 
e3 nach Lage der Dinge verftändlich, Daß bei dem Berjagen des deutichen Schubes 
nicht nur Leiten und Eiten, fondern auch die Deutjh-Balten nach engliicher Hilfe 
ausichauten. Für das fühle ftaatsmännifch beſonnene Verhalten der Engländer, 
das jich in vorteilhaftejter Weife von dem bHhiterifchen Nationalismus der 
Tranzofen in Eljaß-Lothringen unterjcheidet, it ein Vorfall bezeichnend, der fi) 
nad Zeitungsmeldungen im Hafen von Libau abgeipielt hat. Als ein Schiff mit 
lettifcher Trlagge dort dem Engländer entgegenfuhr, fragte diefer erjtaunt hinüber, 
was das für eine feltfame Flagge fei. Auf die jtolze Antwort: „Die ——— 
kam prompt die Antwort zurück: „Kennen wir nicht, herunterholen.“ Als ſodann 
auf dem engliſchen Schiffe eine Unterredung zwiſchen dem engliſchen Komman⸗ 
danten und den Vertretern der ſtolzen lettiſchen Republik ſtattfand, die ein wenig 
die Gefühle eines begoſſenen Pudels in ſich empfunden haben mögen, wurde 
ihnen beim Abſchied vom Engländer der väterlich-überlegene Rat erteilt, das 
nächſte Mal möchten ſie ruhig einige Deutſchbalten mitbringen, er, der Herr 
Admiral, würde ſehr gern auch mit Deutſchbalten verhandeln. 

Durch Zeitungsmeldungen iſt allgemein bekannt, daß engliſche Kriegs⸗ 
ſchiffe im Hafen von Riga das Vorgehen der Landeswehr gegen bolſchewiſtiſch 
verſeuchte lettiſche Meuterer wenigſtens bis zu einem gewiſſen Grade unterſtützt 
haben und daß in dem neu entflammten Kampfe England gegen den Bolſchewis—⸗ 
mus dadurch Partei ergriffen hat, daß es in recht ſchroffer Weiſe von den deutſchen 


Grenzboten Jl 1919 4 


50 Der Unnarfch des Bolfyewismus und der dentihe Often 





— ——— — nn nn en 


Zruppen die Abivehr der Boljheivifen verlangt und Deutfchland fogar für alle 
Schäden verantivortlich gemacht hat, die für Leben und Eigentum der Bervohner 
des Baltilums aus einem Mißlingen diefer Abtvehraktion eriwachfen könnten. 
E3 ijt freilich nicht zu verfennen, daß England hier wieder in jeine altbemwährte 
Diethode zurüdverfällt, für feine eigenen Syntereffen anderer Leute Haut und 
Sinochen zu Mearkte zu tragen. Wahrend ihm die Rüdficht auf feine oppojitionelle 
ge e3 zu verbieten fcheint, die pomphaft angekündigten Aftionen gegen 
den Boljhewismus felber ins Werk zu feten, fchiebt e$ uns als Prellblod vor. 
Die ganze Angelegenheit ijt joeben der Zuftändigkeit Winnigs entzogen und in 
Die Hande der Waffenitillitandstommiffion gelegt worden. Wir wollen mwenigitens 
hoffen, daß mit dDiefem Wechfel Des Sachwalters der deutſchen Intereſſen die 
deutjche Sache jelber nicht Schaden leide, dDenm das verjöhnt ung in diejen yalle 
in einigem Vlaße mit dem englijchen Lorgehen, das ohne Zweifel der deutichen 
Würde durch feine Foran recht harte Zumutungen jtellt, daß die Abwehr des 
Bolidewismus eime Angelegenheit it, in der englifche und deutfche Intereſſen 
parallel laufen. | 

Die „Voffische Zeitung”, deren Oftpolitif ich vor einigen Monaten in den 
„Srenzboten” fcharf Eritiliert habe, hat dag DVerdienft, nunmehr am deutlichiten 
bon den großen Deutfchen Blättern die Gefahr erlannt zu haben, die die neue 
Wendung im Dften gleichermaßen dem Bejtande des gegenwärtigen Regimes wie 
überhaupt der Aweltpolitiihen Stellung unjeres hartgetroffenen Vaterlandes 
bringt. Schon zu Beginn des Strioges habe ich Hier den Standpunkt vertreten, 
daß die Anteilnahme amı Bejchide unferer deutjchen Vollsgenoffen in den 
baltifhen Landen eine von ung jchwer vernachläfjigte Ehrenpflicht des deutſchen 
Volkes jei, deren wir ung — als nüchterne Weltpolitiker nicht zu ſchämen 
brauchen. Die „Grenzboten“ ſind immer jenem aufgeblaſenen Snternationalis- 
mus einer gewiſſen Sorte bdaltſchnäuziger Demokraten entgegengetreten, wie er 
z. B. auch aus einer Außerung des Miniſterialdirektors von Gerlach ſpricht, der 
ſich über die Polenfrage in Poſen mit einer überaus billigen Souveränität 
hinwegſetzt. Zuerſt, ſo hat ſich Gerlach kürzlich geäußert, käme ihm die 
Demokratie und dann erſt das Deutſchtum, und ein anderer „führender“ 
Politiker aus den Kreiſen der Moſſe-Wolff-Partei hat es gegenüber einem 
Anwalt der Intereſſen des oſtmärkiſchen Teutſchtums kühlpfeifend ausgeſprochen, 
man werde ſich doch nicht um ein paar hunderttauſend Oſtmarkdeutſcher willen 
die großen Kreiſe ſeiner Weltpolitik, ſtören laſſen. Dieſem politiſchen 
Rationalismus gegenüber haben wir alle Zeit die Uberzeugung vertreten, daß 
die Solidarität des Blutes zu jenen politiſchen Grundtatſachen gehört, an denen 
den Starrſinn unſerer Internationalliberalen um Theodor Wolff und 
Konſorten vergebens rütteln werden. Andererſeits aber haben auch wir in der 
baltiſchen Frage von vornherein anerkannt, daß die nationabe Ehrenpflicht nicht 
in nationaliſtiſche Gefühlspolitik ausarten dürfe, ſondern mit den gemeindeutſchen 
Lebensnotwendigkeiten auch unter ſchweren Verzichten auf Gemütsgüter in Ein— 
klang gebracht werden müſſe. Keineswegs alſo aus jenem verwerflichen neunmal⸗ 
geſcheiten Doktrinarismus, ſondern blutenden Herzens und im Bewußtſein eines 
demütigenden Verzichtes müſſen wir heute zugeſtehen, daß wir für das deutſch⸗ 
baltiſche Sonderintereſſe kaum mehr mit nennenswertem Nachdrucke eintreten 
können, da wir ja nicht einmal mehr imſtande ſind, den alten Beſtand des 
Reiches, das Werk Bismarcks, zu retten. 

Wie ſehr hat man uns verketzert, als wir im Eintreten für die deutfche 
Machtſtellung im Oſten, die allerdings — das „vBerliner Tageblatt“ dachte: 
„leider“ — auch den baltiſchen Baronen zugute kam, in erſter Linie reichsdeutſche 
Intereſſen vertraten. Nicht unſere unzweifelhaften Fehler in der Oſtpolitik, die 
ich hier ſchon vor Monaten offen bekämpft habe, ſondern unſer militäriſcher 
Zuſammenbruch im Weſten und die Revolution im Innern haben uns in die 
traurige Lage verſetzt, die Angliſierung des Baltikums ſeiner Bolſchewiſierung 
immerhin noch vorziehen zu müſſen. Denn die bolſchewiſtiſche Welle bedroht 
nicht nur die deutſch-baltiſche Kultur, deren Kriſis ſich mit der deutſchen Nieder- 


Der Anmarſch des Bolſchewismus und der deutfche Often 51 


lage zuungunſten des deutſchen Gedankens im Oſten gewendet hat, ſondern der 
Sieg des Bolſchewismus im Baltikum iſt die ſchwerſte Bedrohung für unſer aller 
nächſte Zukunft. Mit Recht iſt die Anweſenheit RadekSobelſohns und Joffes 
in Berlin, die unſeve ſchwache ung nicht zu verhindern vermodht hat, mit 
dem bolichetvijtiichen Vorgehen im Baltiftum in Zufammenhang gebracht worden. 
Diefes Vorgehen bedroht unjer innerlich zerrüttetes Vaterland unmittelbar mit 
einem Einfall der Boljcheriften in Oftpreußen. Ohne Zweifel mwiegelt Radet die 
Spartafusleute auf, um gleichzeitig den Brand der Revolution im ‘nnern zum 
Aufflammen zu bringen. Damit wäre nicht nur dag Schidfal unferes gegen- 
wärtigen Regimes bejiegelt, fondern es zöge I Deutfchland ein Elend herauf, 
das nur mit dem des Dreißigjährigen Strieges fich an Furchtbarkeit meſſen könnte. 

Denn befanntli hat der Bolfhemwismus in Rußland und bei ung im 
Segenjag zu unferer außerrpolitifch. vollig halt und richtungslofen Regierung ein 
lewenjchaftlich verfolgtes außenpolitiiches Ziel: Die NRevolutionierung der Welt, 
die Zertrümmerung der ſiegreichen weſtlichen Machtſtaaten. Unjere verzweifelte 
Lage könnte uns ja faſt zu dem Wunſche drängen, daß es dem Bolſchewismus 
gelingen möchte, dies Ziel zu erreichen, das uns zugleich von dem Drucke der 
unerträglichen Friedensbedingungen befreien müßte. Nur würde dieſes Ziel 
mit dem noch unermeßlicheren Elend der Maſſendiktatur im Innern und der 
völligen Zertrümmerung unſerer Wirtſchaft und Kultur erkauft. Und darüber 
hinaus würde Deutſchland das fürchterliche Geſchick zuteil, die weltpolitiſche 
Bühne für dieſe ae Auseinanderjegung zmwiiden dem öſtlichen 
Bolichemismus und dem Weitlichen Symperialismus abzugeben. Genau wie im 
Dreißigjährigen Kriege unfer herrliches Vaterland von Stampfen zevmwühlt munde, 
in denen Ofterreich, Frankreich und Schweden ihre Machtitreitigteiten austrugen, 
genau jo würde Deutichland in diefer Weltrevolution, wie man mit glüdlicher 
Pragung gejagt hat, zur Barritade des ruffiichen Bolfhewismus gegen den 
Weiten. Hier wie dort hvären wir bloßer Schauplag, in fürdhterlichiter Weife 
hin- und bengezerrt, der völligen Serpültenn und Vernichtung preis- 
gegeben. 

Die Berliner Herren machen großzügige Weltpolitit und verichleudern die 
legten Referven an Madıtmitteln, die ung noch übrig geblieben find. Aus 
Thhlotteriger Angft vor dem PBopanz der Gegenrevolution' dulden fie es, daß 
demofratiicher Doltrinarismus die Manneszuht im Heere vollig auflöjtl. Der 
Ihrwadliche Wideritand gegen die Bolen hat ebenfo wie die traurigen Leiltungen 
der Eifernen Divijion die militärische Unbvauchbarteit unferer hochmodernen 
Soldlingsarmee an den Tag gebradjt. Son Bolen ift das Verdienft zuzufchreiben, 
daß jie durch die Schamlofigkeit ihrer Übergriffe in den Streifen des oftmärkijchen 
Deutſchtums den furor teutonicus felber zu weden beginnen, den wir im Oſten 
nocy bitter nötig haben werden. sür Diele ir Wendung find Vorgänge 
bezeichnend, die jich joeben in Bromberg abgeiptelt haben. Nachdem der bahn- 
technifch wichtige Punkt Nafel von einem ganzen Bataillon Srenzihub fchmähli 
verlafjen und darauf von fage und jchreibe 15 Mann Polen fampflos „erobert“ 
worden iit, hat jich der Eifenbahnerfchaft in Bromberg eine elementare Erregung 
Demächtigt, die in einem [pontanen Streit ihren Ausdumd gefunden hat. Zwei— 
hundert Eifenbahner — Männer aus dem iverktatigen Volle — ballten ihre 
 jcehmwieligen Arbeiterfäujte, verliehen ihre Lolomotiven und Schuppen und gingen 
zum Bräjidenten der Eifenbahndireftion.. „Herr Bräafident”, fagte einer diejer 
Zugführer, denen die Sorge um Weib und Kind und um die ofjtmärkifche Mutter: 
erde das Blut zum Kochen gebracht hatte, „wir fommen nicht um Lohnerhöhung, 
. wir fommen nicht um Arbeitsverfürzung, wir fommen mit der Forderung, da 

Ste uns bewaffnen und unfere Bahn und unfere Heimat damit unter Se 
militäriichen Schuß jtellen. Wir wollen es nicht länger mit anfehen, daß der 
"Bole eine Stadt nach der anderen nimmt und unfere Heimat, für die wir Gut 
und Blut gerne noch einmal zu Warkte tragen wollen, in fo fchamlofer Weife 
bedrohen darf, ohne daß ihm die deutjche TFauft zeigt, mas die Stunde gefchlagen 
bat.” Der Bahnfchug mwunde durchgejegt, die Poftbeamten fchloffen fih an. So 


4* 


52 Der unverdiente [Dertzuwadhs an Grund und Boden unter den neuen Derhältniffen 


ijt aus dem unmittelbaren Empfinden des Bolfes heraus ein Umfhmwung im 
Beijte der Wehrhaftigkeit, ein Erwachen nationalen Stolzes und Troßes zu 
bemerken, der lediglich au8 der unmittelbar verjpürten Bedrohung von außen, 
beinesivegs aus irgend welchen gegenrevolutionären Beitrebungen erwacjfen it. 

 Erfreulicherweije jcheint auch bei der Berliner Regierung vielleicht Durch 
die Ausjcheidung des ‚„aunabhängigen” Pfahles im Fleifche die Angjit vor der 
eigenen Kourage im Schwinden zu fein und damit endlid) etivas wie eine madht- 
politiihe Ermannung einzutreten. So hat der Volksbeauftragte Noste einer 
Bromberger Abordnung den Rat gegeben, die ojtmärkifchen Deutichen follten im 
Einvernehmen mit den militärischen Kommandojtellen getroft felber den Schiep- 
prügel ergreifen. Wie die Bromberger Vorgänge zeigen, kann diejes befreiende 
Wort auf den Widerhall in den breitejten Schichten des ojtmärkifchen Deutich- 
tun rechnen. Wenn derart der Grenzihuß Oft jo etwas wie eine Keimzelle der 
Erneuerung unjerer militärifchen Widerjtandsfraft bedeutet, jo kann das von 
mweittragender ? tung für die Sefchide unjeres ganzen Baterlandes werden. 
Denn hier im Dften wind es Jich entjcheiden, ob rer Vaterland fich tatjächlich 
zur Barrifade Lenins, Trogkis und LiebfnechtS hergeben muß. Der ojtpreußifche 
Boden ijt für dieje entjcheidende Auseinanderfegung nicht ungünitig. Der Tit- 
preuße hat den Krieg am eigenen Xeibe gejpürt. Als die Berliner Schaum- 
törtchen aßen und auf dem Potsdamer Pla jeden Abend eine neue Dame) 
— eroberten, haben die im Oſten unter den Schlägen der Knute den 
homo Sarmaticus von — liebenswürdigſten Seite kennen gelernt. Dazu iſt 
Oſtpreußen ein Bauernland mit geſunden ungebrochenen Inſtinkten. Und jahr— 
hundertelange Bedrohung durch ein fremdes Volkstum hat im Oſtmärker jenen 
völkiſchen Stolz, jenes nationale Selbſtbewußtſein gezüchtet, das unſerer Nation 
als ganzer in ſo bedauerlichem Maße abgeht. Verſchließen wir uns nicht vor 
dem Ernſt der Lage. Der Krieg iſt noch nicht zu Ende. Der deutſche Oſten hat 
noch nicht ſein letztes Opfer auf dem Altare des Vaterlandes niedergelegt. Der 
Bolſchewismus iſt ein Feind, der mit den modernſten Machtmitteln arbeitet und 
doch nicht die alten militäriſchen Gewaltmethoden ſcheut, die unſer aufgeweichter 
Liberalismus theoretiſch ſo fix überwunden hat. Die Sicherung im Oſten iſt nicht 
das Privatintevreſſe von ein paar hunderttauſend Oſtmärkern, die man in Berlin 
leichten Herzens ins weltpolitiſche Lotterieſpiel einſetzt. Der Grenzſchutz Oſt iſt 
die Schickſalsfrage der deutſchen Zukunft. 


— 


Der unverdiente Wertzuwachs an Grund und Boden 


unter den neuen Verhältniſſen 
Von Dr. Dollinger 





Behandlung des unverdienten Wertzuwachſes an Grund und Boden. 
5 Mit ihr hängt in gewiſſem Sinn die geſamte Bodenpolitik zuſammen. 
N Bon jeher war man fi flar darüber daß der unverdiente 
L N, a Wertzumakhs etwas jei, was befämpft werden müjje. 
— * An dem unverdienten Wertzuwachs bei Grundſtücken hat niemand 
ein Intereſſe als der augenblickliche Beſitzer und dieſes Intereſſe iſt weder berechtigt 
noch ſchutzwert. Der unverdiente Wertzuwachs entſteht ohne jedes Zutun des 
Beſitzers, in den Städten durch die Ausdehnung der Stadt, durch die Tätigkeit 
der Behörden im Strafenbau, die das Grundſtück baureif machen, durch Ver— 
beſſerung der Verkehrsverhältniſſe und andere öffentliche Einrichtungen, durch die 
geſteigerte Nachfrage nach Wohnungen, durch Eingemeindung kleinerer Gemeinden 
in eine Großſtadt uſw., alles ohne Mitarbeit und Opfer des Grundeigentümers.. 





u den dringendſten Fragen der Neuordnung gebört diejenige der 


Der unverdiente Wertzumadhs an Grund und Boden unter den neuen Derhältniffen 53 


Shm fällt vielmehr der Wertzumah8 in den Schoß wie ein Lotteriegewinn. Bei 
Tandliden Grunditüden ift ed Ahnlidh. Die gefteigerte Nachfrage nad) landwirt- 
Ichaftlihen Produkten und die damit aufammenhbängende ‘PBreißfteigerung für Diele 
Brodulte Hat die landwirtfchaftlihe Nente und damit den Bodenwert in Die 
Höhe getrieben. Berbeflerte Berfehrgeinrichtungen, Bahn- und Kanalbauten uſw. 
wirfen in derjelben Richtung. | Ä | 

Diefer Wertzumahhd kommt aber nur dem augenblidlihen Befiger zugute. 
Schon der nädfte Nachfolger fann von der Wertiteigerung‘ feinerfeit3 feinen 
Nugen mehr ziehen. Denn bei jedem Befigmechjel wird der bi3 dahin eingetretene 
Wertzumwach3 liquidiert in der Höhe de3 Staufpreifes8 beim Eigentumsübergang 
unter Lebenden und in ter Höhe ded Tibernahmepreijfe8 beim Erbgang. Der 
neue Beliker muß alfo für den geltiegenen Wert vollen Gegenwert leiften, jei e8 
in Form von Barzahlung oder durd) Übernahine von Hypothelen und Sauf- 
preigreftihulden. Yür ihn bleibt nur der Zwang durd erhöhten Nuten, höhere 
Mieten und geftiegene Preife für die Produkte, den erhöhten Kapitalaufwand zu 
verzinien und berauszumirtichaften. Schon in der Hand de8 nädjften Beliger? 
äußert fih der Wertzumahd ala Erhöhung der PBroduftionsfoiten. Yu der 
Yumwendung unverdienter Gewinne an einzelne gejellt ji der Nachteil Höherer 
Mieten und Lebensmittelpreife für die Allgemeinheit. Bei induitriellen Anlagen 
ift e8 nicht anders. Auch bier führt die Wertiteigerung de Boden, auf dem 
die Snduftrie fich anfiedeln will, zu erhöhter Kapitalinveftition, ohne gleichzeitige 
&rböhung der Produktion, alfo zu erhöhten Unfojten für unprodultive Ywede. 

Es ift Klar, daß wir gerade jegt da8 allerdringendite Interefje haben, folche 
Wirkungen zu vermeiden. ! 

Wenn je einmal, fo ftehen wir jegt auf dem Standpunft, daß unverbdiente 
Gewinne unmoraliihe Gewinne find und dem einzelnen nicht gulommen. Wenn 
je einmal, haben wir jegt Anlaß, jeder durd die Umftände nicht unbedingt ge- 
dotenen Berteuerung von Mieten und Lebensmitteln entgegen zu treten und Der 
Snduftrie jede vermeidbare Berteuerung der PBroduftion zu erſparen. Beſonders 
bei der Landwirtichaft ift Gefahr im Berzug.e Dur die ungeheure Steigerung 
der landwirjchaftliden Grundrente, welche der Krieg gebracht Hat, ilt eine außer- 
ordentliche Steigerung der Bodenwerte bereit3 eingetreten. Auch in der Land— 
wirtfchaft Bat, abgefehen vom augenblidlidhen Befiger, niemand ein Interefje an 
diefer Vertfteigerung. Auch für die Landwirtfchaft bedeutet der unverdiente WVert- 
zuwachs legten Ended eine Berteuerung der Produktion ohne Gegenwert und 
zugleich, wenn nicht al3bald eingegriffen wird, eine Berewigung der unnatürlichen 
Vreisfteigerung für Lebensmittel, die während der Striegszeit eingetreten it. Wir 
Haben gejehen, daß der Wertzumah8 dem Borbefiger vom Nachfolger in dem 
erhöhten Kauf» bezw. Mbernahimepreiß voll bezahlt werden muß. Falls es nicht 
gelingt durch Wegnahme de3 unverdienten Wertzumachfed dem vorzubeugen, wird 
in der Form erhöhter Xebendmittelpreife die Gejamtheit für alle Folgezeit Ddiejen 
au verzinfen und amortifieren müllen. Die jo notwendige Senfung der 

ebensmittelpreife wird beim nädften Befiger durch feinen erhöhten Erwerbung- 
aufwand unmöglid. Die Landwirtfchaft als folche Bat daran fein nterejje, im 
Gegenteil, die durch foldhe unproduftiven Faktoren bedingte Preisiteigerung er- 
fchwert ihr die Erlangung der Gegenleiftung für wirklich produktive Aufwendungen 
und für unvermeidbare Steigerungen der tatfächliden Produftiongkoften (Löhne, 
Materialtolten ufw.). Aber aud) fon der einfahe Gedanke, DaB der ganze 
BWertzumachd die nädhjfte Generation in Yorm höherer Schulden belaltet, muß bei 
der Landwirtichaft dafür Sprechen, daß aud) fie den unverdienten Wertzumadj 
ala folden verurteilt. | 

Big jegt Hat man nun geglaubt, dem unverdienten Wertzumach)d dadurd) 
entgegenmwirfen zu tönnen, daß man ihn zu einem nicht unerheblichen Zeil für 
die Allgemeinheit in Anfpruch nimmt in Zorn von Wertzumwachziteuer, Anlieger- 
beiträgen u. dergl. Dean bat aber dad Mbel dadurch nur vergrößert, da e3 dem 
@utdbeliger gelang, geftügt auf die ihm günftige Stonjunftur, die den Wert- 


* 


54 Der unverdiente Wertzumadhs an Grund und Boden unter den neuen Derhältniflen 


— 





uwadhs gelhaffen bat, aud) die ihm angejonnenen Xaften auf den nädften Be- 
iger abzumälzen. Der näcfle Beliger und mittelbar die Allgemeinheit hatten. 
dann nicht bloß den Wertzufat des Vorbefigerd voll, fondern außerdem noch die 
ganzen ihm auferlegten Laften zu übernehmen und in Form höherer Mieten und 
Rebensmittelpreife abzutragen. Der einzige Weg, dem unverdienten Wertzumahß 
entgegenzuwirken iſt der, ihn gu verbindern. | 

Das fanıı dadurch geichehen, daß der Wert von Grund und Boden an 
einem beftimmten Stichtag vor dem Strieg. etwa dem 1. Zuli 1914, dur) Schägung 
feftgelegt und nunmehr dem Staat oder der Gemeinde ein gegen jeden Eigen- 
tümer wirfende8 dingliches Vorfaufsrecht gegen Erfag eben diejed ein für allemal 
feftgelegten Werte3 eingeräumt wird. Diefer Wert wird auch da8 daritellen, mas 
im alle der Enteignung für öffentlihe Zwede zu entjchädigen wäre. 

Einen ähnlihen Weg bat befanntlich der gemeinnügige Wohnungsbau ver- 
fchiedentlich eingefchlagen, um jeder Spefulation mit den von ihm erjtellten Wohn- 
gebäuden von. vornherein die Spige abzubrehen. Nur ıwar man bisher darauf 
angemwiefen, ein foldye8 dingliches Bor- bezw. Wiederfaufsrcht fih im Bertrag$- 
weg einräumen zu laljen, wa8 bei der erften Veräußerung der neu erftellien 
Gebäude ohne meitereö möglih war. Die Ausdehnung eines folden Vorkaufs— 
rechte auf den gejanıten Grund und Boden zu einem ein für allemal firierten 
Preis zugunften de8 Staate® oder der Gemeinde fann nur auf dem Weg der 
Gejeggebung vorgenommen werden. Dabei wäre der in Betracht fonımende Über- 
nahmeprei auf Grund bebördliher Zeititellung in geordnnetem Berfahren im 
Srundbud einzutragen. Ebenfo könnten durch behördliched Erkenntnis nadhträg- 
lihe Abänderungen diejed Eintrage3 angeordnet werden, wenn wirflihe An- 
derungen de3 Sachwertes, tatjähliche Verbeflerungen oder Verfchlechterungen de$ 
Objektes eintreten jollten, wobei für abnugbare Zeile aud) regelmäßige Abjchrei- 
bungen in Rechnung zu nehmen wären. | M 

Die Ausübung des Eigentumd al8 folhem würde durch die vorgeichlagene 
Mapnahme in feiner Weife beeinträchtigt. Der Eigentümer wäre in der Ber- 
fügung über fein Eigentum frei. Tatfädhliche Verbefierungen feines Beliges, deren 
Wert ja dem urjprünglichen Vorktaufspreis auzufchlagen wäre, würden ihn nicht 
zum Nachteil gereihen. Auch die Veräußerung alS folhe zum Borfaufspreis 
würde praftifcy faum eine Behinderung erfahren, da in diefem Fall Staat oder 
Gemeinde faum Anlaß nehmen würde, einzugreifen. Nur die Veräußerung zu 
einem höheren Preiß würde verhindert, da in diefem Yall Staat oder Gemeinde 
Anlaß hätten, ihr Borfaufsreht auszuüben und da8 Objeft dent Kaufliebhaber 
zum Borfaufspreis zu überlaflen. Das ift e8 aber gerade, was erreicht werden foll. 

Auch) der Realfredit würde feine Einbuße erleiden, fofern er fi an ben 
Borfaufswert Hält. Im Gegenteil wird der Nealfredit in diefem Rahmen durd) 
die Gejundung der Grundftüdßpreife nur gewinnen fünnen. 

Beeinträdhtigt würde nur die Grundftüdsipefulation.e Wenn 3. 3. heute 
. jemand ein unbebautes ftädtifches Grundftüd um einen höheren al8 den Nugungd- 
wert erwerben und liegen laffen will, biß es durch entjpredhende Wertiteigerung 
nit nur den Kaufpreis für die Zwifchenzeit verzinft, fondern nod einen ent- 
Iprechenden Gewinn abwirft, fo fommt er damit fünftig nicht mehr auf feine 
Rechnung. Das ift aber fein Schaden. Im Gegenteil, e8 würde durch die Ber- 
binderung diefer Spekulation gleichzeitig aud) da8 erreiht, wa8 man mit Hilfe 
der Bauplagfteuer bisher ohne Erfolg angeftrebt hat. 

Aber wenn bier etwas gejchehen will, jo tut Eile not. 8 muß eingegriffen 
werben, ehe die Wertjteigerungen, die durch bie Striegstonjunftur bejonders bet 
ländlichen Srundftüden hervorgerufen worden find, beim Tibergang in die nädjite 
Hand fapitaliliert und audgejchöpft find. Soweit dies bißher bereit geichehen 
ift, Handelt e8 fid) überwiegend um die Anlegung. von Striegägewinnen, auf die 
eine Rüdlicht nicht genommen zu werden braucht. Allein, je mehr Zeit vergeht, 
deflo größer ift die Gefahr, daß auch andere als Striegägewinner getroffen werden. 
Das follte verhütet werden. 


Die Rolle des Gebildeten auf der politifhen Seitbühne 55 


— — —— — — ——— —— —— —— —— —— —— —— — — —e —“ .. 


Die Rolle des Hebildeten auf der politifchen Zeitbühne 


Don Dr. Alerander Ringleb 


3 iit ein bemerbensiwerter Zug unferer Zeit, in der Welt unferer 

54 Nachdentlihen die moderne ruffifche Literatur und ihre Berherr- 
lichung des Idealanarchismus zu preiſen. Begreiflich für alle aus 
dem geſamten Zeitgeſchehen, verſtändlich aber ganz beſonders aus 
der pſychiſchen Verfaſſung unſerer Gebildeten, die, wie ihre geiſti⸗ 
gen Ahnen aus der Nachzeit des Dreißigjährigen Krieges, Licht⸗ 
ſucher geworden ſind. Seelen, die den Pfad verloven heraus aus der Finſternis, 
tiefer Zerriſſenheit des inneren und äußeven Erlebens. | 

Ergriffen hören vpir Tolftois fcehmerzdurchzittertes Lobensbebenntnis. Und 
doch jtehen wir nicht fo jehr im Banne klaren Ertennens ſpezifiſch vuſſiſcher Ver— 
hältniſſe, als vielmehr in der Wiederaufnahme der Menſchheitsideen, die ſechs— 
hundert Jahre vor Chriſtus La-o-tſe in dunkle Gleichniſſe fernöſtlicher Symbolik 
gekleidet, die am Vorabend der großen Revolution Rouſſeau den Weſtvölkern ver— 
kündet und die in bewußter Anlehnung an beide Graf Tolſtoi zu verwirklichen ſich 
beitrebte. Diefe Wienjchheitsideen kamen einer allgemeinen Zeitſtrömung ent- 
gegen. Hatte die Antike und das Mittelalter die überkommene Geſtaltung 
des menſchlichen Befindens als etwas im letzten Grunde Gottgewolltes, Unab— 
änderliches hingenommen, Einzelerſcheimungen des Elends und der Not nach 
beſtem Vermögen zu lindern geſucht, ſo hatte ſie doch nie den Geſamtſtand von 
Grund aus zu andern ſich bemüht. Die Moderne bringt eine Wandlung des 
Vebensproblems. Tre Geſellſchaft tritt in den Vordergrund. Das Ver—⸗ 
haltnis von Menſch zu Menſch wird umſomehr zum Kern des Lebens, als die 
Hinwendung zum Metaphyſiſchen, die Anknupfung an eine überweltlich-über— 
ſinnliche Macht innerlich abgelehnt wird. Unter dem Einfluß der Technik werden 
die gegenſeitigen Beziehungen tauſendfach geſteigert. Die Bedeutung der wirt— 
ſchaftlichen Zuſtände iſt dem Zeitalter des Entwicklungsgedankens und der 
Milieutheortie faſt der wichtigſte Faktor in der neuen Rechnung, die in Fort— 
ſetzung Hegelſcher Gedanken von Karl Marx der alternden Menſchheit vorgeſetzt 
wird. Seit Jahrtauſenden hatte die Geſellſchaft eine Struktur ariſtokratiſcher 
Art. Nur eine kleine Minderheit trug die Kultur und beſaß ſie in vollem 
Sinne. Ten andern fiel nur ein dürftiger Anteil an den Gütern des Lebeus zu. 
Noch die Höhe des Humanismus behandelt dieſe Kluft als ein unüberwindliches 
Schickſal. Aber fchon die Auftlarung hatte mehr und mehr jener Scheidung ent— 

ngewirkt. Die Maſſe will immer weniger ein bloßes Objekt wohlwollender 
ürſorge ſein; ſie drängt zu ſelbſtändiger Mitwirkung, zur Entſcheidung über den 
Gehalt und die Richtung des Lebens. „Was in Frankreich gegen den Schluß des 
achtzehnten Jahrhunderts in ſtürmiſche Erſchütterung auslief, das hat im neun— 
zehnten Jahrhundert die ganze Kulturwelt durchdrungen, dem konnte ſich auch 
das deutſche Leben nicht entziehen.“ (Eucken.) Und wir Gebildeten im deutſchen 
Volke denken auch heute nicht an Widerſtand gegenüber dem Ablauf eines ge— 
ſchichtlichen Prozeſſes; nur laſſen wir uns gerade in dieſen Tagen das Recht, 
deutſcher Gründlichkeit in der Geſamtbeurteilung nicht verkümmern. Nicht 
dürfen wir heute im Bewußtſein tiefſter Erkenntniſſe uns erhaben dünken über 
eine Offentlichkeit, uns degradiert empfinden, wenn uns alle verſtehen würden. 
Unſer Ziel ſoll Wahrheit ſein, Klarheit über uns ſelbſt und unſer Volk, genaue 
Abgrenzung der ſich gegenſeitig bekampfenden Einflüſſe, die aus tauſend 
Strömen dem Geſtaltungsprozeß einer neuen Lebensform zufließen. 

Es iſt ein hervorſtechender Zug deutſchen Weſens, neben aller Achtung vor 
ſich ſelbſt unermüdlich Fremdes, Fernliegendes in ſich aufzunehmen, fremde 
Eigenart zu ſuchen und zu lieben, aber daneben, wie jedes junge Volk, kritiklos 

remdes zu bewundern und im breiteſten Maße auf ſich ſelbſt zu übertragen. 
Für den Staatsgedanken römiſcher Ausprägung hat ſich der Deutſche ebenſo ent⸗ 
ſchloſſen eingeſetzt wie für die rechtlich geordnete Gemeinſchaft aller Gläubigen, 











56 Die Rolle des Bebildeten auf der politifhen Zeitbühne 
ee ee — ——— — — — — 








Auguſtins Gottesſtaat. Und ſo immer wieder in der Geſchichte; Fremdes wird 
angenommen und verdrängt das eigentümlich Deutſche. Gierkes dorſchungen 
— uns bewieſen, wie ein tief eingewurzeltes ſoziales Empfinden, der 
noſſenſchaftsgedanke, wie all das koſtbare Erbteil aus den Zeiten der Verſuche 
eigendeutſcher Staatsbildung geopfert wurde dem äußeren Fortſchritt, dem ſich 
der biegſam individualiſtiſche Charakter des römiſchen Rechtes beſſer anpaßte. 
Dann haben wir in unſeren Tagen ein Wiederaufleben der eingeborenen Fähig- 
beiten erfahren: die Organiſationskraft des deutſchen Volkes, die große Kunſt des 
ſtolzen Gehorchenkönnens, nicht erpreßt aus Sklavenſeelen, ſondern herausgebo— 
ren aus dem ſcheinbar ſchon verſchütteten deutſchen Eigenweſen. Wir find augen- 
blicklich geneigt, gerade hierin bitter a on zu urteilen. Die Auswüchje der 
Organifierungsluft, dDiejes urdeutfchen Yajters, haben den einzelnen unnötig 'ein« 
geihräntt und taufend Verfehlungen arobjter Art wurden troßdem nicht weg- 
organiliert. Die Uberfchägung 3 <taatsgedantens, Ergebnis der ausgebaut 
Marriltiichen Theorie in den Ktreifen der Suztaldemofratie, erfährt in den Reiben 
der „sntelleftuellen Abwerfung. Dan denkt an das Beifpiel Rußlands, wo ein 
zur jtaatlihen Kigenentiwidlung unreifes Volk Heute wie gejtern unter einer 
Deſpotie jeufzt und bier wie dort nicht gefunden fann. 

nd mdiefem Sinne tt es zweifellos wahr, daß aud) wir nicht reif jind 
u einer grundumftürzenden Weubildung; der allmählicy anjteigende Weg führt 
Öiherer zum Biele alö der gevade über die Klippen. Aber vergeffen wir nicht: 
se langjamer die Wegleiftung, deſto ärger die Gefahr, vom eigentlichen Ziele ab- 
zulommen, abgedrängt zu werden! 

syn der Arena des politifchen Stampfes wirbeln uns Papierbogen entgegen, 
Parteiprogramme! Eines wie das andere Schlagivorte, Phrajen, die den Stamıpf 
um die Wacht verbramen over... . verhüllen jollen. Und mit einem bitteren 
Gefühl müfjen wir ung gejtehen: Die Formen, in denen der Kampf um Deutjch- 
lands Weugejtaltung fich abjpielt, gleichen fajt auf ein Haar den franzöjiichen 
oder ameritanischen. Und es lebte doch noch) vor kurzem in uns die lebendige 
— die Walther Rathenau einmal rennt „öte des Augenblids 
önnen durch — Vertreterbeſchlüſſe wohl oder übel beſeitigt werden, ſo wie 
ein unwillkürliches Wimperzucken die Mücke abwehrt; Lebensentſchlüſſe eines 
Volkes ſollten nie einem Referendum anheimgeſtellt werden. ..... Der Ge⸗ 
danke eines Volkes iſt erſt dann zur Reife vollendet, wenn er in den überwiegen⸗ 
den Geiſtern zur unbewußten Selbſtverſtändlichkeit geworden iſt.“ Wir hatten 
uns die zukünftige Nationalverſammlung nicht als eine Zuſammenkunft von 
Intereſſenvertretern nach üblichem Schema vorgeſtellt (wobei übliches Schema 
freilich auch darin zu ſehen wäre, wenn dieſe Nationalverſammlung mono— 
poliſtiſch ſich allein proletariſchen Intereſſen widmete), wir hatten noch den ſtolzen 
Glauben an einen gebietenden „Rat der Alten“; losgelöſt aus dem materiellen 
Getriebe, voll wahren, echten Empfindens für das Volksleben. Männer, denen 
die Geſchichte ihres eigenen Volkes nicht einen Kehrichthaufen alten Gerümpels 
bedeutet. Doch die ſe werden nicht raten und abſtimmen! 

Schieben wir nicht den äußeren Verhältniſſen allein die Schuld zu, daß es 
ſo kommen mußte, daß wir heute von Rußland die Ideale des Sozialismus, von 
Amerika und Frankreich die „reine“ Demokratie uns aufpreſſen laſſen. In 
unſeren eigenen Reichen iſt ſchon längſt raffiniert Stimmung gemacht. Wir 
kennen die zerſetzende Kritik einer —— Tagespreſſe und eines Schriftſteller⸗ 
tums, die dem deutſchen Intellektuellen die Fackel überlegener Geiſtigkeit ent— 
gegenhielten, wenn er im Dunkel eigener Tiefe nicht aus noch ein wußte. Und 
muß es uns nicht ein Menetekel eigener Geiſtesunfähigkeit ſein, daß ſich in dieſen 
Tagen um einen Mann eine Partei ſchaven kann, deſſen volksfremder Stand⸗ 
punkt ſich nicht durch ein farbloſes Progvamm verhüllen läßt, der ein demo— 
kratiſches Ideal verficht, das mit der Hilfe des allmächtigen Stimmzettels einer 
Tyrannis von zielbewußten Einzelmenſchen vorarbeitet. Fremd ſtehen viele 
unſerer jüdiſchen Mitbürger leider noch heute im eigenen Volkskörper, leben auf 
ber gleichen intellektuellen Baſis, erleben aber meiſt nur in ihren ethiſch wert— 


Die Nolle des Gebildeten auf der politifiben Zeitbühne 57 


— — — —— — — — — — —— — — —— 
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vollen und in vielen der Hochſtehenden den tiefen Einklang des deutſchen Gefühls. 
@&o wir in ernjter Sorge, jehend, daß diejer hochwertige Teil unferer 
Bollögenofien, die Juden, a feiten beider ‘Parteien fteht, von denen feine es 
mit ihnen verderben will: wohin tvendet fich das ung bedeutfame Schwergewicht, 
ber ethijch und kulturell Hochitehende Jude? ‘yet gerade bildet fich in der Mitte 
eine eigene sgudenpartei; der Ausgleich, wie wir ihn rechts und links noch inner- 

li, einzelnen Gruppen fejtjtellen können, fehlt hier heute fchon faſt offen⸗ 

ich. 

Iſt Diele yudenfrage wirklich nur ein ee ein Minoritäts- 
problem, eine Lage, in die alle völtiihden Minderheiten fommen? Arthur Cohen 
weilt auf die Ericheinung bin, daß die Juden zumeift al3 Minoritätenführer auf- 
treten; der xyude fei, jelbit zur Minorität gehörig, der geborene Minoritätenfreund. 
Diarz und Lafjalle waren Juden. zsajt überall, wo eine Minorität ihren Be- 
freiungstampf beginnt, treffen wir Juden an der Spite oder wenigftens unter 

Anhängern, Berteidigern oder VBerkündern der neuen Beivegung. Die, 
Motive find gefuht worden in Snobtum, Xuft am Neuen, Chrgeiz verbunden 
mit Eitelkeit, Angjt, hinter der Zeit zurüdzubleiben, wenn man nidyt mittue; 
fte find, objeftiver jchon, gejucht mowden in dem allgemeinen Bemwußtfein, daß die 
Sewinnung der Viajorität für die gerehte Behandlung eimer beliebigen Majori- 
tat auch den Syuden indivelt zu jtatten Tomme. 

Wir könnten uns mit diefer Chavakteriftif der piychiihen Lage, die und 
ein jitdifcher Gelehrter Liefert, begnügen, wenn uns nidt ein zweiter Kopf der 
gleichen Yieihe mehr zu jagen mußte. Walther Rathenau, jelbit Vollblutjude, 
dat tiefen Einblid getan in die Welt der Intellektsherrſchaft, wo die bloßen 
Zwecke regieren. Er fpriht von dem Menfchen des Begehrens und der sn 
„dem Zweckmenſchen“; „ſich jelbit Bann er nicht achten; andere achten .und ver- 
ehren zu müffen, würde ihn vernichten, » ſucht er jie zu fich hevabzuziehen durd) 
Mikgunft, Stepjis, Kritit und Verkleinerung. Als Sluger, Unzufriedener, 
Schwacher, iſt er zn und Beobadhter, gefchult, auf die Schmachheit 
anderer zu achten, geübt, fie zu enthüllen und zu benugen....” Hier follen die 
Hiltorifchen und jene Gründe, die zu Diefer Seitaltung und parteilichen Beurteis 
‚lung de3 judifchen Sejamtcharakters führen mußten, nicht im einzelten aufgejucht 
werden. Wir jtehen vor der Tatjadhe, müfjen uns mit ihre abfinden. in Otejen 
Rahmen aber gehört die wichtige Beobachtung des Miktrauens, das gerade dem 
deuffchen Staatsivefen ftet8 von feinen jüdischen Bürgern entgegengebracdht 
wurde. Deutichland N ihnen wohl zu jung und zu irrational. Die tiefe Er- 
fenntnis deutſchen WLejens fehlt ihnen; es fehlt der Einklang des Gefühls, der 
ih in England, Amerifa und fogar no) in Frankreich fo gut heritellen läßt; 
eine Dumpfe Ahnung lebt in ihnen, daß aus diejem in jeiner Art hochbegabten 
deutſchen Volke Sträfte emporwacfen fonnten, die den foztaliltifchen Gedanten 
tief befeelen und jo zur wirtlidh beherrfhenden Diadht erheben könnten. 
Bor dem Arbeiten in und an dem BVolkstörper als feelifhem Blied eines 
Kolleltivums graut ihnen; denn he müßten 1 in der Meaffe verjinten. 

Darum aber propagieren jie, jo parador dies Klingen mag, das “Sdeal der 
reinen Demokratie. Sie u I gut wie wir: ein Volk laßt jih wohl politi- 
- fieven, feine —— äßt ſich erhöhen, aber ein Volk als ſolches kann nie 
ſelbſt beherrſchen. Eine derartige Demokratie iſt entweder eine politiſche 

üge, indem doch irgend welche politiſche Talente unbeſchränkt regieren oder 
eine Verfallsperiode, wie ſie uns Burckhard ſchildert: „Von der faktiſchen Herr- 
ſchaft der Demokratie an herrſcht in ihrem Innern die beſtändige Verfolgung 
gegen alle diejenigen Individuen, welche etwas bedeuten können und zeitweiſe 
als Beamte, Strategen uſw. bedeuten müſſen, ferner die Unerbittlichkeit gegen 
das Talent, es mag ſo treu und ergeben dienen, als es will, die periodiſche Hetze 
gegen die, welche etivag bejiten und endlich bei den PVerfolgern das durd)- 
gebildete Bewußtfein: Man habe es8 mit den en jo gemadt, daß jeder, der 
tivas fei, notivendig innerlich empört und daher bei gegebenem Anlaß ein Ver- 
säter fein müffe. .... . . = 


58 | Die Rolle des Gebildeten auf der politifiben Seitbübne 


Sollten nicht unfere Deutjchen uden etwas genauer die Gefchichte der- 
Demofvatie lejen, um getvahr zu menden, wel ein Schidfal ihnen bevorftehen 
fonnte, wenn jie das verwirklichen wollen, was im wahrlten Sinne deutfcher Art: 
wejensfremd it: Gedankenaufbau nach franzöfiicher Advofatenlogit verbunden. 
mit den „tdealen des kindlichen Ameritanismus, den Rathenau fo trefflich 
zeichnet: „Amerita bleibt ein Kinderland, ſolange es den Käſetruſt oder das- 
Seifenmonopol ernfter nimmt ald eine Mufitfchule oder eine Horagausgabe.... .“ 

Und gerade bei der Betrachtung Ameritas follten wir ftugig werden. Der 
Amerifaner Draper jagt: Große Männer fönrie, ja dürfe e8 in Amerifa nicht 
mebr geben! Und Deünfterberg gibt dem ähnlih Ausdrud: „Für wahrhaft große 
Männer ilt fein freier Raum, groß ericheint da aunädft, wer die Strömungen 
des Tages außnügt (alfo der Streber). Der Ehrgeiz muß fid) zunädft notwendig 
auf diejenigen Leiftungen richten, für die jedermann Berftändniß befigt und bei: 
denen jeder wetteifern fann: Reichtum und förperlide Leiftung..... 

&3 ilt fein Zufall, daß Amerifa bisher noch fein eigentliches Weltgenie zur 
Entwidlung gebradjt hat.“ ; 

Unferen deutichen Volke ift jegt die Eriftenzfrage in jeder Beziehung geitellt. 
Wie erhalten wir die Grundlagen zur Verwirklichung unferes Wefend, um nicht 
wie Ahasver in der amerifanifierten oder verengländerten Welt von Ort zu Ort 
gehegt zu werden bi$ zum Untergange. 

Die Madjtpolitit it fchlafen gegangen, wieder fliegen die Naben der Zivie- 
trat um den Hyffhäuferberg. Nie erjchien und die Welt jo dunfel wie in den 
MWeihnadhtstagen 1918. 

Dod Zaufende und Abertaufende find nod am Werke. Nicht jene 
Sünglinge, die in den Tagen de3 Glüd3 und des Ruhms miteinftimmten in den 
Baterlandögefang und die Heute fich beeilen, „unterzufommen“ in den Betrieben, 
wo medanifierter Geilt und Geld viel oder alles gilt. | 

Eine8 müflen wir bemußt deutfchen Intellektuellen von ihnen lemen: da8 
it die genaue Berechnung der wirtfchaftlihen Yaktoren. Uns liegt Die —— 
des deutſchen Volkes am Herzen, nicht die Verwirklichung irgendeiner beſonders 
angeprieſenen Staatsform. Das deutſche Volk wird in eine Wirtſchaftslage 
gedrängt, die von jedem Gebildeten gebieteriſch fordert, ſchon heute dieſem Problem: 
ſeine volle Aufmerkſamkeit zuzuwenden. Der Reichtum Deuitſchlands liegt in 
ſeiner Arbeitstraft, ſeiner Befähigung zur Qualitätsarbeit. Dieſe Arbeit fordert 
Ernährung, überhaupt eine gute Lebenshaltung, um konkurrenzfähig zu 
leiben. Wir werden auf die Einfuhr aller Stoffe verzichten müſſen, fuͤr die die 
deutſche Erfinderkunſt bereits Erſatzſtoffe ſchuf oder noch ſchaffen wird. Wir 
werden mit der Ausfuhr. Hochwertiger Produkte unſere dringendſten Nahrungs⸗ 
bedürfniffe bezahlen müffen. Das wird aber nicht ausreichen; wir müflen zur 
intenfipften Landwirtihaft fchreiten, Shon um zahlreihe Arbeitsfräfte unter- 
zubringen, die au8 den nicht mehr fonfurrenzfähigen, da allein auf die Ausfuhr 
eingeftellten Snduftriezweigen ausscheiden müflen. 

E3 erfordert aljo die Siedlung3frage unjere Aufmerkjamteit. 

Hier aber. bietet fich ung eine viel umfaffendere Löfungsmöglichkeit für die 
Eriftenzfrage und bier würde vielleicht wieder ihre fchwerite Bedrohung liegen. 

Revolutionen, wie wir fie heute erleben, find Beichleunigungen eines Natur- 
progefleg, der die Umfchichtung der menschlichen Gefelfchaft mit einer automatischen 
Genauigkeit bewirft. Herrfchende Schichten, durch) Reinheit einer langen Raffen- 
inzubt und Züchtung der SFührertalente befonder8 befähigt, verfallen der De- 
generation — äußere Umjtände ermögliden ihnen noh über ihre Zeit Hinaus- 
fortzubeftehen, biß die &leichgewichtälage etwa ‚durch friegerifche Ereignifle, Wirt- 
J oder durch den Feuerſtrahl einer genialen Perſönlichkeit zer⸗ 

ört wird. 

In dieſem Augenblicke ſteht das Volk vor einer Entſcheidung über ſein 
Selbſt. Hat es einen De ein Serrichergenie, jo wird ihm die Löfung leidt- 
Entbehrt e8 Ddiefer Öropen im Beilte aber ganz, dann muß, wie die römiiche 


‘ 


— — — — — — — 


Sertrümmerte Geigen 59 


— — [7 — — — — — 


(auch die engliſche) Geſchichte beweiſen, die Erbmaſſe der Herrſchertalente noch 
ſo in feſten Familienverbänden wurzeln, daß der geſamte Umſturz mit einer 
Zuwahl hochſtrebender Familien endet, wie etwa der erweiterte römiſche Senat 
oder die Veränderungen in der Zuſammenſetzung der Ratskollegien unſerer mittel— 
alterlihen Städte zeigen. Ä 

Haben aber wie einft in Griechenland, jo au jegt in Deutjchland, Handel 
und Verkehr, Aufblühen der Imduftrie, Aufwadjen einer Arbeitermafje auf engem 
Raume die Blutvermifchung zu einer chaotifchen werden laffen, dann fchwindet 
die Möglichkeit der Blutergänzung der Herrichenden Schihten von unten her; nur » 
die auf Eigenbejig gegründete Bauernbevölferung mit ihrer, durch die Verhältnifie 
erziwungenen Rafjeninzudt und der Fortpflanzung einer Erbmafjfe von Heimat- 
liebe, Yamilientraditionen, Ehrfurdt und Religiofität fünnen degenerierende Sn- 
tellettuellenihichten neu befruchten. 

Der geniale Führer fehlt uns, jogar die politischen Führertalente mangeln;. 
umjomehr heißt e8 auf der Hut fein vor fremden Eıinflüffen, denen an der Gelbit- 
erneuerung de3 deutlichen Bolfes nicht gelegen ift. Siedelunge&politif ift fein 
Handelsobjelt. Zrogdem finden wir im Augenblid jogar bei jener früher er- 
wähnten Prefje eın überrafchendes Berftändnig für die große Gefahr, die dem 
ejamten oftdeutihen Siedelungsgebiet durch die Bemühungen der Polen droht. 

öchte dieſes Intereſſe, dieſes Verſtändnis doch erwachſen ſein aus dem gemein— 
ſamen deutſchen Nationalintereſſe. 

Es iſt nur weniges, was uns noch bleibt, und dazu rechneten wir bisher 
noch die Grenzlande des Oſtens. Müßten wir auch hier verzichten, dann iſt die 
Exiſtenzfrage im negativen Sinne als gelöſt zu betrachten. Glauben wir doch ja 
nicht, daß der Ruf „Zurück nach Weimar“ oder der Erfüllung des demokratiſchen 
Ideals uns eine Zukunft bieten könnte. Die eine Seite überſchätzt unſere, der 
Gebildeten, eigenen Kräfte, die andere hofft aus dem allgemeinen Chaos mit 
möglichſt geringem Dividendenverluſt herauszukommen und ſchmeichelt der Eitel— 
keit derer, mit deren Urteilsloſigkeit in politiſchen Dingen man das beſtmögliche 
Geſchäft zu machen hofft. 

Faſſen wir alſo zuſammen: Wir anerkennen den tiefidealiſtiſchen Zug des 
deutſchen Sozialismus, wir warnen vor einer Uberſchätzung des Staatsbegriffes 
und damit vor der Gefahr erneuter Klaſſenherrſchaft — ebenſo lehnen wir ein 
innerlich fremdes Staatsideal ab, das von gewiſſen Kreiſen unſerer Mitbürger 
für geeignet erachtet wird, aus ihm bare Münze zu ſchlagen. Wir gehen ſogar 
noch weiter: Wir lehnen den geſamten politiſchen Parteikämpf, wie er ſich jetzt 
nach amerikaniſchem Muſter auszubilden beginnt, als weſensfremd ab. 

Wir deutſche Gebildete verzichten auf eine eigene Parteigründung, werden 
uns vielmehr dort anſchließen, wo wir, ohne ſozialiſtiſcher oder demokratiſcher Ein— 
ſeitigkeit verfallen zu müſſen, deutſche Geſamtideen noch durchzuſetzen hoffen können. 





Sertrümmerte Geigen 


Don Georg Cleinow 


eit einer halben Stunde Elingelt3 am Fernipreher und jeder neue 
Anruf will mir Kunde von der Erjchiegung Liebfneht8 und feiner 
Senoifin Rofa Yuremburg geben. Sch fannte rau Luremburg 
jeit zwanzig Jahren au8 einem Kreife um Guftav Schmoller. Nicht 
nur bei Sozialijten genoß fie wegen ihrer Geiltesfchärfe eine ge- 
Fe wie Adhtung und Sympathie. Daß fie einmal enden würde als 
Bollswut, Hat wohl niemand aus unferen Streifen vorgeahnt. Eher 





60 Sertrümmerte ‚Geigen 





ſchon fchien fie fi für einen ruffifhen Galgen vorzubereiten, dem fie 1906 in 
Warſchau nur durch einen Zufall entging. Heute werden dem rabiaten Weibe 
wohl nur wenig Tränen nadjgeweint werden. Roja Zuremburg Hat mit alt- 
teftamentariihem Haß zu fehr gegen die deuifhe Menfchheit gemwütel. Ob ihr 
Tod die Tragweite Haben wird, die wir ihm gern geben möchten, da8 
wird fih fchon in den nädjften Tagen zeigen. Waren Lieblneht3 Anhänger 
‚vorwiegend Berbreder auß der Großitadihefe, wie ihr Tun und Treiben ver- 
muten ließ, fo fönnen wir mit baldiger Beruhigung wenigfien® in Berlin 
rechnen, ftand aber mehr al8 diejed hinter ihm, fo tritt Die Ddeutidhe Re- 
volution nun in eine fohredlihere Phafe. Niemand wird diejfe Alternative befler 
fennen und aud fidherer voraußgefehen Haben, inie die Berantwortlicdhen an der 
Spige der Regierung. Sie, die fich nad) langem Zögern entichloffen, der Hydra 
Anardhie auf den Kopf zu treten, fannten beffer wie wir andere au8 den bürger- 
lihen Lagern die Gefahren, die die blutige Abwehr ded Zerrord nit allein für 
ihre perfönliche Stellung, fondern und in nod) viel höherem Make aud) für die 
Boltögejamtheit in fi trug. Aug diefem Grunde allein ift e8 entfchuldbar, daß 
fie fich folange fträubten, zu den fchärfiten Mitteln zu greifen, ehe nicht alle, 
aber auch reftlog alle anderen Mittel erjchöpft waren, die Unbändigen nod) 
in legter Stunde au befehren. %ür fie beginnt der Bruderfrieg, den ir 
andern fchon feit Monaten erdulden, erft heute, wo alle Weggenofien der Revo—⸗ 
Iution gegeneinander aufgeftanden find. Nun fie fi entidhlofen bat, ihre 
Bedenken von fi) zu werfen, fönnen wir außfpredhen: die Ebert, Scheide- 
mann, LZandöberg, Nosfe und Wifiel find in den Kampf gegen ihre früheren 
Barteigenoffjen mit der größten Befonnenheit gegangen, — zu langjam für 
unfere Ungeduld, doch Hoffen wir nod jchnel genug, um die Allgemeinheit, 
zu der auch da8 Bürgertum gehört, vor dem Argiten zu bewahren. Indem 
fie da8 Barteiinterefie Hinter da8 der Gejamtheit ftellen, ftehen fie felbjt ganz 
perfönli oben auf dem Wal in vorderfter Linie, und die Wut der Nevo- 
Iution, die nad) der Bernidhtung der Armee fih auf da Bürgertum und den 
an Arbeiter zu jtürgen drohte, richtet fi gegen fie. Mögen fie in 
en legten Monaten fi an ihrem Boltötum nod jo jehr verjündigt haben, nun 
fie bereit find, fi für da8 Bolf zu opfern, wollen wir verfuchen, ihre Haltung 
zu veritehen. . | | 
Die Bolköbeauftragten der Ebertgruppe hatten, nachdem der volle Inholt 
des Waffenftillftandsvertrages in der ganzen Armee befannt geworden war, tat- 
fahlih nit die Madt: fie faßen al3 ein von den Unabhängigen‘ geduldetes 
Anhängfel in der Wilhelmftrage. E83 waren die Unabhängigen und Spartalijten, 
verftärft durch die aus den Gefängnijlen befreiten Sträflinge und Deferteure, die 
in der Provinz, in Oft und Welt die Regierungsgewalt augübten. Die Ebert- 
gruppe fonnte big in die legten Wochen hinein faum etwa3 andere3 tun, als 
verhindern, daß fie aus der Negierung gedrängt und an ihrer Stelle alle Re- 
gierungspoften durdy) Unabhängige bejegt wurden, wenn fie ihre fogialiftijchen 
Ziele nicht fampflos den bürgerlichen Parteien preißgeben wollte. Die Herren 
Ebert und Scheidemann fonnten da8 Abergreifen de3 Boljhewigmugß nur ein- 
Ichränfen, indem fie fi) an der Regierung hielten, — e8 ganz zu verhindern 
vermochten fie zunädhft nit. E3 bedurfte einer gemiffen Seit um die beim- 
Tehrenden, um alle Hoffnungen betrogenen verbitterten Truppenteile zur Belinnung 
zu bringen und den Einfluß der Liebfnedhtichen Propaganda auf fie zu bejei- 
tigen. &3 ift Heute feftitehende Tatfache, daß 3. B. das Korps Lequiß in feiner 
erften Zufammenfegung jchon wenige Tage nad) feinem Erjcheinen in der Um- 
gebung von Berlin vollftändig unter den Banıı der radifalften Zofungen geriet, 
alfo zur Bekämpfung der Träger diejer Zofungen unbrauchbar geworden war. 
Die Möglichkeit aktiv vorzugehen ergab fih für die Ebertgruppe erit, al3 Die 
Unabhängigen bezüglich der Truppen in Sicherheit gewiegt, die revolutionäre 
Maste fallen liegen und aus der Regierung ausjchieden. Und aud) nad dielem 
Zeitpunkt mußte im Hinblid auf den Bollgugßrat der Arbeiter- und Soldaienräte 


— — m — 


Sertrümmerte Geigen 61 


mit äußerfter Befonnenheit und Diplomatie vorgegangen werden. In der Provinz 
fanden die fozialiftiihen Wolf3beanftragten zunacdhft feinen Rüdhalt unter der 
bejonnenen Arbeiterihaft, die fih nady den überftandenen Strapazen nach Ruhe 
fehnte, während eine in den Kriegsbetrieben verwöhnte, undisziplinierte Jugend 
das politiihe Wort führte. Wer die Ereigniffe in Berlin von der Provinz aus 
in naher sühlung mit den maßgebenden Berfönlidhfeiten verfolgen fonnte, wird 
mir zugeben, daß die Provinz-Soldatenräte immer beftrebt gemwefen find, fi 
unabhängig don der Berliner Regierung zu Halten und aud) im gegenwärtigen 
Augenblid mehr darauf bedacht find, fi felbft an der Macht zu erhalten, al& 
die neue Zentralgewalt zu Stärken. Nur wo in der Provinz überzeugte und 
zugleich gebildete Anhänger der Mebrbeitsfogialiften an den führenden Stellen 
ftehen, da haben die Bolfsbeauftragten Einfluß ausüben können. Was fie alfo 
leifteten big zu dem Augenblid, wo fie mit eigenen, der Regierung’abjolut fiheren 
Zruppen unter Nostes Zührung ih anfchidten, Berlin von Liebtneht und feinem 
PVöbel zu fäubern, ift eine politifche Leiftung allererfter Ordnung, die uns hoffen 
lajlen fönnte, daß wir über den tiefften Stand in unferm innerpolitiidem Leben 
Binweg wären, wenn nit .da8 Gefpenft des Meuchelmord3 zwilchen ung und 
unfere Zufunft tritt. 

Rafien wir jo den Mebrbeitsfozialiften in ihren führenden Regierung$- 
männern volle Gerechtigkeit widerfahren, jo brauden wir nidjt gu verjchweigen, 
daß ihr vorläufiger Sieg über die Anardhie doch nur möglich geworden tft durch 
die felbitlofe Hingabe, mit der Offiziere und Beamte aller Truppen und Behörden 
fich in den Dienst der nationalen Sache geftellt Haben. Ohne fie wäre Berlin 
längit ein Zrümmerhaufen, die Staatswirtichaft undeilbar erfchüttert und für ' 
Fa fozialiftifher Sdeale in das praftifche Leben fein Boden mehr 
vorhanden. : a: | 

Wie unficher trog Nosfes großen Erfolge8 die Stellung der Mebrbeits- 
fozialiften in der Regierung ift, darauf deutet die Haltung der Vollverfammlung 
der Groß-Berliner Soldatenräte Hin, die am 15. d. M. zu einer Ausfprache über 
die Zage zujfammentrat. Gie ftellt eine entihiedene Stellungnahme gegen die 
republitanifche Armee und jomit gegen da3 einzige Machtmittel der Regierung 
dar, wenn ein Dringlichfeitsantrag folgenden Wortlaut faft einftimmig an- 
genommen wird: | 

„Die Ausführungen Molfenbuhrs find geeignet, in großen Kreifen Unruhe 
bervorzurufen. Dan möge deshalb fich fofort an NoSfe wenden, der mit dem Ober- 
befehlshaber der in Berlin weilenden Truppen fi in Verbindung zu fegen Habe 
über Zmed und Dauer ded Aufenthalt3 der in Berlin weilenden Truppen. 
Noste möge fofort in der Berfammlung erfcheinen, um hier Aufflärung zu geben.” 

Molfenbuhr Hatte vorher audgeführt: „Seit einigen Tagen find nun Truppen 
in Berlin, über die wir feine Gewalt mehr Haben, die eine drohende Gefahr für 
Die Revolution find. Sch war Heute nachmittag im Bureau der Unabhängigen 
Sozialdemotratiihen Partei. Ich babe mandye Verrüftung in Belgien und 
Sranfreid) gejehen, aber was da geichehen, übertrifft alles. Dort haben feine 
Soldaten, dort haben Bandalen gehauft. .... . So etiwad fönnen wir nicht 
billigen. Wa8 in Berlin an Ordnungdmaßnahmen zu tun noch übrig bleibt, ift 
die Entwaffnung der Berbrecher, die planlo8 umberftreifen. Diefer Anlicht ftimmen 
aud) die Unabhängigen Sozialdemokraten bei. Als aber geitern in Moabit die 
‚Aufräaumung‘ beganı, da mußten mir die Empfindung haben, ‚die Geilter, 
die wir riefen, werden wir nicht wieder lod. Dur die Reihen der Arbeiter 
gebt der Buf: ‚Das ift die weiße Garde!‘ 

Wir können nicht zugeben, daß der Stab dieler Divilion fih dort in 
Moabit verbarrifadiert. In diefen Leuten verkörpert fih ein Geift, den wir ftärfer 
befämpfen müflen al Spartafus. Wir fönnen doch nicht die Kommuniften als 
Bartei durd) Mafchinengewehre befämpfen, ohne und des Xerrord jchuldig zu 
maden, den wir ihnen vorwerfen. Wir müflen fie mit geiftigen Waffen befämpfen. 
Wir müflen die Regierung unterftügen in ihrem Beltreben, eine Boltgwehr zu 


62 Maßgeblihes und Unmaßgeblidyes 


Ihaffen. Aber zu einer Boll3wehr gebraudht man da8 Volk, dag Proletariat und 
nit die Generale. Wenn ein Aufruf fi an die Soldaten, Offiziere und 
Studenten richtete, To ift daß eine Schamlofigkeit fondergleihen. (Begeiltertes 
Bravo!) Die Offiziere find in unferen- Augen feine erftflafligen Menfchen und 
wir wollen nicht mit ihnen an einem Strange ziehen, mag fonımen, wa8 da 


wolle. Steben wir nicht einig zujammen, jo find wir verloren. Der Arbeiter - 


darf nicht glauben, daß die Soldaten, die jegt Berlin vom Terrorißmus befreien, 
feine Zeinde find. Wir Soldaten find aud) Broletarier! (Bravo!) Wir wollen und 
mit den Arbeitern aufammenfdliegen, um unfer fo tief gebeugtes Volk wieder empor 
zu rihten. Mag e3 eine Unadfichtlichfeit gemefen fein, den jegt anrüdenden 
Garbetruppen als Kennzeidhen eine weiße Binde um .den Arm zu legen, fo müflen 
wir Doch energiich dagegen Einipruch erheben: denn damit jegen Be ih in den 
ſchärfften Widerſpruch zur Berliner Sarnifon. Die ganze rote Armee ijt von der 
weißen Garde entwaffnet worden. (Pfuirufe) Wir verlangen Schug gegen bieje 
'&lemente und wir müffen ung energilch davor Hüten, don einem Crirem in? 
andere zu fallen. Unjer größter Zeind ilt nicht Spartafus, deifen terroriftiiche 
Afte wir nur befämpfen, fondern unfer fchlimmiter Feind ift die Reaktion. Wir 
lehnen e8 auf das Schrofffte ab, unfere Waffen auszuliefern, um fo mehr, da ‚wir 
nit wiflen, in weldde Hände fie fallen.“ 
* * 
Der Staatsſekretär des Auswärtigen Amts Graf Brockdorff-Rantzau empfing 
kürzlich einige Herren, um durch Verleſung einer Note mit dem für die Politik ſo 
wichtigen Inſtrument der Preſſe in Fuͤhlung zu treten. Der neue Chef des 
Auswärtigen Amts führte unter anderm aus, daß, wie ſchwere Anforderungen 
auch die nächſte Zeit an uns ſtellen werde, ein Grund zum Verzweifeln nur dann 
vorhanden ſei, wenn wir uns ſelbſt nicht die nötige Kraft zutrauen, als einiges 
Volk zu den endgültigen Friedensverhandlungen zu gehen. Und gleichſam, als 
wollte er neben der Hoffnung und dem Vertrauen in die Stärke der deutſchen 
Volksſeele, das in dieſen Worten liegt, beſcheiden ſeine eigene Machtloſigkeit 
dem augenblicklichen Chaos gegenüber bekennen, flocht er in ſeine Darlegung den 
Sedanten: „Auf zertrümmerten Geigen fonnte aud ein Sarafate nicht jpielen.“ 
Saoo ſchlecht e8 und geht, — daß die deutiche Seele, diejes flangreihe Sn- 
firument, gertrümmert fein follte, will ich nicht glauben. Ihr Gehäufe ift un- 
anfebnlich geworden; einige Saiten find überzogen, andere geiprungen. Männer, 
die ihr Volf lieben und deffen Wohl über perjönliche und parteitfche Inierefien 
ftellen, werden auch die Handhabe finden, feine Seele wieder tönen zu laffen. Sie 
‚wandeln unter ung, wenn aud) nod) nicht erfennbar. 





Maßgebliches und Unmaßgebliches 


Schmaroter ber Revolution. Bon Mar 
Weber ftammt, wenn ih nidt irre, die 
treffende Unterſcheidung zwiſchen ſolchen, die 
für die, und ſolchen, die von der Revolution 
leben. Zur zweiten Kategorie gehören neben 
den „Männern der Tat“ (Bolschewismus 
‚asiaticus) vor allem jene geijtigen Schmaroger, 
die im Zeichen der Zenfurfreibeit ihr wider« 
liches Daſein friften: Beifpielsweife Herr 


Adolf Plefiner, der „Keraußgeber” des 
„Salgens”, jener „Internationalen Zeitfchrift 
(sic!) für alle Tulturellen Intereffen”, die ala 
„Offizielles Publikationsorgan der deutſchen 
Sozialariſtokratie“ (Bund der Freien Deutſch⸗ 
lands) die innere Beziehung zu Revolution 


und Titel durch kreiſchend rotes Papier und 


das „Ariſtokratiſche“ durch den ſelbſt in 
unſeren Zeiten für ſechs Druckſpalten „außer⸗ 


— — — — — — — 


Maßgeblihes und Unmaßgebliches 


.gewöhnliden” Preis von fünfzehn NReichd- 
‚pfennigen verdeutliht. (Wenn diefer Preis 
nit mit dem Notfchrei, fofort zu abonnieren, 
um ein dauerndes Beitehen der „Zeitfchrift“ 
‚zu ermögliden, zufammenhängt!) Die mir 
vorliegende Ar. 3 bat ed auf den früheren 
Kailer abgefehen. Warum au nicht, feine 
Perſon iſt moralifh vogelfrei; am Bitter des 
Berliner Schloffes bieten jegf Händler und 
Händlerinnen armfelige Karilaturen auf die 
‚Hohenzollern feil wie früher ihre Photo- 
grapbien. Geihäft ift-Geihäft! Der Staijer 
aljo Hat an die „Deutihe Sozialariftofratie 
zu Sünden ded Galgen” ein Telegramm 
gerichtet, daß er fich der Regierung Ebert- 
Saafe zur Berfügung ftelle.e Großartiger 
Big, niht wahr? Und da wird ihm denn 
dom „Henler“ mit freiem Gruße ermidert, 
er jolle bleiben, wo er ift, denn er babe 
Deutihland zugrunde gerichtet, 1914 an« 
gefangen und nicht rechtzeitig aufgehört. — 
Anſichtsſachel Durch ſolchen „Leitartikel“ ge⸗ 
winnt man jedenfalls etwas ſehr wichtiges, 
nämlich eine „ziehende“ Überſchrift, die natür⸗ 
lich „Des Kaiſers Rückkehr nach Berlin“ 
heißt. Dieſelbe Melodie des Monarchen⸗ 
henkers wird auf der zweiten-letzten Seite 
variiert, wo „Danton“ in poetiſch gar nicht 
übler Form, dafür inhaltlich den ſadiſtiſchen 
Haß der Boulevardpreſſe faſt nod) über- 
bietend, die Flüche der Toten, den Jammer 
Ahasverus' auf das Haupt Wilhelms des 
Zweiten herabwünſcht. Folgt die „Galgen⸗ 
tribũne“, eine Art „Sprechſaal“, in dem die 
Zuſchrift eines Offigziers an die Redaktion, 
die dieſer Katze die Schelle umhängt, ab⸗ 
gedruckt wird. „Ihr Blatt iſt Schmutz und 
Unmoral, laſſen Sie uns zufrieden mit Ihren 
blödfinnigen Ideen“, heißt es da. „Wir 
danken dem Herm Leutnant vielmals für 
feine intereffanten Ausführungen,“ quittiert 
grinfend Herr PBlefiner. Unter dem Strid 


gibt’3 dann, auf das alle Snitinkte der Lefer- 


welt zu ihrem Rechte fommen, eine Artikels 
jerie von „Prof. &. Hardy“ über Abtreibung, 
Schwangerfhaft und ‚dergl. Seltiam mutet 
in diefer Umgebung da Gedicht Waßmanns, 
des Gründer® der „Deutſchen Sozial⸗ 
ariftofratie”, über die „wahre freiheit” an: 
Das ift die wahre freiheit nicht, die jeden 
Neihen baßt, die jeden Qumpen Bruder 


63 
ihimpft, weil er fein Geld verpraßt. Die 
wahre freiheit fordert nur, daß gleiches Net 
gedeih’, doch nicht, daß jeder Diener Herr, 
und umgelehrt e8 je. So lange eine Welt 
befteht, fo lang gibt’3 arm und rei), fein 
Bolfaftaat, feine Nepublif, madht alle Dlen- 
fen glei.“ Armes Ileines Lied, eZ tut mir 
web, daß ich dich in der Gefelichaft feh! 

Und dod) ift fie noch vornehm gegenüber 
dem „Geilte“, der in der „reien Preffe” des 
Herrn Hans Bähr fich austobt. Sie ftellt alled 
andere in den Schatten, felbit Liebfnecht3 Leib⸗ 
organ Tann einpaden, denn fie ift die „Wochen 
fhrift für fchranfenlofe Freiheit“. Endlich 
iſt's erreicht, das herrliche Ziel der Revo⸗ 
lution. Der normale Sekundaner begreift 
allerdings ſchon die in jenem Ausdruck liegende 
contradictio in adjecto, aber Herr Bähr ift 
über dergleihen Schulweisheit erhaben. Da 
fein zweiter Redaktionswahlſpruch , rückſicht⸗ 
loſe Beſtrafung der Militariſten und Volls⸗ 


verräter“ verkündet, ſo iſt es ganz in der 


Ordnung, wenn ſich die Hauptartikel „Freie 
Liebe“ und „Fordert die Köpfe der Schuldigen 
am Kriege“ betiteln. Der Jugend beiderlei 
Geſchlechts ruft dieſer Ehrenmann zu: „Atmet 
auf und vergällt euch die euch beſchiedene 
kurze Lebensfreude nicht durch die Angſt vor 
den eventuellen Folgen eures Liebesverlehrs; 
denn niemand kann mehr über eure Körper 
verfügen und euch zwingen, gegen euren 
Willen Vater⸗ und Mutterpflichten zu über⸗ 
nehmen.“ Selbſtverſtändlich; das um zwei 
Millionen Männer geſchwächte Deutſchland 


kann ſich jetzt ohne weiteres die Segnungen 


des Findelhausſyſtems à la Paris leiſten. 
Sollten ſich trotzdem Mißſtände ergeben, ſo hilft 
gewiß Herr Wyneken weiter. — Die Schuld⸗ 
frage beim Weltkriege findet die übliche 
ſcharfſinnige Loſung. Wenigſtens die „Haupt⸗ 


ſchuldigen“ müſſen vom Leben zum Tode 


befördert werden, wie Herr Bähr in anmutigem 
Hintertreppendeutſch ſich ausdrückt, den, Mit⸗ 
ſchuldigen“ gebührt Zwangsarbeit in Belgien, 
Frankreich und Galizien. Erſt bleiben die 
Maſſenmörder anonym, doch bald fällt das 
Stichwort: „Junker, Militariſten, Rüſtungs⸗ 
induſtrielle.“ Wär' der Gedanke nicht ver⸗ 
wünſcht geſcheit, man könnte über die troſtloſe 
Einfalt des Stribenten lächeln. — Junker 
und Militariſten kommen noch einmal unter 


64 Maßgebliches und Unmaßaebliches 





die alüdliherweife ungefährlihe Guillotine 
de3 Herrn Bähr. Der Dreillang wäre ja 
auh unvolllommen, würde nicht neben „Trei- 
beit“ und „Kriegafhuld“ das Thema „Adiel« 
ftüde” angejhlagen. Der Dreillang und die 
Gemeinheit. Denn hier bringt e8 ein wenig⸗ 


ftend dem Namen nah Deuticher fertig, 


Todeeveradtung und SHeldenmut unferer 
Dffiziere aus Gründen der — Eitelfeit und 
Brutalität zu erklären, „damit fie zu Haufe 
und im Belanntentfreile bewundert erden, 
damit fie die Macht über ihre Mitlameraden 
erbielien und diejen (sic!) ihre Macht fühlen 
lafjen fonnten“. Xm übrigen ift dag Militärs 
progranım Bährs verblüffend einfah: „Eine 
ftändige BVolfewehr wird aufgeftellt, die fich 
ihre gührer wählt (möglichft alle Tage einen 
neuen|), und mit dem alten Syitem ift end« 
gültig gebroden.” Da8 defretiert fi) eben 
fo glatt und ohne Folgen wie der Bund der 
freien Liebe auf Seite 1. Und Polen, weiß 
Gott, ift dabei nicht mehr verloren. — 
Heilige Benfur, du haft in deinem Erden- 
leben viel gejündigt, aber nun, da da3 freie 
Deutfchland di in die Gefilde der Geligen 
verjegte und auf dem Boden, den du — 
überhart mandmal — pflügteft, geile Pflanzen 
aus der Klaffe Bähr » Blefiner allerort? auf« 
wucdern, überlommt e& foldhe, die ihre alten 
Stlavenfetten immer nod nit jo ganz ab» 
ftreifen fönnen, wie Sehnfuht nach deinem 
ftrammen, aber ordnungftiftenden Regiment. 
BVäreft du am Ruder, fo lehrte vielleicht au 
ein jo bieljeitige® Xalent wie der Bürger 


Hans YBähr mehr oder weniger freiwillig zu 

feinem Leiften zurüd, ift er doch nicht „bloß“ 

Herau&geber, Verleger und verantwortlicher 

Shriftleiter in einer Berfon, fondern aud — 

Selbitinferent, wie aus folgender Anzeige 

am Schluß der „Treien Prefle” hervorgeht: 
j Sigen Gie viel? 

Mein GSitliffen Triumph font Xhre 
Kleider und erleihtert Ihnen langes 
Giten bedeutend. 
Prei36,50M. Han Bähr, Spittelmartt7. 

9.9. ı. 


Das preukifche Teilgebiet und die Wahlen 
zum polnischen Landtag. Aus Barihau wird 
berichtet: „Wir erfahren, daß in anbetradt 
deilen, daß die Wahlen zum polniihen Lande 
tag im preußifchen Teilgebiet von den Deutichen 
unmöglid) gemacht werden, die Vertreter Groß- 
polen3 der Warjhauer Regierung den Vor 
ihlag gemadt haben, den Oberften Bolfgrat 
in corpore den Eintritt in den Landtag zu 
geitatten. 

Zu einer Berftändigung mit der Regierung 
ift e8 in diefer Angelegenheit nicht gelommen, 
weebalb die . polnifhen Landesteile deb 
früheren preußiichen Xeilgebiet8 im Landtag 
nicht vertreten fein werden. 

Eine folde Wendung der Dinge ift ein« 
fa unzuläffig. Ein Landtag ohne die Ber 
teiligung de älteften Teilgebiets Polens 
wäre feine nationale Bolfaverfammlung, hätte 
nicht die Macht, im Ramen ded ganzen Volles 
zu fprehen.“ Nr. 297, Dziennit Bognanifi. 
28. 12. 1918. 





Allen ee ift Borto hinzuzufügen, da andernfall3 bei Ablchnung eine nun 
nicht verbürgt werden kann. 


Nahhdrud fämtlidher Auffäue nur mit auöbrüdiicher Erlaubnis Bed Berland geftatter. 
Berantwortlih: der Herausgeber Georg Kleinomw ın Berlin- Lichterfelde Weit. — Manuitriptiendungen und 
 Briere werden erbeten unter der Adrene 
An die Schriftieitung der Srenzsboten in Berlin SW 11, Tempelhofer fer 85a. 
wernipiecher bed Herausgebers: Amt Lichterfelde 498, des Berlagd und der Schriitieitung: Amt Bügom HB1n 
Berlag: Berlag der Erenzboten &. m. 5. 9. in Berlin SW I1, Tempelboier Ufer 85a 
Drud: „Der Reihsbote" &. m. 6. 9. in Berlin SW 11, Deflauer Straße 36:37 


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Sur Neugeſtaltung des Deutſchen Volksſtaates 


Von einem Württemberger 


I. 

einem Menjchen in Deutjchland ijt e3 je eingefallen, während des 
y Strieges irgendwie auf die politifche Uneinigteit der Franzoſen 
u. a. in dem Sinne zu jpefulieren, wie fie und ihre Verbündeten 
es uns gegenüber getan haben; feiner hat bei uns daran gedad)t, 
\ irgendeinen Teil von —— oder Italien abtrünnig zu 
—— machen, um ſo unſere Gegner zu ſchwächen. Wir Deutſche da— 
gegen ſind in dieſem Sinne ſtark bearbeitet worden, und befinden uns nun ſelbſt in 
einem Wirrnarr von Erwägungen, die auf freiwillige Abtrennung, Sonder— 
beſtrebungen, ſogar Anlehnung an Frankreich hinzielen, und die zeigen, daß 
unſere Feinde uns beſſer kannten, als wir ſelbſt; Beſtrebungen, die ferner zeigen, 
wo unſere Schwäche tatſächlich liegt. Dieſe Lehre ſollte nunmehr gelernt werden! 
Wenn wir unſeren Enkeln und Urenkeln ein feſtes Haus bauen wollen, ſo iſt 
jegt die Zeit gefommen, wo wir das tun müjjen, was unſeren Feinden ſehr un— 
angenehm twäre, nämlich zu toirklicher Einheit, zu fozufagen rüdjichtslojer Ein- 
heit fonımen. 

kin Haupthindernis dafür ijt gefallen: die dynaftifchen Monarchien, das 
balbmittelalterlihe Teutfchland find in diefem Sinne nicht mehr. Auch in diejem 
Tuukte müflen wir radikal und freudig umlernen, uns Elar werden, daß dieje 
Monarchien mit ihrem ganzen Apparat und den vielen durch jie bedingten Net- 
bungsflachen unferer wirkliyen Ntationaleinheit überaus fchädlich waren, unjer 
rein deutjiches Bemwußtfein fchwer beeinträchtigt haben; nicht nur vor 1871, fon 
dern — darüber gibt es gar feinen Zweifel — aud) danach! Denken wir uns alfo 
dieje Hemmnifje — alle perfünlichden Sympathien gern in Ehren! — aud) wirklich 
weg! Senten wir uns Teutjchland wirklich ohne fie, und erfajjen wir danıı die 
Borjtellung einer Einheit, die feinem Feinde durch ein bloßes Scheindafein, wie 
bisher, Angriffs- und Anfabpunkte zur Trennung mehr bieten kann! 

Ties ift der oberſte Geſichtspunkt —— Einſicht, von dem wir, nicht 
an unſeren egoiſtiſchen Wünſchen und ererbten Anſchauungen und Gewohn— 
heiten haſtend, ſondern weitſichtig und ohne Egoismus in die ferne Zukunft 
denkend, ausgehen müſſen, der Geſichtspunkt, dem wir praktiſch radikale Opfer 
bringen müſſen. 

Württemberg iſt eine Feſtung. Eine ſchwer zu erobernde Veen ir 
Teutfchen Yieih! Schwer zu erobern für andere Deutfche, weil von hohem Wall 
umgeben, — politifch wie jeeliihd. Darım ijt e8 aber auch bejonders jchwierig, 
bier zu Zande für eine endgültige und daher raditale Anderung der bisherigen 
politifchen Srundgeftaltung Deutjchlands das Wort zu ergreifen. Und doch muß 
e8 jein. &3 ift nationale Weich, zu jagen, daß die Stunde für eine durchgreifende 

5 


Srenzboien I 1919 





66 Sur Ueuaeftaltung des Deutfchen Dolfsftaates 


— nn — — 
u u — — — ———,s — nen —— — — 





innere Operation gekommen iſt, die geſchehen muß, weil es ſich zu unſerem Un⸗ 
heil gezeigt hat, daß die alten Schwächen fortbeſtehen und daß unſere geprieſene 
Einheit ſehr leicht zuſammenbricht, ſowie einem der größeren Teilglieder etwas 
nicht paßt, wo ihm ein wirkliches Opfer an Hergebrachtem oder Liebgewordenem 
zugunſten der Allgemeinheit zugemutet wird. — Das Phraſentum der ee 
Dinijterreden, das ganz jtereotyp mit der Betonung des Feithaltens am Reich 
begann, — 10 Dal in der Welt tft eine folde Betonung in einem feiner felbjt 
een großen Reiche nötig?! — lief ftet3 hinaus a ein jchleuniges: Aber...!. 
r unjere Selbjtändigfeit wewden wir wahren, und jo weiter. Man tennt das. 
Niemand fand daran etwas zu tadeln. m Gegenteil! Wenn es gefehlt hätte, 
jo hatte man's gefordert. Nichtig betrachtet aber ijt diefe Rhetorik nichts als ein 
Negführen von dem, was zuerjt verjichert twunde. Der Bayer, der Sadjle hört 
davon nur das Wein; d. h. die im Gegenfaß zur Einheit betonte ftolze Selb- 
ftändigfeit. Senau das Gleiche war (und ijt noch) der Fall in einer anderen 
itereotypen Wendung, die jich auch in der Programnırede des Prinzen Max ſofort 
wieder fand: Belenntnis zu Deutichlands Einheit und Größe ufw.; dann aber 
ein Protejt gegen eben diefe Einheit in der Wendung, daß „jedoch“ die Fulturellen 
Vorteile der Tezentvalifation in den Einzelftaaten nicht angetaftet werden dürfen. 
Aljo auch hier diejer eigentümlicde Sprung, diefer das erjte wieder aufhebende 
Underjprudh. Auch dies zeigt, wie wir an Widerjprüchen im Staatsleben tranten. . 
Dabei haben ji — auch von den joRedenden — wohl nur die allermwenigiten 
Rechenichaft darüber gegeben, ob denn Einheit Be Natur in Deutichland 
die Nulturzentren München, Stuttgart, Dresden, Hamburg wirklich abtöten oder 
Ichädigen würde, jofern fie Siße eigener Regierungen zu fein! Die 
Ipnajtien haben ın der Echöpfung joldher Dlittelpuntte ihr Beites geleiftet, und 
wenn je eine ®efahr für das Beitehen diejer Zentren beitand, jo fit e3 die Ab- 
egung der Tynajtien gervefen. Aber längft jind diefe Kulturzentren über die 
5 ſelbſtſchaffend hinausgewachſen, und es ſind ihrer ſehr bedeutende auch 
ohne deren Hilfe entſtanden, z. B. eben Hamburg, dann Frankfurt, Nürnberg, 
Leipzig. Was die deutſchen Hochſchulen angeht, ſo würden ſie um nichts unbedeu⸗ 
tender ſein: Freiburg und Heidelberg würden aus landſchaftlichen und traditio⸗ 
nellen Gründen weiter blühen, auch wenn ſie einmal nicht mehr rein badiſche, 
jondern „bloß“ deutihe Hochjcyulen wären. Das wird aud) bewiejen durch das 
Beharren der Stulturwerte und durch das Aufblühen folder Orte, tvoran jie 
haften, in Sttalien, in Epanien (Barcelona) und England (Orford ufw., Canter- 
bury und York). Das uns belaftende Schredgefpenit ift Doch nur das zentrali- 
ſierende Frankreich, das man fiy ja aber nicht zum Norbild zu nehmen braudt. 
Bir haben e3 ja volllommen in der Hand, fehr vicljeitig zu dezentvalijieren, wenn 
wir wirklich innere Einheit gefchaffen haben. Dean kann die neue Reichshaupt- 
jtadt ganz hübfch im Zaum halten, iwenn man zur richtigen Zeit damit anfängt. 
Daß e3 Berlin al3 Reicy&hauptitadt ans Leben gebt, ijt ein Slüd. Aber 
auch bei der Wahl des neuen Wlittelpunttes darf feine Kleinlichkeit Herrichen. 
vanffurt, das geihichtlihe Anjprücde hat, ift wohl aus leicht begreiflichen 
runden fympathetifcher Art nicht gerade der Ort. Unfer Mujter follten Ameri- 
faner und Auftralier fein, die einfach Neugründungen vornahmen: Wafhington 
in dem eigenen kleinen „Diftrift“ Columbia; in Australien bei der Schaffung der 
Sejamtrepublit vor etwa fünfzehn Sahren eine ganz neu erbaute Bundeshaupt- 
ftadt. Auch irgendwo in Miitteldeutjchland wäre das möglich. Überdics konnte 
man diefe Stadt gleich teilmeife (Archive, Banken, Bahnhöfe, Bibliothelen u. a.) 
unterivdifch und bombenficher anlegen, im Hinblid auf feindliche Luft- und Fern» 
geihüsangriffe. Die Wahl des Ortes aber dürfte nicht durch partifulare Eifer- 
De oder Eelbjtjucht beftimmt werden, auch nicht Durch die Grüße irgend eines 
Zeilftaates. Die Forderungen, welche die Neugeftaltungen im Neid und auf- 
erlegen, find fo ernjt, jo gewaltig und jo zwingend, daß aller Partitularismus 
zu jchivceigen hat. . 
Dies gilt aber in allen Fragen. Und mo ftehen wir da?! Weldh_ein 
Elend! Es ıft wirklich faum bejjer als in den Zeiten von 1815—70, über 


Sur Xeugeftaltung des Deutfchen Dolksftaates 67 


deren Jammerzuſtände die „Deutiche Gefchichte” von Karl Biedermann dem, 
der ji mit dem trojtlojejten Bild eines guoßen Volles vertraut machen will, 
Auskunft gibt. Manches it ja befler geworden, was die Verfaffung von 1871 
angeht. Aber es ijt fein Ziveifel, daß toir heute nicht jo viel willen, wie man 
in hundert ‘Jahren über das willen wird, was 3. B. auch während des Striege3 
im Sinn des Bartilularismus, der Rivalitäten und der Hemmungen unter der 
Dede vor jich gegangen it; über diefe den und unheilvollen Dinge jind wir nod 
langjt nicht hinaus. Dean dente nur an die Litauifch-fächliihe Frage, an Die 
Widerjtände in bezug auf die Keichsfinanzen, das Steueriefen, die fich immer 
von neuem abjpielen, teil die eine Ntegierung fo, die andere jo will! Das hat die 
Keichsgründung nicht getötet. DerStrieg hat die Gegenfäge — vgl. die Örenziperren 
betreffend Vebensmittel und ihre Folgeericheinungen — teilweije erft recht belebt. 
Bir taufchen ung gewaltig über daS wahre Wefen unferer 1870 fo jchwer 
errungenen Ginheit! Sie wird oft nur mühfam aufrecht erhalten. Bismard 
wäre ja 1870 gern viel weiter gegangen. Er täufchte fi nicht! Aber er 
fonnte — bejonders wegen der Tynajtien! — nicht weiter gehen, feine wirkliche 
Einheit len Was 1871 zuftande tam ift ein Bund voll offentundiger ein- 
zelnerSchwierigfeiten, die durch die fanatisch feitgehaltene Eigenbrödelei Größerer, 
Stleinever und Allerkleinjter bedingt waren, durch) „Souveränitätsfchtwindel”, wie 
Bismard es genannt hat. Eiferjucdht, Eigenmug, Neid, ja Haß, Blindheit, Vor» 
eingenommenbeiten, ererbte und nie bejeitigte blöde Vorurteile, Verftodtheit, 
Duntel, Hohmut, Sturzfichtigteit, Engherzigfeit, — Da3 tft die eine und fehr 
wirffame Seite diefer Selbjtändigfeiten nad) 1871; Dinge, die in anderen großen 
Staaten und Reichen Höchitens landfchaftlih, nicht aber politifh eine Rolle 
fpielen. Und das wirkt bei uns im großen wie im Seinen. Wir begreifen heute 
wicht mehr die Zujtände vor dem Zuftandelommen des Zollvereing, den der 
Wiürttemberger 5. Lilt anregte. Wir begreifen nicht, daß e8 eine Zeit gab, mo 
ein württembergijcher Dinijter De Bahn von Horb nad Sulz, anjtatt Durdy8 
YIedartal, lieber in weiten Bogen über die Höhen führen toollte, weil fie am 
Nedar durch zwei oder drei Stilometer Hohenzollernfhhe3 „Ausland“ geleitet 
werden mußte! Man wird jpäter aber ebenforwenig begreifen, was zur heutigen 
„Einheit” gehört: daß Preußen die Neichseifenbahnen und die für Lothringen 
mwünjchenswerte Mofellanaltfation nicht zuftande fommen ließ; daß Baden die 
Kniebisbahn und die Donauregulierung bei Tuttlingen verhinderte; daß Die 
Streliger, jtatt fid mit den Schiwerinern zu einem Lande zu vereinigen, dagegeit 
protejtierten, weil die Streliker tveniger Steuern zahlen und weil Neujtrelig 
Heiden; bleiben müfle. Dean veritcht es ja fchon Heute nicht, Daß des 
Deutjchen Haiferd Geburtstag in Bayern an den Hohichulen und Echulen nidt 
ge wurde. Dabin gehört auch der dumme Streit um die Hiffung der 

eichsfarben bei offiziellen Gelegenheiten in Bayern und das lange Hin und Der 
über die Anbringung der deuten Flagge auf den württembergiſchen uſw. 
Bodenjeedampfern. In anderen Nationalſtaaten wäre ſo etwas einfach unmög⸗ 
lich! an wird auch künftig einmal die bayeriſchen Sonderbriefmarken ebenſo⸗ 
wenig verſtehen, wie man — im Hinblick auf das nationaler denkende 
Württemberg — zugeben wird, daß durch deren Aufgabe das bayerische Rejervat- 
recht hätte beeinträchtigt werden können. 

Man glaube aber doch ja nicht, im Grunde die Bodenſeeflagge oder 
die Sonderbriefmarke — im Hinblick aufs Ausland wie auf das nationale 
Bewußtſein — weniger bedeutſam ſei, als die verhinderten Reichseiſenbahnen. 
Unſere Feinde ſehen das; bei uns aber ſehen es die wenigſten. Dazu ſind wir 
viel zu wenig national geſchult, viel zu partikulariſtiſch empfindlich. 

Wir haben eben jeder nicht nur ein Vaterland, wie der Franzoſe uſw., 
ſondern wir haben, noch aus den Zeiten des ſpäteren Mittelalters und des 
Weſtfäliſchen Friedens her — jeder zwei Vaterländer. Da liegt's! 

II 


&o lange die gnaden-, orden- und ftellenfpendenden Monarchen da waren, 
mußten die zwei VBaterländer auch beitchen — da3 große und das kleinere. Die 


5* 


68 Snr Heugeitaltung des Deutfchen Dolfsftaates 





Demokratie, der VBollzitaat aber lehrt und doch wohl ein anderes! Der Deutiche 
Lollsitant — möchte er doch jo und nicht Republit genannt werden! — kaun 
ohne innerdeutihe Einzelftaaten mit Selbitregierung im bisherigen Sinne fehr 
wohl gedacht werden: Sinheitlichkeit in den widhtigiten Elementen des Staates, 
8. DB. ın dem Maß der Unterordnung unter die Zentralbehörden des Reichs, in 
den Sejegen, im Erziehungs-, Zitel- und Anjtellungsweien, mo es jekt überall 


hinefiihe Mauern gibt, im Steuermwefen, im Staatsbürgerredht. Dur Auf 


hebung gevade der Sonderbürgerrechte würden heute beitehende und gerade in 
diefen Tagen wieder lebendige leidige und neidige Gegenfäge einem großen 
ideellen Gewinn für die Gejamtheit weichen. An die Stelle der als Regierungen 
wirtenden Landesperiammlungen müßten folche treten, die den Provinzialland- 
tagen rue Dabei — freilich eine entſcheidende Rolle die Geſtaltung der 
Einzelländer, aus denen das Reich beſtehen würde. 

Es iſt jetzt die Rede vom Abſchaffen z. B. der thüringiſchen Kleinſtaaten; 
man ſpricht von einer Teilung Preußens und andererſeits von Verbindungen, 
die zu natürlicheren Teilſtaatsgebilden führen würden. Es iſt ſehr ernſtlich zu 
erwägen, wie man dabei am beſten zum Ziele kommen würde. Es wäre ja ein 
Segen, wenn von den fünmundzwen ig Sıuauten Die il till endltw des Jane ei 
würden. &8 ilt ein ungrb:urer Sortichritt Ihon Tadurh anıhahıt DR man 


ih in diefem unfvem Deutichland überhaupt — und wie es fcheint, über alles - 


Erwarten vafch! — daran gewöhnt, zu begreifen, daß das Heil gemwifler Gebiete 
und Etadte (4. B. Erfurt) nicht an der Zugehörigkeit zu dem bisherigen Teil- 
Itaat hängt; daß die ungefchichtlichen, metft durch dynaftifche Eroberungen und 


‚seilfhereien bis 1815 feitgelegten Landesgrenzen auch durchbrochen umw- 


geandert werden fünnen. Wenn nun die Heinften verfchwinden, und mit ihnen 
ihre unverhältnismäßig wichtigen Bundesratsitinımen (oder wie dag im neuen 
Reich heißen würde), — gibt es damit nicht mit einem Schlag ebenfoviel weniger 
Reibungen und Hemmungen? Tas ift doc Har. Wird dadurd) nicht auch aller= 
hand jones Geld für fehr überjlüffige Viinifter- und Prafidentenftühldyen und 
devgleichen gejpart, die bis jept für unerläßlich galten? Ceien wir doch ehrlidy! 
Der neue Beift, der fi da regt und ungefhmäht rufen darf: Weg damit! ift e u 
großer Gewinn für die deutiche Einheit und damit für das künftige Deutjche 
Keih und Volk! “ 

Wie nun aber, ivenn an die Stelle diefer verfhmwindenden ziweiten Bater- 
lanöchen, die Doch in vielem recht abhängig waren, faft ebenjoviele grüßere 
‚jelbjtändige Einzelftaaten, namentlich aber auch) auf Koften Preußens, traten? 
Da würden bald noch ganz andre Keibungsflachen, viel größere Schwierigleiten 
und viel größere Gefahren für einen Beftand 8 Reiches entitehen, als bisher! 
Das müfjen wir uns ganz Elar machen. Wan hatte in Teutfchland bisher ein 
durch Partikularismus Ddiktiertes, Iebhaftes „AUber” gegen alles, mas 
Zzentraltjattion Durch Preußen betraf, das eine auffaugende Wirkung zu habe 
Ihyien. Und Doc lag in diefem großen Ztaat das beite Gegengewicht gegen 
zentrifugale Ströntungen im Neidye. Ceien tvir auf der Hut, ele wir bier vufeıt: 
eg damit! Es jind Wächte am Werk, die ung ganz insgeheim fpalten wollen; 
aber nicht aus Deutfchem GSeift. Sei 03 gerade herausgefagt! Rom, dem dus 
protejtantifche Deutfchland verdammensivert ift, Rom ift heute Schon am Werk! 
Wir [püren es in Bayern fchon lange, und neuerdings deutlih in Rheinland 
und Weitfalen. Se mehr größere, jelbitändige Pollsftaaten Deutfchland jedoch 
enthält, ohne ein leitendes Hauptland, das auch Macht in die Wagfchale werfen 
fann, um jo leichter werden die uns feindliden Macdte ihr trennendes Spiel 
auch in Zukunft Spielen. — Andrerſeits muß aber eine Vermehrung größerer 
(felbftandiger) Staaten die ganze Neichsmafchine aufs neue bedenklich) hemmen 
und belaften. je größer an Gebiet die Teiljtaaten, um jo näher Legend jind 


Zonderbumdsbejtrebungen (Mainlinie!); um fo heftiger die Geltendmachung 
„ergener syntereflen” gegen die der übrigen; daher um fo weniger Einbeitlichleit - 


der Aynterejjen; und denigemäß auch um fo weniger nationale Einheit, nationales 
Bewußtſein. 


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Sur Tlengeftaltuna des Deutfhen Dolksftaates 69 


! 


. Dies find gewiß große Bedeuten, die jich gebieterifch gegen die augenblid- 
liche Auflöfungs- und Zujammenfchließungsluft ohne jede Rüdfiht auf das 
Gleichgewicht und die möglichen TSolgen einer folhen vajden Umformung 
geltend machen. | 

Beitand kann ein jolches umgeformtes Deutfchland nur dann haben, wenn 
eine jtraffe politifche Zentralifation eingerichtet wird, der ſich die einzelnen 
Länder, ihre jouveräne eelbitändigfeit aufgebend, und dann überdies an Umfang 
einander möglichft gleich gemacht, unterordnen. Alfo eine Art Wiederholung 
dejjen, mas 1790 in Yrrankreich geihah, wo man mit dem Gejichichtlichen umd 
Bejonderen un de3 Einheitlichen willen brad). 

Daraus ergibt fich die große und gerade in Wiürtteinderg mur mit einigen 
Mut offen zır jtellende “Frage: muuffen denn jelbitandige Zeilftaaten, wie jie heute 
e3 jind, beitehen? Staaten, die ein „ewiger Bund“ miteinander verbindet, der 
aber ſchließlich leider ſehr leicht zu loſen iſi, namentlich, wenn ein böſer Nachbar 
ſeine Minen ſpringen laßt? Iſt politiſche Unterordnung unter eine alle gleich— 
mäßig handhabende Reichszentrale wirklich unmöglich? Sind wir dazu reif, 
oder nicht? Auch dann nicht, wenn unſrer Eigenliebe dadurch geſchmeichelt 
würde, daß große Abzweigungen der Reichszentrale in die verſchiedenen Länder 
gevecht und gleichmaßig verteilt würden, nach dem Beiſpiel des Reichsgerichts 
in Leipzig? 

Wir TDeutſche ſind leider nicht nur ein unpolitiſches, ſondern heute auch 
noch ein recht unnationales Volf. Vielen breiten Volksſchichten in Süd- und 
Weſtdeutſchland gilt ihr deutſches Volkstum nicht mehr als ein Butterbrot in 
Friedensſeiten. Man hai die betrübendſten Einblicke und Erfahrungen darüber 
erſt wieder in jüngſter Zeit machen können; und doch ſcheint die alte Zeit wieder: 
zukehren, wo Straßburg als Ausfallstor Süddeutſchland bedrohte, und unendliche 
Kriegsleiden dadurch uber die ſüddeutſchen ſouveränen aber ohnmächtigen 
Einzelſtaaten hereinbrachen. Wir Teutſche vergeſſen das viel zu ſchnell, und 
wir haſſen uns in mancher Hinſicht viel mehr gegenſeitig, als wir die uns 
bedrohenden Feinde haſſen. Das iſt in gewiſſem Sinne erklärlich. Unter den 
zwei Vaterlandern — dem großen und dem kleineren — können wir zu natio— 
nalem Bewußtſein in reiner Form nicht kommen. Tatſache! Vor allem können 
ſich die breiteren Maſſen darin nicht zurechtſinden, die von vaterländiſcher 
Geſchichte nur allzuwenig hören und wiſſen! Tie Ruinen des Heidelberger und 
Badener Schloſſes wären bei unſeren Feinden ewige Denkmäler des Haſſes und 
der Rache gegen die Zerſtörer; der Badenſer kümmert ſich nicht darum, und muß 
er einmal um des Reiches willen etwas erleiden oder hergeben, ſo wünſcht er 
ſofort die Franzoſen herbei, — bis ſie wirklich am Rheine ſtehen! Das war ſo 
— und nicht nur etwa in Baden — im Jahre 1918! Solche Zuſtände hängen 
aber aufs engſte mit dem partikulariſtiſchen Bewußtſein und dem darin beruhen— 
den Mangel an deutſchem Empfinden zuſammen. Es fehlt uns das eine, einzige 
Symbol, wie es die Trikolore iſt, weil wir immer ſchwanken zwiſchen dem 
„eigenen“ und dem des Reiches. Dies macht viel mehr aus — — — 
als man wohl zugeben möchte. Da liegen große Fehler unſerer völkiſchen 
Erziehung. Aber auch dieſe Erziehung wird durch die Verhältniſſe beſtimmt, die 
uns in den vaterländiſchen Problemen weder äußerlich noch innerlich zur Ruhe 
kommen laſſen. | 

Heute aber haben fich die Verhältniffe bedeutfam geändert. An die Stelle 
der Landespäter tritt der einzelne Volksftaat felbit. Aber diefe Volksſtaaten 
folen neben eigenen Präfidenten wiederum höchjt erflufive Vandespertretungen 
al8 ausschlaggebende Regierungsfaltoren belommen, ihre eigenen Minijterien 
und den ganzen, nad) dem übrigen Deutfchland jeweils durch die chinefifche 
Mauer hermetiſch abgeſchloſſenen VBermaltungs- und Beamtenapparat behalten, 
jollen fidy nebeneinander, fo wie bisher, nur jo eben vertragen, ohne fich leiden 
zu können, und um in irgendeiner lofen Zufammengebörigfeit — vielleicht nicht 
einmal mehr zujammengehalten durch gemeinjames Keichäheer, Flotte und 
Kolonien — ein republifanifches Reich mit emem Prafidenten an der Spite zu 








70 Sur Xeugeftaltung des Deutfchen Dollsftaates 


— — — — — — — — — — —— — — — — — — — — ——— ——— — — — — — — — 
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bilden, der ſeine liebe Not haben wird, es nicht jeden Augenblick mit dem einen 
oder andern Einzelſtaat zu verderben. Trotz aller Anderungen alſo ſoll der alte 
Fehler bleiben? Muß er bleiben? 

Es ſoll niemand ſeine Heimat en werden. Aber Heimat ft nicht 
Dadfelbe wie Staat. Namentlich in den Lleinen Staaten find mir gewohnt, 
beides gleichzujegen, weil e8 fich dedt. An Preußen dagegen ijt der Staat nidjt 
„die Heimat”, dafür ift Diefer Staat viel zu groß. m Preußen ift die Provinz 
die Heimat, und niemand wird beitreiten wollen, daß ein guter Weftfale oder 
Bommer nicht ebenjfo viel Heimatsgefühl habe wie ein guter Wirttemberger, 
Braunjchiveiger oder Tiroler. Alfo, vom rein voll3tümlichen Empfinden aus» 
gehend, das für Deutichland politisch jehr bedeutjam ift, weil es fi mit dem 
Bartilularismus dedt: es geht auch ohne Staat im bisherigen erflufiven Sinne. 
Die Wälle, die heute Deutichlands Einzelitaaten trennen, fünnen abgetragen 
werden, ohne etwas von dem vollamäßig Servordenen, ohne häusliche Sitte und 
pradlihde Eigenheiten wefientlih zu berühren. Aber die Organifation des 

ingeljtaatstwefens als fich felbjt dirigierender, von den anderen abgejperrter 
Staat, der Einzeljtaat al3 Selbitzwed jollte fallen. Wenn ganz Deutichland,, 
ähnlich wie heute der öfterreichifche Volfsitaat, in einzelne, möglichit gleich 
große „Länder“ nach der Stammes- oder Landichaftsgrundlage eingeteilt wurde, 
wobei die alten Bezeichnungen teiliveife ebenfo wie die jegigen Grenzen Neben- 
fadye wären, und wenn dabei eine fozufagen neutrale neue Hauptitadt unter 
gleichzeitiger Dezentvalifation der unpolitiichen, 3. B. der wirtichaftlichen Be 
börden und Hauptreicdhsanftalten geichaffen würde, Fo fünnte ein neues Reich 
ohne die bisher jo fchädlichen Unterichiede gefchaffen wewden, in dem auch die 
— acht Millionen Oſterreicher ohne viele Umſtände aufgenommen werden 
önnten. 

Die Hemmniſſe, die für derartige Angliederungen ſich ſchon 1871 bei 
Elſaß-Lothringen leider als unheilvoll und verluſtveich erwieſen haben, würden 
ſich jetzt ein zweites Mal Deutſch-Oſterrveich gegenüber zeigen, wenn in Deutſch⸗ 
land die alten Staatenzuſtände blieben. Oſterreich mit ſeinen Unterländern 
würde etwas andres ſein, als die andren deutſchen Staaten. Auch dies iſt nicht 
mit zwei Worten als Be abzutun. Das Deutiche Reich ift Thon vollig. 
fompliziert genug; wir müjjen ®leicymäßigfeit, nicht noch weitere Unterfchiede 
zu ſchaffen — Sonſt entſtehen aufs neue loſe ſtatt feſte Zuſammenhänge. 
Es kommt hinzu, daß die Oſterreicher ſich in dem deutſchen Staatenweſen mit 
— politiſchen Reibungen und Gehäſſigkeiten nur ſchwer zurechtfinden würden, 
aß ſie leicht vecht ernüchtert werden würden, wenn ſie die wirkliche „Einigkeit“ 
und „Einheit“ einmal ſelbſt in engerer Verbindung mit uns verkoſten müßten. 
Man ſieht in Oſterreich, das im Kampf gegen Nichtdeutſche tief patriotiſch denken 
und handeln gelernt hat, das Reich weſentlich anders — idealer — an, als es iſt. 
Die Dinge, die bei uns leider oft die Hauptſache ſind, beſonders volksmäßig, 
wenn es gilt, ne lebendig zu erhalten und zu pflegen, find für den 
Ofterreicher Nebenfadhen. Wir jollten von diefem Geifte lernen. 

Wir müfjen vor allem politifch denten und mwägen, dann auch handeln 
lernen. Rüdblidend auf die traurige Cde unfter a Nr dürfen wir 
nicht zufrieden meinen, e8 fei ja feit 1871 um vieles befler. ir find gar weit 
davon entfernt, nach nationaler VBolllommtenheit zu jtreben; denn diefe verlangt 
ie nit nur im Heinen; namentlich Opfer der Eigenliebe. Wir ziehen eine ges 
wilje Blindheit dem Klaren Blide vor. Wir fürchten ung, unfre fehler, die Schäden 
des StaatSpartitularismus, zu fehen und dabei ablehnend zu veriveilen, weil wir 
fte dann eingeftehen und befämpfen müßten. m Örunde gehört es ja längft nicht 
mehr zum guten Ton, PBartikularift zu fein. Wir haben aber öffentlicy nicht den 
Mut, das abzufhütteln, was uns aus der Zmangsjade nicht herausfommen Täßt. 
©o bleiben wir lieber drin. So haben wir unter den gemäßigten fogenannten 
nationalen rteien nicht eine einzige, die den Partilularismus ernftlich 
befämpfte und Veränderungen der Verfafjung in diefem Sinne eritrebte. Viel 
mebr betonen alle — gebunden durch die Landtagsnotivendigkeiten — Die 





Der Todesgang unferer Dolfsmwirtfchaft Ti 


energiiche Wahrung des Bejtehenden, d. h. des unfelig Trennenden. Daher ijt e8 
den Sozialijten vorbehalten geblieben, den „einen und ungeteilten deutjchen 
Bolksitaat” zu verlarigen. Es wiwd jich zeigen, ob der Geift der Zeit, der begonnen . 
hat, endlich Umbildungen territorialer Art in Deutfchland ins Auge zu fallen, 
nicht auch gemäßigtere Parteien vevanlafjen wird, ji näher und demofratijcher 
mit der großen Zulunftsfrage der Wegichaffung der inneren, im Grunde fo 
törihten politifhen Gegenjfage und unbeilvollen jtaatlihen Widerjtände zu 
beichäftigen und — Neuerungen durchzufühven, an die ſich weit mehr 
Bewohner des Reichs ın F r durzer Zeit und vielfach gewiß nicht ohne plötzlich 
zum Bewußtſein komme Befriedigung gewöhnen würden, als man zumeiſt, 
ohne tieferes Durchdenken dieſer Fragen, ohne Agitation und ohne beſondere 
Vorliebe für ſolche Anderungen annimmt und anzunehmen gewillt iſt. Wir 
müſſen uns immer vor Augen halten: 

Das Ziel unſrer Feinde iſt unſre Schwächung durch Trennung. Daher 
muß das unſvige unſere Stärkung durch Aufhebung des Trennenden ſein. Dieſes 
ſelbſt weiter zu pflegen, iſt im hy he Maße unpolitiſch — weltpolitiſch betrachtet. 
Die Selegenheit it günftig, Die Stunde ijt jet gelommen. Sie fommt fo leicht 
nicht wieder. ES wind fic) zeigen, ob das deutſche Volk fie zu begreifen imijtande 
it. it dies nicht der Tall, jo wivd es an den Folgen feiner Zerfplitterung um fo 
ſchwerer tragen, je tleinlicher es in diefer Stunde geiwejen tft! 


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Der Todesgang unſerer Volkswirtſchaft 


Von Diplt. cam. Otto Leibrock 


Jor dem Kriege war das Arbeitstempo in Deutſchland intenſiver 
9% als in irgendeinem anderen europäifchen Lande. Mit zaher 
4 Energie und Disziplin baute fich das deutfche Volk ein National- 

A W vermögen auf, das fich jährlih um 10 bis 12 Milliarden Marl 

vbermehrte. Heute iſt unſere Produktionskraft in unheimlichem 
EN Srade verringert, unfer Zand bietet das traurige Bild der „Ver— 
wirrung“. Streits vermindern Die — — im ſelben Augenblick, wo 
alles darauf ankommt, Arbeit zu ſchaffen, Bahnen und Fabriken zur höchſten 
Leiſtung zu bringen, um die Umleitung in den Frieden zu erzielen. Es fehlt uns 
eine Autorität, die mit ſtarker Hand Ordnung die das Volk zum Gehorſam 
und zur Arbeit zwingt. Eigennützige, unwiſſende Dilettanten ſtürzen ſich a 
den legten Keft des Bolfsvermögens und verblenden unfer unglüdliches Vol 
Durch verführerifche Hoffnungen. Möglichjt geringe Arbeitszeit, hohe Löhne, 
Erpropriation der Bejigenden — das Elingt verlodend in den Öbren Der 
Arbeitnehmerfchaft. Syn Wirklichkeit vergrößern diefe Forderungen unfer Elend. 
Mit Recht hat das neutrale Ausland geurteilt: „Sm heutigen Deutichland jind 
Marrismus und Kommunismus GSelbitmord.” Sie zeritüren den Kredit und 
vernichten vollends das Vertrauen, das die übrige Welt noch zu uns hat. 

Unſere Induſtrie, ja unfere sus Bollswirtfchaft beucht jchrwer unter 
der drüdenden Schuldenlaft, die bei VBerwirklihung vorerwähnter Forderungen 
nur vermehrt wird. Was aber fanın uns retten? Nur Arbeitfamfeit und 
Sparjamteit; nur diefe beiden auf einer ee Moral aufitehenden Faktoren 
fönnen das grimmige, hagere Gejpenft der, Hungersnot bannen, und unjer Land 
vor einem fchrwindfürchtigen Abjterben bewahren. | 

Sndeffen hat die Arbeitsfveude, das Pflichtbermußtjein, das Vere 
anttwortungsgefühl gegenüber der Gefamtheit bei den breiten Mafjen einen furcht- 





' . 
Der Todesaana unferer Dolfswirtichaft 


Susi —“ = — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — 
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baren Stoß erhalten. Hunderttauſende meiden die Arbeit, gehen ihr gefliſſentlich 
aus dem Wege. Im Bergbau, im Verkehrsgewerbe, in der Metallinduſtrie, in 
der Land- und Fopſtwirtſchaft fehlt es an Arbeitern, während in den Großſtädten 


die Arbeitsloſigkeit einen bedrohlichen Umfang annimmt. Trotzdem in den Land⸗ 


kreiſen Normallöhne feſtgeſetzt worden ſind, trotzdem die Landwirtſchaft faſt 
überall unbegrenzt arbeiteraufnahmefähig iſt, ſtauen ſich die Maſſen in den 
Großſtädten, um nur nicht den Genuß der Ermerbsloſenſürſorge zu verlieren. 
Dies iſt auch nicht verwunderlich bei den hohen Unterſtützungsſätzen; werden doch 
beiſpielsweiſe in Berlin täglich gezahlt für männliche Arbeitsloſe von 14 bis 
16 Jahren 3 Mark, 16 bis 18 Jahren 4 Mark, 18 bis 20 Jahren 5,50 Mark, über 
20 Jahre unverbheiratet 7 Mark, verheiratet 8 Mart. Kür weibliche Arbeitsloje 
Itellen ih Se Zaße wie folgt: im Alter von 14 Eis 16 Nabren 2,50 Mark, 
16 bis 18 Sauren 3 Mark, 18 bis 20 Sahren 4 Dart, uber 20 Jahre 5 Mark. 
ie Rammlienzujchläge betragen für die Eixfrau 1,50 Mark, fir jedes Kind 
1,25 Ward. Tie Yabl der Urbeitsiofin im Wroß Berlin belief fih am 
14. Januar 1919 auf 168720. Ber emenm Burcbichnittligen Zar von 5 Marl 
hat alſo Groß-Berlin allein au Erwerbsloſenunterſtützung an dieſem Tage rund 
843 000 Mark aufbringen müſſen. Für die Großſtadtkleberei ſpricht noch em 


T 


weiteres MRoment. Die entlaſſenen Soldaten halten ſich vielfach nach ihrer 


Entlaſſung noch in den Garniſonſtädten auf, zum großen Teil auf Koſten der 


Militärkaſſe. 

Hier ſind die Keimzellen des Bolſchewismus, der uns in den Abgrund 
fuhrt. Nicht arbeiten, produzieren, lautet die Parole, ſondern Verkürzung der 
Arbeitszeit bei gleichzeitiger Erhöhung der Löhne, und zwar in einem Grade, der 
die Vernichtung unſerer Induſtrie bedeutet. Daneben geht eine Streikbewegung 
durch das ganze Land in einem Moment, wo die wirtſchaftliche Betätigung not— 
wendiger iſt, als je zuvor. Arbeitseinſtellungen, wahnſinnige Lohnforderungen, 
Demonſtrationen ſind an der Tagesordnung. Iſt das Sozialismus? Sozialismus 
heißt Arbeit, ſo verkünden es ſeine Anhanger, in Wirklichkeit verlieren ſie ſich 
aber vielfach in einer ſtrupelloſen Wirtſchaftsanarchie. In Anbetracht des 
heutigen pſychologiſchen ZJuſtandes eines großen Teils unſerer Arbeiterſchaft iſt 
wenig Hoffnung auf eine baldige Geſundung der Geiſter vorhanden. „Alle 
Räder ſtehen ſtill, wenn dein ſtarker Arm es will“: dieſer Reim wird allerwärts 
in Oberſchleſien, im Ruhrrevier, in Berlin ohne jeglichen Grund nach bolſche— 
wiſtiſcher Methode in die Tat umgeſetzt. Auf den Zechen des Ruhrgebietes 
wurden Löhne von 20 Mark pro Tag und ins Uferloſe ſteigende Gratifikationen 
verlangt und die Bewilligung dieſer Forderungen durch DTrohungen mit der 
JZerſtörung der Zechenanlagen zu erzwingen verſucht. Eine Lohnerhöhung Don 
5 Marft pro Schicht wird aber bei der Harpener Bergbau-Aktien-Geſellſchaft, bei 
der im Geſchaftsjahr 1917 965 165 Schichten verfahren wurden, einen Betrag 
von 48 Millionen Mark erfordern. Der Reingewinn betrug indes bei dieſer 
Geſellſchaft nur 13,8 Millionen Mark. In Oberſchleſien erhielten die Arbeiter 
Anfang November 1918 18,40 Mark Lohn, der inzwiſchen weiter geſtiegen iſt: 
aus Anlaß des Kriegsendes iſt auf Drängen der Arbeiter hin jedem einzelnen, der 
aus dem Felde zurückkam, oder ſeit dem J. Zeptember 1918 auf der betreffenden 
Grube beſchäftigt war, ein einmaliges Weihnachtsgeſchenk bewilligt worden, und 
zwar 150 Mark für verheiratete männliche Arbeiter, 100 Mark für unverheiratete 
männliche Arbeiter über 18 Jahre und 30 Mark für die jugendlichen Arbeiter 
von 14 bis 16 Jahren und für die weiblichen Arbeiter. Die dadurch entſtehenden 
Ausgaben beliefen ſich auf etwa 25 Millionen Mark. Über die in dieſem Bezirk 
im Monat Dezember 1918 geſtellte Forderung auf eine einmalige Zulage von 
800 Mart pro Kopf ſollte noch verhandelt werden. Ob ſich trotz etwaigen Nach⸗ 
gebens die Gemüter beruhigen werden? Die neue Forderung von 30 Mark 
pro Schichtlohn und die Androhung des Generalſtreiks läßt jede Hoffnung 
hierauf ſchwinden. Der mitteldeutſche Braunkohlenbergbau hatte bis zum 
Oktober 1918 eine jährliche Lohnſumme von rund 100 Millionen Mark aufzu— 
bringen. Die Werke ſollen aber neue Forderungen bewilligen, die dieſe Summe 


— — — — 


Der Todesgang unferer Dolfswirtfdhaft "3 


— 


um 95 Millionen Mark überſteigen. Die Ausſtändiſchen der Berliner Daimler 
Motorenwerke verlangten Tagelohn von 25 Mark für gelernte und von 20 Mark 
für ungelernte Arbeiter. Bei achtſtündiger Arbeitszeit macht das einen Stunden— 
lohn von 3,15 Mark bzw. 2,50 Mark aus und ein Jahresgehalt von 7500 bzw. 
6000 Mark. Bei der infolge der Kohlennot auf 5 Stunden herabgeſetzten 
Arbeitszeit koſtet dem Unternehmer die Arbeitsſtunde 5 bzw. 4 Mark. Hinzu 
kommen dann noch die Teuerungszulagen, Pramien, Vergutung von Üüber— 
ſtunden wie ſie bereits gewährt wurden. Bei den Firmen Siemens u. Halske 
und Siemens-Zchudert beliefen ji) die Mebrforderungen der Arbeiter auf 
70 Millionen Mark, der Angeſtellien auf 54 Millionen art im jahre, wahre 
ſich der geſamte, den Aktionaren zugefloſſene Betrag im Jahre 1918 nur auf 
1312 Millionen Mark begzifſerte. 

.Verfolgen wir die ungeſtüme, bedrohliche Lohnbewegung weiter. Auf den 
privaten Schiffswerften ſind die Lohne unterm 14. Tezember v. J. vom Demobil— 
machungsamt auf Grund von Verhandlungen mit Vertretern der Arbeitgeber 
und Arbertmehmer wie folgt geregelt worden: ur Klaſſe J (Bremen, Bremer— 
hafen, Hamburg, Kiel und Lubeck) werden pro Stunde gezahlt an gelernte 
Arbeiter 2,40 Mark, an ungelernte 2,10 Mark, an Jugendliche unter 15 Jahren 
50 Pfennig, an Jugendliche unter 16 Jahren 1 Mark, an Jugendliche unter 
17 Jahren 1,30 Mark, Jugendliche vom 18. bis vollendeten 20. Jahre 1,60 Miart; 
an Lehrlinge im erſten Leyrjahre O,50 Mark, im, zweiten 0,75 Mark, im dritten 
1 Warf, im vierten Yebrjabre 1,30 Mark. Ausgelernte Arbeiter unter 20 Jahren 
erhalten? Mark. Fur Klaſſe Il (Danzig, Cinswarden, Elbing, Emden, Fleus— 
burg, Roſtock, Toenning, Vegeſack) beziffern ſich die Zuindenlöhne für Die 
einzelnen MNategorien auf 2,10, 1,10, 0,45, 0,00, 1,20, 1,50, 0,45, 0,65, 0,90, 
1,20, 1,59 Darf. Benierkenswert hierbei iſt die Abſchaffung der Aktordarbceit. 
Die Aktiengeſellſchaft Weſer, welche gegen dieſe höohen Forderungen Proteſt 
einlegte, erhielt vom DTemobilmachunqgsamt die Antwort, daß ein etwa hierdurch 
verurſachtes Tefizit ſeitens des Reiches ausgeglichen werde. Tie Hamburger 
Hafenarbeiter forderten für alle Manner und Frauen pro Tag 20 Mark. Für 
ſchwere und geſundheitsſchadliche Arbeiten 24 Mark, ſowie für UÜUber-, Nacht- und 
Sonntagsſtunden 3 Mark. An allen Ecken und Enden tauchen exorbitante Lohn— 
forderungen auf. Ein Keil treibt den andern. Die bei der Wirtſchaſts 
Genoſſenſchaft der Berliner Grundbeſißer beſchäftigten Müllkutſcher und das 
fonitiae Yursfuibrperjonal forderten 25 Mart Fee Sartfeber and 22 Mark fur 
Schaffner bei taglich zwei Fuhren und falls noch drei Fuhren verlangt werden 
ſollten, 353 Mart für Kutſcher und 32 Mart für Schaffner. Bisher betrug der 
Tagelohn der Kutſcher 15 Mark, der der Schaffner 14 Mark. Er wurde jeßt 
heraufgeſetzt auf 21 bzw. 19 Mark. Die Schaffner und Fahrer der Groß— 
Berliner Straßenbahn, welche ein monatliches Einkommen von 413 bis 518 Mart 
für angeſtellte Schaffner und 426 bis 526 Mark für angeſtellte Fahrer neoſt 
einer einmaligen Abfindungsſumme verlangten, erhielten eine einmalige Zulage 
in Abſtufung bis zur Maximalhöhe von 500 Mark für jede Perſon. Tas Anfangs- 
gehalt für angeſtelldes Fahrperſonal beträgt jetzt 400 Mark, ſteigend jährlich um 
10 Mark für den Monat bis zum Höchſtbetrage von 500 Mark. Schaffnerinnen 
und ſonſtiges weibliches Perſonal, ſowie Streckenwärter, Wagenwäſcher, 
Rangierer, Wächter und Bodenarbeiter erhalten einen Tagelohn von 11 Mark mit 
zwei bezahlten freien Tagen im Monat. Eine beſondere Glanzleiſtung erlauben 
ſich die bei Behörden und Verkehrsanſtalten aushilfsweiſe beſchäftigt geweſenen 
Frauen, die jetzt nach der Rückkehr der Feldgrauen wieder ausſcheiden müſſen; 
fie fordern eine dauernde Penſionszahlung für ihre ein-bis vierjährige Dienſtzeit. 

Wie ſteht es in den Staatsbetrieben? Der ehemalige Finanzminiſter 
Simon hatte vor ſeinem Austritt aus der preußiſchen Regierung ein unendlich 
düſteres Bild von der Finanzlage Preußens entworfen. Die Eiſenbahn, welche 
das Rückgrat des preußiſchen Staatshaushaltes bildet, - erbrachte 1913 einen 
Uberſchuß von 325 Millionen Mark. Dieſer Uberſchuß ging durch den Krieg auf 
18 Millionen Mark im Jahre 1917 zurück. Für 1918 iſt bereits ein Zuſchuß von 








” 


7: Der Todesgang unferer Dolfswirtichaft 


1325 Millionen Dart erfowerlid und für 1919 wird das Defizit fait 
3 Milliarden Mark betragen. Der durchfchnittliche Lohn ilt von 1280 Mark im 
Sabre 1913 auf 4220 Mark geitiegen; das ift ein Mehr von 230 Prozent. Die 
VBerbefferung des Lohneinfommens der Eifenbahnarbeiter ab 1. Dezember dv. %. 
erforderte 236 Millionen Dart. Der Monatsvewienit eines Eiſenbahn⸗ 
handwerkers beträgt heute etwa 500 Marl. Was für die Eifenbahnen gilt, gilt 
auch) für die anderen Staatsbetriebe. &3 werden hier Löhne gezahlt, die vielfach 
außerhalb des Rahmens des übliden und wirtichaftlicd Notiwendigen jtehen; da3 
bedeutet eine veriwerflihe Schädigung unferer Syndujtzie. 
Welches find nun die Folgen der Arbeitseinftellungen? Unfere Kohlen 
an droht ind Stoden zu geraten. Dies veranjhaulicden nachjitehende 
len über die Eifenbahnmwagengeftellung in den Bergwerfen in der eriten 
ezemberhälfte. Wenn diefe Zahlen fi) inziwifchen aud) weiter nach dem Null» 
punkt hin entwidelt haben, jo tiverden fie dennoch für die Beurteilung der 
augenblidlichen Zage einen guten Maßjtab abgeben. Tie Sahre 1917 und 18 
find einander gegenübergejtellt. An den zrvölf Arbeitstagen der eriten Dezember- 
hälfte find gejtellt worden: 


— 


1917 1918 
Auf Steinfohlenbergwerfen . 432127 (Ausf. 256 260) 298 622 (Ausf. 6654) 
Davon in Oberfdlejiien . . 113620 ( „ 65003 63778 ( 


(“ n —— 
Auf Braunfohlenbergwerfen. 130798 ( „ 10969) 92873 (". 2644) 


Die in Klammern angebexen Zahlen über den Ausfall bezeichnen da& 
Zurüdbleiben der Wagengeftellung hinter den Anforderungen der Zehen. Aus 
den im Sgahre 1918 außerjt geringen Wagenanforderungen der Gruben ift er- 
N, daß die Förderleiftung und die Leiltungsfahigkeit in der eriten Dezember» 
hälfte gegen das Vorjahr ganz erheblich zurüdgeblieben it; ein Vergleich 
mit der ssriedenszeit würde das Bild von 1918 noch trüber erjcheinen lajjen. 
Infolge dDieies Kohlenmangels wird die Eifenbahn als größter Kohlenverbraucher 
den Betrieb meiter einjchränten müfjen, vielleiht gar zu völligem Stillftand 
kommen, was wohl demnächſt eintreten wird, imenn diefe Verhält- 
niffe anhalten. Damit verbunden wird der Warenverlehr und die Nahrungs«- 
mittelzufuhr in die Städte ins Stoden geraten. Taufende von Induſtrie— 
betrieben müflen eingejchräntt oder jtillgelegt werden. Die ohnehin yon große 
Zahl der Arbeitslofen jchwillt dann zu Millionen an. Neue Unruhen, Hunger 
not, Elend und Zertrümmerung vieler Erijtenzen imerden die Folge fein. 
Welhes Elend die Streild und die nadjlajjenden Arbeitsleiftungen allein 5bi8 
zum 20. Dezember 1918 angerichtet haben, ift aus Zeitungsnotizen befannt. 
Eo mußte in ganz Bayern eine miehrtägige Betriebseinftellung vom 24. Dezens 
ber 1918 bis 1. Januar 1919 feitgejegt werden. Sn Düffeldorf betrug der 
Meonatsbedarf an Sohlen 40000 Tonnen, im November 1918 gingen ein 
21000 Zonnen und im Dezember nur mehr 15 000 Tonnen. Sn Württemberg 
hatte fich jeit einigen Wochen die Kohlenzufuhr um rund 100 000 Tonnen monat- 
li vermindert. Bon 62 Gasiwerten mit feitheriger Kohlenzufuhr im Monat 
bon 22000 Tonnen Eaarklohlen jind 17 Werte in Gemeinden von zufammeı - 
140 000 Einwohnern oder rund 30000 Haushaltungen bereits ftillgelegt oder 


bor den Stillitand. Gasiwerfe der übrigen Gemeinden mit zufammen 750 000 


Einwohnern oder rund 180 000 Haushaltungen fommen in Kürze ebenfalls zum 
Erliegen. Die Bedienung der Elektrizitäts- und Waflerwerke, fowie Nahrungs: 
mittelbetriebe tft völlig unzureichend. Für das Gaswerf in Stuttgart fehlen troß 
großer Einjhhränfungen täglid 1500 Tommen. Die übrige Snöuftrie ift 
ohne Stohlenbelieferung. Beim Ausbleiben weiterer Ktohlenzufuhr find 300 000 
Menſchen ohne Licht, Wärme und SKochmöglichkeit. Was Groß-Berlin anlangt, 
0 betrug die Kohlenzufuhr aus dem Nuhrrevier in Friedenszeit täglich 25 0 

Sijenbahnivagen; dagegen im Dezember nur noch 15000 Wagen. Beute ift es 
noch jhlimmer. Berlin jteht, wenn aus dem oberfchlefifchen Gebiet die Zufuhr 


Der Todesgang unferer Doltswhrtidhaft 15 


—-. 








völlig ind Stoden gerät, vor einer folgenfchiveren Kalamität. Der Produktion 
erh Be Lahmlegung und damit wird auch die Konſumtion aufs ſchlimmſte 

üttert. 

Neben der Kohlennot droht uns eine verhängnisvolle Eiſennot. Unſere 
Roheiſenerzeugung iſt während des Krieges von 19,3 Millionen Tonnen im 

re 1913 auf 11 Millionen Tonnen geſunken; das ſind nur 57 Prozent der 
alden Erzeugung. Durch die Beſetzung des linken Rheinufers, welche uns mit 
einem Schlage um 144 Hochöfen brachte, ſo daß gegenwärtig nur noch 325 ar⸗ 
beiten können, dann aber auch durch den außergewöhnlich großen Arbeiterbedarf, 
der ungeachtet der augenblicklichen wilden Streiks allein infolge der Einführung 
des Achtſtundentages mit ſeiner dreifachen Schicht um die Hälfte geſtiegen iſt, 
verſchiebt ſich das Ergebnis noch weiter zur Kataſtrophe. Was das für unſere 
Maſchineninduſtrie bedeutet, braucht man nicht weiter auszuführen. Die deutſche 
Regierung wünſcht eine Steigerung des Eiſenexports nach Holland und den 
nordiſchen Staaten. Unter den obwaltenden Zuſtänden iſt dies aber leider nicht 
möglich, ſelbſt die erteilten inländiſchen Aufträge müſſen zum großen Teil liegen 
bleiben. Troſtlos ſtehen auch die Verhältniſſe in der Zement⸗, vor allem aber in 
der Ziegelinduſtrie, wo durch den verſchärften Kohlenmangel mweitere Werke in- 
zwiſchen zum Stillſtand gekommen ſind. Die Kaliinduſtrie liegt nahezu voll⸗ 
ſtändig feſt und die flaue Tätigkeit in der Papierinduſtrie bringt uns weitere 
Papierknappheit. So kann man alle Induſtrie⸗- und Gewerbezweige durch⸗ 
wandern, überall zeigen ſich die verheerenden Wirkungen der mißverſtändlichen 
Auffaſſung der neuen Zeit. 

sh habe beveits erwähnt, daß die Arbeitsluft gefunten und auch nad- 
gewiejen, daß die Arbeitsleijtung zurüdgegangen it. Die Arbeiter und Arbeite- 
rinnen in den Betrieben SGroß-Berlin3 fommen, politifieren, halten Betrieb3- 
verjammlungen ab, befämpfen fi und ziehen getrennt auf die Straße, um zu 
demonitrieren. Die Unternehmer aber miüljen die Zeit des Demonftriereng und Dis- 
futierens voll bezahlen. Was dies bedeutet, jieht man daran, daß mandher Groß 
betrieb, der früher erhebliche Gewinne erzielte, bereits feine für die Übergangs- 
wirtfchaft angefammelten Nejerven recht jcharf in Anfpruch genommen oder gar 
jhon aufgezehrt Hat und mit größeren Kreditanfprücden an die Banken heran- 
treten mußte. Die Folge ijt der Zerfall unjerer Vollswirtichaft und damit 
Arbeitslofigkeit. 

Gleichwie nun die Löhne als eine Schraube ohne Ende in die Höhe 
Hettern, ebenjo Steigen auch Die Gejtehungskoften, dem fich ein Emporjchnellen 
der Breije fonjequent anichließt. So mußten die Ruhrlohlenpreife vom 1. vor. M. 
ab um das Doppelte der Summe der Erhöhungen in den lebten Jahren herauf: 

egt werden. Die Steigerung beträgt einschließlich Kohlen- und Umfapfteuer 
ür Stohlen und Brifetts 14,45 Mark und Stofs 21,70 Mark je Tonne oder 0,72 
beztv. 1,03 Mark je Zentner, mit Ausnahme einiger geringwertiger Sorten 
(Schlammtfohle ufiw.), die mit 5 Mark für die Tonne neu belajtet wurden. An 
anderer Stelle ift bereits erwähnt, daß im mitteldeutfhhen Braunfohlenbergbau 
die neuen Lohnforderungen die bisherige Lohnjumme von 100 Millionen Dark 
um 95 Millionen Dart überjteigen. Auf die Tonne Kohle umgerechnet bedeutet 
das eine Verteuerung um etwa 4 Mark und der Brifetts um etwa 12 Mark oder 
20 bezw. 60 Pfennig je Zentner. Sn diefen Bahlen ift die Steuer jedoch nod) 
nicht berüdjichtigt. Kechnet man dazu die Trangportlojten und den Handel3- 
ewinn, dann kann man fich ungefähr ein Bild von der Belaltung unferes Wirt- 
—— allein durch die Kohlenpreiſe machen. Vom allgemein wirtſchaft⸗ 
lichen Standpunkt iſt dieſe Preiserhöhung zwar recht bedauerlich, aber im Inter⸗ 
eſſe der Lebensfähigkeit des Kohlenbergbaues dringend erforderlich. In der 
Roheiſeninduſtrie liegen die Verbältnifte ahnlih. Bier mußten die Preije eben- 
falls infolge der hohen Löhne, der adhtjtündigen Arbeitszeit, daneben aber auch 
Durch Die Verteuerung der Rohmaterialien, Erze, Kof3, SKalkitein und den 
Ausfall der im Preife günftigeren Schmelzmaterialien, an deren Stelle euere 
Erze traten, erhöht werden. Sie Stellen filh heute wie folgt: | 


16 Der Todesgang unferer Dolktswirtfchaft 


ab 1.1. 19 bieher 
Hamatit. . » 2» 2.2.2... 831450 Mart 223,— Mark 
&ießereirohrilen Nr.l. . . 24950 , 161.— „ 
Gießereiroheilen Nr. . . 249,— , 156,50 „ 
Luremburger Roherien Nr. II 208,— „ 123,— ,„ 
Siegerländer Stahleiien . . 28550 „ 214,— „ 
Spiegeleilen . . . . 358, - „ 166.50  „ 


ssührt man mın das Erenpel fort bis zu den fertiggeftellten Schienen, Schwellen, 
Lagen und Lobomotiven, jo gewinnt man eine Vorjtellung von der ruinojen 
Wirkung des Lohnfteigerungsfonwleres. 

Bejonderes „snterefje Dürfte die Lage im Baugewerbe finden. Die Bau: 
ltoffinduftrien fünnen nicht Die ungeheuren Mechrfoften der Yohn- und Kohlen: 
preiserhöhungen aus eigener Taſche bezablen und anderfeits die Bauftoffe unter 
ihren: Herjtellungspreis veraußern, um die von Behörden, stommunen, Slörper- 
haften angejtrebte gemeinmubige Wohnungsbautätigfeit zu ermöglichen, fie 
mien, wenn Ne arbeiten wollen, zu erheblichen Preise hohungen ſchteuen. Da— 
durch it auch der Bauitofihandel zur Preisſt igeru'g gezwungen und weiter der 
Baunnterzchmer; die Zol:e iſt Bauunluſt, Arbeitsloſiakeit Tauſender von Bau— 
arbeitern, Steigen der Mieten, weitere Oddachloſigkeit und Wohnungselend 
Hunderttauſender von heimkehrenden Soldaten. Wenn früher die Baukoſten eines 
mittleren Einfamilienhauies ſich beiſpielsweiſe auf 500000 Mark beliefen, ſo be— 
tragen ſie heute das Dreifache, alſo 150 000 Mart. In gleichem Ausmaße ſtiegen 
auch die Ditien gegen die Zgriedenszeit, wori Hausderwaltunss-, Betriebefojten, 
Ausgaben für Steuer, B leuchtung und Müllabfuhr berücknchtigt ſind. 

Die oben erwährten. unter dem Drucke des Demobilmachungsamtes be— 
milligten Löhne auf den p iwırn Schiffsiverften ſtehen in kraäaͤſſem Widerſpruch 
zu den Bprhältniten bei der ausländiihen Monfurrenz. Nah dem Urteil Ded 
Boriigenden d.r Klieler Dandelsfammer werden nc bei Eintritt normaler Na: 
frage befonderd die ſehr Leiftungstahigen amerifaniihen Writer empfindlich 
bemerkbar machen. In Schilfban werden in Ergland S—I1!, Mart fur den 
zaa und in Japan, wo auch eine Anzahl leritungstähiger Werfien entitanden ıft, 
3-3!s Wurf an gelernte Arbeiter bezanlt, fo daß engliiche Needer der billigen 
Lohne wegen ihre Aurfıräge an japanıfhe Werften geren. Im den Bereimgten 
Staaten erbalten onelernie Arbeiter 18.50 Darf pro. Tea; dis Ur mur inlofern 
möglich, als die Schfte in der Hälfte der normalen Zeit fertiggeftellt ſind und 
die Arbeitstraft ın einer Weile ausgenußt wird, wie dies Font rırgendg der Sal 
it. Die amerikaniſchen Werften ſollen YTufträge von über 11 Minionen Tonnen 
vorliegen haben. Die Zohnforderungen der Hamburger Hufenarbeiter Iverden Dazu 
führen, dag die Schiffe in anderen Häfen gelöfcht werden. 

Wie liegen die Verhältniſſe bei der Eiſenbahn und der Groß-Berliner 
Strazerbabn? Zum Schaden der Allgemeinheit müffen die Zarife recht beträcht- 
lih erhöht werden und e& wird michi lange dauern, dann wird auc) die Keicdhy- 
poftbehärde in diefelbe Kterbe fchlagen 

Während bei und alles im Preile erheblich fteigt, inSbefondere auch der 
"Breis der täglihen Bedarfsgüter, wie Nahrungsmittel, Kleider, Möbel, Bücher 
ufw. und dadurdh der Abjag im Ausland immer geringer werden muß, geben 
Ergland und Amerifa bereu3 zu einem Abbau ihrer Preife über. So berichtet 
„Bolititen* über die Preißermägigungen für engliihe Kohle und Koks in Dänemarf. 
Am 6. November 1918 wurden die Zradıten für eine Tonne Kuhlen von 77 auf 
50 Aronen, für eine Zonne Kot3 von 107 auf 75 Stronen berabgeiegt. Am 
28. November trat eine weitere Ermärigung auf 40 Kronen für eine Tonne Kohlen 
und auf 60 Stronen für eine Tonne Kots in Straft. Demnad) wird der Preig für 
ein Seftoliter engliihen Gasto!:3 auf unter 8 Stronen finfen, während deuticher 
Gaskoks ſtändig 960 Kronen toſtet. Auch die Ktohlenbelieferung des Nmuidener 
Fiihdampferbetriebes hat und der Engländer mweggeichnappt. Bon der Ausfuhr 
aber hing bisher die Rentabilität der Bergmwerte in erheblichem Maße ab. 


Er ns a! Te 


— — — — — — — 








Der Codesgang unſerer Volkswirtſchaft 77 


So liegen die Verhältniſſe auf allen Gebieten unſeres Ausfuhrhandels. 
Bleiben die augenbl’dlib ungelunden Zuftände noch weiter beſtehen, dann wird 
un fer 8 t’bemerb mit der -ausländischen Konkurrenz audgeicaltet. dann werden 
die Gru’ dlagen unfırer Induftrie untergrabn, dann bört die Zufunft unferer 
Abeinritaft auf. Schmähliche Krehifnaft und Lohnfklaverei für Rechnung des 
Au:landıe8 werden die Zulgen ein. Wer müflen dı8halb unfere PBroduftiong- 
beringungen an die Erivrdernfie de8 Weltmartted anpaflen; nur dann können 
wir, die wir doh zu | hr erhblihem Teil vom Export leben, die Stonfurrenz- 
fähigkeit ni der erlangen. Produzieren wir aber wie jigt infolge der erorbitanten 
L2öhb e und Matcrialprıife g teuer. dann wird und der Martt bei der Yuslands- 
fundfchaft dem wır 1913 für reichlich 10000 Dirllionen Markt Waren lieferten, 
verloren gehen und das Auslanı überlamwemmt mit feinen billigeren Waren 
Deutſchland. Wir benötigen die Ausfuhr aber auch für unfere Baluta und Stauf- 
frofı m Ausdlaıd. Bedarf bericht an einer ungeheuren Menge ausländıfcher 
Arrifel, uns zmar neren Yehenemitteln an Wolle Baummolle, Eilenerzen, Häuten 
-und Zellen, Jut⸗e, Sauıfchut, Balata. Guttaperchha, Supfer, Seide. Bei ber 
B.werturg unerer Mart im Auslande auf 40 Pfennig müllen wir aber unter 
ullen Unftändn mt Maflenauefuhr zu bezahlen trachıen. 

Lehnerhöhung, Geldentwe tung und Papierülle befinden fih in einem 
Wettlauf, bei dem die Geldentwertung immer die Spitze behält, weil die Kredit⸗ 
mittel ſteigen. das Geld immer fihnneller umläurt und fomit immer größere Geld- 
fun.m n auf jede Riarenemhert enttallen. Die PBreiie müflen nad dem volfg- 
wirswaflichen Grundgel 8 ftrigen bis entmeder eın größeres Warenangebot oder 
eine amangemeiie Ziabiliiterung des Zinanzmfensd eintritt. Die verheerende 
Fo'ge der Markentwertung veranſchaulicht nachſtehendes kleines Rechen: rempel: 
1913 führien wir an Rohſteffen aus den Staaten der Alliterten für 3500 Millionen 
Martk ein; bei dem augenblicklichen Kursſtand der Maärk, der noch weiter zu 
finfen droht, müßten wir aber 5600 Millionen Mark zahlen. Dies iſt das Kenn⸗ 
zeichen des „pupierien Wohlitundea“, der Aſſignatenwirtſchaft. Das rechneriſche 
Kinfommen dee einzelnen Arbeiters ift wı gemein bed), infolge de8 bei den hohen 
Lotnio Derungen geheisenten Betarfs an Zıblungsmitteln iſt aber der Wert des 
Seldes. alfv | ıne Kauftrait. gerufen und fomit der Warenpreis geſtiegen. 

Nach dem Jahresau’mwerd der Reihspant für 1918 erreichte der gejamte 
Kotenumlanf Die geralige Sımme von 22188 Dilionen Mark gegenüber 
11468 Millionen Dr am 31. D zımrer 1917 Allein in er legten, Dezember- 
woche b lief jiih die Keuausg ıve an Banknoten auf 1064 Millionen Mart gegen 
442 Mlionen Markt in der Lgen D’zemberwodhe 1917, wobei ich allerdings 
bemert n möcht, daß ein bedeutender Betrag zur Erfüllung der im Waffenttill- 
ftandgarfommın üwrnommenen B rpflibtungen zur Berfügung geltellt werden 
musste. An Tarlehnstaffenicrinen murden 41 Diillionen Marf gegen 166 Millionen 
Mu ft vor einem Sıhre neu ın den Berfehr gegeben, fo dag die Sejamtlumme 
dr im freien Berfenr befindlichin Durlennsfajtenscheine Ende Dezember 1918 auf 
10109 Millionen Mark unihwol. Wohin diefe ;Jinanzverwirrung führt, jeben 
wir m Nupland, wo die Aıbeter mo atlid 300-400 ARuhel, redjneriih da 
Zehnfahe der Lohr» von 1914 verdirmen, dagegen an Preijen meilt da3 Fünf— 
zehnfare vor dem Strieg beauhten müſſen. 

Wa8 fanıı nun im Anterelie unferer BWirtichafts- und Sozialpolitif gefchehen, 
um dieſe ſchadliche Zinan-gebahr ıng in gejfunde Bahnen zu lenten? BZunädit 
müfjen die Nolten der Lreı Shaltung berabgedrüdt werden; dies ılt allein möglich 
duch energiiches Abwarnısführen der Yohnfurve, Berininderung der im Umlauf befind- 
hen Zablungemimd, insbefondıre fhnelle Befeiticung der Darlchnsfafienicheine. 
Die Arbeitnehmerichafti aber muß ih erfeit® darauf bedacht fein, Die Unternehinungen 
au ſtüßen und leiſtungefähig zu erhalten. Tut fie da8 nicht, dann untergräbt fie, wie 
bewirfe ', ihre eigene Eriftenz. Unfır Wirsfchafisleben bricht zufammen und Abertau« 
fende von deutihen Zanulien müfjen im Auslande zu [hmählichen Bedingungen Arbeit 
juden. Deshalb mit Arbeifamten und Sparfamteit einer glüdlichen Zukunft entgegen! 


78 Nirchlicher Patriotismus 


Kirchlicher Patriotismus 
Von Dr. UAarl Buchheim 


& ie Sozialdemofratie rüftet zu einem neuen Stulturlampf. Sie will 
N Staat und Kirche trennen, und zivar, wenn fie e8 vermag, ficher 
in einer Form, die nicht zum Vorteil der Kirche dient. Denn die 
Sozialdemokratie liebt die Kirche nit. Dem Statholizismus wird 
| e8 nicht [chiver fallen, den fozialiitiichen Machthabern in voller 
ala  Nüftung entgegenzutreten. Denn teite tatholifche VBolkskveife von 
obe n find laugjt wach) und bereit. Vor allem werden auch die fatho- 
lichen Gebildeten, mögen fie jonjt nicht immer mit allen Betätigungen des 
SKleribalismus einverjtanden fein, dann zu ihrer Kirche halten, wenn dieje wirf- 
lich bedroht ift. Auch die freier gerichteten Katholiten beivahren ihrer Sirche 
meiftens ganz jelbitverjtandlich eine Heimatliebe, die ji in Zeiten des Kampfes 
bald für das bedrohte Heiligtum mobilijieren läßt. 

Wie jteht eg mit foldyer kirchlicher Heimatliebe unter uns gebildeten 
Broteitanten? Wir jtehen meiftens unfrer Kirche Eritifch gegenüber. Viele von 
uns vermögen große Teile der firchlichen Lehre nicht mehr gläubig hinzunehmert, 
andre haben am Kultus oder an der Ktirchenverfafjung twejentlihe Mängel au3- 
zuftellen. Zrog alledem könnten wir aber die Kirche doch noch lieben als die 
Heimat unfres veligiöfen Fühlens, vielfach gewiß auch unjres Denteng in Welt- 
anfhauungsdingen, al3 die Stätte, wo wir mandye TFeieritunden, vielleicht Doch 
die erhebendften, erlebt Haben. Aber das ift eben das Schlimmite an unirer 
brüchigen Stirchlichkeit, daß felbjt diefe Heimatliebe zur Kirche, die auch der nod) 
haben fünnte, der das DTogma ablehnt, oder dem der PBajtor nicht ideal, der 
Gottesdienjt nicht erbaulich, die Verfafjung nicht vollstimlich genug vorkonmt, 
nicht mehr vorhanden zu fein jcheint. Es ijt nicht allein kalte oder denticheue 
Bietätlojigfeit bei ung, die fcyuld ijt an diefem Veangel kirchlicher Heimtatliebe: 
leider hat ung auch die Willenfchaft, die wir mit Ktecht hoch fchägen, in dieſer 
Richtung erzogen. Unfve Gejchichtsfchreiber haben gar jo viel von kirchlicher. 
Anmaßung und Bevormundung erzahlt, fie Haben ung für den Freiheitsfampf 
begeijtert, deu der deutfche und der moderne Staatsgedanfe gegen die Kirchen 
Do müßten. Unfere ’Bhilojophen haben mit Hegel den Staat als die VBermwirk- 
liyung der fosmifchen Vernunftidee, oder mit den Politivilten al3 die große 
VWachtorganifation zur Durhführung der wirtfchaftlihden und Tulturellen Auf- 
gaben der Vienfchheit gepriejen. Sn der modernen Wertüberzgeugung wurden 
Arbeit und fichtbare Leitung einjeitig geihägt. Welcher Wert blieb da neben 
den Staat für die Kirche übrig? Der Staat fei ja alles, jo hat man uns erft in 
den legten jahren, während des Strieges, ganz befonders eingeihärft; er konne 
jedes Opfer verlangen, Batriotismus muüfje die hödjite, Die beherrichende 
Empfindung in jedes Diannes Brujt fein. Nun, der Staat, für den wir 
gefämpft haben, das neue Reich unter der Hohenzollerntrone, ift heute zerbrocdhen. 
$tlar ift heute vor allen Augen, daß überjpanntes Vertrauen auf Staatsallmadıt 
ein Gogendienft ift, der ein Vienfchentverf auf den Thron der Sdeale feht. Wir 
fünnen heute wieder begreifen, daß diejenige PHilojophie und Sefchichtslehre im 
Sertum befangen find, die vom Staat allein alles Heil erwarten. Ter Kultur» 
menſch iſt nidät allein im Staat fozial organifiert, fondern auch in andern Zollel- 
tiven Wiächten. Und eine wichtige von diejen ijt die Sticche, in die wir hinein» 
- geboren find. Auch fie hat Anspruch auf einen Patriotismus, eine Heintatliebe, 

p gut wie der Staat. Es ijt an der Zeit, daß wir gebildeten Proteitanten in die 
Ziefen unfrer Herzen fteigen und dort die alte Anhänglichkeit an die Stirche wieder 
erweden. Viögen wir vom lutherifhen Dogma oder von den landestirchlichen 
Berfafjungen, wie fie bisher waren, viel oder wenig gehalten haben; in dem 
Augenblid, wo die Kirche vom fiegreihen Sozialismus in ihrer Erijtenz bedroht 
und die völlige Entchrijtlihung unfrer Boltsbildung und unfres öffentlichen 
Xebens angelündigt ift, gehören wir an die Ceite der Kirche. Als 1914 der 











Kirdliher Patriotismus 79 


Kaifer zum Sriege aufrief, folgten auch die Republitaner. So hat jeßt die Kirche 
Anſpruch den kirchlichen Patriotismus auch der religiöſen Individualiſten, 
en en einde und Sleichgültigen, jofern fie nur überhaupt noch Ehrijten 
ein wollen. 

Wir müffen uns nod) einmal mit der Lehre bejchäftigen, daß in der Kultur- 
menjchheit feine andre folleftive Organifation fih im Range neben den Staat 
ftellen dürfe. Denn es gilt einzufehen, daß diefe Lehre weder der Befchichte noch 
den Zatjadyen der Gegenwart gerecht wird. m Mittelalter war die Firchliche 
Bindung vielmehr jtärter als die — Am tiefſten im Bewußtſein der 
Zeitgenoſſen ſaß der nl: hie Ehriltentum, hie Slam! Der Unterjchied 
zwiſchen deutſch und franzöſiſch, italieniſch und fpanifch trat gegenüber dem 
katholiſchen Zuſammengehoͤrigkeitsgefühl zurück. Erſt ſeit dem vierzehnten Jahr⸗ 
hundert nahm das nationalſtaatliche Bewußtſein zu. Die allgemeine Kirche 
zeigte eine wachſende Neigung, ſich national zu ſpalten, gallikaniſch in Franktreich, 
onglibanifch in England zu werden. Die engliihe Hochtirche veriteht man viel 
bejjer, wenn man jie, ftatt für einen Zweig des Proteftantismus, für einen 
nationalijierten Ajt der tatholifchen Stiche anfieht. Der Proteitantismus war 
urfprünglich gemeint als eine NReform- oder Revolutionsbewegung der Geſamt⸗ 
firche, endete aber, wenigitens foweit der europaifche Stontinent in Frage fommt, 
geft überall im Landestirchentum. Eine Zeitlang blieb auch in ihm das kirchliche 

ewußtjein noch jtaärter als das territoriale oder nationale. Bis zum Dreißig- 
jährigen Striege ijt das protejtantifche Zufamntengehörigfeitsgefühl einerfeits, dag 
fatholifche anderfeits oft Fräftiger als das Nationalgefühl der europäischen Voller. 
Dann verichmilzt die — Landeskirche immer mehr mit ihrem ſtaat⸗ 
lichen Territorium zu einer auch inneren Einheit, und auch unter den Katholiken 
bringt der Joſefinismus ſtaatskirchliche Tendenzen ans Ruder. 

Im neunzehnten Jahrhundert wurde der Nationalſtaat erſt recht die 
beherrſchende Organiſation der europäiſchen Geſellſchaft. Bei uns in Deutſch⸗ 
land wurde das neue Reich gegründet. Dennoch erſtarkte in derſelben Zeit auch 
wieder das kirchliche Bewußtſein, beſonders das datholiſche. Der deutſche Staat 
verſuchte es im Kulturkampf vergebens niederzuringen. Seit deſſen Abſchluß iſt 
der deutſche Staatsbürger katholiſchen Glaubens anerkanntermaßen in zwei 
Organiſationen der Geſellſchaft eingeordnet: in das Deutſche Reich, deſſen Ober⸗ 
haupt bis 1918 der Kaiſer oder der Bundesrat war, und in die katholiſche Kirche, 
deren Oberhaupt der Papſt iſt. Wir Proteſtanten haben dieſe doppelte Bindung 
früher nicht gelten laſſen wollen. Wir haben die Ultramontanen ſchlechte 
Deutſche geſcholten. Aber wir ſind nicht durchgedrungen, die Ultramontanen 
haben im Kriege ihr Deutſchtum mit Blut beſiegelt, wit müſſen die Tatſache 
anerkennen, daß die Kirche ein Kreis iſt, der den Kreis des Staates ſchneidet und 
ſich nicht von ihm einſchließen läßt. 

Es wäre aber ſehr kurzſichtig, die katholiſche Kirche für die einzige 
Opganiſation anzuſehen, die es heutzutage unternimmt, den Machtkreis des 
Staates zu ſchneiden, und ihr womöglich deshalb eine unerhörte Anmaßung 
anzudichten. Die internationale ſozialdemokratiſche Arbeiterbewegung verſucht 
genau das Gleiche. Die Sozialdemokratie war von Anfang an keineswegs bloß 
eine wirtſchaftlich-ſoziale Klaſſenbewegung oder politiſche Parteibildung inner— 
halb des Staates, ſondern auch ein Verſuch, große Gruppen der eurxopäiſchen 
Menſchheit außerhalb oder gar gegen die Nationalſtaaten nach eignen Prinzipien 
zu organiſieren, ganz wie die katholiſche Kirche. Deren Feſtigkeit hat dieſe 
Organiſation noch nicht erreicht. Die Sozialdemokratie vermaß ſich früher, die 
Klaſſenſolidarität der Arbeiter werde den Nationalismus der europaäiſchen Völker 
zerſetzen. Die Radikalen vom Spartakusbund ſind heute noch dieſes Glaubens. 
Warten wir's ab! Es iſt auch möglich, daß die internationale Solidarität des 
Sozialismus wieder zerfällt, gerade dann um ſo mehr, wenn er in den 
een Nationaljtaaten zum Siege gelangt und für deren nationale 
Intereſſen verantwortlich wird. Bei uns in Deutichland hat einst Bismard, wie 
gegen die fatholifche Kirche, jo ac) gegen die Eozialdemofratie den vergeblichen 


sy Kirchlicher Patriotismus 











Verſuch gemacht, ſie von außen niederzuringen. Es iſt nicht ausgeſchloſſen, daß 
ſie nun, wo ſie an der Regierung und für Deutſchland verantwortlich iſt, von 
innen vom nationalen Gedanken erobert wird. 

Die Sozialdemokratie ſchneidet aber nicht nur die Sphäre des Staates, 
ſondern auch die der Kirchen. Denn ihre Weltanſchauung iſt nicht chriſtlich. 
Konfeſſionspolitiſch angeſehen iſt die Sozialdemokratie zugleich eine machtvolle 
Organiſation des modernen le Deaterialismus. Sie hat ja ihre eigne 
Wiſſenſchaft, die nicht minder ſpezifiſch fozialiftifch auftritt, wie die katholiſche 
Se haft jpezififch. tatholifc) ijt, fie Hat ihre befonders ausgeprägte ölonomtijche 
Beihihhtsanfhauung und ihre eignen, an Marc anfnüpfewen philofophiicyen 
Prinzipien. ur das Volk hat jie au ihren eignen jozialdemofratiicyen Glauben. 
Er ijt feine echte Religion, weil er materialiftifch ift, aber er ift ein Religions- 
furrogat; er laßt die Heligion nicht ungefchoren, fondern er till fie erfegen. Der 
Zubunftsjtaat ıjt für den gläubigen Zoztaldemofraten dag, was für den Chrijten 
das Paradies it. Taß er irdifch it, mwiderjpriht nicht dem Begriffe des 
Paradieſes. Auch in der Geſchichte des Chriitentumg find irdifhe Keichgottes- 
vorſtellungen nichts Außergewöhnliches. Es iſt ſozialdemokratiſcher Glaube, daß 
die Idee der wirtſchaftlich-ſozialen Gleichheit und Gerechtigkeit mit menſchlicher 
Macht vi Exden verwirklicht werden fünne. Ter Eozialismus hat fogar in den 
Bolichewilten feine Yanatifer, die meinen, fie fönnten mit Feuer und Schwert 
den Sieg Ihrer xjdec erzivingen, jo wie die chrijtliche Kirche einft die Fanatiker der 
Inquiſition hatte. 

Ich weiß natürlich, daß das ſozialdemokratiſche Programm die Religion zur 
Privatſache erklärt, und zweifle auch nicht, daß viele Sozialdemokraten das ernſt⸗ 
haft ſo meinen. Dieſe Leute denken in Kulturfragen einfach liberal, wie ja über⸗ 
haupt die Grenzen zwiſchen Liberalismus und Sozialismus, zwiſchen denen 
prinzipiell ein ungeheurer Gegenſatz klafft, in der praktiſchen Parteipolitik 
fließend ſind. Tatſachlich dient der ſozialdemokratiſche Programmpunkt von der 
Religion nur dazu, das Chriſtentum beiſeite zu ſchieben und den Weg für den 
materialiſtiſchen Siesſeitsglauben frei zu machen. Wird aus der Schule der chriſt⸗ 
liche Geiſt hinausgedrängt, ſo wird der Platz nicht leer bleiben, ſondern Die 
materialiſtiſche Lehre wird die Herrſchaft antreten. Tie kulturellen Liberalen 
im buürgerlichen, wie im ſozialiſtiſchen Lager halten die Religion für Privatſache. 
Aber ſie irren ſich. Sie urteilen zu ſehr nach den Sonderbedürfniſſen der 
Gebildeten und kennen nicht die des Volkes. All man das Volkt nicht chriſtlich 
erziehen, ſo wird es materialiſtiſch erzogen werden. Eine Privatſache wird für 
die Geſamtheit eines Volkes die Religion niemals ſein. Bei allen Völkern der. 
Erde gehört eine Religion mit zum öffentlichen Geiſt. Es gibt viele Völker, auch 
in Europa, wo die Konfeſſion den öffentlichen Geiſt ſtarker beſtimmt als die 
Nationalitaät, viel ſtärker als wir proteſtantiſchen Deutſchen ohne konfeſſionelles 
Rückgrat zu unſerm Schaden ahnen! 

Manche unter uns denken, es ſei eine leidige Spezialität des Katholizismus, 
das konfeſſionelle Bewußtſein lebendig und kräftig zu organiſieren. Faßt man 
aber den Begriff Konfeſſion nur weit genug, ſo wird man inne, daß auch ein recht 
großer Teil des deutſchen Volkes im ſozialdemokratiſchen Materialismus eine 
ſehr beſtimmte, ihrer ſelbſt bewußte Koönfeſſion hat. Sie wird mit immer 
großeren Machtanſprüchen im öffentlichen Leben der Zukunft auftreten. Man 
braucht nur einmal unter ſozialdemokratiſch erzogenen Maſſen gelebt zu haben, 
dann wird man das Daſein der organiſierten materialiſtiſchen Konfeſſion 
nicht leugnen. 

Dieſen Tatſachen gegenüber befindet ſich der deutſche Proteſtantismus nun—⸗ 
mehr am Scheidewege. In ihm hat zwar der orthodoxe Teil noch richtiges 
konfeſſionelles Bewußtſein. Aber die Liberalen aller Schattierungen halten es fur 
ein Ideal, die Religion lediglich in igrem Privatgärtlein zu züchten. Sie machen 
ſich nicht genügend klar, daß der Prot ſtantismus ſeine geſchichtliche Bedeutung 
durchaus nicht als Privatſache, ſondern durch ſeinen Einfluß auf den öffentlichen 
Geiſt Deutſchlands gehabt hat. Unſre Geſchichtswiſſenſchaft im weiteſten Sinne 


Die polnifihen Gebietsanfprüche im £ichte der Statiftif 81 


— 


iſt Geiſt vom Beift des Protejtantismus. Die, deutiche iwealiftifche Philofophie ijt 
fo — in ihren Prinzipien, daß die katholiſche Kirche ſie ablehnt und am 
Lhomismus feſthält. Kant und Schiller ſind nur auf den Schultern Luthers 
denkbar. Es iſt doch wahrhaftig keine Privatſache, ob der Geiſt Luthers oder der 
ihm verwandte Humanismus Humboldts unſre Schulen beherrſchen ſoll oder ein 
aundrer. Bleiben die evangeliſchen Gebildeten bei den kommenden kirchlichen 
Auseinanderſetzungen dabei, daß Religion ihre Privatſache ſei, ſo wird der 
Proteſtantismus ſeinen Einfluß auf den öffentlichen Geiſt Deutſchlands verlieren. 
Andre Leute werden ihren aD wahren. Dann wird das RN 
Bolt dem jozialdemofvatifchen Materialismus verfallen, oder joweit e3 chrijtlich 
bleibt, wird die Fatholifche Kirche das Hauptverdienjt daran haben. Wenn mir 
die Religion al3 Privatiache behandeln, die andern werden das nicht tun. Die 
geihichtlihen und politiihen Erfahrungen beweifen, daß die Religion eine 
öffentlide Sache ift. Entiveder das evangelifche Volk entichließt jich wieder zu 
einem öffentlichen Belenntnis, oder der Sroteftantismug wird von robujteren 
Weltanihauungen an die Wand gedrüdt. 

ns gebt e8 mit der Slirhe wie einem Boll, da3 unter lauter 
Hauvinijtiichen Nachbarn gleichgültig gegen die Exiſtenz feines Staates jein 
wollte. Diefer Staat wäre bald bedeutungslos oder zerjplittert. Entweder wir 
entſchließen ung jegt zu chrijtlichem Selbjtberußtfein und protejtantiihem Macht: 
bemwußtfein, entweder wir erweden in uns einen firchlichen Patriotismus, ganz 
gleich ob wir das Athanafianum für ein geeignetes Befenntnis halten oder nicht, 
ob wir uns in unfern bisherigen Landestirchen heimifch fühlten oder nicht, oder 
der Proteftantismus verliert feinen Pla an den jozialdemofratifchen Materialis- 
mus. Die fatholifche Kirche ift jeßt unjre Verbündete. Aber mir —3 auch 
bündnisfähig ſein. Mit dem irrigen Glauben, Religion ſei Privatſache, ſind mir 
Schrittmacher des ſozialdemokratiſchen Materialismus. Dann iſt die katholiſche 
Kirche ſtärker für ſich allein, und uns bleibt nur das Los, zwiſchen ſelbſtbewußtem 
Chriſtentum und Materialismus zerrieben zu werden. 





Die polniſchen Gebietsanſprüche im Lichte der Statiſtik 


Von Dr. Saenger, Präſidenten des Preußiſchen Statiſtiſchen Landesamts 


a ie geichicte Bearbeitung des Auslandes hat von jeher einen Ruhmes- 
4 titel der polniichen Bropaganda gebildet; fie hat fich auch in diefem 

| Meltfriege bewährt. Zange, ehe an einen Sieg der Entente über- 
haupt zu denfen war, Hatte der »olnifche Geograph ©. v. Romer 
zu Lemberg einen „polnishen Atlas“ mit dreiſprachigen Erläu- 
a aA terungen fertiggeitellt, -in dem dad gelamte Material über die 
polniihen Gebietsanſprüche unter einfeitig polniihen GefichtSpunften zujammen- 
gefakt war. ES beiteht Grund zu der Hoffnung, daß unjere Unterhändler auf 
der Tsriedendfonferenz mit Kartenmaterial erjcheinen werden, daß geeignet ift, die 
großen Irrtümer, zu denen der Romerjche Atlas verführt, richtig zu jtellen. Nicht 
mindere Bedeutung fommt aber einer kleinen, erjt in diejem Sabre erjchienenen 
Schrift zu, die vom Standpunfte der Statiftif die polnischen Anjprüche betrachtet. 
Sie betitelt fih: „La Structure Nationale de la Pologne, Etude Statistique.“ 
Ihr Verfafier Dr. Frejlid, der einftmal3 ficher ein gut deutjcher Fröhlidy war, 
beflagt in der Einleitung die Unmifjenheit jomwahr der Teinde, wie der wahren 
ssreunde der polniichen Sache über die — zahlenmäßige Stärke der Polen 
und ihre Verteilung in den verſchiedenen Ländern. Er ſetzt ſich demgemäß die 
Aufgabe, hierüber eine wahrheitsgemäße Datſtellung zu geben. Er will beweiſen, 
daß die amtliche Statiſtik über die Zahlen der Polen in allen beteiligten Staaten 


Grenzboten I 1919 - 6 





82 Die polnifhen Sebietsanfprüdhe im Lichte der Statiftif 


(Dfterreih, Rußland, Preußen) mehr oder weniger gefälicht fei, und ftellt dann 
den amtlihen Zahlen ein von ihm entworfened, angeblid) richtigered Bild gegen- 
über. Er beruft fih mit Vorliebe auf amtliche Quellen und Außerungen, führt 
folde auch mehrfady im Wortlaut an, und erwedt dadurd) beim unbefangenen 
Lejer den Anichein einer bejonderen Gemwiljenbaftigkeit. Er wird e8 fich Daher 
ficherlich gern gefallen lafien, daß man fein eigenes Werk einer forgfamen Prüfung 
unterziebt. 

- Daß erite, wa8 fchon beim oberflädlichen Durchblättern de8 Buches auf- 
fallt, ift ein Berfuch des Berfaffers, diejenigen LXefer, die in ber polnifhen Ge- 
Ihichte untundig find, gröblicd) zu täuschen. Er fpridt nämlich immer abwedjelnd 
von dem „von Polen bewohnten Gebiet“ und „den Gebiet ded alten Stönigreichs 
Polen“ und verfteht e8 bBierdurdh in einer außerordentlih geichidten Weije den 
Anſchein zu erweden, ald wenn beides au dasjelbe bedeute, und ald wenn ind- 
befondere fämtliche LZandesteile Preußens, in denen überhanpt Bolen wohnen, 
auch zum alten Stönigreih Polen gehört Hätten. Nachdem er diefen Irrtum in 
der Einleitung erjt erzeugt bat, überfjchreibt er daS zweite Stapitel ausdrüdlid: 
Berteilung der polniihen Bevölferung „über das Gebiet de alten polniichen 
Etaated“ und benennt aud) den dritten, nur Tabellen enthaltenden Zeil: nationale 
und £onfejfionelle Zufainmenfegung der Bevölkerung, die die Gebiete „des alten 
polniihen Staates“ bewohnt. Unter diejfer Mberichrift behandelt er fodanı nad)- 
einander das preußifche, öfterreihiiche und rufiiihe „PBolen“. Zu dem „preußiichen” 
Polen rechnet er ganz DOftpreußen, Weftpreußen, Pofen, Oberichlefien und einen 
Zeil von Mittelihlelien. Daß Schlefien niemald polnifh gewefen ift, daß von 
Ditpreußen nur da8 Bistum Erıneland (die fünf Streife Braunsberg, Heilgberg, 
Nöffel und Allenftein-Stadt und Land) zum vpolnifchen Reich gehört haben. daß 
aud) Weitpreußen nur fuapp 200 Sabre ein Teil diefed Reiches germejen ift, und 
dies auch nur, weil eö unter Brud) feierliher Berfprehungen auf dein Reichätag 
zu RZublin 1569 Polen einverleibt wurde, ilt an feiner Stelle de Buches auf 
nur angedeutet. Der Erfolg dieler Täufhung ergibt fih aus den folgenden 
Zahlen: die jegt zu Preußen gehörigen Teile des ehemaligen Stönigreich8 Polen 
(die Provinzen Weftpreußen und Polen und dag Bistum Ermeland) umfallen in 
Wirklichkeit ein Gebiet von 58800 qkm mit 4051214 Einwohnern; dad von 
Srejlich zum alten Königreich Polen gerechnete preußiihe Gebiet umfaßt dagegen 

19 956 qkm mit 9252014 Einwohnern, d. 6. rund da3 Doppelte an Fläche 

und an Einwohnerzahl. Der Zwed diefes Deanövers ift flar: der Berfafler 
will von vornherein für die maßlofen Anfprüche der Polen, in3befondere für 
diejenigen auf Oftpreußen und Oberfdleiien, einen geihichtlihen Hintergrund 
Ihaffen. Um die Gefahr diefer Käufchung zu ermeffen, muß man fi flar madıen, 
wie gering die Senntni® der polnischen Gelchichte bei unjeren Feinden, ins— 
befondere in England und den Bereinigten Staaten, ift, und wie jehr ihnen 
gegenüber die Begründung ber polnifchen Anfprühe erleidhtert wird, wenn al3 
ihr Ziel nur die Wiederheritellung eine8 früheren AZuftandes dargeftellt wird. 
Angericht3 der Ausführungen Srejlihd wirft es ja fait wie ein Berzicht, wenn 
die VBolen nunmehr nicht das ganze „preußiihe Polen“ verlangen, fondern fid 
mit Pojen, Wejtpreußen, Oberfchlefien und Majuren „begnügen“. 

Prüfen wir nun aber die Vorwürfe, die rejlih feinerfeit8 gegen die 
preußiicdhe Nationalitätenftatiftit erhebt. Er zieht hierbei mehrfach eine 1914 er- 
ihienene Studie de3 Brofeiffor Bernhard „Die Sehlerquelle in der Statiftit der 
Nationalitäten” heran. Auch in diefer Studie finden fih mande Irrtümer, auf 
die bier nicht näher eingegangen werden fann. Der Grundgedanfe Bernhards, 
daß der Nationalitätenfampf nicht ohne Einfluß auf die Nationalitätenitatiftil 
bleibt, und daß deren Zuverläfjigfeit darunter leidet, fann natürlich nicht geleugnet 
werden; mır muß daran erinnert werden, daß diefer Stampf — was Bernhard 
aud garnicht verfchweigt, fondern fogar mit Beilpielen aus der polnischen Breite 
belegt -— auf beiden Seiten geführt wird. Seit 1900 ließ fid) nämlich regelmäß!g 
beobadhten, daß die polnifche Preffe ſchon lange vor jeder Bolfszählung mobil 


Die polnifhen Gebielsanfprüdhe im Lichte der Statiftif 83 


machte, um einen Drud auf die Bevölkerung dahin auszuüben, daB fih möglichft 
viele al8 Polen bezeichnen. &8 bedeutet alfo lediglich eine Abwehr, wenn die 
AusführungSbeftimmungen der preußifchen Regierung darauf Hinweilen, daß in 
Ipradhlich gemifchten Gegenden befondere3 Gewicht auf die Bewinnung zuverläfliger 
Bühler gelegt werden müfle, und wenn den Landräten die felbitverftändliche Pflicht 
auferlegt wird, fich einer genauen Durdricht der Zählungsergebniffe zu unterziehen 
und erforderlichenfall3 eine örtlidde Nachprüfung vorzunehmen; — eine Pflicht, 
‚die fie übrigen® generell für den ganzen Umfang der Zählung in allen Landes» 
teilen haben. Übrigen? find, wie jeder Kenner der Berhältnifje weiß, die Mög- 
lichkeiten einer ftaatlihen Einwirkung auf die polnifche Bevölferung ziemlich 
gering. Im ganzen wird der Gtatiftifer gerade. daraus, daß der Wirkung ded 
polnijchen Drudes auf die Bevölferung durd) Itaatlihe Mapnahmen entgenen- 
getreten wird, dad DBertrauen fchöpfen, daß das jchliegliche Ergebnis fo zutreffend 
wird, wie e8 in Gegenden de Nationalitätenfampfe3 überhaupt werden fann. 

Adgejehen von diefer allgemeinen Bemängelung erhebt aber ?rejlich eine 
Reihe von Einzelvorwürfen gegen die preußiihe Nationalitätenftatiftil. Einmal ' 
bemängelt er, daß neben ber polnifhen auch die kaftubiiche und die mafuriiche 
Mutterijprade erfragt wird; beides feien lediglich Dialekte und eine kaffubilche und 
mafurifhe Sprache fei nur „eine Drininalerfindung der preußilch-deutichen Ver— 
waltungsbeamten und Gtatiftifer”. Wa8 die faflubilhe Sprache anbetrifft, To 
genügt e8 demgegenüber, darauf Binzumweifen, daß nicht nur deutiche Sprachforicher 
von angejehenem Rufe, fondern gerade au ein polnifcher Sprahforicher, nämlich 
der Strafauer Brofeflor Dr. Ramult die faffubiihe Sprache nicht al3 einen Dialekt 
des polnifchen anerfennen wollen, jondern für fie die Eigenfchaft einer felbjtändigen 
Sprade in Aniprud nehmen. Sadlid fteht e8 mit der majurifhen Spracde 
nicht anders. Mag fie im Beginn des Mittelalter® auch mit der damaligen 
polnischen Sprache identifch gemweien fein, jo bat fie fid dod) feitdem in Wortichag, 
Ausfprache und Grammatik fo felbitändig entwidelt, Daß fie Heute al$ eigene 
Spradhe anzufehen ift. Das erklärt fich auß der ganzen gejchichtlihen Entwidlung, 
die feit der eriten Beliedelung Majurend den Gegenfag zwilchen Dajuren und 
Bolen immer mehr verftärft hat. 


Einen zweiten Borwurf glaubt Freilih der preußilden Statiftif daraus 
machen zu fönnen, daß fie Perfonen mit doppelter Mutterfpradhe fenne; er liebt 
ftarfe Ausdrüde und nennt Died daher eine „phyfiologiiche und ftatiltifche Unge- 
beuerlichfeit“ (monstruosite). Wie verhält e8 fihh damit? In Breußen wurde 
erfragt „die Mutterfprache” und zwar mit der Erläuterung: „Sn der Regel beligt 
jeder Menjch nur eine-Dlutterjprache, welde ihm von Sugend auf am geläufigiten 
in und in mwelder er denft und auch betet. Stinder, welche noch nicht jprechen 
und aud) Stumme find der Mutterjpradhe der Eltern, unter Umftänden aljo aud) 
zwei Mutterjpraden zuguzäblen.“ 

Gegen diefe Erläuterung find vereinzelt von Theoretikern der Statiftik 
Bedenken erhoben worden; daß Ste aber den Bedürfnilien des praftiichen Lebens 
gerade in gemiſchtſprachigen Gegenden gerecht wird, wird faum beitritten werden 
fönnen. Denn gerade in diefen Gegenden zeigt die tägliche Erfahrung, daß es 
Verfonen gibt, die von Sind auf zwei Sprachen gleich gut jprechen, und zwar 
feineßweg8 nur in den in der obigen Erläuterung aufgeführten Fällen, die viel- 
mehr nur ald Beifpiele zu bewerten find. Es iſt in Oberſchleſien z. B. durchaus 
niht3 Ungewöhnliches, daß Leute in ein und demfelben Sage abwedhjelnd deutich 
und polniich fpreden. Die Zmweilpradigkeit ift daher durdyaus feine Erfindung 
der preußifchen Statiftil, wie SSrejlich feinen LXejern vorzutäufchen jucht; Tondern 
von einem fo hervorragenden Zacıınann, wie dem Altmeijter der deutfchen Statiftif 
v. Mayr wird ihre Berüdiihtigung geradezu auß logischen und praftifchen Gründen 
gefordert. E3 ift nun ganz natürlid, daß Diele Zweiſprachigkeit ſich um fo 
häufiger findet, je dichter die Milchung zwifhen Deumijchen und Polen ilt, und je 
mebr die Polen aus mwirtfchaftlihen Gründen ein Intereife daran Haben, fich der 
deutfhen Sprade zu bedienen; denn wo da8 der all ift, da Hören jelbit die 


6* 


84 Die polnifchen Sebietsanfprüche im Kichte der Statiftif 


aus rein polnifhen Zamilien ftammenden Finder, fomoBl auf der Straße unter 
ihren Alterögenofien, wie au im Haushalt ihrer Eltern gelegentlich deutih 
Ipreden und werden dadurch von felbft aweilpradig.e Das trifft natürlich am 
wenigiten für die Provinz Pofen, die eine rein ländliche Bevölferung hat und in 
der da8 PBolentum verhältnismäßig geichloffen wohnt, am meiften aber für Ober- 
fchlelfien zu, wo der Induftriearbeiter einigermaßen deutfch fprechen muß, wenn 
er iwirtfchaftlih vorwärts fommen will. Das, wa8 Frejlid eine „Ungeheuer- 
lichkeit“ fcheint, findet aljo feine ganz natürlidhe Erklärung. Ganz fiher ınuß fid 
übrigens ‘srejlih feiner Sache nicht gewefen fein; denn um die vermeintliche 
Ungeheuerlichleit der preußifchen Statiftif feinen Lefern ganz eindringlich dar- 
auftellen, greift er zu dem Mittel einer Fälfhung. Es war nämlid) 1910 ähnlich 
wie 1905 — entipredend einer orderung, die gerade der oben ermähnte 
Statifter v. Mayr erhoben Bat — neben der oben wmiedergegebenen Trage nad 
der Mutterfpradhe nod) eine Nebenfrage geitellt: „Wenn die Deutterfpradye nicht 
deutfch, 06 der deutichen Sprahe mädtig?“ Zrejlid) erwedt nun Durch feine 
Darftelung den Anjchein, al® wenn alle Berfonen mit polnischer Deutterfprache, 
die Diefe Ilebenfrage bejaht haben, von der preußifchen Statiftif al3 PBerfonen 
mit doppelter Dutterfprache gerechnet worden feien; ja er verfieigt fich auß 
drüdlidy zu der Behauptung, e8 fei unter anderem die Aufgabe der Landräte, 
„die Polen, die erklären, gleichzeitig der deutichen Sprache mächtig zu fein, in 
die KKolonnen der Zweilpradhigen einzureihen“, während doch. gerade daß Bor- 
Bandenfein der Nebenfrage beweilt, daß man die Perfonen mit doppelter Mutter 
fprahe von denjenigen, die nur die polnische Mutterfprade befigen, aber ber 
deutfchen Sprahe mädtig find, unteriheiden wollte. Daß diefer Zweck auch 
erreicht ift, geht aus folgenden Zahlen hervor. 3 betrugen 1910: 


Tran 











in Welt» in in Ober 
preußen | ®Bojen ſchleſien 
Die Perſonen mit doppelter Mutterſprache (deutſch und 
ee 19 192 11 796 88 798 
Die Perfonen mit polniiher DMiutterfprade überfaupt . | 4756 868 |1 278890 | 1 169 340 
Die Perfonen mit polnischer Wutterfpradhe, die des 
Deutfhen mädtig waren. „ » 2 2 2 2 0. 806 714 | 686688| 766968 


Diefe Zahlen Iafjen erfennen, daß überall, au) in Oberjchlefien, die Zahl 
der Perfonen mit doppelter Mutterfpradye verjchwindend gering ilt gegenüber den 
Perfonen mit polnifher Mutteriprache, die der deutihen Sprache mädtig find; 
die hohe Zahl der lesteren gibt zugleich einen Anhalt dafür, wie groß der Bert 
ift, den die Polen felbjt der Erlernung der deutihen Sprache beilegen. 

Frejlich Ichließt diefen Zeil feiner Darlegungen mit dem Sage: „EI drängt 
ih folglid) der Schluß auf, daß die Organijation der amtlichen Statiftif in 
Preußen und Deutichland, die im allgemeinen muljterhaft ift, dies feinesmwegs ift 
auf dem Gebiete der Nationalitätenftatiftit”; und er fühlt fich berechtigt, für alle 
Zandesteile die Zahl der Bolen, die die amtlidhe Statiftif nachweift, um 10 biß 
15 v. 8. zu erhöhen. So ift e8 ihm natürlich ein Stleined, den Anteil der 
polnifhen Bevölkerung in Oberjchlefien von höchitend 57 auf 65,7 v.9., den im 
Negierungsbezirf Bofen von hödhliens 67,9 auf 74,1 v. 9. uff. Hinaufzufchrauben. 
Daß feine Haltlojfen und zum Teil auf Zällhung beruhenden Borwürfe gegen 
die amtliche Statiftit ihm hierzu fein Recht geben, ift wohl im vorftchenden Kar 
genug gezeigt. 

Das Bild, dad wir von der Methode FFrejlidhg gegeben haben, würde aber 
unvolftändig fein, wenn wir nidt nod mit einigen Worten auf die Art ein- 
gingen, auf welche er die immer nod) große Zahl der Deutichen, die trog all’ 
jeiner Zäufhungstünfte übrig bleibt, ihrer Bedeutung zu entkleiden fucht. In 
diefem Bemühen zieht er zunädft von der deutfchen Bevölkerung alle Militär- 
perjonen ab; daß dieje fait ausfchließlich auß der gleihen Provinz ftammen, in 


Die polnifhen Gebietsanfprücdhe im Lichte der Statiftif 85 


der fie ihrer Dienftpfliht genügen und daher auch der Bevölkerung dieler Provinz 
zugerechnet werben müflen, weiß er nicht, oder will er nicht wifjen. Weiter prägt 
er den hübichen Sat, daß da8 nanze Gebiet von Weitpreußen, Bofen und: der 
Negierungsbezirfe Allenftein und Oppeln einen ausdgeiprocdhenen polnifchen Cha- 
ratter babe „mit Ausnahme . einiger Küftenfreife in Weltpreußen“. Mit Dielen 
Küftenkreifen find nämlid) die ferndeutiche Stadt Danzig und die fie umgebenden 
Kreife Danziger Höhe und Niederung, Marienburg und Elbing gemeint, die bei 
einer Bevölferung von zufammen 420434 Einwohnern = 24,7 v. 9. der ge- 
famten Einwohnerzahl von Weftpreußen noch nit 3v. H. polnifche ober fafjubiiche 
Bevölferung Haben. So ftellt er weiter die Behauptung auf, daß die deutjche 
Bevölferung, die Dort mohne, zum großen Teil aus Eingemwanderten bejtehe, und 
daß „die Zahl der Deutichen, die dort feit Tängerer Zeit wohnen und durd) ftarfe 
wirtfchaftliche Bande an da8 Land gefelielt feien, verhältnismäßig wenig beträchtlich 
fei.“ Demgegenüber halte man folgende Zahlen: \ 





Davon haben die Polen einjchl. der Kafjuben 
die Mehrheit 


ie l 
Es betraͤgt Die Zah an an bebau- | an gewerb- Jan größ. 
— der an ländlichemſtem Grund⸗lichen Be⸗gewerbl. 
Bevölkerung / Grund» |befig inden| trieben in | Betrieb. in 
Regierungs⸗ beſitz Städten | den Städten | d. Städten 
bezirten || Gefamt. [2] mit einer |S |mit einer | S |mit einer | S| mit einer |S |miteiner 
5| pepölte- [5 | Ein [3] Ein 2] Ein |2| Ein |2| Ein 
e & | wohner« & wohner- & wohner- |& | wohner- |7 | wohner- 
zung |=| zahl von [= | gahlvon |.= | zahl von |.= | zahl von |. = |zahl von 







Kofen. . . 28 1 385 Bs4jo4 1 187465 
Bromberg . [15] 768 947| 8| 890.599 
Danjig . . 112] 742619] 4| 2178421] — fnichtfeltgeit. 1 — 1-1 — 
Marienwerber |i7| 860855| 7| 877745] 1] 59.097 fnichtfeftgeft. | 2] 112 211 - = 


Bufammen |72| 8808 805|43| 2 178 851 |10] 826 450 |15| 826 151 [24 1 221 29119] 930 908 


Dieje Zahlen beweilen, daß auf allen Gebieten fomohl im ländlichen wie im 
fädtifchen Grundbefig, wie im Gewerbe der Anteil der Polen weit aeringer ift 
als ihr Anteil an der Bevölkerung; fie beweilen befier ald lange Darftellungen — 
mas jedem, der unbefangen fi in unferen öftlihen Provinzen umfieht, jchon der 
Yugenfchein lehrt — wie überwiegend gerade die Deutihen da8 gejamte mirt- 
Ichaftliche LXeben diefer beiden Provinzen beherrihen. Yür den Regierungsbezirk 
Oppeln und das Bistum Ermeland fehlt e8 leider an den entiprechenden Unter- 
lagen; bedentt man aber, daß von den fünf Streifen, die da8 Bittum Ermeland 
bilden, vier eine deutiche Mebrbeit, die zwilchen 99,63 und 88,57 Ihwanft, haben, 
und daß die ganze Induftrie ded Negierungsbezirt8 Oppeln ausjchlieglih ein 
Werk deutfcher Zatkraft und deutihen Fleißes ift, jo fällt jener Sa szrejlich 
auh für dieje Gebiete in fich felbft zulammen. Bon dem gefamten polnifchen 
Gebiet, da8 für SFreili von der Oder bis nah Pingt und von den Karpathen 
bi8 zum balıijhen. Meer reicht, bat er die Kühnbeit zu fchreiben, „man dürfe 
nicht vergefien, daß da8 polnifche Element auch da, wo e8 zahlenmäßig Ichwächer 
fei, doch überlegen jei nicht nur Dank feiner hohen und alten Kultur, jondern 
worauf e8 Baupttädlich anfomme, aud) bie erfte Stelle in wirtichaftliher Beziehung 
einnehme“. %ür die von den Polen jegt begehrten preußiichen ®ebiete ift diefer 
Sat nur dann richtig, wenn man ihn umfehrt und überall, wo $Srejlih von dem 
polnifhen Element Ipridht, da3 deutjche einfegt. 

Kommt e8 auf die Sulturleiftungen an, fo gibt e8 feinen led deutlicher 
Erbe, mag er nod) fo dicht von Polen befiedelt fein, auf den Bolen einen Anfpruch 
erheben dürfte! 


0 685 745 [12] 510 164 |1a| 718 481 |ıal 718 481 
81668] 8| 116 967| 8| 390.098 | 6) 212497 





” 


86 Die Sonderftellung des Neediftrifts 








Die Sonderftellung des Negediftrikts 


We nier den mit der erften Teilung Polens 1772 an Preußen gefallenen 
FAN Zeilen Bolen3 befand fih außer Bolniih-Weitpreußen und Ermland 
J N auc) der Negediftrift, der Jomit derjenige Teil der Heutigen Provinz 
a Voien ift, der am früheiten an Preußen gelangte (der übrige Zeil 

kW 1795). Die Grenze verlief fo, daß die leßten preußilchen Städte 
En FZAL) Filehne, Radolin, Budzin, Margonin, Erin, Znin, Gonjava, Mo- 
gilno, Dembis, Strelno und Gniewfowo waren. Bi8 zum Fahr 1807 Hat der 
durch die erite polniide Teilung an Preußen gefallene Teil unferer heutigen 
Provinz Bojen unter dem Namen Negediftrift zur Provinz Weitpreußen gehört. 
Durd ihn wurde die Berbindung de3 altpreußiihen Stronlandes mit der Marf 
Brandenburg bergeltellt. Der Flächeninhalt des Negediitrift3 betrug 132 Duadrat- 
meilen, die Einwohnerzahl bei der Mbernahme etwa 84000 Seelen. 1776 war 
die Einwohnerzahl auf 140080, 1785 auf 163070, 1783 auf 180236, 17% 
auf etma 200000, 1804 auf 229388 geitiegen. Bei der Mbernahme mohnten 
auf der Duadratmeile durchjchnittlic 763 Menjchen. Zwilchen der Neke, Weichiel, 
Drage und der PBomerellerigden Grenze zählte man 27 Städte. Bromberg zählte 
bei der Belikergreifung faum 400 bi8 500 Einwohner, nah 10 Jahren 2562 
ohne Garnijon, 1816 6000, 1868 über 27000. Der Negediftrift wurde getrennt 
von dem übrigen Weftpreußen verwaltet. ALS oberite BerwaltungSbehörde wurde 
in Bromberg eine Stammerfommijjion unter von Brenfenhof errichtet, auß der 
1775 die Striegd- und Domänenfammer-Deputation hervorging. Sie Hatte mit 
der weitpreußiihen Domänenfammer zu Marienwerder einen gemeinichaftliden 
Chefpräjidenten, unterjftand aber in allen übrigen Beziehungen direft den General- 
direftorium in Berlin. Erjt 1791 wurde für die gefamten preugifchen Lande ein 
Dberprälident eingejeßt, dem die Kriegs- und Domänenfammern zu Königäberg, 
Gumbinnen, Marienwerder und Bromberg unterftanden. Unter der Stammer- 
deputation ftanden die vier landrätlichen Freie Krone, Kamin, Bromberg und 
Snowrazlam. Die Berwaltung der Zölle Hatte unabhängig davon ihre Zentral- 
jtelle in der PBrovinzial-, Afzife- und Zolldireftion in ordon. Geit 1782 bildete 
das Hofgeriht in Bromberg da8 oberjte Yandesgericht für den Negediltrift. Bei 
der TIbernahme zählte der Negedirift 47 Städte, von denen 24 unter £föniglicher, 
23 unter adliger Oberhoheit ftanden. 1775 fette das SKolonifationäwerf ein. 
Sn fünf Sabren fiedelten fih 531 Koloniftenfamilien an. 

A133 1793 der Reft der heutigen Provinz Bojen nebit Teilen des bisherigen 
Nuffiih- Polen an Preußen famen, wurden Teile de8 neuen Gebiete als drei 
Depariement3 von Südpreußen angegliedert, die Sonderjtellung des Negediftrifts 
blieb vorläufig aber verwaltungstechniich gewahrt. Die Kultivierung und Ger- 
manifation der neuen Gebiete gelang nit in demfelben Maß wie beim Nete- 
diftrift, nach defien Mufter die Verwaltung im wejentlichen eingerichtet wurde. 
Nach) der preußifchen Niederlage von 1806 erjdhien Napoleon felbjt in Südpreußen 
und wurde von den Polen mit Jubel ald Befreier empfangen. Eine Ausnahme 
machte dabei der Negediftrift, der feine Anhänglihkeit an Preußen und feinen 
Wunjch bei Preußen zu bleiben fundgab. Die Preußen abgenommenen Gebiete, 
zu denen auch ein Teil des Negediftrift3 gehörte, wurden al3 Grokherzogtum 
Barihau zufammengefdhloffen. Bromberg wird eines von jeh8 Departements. 
1815 wurde urjprünglich der ganze Negediftrift zum neuen Großherzogtum Bofen 
geichlagen, doc blieben fpäterhin die Kreife Deutjich-Strone und Kamin bei Weit- 
preußen. In Bromberg wird eine eigene Regierungsfommiffion eingerichtet, der 
die Streile Bromberg, Inowrazlam, Gnefen, Wongrowig, Schneidemüdl, der 
preußijh gewordene Teil des Streifes Powidz und die zur Provinz Bofen ge- 
Ichlagenen Zeile der Streije Kamin und Deutich-Ktrone unterjtelt werden. Der 
Regierungsbezirt Bromberg zählte 214,83 Duadratmeilen. 

Mit dem Mbergang des Negediftrift3 in den Regierungsbezirk Bromberg 
als Berwaltungsteilgebiet der Provinz Bofen nimmt jeine offizielle Sonderjtellung 






Die Sonderftellung des Tlegediftrikts 87 


ein Ende. Dagegen tritt er in der Revolution von 1848 nun politiih gemilfer- 
maßen von unten ber, feinem Sonderdarafter nad), in Erideinung. Die März- 
‚revolution brachte den polnifhen Separatismus zum Aufflammen. $m Einver- 
nehmen mit weitejten Streifen der deutfhen Demokratie madten die Polen da$ 
Anrecht auf Wiedererrihtung des Telbftändigen Polenitaates geltend. Die Regierung 
antwortete am 7. März mit der Berhängung deö Belagerungdzuftandes, der jedoch 
ihon am 22. März wieder aufgehoben wurde. Dad Deutichtum in der Stadt 
Poſen zeigte nicht viel Rüdgrat, immerhin bildete fih am 23. März in Pojen 
ein „Komitee zur Wahrung der deutichen Intereflen“, da8 Zühlung aud) mit dem 
Deutfchtum der Provinz juchte. Sonst gingen zunächſt aus Weltpojen (Schrimm, 
Meferig, Birnbaum) Adrefien an den König ab, die daS VBerbleiben unter Preußen 
verlangten, unter Anjchluß an die Provinz Brandenburg. Am 26. März wurde 
von Bromberg auß eine PBroflamation an die deutihen Mitbürger im Groß- 
berzogtum Poſen erlafien. Am 29. März verfammelten fi) die Deutihen aus 
dem Negediftrift, bewaffneten fih und verlangten Teilung der Provinz nad) 
Nationalitäten und Abtrennung vom Pofener Provinzialverbande. 


Die Probleme, die damit in die allgemeine Erörterung rüdten, waren bie 
drage der nationalen Reorganijation, nämlich der offiziellen kulturell verwaltungs- 
mäßigen Bolonifierung der Provinz Pojen oder einzelner ihrer Zeile, die trage 
der Aufnahme Pofens in den Deutfhen Bund und der Beteiligung von Poſener 
Abgeordneten an der Nationalverfammlung in Sranffurt, fchließlid) Die ‘Srage 
ber Demarlationdlinie innerhalb Bofens, die den zu reorganifierenden Zeil Dom 
beutfchbleibenden abtrennen follte. Die Bolen organifierten ihrerjeit3 ein National- 
fomitee, bewaffneten unter der Sand die Bevölferung und fprengten Gerüdte 
über bevorjtehenden Einmarfch von Truppen aus Rulfii-Bolen aus. Die Stellung 
ber Bolen wurde noch verftärft durch den Kommifjar der föniglichen Reorgani- 
fationsfommijfion, General von Willifen, der durch feine Shwädlide Nachgiebig- 
feit gegenüber den Polen fih die öffentliche Beihimpfung von feiten der deutichen 
und jüdiihen Einmwohnerihaft Bofens zuzog. Die Regierung in Bromberg wieß 
bie ihr unterftellten Behörden an, feinen Anordnungen nicht Folge zu leilten. 
Die Regierung betrieb weiterhin den Anjchluß der außerdeutihen Provinz art 
den Bund. Der fländifch gebildete Provinziallandtag lehnte den Anihluß ab. 
Dagegen lehnte fich Die Bevölterung der deutihen Zeile auf. Am 9. April fand 
in Schneidemühl eine VolfSverfammlung der Kreiſe Bromberg, Wirſitz, Kolmar, 
Czarnikau, Obornik ſtatt, die von Abgeordneten der Stadt Schneidemühl, Uſch, 
Kolmar, Samotſchin, Czarnikau, Filehne, Schönlanke und der umliegenden 
Landgemeinden gut beihidt war. Dieſe Verfammlung wählte einen per- 
manenten Ausſchuß für den Nepediftritt, legte gegen die Anwendung der 
Reorganifation auf dem Negebdiftritt Proteft ein und forderte die Einverleibung 
in Weltpreußen und den Deutfchen Bund, ferner für die anderen Deuticdhen 
der Provinz eine beflere Garantie ihrer Nationalrehte als durch Williſens 
Borarbeiten. Am felben Tage erließ die Verfammlung eine Petition an den 
Bundestag um Aufnahme: der ganzen Provinz PBojen in den Deutihen Bund. 
Die Erregung gegen die offizielle Bohtit der Krone war fo groß, daß die 
Broflamation einer eigenen Negierung für den Negediftrift al8 Möglichkeit in 
bie Nähe rüdte. Unter dem Drud diefer Stimmungen erreidhte die preußilche 
Regierung die Aufnahme von DOft- und BWeftpreußen in den Deutichen Bund 
am 11. April. Am 14. April befahl der König tatfählid, das vorherrichend 
deutfche Gebiet, nämlich die Kreiſe des ehemaligen Negediftrift3 Snowraglam, 
Schubin, Bromberg, Wirfig und teilmeife die Streife Ezarnifau, Kolmar, Wongro- 
wig, Mogilno, und aus dem Regierungsbezirk Bofen die vier Streife Birnbaum, 
Meferig, Bomft, Trauftadt zur Einverleibung in ben Deutihen Bund vorzuichlagen 


und die Wahlvorbereitungen dort zu treffen. Der Negediftritt forderte dagegen 


in einer Petition vom 15. April in Bromberg die Einverleibung ganz Bojens 
in den Deutihen Bund unter Berufung auf den fouveränen Willen der gejamten 
Bevölferung in den bdeutfchen Streifen und auf vorherrfchende Stimmungen im 


88 Die Sonderftellung des Negediftrifts 


.polnifhen Bauernftand. Daß polnifhe Nationaltomitee betrieb die Wahlen zu 
einem befonderen Landtag in Pofen, während ba8 deuifche Nationalfomitee in 
gang Poſen die Wahlen zur Nationalverkammlung audfchried. Am 26. April 
eltimmie der König noch genauer die Abgrenzung feiner Sabinett2order vom 
14. April. Die damit gezogene Demarlationslinie beruhte teild auf ethnifchen, 
teiß auf firategifchen Gelicht&punften. Durch fie wurde die SFellung Pofen und 
mit ihr ein Zeil deö überwiegend polniichen Kreifes Bofen nod zu dem deutichen 
Gebiet zugezogen, dad nun aus dem Negediftrift mit Ausnahme eines Teiles des 
SKtreifes Snowrazlaw, au8 den Streifen Birnbaum. Meferig, Bomft, Frauftadt, 
Samter, But, dem weltlihen Zeile der Kreife Obornit und Pofen mit Stadt und 
geltung PBofen, dem füdlihen Zeil der Kreife Kröben und Strotofchin und der 
Stadt Kempen beitehen follte. Der übrige Teil follte polnifche Verwaltung unter 
einem bejonderen polniſchen Regierungspräfidenten erhalten. Unter Bezugnahme 
auf die KabinettSorder vom 14. April nahm der Bundestag am 22. April die dort 
bezeichneten Zeile PBofend nebft einem Zeil der Streile Buf und Keröben mit zu- 
fammen faft 600 000 Einwohnern in den Deutihen Bund auf, am 2. Mai dazu 
ferner unter Bezugnahme auf die KabinettSorder vom 26. April die Stadt und 
Seftung Poſen mit dem dort bezeichneten Teil der Provinz mit faft 280 000 
invohnern. Eine vorläufige Demarlationslinie auf Grund der Arbeiten des 
Generald Pfuel wird am 12. Mai veröffentlicht. i 
Die ganze PBojener Frage wurde dagegen in ben Verhandlungen bed BVor- 
parlament8 und der Nationalverfammlung auf neue aufgerollt. Die technifcde 
Geite der Abgrenzungsfrage fommt auf dem Borparlament no nicht zur Erörte- 
rung. Dort ftehen fich aber bereit3 die liberal-Humanitären Bolenfhrwärmer und 
die Verfechter bdeutfchnationaler und ftrategifher Gefihtspunfte gegenüber. Auf 
den Borfchlag Heinrih don Gagernd mird. die Abgrenzung nod nicht vor- 
genommen, die Srage der Zulafjiung der Polener Abgeordneten zur Rational. 
verfammlung dem Legitimationgausshuß überlaffen. Im Fünfziger-Ausfchuß, ber 
die Nationalverfammlung vorbereiten fol, fordert die Nedhte die Anerkennung 
der Bundestagsbeichlüfle vom 22. April und vom 2. Mai betr. Einbeziehung der 
deutfchen Zeile Bofens in den Deutihen Bund. Auch der Ausfhuß übermeift 
die Yrage der Nationalverfammlung zur endgültigen Entjheidbung. Die Wahl 
zur Nationalverfammlung fommt in dem Dießjeit3? der Demarlationglinie 
gelegenen Teil Pofend im Laufe de8 Mai zuftarde. Auf der Eröffnung des 
Parlaments am 18. Mai waren acht Berireter aus Czarnifau-Kolmar, Birnbaum- 
Meferig, Frauftadt-Bomft, Hohenfalza, Schubin, Bromberg-Wirfig, Bomjt- Meferig, 
Wirfig-Kolmar anwefend. Die Vertreter für PBofen Stadt und Land, Krotofchin 
und Bul-Samter trafen erft fpäter ein. In einem polnifchen Wablproteft war 
immerbin die Bereitwilligfeit ausgefproden, alle Landjtrihe an Deutichland 
abautreten, wo fi die Mehrzahl der Bevölferung dafür erflären würde. Der 
Kaınpf um die Teilnabmeberechtigung der Vofener Abgeordneten zog fidy nod 
lange Bin, endigte aber mit dem Sieg de? Deutfhtumsd, wobei 71 Abgeordnete 
der Linken fi der Stimme enthielten. Die endgültige Yeitlegung der Demar⸗ 
Tationslinie wurde weiteren Erhebungen durd) die Reichözentralgewalt vorbehalten. 


Am 26. Dftober verwarf dagegen die preußiiche Nationalverfammlung in 
Berlin den Bedanfen einer Demartationslinie und befhloß auf den Antrag ber 
Linken, da8 Berhältniß der Provinz Poſen zu Preußen folle bleiben wie biäber, 
wobei in dem deutfchen Zeil eine große Erregung entitand. In Bromberg berief 
der Zentralbürgerausfhuß am 5. November eine Voltdverfammlung, die fich für 
den }rantfurter Standpunkt der Abfonderung de3 deutfchen vom polnifchen Zeile 
und ded engen Anfchlufied des deutſchen Gebiete an Deutſchland ausſprach. Es 
gingen eine Reihe Protefte nach Berlin, unter anderem vom deutlichen Bürger 
verein und vom Kreißbürgerausfhuß in Bromberg und vom Sentralausihuß für 
Wahrung beutfcher Interefjen im Weftgürtel von Deutich-Pofen zu Meferig. Die 
sranffurter "Nationalverfammlung erfannte die Berliner Beichlüfle nit an. 
Unterdefien waren die Ermittelungen betreff3 der neuen Demarkationdlinie zum 


Das Kernproblem des neuen Entwurfs der Reichsverfaffung 89 


Abichlug gelangt, da8 Ergebnis wurde am 30. November der Nationalderlfamm- 
lung in Srantfurt vorgelegt. Die neue Demarfationslinie wich von der Pfuelfchen 
bauptiächlich in der Grenze durch die Kreife Mogilno, Frauftadt, Krotoihin, in 
der Feftlegung des Rayons der Feltung Bofen, in betreff der Berüdiichtigung 
von Wünjhen deutjcher Ortichaften in den Ktreifen Mogilno, Wongrowig, Schroda, 
Schrimm, Frauftadt, Kröben, Krotoichin, Adelnau und Schildberg ab. In dieier 
Richtung wurde die Grenze weitergerüdt. Dieje Linie wurde am 6. Februar 1849 
bon der Nationalveriammlung angenommen. Damit war die Gleichberechtigung 
der Bojener Abgeordneten mit den übrigen ‚und die Aufnahme de3 vorwiegend 
deutjchen Zeile der Provinz in den Deutiher Bund durchgejegt. 

Nach dem Sceitern der deutfhen Nationalbewegung wurde der Gedanke 
einer Berwaltungstrennung in ®Bofen durch die preukifche Verfaffung vom 5. De- 
zember 1849 verworfen. Diefe jhloß die provinziale Selbitändigfeit aus. Auch 
bon der nunmehr einberufenen Ständeverjammlung wurde der Demarfations- 
gedanfe endgültig abgelehnt. Seitdem tritt die Sonderftellung de3 Nepeditiriftß 
und der anderen ausgejproden beutichen Gebiete der Provinz Pojen verwaltungs- 
mäßig nicht mehr zutage. Ä 





Das Kernproblem des neuen Entwurfs der 
Neichsverfaffung 
Don Dr. Heinrih ©®tto Meisner 


4 ın 20. Sanuar hat der Staat3jefretär de8 Innern, PBrofeffor Hugo 
Preuß, feinen „Entwurf de3 allgemeinen Teils der künftigen Reich8- 
verfafjung“ veröffentlichen lafjen, und fhon nach wenigen Tagen 
war der Barteien Gunft und Haß an feinem Werke lichterloh 
entflammt. Borerft falt ausjchlieglich an jenen Partien, die das 
„Kernproblem der fünftigen inneren Geftaltung Deutſchlands“, wie 
rer dem Entwurf vorangeldidten „Dentichrift“ ausdrüdt, behandeln, 
nämlich die Frage nach dem „Fortbeſtande eines preußiſchen Einheitsftaates 
innerhalb der künftigen deutſchen Republik“. Aus ſpäter zu erwähnenden Gründen 
wird dieſe Frage vom Verfaſſer des Entwurfs verneint und einer „Auflöſung“ 
Preußens das Wort geredet. Die verfaſſungsrechtliche Handhabe dazu ſoll der 
raſch bekannt gewordene 8 11 bieten, wonach es dem deuitſchen Volke freifteht, 
ohne Räckſicht auf die bisherigen Landesgrenzen, neue deutſche Freiſtaaten — von 
mindeſtens zwei Millionen Einwohnern — innerhalb des Reiches zu errichten. 
Alſo, wie es ſcheint von amtlicher Seite eine Unterſtützung der Batockiſchen 
Ideen, die vor einigen Wochen an dieſer Stelle einer kritiſchen Betrachtung unter— 
zogen wurden. 

Staatsſekretär Preuß hat ſelber zugegeben, daß der Termin der Beröffent- 
lichung ſeines Entwurfes inſofern kein glücklicher war, als ſich ſofort die partei— 
politiſche Agitation dieſes Themas bemächtigte, um es fſkrupellos in tendenziöſer 
Weiſe auszubeuten. Von rechts wurden ſeine Vorſchläge nur unter dem negativen 
Geſichtswinkel einer Zertrümmerung der preußiſchen Einheit angeſehen, und dieſe 
angebliche Preußenfeindſchaft der Deutſchen demokratiſchen Partei, deren Kandidat 
Preuß war, als Ganzen in die Schuhe geſchoben, während dieſe den unbequemen 





1) Urſprünglich war im Reichsamt des Innern ein Projekt ausgearbeitet worden, das 
die ſo entſtehenden neuen Teilſtaaten — ſechzehn an der Zahl — geographiſch näher 
bezeichnete. Seine Aufnahme in den Verfaſſungsentwurf unterblieb aber, um der Ent⸗ 
ſcheidung der Bevöllerung nicht vorzugreifen. (Frkf. Ztg.) 


90 Das Kernproblem des neuen Entwurfs der Reichsverfaflung 





Angriff nur dadurd) parieren zu fönnen meinte, daß fie plöglich ihr urpreußifches 
Herz entdedte und in rührenden Aufrufen, nahezu im Stile ber echtpreukifchen 
Leute, allen, die e8 Hören wollten, fund gab. In Wirklichkeit wurzelt da Problerm 
tiefer al3 in den Kuliffen eines Wahlflampfes;, wollte man die ftreitenden Gegner 
unterjcheiden, fo ergäben fi) hüben wie drüben gar bunte Reihen. Nur im 
Borübergehen einige Beweile: Der VBorwärt8 befürmortete fon um die SJahres- 
wende die „Zerlegung“ Preußens, unter anderem weil Bremen und Hamburg, 
die al$ Träger biltoriiher und weitgeachieter Namen fortbeitehen follen, ein 
erweiterte3 Hinterland brauden (Il), und erflärte fich neuerdings für die VBorfchläge 
de8 Staat3jefresärd, da ein’ „mwirflices Interefie an der Erhaltung der mweiland 
hobenzollernihen Hausmadt, an der Aufrechterhaltung des alten Begriffs Preußen, 
ja do nur die altpreußiihen Machthaber” Hätten. Damit vergleiche man dem 
lebhaften PBroteft der fozialiftiichen preußifhen Regierungsmitglieder anläßlich der 
eriten Diskuflionen über den Entwurf am 24. Sanuar. erner: obwohl man in 
füddeutfchen Streifen aus Ieicht begreiflichen Gründen gegen eine „Zhüringilierung“ 
des ehemaligen Hegemonieftanted nicht einzuwenden hat — die Augsburger Boft- 
zeitung und gleichgejinnte Organe wittern Morgenluft für ihren Partifularigmug — 
erheben ji doch auch jenfeil3 de Maind Stimmen, die da8 gerade Gegenteil 
vertreten, jo in Württemberg, wo man von einer Zerlegung Preußens Die 
Errichtung einer zentralen Reich&gewalt und damit da8 Ende der bundesftaatlichen 
Selbitändigfeit befürdtet. Ebenfo finden wir in fonfervativen und demofratijchen 
Lager die Meinungen geteilt. Während Männer wie von Batocki und Hoctid 
jowie Friedrih Meinede (ald Vertreter der gmeiten Gattung) einer Auflöjung des 
bisherigen preußifchen Staatöverbandes zuneigen, fämpfen Georg Bernhard und 
fo linf8 gerichtete Geifter wie die Redakteure des Berliner Tageblatted, Dombromwsfi 
und Stünfe, in einer Linie mit dem Hauptvorftand der Deutfchnationalen Bolt&- 
partei und der Streuszeitung für die Erbaltung eines Eonfolidierten, ftarfen 
Preußens! Mit. der parteipolitiihen Auswertung der Frage ift eg aljo nichts, 
fo beliebt diefed8 Verfahren zur Zeit auch fein mag. De mehr fie aber auß dem 
Spiele bleibt, defto wahricheinlicher wird eine fahlihe Abwägung der Argumente 
und eine Beantwortung des vorliegenden Problemd im Sinne der salus publica, 
die heute ganz anderd nod) ald zu Hardenberg Zeiten da8 oberjte Gejeg für 
jeden Deutichen fein muß. M 
Da ift denn zunädft feitzuflellen, daß die Trübungen politiicher Leidenfchaft 
die Abjichten de3 Staatsfefretärd anders ericheinen laflen, al3 fie in Wirklichkeit 
find. Die künftige Neichöverfaffung, wie fie der Entwurf ftigziert, madt im 
erften Augenblid einen ftart dezentralifierten, föderaliftifch-aufgeloderten Eindrud, 
tatfächlid) aber wollte ihr Verfafler das feineswegd. „Nicht da& Dafein ber 
Einzelftaaten ift das Erite und Entfcheidende für die politifche Yebensform des 
deutichen Volkes; vielmehr da8 Dafein diefed Volkes felbft als eine gejchichtlich 
gegebene politifche Einheit”, fo Heißt e8 in der Denfjcprift, und weiter: „Wenn 
fi die bisherigen 25 Einzelftaaten in ihrer Berfafjung und in ihrem territorialen 
Beflande ohne Rüdjicht auf die künftige Reichägeftaltung jet nad) der Revolution 
wieder fonfolidieren, fo ift eine der wichtigiten Errungenjchaften diefer Revolution 
don vornherein wieder befeitigt, die Möglichkeit freier Bahn für die politifche 
Selbitorganifation des ganzen deutichen Bolfe8 nach den inneren Lebens- 
notwendigfeiten de8 modernen Nationalftaates“. Tür Preuß ijt deal ber 
unitarıfhe deutfche Voltsftant; da er aber die einem folchen entgegenitehenden 
Hemmungen ber beutihen Piyhe erkennt und — im Gegenfag zu neuerdings 
laut gewordenen raditalen Zentralifationsvorfhlägen — anerfennt, möchte er 
wenigitend dur eine Art politifher „Separationg- und Berfoppelungd“-Gejeg- 
ebung, wie fie die NReformer vor Hundert Iuhren wirtichaftlidh betrieben, jenem 
Sdeale fih annähern. Dur eine ınehr an- und außgeglichene yormung der 
Zeilftaaten fol die Paßlicheit und Feitigkeit des Ganzen erhöht werden. Diejer 
äußeren Korrektur entjpricht e3 materiell, wenn der Entwurf die Gebiete der 
fogenannten eigenen und unmittelbaren Verwaltung ded Reiches ($ 3) und der 


Das Kernproblem des neuen Entwurfs der NReichsverfaffung 91 


jogenannten Reich3aufficht (8 4) beträchtlich erweitert und den einzelnen bdeutjchen 
sreiftaaten eine Art Lonftitutionelle® Mindeftprogramm von Neichdwegen vor- 
zeichnet (8 12). 

Auf dem Wege nun zur gemeindeutfchen politifchen Slurbereinigung findet 
der Berfaffungsgefeßgeber feinen Weg verfperrt durch die ungeheure, vier Siebentel 
des Sefamtareald umfafjfende Latifundie Preußen. "Bern hätte cr darauf ver- 
zichtet, diefe „hbeifle und gefährliche Srage angupaden“, doch müre nad) feiner 
Anficht folch Verzicht mit der „Berpfulhung“ feines Werf3 gleichbedeutend geiwelen. 
Dies namentlich destvegen, weil mit der Aufrechterhaltung de8 preußiihen Ein- 
heit8ftaate3 auch die preußifche Hegemonie erhalten bleiben würde,2) und damit 
die „partifularijtiichen Spannungen innerhalb Teutichlands“, forwie die „Belaltung 
feiner internationalen Stellung“. Man mag diefen Motiven Gewicht beilegen 
oder nicht — e8 liebe fih einwenden, daß im fünftigen Reiche die verfaffungs- 
rechtlihen Borausfegungen der preußiihen Führerſtellung ja nicht wiederzufehren. 
drauchien und dadurch zum mindeften eine ftarte Entipannung erzielt würde, ferner 
daß unfece Gearer a'var auf Autofratie und prussianisme losjchlagen, aber die 
materielle deutihe Tiuacht alß folhe meinen — da8 Enticheidenbe ıft hier, und 
gleiches gilt von den übrigen Argumenten der Denffchrift, nicht ihre Richtigkeit 
oder Unrichtigfeit, fondern die Tatiache, daß fie jämtlidh an eine VBorbedingung 
gefnüpft find. Der Bolititer Preuß glaubt auf dem von ihm gezeichneten Wege 
fein erfehnteß Biel, die „Erhaltung, FFeftigung und Kräftigung der nationalen 
Einheit“ fjicher erreihen zu können. Mit allen Refpelt vor feiner Urteiläfraft — 
tfönnen wir da3 ohne weiteres annehmen? 

Er und ebenfo die Mehrzagl jener, die dad Ende Preußens als Eonjolidierten 
Großitaat? gefommen glauben, wollen die8 nur unter der Vorausfegung, daß 
dem Reiche gegeben werde. wa8 man Breußen nimmt. Sie fühlen die ungeheure 
Berantwortung, in das Zellgemwebe de3 deutjchen Staatenlebeng Hier trennend, 
dort aufammenfügend einzugreifen — es handelt fih ja nicht nur um den Norden; 
was Preußen rechf ift, müßte aud) Bayern billig fein — und wollen beizeiten 
den neuen Zunftionär und Striltallifationspunft der Macht bezeichnet haben, ehe 
fie Die bisherigen Straftzentren Iahmlegen. Aber wer bürgt ihnen dafür, daß Die 
Ströme deö Lebend in den neuen fünftli newiefenen Bahnen meiter reifen, 
daß fie nicht Lebendiges töteten und einen Homunfulus fchufen? Liegen die 
Dinge mwirtlih fo, daß wir im Augenblid der Zerlegung Preußens, der paklichen 
EShablonijierung des deutichen Einzelftaatsbegriff3 die zentrale Neihögewalt fir 
und fertig haben, deren Macdt angeblich) fo groß fein fol, daß fie die Bundeg- 
ftaaten zu Selbitderwaltungstörpern höherer Art berabdrüdt, wie von württem- 
bergiiher Seite bei den erften Berliner Beratungen beforgt geltend gemadt 
wurde? Wäre das der Fall, man fonnte über unjer Problem ruhig zur Taged- 
ordnung übergehen. Aber nach allem, wa8 wir heute erleben — dabei foll da8 
wahnmigige oder verbrecheriiche Verhalten ber Braunfchweiger Reichäfeinde als 
Epijode gar nicht in Rechnung geftelt werden — fann man do faum mit 

utem Gewiflen fagen. daß bei ung jene Opfergefinnung vorhanden ift, die das 
höne Wort des Bolf3beauftragten RYandsberg: „Laßt und in Deutichland auf- 
gehen“ zu einer Wahrheit mat. E3 wird nicht ganz fo jchlimm fein, wie Die 
„Streuzzeitung” fchreibt: jegt Hält man den leer gewordenen Neichtgedanten hod 
und fordert von Breußen feine Selbjtvernichtung einem Staatswejen zuliebe, von 
dem nur noch die Grenzen ftehen und auch die leider Gottes nicht mehr.” Aber 
wie weit wir noch bei und gulande von unitarifchem Denken und Fühlen entfernt 
find, da8 erfährt Do eine grelle Beleuchtung durd dad Berhalten außer- 
preußifcher Staaten, die ihre Lüfternheit nach Beute au dem zerfallenden Erbe 
der Hegemonialmadjt faum bemeiftern fünnen, wie zum Beilpiel Sadjen, aber 
Zeter und Mordio fchreien, wenn die Grundjäge der politifchen Ylurbereinigung 


2) Tiefen Gefihtepunft betonte der Staatsfelreiär aud befonders bei den Beratungen 
der einzelfiaatlihen Delegierten am 25. Januar. 


99 Das Kernproblem des neuen Entwurfs der Neichsverfaffung 


auh auf ihrem Grund und Boden zur Anwendung gebradt werden Tollen, fo 
Bayern in Bezug auf die Pfalz! Selbit da3 noch vergleihämeife harmlofe Ber- 
halten der Würftemberger, die aus Angit dor dem größeren Mlbel einer zentralen 
Reihögewalt das Lleinere de3 fompalten Großpreußen3 ertragen wollen, fpricht 
doch im Binblid auf unfere Frage Bände. Sedenfall3 dürfte jener Sat der 
Dentichrift, daß „mit der preußifchen Hegemonie füglich ihre Reflerwirfungen, die 


. füddewichen Refervate, überhaupt fortfalen“, ftarf optimiftifh) empfunden werden. 


Sit aber da3 die Perjpektive unferer Zukunft, und wir vermögen fie beim 
beiten Willen nit anderd zu fehen, fo erfcheint der Zweifel voll berechtigt, ob 
da3 von Preußen einfeitig verlangte Opfer dem fchließlihen Erfolge entipridt, 
ob fih nicht vielmehr die fatale Situation ergibt, daß wir dann die Zeile in der 
Hand haben, dod ohne da8 zentraliftiich-Fraftvolle nationale Band. Gewiß gli 
der preußische Staat einem „Notbau, der al Surrogat de3 fehlenden deutihen 
Staate8 durd die berrihente Dynaftie mit ihrem KHeere und Beamtentum 
aujammengeziwungen* wurde (Dentidhrift), aber noch ilt e8, fürdten wir, nicht 
an der Zeit, dad jchügende und ftügende Gerüft zu entfernen, noch bat diefer 
„Zwingberr zur Deutichheit”, dieler Erziehereined unbändig partifularijtiih gefonnenen 
Bolfes feine Rolle nicht außgelpielt, trogdem eifrige Zeitgenofjen behaupten, daß 
er fhon zu lange gelebt habe. E38 fchreiten nicht alle frei, die ihrer Krüden 
fpotten! Dazu it es, Handeldminilter Fiichbed erinnerte daran, doch ein etwas 
merfwürdiged Berfahren, den Unitarigmu3 damit zu beginnen, daß man eine 
beitehende Einheit — eben die preußiihe — auflöft. In Zranfreih, da und 
bier doch bi8 zu einem gewiflen Grade al8 Muiter dienen fann, bat man e8 
jedenfall8 bei der Entwidlung vom duche de France zum royaume de France 
anders gehalten! | 

Auf dem von Preuß empfohlenen Wege wird da8 „Sernproblem“ der 
- binnendeutfhen Staatenbildung fjchmerlich gelöft, Höchftens durdy ein neue nod) 
bedenklicheres erlegt. Bon allen Seiten mehren fi) heute die Stimmen des 
Protejte8 und Ziweifels, während id vor vier Wochen an diefer Stelle bereit8 auf 
verlorenem Boiten zu fämpfen fchien. 

Preuß felbit wird der leßte fein, der Diefen Stimmen Gehör verweigert, wollte 
er body auddrüdlih feine Neuordnung nicht von oben herab defretieren, fondern 
der freien Sclbfibeftimmung der Bevölkerung überlaffen. In diefer Hinficht wird 
man die weitere Entwidelung, indbeiendere ‘die fonftituierenden — für Preußen 
eigentlih mehr „deltituierenden” — Nationalverfammlungen abzuwarten haben. 

Aucd hier gibt es jedenfall einen evolutioniftiihen Weg, ähnlich wie bei ber 
jest fo rege erörterten Yrage der Sozialilierung. Der Vorwärts, der fi) fonft 
energiic) für die Borfchläge des StaatSfefretärg einfegt, bemerkt doch gelegentlich: 
e3 frage fih, ob dem an fih erftrebendiwerten Ziel — einer inneren Neugliederung 
ded Heiches nad) dem Selbitbeitimmungsredht der deutfchen Stämme — nidt 
richtiger durd) eine Stärkung der Reichtgewalt auf der einen und der provinziellen 
Selbjtverwaltung auf der anderen Seite näher zu fommen fein werde. = 

Diefer Gedanfe erfcheint uns fehr beadhtendwert; wir möchten daher zum 
Sählufie die in ihrer Kürze nicht ohne weiteres verftändliche Yorderung deutlicher 
geftalten. Wir wiederholen aunädjft: alle fornmt darauf an, den Übergang ber 
Hegemonie von Preußen auf das Reich ficher zu verbürgen. Um im Gleihniß 
au reden: beim Stafettenlauf, wie er in unferem Zurnfpiel üblich ift, erfolgt die 
Mbergabe der „Botichaft” (durch einen Stab marfiert) in der Weife, daß der 
Empfänger eine Strede neben dem Mberbringer berläuft, auf der diejer feine’ 
Höhitgeihmindigfeit allmählich verringert, während jener gleichzeitig Diefelbe 
allmählich entfaltet. Während diefed Nebeneinander geht der Stab von der Sand 
de3 einen in die de anderen über, und e8 wird daburd) fein Zubodenfallen ver- 
mieden, was leicht eintritt, wenn der bißherige Läufer mit hödhjiter Sraft plöglich 
abftoppen muß und fi) dann erft (nach der bergabe) der folgende in Beivegung fett. 
Diejelbe Gefahr aber droht, wenn man Preußen matt fest, bevor das Reich im 
Sattel if. Yu leicht fan im Augenblide jenes toten Punktes der Stab, bier die 


\ 


Das Kernproblem des neuen Entwurfs der Reichsverfaffung | 93 


materielle Madt, zu Boden fallen. Dan muß allo fürs erite die alte Majchine 
weiter laufen lafien, folange biß die neue in rehten Gang gefommen if. Um 
aber jene, der preußiichen „Hegemonie” entfpringenden Animofitäten zu verringern, 
deren ftörender Einfluß nicht unterfchägt werden fol, bietet fich eben dag Mittel 
einer gleichzeitigen Stärkung der provingiellen Selbfiverwaltung. 

Der preußiihe Staat franft an einer übermäßigen Zentralifation. Die 
Minifterialinftang überwuchert troß aller Reformbeitrebungen da8 innere Gefüge 
der Verwaltung, der Eleinfte Schulbau, jede erheblichere Geldausgabe oder be- 
triebStechnifche Aenderung ift von ihrem Plazet abhängig. 

Mit Recht ertönt der Auf, die Selbftverwaltung der Städte und befonderg 
de8 platten Landes (a8 aud der „Entwurf“ ftark fördert) weiter auszubauen. 
- Bon rheinländiicher Seite wurde fürzlich vorgefchlagen, die Provinzen zu eigenem 
Leben zu erweden. Die alte Regierung mübßte verihiwinden, der Landrat au 
einem StaatSbeamten zu einem Stommunalbeamten werden, waß er in gewiljem 
Einne von Haufe aus ja gewesen ift. Auf dein Unterbau fich felbjt verwaltender 
Stadt- und Zandfreife Lönnte fi) jodann der Aufbau der Selbftverwaltung, der 
Provinzen erheben, die dann richtiger „Länder“ biegen. Gie könnten nad 
biftorifhen und geographiichen Eigentümlichkeiten gufanımengelegt werden, 3. 8. 
Dft- und Weftpreußen. Landtag und Oberpräfident (den man lieber Statthalter 
oder Landeshauptmann nennen möge) mären ihre Bertreter, jpezielle Landes⸗ 
behörden für jeden Verwaltungszmeig ihre Organe. Berlin wäre auf die Ge- 
Ihäfte zu beichränfen, die unbedingt einheitliche Handhabung verlangen, um Die 
Einheit de Staated aufrecht zu erhalten, 3. B. „DaB Rheinland“, fo fchliekt 
jener Borichlag, „würde aljo nicht Republif, jondern ein fich felbit berwaltendes 
‚Sand‘ Preußens“. 

Darnit wäre aber auch noch etwas anderes fehr Weſentliches erreicht. Der 
einftige Staatsrechtslehrer Preuß hat ſtets die Anſchauung vertreten, daß von 
einem „begrifflichen Weſensgegenſatz zwiſchen kommunalen Selbſtverwaltungs- 
körpern und Gliedſtaaten“ eines Bundesſtaates nicht die Rede ſein könne. 

Im republikaniſchen Deutſchland ſollte der „rechts und gottloſe Souveränitäts⸗ 
ſchwindel der deutſchen Teilfürſten“, den Stein vor hundert Jahren brandmarkte, 
und der zweifellos an der Verſteifung des Begriffs der ſogenannten Staatlichen 
Souveränität feinen Anteil hat, freier beweglihen Anjhauungen gewichen fein. 
Venn e3 gelingt, die „teil$ jchädlichen, teil3 lädherlichen Refte einer. auswärtigen 
Sobeit der Sliedftaaten“, deren völlige Befeitigung für Preuß Gelbftverftänblich 
ift, wirklich au bejeitigen, und je mehr fi) überhaupt die ehemals „Touveränen“ 
Staaten Bayern, Württemberg ufw. den nunmehr flarf dezentralifierten „ändern“ 
innerhalb Preußens (NRheinprovinz ufw.) begrifflich und tatfächlich annäbern, deito 
geringer müjlen die Reibungen und Differenzen werden, die fid) au8 dem Dafein 
de8 preußiichen Befartftaates ergeben; während doch andererjeit$ dieſer Geſamt— 
ftaat als Zreubünder der Macht fo lange erhalten bleiben tönnte, bi3 die gleid)- 
zeitig mit aller Straft zu betreibende Stärkung der Reichögeiwalt ihren genügenden 
&rad erreicht Bat, wozu wiederum jene Alfimilierung der preußiihen Zeil-Qänder 
und der außerpreugiihen „Staaten“ auf der mittleren Linie de3 frafıvollen 
Selbjtverwaltungäförperd tvejentlich beitragen würde. Daß auf dem bier ge- 
zeichneten Wege auch da8 Problem „Berlin“ viel von feiner Anftößigfeit verlieren 
muß, dürfte ohne weiteres flar getvorden fein. 

Zwiſchen den bdofirinären Grundjägen de8 quieta non movere und deß 
radifalen Umifturzes liegt der Wahlipruch des Staatdmannes, die Politik als 
Kunft des Möglichen zu begreifen. 

Möchte die deutſche —— von 1919 zu unſer aller Heil in dieſem 
Sinne handeln! 

An dem Entwurf de Staatöfefretärd Preuß, von dem nod) ein ander 
Mal zu Sprechen fein wird, fanıı feiner vorübergehen, aud) wenn er wie Ber- 
Ialer-D Gei BODEN Thema abweichende Anfichten vertritt. 


94 eve Büder 


Neue Bücher 


Heiurich Friediung Das Zeitalter des Imperialismus 1814 - 1914. Erſter 
Band. Berlin, Verlag Neufeld & Henius, 1919. 

Dem bekannten und vielumſtrittenen Werke des Grafen Reventlow, das 
Deutſchlands Weltpolitik in den letzten Jahrzehnten vom bekannten alldeutſchen 
Standpunkte bevorzugter Uberſeepolitik behandelt, ſtellt nunmehr der berühmte 
öſterreichiſche Hiſtoriker, der namentlich durch ſeine Schriften über die preußiſch— 
öſterreichiſche Rivalität einen unantaſtbaren wiſſenſchaftlichen Ruf beſitzt, ein auf 
zwei Bände angelegtes Werk zur Seite, dad vom Boden neutraler weltgeichidht- 
licher Betrahtungsweile die große Politit der legten drei Jahrzehnte vor dem 
Weltfriege entrollt. Wer nach dem Zitel des Buche8 freilic) darin eine irgend 
wie begrifflihe oder ideologiihe Belinnung auf das Wefen des Imperialismus, 
auf feine tragenden Sträfte und auf feine Gegenmädte im politiichen Leben der 
jüngften Vergangenheit juchte, wer fih auf eine Behandlungsmweije de3 Stoffes 
einitellte, wie fie etwa Ernit Troeltih ihm angedeiben laflen würde, der erlchte 
bei der Lefiüre-de3 Buches eine gemille Enttäufhung. Modern in diefem Sinne 
ilt feine Methode nicht, vielmehr fommt darin eine ftreng pofitiviliifch Tachhafte 
Behandlungsmweile zum Ausdrude, die in der fchlichten Wiedergabe der welt- 
politiichen Sejchehnifie ihr Genüge findet, gelegentlich wohl Hinter den Hin- und 
berichießenden Webichiffhen politiicher Diotivationen diefen und jenen Werkmeiſter 
als loje umriffene Geftalt fihtbar werden läßt, auf große ideelle Strömungen 
aber, auf die Erllärunggründe allgemein menfchliher Typif, auf das ganze 
Problemgebiet von Motivationsverwandlungen, in das die Marritifche Frage- 
ſtellung die hiftoriſche Forſchung hineingeſtoßen Bat, grundfäglich nicht zurüdgreift. 

So iſt mit der kühlen Beſonnenheit des reinen Forſchers dem kaum erſt 
geſchichtlich gewordenen Stoffe eine Darſtellung abgerungen worden, die jenſeits 
von Parteileidenſchaften und eigenen politiſchen Zielen den Anſpruch macht und 
in weitem Maße erfüllt, im Rankeſchen Sinne reine Wiedergabe deſſen zu ſein, 
was geſchehen iſt. Der vorliegende erſte Band nimmt von den Beziehungen 
Deutſchlands, OſterreichU Ungarns und Rußlands vor dem deutiſch/öſterreichiſchen 
Bündnis von 1879 ſeinen Ausgang und umreißt alsdann die Vorausſetzungen 
der modernen afrikaniſchen Kolonialpolitik. Dies führt dazu, den engliſchen Im— 
perialismus aus ſeinen geſchichtlichen Urſprüngen bis an den Ausgangspunkt der 
Betrachtung heranzuführen. Die Darſtellung ſpringt weiterhin nach Europa 
zurück und beſchäftigt ſich anſchließend an die Balkanpolitik und die Dreibund⸗ 
frage in den achtziger Jahren mit der ruſſiſch-franzöſiſchen Annäherung. Damit 
rückt das Problem des nahen und fernen Oſtens in die Betrachtung und die 
allmähliche Zuſpitzung des europäiſchen Konfliktes führt den Verfaſſer dazu, an 
Hand der ägyptiſchen Frage das Verhältnis Deutſchlands, Englands und Frank—⸗ 
reichs in den neunziger Jahren zu entwickeln. Nachdem die deutſche Flotten⸗ 
politik in die Betrachtung eingeführt worden iſt, wendet ſich dieſe den Urſprüngen 
des amerikaniſchen Imperialismus und der um die Jahrhundertwende einſetzenden 
Friedensbewegung zu. Das kolonialpolitiſche Motiv wird wieder in der Dar— 
ſtellung des Burenkrieges und des Verhaltens der Großmächte zu ihm ange— 
ſchlagen, der ruſſiſch-japaniſche Krieg durch eine zuſammenfaſſende Behandlung 
der ruſſiſchen Politik im fernen Oſten und ihrer Reibungen mit Oſterreich in 
den Balkankriegen vorbereitet. Nachdem auch Italien in den Kreis der imperi— 
aliſtiſchen Matadore eingeführt worden iſt und die neue Entwicklungsſtufe der 
werdenden Welltkoalition, die engliſch⸗franzöſiſche Verſtändigung von 1904, die 
gebührende Beachtung gefunden hat, ſchließt der vorliegende Band mit einer aus— 
führlichen Darſtellung des ruſſiſchjapaniſchen Krieges. 

Die nicht leichte Aufgaabe des zweiten Bandes, deſſen Erſcheinen in nahe 
Ausſicht geſtellt iſt, wird es ſein, die Entwicklung bis an den großen Konflikt 
von 1914 heranzuführen. Vermutlich dürfte auch dieſer Teil bereits ſo weit 
vollendet ſein, daß noch kein Schaiten der furchtbaren Kataſtrophe die ruhige 


m Eat ge m Een - 


— — — — * 


VNeue Bücher 95 





Zuverſicht trübt, daß auch Mitteleuropa und ſeine Politik ſich auf der großen 
Weltbühne in Ehren durchſetzen werde. Auf eine Behandlung des Stoffes, deren 
Schwergewicht nicht in der Darſtellung, ſondern im Urteil und in der Zielſetzung 
läge, könnte allerdings der Sturz der Ereigniſſe, die wir in den letzten Monaten 
über uns haben ergehen laſſen müſſen, unter Umſtänden völlig umſtürzend und 
entwertend einwirken. Vor dieſer Gefahr hat ſich der Verfaſſer gefeit, indem er 
ſich als reiner Forſcher an den Lauf der Ereigniſſe hingab. Es fehlt ſeinem 
Werke dadurch vielleicht eine gewiſſe Wärme und eine letzte Tiefe, wir können es 
aber nur begrüßen, daß dies werwolle Stück zeitgeſchichtlicher Forſchung dadurch 
verhältnismäßig unbeſchädigt dieſe Zeit des Zuſammenbruchs überjteht. 
Dr. M. h. Boehm 


Friedrich Paulſen, —— des gelehrten Unterrichts auf den deutſchen Schulen 
und Univerſitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit be— 
— Rückſicht auf den klaſſiſchen Unterricht. Dritte erweiterte Auflage, 

erausgegeben und in einem Anhang fortgeſetzt von Rudolf Lehmann. 
Erſter Band. Verlag von Veit u. Comp. Leipzig 1919. Preis geh. 18 M., 
geb. 22 M. und 25 Prozent Teuerungszuſchlag. 

„Was hat der Menſch vom Leben, als daß er froh ſei bei ſeiner Arbeit?“ 
ſo ſchrieb Friedrich Paulſen 1895, als er die zweite Auflage ſeiner groß angeleg⸗ 
ten Geſchichte des gelehrten Unterrichts ſeinem Freunde Friedrich Reuter aufs 
neue widmete. Werden wir froh ſein können bei unſever Arbeit? ſo fragen jetzt 
vor allen Männer und Frauen, denen die Bildungsanſtalten Heimſtätten ihres 
Virkenz find. Friedrich Baulfen war gewiß fein Neaktionär, tit er e3 doch ge— 
iwefern, der die Wionopolitellung des Gymnafiuns gebrochen hat. Schon vor 
34 Xahren, als vie — des gelehrten Unterrichts zum erſtenmal erſchien, 
glaubte Paulſen die geſchichtlichen Tatſachen dahin deuten zu können, „daß der 
gelehrte Unterricht bei den modernen Volkern ſich immer mehr einem Zuſtand an- 
nähern wird, in welchem er aus den Mitteln der eigenen Erkenntnis und Bil- 
dung dieſer Völker beſtritten werden wird.“ Auf Koſten der alten Sprachen 
würde das Nationale und Moderne ſich ſtärker durchſetzen. Auch das Wachsſtum 
des Staates auf Koſten der Kirche und der Gemeinde hat er geſehen. Als einen 
Vorzug des Unterrichtsweſens in Deutſchland von der Univerttät bi3 zur Volf3- 
ſchule ‚pries er aner, daß es fich ın beitändizer WechirImirktung mit allen lebendigen 
Kräften des Volkslebens, nicht zulekt mit der Kirche, entwidelt habe und er 
glaubte in jeiner mannigfaltigen und individuellen Öejtaltung ein Widerfpiel des 
Keihtums des deutfchen Volkslebens in der Vielheit jeiner Ölieder zu erkennen. 
Da 05 zu feiner hohen Blüte, wie e3 Bauljens Forfchungen dartaten, in fort 
laufender Entmwidlung ohne gewaltfamen Bruch gedeihen mar, drängte fich ihm 
der Wunfch auf die Lippen, daß auc) in den fommenden Jahrhunderten den deut- 
De Univerjitäten und Schulen die Mannigfaltigteit und Bemeglichleit erhalten 

leiben möge. Der deutichen Revolution war es vorbehalten, den gewaltjanıen 

Bruh auch in unferem Schulmwefcn zu vollziehen und die Mannigjaltigfeit zu 

bedroden. Die Ehrfurcht vor der Vergangenheit, von der Pauljen erfüllt war, hat 

jie als überflüffigen Ballaft beifeite gefhoben. Wie ein Mahnruf zur Befinnung 
wirft Daher in Diefem Augenblid die Neuauflage des prächtigen Biftoriichen 

Werkes Friedrich Pauljens. Hatte e3 einjt revolutionierend gewirkt, jo mag es 

heute die aegenteiliae Wirkung bahen. E8 hat in Rudolf Yehmann den berutenen 

Sachwalter gefunden, um aufs neue in die Welt eingeführt zu werden. Ter 

Text ijt in der Hauptjache der gleiche wie in der ziveiten Auflage, er wurde nur 

durch Zufäge und Veränderungen, die Pauljen felbit in feinem Handeremplare 

bermerft Hatte, erganzt, auch wurden das Synhaltsperzeichnis und Hegifter um⸗ 
geſtaltet und erweitert. Paulſen hatte die Abſicht gehabt, bei einer Neuauflage 
die jüngſte Entwicklung um die zwanzigſte Jahrhundertwende in einem Anhang 
neu zu behandeln, doch nahm ihm der Tod die Feder aus der Hand. Statt ſeiner 
hat Rudolf Lehmann dieſes Schlußkapitel geſchrieben, das bis gegen das Ende des 
erſten Jahrzehnts dieſes Jahrhunderts führt. Der zweite Band liegt jedoch noch nicht 


96 Zeue Bücher 





bor. Wir werden in unjerer Erwartung, daß mit der Ergänzung auch eine iweri- 

bolle Bereicherung des Werkes gegeben wird, ficher nicht fehl gehen. Heute wifjen 

wir dem Herausgeber warmen Dank für feine ar an einem Buche, 

da3 uns Deutichen bejonders ans Herz gewachſen iit, weil e3 die beivegenden 

ad im Gebiet der gelehrten Bildung in fo trefflicher Weife zur Daritellung 
ringt. m. X. 

Dr. Oswald lock, Skizzen und Studientöpfe. Beiträge zur Geſchichte des 
dentihen Romans feit Goethe. Verlagsanſtalt Tyrolia, Wien⸗Innsbrud⸗ 
München. 1918. Preis 12 Mart. 

Der Entwidlungsgang de3 Romans hat ihn zu einem Bildungsmittel 
eriten Hanges werden lajjen, aber je mehr: Hände fich regten, um das Leben 
fünftlerifch fejtzuhalten, dejto vertwirrender ift das Ergebnis nicht nur in der Fülle 
der Bilder, jondern au) im Hinblid auf ihren Wert. E38 ift tatfachlich nicht ganz 
einfach, Jich in der Romanliteratur sn ga namentlid) ijt die er 
groß, Daß Vteugeborenes lediglich Durch die ihm eigene Gegenwärtigfeit Altes, 
durch die Beitfirne Verblaßtes übertönt. Und Dody Haben gerade wır Deutichen 
es durchaus nötig, ung immer tvieder auf den uns überflommenen Schaf von 
Dichtwerten au beiinnen, die im Dienite der Wahrhaftigkeit und eigneniten Bolt$- 
bewußtſeins jtehen. Tern poetiichen Realismus, der in dem Beltreben, da3 Leben 
in feiner vollen Unmüttelbarteit liebevoll zu erfaflen, gipfelt, Hat unfere jchöne 
Literatur einen Höhepunlt ihrer Entwidlung zu verdanten. Erleben wir in den 

open tealiitiihen Erzählern Otto Ludivig, Frig Reuter, Guftan Frehtag, Wils 
Den Raabe eine Reaktion gegen die feichte Bhraje einer fosmopolitifchen 
Schwärmerei und Geiſtreichigkeit, ſo hält jich Das Schaffen Anzengruber?, 
Rolegaers, Fontane und Wilbelm von Bolena’ auf der gleichen Lime eines er- 
Itartenden ee: die Kunſt, die ri Männer pflegten, wurzelt im 
tiefen Xerftändnis für das eigene Boll. „Es ift doch Der höchite Genuß auf 
Erden, Teutich zu veritehen,” hat Wilhelm Raabe einit gejagt, — aber nicht nur 
DVeutich, jondern auch das Deutichtum müfjen wir verftehen, und zivar nicht nur 
in unmittelbavem Erleben der ©egenivart, jondern auch aus dem quellenden 
Reichtum einer verfuntenen Zeit, aus der fi) das Richtmaß für eine zukünftige 
Entwidlung de3 deutichen Volfstums beifer abhebt, al3 aus der Wirrnis unjerer 

. Das Buch von TFloed gibt eine gute Anleitung zu ihrer Betradhtung. Der 
Verfaſſer will nicht mehr als für das Lebenspolle und Bleibende in der Entwid- 
lung der deutien Brofaepit jeit Goethe werben und führt uns mit ficherer Sand 
in den Strei3 unferer Beiten auf dem Gebiet des Romans bi8 hart an die 
Echwelle der Gegenwart. hm lommt es nicht auf geiftreiche Kritil, neue Be- 
leuchtung altvertrauter ©ejtalten und dergleichen an. Seine Perjönlichteit tritt 
Binter den Gegenjtand feiner Betradhjtung Durhaus zurüd und oft bedient er ji 
der Urteile anderer Autoren, wo fie ihm treffend zu fein jcheinen. ‘Freilich naht 
er jeinen Dichtern nicht als Kühler Chronift: wo fein Herz jtärker fchlägt, vermag 
man wohl zu erfennen. Der Literaturfreund miw fein Buch gern zur Hand 
nehmen: e3 ent[pricht durchaus dem wahren Bedürfnis unferer Zeit. mM. X. 





Allen Manujtripten ift Borto hinzuzufügen, ba andernfalls bei Ablehnung eine Nüdfendung 
nicht verbürgt werden lann. 


NRachdrud fäntliher Auffäge sur mit ausprädiiher Erlaubnis bed Beriags gneftatter. 
Berantwortlid,: der Heraußgeber Beorg Elcinom in Berlin-Lichterfelde Weil. — Wanuitriptiendungen und 
Briere merden erbeten unter der ?Ldrefie 

Un die Echriftleitung der Srenzboten in Berlin SW 11, Tempelhofer Ufer 35a. | 
isernipieher des Herausgebers: Amt Lichterfelde 498, ded Berlags und der Schrittieitung: Amı Nägom Hh10. 
Berlag: Verlag der Srenzboten @. m. b. 9. ın Berlin SW 11, Tempelhojer Ufer Bba 
Drud: „Der Reihöbote" &. m. 5. 9. in Berlin SW 11, Deflauer Strake 38/87 





Was muß der Weiten für den Srenzjchuß des 
Ditens tun? 


ie öffentliche Meinung der meftdeutichen Gebiete ift nad) dem im 
November erfolgten Zufammenbrud; mehr denn je geneigt, über 
die Zoslöfung vom preußiihen Staatsmejen zu debattieren. Leider 
haben fi) diefe Debatten in legter Zeit immer bedroblicher geitaltet 
und finden in dem Memorandum des Staatsfefretärs Dr. Preuß 
energifche Unterftügung. Nheinland, Weftfalen und angrenzende 
Gebiete glauben in fich jelbjt genügend Kraft zur eigenen ftaatlichen Erijtenz 
zu befigen. Die Befürchtungen der einzelnen politiihen Parteigruppen treffen 
fih in dem gleichen Beitreben: [o8 von Berlin. Das Zentrum fürchtet für 
den Zufammenhang von Staat und Kirche in dem neugeordneten preußijchen 
Staatsmefen, die fozialiftiichen Parteien erbliden in der Aufrichtung einer Heeres» 
madht im Dften die Gefahr einer Gegenrevolution. 

Soweit e3 fi um die mwirtichaftlihen ZufunftSmöglichleiten handelt, ijt 
der Standpunft diejer beiden Richtungen aukerordentlidy furzfihtig. Glaubt 
etwa die “fnduftrie des Weitens durch einen engen Anjhluß an Belgien und 
Frankreich für den Weltwirifchaftsmarft Konfurrenzmöglichkeiten zu erhalten? 
Glauben die bürgerlihen Parteien aus fih allein Herren des Boljchewismus 
werden zu fönnen? Sie mögen bedenken, daß das Heer der Arbeitlojen aus 
den zur Konkurrenz nicht mehr geeigneten Gebieten enormen Zulauf finden 
würde. Wo mil man diejfe Bevölferungsmafjen unterbringen? Zmwingt man 
fie zue Ausmanderung, erportiert man diejes beite Staatsgut, jo werden aus 
eigenen Bolfsgenofjen die ftärkiten Gegner herangezüdtet.. Ein Ausweg, der 
bier bleibt, it die Aufiedlung nad) Hunderttauienden zählenden Mailen auf 
eigenem Grund und Boden, und dazu fteht uns nur nod der Diten unferes 
Vaterlandes frei. Gerade dies deutiche Anfiedlungsland aber ift jegt auf das 
Stärtite bedroht. Nicht nur durch den national-polnifchen Smperialismus, der an 
die Tore von Berlin und Danzig pocht; nocd größer ift die Angriffsmucht des 
tufftiihen Bollsimperialismus, der fi in der Somjetarmee einen Dachtfaltor ge- 
Ihaffen hat, dem mir biS in die legte Zeit nicht Gleichmwertiges entgegenzufegen hatten. 

Der Zentral-Soldatenrat. der deutjchen jozialiftiichen Nepublit und Die 
Bollsbeauftragten, denen man wirklich feine Machtpolitif nad altem Sinne 
zumuten darf, haben durch die Neuregelung der Kommandogemwalt bemiejen, 
wie hoch fie die im Diten drohende Gefahr einfchägen. Sn den SKreifen der 
Regierung ift man fich feit den Ereignifjen der legten Wochen flar darüber 
geworden, wa3 den U. und S.NRäten im Wetten mohl nicht befannt jein 
dürfte: daß das Miktrauen den fogenannten Bürgerlichen gegenüber volllommen 


Greuzboten I 1919 7 





98 Was muß der Weften für den Srenzfhug des Oftens tun? 


haltlos war. Mit inftinktiver ErlenntnisS der Notwendigkeit unferer &igen- 
madt bat fi die gefamte Bevölferung de8 deutfchen Dftens diefer Forderung 
zur Verfügung gejtellt und denkt gar nicht mehr daran, in Klafienlampf und 
Brudermord ihre Loftbaren Kräfte aufzubrauchen. 

Wir dürfen nicht Durch Federftrihe organifh zufammengewadfene Wirt- 
[haftsgebilde zertrennen, nur weil die einzelnen Teile glauben, unter den 
augenblidlien Bedingungen Vorteile daraus ziehen zu‘ Fönnen. Auch die 
fozialifierten StaatSbetriebe, die Staatsinduftrie der Zufunft, brauchen einen 
Tauffräftigen Markt, gerade diefer muß im Djten gewonnen werden. Cngland 
und Amerifa werden trog aller gegenfeitigen Berfprehungen das tatfächlich bei 
ihnen liegende Seebandel3monopol nur für ihre Intereſſen auszunutzen wiſſen, 
und felbjt unfere Dualitätsinduftrie wird auf dem Seemege mit diefen Mächten 
nicht konkurrieren Ffönnen, will fie nicht ihre Angeftellten durch Unterbietung 
der Preife auf Hungerlöhne berabdrüden. Daran wird aud nichts die Tat- 
fahe ändern, daß fpäter der allmädtige Staat diefe Löhne feitfegt. Der 
Sozialismus herriht nun einmal nit in der ganzen Welt, fondern nur in 
einzelnen Zeilen, und diefe Teile müffen fi den wirtfchaftlihen Bedingungen 
des ausländifhen Großlapitalismus oder fonftigen nichtfogialiftifhen Wirtfchafts- 
formen wohl oder übel anpaflen. 

Die viel gefhmähte Berliner Regierung fucht diefen Erforderniffen unferer 
zufünftigen Vollswirtfhaft in Hinblid auf eine kräftige Politif im Dften 
Nehnung zu tragen. Nicht die Eriftenz des polnifchen Staates alS folche wird 
befämpft, fondern die ungefunden Machtgelüfte der polnifchen Marimaliiten. 
Die bolfchewiftifcden Umtriebe in Kongrekpolen haben die innere Haltlofigfeit 
de3 polnifhen Staates zu Far bewiefen, al3 daß man diefen als einen ver: 
tragsfähigen Gegner und fpäteren Bundesgenofjien betrachten Tönnte. Wir 
brauchen fehr mohl gute Beziehungen zum Dften. Wir mwünfcdhen fogar ein 
gutes invernehmen mit dem zukünftigen ruffifhen Staate, mag er fid 
innerlich geftalten wie er will; nur befämpfen mir mit aller Schärfe überftürzte 
Sozialifierungsmaßnahmen im außerdeutfhen Dften, die diefe gejchmächten 
MWirtihaftsgebilde dem eindringenden mejteuropäifhen und amerilanifhen 
Kapitaligmus ausliefern würden. Wir hatten in ben legten Sriegsjahren 
Ausfiht verfprechende Verbindungen über Polen und die Ufraine Hin mit 
Süpdrußland und Kaufafien .angelnüpft; wir erwarten auch heute für unfere 
neu aufgebaute Volfsmirtichaft reiche Austaufhmöglichkeiten mit diefen nod 
nicht induftrialifierten und lIandwirtfhaftli” außerordentlich ertragsfähigen Ge 
bieten. Nah Errichtung des englifch-amerifanifhen Schiffahrtsmonopols bleibt 
uns eben nur noch der Landweg. Mit Hilfe einer im Rahmen des gefamten Dr- 
ganismus wohl durchdachten ſtaatlichen Eifenbahntarifpolitif Täßt fich die Ausfuhr 
von nduftrieerzeugniffen auf dem Landmwege ehenfo fünftlich bewerfftelligen wie 
die Einfuhr von Agrarproduften und Rohjtoffen für unfere Verarbeitungsinduftrie. 

Unfer eigener Robftoffmarlt muß fih in Zulunft ebenjo wie in den 
Kriegsjahren nah Möglichkeit freihalten von millfürlihen Dtaßnahmen der 
jeweiligen meltbeherrfchenden Dtachthaber. Wir können dem Auslande für das, 
was wir notwendig brauchen, insbefondere an Lebensmitteln, nur noch body 
wertige Snduftrieprodulte Tiefern, und wir müflen uns auf deren Serftellung 
allein befchränfen. Das aber bebeutet eben eine Brotlosmahung für ungezäßlte 
Deutfhe, die andermweit untergebracht werden müffen und ‚deshalb bedenfe 
Deutichlands Weiten Deutfchlands Diten. Hier liegt Cinigendes, nicht Trennendes; 
bier verwirklichen fi) die miederaufbauenden, die mwieberanfnüpfenden sdeen. 
Sie ftehen und fallen mit der Erhaltung unferer öftlichen Provinzen. Deshalb: 
denkt an den Grenzihug Dit! 


Eu un En — — — 


Die kulturelle Bedeutung Wiens 99 








Die kulturelle Bedeutung Wiens 


Von Dr. A. Laßmann, Wien 


s iſt die Tragik Wiens geweſen, daß es Hauptſtadt ſein ſollte und 
ſein wollte, daß es aber nicht Hauptſtadt und Mittelpunkt der 
Monarchie werden konnte. Es war einſtens Grenzſtadt und nach 
einer kurzen Zeit des Glanzes und höchſter Bedeutung als 
fultureller Mittelpunkt ift es wieder Grenzitadt geworden und wird 
es wohl auch bleiben. Dies ſoll kein Vorwurf für dieſe Stadt 
ein; es war nichts als die natürliche Folge der politiſchen Entwicklung Europas 
und beſonders Oſterreich-Ungarns, zum Teile aber auch Folge jener tiefgreifenden 
Unfähigkeit der Deutſchen Oſterreichs und vor allem Wiens, die wirtſchaftlichen 
und nationalen Forderungen der Zeit zu erkennen und ihnen gerecht zu werden, 
Folge jener Energieloſigkeit und jenes Mangels an Unternehmungsgeiſt und 
Verantwortungsfreudigkeit, aus der die öſterveichiſche Ironie erwächſt. 

Ein Blick auf die Karte zeigt uns die äußerſt günſtige geographiſche Lage 
der Stadt. An dem ————— der wichtigen Donauſtraße, dem einzigen 
natürlichen Band zwiſchen ſten und Oſten, und dem kürzeſten Wege von 
Deutſchland zu den Alpenländern und der Adria gelegen, mußte jie ein wichtiger 
Etapelplag und Handelspuntt werden. Der Weg nach Ungarn, nad dem 
Balkan, nach dem Oriente führt über Wien. Über Wien führte der Weg der 
deutichen Orientpolitif, al3 das Bindeglied zum Baltan, zur Amatolifchen und 

-Bahn. Durch die mährifche Sente —— ſich ein weiterer Verbindungs— 
weg nach Galizien und Rußland. Von allen Seiten führen die Wege hinab in das 
Donaubecken, dahin, wo an den letzten Ausläufern der Alpen Wien liegt. Die 
— Terrainverhältniſſen angepaßten Bahnlinien der St. E. G., der Franz— 
Joſefsbahn, der Weſt- und Oſtbahn, der Nord-, Nordweſt- und Südbahn 
charakteriſieren die äußerſt günſtige Lage der Stadt. Wien war dadurch im 
vorhinein ſchon zur Hauptſtadt der Sudeten- und Alpenländer beſtimmt und 
nicht erſt künſtlich durch die U bon Bahnlinien dazu erforen. Dieje 
günftige Lage brachte e8 auch mit fi), daß Wien und nicht Prag der Mittelpunft 
des Habsburger Staates wurde, obgleih Prag, als im Herzen Deutjchlands 
gelegen, lange Zeit Wien den Rang abzulaufen fchien. Und diefe Rivalität der 
beiden Städte fand dann jpäter in der Verjchtedenheit der Nationalitäten, die jie 
bewohnten, eine neue Stüße. Ungejchidte wirtichaftlihe Maßnahmen und Ver- 
jaumnifje brachten e3 troß der günftigen Lage der Stadt doch mit fich, daf die 
Budetenländer, Dem Laufe der Elbe folgend, in ihrem Erportverfehr nicht mach 
Trieft, jondern nach) Hamburg gravitierten, und daß der Verkehr von Deutjchland 
nach Italien nicht über Wien, fondern über die Schweiz oder den Brennerpaß 
ing, jo daß Wien, außerhalb der großen, internationalen Fremdenverfehrs- 
ER und Dandelötwege gelegen, den internationalen Anfchluß verfäumte und 
auf den sfnlandsverfehr bejchränkt blieb. Dazu erfuhr auch der Donauvertehr 
nicht jene Ausbildung und Förderung, die der Strom evivarten ließ, ebenjo wie 
die Schaffung von gunjtigen Schiffsiinien von Trieſt aus lange auf fich warten 
ließ. Syn nicht geringerem Mabe beivegten fich die verfchiedene Kanalprojekte 
nur in Worten, ohne daß man den Mut umd die Kraft aufbracdte, den 
enticheidenden legten Schritt zu tun. Mit dem Aufgeben des Saloniki-Brojeftes 
durch Ofterreich-Ungarn war das meltwirtichaftlicde Problem der Monarchie 
endgültig zu Grabe getragen, was durch das Verhalten Ungarns gegen Serbien 
bollitandig unmöglich wurde, da der Binnenhafen Trieft, der bei Otranto jtet3 
unterbunden wenden fonnte, nur problematifchen Wert hatte. Unter diejen 
Berjäumniflen mußte natürlich in eriter Linie Wien leiden; denn jeder Schritt 
der Monarchie auf mwirtjchaftlichem Gebiete nach) vorwärts wäre Wien zugute 
gelommen, al3 der Sinotenpunkt zwifchen Weit und Oft, Now und Sid. Ir 
wirtichaftlicher Hinjicht war die Stadt wirklich das Herz der Monarchie. 

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100 Die Fulturelle Bedeutung Wiens 





Ein kurzer Rüdblid auf die gefchichtlihen Vorgänge früherer Syahrhunvderte 
wind es tar madyen, daß Wien Grenzitadt war, wicht bloß in mirtichaftlicher 
Hinſicht als Vermittlerin des nn zwifchen Welten und Dften, 

ondern Srenzjtadt gegen jene Taltoren und Voller des Dftens, die die Kultur 

3 Weftens zu bedrohen jchienen. Gegen Madjaren und Türken war fie Grenzs 
jtadt, an der diefe Mächte zerichellten. Aber au) gegen den Nowden mar fie ein 
Gvenzbollwert gegen die imperialiftiihen Beitrebungen Dtoaler3 von Bohnen, 
die er im —— gegen Wien und die Alpenländer zu verwirklichen ſuchte. Wien 
urn damals die Alpenländer gegen den Norden. Als Rückenſchutz ermöglichte 
es aber auch die Ausbreitung des Deutſchtums nach dem Süden und war 
Ausgangspunkt jener groß angelegten deutſchen Koloniſationstätigkeit in Ungarn, 
Slawonien, Bukowina und Galizien, die Joſef II. einen Erſatz für das verlorene 
Schleſien an deutſchen Ländern bringen ſollte. Nur für die Ausbreitung des 
Deutſchtums in den Sudetenländern hatte Wien feine Bedeutung. Leider gewann 
aber die Stadt infolge der kulturellen Paſſivität ſeiner Bewohner und der 
Teilnahmsloſigkeit der Habsburger feinen dauernden Einfluß auf die 
Nationen; nicht einmal in Salizien und Ungarn ionnte der Einfluß von Paris 
aufgehoben werden. Über die Grenzen der Dionardhie jelbit drang Wien niemal2. 
Gpenzjtadt nah Dften ift die Stadt endlich wiederum geworden feit der Vers 
wirklihung der Unabhängigkeitsbeitvebungen Ungarns, two fi) das Madjaren- 
reich unter der flugen politischen Führung eines Dest und Andrafiy freigemadt 
batte von dem Weiten der Mionardie. 

Während andere Hauptitädte nach und — die wirtſchaftlichen und 
geiſtigen Kräfte des Landes in ſich vereinigten rückwirkend neue Kräfte 
weckten und banden, hat Wien nie die Kraft dazu aufgebracht. Freilich dürfen 
wir nicht vergeſſen, daß Oſterveich aus den Tagen des mittelalterlichen 
Territorialſtaates unverändert in die Zeit der Nationalſtaaten übergegangen iſt 
und mit ſeinen vielen Völkerſchaften ſtets als ein Schuldner jenen Staaten 
gegenüberſtand, die 19 vom Territorialitaat zum Nationaljtaat entwidelt hatten. 
In dieſem Zwieſpalt Bus den hiftorifchen Entwidlungsnotwendigkeiten und 
den in Ojterveich bejtehenden territorialen Verhältniffen lag für jeden Ausländer 
die Schwierigteit, die vjterveichiichen Verhältniffe zu verjtehen und zu terten, 
Zerritorialitaaten wie Rußland oder die Türkei fuchten wenigitens der Staaten» 
tendenz der Segentvart, dem Streben nad) dem Nationaljtaate, gerecht zu werden, 
Rußland, indem e3 die panflamiftiche Sydee übernahm, die Türkei, indem fie in 
der Neligion ein einheitliches Band zu finden hoffte. Abgejehen von den 
Schwantungen, die die Idee Des Trialismus zeitweilig in Dfterreichs Politik 
hervorrief, jtand im Mittelpunft des gejfamten öfterreicyiichen offiziellen 
politifchen Dentens die Dynaftie bei vollitandiger Verlennung ethnopolitifcher 
Ziele und Trieblräfte. Um die Dynajtie follten fich die Völker fcharen, und wo 
dies nicht gejchah, Juchte man dur) Entgegenfonmien, durch Ausfpielen anderer 
Nationen die Thpnaftie felbjt vor jeder Erfehütterung zu beivahren. Während 
man von Seite des Staates die Dynaftie als einzige Lofung der öfterreichifchen 
ragen im Staatsleben und in der Schule betonte, dDrangte Die Sraft der dee Die 
Völder immer jtärker zur nationalen Etaatsbildung und fand eine un in 
der Verwirklichung diefer dee des Nationalftaates bei den Nachbaritaaten. Nad) 
der Selbitändigteit Ungarns machten jih Ddieje zentrifugalen Bervmegungen in 
Dfterreich um fo jtärder geltend, al3 die Geihichte Ungarns die Möglichkeit einer 
Verwirklichung zeigte. Dazu trat nod) das Schwanken der Dynajtie unter 
Franz Joſef J. zwiſchen feudaliſtiſcher und zentraliſtiſcher Regierungsform, 
wodurch ſchließlich die einzigen Träger des dynaſtiſchen Einheitsgedankens, die 
Armee und der Beamtenſtand die feſte bindende Kraft verloren, die die Vor⸗ 
bedingungen eines IR Staatslebens find. 

Dadurch unterjchied fih Ofterreih von Ungarn, daß diefes mit Gewalt 
einen Wationalftaat Ichaffen wollte, indem e3 im vorhinein feinen Nationalitäten 
die Möglichkeit eines Eulturellen und politifchen Lebens nahm, während jene? 
infolge jeiner jelbftändigen Landtage dazu nicht die Macht hatte und alles von 


Die Zulturelle Bedeutung Wiens‘. *.:..22° °.727. 22291: 





der Dynraftifchen dee errvartete. Ducch Entgegentommen und Erfüllung jeglichen 
an tionalitäten hoffte man jeder Nation Ofterreich als den been 
Staat vorzuzaubern, eriwedte aber dadurch doch nur die Überzeugung von der. 
inneren Shwähe und FKraftlojigleit des Staate8 und Das Verlangen nad 
immer größeren Selbitändigkeitsrechten, ohme fich aber noch zur legten Kolgerun 
— entſchließen. Denn der letzten Löſung, der nationalen Abgrenzung un 
lbſtverwaltung ging man aus Furcht, die zentraliſtiſche Macht der Dynaſtie 
könnte darunter leiden, aus dem Wege. Wien war der Sitz der Dynaſtie, und ſo 
war es etwas ganz Natürliches, daß die Nationen von Wien abrückten, und ſei 
es im Gegenſatze zu Wien und gänzlich unabhängig, oder im — an einen 
benachbarten Nationalſtaat die erträumte Ale - erhofften. Die 
ttalienrijche rredenta, die großrufliihe Agitation in lizien, die ferbijche 
Propaganda und das tihehiiche Staatsrecht find Belege dafür. 
Unter diefen Verhältnijfen verlor natürlih Wien an Bedeutung als 
litifches Zentrum, ja e3 trat ein Gegenfaß, eine Feindihaft zu Wien ein, die 
ich auch un wirtichaftlicdem, wie fultunellem Gebiete äußern mußte. Man darf 
nicht vergeflen, daß die Monarchie, als ein — Staat, nach 
einen Ländern nur ein loſes Gefüge darſtellte, deſſen Bindemittel die 
ynaſtie war. Wie im Deutſchen Reiche hatte jedes dieſer Länder vorher ein 
eigenes kulturelles wie wirtſchaftliches Leben geführt, das nach dem Zuſammen—⸗ 
* trotz einzelner Schwankungen erhalten blieb. Nur ein überlegenes Kultur—⸗ 
n der neuen gemeinſamen Reichshauptſtadt hätte den Ländern mit der Zeit 
den neuen Charakter aufdrüden fünnen. Diefe Kraft vermochte aber Wien nicht 
aufzubringen. Mit dem Erwachen und Eritarlen der politiifhden Bervegung 
etipachte daher much das Streben, fulturell unabhängig zu bleiben und wirtjchafte 
lich unabhängig zu werden. Die Tulpenbeiwegung Ungarns, dad svuj ksvemu 
der Tichechen A Beifpiele dafür. Auf beiden Gebieten aber fehte eine rege 
Kätigteit ein; die Geihichte der Tfichehen im 19. Sahrhundert zeigt Dies 
deutlich. Wo aber die eigene Kraft nicht ausreichte, dedte man oder fudhte 
aan twenigitens feine aftlihen und fulturellen Bedürfnifje dort zu deden, 
wo man feine politifchen ale zu verivirklichen hoffte. Died aber nicht 
möglich, fo verleugnete man den tatfächlichen Mangel an Gütern im Sintereile 
einer Mafjenbeeinfluffung. 

Sedenfalls aber wurde Wien von den fremden Nationen ifoliert porerft 
aus politifchen Gründen. Aber nicht muır die fremden Nationen mieden Wien; 
auch) zu den übrigen Deutfchen der Monarchie traten tiefe Gegenfäbe auf. 

Das deutihhe Problem, die Überführung des alten territorialen Be ut 
lands in den neuen NRationaljtaat, tit durch die Reichsgründung Bismards nicht 
teitlos gelöft worden. Ein großer Teil der Deutichen blieb von der nationalen 
Löſung ausgeſchloſſen. In dieſem lebte oder evwadhte nun unter der Wirkung 
der dee des Nationaljtaates die Sehnfucht nach dem Nachbarfitaate. Berüd- 
fihtigt man den geiwaltigen Auffchwung des Deutfchen Reiches und die Wirkung 
de3 daraus fich ergebenden Nationalveichtums, den Stand der foztalen Fürjorge- 
arbeiten, die geiftige Rogfamleit, wenn fie auch oft unter einer Mechanifierung des 
Geiftes zu verfüimmern |chien, jedenfalls aber den einheitlichen Geift de3 Kultur- 
willens und der Kulturarbeit zum Wohle der Gefamtheit, in diefem ?yalle des 
Staates und Volkes, fo ift es leicht begreiflich, daß fi) vor allem die deutjchen 
Standgebiete — von dieſem Organismus angezogen fühlten, kulturell mit 
ihm in Verbindung traten und ſich langſam von ihrem politiſchen Zentrum, das 
kulturell ihr Zentrum nicht war, loslöſten, um wenigſtens in kultureller Hinſicht 
eine Heimat jenſeits der Grenzen zu ſuchen und zu finden. 

Zu einem politiſchen Irredentismus erwuchs auf deutſcher Seite dieſe 
Sehnſucht nicht, wenn wir von dem kurzen, als Reaktion gegen das damalige 
Staatsbeſtreben auftretende Verhalten der Partei Schönerers abſehen. Dieſe 
Sehnſucht nach dem Deutſchen Reich, unverſtanden und unbeachtet im Reiche 
ſelbſt, war natürlich in den Sudetenländern und der Sprachgrenze des Südens 
größer als in den inneren Gebieten der deutſchen Siedlung, wurde aber in Wien 


- 


403°, 0:2.2°:2 22° .. Die Bulturelle Bedeutung Wiens 


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—* von den Altöſterreichern, dem Militär⸗ und Beamtenſtande, vor allem bei 
r Geiſtlichkeit und bei Hofe als Hochverrat gewertet, was naturgemäß in der 
Provinz eine ſtarke Entfremdung gegen Wien hervorrief. 

Man darf aber aud) die frühere Verbindung zivifchen Wien und den 
Deutihen der Provinzen nicht überjchägen. Sn Böhmen fühlten fich die 
Deutichen, wie e3 bei M. Hartmann und E. Ebert Stark zum Ausdrude fommt, 
al3 Bürger diefes Landes. Wien war ihnen damals der Sib der Reaktion 
‚Metternichs. ALS ihr Nationalempfinden aber ertvachte, fand es feine Anregung, 
fein Verftandnis in Wien, und fo mußten fie unter der Wirkung der geivaltigen 
deutichen Stultuniwelle und der Deacht der Nationalidee na) dem Deutihen Reiche 
bliden. Öeringer waren gewiß die Unterfchiede zwifchen den Alpenlandern und 
Wien mit Ausnahme der Spradhgrengen und Tirols, das nur dunaftiiche Anhäng- 
lichkeit an Wien band. Dazı noch die großen Gegonfäte zivifchen den Volks— 
harakteren. Doch davon fpäter. SyedenfallE aber waren alle Bedingungen 
gegeben, um Wien auch innerhalb der Deutichen Ofterreichg zu ifolieren. 

sm Segenjage zu Frankreich und anderen Nationalſtaaten konnte ſich auf 
Deutichem Boden feine Stadt zu einem dauernd tonangebenden Mittelpunkt des 
‚deutichen Stulturlebens enttwideln. Erft die Induſtrie- und Großſtadtentwicklung 
hat das bunte Bild deutichen Stulturlebeng etwas verdedt, das Deutfchland mü 
—* zahlreichen Städtekulturen bot. Dies war jedenfalls von größtem Ein— 

luß auf die Vielſeitigkeit, Buntheit, Lebendigkeit und Tiefe deutſcher Kultur, hat 
aber andererſeits, da es die Stammesunterſchiede ſtark betonte, die politiſche 
Einigung ſehr erſchwert, beziehungsweiſe ihre Vollendung unmöglich gemacht. 
Ein ſolches Zentrum war lange Zeit auch Wien für Süddeutſchland. Man denke 
an Klopſtock und ſeine Hoffnungen auf eine Akademie in Wien, die eine ähnliche 
Rolle im deutſchen Kulturleben ſpielen ſollte, wie etwa die Pariſer in Frankreich. 
Daß es damals nicht dazu kam, lag wohl an dem geringen Intereſſe und 
Verſtändnis der Habsburger für deutſche Intereſſen, da ſie als deutſche Kaiſer 
— immer nur die enge, eigene Hausmachtpolitik verfolgten. Mit dem 
Zuſammenbruche Deutſchlands vor Napoleon fiel Wien als Mittelpunkt und 
konnte ſich nicht mehr zu einer führenden — emporringen, da es die 
—— in den Freiheitskriegen und ſpäter in den Revolutionsjahren einbüßte. 
rotz der muſikaliſchen Blüte in der erſten Hälfte des Jahrhunderts übte es 
keinen Einfluß von Bedeutung mehr auf das Geſamtkulturleben des deutſchen 
Voldes aus, beſonders da der geſamte Buchhandel ſich im Deutſchen Reiche 
konzentrierte und der wachſende Nationalreichtum auch deuätſchöſterreichiſchen 
Künſtlern und Gelehrten eine Arbeitsmöglichkeit bot. Mit dem Kriege 1866 und 
der Reichsgründung fiel das letzte Band mit Wien, ja Wien gefiel ſich darin, 
ſeinen beſonderen öſterreichiſchen Standpunkt betonend, in einen bewußten 
Gegenſatz zum Deutſchen Reiche zu treten. Selbſtzufrieden mit der unmittelbaren 
‚Vergangenheit, trat es immer mehr in den Hintergrund. Dadurch verlor es 
vorerſt die Fühlung mit den Sudetenländern, deren Deutſche in unmittelbarem 
Verkehr mit dem großen Nachbar traten, mit diefem Schritt zu halten fuchten 
und Wien fremd wurden, das unprodultiv nichts an fulturellen Werten abgeben 
tonnte. Ebenfo wie die Univerfität Hatten Bildungsftätten und Kunjk 
beitrebungen feine oder nur. unbedeutende Verbindung mit der Provinz. Die 
Ä re Entfremdu u aber aud) die Alpenländer. Shre endgültige Teil 
egung fand fie dadurd), daß Wien der nationalen Gefühlsiwelle, die ganz Deutſch⸗ 
öfterreich mächtig durchflutete, fremd blieb, ja fich ihr oft feindlich entgegen- 
Itellte, und auf dem reinen Üfterreichertum vevgangener Zeiten fußend, au 
nicht den Willen zeigte, diefem neuen Bemwußtfein Verjtändnis entgegenzubringeit. 
‚Sn ganz Dfterreich war der Wiener der einzige, der ſich Ofterreicher nannte 
während die übrigen Deutfchen jich freudig zu ihrer Nation beiannten. So ber 
lor Wien den Anjhluß an die Provinz, wurde jhlieglich zwar Empfänger, aber 
war nicht Ausgangspunkt der nationalen Bewegung. Als man fpüter das 
VBerfäaumte nachholen twollte, war e8 zu fpät. Aus der Entfremdung mar offene 
Gegnerfchaft geworden, die um fo fchärfer war, als das Volt von Wien al? 


4 


Die fulturelle Bedeutung [Diens 103 


Zräger der chriſtlichſozialen Anſchauung in einen neuen en zu der 
en getveten tvar. Dazu mar e3 Die Stadt der Beamten, des Hofes, der 
hohen Geiftlichteit und reichen Juden, furz, alles {pielte aufammen, um die 
Stadt zu tjolieren. | 

. © ıft e8 die Tragit Wiens geworden, daß ed nicht nur bon den J—— 
Nationen der Monarchie gemieden wurde als Sitz der zentra 


länder Segenfüse herausbildeten, die zivar nicht unüberbrüdbar find, die aber 
doch Wien in der Monarchie und im deutichen Volke politifch, wwirtichaftlich und 
tulturell tfoliert haben. 

E3 ijt nicht leicht, dem Wiener gerecht zu werden. Der Fremde beurteilt 
Die Stadt nach der Ringitmaße, den Wiener Werkitätten; das Wiener Volt nad) 
dem Leben beim Heurigen oder nach TFabeln und Geichichtchen, die Lobredner 
überall verbreiten. Wer aber in die außeren Bezirke geht, die beftehenden fhaat» 
lien und Gemeindeemrichtungen in Betracht zieht. und ftudiert, wer mit dem 
Wiener der verfchiedenen Schichten im täglichen Leben zufammenktommt, nimmt 
leicht denjelben Eindrud mit, den er empfing, als er an der Örenzitation aus 


einem Ddeutihen in einen oöfterreihiihen Wagen ftieg: den Eindrud der 


Unordnung. Der Wiener felbit Liebt jie in eimer jtarden Überfhägung und Ein- 
bildung von der Bedeutung jeiner Vaterjtadt. Er bennt im Durhicehnitte nicht 
da8 Ausland und kommt er toirklich muı3 feinen vier Pfählen, jo gebt er blind 
ducch die Welt. Er till nicht jehen, was beifer oder fchlechter ift. Diefe geiltige 
Zrägbeit ift gewiß eines der Argiten Übel der Stadt. E38 kann nicht geleugnet 
erden, daß Wien durch re der rüditändigiten Elemente fremder 
Nationen eine ungeheuere Arbeit zu leilten Hatte. Bon Böhmen, Mähren, 
Oalizien, Ungarn und den füsflaiwifden Gebieten jtrömten die entgegengefegteiten 
Elemente in Wien zufammen; nidt die beiten Elemente — dieje blieben in den 
nationalen Hauptitädten — fondern Streber und StellungSfucer der fogenannten 
intelligenten $tveife, die der Hof oder die Staatsämter anzogen und die Da 
Würden und Amter erhofften und fanden, Arbejtloje, die oft nicht —— 
und leſen, gewöhnlich nicht deutſch konnten, die ohne jedes Kulturbedürfnis das 
Durchſchnittsniveau in den Handwerkerſtuben und Arbeiterwohnungen tief hevab⸗ 
drückten, bald aber auch in den Kleinbürgerſtand eindrangen und das alte 
Wienertum mit ſeinen guten, liebenswürdigen Seiten zu einem fremden 
Gefühls- und Denkungsproletariat zerſetzten. Verſeuchten die einen den alten 
öſterroichiſchen Beamtenſtand, ſo drückten die letzteren den einheimiſchen Arbeiter⸗ 
und Kleinbürger zu einem rohen materialiſ iſchen Gemeinſchaftsleben herab, 
gegen das das alte Bürgerleben verſchwand. Immerhin aber gelang es Wien 
doch, dieſe Elemente einzudeutſchen. 

Der hat Oſterveich und Wien nie verſtanden, der nicht die Bedeutung der 
Dynaſtie berückſichtigte. Beſonders das Wiener Denken und Fühlen war ganz 
von der Dynaſtie Gerät. Der Wiener fühlte fich al8 Bürger der Kaijerjtadt, die 
Glanz und Bedeutung dur den Hof erhielt. Alles, was mit Hi 
zufammenhing, hatte unbedingte Gültigteit. Patpiotismus war in Wien nit 
als bedingungslofe Hingabe an die Dynafiie, teinesmegs aber Staatsgefühl. 
Dieſe Hingabe forderte der Hof au) von den Beamten des Staates, forderte er 
in der Erziehung und im Unterricht, forderte er im öffentlichen Leben. Der Hof 
felbit war der größte Gegner des Staatsgedantens. Er fand dabei Die beite 
Unterftügung in der fatholfchen Geiftlichkeit, bei den Beamten, im Heere. &3 läßt 
fih nicht Teugnen, daß Herriherhäufer. die ganz in vergangenen Zeremonien Iteden, 


zumal wenn es, wie in Wien, fremdländifche waren, ein Kulturhindernig für die 


Stadt und das Land find, in dem fie regierten. Weder Kunft no Wiſſenſchaft 
I in Wien von feiten des Hofes eine wirkliche Förderung. Was fi nicht in 

Rahmen des Hevgebradhten, Hiltorifchen bervegte, mas nad) einem Ausdrud 
des Perjönlichen rang, bonnte fein Verjtändnis erhoffen, Da e3 dem Zeremoniell 
der Gedanken widerſprach, Der altüberlieferten —— Meinung von dem 
Schönen und Guten. Der Hof lebte ganz in der Gedankenwelt des Abſolutismus, 


iſtiſchen 
Beſtrebungen, ſondern daß ſich auch zu den Deutſchen der Alpen- und Sudeten⸗ 


104 Die Fulturelle Bedeutung Wiens 


des Gottesgnadentums und jedes Nachgeben oder öffentliche Hervortreten war 
eine toidevtoillig gegebene Konzeflion an die Gegenivart. Der biltorifchen Sphäre 
jchloß jich vor allem der hohe Adel an, Hof und Adel waren jeder Entmwidlung 
abhold; denn Entwidlung ift immer mit Wehen, mit Stürmen und Unruhen 
verbunden, die dem alten Öottesgnadentum toiderfprechen. “Der bermögende 
DBürgerftand hat fi) von jeher mit Vorliebe dem Stulturkveis des Adels anzu» 
Ihließen verfucht, bejonders aber wurden die alten Offiziersfamilien die ftärkiten 
Stüben des ee a Verhaltens des Hofes. Der reiche 
Bürgerjtand und Militärjtand ergingen fich in blinder Nahahmung der Formen, 
ohne den hiltorifchen Kern zu Ile Aus ihnen eriwuchs eine hohle, außerliche 
Lebensform, die überall hHindernd der neuen Kunft und Wiflenichaft entgegentrat, 
wozu der Deutjchöjterreicher gute Veranlagung hatte. Diefer jtarfe ae 
Zug der Eelbitgefälligteit fand nun feit jeher im Wiener Volfe Widerhall, da er 
mit einem verwandten Zug des Kleinbürgertums zufammentraf, der eben]o 
dulturfremd ilt, der Selbitzufriedenheit. infolge der Abjonderung des Adels und 
ded reihen Bürgertums blieb das Stleinburgertum und der Arbeiter im 
Abgeſchloſſenheit, — Führung und Anregung auf ſein Leben in Haus und 
Garten beſchränkt, freute ſich mit leichten Sinnen des Lebens, ohne nach dem 
Zukünftigen und Gemeinſam⸗-⸗Gegenwärtigen zu fragen. Dieſe Selbſtzufrieden⸗ 
heit, eine glückliche Sul EB für den einzelnen, da3 Grab für die Kultur 
des Volkes, fand den beiten Nahrboden in der leichten, fonnigen Art des Süd- 
Deutichen und fchuf jenes lachende, erwig heitere Wien, aus dem Schubert herbot= 
gegangen und dem Beethoven und Brillparzer fo fremd gegenüberjtanden. (3 
jhuf aber auch den oberflächlichen Bürger der Revolutionszeit, den gleich 
gültigen, zwedlojen Genußmenjchen der fpateren Beit. Denn mit fortjchreitennder 
Entwidlung genügte der beitere GSinnengenuß nicht mehr, Die bärteren 
Forderungen Des es zerviſſen das Sonnenleben in kraſſe Fetzen, das Alte 
nd und an feine Stelle trat fein neues Leben; nichts blieb als die Sehnfudht, 
m PBerfünlichen nachzuleben, ohne die Kraft und die Fähigkeit, e8 unter anderen. 
Lebensbedingungen zu fonnen. Widerfprüche ziwifchen Sein und Wollen gab es 
auch früher; der Wiener veritand zu fchimpfen, bei jeder Gelegenheit zu 
„raunzen“. Ernit war es ihn damit aber nicht. Aus dem ftändigen Widerjprud 
erwuch3 fchließlich die charakteriftiiche Wiener Selbitironie, die fich in a 
verhöhnung des eigenen Wefens und eigener, gejchägter Einrichtungen ergeht, 
Der Ausfluh eines tiefen Zmwiefpaltes zwifchen dem Erjehnten und Wirklichen, die 
Folge einer unheilbaren Unfähigkeit, durch Eigenkraft ingend einen Ausweg zu 
. finden. Sn paflivem Verhalten ließ man Die Ummelt an fich hevantreten, ohne 
ven Berhaltnijjen entgegenzutreten. So ijt das alte Schlagwort von der Gemüt- 
lichkeit nicht8 als ein “Dedmantel für eime geijtige Trägheit, die fi) mit dem 
Scheine der Behaglichteit umgibt. 
Der Wiener Hat nie gelernt, fi) in eine beitimmte Oxdnung einzu- 
ervöhnen. Er wurde nie daran gewohnt, auf an Regungen im 
&ntereffe einer Ordnung ded Lebens der — heit zu verzichten. Jede 
Forderung, ſich öffentlichen Anordnungen im Verkehr oder Leben zu fügen, 
wertet er als unnötige Nadelſtiche, die nur ſein perſönliches Wohlempfinden 
tören. Er beurteilt eben alles vom rein perſönlichen Standpunkt; jede Störung 
s Herkömmlichen, ob es nun materielle oder geiſtige Werte betrifft, empfindet - 
er als unangenehm. Alles Neue beurteilt er von dieſem Standpunkte. Der 
Wiener iſt durch und durch konſervativer Natur. Aber nicht aus Überzeugung, 
ſondern aus Trägheit. Nicht Vernunftgründe haben bei ihm Geltung, ſondern 
nur Gefühlswerte. Ohne aber die Kraft zu haben, dieſem Empfinden wirklichen 
Ausdruck zu geben, ergeht er ſich leicht in leerer Kritik. Da aber die Behörde 
ſelbſt niemals die Kraft aufbringt, ihren Beſtimmungen den nötigen Nachdruck 
r eben, jo bewegt jich da3 ganze öffentliche Leben in einem en Sichgehen- 
offen und jtilem Dulden und mahbt jenen Eindrud der Unordnung, 
„Stchlamperei”, die jedem Ausländer in Ofterreich auffällt, von der Unfauberkeit 
in den Eifenbahnmwagen bis zur gezierten Höflichkeit und ‚derben Unhöflichkeit 


Die fulturelle Bedeutung Wiens 105 


bei Amtern und Privaten. Der Wiener ift eine pafjive Natur. Unternehmung?« 
geiit, Wagemut fehlt ihm volljtändig. rn twierveit hier der tiefe Unterjchied in 
der Erfafjung der Vebensziele durch die Rn und evangelifche Religion mtit- 
ſien. ſei hier nicht weiter unterſucht. Jedenfalls aber leidet das ganze wirtſchaft— 
iche Leben unter dem Mangel an Unternehmungsgeiſt. Handel und Verkehr 
bewegen ſich in kleinbürgerlichen Bahnen, Naturkräfte wurden nicht ausgenützt, 
ünſtige Konjunkturen nicht berückſichtigt. Dazu fehlt auch die Freude an der 
rantwortlichkeit. Oſterreich iſt nicht arm an ſchöpferiſchen Kräften, auf künſt— 
leriſchem wie wiſſenſchaftlichem Gebiete. Aber das Vorwäritsſtreben dieſer 
Kräfte kann der Innenöſterreicher nicht verſtehen und ſo müſſen all dieſe Kräfte, 
wollen ſie nicht untergehen, die Heimat verlaſſen; ſie flüchten nach Deutſchland, 
wo die aktive Natur des Reichsdeutſchen ihnen Möglichkeit zur Entfaltung ihres 
Könnens bietet. Nur das kann in Wien durchgeführt werden, deſſen günſtiges 
Endergebnis unwandelbar feſtſteht. Bei allem und jedem, das Unruhe, Arbeit 
mit ſich bringt, vertröſtet ſich der Wiener damit, daß es bis dahin auch ſo ging. 
So iſt Wien ein großes Dorf, kleinlich in ſeiner Arbeit, beſchränkt in ſeinem 
Wollen; der Kaufmann ebenſo wie der Kleinbürger, der Beamte wie der Arbeiter. 
Dieſer kulturhemmende Zug ſeines ens wird nur durch tiefgreifende 
Ereigniſſe durchbrochen; doch auch dann währt die Bewegung nicht lange, ſondern 
läßt ſich durch kleine Zugeſtändniſſe leicht ——— oder verflacht nach den 
ten Anfangserfolgen. In dieſer geiltigen Trägbheit liegt nun auch) der Grund, 
warum Wien nie die Führung auf Eulturpolitiichem Gebiete erringen Tonnte, 
warum die Teutfchen der Provinz ihre fulturellen Bedürfniffe außerhalb der 
Övenzen des Staates zu befriedigen fuchten. Man halte mir nicht die Bauten der 
Ringitraße, die Wiener Werkjtätten, die Hofbühnen, das Miufikleben in Wien vor. 
Sie find alle einfane Blüten, hoch und edel, die aber nie im Volle felbit fußen. 
Die Wiener Werfftätten find nicht das Produkt Wiener Charaltere, fondern die 
Schöpfungen einiger wenigen, die mit der Zeit fehablonenhaft wurden und nie 
im Bolfe wurzelten. Wer die Raum- und Wohnungshultur eines Volkes tennen 
lernen will, muß in die Wohnungen de3 Mittelftandes geben. Aus einem 
Bemiih von Altwiener Art, „altdeutfchen” Möbeln, unedten Mahagoni, 
ihlehhten Zarbendruden und einer befonderen Vorliebe für unechten Tand Ipricht 
mt das beiwußte Kulturbedürfnis der Bewohner. E3 war mehr Kultur in den 
führenden SKreifen zu jener Zeit, Da die Bauten der Ringftraße entitanden, als 
in dem lebten Naheschnt, als da3 Gebäude des Kriegsminiſteriums entſtand. 
Wien war einmal eine Pflegeſtätte der Muſik trotz des Schickſals eines Beethovens 
und Bruckners. Heute aber iſt es die Heimat der Operette, die ſechshundert- bis 
tauſendmal hintereinander vor vollen Häuſern gegeben wird, und die ſelbſt 
Schuberts und Beethovens Motive zu Operettenmelodien herabzieht. Wer Wien 
als Kulturſtätte kennen lernen will, der beſehe ſich die Auslagen in den ver- 
ſchiedenſten Stadtteilen. Aus dem Angebotenen kann er auf die Bedürfniſſe 
ſchließen. Er forſche nach einem öſterreichiſchen Buchhandel, nach dem öſlier⸗ 
reichiſchen Kunſtgewerbe, vergleiche die Tageszeitungen mit ihrem Intereſſen⸗ 
gebiete, beſuche Geſchäfte jeder Art. Ich bin überzeugt, er wird überall Teil—⸗ 
nahmsloſigkeit finden für das, was jenſeits eines augenblicklichen Sinnengenuſſes. 
liegt. Der Wiener iſt ein oft genial veranlagter Willensſchwächling. Wer aber 
leichte, lebhafte Anregung, Befreiung der Seele von den Sorgen der Arbeit ſucht, 
wer lebhaften Meinungsaustauſch wünſcht und göttliche Sorgloſigkeit, auch feinen 
Lebensgenuß, der gehe nach Wien. Hier kann man leben; arbeiten aber nicht. 
Wer Arbeit ſucht, die vorbauend für die Zukunft der Gegenwart nützt, und das 
Erdachte in Wirklichkeit umſetzt, der wird in Wien keine Befriedigung finden. 
Und ſelbſt das ſonnige Familien- und Geſellſchaftsleben früherer Zeiten iſt im 
Ausfterben. Das Wohnungselend und die allgemeine Teuerung hat den Wiener 
ins Kaffeehaus gedrängt. Dort feiert er ſeine Geſellſchaften. Mit der Verarmung 
des häuslichen Lebens — welche Feinheit liegt in den Biedermeiermöbeln — 
erſtarb ein gut Teil ſeiner Gaſtfreundſchaft, ſeiner Hausmufſik, ſeiner perſönlichen 


⁊ 


106 Die kulturelle Bedeutung Wiens 


— — — 


Liebenswürdigkeit — er verarmte perſönlich, ohne in der Mechanifierung des 
äußeren Lebens einen Ruhepunkt zu finden. 

Eine Stadt aber, die nicht produktiv, ſchaffend voranſchreitet, kann nicht 
Führerin ſein. Wo das Provinzleben nicht mehr in den Ausläufern der Bieder⸗ 
meierzeit wurzelt, ſuchte es Anſchluß an das reichsdeutſche Kulturleben. Und ſo iſt 
Wien auch kulturell verarmt und hat ſeine höchſte Aufgabe, Vermittlerin deutſcher 
Kultur und deutſchen Weſens nach Oſten zu ſein, nicht erfüllt. 

Hat der Oſterreicher ſich ſeinen Beamtenſtand geſchaffen, oder iſt er ein Produkt 
der Zentralämter und dieſe ein Spiegelbild der Stadt, in der ſie lebten, Wiens? Volk 
iſt das Primäre, Staat das Sekundäre. Das Volk iſt etwas Gegebenes, Ungewolltes, 
der Staat das Gebilde des menſchlichen Willens. Jedes Volt hat den Staat, den 
es zu ſchaffen vermochte; denn der Staat iſt nichts als der Ausdruck der politiſchen 
Willenserſcheinung des Volkes. Wie das Volk, ſo der Staat, ſo ſeine Beamtenſchaft. 
Dieſe Sätze enthielten das vernichtendſte Urteil über die Völker der Monarchie, 
wenn der öſterreichiſche Staat wirklich der Ausdruck eines Volkes geweſen wäre. 
Der Wahrheit nach aber war er nichts anderes als der Ausdrud der Dynaftie 
mit ihren verſchiedenſten, oft entgegengeſetzten Schwankungen politiſchen Wollens. 
Dynaſtie und Volk trafen ſich aber in Wien in ihren eigenſten Charaktereigen⸗ 
tümlichleiten. Es iſt noch fraglich, ob nicht das Volk erſt durch den Staat und 
ſeine Beamten das geworden iſt, was es heute iſt, ob nicht die weiche, gefühls⸗ 
mäßig urteilende Art des Süddeutſchen in Wien der Autorität der Dynaſtie und 
des Staates unterlag. Keine Stadt des deutſchen Reiches würde eine ſolche wirt⸗ 
ſchaftliche Not während des Krieges ſo ohne offene Auflehnung ertragen haben, 
wie Wien. Das war nicht allein Mangel an Energie, keineswegs tiefere Einſicht 
in die Notwendigkeit des Ertragens, das war eine Fähigkeit des Verzichtens und 
Duldens, wie fie keine Stadt Deutſchlands aufbrachte. Der Wiener hatte ſich 
trotz alles Schimpfens und Raunzens in die ſchwierigen Verhältniſſe gefügt, ohne 
eine offene Auflehnung zu verſuchen. Freilich ließen die Zeiten ihre deutlichen 
Spuren zurück; in einer erhöhten Rückſichtsloſigkeit im kleinen und großen, Un⸗ 
höflichkeit und Erregtheit im perſönlichen und öffentlichen Verkehr und einer 
vollſtändigen Teilnahmsloſigkeit an gemeinſamen Angelegenheiten äußerte es ſich. 
Es iſt mir zur Gewißheit geworden, daß der Wiener einen guten Teil ſeiner 
ſchlechten Eigenſchaften von dem allmächtigen Beamtentum der Monarchie und 
beſonders der Zentralämter übernommen hat. Denn man darf nicht vergeſſen, 
daß in allem und jedem der Hof und die Amter der tonangebende und maß—⸗ 
gebende Teil der Bevölkerung war, dem der Bürgerſtand blind folgte. Beamter 
zu werden, war das erſehnte Ziel des Wiener Kleinbürgers. Im letzten Grunde 
trägt jeder Beamtenſtand den Charakter ſeiner oberſten Führung an ſich. Der 
öſterreichiſche Beamtenſtand war, ſoweit er deutſcher Herkunft war, nie national 
intereſſiert; für ihn war, wie für das Heer nur die Dynaſtie, nie der Staat, 
maßgebend. Erſt durch das ſtarke Eindringen Nichtdeutſcher auch in die oberſten 
Amter kam ein ſtärkeres Nationalempfinden auf, da man ſich in ſeiner Exiſtenz 
und Vorrückung bedroht ſah. Ziel und Zweck eines jeden Bewerbers um eine 
Beamtenſtelle war, ein ſicheres, penſionsberechtigtes Unterkommen zu finden und 
vorzurücken. Nicht die Begabung und Fähigkeit, nicht die Arbeitsleiſtung war 
dabei maßgebend; maßgebend waren die Verbindungen und Bekanntſchaften mit 
Abgeordneten, hohen Staatsbeamten, der Geiſtlichkeit; das ſicherſte Mittel aber 
war die Empfehlung einer dem Hofe naheſtehenden Perſon. Wer einmal darin 
war, fühlte ſich ſicher, Um vorwärts zu kommen, war nur Gefügigkeit nach 
oben, Tyrannei nach unten notwendig. Bei allen wichtigeren Angelegenheiten 
ſchob einer den anderen vor, einer deckte ſich hinter dem andern, ſchob dem 
nächſten Untergebenen die Arbeit zu, lehnte jede Verantwortlichkeit ab, ſolange 
als das günſtige Ergebnis nicht ſicher ſtand. So gingen die beften Errungen⸗ 
ſchaften aus den Haͤnden niederer Beamten hervor, wenn auch die höheren die 
Ehre beanſpruchten. Unter dieſem Mangel an Verantwortungsfreudigkeit ver⸗ 
ſumpfte alles und kam nur wenig Gutes zutage. Da nicht die Arbeit, ſondern 


Die Zulturelle. Bedeutung Wiens Ä 107 





nur Gefügigfeit gewertet wurde, fo drängten fi fchlieglih nur die Mittelmäßigen 
in die Amter, in denen fie ein wenn auch fchleht bezahltes, aber doch fichereß 
und bequemeß Zeben erhofften. Die Krönung erhielt die Auswahl der Mittel- 
mäßigfeit jchließlih durd die Dienftpragmatif, die die Vorrüdung nicht von der 
ssäbigfeit, fondern der Zahl der Dienftjahre abhängig madıte. Da fo viele Stellen 
fo viele Bekannte unterzubringen hatten, von den Nichtdeutfchen jede Beamtenftelle 
aber al ein Bolitifim betrachtet wurde, defien Gewinnung von nationalem 
Interefje war, jo waren die Amter bald derartig vollgefült, daß die Arbeit bei 
einer jehr funftvollen Arbeitsteilung nocd) langfamer vor fi ging. An feinem 
Beamtentum ift die Monardie fchließlich zugrunde gegangen. Unentichloffenheit 
und Zaghaftigkeit der öfterreichiich-ungarifhen äußeren und öfterreihifchen inneren 
Politit war zum guten Teile ein Ausflug des Beamtendarafterd, der allerdings 
eine Stüge an der mangelnden Willengftärfe und der Ziellofigfeit der Dynaftie 
fand. Daß ftetige Schwanten zwiichen zentraliftifger und föderaliftiicher Negie- 
rungdform, da8 Ausfpielen der Nationen gegeneinander, der ftet3 wechlelnde 
nationale Kurd vermehrte nur die Unficherheit und Berantivortungsfurdt des 
Beamtenitandes, zumal des höheren, der immer um die Stellung bangie. Daher 
ftand aud) die Beamtenichaft jeder Neuerung, Verbefferung oder Umänderung im 
borbinein fremd, wenn nicht feindlich gegenüber. Diefer Geift wirkte nun auf 
alle Streife über, mit denen der Beamtenjtand dienftlic und privat zu tun Hatte. 
Er war in Wien emporgewadhljen, drang in die Provinz und mwelt- und gegen- 
wartäfremd wie er war, trat er bald in fehroffen Gegenjag zu den beftehenden 
politiichen, nationalen und fulturellen Beitrebungen derfelben. Am wenigiten in 
Bien, wo die Beamtenlaufbahgn der Traum ded Stleinbürgertum® war, und 
da8 Prinzip de8 Zuwartens, Zufriedenfeind und Niht-Wagend zum inneren 
Eharafterzug der Bepvölferung geworden war. Die Provinz aber, die deutfche 
wie die nichtdeutfche, Ichrieb Wien, dem Sit der Zentralgewalt, die Schuld des 
Beamtentumg zu. 


Dan möge mid nicht mißverftehen. Die vorgehende Eharakteriftit Hatte 
den Swed, jene Seiten de3 Wiener Wefens feitzubalten, welche zu der Sjolierung 
führten, an der die Stadt litt, und die e8 verhinderten, daß Wien Kulturfattor 
für Deutih-Ofterrei) und Bermittler deutihen Wejend nad Often wurde. Wer 
fie finden will, wird auch gute Seiten im Wiener Wefen finden, trefflihe Ein- 
rihtungen und Hervorragende ARunftleiltungen. Ihre Wirkung aber ging leider 
unter dur) Die Stehrjeiten bes Wiener Welend. E83 ift der Zluh der Stadt 
gemeien, daß fie Haupt- und Refidenzitadt wurde. Diefen Anforderungen waren 
ihre Bewohner nicht gewachlen. Shre Sraft liegt in der Pflege eines feinen, 
perfönlichen Lebens, einer Haußfultur, die nicht weniger befrudtend wirken kann, 
al8 die glängenditen organifatoriihen ZLeiftungen. Sie wirfen nicht fo über- 
wältigend, aber eindringlicher, bejonder8 auf fremde Bölfer. Wer die NRelte 
alten Wiener Lebens, wie fie filh noch einzeln erhalten haben, fennen gelernt bat, 
wird e8 bedauern, daß dieje alte Kultur unter den mechanifierenden Yorderungen 
der neugeitlihen Hauptftadt zugrunde gegangen if. Er wird den mohltätigen 
Gegenjag zu dem nüchternen, gejegmäßigen Zeben Berlins empfinden, daS leichtere, 
freiere Sühlen und Denken, daß forglojere Genießen, den ganzen göttlichen LXeicht- 
finn, wennn er auch nidht al3 arbeitender Deenfch in Diefer Stadt leben möchte. 

Wien war fein Sulturfaftor, aber e8 fan e8 werden, da e8 mit dem Ber- 
fall der Monarchie aufgehört Hat, Nefidenzftadt zu fein und bei der gegenwärtigen 
Neugliederung auch nicht Großftadt bleiben fann. Der größte Zeil der Wien 
widerftrebenden Elemente der Monardie hat mit der Selbftändigfeit der Nationen 
aufgehört, für Wien in Betraht zu fommen. Zreilid, und daran ift fein Zweifel, 
wird aud) der legte Net der wirtichaftlichen Überlegenheit der Stadt damit [hmwinden, 
zumal die Induftrien nicht in Inneröfterreich liegen. Aber Rohprodufte, namentlich 
über Kohle, verfügt Deutih-Ofterreih nicht. Und die induftriereihen beutichen 
Gegenden Böhmend, Mähren? und Sclefiend gehen verloren. 3 widerjpricht 
den geopolitiihen Grundjäßen der Staatsentwidlung, daß dieje Zeile dauernd bei 


108 Die Fulturelle Bedeutung Wiens 








Deutih-DOfterreich bleiben "könnten. Denn Borbedingung für ein feite8 Staat3- 
iwefen ift die Verbindung feiner Teile; dieje Verbindung aber ift weder nad 
Deuifhböhmen, noh nah Sclefien und die großen beutfhen Spradinfeln 
Mährene möglih. Mberall fchiebt fih der tichecho-flowatiihe Staat dazmwilden. 
Nur Südmähren fteht mit der jungen Republik in unmittelbarer Verbindung. 
Deutihböhmen und Schlefien müflen daher den unmittelbaren Anihluß an daß 
beutiche Reich fuchen, und werden e8 auch in der Zulunft tun, felbit wenn die 
Triedensbedingungen fie in den tichecho-flowalifhen Staat zwingen würden. Er 
Deutfch-DÖfterreich aber find e8 ebenfo verlorene Gebiete, wie die Spradinjeln 
Mährend. Anders fteht e8 mit ben Alpenländern. Bon dort führen die einzigen 
Berbindungswege über Wien. Nur Zirol findet feinen natürliden Anihluß an 
Bayern und nod) ift e8 zweifelhaft, ob diefe8 Land dem künftigen Staate Deutid- 
Dfterreich angehören wird. Sedenfall3 aber umfdließt daS fünftige Yand durd)- 
weg eine Bevöllerung von ähnlicher Veranlagung und ähnlihem Wefen. Damit 
ift bereit$ eine geiftige Einheit gegeben. Wien wird aber auch nicht mehr der 
Anziehungspunft für Die entgegengefekteften Elemente fremder Nationen fein. Mit 
dem Verihmwinden der Dynaftie und dem Macdhiverluft des Adels, dem Untergang 
der hohen Generalität ift eine größere Treihbeit de8 individuellen Außlebens 
ermögliht. Die Auflöfung der Zentralämter befreit die Stadt überdied von ber 
Nberzahl einer Beamtenfchaft, die nur fulturfemmend gewirkt bat; diefe Befreiung 
fann umfo befreiender werden, al3 der Staatsrat bereit die Penfionierung der 
dazu Berechtigten und GSecdzignjährigen verfügt hat. Ein verminderter Beamten- 
ftand mit jungen Sträften verjpricht größere Leiftungsfähigfeit. Bürgerihaft und 
Arbeiter find heute auf fich feldft geftelt. Wien ift der Mittelpunft eined fleinen 
Staates geworden mit einer Bevölkerung von ähnlihen Eigenichaften. &3 ilt ein 
armer Gtaat, der unbedingt der Anlehnung an einen größeren Nahbar bedarf. 
Er ift ringgum von fremden Bölfern umgeben, die dem deutihen Bolfe alles 
andere ald wohlgefinnt find. Sein einziger Rüdenfchug bildet daS deutjche Reid). 
Snmitten diefer deutfchen Landzunge liegt nun Wien. Auch weiterhin iwerden bie 
Wege von Beiten nad DOften über Wien führen. Kulturell aber ift e8 der Aus- 
ftrahlungspuntt für Deutfch-Öfterreih. Seine Aufgabe wird e8 daher fein, bie 
Kräfte diejed geringeren Yandes in fid) — Und dazu dürfte ſeine 
Kraft reichen. Aber ſeine Bedeutung iſt eine tiefere. Eben weil Deutſch⸗Oſterreich 
eine deutſche Landzunge und rings von anderen Nationen umgeben iſt, ſteigt ſeine 
Bedeutung. Wie die alte Oſtmark iſt es wieder das deutſche Bollwerk nach Oſten, 
aber auch die Vermittlerin deutſchen Weſens an die Völker des Oftens. Und 
Wien als Mittelpunkt dieſes Staatenweſend iſt der Kernpunkt dieſer gewaltigen 
Kulturarbeit. Vermittlerin kann feine Stadt ſein, die Herrennaturen in ſich birgt. 
Kulturen übertragen ſich unbewußt. Freunde gewinnt man nicht durch herriſches 
Auftreten; nur die tiefe, abgeklärte, in ſich einheitliche Perſönlichkeit ſtrahlt ihr 
Weſen befruchtend und gewinnend auf andere Menſchen über. Und ſo iſt es mit 
Städten und Völkern. Wien, befreit von den hemmenden Elementen der Refidenz⸗ 
ſtadt und Großſtadt, kann ſeine alte Weſenheit wiederfinden; denn tot iſt ſie noch 
nicht. Nur das Hetzen und Jagen der Zeit vertrug die Stadt nicht. Sie iſt eine 
Stadt der Gärten und Fröhlichkeit, der ureigenſten Eigenſchaft des Süddeutſchen. 
Darin liegt ihre kulturbringende Stärke. Wenn ſie den Anſchluß an das deutſche 
Reich findet und die verſtandesmäßig gefundenen Errungenſchaften des Weſtens in 
heiterer Form dem Oſten weitergibt, wird ſie ihre große Aufgabe löſen. Die 
inneren kulturpolitiſchen Aufgaben ſind leichter zu erfüllen, da die widerſtrebenden 
Elemente ſich abgeſondert haben und für die Zukunft kein Grund des Mißtrauens 
mehr vorhanden iſt. Ob ſich aber die geringen notwendigen Kräfte nach den 
folgenden ſchweren Jahren finden werden, muß ſich zeigen. Die Mechanifierung 
der Arbeit hat hoffentlich das Grundweſen nicht ganz verdorben. 


—— 





Ueber die Zukunft Elſaß⸗Cothringens 109 





Über die Zukunft Elſaß-Cothringens 


Don Studienrat Dr. Manfred Eimer 


ine eljaß-lothringiihe „Autonomijtenpartei“, welche die Freiheit im 
Bolksitaat Bayern für fih außnugt und von dort aus für die neutrale 
A A und unabhängige Autonomie Eljaß-Lothringend Bropaganda madt, 
4 hat kürzlich durch das Wolffſche Telegraphenbureau einen Artikel über 
—XAeine angeblich deutſchfreundliche Kundgebung der Arbeiter in Mül— 
& * >) haufen (ELj.) verbreitet, welcher bier und dort einige Hoffnungen 
auf eine bedeutungsvolle Wendung in der Stimmung über dem Rhein gemwedt zu 
haben jheint. Dem Eingeweihten ift e8 Elar, daß diejer jcheinbar deutjch-freund- 
liche Artifel aus München nur eine alle war, um die Autonomiftenpartei als 
etwa8 Unbedenfliche8 erjcheinen zu laffen. In Wirklichkeit ift fie der Ausflug 
jene NationaliSmus, der in feiner Deutfchfeindlichkeit jattfam befannt ift, und 
ftrebt nit, wie e8 in dem Artikel hieß, die Autonomie „in irgend einer Yorm“ 
an, fondern lehnt jede Geftaltung der politiihden Berhältniffe ab, die nicht zum 
jelbjtändigen Bufferitaat führt. 

Wir Haben alfo die Agitation für dieje, Auflehnung gegen jede politiiche 
Gemeinfamteit mit Deutihland bedeutende, feindfelige Haltung mitten unter uns. 
€3 ift jedoch, nad) dem Inhalt des Werbeblatte8, welches die Partei verteilt, auS- 
geihlofien, daß die NeichSleitung diejfem ZTreiben irgendwie nahe ftehbt. Ganz 
unmöglih wäre ja an fich die Förderung einer Bewegung, die durch da8 Selbit- 
beſtimmungsrecht das Reichsſsland von Frankreich Toszureißen verfudhte, nicht, 
Aber ſie wuͤrde ſich dann doch nicht der Werbetrompete bedienen, die von Deutſch— 
land nichts weiß, als daß es Elſaß-Lothringen — das ſanfte und frommel — 
gänzlich ungerechtfertigt, brutal unterdrückt hat. Auf dieſen Ton aber iſt die 
Trompete der Autonomiſtenpartei geſtimmt; es iſt der Ton, welcher Frankreichs 
Revanchegelüſte belebt und geſtärkt und uns den Haß der ganzen Welt, ſchließlich 
den Krieg gebracht hat. Dieſe Autonomiſten denken nur an ſich, keineswegs an 
Deutſchland. Sie ſind Elſäſſer und Lothringer, keine Deutſchen. Sie ſind Ale— 
mannen, „wie die Schweizer“; aber von den badiſchen Alemannen, zu denen ſo 
viele Elſäſſer hamſtern kamen, wiſſen Sie ganz und gar nichts. Dagegen wiſſen 
ſie von einem angeblich tauſendjährigen Streben und Lechzen des unterdrückten 
und immer von den Nachbarn eroberten Landes nach Selbſtändigkeit. Sie wiſſen 
aber nichts davon, daß es eine blühende Hohenſtaufenzeit und eine glänzende 
Humaniſten- und Reformationszeit im Elſaß gab, wo namentlich Siraßburg unter 
den ſüddeutſchen Städten einen Ehrenplatz einnahm, und ſie wiſſen auch nichts 
davon, daß das Gebiet von Elſaß-Lothringen erſt durch Deutſchland zu einem 
wirklichen Lande wurde, während man vorher nur von Landſchaften und dann 
von franzöſiſchen Departements ſprechen konnte. 

Kurz, die Einſeitigkeit der Betrachtung und die Ablehnung von allem, was auf 
ein engeres, rühmliches oder nutzbringendes Verhältnis zu Deutſchland hindeuten 
würde und eine Annäherung im Schoße bergen könnte, iſt ſo vollkommen, daß wir 
ruhig geſtehen können, daß dieſe neutrale Selbſtändigkeit für uns Deutſche im 
Reich doch nur das etwas kleinere von zwei überaus großen ÜUbeln bedeuten würde. 

Da macht man nun aber ſeltſame Erfahrungen. Daß im Elſaß ſelbſt viele 
Deutſche ſehr zufrieden mit der neutralen Autonomie wären — anſtatt der zweifel— 
los heute unerreichbaren bundesſtaatlichen, — iſt leider Tatſache. Es machen 
ſich da zum Teil perſönliche, materielle Umſtände, oder, — wie das ja 
ſein Spiegelbild im Hinblick auf elſäſſiſch-franzöſiſche Verwandtſchaften hat — ver— 
wandtſchaftliche und, bei den Nachkommen Eingewanderter, heimatliche Gründe 
ſtark geltend. Vielfach iſt es freilich auch die uns nun einmal anhaftende, politiſche 
Stumpfheit. Dies war alles in der Zeit ſehr deutlich wahrzunehmen, als das 
Miniſterium Schwander den Bundesſtaat organiſieren ſollte, Ricklin, dieſer Haupt— 
achſelträger, das durchkreuzte, und ſodann der Einmarſch der Franzoſen bevorſtand. 





110 Ueber die Sufunft Elfaß-Kothringens 





Auh wenn man jegt im Reiche felbft von der elfaß-lothringiihen An- 

gelegenbeit fpricht, fo findet man vielfah innige Sympathien für die neutrale 
Autonomie. Dies ift durchaus loyal gedacht, die, weldhe fo denken, meinen eben, 
daß da8 Land dann doch wenigftens nicht franzöfiich werde; daß der Rhein nicht 
wieder die franzöliiche Grenze bleibe. Das ift gewiß richtig, und politiih mie 
militärifh von ungemeiner Bedeutung. Aber auch diefe „Autonomilten“ denten 
do wohl nicht Scharf genug, wenn fie mit leuchtenden Augen von dem Selbit- 
beftimmungsrecht de& Reich8landes fprehen. Man muß die ganze Srage überaus 
nüdtern betrachten. 
B Und fommt man dann aud) zu dem Schluß, daß unter obwaltenden Ber- 
hältniffen die neutrale Gelbftändigfeit nod) das Beite wäre, jo wird man dennod 
darüber fehr fühl zu urteilen haben. Und zwar gerade, wenn man, aud) obne 
bie fonftigen Berhältnifie, Stimmungen und Borlommniffe im ande vor dem 
Serieg und mährend besfjelben genauer zu fennen, den Ton, auf den die Mündner 
ne geftimmt ift, d.h. völlige Ablehnung. alles Deutfchen, auf fid) 
wirfen läßt. Ä 

E3 gibt deutfch denkende Elfäfler, welche in der Autonomie da8 Zukunfts⸗ 
heil ihres Ländchens erbliden und große, deutiche Hoffnungen darauf jegen. Eben 
diefe aber müfjen fich eingeftehen, daß fie nicht einmal während bes yriedend und aud) 
nicht während des Kriege3 unter dem Schuß der deutichen Bajonette ihre deutjche 
Gefinnung offen oder doc unangefeindet fundtun durften. Das elfaß-Lothringifche 
Bolk ift, niht zum mindeften durch den Landtag, jo gänzlich an Deutichland vor- 
beigeführt worden, fo fyftematifh allem Deutichen al8 etiva8 Miindermwertigem und 
Miderlihem enifremdet worden, daß e3 von „deutfh“ nun .eben einmal einfad 
zumeiſt nichts wilfen will. 

C3 ift alfo gar nicht abzufehen, wie die deutfch gefinnten Elemente, felbit 
wenn fie Heroen an Mut und Zatendurft wären, die Autonomiftenpartei und ihre 
Anihauungen und Befühle überwinden follten. Diefe Autonomtitenpartei wird, wenn 
die Neutralität zuftande fommen follte, tonangebend im Lande fein. Um fie 
werden fich auch jene geiftigen Helden fcharen, die im November 1918 deutiche 
Denkmäler in Straßburg - verwüfteten und fchändeten, und deren Ebrfurdt 
vor den deutſchen Hochſchullehrern fih darin fundtat, daß fie Ddiefelben, al® 
fie audgewiefen ivaren, an der Nheinbrüde auf da8 Pöbelbaftefte infultierten. 
So benahmen fih die elfaß-Lotäringifhen Studenten, aljo die fünftigen 
Beamten und Arzte de Landes, die Angehörigen de8 von jeher politiich 
als Inbegriff des Deutſchenhaſſes anrüchigen cercle. Dieſe werden aber, 
zuſammen mit den Führern der heutigen Autonomiſtenpartei, ſowie die Neu- 
tralität erreicht ſein ſollte, alles daran fegen, eine ebenfo fcharfe und jelbft- 
herrliche Sceidelinie zwiihen Deutichland und Eljaß-Lothringen, wie zwiichen 
Sranfreih und Elfaß-Lothringen zu Ichaffen. Geiftig werden fie zwar aud) fünftig 
sranfreic) in allem den Vorzug geben und Deutichland veradhten. Aber An- 
lehnung werden fie, jedenfall was das Oberelfaß betrifft, bei der Schweiz fuchen, 
in Lothringen vielleidht bei Luxemburg und Belgien. Dieje Staaten jchweben 
ihnen ja als Muſter vor. 

Da vergeſſen nun die lieben Deutſchen mit merkwürdiger Geſchwindigkeit, 
daß im Falle ſeiner Neutralität Elſaß-Lothringen volles Ausland geworden fein 
wird! Man denkt da, das ſei nicht ſo ſchlimm; das Elſaß und Lothringen ſtünden 
uns dann noch ſo halb und halb zur Verfügung; man könne da geradeſogut und 
bebaglich wohnen und leben, wie bieher. Man vergißt dabei die doch nur durch 
die Pickelhaube mühſam unterdrückte, aber dennoch ſo unangenehm fühlbare 
Gehäſſigkeit; und man denkt nicht an die „Gaſtrolle“, die man den Eingewanderten 
ſchon im deutſchen Zeitraum nur widerwillig und feindſelig zuwies und am liebſten 
nicht zugeſtanden hätte. Der Deutſche iſt merkwürdig geduldig und von überaus 
kurzem Gedächtnis! Die Autonomiften werden, wenn fie durddringen und fid 
als Sieger fühlen, alles tun, um die Selbitändigfeit in jeder Hinficht zu betonen. 
Das wird zunädjt die Form von Stinderfrantheiten und Stinderunarten annehmen. 





Ueber die Zufunft Elfaß-Kothringens 111 


Aber verfchwinden wird e8 nie; und al8 Bodenfag wird nicht Sgranzofen-, fondern 
Deutichenfeindlichkeit bleiben. Daran werden aud) die Gemeinden de8 nördlichen 
Elſaß, namentlich die proteftantifchen, nicht viel ändern. Dort find die GStäbdte, 
poran Straßburg und Zabern, doch tonangebend, und wo die fatholiiche Geiftlichkeit, 
die ganz gewiß nicht8 ungeichehen läßt, um für die Neutralität Stimmung zu 
maden, regiert, ilt für Deutijhland in alle Ewigkeit nihtd zu erreichen. an 
darf nicht vergefien, daß Elfaß-Lothringen ein Glied der Kette Roms tft, die e8 
um dag proteitantiihe Deutfhland Her befigt, von Weitfalen bi8 Bafel und vom 
Bodenjee über Bayern, Böhmen und Schlefien bis nach Weftpreußen!| 

Wir dürfen und auch nicht von einem allmählichen Deutichwerden erträumen, 
weder wa8 da8 Zandvolf noc) was die Städter angeht: Die Autonomiften werden 
war das Franzöfilche wieder zurüdichrauben, aber fie werden da8 Elſaß dennod) 
äweilprahig machen. Da8 Halten fie für ein befonderes Stennzeichen feiner 
Eigenart. Ob fie im franzöfifch prechenden Lothringen ebenfo die deutihe Sprache 
in den Schulen einführen, muß jich erft zeigen. Auf alle Fälle aber ilt nicht 
daran zu denfen, daß der größere, franzöjiiche Teil von Xotbringen, der deutfchen 
Snduftrie beraubt, jemals von jelbft nach Deutihland zurüdgreifen wird. Cbenfo 
wird da8 HOberellaß, frangöfiiher Sympathien und deutihen Hafles voll, An- 
näberung niemals nad) Deutichland, fondern nad) der Schweiz fuchen. &8 blieben 
aljo aud) unter diefem ®efihtspunft wieder nur die paar nördlichen, vor allem 
die ehemals heſſiſch-hanauiſchen Kantone. | 

Wie wird e8, neben diefer eingefeflenen Bevölkerung, die feine Einheitlichkeit 
aufmweilt, fünftlig — die Neutralität voraußgefegt — mit der Einwanderung 
beichaffen fein? 

Zweifellog werden die Zranzojen nicht ruhen, ihr Beftes zu fun. Bor- 

earbeitet wurde ja jchon ‚während des Kriege genug. Ein förmlicheg Ne über- 

anne die elfäfliihen Städte. Geld Hierfür. wird auch fpäter vorhanden fein. 
SDb allerdings Tyranfreich viele Menfchen abgeben würde, ift eine andere rage. 
&3 hat feinen Überfluß daran, und berbeigiehen wird man fie nit gerade. Die- 
jenigen, die in ‚Betradht fümen, find den entiprechenden deutichen Elementen dod 
nicht ebenbürtig. Das weiß der Elfäfler jehr wohl. Wenn er alfo Menden, 
bejonder3 Arbeiter, braucht, jo jucht er fie vielleicht bei Deutihland? 
| Diefe Gefahr Liegt nahe. Ich fage, diefe Gefahr. Denn auch) Deutfchland 
braudt jeine Arbeiter felbit. E83 wird ohnedied leider wieder zu den Stalienern 
greifen. Eine ftarfe Abwanderung nad) dem Eljaß und den lothringifchen Hütten- 
werfen wäre volfwirtichaftlich für dag Elfaß ebenfo wichtig wie e8 für Deutich- 
land jhädlich wäre. Auf die angeblich deutichfreundlide Mülhaufer Kundgebung, 
die nur eine Lohnbewegung war, darf man nichts geben. Aber e8 wurde im 
YZufammenbang damit doch fhon darauf Hingemwielen, daß fait ein Viertel der 
ganzen in Eljaß-Lotbringen verbleibenden Bevölkerung deutiche Arbeiter feien. 
ann man darauf oder auf nod) meitere Zuwanderung irgend etwas, wa einer 
deutfhen Hoffnung ähnlich fieht, aufbauen? Ic glaube faum. E38 ift leider wahr, 
obichon betrübend: diefe Arbeiter — die überdies fozialiftifh, alfo nicht beflimmt 
deutich gerichtet find —, werden alle dem BDeutichtum verloren gehen. Sin der 
zweiten Generation find fie Elfäffer und Lothringer. Und was heißt das dann? 
Sie werden jedenfall nach Deutfchland nichtd mehr fragen. Sie werden niemals 
einen Sauerteig bilden, au8 dem eine deutihe Richtung im neutralen Eljaß- 
Lothringen erwachlen fünnte. Und überdied wird fon in der zweiten Generation 
etwa8 von dem bemerfbar werden, wa® wohl zweifellos da3 Schidjal des Landes 
fein wird: e8 werden fich neben den Eingefeflenen in ihren verjchiedenen Abarten 
und neben den anfäljjig gewordenen Deutfchen und ssranzofen auch fonit allerlei 
Elemente im Lande zujammenfinden. Da8 ift ja in diefen fleinen Grenzgebieten 
überall jo. Und aus diefem Gemifcd) wird fi) ein Etwaß heraußbilden, welches 
in Zon und Bildung den Ruremburgern und Belgiern fehr Ähnlich werden wird. 
Der Eljäfer it zu einer folden Ungelchliffenheit jchon heute geneigt. Und e8 wird 
Daber da8 Schidjal diefer Bevölkerung fein, eine im allgemeinen wenig hochftehende 


112 Heber die Zukunft Elfaß-£othringens 


Miihung zu werden, anitatt, wa8 der deutfhe Bundesitaat dem Volle geboten 
a eine beftimmt gerichtete und nad) und nad) an daß Deutichtum feit angefittete 
inbeit. 

Alfo jehr pe 10 wird fi) Died Nahbarland Baden und de$ NRhein- 
landes nicht gerade geftalten und eniwideln, weder politifh noch völfiih. &3 ift 
da nicht viel, wa8 uns verjöhnen fanın und ung ermuntern könnte, für die neutrale 
Autonomie zu Jhmärmen. 

Aber große Hoffnungen fegt man auf die geringe Finanzfraft des Landes 
und auf wirtschaftliche Notwendigfeiten, die auf eine Annäherung an Deutichland 
zu weilen fcheinen. Wenn man fi da nur nicht täufhtl Einmal werden aud 
die anderen angrenzenden Staaten, nicht nur Deutfchland, Wettbewerber um alles 
fein, wa8 Eifaß- Lothringen bieten fann. Sodann aber weiß man ja noch gar 
nit, in weflen Hände die Bodenfhäge de8 Landes an Sali, Sohle, Eijen und 
anderen Metallen übergehen werden? Wer der Hauptpächter wird? Das fünnte 
3. B. Amerifa fein. Dann ift e& mit der SHauptorientierung nad) Deutid- 
land vorbei. 

Man fiebt, abgefehen von dem großen und audh moraliih nicht Hoch genug 
au fchägenden Vorteil der für Sranfreid verbleibenden bisherigen, d. 5. vom Nhein 
ferngehaltenen Grenze ift mit dem Begriff Autonomie für Deuncland wahricheinlid 
nicht viel gewonnen. Ob die Widerftände, die fi) gerade gegen ein neues, 3.2. 
wirtschaftliches Einvernehmen mit Deutihland erheben würden, leiht zu breden 
wären, ob überhaupt rein menfchlich auf Sahrzehnte hinaus nicht eine Unmöglichkeit 
der Wiederannäherung bleiben wird, ift jehr fraglid). Ale Straßburger Münflier- 
Romantik aber ift vom größten Mpell Man made den Schnitt, wie er verlaufen 
wird, und glaube nicht an freundliche Begegnung der Abtrünnigen mit denen, von 
denen fie abgefallen find. Und behalten wir unjere Kräfte im Landel Der Glaube 
an friedliche Eroberung in fünfzig, Hundert Sahren dürfte trügen. Wo der Deutide 
friedlich durchdringt, verliert er fich felbft. Und wir Haben wirklich feine Ber- 
„pflihtung, einem Staat, der glaubt, ohne uns beitehen zu können, das Koftbarfte 
— Menfcdyenmaterial — dazu zu liefern. | 

Diefe Gefahr droht ung Deutfhen ja aud fonft, 3. ®. mit bisherigen 
Offizieren. Auch Zechnifer werden ung weggelodt werden. Das Elia und 
Lothringen werden auf die Dauer gar nicht ohne deutfche Hand- und Kopfarbeiter 
auskommen fünnen. Der Weggang aller der fleißigen und guten Sträfte, welde 
im Lande tätig waren, wird faft einer SRataftrophe gleihfommen, wenn der fünftige 
Staat Elfaß-Lothringen auf der gleihen Höhe bleiben will, wie bißher. Wa$ die 
Univerfität und die Damit zufammenhängenden Berufe anbetrifft, fo ift diefer Glanz 
und diefe Tüchtigfeit unbedingt dahin. Dan fennt jegt fchon Beilpiele genug, wie 
die politiihe Gefinnung da Ausfchlaggebende fein wird für die Bejegung ber 
Stellen, und Ablehnung (oder Berleugnung) d«S Deutihtums wird bie erite 
Bedingung dafür fein, während Hinneigung zu tranfreic) fein mejentlide 
Hindernis bilden wird. Wenn dad Land die Folgen zu jpüren anfängt, ift die 
Bevölkerung weiterhin fyitematifchh darauf erzogen worden, in Deuticdhland den 
hauptiädylichften Gegner zu fehen. Auch geiftig wird man fi, um ja nicht die 
früheren engen Bande neu zu fnüpfen, am allerwenigiten Deutichland nähern. 
Wad deutlicher Selehrtenfleiß für da8 Elfaß und Lothringen getan Hat, ift ein 
höchſt rühmliches Kapitel. Was deuiſche Technik Ban bat, ebenfo. Aber man 
wollte in Elfaß - Lothringen, dem Ruf gemäß: „das Eljak den Elfäflern!“ ulm. 
ja jchon längft diefer Eingewanderten ledig werden, die ald unbequeme „Bäfte” 
und al8 „Brottrefjer* über den Rhein gewielen wurden. Namentlich Hat der Zentrum? 
führer, der Buchdruder Hauß, darin al „Hausknecht des Elſaſſes“ Eitleckliches 
mit feinen Reden geleiltet. Diefe Stimmung gegen alle Altdeutfche, die fich aud 
auf geiltigem Gebiet zeigte und fih aud) auf die Ablehnung deutfcher Schrift- 
fteller eritredte, wird dad Leitmotiv für den neuen Staat fein. 

E3 wäre daher nit nur für den einzelnen verfehlt, fondern für dad Neid), 
dem man den Laufpaß gegeben Hat, unwürdig, wollte man dem Qande, welches 


Im Kampf um Tirol 113 


fein jelbftändiges Glied de8 Reiches jein wollte, und welches durch feine bornierte 
Haltung mit jhuld an dem über und gefommenen Unheil ilt, mit dem bei ung 
leider jonft jo üblichen ritterlihen Entgegenfommen unter die Arme greifen, 
indem man die Abwanderung deuticher Sräfte zur Rettung Eljaß - Zothringeng 
aus dem jelbiiverjchuldeten Rüdgang befördert! Eljaß-Lothringen Hat, wenn e8 
für neutrale Autonomie geltimmt hat, da8 Zuh zwilhen fih und Deutichland 
zerichnitten. Seine Bewohner wollen dann feine Deutjchen mehr fein; bemühen 
wir un? dann aber aud, fie nicht mehr al8 jolde zu betrachten. Auch hier mag 
der Katzenjammer, der ſchon kurz nach dem Franzoſenrauſch ganz naturgemäß ein— 
ſetzte, dann kommen, und zwar ein Katzenjammer großen Stiles. Aber man hat — 
auch aus elfaͤffiſchen Kreiſen ſelbſt — dem Volk oft genug vorgehalten, wie ſchwäch— 
lich es allein für ſich iſt, wie ſehr es von Natur auf Deutſchland angewieſen iſt, 
was für Vorteile ihm der Anſchluß an uns bietet. Wenn das alles, dem einmal 
wach gewordenen Trieb nach „voller Autonomie“ zuliebe, preisgegeben wird, wenn 
Elſaß-Lothringen von ung abfällt und uns gegenüber Ausland wird, jo ſei es 
dieß aber auch in unferen Augen! Wenn die Steuerzahlungen, die Deutichland 
durcdaufoften haben wird, bei diefem Abfall eine welentliche Rolle jpielen, jo 
muß der Deutjche, der deswegen Eljaß-Lothringer wird, veradhtet werden. Um 
jo mehr aber muß für ung recht3 de3 Aheines der Grundjag aufgeftellt werden: 
Bleibe daheim und nähre dich redlih! Und wir möchten Hoffen, daß es ein feiter 
Srundjag werde, getragen von dem Gefühl der Würde, daß wir denen, die ung 
bon fich ftoßen, au) nicht nadlaufen. 





Im Kampf um Tirol 


zr ie ordentliden PBrofefloren der Rechtsgeſchichte und Geſchichte an 
YW der Univerfität Wien, Dr. Hans v. Boltelini, Dr. Emil dv. Ottenthal 
und Dr. Oswald Redlih, machen ung als gebürtige Tiroler in 
Bezug auf die von Italien früher erhobene und nach allem An— 
— (chein jetzt leider erneuerte Forderung einer Abtretung des deutſchen 
Südtirols bis zum Brenner, auf die nachfolgenden hiſtoriſch— 
XC Zatihen aufmerfjam: 

1. Die Nordgrenze Stalieng erreichte niemal3 den Kamm der Bentralalpen, 
jondern lief auch zur Zeit der größten Ausdehnung Staliend in der römıjchen 
Staiferzeit nur am Yuße derjelben. 

2. Dur die Einwanderung der Bayern im jechiten Sahrbundert wurde 
aud) da3 Sebiet jüdlih big zur Salurnerflauje geichloflen von Deutjchen befiedelt. 
Bozen ift jeit fait vierzehn Sahrhunderten deutich. 

3. Im Sahre 952 wurde das Bistum Trient an dag deutjche Reich ange- 
gliedert. Al Ddeutjche NReichsfürften wurden die Bilhöfe von Trient von den 
deutihen Saifern mit der weltlihen Gewalt in den Grafichafıen Bozen. und 
Bintihgau belehnt, deren Ausübung fie an die Grafen von Tirol überlajjen mußten. 

4. Die Grafen von Tirol erwarben dann aud die weltliche Gewalt über 
den Beiig der Bilhöfe von Briren und damit die wichtigften Hobheitsrechte über 
das ganze, Heute gefährdete, Gebiet Tirold. Ihre Nacyfolger find jeıt 1363 die 
Hab3burger. Durch den Reichdeputationd-Hauptichluß von 1803 wurden beide 
Bistümer vollends jäkularifiert. 

5. Seit dem Auffommen der Landtage, das ijt feit dem vierzehnten Jahr— 
hunderte, nahmen jederzeit die Vertreter ded ganzen deutijhen Südtirold, das ift 
der jegigen Bezirföhauptmannfchaften Bozen, Meran, Schlanders, Briren, Bruned, 
an den Landtagen der Grafen von Tirol teil. 


Grenzboten I 1919 | 8 





114 Im Kampf um Tirol‘ 


6. Diefe Landeseinheit blieb ununterbrochen bi in die Gegenwart, auöge- 
nommen die Sabre 1809—13, mo fie durch durch die Gewalt Napoleons zerichlagen 
wurde, aber die Damals gezogene Grenze erwies fih als unhaltbar in Berwaltung 
und Wirtichaft. 

7. Da8 deutijche Südtirol ift gefchloffen von Deutfhen bewohnt, die fid 
durh Sprade und Kultur fharf von den Stalienern abheben. In dem in 
Punft 5 genannten Bezirfhauptmannjhaften wohnen 215 353 Deutjche, 9431 
Zadiner und nur 7047, alfo 3 Prozent Italiener, meift Arbeiter und Handwerfer. 
Auch in Bozen befinden fih nur 6 Prozent Staliener, während in Zrient über 
10 Brogent Deutjche leben. 

Die Ladiner bilden nad) Artung und Sprache einen eigenen Bolfdftanım, 
und haben fih aus wirtighaftlihden und völfifhen Gründen jederzeit gegen Ber- 
einigung mit den Stalienern audgefproden. . 

8. Daß deutihe Südtirol würde durch) die Abtretung an Stalien toirtichaft- 
lih ruiniert werden (Wein, Obftbau und Yremdenverfehr). 

9. Ein dauernder Friede würde dur die Abtretung einer fo großen Anzahl 
überzeugter Deutfcher unmöglid) werden (Stämpfe 1809). 

Erläuterungen: Niemals ift der Kamm der Zentralalpen die Nordgrenze 
Sstaliend gewelen, nicht einmal in der römifchen Saiferzeit, al3 Italien feinen 
größten Umfang erreicht hat. Damals Tief Staliend Grenze von ber Etichenge bei 
Meran quer bi8 zur Eifadenge füdlid von Klaufen. Wa8 nördlich diefer Linie 
lag, gehörte zur Provinz Nhäthien. Im fehlten Sahrhundert wurde diefe Grenze 
von den in den Alpen einwandernden Bayern durchbrochen. Sie bejegien das 
Eiih- und Eifadtal bis füdlic) von Bozen, da8 damals deutjch geworden ift. Die 
einwandernden Bayern drängten bald die romanijche Bevölkerung Rhäthiens und 
des von ihnen bejegten Bozener Gebiete in die Nebentäler des Eifad zurüd und 
bejiedelten die öde gelegenen Hochtäler und Bergrüden, jo daß das Land feit dem 
zehnten und elften Jahrhunderte im heutigen Umfange 5i8 auf den oberften 
Binifhgau, in dem fih Romanen nod biß ins vierzehnte und fünfzehnte Jahr 
“ Hundert hielten, gänzlic) zu einem deutfchen geworden ift. Die Grafichaft im 
Eijadtale wurde 1027 vom deutichen SKtaifer Konrad dem Zweiten dem Bistum 
Briren verliehen, die Grafichaften Bintichgau und Bozen dem Bistum Trient, dab 
im Sabre 952 mit dem deutfhen Reiche vereinigt worden war. Die Bifchöfe 
verliehen diefe Srafihaften an DBafalleı weiter. Den Grafen von Bintichgau, 
oder wie fie fich feit dem zwölften Sahräundert nannten, den Grafen von Zirol 
gelang e8 im dreizeänten Sahrhundert, die übrigen Grafichaften im Gebiete deö 
heutigen Deutfchtirol in ihrer Sand zu vereinigen, ja felbft in Welfchtirol feiten 
Zuß zu falfen und damit die heutige Graffhaft Tirol zu begründen. Im Jahre 
1363 murde Tirol von den Habsburgern erworben und zugleih durd) Vertrag 
das Bistum Trient dauernd an Tirol gebunden, fo daß die Grafen von Tirol 
in diefem Bistum wie gewohnheitsgemäß in den wenigen ®eridten, aus denen 
fich der weltliche Herrfchaftzbezirt des Bistums Briren zufammenfegte, die wichtigften 
Hoheitsrehte ausübten. Sm Sahre 1808 wurden infolge des KeichSdeputationd- 
Hauptichlufjes die beiden Bistümer völlig mit der Grafichaft Trient vereinigt. 

Reiches deutſches Leben blühte im Mittelalter in dem deutichen Südtirol. 
Seine Burgen und feine Städte waren der Sik eines zahlreichen Adeld und einer 
rührigen Bürgerfchaft. Vielleicht lag Hier die Heimat Walther von der Vogelweide, 
fiher die der Minnefänger Liutold von Säben und Oswald von Woltenftein und 
des Niklas Bintler. Mit Szenen aus Triftan und Sfolde und anderen höfiichen 
Epen ift dad Schloß Runtelitein bei Bogen geziert. So ftand da3 Land in enger 
Beziehung zum deutichen Geiltesleben des Veittelalterd. Sein Neht und feine 
Wirfhaft waren und blieben deutfch und grundverfchieden von dem angrenzenden 
welfchen Nachbargebiet. Auch die Gegenreformation blieb ohne Einfluß auf Die 
geiftigen lebhaften Beziehungen Bozens zu den füddeutiden Handelzftädten. Aud 
dem freien Tiroler Bauernftande aber ift Andreas Hofer, der Held vom Bajleler, 
hervorgegangen, aud) er in feiner Hünenhaftigfeit, Biederkeit, feinem Gottvertrauen 


Im Kampf um Tirol 115 


und feiner Treue da3 Urbild eines beutfchen Yauern. Doc) da8 Sahr 1809 
endete mit der Niederlage Ölterreich8 und der Zerreis ng Zirold®. Bogen mit 
dem Eifchtale bi8 Gargazon füdlid) von Meran und dem Eifadtale bis laufen 
famen zum Königreihe Italien. Zür damals eine politif » und volfSwirtichaftlich 
unbaltbare Grenze, die längit Zufammengewachjenes außeirander trennte und Die 
gewohnten Verlehräwege abichnitt. In der Römerzeit Hatte diefe Grenze Berechti- 
gung, denn die da8 Zal begleitenden Höhenrüden waren unbewohnt, im neun- 
sehnien Sahrhundert feine mehr. Schon 1813 ift diefer Teil Zirold wieder an 
Diterreich gefallen. Das deutiche ift auch heute ein rein deutfched Land. So 
tcharf wie feiten find bier die füdlichen Grenzen gezogen. In den politifhen 
Bezirfen Bozen, Meran, Schlanderd, Briren, Bruned, die daS deutiche Südtirol 
umfafjen (der Bezirf Lienz fällt außerhalb der italienifchen Aniprüde), wohnen 
sad) der Volfszählung von 1910 neben 215353 Deutihen 9413 Ladiner und 
nur 7047 Italiener und dieje find zumeift Arbeiter und Handiverfer, denn die 
armen Welichtiroler pflegen des Verdienfteg halber mit Vorliebe Arbeit im benad)- 
barten deutichen Tirol zu fuchen. Sn dem völfiich am meilten gemifchten Bezirkd- 
nerihte Bozen Yand bilden die Staliener nur etwas über 4 Prozent, im Begirfß- 
gerihte Neumarkt 16 Prozent, im Bezirksberichte Kaltern nicht ganz 6 Prozent 
der Bevölkerung. BDiejer Brozentia ergibt fid) daraus, daß zwei Gemeinden und 
einzelıie Gemeindefplitter an der Etfch, in denen fich Anfiedelungen von Flößern 
und Holzarbeitern befinden, eine Eleine italienische Mehrheit aufiveifen (Branzoll, 
Gfrill, Bfatten). Daneben liegen große Gemeinden wie die Märkte Staltern, 
Zramin und Neumarkt, und große Dorfgemeinden wie Eppan und Montan, in 
denen die Italiener verſchwindende Bruchteile ausmachen. Noc) mehr ift dies der 
Zall in den Bergdörfen des Gericht3bezirfed Bozen, wo in manden Gemeinden 
aud nicht ein italienijcher Einwohner gezählt wurde. In der Stadt Bozen mit 
ihrer zahlreichen Arbeiterbevölferung betragen die Italiener nur 6 Prozent (21129 
Deutiche, 1316 Staliener), allo weniger al8 die Deutichen in der Stadt Trient 
(24 169 Italiener, 2819 Deutfche). Sn den anderen Gerichtöbezirfen liegen Die 
Berbältnijfe noch viel günftiger. Sarnthal 3. B. zählte neben 3842 Deutichen 
21 Italiener, Sterzing neben 11509 Deutihen 16 Staliener, Zaufern neben 8716 
Deutihen 7 Staliener, Weläberg 9460 Deutiche 50 Staliener, Bafleier neben 
5127 Deutfchen 78 Staliener, Glurn® 9607 Deutiche 4 Italiener, Schlanders 
12293 Deutjhe 40 Staliener. An diefe8 deutihe Siedlungsgebiet jchlieken jich 
unmittelbar an die deutjchen Gemeinden St. Zelir, Yaurein und Unjere liebe Frau 
im Walde im Bezirtögeriht Yondo, Proveis im Begzirkögeriht Ele und Truden 
und Altrei im Bezirksgericht Cavalefe, die fchon jegt zum Amtsbereid) des 
Deutichtiroler Randesfulturraied gehören. Bon diefen Gemeinden war Uunſere liebe 
yrau nad der Volkszählung don 1910 rein deutih, die übrigen Haiten ver- 
ihwindende italieniiche Minderheiten. 


Leben und Wandel, Wirtfhaft und Charakter der Bevölferung find in 
Deutfchjüdtirol grundverfchieden von dem welfchen Zirol. In Deutjchtirol ift der 
bäuerlihe Kolonat felten, in Welfchtirol, befonder8 im Etjchtale ungemein Häufig. 
Dort ift der Bauer zumeift Eigentümer feiner Scholle, bier Zeitpächter. Der 
Deutichtiroler ift wortlarg, aufrichtig, ernft, Itarrföpfig und wenig beweglidh, der 
MWelichtiroler rafch, verichlagen, Higig und ftreitfüchtig, mas fid) in der riminal- 
ftatiftif in der Zahl der Streitfahen ausdrüdt. Selten dürfte man unter ummittel- 
baren Nachbarn anderdwo fo auffällige Gegenfäge treffen. 

Die Ladiner endlich, die in der Zahl von 9463 die Täler Gröden, Enneberg 
und Safla und die Gericht3bezirfe Buchenftein und Ampezz30 bewohnen, jtellen die 
Überrefte der alten romanifhen Einwohner Rhäthien vor. hre Sprache it das 
Zadinifche, ein Zweig des Rhäthoromanifshen. Ale maßgebenden Sprachforfcher, 
der Staliener Arcoli, deifen Saggi ladini bahnbredhend auf diefem &ebiete gewelen 
iind, wie die Deutjchen fallen dad Nhäthoromanifche ala einen bejonderen, vom 
Italienifhen durdhauß verjhiedenen Zweig der romanijhen Sprachenfamilie, der 
. fih eher mit dem PBrovencalifchen berührt. So jagt der bekannte Sprachforfder 


g* 


116 Der Wöchnerinnenfhutz in dem neuen deutfchen Entwurf eines intern. Arbeiterrechtes 


Mayer-Lüble: „Das Sardiihe ift durch eine ganze Reihe von charafteriftiichen 
Zügen jo durdaus verjchieden vom italienischen Typus, daß man es füglich al3 
jelbitändige8 Glied bezeichnen fann.“ Dasfelbe gilt von den Alpenmundarten in 
Graubünden, Tirol und Friaul, die man al ladiniih und rhäthoromanisd 
zufammenfaßt, jodaß man wohl alles Recht hat, von neun romani'hen Sprachen 
zu reden. Und weiter „das Rhäthoromaniſche erſtreckt ſich über Graubünden, Tirol 
und Friaul und von da Tüdlich in die iftriijhe Halbinsel Hinein. .... Diele Mund- 
arten ftehen ... . im jcharfen Kontraft zu den italienischen Typen Venetiens und 
der Lombardei, ftimmen dagegen in den genannten und anderen Zügen zu dem 
Südoftfranzöfiichen de3 Ahonetales. Eine politische Einheit zwilhen Den ver- 
Ichiedenen Gegenden Hat nie beitanden . . dennod) muß ein itarfer innerer Zu— 
jammenbang zwijchen den Alpenvölfern und ein Gegenjag zu den Bewohnern der 
Ebene beitanden haben, der’ die jprachliche, Eigentümlichfeit ermöglichte “ 

Diejfer Gegenjag beiteht noch heute. Wirtihaftlih und in feinem Charakter 
ähnelt der Zadiner feinem deutjchen Nachbarn und jeinem Stammesgenofjen in 
Graubünden. Er will nicht8 von der Bereinigung mit Italien wifjen, er judht 
fein politiihe8 Heil im Anjchluß an den Deutichtiroler. 

Die Abtretung ded deutichen und ladiniihen Südtirol® würde die wirt. 
ihaftlihe Tage diejer Gebiete aufs jchwerjte gefährden. Das Haupteinfommen 
für dag Etich- und Eifadtal fließt aus Wein- und Obitbau und für das qanze 
Gebiet au8 dem Fremdenverkehr. Der Markt, auf den e8 angewiejen ift, ift der 
deutiche Norden. Dort nur, nicht in Stalien, da8 daran Überfluß bat, fünnen 
die Iandwirtichaftlichen Erzeugnifie des Landes auf Abjag hoffen. Das zeigte fid) 
Thon in den Sahren 1809 bis 1813, ald Bozen zu Italien gehörte. Bom deutjchen 
Norden ber allein ift aud) in Zukunft der Tremdenftrom zu erwarten. Ein 
dauernder Zriede wäre nad) der Abtretung ausgejchlofien. E3 würden vielmehr 
Berhältnifie eintreten, wie fie in Tirol dem Jahre 1809 vorangingen. Denn da3 
deutiche Nationalgefühl ift bier in den legten Jahrzehnten jehr geichärft worden 
und der nationale Gegenjag war von jeher ein jchneidender. 

Die Herrichaft der Italiener würde nur al3 eine verhaßte FSremdberrichaft 
empfunden werden. 





Der er in dem neuen deutichen 


Entwurf eines internationalen Arbeiterrechtes 
Don Dr. med. Agnes Bluhm 


a a8 Neichsarbeitsamt hat im Einvernehmen mit Sachverftändigen 
4 aus den Streifen der Arbeitgeber, Gewerfjchaften und Sogialreformer 
Dr VW einen Entwurf für eine internationale Regelung de Arbeiterrechted 
“@ ) auögearbekitet, der eine Erweiterung des bisherigen Wöchnerinnen— 
nd Ihuges enthält. Die in der deutjchen Geieggebung vorgejehene 
achtwöchige Schonzeit fol auf zehn Wochen ausgedehnt werden. 
Tut vom Standpuntt der Boltsgejundheitspflege ein zehmmwöciger Schuß 
immer nocd) alö ungenügend bezeichnet und ein folder von mindejtens zwölf Wochen 
aefordert werden, jo wäre dod jede noch fo Fleine Erweiterung danfbar zu 
begrüßen. Leider ift im vorliegenden Sale dadurdh, daß im übrigen die alte 
Faſſung des Gefeges beibehalten worden ift, der Erfolg der Neuerung illujoriid 
gemacht worden. Auch das neue Gejeg — joweit darüber Beröffentlihungen in 
der Tagesprefie vorliegen — beitimmt lediglich, daß von der Schonzeit jechs Wochen 
nad der Entbindung liegen müflen; über die Dauer des vorgeburtlihen Schuße 
enthält e3 feine Bejtimmung. Und doc ift diefer vorgeburtlihe Schug mindejtens 





Der Wöcdhnerinnenfchug in dem neuen deutfchen Entwurf eines intern. Arbeiterredhtes 117 


ebenfo wichtig wie der Wöchnerinnenfhug im engeren Sinne. Er ift geboten 
vor allen Dingen mit Rüdfiht auf die Srucht, die unter der anftrengenden Arbeit 
der bohichwangeren Mutter jchwer leidet. 

E3 waren namentlich franzöfifhe Autoren, weldhe fich zuerit mit dem Ein- 
fluß der mütterliden Erwerbsarbeit auf Schwangerfchaftsbauer und Gewicht der 
Neugeborenen beichäftigten. So ftelte Mme. Bernfon!) feft, daß ermüdende 
Beichäftigungen der Mutter nadhteiliger auf da8 Geburtsgewicht der Kinder ein— 
wirken alS leichte. Si.\erinnen nnd Storlettarbeiterinnen, welde an der Maichine 
arbeiten, bringen fchwädjlichere Kinder zur Welt ald andere fitende Arbeiterinnen 
mit leichterer Tätigkeit. Zandarbeiterinnen, deren robufte Konftitution fräftige 
Kinder erwarten läßt, 'gebären häufig Srüdte mit unternormaleın Gewidit. 
Mme. Bernfon e8 bei ihrer Unterfuhung auch vielfah an fritiihem Sinn fehlen 
lafien, fo ilt da8 Nefultat derfelben dod) mehrfah von anderer Seite beitätigt 
worden und darf deshalb als feititehend gelten. Karl Fuch®’ entgegengejegte ver- 
meintlihe Yeititellung?), daß da3 Durdichnittsgewicht der Kinder, deren Mütter 
in anjtrengender Berufdarbeit ftehen, um ca. 110 Gramm größer ift, al3 daß 
Gewicht jener Neugeborenen, deren Mütter förperlih nicht anftrengende Arbeit 
leiften, Tiege fi einfach aus der Berjchiedenheit der erblichen Veranlagung erklären. 
 Berufeloje oder leichte Arbeit verrichtende Zrauen find im allgemeinen von zarterer 
Konjtitution ald Dienftmädchen, und die Stinder der leßteren deshalb von erb- 
wegen robufter und jchwerer al8 diejenigen der eriteren. Bon Merletto-Serrara®) 
ift de3halb dad mütrterlihe Gewicht gleichzeitig berüdfichtigt worden und da Hat 
fih eine deutliche Einwirkung der mütterlihen Schonzeit auf das Geburtögewicht 
der Kinder bei annähernd gleich Ihmweren Müttern gezeigt. 

Auch E. und %. Oberwarth konnten einen foldhen deutlichen Einfluß bei 
dreimödjiger borgeburtliher Schonung der Mutter jeititellen, Gaazoni hat ben- 
jelben joger jhon bei nur zehntägiger Ruhe beobadtet. Kann man im großen 
ganzen jagen, daß der Vorteil für das Kind mäcdhjft mit der Dauer der mütter- 
lihen Arbeitrube, jo zeigen doc) die jehr jorgfältigen Unterfuhungen von Peller‘), 
duß die fegten Wochen vor der Niederkunft die ausjchlaggebenden find. .„Durd) 
eine ich auf die legten Schmwangerjchaftsperioden eritredende beijere Verpflegung 
und relative Ruhe wird bewirft, daß das Gewicht der Kinder der fönjt fozial am 
ungünſtigſten geftellten Mütter dem der Neugeborenen der jozial am günftigften 
ftehenden Mütter nahe fommt.“ 

Zum Teil erflärt fi) der günflige Einfluß der mütterlihen Ruhe auf da8 
Geburtsgewiht der Kinder zweifellos daraus, daß anfirengende Arbeit die 
Schwangerfhaftsdauer abkürzt. Im Gegenjag zu den lindern der fi jchonenden 
Mütter werden diejenigen der angeftrengt arbeitenden nicht voll ausgetragen. Sie 
find alfo bei der Geburt jünger und deshalb weniger groß und fehwer alß die 
erfteren. Nach den Unterfuchungen von Roger?) (an Binard8 Material) fann an 
der Abkürzung der Schwangerfchaft durch anitrengende Berufsarbeit nicht mehr 
gezweifelt werden. Daß nach der den Haußjchwangeren obliegenden fonnabend- 
lien Haußreinigung die Meldungen auf dem Kreißfaal fih häufen, ift eine allen 
in Entbindungsanftalten tätigen Arzten befannte Zatfahe. Aus der amtlichen 
Statiftif der Leipziger OrtStranfentafje geht hervor, daß in gewiflen Berufen die 
vorzeitigen Entbindungen der freitvilligen Mitglieder diejenigen der Pflichtmitglieder 
an Zahl übertreffen. Diefe mit obigem anjcheinend in Widerfpruc ftehende 
Ericheinung findet ihre Erklärung dadurd, daß e8 fih um folhe Berufe Banbdelt, 
in denen die Heimarbeit eine große Rolle fpieltl. Hier hat nit wie anderöwo 


1) These de Paris. Revue pratique d’obstetrique Dec. 1903. 

2) Wie bereitd bon Sigismund Peller gezeigt wurde, iſt das Fuchs'ſche Diſſertations⸗ 
material (1899) teild an fi ungenügend, teil® unfritifc) bearbeitet worden. 

2) Bit. nah Grotjahn: Soziale Pathologie 1912. 

4) Der Einfluß fozialer Momente auf den Törperlihen Entwidlungzguftand der Neue 
geborenen. Das öfterreihiihe Sanitätsweien. 1913, Nr. 38. 

5) These de Paris, zit. nad Annales d’hygiene * 1908, Heft 8. 


118 Der Wöcdhnerinnenfhuß in dem neuen deutfchen Entwurf eines intern. Arbeiterrechtes 


da Bebürfniß nad) Schonung, jondern die Arbeilsform den Eintritt in die frei- 
willige Mitgliedſchaft veranla i; die Arbeit wird ſolange als irgend möglich fort⸗ 
geſetzt und es wird daheim noch intenſiver gearbeitet als in der Fabrik; daher 
ein Mehr an un⸗ und vorzeitigen Entbindungen. 

Daß das Geburtsgewicht von großer Bedeutung für die Entwidlung des 
Kindes zum mindeſten innerhalb des ſo ſtark gefährdeten erſten Lebensmonats 
iſt, weiß jeder Arzt, und auch kein Laie dürfte ſich der Erkenntnis verſchließen, 
daß Kinder von unter normalem Gewicht, zumal wenn dasſelbe durch ein vor⸗ 
zeitige3 Schwangerjchaft3ende bedingt ift, für den Sampf ums Dafein Tchledt 
audgerüjtet find. Der jübe Wechfel der Umgebung bei der Geburt ftellt Hohe 
Anforderungen an die Widerftandg- und Anpafjungsfähigfeit des kindlichen 
Organismus, denen das nicht ganz ausgetragene Kind ſelbſtverſtändlich weniger 
gewachſen iſt als das vollreife. Es iſt deshalb ſicherlich kein Zufall, daß ich für 
das „Stadtgebiet Hamburg (anderöwo lagen vergleihbare Zahlen nicht vor) für 
die Jahre 1905—1909 eine gleichzeitige Zunahme der lebenden Frühgeburten und 
der Todesfälle an Lebensſchwäche feititelen konnte.) Yrübgeborene Kinder find 
eben lebengichwäder al& rechtzeitig geborene. ' 

Nun ftebt — und das ift beadhtensivert — Hamburg bezüglich der Zunahme 
ber lebenden Yrüßgeburten nicht vereinzelt da. Aud, für das ehemalige Groß. 
berzogtum Baden konnte ic) eine geringe Zunahme feftitellen und in Preußen ift, 
während die Säuglingöfterblichfeit im allgemeinen ftark gefunfen ift, die Zahl der 
Todesfälle an Lebensihmwäche im letten Jahrzehnt vor dem Striege faum geringer 
geworden. Daß ift um fo auffallender, al8 die ärztliche Leichenichau zugenommen 
hat. Denn Laien find geneigter als Arzte, Lebensſchwäche als Todesurſache an- 
zunehmen, weil fie im Gegenjag zu diejen oftmal3 nicht in der Lage find, bie 
zum Zobde führende Krankheit zu erkennen. Ein flatiftiidyes Gleihbleiben der 
Sterbefälle an Lebensihmwäche bedeutet alfo in dieſem Yal ein tatlächliches Zu- 
nehmen derjelben. E83 unterliegt nach dem vorliegenden faum einem Zweifel, 
daß diefe Zunahme im Zujammenhang fteht ınit der gewaltigen Zunahme der 
Erwerbßarbeit der — Frau. Ihre Bedeutung für die Volkskraft erhellt 
aus der Tatſache, daß die Todesfälle an Lebensſchwäche in Preußen faſt ein 
Drittel ſämtlicher Säuglingsſterbefälle ausmachen und daß im Reich jährlich 
immer noch zwiſchen 30000 und 40000 Kinder an mangelnder Lebenskraft zugrunde 
nehen.”) Im vorliegenden Zufammenhang ift aud) der von Graßl feitgeitellten 
Zatjache zu gedenten, daß die ländliche Säuglingsfterblichfeit in Bayern abhängig 
ift von der Art der landwirtſchaftlichen Betriebsform. Sie wächſt in dem Maße, 
in welchem die verſchiedenen Formen die Mitarbeit der Mutter erfordern. 

Aus all dem geht hervor, daß der Schutz der Mutter in der letzten Schwanger⸗ 
ſchaftsperiode für die Erhaltung der Volkskraft mindeftens die gleiche Bedeutung 
hat wie der Schutz der eigentlichen Wöchnerin. 

Wie kann ein ſolcher Schutz geſetzlich gewährleiſtet werden? Die Möglichkeit, 
die Frauen zur Niederlegung der Arbeit einige Zeit vor der Entbindung zu 
zwingen, wird allgemein bezweifelt, und doch iſt ſie gegeben. Es wird dagegen 
geltend gemacht, daß der Entbindungstermin ſich nicht genau berechnen läßt, und 
daß die Frauen unter der Behauptung, von dem Ereignis überraſcht worden zu 
ſein, ſtets bis zum letzten Augenblick arbeiten würden. Beide Einwände find nicht 
ſtichhaltig. Gewiß läßt ſich die Zeit der Niederkunft nicht auf Tag und Stunde 
vorausſagen, aber bis auf vierzehn Tage läßt fie ſich in den allermeiſten Fällen 
berechnen. Man trage der natürlichen Schwankung Rechnung und bringe vierzehn 
Tage dafür in Anſchlag. Dann bleiben für den geſetzlichen Schwangerenſchutz 
bei im ganzen zehnwöchiger Schutzfriſt noch zwei Wochen übrig; denn für die 


——— Handbuch der Sozialen Hygiene. Artikel Mutterſchaftsfürſorge 
eipzig 1912 

) Im Jahre 1011 waren es nach dem Statiſt. Jahrbuch für das Deutſche Reich 
40787. Wegen der Laiendiagnoſen dürfte die Zahl etwas zu hoch ſein. 


Die neue Demofratie und die Sreiheit der Univerfitäten 119 


Wöchnerin im engeren Sinne genügt ein Schuß von fech® bi3 acht Wochen, wie 
das Gefeg ihn fordert. Zwei Wochen Ruhe vor der Geburt find nicht viel, aber 
immerhin weit bejjer al3 gar feine. Der betreffende Gejegesparagraph müßte 
demnad) lauten: 

„Arbeiterinnen dürfen vor und nad) ihrer Niederfunft im’ ganzen während 
zehn Wochen nicht beihäftigt werden. Von diejen zehn Wochen müfjen mindeitens 
zwei vor und mindeftens jch3 nach der Entbindung liegen.“ 

Der Ausflucht, den Entbindungstermin nicht gefannt zu Haben, fann dadurch 
begegnet werden, daß die Unterftügung, im Yal die Zrau bi8 zur Niederkunft 
gearbeitet hat, auf acht Wochen bejchränft wird. E3 wäre alfo obiger Beitimmung 
hinzuzufügen: „Arbeitet die (grau big zur Niederkunft, fo hat fie auf ein Wocden- 
geld für die Zeit von nur acht Wochen Anfprud.” Dann werden die rauen, 
um der Unterjftügung für zwei Wochen nicht verluftig zu gehen, fich hüten, bi$ 
zum Testen Augenblid erwerbstätig zu fein. Sie werden, um den Entbindung3- 
termin zu erfahren, zum Safjenarzt gehen, und diefe vorgeburilihe Unterfuchung 
bat den großen Borteil, daß bei der Gelegenheit eine Prag Abmweihung von 
der Norm rechtzeitig erfannt und dadurd) vielfadh einem bedrohlichen Geburt3- 
verlauf vorgebeugt werden fann. Bergeiien wir nicht, daß im Deutichen Reich 
jährlich immer noch etwas mehr al3 dreitaufend rauen im blühenditen Alter an 
Rindbettfieber und eine noch größere dahl an „anderen Folgen der Geburt“ 
zugrunde gehen. Die Beſtimmung würde alſo in mehrfacher Hinficht gewinn— 
bringend ſein. Daß ihr praktiſcher Erfolg ſich ſteigern würde, wenn das heute 
in Höhe des Krankengeldes (alſo einhalb bis zwei Drittel des ortsüblichen Lohnes) 
gezahlte Wochengeld vollen Lohnerſatz böte, liegt auf der Hand. Die Frauen 
würden dann auf keinen Fall auf die in Rede ſtehenden vorgeburtlichen vierzehn 
Tage verzichten wollen und außerdem in der Lage ſein, ſich während dieſer Zeit 
beſſer zu ernähren, was nach Peller gleichfalls von Bedeutung für das Geburts— 
gewicht der Kinder iſt. Da Schwangerſchaft und Entbindung im Gegenſatz zur 
Krankheit nicht vorgetäuſcht werden können, ſo wäre gegen eine ſolche Erhöhung 
der Wöchnerinnenunterſtützung nichts einzuwenden. Nach Mayets Berechnungen 
dürfte dieſelbe im Rahmen einer Mutterſchaftsverſicherung auch finanziell ſelbſt in 
ſo harter Zeit wie der heutigen möglich ſein. Mutterſchaftsfürſorge rentiert ſich 
voltswirtſchaftlich zu jeder Zeit. Nur Kurzſichtigkeit kann das verkennen. 





Die neue Demokratie und die Freiheit der Univerſitäten 
Von Profeſſor G. v. Below 







RITTER er Göttinger Brofeffor und Nationalölonom G. Cohn hat ſoeben 
Am Er unter dem Zitel „Univerfität3fragen und Erinnerungen“ (Stuttgart, 
— F. Enke) eine Reihe von ihm früher veröffentlichter Aufſätze zur 

Univerfitätsverfaſſung zuſammengefaßt, die gerade heute erhöhter 

I A Beachtung wert find. In einem ım Sahre 1911 niedergeichriebenen 

a A jagt er Seite 13: „Das bloße Wort der Freiheit führt Taufchungen 

und Gelbjttäufchungen mit fih. Sit der Staat ein ‚freier‘, eine Republif, eine 

Demotratie, jo wird er alle ‚freiheitlichen‘ Zehren unterjtügen, die feiner Ber- 

tafjung gemäß find. Die Regierung eines folchen Staattwefend wird Männer zu 

Lehrern der Wifjenfchaft anftellen, auf die fie fi verlaffen fann, nicht alS Charaktere, 

nicht al3 Gelehrte, fondern al8 Parteimänner, die ihre Zehre dem PBarteiprogramm 

unterwerfen. Se jünger, je neuer eine folhe Herrfchaft ift, um fo naiver ift fie 
in ihren Anjprüden. Den Ruhm der Erfindung des ‚Strafprofefford‘ Hat nicht 
die preußifche Unterrit3verwaltung, jondern die Republif Züri), die vor vierzig 


z 





120 Die neue Demokratie und die Freiheit der Univerfitäten 


Sabren gegen einen bedeutenden Lehrer bed Staatsredhtd einen Profefjor für 
demofratiihes Staatsrecht ernannte, der wiffenfchaftlih völlig Null, aber auf da$ 
demofratiihe Parteiprogramm  eingefhworen war.“ Cohn fchilderi weiter, wie 
in der nordamerifaniichen Republif die „zreiheit” gleichtal8 in der Weile zum 
Ausdrud gebradt worden ift, daß politifch mißliebigen Profefloren nicht jonderlid) 
zarte Rüdiichten gewährt wurden 

EoHns Worte über die Anichauungen bemofratifcher Republifen binfichtli 
. der Anitellung von Barteimännern ermweijen fich al& wahrhaft prophetilh. Die 
Beobachtungen, zu denen die Schweiz und Amerifa Anlaß gegeben Haben, werden 
durch die Aufrichtung unserer neuelten deutichen „reiheit“ vollauf beitätigt; wir 
 fürdten, die Beftätigung wird fi) jo urfräftig ermweifen, wie man e3 früher aud 
nicht entfernt für möglich gehalten Hat. Einige Beifpiele von dem, was wir jchon 
in den wenigen Wochen de8 Beftchend unferer neuelten Demofratie erlebt haben 
und wa8 ung weiter droht, mögen bier namhaft gemadht werden. 

Der Kultusminifter Hoffmann Bat die Anltellung von Profefloren der 
„Soziologie“ gefordert. Das Thema ift äußerft Heifel, zumal angefehene miflen- 
ſchaftliche Kreiſe das Recht einer befonderen WBiflenichaft der „Soziologie“ beitreiten 
(mein verftorbener Kollege Alfred Dove, ein Mann von feinem Wig, nannte bie 
„Sogiologie”" „Wortmaßtenverleihinftitut“).!) Die frühere preußifche Unterricht- 
verwaltung bätte in einem foldhen all die Zakultäten gefragt, ob fie die Errichtung 
befonderer Brofefluren für Soziologie für amedmäßig halten würden. Die demo 
fratiihe Berwaltung dagegen ordnet einfach an. Warım aber hat Minifter 
Hoffmann eine To große Vorliebe für „Ioziologifche” Profefjuren? Warum fordert 
er nicht 3. B. PBrofeljuren für Völferpfychologie (maß jadhlih ungefähr auf da3- 
felbe Hinausfommen würde)? Offenbar lodt ihn der Beftandteil „Jozio“ in dem 
Wort. Da3 Hat er fi ohne Zweifel jo gedeutet, daß der Suziolog ein Sozial- 
demofrat fei. ZTatfächli haben beide Dinge natürlich niht3 miteinander zu tun. 

Hoffmann ift aber weiter auch zu der unmittelbaren Forderung vorgefcriiten: 
„Hervorragende wiflenichaitlidhe Vertreter ded Sozialismus jollen auf afademildhe 
Zehrfiüble berufen werden.“ Wenn er gefordert hätte: „hervorragende wilfjen- 
Ichaftliche Vertreter der Nationalöfonomie jollen, ohne Rüdfiht auf ihre Partei- 
richtung, berufen werden”, jo wären wir einveritanden. Allein in jener Forderung 
wird al erite Vorausfegung da8 Belenntnid zum Sozialiemuß verlangt. Sm 
erfter Linie ſoll alſo das politifche Befenntni3, in zweiter erft die wiflenjchaftlide 
Tüchtigfeit in Betracht fommen. Wenn e8 fi) jedody nıın fo verhält — und e3 
verhält fih im der Tat fo —, daß die beiten Kenner de3 Sozialismus unter 
feinen Gegnern zu fuhen find? Um foldhe Schwierigteiten madıt fit) Minifter 
Hoffmann feine Gedanken; er befiehlt einfach: Sosialiften müflen berufen werden. 

Menn Hoffmann fozialdemofratiiche Profelloren grundfäglich für die Uni- 
berfitäten fordert, fo ftellt er fih in den Dienft eine3 allgemeinen politijchen 
Syitemd. Die heutige preußiiche Unterrihtsverwaltung verfucht jedod)-audh be 
ftimmte einzelne PBerjonen in den Xehrförper der Univerfitäten einzufdieben, weil 
die betreffende PBerjönlichkeit. ihr politiich genehm if. Schon jeit mehreren 
Monaten wird ein Drud don verfchiedenen Stellen zugunften eines Dozenten 
ausgeübt, der dor längerer Zeit au8 feinem Amt auszufcheiden fich genötigt fah 
(vgl. Preußifche Sahrbücher Bd. 173, ©. 116; VBortrupp 1918, ©. 458; Größeres 
Deutfchland 1918, ©. 1069 und ©. 1205). Um ihn zu ftügen, wurde eine ganz? 
"Regende über feine Dienftentlaffung fabriziert. Neuerdings fegt nun aud) das 
preugilhe Kultusminiiterium feine Hebel in Bewegung, um jenem Dozenten ein 
Amt zu — Zu den Sozialiſten wird man ihn ſchwerlich rechnen können; 
indeſſen andere politiſche Geſichtspunkte empfehlen ihn dem Kultusminifterium; 
es handelt fſich um ein Erbſtück aus der Politik des alten Auswärtigen Amts, 
die ja heute unter der neuen demokratiſchen Herrſchaft fortgeſetzt wird. Doch 


1) Bgl. zur Kritik der Forderung einer „Soziologie“ meine „Deutſche Geſchichts⸗ 
ſchreibung im neunzehnten Jahrhundert“, S. 102. 


Die neue Demokcatie und die Sreiheit der Univerfitäten 121 





diefer Yall mag als von befonderer Art gelten. Wir find jedoh au fchor in 
da3 Stadium der direlien Verfudhe, Sozialiften in Lebrftellen der preußifchen 
Univerfitäten zu bringen, eingetreten. 

Um dieje Tatfache zu würdigen, Haben wir und gegenwärtig zu Halten, 
da& im Deutichen Reich (von andern Staaten reden wir Bier nit) nie jemand 
wegen jozialiltificher Selinnung oder Agitation von irgend einer :alultät abge- 
wielen, wie aud) die Beförderung eines Bertreterd der Wiflenichaft aus einent 
jolhen Grund durch die Itegierung abgelehnt worden if. Vlan hat allerdings 
behauptet, daß einem jungen Mann von einer Fakultät die Hadiltation wegen 
feiner fozialiltiihen Gelinnung verweigert worden fei. Daß it jedoch ein Märchen: 
er vermochte feine wiljenichaftliche Arbeit vorzulegen, auf die hin er hürte habi- 
litiert werden fönnen. Wegen fozialiftiiher Agitation ift der Berliner Privatdozent 
der Phyſit Arons vor längerer Zeit entlajfen worden, und zwar don der Aenie- 
rung. Die Yafultät und Univerität hat jedod) bieran feinen Anteil; fie hat jich 
fogar für Arong bemüht. Die Einzelheiten dieejd Falles find noch fürslid von 
dem Berliner Hiltorifer Eduard Meyer eingehend und zuverläfiig dargeftellt worden. 

E3 ıjt wichtig, die Zatjache feitzubalten, daß die zakultäten und Univerfi- 
täten des Deutjchen Neiches nie einen Anwärter wegen fozialiltiiher Geiinnung 
oder Agitation zurüdgemiejen haben. Sie fönnen jet mit beitem Gemiijen 
BWiderfland leiften, wenn jegt die Regierung verfudjt, ihnen Sozialiften, die feine 
enügenden mwillenfchaftlihen Zeiftungen aufzumeifen baben, aufzudrängen. Daß 

e fih auf ihr gute8 Gemwilfen dabei berufen Ffönnen, ift um fo wertvoller, als 

der Drud der Negierung zugunften der Sogialiften fehr ftarf fein wird. Die 
parlamentariihe Demofratie, die wir zu erwarten haben, fett fich zu einen be- 
fonderen Zwed, ihre Anhänger mit Amtern auszuftatten. Man braucht aud) gar 
niht einmal an die Möglichkeit einer fozialiftiichen Mehrheit im Landtag zu 
denfen: der Plan der bürgerliden Demofratie ift ja die gemeinfame Bolitif mit 
der Sozialdemokratie, und bei einer folden gemeinfamen Bolitit bildet ja ein 
wejentliche8 Stüd die Berforgung der Anhänger der befreundeten Partei mit 
Amiern und guten Stellen; ein berrfchendes Barlament und eine berrichende 
Demokratie wollen niet umfonft arbeiten. 

. Wir müflen ung alfo auf einen ftarfen Drud zugunften fozialiitiicher und 
natürlidy auch bürgerlich demofratiicher Bewerber um Brofelluren von jeiten des 
Minifteriums gefaßt machen. Oder vielmehr, diefer Drud Hat Schon beaonnen; 
einige Yakuliäten wijjern bereit3 etwas davon zu berichten. Wir wollen jedoch 
nit Namen nennen und auf einzelne Säle eingehen, fondern ung damit begirügen, 
zwei SFeititellungen zu machen. | 

Einmal fönnen wir, wie fchon angedeutet, "feitftellen, daß die deutichen 
Univerlitäten und Safultäten nach ihrer bisherigen Haltung vollauf berechtigt find, 
Berfudhe der Regierung, ibnen au8 politiihen Gründen Dozenten aufzudrängen, 
fräftig abzuwehren. Da fie felbit die willenichaftlihe Betätigung al Maßitab 
bei Borjchlägen angelegt Haben, fo Haben fie da8 Net, von der Hegierung die 
Anerkennung de3 gleihen Mapitab8 zu verlangen. — 

Und eine aweite Feſtſtellung! Erfreulicherweiſe ſtehen noch nicht alle 
Beamten der Miniſterien im Bann der politiſchen Parteibeſtrebungen. Diejenigen, 
die einen fachlichen Standpunft einnehmen, werden den Wideritand der Fakultäten 
gegen die politifhen Abiichten des Ministers begrüßen; fie werden in den Fakultäten, 
welche gegen die Oftroyierung demofratiiher oder fozialdemofratischer Dozenten 
proteftieren, Bundesgenofien in der guten Sade der Willenichaft jehen. 

Mehrere Sahrzehnte Bindurd) war im preußischen Rultusminifterium Dr. Alt- 
hoff der leitende Beamte für Univerfitätsangelegenheiten. Viele waren ber Anficht, 
er verfahre öfter8 etivad gewaltfam. E38 ift bier nicht der Ort, feine Vermwaltuni: 
einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Jedenfalls werden alle, die einmal 
ein hartes Wort gegen ihıt gejagt haben, ihn, im Hinblid auf die heutigen Ber- 
bältnifje, um Verzeihung bitten. Unter ihm Hatten wir dody ein goldenes Zeit- 
alter, während die wenigen Wochen Hoffmanniher Verwaltung uns fon in eineit 


123 Stanfreich und die Sriedenstonferenz 


Abgrund zu ftürzen drohen. Den Tall mit der Soziologie nehmen wir nod) 
nidjt jo tragifh. Allerdings, auch bei ihm fehen wir deutlich den großen Unter- 
Ihied zwilhen dem alten und dem neuen Eyftem: unter Althoff wären, wie 
bemerft, die Yakultäten gefragt worden, wie fie jih zu der Frage „Joziologiicher” 
PBrofefiuren jtellen würden, fall jolhe etwa in der Offentlichfeit dringend verlangt 
worden wären; Hoffmann dagegen erläßt einfah einen Ufas — warum aud 
niht? Die Revolution beglüdt uns ja überhaupt mit ruffiihen Einrichtungen! 
Aber wir mollen immerhin diefen Zall, fo Ichrreid er ift, noch nicht fo tragiſch 
nehmen, da über Begriff und Recht der Soziologie auch in nicht fozialiftiihen 
Kreijen eine gemwilje Unflarheit herriht. Ganz plump dagegen ift die Yyorberung 
der jozialiftiihen Profeffuren, und die Sritif verhüllt ihr Haupt, wenn wir die 
Hoffmannfchen Erlafje weiter durchgehen und 3. B. an den Erlaß über den 
SGeihihtsunterriht in den Schulen fommen. Hier reihen fi Unbildung und 
Unfreiheit die Hand. €E8 ift eine Schande für die deutfhe Wiflenfhaft, für dad 
deutfhe Bolt und — um ein beliebte8 modern bemofratiihe8 Wort zu, ge- 
brauden — für da Weltgewifjen. Nur nebenbei wollen wir bier auf einige 
von diejen Hödjft unerfreulihen Dingen Hinweifen. Sonft galt e8 als ein Vorzug, 
daß der Lehrer im Unterriht eine gemifle freie Bewegung befaß. Det wird ihm 
die Sefinnung bon oben her fraß vorgeichrieben. Niedlich ift e8 ferner, daß 
Hofmann auf die Gefinnung „bejonder3 auf dem flahen Lande” einzumirken 
juht. Stehen denn Stadt und Land nicht gleihH? Sol die ländlide Bevölke— 
rung unter eine bejondere Bormundichaft geftellt werden? Ganz wunderlich find 
auch die Anmeifungen über daß, wa in den Schulen von den Lehrern nicht 
vorgetragen werden barf. Sn dem von Prof. W. Gög Heraußgegebenen Sammel- 
band „Deutichland und der Friede“ a8 ich fürgli” in dem Auffag von Prof. 
Onden „Die geihihtliche Bedeutung ded Krieges“, ©. 488, die Worte: „Der 
Krieg, der foviel Leben zerftört, twirft zugleich al8 ein Erreger alles Lebens, nicht 
Ihöpferifch aus tiefftem Grunde, aber die vorhandenen und verborgenen Sräfte 
entfaltend, fteigernd, zur legten Erprobung führend.“ Diefe Worte würden nad) 
der Auffafjung de3 heutigen Kultusminifleriums als höchſt gefährlich anguſehen 
und das Buch wäre zweifellos aus der Bibliothek eines Gymnaſiums zu 
entfernen. 





Frankreich und die Friedenskonferenz 


Jein Volk hat den Sieg im Weltkrieg mit ſtolzerem und tiefer 
bewegtem Selbſtbewußtſein genoſſen als die ſchwergeprüften Fran⸗ 
3oſen, keines iſt der uneingeſchränkten Bewunderung ſeiner Bundes⸗ 
benoſſen mehr gewiß, keines geht mit größerer militäriſcher Autorität 
aus dem Kriege hervor. Und fo fonnte man annehmen, daß aud) 
Tea die politiihe Machtſtellung Frankreichs auf der Friedenskonferenz 
die Bedeutung aller anderen Mächte wenn nicht weit überragen, jo doch in Schatten 
jtelen würde. Allein mwa3 fi vier Sriegsjahre lang aus dem Berlauf des 
Schickſals Deutſchlands erwieſen Hat, hat jich jegt auch an defien erbittertitem 
Gegner erwiefen: der militärische Erfolg, jo wichtig, fo bedeutend er fein fann, 
iit keineswegs identiih mit dem politifhen; ein anderes ift e8 Schladhten zu 
gewinnen, ein andere auf den Gipfel politiiher Macht gelangen. 
war Hat äußerlidh der Beginn der Friedenskonferenz den Frangoſen ſo 
viel Ehre eingebracht, wie fie fi nur träumen laffen konnten. Boincare durfte 
die erlaucdhten Säfte begrüßen, Clemenceau wurde einjtimmig zum Präfidenten 
ber Stonferenz ernannt, und bie Reden, die bei Ddiejer Gelegenheit bon Wilfon, 
Lloyd George und Orlando gehalten wurden, floffen über von Huldigungen und 







Stankreich und die Kriedensfonferenz 123 


Rob bes franzöfiihen Volles. Auch im Innern fchien alles in der beiten Orbd- 
nung: die vom Minifterpräfidenten mit allen Mitteln befämpften Defaitiften und 
Verföhnungsfreunde, die NRechtöfriedenpropagandiften und Englandfeinde Hatten 
weit gründlicher Unredt erhalten, ald man in fühnften Zräumen hätte annehmen 
fönnen, nungen ergaben glänzende Mebrheiten für die Regierung 
und der meitauß größte Teil der Prefle unterftügte die offizielle Bolitit willig 
und wohlgefälig durch kräftige Beihimpfung der wideritrebenden Gogialilten. 

Die Wirklichkeit entipricht nicht ganz dein fchönen Schein. Breiter Mafjen 
des Bürgertumd Hat fi nad) dem Berfliegen des erften Siegeßraufches eine fh 
von Woche zu Woche merkbar vertiefende Enttäufhung bemädtigt. Eindringlicher 
als England, dag offenbar mehr Möglichkeiten Hat, madıt Jranfreid) die Erfahrung 
durd), die aud) einem fiegreihen Deutichland nicht eripart geblieben wäre: dag 
nämlid) Waffenftilftand nicht Friede, und Friedensſchluß nicht friedliche Wirt— 
ichaft3verhältniffe bedeuten. Die fleinen Unannehmlichkeiten de8 alltäglichen 
Lebens: SKuappheit an Nahrungsmitteln, Teuerung, Wohnungsnot, Kohlen- 
mangel ujw. würde der genügfame fyranzofe ertragen, wie er fie bißher ertragen 
Dat, e8 zeigt fi aber — und ber feeliihe Yaltor, der hierin legt, darf ziemlich 
hoc) veranjchlagt werden — daß ber tzriedensguftand, von dem man auögegangeit 
war und nad dem man fid, während vier Kriegejahren unaufhörlic zurüd- 
gefehnt, der in der Erinnerung nod) viel rojigere Formen angenommen bat, als 
vielleicht der Wirklichkeit entiprach, fi feinegmegd wiederberjtellen läßt, daß man 
nit, wie wohl ein jeder, gumal don denen, bie „draußen“ gewefen find, bei 
ih gedadt Haben mag, einfah wieder an dad, was war, anknüpfen fann, 
fondern daß fi fomohl die Menden, wie aud) alle Berbältnifje geänbert 
haben. Alle Borberatungen über Tibergangdwirticaft, die naturgemäß daran 
frantten, den Seitpunft des Striegsended und die zu diefem Zeitpunft beitehenden 
Berbältniffe nicht mit Sicherheit erwägen zu fünnen und fomit unabänderlidher- 
weile eigenilih in der Xuft Bingen, fönnen a. B. nicht daran ändern, daß 
Demobilijation zunädft Arbeitdlofe jhafft, dag die „befreiten" Gebiete Nord- 
franfreich® alles Nötigen entbehren, . daß der beutfhe Rüdzug mit feinen au® 
militäriiher Notwendigfeit entftandenen Zerftörungen an Bahnübergängen und 
Siraßenanlagen in dem plöglich vergrößerten Wirtfchaftsgebiet unbeichreibliche 
Zransport- und Verfehröfalamitäten geihaffen Hat, die nit von heut auf morgen 
bejeitigt werden fünnen, die Unzufriedenheit im Lande ater in hellen Slammen - 
auflodern laflen. Viel böfes Blut madht auch die Demobilifation. Gie fan 
natürlid nur langfam vor fi) gehen, wenn die Regierung einerjeit3 Rataftrophen 


. auf dem ArbeitSmarft verhüten, andererjeit8 ben von ihr erftrebten Madjtfrieden 


durchjegen mill, aber da8 ändert nidt3 an ber Tatlahe, daß der Soldat 
ungeduldig nad) Haufe verlangt, die Yamilie enttäufht und verbittert nach den 
Shrigen ruft und jeder Unternehmer natürlih feine Arbeiier zuerit wiederhaben 
und reflamieren will. | | 


AU das aber würde immerhin nod) ertragen werden, wenn man nur Die 
Gewißheit Hälte, daß der Krieg nun au wirflih au wäre. Aber da ijt eritens 
die wiedererwadhte Sorge um die von den Boljchemwiften wenigfter3 nur teil- und 
bedingungSweife anerfannte ruffifhe Milliardenichuld, die im Grunde cine, von 
den in Bariß weilenden Vertretern des alten rufliichen Regimes eifrig unterjlügte 
militäriihe Intervention nötig machte, zu der im Lande jedod), d. h bei denen, 
die aunäcdhft weitere StriegSopfer tragen müßten, aud nicht die geringfte Stimmung 
it, da ilt fodann die polnifche Frage, die man mohl, fhon um Deutichland zu 
Ihädigen, löfen möchte, die fi) aber andrerfeit8 3.&. mit der tfchechiichen und der 
ubrainifchen jchneidet und deren Löſung wiederum ohne militärifches Eingreifen, da8 
man vermeiden mödjte, nicht möglid) fcheint. Da ift dann die durch die Veröffentlichung 
der Syrien-Berlräge von 1916 bedroht erjcheinende traditionelle Stellung Yrant- 
reichs im Orient, die dur die rafch zugreifende Beietung Stonftantinopel3 durch 
die Engländer feinegiwegd günftiger geworden ift, da ift die Sorge um den 
Anihlug Deutfh-Ofterreih8 an Deutichland, der dem Yeinde bedrohlihen Madt- 


124 Mafgeblidhes und Unmaßaebliches 


zuwachs verſpricht, da iſt Spaniens zähes Feſthalten an Tanger, das man zur 
wirtfchaftlihen Erjchliegung des maroffanifhen Hinterlandes und zur endgültigen 
Verdrängung deutichen Einfluffeß® im Mittelmeer für fit beanjpruden zu müfjen 
glaubt, da ift endlich die Frage nah dem Scidjal der deutfchen Kolonien. Und 
alle Vorichläge Franfreihe: Bildung einer freiwilligenarmee gegen die Bolide- 
wilten, Befegung Danzigs durch die verftärften polniichen Zegionen, Berlelbitän- 
digung eines ungeteilten Syriens unter frangöfiicher Agide, Internationalifierung 
der Dardanellen, Belafjung SKonftantinopeld unter. der Herrichaft der genügend 
gefhwächten Türkei oder Mbergabe an Griechenland, Wiederzufammenfchluß der 
ehemal3 öjterreihifchen Staaten, Angliederung von Kamerun und Togo an ;sran- 
sölisch-Afrika ftehen  einftweilen auf dem Zeilungspapier, während England fi 
Wilſon gegenüber die fogenannte Sgreiheit der Meere gelichert, in Konftantinopel 
die Abweienhrit des franzöfifhen Oberbefehlshaber8 zum Handeln benugt, Willen 
feine Auffaffung über die Konferenz auf den Prinzeninfeln und über die Ber- 
mwaltung der deutjchen Kolonien mit Außerfter Zähigfeit durchgefegt Bat. Greif- 
barer no al? diefe in ihren SKonfequenzen und ihrer Bedeutung für die 
Allgemeinheit no gar nit deutlich zu überiehenden Mikerfolge find die Diplo- 
matischen Niederlagen auf der zsriedendfonferenz ſelbſt. Wenigſtens merden 
al3 fjolche empfunden die Zulammeniegung der Teilnehmer, die in ragen ber 
äußeren Bolitif Amerifa, in Solonialfragen infolge Nichtvertretung der franzö- 
fihen Kolonien im Gegenjaß zu den engliihen Dominiong England da Nlber- 
gewicht fichert, ferner die Teilnahme der Neutralen, die die feitgefügte Einheit- 
lichfeit der fiegreihen Großmächte, au denen nad) Franfreihg Meinung der 
Bölferbund zunädjit allein beftehen müßte, aufzulöfen droht, endlich durd die 
Geihäfteordnung, die zu allem möglichen abjchweift und nur nicht zu den Buntten 
fommt, die ranfreic) vorzüglich intereffieren: Eljaß-Xotbringen, da8 Saarbeden, 
das Iinfe Rheinufer. Um diefer großen Grundfragen willen fteht da8 Land, mit 
Ausnahme der Sogialiften, einftweilen nod) geichlofien Hinter feinem Minifter- 
prälidenten, aber e8 ift faum zuviel gejagt, wenn ınan behauptet, daß nad) den 
Mikerfolgen der vergangenen Wochen da8 YZutrauen zu Clemenceau merfbar 
fchwindet. Gelingt e8 ihm nit, die vom weitaus größten Teil der Bevölferung 
hoch erjehnten Mactfriedensideale auf der Konferenz durdhaufeken, oder entiteht 
ibn bei der Erfämpfung diejer Sdeale, mit der fich eine fchnelle Denmobilifierung 
wiederum nicht verträgt, ernithafter Widerftand im Lande (wozu bei der ae 
fegung der franzöfiihen Sozialiftenpartei allerding3 einftweilen feine Austicht 
beitebt), der ihm den notwendigen Rüdhalt rauben würde, jo wird der „Ziger“ 
trog aller Dantbarfeit, die da8 Land ihm meiß, einen tiefen und großen Tall . 
erleben fönnen, der franzöfifhe EChauvinigmus, den er felbit geftügt Hat, würde 
ihn ohne Gnade, wenn auch ohne Nugen, fallen. laffen. Er würde dann Tsranf- 
reich durch feine Mberihägung der politifchen Tragweite des militäriichen Siege, 
durch fein ftarres Fefthalten am Dogma ded8 Macdifriedens, das ihm Bemeglid)- 
feit in den anderen außenpolitifhen ragen raubte, um alles politiiche Prejtige 
gebracht Haben: die Tragif des aus Notwendigkeit Einfeitigen. Menenius 





WMaßgeblihes und Unmaßegebliches 


Seelentotfhlag. Herr Poincare Hat die BZubörer, in Ihrer Entfheidung (Paris als 
Barijer Konferenz am 18. Januar mit einer GSik der Konferenz zu wählen) eine Huldi 
Nede eröffnet, die in jeder Zeile den Sieger, gung aller don Xhnen vertretenen Nationen 
den Abvolaten und den fyrangojen verrät. fehen gegenüber einem Lande, weldes ... 

„Rafen Sie mich, fo apoftrophiert er feine dem Tode den fehwerften Tribut gezahlt Hat. 


Maßgeblihes und Unmaßgeblidhes 125 


Diefe gewaltigen Opfer hat Franfreid ge- 
bradht, ohne daß ed die geringite Verant⸗ 
wortlichkeit (sic!) trüge für die furdibare 
Kataftrophe, welhe den Erdball erfchüttert 
bat; und mit dem Augenblid, wo diefer 
Schredensfturm gu Ende geht, Tönnen fi 
ale Mächte, deren Abordnungen bier zur 
fammengetreten find, freijprehen bon irgend 
einem (!) Schuldanteil an dem Berbreden, 
das den Yuzgangdpunft eines beijpiellojen 
Verhängnifies bildet.” PBoincare fährt dann 
fort: „E23 erübrigen fi weitere Mitteilungen 
über den Ulrfprung de3 Dramas, von weldem 
die Welt erihüttert ward. Die Wahrheit, in 
Blut gebadet, iſt ſchon aus den kaiſerlichen 
Archiven entwichen. (Man ſieht, Eisners 
Drahenfaat ift aufgegangen!) Der Vor⸗ 
bedacht der Hinterlift ift heute klar erwieſen. 
Sn der Hoffnung, gunädft die europäifche 
Hegemonie und darauf die Herrihaft über 
die Welt zu erobern, haben die durch eine 
geheime Verſchwörung miteinander vers 
knüpften Mütelmädte (bei der Entente bat 
e3 fo etwad natürlich nie gegeben!) die ge- 
häffigften Worwände erfunden, um darauf 
aufzugeben, Serbien gu zerichmettern und 
fih einen Weg nad) dem Drient zu bahnen. 
Bugleih) Haben fie die feierlichiten Verpflich⸗ 
tungen verleugnet, um Belgien zermalmen 
zu fönnen und fih einen Weg in da® Herz 
Tranfreihs zu bahnen. Da8 find zivei un« 
bergeklihe Mifjetaten, weldhe die Wege zum 
Überfall eröffneten. ... Wenn nad) langen 
Wechielfällen, die, welche durh dad Schivert 
berrfhen wollten, durh da® Schwert um« 
gelommen find, fo Haben fie fi da% nur 
ſelbſt zuzuſchreiben uſw. uſw.“ 

Die alte Litanei, die wir nun vier und 
ein halbes Jahr bis zum Erbrechen hören. 
Es iſt alles hübſch beieinander: das wider⸗ 
liche Phariſäertum, geboren aus einer ge- 
heimen Mngft, Hinter dem zur Schau ge 
tragenen Engelztleide um Gotted willen nit 
die [hmugige Weite hervorfchauen zu laflen; 
die eitle Selbftgejälligfeit, die abermal3 wie 
1870 den Streuzträger der Menjchheit pojtert, 
der ftümperhaite, wietwvohl fehr begreifliche 
Berjuh, irgendiwelde für die Entitehung 
ded Strieged total gleihgültige ormen, in 
denen er fih entijpann (Mar Weber), als 
feine „Gründe“ vorzutäujhen, endlich 


die bewährten NMequifiten aus der durd 
und Ddurd verlogenen Gedantenwelt de 
„europäifhen Gleichgewichts”, da Diplo» 
matifche Handiwerlözeug des „alten Syftemg“, 
an dem Herrn Poincare3 Minijterpräfident 
ja ausdrüdliih feithalten will. Bei der 
„QDuelle” wundert man fich über nicht? mehr 
und tröftet fih Damit, daß dermaleinft die 
Geihihte über das Plaidoyer des Advolaten 
rihten und dabei „au den anderen Teil 
hören” wird. in beredtigter ‚Troft, nur 
muß diefer andere Teil dann aud) geiproden 
haben. GSenlt er aud Verwirrung, ftolzem 
Gelbitbemußtiein oder krankhaftem „Rechts“⸗ 
gefühl das Haupt, fo wird dem phrafen- 
geübten Gegner fein Werk erleichtert und der 
ſchließliche Wahrſpruch unnötig verzögert. 
(Daß er aud) dann einmal fallen müßte, 
davor ilt ung nicht bange!) 

Leider ericheint da8 Teutihland von heute 
in Ddiejer Berfaffung. Die äußere Niedere 
lage und die innere Auflöjung haben den 
Bulls» und Staatsförper derart geihwädt, 
daß er gegenüber den Strantheitäleimen der 
Uıngebung die nötige Immunität nicht mehr 
zu beſitzen ſcheint. 

Eine unſelige Leidenſchaft der Selbſt⸗ 
beſchuld'gung und Selbſterniedrigung iſt über 
dies ſtolze Volk gekommen, das ſich und 
feine Vergangenheit verleugnet. Abermals 
beugt es, wie jener Chlodwig, den Nacken 
vor fremder Gewalt und verbrennt, was es 
bisher angebetet hat. Abermals geht der 
Irrwahn eines Flagellantentums durch 
deutſche Städte und Lande, nur daß er ſich 
nicht wie im Mittelalter an der Würde des 
Individuums, ſondern der Nation als Ganr 
zem verſündigt. Nationale Würdeloſigkeit iſt 
deutſche Schwäche; dieſe Tatſache jedoch 
ſchließt die Schuld einzelner nicht aus, die 
durch ſtändiges Nörgeln und Schmälen am 
eigenen Herde jenem Fehler Vorſchub leiſten. 
Seit der Revolution iſt dieſe Sucht nationaler 
Selbſtbefleckung, bei der die Handelnden ſich 
und ihre Partei wohlweislich ausnehmen, zu 
einem Umfang und einer Stärke gediehen, 
die ſchwerſte Befürchtungen wecken. 

Wir klagen keinen einzelnen an und 
wollen nicht Parteipolitik treiben, wo es ums 
Ganze gebt. Aber Tatfahe ift doch, daß 
(zum mindejten) Sranfheitäträger jene Sreile 


126 


Maßgeblihes und Unmaßgeblidyes 





und Strömungen unferes Volles find, denen 
feine inneren Semmungen berbieten, den 
Begriff „deutich-national" (au wer weiß 
welden parteipolitiiden Beranlafjungen her» 
aus) in Verbindung mit berädhtlihen oder 
unfauberen Worten zu bringen; jene federn, 
die fih nicht genug tun fonnten in der Her⸗ 
abwürdigung Heimifcher politifher Einrich- 
tungen und die heute, wo die Mächte des 
Alten am Boden liegen, ed nit nur bei 
Ejelötritten bewenden lafjen, fondern au nod 
dem wehrlofen Gegner von ehedem ind Geficht 
fpeien. Wenn andauernd (geradezu mit der 
Monotonie des fallenden Tropfen?) von der 
Blutfhuld und dem „Lügenfeldzug“ der alten 
Negierung, der fluhbeladenen Dynaftie, dem 
Cumpf, in den und da3 frühere Syftem ge- 
führt habe, geiproden, geichrieben und ge- 
zeichnet wird, dann muß fih fchließlich der 
Gedante in die Gehirne einbohren und hier 
feine lähmende Wirfung üben. Wir geben 
zu, daß jene Fritifer meift von ehrlichen 
Abfichten geleitet find, daB aud) Blätter wie 
die Krankfurter Zeitung — deren fadhlidhe 
Gediegenheit außer Zweifel fteht — für deutfche 
Art und Würde mand gutes Wort gefunden 
haben, aber diefe „weißen Blutlörperchen” 
[pielen in dem genannten und gleichgerich- 
teten Organen nit die ‚ihnen gebührende, 
für die Geſundheit ausjchlaggebende Rolle. 
Wenn ein fo oppofitionell gerichteter Geift 
und Denler wie Mar Weber „die vollendete 
Erbärmlidhfeit” in unferem Verhalten nad) 
außen zugeben ınuß, da& alle überbiete, was 
die deutiche Gefhichte aufzumweifen hat, wenn 
er davon redet, daß Literaten dad Ohr der 
Welt gewannen, „die dad Bedürfnis ihrer 
durch die Wurdtbarfeit ded Krieges zer. 
brodenen oder der Anlage nad elitatifchen 
Geele im Durdwühlen des Gefühle einer 
Kriegefhuld befriedigen” — jo wird die 
„sranffurter Beitung“ von dem der Antlage 
unterliegenden geiltigen und Geelen-Zuftand 
nidt {hun darun abjolviert, weil jener 
Wederfhe Artilel in ihren Spalten er 
ſchienen ift. 

Der fo oft gepredigte YZufammenhang 
zwifchen innerer und äußerer Bolitif ift aud) 
denen nicht immer gegenwärtig, die auf feine 
Erlenntnis ftolg find. Sonft müßten fie ihre 
Worte im Hinblid auf da3 hellhörige Aus» 


land trog allem Unmut forgfältiger erwägen! 
Was mir gegen jene Srantheit im neuen 
Deutihland tun Tönnen? 

Mit derjelben Zähigleit und — * des 
höhlenden Tropfens unſer ceterum censeo 
zu rufen für die Heimat, für den guten, 
auch vom Auslande vor und während des 
Krieges ſtets anerkannten Kern deutſcher 
politiſcher Einrichtungen, für unſer Recht, in 
der Frage der Kriegsſchuld nicht als ent⸗ 
larvte Verbrecher vor die Schranlen gedrängt 
zu bleiben, ſondern im Rate der verwan⸗ 
delten Völker mitgehört zu werden. Nur ſo 
ſchaffen wir ein Paroli jenen Stimmen, die 
in unheilvoller Verlennung der Tatſachen 
Waſſer auf die Mühlen unſerer Feinde treiben. 

Iſt es nicht tief beſchämend, daß inmitten 
des Büßerchores der ſich blutig geißelnden 
Deutſchen die Stimme eines Ausländers 
Zeugnis ablegen muß für die hinter den Trug⸗ 
bildern der Erſcheinung liegenden wahren 
Urſachen des Krieges? Der bewundernswerte 
Aufſtieg Deutſchlands, ſo heißt es im offenen 
Briefe des Holländers Dr. Deerenberg an 
Ebert, iſt der Grund für den Haß gegen 
dies Land geweſen und der Kriegsgrund, den 
das neutrale Ausland für den einzig aus 
ſchlaggebenden hält, war der Neid um den 
beiſpielloſen Aufſchwung, die Wohlfahrt aller 
Stände, in erſter Reihe der Arbeiter. — 

Wir haben die giftig⸗ſchillernden Phraſen 
des Präſidenten der franzöſiſchen Republik 
an den Anfang geſetzt. Hier die deutſche 
Antwort: 

„Worum ging es im Grunde? Was war 
verkehrt? Was iſt heute wie geſtern, und nicht 
beſſer, ſondern ſchlimmer geworden? Woran 
krankt die Menſchheit, woran wird ſie kranken 
bis Gerechtigkeit geſchieht? Es ging darum, 
daß ein junges und rühriges Volk wuchs 
und Platz brauchte, und eine Lebenshaltung 
und Lohn verlangte, die ſich anglichen der 
Lebenshaltung und den Löhnen der gleich 
tüchtigen und gleich fleißigen Arbeitsgenoſſen 
in der Welt. Es ging darum, daß die älteren 
und bequemeren Völker dieſes naturnotwen⸗ 
dige Schwellen und Gären und Begehren 
mit Schrecken ſahen. Es ging darum, daß 
ſie früher als irgend ein deutſches Hirn er⸗ 
kannten, das kleine, eingeklammerte und 
bodenarme deutſche Land werde ſich weiten 


Maßgeblihes und Unmaßgebliches 


127 





müflen irgendwohin, um Plak zu fehaffen für 
Bert und Entgelt feiner Söhne 3 ging 
darum, daß fie troß jener befjeren Erlennt- 
nis jedem taftenden deutfchen Werfuche, dor» 
aubauen, wo noch Arcbeitsftätten gu vergeben 
waren und wo niemanded Rechte verlegt 
wurden, fih eifernd und eifern in den Weg 
ftelten. Es ging darum und nicht gulegt 
darum, daß die einzelnen Deutihen, da Ge» 
biete und Möglichkeiten ihre® Vaterlandes 
“nit wuchjen mit der Zahl und Tatlraft der 
deutihen Menihen, zu den Yremden famen 
und bei ihnen Arbeit juchten. &3 ging dar» 
um, daß jene einzelnen Wager fleißiger, 
tühtiger und zuverläſſiger waren als die 
nädjite limwelt, und daß fie diefe nötigten zu 
größerer Anfpannung und zu unbequemerem 
Tagewerle. E3 ging darum, nad) Verdienft 
teilhaftig werden zu dürfen an den Gütern 
der Erde und doc deutfch bleiben zu fünnen. 
E3 ging um da3 Net auf Arbeit ohne Aufe 
gabe ded eigenen Volldtums und da3 heißt 
ohne völfiihe Entehrung, wie e8 der Ameri- 
faner, der Engländer, der Sranzofe feldft« 
berftändli) hat und für fih nicht anders zu 
denfen vermag. E3 ging darum, daß dies 
alles allein den Deutihen nicht zugeftanden 
weıden follte, fondern daß man fie einzu» 
Ihnüren tradtete in dem zu kleinen Land 
ihrer Väter, daß man fie abzuhalten ver- 
fudte don den Robftoffen der Erde, dag man 
fie gern vergrämt hätte allerort3, weil fie 
jung Waren und um ihrer Jugend Willen 
gefährlich erichienen. 

Alles andere, wa8 Geheimalten enthalten, 
was Geſchwätzige zu enthüllen tvähnen, find 
Yolgeerjheinungen, find Umdeutungen, find 
bewußte und unbewußte Fälfchungen diefer 
Einfachheit. Und alle Fehler auf deuticher 
Seite, auf feiten früherer deuifcher Machte 
Baber, ftellen fih dar ald menjhliche Mittel, 
nit etiwa fich felbft etwad zuliebe zu tun, 
jondern gegenüber menjdlidem fibelwollen 
einem Naturborgange gerecht zu iverden. 

Aldeutihtum? — Der alldeutichefte 
Deutihe war der Arbeiter, der höhere Löhne 
berlangte. Belttyrannei? — Der ärgite 
Welttyrann war der Arbeiter jeder Gattung, 
der fi) wehrte gegen die Einftellung deuticher 
Arbeit3genofien. Großmannzfuht? — Ber 
gezivungen wird, fi zu wehren, muß glauben 


an feine Kraft. Amperialiamus? — Im⸗ 
perialiamu8 bedeutet Ausfchließung. Der 
Kampf um die Freiheit der Arbeitspläge und 
Spielpläße der Welt für jeden Fücdhtigen hat 
da3 Gegenteil zum Ziel. 

Gefährlich Schienen alle Jungen zu aller 
Zeit den Alten. Gefährlih ift die ein- 
gejhnürte und niedergehaltene Jugend. Jedes 
umftellte Gefchöpf beißt. Jeder Menſch wird 
böfe in erftidender Enge. 

E3 ging alfo um verziwungene Jugend, 
um verzwungene Natur. Darum ging e3, 
darum geht ed noch heute. 

Das gefteht zu, und Eure Sade bleibt 
die gute Sache, die fie war und bleibt wert, 
daß Wir für fie litten. —“ 

Soldes jhrieb jüngft ein Auslanddeuticher 
der Heimat zur Warnung.!) Erlöjende Worte 
in einer Zeit, wo da3 Gift der Lüge jich 
Herz und Hirn des deutichen Volfes nähert 
und e3 gelähmt und Ihwah den Mächten 
der Taufhung und Gelbittäufhung gegen» 
überiteht. Das „elende Geitammel der deut* 
ihen Schuld am Kriege”, als fei „das deutſche 
Reid und der deutiche Berluft um eine ber» 
dorbene und falihde Sade gewejen, ilt 
Geelentotihlag.” Nicht nur für die „müde, 


-aber aufhorhend an die fernen Gefangenen» 


zäune tretenden Volksgenoſſen“, das Ders 
breden richtet fi) gegen die Seele dieſes 
ganzen Boltes, dem der Glauben an fi 
felbft erfchlagen wird. (Denn da% Gefafel 
don der Verführung durh die Machthaber 
ift doch die unfinnigite Beleidigung Deutid> 
lands, da3 nicht erft feit dem 9. November 
„reif“ geworden fein Tann.) ö 
Und haben wir nicht in der Gegenwart 
genug des Unbegreiflichen, tief Betrübenden 
an deutiher Art ftil gu verarbeiten, muß 
au noch die von einer falih gezeichneten 
Vergangenheit au2gehende moralifde De- 
preifion auf und laften? Nein, dreimal nein! 
Auh für uns galt jenes Nedt, das in den 
Sternen banget unveräußerlid und da3 der 
Phraſenſchwall feindlicher Verleumdung nicht 
mindern kann. Man ſoll es gewiß nicht 
durch ſtetes im Munde Führen entweihen und 
entwerten, wie jene es tun, aber ſteigt die 


1) Hans Grimm in der , Voſſ. Ztg.“ vom 
1. Februar. 


128 





Not zum äußerften, dann ift es Pflicht, fi 
ded heiligen Zeihend zu erinnern, in dem 
aud der Befiegte fiegen fann. Gedähte dann 
jeder wie der mutige Befenner obiger Zeilen, 
fo ftünde die Macht des Geifle® auf gegen 
die Macht, und wir erfreuten uns alle eine? 
würdigen Friedend. Dr. 8. ©. Meisner 
Ein ungedrudter Hebbel-Brief, mitgeteilt 
von Dr. 9. Drabhn. Den nadfolgenden 
Hebrel-Brief fand ih in dem literarifchen 
Nachlaß des 1867 verjtorbenen Privatdozenten 
der Univerfität Bredlau, Dr. iur. Mar Neu⸗ 
mann. 
bon denen die Beihihte de8 Wucderd in 
Deutihland 1865 die bedeutendfte ift, war 
Neumann aud) literariih Lätig. Am Frühe 
jahr 1861 hielt Neumann in feiner Vater- 
ftadt Tanzig Borlefungen über da8 Tragilche, 
die mit einer Widmung an Friedrich von 
Raumer unter dem Titel: Das Tragiſche 1868 
erſchienen. Der Nachlaß enthielt ferner zahl⸗ 
reiche ungedruckte Gedichte; ſie behandeln rein 
lyriſche Stoffe, aber auch vaterländiſche, die 
die Jahre 1864 -66, namentlich die ſchleswig⸗ 
holſteiniſche Frage, betrefſen, ferner Über⸗ 
ſetzungen von Pſalmen und bibliſche Stoffe. 
Ein Zyklus von Dichtungen iſt unter dem 
Titel „Jakob und Rahel; ein Gleichnis“ zu⸗ 
ſammengeſtellt. Neumann ſcheint an eine 
Veröffentlichung ſeiner Gedichte gedacht zu 
haben und hat ſich wahrſcheinlich unter Bei⸗ 
fügung ſeines Auszuges von Gedichten an 
Hebbel mit der Bitte gewandt, ihm eine 
Empfehlung für den Berlag Hoffmann & 
Campe in Hamburg zu geben, in dem Hebbela 
Yudith, Genoveva, Maria Magdalena und 
Iyriihe Gedichte in den uhren 1841—44, 
ferner die Werfe von Heine, Gußlow, Börne, 
Brentano, Zaube, Raupad) u. a. m. erſchienen 
waren. Wie aus GHebbel3 Briefen an den 





Neben feinen juriftifhen Arbeiten, 


SEE rs 


Mafgebliches und Unmaßgebliches 


Tyroler Dichter von Pichler (Hebbels Brief⸗ 
wechſel hrsg. v. Bamberg, Bd. 2 ©. 898, 
Brief vom 12. 11. 1852) befannt ift, hat 
Hebbel es mit der „ethiſchen Verantworilich⸗ 
keit“', junge Talente gu fördern und zu er 
mutigen, fehr ftreng genommen. Wenn er 
trogdem Neumann für die „mitgeteilten 
Zalent-Broben” dantt, fo fpricht daraus eine 
gewiffe Anerkennung, feheinbar die einzige, 
die diefe nie erfchienenen Erzeugnifle einer 
feinen, tief empfindenden Seele von einem 
bedeutenden Manne erfahren haben. Der 
Brief entitammt dem XTodezjahre Hebbels: 
Geehrteiter Herr! 

€3 thut mir leid, daß ich mid gänzlig 
außer Stande fehe, Ihren Bünfhen zu ent 
fpreen, und ih will Ihnen dieß fogleid 
anzeigen, damit Sie nicht verhindert find, 
andere Schritte zu thbun. Ein junger Autor 
ftommt, wie die Literatur-Verhältniffe fich feit 
Decennien geftaltet haben, mit einer Samm- 
fung Iyriihder Gedite nur in den aller 
feltenjten Fälen zum Debut. Handlungen 
wie die Hoffmann & Bampe’fde, Iafien fid, 
wenn e3 fi) um die Anfnüpfung einer völlig 
neuen Perbindung handelt, nit um bie 
Hortfegung einer Taufmännifd) erprobten alten, 
faum gegen Erlag der Drudtoften auf bie 
Publication ein, und man Tann e% ihnen nidt 
berargen, denn die Linie, die im Iyrijchen 
Gebiete dad Echte vom Gehaltlofen fcheidet, 
ift fo fein, daß fie den meiften Hritilern ent- 
geht, geichweige dem großen Publicum, das 
der Buchhändler im Auge behalten muß. 

Andem ich Shnen daher rathe, bei Ihrem 
früheren Verleger einen Berfuh zu maden, 
danfe ih Ihnen für die mir mitgetheilten 
Talent-PBroben und verbleibe 

Ihr ganz ergebener Hebbel. 
Wien, d. 12. März 1868. 








Allen MPanufkripten iſt Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Rückſendung 
nicht verbürgt werden kann. 


Nachdruck ſamtlicher Aufſäre nur mit ausdrücklicer Erlaubnis des Berlage geſtattet. 


Verantwortlide: der Herausgeber Georg 


Gleinow ın Beri'n-Licterteide Welt. — PRanuitriptiendungen unb 


Briere werden erbeten unter der Adrefſe; 
An die Schriftieitung der Grenaboten in Berlin SW Il, Tempelbofer Ufer 85. 


Fernſprecher des Herausgebers: Amt Lichterfelde 498, des Verlage und der Schritiettung: 
Zerlag: Berlag der Brenzborten &.m.b. H. in Berlin SW 11, Tempelhofer 


Amt Yüsom FBI1O 
fer 35a 


Druck: „Der Reichebote“ G.m.b. 9. in Berlin SW 11, Dedauer Straße 86/87 





Dapft Benedift XV. und die Sriedensfonferenz 


Don Ardivrat Dr. I. £ulves 


. 


Se ie bevorjtehende große Friedenskonferenz hat gewiſſermaßen zivei 
Na Vorlauferinnen in den Haager Triedenskonferenzen der jahre 
| 1899 und 1907 gehabt. 
* Unvergeſſen iſt die Streitfrage, die jedesmal bei der Ein— 
Aberufung aufgeworfen wurde, ob unter. den Souveränen und 
a Staaten, die einzuladen feien, auch der Papſt figurieren dürfe. 
Fur die Heranziehung des Oberhauptes der katholiihen Kirche jprachen mehrere 
Erwägungen, vor allem die Tradition, daß fo oft fhon Träger des Papittums 
als Friedensvermittler von ftreitenden Parteien angerufen worden waren. 

er erinnert jich Dabei nicht des genialen Gedanken Bismards, in dem 

wilte zwifchen Deutichland und Spanien wegen de3 Befites der Karolinen- 

njeln Leo den Dreizehnten als Schiedsrichter vorzujchlagen. Der ‘Papit Hatte 
jih des Anliegens in gejchidter Weife entledigt, Dadurch zugleich diefe Tradition 
des Heiligen Stuhls zu neuen Ehren gebradt. Da war es volllommen verjtänd« 
lih, wenn der geijtige Vater der Haager TFriedenstonferenz=jdee, Zar Nikolaus 
der Biweite, ji an Leo mit der eindringlichen Bitte wandte, die “dee durch feine’ 
moralijche Autorität zu unterjtügen. „jn weiteitgehendem Maße wurde die Bitte 
erfüllt! Selbjtverjtandlih beabjichtigte die rujjtiche Regierung, den Bapjt zur 
Haager Konferenz hinzuziehen. Auch YFrankveich joll jich für diefen Plan ein- 
gejegt haben. Die italienifche Regierung aber befürchtete eine Wiederaufrollung 
der römischen Frage, fie wollte unter allen Umjtänden jich einer — über 
das Thema der ſeit dem Falle Roms, jeit dem 20. September 1870, ſchwebenden 
äpſtlichen Territorial- und Souveränitätsanſprüche entziehen. Darum erklärte 
zu Anfang 1899, an der Haager Konferenz nicht teilnehmen zu wollen, wenn 
der Papſt auf ihr vertreten wäre. Wohl wurde des letzteren „wertvolle moraliſche 
Unterſtützung“ für die Konferenz und ihre großen Aufgaben auch von der 
Königin Wilhelmine von Holland erbeten, wohl ward in beiden Kammern der 
holländiſchen Generalſtaaten eine gleichlautende Proteſtnote gegen die Aus— 
ſchließung des Papſtes von der Konferenz eingebracht; trotz alledem wurde ſie 
aus Rückſicht auf die Bedenken und Prätenſionen der italieniſchen Regierung 
durchgeführt. Ebenſowenig wie 1899 iſt 1907 ein Vertreter des Papſtes zur 
Haager Konferenz hinzugegezogen worden. 

Beide Konferenzen ſind in der Hauptſache ergebnislos geblieben. Die 
Nichtteilnahme des Papſtes erſchien faſt allgemein als Fehler; von den meiſten 
Völkerrechtslehrern und vielen Staatsmännern wurde ſie bedauert. Trotzdem 
droht der bevorſtehenden Friedenskonferenz das gleiche Verhängnis! 


Grenzboten J 1919 9 





130 Dapft Benedikt der Sünfzehnte und die Sriedensktonferenz 


Wieder tritt die alte Voreingenommenbheit Staliens allen gu inten 

und twohlmwollenden Ablichten der Kurie von vornbevein Hindernd in den Weg. 

taliens Beitritt zur Entente var mur zu haben unter der Bedingung; dab dem 

rs gen Ablommen vom 26. April 1915 folgender Artikel 15 ein- 
gefügt wurde: 

„Frankreich, Großbritannien und Rußland verpflichten ſich, Italien in 
ſeinem Vorhaben, nicht zu geſtatten, daß Vertreter des Heiligen Stuhles an der 
diplomatiſchen Aktion bezüglich des Friedensſchluſſes und der Löſung der mit 
dem Kriege verbundenen nen teilnehmen, gu unterjtügen” (nach „Secolo” 
vom 14. ebruar 1918). 2 

Da3 war eine von Dart übertriebener Angftlichteit erzeugte Präven- 
tiv⸗Maßregel! Auf Dem päpftlihen Thron ja ja nicht mehr Leo der Drei- 

er auch nicht Pius der Behnte, fondern jeit tvenigen Dtonaten Benedikt der 

ünfzehnte. 
it wenigen Monaten, jeit dem 3. September 1914! Man darf deffen 
ficher fein, daß die drei Ententemäcdhte zur Beit, al3 fie den dritten Genoflen aus 
dem Dreibunde für fich endgültig zu gewinnen und. feitzulegen juchten, über die 
Perſönlichkeit Benedikts des Fünfzehnten ſich noch nicht vollitandig im Haren 
ſein konnten. Vor allem über den Punkt: Würde Benedikt hinſichtlich der 
römiſchen Frage denſelben unverſöhnlichen Standpunkt einnehmen wie einſt 
Leo der Dreizehnte? Sehr bald ſollte es ſich zeigen, daß dem durchaus nic 
iſt. Allerdings hat Benedikt noch keinen völligen Verzicht auf ſeine territoriale 

oheit überhaupt ausgeſprochen. Aus gewichtigen Gründen läßt ſich das von 
dem Oberhaupte der katholiſchen Kirche nicht erwarten! Aber im übrigen geht 
Papſt Benedikts Entgegenkommen bis an die Grenze des Möglichen. Wieder: 
holt hat er erklärt: Nicht mit Gewalt wolle er weltlichen Beſitz und die inter⸗ 
nationale Sicherung eines ſolchen erſtreben; nur als willige Gabe wolle er 
beides aus den Händen des italieniſchen Volkes entgegennehmen. Seines 
Volkes! Denn der ehemalige Kardinal della Chieſa fühlt 1 mit flammendent 
Patriotismus als Sstaliener. Er vertraut auf den Öerechtigleitsfinn des italie- 
on Volkes, wie ich fein Kardinalitaatsjefretäar Gasparri in einer Unterredung 

nde uni 1915 ausdrüdte. Und auf welches Gebiet erhebt er Anfpruh? Wie 
uns der langjährige Präfelt der Vatikaniſchen Bibliothek P. Franz Ehrle in 
einem Auffage der „Stimmen der Zeit” (im September 1916) erraten lich, auf 
den Vatikan, die Peterskirche mit dem Petersplag in angemefjener Abrundung. 
Mit einem Papjte, der fich jo volljtändig al einer der ghrigen fühlt, dürften fi) 
die Sgtalierrer leicht verjtändigen, jofern der gute Wille dazu auf ihrer Seite vor- 
handen if. Damit verliert jene Beforgnis, aus der bei ihnen die Klaufel des 
oben zitierten Artifel3 15 im Londoner Geheimablommen entitanden ift, mehr 
und mehr ihre Dajeinsberechtigung! 

Doch es handelt fih um einen TFriedenslongreß, — um die Schaffung 
eines dauernden Friedens nach dem furchtbaren Weltkriege! Ir diefem hat nie- 
mand jo oft fi) ala echter Apojtel des Friedens bewährt, al3 gerade Papit Bene- 
dift der Zünfzehnte. Seinen Mahnungen an die friegführenden Völker, mit 
denen er jeine Regierung einleitete und den eriten Jahrestag des Striegsbeginnes 
marlierte, feinen ın gleihem Sinne, aber in zunehmender Dringlichkeit gefaßten 
Anfpraden undRundicreiben an dasstavdinalstollegium und an firchliche Ober- 
häupter folgte die befannte Triedensnote vom 1. August 1917 mit pofitiven 
Borihlägen an die Machthaber der Friegführenden Voller. Sie tft von den 
Souderanen der Mittelmädhte und ihrer VBenbündeten eingehend und entgegen- 
fommend beantwortet worden; fie hat aber auch) volle Beachtung bei der En—⸗ 
tente gefunden, viel mehr als es nu Sinn und Tendenz der „Yondoner Klaufel” 
zu erwarten war. Die Regierungen Englands und Srankreich3 haben allerdings 
die päpftliche Note fchließlich unbeantivortet gelafien. Die englifche fcheint wohl, 
wie Vendungen der „Weitntinjter Gazette” und des „Daily Zelegraph”, twie ge- 
legentliche Erklärungen des Dinifterprajidenten Lloyd George und Lord Cecils 

vermuten ließen, eine Beantwortung beabjichtigt zu Haben. An NRüdfiht auf 


e 


Papft Benedilt der Sünfzehnte und die Sriedenstonferenz 131 


Staliens Verlangen im Londoner Gcheimablommen, den Heiligen Stuhl bei „der 
diplomatischen Afttion bezüglich de3 le und der Löfung der mit 
dem Striege verbundenen Fragen” quszufchliegen, tft die anfcheinend zuerft nur 
aufgefchobene Antwort ıumtenblieben. Sn begreiflicher Verlegenheit bei einen 
Staate, der gerade während de3 Weltkrieges die Keueinrihtung einer diplomati- 
then Sertretung bei der Kurie für notwendig eradjtet hatte. Wine Verlegenheit, 
dic fogar in den Antworten nicht zu verfennen ift, welche EtaatSoberhäupter von 
Ententemähten der papitliien Friedensnote tatfächlich haben zuteil werden 
iaffen. Solche Anttivorten find erfolgt von feiten de3 Präajidenten der Vereinig- 
ten Staaten von Nordamerita am 30. Auguft und König AlbertS von Zelgien 
am 24. Dezember 1917. Snmer Elarer tritt endlich Frankreichs Abſicht zutage, 
jeine diplomatischen, Beziehungen zu der Slurie, Ihon in Rüdjiht auf fein 
Brotektovat über die Ktatholifen im Orient, wieder aufzunehmen. 

Woodromw Wilfon, in gewiljer Beziehung und zu gewiljen Seiten als das 
Haupt der Entente anerkannt, hat — jene Antwort nicht beſchränkt, er hat 
am 4. Januar 1919 ſogar Benedikt dem Fünfzehnten einen Beſuch abgeſtattet. 
Von welcher Seite die Initiative zu dieſem Beſuche ausgegangen iſt, iſt ungewiß. 
Kad) der „Agenzia Information“ ſoll der Papſt den Beſuch Wilſons gewünſcht 
und Wilſon ſich zu einem ſolchen im Einvernehmen mit Clemenceau, Lloyd 
George und Orlando bereit erklärt haben. Dieſes Einvernehmen area den 
Häuptern der Entente, einfchließlich des leitenden Staatsmannes Sftaliens, be= 
traf auch, wie ausdrüdlich verlichert wird, „Die Aufgabe der Stirche Bei der Nege- 
lung des Friedens”. Mehr noh! Das offizidfe Organ der italienijchen Regic- 
rung,. das „Siornale O’'stalia”, Hatte faft mit denjelben Worten die Friedens— 
aufgabe der Stiche, Ichon anläßlich des Abdrudes der päpjtlichen Sriedensnote, 
betont: Die Kirche, im Sinne Benedilts des Fünfzehnten zur höchften geijtlichen 
. ‚suftitution erhoben, „Eonne allein, Durch höhere SSnfpiration, den Völkern der 
erde daS fein, was das Haager Schtedägericht — bei jeiner Materialität vergeb» 
lich — ihnen hatte fein wollen“. Ä 

Geſteht jchon „Staliend Regierung, bei verjchtedenen Gelegenheiten, dem 
gegenmwartigen ’Bapite eine jolhe Miffion gu, jo tft eine Ausschaltung des Papites 
aus einer sriedenstonferenz, aus der ein wirklicher Völtenbund erftehen foll, ein- 
fach unverjtändlich! 

Dazu hat jih Benedikt der Fünfzehnte perfünlih al$ wahrer TFriedens- 

fürft im Sinne edhter Menfchlichkeit, im Sinne wahren Chriftentums, nicht auf 
Worte und Erlaſſe beſchränkt. Er hat im edeljten Sinne felbjtäandig gehandelt. 
Allerdings ift mancher feiner menjhenfreundlichen Abfichten, wie feinen Bor: 
Ihlage zur Waffenruhe, wie der oben behandelten Friedensnote der erjehnte 
Erfolg verjagt geblieben. Zatfache aber ift, daß feiner Snitiative Taufende und 
aber Laufende von Striegd- und Zivilgefangenen eine Diilderung ihres jchweren - 
Lojes verdanken, daß von ihm allein die heilfame dee des Austaufches der 
friegsuntauglich geivordenen Kriegsgefangenen noch während des Fortganges 
der furchtbaren Stampfe jtammt. 
Beneditt3 Unparteilichteit fteht hoch erhaben über jeden Ziveifel, mag fie 
ih auch mitunter in Urteilen und Erklärungen gegen uns offenbart haben, 
ivie bezüglich der Deportation belgijcher Einioohner und fonjtiger Bedrüdungen, 
die unferen Landsleuten in der feindlichen Preife nachgejagt tuorden find. Bft 
genug ift feine Objektivität, feine Neutralität den Abjihten der Mittelmäcdhte, 
zum Beröruß ihrer Gegner, gerecht geworden. Die Teilnahme eines derartig 
veranlagten Friedensfürjten auf dem von biftoriichen und ethifhen Traditionen 
unuvobenen Papjtthrone, das Erjcheinen feines Vertreter3 auf der Friedens— 
a würde diefer, auf der rudfichtsiofejte Gemwaltpolitit Menfchen- und 
Völfervechte zu unterdrüden droht, a. aber Ähon der Bolihetwismus ge= 
Ipenfterhaft feinen Schatten wirft, erft die eigentliche moralifhe Weihe geben! 


TR 





9* 


132 Befenntniffe und Selbftbefhuldigungen 





Befenntnifje und Selbitbefchuldigungen 
nach belgifhen ©riginalbriefen 
Don Ardivrat Dr. H. Witte 


ie alten, abgebraudten Märchen über deutfche Greuel werden 
| wieder — 
Den feindlichen Greuelkommiſſionen ſind grobe Lügen, ja 
offenbare Fälſchungen nachgewieſen worden. Das hindert nicht, 
daß nun die ſchwergeprüften Völker endlich den Frieden heran— 
— Mnahen ſehen, leitende Staatsmänner unſerer Gegner nicht nur uns 
die ganze Schuld am Ausbruche de3 Strieged aufbürden, jondern auch zur Bor- 
bereitung eines %riedend, der angeblid der VBerfühnung dienen joll, von Ber- 
brechen und Greueln reden, al3 jeien fie nur auf unferer Seite verübt worden. 

Sollen wir da3 nodh länger fait widerſpruchslos über uns ergehen laſſen und 
dadurch unſeren Feinden ein ſcheinbares Recht einräumen, die Friedensverhand— 
lungen gu einem Weltgericht zu geſtalten, in dem fie — nicht allein Partei und 
Richter in einer Berjon, jondern aucd) als die zehnfah Schuldigeren — über ung 
zu Gericht zu fien und ung zu verurteilen fi anmaßen dürfen? 

Eine Frage drängt jih auf: It das, wa8 die Greuelfommillionen der 
feindlichen Staaten unferm Heere Nble3, Schandbares, ja Entiegliches nachjagen, 
und wovon jeßt feindlide Staat3männer al3 von erwiejenen Zatfahen zu reden 
wagen, ift daS wirflic” von der Bevölferung der uns feindlichen Zänder geglaubt 
worden? Auh von ihrem befjeren und verftändigeren Zeile, vor allem von 
denen, die in der Lage waren, fich durch eigene Anfhauung ein jelbjtändiges 
Urteil zu bilden? 

Aber wie mollt Ihr Deutiche dieje yrage beantworten? wird man und 
fopfichüttelnd entgegenhalten. Gemah! Wir können e8 — für Belgien wenig- 
itend! Mehrere Hunderttaufend meift al? unbeitellbar liegen gebliebene belgijche 
Briefe, die und bei der Einnahme Antwerpens in die Hände fielen, jegen uns 
in die Lage. Sie eritreden fich über die ganze Zeit von oder richtiger vor Aus- 
brud de Striege® bi8 zu Antwerpen al. Gerade die Kajliihe Zeit der 
„deutihen Greuel“ (atrocitEs)! Die Briefe ftammen aus allen Teilen und aus 
den verjchiedenften Bevölferungsfreifen de3 belgischen Xandes. 

E3 ijt flar, daß die belgische Pot und vor allem die _belgijche Militär. 
zenfur uns nicht gerade da3 in die Hände haben fallen lafien, wa3 für un am 
günftigften und für den belgifhen Standpunft am peinlidhiten war. Tirogdem 
findet fich folche3 recht Häufig in der zurüdgelafjenen belgischen Briefmafje. Man 
fann aljo jchliegen: Derartige muß in der Gejamtmafje der damal3 gejchriebenen 
belgijhen Briefe noch ungeheuer viel mehr vorhanden gemwejen fein. 


I. Urteile über die deutjhen Soldaten. 


Häufig genug ift in den Briefen die Rede von den Schauermären. Natür- 
ih! Die Zeitungen konnten fi ja nicht genug darin tun, die Schauermären zu 
Bergen anzuhäufen. Flüchtlinge mit ihrer durch die jchweren Ereignifje vielfach 
überhigten Phantafie trugen fie im Lande herum. Dide Wollen von Schauer- 
mären lagen über dem ganzen Zanbe. 

Doch merkwürdig! Die Leute, die in diefen Briefen die Schauermären am 
eifrigften und gläubigiten weiterverbreiten helfen, dieje Leute haben faft noch nie 
einen deutjchen Soldaten gejehen! Und Hatten fie ausnahmsweije einen gejeben, 
jo ift, wa3 und wie fie berichten, durchaus nicht danad) angetan, einen nüchtern 
und bejonnen urieilenden Dann an die Darftellung glauben zu machen, die bel- 
giſche, franzöſiſche oder engliſche Greuelbefliſſene vom deutſchen Heere zu geben 
ſich erniedrigen. 

Wer aber die deutſchen Soldaten ſchon aus der Nähe hatte beobachten 
können, der urteilte ganz anders. Nur ein paar Beiſpiele aus Unmengen! 





Befenntniffe und Selbfibefhuldigungen 133 


Eine Gutsbefigerstochter auß der Umgegend von Lüttich berichtet eingehend 
über den Schredendtag de8 15. Auguft, wo die umliegenden Dörfer brannten 
und eine größere Abteilung deutiher Soldaten auf ihrem Hof biwatierte: „Nous 
n’avons pas eu & nous plaindre .. . ils Etaient bien gentils tous... tous . 
&taient respectueux* (Wir haben uns nicht zu beflagen gehabt... . fie waren 
alle. fehr artig ... . alle waren ebrerbietig). 

Bon einem Angehörigen des College St. Louid in Lüttich erfahren wir 
unter dem 14. Auguft 1914 über dort einquartierte deutfhe Truppen: „Tous sont 
tres polis et pre&venants“ (Alle find jehr Höflih und gunorlommend). 

Ein Ordendbruder fchreibt au8 Maredfouß (Provinz Namur) 1. September 
1914: „Les Allemands ont &t& tr&s corrects, m&me coulants envers nous“ 
(Die Deutihen find fehr forreft, fogar entgegenfommend gegen ung gewefen).. 
| Aus Beverloo ein Notar über beutiche Einquartierung 23. Auguft 1914: 
„Rien n’a &te derange et j’ai eu les remerciments bien vifs de ces Messieurs“ 
(Nichts ift in Unordnung gebracht, und id) empfing Tebhaften Dant von diefen Herren). 

An Brüffel madjte die Sicherheit, in die man fi) durch die falfhen Siege?- 
nachrichten hatte wiegen lafjen, jähling8 einer wahnmwigigen Panik Plag, als die 
angeblich überall geichlagenen Deutihen vor den Toren der Stadt erichienen. 
Man ah fid) und die Seinen fchon von den „Barbaren“ gemißhandelt und mafjafriert. 

Doc welhes Wunder! Die Gefürchteten zogen durch die Stadt „zoo zacht 
als eene kudde lammeren“ (jo fadhte wie eine Zämmerberde)! So zu Iejen in 
einem Brüfjeler Brief vom 21. Auguft 1914. 

Auf eine belgifche Generalsfrau madıte die mufterbafte Haltung der durd) 
Brüffel ziehenden deutichen Truppen folhen Eindrud, daß fie fi) (20. Auguft 1914) 
fogar zu dem fegerifhen Glauben fortreißen ließ: „qu’ils ne sont vraiment 
cruels que lorsqu’ils sont attaques par les civils“ (daß fie nur graufam find, 
wenn fie von SBiviliften angegriffen werden). 

Böllig irre geworden an ihrem biäherigen, durch die Preßlügen erzeugten 
Glauben ruft eine Dame in Eljene (Srelles, 21. Auguft 1914) au: „Peut-on 
croire que des hommes aussi calmes ont &t& si barbares dans d’autres con- 
trees (car les journeaux relatent une foule d’atrocites qu’ils ont commises 
pas bien loin d’ici; j’ai peine & le croire). lis sont des plus aimables“ ujw. 
(Kann man glauben, bak fo ruhige Leute in anderen Gegenden jo barbarijd) 
gewelen find? Denn die Zeitungen erzählen eine Maffe Greuel, die fie nicht jehr 
weit von bier begangen haben; es fällt mir fehwer zu glauben. Sie find äußerft 
liebenswürdig). 

Eine andere Brieffchreiberin!) erklärt — wie viele andere — die Zeitungs⸗- 
ſchreibereien kurzweg für Lügen (21. Auguſt 1914): „Ils (d. h. les soldats allem.) 
ne sont pas mechant du tout, tout ce que les journaux ont écrit ce ne sont 
que mensonge, il ne font du mal à personne quand on les laisse tranquille“ 
(Sie ſind durchaus nicht böſe. Alles was die Zeitungen geſchrieben haben, ſind 
nur Lügen. Sie tun niemand etwas Böſes, wenn man ſie in Ruhe läßt). 

Aus Beirlegem in Oſtflandern fchreibt (16. September 1914) ein Soldaten- 
vater über die Maffendurdhgüge und Einquartierungen der Deutichen: „Hier 
hebben zij zoo braf gewest dat het niet beter zijn kon“ (Hier find fie jo brav 
gewefen, daß e3 nicht beiier fein fonnte). 

Eine fehr vornefme Antwerpener Dame fchildert (6. Oftober 1914) das 
Verhalten ber Deutichen in einem lofter der Umgegend. Sie feien „si polis 

u’ils marchaient sur les bas pour ne pas &veiller les dames pensionnaires“ 
(io höflich, daß fie auf Strümpfen gingen, um die Benfionärinnen nicht zu weden). 

Milde und geredht mahnt eine Briefichreiberin, die felber die Schreden de3 

Krieges Zennen gelernt Hatte: „Ne dites pas trop de mal de nos ennemis, car 


1) Begeichnend ift e8, daß fo viele günftige Urteile von Brieffchreiberinnen berrühren. 
Die belgiihen Krauen übertreffen im allgemeinen die Männer nod an Bitterleit und Une 
verföhnlichteit des Deutichenhafle. Dadurh gewinnen diefe Außerungen no an Gewidt. 


134 Belenntniffe und Selbftbefchuldigungen 


ils sont terribles, quand on les attaque, parcontre tres polis quand on ne 
leur fait rien“ (Sprecht nicht zuviel Mbles von unferen Feinden, denn fie find 
fhredlich, wenn man fie angreift, dagegen fehr Höflih, wenn man ihnen nidht8 tut). 

Ein Antwerpener Herr äußert die Meinung, daß die Striegsgefangenen 
„sont tres bien trait&s par les Allemands“ (fehr gut behandelt werden von den 
Deutfchen). Alle gegenteiligen Außerungen „sont simplement des mensonges“ 
(find einfach Lügen). Ebenfo gebe e8 „pas d’exemple ou les religieuses auraient 
eu A subir les traitements que l’on raconte“ (fein Beijpiel, wo die Ordend- 
fchweitern Behandlungen zu leiden gehabt Hätten, wie ınan fie erzählt). 

Diefer Herr, der fo entfchieden für den guten Ruf der deutfhen Truppen ein- 
tritt, ift der nahe Sreund eines Mitgliedes der belgifgjen Greuelfommilfion und 
beruft fih ausdrüdlid daraufl ° 

Diefe und Hunderte ähnlicher HAußerungen beiweifen zur Genüge, daß das 
Gefchrei von den „deutihen Greueln” feineswegd bei der gejamten belgiichen 
Bevölkerung Glauben gefunden bat. Und zwar bezeichnenderweife um fo weniger, 
je näher die Belgier unfere Truppen fennen gelernt hatten. 


1. Deutfhfeindlide Stimmung. 


Die Belgier und Belgterinnen, die gerehte Urteile und Meinungen über 
u Truppen äußerten, dürfen darum feinesweg8 als deutfchfreundlid) angejehen 
werden. 

Im Gegenteill Seit Sahren vor Krieggausbrucdh Hatte die franzöfiiche und 
die in ihrem Sahrwaffer fegelnde belgiiche Prefje der Bevölkerung einen unver- 
föhnlihen Haß gegen alles Deutiche eingehämmert. Die belgifche Regierung batte 
dem mit wohlwollender Untätigfeit zugefehen. Sett ging dielfe Saat blutig auf! 

Kein Wunder! Die Grundftimmung der ganzen belgiichen Briefmafie diejer 
älteren SKriegszeit ift die eine8 wilden, unverföhnlichen, ja. blutdüritigen Hafjes 
gegen Deutichland und die Deutfhen. „Den Duitsch moet kapot!“ ift das, 
bezeichnende Stichwort,. das auggefprodhen oder unaudgelprodhen überall durd- 
Hingt. „Der Deutihe muß in Grund und Boden vernidtet‘ werden!” Vom 
ganzen Deutichen Reich darf kein Yegen Landes übrig bleiben! „Schone feinen 
von ihnen! Bringe alle um, die vor deinen Säbel fommen!* So mahnen jelbft 
Mütter und Bräute ihre im Yelde ftehenden Söhne und Verlobten. So auß 
2obelindart, 15. Auguft 1914, ftark unorthographifch?): „Soit sarıs pitie, massacres 
en le plus possible, pas de quartier pour ces b£tes feroces* (Sei ohne Mit 
leid, morde fo viele wie möglich, fein Pardon für diefe wilden Tiere)! Ahnlih 
in flämifcher Sprade au8 Brügge, 2. Oftober 1914: „als gij eenen duitschen 
soldaat onder uwe handen kreegt, moet gij geene medelyden hebben met 
zulke barbaaren; gij moet hem ... afmaken“ (wenn Du einen deutichen Sol- 
daten unter die Hände friegft, mußt Du fein Mitleid haben mit foldhen Barbaren; 
Du mußt ihn...... abſchlachten). 

Einer beſonderen Beliebtheit erfreuen ſich geſchmackvolle Bilder wie „den 
laatsten uitmoorden en choucroute van maken“ (dem legten ausınorden und 
Sauerfraut davon maden; Wynegbem, 4. Oktober 1914). Auf franzöfiich ent- 
fprehend: „Qu’est que l’on ne häche ga et en faire de la saucisse, et le 
donner a manger aux porcs et aux chiens* (Warum verhadt man das nicht zu 
MWürfthen, um fie Schweinen und. Hunden vorzumwerfen; Wolume- St.-Lambert, 
19. Auguft 1914). 

Ein offenbar nicht ungebildeter Lazarettgehilfe (ambulancier) vergißt fi 
foweit, feiner nn zu fchreiben (Daufjoulr, 20. Auguft 1914): „Ik geloof 
dat de eerste Duitscher, die ik moest tegenkomen, niet heelhuids uit myn 
handen zou geraken. Zoo waar ik leef, liever laat ik mij neerschieten dan 
wel een duitsche gekwetste op te rapen“ (Sc glaube, daß. der erfie Deutice, 
bem ich begegne, nicht mit heiler Haut au8 meinen Händen fommen fol. ©o 


2) Die Schreib» und Spracdjfehler der Briefterte find grundfäglid; nirgends verbeflert. 


Belenntniffe und Selbftbefchuldigungen 135 





— — lieber laſſe ich mich niederſchießen als einen verwundeten Deutſchen 
aufzuleſen 

Der Sohn eines belgiſchen Oberſten, ſelber Offizier, entblödet ſich nicht, 
ſeinen Eltern im Hinblick auf gefangene Deutſche zu ſchreiben (Poſtftempel Schaer⸗ 
beef, 18. Auguft 1914): „On les traite beaucoup trop bien ces canailles lä, on 
devrait les livrer & la populace pour les Iyncher* (Man bebanbelt diefe 
Sanaillen viel zu gut, man follte fie dem Mob zum Lynden überlaflen). 

Bon folder Art ift die Stimmung, die diefe ganze große Maſſe belgiſcher 
Briefe beherrſcht! Auch die Briefe, die gutes über unſere Soldaten zu berichten 
wiſſen. Es iſt klar, daß ſolche von erklärten Feinden freiwillig und mit ruhiger 
Aberlegung über unſere Truppen abgegebenen günſtigen Urteile ein ganz anderes 
Gewicht haben, als wenn ſie von parteiiſch für uns Eingenommenen herſtammten. 
Ein ganz anderes Gewicht aber auch als ſämtliche Greuelausſagen in mahn- 
witziger Angſt aus ihren Heimſtätten entflohener Einwohner oder den Ereignifſen 
nicht nahegekommener belgiſcher, franzöſiſcher oder engliſcher Soldaten, die außer— 
dem ja raſch genug merkten, welches innige Behagen ſie den hochehrenwerten 
Een der Ententemädte mit den bluttriefendften Erzählungen 

ereiteten 


II. Gewalttaten. 


Selbitverftändlicdh blieb e8 nicht bei Worten. Der wieder und wieder‘ a 
gepeitichte Haß mußte fi) in Taten entladen. 

Schon am 3. Auguft, al8® von Deutichland noch keinerlei Seindfeligfeit 
erfolgt war, wurde in Brüffel das Handelshaus Tieg audgeplündert. Alle deutichen 

Cafes wurden zeritört. SKeineßmegs dur den Mob allein. Am 4. Auguft 1914 
berichtet eine Brüſſelerin: „Les étudiant et les voyous par bande s’en vont le 
soir roder partout oü il y a des etablissement allemand, vont casser les 
vitrines, qu’il n'’y a pas un morceaux qui reste“* uſw. (Die Studenten und 
Bummler ftreifen abends in Banden herum überall mo beutihe @eihäfte find, 
zerichlagen die ienfter, jo daß fein Stüd übrig bleibt). 

ine Dame bat e8 mitangejehen und vn darüber an einen verwandten 
Offizier (Pofiftempel St. Joffe-ten-Noode, 5. Auguft 1914): „On y a jete les 
malles ä travers les vitrines ... On bat ici devant la maison un vieil alle- 
mand, le sang lui coule de la bouche et je vois qu’il a un beau petit trou 
dans son cräne* (Dan bat die Koffer durch) die Senfterfcheiben geworfen. . 
Man Iichlägt Bier vor dem Haufe einen alten Deutichen, daß Blut läuft ihm aus 
dem Munde, und ich jebe, daß er ein fchönes Lleined Koh im Schädel bat). 

Zag8 darauf (Bruxelles, 6 aoüt) diefelbe an denfelben: „Il est vrai, qu’il 
n’y a plus rien d-demolir, le plus beau a &t& au vieux Düsseldorf, on ya 
jete serveuses et serveurs sur un tas, apres on a cass& sur leur dos tout le 
mobilier“ (68 ift wahr, e8 gibt nicht8 mehr zu zeritören. Das Schönfte war in 
Alt-Düfleldorf. Da hat man Kellnerinnen und Stellner auf einen Haufen geworfen 
und dann auf ihren Rüden da8 ganze Mobiliar zerichlagen). 

Nicht weniger lebhaft ging e8 in Antwerpen ber. Eine Soldatenfrau ſchreibt 
ihrem Mann (6. Auguſt 1914): „Al de duitsche kafés zijn leeg geplundert, de 
meubels hebben zij van boven uit de vensters gegoed; met 20 à 30 man 
gingen zij in een kaf& en sloegen alles kapot en de polies moegt er niet 
aan doen* (Alle deutichen Kaffeehäufer find Ieergeplündert. Die Möbel haben fie 
von oben auß den Tsenftern geworfen. Mit 20 bi8 30 Mann gingen fie in ein 
Staffeehaus und ſchlugen alles entzwei, und die Polizei konnte nidht3 dabei tun). 
— ar wir Ihlieglihd noch einen Hauplagent der Antwerpener Polizei 

ugu 
„Den er van de Antwerpenaars tegen de duitschers is zoo groot, dat 
zij allen gaan vluchten; zoo er eenen gezien wordt op de straat, wordt hii 
om zoo te zeggen gelyncht. . . Dinsdag avond en nacht heeft het volk al 
de duitsche instellingen, herbergen enz. vernietigd, niets is er geheel gebleven, 
gansche huizen werden om zoo te zeggen afgebroken of hunnen inhoud 


136 | Befenntnifje und Selbfibefhuldigungen 








vernield tot solferstekjes* (Der Haß der Antwerpener gegen die Deutfchen ift fo 
groß, daß fie alle flüchten. Wird einer auf der Straße J—— wird er ſozuſagen 
gelyncht. . . . Dienstag abend und nacht hat das Volt alle deutſchen Wirtſchaften, 
Herbergen uſw. zerſtört, nichts iſt heil geblieben, ganze Häuſer werden ſozuſagen 
abgebrochen oder ihr Inhalt vollſtändig vernichtet). 

Und. wie in Brüſſel und Antwerpen, ſo ging es in Lüttich, Namur, Gent, 
Oſtende uſw. zu. 

Aber auch die kleineren Orte wollten nicht zurückbleiben. Aus Mouscron 

an ber franzöfifhen Grenze wird berichtet (7. Auguft 1914): „Les Allemands 
sont tres mal regus A Mouscron, chaque fois qui en descend A la Gare il 
sont battus par les mouscronnais comme des bätes et le gendarmes les laisse 
faire“ (Die Deutihen werden jehr fchlecht empfangen in Moußcron. Iedesmal 
wenn einer -augiteigt auf dem Bahnhof, wird er von den Mouscronnern wie ein 
Zier gefhlagen, und der Sendarm läbt e8 geichehen). 
Die Gendarmen taten nod) ganz andere Saden! Aus Baubour im Kreife 
- Mond wird gejchrieben (PBoftitempel 5. Auguft 1914), daß der Gendbarm „a donne 
une conference sur la place verte hier soir disant qu’on peut sans crainte 
fusiller tout allemand qui dit le moindre mot“ (geftern abend auf dem Grünen 
Plag eine Borlefung gehalten und gejagt Hat, dag man ohne Furdt jeden 
Deutifchen erihießen dürfe, der da8 geringite Wort fagte). 

Wie gefährdet in der Tat da8 Leben der friedlichiten Deutfchen bamals in 
Belgien war, zeigt die brieflihe Nachricht eines Gefchäftgmannd au Menin vom 
11. Xuguft 1914: „Hier soir vers 8'/, heures, le patron du Damien (?) a 
manque& d’etre tue; un Meninois dit Boerke lui a porte un formidable cou(p) 
de couteau dans le cou sous pretexte qu’il £tait allemand et qu’il voulait 
absolument en tuer un* (Geftern abend gegen 8'/, Uhr wäre der Herr des D. 
faft getötet worden. Ein Deeniner mit Namen B. Hat ihm einen furdtbaren 
Mefjerftih im Halje beigebradht unter dem Vorwand, daß er Deuticher wäre und 
daß er durdjaus einen töten wollte). 

Und im Yelde? Wie mag ed da auögefehen Haben? 

Ein nad Schrift und Ausdrudsmweife gebildeter Soldat fchreibt unter dem 
Boftftempel Dave (bei Namur), 20. Auguft 1914, einer Antwerpener Yrau: „J'ai 
vu hier le corps des volontaires ayant servi au Congo. Ils ont tellement 
aiguise leurs baionnettes qu’ils peuvent couper leur pain avec elles!i Je 
crois qu’on ne fera plus de prisonniers. On tue tout; c’est l’extermination 
de la race!“ (Sc) Babe geftern da8 Storp8 der Freiwilligen vom Kongo gefehen. 
Sie bahen ihre Bajonetie fo geihärft, dag fie damit ihr Brot fchneiden fönnen!! 
Ih glaube, daß man feine Gefangenen mehr mahen wird. Dean tötet alle; es 
gilt die Außrottung der KRaffe!). | 
Am 16. Auguft 1914 fchreibt ein anderer belgiiher Soldat feiner Frau 
aus Sint-Foris-Winge im Kreife Löwen, die Leichen lägen auf dem Schlachtfeld 
bei Dieft jo „op een gestapelt, dat men over de lijken moet sprijgen over 
ons Broeder en Vijanden om den eenen en den anderen kapot te maken nog 
veel herger als wilde besten“ (übereinandergeftapelt, daß man.über die Leichen 
pringen muß, über unfere Brüder und Yeinde, um den einen und den andern 
umzubringen nod) viel ärger al® wilde Tiere). 

Unter dem 16. Wuguft 1914 berichtet denn auch ein belgifcher Unteroffizier 
aud Landenne im Kreife Huy, die Sancierd hätten „getern 80 Gefangene gemadit. 
Ihr Kommandant fagte ihnen, fie jollten fie nad) Namur bringen. Aber al3 er 
zurüdfem, batten fie die SO Gefangenen über den Haufen gejofien. So ver- 
ttehen e8 fchon die belgifhen Soldaten, aber ihr Kommandant himpfte fie aus. 
Hätten er nit an fi gefalten, dann hätten fie ihn auch ermorbet.“°) 


e), Der DOriginaldrief wurde am 16. Oftober 1915 an da8 Fl. Goub. Untiverpen weiter- 
egeben. Darum diefer Auszug nad einer bei den Alten zurüdbehaltenen Xeilüberfegung. 
ie Urfhrift ift wie alle anderen bier benugten Briefe — meine Hände gegangen. 


‘ 


Befenntniffe und Selbftbefchuldigungen 137 


IV. Angriffe der Bevölkerung auf deutfhe Truppen. 


Wäre e8 ein Runder, wenn ungebildete deutiche Soldaten in ihrer Empörung 
über folhe Mißhandlungen Deuticher auf ihre Weile Nahe genommen hätten? 

Sie haben e8 nicht getan! Das ift einer der größten Ehrentitel unſeres 
Boltes in Waffen. Selbit die Belgier Ipredhen e8 ja fo oft in ihren Briefen aus: 
Leute von diefer Art Lönnen gegen die Bevölferung mit blutiger Strenge nur 
eingefchritten fein, wenn fie von ihr angegriffen waren. 

Bon vielen folder Außerungen nur die eine Löwener Advofaten vom 
17. Auguft 1914: „Je pense bien que dans les villages incendies, l’element civil 
aura eu quelque chose A se reprocher“ (3 glaube wohl, daß in den an- 
gezündeten Dörfern die Zivilbevölferung fi) etwag vorgumwerfen baben wird). 

Sehr viel deutlicher äußert fi zu einem bejtimmten Sal ein in Antwerpen 
anfälliger Holländer, dem ein vorübergehender Aufenthalt im Holländiichen Limburg 
Gelegenheit zur Erkundigung geboten hatte. Er bedauert (14. Auguit 1914), daß 
„zooveel menschen wreedaardig vermoord zijn, die hun leven hadden kunnen 
redden, indien zij zich hadden rustig gehouden“ (fo viele Menjhen graufam 
ermordet find, die ihr Leben Hätten retten können, wenn fie lic) ruhig verhalten 
hätten). Bife und andere belgilche Srenzdörfer „hebben hetzelfde lot ondergaan, 
daar de inwoners var uit de huizen op de vorbii trekkende duitsche troepen 
hebben geschoten. Van Belgische ziide zijn echter ook groote wreedheden 
gebeurd, het schynt dat zij liiken hebben verminkt en zelfs gewonden de 
oogen hebben uitgestoken; dit heb ik vanı oogetuigen zelf hooren bevestigen“ 
(bBaben da3felbe 208 erlitten, da die Einwohner auß den Häujern auf die 
vorbeigiehenden deutfchen Truppen geidhoflen haben. Bon belgiiher Seite find 
jedoh aud) große Graufamfeiten gefchehen, e8 fcheint, daß fie Leichen veritümmelt 
und’ felbft Verwundeten die Augen audgeftochen haben; dieß babe ich von Augen- 
“zeugen jelber beitätigen hören). 

Diejer gebildete, in Belgien anfäflige, keineswegs für uns parteiifche, fondern 
für Belgien eingenommene Holländer äußert fih auf Grund von Erktundigungen 
bei Augenzeugen jo beitimmt, daß man an feinen Worten nicht achtlo3 vorüber- 
geben tann. - 

i Doh audh direlte Außerungen von Ortdanweienden und Augenzeugen 
_ liegen vor. 

Unterm 12. Auguft 1914 erfahren wir au8 Belgifch-Quremburg: „Un regiment 
allemand passa d Vaux-les-Rosieres. Un fou dechargea sa carabine sur eux“ 
(Ein deutihe3 Regiment 30g durch) Baur-led-Rofiered. Ein Unfinniger jchoß 
feinen Starabiner auf fie ab). | | 

Aus Bevinghen (zu St. Truiden gehörig) unterm 16. Aüguft 1914: „Op den 
. Tongerschen steenweg hebben veel burgers hun leven gelaten, zij hadden 
geschoten op de Duitschers* (Auf der ZTongerfhen Landitrage haben viele 
Bürger ihr Leben gelafien, fie hatten auf die Deutichen gejchoflen). 

Schon früher (7. Auguft 1914) au8 St. Truiden Velber: „De duitschers 
kwamen hier gisteren met zeven voorbij de deur en voorbij u huis ook. Maar 
toen zii aan Goessens voorbij waren, heeft Celestin, die bij Goessens werk, 
er 3 schoten haf gelost“ (Die Deutihen famen bier geltern au fiebt vorbei 
an unferer Zür und Eurem Haus. Aber al8 fie an Goeflens vorbei waren, hat 
Geleftin, der bei Goefien3 arbeitet, drei Schüffe auf fie gelöft). 

Aus Spy in der Gegend von Namur unterm 20. Auguft 1914: „Pier on 
en a chasse une dizaine dans les campagnes de Saussin, bien pres de nous, 
des gens m&me du village y ont assistes“ (Geftern hat man zehn von ihnen — 
d. 5. von den Deutjchen — in den Zeldern von Sauffin vertrieben, ganz nahe bei 
und. Gelbit Dorfleute Haben dabei mitgeholfen). 

In Linfebeef (Kreis Brüflel) Haben die Bauern in ihrem Mibereifer fogar 
derjehentlich auf belgifche Soldaten gejchoffen. Eine Brüffeler Dame, ber dort ein 
sa Verfügung ftand, berichtel unterm 16. Auguft 1914: „que l’escadron 
Marie Henriette passait par lä et ces betes de paysans croyant que c’&tait des 


138 Betenntniffe und Selbfibefhuldigungen 


uhlans n’ont trouver. rien mieux que de tirer sur eux“ (al8 die Schwadron 
Marie Henriette durchmarfdierte, haben diefe Dummköpfe von Bauern in der 
Meinung, daß e3 Ulanen wären, nidjtd Beljered gefunden, al3 auf fie zu jchieken). 


V. Blünderungen im eigenen Lande. 


Daß die Belgier im eigenen Lande plünderten, war Yurdhaus feine un- 
gewöhnliche Erfcheinung. 

In Marche-led8-Dames wurde da8 prächtige Arenbergihe SchloB wegen 
Spionageverdachts der Herrihaft in Grund und ‚Boden vermüftet. Wie ec dabei 
berging, beichreibt unorthographifch, aber anjchaulich ein beteiligter Pionier am 
21. Auguft 1914: „On a vol& de tout, des fusil, des pipe, de l’argent, enfin 
tout ... jai sur bu 250 bouteilles de vin pour ma part, enfin sa & dure, 
15 jours et on e&tait sous tous les jours“ (Man bat von allem geftohlen, 
Gewehre, Pfeifen, Geld, kurz alles... ich habe ficher für mein Teil 250 Tlafchen - 
Wein getrunten, e8’hat 14 Tage gedauert, und man war alle Tage bejoffen). 

E38 bandelte fi” wohl um Plünderungen von Feindetgut. Mancdher mag 
darin eine Entjhuldigung jehen. Doc dem Eigentum der echteften Belgier ift eg 
nicht befjer ergangen. ' Höchft draftiichen Ktellerizenen begegnet man da, voll echt- 
Hämilcher Genußfreudigteit. Hier nur eine aus Conti) bei Antwerpen, geichildert 
am 5. Oftober 1914: „Dezen brief is geschreven in een kasteel, wij zijn hier 
met tien van ons mannen en ziin aan een goede glas wijn en champagne te 
drinken, kiekens en konijnen te eten. Den elft liggen al te slapen dat ze 
ronken, dronke gelijk zwijns, ik ben ook niet veel myn“ (®Diefer Brief ift 
geichrieben in einem Schloß. Wir find hier zu zehnt von unfern Leuten und dabei, 
ein gutes Glad Wein und Seft zu trinken, Hühner und Kaninden zu effen. Die 
Hälfte Liegt Ihon und Ichläft, daß fie Ichnarcht, befoffen wie die Schweine. Id 
bin aud) nicht weit davon). | 

Dabei bejchräntten fi die belgifhen Zruppen Teinesmeg8 auf barmlofen 
Mundraub. Aus Waarloo8 bei Antwerpen fchreibt ein Offizier feiner Gattin 
3. Oftober 1914: „hier gaan de menschen overal loopen en hunne huizen zijn 
leeggeplunderd en verwoest van de soldaten“ (bier flüchten die Menfchen 
überall, und ihre Häufer find leergeplündert und verwüftet von den Soldaten). 

Aus Boudyout 4. Dftober 1914 warnt ein belgifcher Soldat eine Sreundin 
vor dem Sylüchten: „Ik zie het genoeg hier, hoe het gaat, alles wordt geplundert 
en in stukken geslagen“ (Id) fehe e8 Hier genug, wie e8 gebt: alles wird 
geplündert und in Stüde geichlagen). 

Ahnlic aus Hobofen 7. Oktober 1914 ein Geniefoldat an feine rau: „Ik heb 
gezien wat onze soldaten zooal in de huizen uitsteken. Tracht alles te ver- 
bergen... Al wat zij vinden dat dienen kan, als hemden, zokken enz. wordt 
medegenomen“ (Sc babe gejehen, wa8 unjere Soldaten alles in den Häufern 
verüben. Zradte alles zu verbergen... Alles was fie dienliches finden, als 
Hemden, Soden nim., wird mitgenommen). 

Es iſt nicht zu bezweifeln: Sobald die Einwohner flohen, wurden ihre Häufer 
von den belgijchen Soldaten fyftemutifch geplündert und vermültet! 

Vielen der fo durch die eigenen Truppen gejchädigten Zandesbewohner blieb 
da3 verborgen. ALS fie wieder zurüdfamen, waren ihre Heimatsörter fchon von 
deutfchen Truppen bejegt. Natürlich hielten fie diefe für die Urheber der Plünde- 
rungen und Verwüſtungen. | 

Damit rechneten aud) die belgischen Soldaten! Ein Artillerift vor Antwerpen 
Ipricht e8 einem Freunde gegenüber mit dürren Worten aus, indem er von den 
belgifhen Zruppen fchreibt: „zii baken (joll heißen: pakken) al waar aan kunen, 
en dan zijn het de duisch die het doen“ (fie nehmen alle, woran fie fönnen 
und dann find e3 die Deutichen, die e8 getan Haben). | 

Und meldhe brutale Sreude an der Zerjtörung — felbit wo e8 fih um Hab 
und Gut der eigenen Landsleute handelte — ftedte in diejen belgifchen Soldaten! 
Der Brief eines Soldaten vom 1. Linienregiment zeigt e8 in ungelchmintter Draftif 


Befenntniffe und Selbftbefchuldigungen 139 


(ohne Ort 7. Dftober 1914): „naar Lier, waar het nog slechter was, maar daar 
hebben wij wel gevaren van de menschen die gevlucht waren. Wij gingen in de 
huizen en wij dronken onzen buik vol met wijin en sanpanje en ander goed eten al 
wat de riike menschen hadden achter geladen, als zij gevlucht zijn. Daar hebben 
wij wat deuren en venster kapot geslagen! Dan hadden wij ons amezasie, zulk 
een spel dat ging ons af“ (nad) Lier, wo e8 nod Ichlehter war; doch da find 
mir bei den Leuten, die geflüchtet waren, gut gefahren. Wir gingen in die Häufer und 
tranfen unjern Bauch voll mit Wein und Sekt und anderem guten Efien, mit allem, 
wa3 die reihen LZeute, alg fie flohen, zurüdgelaffen Hatten. Da haben wir Züren 
und Zenfter faput geihlageni Dann Hatten wir unfer Bergnügen; ein joldes 
Spiel das paßte uns). | 

Es ift die allgemeine Regel, die fi Hierin ausdrüdt. Ein Soldat erkennt 
e3 in einem Briefe an feine Eltern unverblümt als folhe an(Eontich, 3. Oftober 1914): 
„Want ge moogt gelooven zelis als er var ons volk in een verlaten 
dorp komt, van zoohaast er niemand.meer in huis is, word alles spoedig 
oversnuffel en zelis dooreen geworpen“ (denn Ihr mögt glauben: Selbit wenn 
unfere Zeute in ein verlaflened Dorf fommen, jobald niemand mehr im Haufe ift, 
wird alles fofort dDurhfchnüffelt und durcheinander geworfen). 

Bon den Einwohnern Haben aber do mande fih durch den Augenschein 
überzeugen fönnen, wer die eigentlichen Plünderer und Serftörer der Häufer und 
Beligtümer waren. 

Aud Mecheln jchreibt ein gebildeter junger Mann (Poltaufgabeftempel 
Antwerpen, 21. September 1914): 

„Durant cette semaine plusieurs maisons ont ete pillees ici au boule- 
vard et encore le carillon (unterftrihen wie im Original) & la gare et cela 
par des agents de police et des soldats Belges“. 

(Im Berlauf diefer Woche wurden mehrere Häufer am Boulevard und 
auch der Glodenturm beim Bahnhof außgeplündert und zwar durh Bolizei- 
agenten und belgiiche Soldaten.) 

Aus Nydevorjel (Kreid Turnhdut), 22. September 1914, berichtet ein ge- 
hildeter und wohldabender Einwohner: „Door de Belgische soldaten, komende 
uit den slag boven Keerbergen is veel gestolen en beschadigd (meest in de 
huizen, die verlaten waren). Al myn boeken zijn beschadigd en onbruikbaar, 
alsook myne kleederen. Hemden, kousen en schoen zyn medegenomen, het - 
beddegoed beschadigd met moedwil, kasten vernietigd, cofirefort opengebroken 
(dit laatste moet door de burgers gedaan zyn) die gelukkig gekend zijn. In 
de keuken is brand gesticht. In een woord alles is vernield, medegenomen 
of beschadigd. De wijn is door dezelfde soldaten gestolen, er moet veel 
‚gedronken zijn, te zien aan de nog half gevulde glazen wijn en champagne“. 

(Bon den belgiihen Soldaten, die au8 dem Gefecht oberhalb SKteerbergen 
famen, ift viel geitoßlen und beichädigt worden [meiftend in den verlafjenen 
Häufern]. Ale meine Bücher find bejchädigt und unbraudbar, ebenjo meine 
Stleider, Hemden, Strümpfe und Schuhe find mitgenommen, da8 Belizeug mut- 
willig beijhädigt, Schränte zerirümmert, der Kaflenichrant aufgebroden [lektere8 
muß von Bürgern getan fein, die glüdlidkerweile befannt find]. In der Süche 
wurde Brand gelegt. Mit-einem Wort, alles it zerftört, mitgenommen oder be- 
Ihädigt. Der Wein wurde von denfelben Soldaten geftohlen; e8 muß viel ge- 
trunfen worben fein, wa8 an den noch Halb mit Wein und Seft gefüllten Släfern 
zu erjehen ift.) | / 

Sehr fhlimm, aber faum Ichlimmer ald anderswo, ging e8 in Heyft-op- 
den-Berg zu. Eine ebenfo eingehende wie intereflante Bejchreibung, wie ihm mit- 
geipielt wurde, gibt ein dort anfäfliger Wirt in einer an den belgijchen Striegs- 
minifter gerichteten Bejchwerdeichrift vom 17. September 1914: 

„Des que les premiers soldats vinrent dans les environs, je mis toute 
mon installation a leur service. Certains jours je servais a diner a plus de 
200 soldats, du cafe et des tartines leurs furent donnees gratuitement. Je 


\ 


140 Befenntniffe und Selbfibefchuldigungen 


n’avais jamais eu a me plaindre de leur conduite, au contraire tous me furent 
tres reconnaissant de ce fait que tandis que presque tous les Habitants 
avaient fuit le village je restais pour les soigner. 

| Le samedi 12 Septembre je me rendis a Anvers pour rapporter de la 
levure et autres articles, je croyais revenir par le train de 7. 10, mais 
malheureusement il ne roulait pas ce_ jour-la. Ouand je revins le Dimanche 
matin j’ai trouv& toute ma maison mise a sac. Dans la patisserie tout etait 
vole, dans le Cafe-Restaurant &galement, dans la cave a vins plus de 600 
Bouteilles etaient enlevees et une centaine au moins se trouvait cass€ par 
terre. Tous notre linge fut vol&, nos souliers, nos pardessus; dans ma chambre 
a coucher on avait enlev&e une vingtaine de francs en nickel, une montre, 
deux bagues, une chaine et divers autres objets. Cette porte etant fermee 
a clef, elle fut cass& a coups de- crosse de fusils. Toutes nos armoires furent 
fractur&es, le contenu jet par terre et ce qui leur plut enleve, par le 6° et 
26° reg. de ligne. L’etat major de la cavalerie, qui j’avais log& trois jours 
auparavant, avait difficile de reconnaftre mon Hotel et patisserie bien tenus 
dans cette maison pillee. Apr&s avoir bu du vin dans les lits et eclabousse 
les matelats ils avaient sali les chambres d’une telle fagon, que la politesse 
m’empeche de donner de plus amples renseignements a Monsieur le Ministre. 

Ces faits ont &t& constatees par plusieurs officiers et les gendarmes 
qui ont arret& encore 18 soldats en flagrant delit. Ils ont Et& constate par 
le commandant de la brigade de gendarmerie de Heyst op den Berg. Ont 
€galement vu l’etat, dans lequel se trouvait ma maison, Monsieur le General 
Prooit *) et son &tat major et Monsieur le General de Monge. 

Je me trouve actuellement dans une situation telle que si aucun secours 
ne m’est octroy& c’est pour moi, la misere la plus noire, ainsi que pour ma 
femme et mes enfants. " 

Je n’ai plus de marchandises pour vendre ou pour travailler, plus une 
chemise ni une paire de bas pour me mettre, tout m’a été pris. Les degäts 
apres un premier examen .depassent deja les quatre milles francs et toujours 
nous manquons de plus en plus de materiel..... 

En m&me temps j’ai envoye& une requ&te a Sa Majeste notre Roi es- 
perant qu’on voudra m’aider.“ 

(Sowie die erften Soldaten in unfere Umgebung famen, ftellte id} meine 
ganze Einrichtung ihnen zur Ger ua Eng. An einzelnen Tagen trug ich mittags 
für über 200 Soldaten Elfen auf, Kaffee und Butterbrote erhielten fie unentgelt- 
ih. Ich Hatte mich niemals über ihr Betragen zu beklagen, im Gegenteil, fie 
zeigten fi alle dafür fehr erfenntlich, daß ich, während faft alle Einwohner aus 
dem Dorf geflüchtet waren, zurüdgeblieben war, um fie zu verpflegen. 

Am Samßtag, den 12. September, begab ich mich nad) Antwerpen, um Hefe 
und anderes einzufaufen; ich glaubte, mit dem Zug 710 zurückzukommen, aber 
leider fuhr er an diefem Tage nidt. ALS id) am Sonntag morgen zurüdfam, 
fand id mein ganzes Haus ausgeplündert. In der Teinbäderei war alle ge- 
ftohlen, ebenjo in der Wirtsftube; aus dem Weinfeller hatten fie mehr als 600 
Slaihen mitgenommen, und wenigitens Hundert lagen zerbrodhen auf dem Boden. 
Unſere ſämtliche Wäſche war geitoblen, ebenfo unfere Schuhe, unjere Mäntel; in 
meinem Schlafzimmer hatte man gegen 20 Srant in Nidel, eine Uhr, zwei Ringe, 
eine Kette und verichiedene andere Gegenftände mitgenommen. Die verfchlofiene 
Züre war mit Gemwehrtolbenichlägen zertrümmert worden. Unfere fäntlichen 
Schränfe waren aufgebrochen, der inhalt auf den Boden geworfen und was 
ihnen gefallen Batte, mitgenommen vom 6. und 26. Linienregiment. Der Gtab 
der Stavallerie, den ich vorher 3 zage im Quartier hatte, fonnte in dem außge- 
plünderten Haufe die fo gut inftandgehaltene Hoteleinrihtung und Yeinbäderei 
Taum wiedererfennen. Nachdem fie in den Betten Wein getrunfen und die 


*) Name nit ganz fiher zu lejen. 


Befenntniffe und Selbftbefchuldigungen 141 


. Matragen befhmusgt Hatten, hatten fie die Zimmer in einer Art und WVeije ver- 
unreinigt, daß der Anftand mir verbietet, dem Herrn Minifter weitergehende Aus- 
fünfte zu geben. 

Diele Tatfahen find von mehreren Offizieren feitgeitellt worden, deägleichen 
bon den Gendarmen, die noch 18 Soldaten auf friiher Tat feitnahmen. Sie 
find weiter feftgeftellt worden durd) den STommandanten der Gendarmeriebrigade 
von Heyft op den Berg. Gleichfall8 Haben den Zuftand gejehen, in dem fid) 
mein Haus befand, der Herr General PBrooit (?) mit jeinem Stab und Herr 
General von Monge. | M 

Ich, befinde mich gegenwärtig in einer derartigen Lage, daß wenn mir feine 
Unterftügung gewährt wird, id) mit meiner Frau und meinen Stindern dem tiefjten 
Elend auägefegt bin. | 

Um zu verlaufen oder zu arbeiten, fehlen mir die Waren, ich Habe fein 
Hemd und feine Strümpfe mehr zum Anziehen, alle8 wurde mir genommen. 
Nah einer vorläufigen Schägung beläuft fi der Schaden fchon auf mehr al3 
4000 Frank, und immer nod ftellen wir weiterhin Fehlendes feſt. ..... 

Gleichzeitig Habe ih an Seine Majeftät den König ein Bittgefuch gerichtet, 
in der Hoffnung, daß mir geholfen wird). 

Diefer kraffe Zall ftand in Heyft durhaus nicht vereinzelt da. Einige Zeit 
jpäter (5. Oktober 1914) fchreibt ein dort anfälliger Notar auß Blanfenbergbe: 
„Hier il y‘a huit jours j’etais encore dans ma belle demeure. C’etait une 
des seules du village n’ayant point encore souffert ni du 1er bombardement 
ni de pillage. Figurez-vous que bien des maisons ont &t& pill&es par des 
troupes (Belges)') de passage A Heyst op den’Berg, d’autres ont eu leurs 

ortes enfonce&es etc. etc.“5) (Geftern vor adıt Tagen war id) noch in meiner 
hönen Wohnung. E38 war eine der wenigen ded Dorfes, die weder unter der 
eriten Beichiegung noch unter Plünderung zu leiden gehabt Hatten. Stellen Sie fid 
vor, daB jehr viele Häufer geplündert worden find dur Truppen (belgifche), die 
auf dem Durdymarijh nad) Heyit op den Berg waren, in andern Käufern waren 
die Türen eingefchlagen ufm. ufw.). 

Auch an dem Tage, von dem ber leßte Brief berichtet, war nod) fein deutfcher 
Soldat in Heyft op den Berg gemwejen. 


VI. Schluß. 


Bon allen diefen Dingen fchweigen natürlich die belgiſchen amtlichen Be— 
ridte. Niemand wird fi) Darüber wundern. | 

Wenn aber die belgiichen amtlichen Stellen über die8 Schweigen Binaus- 
geben und pojitiv behaupten, daß 3. B. der belgifchen Bevölkerung ihre Waffen 
Ihon von den belgiihen Behörden abgenommen gemwefen wären, und daß eine 
Beteiligung diejer Bevölferung am Kampf nicht porgeflommen wäre — außer in 
der eigen Hierauf drefiierten Phantafie unferer Soldaten — dann kann von 
autem Glauben feine Rede mehr jein. 

Wir fünnten da8 bemeijen! 

In Brüffel erfhien am 19. Auguft 1914 die Nummer 10 einer periodifen 
Drudichrift „Pour nous organiser“, ded DOrgand der „Associations Intellectuelles“, 
rue de la Madeleine 46. In einem Artifel „Avis a donner & la Population 
civile“ empfiehlt fie die Verwendung der scouts (Pfadfinder) zur Berbreitung von 
Kachridhten und fährt dann fort: 

„Sen Souvenir pour le cas oü il y aurait un avis serieux et essen- 
tiel A propager: notamment la recommandation aux civils de s’abstenir de 
tout acte d’hostilit€ contre les troupes envahissantes, etc. A cet Egard, les 
avis donnes par les journaux n’ont encore Et& compris que par une tres 
. minime fraction de la population.“ 


5) Genau fo im ODriginaldrief. 


142, -  Gedanfen über das deutfche Sufunftsheer 


(Daran möge man fich erinnern, falls eine mwefentliche und wichtige Belannt- 
madung zu verbreiten wäre: bejonder die Ermahnung der Zivilbevölferung, fi 
den eindringenden Truppen gegenüber jeder feindlichen Handlung zu enthalten 
ujw. Sn diejer Hinfiht find die durch die Zeitungen ausgeiprochenen Warnungen 
nur don einem Außerft fleinen Teil der Bevölferung verjtanden worden). 

Alſo man wußte in Brüfiel genau, daß die Warnung vor foldhen feindlichen 
Handlungen nur von einem minimalen Zeil der Bevölferung begriffen war. Man 
fonnte dieg nur wiflen, wenn man auch daS andere wußte, daß nämlich die über: 
wiegende Mafje der Bevölkerung jolde Handlungen nicht nur billigte, jondern bei 
gegebener Gelegenheit auch beging. 

Wenn die amtlichen Stellen Belgiens heute noch nicht zu wiflen behaupten 
und ableugnen, wa man in Brüffel fchon am 19. Auguft 1914 wußte, jo wollen 
fie e8 nicht willen. 






2 7} 


RATE 
A SE NAPE 
EEE) 


—B 





Gedanken über das deutſche Zukunftsheer 


Von Oberſt Heinz v. Hoff 


ı m Hinblid auf Die Eur einem Vierteljahr bei uns berrichende 
| Unordnung und die rohung in Oft und Weit ijt die Schaffung 
eines neuen Heeres für uns eine der brennenditen Fragen, die alle 
| Ktreije des Volfes berührt. 
XD JA Unſer altes Heer it zufammengebrochen, nicht unter den 
a Dieben des seindes, jondern im Rüden gefaßt, wehrlos pemanı 
germürbt und zerrüttet Durch feindlihe Agenten und eigene Volksgenoſſen. Es 
galt ja den „Weilitarismus” zu vernichten. Die Revolution hat uns damit nicht 
nur um das außerliche Machtmittel der Regierung gebracht, die num in jchiwer- 
ten Tagen der Demütigung nur mit Papierproteiten zu fechten vermag, je bat 
ein Heer vernichtet, Dejfen Leitungen durch vier Kriegsjahre in ihrer Niejen- 
größe beifpiellos in der Weltgefchichte Dajtehen. Solche Leiltungen waren nur 
möglich zufolge allgemeiner Wehrpflicht, feiter Manneszucht und weil unfer Heer 
die große Schule zur Tatentfaltung aller Arbeit und Leiftungen des deutjchen 
Volkes geweſen iſt. 

Das ſeien uns Singergeige für die Zukunft. Mit den Trümmern des 
alten Heeres, die zuchtlos die Stajernen heute füllen, die an Stelle hochverdienter 
und friegserprobter Offiziere Soldatenräte willfürlich leiten, At nichts mehr 
anzufangen. Saum daß es da und Dort gelingt, vegterungstreue Truppen zu= 
jammenzufaflen. Seit Wochen geht der Notjchrei mach einer freiwilligen Söldner: 
truppe zum Grenzihug im Dften durchs Land, bisher mit geringem Erfolg. Das 
Räteſyſtem und innerpolitiſche Zwiſtigleiten in den ſchwachen Abwehrtruppen 
haben in letzter Zeit den militäriſchen Erfolg gegen die Polen in Frage geſtellt. 
Auch dies diene uns als Anhalt für die Zukunft. 

Es war nötig, mit wenigen Strichen zu zeichnen, was wir hatten und 
was wir noch haben, um uns klar zu werden, was wir brauchen. Daß weder 
ein freiwilliges Söldlingsheer noch eine lockere Miliz in Frage kommen kann, 
beweiſt uns die Geſchichte und die Gegenwart. Was wir brauchen, iſt ein 
völlig neues Heer auf Grund der allgemeinen Wehrpflicht, eine Truppe, die auf 
der bewährten Grundlage feiter Manneszucht erjteht und in der die Kommando: - 
gewalt Llar geordnet ift. 

Der Entwurf für ein neues Wehrgefes ift der Nationalverfammlung 
inzwilchen vorgelegt worden.) Der raftdent des Neihsminijteriums 
Scheidemann erklärt al3 Aufgabe der Innenpolitik: „Schaffung eines 





!) Er konnte leider im Tert noch) nicht berüdjichtigt werden. 


Bedanken über das deutfche Zukunftsheer .. 143 





auf Ddemokratifhen Grundlagen aufgebauten Volksheeres zum Schutze 
des Vaterlandes unter weſentlicher Herabſetzung der Dienſtzeit. Jeder 
Truppenteil wählt einen Vertrauensausſchuß zur Mitwirkung bei der Ver—⸗ 
pflegung, Urlaub und Unterbringung, ſowie bei Beſchwerden; Entlaſſung der in 
den Kaſernen befindlichen Soldaten, auch des Jahrganges 1899, Auflöſung der 
militäriſchen Behörden, die nur für den Krieg geſchaffen waren, und der heute 
als überflüſſig zu evachtenden Friedensbehörden. Fürſorge für die bisherigen 
aktiven Offiziere und Baer I die Übergangszeit, Beitätigung der bis- 
ber von den Soldaten gewählten Führer, foweit fie fih bewährt haben.” 

- Diefes Programm ijt im allgemeinen zu begrüßen. Gerüchte befagen, e$ 
beitehe die Abficht, die allgemeine Dienjtpfliht nad) dem Mujter der Schweiz ein- 
auführen. Dann mürde die „mejentlicye Herabjegung der Dienjtzeit“ für den 
Hauptteil de3 Heeres, die SInfanterie, eine einmalige Ausbildungszeit von 
65 Tagen bedeuten; ihr würden nad) Schweizer Diufter vom 20. bis 32. Vebens- 
jahre alljährlih elftägige Wiederholungsturfe folgen und fi) vom 32. bis 
40. Lebensjahre die Landwehrpfliht, vom 40. bis 48. Lebensjahre die Land- 
Iturmpflicht anjchließen, beide ohne Dienjtverpflichtung in Friedenzzeiten. 

Unbeftätigte Gerüchte nennen aud Starkezahlen. Sich mit denjelben 
Dier zu befajjen, wäre zmedlos. Zweifellos wird beim Friedensichluß die Entente 
ein Wort über die Stärke unferes Zulunftsheeres mitjprechen; zudem legt uns | 
die neue Not Außerite Beihränfung auf. Um fo erniter ift zu erwägen, 
wo die Grenzen deilen liegen, was wir brauchen und leilten Tonnen. Dabei 
baben wir in Rechnung gu jtellen, daß zunädhit feiner der Feinde an Abrüjtung 
denkt, daß Staaten ohne gejeglihe Wehrpflicht jebt zu diefer übergegangen jind 
und unfere ?peinde den bei uns erichlagenen „Deilitarismus“ forglicjjt pflegen 
und ausbauen, jomit für Weltabrüftung und Wilfonfchen Volterbundsfrieden zu- 
Fell tcoß unferer Bereitiwilligleit, troß Berner internationaler Konferenz wenig 
Auslicht beiteht. 

Wir brauden aljo ein Heer zum Schuße des VBaterlandes, ftatt des alten 
mit langer Dienitzeit ein neues Volfsheer mit fürzerer Ausbildungszeit und mit 
turgen Übungszeiten. Um jo beffer und innerlich gefeitigter — es ſein und 
unſeren Landesverhältniſſen muß es angepaßt werden, ohne fremde Syſteme 
nachzuahmen. Das Wichtigſte bleibt, daß wir nicht am falſchen Platze — 
Wir taten das ſchon einmal, als wir uns die Mittel für Ausbildung der Erjap- 
reſerve und des unausgebildeten Landſturmes verweigern ließen. 1914 hätten 
wir mit ihnen den Krieg gewinnen, Milliarden erſparen können; wir hätten im 
Kriege nicht von Improviſationen leben und unſere beſte Jugend vorzeitig opfern 
müſſen, ſondern hätten wohlausgebildete, kraftvolle Truppenorganiſationen zur 

n Entſcheidung in Frankreich in die Front werfen können. Mögen wir 
uns dieſen Fehler beim Neuaufbau des Volksheeres zur Warnung dienen laſſen! 

Aus dem Kriege wiſſen wir, daß ein neuzeitliches Heer nur auf dem 
Boden der allgemeinen Wehrpflicht denkbar iſt. In Zukunft darf es keinen ge— 
funden Deutſchen geben, der der Wehrpflicht entzogen wird. Dieſe Forderung 
entſpricht nicht nur dem Gedanken des Volksheeves und des Schutzes für daS 
Vaterland. Sie entſpringt der Tatſache, daß die allgemeine Wehrpflicht und die 
Heeresſchule die Wurzeln unſerer Volkskraft waren und bleiben müſſen. Durch 
* wurde unſer Jungvolk körperlich ſtark, geiſtig geweckt, a anitellig; 

ch fie lernte e8 Ordnung und Unterordnung, Zucht und Sehorfam. Der 
einzelne lernte fich al Glied des Sanzen fühlen, einer für alle, alle für einen jid) 
einieten. Das twirkte weiter, wenn die Ströme der Gedienten Jih aus den 
en bei der Entlaffung in das Volk zurüdergoffen, das [huf Manneszudt 
in allen Betrieben, Tüchtigkeit und Oıdnung, Punktlichteit und Sauberkeit ur 
allen Berufen und Betätigungen, das gründete unferen unübertroffenen Ruf als 
beite Arbeiter in der Welt. Will der Feind uns diefe Schule nicht mehr zu— 
eitehen, jo beabjichtigt er, unfere Volkskvaft ein für allemal abzutöten. Es geht 
ei der Frage um das neue Heer nicht nur um den Waffenjchug des Vaterlanocs, 
es geht um alles! | | 


144 Gedanken über das deutfhe Zufunftsheer 


Wie lange muß die Heeresfchule dauern, um nicht nur brauchbare Sol 
daten zu erziehen, fjondern uns auch Die früheren gemwältigen Errungenjchaften 
diefer Schule über die Dienitzeit hinaus zu erhalten? Vor dem Kriege hatten 
wir den Ausmarjch der Refruten im Mobilmahungsfalle nach ettva Halbjähri- 
ger Ausbildung vorgejehen, im Striege waren mir zeitweije genötigt, den Erſag 
hon nad) fiirzerer Zeit an die Front zu führen, fpäter verlängerten wir die Aus- 
ildung möglidhit. Kein felderfahrener Soldat wird behaupten, daß der an- 
fängliche Heereserſatz vollwertig war. Weder lörperlich noch militärifch ge 
nügend durchgebildet war er vor allem innerlich nicht gefeitigt genug, um den cr 
Ihütternden Eindrüden des neuzeitlichen Stampfes Zur die Dauer |tandzubalten. 
Beim neuen VBoltsheer mit kurzen Ubungszeiten ſollten wir deshalb, wenn irgend 
möglich, an der einjährigen Dienſtpflicht im ſtehenden Heere feſthalten. Wir 
müſſen dabei an die gewaltige Steigerung der Vielſeitigkeit denken, welche Un—⸗ 
zahl von Sonderausbildungen nötig iſt, um die Schlagfertigkeit des Volksheeres 
ſicherzuſtellen. Sparen wir lieber an der Zahl als an der Ausbildungszeit. In 
65 Tagen kann eine Truppe nicht einmal zur Marſchfähigkeit, viel weniger zur 
Schlagfertigkeit Dee werden. 

Die ziveifellos gegen une: ſtark gefürzte REN iteigert Thon an ji 
die an den Soldaten zu ftellenden Anforderungen. Will man ihnen überhaupt 
nevecht werden fönnen, fo müflen folgende grundlegende Borausfegungen erfüllt 
fein: 1. Ausbildung und Führung dur ein erfahrenes, Triegserprobtes Offizier: 
und on, 2. uneingefhhräntte Kommandogewalt desjelben und da- 
mit Sicherung der Mannszucdht; 3. jachgemähe Vorbereitung des Syungvolles vor 
-dem Dienfteintritt; 4. dauernde Stählung und Erhaltung der und. Volls⸗ 
— über die aktive Dienftzeit hinaus während der ganzen Dauer der Wehr: 
pflicht. 

Für die Ausgeftaltung des Tünftigen Vollsheeres fei in großen Zügen 
folgender Gedantengang gegeben: 

Sn einer gegen früher ftark verringerten Zahl von Truppenförpern umd 
bejonderen Ausbildungsfchulen geht die Ausbildung im ftehenden Heere vor [id. 
Als en und Lehrmeijter find Dabei Berufsoffiziere und Unteroffigtere 
unentbehrlich und die Beiten gerade gut genug. Nur Tüchtigkeit entfcheidet bei 
der Auswahl, volle Bewährung allein gemwährleiftet ihr Verbleiben und ihr Vor- 
wärtstommen im Beruf. ‚ joie man hört, in Leutnantsftellen auch feld- 
erprobte Unteroffiziere einrüden follen, Tann nur begrüßt werden. Die &e- 
halts- und ‚Penjionsverhältniffe müljen in der Notzeit der u ein forgen- 
Iojes Dafein bieten, das frei von jedem Sonderaufwand und Standesausgaben 
zu halten ill. Durch Einziehungen von Offizieren des Beurlaubten-e und in« 
aktiven Standes farın die Zahl der Ausbilder und Führer zeittveilig erhöht und 
ihre Fähigkeit und Trelddienitfähigkeit enhalten und gefördert werden. 

Ausreihende Befodung und Fräftige Koft ift für die DMeannfchaft bei den 
gefteigerten Anforderungen der verkürzten Dienftzeit zur Erhaltung der Dienft- 
freudigfeit unerläßlih, ebenfo gute Unterbringung in lihten Räumen, forg- 
Jamjte Gejundheitspflege und Gelegenheit zu Turnen, Sport und Spiel. 

Die Uniform muß aus Gründen der Eriparnis und — — 
ſchlicht, praktiſch und bar aller Außerlichkeiten ſein. Unſer Feldgrau ſoll das 
Ehvrenkleid bleiben, welches es im großen Kampfe war. 

Außerhalb der ſtehenden Truppenteile werden Stämme für Ubungstruppen 
ſtändig beſtehen müſſen. Auch hier iſt eine Anzahl auserwählter Berufsoffiziere 
und Unteroffiziere unerläßlich. In der Hauptſache aber wiw der Beurlaubten- 
ſtand das Ausbildungsperſonal bei den Wiederholungsübungen zu ſtellen haben. 

Die durch die verkürzte Dienſtzeit entſtehenden Schwierigkeiten für die 
Sonderausbildung auf den einzelnen Gebieten des Waffendienſtes und der 
Technik können nur durch Schaffung beſonderer Unterrichtskurſe und Schulen 
überwunden werden. Auch hierfür iſt ein ſtändiges Berufsperſonal, zeitweilig 
ergänzt aus dem Beurlaubtenſtande, erforderlich. 

Für die techniſche Ausbildung von Führer und Truppe ſind Ubungen auch 


Gedanken über das deutfhe Sufunftsheer 145 


in größeren gemifchten Verbänden nötig. Sie können durch Aufammenziehung 
bon Teilen des jtehenden Heeves mit Übungstruppen, Sonderfurfen und Schulen 
gebildet werden. Übungspläge werden wir Daher nicht entbehren können. 

Die Erhaltung unjeres mertvollen Heevesgutes durch zuverläfjige Ber» 
waltungsitellen, die den örtliden Verhältniffen angepaßt werden, die Schaffung 
leitender oberiter Stommandoftellen unter Beichrantung auf den Mindeitbedarf 
an PBerfonal find jelbitverjtändlicd”e Dinge und werden fih der innerpolitiihen 
Seitaltung des Reiches anzupafien haben. Aus vollswirtichaftlihen Gründen 
mülfen bundesitaatlide Einzelorganifationen des Zulunftsheeres als erforder» 
li, aber die Zufammenfafjung zum Reichs-Volksheer ebenſo als unerläßlich be— 
zeichnet werden. 

Wie auf allen Gebieten wird auch auf dem des Heeresdienites fchivere 
Arbeit unferer warten. Mit der nn und Fahlenntnis der mit- 
arbeitenden Iffiziere und Unteroffiztere ift e3 dabei nicht getan. Zum Erfolg 
gehört vor allem ihre Elar abgegrenzte Kommandogewalt. Abhängigkeit von der 
ahl durch Untergebene, Kontrolle durch) Soldatenräte mit Befehlägewalt machen 
die Autorität des Vorgefetten und Führers zunichte und zerjtören die Mannes- 
sucht. Es bedarf dafur nur ded Hinweiſes auf unſere jetzigen troſtloſen Zunände. 

Das vertvauensvolle Verhältnis zwiſchen Führer und Truppe u auf 
innerer Überzeugung beruben. va wahres Führertum, anderfeitS Über 
zeugung don der Notivendigfeit der gejtellten dienitlichen Anforderungen find die 
zaltoren, mit denen allein wir im Volfsheere rechnen wollen. Ein willlommenes 
Bindeglied find die Vertrauensmänner, welde zur Mitwirkung bei inneren 
Angelegenheiten der Truppe in Ausficht genommen find, die übrigens jeder rechte 
Iruppenführer von jeher zur Eeite hatte. Das Beichiverwdereht muß neuzeitlich 
ausgebaut werden. 

Tiber die einzelnen Ausbildungszmweige zu fprechen, würde viel zu weit 
führen. Der in Zukunft unentbehrliche Generalitab in Verbindung mit 
hervorragenden Frontoffizieren wird auf Grund der Fülle neuejter Krieg3- 
erfahrungen unfere Ausbildungsporichriften zeitgemäß und zimedentiprechend zu 

talten willen. Bon Gamaſchendienſt und Drill alter Echule kann angejicht3 
der Tsomwerungen der Stunde feine Rode ai Wir alten Soldaten mwijjen fehr 
wohl, was not tut, um dem deutichen Bolte die Wehr zu Schaffen, die es braucht. 
Keine unnötige Form wird die Zeit vergeuden, dad Schwergewicht aller Arbeit 
wind auf dem Erfennen und Schulen der geborenen Führernaturen liegen, ohne 
KRüdfiht auf Geburt und Schulzeugniffe, auf der Erziehung zum felbittätigen 
Handeln jedes einzelnen. Unerläßlic) ift aber dabei, Daß jedem die Pflicht- 
erfüllung und freiillige Unterordnung oberites Gebot find, Daß die Vorgejehten 
im Deere jelbit wieder da3 Anfehen genießen, ohne das e8 feine Führer gibt, 
und gleichzeitig vom Vertrauen des Volkes getvagen tverden, das ihnen jeine 
Söhne übevantwortet. Nur unter folden Belichtspuntten vemmögen wir ein 
wirkliches, brauchbares Boltsheer zu geitalten. 

Das DVertrauensverhältnis zwifhen Borgefehten und Untergebenen, 
zwiſchen militärifschem Führer und Volt wird gang befonders auf dem Wege des 
Unterrichts ausgebildet werden fünnen. Er darf nicht nach bisheriger Art ie 
ausfchlieglich rein militärifche Dinge behandeln. Der Unterriht im Zukunfts⸗ 
. Bollsheer muß der neuen Zeit Rechnung tragen und die geijtige Erziehung Des 
Soldaten zum Soldaten und Staatsbürger zugleich erjtreben. Gerade während 
der Dienstzeit .müfjen deutiche Gefchichte, im en mit außerdeutjcher, 
deutiche Stultur, deutfche Anbeitsleiftung und Wiffenfchaft durch Vorträge und 
Unterrichtsfurfe, dur Einrichtung von Lejezimmern und Büchereien, durch 
Kinovorführungen und fünftlerifhe Darbietungen, forwie in Beratungsftellen 
dem Allgemeinverftäandnis nahegebradht werden. Neben TFTachleuten muß bier 
der Offizier mitwirfen, und damit er im neuen Volfsheere auch hier feinen Plah 
ausfülle, muß ihm Gelegenheit zur Weiterbildung auf all diefen Wifjensgebieten 
der ftaatsbürgerlichen Erziehung geboten werden. Verſäumen wir nicht, dieſe 
wertvolle Gelegenheit zu nüten, dad Band zwilchen Tührer und Mann zu feitt- 


Örenzboten I 1919 10 


146 Gedanken über das deutfhe Sufunftsheer 


gen und dem Soldaten die innere Nottwendigfeit feines Dienftes für den Staat, 
m Unterordnung unter die beftehende Aa Ba ſowie es Pflicht zur 

nneszucht und Mitarbeit für das große Ganze der ch en Vollsgemein- 
Schaft darzutun! Auf diefen Wege wollen tvir auch Die Liebe zur Heimat umd 
zum gemeinfamen Vaterland wieder neu begründen, die vielfach in den Sturm- 
tagen des Umschivunges verichwand, ohne die aber fein Volk, noch weniger ein 
Boltsheer etwas zu leilten vermag. 

Su diefem Zufammenhange noch ein kurzes Wort über die len Be: 
tätigung der Soldaten. Nehmen wir den Prälidenten de3 Reichiminijteriuns 
Scheiwvemann beim Worte: „Dem einzelnen jteht feine Überzeugung volllommen 
frei. Die Armee als Ganzes bann feine Bolitif treiben, weder die der Royalüten 
noch die der Boljchemwilten.” Tas möge gelten, nur wollen twir noch hinzufügen: - 
„Die Armee ald Ganzes darf niemals der Tummelplag irgend welcher Partei- 
politit bilden, wiefie es jeßt zufolge der Tätigkeit der Soldatenräte ift.” Und die 
Forderung, daß diefe aus folchen und fchon erwähnten Gründen befeitigt twerden 
müffen, wollen wir bier wiederholen und uns damit den. tpiederholt in dantens- 
werter oil bom Abgeordneten Sroeber ausgejprocdhenen Wunſche anſchließen. 
PBarteipolitiiche Agitationen und Flugblätter gehoren nicht in die Kafernen, aud) 
nicht in diejenigen eines neuzeitlihen Volfsheeres. „Das Baterland über Die 
Partei” ſei der Wahlſpruch des deutichen Zukunftsheeres. 

Werden wir mit einem Heer, das nach den kurz geſchilderten Richtlinien 
neu aufgebaut wird, erreichen, was wir wollen, — den Schutz des Vaterlandes 
und die für alle Betätigung des Volkes ſegensreiche Vorſchule? Die verkürzte 
Dienſtzeit läßt uns dieſe Frage nicht ohne weiteres bejahen. Für einen Not- 
behelf große Gelder auszugeben ſind wir aber nicht in der Lage. Es iſt daher 
unerläßlich, um für genuͤgende Leiſtung des Heeres Gewähr zu haben, dasſelbe 
von Beſtrebungen zu umrahmen, welche der Ausbildung des Körpers, der Stäh- 
lung des Willens und der Erhaltung der geiſtigen Spannkraft gelten. Müſſen 
Zn alle Draßnahmen zur Hebung der erijhütterten Volkskraft, vom Mutter- 

us und der Sauglingspflege angefangen, in der Störperfultur des Schul 
turnens und der Bemwegungsfpiele fortgefegt, der Leiftungsfähigkeit unferes 
Heeres dienjtbar gemacht werden, fo gilt dies ganz befonders von der Jugend 


‚ pflege mannigfaltigiter Zorm für das ſchulentlaſſene Jungvolk bis zum Heeres— 


eintritt. Man gründe feine neuen Vereinigungen, man zerjplittere die bejtehen- 
den Beitvebungen nicht noch) mehr. Mean lafje die bisher bemährte jugend» 
organifation weiterarbeiten, ftärfe und fürdere jie und falfe ein Biel daber nıı3 
Auge: Feder deutfche Jungmann hat beim Eintritt zum Heeresdienit den Nad- 
eis zu erbringen, daß er feit der Schulentlaffung einer Jugendvereinigung alt 
gehört hat, deren Ziel die hHarmonifche Durhbildung der Körperfräfte war. Wir 

ben eine devartige Maßnahme um fo nötiger, alg unter den jeßigen lo 
ihen Verhältniffen aufs neue der Raubbau an — Jugendkräften droht. 
Ben! Dagegen das Gegengewicht der zweijährigen Bienftzeit, jo wird unjere 

olläfraft und damit Die Wehrkraft bitter notleiden, wenn nicht auf anderem 
Woge Korperkultur in fveier Luft in jeder Form angeitrebt wir. 

Nicht nur der Jungmann. auch der gediente Soldat bedarf diejer Förde— 
rung feiner förperlihen und geiltigen Spanntraft. Er mwird fie um jo mehr 
bedürfen, je mehr ihn die harte Deutiche Zulunft in fchiveres ze ein⸗ 
ſpannt. Soll er wehrfähig bleiben, genügen die Zahl kurzer Wiederholungs⸗ 
übungen nicht. Die Turn- und Sportvereine, die SE ONE zur Förderung 
der Wanderluſt und des Volksſpieles müſſen ſich aus den Reihen der Wehr⸗ 
pflichtigen füllen. Seien wir bei Geſtaltung unſeves künftigen Volksheeres und 
angeſichts des Verhaltens der Völker um uns her eingedenk der geſchichtlichen 
daß nicht ſtarke, ſondern ſchwache Völker eine Gefahr für den Frieden 
bilden, und ſuchen wir das allgemeine Verſtändnis dafür zu gewinnen, daß nur 
ein auf geſetzlicher Dienſtpflicht beruhendes, feſt gefügtes, gut geſchultes und in 
feſter Manneszucht exzogenes Heer unfere deutſche Zukunft zu ſchützen vermag, 
niemals eine lockere Miliz oder freiwillige Söldlingstruppen. 


Dom Aufbau der Gemwalten 147 


Dom Aufbau der Gewalten 
Don Dr. BHeinrih Btto Meisner 


2 it dem am 24. Februar der Nationalverfanmlung vorgelegten, 
4 „endgültigen Entwurf” einer Reichsverfaflung ift das — Werk 
des Aufbaues der Gewalten in ſein drittes Stadium getreten. Am 
120. Jamnar brachte der „Reichsanzeiger“ den erſten offiziellen 
Verſuch einer Neugeſtaltung aus der Feder des damaligen Staats— 
ſekretärs Preuß. Er begegnete vornehmlich wegen ſeines S 11, 
ug neuer Freiſtaaten ohne Rückſicht auf die bisherigen Binnen— 
grenzen auf dem Wege der Volksabſtimmung geſtattete, ſtarkem Widerſpruch, 
und verſchwand im Schoße einer bundesſtaatlichen Kommiſſion, die ſtatt ſeiner 
der Weimarer Konſtituante ein äußerſt knapp gehaltenes Notgeſetz unterbreitete, 
das nach einigen Anderungen und Zuſätzen in vorbildlich ſchneller Weiſe am 
10. Februar als „Gefeß über die vorläufige Reichsgewalt” (G. B. R.) in Kraft 
trat. Dan wollte vor allem erſt einmal feiten Boden unter die Füße befommen, 
was die politifche Lage dringend erforderte. ee Alta war Elar, daß dies aus 
der Bolitif des geringiten Widerftandes geborene PBrovifortum mit feiner be- 
wußten Fortlaffung aller — Streitpunkte ſo bald wie möglich von einer 
endgültigen, tragfähigen Formulierung abgelöſt werden mußte. Das geſchieht 
durch die Vorlage vom 24. Februar, die auf dringenden Wunſch der Einzel— 
ſtaaten zunächſt einer gründlichen Beratung im „Staatenausſchuß“ unterzogen 
wurde. Dieſe Behörde verdankt ihren Urſprung dem „Notgeſetz“, ſie iſt, wie der 
Name ſchon eine Vertretung der Einzelſtaaten, alſo die revolu— 
tionäre Fortſetzung des früheren Bundesrats. Nicht nur, daß hier 
Die alten bundesſtaatlichen Geſandten mit den neuen Miniſtern 
der deutſchen Freiſtaaten friedlich zuſammenſitzen, auch an der 
partikulariſtiſchen Geſinnung der Mitglieder ſoll ſich — Berichten 
aus Weimar zufolge — nichts geändert haben. Was nunmehr aus der gemein— 
amen Arbeit von Staatenausſchuß und Reichsregierung geboren, das politiſche 
Rampenlicht erblickt, verleugnet, wie kaum anders zu erwarten, die Vaterſchaft 
des Preuß'ſchen Geiſtes nicht; wenn man auch den ominöſen 8 11 geſtrichen, den 
Umfang des Ganzen beträchtlich erweitert — von 73 Paragraphen auf 118 Ar- 
tikel — und ſonſt verſchiedene Aenderungen vorgenommen hat. 

Preuß ſtrebte im Endziel eine unitariſche Geſtaltung der Verfaſſung, eine 
ne Reichögemwalt an, wobei er die Hemmungen und Wideritände des ein- 
gefleiſchten Partikularismus im deutjchen VBaterlande zu optimiftijch beurteilte. 
Denn das Problem: Unitarismus oder Föderalismus wurde, joweit es die 
Staatenbildung angeht, aljo raumlich-ertenjiver Natur ift, zugunften der zweiten 
Alternative entihieden. Aus der Tanfare des S 11 bei Preuß wurde die Cha- 
made des $ 4 Sat 2 im Notgejeß, der aljo lautete: „Es fann der Gebietsbeitand 
der TFreiltaaten nur mit ihrer Zuftimmung geändert werden.” Damit hatte 
man bereit3 der endgültigen VBerfafjung das foderaltitifche IR aufgedrüdt, 
itand fchon vor ihrer Geburt feit, daf die Bundesjtaaten über die provijorijche 
Periode hin forteriftieren würden, war der fouveränen Entiheidung der Na- 
tionalverfammlung in einem wichtigen Punkte präjudiziert! Der endgültige 
Entwurf drüdt jih denn auc dementjprechend vorjichtig aus. (Art. 15.) Die 
deutichen Sliedjtaaten find berechtigt, fich zum Ziwede der Bildung leiftungsfähi- 

er Sliedjtaaten im Ganzen oder in Teilen zufammenzufchliegen. Sit unter den 
Beteiligten beine Einigung zu erzielen, jo joll die Vermittlung der Reichsregie- 
rung angerufen werden fonnen. E83 wird aber nicht gejagt, was gefchehen foll, 
wenn diefe Vermittlung ergebnislos verläuft. Angeblich konnten ſich Reichs— 
regterung und Staatenausfchuß darüber nicht veritändigen. Ein deutliches 
Omen! Wie eine amtliche Meldung aus Weimar (Abendblatt der „Bojl. Ztg.“ 
vom 22. Februar) betont, „legt Die Reichsregierung Wert darauf, dak in diefem 
Fall ein verfafjungsanderndes Reichsgejet die Angelegenheit unter Umständen 
10* 





148 Dom Aufbau der Gewalten 


gegen den Willen der betreffenden Staaten regelt.) Das würde aber oben er 
wäahntem $ 4 des Notgefeges Ichnurftrads zumiderlaufen! Bier ift nach mie vor 
die Achillesferfe des Tonititutionellen Neubaues. 

Das Problem: foderaliftifch oder unitarifch wiederholt fich ja im inneren 
Organismus der Berfaflung, bier ijt es ftatt raumlich-ertenfiver dynamtiwer 
Natur. Dabei hHandeıt es fi um die Macdhtfteilung der einzeiliaatlichen Inter 
effenrertretung gegenüber dem Parlamente des Geſamtvolles. Staatsſekretär 
Preuß hatte das föderaliſtiſche und das unitariſche Elcuient in Geſtalt zweier 
„Häuſer“ des künftigen Reichstages zuſammengeſaßt. Dabei war alſo auch 
jenes, das er „Staatenhaus“ nennt, auf parlamentariſcher Grundlage gedacht, 
ſeine nach freier Uberzeugung ſtimmenden Mitglieder ſollten von den Landtagen 
der deutſchen Freiſtaaien aus der Mitte der Staatsangehörigen gewählt werden. 
Es ſollte, ähnlich wie der amerikaniſche Senat, als gleichberechtigter Faktor der 
Geſetzgebung neben das „Voltshaus“ treten. Außerdem ſollien bei den einzelnen 
Reichsminiſterien aus den Vertretern der Freiſtaaten (d. h. ihrer Regierungen, 
nicht der Parlamente) ſogenannte „Reichsräte“ gebildet werden, deren Gutachten 
vor Einbringung der Geſetzesvorlagen beim Reichstag und vor dem Erlaß gelet- 
ausführender VBerwaltungsvorfchriften vorgefchrieben wurde. 

Sm „Sejeg über die vorläufige Neichsgewalt“ gingen die föderaliftifchen 
Funktionen auf den uns jchon befannten „Staatenausfhuß“ über und fein Rects- 
nadhfolger wiederum ift der abermald umgetaufte „ReichSrat“ des endgültigen 
Entwurfs. Die beiden legtgenannten find welentlich andere YZiguren auf dem 
politiihen Schadbrett. Wie wir wiffen, bat fhon der Staatenausfhuß in feiner 
Zufammenfegung da8 Gepräge de8 alten Bundesratd. Dom ReichErat fagt die 
endgültige Berfaffung ausdrüdiih, daß in ihm die Gliedftaaten durch die Mit 
glieder ihrer Aegierung vertreten werden (Art. 21), woraus fi ergibt, daß mir 
ed eben nicht mit einer Art Oberbauß, oder genauer gelagt, nicht nur damit zu 
tun haben. Denn befanntlicy verjab der frühere Bundesrat, dieſes verfafſungs⸗ 
rechtlihe Chamäleon, unter anderem auch diefe Funktion. Außerdem aber griff 
er ja durch feine Berwaltungsaufgaben in das Iegiälative Gebiet über, und hier 
verläuft die ztveite Parallele mit dem neuen NReicdherat, der nach Art. 18 „zur 
Bertretung der deutjchen Gliedftaaten bei der Gejeggebung und der Verwaltung“ 
beftimmt ift. 

Man neigt neuerdings dazu, die Inititution des Bundesrats mit weniger 
Icheelen Bliden anzufehen, al3 e8 in ben erften Zeiten der Ummwälzung der Fall 
war. €8 ift ja auch fein Zweifel, daß diejed eigentümliche füderaliftiihe Organ 
im republifanifchen Deutfhland gleihiam automatifch eine andere Rolle jpielen 
muß al im monardifchen bei preußifcher Hegemonie. Yindet man jich überhaupt 
mit der Zatjache de8 weiterlebenden Föderalidmus ab, fo ift jeine Ausmwirfung in 
diefer orm nicht die jchlechteite Löfung. Im Gegenteil, man fann, wie da8 von 
überzeugten Unitariern gefchehen ift, getroft behaupten, daß in der Schaffung twirl- 
famer föderaliftiider Einrihtungen, wie die Dinge heute liegen, da8 beite Bor- 
beugungsmittel gegen zentrifugale und feparatiftiihe Strömungen gefunden wird. 
Daß aber der Bundesrat ungleich föderaliftiiher wirft, ald etwa ein Staatenhau3, 
wo „nicht der Staat wie bei jenem, fondern da8 Individuum abftinmt”, bat 
ihon Bismard am Beilpiel des Erfurter Staatenhaufes eindringlich nachgemwiefen. 
Sadlihe Argumente wirken überdies in der gleihen Richtung. Das Staatenhaud 
dedt die vorliegenden Bedürfniffe nit. Dafür ijt der PBreuß’fhe Entwurf der 
beite Beweis. Er eliminiert den Bundesrat al8 foldyen, aber in feinen oben 
erwähnten „NReich8räten“ leben wefentliche Zunktionen de Bundesrat3 wieder auf, 
weil e8 eben ohne ein Organ für fie nicht geht. Die Reichgregierung bedarf der 


Der Art. 15 enthielt urfprünglid den Sat: „Bleibt diefe Vermittlung erfolglos, 
jo kann auf Antrag eines der Beteiligten die Angelegenheit Sur ein verfafjung® 
enderndes NReichsgejeg geregelt werden.” Diefer Sat it vom Staatenausihuß y% 
rien wowden! | 


Dom Aufbau der Bewalten 149 











fändigen Zühlung mit den Regierungen ber Einzelftaaten oder, wie bie „Srant- 
furter Zeitung“ diefen Sag ber „Dentichrift” außdrüdt: für die organische und 
organilatoriiche Verbindung zwilhen Neid und Kinzelftanten find bie beider- 
feitigen Regierungen, und nur fie, die gegebenen Antnüpfungspunfte. Muß man 
die8 aber al3 richtig anerfennen, fo ift der Duali3mus von Staatenhaud und 
Neichdtag eine überflüjiige Umftändlichkeit und in den Beratungen bei Gelegenheit 
des endgültigen Entwurf3 mit gutem Grunde fallen gelafjen mworben. 

ssreilih muß man auch den Warnern auf der anderen Seite Aufmerffamteit 
Ihenfen. Iene Schugimpfung gegen den Separatißmug darf nicht die Nebenäfraft 
einer gefunden, einbeitlihen Reicdh8regierung angreifen! Das unfelige Neben- 
einander von zwei Regierungen, wie wir e3 früher im Reiche hatten, (Bundesrat 
und die dur Sailer, Stanzler und Staatsjefretäre verkörperte „Neich3leitung“) 
muß unter allen IImftänden vermieden werden. Das Schwergewicht der ver- 
änderten Zatfahen wird Hier mehr wirken al8 doftrinäre Beitimmungen. 
Immerhin ift e8 wichtig, daß man von vornherein eine veränderte Anlage der 
Mafchinerie gewählt Hat. 

Die Einbringung von Gejegedvorlagen. der Reichöregierung beim Reichdtag 
bedarf zwar (nach Art. 24) der Zuftimmung des Reichsratd. SKtommt aber eine 
Nbereinfttimmung zwilchen den beiden Ssnftanzen nicht zuftande, fo ift die Neich8- 
 regierung befugt, bie Borlage gleihiwohl einzubringen. Hier ift ein Streb3fchade des 
alten Recht3 glüdlich befeitigt. Ließ ich früher eine Einigung zwifchen „Bundesrat“ 
und Reichäleitung nicht bewerfitelligen, fo war da8 Schidjal der Regierungd- 
borlage befiegelt, „der Meg zum NReichdtage verfperrt“. Ahnliche „Reviſionen“ 
hat man in einem fpäteren Stadium des legislatorifchen Progejied vorgenommen. 
Der Reichsſsrat kann gegenüber den vom Reidhdtage beichloffenen Gefegen Einfprud) 
erheben (Art. 26). Dann muß da8 Parlament von neuem beraten. Kommt aber 
wiederum Fein Bergleih zuftande, fo Tanıı (warum nicht „muß“?) der NReiche- 
präfident an da8 Bolt (im Wege ded Referendum) appellieren oder fogar fchon 
der Reichstag ald folder obfiegen, falls er die für Verfaffungsänderungen vor- 
gefehene (Yweidrittel-) Majorität zufammenbringt. 

Das ift immerhin ein ganz beträdhtlicher Fortfchritt im Vergleich zum alten. 
Regime, wo ed gegenüber einem ablehnenden Beicheid des Bundesrats feinen 
Sul ungenuß an eine höhere Stelle mehr gab. Der neue Zuftand, der diefe 
Initanz in der vox populi berftellt, verfinnbildlicht deutlich den Übergang der 
Souveränetät don den „Berbündeten Regierungen“, wo fie für. Bißmard rubte, 
auf die Gefamtheit der Regierten! 

Dabei hätte man aljo nicht den nordamerifanifchen Typus mit feiner grund- 
fäglihen Gleichitellung der beiden Kammern, fondern etwa da auftralifde oder 
lanadifhe Syftem, wo ebenfo grundjäglich dag VolfShaus gegenüber dem föderativen 
Organ bevorzugt ift, für Deutfchland ald Richtung gebend anzufehen. Der 
Bundesrat — in Form tes NReichöratdS — verliert feine ehemalige Prärogative 
der Geſetzesſanktion (und „Vorſanktion“), ebenfo die entjcyeidende Stimme bei 
Berfoffungänderungen, wie fie ihm Art. TEN. B. gab. Er Hat die gejek- 
geberiihen Entwürfe vorzuberaten und zu begutachten als eine Art „Föderaliftifcher 
Staat3rat“?), darüber hinaus nimmt er aber (wenn aud) nur mit fuspenfivem 
eto) an der Gejeßgebung beichliegend teil und aud das Feld der Verwaltung 
ift ihm ja feineswegS verichloifen. Hier würden ihm gerade auf dem Grenz- 
gebiet, „wo bei der Ausführung der Gelege die Zuftändigfeit ded Reich aufhört 
und die der Siaaten beginnt“, lohnende Aufgaben winfen; er würde „die eriten 
Stadien der einzelitaatlihen Exekutive gewillermaßen genofjenihaftlid) zu zentra- 
lifieren und jo einen Übergang zu dem weiteren Sondervorgehen der einzelnen 
Regierungen darzuftellen” Haben.) Nur müßte fi (mie angedeutet) diejeg auf: 
der Grenze der Verwaltungen wirtende Organ felber vor eigenmädtigen Grenz-‘ 


2) Anfhüg in der Beitfchrift „Deutfhe PBolitif* 1919, Heft 4. 
°) „Frankfurter Zeitung“ vom 20. Februar, Abendblatt. 


150 Dem Aufbau der Bemalten 


— — 





verletzungen adminiſtrativer Natur hüten! Der entſchiedene Unitarier wird nicht 
zufrieden ſein, da er eine Vertretung der Einzelſtaaten im Einheitsſtaate der 
Zukunft als rudimentäres und daher zum Abſterben reifes Organ innerhalb der 
Verfaſſung anzuſehen geneigt iſt. Aber auch er möge bedenken, daß die Natur 
feine Sprünge macht, und die Weiterentwidlung über den Zuitand von 1871 
hinaus fchlieglich immerhin ganz bedeutend if. Auch der jegige Reich&minifter 
Preuß fannı mit der Berwmandlung feines Projeft$ in diefem Punfte ganz zufrieden 
fein. Auf den eriten Streich fällt eben fein Baum. 

An diejer Stelle bitten wir eine perjönliche Bemerkung einfügen zu dürfen. 
Wir baben in einem früheren Hefte diefer Zeitfchrift an dem Entwurf des Staat? 
jetretärd, foweit e8 fih um die Auflöfung Preußend Handelte, Kritif geübt und 
unfere ftarfen Bedenfen angemeldet. Das darf nicht fo verftanden werden, al® 
wollten wir damit einem engberzigen Bartifulariemus das Wort reden. Hätten 
wir die Sicherheit, daß eine ftarfe Neichdgewalt heute Thon da8 Erbe ded che- 
maligen SHegenionieftaates8 antreten fönnte, mit Sreuden opferten wir an unjerem 
PBreußentume zugunften de größeren, de8 eigentlichen Vaterlanded. Wir ftehen 
bier ganz auf dem Standpunfte der gewiß unverdädtigen „Frankfurter Zeitung“ 
(8. Yebruar Abendblatt): „Wäre daS der Yall, follte wirkliih nur Preußen in 
jeine provinzialen Beltandteile zerlegt und meiter gar nicht8 geändert werden, 
dann würden auch wir diefen Plan befämpfen. Denn dann wäre e3 ja virflid 
nur eine neue Zerfplitterung, neue Stleinjtaaterei; dann würde zwar der alte 
Hegemonialltaat, der Machtfern des alten Reiches, aufgelöft, aber e8 träte nicht 
an feine Stelle.” Aber eben jene Garantie einer ftarfen NReichSgemalt befteßt, 
von anderen weniger bedeutenden Schwierigkeiten abgefehen, vorluufig fchiwerlid. 
Der demnach) vor der Hand noch gebotene Bernunftföderalismus hindert uns aber 
nicht, im Herzen dem Einheitsftante al8 der fortgefchritteneren und für Deutid- 
land gebotenen Staatsform voll und ganz guguneigen. In diefem Sinne haben 
wir VerftändniS für den alle belebenden Srundgedanten des PBreuß’ichen Ent 
mwurfd und fönnen nur unler Befremden ausdrüden, daß ein Gelehrter und 
Bertreter der Zahmwiflenihaft vom Range Philipp Zornd in fursfidhtigem Ber- 


“tennen der Sadjlage fi) dazu Hinreißen läßt, in jener Arbeit nicht8 weiter als 


„ranatiihen Preußenhaß“ zu entdeden und von einem „Macdiverf” zu fpredyen!‘) 
Doch zurüd au unferem Thema. Das zweite große Problem im Aufbau 


‘der Gewalten betrifft da8 Verhältnis zwilhen Legislative und Exekutive. Bevor 


wir da8 neue Berfafjungsredht betrachten, müflen wir und über die theoretischen 
Löfungsmöglichkeiten verftändigen. Die zu dem angeblichen „Machwerf” dei 
Stantsjefretärg Preuß gehörende „Denkichrift“ fkizziert fie in bervorragend 
geididter und anjhaulicher Weife. Und man fann nur bedauern, daß diefe daS 
politiihe Denken außerordentlich befruchtende Arbeit, abgejehen von der „Frank⸗ 
furter Zeitung“ und dem „Reichdanzeiger”, feitend der Tagesprefle nirgendwo im 
Wortlaut gebracht worden ift. 

Zunädft bietet fih da da8 Schweizer Syftem.5) Die „oberfte vollziehende 
und leitende Behörde der Eidgenoffenichaft“ ift der fiebenköpfige Bundesrat, defien 
Mitglieder durd) die Bundeöverfammlung (beide Häufer des Parlaments) auf 
drei Zahre ernannt werben. Eine3 von ihnen führt ald Bundespräfident auf 
awölf Monate den Borfig. Eine parlamentarifche Regierungsweife im eigentlichen 
Sinne beiteht nicht, da8 Vertrauenöverhältnig zwifchen Parlament und Regierung 
beruht darauf, daß die Regierung vom Parlament gewählt wird, ihr Mandat 
ſehr befriftet ift. Die großen Borgüge Ddiefes Syitemsd liegen einmal in dem 
Tortfall de8 Dualismus zwiihen dem fogenannten Staatsoberhaupt und der 
eigentlihen Regierung, wa8 nit nur „einer demofratiihen Empfindung“ an- 
genehm“ ift, wie Preuß e8 ausdrüdt, fondern aud) die fehrwierige Frage befeitigt, 


4) Am „Roten Tag” vom 11. fyebruar. 
— 05.0 Vgl. Bundesverfafjung der fchweizerifhen Eidgenoffenfhaft von 1874, befonders 


Dom Aufbau der Gewalten 151 





wie man den für die Gejamiheit gefährlichen Antagonismuß der beiden Inftanzen 
vermeiden fol, ohne neue Mikftände bervorzurufen. Dann aber fehlen die üblen 
Begleiterjcheinungen der ausgejprochenen Barteiherrfchaft. Die durd) Kompromiß 
zwilhen den Parleien gebildete Regierung figt für ihre furze Amtszeit fejt im 
Sattel, parlamentarifhe Srifen und Böen können ihr nicht? anhaben, die jo 
wichtige Stabilität der Verwaltung ift (im Gegenjage etwa zu franzöfiihen Zu- 
ftänden) gefihert. Aber fo verlodend das audy flingen mag, die an ihrem Orte 
vortrefflihe Stantönlimwirtichaft eignet fih do — mie fchon Rouffeau erfannte — | 
nicht für die fo ganz anders gearteten Berhältnife de3 Großitantes, der „eine 
dur) poluifhe Homogenität in lich geichloffene und aljfo tatträftigere Regierung 
braucht.“ Diefe Notwendigkeit läßt vielmehr ein monofratijch-präfidial gejtaltetes 
Regime dringend geboten erfcheinen. Die wenig günftigen Erfahrungen, die man 
zudem mit follegialifhen Gefamtregierungen in Großitaaten fomwohl jüngft bei 
und („Sriegöfabinett“ des Prinzen Mag, urfprünglicer Rat der BolkSbeauftragten) 
wie früher in Sranfreich (Direktorium von 1795) gemadjt Hat, fönnen im obigen 
Urteil nur beitärfen. Dan wird alfo die aus FZurdt vor monardiltiicdhen Ent- 
artungen geborene Forderung der Unabhängigen (Htede des Abg. Cohn-Nordhaufen), 
dad Beilpiel der Schweiz nadyguahmen, mit triftigen Gründen ablehnen müffen. 

Müflen wir aber im künftigen Deutjchen Reid) einen Präfidenten wählen, 
jo entjtebt die Frage: Nach amerifanishem oder franzöfiihem Mufter? Daraus 
ergeben fich bekanntlich recht erfchiedene Folgerungen. Das amerilaniihe Staat3- 
. oberhaupt wird vom ganzen Bolte gewählt, da8 franzölifde vom Parlament. 
Hier herricht parlamentarische NRegierungömweife, dort ift die Trennung der Gewalten 
bi8 au offenbaren Mißftänden®) durchgeführt. In jenem Lande find die Minifter 
bloße Gehilfen de8 Chef der Erfutive, der fein eigener Minifterpräfident ift, in 
jenem tritt ein mächtiger Premier neben und vor den zur Repräfentationsfigur 
berabiinfenden Staatäleiter. Wenn man von dem Unterfchied der Staatsform 
abiieht, fo batten wir ja bis furz vor der Revolution einen ganz ähnlichen 
Dualiemus der Gewalten, der aud) zu ähnlichen Folgeerfheinungen führte, wie 
ie Staatsjefretär Preuß in feiner Dentichrift tenzeichnet (geiftige Berarmung 
und politiihe Berödung der Bolkdvertretungen, Beutelyitem für die Bejegung der 
Berwaltungsämter). Die Ara Prinz Mar Hatte fih von diefem Syftem jchon 
beträchtlich entfernt, die neue revoluionäre Ordnung vollends will unter allen 
Umftänden den Grundjag parlamentarifcher Regierungsweife vermwirfliden. Zu 
diefem Zwed braucht man nun aber nicht ganz auf die franzöfifche Seite überzu- 
. Ichmwenten. Die gegenwärtig bei und maßgebende Anficht — fie gründet fi) auf die 
eindringliden Studien des Roſtocker Siaatsrechtslehrers R. Redslob'“) — geht 
Sun, * der echte Parlamentarismus zwei einander ebenbürtige Staatsorgane 
vorausſetzt. | 

Daß ift aber nicht der all, wenn, wie in frankreich, der Präfident vom 
Parlament gewählt wird, denn „da8 Geichöpf ift an den Schöpfer gebunden“. Aug 
diefen Erwägungen heraus joll das endgültige Oberhaupt ded Deutichen Heiches 
aus unmittelbarer Boll3wahl bervorgehen®). 

—-€8 gibt allerding3 eine ftarfe Meinung, die e8 Tieber jähe, wenn man 
franzöfiihe Methoden anwenden würde. So nennt Theodor Wolff die Bräfidenten- 
wahl durch das geſamte Volf zwar einen „verführerifchen Gedanfen, durd den 
ich aber Hoffentlich niemand verführen läßt. Die deutfche Republif birgt in fid 
no recht lebensfräftige Elemente, die am alten Regime hängen, über da3 ganze 
‚teaktionäre Kapital verfügen und völlig ffrupellog in ihren Agitationömethoden 
iind. Sie würden bei jeder Präfidentenwahl den, Berfuh mahen, die Republif 
über den Haufen zu rennen“®). Dan weiß nicht, wa8 bei diejer Auffafiung mehr 


6% Bgl. 3. B. Willen, Der Staat, Deutihe Ausgabe 1913, ©. 400 

7) Die parlamentarifhe Negierung in ihrer wahren und in ihrer unechten Form. 
Zübingen, Mohr, 1918. 

8) So im Entwurf Preuß $ 58, dem fi der endgültige Entwurf Art. 61 anfchließt. 

°) Berliner Zageblatt vom 8. Februar. Nr. 48. 


152 Dom Aufbau der Bemwalten 





eingewirli bat, die Parifer Erinnerungen des Berfaflerd oder die politifchen 
Sorgen; wir balten fie jedenfall für verfehlt, denn einmal, wie man jüngli 
treffend gejagt bat: wir find feine SFranzojen !°), die ihren 1799er und 1848er 
Erfabrungen 1875 einen Riegel vorichieben wollten und dann: die etwa getvonnene 
a wiegt die großen Schattenfeiten des franzöfiihen Syitem3 bei weiten 
nidt auf. 

Die wenn. irgendmöglich zu vermeidende Abhängigkeit des Präfidenten vom 
Parlament droht nun aber no in einer anderen zorm. Die „Dentidrift” 
fordert zwar mit Recht, daß die beiden ebenbürtigen Staat8organe „nicht in un- 
verbundener Gegenfäglichkeit nebeneinander ftehen dürften, daß zwiſchen ihnen 
vielmehr die parlamentarifche Regierung da8 bewegliche Bindeglied bilden“ mülle. 
Schön und gut, aber eben ein „bertwegliches Bindeglied“, da8 nicht zur Zeflel für 
den einen Zeil werden darfl Und dies wird, fürchten wir, die %olge fein, wenn 
man dad Problem der Kabinett3bildung fo löft, wie e8 der Preuß’she Entwurf 
in feinen Paragraphen 68— 71 vorfchreibt, die faft wörtli in die endgültige Ber- 
faffung (Art. 74—77) übergegangen find. 
| Danad) werden der Neichdtanzler und die Reichdminifter — mit einem 
Schlage find fie nun da, die von der Verfafjung bisher nicht gefannten! — vom 
Reichspräſidenten ernannt und entlaflen. Aber fie bedürfen zu ihrer Amtsführung 
des Vertrauens ded NReichdtagg und müflen zurüdtreten, wenn ihnen da3 Ber- 
trauen durch einen ausdrüdlichen Beichluß entzogen wird. Diejer Kernjag parla- 
mentarifcher Regierungsmweife, den man in echt deuticher Gemwiffenbaftigfeit feier- 
li feinem gejchriebenen Grundgejeg einverleiben will — aud) die Einzeljtaaten 
werden von Reichdmwegen auf ihn verpflichtet (Art. 16) — droht nun aber auß 
einem Zeitmotiv zu einem die verfafjunggrechtlihe Symphonie zerftörenden mono- 
tonen Signal zu werden. Möge man doch bedenken, daß auch hier der ftarre 
Yuchftabe tötet und nur der Geift lebendig madıt. Diefer Geift, der daß englifche 
Recht feit bald einem Sahrhundert durchweht, ohne daß man es je für nötig 
gehalten Bat, ihn in dürre Paragraphen zu zwängen. Der Wille der Mehrbeits- 
parteien fol nicht zum Geßlerhut werden, dem da8 Staatöoberhaupt nun unter 
allen Umftänden feine Reverenz ermweifen muß! Das mit Recht verpönte „im- 
perative Mandat“ der VBoltövertreter fol nidyt beim Staatspräfidenter wieder 
aufleben. Wir brauchen eine präfidial-monardiftiihe Spige unferer Regierung 
aus Gründen, die oben berührt wurben und die in der Preuß’schen Dentichrift 
felbft überzeugend flargelegt find. Ein Staat8oberhaupt aber mit gebundener 
Marichroute binfichtlid) ded Kommen und Gehen? feiner Minifter — ift in Wirf- 
lichkeit fein Staatäoberhaupt, fondern ein Deforationsitüd im Stile der rois 
faineants, nur daß ihm aud) noch deren traditionelle Weihe abgeht. 

Wie leicht die fchranfenlofe Parteiherrfchaft einreißt, wenn da8 „Prinzip“ 
erft einmal feftiteht, obgleich fie mit diefem Prinzip, wenn man e$8 richtig verfteht, 
keineswegs gleichbedeutend ift, da8 hat man an dem Debut der erften rein parla- 
mentariihen StabinettSbildung in Deutichland fehen fönnen. ' Hier zäumte man 
da3 Pferd vom Schwanze auf. Anftatt, daß der VBräfident jeinen Premier beauf- 
tragte, daB geeignete Kollegium zufammıenzuftellen, präfentierten die Parteien für 
diefe PVoften ihre längjt bereiten Kandidaten. So erhält man aber, wie treffend 
bemerft wurde, „ein Kollegium von wenig zu einander paflenden Bertrauen?- 
perjonen, aber niemalS ein arbeitsfähiges Kabinett“, einen interfraftionellen Au$s- 
Ihuß der Mehrheitäparteien feligen Ylngedenfens, aber feine Regierung. Die 
Kabinettöfrifen begannen infolgedefien gleich nad) der Geburt. Der ungmweifelbafte 
Brundjag, daß echte parlamentarische Regierungsweife nur dann vorliegt, wenn 
die beiden Staatorgane der erefutiven und legislativen Zunktion einander eben- 
bürtig find, ift eben dur die bloße Zatfache des plebigzitären Urfprungs des 
Präſidenten noch nicht gefichert. 

Defien Anjehen ift aber nod) von anderer Seite in yrage geftellt. Neben 


10) Schotte, der Weg zur Gefeglicheit. 1919, R. Engelmann, 2erlin, ©. 92. 


= 


Vae victoribus! 153 





ihm fteht der Premier ald Konkurrent! Gtüst fi daß Staat3oberhaupt auf fein 
Voll3mandat, jo der Chef de8 Minifterfabinett3 nicht minder auf da8 Vertrauen 
der BarlamentSmehrheit. Einer von beiden ift zu viel, denn die Rivalität, Die 
unfehlbar fih entwideln muß, wenn e8 fid) um ftarfe Berfönlichfeiten Handelt, 
bedroht dad Wohl der Gefamtheit. Man bat das bald Herausgefühlt.e. Man will 
aljo den Dualismus bejeitigen. Die Unabhängigen möchten den ihnen jo wie fo 
verbächtigen StaatSpräfidenten ftreihen, andere halten grade ein bejonderes Haupt 
de3 Minifteriums neben ihm für überflüffig. Wir glauben, daß dies die einzig 
rihtige Auffaffung if. Der Premier fol ja fo wie jo bei und nur die Stellung 
eined „Erjten unter Gleichen“ erhalten, man fei alfo fonfequent: ftelle ihn auch 
formal auf die Stufe der anderen und lafje da8 NReich3oberhaupt feinen eigenen 
Reichskanzler ſein. Die Vorftelungen eines perjönlihen Regiments, die man 
früher mit diefer Yormel verband, find bei dem Uriprung und der ganzen Amt?- 
auffaffung eines republifanifchen Führers gegenftand&los, zudem zeigt da8 ameri- 
faniihe Beijpiel die Durchführbarfeit und die Vorteile unferer Forderung. Die 
Minifter brauchten durhaus nicht zu Gebilfen Herabzulinfen, wie auch die Frage 
ihrer follegialen Berantiwortlihfeit unberührt bleibt. 





Vae victoribus! 
Don Dr. Ridhard Hennig 


Kay m Dezember veröffentlichte ich an diejer Stelle zwei furze Artikel, 
din denen ih an der Hand von Nachrichten au feindlichen und 
neutralen Ländern der Bermutung Ausdrud gab, daß die Umfturz- 

bewegung, die „rote Grippe“, bald auch die Staaten der fiegreiden 

Entente erfaflen und einen Giegedzug um die ganze Erde antreten 

werde. Die Ereignifje jcheinen jener Prophezeiung fjchneller, als 

ich jelbit es meinte, recht geben zu wollen. Die jüngften Nachrichten über Arbeiter- 
unruhen und Streif3 in England nebit ihren Folgen mußten jelbft den flüchtigen 

Be erfennen lajjen, daß die foziale Entwidlung dafelbit in ein jehr 

ürmijche® Tempo geraten ijt und daß die engliiche Inmduftrie, daS engliihe 
MWirtichaft3- und Berfehröleben von faum minder heftigen Kämpfen, al3 wir fie 
in Deutichland wahrnehmen, bereit3 erfaßt worden find. Bon anderen Ländern 
erfährt man erheblich weniger, da eine mit eijerner Strenge gehandhabte Zenjur 
dafelbjt feine beunruhigenden Meldungen über die Grenze oder in die Brefie 
gelangen läßt. Ssnsbejondere gilt dies für Franfreih und Italien, aber aud) für 
manche im Striege neutral gebliebene Staaten. 

Welchen Umfang die Umjturzbewegung aud außerhalb der europäilchen 
Ententejtaaten bereit3 angenommen hat, erjieht man am beiten, wenn man einige 
objeftive Nachrichten der fremben Preſſe zufammenjtellt, wie e$ nadhjitehend ohne 
Kommentar geichehen mag 

„Weekly Diepatch“, 19. Januar 1919: „Wenig von den Vorgängen in 
Spanien’ darf die Scharfbewachten Kabel pallieren. Die revolutionäre Be- 
N vorwiegend jeparatiftiiher Art, aber die Lage ift gefährlid, und alles 
iſt mögli 

„Daily Telegraph“, 29. Januar 1919: „Die Bolſchewiſtenbewegung breitet 
ſich unter dem ausländiſchen Element in Kanada weiter aus. . .. Am 26. Januar 
wurde in Montreal eine große Verſammlung fortſchrittlicher Sozialiſten 
abgehalten, in der die Sprecher ſich als Anhänger Lenins bekannten und für die 
Anwendung von Feuer und Schwert zur Erzwingung der Aufteilung des Eigen- 
tums eintraten.“ 





154 Vae victoribus! 





„Daily Zelegraph”, 7. Februar 1919: „Bang Seattle befindet fich in 
hellem Aufruhr... Mit Mafchinengewehren und Handgranaten Halten Soldaten 
die Ordnung aufredt.“ 

„Bolitilen“, 22. Dezember 1918: „Bolfchewiftiiche Agitatoren lernen die 
indiihe Sprade, um zufammen mit Sndern, die fid) in Rußland aufhalten, die 
neuen Gedanken in Indien zu verbreiten.“ 

„Suftice“, 30. Sanuar 1919: „In unferer Kapitaliftenprefie fcheint eine 
Berichmörung des Schweigen? Hinfihtlich der Vorgänge in Indien zu Herrien. 
Während des Kriege hörten wir, die Deutfchen feien Iebhaft aber erfolglos 
tätig, Mufftände bHervorzurufen. Sett Heißt e8, die Bolfchewifi Hätten ih an 
die gleihe Arbeit gemacht.“ 

„PBrawda“, 28. September 1918, enthält einen Brief des „Erefutiv- 
Komitee der Sozialiftiiden Gruppen von Zofio und Yokohama”, worin eB 
heißt: „Ihr fönnt ficher fein, daß da8 rote Banner der Revolution in furzer 
Beit über ganz Japan wehen wird.” 

„Labour Leader“, 16. Sanuar 1919: „Der Generalftreit in Buenos Are, 
der dad Ergebni3 revolutionärer, wenn nicht bolihewiftiiher Propaganda 
gewefen zu fein fcheint, ift nach beinahe einmöchigen Stampfe beendet, aber daB 
Blutvergießen dauert leider noh an. Der Befehlshaber der Regierungdtruppen 
ihägt, daß bei den Streifunruhen mindeitens 250 Perfonen getötet und 700 
vervundet worden find, Der Marineoberbefehlöhaber aber meint, daß bie 
doppelte Zahl der Wahrheit näher fommen würde.“ _ 

„New Hort Herald“ (Bari), 24. Januar 1919: „Die Oppofition ftüßt fid 
auf die beunruhigende Lage in den Vereinigten Staaten... . „Harding (Ohio) 
wirft Wilfon einen großen Zeil der Verantwortung für den fih breitmacdenden 
Bolfheiwismus vor. Am 22. Sanuar warnte er den Senat: „falls wir nidt 
binnen neungzig Tagen zur Friedensbafi3 zurüdgelangen, werden wir und mehr 
mit der Löjchung des boljchemiltiihen Feuer! al8 mit der Ernährung Europaß 
zu befhäftigen haben.... Yal3 wir feine gerechtere Berteilung der Gejchäfts- 
gewinne Hier im Lande erreichen, werden wir in den Bereinigten Staaten mehr 
Bolihewismus als in Rukland haben.“ 

„World“ (New York), 7. Januar 1919: „Man verfudt, einem Fonds 
bon 400000 Dollar auf die Spur zu kommen, der fürzlid) au Rußland nad 
Amerifa gefandt wurde. Das Geld fol der bolidhewiltifhen Propaganda dienen 
und über Sibirien, Iapan und San Trancidco nah New Hort gefommen 
fein. ... Sn Bofton wird feit furgem eine bolfchewiftiiche Zeitung ‚The 
revolutionary age‘ beraußgegeben. ... Aiber die Zahl der in den Vereinigten 
Staaten tatjächlic Schon gebildeten Somjetß find fi die Beamten nod) nicht Elar.“ 

„Daily Zelegraph”, 10. Sanuar 1919: „Die bolfchewiltiihen Agenten 
Batten überall in den Bereinigten Staaten Revolution gepredigt und erflärt, 
daß fie Taufende von Anhängern Hätten.“ 

„Rieumwe Courant“, 11. Sanuar 1919: „Nah unferem Gemwährdmann 
wurden Anfang November vier Millionen Gulden für Bropagandazwede nad 
u geihidt.... Holland mwimmelt augenblidlih von boljchemwiltifchen: 

genten.“ 

3m „Bolititen“ vom 22. Dezember 1918 erflärt der auß Außland beim- 
gefehrte dänische Sefandte: „Wenn die Bolichemwilten jegt nicht geftürgt werben, 
bin ic überzeugt, daß wir innerhalb eine halben Jahres die allgemeine 
europäildhe Revolution Haben werden.“ 

Wenn fon in neutralen Yändern und in friegführenden Staaten, die durd) 
Ozeane vom Umfturzherd entfernt find, die- Gefahren der fozialen Ummälgung fo 
bedrohlich auf der Hand liegen und fo offen dißfutiert werden, jo fann man daran 
ermefien, wie viel mehr die europäilchen Ententeftaaten der Möglichleit ausgefegt 
find, daß die rote Flut in der einen oder anderen Geftalt auch ihnen die Damme 
forifpült. Wider Erwarten fcheint England, von dem ih noch im Dezember 
glaubte, e8 werde am längften ftandhalten, am fchnellften in die Wirren hinein- 


— 
m 


Vae victoribus! | 155 


gerifjien worden zu fein. Nach dem großen Wahlfien Lloyd Georges vom 14. Dezember 
mußte man glauben, die Regierung babe die Zügel fejter denn je in der Hand, 
aber e8 fcheint, ald babe der engliihe Premier einen Pyrrhusfieg erfochten: eine 
lange Lebensdauer wagt niemand dem Parlament zu prophezeien, da8 al? eine 
„Verfammlung von Kriegägewinnlern“ verhöhnt wird, daß den Willen des Bolfes 
infolge einer angewandten, eigenartigen Wahlarithmetif nur mangelhaft wider- 
fpiegelt und in dent die oppofitionelle Arbeiterichaft faft zur Bedeutungslofigkeit 
verdammt ift, jo daß für fie naturgemäß die VBerlodung groß ift, fih auf andere 
MWeife zur Geltung zu bringen. 

Um meine Darftellung der Ereigniffe nicht gefärbt, fondern fo objektiv tvie 
möglid erjcheinen zu lafjen, mögen wieder englifche ‘Brefleftimmen, vermehrt durdı 
einige neutrale Berichte, für fih jelbit predhen. Wir werden dann erkennen, daß 
der foziale Wirrwarr jhon Heute in Erngland faum geringer al3 in Deutichland ilt. 
Diefelben fataftrophalen Vorgänge im Snduftrieleben wie bei und: unausgefeßte 
Streits, finnloje Lohnfteigerungen bei gleichzeitiger Herabjegung der Arbeitäzeit, 
Neigung zu hodbezahtten Zaullenzen, Sozialifierungsbeftrebungen, Madtlofigkeit 
der Regierung ufw.! Zolgende Prefleäußerungen werden die beweifen: 

„Zimeß”, 18. Januar: „Das Land treibt unmögliden wirtichaftlichen 
und fozialen Berbältnijjen zu. Wenn die Bewegung erit einen gewillen Punft 
übericritten Hat, dann gibt e8 fein Zurüd mehr, jondern nur nod) heftigen 
Zujammenftoß. .... U. a. fordern die Bergleute eine Lohnerhöhung von 
30 Prozent, einen Sechsftunden. ſtatt des Achtſtundenarbeitstages und die Ver— 
ſtaailichung der Bergwerke. Man ſchätzt allein die Mehrforderung an Löhnen 
auf 40-50 Millionen im Jahr, die entweder der Verbraucher oder der Steuer⸗ 
zahler aufbringen muß.“ 

„Daily Chronicle“, 21. Januar: „Streik und Gerüchte über Streiks ſind 
in Engiand und Schottland dauernd im Gange. Die Bewilligung der ‘sorde- 
rungen fann. wahricheinlich erzwungen werden. Wenn died in allen Sällen 
geſchieht, wird es ſicheren Ruin für alle bedeuten ... Wir können während der 
Abergangswirtſchaft in einen Abgrund der Arbeitsioſigkeit und des Bankerotts 
ſtürzen. Das wünſchen einige Theoretiker der Zerſtörung.“ 

„Daily News“, 20. Januar: „Die iriſchen Textilarbeiter fordern die 
dreiundvierzigſtündige Arbeitswoche und 10 Schilling Lohnerhöhung. Die 
Straßenbahnangeſtellten und Kutſcher von Belfaſt beſchloſſen für die vierund- 
vierzigſtündige Arbeitswoche und andere Forderungen zu agitieren. Die Werft- 
arbeiter und Mechaniker am Clyde beſchloſſen am 17. Januar mit der Forderung 
der Vierzigſtundenwoche in den Ausſtand zu treten.“ 

„New Age“, 16. Januar: „Der ruſſiſche Bolſchewismus wird im neuen 
Manifeft der ſogialiftiſchen Arbeiterpartei den Proletariern Englands zur Nach⸗ 
ahmung empfohlen . Unfere Arbeiterfchaft fümmert fih zu wenig um fyfte- 
matijche Neuordnung ber Induftrie und zu viel um Bolitit; fie verjchwendet 
Kraft auf bloße Reform des Lohnſyfſtems.“ 

„Pall Mall Gazette“, 28. Januar: „Die große Maſſe der Arbeiterſchaft 
wird von Agitatoren zu Zwecken ausgenügt, die mit der Aufbeflerung ihrer wirt- 
Ichaftlichen Xage nicht8 zu tun haben. Hauptlache ift ihnen, ihre revolutionären 
Theorien zu verwirklichen, um auf Diele Weife ihren Haß gegen die beitehende 
Sefelihaftsordnung zu befriedigen. Ob fie dad ganze Volk einjchlieglich der 
Arbeiter dem Hungertode und den Schreden eines blutigen Bürgerkriegs preis. 
geben, ift ihnen in ihrem teufliihen Wahn vollfommen gleichgültig.“ 

„Daily News“, 30. Januar: „Die legten Streif3 find Iymptomatifch für eine 
tieffigende Iogtale Krankheit, Die fi in einer maßlofen Berbitterung Zuft mad.” 

„Daily Telegraph“, 28. Januar: „Die Streifanftedung ift ebenfo virulent 
wie die fpaniiche Grippe und wird, falls fie geduldet wird, der Snduftrie ebenfo 
verbängnisvoll werden, wie jene dem menſchlichen Organismus.“ 

„Weftminfſter Gazette“, 28. Sanuar: „Anfcheinend baben die Streilß ihre 
Urſache in der Forderung eines en en und diefe Forderung 


156 Vae viecetoribus! 





entſpricht der Furcht, es werde bald überhaupt an Arbeit mangeln. Dabei 
geht man über Straßen, die im höchſten Maße ausbeſſerungsbedürftig find; 
die Bahnen find geſtopft voll, da ein regelmäßiger Eiſenbahndienſt aus Mangel 
an Feuerung, Maſchinen, Wagen und Perſonal unmöglich iſt; man ſchränkt 
ſich mit Licht und Gas ein, da nicht genug Kohle gefördert werden kann; man 
trägt alte Kleider, da es an jeglichem Stoff mangelt; man kann ſeine Wohnung 
nicht wechſeln, da es keine leeren oder neuen Häuſer gibt.“ 

„Glasgow Herald“, 28. Januar: „Zeichen von vulkanartigen Ausbrüchen 
finden ſich überall. Das Land kommt von einer Unruhe in die andere.“ 

„Daily Mail“, 30. Januar: „Die induſtriellen Unruhen, die ſich als 
vernichtende Welle über das Land verbreiten, ſind eine Folge der Enttäuſchung 
über die Zuſammenſetzung der neuen Regierung. Leute, die auß den Neu- 
wahlen nur die Berteilung der Minilterpoften unter diefelbe fleine Clique von 
disfredierten Politikern hervorgehen jehen, verlieren das Vertrauen auf Rabhlen 
und wünfden gemwaltjamere Maßregeln mit wahrfcheinlicd) wirktfameren Folgen.“ 

„Daily News“, 28. Januar: „Die Gärung unter der Arbeiterfchaft fieht 
jehr bedrohlih aus, aber fie wird mit Beftimmtheit im Augenblid, wo die 
Demobilmahung einjegt, noch viel fchlimmer werden, wenn man nicht Flug 
und fyftematifch vorgeht.“ | 

„Dutloof”, 4. Januar: „Der am Elyde geforderte Mindeftlohn Hätte die 
ganze Erzeugung in weniger ald einem halben Sahr erfchöpft ... . Preift doch 
‚che Call die Boljchewilten al8 Begründer de3 langerjehnten Gefellichaft- 
auftandes und tadelt die britiichen Arbeiter, die ihnen nit zujauchzen!“ 

Nah „Financial News” vom 4. Zebruas bat der Bergarbeiter-Berband 
von Derbyfhire beihloflen: „Wir raten unferen Mitgliedern und allen anderen 
Arbeitern, fi zu weigern, irgendwelche weiteren Sriegöfteuern zu zahlen, und 
weijen unfere LZeute an, folche nicht mehr einzuziehen.“ 

„zimes”, 8. Jebruar: „Wenn wir die gegenwärtige Krife in der Arbeiter- 
Ihaft al8 bloße ‚Särung‘ auffaffen und behandeln, fo werden wir faum glüd- 
li durd) die Schwierigkeiten bindurdfommen ... Bir madjen jet eine jogiale 
Revolution durch.“ | 

„Mandefter Guardian”, 10. Yebruar: „Wir Haben jet dag Höchſtmaß 
der Zerfegung mit dem Mindeftmaß an pofitivem Arbeitsertrag.“ 

Könnte nicht jedes Wort diefer gahlreihen Schilderungen genau ebenfo als 
Beichreibung deutfcher Zuftände gelten? Dean fieht, e8 ift in England „tout comme 
chez nous“ — trog de3 gewonnenen Strieges! Sa, felbit die Unfinnigleiten einer 
übertriebenen, jede Arbeit mordenden Arbeitzlofenunterftügung finden wir jenfeit$ 
des Kanald wieder: Ä 

„zimes“, 27. Sanuar: „Sn Kilfenny fann man die fogenannten Erwerb8- 
lofen den ganzen Zag in den Straßen berumjtehen jehen. Arbeit gibt’3 reidh- 
lih. Aber die Leute ziehen e8 vor, allmödentlihh 29 Schilling aus öffentliden 
Geldern zu nehmen und nicht zu arbeiten. Die Stadtbehörde juchte einige 
Arbeiter, um nad) einem Jahrmarkt die Straßen zu fäubern, aber niemand 
meldete fih; alle erklärten, fie fönnten das ihnen gebotene Seld ja aud dur 
KRichtstun verdienen.“ 

„Zimes“, 24. Sanuar: „Der unglüdlihe Steuerzahler und Landbefiger 
befommt feine Arbeitskräfte, da Dienfiboten und Arbeiter e8 vorziehen, wöchent- 
lid 29 Schilling Erwerb3lofenunterftügung zu beziehen und nicht zu arbeiten, 
ftatt nur 26 Schilling (den von der Regierung feitgejegten Söchitia) zu ber- 
dienen und dafür zu arbeiten .‘. . Die Regierung hat tatfählih eine Prämie 
auf Unehrlichteit, Zaulheit und Berfhwendung gefegt.“ 

An Hund derartiger Schilderungen gewinnt man den Eindrud, ulS ob der 
foziale Wirrwarr in England jhon heute faft no) Schlimmer ald in Deuifchland 
fei. Zu den überaus großen Arbeitsfchwierigfeiten fommt nun aber aud) nod die 
Bewegung unter den Soldaten, die nad) Haus zurüdverlangen und immer unbot- 
mäßiger werden. Anfang Ianuar fam e8 in Yolfeftone und Dover zu Kund- 


— 


Vae victoribust 157 


gebungen großen Umfanges, die zwar verhältnismäßig gutartig verliefen, die man 
aber dennoch faum anders denn al8 Meutereien bezeichnen kann. Hören wir aud) 
hierzu einige engliihe Prefleftimmen: 

„Labour Xeader“, 9. Januar: „Eine Anzahl Soldaten hat diefe Woche 
in dramatiiher Weife ihre Unzufriedenheit über die Langſamkeit, mit der Die 
Demobilifierung vor fich geht, Ausdrud gegeben... . Der Ausbrud ilt ein 
Symptom allgemeiner Unruhe im Heere, und wenn die Regierung fich mit der 
Demobilifierung nicht beeilt, ift e8 nicht unwahricheinlid, daB e3 zu weiteren 
Ausichreitungen fommt.” | 

„Common Senfe“, 11. Sanuar: „Eine lange amtlihe Kundgebung er- 
flärte, da8 Heer babe in durdaus ordentlicher Weife, aber in beträchtlichen 
Umfange gegen die Berzögerung und den Wirrwarr in der Demobilmahung 
geftreift. Eigentlich können ja Soldaten nidjt ftreifen, fondern nur meutern; 
aber General Sir William Koberifon war doc der verftändigen Anficdht, e8 
helfe nicht3, wenn man die beteiligten 8—I000 Soldaten vor ein Friegögericht 
‚stelle. Die Demonitrationgzüge der Soldaten verliefen wohl alle ganz ordent- 

lich, ftellen aber doch einen furdtbaren Bruch der Dilziplin dar.“ 

 „xzruth”, 8. Sanuor: „SH würde mid gar nidt wundern, wenn 
nächfteng Zeile unferer Kölner Truppen eine Berfammlung einberufen mwürben, 
um unter Umgebung der militärifhen VBorgefegten fi) eigenmädtig ihr Recht 
zu verichaffen. Nach den Unruhen in %olkefionre zu urteilen, fann man fi) ja 
vorftellen, in weldher Gemütdverfaffung erit die Soldaten fein werden, die fich 
noh in Frankreich, Deutſchland, Rußland, der Türkei, Mazedonien und 
Paläſtina befinden, zumal da dieſe Millionen britiſcher Krieger nicht einmal 
Ausſicht auf Erlangung eines Heimatsurlaubs haben. Inzwiſchen wird be— 
richtet, daß ſich der erſte Soldatenrat in England gebildet hat. Zweifellos 
werden die Arbeiter nur zu gern bereit ſein, nach dem Vorbilde der Sozialiſten 
ded Kontinent3 nun aud) ihrerjeit3 Arbeiterräte zu bilden.” 

„Labour Leader”, 16. Yanuar: „Die Soldaten haben bewiejen, wie un- 
mittelbare8 Vorgehen auf eine Regierung wirft, die fi) durch Drud beeinflufien 
läßt. Einige Tage lang waren Regierung und KriegSminifterium im Zuftande 
der Beitürgung, und e3 ergingen Befehle, daß durchaus nichts gefhehen dürfe, 
um die Zeute zu reizen.“ 

. „Daily News“, 10. Februar: „Die Szenen. die fi am 8. Februar im 
Kalernenhof der Horſe Guards und in der Biltoria-Station abfpielten, zeigen ung 
die allgemeine Gärung von einer neuen, bedrohlihen Geite . . .. Wenn man 
diefe Demonftrationen noch ferner geftattet, muß der Geift der Injubordination 
überhband nehmen und die Arınee zum direftionlofen Haufen werden. Gie 
würde nicht demobilifiert, jondern in einer Weife zerjegt werden, die nicht ohne 
ihwere Beforgniß betradhtet werden fann .... Die Demonftranten wurden 
auf dem Kafernendof der Horje Guard8 umzingelt, und Hunderte von englifhen 
Soldaten wurden gefangen abgeführt.“ 

Die .bierin außgefprodhene Vermutung, daß e8 bei den Fronttruppen im 
bejegten Gebiet mindeftens nicht befjer al bei den revoltierenden Urlaubern von 
olteftone und Dover außfehe, ift inzwifchen mannigfach bejtätigt worden. Die 
tentepreffe darf zwar hierüber nicht® fchreiben, aber bei der Bevölferung de3 
Nheinlands fpriht alle Welt davon, daß in Mainz die Gefängnile voll von 
franzöfifchen, in Köln von englifhen Deferteuren fteden, daß in Koblenz kürzlich 
aahlreihe verwundete Amerifaner eingeliefert wurden, die Opfer von Kämpfen 
bei Unruhen im Hinterland, angeblid in Lille, geivorden waren ujw. Aus der 
Schweiz wurbe gemeldet, daß zahlreihe franzöjiiche Soldaten ihre Gewehre in 
den Rhein warfen und in die Heimat zurüdtehrten. Befonderd das zweite fran- 
zöſiſche Korps fol fich durch Mleutereien „ausgezeichnet“ haben. Die „Morning 
Post“ geitand am 11. Februar: „Die Heeredmacht der Verbündeten jhmolz wie 
Schnee im Frühling“. Und der Holländiihe „Nieuwe Rotterdamſche Courant“ 
Ihhrieb am 29. Januar: | 


158 | MWilfon und Elemenceau 


„Seftern find Amerifaner vom Rhein befertiert. Wieviele Truppen werden 
dort noh ein Sahr jpäter jtehen? Die Bölfer de8 Verbandes zwingen die 
Regierungen zu einer übereilten Demobilmahung. Die TFriedensvorichläge an 
Deutihland werden fich auf Elemenceaus zwölf Millionen Mann ftügen. Diefe 
aber werden dann nicht mehr vorhanden fein! Und mwo follen fie in aller Eile 
berfommen, wenn Deutichland fich widerfpenftig ermweift?“ 

Und „Daily Zelegraph“ betonte am 8. Februar fchon Zleinmütig, wenn 
Deutihland die engliiden Unruhen ausnuge, fünne e$ England um den ganzen 
Giegesprei3 bringen! Zu einer Yortführung de3 Krieges ijt Heut jedenfall3 aud) 
der größte Teil der Ententetruppen nicht mehr imftande | 

An deuten Zuftänden gemefjen, erleben die Ententeländer jet ihren 
Dftober 1918. Ein 9. November wird auch ihnen nicht erjpart bleiben fönnen. In 
Rumänien ijt feit dem 23. Januar die Revolution anjcheinend jhon zum vollen 
Ausbruch gefommen; der Sturmwirbel fchreitet in weftlicher und füdlicher Richtung 
weiter fort; da3 Sturmjignal ift gezogen! Sn Deutfchland Hat der Orkan 
viel Mbles geitiftet, aber da3 feite Gebäude der deutichen NeichSeinheit jcheint 
ihm doch erfolgreih Widerftand Ieiften zu wollen. Wie aber wird e8 um die 
Gebäude der britischen, frangzöfiihen und italieniihen Kolonial- und Weltreiche 
ftehen, wenn der große joziale Wirbeliturm auch über jie erjt mit voller Wucht 
dahinftreiht? Und wie wollen die „Sieger“, d. 5. die Mächte, deren Truppen 
ein Vierteljahr länger die Herrichaft über die Nerven behalten Haben, vom be- 
ftiegten Deutichland Forderungen erprejjen, die über den Rahmen eines Ber- 
Htändigungsfriedeng hinausgehen, wenn ihnen da8 Zwangsmittel der militäriichen 
Macht automatiihh ebenfal3 aus den Händen gleitet, wie und, und wenn fie 
überdie8 jchließlid mit der Löfchung des Feuerd im eigenen Haufe mehr zu tun 
haben al mit der Ausräuberung der Brandftätte im Nachbarhaug ? 

Nachtrag. Am 26. und 27. Februar famen inzwilhen auch au3 dem lange 
nahezu bermetijch abgejchloffenen Stalien jowie von den franzdfifchen Front— 
truppen Nachrichten, die einen auch dort beginnenden Zufammenbrud unverfenn- 
bar machen. Schweizer Meldungen berichteten von Ummwälzungen in Mailand, 
Zurin und Bologna, von Straßenfämpfen und der Bildung italienischer Somjet3, 
und vom Rhein wurden Maflenverhaftungen franzöiiiher Soldaten und eine 
plögliche rätjelhafte Räumung mehrerer franzöfifher Brüdenföpfe auf dem rechten 
Rheinufer gemeldet. Der „rote November“ ift anjcheinend für die Entente foeben 
angebroden ! | 

Was daraus für Deutichlands Stellung gefolgert werben fann, Hat die 
Kopenhagener Zeitſchrift „Finanstidende“ vom 22. Sanuar bereit3 mit aller Schärfe: 
ausgeſprochen: 

„Bis zum Frieden ... können ſich die Machtverhältniſſe in der Welt 
in einer Weiſe ändern, die man auch in neutralen Ländern beachten ſollte ... 
Deutſchlands Stellung nach außen wäre alles andre als ungünſtig, wenn nicht 
ſein innerer Wirrwarr ihm jede Waffe aus der Hand ſchlüge.“ 


— 


Wilſon und Clemenceau 


ie Idealiſten der ganzen Welt haben eine ſchwere Niederlage 
erlitten. Mit einem moraliſchen Anſehen ohnegleichen, äußerlich 
faſt bedeutender noch und rare als je ein Papit des Mittel- 
alters e3 bejeffen hat, hat der Präfident der Vereinigten Staaten 
den Boden Europasbetreten. Als ein, einſtweilen wenigſtens, ruhm— 
los len fahrt er wieder zurüd. Er fam, um der Welt 
den ‚Frieden zu bringen, VBerföhnung zu ftiften, ein neues Reich der Gerechtigkeit 
zu begründen und jeine edeljten Pläne jind fehlgefchlagen. Aufgrieden tft nohnidt, 





Wilfon und Elemenceau 159 


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einmal eine Ausſicht vorhanden, von Verſöhnung iſt nirgends die Rede, neue 
Konfliktsſtoffe ſind in Menge aufgetaucht und die Idee der Gewalt herrſcht wie 
nur jemals mitten im Krieg. Eine Liga aller Nationen wollte der Präſident 
stiften, einen friedlihen Bund gleichberechtigter Volker, und hat es nur zu einem 
Bündnis fiegreicher Regierungen bringen fünnen, zu einem Syndikat, das Die 
Weltherrichaft monopolijiert. Der den Ausgang Des Weltkrieges entfchted und 
die Herrſchaft des Rechts wollte, ift den Errvägungen der Gewalt gewichen. 
Nocd vermag man die einzelnen he diefes gewaltigen Ningens nicht 
far zu überjehen, denn auch die dee, die Gcheimdiplomatie abzıtichaffen, wird 
bei verjchlofjenen Türen behandelt. Aber in großen Zügen laßt jich die Entivid- - 
lung rüdihauend Tarlegen. Die Anfangsitellung der Stampfer murde im 
vorigen Hefte fHizziert. Zunächit hat Frankreich gegen die Entente Amerila- 
England, die fih vorweg über die „sreiheit der Meere”, will fagen die unbedingte 
Seeherrichaft des angelfähhliihen Blodes geeinigt hatte, nicht auflommen fonnen. 
Sn der Behandlung der eu stage hatte c8 England gegenüber nachgeben 
müfjen, feine Anfprucherhebunng auf Syrien wurde durd) Englands Hedichas- 
pläne und dejjen iiberrafchende und bedeutungsvolle Anmaßung der ’Boltzei- 
ewalt in Konjtantinopel mehr als tompenjiert und der Plan, Spanien in der 
ihraltarfrage vorzujhieben, war an feinen inneren Unmöglicdleiten gefcheitert. 
Clemenceau ſah fih immer mehr in die Enge getrieben und fühlte zugleich wie 
ber Boden des eigenen Landes unter ihm nachzugeben begann. Da raffte er fid) 
auf zu einem legten großen Schlage. Mit unerhörter Energie, bemunderns- 
würdiger Difziplin und vollbefegtem Orcheiter fette zunächlt ein neuer Brejfe- 
feldzug gegen Deutfchland ein. Deutichlands Be Gefährlichkeit und die 
Sefahren feiner durch die Revolution noch mehr geeinigten Stoßfraft wurden be- 
tont, Zranfreich habe bei einem neuen Krieg wieder den eriten Angriff auszu- 
halten, und was da8 heiße, predigten die befreiten Gebiete, Deutihland muß 
abrüjtern, Deutichland muß gejhmächt werden wie e3 ung jchwächen wollte ufiv. 
Kaum waren die Flammen de Chaupinismus folcdermaßen tmieder gu 
mädtigem Lodern nn führte Slemenceau bei Gelegenheit der Verhand- 
lungen über da8 Schidfal der deutfchen Kolonien den eriten Fräftigen Zufammen- 
itoß herbei. Zwar herrfchte Darüber, daß fie Deutihland unter feinen Umftänden 
surüdzugeben feien, volle Einigkeit, aber Wilfon forderte fie für den Bölferbund, 
während Glemenceau, unterjftügt übrigens durch Hughes, Verteilung an einzelne 
Mächte verlangte. Mit voller Ablicht trieb Elemencenu den Gegenjag auf die 
Spiße, Iieß die Preffe bald höflich, bald ironisch, hier verftedt, Hier offen, in allen 
Zonarten, mit allen Beiweggründen gegen die „Pdeologte” Wilfong zu Felde 
ziehen (in einem Maße, daß die Amerikaner drohten, die Konferenz aus Franl- 
reich zu verlegen) um dann in der Kolonienfrage zwar nachzugeben (mas 
— kaum von allzu großer Bedeutung ſein dürfte) aber nur um — 
dachgiebigkeit ins hellſte Licht zu ſtellen und Als das Icheinbare morvalijche 
damit zu erbaufen, nicht nur außerjt Harte ffenftillftandsbedihgungen durch- 
zuſetzen, De geſtützt eine über die gerade zu dieſem Zeitpunkt erfolgt 
Veröffentlichung der deutſchen Pläne zur Vernichtung der nordfranzöſiſchen 
Induſtrie zu höchſter Energieleiſtung aufgepeitſchte Preſſe, in den letzten, vorſichtig 
bis — aufgeſparten Punkten: der Zulaſſung Deutſchlands zum Völkerbund, 
ſeiner Wehrlosmachung, der anno und Eljfaß-Lothringen (um nicht 
zu jagen lines Rheinufer) unerbittlich zu bleiben. Der Völterbund, hieß es, 
mag eine herrliche und gewiß eritrebensiverte Sache fein, bietet aber dem anı 
meijten gefährdeten Trankreich fo wenig Sicherheit gegen einen neuen Angriff, 
und feine ntereffen felbjt wahrnehmen muß. Und gleichgültig num, 
ob Wilfon, gedrängt durch England, dejfen innere Verhältniffe einen baldigen 
sriedensihluß erfordern, jich heute, al3 Gefcheiterter, ohne greifbare Refultate, 
zurüdzufehren, ob Glemenceau feine moralifche Widerftandsfähigteit ermüdet und 
rmüvbt hat, die Verhandlungen wegen der Stürze der nod) zur Verfügung 
tehenden Zeit übers Knie Gebot werden mußten oder ob Wilfon jich der Hoff: 
nung hingtbt, da8 Gewicht Amerilas vermöge doch noch eine Loyale Auslegung 


160 Wilfon und Elemenceau 


feines (und Smuts’) Völterbundprojeltes zu fichern, genug, einer Tag vor dev 
Veröffentlichung des Entmwurfes erichien in allen Tageszeitungen, fogar den 
Provingblättern, ein an die franzöftfche Vereinigung für Völferbund gerichteter 
Brief von ihm mit der Erklarung, er habe von jeher für Theorien und deale 
nur inſoweit etroa3 übrig gehabt, wie fie fich in Wirkflichleit umfeben ließen und 
daß die Wirklichkeit der Prüfftein für Diefe Sdeale bilde. Das bedeutete end« 
gültige Kapitulation vor dem HNealilten Elemenceau und über den wahren 
Sinn des Volferbundes fonnte fein Ziveifel mehr herrfhen. Und wie nun auf 
in Einzelheiten noch verhandelt und gefeilfcht werden mag, eins hat Elemenceau 
erreicht: Deutjchland bleibt der gefnebelte Paria und die “dee einer über 
Ihaatlihen ausgleichenden Gerechtigkeit tit fallen gelaffen. 3 gab Beurteiler, die 
Das auf Klemienceau verübte Attentat für von ihm felbit zur Hebung feines An- 
jehens beitellte Anbeit hielten. Aber beitellte Stugeln treffen den Auftraggeber 
nicht in die Nähe der Yunge und nach folcddem Siege hatte Klemenceau vor der 
Sand feine Hebung feiner Autorität mehr nötig. So mancherlet Stonzeffionen 
auch Frankreich noch in Afrila und im Orient wird machen müfjen, in Europa 
hat es, und Das tit dem frangöjiichen Selbitbermußtjein augenblidlic das Au 
ihlaggebende, zunädt eine Machtfülle erreicht, wie e8 fie feit Napoleon dem 
Erften nicht — gehabt hat. Und wenn es auch möglich iſt, daß dieſe auf Ab—⸗ 
hängigkeit von England gegründete Stellung ſich auf die Dauer als ein Pyrrhus⸗ 
ſieg erweiſt, für den Augenblick iſt ſie unzweifelhaft ein Sieg und das Haupt— 
verdienſt daran gebührt Clemenceau. 

Iſt der Kampf nun endgültig entſchieden oder iſt es möglich, daß Wilſon, 
mit Verſtärkungen zurückkehrend, ihn noch einmal aufnehmen wird? Niemand 
vermag dergleichen heute, da die Mörderkugeln ſchwirren, mit Beſtimmtheit vor—⸗ 
auszuſagen, aber Wahrſcheinlichkeit beſteht kaum dafür. Möglich, daß es Wilſon 
nn gelingt, den Ausgang des Krieges für den Unterlegenen wenigſtens zu 
mildern, aber e3 tvind gut fein, wenn fich Deutichland beizeiten auf den &e- 
danfen einjtellt, daß es ganz allein auf fich geftellt it, von feinem feiner Gegner 
Snade zu erivarten hat und daß es.nur noch die Frage ift, ob die STeinde Ziveld- 
mäßigkeitsrückſichten zugänglich ſind oder durch ———— des Bogens 
no dem Bolihetwismus in die Arme werfen und damit einen neuen 
Weltbrand herbeiführen, Deilen Funken leicht auch auf Amerika überjpringen 
fönnten. Franzöfiihe Blätter nennen folde Gedanken ein betvußtes, auf 
Drohung berechnetes Kofettieren Deutichlandse. Wären fie da3, jo wäre das ein 
gefährliches Spiel, das feine Regterung im Ernft zu treiben denben könnte, weil 
jte fjelbjt fein erjtes Opfer werden wurde. Für Teutjchland heikt die Fe 
arbeiten und nicht verziweifeln. sindet aber eine folche Regierungspolitif feine 
Unterjtügung, fo ift auf ganz natürlichem Wege aus Putichen von rechts oder 
lints, aus Streifen, Revolten und Parteienhader mowygen das Chao3 da und wehe 
der Bivilifation, die in feinen Wirbel gerät! Menenius 


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Allen Manuffripten tft Borto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Räüdfenbung 
nicht verbürgt werden lann. 








Nahprud fämtliger Unffäge nur mit ausprüädliher Erlaubnis des Berlagd aeftattet. 
Berantwortli: der: Herausgeber Beorg Eleinomw in Berlin» Lichterfelde Well. — Manuflriptiendungen und 
Briere werden erbeten unter der Ndrene: 

Un die Eähriftleitung der Srengbsten in Berlin SW il, Tempelbofer Ufer 85a. 

Sernipzecher bes Herausgebers: Amı Lichterfelde 498, bes Berlags und der © — Amt Bügom 6610 
Berlag: Berlag ber Grenzboten &. m. b. 9. in Berlin SW 11, Tempelbofer Ufer 35a 
Drud: „Der Neiöbote" &. m. 5.9. in Berlin SE ı1, Deffauer Straße 36/37 


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Die deutſchen Volksräte in der Oſtmark 


Von Georg Cleinow, z. Zt. Bromberg 







za ic unglüdjelige Politik dreier Regierungen: der alten Taijerlichen 
ws mit ihvem Bidzadfurs, der furzlebigen nee berabllden 
des Herbites von 1918 und der eben am Ruder befindlichen 
ſozialiſtiſchen, hat daau geführt, daB das Deutihe eich 
AA Diht am den Rand des materiellen, daS deutfhe Volt an 
u Den des moraliihen Zujfammenbruchh® herangeführt ijt. Die 
Lage it Dr dar im Dit und Belt, in Sid und Now offene und 
heimliche Feinde ihre Zeit fürgelommen Halten, dem Deutichen Reiche 
Gebietsteile zu entreißen. Auch die politiiche Gedantenmwelt mancder SKreije 
unſeres Volkes ijt derart vermwildert, dag Männer, deren Namen bisher einen 
guten Klang im deutichen Volke hatten, glauben, in Stimme für Sonderorgani- 
fationen und Sonderbeitrebungen erheben zu müjjen. Eine mwütende Agitation 
hatte obendrein Dazu geführt, die Hijtorifchen Grundlagen, und mit ihnen die ge= 
junden Kräfte, die in einer taufendjährigen Vergangenheit aufmwuchien, gering 
zu adhten, ja zu verachten. Nicht nur Eljaß-Lothringen und Schleswig jollen 
vom Reich losgerifjen werden und werden auch von manchem leichtherzig prei3- 
gegeben. m Dften find es befonders die Polen, die gierig nad) taujendjahrigem 
deutfchen Kulturbejig die Hände ausjtreden und zum Teil rein deutiche Gebiete, 
wie Weltpreußen mit Danzig und den Negedijtrikt, zufammen mit anderen 
Zeilen der len vom Reiche abzureißen jtreben, um ıhn mit dem bisher doch 
mehr theoretijchen Gebilde eines polnischen Staates zu vereinigen. Die von der 
gegenwärtigen Regierung .angenommenen Baftenftihtandäbedingungen, die Feſt— 
jeßung der Demarkationslinie gegen Polen mitten durch den deutichen Nege- 
dijtrift und ebenfo die neuen Bedingungen für den Frieden machen e3 zujammten 
mit der neuen Revolution faum noch wahrjcheinlich, daß die Regierung genügend 
Kraft aufzubringen vermag, um die geivaltiame Lostrennung ganzer Provinzen 
vom Reich zu verhindern. 

Weitblidende Männer haben das Unheil bereits, wenn auch nicht in diejen 
furhtbaren Ausmaßen, wie es vor uns jteht, jeit Monaten heranlommen jehen 
und Daraus ihre — für die notwendige politiſche Arbeit gezogen. Sie 
haben ſchon vor inn des Weltkrieges eine Yooifon der Deutjch-polnijchen Be- 
* ziehungen angejtrebt und amtlichen Stellen entjprechende Vorjchläge unterbreitet. 

Die Gründe, weshalb e3 nicht gelang, das Problem rechtzeitig zu lojen, jind jo 
mannigfaltig, daß es unmöglich erjcheint, für die Katajtrophe eine ‘Berjon oder 
eine Partei allein verantwortlich zu machen. Sie liegen ebenfo in der inneren 
wie in der auswärtigen Bolitit und in den Gründen, die zu dem allgemeinen Zu- 
jammenbdruch überhaupt führten. Wir würden auch unjere derzeitige Lage um 
nicht3 verbejjern, wollten wir verfuchen, die Schuldfrage jet fchon zu lee ats 
Das mögen unjere hoffentlich glüdlicheren Nachfahren bejorgen! Wir müfjen tat- 
träftig Hand anlegen, um aus dem Gröbjten zunäcjt hevauszutommen. Wir 
jind einfach geziwungen, aus eigener Kraft eine Revijion der alten VBerhältnifje 

®Srenzboten I 1919 11 





162 Die deutfhen Dolfsräte in der Oftmarf 








borzunehmen und ohne ung in eine rvejtlofe Abhängigkeit von den großen poli« 
tiichen Entwidlungen zu —— dasjenige zu tun, was dem Geſamtdeutſchtum 
frommt. Mußte ſchon die Teilnahme der polniſchen Bevölkerung an den gewal⸗ 
tigen Laſten des Krieges dahin führen — und die preußiſche Regierung des alten 
Regimes hatte dieſer Tatſache im März 1918 Rechnung getragen, — daß ein 
Unterſchied in der Behandlung von Deutſchen und Polen in Preußen fortfiel, ſo 
hat die Revolution alle Bedenken, die ſich gegen eine völlige Gleichſtellung der 
Polen mit den Deutſchen erhoben, über den Haufen geworfen, indem ſie die Tat⸗ 
jache der volljtändigen Gleichheit zum Gejeg erhoben hat. 

Diefem Umijturz der Verhältniffe find die Deutfchen in der Oftmark nicht 
gewachjfen. Durch die alte Bureaufvatie vermohnt und politifch uninterejjiert 
erhalten, mangelt e3 ihnen an einer entiprechenden nationalen ——— 
Solange die Regierung des ſogenannten Obrigkeitsſtaates das deutſche Element 
mit beſonderer — umgab, erſchien eine ſolche auch überflüſſig. Seit aber 
die A Obrigkeit” ın Fortfall gefommen, muß das Deutihtum feinen 
Schuß, feine fulturellen, feine wirtfchaftlichen und feine politiihen Antevefjen 
felbjt in die Hand nehmen. | 

Die aus folder Erkenntnis ertvachienden Aufgaben durchzuführen, hat die 
„Deutihe Vereinigung” mit dem Sit in Bromberg in die Hand genommen, die 
gegen Ende November 1918 entitanden und nad) forgfältiger Vorbereitung am 
Sonntag, dem 22. Dezember, in Bromberg mit ihrer eriten großen Kundgebung 
an die Öffentlichkeit ‚getreten if. Die —— Vereinigung ſammelt alle 
Männer und Frauen der Oſtmark, die ſich zur deutſchen Nationalität bekennen, 
mögen fie im übrigen einer politiſchen Partei angehören, welcher fie wollen, 

ögen ſie Sozialdemokraten oder Zentrumsangehörige ſein, mögen ſie —— 
vative oder liberale Volksgenoſſen oder bürgerliche Demokraten ſein! Sie ſind 
willkommen in der Deutſchen Vereinigung, — ſie bereit ſind, ſich unter dem 
Banner der deutſchen Nationalität zu kultureller Arbeit u ee 

Um es vorweg zu nehmen, I gleich betont, daß die Deutiche Bereinigung 
nicht den Kampf gegen Andersgelinnte auf ihre Fahnen gefchrieben hat. Sie 
erfennt die Gleichberechtigung der Polen al8 deutiche Staatsangehörige im 
Rahmen der VBerfaflung uneingefchräntt an. Sie will lediglich der deutſchen 
Minderheit in der Oftmarf, Gleihberedhtigung mit den Polen, die während der 
Revolution infolge des polnifchen Vorgehens tatfächlich abhanden gefommen ift, 
erwerben und erhalten. Wir räumen, der Macht mweichend, den Polen das Redt 
ein, ihre längft beitehbenden nationalen an auszubauen, teil wir 
dasſelbe Recht für ung in Anfpruch nehmen. ir rüden ausdrüdlich von der 
alten Methode ab, die vor dem Kriege Zerrifienheit und nationalen Haß in der 
‘Brovinz verbreitet hatte, mögen die Methoden von Deutfchen oder von Polen 
angewandt worden fein. Wir erjtreben durchaus im Sinne jener Zufchrift vo 
25. Tebruar diefes Jahres an die „Pofner Neueften. Nachrichten” ein 
friedlihe8 BZufammenleben der Nationalitäten in der Wirtfchaft, um 
nad) den unfäglihen Opfern und Leiden des Srieges und der Revo» 
Iution allen unjeren Landsleuten die Segnungen des Friedens im weitejten 
Ausmaße zuteil werden zu laffen. Dazu gehört aber in erfter Linie gegenjeitige 
Achtung, und Achtung kann nur derjenige in Anfpruch nehmen, der jtarf genug 
tft, fich zu behaupten... Die Achtung der —* vor dem Deutſchtum iſt infolge der 
jämmerlichen Haltung der alten Regierungsorgane und der Unentſchloſſenheit der 
neuen Regierung gründlich in die Brüche gegangen. Sie gilt es durch die Volks⸗ 
x amtheit twiederherzuftellen.. Das ift die Vorausfegung für alles übrige. 
.benjo twie die Polen jich durch ihre nationale Einmütigfeit in mehr als hundert- 
en Kampfe unjere Achtung erlämpft haben, jo müffen wir, um die Achtung 

r Polen zu gewinnen, einig fein in der Verteidigung unferer nationalen Rechte 
und in der Wahrnehmung unferer nationalen Pflihten. Sole Aufgabe im 
gegenwärtigen Augenblid zu erfüllen, ift nur möglich durch die Anerkennung d26 
demokratiſchen ‘Prinzips für die völfifche Organifation. Nur auf der Grundlage 
des demofvatifchen Prinzips ift eine wirkungsvolle Zufammenfaffung der Bolls- 


Sranfreih und die Deutfchpolen 163 


fräfte möglich. Diefes Bekenntnis it maßgebend für den organifchen Aufbau der 
Deutihen Vereinigung. Mit der Deutfchen Vereinigung follte fein neuer DVer- 
ein ins Leben gerufen werden, fein Tummelplag für Stammtifchfreuden. Gie 
will ein erniter Faktor für das gefamte deutfche Leben in Wirtjchaft, Politik und 
Rultur fein, den auszubauen und zu ftärkten jeder Deutfche berufen ijt. Daher 
beruht die Organifation der Deutfhen Vereinigung nicht auf dem üblichen Ber- 
einsichema mit — — Vorſtand und Generalverſammlung, ſondern auf 
dem Zuſammenſchluß örtlicher Selbſtverwaltungsorgane, wie ſie als ein Ergeb— 
nis aus dem hiſtoriſch Uberkommenen und der Revolution entſtanden ſind. 

Die Organe der Deutſchen Vereinigung ſind die Deutſchen Volksräte: 
Ortsvolksräte, Kreisvolksräte, Gauvolksräte und Provinzialvolksräte, die ſich 
weiterhin zu einem Hauptvolksrat der Oſtmark ee fönnen, jobald 
ein Bedürmig dafür zutage treten — Auf dem platten Lande ſollen etwa 
hundert deutſche Familien je einen Volksrvat bilden, der mindeſtens drei N 
zu umfaflen hat. Größere dörfliche oder jtädtifche Siedlungen, in denen dur) 
das VBorhandenfein zahlreicher Gewerbe und Berufe eine größere und geringere 
Mannigfaltigfeit in der al aluiee Zufammenfegung der Bevölkerung 
beiteht, wählen entjprechend größere Volksräte. Sr mittelgroßen Städten werden 
die Volfsräte bereits jo groß fein, daß die Ausfonderung eines Arbeitsausfchuffes 
notivendig wird. 

Die Volisräte eines Land- oder Stadtkveifes bearbeiten die gemeinjamen 
Angelegenheiten in der „SKreisabordnung”, einer parlamentarifchen Körper— 
Ihaft von hödhitens 150 Köpfen, die grundfägti mindeiten3 einmal im Monat 
zu einer Tagung zufammentreten fol. Die Kreisabordnung wählt aus ihrer Mitte 
den „Kreisvollsrat” mit höchjtens 15 Mitgliedern. 

Sämtlide Mitglieder der Kreisvolksräte eines Regierungsbezirtes bilden 
zufammen die „Sauabordnung”, die twie die Streisabordnung eine parlamentarifche 
Körperichaft ift und den „Gauvolksrat” aus ihrer Mitte oder aus den bejoldeten 
Kreispolksräten wählt. Die Gauvolfräte einer Provinz bilden zufammen den 
„Propinzialvolksrat”. 

Die Obmänner der Kreid-, Gau- und Provinzialvoltsräte follen ebenjo 
wie die Schriftführer grundfäglich befoldet werden. Die Finanzierung der 
Bollsräte erfolgt Durch Umlagen auf Kon der Kreisabordnung, die jomit 
den Hauptträger des ganzen Syitems bildet. Alle Wahlen innerhalb der 
Deutfchen Vereinigung Faden nach dem demofratifchen, im NReihstagswahlrecdht 


feftgelegten Prinzip zu erfolgen. | 
Bisher haben fich in den Provinzen Pofen und Wejtpreußen etwa — 
hundert Ortsvolksräte gebildet und der eine und andere Kreis iſt völlig dur 
organiſiert. Die Ungunſt der Verkehrsverhältniſſe hindert die Arbeit auf das 
empfindlichſte; ſie geht dennoch voran, weil der Volksratsgedanke von allen Ein— 
—— als der politiſche Hauptträger der deutſchen Zukunft in der Oſtmark er— 
nnt ilt. 





Sranfreich und die Deutichpolen 


Don Dr. Mar Bildebert Boehm 


In dem großen Rätfelraten, das das deutiche Volk in feiner gegen- 
Z wärtigen verzweifelten Preisgegebenheit mit den Zielen und Ab- 
1 W jichten feiner Feinde treibt, jpielt — eine nicht geringe 
4 a a Nolle, wie von Ententegnaden jene ensfrage unferer natio- 
—— E | nalen Eriftenz entjchieden twerden wird, die heute ſchon viel eher die 
KIII®: oltdeutfhe Frage als die polnifche genannt zu erden verdient. 
E3 ift in den legten Monaten zur Genüge dargetan worden, daß der Berlujt 


11* 


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16+ ‚gianfrsih und die Deutfchpoien 


Bofens oder gar Danzigs und des anhängenden Zeile von Weitpreußen nicht 
‚nur das Schidjal der dort feit Generationen und „Jahrhunderten ill Ä 
* Deutichen, fondern daneben und Darüber hinaus die Wirtjchaft und Ernahrung 
des Reiches, die Sicherheit feiner Hauptitadt aufs fehwerfte bedroht. Aber e8 
ift die tragifche Folge unferes Zufammenbrudes, daß alle diefe Überlegungen 
mehr oder minder theoretifchen Charakter tragen, daß die ausjhlaggebende Ent 
Tcheidung, ohne daß wir dem wehren fönnen, von unjeren Feinden nach Gelichtd« 
punkten getroffen werden Tann, in denen aller Völker ntereffen mitiprechen, in 
allein de8 deutichen Volles Lebensnotiwendigkeiten mit Füßen getveten 
werden. ; 
Dies dumpfe Beiwußtfein machtlofen Ausgeliefertfeind Legt fich wie ein 

lähmender Drud auf all unfer Tun und Trachten ie I Dingen der großen 

olitit. Gewik dürfen wir nicht im Proteftieren ermatten und müffen unermuid- 
lich wenigfteng mit Worten gegen die vertragsbrüchigen Vergewaltigungsperjuce 
unferer Feinde Einfpruch erheben. Mögen die augenblidlichen Vlachthaber der 
feindlichen Reiche, mögen die Herren Elemenceau und Tod, Lloyd George und 
Koch Wilfon fi) noch fo Hartnädig taub jtellen, ihre Völfer werden die Not 
chreie eines gequälten Volles auf die Dauer nicht überhören fonnen. m Larm 
der Stunde mögen fie verhallen, in der Weltgefchichte werden fie ald Stlage und 
Anklage forttönen. Die politifche Taktit aber darf fi) mit diefem einen Mtittel 
nicht begnügen. Stönnte e8 nicht fein, daß durch jenes Prinzip, das die 
PBhilofophen die Heterogonie der Ziwede, das Umfchlagen des menfjchlichen Willens 
in völlig ungemwollte Biele nennen, daß auf diejem Wege auch der über unjere 
deutichen Sonderintereflen binwegichreitende Wille unferer Feinde durch unents 

rinnbare europäifhe und teltpolitiide Motivationszufammenhänge in Bahnen 
gelenkt wiirde, die le In een, auch mit unferen ntereflen parallel gehen? u 
der Tat beitehen joldye Möglichkeiten, und es ijt die Aufgabe unierer Unter 
händler, fie fühl zu errechnen und gefhidt in pofitive Posten unferer politifchen 
Bilanz umzuformen. | 

Es ijt des öfteren in der legten Zeit auf eine Stufenleiter der feindlichen 
Sympathien für die nationalen Anjprücde der Polen hingeiviefen worden. 163 
ift fein Zweifel, daß diefe in den franzöfischen Sympathien am beiten aufgehoben 
find, dap England ihnen fchon Fühler und kritifcher gegenüberiteht, und daß 
bollende Amerifa die Aigle Frage am borurteilsfreieiten als Heinen Teil 
ektor des iveltpolitifhen Problems Europa einjchägt. Die fühle Logik der 
sntereffen verfliht ji bier mit den TFolgewirlungen altüberlonmener 
Sympathien und gewifjermaßen vein zufälliger Stimmungen und Beeinfluffungen 
leitender PBerjönlichkeiten. Eine nicht unbetracdhtliche Rolle jpielt Dabei die inter 
nationale Judenheit, jene einflußveiche und doch bei feiner Regierung offiziell 
beglaubigte Sroßmacdht, die durch ihr Itarfes Solidaritätsgefühl mit ihren Xolts- 
und a in den polnifchen Gebieten an der Xöfung der polnischen 
Ä * vital intereſſiert iſt. Es ſind da ferner Erinnerungen an die liberale 

olenbegeiſterung der erſten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, Erinnerungen, 
die ſelbſt beim deutſchen Liberalismus noch nicht ganz erloſchen, die vollends im 
reaktionär erſtarrenden Frankreich noch ſehr lebendig ſind. Wir werden alſo 
damit rechnen müſſen, daß im Wettlaufe der nationalen Sonderintereſſen auf der 
Friedenskonferenz dem nackten Nationalegoismus der Polen ohne Zweifel ein 
— rung vor den deutſchen Lebensintereſſen wenigſtens durch Frankreichs 
icht gewährt werden wird. Es wird ein nicht unintereſſantes Schauſpiel 
ſein, welche Geltung ſich gegenüber dieſen traditionellen Sympathien die ebenſo 
traditionellen und übrigens durch tatſächliche Erfahrungen weſentlich beiler unter- 
bauten Antipathien der Weltjudenheit zu dem durch ſeine unverbeſſerliche Unduld⸗ 
ſamkeit berüchtigten Polentume werden verſchaffen können. 

Und doch iſt mit dieſen Gefühlsgründen das Entſcheidende noch nicht 
getroffen. Letzten Endes ſteht in der polniſchen Frage ein vom franzöſiſchen 
Nationalegoismus genährter Geſichtspunkt bornierter Kontinentalpolitil gegen 
den vornehmlich vom Präſidenten Wilſon wenigſtens angeſtrebten Gedanken einer 


Stanfreih und die Dentfchpolen 165 


— — 


Weltpolitik, die durch einen gerechten Ausgleich der Intereſſen jene: ſchwüle 
politiſche Atmoſphäre des Nationalismus beſeitigt, die zu immer neuen Ent⸗ 
ladungen in völkiſchen, wirtſchaftlichen und letztlich doch auch wieder militäriſchen 
Kämpfen führen muß. Frankveich iſt zum Vorkämpfer jenes Militarismus 
geworden, den man in dieſer Form unſerem Volke immer nur angedichtet hat, 
eines Militarismus, der durch Art und Umfang von ſtrategiſchen Sicherungen im 

riedensſchluß bereits den Keim zu neuen Kriegen iegt. Diefe politifche Gefinnung 

' it der Außere Gegenpol jener anderen, die in den berühmten vierzehn Punkten 
aum Ausdrude drängt, einer Gefinnung, die vom evrlihen Willen zur Ent- 
fpannung der — Lage und zur möglichſten Beſeitigung der Konflikt⸗ 
ſtoffe getragen wird. 

Was bezweckt Frankreich mit Polen? Seine ſentimentale Hinneigung zu 
dem Vande des edlen Kozeiusko und all der Emigranten, denen Heinrich Heine 
im liberalen Flüchtlingslager Paris begegnete, — dieſe traditionellen Sym— 
pathien in allen Ehren: aus ihnen allein erklärt ſich — in der femininen 
Seele des Franzoſen nicht jene Brigantenpolitik, die Frankreich in Oſteuropa 
treibt. Der entſcheidende Punkt iſt die neue Lage die der Siurz des Zarismus 

ſchaffen hat. Die Förderung, die ee Halbafiatiihe Tejpotismus im liberalen 

ranfreich gefunden hat, laßt fich weder durch Hiltorifche Erinnerungen, no 
durch bloße Gefühle erklären. Hier arbeitete ein mit mathematifcher Kälte 
rechnender politiicher Verftand. Das Wort von der Erbfeindfchaft zwijchen 
Sranfreich und Teutichland, das bei ung, wie alle Kenner des deutichen Lebens 
dor dem Striege beftätigen mülfen, trog aller gemwohnbeitsntaßigq furıbrit: hei den 
Sedanfeiern längft zu einer blaffen Formel geworden mar, diefes Wort hatte und 
bat in Frankreich noch immer voll lebendigen Gefühlsgehalt. Eljaß-Lothringen 
war feineswegs, wie Franfveih der Welt mwetsmachen mill, Anlaß hieles 
politifchen Srundeinjtellung. Sonjt müßte ja mit der Wiedergewinnung diejes 
Landes für das hr Empfinden der Weg zur Wiederverfühnung offen« 
itehen. Das Gegenteil ijt der Fall. Elfaß-Lothringen war nicht Anlaß, es war 
Eymptom und zuglei” bHyjteriicheg Neizmittel eines viel tiefer ein- 
gerwurzelten Erbhafjes der franzöfiihen Nation, die jenjeit3 aller imelt- 
politifchen Zimedläufigfeiten auf dte politiiche, wirtſchaftliche, ja legten 
Endes auf die jeelifhe DVernihtung Deutichlands ausgeht. Dan muß 
mit Oefangenen gejprochen haben, die die franzöfiihen Behandlungsmethoden anı 
eigenen LVetbe erfahren haben, um die teuflifhe Durchtriebenheit Frankreich8 auf 
diejem Gebiete zu Durchichauen. Während England dem deutichen Gefangenen 
im allgemeinen jene Sitterlichleit entgegengebradt hat, die dem Wehrlojen 
gegenüber für den Gentleman felbjtverjtandlich ijt, während felbft der ruffifche 
Tſchinownik den deutſchen Striegsgefangenen Am allgemeinen nicht viel brutaler 
behandelt hat, al3 im gegebenen Falle den eigenen Bolksgenoffen, hat e3 Frank 
reich planmäßig auf eine jeelifche Depravierung der deutichen Striegsgefangenen 
abgezielt, die nicht nur das Lebensbehagen oder die gejundheitlichen Bebürfnifie, 
nein die feelifche Würde, den Kern der Perjönlichleit zu vergiften juchte. 

Diefe jelbe Bolitit betreibt TSranfreich jebt im Sropen. Man tennt die 
Ihmadvolle Behandlung, die das ritterliche Frankreich den deutichen Unter 
bandlern, den unglüdlihen PVertretern eines nach heldenhafter Abwehr durd) 
erdrüdendeı Übermacdht befiegten Volkes angedeihen laßt. Mit ewiger Schmad 
hat fi) ohne Zweifel im mwejentlichen auf franzöfiihe Einwirkung die Entente 
beladen, indem fie ohne jeden Grund die Blodade aufrecht erhält und damit mit 
der böygienifhen Gefundung zugleih die Überwindung jener feelifchen 
Erihöpfungstrife unjeres Voltes Hintanhält, als deren Folgeeriheinung man 
doch wohl im wefentlichen den Vergnügungstaumel, das Streiffieber und all 
jene in den Bolihewismus mündenden Erfcheinungen feelifher Majjen- 
erkrankung wird buchen müffen, die fchwerer auf der Seele der Beiten unter ung 
laiten, als die Fortdauer materieller Entbehrungen. Franfreih will uns nicht 
zur jeelifchen Gefundung fommeen laffen. Deshalb fümpft es gegen alle Stimmen 
maßvoller politiicher Vernunft um Friedensbedingungen, die diefe unerträgliche 


166 Stanfreih und die Deutfchpolen 


Lage für Deutihland zum Dauerzuftand erheben und unfer Vaterland durd 
‚ fortdauernden außerpolitifchen Drud aus der mwirtichaftlihen Verelendung in 

jene jeelifche Selbitzerfleifchung Hineintreiben follen, deven Anfänge wir bereits 
Ichaudernd erleben. 

‚ Hier will Srankreich den Polen eine wichtige Rolle zuerfennen. Der 
Zarismus N gejtürzt; galt er Schon als merkmwürdiges halbajiatifches Dlonjtrum, 
als eine Beitie, vor der man Sott fei Dank durch das deutiche Bollwerk gejichert 
war, deren Yahmung immer nur halb gelingen wollte, fo tft der Bolfchemwismus 
ihm ein Drache aus demjelben Stamme, an defjen Zähmbarkeit man verzweifelt 
und von dem man im jtillen noch immer hofft, daß man ihn durch Abiperrung 
bom übrigen Europa zum Verenden bringen wird. Der Boljchewismus ift eine 
moderne politifche Größe, die in die überfommenen politifhen Rechenerempel 
nicht eingeht, und deshalb folange wie miöglid) völlig ignoriert wird. Die Stelle 
aber, die der Zarismus einnahm, muß neu befcht werden. Dazu ift Bolen 
berufen. Auf feinen Deutichenhaß glaubt man ficd) verlaffen zu können, auf feine 
jeelifhe Hinneigung zur weltlichen Zivilifation ebenfalld. Und die Einlagerung 
polnifher Bevölferung in Fulturell und wirtfchaftli” unzweifelhaft deutſches 
®ebiet gibt den willlommenen Anlaß, dem Deutfhen Reihe au im Liten 
Brovinzen abzugliedern, die, wie man in Franfreid) natürlich ganz genau weiß. 
für feinen Bejtand jehledhterdings unentbehrlich find. Die Annerion Danzigs 
— man fann nicht einmal fagen: Dur, man muß fagen: für Polen — gibt den 
 ebenfallg willtommenen Anlaß, dem nüchternen Briten das polnifche Geridt 
Ihmadhaft zu machen. Und die Borfpiegelung, in Großpolen ein Bollwerk gegen 
den Boljdyewismus zu jchaffen, mag jogar den Amerifaner einleuchten, der nicht 
in der Lage ilt, die völlige militäriiche Unbrauchbarfeit der polnifchen Nation 
durch eigene Stenntmis ihres Charakter nachzuprüfen. 

Unterdefjen machen die fadiltiichen Rechenkünftler an der Seine mit ihrem 
Lieblingsfinde an der Weichjel recht feltfame Erfahrungen. Sie verfprecden, 
Weiſungen nach Warſchau zu geben, daß auch die preußiſch-polniſchen Freiſchärler 
die Feindſeligkeiten gegen den deutſchen Grenzſchutz einſtellen ſollen, nachdem jene 
famoſe Demarkationslinie unſeren Unterhändlern auferlegt iſt, und aus Poſen 
kommt die Antwort, man ließe ſich von Warſchau gar nichts diktieren. Und ſo 
mehren fich die Anzeichen, daß die Deutfchpolen dem Traume einer Wieder- 
beritellung Großpolens im felben Maße zu mißtrauen anfangen, ala er fich der 
Berwirklihung nähert. Tenn Vereinigung mit Stongreßpolen: das bedeutet de 
das an Wohlitand, Kultur und Zivilifation dank der vielverlekerten preupijdhen 
Erziehung unendlich überlegene Bofen zugleich den Einjtrom Hochit a 
und unfpnpathifcher Zeit: und Vollsgenoffen von außen und. den Ausjtrom 
wohlertworbenen Geldes in die leeren Saffen eines vom Krieg Hart mit 
genommenen zivilifatorifh rüdjtändigen Landes. Parturiunt montes: der 
Phönir eines berrlihden Polenreiches follte twiedergeboren werden. Nascetur 
ridiculus mus: e8 taucht der Plan eines Republifchens Pofen auf, das zivar aus 
Weitpreußen und Eclefien allerhand Gebictsteile an fich vaffen, das jid 
— theoretifch wenigjtens — natürlich auch mit den anderen polnifchen Staaten- 
bildungen eng verbünden will, das fich aber fchon jet mit dem Bruderftaat der 
Ticdheho-Slowalen, mit den litauifhden Nachbarn jehr fchleht veriteht und das 
für die hochfliegenden Pläne der Frangofen doh auch eine recht dDürftige 
Gewähr bietet. 

Insbeſondere gilt das für die Abwehr des Bolſchewismus. Ohne Zweifel 
ſind dieſe ſeperatiſtiſchen Beſtrebungen in Preußiſch-Polen nicht zum mindeſten 
dadurch veranlaßt, daß Kongreßpolen bereits dermaßen bolſchewiſiert iſt, daß die 
in Poſen herrſchenden Nationdidemokraten die Anſteckung des eigenen Landes 
von einer allzu engen Bindung fürchten. Sollte vollends, wozu ja heute einige 
Gefahr beſteht, dank der kurzſichtigen Politik der Entente auch in Deutſchland der 
Bolſchewismus um ſich greifen, ſo iſt es ein lächerlicher Gedanke, daß die Republik 
Poſen zu irgendwie nennenswertem Widerſtande in der Lage wäre. Sie male 
alsdann rettungslos dem Schickſal verfallen, in die allgemeine Bolſchewiſierung 


Sranfreih und die Deutfchpolen '167 


hineingezogen zu werden. Wie weit fie aber an einem bolfcheiwifierten Groß- 
polen ein Intereſſe haben, mögen fi) die Herren an der Seine felbit überlegeit. 
Erft vet aber follten England und Amerifa bedenken, wie weit fie Srantreich 
zu feinen leichtfertigen und turzlichtigen, von blindem Rachedurſt eingegebenen 
Spielereien in Ofteuropa freie Hand laffen follen. Wenn das jchaumende Frank—⸗ 
veich jelber nicht fieht, daß Dtefe Politit unrettbar zu einer Bolfcherifterung 
Mitteleuropas führt und damit den Bolfhewismus an feine eigenen Grenzen 
trägt, dann müßten e3 ihm diejenigen feiner Bundesgenojjen Harmacen, denen 
im finnlofen Siegestaumel noch nicht alle politifche Befonnenheit verdampft ift. 

- Die gemeineuropäifche, die Weltgefahr tft heute der Bolfhewismus. Die 
ihm geographifch zugewiejene Rolle eines Bollwerts fann Deutjchland nur über- 
nehmen und behaupten, wenn fein Voltsförper jo weit gejtärkt wird, daß er die 
Erjhöpfungstrife und damit auch den boljhemwiltifchen Anftedungsftoff aus fich 
ſelbſt heraus überwinden kann. Erſte Vorausſetzung dafür iſt Bellerung der 
Ernährungs- und Verkehrsverhältniſſe. Die Abſchnürung der Kornkammer 
Poſen macht eine ordnungsmäßige Ernährung Deutſchlands unmöglich. Poſen 
und Weſtpreußen, ſowie das Kohlengebiet in Oberſchleſien ſind unentbehrliche 
Teile des —— Wirtſchaftsſyſtems und müſſen ihm deshalb erhalten bleiben, 
wenn Deutſchland und mit ihm Europa und die Welt aus dem gegenwärtigen 
unerträglichen Kriſenzuſtande überhaupt herauskommen wollen. Eine wirtſchaft⸗ 
liche Polenfrage gibt es auf deutſchem Boden überhaupt nicht, eine politiſche und 
kulturelle nur in En beihränttem Umfange. Daß die Polen am wirtichaftlichen 
Wohlitande Deutichlands vollen Anteil gehabt haben, wird am beiten durch das 
beginnende Widerftreben beiviefen, da3 fie einer allzu engen Vereinigung mit dem 
rüdjtändigen SKongreßpolen entgegenbringen. Die_bolle politiiche und kulturelle 
Gleichberehtigung der Polen, an der es im alten Obrigfeitöitaate twenigiteng bi8 
zu einem gemwillen Grade noch fehlte, ift mit der Demofratijierung Deutjchlands 
entjchreden. Die Schaffung einer kulturellen Autonomie, die Einbeziehung der 
fulturellen Selbitverwaltungsormganifationen in die Geſamtverwaltung der 
gemijchtipradjigen Gebiete ijt um r leichter zu vollziehen, ald die Ddeutiche 
Bevölkerung diejer Teile auf die alten Vorrechte freiwillig verzichtet und durch) 
Schaffung einer ähnlihen Bollsratsorganifation die völlige_ Öleichberehtigung 
der Nationen bereit3 duch die Tat anertannt hat. Nationale Stampfe werden 
au in — nicht fehlen, obgleich ſie das Deutſchtum in einer weſentlich 
ungünſtigeren Lage als die vielfach zahlenmäßig überlegenen Polen finden 
werden. Dieſe Kämpfe würden auch in einem ſelbſtändigen Polen nicht aus— 
bleiben und dort einen für den Beſtand des — n Reiches infolge der nationalen 
——— der herrſchenden Nation vie J———— Charakter annehmen. 
An dieſen techniſchen Einzelfragen darf eine Neuregelung der oſteuropäiſchen 
Verhältniſſe nicht ſcheitern, die neben den berechtigten nationalen Anſprüchen 
der kleineren Volker doch auch die Lebensnotwendigkeiten der großen nicht aus 
dem Auge läßt. Denn dieſe beſitzen im europäiſchen Geſamtleben ein derartiges 
natürliches Schwergewicht, daß der —— Ausgleich wie auch die innere 
Unbefriedigung ihrer völkiſchen Exiſtenz ſelbſttätig auf das europäiſche an 
befinden ausſtrahlt. Europäiſche Selbſterhaltung weiſt den preußiſchen Polen 
im eigenen wie im allgemeinen Intereſſe die harmoniſche Einfügung in das neue. 
demokratiſche Deutſchland zu, europäiſcher Selbſtmord treibt das rachſüchtige 
Frankreich zu einer Politik der oſteuropäiſchen Zerſplitterung mit einem auf—⸗ 
geblähten lebensunfähigen Polenſtaate, zu einer Verewigung der Unruhe und 
des Unfriedens im Herzen Europas. Auf der einen Seite ſteht der Wille zum 
Ausgleich, auf der anderen der Wahnſinn des Chaos. 


— — 
——— | 





168 Auf den Pfaden der Soszialifieruna 


Auf den Pfaden der Sozialifierung 
Don Profefior Wittfhewsfy 
T. 

Zu er Spzialijierungsgedante ift ein Hauptproblem unferer gegen- 
A mwärtigen und zukünftigen Wirtfchaftspolitif. Er ift die Belenntnis- 
formel Der joztaliltiichen Republit und das Teldgefchrei des 
i Radibalismus, Die Sorgenquelle des Unternehmertums und Die 
u Sreudenbotjichaft Der Arbeiterichaft, ein Hausfreund in den 

AFP Spalten der öffentlihen Meinung, und doch in feiner Wefenheit 
pielen ein sremdling. Der Begriff der ea müßte uns eigentlich 
vertraut jein, denn er ijt im Gemwande der Verjtaatlihung häufig genug uns 
begegnet und hat im en an eine recht deutliche Ausprägung erfahren. 
In ihren Formen und Hielen unterjcheidet fich freilich Die Sozialijierung, wie 
jie jet auf der Tagesordnung jteht, en bon der bisherigen Anwendung 
gemeintwirtichaftliher Grundjage, wenigitens nach den Abjichten derer, die mit 
der Durchführung der Sozialifierung ein Gerüft für den fozialijtiichen Zulunfts- 
Itaat erbauen mochten. xshnen erfchten der Staatsfoztalismus immer nur 
ein harmlofer Vorläufer des jozialijtiichen Aktionsprogramms und der Kriegs- 
foztalismus ijt in ihren Augen eine jchonende Erfüllung von Staatsnotwendig- 
teiten, ohne dem Privatbapital die erforderlichen Daumfchrauben anzujegen. Sn 
welcher Ausdrudsform der Wirtichaftsfoztalismus aber bisher aufgetreten tit 
oder in Zukunft auftreten joll, für ihn wird ftet3 Die Überzeugung der feine 
GSejtaltung betreibenden Kräfte maßgebend jein, daß ihre reformatortichen Wtaß- 
nahmen der Vollswirtfchaft zu einer volllommeneven Organifation verhelfen, jte 
auf eine höhere Stufe der Ausbildung emporheben und dadurch dem Allgemein: 
wohl dienen. Natürlich fünnen die Meinungen darüber, was al3 gemeinmüsig 
anzufehen it, weit auseinandergehen, je nad dem fubjektiven Standpunft des 
Urteilenden. Wie die bürgerlichen und foztaliftifhen Anfhauungen über die 

Borzüge diefer oder jener Wirtichaftsordnung in der Regel nicht übereinjtimmen, 
es wird jede Auseinanderjegung über die Ywedmäßigkeit und die Veranlagung 

3 Sozialifierungsprozefjes beträchtliche Gegenfäge aufweifen. Die Frage ii! 
aber brennend, ihre Beantiwortung verantwortungsvoll. Zu ihrer Klärung fan 
vielleicht ein Blid in die Sozialifterungsliteratur beitragen. 

Als nah Ausbruch des Krieges eine Reihe ftaatliher Anordnungen zur 
Itrafferen Ausprägung der Gemeinjchaftspflichten und Eindammung der privaten 
Ermwerbstriebe erging, erblidte niemand in ihnen etwas anderes, als die pflicht- 
gemäße Anpafjung des Wirtjchaftslebens an die Erfordernifje des Krieges. Wir 
lebten damals noch in der naiven Vorjtellung, daß der Strieg troß feiner wuchtigen 
Berklammerungen nicht allzu lange die Menfchheit in fein Soc) jpannen werde, 
hatten mithin feine Veranlafjung, die friegswirtjchaftlichen Bejonderheiten tie 
ein neues intereffantes Studienobjekt unter das Seziermefjer zu nehmen. Erit 
al3 der Strieg wider Erwarten in das zweite und Dritte yahr In, hinzog und Die 
Kette-der ftaatlichen Eingriffe in die Volkswirtichaft mit zunehmender Schnellig- 
feit jich verlängerte, fuchte man aus der Vielheit der einzelnen Reglementierungen 
jo etwas wie eine Kriegswirtfchaftslehre fich zurechtzulegen. Zu einer Syjtematit, 
die auch auf andere Kriegsfälle anwendbar wäre, reichte aber da8 Material troY 
aller Fülle nicht aus, denn die der Kriegswirtjchaft zugrunde liegenden Vorgänge 
und Bedürfniffe waren mit fo außergewöhnlichem Beitwerf verquidt, daß ıhmen 
gegenüber Die konn jo beliebte Schematifierung verjagte. Al3 Beifpiel jei nur an 
die Erörterungen erinnert, ob der Staat fünftighin im Hinblid auf Striegd- 
möglichkeiten durch eine Anfammlung von Vorratsreferven in großem Umfange 
für eine verbejjerte Sicheritellung der ne. und Robjtoffverjorgung 
Borkehrungen treffen müßte. Sm Lichte der fpäteren Erfahrungen erjcheinen Die 
damaligen Disfufftonen hierüber wie Eleinbürgerlihe Stammtijchreden. 

Mit der Ausdehnung der organijierten nn eis traten die Grund- 
güge eines aus der praftiichen Betätigung erwachjenen Syjtems der jtaatlicyen 





Auf den Pfaden der Soztalifierung 


„d 


— —— — — — — — 
I ⸗ 


Intervention deutlicher hervor. Der vielgenannte Walter Rathenau hat in einer 
ſeiner Schriften dargelegt, wie die von ihm angeregte und als dringlich 
empfohlene Errichtung einer SKuiegscohftoffabteilung im preußifhen Strieg3- 
minifterium den Ausgangspunkt für die Begründung einer ftetig fi) vergrößern- 
den Zahl von friegswirtichaftlihen Gefellichaften wurde, deren Zujtändigteiten 
bald über die wichtigjten Teile der Snduftrie fich erftredten und an die Stelle der 
— Wirtſchaft den regulierten Verkehr ſetzten. Dieſer neugeſchaffene Kriegs— 
ozialismus, ſeinem Weſen nah) ein den Ausnahmeverhältniſſen angepaßter 
Staatsſozialismus, durchbrach die alten Wirtſchaftsordnungen und umgab die 
——— Betriebsführung mit einer Menge einſchränkender 
Seftimmungen. Er jeßte für viele Artilel des Mafjenbedarfs Höchitpreife feit, 
bebielt jich die Verfügung über beftimmte Nahrungsmittel und Rohftoffe vor und 
nehm die Befugnis zu ihrer Enteignung für fih in Anfjprud. 

Tamit war ein Prozeß der Soztalifierung eingeleitet, wie ihn in der 
kurzen Beitjpanne von einigen Monaten tiefgreifender auch eine aus den roten 
Sluten unerivartet entporgetauchte Regierungsgewalt nicht hätte in Szene fegen 
tönnen. ber die einzelnen Kapitel dieler abionderlihen Hiltorie der „Bergejell- 
Haftung” Ließen fich Bande fchreiben, die freilich mehr von der Zeiten Not als 
bon einer folgeridätigen Eintwidlung der produftiven Volkskräfte zeugen würden. 
E38 galt, das Seinzip des Turchhaltens bis zu den legten Phafen zu verwirklichen, 
ohne jich dabei vom Gedanken beirren zu laffen, daß mai einer fozialiftifchen 
Wirtichaftsordnnung dadurch vielleicht neue TFußlteige eröffnete. Die Umftellung 
der Nolfewirtichaflt erfolgte einzig unter dem Sefiehtsiintel der beitmöglidhen 
Befriediguiig der ına Ungeheuerliche anwachſenden Kriegsbedürfniſſe. Rathenau 
ſchreibt: „Jetzt mußten alle Rohſtoffe des Landes zwangsläufig werden, nichts 
mehr durfte eigenem Willen und eigener Willkür folgen, jeder Stoff und jedes 
Halbprodukt mußte ſo fließen, daß nichts in die Wege des — oder des neben⸗ 
ſachlichen Bedarfs gelangte; ihr Weg mußte gewaltſam eingedämmt werden, ſo 
daß ſie ſelbſttätig in diejenigen Endprodukte und Verwendungsformen mündeten, 
die das Heer brauchte.“ Dazu kamen weitere Aufgaben: alle verfügbaren Stoffe 
aus dem neutralen Auslande oder durch Beitreibung aus dem beſetzten Gebiete 
ins Land hineinzuziehen; ferner die Fabrikation nicht nur auf das Unentbehrliche 
einzuſtellen, ſondern zu neuen techniſchen Methoden anzuregen; ſchließlich die 
ſchwer erhältlichen Stoffe durch leichter beſchaffbare zu erſetzen. Es handelte ſich 
alſo um Aufgaben, die ſpäter vom Gebiete der Rohſtoffbeſchaffung auf das ganze 
deutſche Wirtſchaftsleben übergriffen. Der ſtaatlichen Aufſicht und Lenkung 
wurde aber auch das geſamte Ernährungsweſen unterworfen, ja gerade hier 
wurde die zwangsweiſe Unterordnung der einzelnen unter die Geſamtwirtſchaft 
mit kaum zu überbietender Genauigkeit durchgeführt. Daß die Rationierung der 
Lebensmittel zur Stillung des Volkshungers nicht ausreichte und daneben der 
Schleichhandel üppig wucherte, ändert nicht den gemeinwirtſchaftlichen Charakter 
der Verſorgungseinrichtungen. 

Der Kriegsſozialismus war eine Anpaſſung an eine Um— 
Porn de8 Wirtichaftslebens in fozialiftiihem Sinne, vorausgejegt natür- 
ich, daß da3 Zugeſtändnis in der Friedensiirtfchaft nicht wieder rüdgängig 
gemacht wurde, vielmehr weitere Sozialtfierungsafte nachfolgten. Synden der 
Etaat in Vertretung der Allgemeinheit über die Produktion und Verteilung der 
wichtigſten Güter jelbitherrlich Anordnungen erließ, unterband er den freien 
Mearktverfehr und die normale Preisbildung, fchaltete er den Wettbewerb der 
Privatwirtichaften aus und umgab den Unternehmergewinn mit einem Draht- 
saun. Das waren Auswirkungen ftaatsfoztaliftiiher Tendenzen, aber eine 
Sozialifierung bürgerlichen Stils und — as nidht aus den Augen verloren 
werden darf! — nicht auf die Dauer berechnet. Die Mobilmahung der Bolf2- 
wirtichaft für die Striegszivede verlangte deren. „Militarijierung”, wie Profeljor 
Edg. affe diefe zeitweiligen Umbildungen zujammenfafjend genannt Hat. 

Bürgerlihe Wirtfchaftspolitifer Haben in den Ssahren 1915 und. 1916 über 
Deien und Bewertung der damaligen Sozialifierung lebhafte Augeinander- 
jegungen gehabt. Zu jener Zeit fonnte niemand vorausjchen, gu welchem 


170 Anf den Pfaden der Sostalifierung 


— —— — — 


traurigen aan unfer Ringen gegen die feindliche Übermadht führen würde, 
welche politifhe Umtvalzungen un Wa eng Erihütterungen ung bevor 
ftänden. Die literariihen Scharmüpel befaßten fi) demnach) voriviegend mit 
den Bedingungen (I die Erneuerung und Aufrichtung des deutihen Wirtjchafts- 
forpers nach den fjurchtbaren Strazapen und Opfern, die ihn in mehrjährigen 
Stampfe zermürbt hatten. Die Meinungen der Gelehrtenmwelt gingen weit aus 
einander. Auch diejenigen Profejjoren, weldhe die Rüdfehr zu der —— ts⸗ 
freiheit, wie ſie vor dem Kriege beſtanden, für gegeben und ve einlich 
anſahen, räumten ein, daß die bürgerliche Regierung die Vorteile einer 
ſtrafferen Organiſation der Induſtrie ſpäterhin ſich zunutze machen müſſe, ſchon 
um die erſchlaffte Produktivkraft aufzumuntern, vor allem aber um durch 
monopoliherte Staatsbetriebe . ıbre arg mitgenommenen ‚Finanzen autzubefiern. 
Bon anderer Seite wurde auf die Unfähigkeit des Tapitaliftiichen Wirtſchafts⸗ 
ſyſtems, den Anfechtungen der Kriegszeit jtandzuhalten, hingemwiefen und dem- 
gemäß eime jtärfere Untermauerung der mwanlenden Wirtichaftspfeiler durch 
organifatoriihe Maßnahmen gefordert. Der Gemeinfchaftsgeiit Men den 
Sondermillen im Zaume Halten, die Wirtihaftsgefinnung die Wirtjchaftss 
ordnung deredeln. 8 

In ls: Ausprägung kamen die gegenfägliden Auffaflungen zur 
Ausſprache zwiſchen den Profeſſoren Jaffe und Liefmann. Erfterer trat Kr 
eine Soztalijievung des Wirtfchaftslebens ein, denn die wirtfchaftliche Freiheit, 
die vor einem „sahrhundert zur Entfeffelung der Ermerbstriebe angebradt 
geweſen, habe fich mehr und mehr als ein Schädling unferer fozialen Entwidlung 
eriviefen. Die Zeitftrömung verlange die Abkehr vom freien Cpiel der tirt- 
chaftlihen “Botenzen, die höhere Bewertung des Faktor Arbeit gegenüber der 

ereicherung des Tapitaliltiichen Unternehmers. Das private Ermwerbgitreben 
müffe vor den De der Allgemeinheit zurüdtreten. Kurzum, das 
S$ndtbidualprinzip habe fich überlebt und müjje durch eine zielbewußte Förderung 
des Eozialprinzips abgelojt werden. 

Brofefjor Liefmann gab in feiner Erwiderung zu, daß die Unterordnung 
der yndividuen unter die Gemeinjchaft im Kriege in noch nicht dageweſenem 
Maße fich offenbart habe, dDiefe Unterdrüdung der Gewinntriebe bedeute aber 
feinen Fortjchritt. Nach dem Kriege werde die individuelle Energie, um_ die. 
Arbeitserträge zu jteigern, aufs böchite angefpornt werden müflen; die ze 
lihen Gegenfüge würden twiederaufleben und müßten durch erieiterte foziale 
Fürjorge gemildert erden. In feiner Cchrift: „Bringt der Krieg uns dem 
Sozialismus näher?“ (Schriftenreihe „Deuter Krieg“, Heft 56) führt Liefmann 
aus, twie das Wirtfchaftsichen ftet3 eine Kombination von Syndividualismus und 
Sozialismus, freier Konkurrenz und monopoliftifcher Gebundenheit gewejen ei. 
Das ftärfere Hervortreten der fozialijtiihen Energieform im Kriege Me eine 
vorübergehende Erjcheinung und laffe die Grundlagen de3 Fapitaliftifchen 
Spitems ungefchmälert. 

Beim flüchtigen Auffrifchen der Erinnerung an die Gelehrtendispute, die 
erst ein paar Syahre zurüdliegen, im Lichte der Sozialifierungspläne aber, melde 
qegenmwärtig in Schmwange find, weit überholt erjcheinen, erfennen wir, daß die 
Blide damals einzig auf eine gejteigerte Leiltungsfähigfeit der Volkswirtſchaft 
gerichtet waren. Bolitiihe Momente famen nicht in Betraddt. Die Sozialifierung 
wird zivar nicht einfach abgelehnt, Hauptfählih aber unter dem Gelichtswintel 
einer bejjeren Erfüllung der ftaatswirtfchaftlihen Aufgaben beurteilt. Der 
Ktriegsſozialismus war doch nicht mehr als ein ziemlicd) roh aufgerichteter Note 

bau, dejjen Fortdauer ſchon wegen der obrigkeitlichen Auteilung der Nahrungs 
mittel ausgefchloffen war. Einzeljtüde, twie die Konzentration in den verfchiedenen 
Snöduftrieziweigen, fonnten für den Wiederaufbau der Vollswirtfchaft verwendbar 
jein, doc) war man auf bürgerlicher Ceite darüber einig, daß bei einem breiteren 
Ausbau des Staatsiozialismus in erfter Linie die fisfalifhen Momente berüd« 
fihtigt werden müßten. Die Steigerung der ftaatliden Einnahmen durd 
Monopolifierung bejtinmter Erwerbszmweige jtand im Vordergrunde. 


Auf den Pfaden der Sozialifierung 171 


Aufrehterhaltung Be einer Kontrolle über den auswärtigen Handel erfchien 
wenigitens auf jo lange unerläßlich, wie die Mißhandlung der deutichen Baluta 
im Auslande anhielt. Eine Annäherung dagegen an die Ziele fozialiftifcher 
Wirtihaftsummälzung ftand nicht in Frage. Die im fozialdemofratiihen Partei- 
programm grundjäglich geforderte Nerwandlung des Tapitaliftiichen Privat— 
eigentums an den Produftionsmitteln in gejellichaftliches Eigentum konnte nicht 
disfutabel in einer Zeit fein, die vor allem auf das Aufbauen, nit auf ein 
Niederreißen bedacht fein mußte. Die ne durch eine Verftaatlihung in 
engen Grenzen jollte da8 bisherige Wirtichaftsigitem jtügen, mährend der 
Sozialismus dem verhaßten Kapitalismus einen tödlichen, Streich zugunften der 
Arbeiterklafje verfegen mollte. 

: Die führenden Geilter der Sozialdemokratie fahen fehr wohl ein, daß die 
Augfihten für den Stlaffenfozialismus troß der fouberanen Derrfhaft der 
Allgemeinheit über das Wirtichaftsleben nicht8 weniger als günftig waren. Der 
von einem Weltkrieg erhoffte Umjturz in den politifhen und wirtichaftlichen 
Verhältnijjen tar zunächit nicht eingetreten. „sm Öegenteil, der nationale Staat 
befundete beim Ausbruch des Strieges und in den erften Striegsjahren eine 
seltigfeit, die von der Sozialdemokratie als eine Schwächung ihrer eigenen Madjt 
empfunden jvurde. Ter Stlafjentampf drohte infolge der Hinmwendung des größten 
Teils der deutfchen Arbeiterichaft zu den vaterlandifchen Pflichten zu verjumpfen. 
Die von der Xegierung teils durchgeführten, teils für die Zukunft in Ausjicht 
geitellten mwirtichaftlihen Maßnahmen fozialiftifher Färbung konnten die 

rbeitermafjen irreführen und dem wirklichen Sozialismus das Wafler abgraben. 
Zroßdem mußte man den Kriegsfozialismus billigen, nicht mur weil er über die 
Schwierigkeiten ſondern auch weil er dem privat—⸗ 
wirtſchaftlichen Eigennutz Schranken zog. Der immer heftiger auftretende Zwie⸗ 
Pen im J— Lager mahnte außerdem die Genoſſen zu vor—⸗ 
ichtiger Zurückhaltung. Noch war nicht aller Tage Abend. Man mußte ſich 
vorläufig mit dem Gedanten an eine Sozialifierung abfinden, die Durd An» 
Ipannung der Ermerbsfräfte die Ergiebigfeit der Zulunftsiirtfchaft zu fteigern 
verjprah, und mußte verfuchen, durch eine gemeinmwirtichaftliche Organifation 
der Bolköiwirtichaft allen Voltstlaffen den größtmöglihen Nußen zuzumenden. 
Diefen Anfchauungen der einfichtigeren Genoffen unter den Mehrheitsjogialijten 
gab der fozialdemokratiiche Abgeordnete Blog, der zurzeit die Stellung eines 
Minijterprafidenten in Württemberg einnimmt, in einer Flugfchrift, betitelt „Die 
neue Ara” (Verlag der „Snternationalen Storrefpondenz”), wie folgt Ausdrud: 

„Die Anhänger der alten Revolutionsromantif lebten in der Hoffnung, eine 
Revolution oder ein Weltkrieg werde eines fchönen Zage8 eine Republif bringen 
und in diefer werde man alddann bie fapitaliftiihe Broduftionsform leicht in eine: 
Tozialiftiihe verwandeln. Diefe Hoffnung ift nun für alle, die niht mit Scheu- 
tlappen behaftet find, für abfehbare Zeit gefhwunden. Wer den Gang der 
politiihen und fozialöfonomifchen Entwidlung meniger oberflächlich betrachtete, 
der mußte leicht gu der Überzeugung fommen, daß der Weg zum demofratiichen 
Sozialismus durh eine ftaatsjozialiftifhe Epoche Hindurchgehen werde. Der 
Ktlafienttaat bat fih gegen den Staatsfozialismu3 heftig gefträubt. Der Weltkrieg 
aber Hat ihn zur Notwendigfeit gemadt.“" Abg. Blo8 beipricht alddann die Ge- 
‘ fahren, die für die Arbeiterfchaft aus dem Staatsfozialismug entitehen fönnen: 
direfte Abhängigkeit von der Staatägewalt und allzu fiäfalifhe Ausnugung der 
Monopole. Denigegenüber empfiehlt Bf0o3 die Ausgeftaltung der Staatsbetriebe 
gu Mufterwerten, die Schaffung neuer Verwaltungsbehörden, zu denen aud) 
Arbeiter Heranzuziehen wären, und Unterftellung der Löhne, Arbeitdzeit, Waren- 
Hreife ufw. unter eine parlamentarifche Stontrolle. 

Heute bat eine ganz und gar nicht romantische Revolution uns die Republik 
gebracht und die PBroduttion fol demnädft nad fozialiftiihem Deufter „um- 
gewandelt” werden. Die jegt geplante Sozialilierung Hat ihr bürgerlihes Gewand 
abgefireift und greift nah) der Zoga Sozialiftifher Zufchneider. Solange die 
Bürgerliche Regierung aber nody am Steuerruder faß, war die Sozialifierung ein 


112 Die Wahlen in Deutfchöfterreich 








afademifche8 Thema, auf das die Blide im Zufammenhang mit den Plänen zum 
Wiederaufbau der VBolkswirtichaft nach dem Striege Bingelenft wurden. Ein Rütteln 
am Striegsjozialismuß erjhien ziwedlod, da feine Grundzüge in der Hauptjade 
unentbehrlich waren, um über die Wirtihaftönöte des Krieges Hinwegzufommen. 
Die fozialdemofratiihen Schriftfteller nahmen das ftaatsfozialiftiiche Gebräu, das 
dem deutichen Volk vorgejegt war, mit der Genugtuung auf, daß in ihm immer» 
bin fozialiftiiche Ideen von der Gemeinbürgichaft aller einen wejentlichen Beitand- 
teil bildeten. Wie die Dinge weiterhin verlaufen würden, darüber erijtierte aud) 
unter den Sntelligenten des Sozialigmus feine beftimmte Vorftellung. Der Abg. 
sicher (in den „Annalen für Sozialpolitit“ und „Sozialiftiihen Monatöheften“) 
hob den Gewerfichaften die Aufgabe zu, die Eapitaliftiiche Gejellihaft mit 
lozialiftiihem Geifte zu durchdringen, unbejchadet den fapitaliftiihen Einrichtungen, 
die no) für Sahrhunderte befiehen bleiben würden. Der fpätere Staat3jefretär 
des Reihswirtihaftsamts Dr. Aug. Müller ferner verjprah fi don den Kon— 
jumgenojjenihaften eine führende Role im BProduftiond- und Berteilungs- 
prozeß der Zufunft. In ähnlicher Weife entwidelten andere fozialdemofratijche 
Bolfswirtfchaftler den Gedanken, daß durch die Erziehung der Arbeitermajjen zu 
den hödjiten Organifationsformen der Sozialismus zu einer gebietenden Macht 
gebrabt werden fünnte. Wenn daS geichehen, jo würde die Sozigliliernng des 
Wirtichaftslebeng nicht auf fich warten laflen. 

In diefen Aeußerungen fozialdemofratiiher Politiker ift fein Hindrängen 
auf eine bejchleunigte Zöfung der Sogialilierungsfrage wahrnehmbar. Aus ihnen 
Ipricht vielmehr der Wille, das Kernftüd der fozialiftifhen Weltanfchauung nicht 
übers Knie zu breden. Die Vorjchläge, auf das Erftarfen und den Einfluß von 
Organijationen wie die Gemwerkihhaften und die Konfumvereine zu vertrauen, 
tragen den Abfichten geduldigen Abwartend bi zu einem Zeitpunft Rechnung, 
wo aus der Auflöfung der alten Wirtichaft3ordnungen neue organilatoriiche Ge- 
bilde hervorgehen würden. Borerft galt e8, den Kampf gegen die äußeren Feinde 
zum Abichluß zu bringen und die innerpolitiihen VBerfafiungen in demokratiſche 
Formen umzugießen. Außerdem fchienen im Rahmen des SKriegsfozialismußs die 
Sruchtanfäge zu einer Gemeinmwirtichaft gegeben, deren SHinübernahme in die 
nadfolgende TFriedengzeit ganz von jelbft die fozialiftiihe Strömung verltärfen 
müßte. Wenn die fozialdemofratiichen Führer demgemäß fih auf den Boden der 
ZTatiachen ftellten und in der Propaganda für weiter Hinausliegende Ziele eine 
bemerfensiverte Zurüdhaltung übten, jo bedeutete da8 doch feinesiwegs eine Ber- 
leugnung ihrer dogmatijchen Zehrmeinungen. Die Aufhebung des Privateigentumd 
und die Überführung der VBroduftionsmittel in den Gemeinbefig Ieuchteten als 
Sterne am Himmel de Zufunftsfozialismus und dienten immer wieder zur An- 
feuerung der. nad großen Erfolgen begierigen Arbeitermafien. Da8 Rad der 
Zeitereignifie rollte jchneller als felbft mit propbetiihem Blid fich Hatte voraus: 
jehen lajien. Da3 Sozialifierungsgejeg vom 9. März 1919 verfündete die Er- 
füllung fühner Träumereien. Wir werden davon noch reden müflen. 





Die Wahlen in Deutjchöfterreich 
. Don Profeffor Dr. Robert Sieger 


Bi ie Wahlen in die verfafjunggebende Verfammlung des neuen 
deutichen Staates in Ojterreich. ftanden, gleich denen im Neid), 
vor allem im Zeichen des Kampfes für oder gegen die Sozial: 
np demofratie. Was in einer Wahlbeiwegung von ziemlicher Sertig- 

Pelne Mi teit von den Parteien gegeneinander vorgebradht wurde — Der 
Ren Antifemitismus als Forderung und von der anderen Geite als 
Vorwurf, das allgemeine Verlangen nad) dem Anflug an das Deutiche Reid) 





Die Wahlen in Deutfchöfterreich 173 


——— —— — —— —ü — 


und die Beſchuldigung, daß die chriſtlichſoziale Partei ihn nicht ehrlich anſtrebe, 
die gegen dieſelbe ausgeſprochene Verdächtigung monarchiſtiſcher Hintergedanken, 
der chriſtlichſoziale Kampfruf, daß Religion, Sittlichkeit und Ehe in Gefahr ſei, 
die gegenſeitigen Anklagen ob der Schuld am Kriege und an der Niederlage und 
andere Bezichtigungen — mochte auf die breiten Wählermaſſen von ziemlichem 
Einfluß ſein, insbeſondere auf die vielfach noch ganz ratloſen Frauen der bürger— 
lichen und der dienenden Klaſſe. Für die Führer aber handelte es ſich um den 
Kampf der großen wiſſenſchaftlichen Weltanſchauungen einerſeits, um die Wah— 
rung der wirtſchaftlichen Gruppen- und Klaſſenintereſſen anderſeits. Die Partei 
der Lohnarbeiter, die bei den Feſtbeſoldeten, den Volkswehren und anderen noch 
beſtehenden halbmilitäriſchen Körperſchaften (wie den Finanzwachen, weniger 
der Gendarmerie) nicht unbedeutend aber auch bei den Bauernknechten Wurzel 
gefaßt hatte, die Sozialdemokratie ſtand der in der Bauernſchaft wurzelnden 
chriſtlichſozialen Partei gegenüber; von beiden ſonderten ſich die Vertreter bürger— 
licher Intereſſen immer ſchärfer ab, nachdem der Gedanke eines gemeinſamen 
Vorgehens zwiſchen ihnen und den Chriſtlichſozialen nicht deren Schuld, 
aber vorwiegend durch kulturkämpferiſche Vorſtöße freiſinniger Politiker zu Grabe 
getragen worden war. Naturgemäß am wenigſten einheitlich fanden die bürger— 
lich⸗nationalen oder nationalfreiheitlichen Gruppen auch feine gemeinſame große 
Idee und nicht einmal ein packendes Schlagwort, das ihre inneren Intereſſen⸗ 
unterſchiede hätte überwinden können. So kam es manchenorts zu einem 
Zuſammenſchluß, wie etwa in der deutſchdemokratiſchen Partei der Steiermark, 
derart, daß die Wünſche und Bedürfniſſe der einzelnen Berufs- und Gtandes- 
gruppen zu einem nicht von Widerſprüchen freien Idealprogramm ſummiert 
werden, anderenorts traten dieſe Gruppen (und gelegentlich auch wohl anti— 
ſemitiſche und ſpärliche philoſemitiſche Richtungen) einander gejondert gegen- 
über, wie in Wien. Gekoppelt wurden oft nicht einmal die Liſten aller dieſer 
„nationalen“ Gruppen, kaum je zwiſchen ihnen und den Chriſtlichſozialen. Solche 
Zerſplitterung ließ zwei Ergebniſſe gewärtigen, die in der Tat eingetvreten ſind. 
Einmal, daß der Wahlkampf weſentlich zwiſchen den beiden großen Gruppen der 
„Roten“ und „Schwarzen“ geführt werden und die „dritte Partei“ ſchlecht 
abſchneiden werde. Anderſeits, daß dieſe nicht einmal als „Zünglein an 'der 
im Wahlkampf größere Bedeutung erlangen, und daß infolge ihrer 
Zerſplitterung zahlreiche bürgerliche Stimmen vollſtändig erfolglos ab⸗ 
gegeben würden. 

Das hätte ſich großenteils vermeiden laſſen, wenn die nationalen Parteien 
auf der on t und auf einer wirklich demokratischen Wahlordnung beitanden 
hätten, mozu jie die u suns der Ehriftlichfogialen leicht gefunden hätten. 
Das SHhitem der „gebundenen Liften” mit Proportionalwahlrecht hat Tein 
Geringerer ald Karl Renner nahhdrüdlich vertreten. Seine eifrigiten Sürfprecdher 
haben e3 als einen Vorzug bezeichnet, Dat e8 die Enticheidung in die Hand der 
großen, grundjagtreuen Parteien gibt. trade darin liegt aber feine grumd- 
fäglide Schwache. Die un die Kandidaten ift in den Tleinen 
Strei3 der Parteiführer verlegt und deren Macht dadurd) gejteigert. Innerhalb 
der einzelnen Gruppen aber — und insbejondere, wie fich fofort zeigte, bei den 
Bürgerlihen — muß es bei diefem Shitem zu einem unjchönen Wettlampf 
ziwilhen den Untergruppen und einzelnen Perjonen um die eriten Stellen auf 
den Liiten, insbejondere die des Liltenführers, lommen. So twar von der 
Bewerbung von vornherein ausgejchaltet, wer nicht Vertreter einer engeren 
Intereſſengruppe mit jtärkerem Anhang ijt, vor allem aud die Männer der 
parteilojen nationalen Arbeit in den Volksräten. Syn der Tat haben die rn 
Bolksräte während der Wahlfämpfe denn auch ihre Tätigkeit jtillfchtweigend oder 
ausdrüdlich eingeftellt.e Wer wie ich vor mehr als Sahresfriit öffentlich erklärt 
hat, feine parlamentarijche Tätigkeit anzuitreben, um fidh die Freiheit des wiſſen— 
ſchaftlich-politiſchen Schriftitellers ungejtört u erhalten, durfte Darauf Hinmweifen, 
wie jehr durch Diefes Shitem die Auswahl ver Tüchtigiten, ja auch nur der im 
Volle Beliebteiten verfiimmert wind. Aber er predigte tauben Ohren. Dafür 


174 .. Die Wahlen in Deutfchöfterreich | 


onnte man dann jehen, daß getville von den Gruppen der Sinteveffenten verein- 
barte Lilten mit nicht milllommenen Liltenführern Anlaß zu plitterungen in 
legter Stunde, zu neuen, von vornherein ausfichtslofen Sonderlilten gaben, aber 
auch daß viele dadurd) hen und den Werbungen der gefchlofjenen Parteien, 
der Ehriftlichjozialen und Sozialdemokraten zugänglidder gemadht wurden. Das 
hätte jich zum Zeil unfchädlich machen laffen, wenn von dem Recht der Koppelung 
mehr Gebrauch gemacht worden wäre. Aber auch das gefchah nicht ausreichend 
und die 'Serjplitterung trieb mandyen, der meint, nur innerhalb einer ftarten 
und tatlräftigen Partei für das gemeine Wohl oder aber für fein eigenes 
Intereſſe erfolgreich arbeiten zu können, aus den Reihen der „dritten Partei“. 
Um neben diefen Hauptcharakterzügen de3 Wahllampfes auch etwas 
zurüdtretende, aber für die Zukunft nicht bedeutungslofe Linien des Gejamtbildes _ 
zu würdigen, müfjen wir auch einiger Hleinerer Sruppen gedenten. Die Ber 
tretung der Arbeiterfhaft wurde den Sozialdemokraten von der national 
joztaliitiihen Partei, jene der Bauernihaft den Ehriftlichjozialen von dem 
Deutjhen Bauernbumd und verwandten Gruppen beitritten. Die nationale 
11 Toten fonnte unter dem Drud der oe Organifation, die 
als wirtichaftliche eine ungeheure Macht hat, und bei ihrer Scheu vor einem 
entfchiedenen Zufanmengehen mit bürgerliden Parteien wenig ausrichten. Sie 
vermochte nicht einmal dem anmwachjenden Antifemitismus der Arbeiterfreife zu 
einem Ausdrud in der Wahlbemegung zu verhelfen, während die Sozial 
demofvatie immer ausgefprochener uitter —28 — und damit zugleich radılale 
ührung fommt. Die nationalfozialiftiiche Partei entgog eher den Nationalen 
und Chriftlichfozialen Stimmen. Dagegen bat der vernbund, die jüngite 
"artei Deutichöfterreichg, überrafchende Erfolge erzielt; die rührige Steirit e 
Bauernpartei hat in dem Urfprungslande der Bewegung drei Mandate erreicht. 
Sie gibt fich als nationalgelinnte unabhängige Standespartei mit demotratifchen 
Grundſätzen und befümpft jomwohl die Chriftlichjozialen und die von ihnen aus 
gegangene, aber aud) el tar gegenfäglide Pant-Gruppe, al? 
Fi die Sozialdemokratie entichieden. Die Pank-Gruppe unterlag volljtändig, 
au in ihrem: Stammfig Oberjteiermart. Anderstwo kann man die nationalen 
Bauerngruppen geradezu zu den Teutjchnationalen zählen, wie etwa in Kärnten. 
Im — Sinne gefaßt, alſo mit Einſchluß der Steiriſchen Bauern⸗ 
partei, haben die deutſchnationalen Gruppen von 162 Mandanten 25 erzielt, in 
ebenſo weiter Faſſung die Chriſtlichſozialen 64, die Sozialdemokraten 70. Dazu 
kommen ein Jüůdiſchnationaler Bun und ein tichechiicher Sogialift, jorwie ein 
bürgerlider Demokrat, alle drei in Wien. Die bürgerliden Demofraten find 
eine ®ruppe, die hervorragende nationale Bolititer und Gelehrte an die ee 
ihrer Lilten jtellte, aber im Gegenjag zu den »eutfchnationalen und chriftlich- 
oztalen Gruppen den Antifemitismus ablehnt. Sie haben einen hervorragenden 
. Wirtfchaftspolitifer und Borläampfer „Mitteleuropas“, einen Induſtriellen 
jüdifher Abltammung in die Nationalverfammlung entjendet. Bejondere 
Erwähnung jceheint mir aber eine Gruppe zu verdienen, die fein Mandat erreicht 
bat und doch mit ihrer erften Kraftprobe jehr zufrieden ift, die des „National 
demofratiichen Volf3vereins”, der allerdings (mas fehr leicht irreführen fann) der 
Name „Nationaldemokraten” von feiten der Bant-®ruppe beitritten wird. Sie 
chart fich um eine Anzahl von Führern des Deutfchen Klubs und der Volfsräte 
und bejigt im „Wiener Mittag” (neuerlih mit dem Abendblatt: „Die Republik”) 
ein PBarteiblatt fchärfiter Richtung, deilen Tonart mir The wenig sche wie 
eine —— urteilung der bisherigen deutſchnationalen Politik in Oſterreich. 
nders ſteht es mit ihren en. Um 31. Sanuar fchrieb ich in einem Se 
der leider nicht zum Drude dam, dieſe Partei hebe ſich in zweierlei Hin 2 
en hervor. „Einerfeits fommt ihr Programm dem, mas ich deutiche 
Demokratie nenne,') am nadjiten. Sie mollen feine ‘Barlaments- und Teine 
Klaffenherrfchaft, jondern Organifation des Gefamtvolls. Ste fordern alfo 


1) Darüber werde ih den Lejern der „Grenzboten“ in einem eigenen Aufjage berichten. 


Die Wahlen in Deutfchöfterreich 175 


Bollsabitimmung (Referendum) und Gefehesporihlagsreht (Snitiative) in allen 
Fragen, Boden- und Sozialteform ufwm. ch vermifle allerdings noch die 
- praftijche Antvendung diejer „sdee des organiichen Aufbaus, die den Folgerungen 
aus der jozialdemokratifchen Verjtaatlichung der Betriebsmittel und dent chrijtlich- 
foztalen religiös orientierten Golidarismus ebenbürtig if. Diefe unmittelbar 
nötige Folgerung liegt in der bürgerlichen Dienjtpflicht, alfo in der Arbeits- und 
Sozialmiliz neben der Wehrmiliz; durch eine organifierte Beiftung aller fann die 
Allgemeinheit die für fie und für das Wohl des einzelnen erforderlichen Arbeiten, 
insbefondere auch die Fürforgearbeit, aber auch ein gutes Teil der notwendigen 
Vergeſellſchaftung gewiſſer Betriebe beiwerfitelligen, ohne den einzelnen dauernd 
einer Arbeit3- und Berufsfveiheit zu berauben. Als allgemeinjte Bürgerpflicht 
ur Diann und Weib gibt diefe Arbeitspflicht auch die benz Begründung ur 
3 allgemeine gleihe Wahlredt. .... Die zweite herborftechende Eigenheit der 
nattonaldemofratifchen Partei it ihre unbedingte Yorderung nah neuen 
Männern, die durch die biäherige Führung der deutfchen Politik in feiner Weife 
belajtet find. Sie will nur mit b en Parteien ihre Beiverberlifte foppeln, die 
‚Ahre Führung erneuern”. Gie ftrebt aljo gar nicht danach, bei diefer Wahl viel 
Mandate zu erreichen und hat dazu auch feine Ausficht. Aber fie ift auf dem 
Wege zu einer bedeutenden Machtitellung in der Zulunft. Alle großen Parteien 
der Gegenwart, die chriftlichjoziale, Die jozialdemofvatiiche, aber auch) die aus 
Schönerers Gruppe hervorgegangenen deutihnationalen haben als kleines, ver- 
pottetes, aber grundjaßfeite8 und alle SKompromilje ablehnendes Häuflein 
egonnen. Bringt die Bartei ein paar gute Köpfe durch und vertreten dieje in 
der Nationälverfammlung gefchidt die “Sdee des organischen Vollsitaates und 
Derfafjungsformen, die nicht jchematifh zufammengefchneidert, jondern dem 
lebenden VBolksförper angepaßt find, fo wird fie dort und im Lande rafch Anhang 
gemwirnen und vielleicht Thon die Seltaltung der endgültigen VBerfaflung, ficher 
ihre Weiterbildung in hohem Maße beeinflufien können.” Nun tft troß einer 
überrafchend großen Stimmenzahl Si usjicht nicht eröffnet worden. Aber 
bei den kommenden LVandstags- und Gemeindervahlen wird die Partei fehr zu 
beachten fein, Die allein unter den bürgerlichen nicht nur der Abmehr des. 
Sozialismus, fondern einer eigenen dee folgt. Für diefe nahe bevoritehenden 
Wahlen bleibt alles Gefagte Saale | 
Das führt uns zu der Tatfacdhe, daß die Formen der fünftigen endgültigen 
Berfaflung in den PBarteiprogrammen, um die der Wahllampf tobte, mit der 
eben erwähnten Ausnahme der Nationaldemofraten gar keine Rolle fpielten. 
Den Barteien fam es auf ihre Macht und auf die Gejete an, durch welche diefe 
begründet werden foll, dann auf a oe und foziale Gefete und vor allem - 
Übergangsbeitimmungen. Das hat jadhlide Gründe, hängt aber auch mit dem 
auffälligen Yurüdtreten der Hoch- und Höchitgebildeten im Wahllampf und in 
den Standidatenlilten zufammen. Dies Zurüdtreten der Männer fachlicher 
Urbeit ift um fo mehr zu bedauern, als eine Hägliche Sorte von „Sntellektuellen” 
immer lauter das Wort führt. Ahr liegen dieje erniten Fragen ganz ferne. Aud) 
Die bisher erjchienenen Parteiprogramme nad) der Wahl berühren die Ver- 
fallungsfragen mehr gelegentlih. Die Sozialdemokratie fteht hier bislang voran. 
Sie bat über die Chriftlichfoztalen gefiegt, aber nicht die abfolute Mehrheit 
erreicht. Sie hoffte da3 durch die — Vertretern der 93 Wahlbezirke, 
die von Slawentruppen und Italienern beſetzt ſind, lehnt nun aber dieſe 
Ernennung grundſätzlich ab. Will ſie die Verantwortung für die kommende 
chwere Ubergangszeit nicht oder nicht allein übernehmen? Man kann auch aus 
lichen Gründen, die hier nicht erörtert werden ſollen, auf die Vertretung der 
nfreien Bezirke verzichten, muß aber dann auch darauf verzichten, A: Das 
umpfparlament feine Hauptaufgabe, die Feitlegung der.enögültigen Berfallung, 
erfüllt. Dadurd) wird die Zufunftsfrage, ob ein bürgerlicher Blod die Regierung 
übernimmt oder ob zwei von den drei Parteien fich an fie teilen oder ob die bi3- 
berige „Koalition“ ohne „Burgfrieden”, den die Soztaldemokmatie immer ablehnt, 
aber J Grund der Notwendigleit und der Einſicht aller drei Gruppen fort⸗ 
beſtehen bleibt, kaum weniger wichtig. 


0 


176 Religion und Politif 








Sie gewinnt insbefondere Bedeutung angefichts der Möglichkeit, daß die 
fommtuniitische Bartei jich gegen die gefebliche Regelung des Staatsmwejens erhebt, 
ivie dies jtellenmwetrje gejchehen tft. Die Sozialdemofvatie hat in ihrem Verband, 
der ja ſchon an jich weiter IinfS jteht als der reichsdeutſche, ſehr weit linksſtehende 
Elemente zu erhalten gewußt und dadurch ihren Wahljieg erreicht und vertieft. 
Sie muß then aber immer mehr entgegenfommen und fann fie vielleicht doch 
nicht fejthalten. Dean hat die Truppen entwaffnet und entlaffen, die Bildung 
von Bürgergarden verhindert, in die Vollswehr in Wien geradezu eine „rote 
Garde” aufgenommen; man weicht vor den aufgehegten Mafjen zurüd, menu 
diefe, wie bei den Orazer Unruhen, den Abzug der Gendarmen und Studenten 
verlangen, die allein Die abjolute Aufrechterhaltung der Ordnung ohne PBartei- 
ziwede verbürgen; jo werden in furzem die Volfswehren allein die Regierung 
militärifch halten fonnen. Diefe gejtaltete man immer mehr zu einer jozial- 
demofvatijchen Parteitruppe, aber die Kommunijten gewinnen wahfenden Ein- 
fluß auf jie. Noch jtehen fie zu den jozialdemofratifchen Führern, die eine gejeh- 
lide Entwidlung anjtreben; aber je mehr Forderungen duch Demonjtrationen 
und Unruhen Durchgejegt werden, deito mehr können diefen Führern die Bügel 
entgleiten. Werden fie fich durch Anflug an die bürgerlihe und bäuerlide 
Bartei zu behaupten und jo die innere Ruhe zu erhalten juchen? Dder werden 
jie ihren Einfluß in der Nationalvevjammlung — oder ohne fie — mit Hilfe der 
Straße zu jteigern juchen und damit ins boljchewiliihe Fahrivaljer fommen? 
Sthre Entfcheidung Darüber, vielleicht jelbit nicht freiwillig, fommt für die Geital- 
tung der Miehrheitsverhältnifje in der ve —— Verſammlung und für 
deren Beſtand ſtärker in Frage, als die Abſichten der andern beiden Gruppen. 
So läßt ſich die aufgeworfene Frage noch nicht beantworten und nur hoffen, — 
die politiſche Einficht erhalten bleibt, die bisher Umjturz und Wirrwarr dur 


das Verdienjt aller Barteien hintangehalten bat. 


— * 
———— 





Religion und Politif 
ı Don Dr. Rihard Müller- $reienfels 


A ur) die Revolution ift die Trage des Verhältniſſes zwiſchen Staat 
% und Kirche, deflen Brüche bißher mehr übertündt al wirklich" zu- 
| gefittet waren, auf3 neue flagrant geworden. Zwar hat die neue 
BE * Regierung ihre eriten radifalen Beihlüffe zurüdgenommen, aber 
—— niemand täuſcht ſich darüber, daß es ſich nur um einen Aufſchub 
handeit. Bielieicht lohnt e8 fi), angeſichis dieſer Sachlage, die 
Frage einmal unter prinzipiellem, völkerpſychologiſchem Geſichtspunkt zu erörtern, 
unter einem Geſichtspunkt, der das Problem etwas weiter überſieht als in der 
Form, in der es ſich heute darbietet. 

Scheidet man die Parteien, die ſich bei uns in dieſer gegge entgegenſtehen, 
ſo ſind es im weſentlichen zwei: die einen wollen die Religion als Stütze der 
ſtaatlichen Autorität erhalten wiſſen, die andern wollen Trennung von Kirche und 
Staat. Die Gründe für dieſe Stellungnahme ſind nicht überall gleich. Beſonders 
hinter der Forderung, daß Religion Privpat- und nicht Staatsſache ſei, verſtecken 
ſich ſehr verſchiedenartige Tendenzen: ſowohl ſolche, die dem autoritativen Staats⸗ 
ſyſtem dieſe Stütze nehmen wollen und weiter gar nicht um die Religion beſorgt 
ſind, als auch ſolche, die gerade der Religion dadurch zu dienen hoffen, daß ſie ſie 
herauslöſen aus dem politiſchen Intereſſenkampfe. Indeſſen iſt das die Kampf— 
lage weſentlich auf proteſtantiſchem Gebiete. Auf katholiſcher Seite liegt die 
Sade- anderd. Hier will man nicht Verbindung von Staat und Kirche, auch 
nicht radikale Scheidung, ſondern eher (ſo darf man es wohl formlieren): einen 






Religion und Politif 177 


firhlihen Staat im Staate, eine politiihe Irganilation ber Nteligion innerhalb 
ber übrigen politiihen Madt. ®emwiß ift dad nur eine mit gegebenen Berbält- 
nifien rechnende Zurüdhaltung, denn legten Endes fommt e8 auch den fatholiichen 
Kirchenpolitifern auf mehr an, auf mehr fogar ald den proteftantiihen, die nur 
Verbindung von Staat und Flirhe wollen, während die römifche Kirche Über- 
ordnung der Kirche hHeilht. — Im Grunde ift dıied Nebeneinander verjchiedener 
Anfichten nur die Weiterführung der wichtigften Eniwidlungsitufen der religiöfen 
Kultur biß in Die Gegenwart hinein. 2 
» 

Prüfen wir das Problem Hiftorifhh, fo darf man nicht etwa vom Urdriften- 
tum audgchen, wo Religion und Staat überhaupt no nicht in Beziehung ftan- 
den, wo hödhftens Religion und foziale Yragen fi berührten und aud fonft 
erzeptionelle Berhältnifie vorlagen: man muß weiter zurüdgehen, zu den Anfängen 
der Religion überhaupt und zwar, da wir rein biftoriih nie an einen Anfang 
gelangen, au den fulturellen Yıühftufen, die fih abjeits der großen Sulturent- 
widlungen bei primitiven Böltern erhalten haben. Da nun finden wir fait über- 
einftimmend, daß in allen Bölfern, wo eine Bolitif im Sinne eine feiten 
Stammeszufammenfchlufies, der im Benenfa zu Stammesfremden jolidariich 
handelt, bejteht, die Religion nicht etma ‘Privatfadhe ift, fondern faft identiich ift 
mit Bolitit. Das „Totem“ der Naturvölfer ift ebenfolehr religiöfe8 Berebrung3- 
objeft wie nationales Einheitsijymbol, e8 befommt befonder3 im Kriege deutlichen 
MWappencharafter. Der Kampf der Stämme ijlt ein Kampf ihres Gott: in 
Agypten, in Borderafien, faft überall in rübgeiten der Kultur finden wir, daß 
dort, wo ein Bolf fiegt, auch fein Gott fiegt, wad von den Menfchen mit der in 
religiöfen Dingen fo häufigen Staufalvertaufchung fo gedeutet wird, daß, weil der 
Gott der ftärfere gewejen jet, jein Bolt gewann, nicht etwa umgefehrt, daß der 
&ott gefiegt babe, weil fein Bolf dag frärtere gemwefen. Auch in der Frühzeit 
Israels liegen die Verhältniffe ähnlih. Dahme ift eine Art oberfter Krieg&herr 
der Hebräer, die Götter und „Baal8“” der ‘zeinde find nicht etwa abergläubiiche 
Borfielungen und rriümer, fondern politiiche Realitäten. PBolitit und Religion 
find eins. SPriefter leiten die politifchen Angelegenheiten, Opfer und Gebete find 
Dbliegenheiten de Staate®. 

Tas wäre bie erfte Stufe der Entwidlung. ine zweite Stufe ift dadurd) 
gelennzeichnet, daß Religion und Politit zwar nod) eng verbunden find, aber 
do nıdht mehr eind. So war «3 etwa im Griechenland ber früheren Zeit, wo 
die Orafel zwar tief eingriffen in die Politif, aber doch nit felber auch die aus- 
führende Madt überwadten. Diejen, Zuftand, daß die Religion ald wichtiger 
Faktor ſich in das Staatsweſen einfüge, will im Grunde der autoritative PBrote- 
Itanti8mus auch für unjere Zeit durchgeführt wiflen. 

Dad Mittelalter bringt die bejondere Entwidlung, daß in der Kirche ein 
Staat im Staate entiteht, der jeine PBolitit oft genug gegen die weltlihe Madıt 
durchiegt, zugleid) aber auch felber beftrebt ift, einen theofratiihen Zuftand her- 
aufzutühren, der legten Endes wieder zu der urlprünglichen Identität von Politik 
und Religion zurüditrebt. Das, wa der heutige Katholizismus will, ift- die 
Fortſetzung und Weiterentwicklung dieſes Berhältnifles. 

Demgegenüber vertritt der Proteſtantismus in ſeinen freieren Formen, 
vor allem aber jede Art philoſophiſcher Religion, das Beſtreben, die Religion 
möglichſt loszulöſen von dem Staate. Sie machen ernſt mit dem Worte Jeſu, 
daß man dem Kaiſer geben ſolle, was des Kaiſers ſei, Gotte aber, was Gottes 
ſei. Indem die Religion als eine Sache der Perjönlichkeit erklärt wird, muß ſie 
notwendig losgelöſt werden von ſozialen Zuſammenhängen, ſie kann ſich ſo wenig 
mit Politik berühren, wie etwa Farben und Klänge ſich berühren können, ſie er— 
ſcheinen ſo heterogen, daß eine wirkliche Vereinigung auegeſchloſſen iſt. Eine 
ſolche Anſchauung iſt überzeugt, daß ſie allein die wahre Religion zu geben 
habe, gereinigt von den Schlacken irdiſcher Beimiſchung. Und ſo tommt e8, dag 
gerade dieſe innerlichſt religiöſen Menſchen ſich in ihren religionspolitiſchen An— 
ſchauungen mit denen treffen, die in der Religion nichts ſehen, als eine ſchäd— 


Grenzboten J 1919 12 


178 Religion und Politik 


lihe Beimengung von Bolitif, die möglichft außzurotten wäre. Während bie 

einen die Zrennung von Staat und Religion wollen, um die Religion zu ver- 

tiefen, wollen die andern diefelbe Trennung, aber um die Religion völlig auf- 

zuſchalten als Kulturfaktor. 
* 

Prüfen wir nun unbefangen: die gefennzeichneten Bofitionen, fo Takt fih 
für die Auffafung der politiihen Religiofität die Tatfache anführen, daß biftoriih 
die Neligion faft immer, wo fie lebendig gewefen ift, aud) ftarf politiich gefärbt 
war. Die Gegner aber werden anführen, gerade die Hiftorifhe Entwidlung be- 
weile die Notwendigkeit einer jauberen Scheidung zwifchen Bolitif und Religion. 
Wa8 aljo der eriteren Anfhauung al8 ein Zeichen ded Niedergangs erjceint, 
dänft der zweiten gerade alß Ziel der Entwidlung 
Ä Da3 ilt nun gewiß mit allen Entwidlungen jo, daß fie nur relativ gu nehmen 

find, daß fie verfchieden bewertet werden je nach dem Standpunft de& Beurteiler?. 
Prägiliiren wir die beiden Standpuntte, um die e8 fich Bier Handelt, genauer, jo 
läßt ih aud) jagen: der eine, der Religion und Politit vereinigen will, jtrebt 
nit fo jehr auf Ilolation und möglidhite Reinheit der Religion bin, al3 gerade 
auf die Berquidung der Religion mit den übrigen Sulturgebieten, um durch folche 
Bündnifje die Religion recht einflußreich zu geltalten und jo, danf diefer Hilfen, 
aud die Religion felber twieder zu flärten. Der andere Standpunft jedoch ver- 
wirft dieß Beitreben als falih: von bier aus gejehen, fcheint die Religion al8 
jolhe nur gu leiden durch derartige Verbindungen mit wejensfremden Gebieten, 
an Gtelle de3 lauieren Golde® mürden mindermwertige Legierungen in Kurs 
negeben, und die Religion höre zulegt, beim Übermwuchern diejfer Verbindung mit 
Nichtreligiöfem, auf, überhaupt Religion zu fein. Steht die eine Partei auf dem 
Standpunft, die reine Religiofität, aljo etwa ein Iyriiched EinheitSbewußtjein mit 
der transzendenten Xelt, jei ganz auf fich allein geitellt frafilos und lebens— 
unfähig, fie erhalte vielmehr wie etwa da8 chemilch reine Waſſer ihren LXebend- 
wert erit durch Beimifhung anderer Beftanbdteile, jo beharrt die andere Partei 
- Dabei, daß die Religion ihren Dafeindwert nicht erft durch nichtreligiöfe Wert- 
wirfungen zu ermweifen habe, daß fie in fi ein legter, eigeniter Wert fei. 


2 8 ; 

Man fieht, die Sadjlage ift nicht jo einfach, daß fie dur kultusminifterielle 
Erlafie entihieden werden fönriter Auf diefe Reife läßt fich vielleicht eine germalt- 
fame Scheidung vollziehen, aber eine Entiheidung der hinter dem Gegentag 
Pohtit und Religion fi) drängenden Probleme ift damit nicht erbradht. Der 
Streit wird nit zur Ruhe fommen, weil der Begriff Religion, über den ent- 
Ihieden werden foll, unendlich wandelbar ift und, wenn er in der einen zorm 
ausgeichaltet wird, in neuer Form wieder erwädhft. Denn die Sadlage iit nicht 
fo, daß die Religion bloß darum ftarf oder Shmwad ilt, weil fie mit der Politik 
fich verbindet, fondern umgekehrt fann man aud jagen, daß dort, wo da8 rrligiöfe 
Leben von fid) au8 ftarf und lebendig ift, e8 auch außzuftrahlen fucht auf andere 
Kulturgebiete und auf die Politif. Es Täßt fich gegen diejenigen, die eine rein- 
lie Scheidung wollen, erwidern, daß diefe fi) vielleicht zeitweilig mäcen, aber 
nicht dauernd Halten läßt, da die einzelnen Aulturbeitrebungen der Menfchen 
untereinander fo eng verbunden find, daß fie immer wieder ineinander gerinnen, 
jo forgfältig man fie auch) abdämmen mag. Und mögen die Buriften in der 
Religion noch jo fehr die Befonderheit de8 religiöfen Lebens betonen, fie werden 
doch anertennen müflen, daß eine ftarfe Religiofität ftet3 danach) ftrebt, über fih 
ſelber hmaus zu wachen und einzugreifen in daß gefamte übrige Xeben, al& ein 
Sauerteig zu wirken, der alles durddringt. Und wenn da3 eintritt, wad mande 
hoffen, daß infolge der Xoslöfung der Religion vom Staate ein neued und 
ftärtere8 religiöjes Xeben erblüht, jo wird die ;Folge fein, daß e8 auch von neuem 
tar an die Pforten de8 verfchloflenen Gebietes pochen und Einlaß begehren wird, 
fo daß der alte Zuftand nur in neuer Yorm ſich wieder einführen würde. Aug 
allen diefen Gründen müflen wir zur Erfenntni® tommen, daß Religion und 
Politit dauernd gar nicht zu trennen find, daß vielmehr nur neue Arten ihrer 


y 


Religion und Politif 179 





. 


Berbindung entftehen werden. Im modernen Franfreidh zum Beifpiel bat man 
eine fjolde Scheidung zwiſchen Religion und Bolitif mit Gewalt durchgeführt: 
aber feinem Stenner frangzöfifcher Berhältnifie wird c8 unbelfannt fein, daß gerade 
in Sranfreih jchon vor dem Striege und auch während des Srieges ein immer 
ftärfere3 religiöfe8 Leben erwadt ift, da8 unterirdijcdh bereit fehr tiefgehend die 
Politit zu beeinfluflen beginnt. Nod immer ift die Religion ein zu ftarfer 
Machtfattor, um audgefchaltet werden zu fünnen. Wird die ftaatliche Autorität 
da3 Doch verjudhen, jo muß fie darauf gefaßt fein, daß die Religion von nun an 
richt etwa fid neutral verhalten wird, daß fie vielmehr ihre Ausfchaltung als 
Burüdjegung deuten und zur Oppofition übergehen wird. Daß aber wird 
unfehlbar der Yall fein, wenn Erlaife wie die Hoffmannjchen fich erneuern folten. 
Und e8 ift dabei zu bedenken, daß fchon die Tatfahe des Yurüdgefegticheinens, 
die Verfolgung, dad Märtyrertum der Religiofität niemal8 zum Schaden gereicht 
baben. Da3 Urchriitentum wie aud) der Katholizismus des Kulturfampres find nicht 
groß geworden trog der Widerftände, nein gerade wegen der Widerftände. Und 
e3 Icheint, daß der neue Kurd folche fördernden Widerliände in Venge liefern 
und Damit das Gegenteil erreihen wird, ald er beabfichtigt. Im Süden und 
Weſten Deutſchlands Hat der Hoffmannfdhe Erlaß licher bereit3 jo gewirft. 
—3 


Probleme beſonderer Art erwachſen dann, wenn man das Verhältnis der 
Religion zur Sozialpolitik, ſpeziell der Klaſſen- und Berufspolitik, heranzieht. In 
dieſer Beziehung hat ſich die Vage in Deutſchland zuletzt ſo zugeſpitzt, daß die 
Kirche als Vertreterin der Intereſſen des autoritativen Staates galt, d. h. als 
Parteigängerin der herrſchenden Stände, des Kapitals. Das hat ihrer Volks— 
tümlichkeit bei den großen Maſſen ſehr geſchadet, und vereinzelte Geiſtliche haben 
denn auch mit Eifer den Anſchluß der Kirche an den Sozialismus befürwortet, 
da dieſer dem Geiſte des Chriſtentums viel verwandter ſei als die kapitaliſtiſche 
Staatsordnung. 

Uberblicken wir auch hier die Sachlage zunächſt hiftoriſch, ſo laſſen ſich drei 
Typen des Verhältniſſes zwiſchen Religion und ſozialer Schichtung aufzeigen. 
Entweder die Religion hält es mit einer einzelnen Schicht, meiſt der herrſchenden, 
zuweilen aber auch gerade der unterdrückten, oder zweitens die verſchiedenen 
ſozialen Schichten haben verſchiedene Götter mit verſchiedenen Kulten, oder drittens 
die Religion fiebt ihre Aufgabe gerade im Sinne einer Mberbrüdung der Gegen- 
füge. Daß e8 die Religion mit der berrfchenden Schicht hielt, ift nur zum Teil 
aud Opportunigmud zu begründen, oft war «3 aud) die herrichende Schicht, Die 
ihre Religiofität zur Anerkennung führte. Das tritt befonder8 deutlich dort Hervor, 
wo die berrichende foziale Schicht uriprünglid ein fremdes Herrenvolt war, da8 
id) al8 Oberfhicht von der unterworfenen Bevölkerung getrennt hielt: jo war e8 
in Indien & B. — Dagegen eniwidelte fi) oft eine jelbftändige Rıligion der 
Unterdrüdten zu einem politiiden Madtfaftor, wie e8 3.8. mit dem Chriftentum 
der Zall war, au fchon vorher mit den Myfterienkulten, die urfprünglich eine 
Sklavenreligion waren. — Beftanden fo mehrere Sulte nebeneinander, fo haben 
wir ed, mit dem al der nad) fozialen Schichtungen getrennten Religiofirtät zu 
tun. Außerlid) dokumentiert fi daß in der Schaffung beſonderer Berufsgötter 
oder aud) nur befonderer Berufsheiliger, wie im criftlichen Mittelalter. Aber 
au innerhalb der gleihen Religion, in der Anbetung der gleichen Gottheit 
beitehen foziale Unterjchiede, und wenn man in die Piychologie der Srömniigfeit 
eindringt, wird man bemerfen, daß an Fürftenhöfen und bei Bauern vielleicht 
der gleiche @oit, aber Do in jehr derichiedener Weife angerufen wird. 

Serhentgegen bat nun da8 Ehriftentum vielfad) den Gedanken de8 fozialen 
Ausgleich8 vertreten, die Lehre, daß alle Menfchen vor Gott gleich feien. Es iſt 
licherlih übertrieben, wenn Niegjche dag „Reffentiment“ al Triebfeder aller folhen 
Beitrebungen anfieht: ftärfer war mohl die Sehnfucht nad) brüderlicher Gluidh- 
deit, die doch in den Gemeinden der Urdriften auc) zu prafiiicher Betätigung 
führte. Nun turzelt der Sozialismus in jehr ähnlihen Verhältniffen wie bag 
Srühchriftentum: beide entftanımen den Tiefen der Gefellfchaft, beide auch wollen 


12* 


180 Religion und Politik 


Ausgleihe zmifchen den KHlafien fchaffen. Daß e8 trokdem biöber noch zu Teinem 
- Bündnis amıfhen beiden fam, liegt an der Berfettung der offiziellen Religion 
mit der Autorität des fapitaliftifhen Staateß. 

Diefe ift nunmehr ind Wanfen geraten. Die Religion, die fich ficherlid 
nit darauf beichränfen wird, Brivatfadhe zu bleiben, wie ich oben zeigte, wird 
nad neuem Anjhluß judhen und wird ihn vermutlid) audh, allen Theorien zum 
Trog, bei einer jozialift:fhen Regierung finden. Sie wird fi) allerdingd wandeln 
müflen oder muß fich bereit gewandelt haben, damit daS geichehen fann. 

Dabei darf man jedodhy auch die großen Gegenfäge zwilichen Urcriltentum 
und Sozialidömuß nicht überjeben: diefer ift durchaus ald eine aunadhft auf 
Materielle gerichtete Bewegung anzufehen, während das Urchriftentum gerade 
nicdytmateriele Werte ald das höchite Gut anpried. Sn diefem Sinne hat Selma 
Zagerlöf redht, wenn fie in einem geıftvollen Roman den Sozialigmus al3 den 
„Antichrift” charalterifiert. Aber aud) diefer Gegenfag wird fih aufheben Iaflen. 
E&3 ift oft genug vorgefommen in der Religionsgeichichte, dag die Religion fid) 
mit wirtichaftlihen Antereflen verquidt bat, und umgefehrt wird auch der 
Sozialiamus. jobald der Religion dag Odium der Verbundenheit mit dem fapi- 
taliftiihen Polizeiftaat genommen ift, gar fein Bedenken haben, fih mit ihr zu 
verbinden. E83 ift unter diefem Gefihtepunft durchaus denkbar, daß wir neue 
Religiongformen entftehen fchen, die dem bißherigen jehr unähnlich find. Und 
ganz ficherlid wird der zur Macdıt gelangte So ialigmug fehr bald einfehen, daß 
die Stanzeln jehr brauchbare Organe für feine Ideen fein werden. 


* 

Noh eine andere Möglichkeit der Zolgen einer Trennung von Staat und 
Religion wäre zu erwägen. &8 fünnte fein, daB dadurd), daß die Religion ihrer 
politiichen Stügen beraubt würde, auch ihre einheitliche Organifation, die biöber 
die Geichlofienheit aller religiöfen Beftrebungen wenigftend äußerlich gewahrt bat, 
verloren ginge. Die Folge davon würde ein Ueberivudhern des Seftenwejen! 
fein, wie wir e8 in Amerifa jehen, wo ja ebenfalld Trennung von Staat und 
Kirche beiteht. Dieje Entmwidelung wäre fogar wenigitens für da8 proteftantifche 
Deuticland die wahrjweinlihite Od fie zu wünfchen wäre, ift eine andere 
trage. In folden Selten pflegt wohl ‘oft eine fehr intenfive Religiöfität zu 
olüben, aber auch eine überbigte, unfontrollierte und daher fjehr wenig an- 
.pafiungsfähige Religiöfität. Yür die allgemeine Kultur bedeuten folde Selten 
recht wenig. Wir fommen dabei zu der fjchon erwähnten Tatfahe zgurüd, daR 
die reine, nur auf fich geftellte Religion unter allgemeinen, Zulturellen Gefidht!- 
puntften feineswegs die mwertvollite ilt, daß vielmehr eine Verquidung mit anderen 
Faktoren ihr erft ihre Hohe allgemeine Bedeutung verleiht. E83 ift fein Ymeifel, 
daß die religiöje Temperatur durch folde Sekten fogar wärmer werden würde, 
vielleicht würde e8 auch vereinzelte Sekten geben, die geiltig ein hohes Niveau zu 
wabren vermöchten. Bei der Mehrzahl würde ein fehr dumpfes Geiltesleben bei 
großer Gefühlsihwüle vorderrihen. Die Univerfitätsausbildung unirer Theologen, 
foviel gegen fie au jagen fein mag, hat wenigftens ficherlid) das für fih. daß fie 
unflare8, überhigte8 Schwärmertum entjchieden zu dämpfen vermag. Das aber 
würde bei einem allgemeinen Zaienpredigertum üppig ind Kraut ſchießen. Wir 
würden Anabaptiften und Berkündiger des taufendjährigen Reiches in Menge unter 
ung entftehen fehen und befonders, wenn die wirtichaftlihe Notlage wadhjen follte, 
würde eine folhye Ausfaat fruchtbaren Boden finden. Bedenft man das, fo ift 
es fehr fraglid, ob man im SInterefle einer allgemeinen Kultur die fefiellofe Ent- 
faltung jeder religiöfen Leidenfhaft wünidhen fol, und aud unter diefem Geſichts⸗ 
punft follte man fi die Trennung von Staat und Kirche überlegen, zumal e& 
feineswegs gejagt ift, daß Diele Sekten fich jeder politiihen Betätigung ent- 
Balten würden. : : 

m 

Wir hatten bisher die frage bes Verbältniffes zwilhen Kirche und Bolitif 
nur dom pyſychologiſch-ſoziologiſchen Standpunkt auß beleuchtet, ohne auf bie 
ipegiellen Gegebenheiten de Lages und der Stunde einzugehen. Dennod dürfte 


Maßgeblihes und Unmaßgebliches 181 


auch auf die jegt brennende Srage ber Trennung von Kirdhe und Staat einiges 
Licht dabei fallen. Ganz ohne in diefer Sache nämlich mit dem Gefühl Stellung 
zu nehmen, läßt fich bereit3 jagen, daß dad ganze Problem unpſychologiſch geftellt 
ift, daß e8 überhaupt gar nicht möglich ift, diefe Trennung durchzuführen, daß 
vielmehr überall, wo e8 Religion gegeben hat, fie auch in der Politit mitzureden 
geftrebt Hat. Weilt man fie aber gewaltfam Hinaus mie in Zranfreich, oder billigt 
man ihr offiziell feine Stimme gu wie in Amerifa, jo fchleiht fie fih entweder 
durch Seitentüren wicder ein, wa8 ebenfall3 in tsranfreich zu beobadıten ift, oder 
fie fpriht unter allerlei Madfen mit. Seien wir ung do Mar darüber, daß in 
faum einem Zande der Welt die Religion fo mitbeftimmend ift in der Bolitif 
wie gerade in Amerifa, wo fie offiziell völlig getrennt ift vom Staate. Gerade 
von unferm nur beobadhtenden Standpunft auß läßt fich ja erfennen, daß eine 
gewaltiame Scheidung von Staat und Sirhe vielleicht da8 Gegenteil erzielen 
würde von dem, wa3 diejenigen erhoffen, die fie durdhführen würden. Die 
Zrennung von Staat und Kirde und damit au von PBolitif und Religion über- 
Baupt wird trogdem vermutlid; eine der erften Taten der neuen Regierung fein. 
Sie wird ih nit aufhalten Iaffen und gewiß geben mande unerfreulide 
Nebenerfheinungen jener Berquidung ihnen jcheinbar allen Grund zu diefem 
Vorgehen. Bielleiht aber ift e8 doch nicht ganz überflüflig, dabei auszusprechen, 
daß Dieje radifale Trennung der beiden Mädıte weder jo natürlid, noch ſo 
Biftorifch gerechtfertigt, noch jo leicht ausführbar, noch fo bereenbar und empfehlen?- 


wert in den Stonfequenzen ift, wie die meilten Rufer im Streit heute meinen. 





- Maßgebliches und Unmaßgebliches 


Die Sozialdemokratie und die beutfchen 
Bolläräte. Die deutichen Bollsräte in WVeft- 
preußen haben fi al3 Faktor im politiihen 
und Zulturellen Leben unferer Heimatprovinz 
erwiefen, defien Wichtigkeit inzwifhen wohl 
allgemein erfannt worden ift. Das einigende 
Band zwifhen allen Parteien ift ja das 
Bemußtfein, daß wir alle Deutihe find, wie 
berihieden au da3 nationale Gefühl zum 
Ausdrud Tommen mag, und der einmütige 
Ville, au deutih zu bleiben. Innerhalb 
der jogenannten „bürgerlihen” Parteien gab 
es auch Teinen parteipolitifhen Gegenfaß, 
der jtar! genug wäre, daß er ein enges Zu⸗ 
fammenarbeiten in einem beutichen Vollsrate 
Bätte unmöglich mahen Tönnen. Bon fozial« 
demofratifher Seite indeffen wurde beziv. 
wird ein Zufammenarbeiten mit den „Bürger- 
lien” gegenüber eine Zurüddaltung geübt, 
die auf die Dauer entiveder die Beftrebungen 
der Vollsräte als einſeitig erſcheinen laſſen 
oder die Geſinnung der Sozialdemokratie, 
der ſtärkſten Reichspartei, als nicht national 
genug kennzeichnen mußte. Jedenfalls ſtellt 


fie einen Gegenſatz zwiſchen „bürgerlicher“ 
und ſozialdemokratiſcher Beurteilung und Be⸗ 
handlung des Polenproblems dar. 

Dieſer Gegenſatz iſt eine Konſtruktion. 
Tatſächlich iſt er nicht in dem Maße vor⸗ 
handen, wie es den Anſchein hat. Die Mehr⸗ 
heitsſozialdemokratie empfindet — das kommt 
in Weimar oft genug zum Ausdruck — 
national. Der Arbeiter will ebenſowenig 
feine völkiſchen Intereſſen preisgeben, wie der 
„Bürgerliche“. Nur ſtellt das Programm der 
Sozialdemokratie die proletariſchen Intereſſen 
über die voölkiſchen und muß injſolgedeſſen 
ſeine Anhänger einer Arbeitsgemeinſchaft 
gegenüber zurückhaltend machen, die mit 
Parteiintereſſen nichts zu tun hat. Dieſe 
aus den Richtlinien der Sozialdemokratie 
verſtändliche Zurückhaltung wird ergänzt 
durch ein Mißtrauen allen Perſoönlichkeiten 
und Organifationen gegenüber, die die bie- 
berige, verunglüdte Bolenpolitit geleitet und 
ausgeübt haben. Diefed Mißtrauen ift um fo 
begreiflider, al® die Sogialdemotratie mit 
ihren Bielen, die Nöte des internationalen 


182 





Broletariatd zu befeitigen, in SKonflilt zu 
tommen fcdeint, fobald fie fi einer Arbeitz« 
gemeinfchaft anfchließt, die nur völfifche Ziele 
durchfegen muß. Andererjeits ift fie e8 aber 
zunädit den “Broletariern ihres eigenen 
Landes fchuldig, deren Nöte zu befeitigen, 
und fih zu fragen, ob gegenwärtig die Zeit 
ift, die internationalen Ziele auf Koften der 
Eriftenz ale Genofjen eines großen Voltes 
au verfolgen. 

Ohne diefe, dem pParteipolitiihen Pro» 
gramm entiprechende Konftrultion wird der 
iheinbare Gegenfag zwifhen „bürgerlicher“ 
und fozialdemofratifher Stellungnahme zur 
Polenfrage inhaltlos. Es handelt fih um 
eine Lebenzfrage für beide. Und angefidts 
der Entwidlung Bolend zu einem Staat, der 
durdhaus imperialiftiih und gemeffen an der 
gegenwärtigen Korm unfere® Staatslörperd 
realtionär ift, bedeutet e3 für die Ziele der 
Sogialdemofratie eine Gefahr, wenn fie den 
Gefahren, die ihr von polnischer Seite drohen, 
nicht entgegentritt. Wir alle, „Bürgerlihe“ 
wie Sozialiiten, haben dasſelbe Intereſſe, 
wa3 unjere nationale Zugehörigfeit anbelangt, 
und gerade für die Arbeiterfhaft, deren 
Ideale erſt noch verwirkicht werden müſſen, 
ſind jetzt völkiſche und proletariſche Intereſſen 
dasſelbe. 


VNeue Vücher 


Ich erblicke in den deutſchen Vollsräten 
die Organiſation, die als Ausdruck des Volks⸗ 
willens den polniſchen Anſprüchen gegenüber 
gewertet werden muß und am wirkſamften 
in Erſcheinung treten kann. Die Volksräte 
müſſen in engſter Fühlung mit allen Schichten 
und allen Berufsklaſſen unſerer deutſchen 
Bevölkerung ſtehen. Unter der Führung der 
Mehrheiteſozialdemokratie entwickelt ſich unſer 
Staatsweſen zu einer Volksgemeinſchaft, bei 
der der Unterſchied zwiſchen „Bürgerlichen“ 
und „Soz'aldemokraten“ auch nur eine ein⸗ 
ſeitige Konſtruktion iſt. Wir ſind alle Bürger 
dieſer Volksgemeinſchaft und wir alle müſſen 
ihre elementarſten Lebensinterefſen ſtützen. 
In den deutſchen Volksräten werden alſo alle 
parteipolitiſchen Geſichtspunkte auf das Ur⸗ 
ſprüngliche zurückgeſtellt werden müſſen: auf 
unſer Deutſchſein, das alles ũberbrücken ſollte, 
was gegenwärtig Zwieſpalt und Ohnmacht 
bedeutet. Einer muß dem anderen vertrauen 
und helfen. Wir müſſen und werden in 
dieſen Arbeitsgemeinſchaften dahin kommen, 
daß der Arbeiter mit dem Grafen an dem- 
ſelben Tiſche ſitzt und beide ratſchlagen, wie 
ſie deutſch bleiben, und beide handeln ge—⸗ 
meinſam. Guter Wille von beiden Seiten, 
dann wird die Löſung ſo möglich, wie fie 


notwendig iſt. Robert Heinz Heygrodt 


Neue Bücher 


Zur europäifhen Bolitit 1897—1914. Unveröffentlichte Dokumente. Im 
amtliden Auftrage herausgegeben unter Leitung von Bernhard Schwert- 
feger. Reimar Hobbing Verlag, Berlin 1919. Band 1 und 2. 

Wenn irgend eine Maßregel deS törichterweife ermordeten bayrifhen Minifter- 
präfidenten Schaden angerichtet hat, fo ift e8 feine Veröffentlihung über Die 
. Schuldfrage am Striege geweien. Eidner mag dabei die allerbefte Abtiht gehabt 
haben, feiner Intelligenz und politiichen Einficht hat er damit, abgejehen Davon, 
daß eö immer ein Sehler ift. der Regierung des eigenen Volfed, aud) einer ehe- 
maligen, in außerpolitiihen Dingen in den Rüden au fallen, ein Schlechtes Zeugnis 
auögeftrlt, denn einmal bat er die Bedeutung diejer Schriftftüde geradezu mablos 
überihägt — u. a. bat bereit8 Hans Delbrüd ihre geringe wirkliche Tragweite 
erörtert — dann ift aber auch die ganze Einftellung und Methode falih. Selbft 
in den Zeiten unumfchränfter Stabinettöherrichaft bat ein Strieg immer einen 
Stompler von Urfadhen gehabt, von denen die weientlichen eben in der Geidicte,. 
Geographie, Ethnographie und Wirtichaft der friegführenden Länder organiſch 
gegeben waren und nicht der iſt ein Urteil über Kriegsſchuld zu fällen berechtigt, 
der ſeinen Blick von den kleinen Zufälligkeiten des Augenblicks nicht loszureißen 
vermag, ſondern nur der, der die großen Fäden geſchichtlicher —— 
zu ve olgen in der Lage iſt. 


Xleue Bücher 183 





Da3 auf politiichem Gebiete felbftändig und unbeeinflußt zu tun, ift Gelegen- 
beit geboten durch die vorliegende Dofumentenfanmlung. Sie bildet eine über- 
aus wertvolle Ergänzung der 1915 vom Berliner Au&mwärtiaen Aınt herausgegebenen 
belgifchen Bejandichaftsberichte und übertrifft fie um ein beträchlicheg an hıftoriihem 
Wert und Weite des Gefichtsfreifed. Denn während die „Velgifiwen Aftenjtüde“ 
rich Tediglih auf Die Sefantjchaftsberichte auß London, Berlin und Paris ftügen, 
beiigen wir in diefen bei der Durchficht der Aktenſtücke des belgiſchen Miniſteriums 
des Außeren in Brüflel gefundenen mechanid) vervielfältigten Berichten das terke - 
zeug, deiien fich die beluifche Regierung bedient Hat, um ihre diplomatifcdyen Ber- 
ireter im Auslande wechſelſeitig über die Berichterftatiung ihrer Kollegen auf den 
anderen Gejandjchaftepoften zu unterrichten. Sie find alio von der belgifihen 
Regierung felbit unter Bermertung aller ihr zu Gebote ftehenden Informationen 
verfaßt worden. Aus ihnen nun geht einwandöfrei hervor, daß während der 
ganzen achtzehn Sabre, die dem Weltkrieg vorangingen, Deutichland von belgifcher 
Seite — und im allgemeinen waren die Diplomaten de8 fleinen Landes gut 
unterriddtet — niemald als Friedensftörer angejehen tworden if. Das erhellt 
nicht nur aus einer oder zwei Stellen vielleiht voreingenommener Beobadıter, 
fondern auß den jahrelangen verantwortlichen Seftfiellungen fluger und unpaıteiifcher 
Veurteiler. Glängender al8 e8 hier von feiten unferer jegigen Zeinde gejchehen 
it fan Deutichlands Friedeneliebe und innere Echuldlofigkeit am Striege nicht 
einmal von uns jelbit dargeftellt werden. Unfere ganze Schuld war, daß mir ein 
großes Volk wurden, Kolonien Haben und Welthandel treiben wollten Ungefhıdlid- 
feiten find gewiß auch von unferer Seite begangen worden, aber wo ımmer in 
all dieren vielen Berihten von Bedrohung des Friedend oder Angriffdabfichten 
nz a ift, immer wird die Initiative dazu auf unfere jegigen Gegner zurüd- 
geführt. , 

Die Berichte find zum großen Teil glänzend und fehr feflelnd gejchrieben 
und bilden mit den fnapp zufammenfaflenden und Elar gruppierenden Einleitungen 
der Heraußgeber eine direkt |pannend zu nennende Xeftüre, die dem Hiltorifer wie 
dem Luien gleicherweife auf dad wärmjte zu empfehlen ift. R. S. 


Balther Schotte, Der Weg zur Gefeglichkeit. Die demokratiihen Verfaſſungen 
3 im deutihen Wortlaut. 210 S. 9. R. Engelmann. Berlin 1919. 
ed. M. 5,—. | 

Der befannte großdeutiche Bolitifer und Publiziit Bat die dankenswerte 

Ibee gehabt, für die Zmede der Lonflituierenden Nationalverfammlung die 
marfanteften und intereftanteften Dofumente zujammenzuftellen, in deren der 
politiſche Geiſt der abendlännifchen Menichheit feine verfanungsredhtlihen Er- 
fabrungen niederlegte. Au&gemählt find: die Fundamental Orders of Connecticut 
(1639), da8 dritte Agreement of the People (1649), die Beriajjungen der 
Union —— der Paulskirche (1849). der Eidgenoſſenſchaft (1874), der dritten 
franzöfiſchen Republik (1875) und der Sowjets (1918). Verfafſungsterte ſind keine 
beliebte Lektüre, auch wenn ſie, wie im vorliegenden Falle, in der Mutterſprache 
mundrecht gemacht werden; es iſt darum zu begrüßen, daß der Verfaſſer über 
ſeine eigentliche Abſicht hmaus ſelber einen Aufriß unſeres künftigen politiſchen 
Hauſes, eine Würdigung und Kritik modern ⸗demokratiſcher Forderungen auf dem 
Gebiete des Verfaſſungérechts verſucht. Zunächſt handelt es ſich gewiſſermaßen 
um den Bauſtil. Um unſere verfaſſungsrechtliche Iſolierung, unſer innerpolitiſches 
Andersfein zu vermeiden, müflen wır und von Ardhaiemen forwohl wie von 
zuturismen gleich weit entfernt Halten: gehört daS monardiic-konftitutionelle 
Regime der Vergangenheit an, fo darf da8 bolichemiltisch-konftitutionelle nıdhı fein 
Nachfolger werden — Yum Borfämpfer de3 juste milieu ift da8 Bürgertum berufen. 
E8 war der eigentliche Träger des Strieged, auch in den feindlihen Zuandern, und 
dat als folcher, wie Schotte fagt, auf der faljchen Seite geitanden, infofern e8 
fih über das Ziel, dad ein imperialiftifches alten Stils war, täufchte und ih der 
dünnen Sührerfhiht in Handel, Induftrie, Banten, Großgruntbejig. den eigent- 
lihen Ssnterefienten anjchloß, obwohl e8 wirtichaftlih und fozial viel mehr mit 


184 Ueue Büder 





dem Proletariat in einer Einheitsfront zufammengehört. Zrogdem wird die rage 
feiner gefonderten, von diefem fcharf gefchiedenen Organifation vom Berfafier für 
die Zufunft energifch bejaht, weil die bourgeoife Xebensluft der individuellen 
Freiheit der Uniformität proletariiher Berhältnifie grundjäglich widerfireite. In 
die große bürgerlich-demofratiiche Partei follen aber aud) die Sapitäne des Wirt. 
* fchaftelebend hinein; diesmal fcheint aljo die breite Mafle de Bürgertums bei 
der Zuiion mit jenen nicht „auf der falihen Seite“ zu ftehen! — In der Frage 
Einheissftaat oder Bundesitaat? verfiht der Berfaffer einen gemäßigten Jöde- 
raliömug, der dem Reiche gibt, iva8 des Reiches fein jollte, aber bisher nody nicht 
immer war, der die Bundesftaaten nicht departementalifiert, aber immerhin doc 
zu „Ländern“ umgewandelt wiflen will, gmwar immer noch mit eigener (aber 
„abgeleiteter”) Souveränität. Eın Votum alfo gegen den Einheitzitaat,. weil eine 
Starte Sentralgemwalt vor der Hand nicht erreichbar fei, wa8 man, wie die Dinge beute 
ftehen, zugeben muß, zugleid) aber die Sorderung einer Reueinteilung Deutichlandg, 
die „die großen Schwierigkeiten de3 bundesitaatlihen Problems löfen würde“. Ob 
damit alles getan wäre, laflen wir dabingeitellt fein, angenehm berührt jedenfalls die 
parträtiiche Sefinnung bei dem Zeilungeprojeft, die mit der politifchen Separation?- 
efeggebung nicht wie jegt fo häufig an der Mainlinie Halt mat. Die Länder 
Pollen ein weites Regierungd- und Bermwaltungsgebiet behalten, u. a. die geſamte 
Kulturpolitit. Dabei erheben fi) doc) jene Gefahren fultureller Kantönlipolitik, 
vor denen Brofeffor Beder vom Kultusminifterium jüngft in der „Bolliichen 
Zeitung“ eindringlid warnte. Die wichtige Frage Staatenhaus bezw. Länderhaus 
oder Bundearat beantwortet Berfafler mit einem Somwohlaldaud), indem er dicfen 
eventuell ald eine Art Staatsrat zur Vorberatung der Bejege beftehen Iafien will. 
als „verfafiungstehniihe Probleme der Demokratie” werden die „Konftruftion 
der legidlativen Gemwalten, die „Konftruftion der regierenden Bewalten“ jowie die 
„Sarantien der Bertaflung“ behandelt, und zwar in Yorm von fertigen Bara- 
graphen mit abfehnittäweife zufammenfafjendem Sommentar. Unter den Bor- 
bildern entjcheider fih Berfajler gegen Yranfreih, für eine Kombination de 
enalıfhen und amerifaniichen, da3 heißt, deö parlamentarifhen und plebißzitär- 
präfidialen Syfjtemd. Der Präftdent der deutichen Nepublit fol (wie in Almerila, 
momöglid in noch reinerer Yorm) vom Bolfe gewählt werden, nicht vom 
Parlament (wie in Tranfreich), weil er dann von diefem abhängig würde, e8 
fol aber andererfeit3 feine autofratiihe Macht dur) die parlamentarifche Re- 
gierungsweife nach englifchenı Mufter eingefchräntt werden. Den gleichen Stand» 
punft vertritt befanntlid die Dentichrift des Staatsfefretärd Preuß, und man | 
fann Sagen, daß er wohl begründet if. Auf die vom Berfafler mit großer 
Sorgfalt gearbeitete Struftur der Sewalten fünnen wir bier nicht näher eingehen. 
Aus der Erfenntniz, daß wefentlihe Gedanken der Demofratie bisher in 
Deutihland nicht begriffen oder mißveritanden find, und dem Wunſche, Poſitives 
au leiften, entftand Schoite8 Arbeit. Wir glauben, daß ihr auch im Schoße der 
ationalverfammlung, der fie gewidmet ift, folhe pofitiven Aufgaben zufallen 
und empfehlen ihr Studium den Männern und rauen, von denen jegt Deutid- 
lands Zukunft abhängt, fteht fie Dody) würdig neben der Dentichrift des Staats⸗- 
fefretärd Preuß und den Auflägen Mar Webers in der „Frankfurter Zeitung“ 
über „Die deutjche Staatsform“. Dr. 8. ©. Meisner 


Allen Dianuffripten ift Borto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Nüdfendung 
nicht verbürgt werden fann. 








Nahdırud fämtliher Auffäyge nur mit ansprüdiiher Griaubnis des Berlagd geftatter. 
Berantwortlih: der Herausgeber Beorg Eleinomw in Berlin Lichterfelde Wei. — Masuftriptiendungen und 
Breie merden erbeten unter Der Adrene' 
Ar die Schriftleitung der Urenaboten in Berlin SZ 11, Tempelbofer ilfer 35a. 
Feruſprecher bee SDerausgeders: Zimt Lichtertelde 448, des Vertrags und der Schrittiettung: Amt Niyom K5l0. 
Zeriog: YWeruag der Wrenzdbolen B.m.b. 9 ta Berlin SW 11, Zewmpeibuter Ufer 353. 
zrud: „Der Weihvbote" B.m.5.9. in Berlin SB ıl, Derjauer Sirage 0,87, 





Wozu brauchen wir die deutfchen Dolfsräte? 


Lad) einer Rede des Geheimen Regierungsrats Georg Eleinow, gehalten 
anläglihh der Gründung eines Dolfsrates zu Hafel am 1. februar 1919 


Meine hochverehrten Damen und Herren! 


Der Wahllampf ift vorüber. Sie haben zweimal ©elegenheit gehabt, 
derjenigen Bartei, die hre mwirtichafilichen nterefjen vertreten -fol, SJhren 
Stimmzettel zu geben und Männer in die Nationalverfammlung und in die 
preußiiche fonjtituierende Verfammlung zu entfenden, von denen Ste glauben, 
daß fie hıen Wünfchen für die Weitergeftaltung des verfafjungsmäßigen Lebens 
am beiten Rechnung tragen würden. Durdy Yhre Wahl haben Sie bereit3 
Baufteine für die Neugeitaltung des Heihsbaues ebenjo mie für die Neu- 
geitultung des Preußenjtaates zufammengetragen. Wenigjtens die formellen 
Grundlagen find neu begründet dur) den Ausfall Yhrer Mahler. ch bitte 
nun beute, lafjen Sie den Gedanken an die Parteien, denen Sie zugehören, 
lafjen Sie den Gedanken an Ihre Wirtfchaftsinterefjen und an Yhre privaten Lieb» 
habereien auf fulturelem Gebiet einmal zurüdtreten vor dem einen großen fie 
alle miteinander verbindenden Gedanfen,. vor dem deunchen Gedanken, vor 
$hrer Zujammengebörigfeit zum großen deutichen, jegt ad fo tief nieder- 
geihmetterten, jo jchwer geprüften deutichen Volle Wir alle, Männer, die 
wir den Krieg mitgemacht haben (und mander von uns hHıt 4!/, Jahre und 
länger draußen zugebradt), haben fiher eine andere Nüdkehr in die Heimat 
und einen andern Empfang in ihr erwartet, al er uns zuteil geworden ijt. 
Und gerade wir Bofener und Ditmarfenleute, wit haben geglaubt, daß mir 
nah dem Kriege bier in Frieden mit unferen polnifchen Lundsleuten leben 
würden, die bi$ zu einem gewiljen Zeitpunfte mit uns auf allen Kriegefchau- 
plägen brüderlich. und tapfer gegen die Welt der Feinde gefänpft haben. Ein 
graujames Geihid hat e3 anders gewollt. Wir find heimgefehrt al3 eine arme, 
geihjlagene, niedergebeugte Armee. Wenn man die Leiden hört, die unſere 
Kameraden jegt auf ihrem Rüdzuge dur Rußland erleben, wenn man hört, 
weiche Ungeheuerlichfeiten auf dem NRüdzuge einzelner Tivifionen durch Belgien 
und dur) Zuremburg vorgefommen find, fo gıbt e& nur noch einen Vergleich: 
da3 graufige Bild des Nüczuges der großen Armee Napoleons, die vor hundert 
Sahren den Weg von Moskau wieder in die Heimat zurüdyefunden bat, jene 
Armee, die auch zu ihrem größten Teil aus deutihen Solvdaten beitand, die 
damals dem fremden Herricher dienten. Yn folcher tiefen Not padt un$ der meud)- 
lerijche Angriff, den unfere Landsleute hier, die Polen, gegen uns angejegt haben, 


Örenzboten I 1919 13 


— 


186 Wozu brauchen wir die dentfchen Dolfstäte ? 


um fo fohärfer an. Im Augenblid unferer Schwäde — ſie nicht anders 
wie die uns feindlichſten der feindlichen Völler, langgehegte Träume zu ver⸗ 
wirklichen auf unſere Koſten und uns zu treten und uns das letzte zu nehmen, 
das wir beſitzen, unſer Deutſchtum, unſern deutſchen Heimatboden. 

Solche furchthare Prüfung, kann ein Volk nur überwinden, wenn es ſich zur 
Gemeinſamkeit im Volkstum bekennt. Es iſt eine Verirrung, heute internationalen 
Verbindungen und Verheißungen nachzujagen. Es iſt ein Trugbild, eine Fata 
morgana, das den Arbeitern ſeit Jahrzehnten vorgeſpiegelt wird, daß es eine 
Solidarität der Arbeiter über die ganze Welt gäbe, die über die Nationalität 
hinaus Beſtand haben könnte. Die Solidarität hört auf in dem Augenblick. 
wo der Stärkere ſich bewußt iſt, daß er den Schwächeren von ber Futterkrippe 
fortſchieben kann. Die deutſchen Arbeiter hier in der Provinz Poſen werden 
es mir bezeugen, daß ich die Wahrheit ſpreche, wenn ich hier mitteile, was 
ihnen in den letzten Wochen vor Neujahr von ihren polniſchen Arbeitsgenoffen 
gejagt worden ift. Wartet mal, hieß e3, wenn wir Polen hier erft herrichen, 
dann fliegt ihr hinaus, von der Eijenbahn, aus den Yabrifen, die hier auf 
dem polniihen Boden ftehen. Wir, die Polen, werden Eure Stellungen ein- 
nehmen. Die einzigen, bie von internationaler Verbrüderung etwas haben 


tönnten, das find wir, die Geiftesarbeiter, die in ihren Studierftuben figen, 


fih Sprad- und Geichichts- und Lıiteraturfenniniffe über alle Völfer der Welt 
anzueignen vermögen und die deshalb befähigt find über gewiffe allmenfchliche 
Gedanken mit der ganzen Welt zu verhandeln. Es gibt Dinge, die dem 
Naleler Einwohner ebenfo auf der Seele brennen, wie ‚demjenigen von Tim- 


buftu oder Kraffnojarft. Aber wir können fie nur fo lange fchiedlih und 


friedlich behandeln, als wir auf dem Boden der Theorie bleiben. Wo e8 gilt 
Theorien in die Praxis des Lebens zu überführen, treten unvermeidlich Rei— 
bungen ein und wo erjt Reibungen auftreten, wo die Konkurrenz zmwijchen den 
Völkern in irgend einer Form einjegt, da gilt feine internationale Berbrüderung, 
da gilt fein übermeltliched Streben einzelner Philantropen, fondern da gilt 
einzig das Wort: „Der Kräftige, der Starke fiegt und der Schwade unterliegt.“ 
Wie das im großen oder im Heinen ift, wie e8 fhon anfängt in der Tierwelt, 
wo da3 Starle das Kleine unterdrüdt, fo ift e& bei uns Menjchen in der Pro- 
vinz, in den Städten, in den Ortichaften, überall. Blut gehört zu Blut und 
Blut muß fih mit Blut verteidigen. Darüber Hilft uns fein Bhilofophieren 
und fein Doltrinieren hinweg. Wenn ich ihnen diejes ins Gedächtnis rufe, 
fo bin ih mir wohl bewußt, daß Sie die Wahrheit meiner Worte eben am 
eigenen Leibe erlebt haben, da Sie alle den DBerfuch erleben, daß die Polen 
fi zu Herrichern über da8 Land madhen wollen. Zu Herrihern maden heißt 
aber die mwirtfchaftlichen und die fulturellen Güter nad eigenem Ermefjen ver- 
teilen und den Unterworfenen zu zwingen, nicht daS zu tun, mas ibm in erfter 


“ Rinie frommt, fondern das zu tun, was der berrjchenden Klaffe, der berrichen- 


: den Nationalität vor allen Dingen nützlich iſt. Aus unſrer Not gibt es nur 


einen Ausweg: Vergeſſen wir, daß wir uns in Klaſſen befehden, vergeſſen wir, 
daß aus der wirtſchaftlichen und ſozialen Geſtaltung ſich eine Fülle von Gruppen 
mit Sonderintereſſen gebildet hat. Laſſen wir den Kaſiengeiſt. laſſen wir dieſes 
Zuſammenſtecken der Köpfe von einzelnen Erwerbsklaſſen beiſeite und fühlen 
wir uns endlich einmal als ein Volk, als das deutſche Volk, das bedrohte Volk, 
dem ſeine Daſeinsberechtigung hier in der Oſtmark ſtreitig gemacht werden ſoll. 

Ich habe hier ſchon vor etwa 14 Tagen die Ehre gehabt, vor einer 
Anzahl von Ihnen zu ſprechen. Da habe ich die Frage aufgeworfen, wie es 
möglich geweſen iſt, daß auf die gewaltigen Leiſtungen unſeres Volkes daheim 


Wozu brauden wir die deutfchen Dolfsräte? 187 





von den Frauen, draußen von den Männern ein folder Zufammenbrud, folgen 
tonnte. Er ijt erfolgt, nicht weil wir zufammengefaßt jchwäder waren, wie 
die Gegner, jondern einzig deshalb, weil wir zerjplittert und unter un3 uneinig 
maren, weil wir zu fehr Heinen Gingzelinterefien nachgingen und weil mir es 
nicht fertia gebradyt haben, rechtzeitig eine allgemeine Organifation zu fchaffen.. 
die den Arbeiter ebenjo umfaßte wie den Edelmann auf dem großen Gute, 
wie den Banlier, den Mühlenbefiter, Kaufmann und Doltor, Beamten und An- 
geftellten, mit einem Wort, weil wir nicht rechtzeitig eine VBolfSorganifation 
zuftande bringen fonnten. Win fannten uns nicht, wir batten nirgendS eine 
Stelle, mo wir uns einander nähern und wo wir einander kennen lernen fonnten. 
Das fehlte und und meil e8 uns fehlte, haben die Polen den großen Bor- 
iprung vor uns gewonnen, die feit einem halben Jahrhundert daran gearbeitet 
haben, fich eine Volf3organifation zu fehaffen. Die Arbeit der Polen tft fo 
bemunderungsmwürdig, daß wir darauf nur mit Hodhadjtung, wenn auch nicht 
ohne Neid, bliden Tönnen und müfjen und daß mir diefe Arbeit, die fie für 
ihre Vollstum geleiftet haben, nachbilden müffen. Für uns, meine Damen 
und Herren! 8 war uns fehr leicht gemadıt, auf eine eigene große Volks» 
organilation zu verzihten!l Wir hatten ja die ausgezeichneten Bermwaltungs- 
organifationen, die Bureaufratie, über die jeder von uns gelegentlid) geichimpft 
bat, diefe Bureaukratie, die technifch an der Spige aller ähnlihen Einrichtungen 
der Welt marfchierte. Wie war e8 doc früher bequem für den Geweıbe- 
treibenden, den Kaufmann, den Beliger, den Bauern. Da ging man zu feinem 
Landrat oder zu feinem Dijtriftsfommiflar, zum Bürgermeifter, oder, wer 
befjere Beziehungen hatte, zum Regierungs- oder Oberpräfidenten und da murbde 
die Sadze hHübfch b.fprodden. Manchmal, meiftens fogar ging da$ furchtbar fehnell, 
menn man die nötigen Beziehungen hatte. So wurden die Dinge unter Aus- 
 Shluß der Öffentlichkeit fomohl für wie gegen das SIntereffe der Allgemeinheit 
betrieben. Die Deutihen fuhren wirtfhaftlid gut. Die Polen fuhren aud 
aut. Manchmal fam einer befjer weg, dann wurde von den anderen gejchimpft. 
Aber, meine Damen und Herren, e8 wurde nidt etwa laut gefchimpft, es 
wurde die Fauft in der Tafjche geballt und niemand wagte mit feiner Meinung 
bervorzutreten, fondern nörgelte an den Stammtiichen herum. Warum, weil 
8 einen wirtihaftlich fchädigen Tonnte, wenn er gegen die Verwaltüng oder 
gegen die mächtigen Männer redete. Die einzige Partei oder der einzige 
‘Stand, der aus diefer Situation ganz folgerichtig, aber natürlid audy ganz 
egoiftifh die Konfequenzen gezogen hat, war der Ddeutjhe Arbeiterftand: in 
feinen gemerlichaftlihen Drganifationen, jomphl in den chriftlihen, wie in 
den fozialdemofratifchen freien Organifationen bat der deutiche Arbeiter fi 
das Drgan geihaffen, Das gegen die Bureaufratie, gegen die anderen _ 
berrfehenden Schichten die Intereſſen des Arbeiterftandes unter allen Um- 
ftänden vertrat. Das Bürgertum in feiner Zeriplitterung, daS Beamtentum 
mit feiner nach dinefifher Manier abgeftuften Rangordnung, mit: Pfauen- 
federn und Zöpfen, die man nur nidt fah, fie waren in fi, uneins 
und zerfplittert. Alle Bewegungen, die zu einer Organifation, d. b. zu einer 
Überwindung der Zerfplitterung führen konnten, wurden disfreditiert und ver- 
folgt, weil weder die hinter den Kuliffen ftehenden Beherriher der Situation, 
noch die Bureaufratie ein nterefje daran hatte, eine volle Einigfeit des Volkes 
zuftande fommen zu lafen. Es iſt daS der größte und fchwerfte Fehler der 
alten Regierung gemwejen, daß fie aus den Trieben zum Zujammenfhluß nidt 
den Nugen gezogen hat, indem fie dem demofratifhen Zufammenfhluß des 
Volles befonders .in der Selbftverwaltung Vorfehub leijtete und half, daß er 

| | 13* nz 


188 Wozu brauden wir die deutfchen Dolfsräte? 








ih entwidelte, fondern fi ihm miderfegte. Wir haben ja eine Selbitvermaltung 
gehabt und unfere großen ſtädtiſch n Selbſtverwaltungen waren muftergültig. 
Aber die Provinz, die Leinen Städte und die gewaltigen Vororte der Groß 
und Mirtelftädte, mit anderen Worten, die großen Maffen des Volles kamen 
in der Selbftvermaltung zu kurz. Sie mußten andere Organe haben, um fih 
mit ihren ntereffen durchzufegen. Und meil diefer Mangel an Drganifation 
vorhanden war in dem großen Augenblid des 9. November 1918, als die 
Armee hinten zufammenbrab, al3 die feindlihen Mächte im Einverftändnis 
mit unfern Zinksfozialiften daran gingen, unfere Armee zu zertrümmern, darum 
fehlte der Regierung die Kraft, um das in Trümmer gehende Gebäude zu 
halten und zu fügen. Darum haben wir das, Häglihe Schaufpiel gehabt, 
daß alle Regierungsbehörden von der unteriten biS zur oberften, daß die 
meiften milttärifchen Behörden verfagten und zufammenflappten, und an dem 
einen Qage vor Spartafiften, in Pofen vor den Polen und weiß Gott 
vor wem noch Ffapitulierten. - Wir mollen diefen AZufammenhang nie und 
nimmer vergefien!l Das mußte gejhehen, weil der deutichen, der preußiichen 
Regierung die moraliihe Unterftügung aus dem Bolfe fehlte, die moralılde 
Unterftügung eines felbftbemußten, feiner Aufgabe bewußten Volkes, des deutichen 
Volles. Warum mußte der Oberpräfident in Polen alles ausführen, was die 
Polen wollten? Warum fonnte H.rr von Gerladh, der Vertreter der deutichen 
Regierung in Pofen nad) der Revolution, erllären, er fann nur das gutheißen, 
was die Polen wollen? Warum mußte die fozialiftiihe Regierung nachher in 
Berlin erflären, das, was in Vojen gefchieht, fei immer noch beifer al mandes 
andere. Das. tonnte gefchehen, weil die Polen organifiert waren und der 
Negierung und allen ihren Bertretern ihren organifierten W.len Ddiftieren 
fonnten, während daS Deutihtum nicht organifiert war und nicht imftande 
war zu fagen: „Wir wollen, daß Du das und das für das Deu:fhtum tuft!* 


Da gilt es, Wandel zu fchaffen. — In legter Stunde Wandel zu 
fhaffen! Diefe Stunde iſt angebroden! Sept, wo die Polen und Bolfche 
wijten die Hand ausftreden nad) Pofen, nah Dit- und Weitpreußen und nad 
Sclejien, da gilt e8 nocdy einmal, daß das Deutihtum fi zufammenraffe und 
erlenne, was e3 für eine K:aft hat, wenn e$ einig und gejdhloffen ift. 

Meine Damen und Herren! Was ich hnen predige ift nicht Revolution, 
fondern das ift Ausnußung der Freiheit, das bleibende Gute, das uns die Re 
volution neben vielem vorübergehendem Echledhten gebradht hat. Denn die 
Revolution hat uns gebradit, daß jeder 20jähıige, ob Mann oder Frau, glei 
fei vor dem Gelege. Sie hat uns das Nıcht gebradjt, mitzumirfen an der Bolitif 
in einem Maße, daS wir nötig haben, um uns zu behaupten, d. h. durch alle 
Drgane der Dffentlichkeit frei unfere Meinung und unfern Willen zu äußern 
und zur SenntniS der Regierung zu bringen. Denn nur wenn die Regierung 
zu jeder Stunde und genau weiß, wa8 da8 Bolf will, fann fie im Sinne des 
Volkes handeln. Da es aber unmöanlidh ift, daß jeder einzelne fi an die Re 
gierung wendet, bedürfen wir der Organiſation, des Zuſammenſchluſſes, der 
Einigfeit, der Vereinigung des Volkes. 

Hier im Diten, wo uns der äußere Feind in Beftalt der Polen, und ber 
innere Feind in Geftalt der Anarchie, der Hungerönot, die ung droht, entgegen- 
getreten ift, bier im Often wird e3 ung leichter eine Bafis zu finden, als in 
den Weitgebieten, mo die Zeutfhen einander um mirtichaftlidhe Fragen bie 
Köpfe eınjhlagen. Wir haben bier daS deutiche Land gegen die Polen zu 
verteidigen. Wir fönnen eS nur verteidigen, wenn wir einig find in dem Willen, 


® 


Wozu brauden wir die dentfchen Dolfsräte? 189 


bie Regierung zu zwingen, daß fie die Mittel zur Verfügung ftelle, daß das 
Zand verteidigt werde. 

: Meine Tamen und Herren! Aus diefem Grunde fordere ih Sie heute 
auf, wie ich e8 daS legte Mal, nahdem Ste die deunfche Vereinigung bier ins 
Leben riefen, getan babe, bilden Sie heute für die Stadt Nalel und in den 
Drten der Nahbarichaft, jomeit Sie bier vertreten find, beutfche Vollsräte. 
Der Name jagt e8 Jhnen. An Räten verfammeln fi Männer und Frauen 
des Nertrauens aus allen Zeilen der deutihen Bevölferung. ES kommt nicht 
auf die Barteirihtung an, es lommt ausjchließlih darauf an, ob der Mann 
oder die Frau, die Sie in den Bollsrat Hineinwählen, aud) nach ihren 
moraliſchen Eigenfchaften geeignet find, die SSntereflen des Deutfchtums zu ver- 
treten. Es iſt ganz gleichgültig, ob der Mann Sozialdemofrat ift, oder ein 
Ronfervativer oder ein Zentrumsflerifaler, oder Jude oder Ehrift, wenn er fi 
nur al3 Deuticher fühlt und als Deuticher bereit ift, alle Mittel anzuwenden, 
um die deutfche Erde, den deutichen Befig zu verteidigen. 

Sch muß bier zwei Worte über Parteien einfügen. 

Meine Damen und Heıren! Ahe, die wir bier find, ob Arbeiter oder 
Unternehmer, wir find im Grunde unferes Herzens do in erfter Linie deutidh 
und ich alaube, daß jeder Arbeiter, der fozialdemofratifch gewählt hat, es 
mir hölifch übel nehmen würde, wenn id an feiner guten deutfchen Gefinnung 
zweifeln wollte. Und jeder Kaufmann, jeder große Kapitalift, der jüngit für 
die deutfche demofratifhe Partei gewählt hat, würde e8 mir ebenfo übel nehmen, 
wenn id ihm fagte, e8 mangelte ihm an nationalem Bemwußtiein, lediglich weil 
er für diefe Partei der großen internationalen Kapitalintereffen geftimmt bat. 

Auf die Stellung des einzelnen zu beftimmten Parteien kommt es in 
unferm Zufammenhange nicht an, fondern darauf, wie das einzelne Partei- 
programm von unjerm befonderen Oftmarfenftandpunft au8 gewertet werden muß. 

Unfer Standpunft muß demofratifch in dief 8 WortS innerfter Bedeutung, 
d.h. völfifch fein. Damit ift noch nicht gefagt, daß wir alles das anerfennen - 
müffen, ma8 uns von einzelnen Parteien, die da3 Wort Demokratie auf ihre 
Tahne geichrieben haben, als Drmofratie vorgefegt wird. Wir wollen nicht 
um des Prinzips willen demofratifch fein, fondern wegen desNutens, ben das Prinzip 
für das deurfhe Volt bei weifer Anwendung mit fih bringt. Die moderne 
Demotratifierung des Staatslebens ift vielfach gleichbedeutend mit defjen ftärferer 
Zentralifierung nicht zum Eegen, fondern zum Schaden des Volles. Diefe 


-Zentralifierung lfommt bei der Barlamentarifierung des politifchen Lebens 


ebenfo zum Ausprud bei den Negierungdorganen wie in dem 
mwacdjenden Einfluß der politifhen Parteien, die die Regierung zu bilden 
baben und die ihren Einfluß über die Zentralifierung hinweg tief ein- 
fchneidend auf die Provinz ausdehnen. rüber fonnte ein tüchtiger Staats⸗ 
beamter mwenigftens bis zu einem gemiflen Grade paritätifch die Intereffen der 
Allgemeinheit gegenüber der Zentraltegierung vertreten. Fortab ift er Höriger 
der gerade berrjchenden Partei, wenn nit eine um fo feiner ausgebildete 
Selbftoverwaltung Einfluß auf die örtlichen Negierungsorgane geminnt. &8 
liegt im felbitfüchtigen Wefen der politiihen Partei, daß fie alle Verhältniſſe 
zunächſt im Intereſſe ihrer felbft zu beeinfluffen fuht. Ein ftarfes, aber aud 
nur eın ftarfes Königtum Fonnte die alten Parteien biS zu einem gemwifjen 
Grade im Zaume halten. ine parlamentarifhe Regierung tft dazu nicht 
imftande, weil fie ja von der Gnade der Partei lebt. Der Kampf der Parteien 
um die Macht zwingt alle Parteien, bei fih auf die ftrengfte Difziplin zu 
balten, was für uns draußen im LZande bedeutet, daß wir ohne zu murren 





190 : Wozu brauchen wir die deutfhen Volfsräte? 





uns den Barteiparolen in Berlin bi8 zur näcdjiten Wahl unterwerfen müffen! 
Wie jehr unfere eigenen lofalen ntereffen unter folder Zentralifarion leiden 
fönnen, mögen Sie an dem Beijpiel der Partei erfennen, die fich die deutfchdemo- 
fratifche nennt. Die hat ein großes und gemiß fehr fhönes Ziel, den internationalen 
Berlehr Hochzuhalten, das große internationale Gefchäft Hochzubringen, felbjtverftänd® 
lich zuNug und Srommen des Baterlandes. Aber diefes große internationale Gejhäft 
fann nur geführt werden von großen Sapitalien, von Niefenbanten, von den 
Riefenunternehmungen des Verkehrs, der Hapag, der Deutfhen Bank ufw. - 
Herr Müller und Schulze Tann darin nur als färglih befoldeter Angeftellter 
mitwirten. 3 tjt felbjtverftändli: wenn heute die große Berliner Bankwelt 
mit ihren Milliarden nit Amerifa und, Franfreihd, England und Rußland 
gute Geichäftsperbindungen unterhalten will, muß fie an anderen Stellen 
dafür Konzelfionen mahen. ch erinnere Gie an das Wort, das 
der demokratiſche PBarteigänger v. Gerlah, der Minijterialdireftor gefagt 
dat: Wir find in erfter Linie Demokraten. Wir fehen in erfter Linie 
darauf, daß demokratifch Necht gegeben wird. m übrigen, wenn die Polen 
beflere Bolitifer find wie die Deutihen, dann find fie e& eben, dann haben fie 
da3 Necht über die Deutfchen zu herrfhen. Und ein anderer Angehöriger der 
PBarteifagte: „Wirkönnen uns doc) nicht wegen der paar Tauſend Oſtmarkendeutſchen 
unjere große Weltpolitif vermafjeln lafjen.” Das find einzelne Ausfprüche, die 
bedeuten, daß zwar nicht der einzelne Angehörige, wohl aber, daß die Partei 
bereit ift, um die großen internationalen Intereſſen durchzuſetzen, Konzeſſionen 
zu maden auf nationalem Gebiet. lhnlich fteht e3 mit der Sorialdemofratie. 
Mie Sie wiljen, fteht die Sozialdemokratie auf dem Boden: „Broletarier der 
Welt vereinigt euch.“ Sie wollen den Kampf führen gegen den Kapitalismus, 
gegen die bürgerlihe Konftruftion des Wirtfchaftslebens. Anfolgedeflen fommen 
fie ganz logifh dazu, daß fie fagen, uns find die taufend Stimmen von PBolen- 
und — Franzofenarbeitern wertvoller, als taufend Bürgerftimmen. nfolgedeffen 
fonnte aud) in Bromberg gejagt werden, in Weftpreußen ift e8 nadhgemiefen 
und in Allenftein ift e8 durchgeführt worden, daß die Führer der Sozialvdemo- 
fratie mit den ‘Bolen paltiert haben. Speziell für Allenitein liegen die Dofu- 
mente vor, daß die Führer der Sozlaldemofratie in den dortigen U. u. ©. 
Näten fich bereit erflärt haben, die großpolnifchen Ansprüche für den Bezirk 
Allenftein anzuerfennen, fofern bie polnifchen Bewohner ihren Stimmzettel den 
fozialdemofratifhen Sandidaten geben. ch bin überzeugt, daß fein deutfcher 
Arbeiter diejen Pakt gut geheißen hätte, weil er weiß, daß er die Auslieferung 
der deutfchen Arbeitsftelen an die Polen bedeutet. Sie fehen, wie über bie 
Köpfe der Wähler hinweg von den großen: Barteiorganifationen eine Bolitif 
gemadt werden fan, die durchaus nicht nad den Wünfchen der Bevölkerung 
ift. Ich kann mir nicht denken, daß ein Arbeiter in Bromberg oder Nafel da- 
° mit einverftanden wäre, daß wir bier, um ein paar fozialdemofratifche Stimmen 
mehr zu befommen, deutjche atereffen opfern. Denn wenn fie deutiche nter- 
effen opfern, dann opfern fie auch Arbeiterintereffen und zmar deutjche Arbeit-r- 
interffen, um einer Theorie, um einer “dee willen, die nur in fernfter Zeit 
vielleicht einmal Wirklichkeit wird. 

Wer Volitif treiben will, muß mit der Wirklichkeit rechnen. Wir treiben nicht 
Politik, daß es nach taufend Kahren auf der Welt jchöner werde, fondern damit 
es und und unferen Kindern gut gehe. Weiter hinaus fönnen wir nicht denfen. 
Das ift prafiifche Bolitif und deswegen fuchen Gie, wenn wieder einmal 
Wahlen ausgefchrieben werden, fi) Nedhenfhaft zu geben, wie fteht die Partei- 
leitung, nicht nur der einzelne Kandidat, zu den lofalen Fragen, zu dem, was 


Don brauchen wir die deutfchen Dolfsräte? 191 


— hier auf der Seele brennt und dazu gehört ‚au hr Verhältnis zur 
olenfrage. 

Wie ftehen wir ſelbſt zur Polenfrage? 

Daß es eine Zeit geben wird wie die vor dem Kriege, in der die Polen 
anders behandelt werden durch das Geſetz wie die Deutſchen, das ſcheint mir 
ausgeſchloſſen. Schon im vorigen Jahre hat der Miniſter des Innern 
Drews im Herrenhauſe geſagt: Nachdem die polniſchen Soldaten an 
unſerer Seite uns gegen die Welt von Feinden geholfen haben, wäre es eine 
Ungerechtigkeit, ſie von der Anſiedlung in ihrer Heimat auszuſchließen. Schon 
die alte Regierung war bereit, die Geſetze der Bodenpolitik, die die Polen 
hinderien in allen Gebieten Land zu erwerben, fallen zu laſſen. Sie ſollten 
uns gleich geſtellt werden. Ferner war in Ausfiht genommen, den ‘Polen 
eine gewiſſe Autonomie in den Oriten einzuräumen, wo ſie die Oberhand 
hatten, alſo in Gebieten, wo 75 Prozent der Bewohner Polen find. Da 
wollte man dazu kommen, daß der Oberbürgermeiſter und der Landrat aus 
polniſchen Kreiſen genommen würden. Es war alſo der Verſuch eines fried⸗ 
lichen Zuſammenlebens zwiſchen den Polen und Deutſchen eingeleitet. Damals haben 
die beiden Vertreter der Polen im Abgeordnetenhaus Trampczynsfi und Korfanty 
gefagt: das genügt und nicht, wir danken für Diele Gefchenfe, wir verlangen 
ganz etwas anderes. Einige Monate fpäter ift dann von der polnijchen Prefje 
verfündet worden, daß fie den Zulammenfhluß der gefamten Gebiete der 
Dftmarf, eines großen Teils von Dftpreußen, Pofen und Lberfchlefien mit 
Nuffiih-PBolen und Galizien verlangt, und deren LZostrennung vom Deutſchen 
Reiche. Die Polen haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht, benn nad 
einem ſolchen Kriege würde ſich ein beſiegtes deutſches Volk dieſe Amputation 
ebenſo wenig gefallen laſſen wie ein ſiegreiches. Auch die Entente, mit Aus—⸗ 
nahme Frankreichs, denkt nicht daran, den Polen heute das Gebiet, das ſie 
beanſpruchen, zu geben. Präſident Wilſon hat in ſeiner berühmten Rede, in 
ſeinen vierzehn Punkten ausdrücklich geſagt, daß nur unzweifelhaft polniſches 
Land zu einem Staat zuſammengefügt werden möge, er hat nicht geſagt, daß 
es gemacht werden müſſe, ſondern man ſollte es ins Auge faſſen. Man ſollte 
es verſuchen möglich zu machen. Punkt 13 des Wilſonſchen Friedensprogramms 
vom 8. Januar 1918 lautet: 


„Ein unabhängiger polniſcher Staat, der die von einer unzgzweifelhaft 
polniſchen Bevöl kerung bewohnten Länder umfaflen follte, der einen geficherten, 
freien und zuverläffigen Zugang aur See befigt und defjen polüifhe und wirt* 
fhaftlihe Unabhängigfeit und territoriale Unverleglichfeit durch internationalen 
Vertrag garantiert jein müßte, follte errichtet werden.“ 

Und dann bat Wilfon feine Worte erflärt und bat gefagt, es Täme aud) darauf 
an, wer die Kultur in Land getragen bat und in melden Zulturellen und 
wirtihaftlihden Zufammenhängen das Land zu den Nachbargebieten fteht. mn 
MWilfons Erläuterungen zu feinem Friedensprogramm vom 12. Sebruar 1918 
beißt es: 
„2. && wird gefordert, daß Bölfer und Provinzen nit don einer Staat?oberhoheit 
in eine andere herumgeſchoben werden, ald ob e3 fidh lediglich um Gegenftände oder 
Steine in einem Spiel handelt, wenn aud in dem graßen Epiel des Gleihgewidhts 
der Kräfte, da3 nun für alle Zeiten dißfreditiert ift; daB jedod 
3. jede Löjung einer Gebietefrage, die durch diefen Srieg aufgeworfen wurde, im 
nterejle und zugunften der betroffenen Bevölterungen und nicht al3 ein Teil eines 
bloßen Ausgleichs oder —— der Anſprüche rivalifierender Staaten getroffen 
werden muß.“ 
Nun, meine Damen und Herren, die Kultur, die Arbeit, die wirtſchaftliche 
Erſchließung der Provinz Poſen, Weſtpreußen und Oberſchleſien iſt deutſches 


192 Wozu braudyen wir die deutichen Dolfsräte ? 


Werl. Gelbit die erjten Geiftlichen, die hierher gefommen find, die das 
fatholiihe ChHriftentum hierher getragen haben, da8 waren beutfche ‘Mönche. 
Den Negeviftrift urbar gemacht, die Siümpfe, die von der Eifenbahn bis weit 
an die Berge jüdlich gingen, troden gelegt und in ein fruchtbare Land um—⸗ 
gewandelt, da8 haben wir gemadt, daS haben die deutjchen Soloniften, das _ 
haben “shre Väter und Großväter gemadt. Vie Kanäle hat der große König 
Hriedrich der Zweite angelegt, die ganzen Eıfenbahnanlagen, das Genofjenjhafts- 
wejen und Schulwesen, unfere wunderbare Eifenbahn, unfere wunderbare Poft, 
unjer wundervolle Geridgt, wer hat dad gemadhı? Das ift deutliche Arbeit, 
deuticher Geift, deutfcher Fleiß, das ift nicht polnifhe Kultur. Die polnifdhe 
Kultur können Sie fehen in Galizien. Da hat der Bole fi frei entwidelt. 
Wer von hnen in Galizien gemefen ift, und viele Taufende von .uns 
haben da8 Land fennen gelernt, der wird es mir beftätigen, daß e8 da ver- 
fludht anders ausfieht al bei und. Dort war da3 polnifhe Volt frei. Da 
war feine ruffilche Herrfchaft, fondern da mar polniiche Herrfchaft; fie hat dort 
nichts zumege gebradt. Ste hat den polnıfhen Bauern unterdrüdt.. Wir 
haben in PBofen auf zehntaufend Seelen einen Analphabeten, in Galizien gibt 
e8 auf hundert Seelen einige vierzig. Bas fit polniiche. Wirtiehaft und das 
ift deutihe Kultur. ES wird gejagt, wir hätten die Polen bier fchledht be» 
Dandelt und unterdrüdt. Ach Ieugne e8 gar nidt; wir, d.h. die preußiiche 
Regierung, bätte in manchen Dingen glimpflicher mit den Polen umipringen 
Lönnen, aber nur mit den Polen allein? Haben Ste, haben wir nicht alle 
unter dem Zentralismus und Bureaufratismus und zulegt unter der Kriegd- 
wirtichaft gelitten? Gemwiß, wir find auch harte Herren gewejen, wir haben 
eine harte Yauft, aber wir haben fie rei gemacht, wir haben fie befähigt, fi 
biefe Organıfation zu fchaffen, die wir jegt an ihnen bewundern müfjen, bie 
nationale. Wir haben ihnen einen Mittelftand geichaffen durd Schulzmang 
und einen glänzenden Aufftieg in der Wirtihafl. Wenn Sie nad Waridan 
geben, werden Sie in bürgerlihen Familien faft nur deutfche und jüdifhe Namen 
finden und faum einen Polen. In Preußifch-Polen fehen Sie die Entwidlung, 
bie der preußifhe Staat den Polen gegeben bat. Gie ift fo außerordentlid, 
daß die Polen fich, geftügt auf fie, ftark genug fühlen, uns aus dem eigenen 
Lande zu jagen. Wir brauden ung nichts vorzumerfen und nicht8 vorwerfen 
zu laffen. Sind wir hart gemefen, fo waren wir aud) treu und ebrlih und 
wollen e8 auch weiterhin bleiben. on. 

Der Pole wird indefjen in diefem Augenblid Taum dazu gezwungen 
werden Fönnen, eine befondere Achtung vor uns an den Tag zu legen. Das, 
wad um uns ber vorgeht, die. Streit jm ganzen beutjchen Reich, diefe Un- 
bändigfeit in einzelnen Gebieten, diefe Selbitherrlichfeit und Die Schwäche anderer- 
feit8 der NRegierungsorgane, die maden ein fo Mäglicyes Bild, daß man mwirk 
ih niemanden veranlaffen kann, davor Achtung zu haben. Die Achtung 
lönnen nur Sie ihm beibringen im Laufe der Zeit durch eine entiprechende 
Drganifatton, durh Zufammenfhluß und durd) Arbeit am Boll. Werfen Sie 
bie fulturlofen Schladen des Sozialismus, vor allen Dingen den nternatio- 
nalismus zur Tür hinaus und begnügen Sie fi mit dem Edlen und Guten, 
was er enthält. — Erinnern Gie fi, daß Sie alle Deutfhe find, Sie alle: 
die Arbeiter, mittleren und hohen Beamten, Bauern und Majoratsbefiger und 
daß Sie Rechte an einander haben und Pflichten! | 

Hier in der Provinz Bofen Haben wir zmei große Aufgaben, die fiber 
den Augenblid hinaus Sie alle bejdhäftigen werden. Die eine Aufgabe, bie 
fi) uns allen täglich entgegendrängt, das ift die Wieberherftellung einer ge- 


Wozu brauchen wir die deutfchen Dolfsräte? 193 





fitteten Yugend. Meine Damen und Herren! Cchütteln Sie nicht den Kopf, 
erinnern Gie fih der Väter und Mütter, die ihre Söhne mit fechdzehneinhalb 
oder fichzehn Jahren vor fünf Jahren haben in den Krieg ziehen lafjen. 8 ift 
dies ein Alter, wo man fonft den jungen Dann in eine jehr forgfältig ausaefuchte 
Lehre fchidt, in einen befonderen Vertrauensfreis, weil e8 die Zeit der Charalfter- 
bildung ift. Diefe Zeit ift maßgebend für die ganze Enimidlung des Menfchen, 
für das ganze Leben. Leder Vater und jede Mutter merden mir dies beftärigen. 
Und, meine Damen und Herren, der Krieg ijt fein guter ugenderzieher, er 
tft ein Zerftörer, ein Erpreffer und Vernichter an aller Menfchlichfeit. Er demo- 
zalifiert nicht nur die Jugend, fondern aud) die Alten. Wenn heute unfere 
Armee nichts ift, und wenn die jungen LZeute, die heute den Goldatenrod 
tragen, zum großen Teil fein Pflichtbemußtfein haben und nicht willen, was fie 
dem Vaterlande und ihrer engjten Hrimat fehulden, jo ift daran bie Demorali- 
fterung jchuld, die der Krieg gebracht hat. Wenn wir ein gefundes Bater- 
land haben wollen, jo gehört dazu, daß fib die Väter und Mütter zufammen- 
fegen in einen Kreis und ohne Rüdfiht auf ihre Parteizugehörigfeit beiprechen, 
was made ich mit meinem Jungen? Wie lann ich dem Jungen helfen? Und 
e3 gibt Mittel, der Jugend zu helfen. Wir haben den Ausbau der Schulen, 
wir haben die Elternräte bei den Schulen, wo die Magifter zu Rate gezogen 
werden können. Wir haben die Arbeit überhaupt in der Provinz, in Lofalen 
Berhältniffin und wir haben au) das gute Beifpiel untereinander. Tas fann 
‘onen feine Parteiorganifation bringen, fein nody fo fein arbeitender bureau- 
tratifcher Apparat, Teine noch fo fein ausgebildete Technil, — das fönnen nur 
Sie felbit, jeder einzelne für fi) und alle zufammen an einem Dit! Das ift 
eine Aufgabe, die Sie im Rahmen der deutichen Nereinigung zu leiften haben 
und die Sie mit Hilfe der Vollsräte erfüllen fönnen. 

Die zweite Aufgabe ift mehr mirtfchaftlicher, fozialer Natur. Das ift die 
Frage der Landoerforgung unferer Leute, die befonderd jebt nad dem mirt- 
Ichaftliden Zufammenbruch brotlo8 umberirren werden und feine Beichäftigung 
finden. Wir müfjen verhindern, daß Hunbderttaufende von Männern den Wander 
ftab ergreifen und nach Amerifa und Sibirien auswandern, um dort als Kultur- 
bünger für [tembe Nationen zu dienen. die unfere Kinder alsdann wieder überfallen, 
wenn fie fi wie wir hoffen, von den Nöten der$eßtzeit erft eben erholt haben werden. 
Schon jegt werben die Japaner für großes Geld unter den Marineoffizieren und 
Mannjgaften an, und verfuhen Menichen hinüber nad Japan zu reiten, um fidh 
dort eine Marine nach deutfhem Mufter zu fchaffen, wie wir fie vor dem 
Kriege hatten. Das find Gefahren, die uns drohen, und die fann feine Re- 
gierung und fein Parteiregiment heben, fondern nur das Volk in: feiner Gelanıt- 
beit. Die innere Kolonifation, die Beichränktung des Großgrundbefiges auf ein 
Maß, wie es volfswirtichaftlic notwendig ift, das ift eine der brennenpditen 
Aufgaben, die jegt zu erfüllen if. Nun wird von Fanatifern geprediat, dab ' 
es von Dftpreußen bis nach LOberfchlefien fein Gut über taufnd Morgen 
geben dürfe. 8 gibt Gegenden, wo ein Gut unter taufend Morgen über- 
haupt nicht ertragsfähig ift, da8 weiß jeder Landwirtl ES gibt Produktions. 
gebiete für Getreide, Kartoffeln, Rüben, wo wir beim Grundbefi von fünf- 
taufend Morgen unbedingt feithalten müffen, wenn unfjere Vollögenofjen in der 
Snduftrie und im Handel nicht verhungern folen. Denn die Bauernmwirtichaft, 
mag fie noch fo Gutes leilten, fann uns nicht die Menge de3 Getreides produ- 
zieren, die daS deutihe Voll braudt. Wenn Sie an die Verfleinerung der 
Güter herangehen, dürfen Sie nicht ausgehen von dem Gefidhtspunfte, bier ift 
ein Gut von zebntaufend Morgen, das fchlagen wir Taput, eben weil es fo 


194: Wozu brauchen wir die deutfhen Dolfsräte? 


m — — ñ —ñ— —— — ——— —— — — — —— ———— —— — ——— 


groß iſt. Nein! wir ſehen uns den Mann an, der das Gut bewirtſchaftet. 
Und iſt dies ein Kerl, der auf ſeinem Poſten ſteht, der die Kraft und den Geiſt 
und die Energie hat, aus dieſen zehntauſend Morgen das Beſte herauszuholen, 
was für die Geſamtheit daraus zu holen iſt, dann mag er ſie behalten. Hat 
aber einer ein ſolches Gut und macht daraus Faſanenzüchtereien und Engländer- 
parf3 und läßt fie vermwildern, oder ift er unfähig, feine Kartoffeln im Herbit 
rechtzeitig herauszubringen, dann ift er eben unfähig, Ddiefes Gut zu bemirt« 
haften, dann muß er fort und darf durd) fein Sondergefe an der Scholle 
gehalten werden, während Hunderttaufende mit ihren Kräften brach liegen oder 
aendtigt find, in die gräßlichen Großjtädte zu ziehen. Das Gut mag an 
tüchtige Bauern aufgeteilt werden, beffer heute, wie morgen. Die Arbeit fol 
den Mann ehren, nicht der ererbte Befig! . Kleinfiedelungen müfjen wir haben. 
Wir müljfen danady tradhten, daß. eine große Anzahl von Gütern zerfleinert 
wird, aber wir wollen feinen Unfinn machen und feine Güter zerbrechen megen 
einer Theorie. Eine vorfichtige Ueberführung aus der großen Wirtichaft in Die 
bäuerlihe Wirtichaft, das ift der Weg, der allein uns ermöglicht, die Wirtfchaft 
einigermaßen aufrecht zu erhalten. Und eine foldhe Arbeit fann wiederum nidt 
die Zentrale allein leiften. Wir haben das hier in der Provinz Pofen ıge- 
‚jehen, wie eine Zentrale durch Gefege, die fie in Berlin gemacht haben, fchädlid 
auf die Provinz wirken fann, auf die Stimmung in der Provinz, wie fie ge 
wiſſe Zuſtände, die ſie beſſer machen will, verdirbt. Wenn es möglich geweſen 
wäre, vor dem Kriege die Anfiebdiungspoliut, die die Anſiedlungskommiſſion 
hier getrieben hat, in einzelnen Kreiſen zu betreiben und angepaßt an die 
einzelnen Berufskreiſe, es wäre nicht ſoviel Erbitterung gegen die Anſiedlungs- 
politik aufgekommen. Und das können und müſſen wir jetzt wieder gut 
machen. Sie müſſen ſich in den Deutſchen Volksräten, wo Gutsbeſitzer, die Grund⸗ 
beſitz abgeben ſollen, und Bauern und Arbeiter, die das Land haben ſollen, 
zuſammenfinden und über die Frage mal von allen Seiten reden können. Da 
werden Sie auch den richtigen Weg finden, ohne große Vergehen gegen die 
‚Stimmung und ohne Unredt gegen den Betroffenen das erreichen, der am 
beiten ift für die Bewohner Ihres SKreifes. ‚Selbftverwaltung| Selbit- 
bejtimmungsredt gegen Zentralifation] / 

Diefe beiden großen Aufgaben, die Gie hinausführen follen aus der 
beutigen Mifere, die Ertühtigung der Jugend zu dem Hodjitande, auf 
dem die Yünglinge ftanden, deren Leichen heute die Gefilde halb Europas 
deefen, und die innere Kolonifation, da8 werden die beiden großen Auf 
caben fein, die Sie al$ Deutihe Vereinigung in den Bolfsräten zu betreiben 
haben. Tas find die großen Aufgaben des Friedens. Ehe wir an fie mit aller 
- Kraft berantreten fönnen, müffen wir Frieden und eine gemifle Ordnung 
baben. Beides fehlt. Sept gilt es erit; das Land zu befreien, frei zu maden 
von den Folgen des Umfturzes und der polnifchen Revolution, und da empfehle 
id, wer heute nody eine Flinte tragen fann, der gehe und ftelle fi zur Ber 
fügung, damit bi$ zum Beginn der Aderbeftelung die Rojener Lande frei find. 
Schließen Sie fih zufammen, wie Sie das an vielen Orten fchon getan haben 
in den Bolfswehren und jaaen Sie unfere Feinde, mögen es polniihe oder 
deutiche Nuheftörer und Boljchemilten fein, aus dem Lande. . Sie werden die 
Orgenifation au) brauden, wenn aus den großen Städten, wo die Hungersnot 
vor der Tür fteht, Hungernde Leute das Land überfhmemmen werden. Achten 
Sie darauf, wie die polnifhe Geihilichkeit foftematifh ale Polen aus den 
neftlihen Synduftriegebieten bier in den Dften zieht. mn einigen Wochen 
werden wir eine “nvafion auf dem Lande von allen. mögliden Elementen 


Wozu brauchen wir die deutichen Dolfsräte ? 195 


zu erwarten baben, die aus dem. Weiten fommen und nidt3 zu effen 
baben. Auch daaegen müfjen mir gefiert fein. Wir müffen fie befchäftigen 
tönnen und fie zur Arbeit zwingen. Mer nit arbeiten mill, befommt 
auch nichts zu ellen. Um fie zur Arbeit zu zwingen, müfjen fie aud die 
Gelegenheit haben und die Gelegenheit Tönnen jene nur, geben, wenn fie einig 
ind unter einander. Unteriyägen Sie diefe Trage nicht, fondern überlegen Sie 
fih, ma3 daS bedeutet, wenn bier auf einmal die Stadt von 2—300 oder gar 
1000 bungernden Arbeitern überfhwemmt if. Dagegen Fönnen Gie fih nur 
fhügen, wenn Ste fih vereinigen, wenn Sie einander Hilfe leijten. Aber mit 
der Abmehr zugleich forgen Sie für Arbeitögelegenheit, fei e8 Megebau oder 
andere Arbeiten, die zu verrichten find. Aber ziehen Sie fi} hier fein Bettel- 
proletariat heran. Menn der Arbeiter ebenfo denkt wie der große Unternehmer, 
wo fie alle einig find, daß da3 deuijhe Volk erjt einmal gefund gemadt 
werden muß, dann brauchen wir aud) feine Bange für unfere Zukunft zu haben. 

Damit fomme ib zum Schluß. zu den eigentlihen Organifationsvor- 
{hlägen. Die Deutjche Vereinigung ift fein Verein im Sinne des Gefeges, es 
fol aud) fein Stammtifchllub werden. Meine Damen und Herren! ch mödte 
nicht, daß das Ergebnis meiner Rede das Aufblühen von zwanzig Stammtifchen 
in Nafel wäre, dann wäre ich furchtbar hereingefalen! Nein, icy mödjıe fagen, 
daß Die zwanzig in Nakel etwa vorhandenen Stammtifche fi} vereinigen mögen und 
auf.ehen in dem einen großen Beden eben der Deutihen Vereinigung. Yeder 
Deutiche über 18 Jahre gehört dazu und fühle fih berufen mitzuarbeiten. Die 
Arbeit fol derart erfolgen, daß Ste hier aus Jhrer Mitte heute für Nafel, nur 
für Nafel, nit für die Nakhbarorte, einen Volfsrat wählen. E3 ift bereits 
ein Arbeitsausfhuß vorhanden, der die Vorbereitungen für den Bollsrat und 
für Ddiefe Verfanumlung getroffen bat. Diefer Vollsrat muß fih zufammen-. 
jegen aus allen Teilen ber Bevölkerung: da muß der Mühlenbefiger fein, da 
muß der Banlier' fein, da muß der Arbeiter von der Eifenbahn fein, da muß 
der Beamte von der Poft fein, der Lehrer, da müflen die Frauen und die 
Mädchen vertreten fein. KH glaube nad der Entwidlung von Nafel; die ja 
ziemlidy lebhaft gemefen ift, werden Sie hier etwa. 15—20 Terjonen brauchen, 
die den Vollsrat Nafel bilden. Diefer VBollsrat Nalel wird ſich einen Obmann 
wählen und dieſer Obmann wird ſich einen Arbeitsausſchuß nehmen, der die 
laufenden Geſchäfte erledigt. Neben Nalel bitte ich die Herrn vom Lande, 
daß in allen Ortſchaften, wo rein bäuerlicher Beſitz iſt, ſolche Volksräte ge— 
bildet werden aus 3—5 Perſonen und meine Damen und Herren, wie ich 
ſchon das letzte Mal ſagte, nehmen Sie nicht nur die alten bewährten Herren 
dort hinein und laſſen Sie von denen die Geſchäfte wieder führen, ſondern 
nehmen Sie neben einem erfahrenen Politiler und Filhhrer auch junges Volk 
hinein, unſere jungen Leute, damit ſich die Jugend daran gewöhnt, eine feſte 
politiſche Arbeit für die Allgemeinheit zu treiben. Lernen Sie in dieſer 
Beziehung von der deutſchen Arbeiterſchaft, von den Gewerkſchaften mit 
ihrem Vertrauensmännerſyftem. Nehmen Sie die Frauen herein. Stellen 
Sie fſich nicht auf den Standpunkt, daß die Frauen doch nichts ver—⸗ 
ſtehen. Meine Damen und Herren! Ich glaube, daß viele ſehr große 
Politiker nur durch ihre Frauen ſo große Politiker geworden fſind. Alſo nutzen 
Sie den geſunden Sinn der Frau aus und nehmen ſie auch die Tochter 
hinzu. Das junge Mädchen über 18 Jahre braucht ja gerade nicht gleich 
Obmann zu werden. Sie ſoll mitarbeiten, den ganzen Betrieb der Politik 
kennen zu lernen. Nehmen Sie ſchließlich neben dem Bauern auch den 
Landarbeiter hinein, auch die Arbeiterin, die landwirtſchafilichen Beamten. 


196 Wozu brauden wir die deutfchen Dolfsräter 


Wo Güter neben dem Dorfe find oder wo Dörfer zu utsbezirken gehören, 
gehört auch eine Vertreiung des Großgrundbefiges hinein. Mit einem Wort: 
in .den deutſchen Volksräte müſſen alle ntereffen der deutfchhen Bevölkerung 
vertreten fein. ch bitte Sie, wenn Sie die Gründung in den einzelnen Drt- 
f&baften vorgenommen haben, diefe8 an den Dbmann des Vollsrates in Nafel 
mitzuteilen, der dann das Weitere an die Zentrale in Bromberg leiten wird. 
Es wird dann in der näcjftern Zeit eine Delegiertenverfammlung für den Streis 
MWirfi zufammen gerufen. Diefe Delegiertenverfammlung wird den Volsrat 
für den Kreis Wirfih zu mählen haben. Aus den Volfsräten der 12 Kıeife 
des Nepediftrift$ wird dann der Bezirlsvolfsrat ded NepediftriltS zufammen- 
treten in einer Delegiertenverfanmlung von aud) annähernd 100 bis 150 
Perfonen und die werden in Bromberg zufammentreten und fo werden wir in 
einer Pyramide aufgebaut, heraus aus den breiten Schichten des Volles bis 
- hinauf zur oberften Stelle einer Selbftvermaltung, einer deutfchen Gelbftver- 
mwaltung, die meben der polniihen befähigt ift, der Regierung. die ja aud 
unparteiifch fein muß, unfern Willen aufzuzwingen und fie zu inftruieren, das 
Sinterefie des Deutfhtums auch nachdrüdlich zu vertreten. E38 darf nicht wieder 
vorfommen, daß einfadh die polnischen Volfsräte die deutfche Negierung über- 
tumpeln und fein Teutfchtum vorhanden ift, das diefe Regierung fügt. Wir 
brauden die deutichen Volksräte, um die Bureaufratie ftark zu maden im deutfchen 
Sinne. Meine Damen und Herren! In wenigen Monaten wird fih vielleidt 
auch der Friede über Europa fenken, wenn wir dann bei den Friedensverhand- 
lungen aufireten lönnen mit 3000 deutichen Nollsräten aus der Provinz Pofen 
und ebenfo vielen aus der Provinz Weftpreußen, dann werden die Herren an 
dem grünen Tifchen in Paris doch merken, daß bier auch Deutfche find in der 
Provinz und daß es niht nur Polen gibt. Denn das ift das einzige Bild, 
das die Leute davon haben, daß fie fidh einbilden, eine deutſche Minderheit 
jäße bier und bedrüde die Polen. Wir werden tur unfere großen VBolfSräte 
zeigen, daß wir 850 000 Deutidhe in der Provinz Bofen find, die ihr Recht 
verlangen und daß es unmöglich ift, den Weltitieden anzubahnen, wenn das 
Deutihtum in der Dftmark unterliegt. Dann werden wir au) ganz im Sinne 
Wilfons dafür forgen Fönnen, „daß alle Klar umfhriebenen nationalen An- 
Iprüdhe die weiteitgehende Befriediaung finden, die ihnen zuteil werden Tann, 
ohne neue oder die Verewigung alter Elemente von Zwift und Gegnerfchaft, 
die den Frieden Europas und fomit der ganzen Welt wahrfjcheinlich bald wieder 
ftören würden“. Deine Damen und Herren! Wer fein Recht haben will, 
muß au den Mut haben, fein Recht zu fordern und zu betonen nad) innen 
und außen. Und deshalb nochmal, meine Damen und Herren: 


„Gründen Sie deutſche Volksrätel“ 





Der Rätegedanfe 197 





Der NRätegedanfe 


Don Dr. Morig Goldftein 


7 Nee dem Rätefyftem zu erfchreden und bei dem Rufe: „Alle Macht 
X den A.» und S.-Räten” davonzulaufen, ift vielleicht nicht ganz die 





richtige Art, fih mit einer politifchen “See auseinanderzufegen. 
a ie viele von denen, die dieſe aus den fochenden Tiefen der 
Say Revolution ungejtün empordrangende Neubildung als Erfindung 
| N )e3 Zeufelö oder mindeitens als rufjiihes Produkt mit Empörung 
ner haben ſchon ernithaft ihrem Wefen, ihren Urfahen und Diöglidy- 
eiten nachgefonnen? Wie viele find über rein gefühlsmäßige Abneigung hinaus 
zu ftihhaltigen Gründen gelangt? Allerdings muh eingeräumt werden, daß 
auch die radifalen Anhänger des Rätegedantens mehr mit dem Herzen als mit 
dem Beritand dabei zu fein fcheinen; das Wort Rate, an fich fehr friedlich, alt» 
modify und bureaufratifch Elingend, ift zum twerbenden Schlagwort und zur 
flatternden sahne der Revolution felber gemorden. Steineswegs aber ftimmen 
alle, die es enthufiaftiih im Munde führen, überein, was fie darunter verftehen 
wollen, und haben ebenfowenig wie ihre Gegner den Gedanken zu Ende gedacht. 
Sie, oder ihre Demagogijchen Tsührer, haben aud) gar fein nterefje, das zu tun; 
denn nicht auf fühle Stlarheit, auf brodelnde Überhitung fommt es ihnen 
an, Um fo mehr Srund haben wir anderen, den feltfamen Begriff vor das 
Tribunal der Bernunft zu ziehen, wir, die wir uns nit von ungebändigten 
Elementarfräften der Mafjenpjgche fortreißen laffen wollen, fondern uns 
bemühen, im tojenden Wirbel der Zeit unjeren Weg zu unjerem Ziele fortzu- 
[hreiten. Eehen wir ung aljo den NRätegedanten aus der Nähe an. Dabei wird 
ih zeigen, daß das Monjtrum, fowie wir es mit fejtem Griff in die Hand 
nehmen, da3 meilte von feiner Bedrohlichkeit, allerdings auch viel von feiner 
——— verliert. 

Es ſoll hier nicht gefragt werden, ob die Räte, die ſo zahllos und wie mit 
einem Zauberſchlag an Stelle der zuſammenbrechenden alten Ordnung entſtanden, 
oder vielmehr nicht entſtanden, ent eines Tages einfach da waren, — e3 foll 
nicht gefragt iwerden, ob diejfe Rate nüplich oder jhäadlih wirkten, noch aud), 
welches bei der Ablöfung der Iegitimen Bemwalten durch die Räte die Urfache und 
welches die ?5olge war: an fich betrachtet hatten die neuen DMachtgebilde gar nichts 
Revolutionäres, jondern waren hübjich parlamentarifch oder fonjtitutionell oder 
einfach demokratiih. Eine Gruppe von Menfchen jest ji eine felbitgewählte 
Leitung: diejes untomplizierte Prinzip lag dem fleinsten Arbeiter» oder Coldaten- 
vat genau fo zugrunde, tie es dem gejamten Teutjchland zu feiner gejeggeben- 
den Nationalverfammlung verholfen hat. Revolutionär war an den Raten ihre 
große Zahl, ihre Unabhängigfeit, der fehlende Zufammenhang, das unorganijche 
Nebeneinander Statt des dilziplinierten Stufenbaucs; alles dies notwendiger Aug: 
drud der Tatjache, ne der alte Staat in fi zufammengebrodhen war. Die 
tleinjten Zeile des großen Organismus begannen ein KEigenleben, fie riefen: 
Kette fich, wer fann! und liefen in alle Windridhtungen auseinander. Allein die 
Tatjache, daß die Splitter ſich ſofort irgendwie neu fonftituierten, Darin wurde, 
im allgemeinen Bertall, der Wille wirkjam, neu zu bauen, wieder zufammenzu= 
fegen. Die winzigen Einheiten, die fi organifierten und fortan glaubten, fich 
fouverän gebärden zu dürfen, waren doch immerhin Einheiten, Ktörperichaften: 
nicht Staub, fondern Steinchen, mit denen fich bauen lief. Die Art, wie fie id 
eine Zeitung gaben, war im erjten Augenblid durchaus unvolllommen, improdi- 
fiert; haufig handelte es fi um free Ufurpation; allein daß jeder Truppentail 
und jeder Betrieb nach irgendeiner Leitung ftrebte, daß man prinzipiell bereit 
war, fi), um zu ordnen, aufs neue unterzuordnen, darin lag in dem revolutio- 
nären Att jelbit die Überwindung der Revolution. 

Bon den Tagen der fpontanen Rätebildung trennt uns heute fchon eine 
siemlich lange Entwidlung. Sn das Regellofe, namentlich) in die Wahlhandlung, 


198 Der Rätegedanfe 





ift Regel gebradht worden. Die Mehrheit des Volkes begriff vafch, daß unfer 
Leben und Sterben davon abbinge, ob e8 gelänge, die ungezählten wilden Madıt- 
sentren zu einem Pyramiden der Über- und Unterordnung zufammenzu- 
tragen. Die Mehrheit fügt fi, ein paar Böstwillige und in ihrer Wirkung hödjit 
Bösartige widerjeken ji) und halten ihre Souveränität mit den Zähnen felt. 
Und hier entzündet fidy) nun der Sanıpf der Prinzipien, der zu dem Schlagwort: 
ee oder Rätefyftem formuliert wovden if. Worum handelt 
es ſich? 
Auch die Nationalverſammlung iſt Räteſyſtem: eine Gruppe von Men— 
ſchen, nämlich das geſamte deutſche Volk, ſetzt ſich eine ſelbſtgewählte Leitung. 
Ob man alle Deutſchen als eine homogene Maſſe betrachtet, ſie in lokale 
Gruppen (Wahlkreiſe) einteilt, in jeder eine feſtgeſetzte Zahl von Abgeordneten 
wählt und die Gewählten zu einer ſouveränen Verſammlung zuſammentreten 
läßt, oder ob man die Volksgenoſſen nach ihrer ang gliedert, in jeden 
Betriebe wählt, aus den Gemwählten Dur Wahl Ausichüfle abjondert, und diefes 
Berfahren fortfegt, big man einen fouveränen ART. erhält (deifen 
Mitgliederzahl der Nationalverfammlung ungefähr gleihlommen mag): das ijt 
ganz offenbar ein Unterfchied der Technik, aber nicht des Prinzips. Mit anderen 
Worten: nicht nur die Nationalvderfanmlung ift Rätefyftem, fondern aud) das zu 
Ende geführte, durch geordnete Wahlen entitandene und bis zu einer oberiten Sn- 
tanz aufgebaute Rätefyftem ift Parlamentarismus. . 

Hieraus folgt, daß das Entfegen fogenannter bürgerlicher Kreife vor dem 
Hätefyitem, ihre Angft, die Frage auch nur zur Diskuffion zu Stellen, reichlich 
lächerlich und übertrieben ift; nicht minder aber der Fanatismus der fogemannten 
Kaditalen, denen die Nationalvderfammlung ” wiel bedeutet wie Gegenrevolution, 
und die von der unbejchränktten Macht der A.- und ©.-Räte das Himmelreich auf 
Erden erwarten. Gäbe man ihnen heute die Macht, jo würden die radikalen 
Prediger und Zeloten zu ihrer Enttäufhung erleben, daß fie wiederum nichts 
anderes hätten, al3 was wir jett haben, namlich ein Parlament, da3 imftande 
ift, jehr viel zu reden, einiges zu paragraphieren nınd fo gut tvie gar nichts zu be- 
wirken. Und fie würden diefem fouveränen Rätelongreß genau fo Abfall, Ber- 
rat — gegenrevolutionäre Tendenzen vorwerfen wie jetzt der Verſammlung 
in Weimar. 

Wenn nun alſo zwiſchen dem üblichen Parlamentarismus und dem Räte— 
ſyſtem nur techniſche Unterſchiede beſtehen, ſo dürfen wir um fo geläffener Bor- 
züge und Nachteile gegeneinander abwägen. 

Im Kampfe des Tages heißt Räteſyſtem ſo viel wie Diktatur des Prole- 
tariats. Wo es als Staatsgrundgeſetz bisher verkündet worden iſt, da hat man 
es freilich durchgeſetzt auf dem Wege der Diktatur einer radikalen Minderheit. 
Zum Begriff des Räteſyſtems ſelbſt aber gehört ſolche Tyrannis nicht; oder 
wenigſtens nicht in höherem Maße, als zum Weſen des demokratiſchen Parla—⸗ 
mentarismus: wenn das geſamte Volk mit gleichen Rechten wählt, ſo gewinnt 
die breite Maſſe, alſo die Beſitzloſen und Ungebildeten, das Ubergewicht, und übt 
inſofern über die beſitzende und gebildete Minderheit eine durchaus legitime 
Diktatur aus. Wenn trotzdem nicht der einfache Land- oder Fabrikarbeiter den 
Weimarer aloe beherrfcht, fo liegt das daran, dab aud da8 Proletariat 
nicht einfach den PBroletarier wählt, fondern den durdy die Gabe des Nedens und 
Schreibens, durch ntelligenz und daher meilteng auch) durch Bildung bervor- 
ragenden Genoffen. Alle diefe Möglichkeiten liegen aber au) auf dem Grunde 
des durchgeführten Rätefyftens. Natürlich wird dabei vorausgefeht, daß nicht, 
wie e3 hier und da gefordert worden ift, das Wahlrecht abhängig gemacht wird 
von der Jugehörigfeit zu einer der Linfsparteien und fogar von einer gewillen 
Mindeftdauer diefer Zugehörigkeit. Tas hieke einfach Aufhebung des allgemei- 
nen Wahlrechts und gehörte unter die mancherlei Vergewaltigungen, die jeßt 
von gewiſſer Eeite an die Stelle von Politik gefeßt werden, nicht aber zum Wejen 
des Räteſyſtems. Ganz ohne Bedingungen freilich geitattet es die Wahl nidt; 
3 verlangt vom Mähler, daß er arbeite und Daß er als arbeitender Menfch einer 
Berufsorganifation angehore. 


Der Nätegedante 199 








‚ „Damit Haben wir den Grundgedanten des Räteiyftens bezeichnet: Die 
Polen Rechte find bejchränkt auf die Arbeitenden, und die einfachite politifche 
inbeit, aus der die ftaatlihen Madtfaktoren aufgebaut werden, ift die Arbeits- 
jtätte. Das ift nun abermals nicht jo revolutionar, nicht einmal fo neu, wie es 
klingt. Faßt man den Begriff Arbeit tweit genug, fo gehört zu den Wahlberedh- 
tigten einfach twieder das ganze Volk, mit Ausnahme einer Kleinen Zahl ausgemad- 
ter NichtSteuer und Parafiten, die hier und da im Lande zerjtreut wohnen und 
mit ihren Stimmen am Wahlrefultat fo gut wie gar nichts ändern mürdeıt. 
Denn joldher, die wirklich nur von den Zinfen ihres Kapitals leben, gibt e3 ja 
doc) tvohl nur herzlich wenige und een nicht annähernd fo viele, wie dema- 
gogijche Heber ihren leichtglaubigen Zuhörern vorreden. Ein ganzes politisches 
Spitem nur auf diefen Schwarm en zuzufchneiden, lohnt fich wahrhaftig 
nicht; ganz abgejehen davon, daß der Hieb danebengeht. Oder glaubt man, der 
behagliche Verzehrer feiner Renten werde fi) dadurd) zu produftiver Arbeit er- 
sieben lafjjen, Daß er jonft nicht wählen darf? Er wird um eines forgenlojen 
und bequemen Genießerdafeins willen gern auf alle Arten von Wahlrecht ver: 
jichten. Dabingegen wird e8 feine Miühe machen, da8 Parafitentum mit gejep- 
— Maßnahmen wie Erbſchaftsſteuer Verbrauchsbeſchränkung zu be— 


en. 

Der Gedanke alſo, die politiſchen Rechte auf die Arbeitenden zu be— 
chränken, iſt, theoretiſch genommen, durchaus nicht vevolutionär. In der 

raxis freilich ſtellt ſich die Sache ein wenig anders dar. Zunächſt hätten die 
Berufsgenoſſen, die dauernd in großer Zahl beieinander find, die ſich verſtän— 
digen und einen Geſamtwillen kriſtalliſieren können, das politiſche Ubergewicht 
über andere, die nur in kleinen Gruppen oder vereinzelt arbeiten. Das tägliche 
Zuſammenſein in Maſſen iſt aber beſchränkt auf die großen Fabriken, und ſo geht 
mit dem Rateſyſtem die politiſche Fuührung an die induſtriellen Betriebe mit ihrer 
großſtädtiſchen und meiſt radikalen en über. Dies ilt der Grund, 
warum praftiich Das Räteſyſtem für den Augenblid eine NRadifalifierung be- 
deutet. Würde e8 zu einer dauernden Staatseinrichtung gemadt, jo fahen Jich 
die anderen Berufe gezwungen, fich ebenfalls zu politiihen SKtörperjchaften zu= 
menzufchliegen, und in dem Maße, wie das gelänge, hörte die Führerrolle der 
triebe allmählich auf. 

Aber aud) font macht der wunderfchöne Grundfaß, daß wer nicht arbeitet, 
feine politifchen NRechte haben foll, allerlei Schwierigteiten. Zunädjt wind man 
diefe Maßregel nıtr gegen folche anwenden dürfen, die nicht arbeiten wollen, nicht 
gegen die, Die nicht arbeiten können. Zrauen ji le politifchen Sydealijten zu, 
Daß fie das immer ficher unterfcheiden? Fürdten jie nicht, daß unter dem 
Schutze der Arbeitslojenfürjorge, der Snvalidenverfiherung und jo weiter ein 
Too von Gimulanten gezüchtet wird? Die HRaditalen pflegen an den im 
a guten Menichen zu glauben; bei ihnen wind aljo diefer Einwand nicht 
berfangen. 

Aber nun fommt eine zweite Trage, eine wahre Dolktorfrage: Was beißt 
arbeiten? Urfprünglich ift natürlich gemeint: mit der Hand arbeiten; der „Ar- 
beiter” im bejonderen Einne des Wortes fol die Macht in die Hande befommen 
an Stelle des Bürgers. Almählich gab die radifale Theorie dann vor der Wirk— 
lichleit nad. Erjt famen die armen fleinen Beanıten und Schreiber hinzu, dann 
die leitenden und geiftigen Berufe aller Art, und heute räjonniert man: jeder, 
der etivas Nüpliches leijtet und jtch jelber jein Brot verdient, ilt Arbeiter. Echt 
ihön! Wenn alfo Herr Müller einen Frifeurladen bejigt, fich drei Gehilfen halt, 
die feine Stunden bedienen müfjen, und jelber fid) darauf bejchräntt, die Aufjicht 
zu führen, das Geld nachzuzählen und die Säfte zu unterhalten — aljo jyite- 
matiſch zu faullenzen: fo bleibt er dennoch ein Arbeiter und behält feine politi= 
hen Rechte. Wenn dagegen Schopenhauer zehn Syahre lang über einem philo: 
ophifchen Eyftem grübelt und wenn ihm dieje Stonzentvation ermöglicht wird 

uch den gludliden Zufall, I fein Zater ihm ein Vermögen hinterlafjen hat: 
jo ift er fein Arbeiter und genießt keinerlei politifche Rechte. Und wie wııd man 


200 Der Rätegedanfe 





die Hausfrau, die fih mit Wirtichaft und Stindern faft zu Tode vadert, ficher 
en wollen von der Bierpuppe, die dem Namen nad) zivar ebenfalls den 
Haushalt führt, in Wahrheit aber jich vorn und hinten bedienen läßt und ihren 
Tag, verwöhnt und anjprudhspoll, mit Nichtigfeiten totjchlägt? 

Der Gedanke, die politifchen Rechte von der Arbeit abhängig zu machen, 
Icheinbar jo gerecht und plaufibel wie möglich, Trankft an derfelben Schwäche tie 
die fogialdemofratifche Theorie überhaupt: Arbeit und Arbeit wird als gleich ge 
‚rechnet. Eine Stunde Arbeit ift eine Stunde Arbeit; acht Stunden Arbeit jind 
achtmal fo viel Arbeit. Arbeit und Arbeit find aber jehr verichiedene Dinge. 
Der eine leijtet in einer Stunde das Hundertfache von dem, was der andere In 
acht Stunden zumege bringt. Die mechanifche Arbeit eines Steintlopfers und die 
geiltige Arbeit des Erfinders find überhaupt nicht zu vergleichen; und die werk 
vollite Zeijtung, die es gibt, die jchöpferifche “dee, Taßt fiy nicht erarbeiten. Ar 
beit ijt feine meßbare Größe, wie eleftriicher Strom. Und darum find alle pols 
tifchen und wirtichaftlichen Shyfteme, die ji auf einer mechanischen Abjchagung 
der Arbeit aufbauen, ganz unzulänglich und tief ungereddt. Dieſe Tatfache, die 
ihren Grund bat in der Begrenztheit der menschlichen Natur, bildet die umüber- 
windbare Schranke für jede Art von Sozialismus und Demofvatie. 

Aber Räteparlament ift Berufsparlament. Wäre das ein Vorteil? Wohl 
faum! Wir alle willen, wie wenig die ideale Forderung, daf das Wohl des 
Ganzen über allen Sonderrüdfichten jtehen fol, bei ung in Deutichland bisher 
verwirklicht worden tft. Daß PBarteipolitit getrieben wurde ftatt deuticher Politik, 
war das Elend des Reichätages und fcheint das fchleichende Übel der National- 
berfjammlung werden zu follen. Wenn aber fchon die Partei mächtiger geweſen 
iit al die Gejamtheit, jo wird der Beruf die res publica ganz und gar auffrejjen 
und wird die Geldbeutelmwirtichaft an die Stelle von Politik überhaupt jegen. 
Auch davon haben wir unerfreuliche Anfänge bereit im alten Reichsſtage kennen 
gelernt. Will man aber dafür Kan dab, neben allen anderen Smweigen bed 
nationalen Lebens, auch Die Berufe im Parlament zu ihrem Rechte gelangen: was 
find denn die Wähler und tag find die Gemwählten anderes als ebenjoviele Ber 
treter aller nur möglichen Berufe? 

Wan könnte nun eo auf den Gedanten fommen, diefes Berufsparlantent 
der Näte an die Eeite des Parteiparlaments zu jeten als zweite oder erite 
Kammer. Tamit jtellen wir die Trage nach dem Sinne de3 Zweikammerſyſtems. 
Ohne langatmige Erörterungen will ih nur diefe Feltitellung machen: das 
Nebeneinander von Ober- und Unterhaus, wie e8 uns als die Haffiiye zyornt deB 
Parlamentarismus überliefert ift, fann feinen anderen Zived erfüllen wollen, 
als die Zufälligkeiten der Wahl zu forrigieren. E3 gejchieht dadurch, da, ı0& 
rend die eine Sammer gewählt wird, die andere ernannt worden ift; io 
vend die eine amımer ohne alle Normen entiteht, die andere nach Nornıen zw 
fanıntwurgefegt werden muß. Weder Erblichteit noch Ernennung dur) die Regie 
rung jceinen mir men Garantie für die Sadhjlichkeit der Bejegung zu 
bieten; hohl aber die Verbindung des Oberhausfiges mit beitimmten Simtern: 
Arr tüchtig und ſachtundig genug befunden worden iſt, um dieſes oder jenes Amt 
zu bekleiden, der ſoll im Oberhauſe mit beraten und beſchließen dürfen, unab⸗ 
hängig von ſeiner Parteizugehörigkeit und ſeinen gen perfönlihden Quali» 
täten. Die Bürgermeifter der großen Städte, die Neltoren der Hochichulen uji. 
ſäßen alsdann in diefer erften Sammer; und hierzu famen dann noch die Zunktio 
näre der großen wirischaftlihen Verbande, Die e8, 3. B. als Gewerficharisieier, 
jest Tchon gibt und die mit fortichreitender Sozialilierung fi vermehren werden. 
Sie hätten Sig und Stimme nicht ald Vertreter ihres Berufes, fondern als In⸗ 
haber ihres Poſtens. Freilich gibt e8 auch Hier eine Gefahr der Storruption: 
daß nämlich die Amter nicht mehr verteilt werden nach Verdienft, jondern auß 
Parteipolitif. Gegen derlei Krankheiten ift fein Straut gewachen, wenn nicht.die 
Moralität des öffentlichen Qebeng felber den Staaiorgani&muß immun madt. 
Das Berufsparlament der Räte gäbe nur einen zweiten Aufguß des Barla- 
ınents felber, aber fein geeignetes, die Unzulänglichkeiten der Wahl balanzierendes 
Oberhaus ab. 


Der ARätegedante 201 





Wir können jet zufammenfaffen. Diktatur des Proletariat3 in dem Sinne, 
daß nur das Handarbeitende Volk, oder nur Mitglieder der jogialdemofratijchen 
Parteien regieren dürfen, bleibt für und undisfutabel. Das gerecht durchgeführte 
Räteſyſtem, das heißt die Zuſammenſetzung der Bentralgewalt au8 Vertretern der 
Berufe ftatt geographiich begrenzter Wahlfreife, Hat gegenüber dem einfachen 
Barlamentarisnus gewifie Nacteile und keinerlei Vorzüge. Wir finden bdaber 
teinen Grund, das NRütelyftem an die Stelle de Parlamentarismus zu jegen. 
Kommt e3 aber doch dazu, oder legt der politilche Taft e8 nahe, diefe Ktonzeliion 
an den Willen aufgeregter Mafien zu maden, fo fehen wir andererjeit$ aud) 
feinen Anlaß, uns vor dem Nätelyftem als vor dem fchwarzen Dann zu fürdten. 
Sehr viel anders al® die allgemeine, gleihe und geheime Wahl urfered Rarla- 
mentariemud wird e8 auch nicht wirten; das eine wie da andere ftellt ein 
Siltrierfgitem dar, um au3 den Millionen der Namenlofen ein paar bundert 
Sührer außgujeien; da8 eine wie da8 andere wird mit leidlicher Zuverläjligfeit 
tunftionieren, wird leicht den Blender, Schwäßer und Teinagogen an die Ober- 
lähe heben und‘ dad Genie nur durd) Zufall finden. Dan fönnte alfo den 
Moflen jagen: Wenn ihr durdaud wollt — meinethalben! Und fönnte bie 
Weisheit für fich behalten, daß der Glaube de8 Bolfes, mit dem Räteiyftem da8 
große Slüd zu verwirkliden, fi genau fo al® Aberglaube enipuppen und die 
groge Erttäufhung bringen wird, wie irgendein anderes Syftem. Denn wir 
willen, wa& das Bolf nie begreifen wird: daß alle Bolitif fih mit dem Unmefent- 
lihen und VBorläufigen befaßt, daß e3 fich bei allen politiihen Ummälgungen nur 
darum handelt, das lähig Außerliche Diele Lebens ein bißchen bejler oder ein 
bischen jchlechter zu betreiben; daß aber alle, worauf e8 anfommt, in einer ganz 
anderen Sphäre fich .abipielt. 

In Bezug auf die frage des Rätefyitem8 in dem 5iß Hierher ihm beigelegten 
Sinne müflen wir alfo befennen, daß wir weder warm nod) falt find, fondern 
lau. Und wenn die Sadhe damit erledigt wäre, jo hätten wir und den langen 
Weg erjparen fönnen. Allein der Rätegedanfe Hat nod einen anderen Inhalt, 
und zu ihm befennen wir ung jegt mit Leidenfchaft. | 


E85 gehört nad) unferer Meinung zu den unverlierbaren Errungenfchaften 
der Revolution vom 9. November, der Berfündung der Menfchenrechte durch die 
große jraungönjche Revolution vergleichbar: daß niemals mehr die Wenigen den 
Bielen befehlen dürfen, ohne daß die Bielen die Möglichlichfeit Hıben, von Rechts 
wegen ihre Stimme beratend und beichließend mitguerbeben. &8 lirgt zwar, wie 
e8 jcheint, unveränderlicdy begründet in der Beichränttheit der menjhlihen Natur, 
daß wir, um miteinander leben und mwirfen zu können, der Organilation bedürfen; 
daß Organifatıon nicht möglich ift außer nad) dem Schema der Mber- und Unter- 
ordnung; daß aljo befohlen und gehordht werden muß, und zwar, in allen ent- 
[heidenden Situationen, unbedingt befohlen und blind gehordht. Allein eben weil 
nicht außzufommen ift, ohne daß einzelne Madıt haben, und weil die Slreatur zu 
gebredlich ift, um dag Böttergeichent der Macht in unverjehrten Händen zu tragen, 
darum muß der Madıt die Machıtontrolle entgegengejegt werden. Die Form 
diefer Kontrollorgane Hat ung die Revolution fpontan gefchenft, in der Geftalt 
der Räte. Wie ihre Kompetenzen abzuteilen find gegen die Selbftändigfeit und 
Beranimwortlichfeit der Leitung, ift eine Zrage der Organijation; fie bleibt 1heo- 
rerifher Erörterung und praftiihem Ausprobieren noch auf lange Zeit überlafjen. 
Tas Brinzip felbjt ift errungen und darf nicht wieder verloren gehen Wie war 
e3 vor diefem Sonnenaufgang? Man konnte im Zelde nıdht ganz felten erzählen 
hören: „Unjer Nahbarbataıllon hat ruhige Tage. Wir haben fortwährend fchwere 
Berlufte; denn unfr Major will da Eilerne erjter Haben und treibt und ohne 
Schonung zu Sturmangriffen.” Bielleicht irren fie fih; andrerieit38 — wer begriffe 
das nid? — fol dem einmal gegebenen Befehl zum Angriff unbedingt gehordt 
werden. Aber e8 muß eine legale Möglichfeit geben für jene, die den blutigen 
Schaden zu tragen haben, folchen Berdaht zur Sprache zu bringen und PBıüfung 
und Ablöjung durchgufegen. Wo gab es bisher Schuß gegen die brutale Abhängig- 


14 


202 Kirdhe und politifhe Parteien 





feit etwa eine alten faufmännifchen Angeitellten, der, bei jpärlihem Gehalt, ohne 
Erjparniffe und ohne Recht auf Benfion, im Dienfte feines Chefs fih verbraudt 
hatte und vor dem Tage aitterte, da der junge Erbe ihm fündigen und ihn ohne 
Ausficht auf einen anderen Boften auf die Straße fegen würde? Er jah fich, jamt feiner 
Familie, den Launen des Brotherrn erbarmungslos au&geliefert und gezwungen, 
jede Art von ſeeliſcher Demütigung und Mißhandlung ſchweigend zu ertragen. 
Dieſer Sklave muß die Freiheit erhalten, an das Gericht ſeiner Standesgenoſſen zu 
appellieren; dieſem Deſpoten muß die Möglichkeit genommen werden, zyniſch oder 
gedankenlos mit Menſchenſchickſalen zu ſpielen. 

Die Maſſen, die fich an das Wort Räte klammern und mit der gelaſſenen 
Geſetzesfabrikation der Nationalverſammlung nichts anzufangen wiſſen: es iſt eben 
ſolche Sicherung, die ſie verlangen. Sie fühlen ganz gut: dieſe oder jene Ver— 
faſſung ändert nichts an ihrem Loſe, dem Brotherrn, dem Beamten, dem Vor— 
geſetzten ausgeliefert zu ſein. Wenn hierin alles beim Alten bleibt, was haben 
ſie dann von der Revolution? Ihre Sehnſucht wiſſen ſie nicht zu formulieren; es 
iſt Inſtinkt, der ſie treibt. Warum kommt man ihnen nicht zu Hilfe? Warum 
verkündet man das neue Recht des Gehorchenden, öffentlich und von Rechts wegen 
kontrollieren zu dürfen, nicht von allen Tribünen, Kanzeln und Rednerpulten? 
Warum macht man daraus nicht eine lodernde Fackel, ein rauſchendes Banner der 
umgewandelten Zeit? Wäre es nicht auch taktiſch klüger, dem Volk dieſen Wunſch 
von den Lippen zu leſen, ihn laut auszuſprechen und freudig zu erfüllen? Würde 
man damit nicht den gewiſſenloſen Hetzern, die das dumpfe Mißtrauen der Maſſen 
zu einem blindwütenden Radikalismus auszunützen verſtehen, das Waſſer ab— 
graben? Was man ſtalt deſſen tut, iſt ein offenes oder verſtecktes Widerſtreben 
oder ein unfreiwilliges Nachgeben und Sichzerrenlaſſen. Auch die Zugeſtändniſſe 
der Reichsregierung vom 1. März ſind nur ein unſchmackhaftes, kompromißartiges 
Gemiſch aus den beiden Arten des Rätegedankens. 

Langſam ſchreitet die Menſchheit fort. Das Danaidenwerk, um das ſie ſich 
ſeit Jahrtauſenden müht: die Maſſen zu gemeinſamer Arbeit zu organiſieren, 
ohne Recht und Freiheit des einzelnen zu vergewaltigen, ijt in unjeren Zagen 
um ein fleine® Stüdchen gefördert worden. Der Nätegedanfe ald Yorm der 
Macdtkontrole lebt und wird Macht gewinnen, mit und oder ohne und oder 
gegen und. Warum aljfo nicht mit -uns, da wir doch, auß der Ziefe unjeres 
menjhlihen und europäilhen Gemwiflend, mit ihm fein fönnen? 





ES 


Kirche und politifche Parteien 


Don Profefior D. Johannes Wendland 


TI achdem Die trefflihen Artifel von Albreht Kaifer in Nr. 52, 

FL YA ssehrgang 1918, und von Martin Peters in Nr. 3 und 4 DR 

N eh DO) „sahres die Fragen der Trennung von Staat und Kirche be- 
NEE leuchtet haben, follen die mantigfaltigen Probleme, um die es ji) 
* N bei diefem Schlagwort Handelt, nicht nochmals erörtert werden. 
> FRÄEN wide lieber von einer Neuordnung des —— von 
Staat und Kirche veden. Folgende drei Fragen ſind die dringlichſten: Erſtens: 
Soll der Staat auch weiterhin ——— Beihilfen an die Kirchen leiſten? 
Zweitens: Soll der Staat in den Staatsſchulen auch ferner konfeſſionellen 
Religionsunterricht erteilen laſſen? Soll er aus Staatsmitteln theologiſche 
Fakultäten unterhalten, an welchen die künftigen Pfarrer ihre wiſſenſchaftliche 
Vorbildung für ihr Amt ſuchen müſſen? Drittens: Soll der Staat irgendwelche 
Mitwirkung bei der Beſetzung kirchenregimentlicher Amter (Konſiſtorien, Ober— 





Nirche und politifche Parteien 9203 


tirchenvat) Haben? — Andere Fragen find in der Gegemivart nicht fo dringlich 
wie dDiefe. Zum Beifpiel wird der Staat immer ein Uberauffichtsrecht über Die 
Kirchen behalten müljen; d. b. er wird zu enticheiden haben, ob irgendeine 
firchengefegliche Anorönung oder firdhenregimentlihe Verfügung das Recht oder 
die Intereſſen des Staates berührt oder beeinträchtigt. „yrgendein Aufjichts- 
oder VBetorcht wird jeder Staat behalten müflen. Es wäre richtiger, wenn man 
nicht zu unvorjihtig mit dem Schlagwort „Zrennung von Staat und Kirche” 
umfpringen würde. Man muß genau angeben, welchen Komplex von Fragen 
man eigentlich im Auge hat, und wie man das Xerhältnis von Staat und Kirche 
neu ordnen will. Tenn daß fich ivgendein pofitives Verhältnis beider Größen 
herausbilden muß, tft für den modernen Staat jelbitverjtändlih. Tiefer lan 
nicht, wie e8 die franzölifchen Trennungsgefehe vergeblich verjuchten, die Kirche als 
quantite negligeable betradhten. Wiuß er jhon zu allen großen Altiens uud 
Ermwerbsgejellichaften in irgendein pofitives Verhältnis der Beauffichtigung 
treten, twie viel mehr zu Größen von hr ‚ungemeiner SKulturbedeutung für das 
gefamte DVollsleben, wie es umjere Kirchen find und Hofjentlid immer 
bleiben werden. | Ä | 

Sm folgenden joll nur die dritte der vorhin genannten Tsragen berührt 
werden, nachdem die erjten beiden fchon in den Auffägen von Kaijer und Peters 
genügend br.euchtet jind. — Die Temofratifierig des Staats führt notwendiger— 
weiſc auch zu einer Vemokratiſierung der Landeskirchen. Schon die Geſchichte 
zeigt einen engen Zuſammenhang von Staatsverfaſſung und Kirchenverfaſſung. 
‚sn den Zeiten der abfoluten Monarchie herrfchte in der Kirche unbefchranft die 
Stirchenbehoörde, die ganz von der Staatsleitung abhängig war. Die Gemeinden 
hatten nicht die geringften Rechte. Co wenig dies dem Wejen der Kirche ent- 
iprad, war es fo lange allenfalls erträglid, als fein Konflikt zwifchen dem 
Hrijtliden Volt und jeiner Obrigkeit eintrat. Wenn alle die Überzeuguitg 
batten, Daß der Dionach — beziehungsmweife in freien Heichsitädten, der 
Vagiftrat — und feine Rate väterlid mwohlwollend für die Bedürfniffe des 
tirchlichen Lebens forgten, war jener unnatürliche Zuftand erträglih. So iit es 
begreiflich, daß fich jahrhundertelang gegen das landesherrliche Kirchenregiment 
fein oder nur geringer Wideritand geregt hat. — Erit die Zeiten Der 
konſtitutionellen Monarchie haben — viel zu fpat — aud) der Flirche die feit 
langem notwendige fynodale Verfaffung gebradt. SKirhli jo mohlgejinnte 
Monarchen wie Friedrich Wilhelm der Dritte haben in volliger Verltennung der 
dringendjten Lebensnotwendigfeiten der Kirche und gegen den Kat des einfluß- 
reichiten Theologen — Schleiermadhher8 — fi dagegen gejträubt, der Kirche eine 
felbitandige Verfaffung zu geben, ein Organ, durch welches die Kirche fich feibit 
ju den Damals brennenden Tragen Suneun der Union, Entwurf einer 
neuen Liturgie u. a.) außern vermochte. Durch königliche Verordnung 
wurde damals alles der — aufgezwungen. Dieſe erzwungene Untätigkeit hat 
der Kirche unendlichen Schaden gebracht, hat unſer Kirchenvolk zu der völligen 
Paſſivität und Gleichgültigkeit erzogen, unter der wir noch heute leiden. Wie 
ganz anders liegt es in den presbyterianiſchen Gemeinden zum Beiſpiel Schott— 
lands. Man leſe nur die prächtigen Skizzen von Jan Maclaren (Altes und 
Neues aus Drumtochty, Die Gemeinde von St. u. a.). Aus ihnen kann 
man ſehen, wie kirchliches Leben blüht, wenn die Gemeinden ſeit Jahrhunderten 
in Kirchenälteſten Leute ihres Vertrauens wählen, die Hand in Hand mit dem 
Pfarrer arbeiten, ja dieſen beaufſichtigen, zuweilen freilich auch jchul- 
meiſtern wollen. 

Jetzt wo im politiſchen Leben die Monarchie zunächſt gefallen it und das 
Volk ſeine oberſte Behörde ſelbſtändig wählt, iſt es die notwendige Folge, daß 
die kirchlichen Gemeinden ebenjo ihre Stirchenbehörden ſelbſt wählen. Der 
au Be jol aber nit von der ftaatlihen Ummälzung hergeleitet 
werden. Qielmehr führt diefe nur Dazu, daß nun endlich die lange gehemmte 
Entwidlung eintreten kann, die in der Sdee der Kirche felbft Liegt und die den 
tiefiten Yblichten der Reformation entipridht. Das landesherrlihde Kirchen— 


14* 


294 Kirche und politiſche Parteien 


vier Jahrhunderte lang hat dies Proviſorium gedauert. Nun wird man endli 
gu den eigentlichen Gedanken der Keformation zurüdtehren können, die zugleid 
ie de3 Urdhriitentums find. 

Ein für die Kirche entmwürdigender Zuftand ift es, wenn die Kirche ihre 
oberften Behörden — Konfiftorien und Oberfirchenrat — gar nicht einmal jelbit 
wählt, fondern diefe ihre wichtigften Organe von der Staat3behörde (in Preußen 
vom König, in Sacjfen von den in evangelicis beauftragten CtaatSminijtern) 
eingefegt erhielt. Die Kirche wurde nicht gefragt, ob ihr diefe Männer genehm 
waren oder nicht. Die Kirche fam auf diefe Reife in Abhangigkeit von den 
politiichen Parteien. Bei der einfeitigen Vorherrichaft der konjervativen Partei 
ın Preußen ivar es felbjtverjtändlich, daß ein fonjervatives Kirchenregintent der 
Kirche-wider ihren Willen aufgedrängt wurde. Männer tie der Prafident des 
Oberlirchenrats VBoigts, der dazu noch) von einer rein lutherifchen Yandestirde 
berfam, wurden der unierten preußifchen Landeskirche gegen ihren Willen als 
oberste Spite aufgedrängt; die Kirche Hatte gar feine Moglichkeit, foldde Männer 
abzulehnen oder auch nur fich zu verbitten. m freiheitlicher regierten Bunde& 
jtaaten, wie zum Beifpiel Baden, zeigten fic) weniger Mißitäande. Der badifche 
Oberfirchenrat wurde vielmehr vom Xertrauen der Landesfirche getragen, ebenio 
wie ja auch das großherzogliche Haus eine feltene Liebe und Verehrung beja. 
Daber hat denn aud) die badische Yandesiynode im November vorigen ‘yahres, 
al8 nach der Thronentfagung des Großherzog: das landesherrlidhe Kirchen 
regiment eigentlich mit gefallen war, den badifchen Oberfirchenrat beauftragt, in 
ihrem Namen die Gejchafte der Kirchenleitung weiter zu führen, und ihm damit 
ein [chönes Zeichen ihres Vertrauens ausgefprochen. 

Der oberite Grundfag für jede Kirhenorganifation muß fein, daß fie mit 
dem Begriff „Sirche” — ecclesia — Gemeinde Ernft madt. Luther betont in 
vielen feiner Echriften mit allem Nadydrud, daß Kirche foviel bedeutet mie ae 
liches Boll. Er jagt in den au AUrtifeln: „Das weiß heute 
gottlob) ein Kind von fieben Sahren, was die Kirche fei, namlich die 

läubigen, Heiligen, die Schafe, die ihres Hirten Stimme hören.” Mit diejer 
Wahrheit gilt es Ernft zu macden. Slirche find nicht die Pfarrer, Konfijtorien 
und Cberlirchenräte, fondern das Volt, fofern e8 durch die Mächte de3 chrijtlichen 
Glaubens, der Liebe und Zucht 22 beitimmen laßt. Die bisherige Kirchen« 
perfaflung war zum größeren Teile durch die Angft vor diefem Volk diktiert. Die 
Semeinde- und Ehpnodalordnung juhte durch ein möglichit A tee 
Wahlverfahren, fo mweit e3 nur ging, den Einfluß diejes Volkes auszufchalten. 
en der Zorm nad jah es ii jo jhlimm aus, wie das berüchtigte preußifde 
andtagswahlreht — jo, ungel eut durfte denn doch nicht in der Slirche die 
Herrichaft der rmogen proflamiert mwevden. Aber das kirchliche Mahl 
recht wirkte fo, daß alle freiheitlich gerichteten Männer aus den oberen Behörden 
ausgejchieden wurden. Denn dur) allgemeine demofratijch eingerichtete Wahlen 
wurden nur die Vertreter der Einzelgemeinden gemählt; diefe wählten ihre 
Vertrauensmänner in die ns (eine an Bedeutungslofigfeit leidende 
Snitanz). Die Kreisiynoden wählten die Provinzialiynoden, und Ichtere die 
©eneralfynode. Und als ob e3 nicht fchon mit den lamdesherrlich ernannten 
- Konfiftorien genug wäre. Damit ja auch die Synoden in Abhängigkeit von den 
Staatsbehörden blieben, wurden eine Reihe von Mitgliedern der Provinzial 
* und der Generalſynode vom Landesherrn ernannt — wiederum eine 


regiment war nach Luthers Meinung nur ein Notbehelf, ein Proviſorium. 


innloſe, die Ehre der Kirche kränkende Beſtimmung. Dieſe Ernennungen ver—⸗ 
tärkten ſtets die extremſte Partei in der Kirche und wirkten ſo genau das Gegen⸗ 
teil von dem, was anfangs beabſichtigt war, einen Ausgleich der Richtungen, 
— einer zu einſeitigen Zuſammenſetzung der Synoden herbei⸗ 
zuführen. | 

Die Angft vor dem dhriftlihen Volt hat die bisherige Kirchenverfafjung 
eingegeben — nämlich die Angit, ala ob das Volk, wenn e3 frei und ungehindert 
feine Meinung in der Kirche zur Geltung bringen könnte, nicht als chriftliches, 


Kirhe und politifhe Parteien | 208 





ade ‚als unchriftliches Volk auftreten würde. Die begreifliche Folge dieſes 
nglaubens ift e3 gemwejen, daß die Stirche bei vielen ihre TH ein⸗ 
gebußt hat. Sie galt —— als Inſtitution der herrſchenden Klaſſen, als 
abhängig von junkerlichen Gutsherren und Patronen oder als Einrichtung der 
Induſtriebarone, um das Volk in Abhängigkeit, Gehorſam und Demut zu 
erhalten. Wie ungerecht auch dies Urteil im ganzen iſt, läßt ſich doch nicht 
leugnen, daß vieles in der Kirche — mozu nod) — Einrichtungen und 
——— bei Trauungen, Beerdigungen, Taufen kommen — dazu angetan 
war, dieſen böſen Schein immer wieder zu nähren. 
Beſonders a war in Diefer | der enge Bund der 
Stiche mit der Fonjervativen Partei. Jahrzehnte hindurch betrachteten Die 
Konjervativen die Kirche als ihre Domäne. Wenn aud) viel aufrichtige Zrommig- 
feit in diefen Kreifen bervfchte, jo machte das konſervative Chriſtentum doch 
gerade dann mit den fozialen Forderungen des Chrijtentums halt, wenn jie jic) 
gegen das eigene Standesintereffe wendeten. Das hat von Kahrzehnt zu Jahre 
gehnt zu einer immer ftärkeren Sydeallofigkeit der konſervativen Partei beis 
— Klagen über die herrſchende Unchriſtlichkeit köonnte man aus dieſen 
reiſen in beweglicher Form vernehmen, aber es fehlte die Selbſterkenntnis, 
wie viel man ſelber durch unſoziales Verhalten zum Ruin der Kirche und zur 
Abwendung vom Chriſtentum beigetragen hatte. 

Auf der andern Seite ſollen die Fehler — geleugnet werden, die die 
liberalen Parteien in der Vergangenheit begangen haben. Jede Partei gewinnt 
an idealem Gehalt, wenn der Hintergrund * politiſchen Einzelforderungen 
eine große idealiſtiſche Weltanſchauung iſt, die ſchließlich aus einem ſtarken 
eeligiofen Glauben ihre beiten Krafte zieht. Jeder rein individualiſtiſche Ren 
Iofe religiöfe Glaube kann wohl für einzelne Menfchen ein Halt fein, er bedarf 
aber, um ne een Kraft zu Haben, einer großen fozialen Gemeiit- 
daft, der Kirche. Der Liberalismus beging in der Zeit vor und nad) 1848 den 
großen Tehler, nicht un gegen die Engherzigfeit in der Kirche Eturm zu laufen 
— das war fein gutes Recht. Aber er verjaumte e3, feine berechtigten freiheit« 
— Forderungen tief innerlich zu begründen. Mit vollem Recht kämpfte der 
Liberalismus gegen enge und überlebte Autoritäten; er ſuchte die freien Kräfte 
des Volkslebens zu ſtärken. Aber er verſäumte in ſeiner Weltanſchauung klar 
zu machen, daß die volle wahre Freiheit nur in der perſönlichen Bindung an 
Gott und das Gute zu finden ſei. Und doch wie viel Motive hätten ſich für den 
wahren Liberalismus aus dem Neuen Teſtament, aus dem Kampf Jeſu gegen 
die überlieferten Autoritäten, aus dem ae des Paulus gegen das gejeglid)- 
engherzige Judenchriſtentum herleiten lafjen! Und wieviel Waffen hatten die 
Schriften Yuthers, vor allem feine Schrift über den wahren Liberalismus „Bon 
der Treiheit eines Ehriltenmenjhen” liefern fünnen! Der Liberalismus ver- 
armte an dem Deangel einer Weltanfchauung. Oder genauer: er warf fich der 
Ba Weltanfchauung in die Arme, einer optimiftifchen Aufklärung, die in 

rt formalen Freiheit oder Ungebundenheit da3 Heil fuhhte. Er glaubte in 
aljdem Optimismus, daß die Grundkräfte des Menjchen als folche fhon gut 
ien. Man mülffe fie nur von allen hiltorifchen Bindungen befreien, um eine 
wundervolle Harmonie der neuen Welt hervorzurufen. Man glaubte an eine 
steue Blüte der Kultur und täufchte ſich vor, die Fortichritte der materiellen 
Seultur, der \ynduftrie und Technik könnten ein reiches, in fich befriedigtes neues 
Sejchlecht erzeugen, Das von der Höhe des befreiten Menfchentums auf den 
überlebten Glauben des Kirchentums mitleidig lächelnd herabbliden könne. 

Hand in Hand mit diefer inneren Verarmung ging der äußere Rüdgang 
bes Liberalismus. Der Wind wurde ihm von der Sozialdemokratie immer 
mehr aus den Segeln genommen. Wer gegen die überlieferten Autoritäten 
Sturm laufen mollte, fand bei ihr viel kräftigere Schlagiworte, aber auch einen 
leuchtenderen Glauben an eine herrliche Sun gu Kampf gegen Stiche und 
Ehriitentum nahm die Sozialdemokratie nur das Erbe des Liberalismus auf. 
Die Befreiung von den verlnöcherten Autoritäten der Vergangenheit fehien ihr 


206 Kırde und politifhe Parteien 


— 





am gründlichſten geleiſtet zu ſein, wenn man auch die höchſte Autorität, die 
Gottes, zum alten Eiſen warf und den Maſſen vorſpiegelte, ſie würden durch den 
Grundſatz ni Dieu ni maitre ihr volles Erdenglüd finden. z 
Wie ganz anders wäre die Entiwidlung gerworden, wenn der Liberalismus 
da8 Erbe des deutfchen Sdealismus bewahrt und an Männern wie Kant, Fichte, 
Schleiermacher, oder nocy weiter zurüd, an Paulus und Luther Tiefe und Straft 
nn Wirkeng gewonnen hätte! Viele einfichtige Führer des Liberalismus haben, 
urch ſchwere Enttäufchungen, belehrt, die Mlängel, die der Liberalismus von 
früheren Jahrzehnten her in fich trug, tarf empfunden. m ganzen liegt wohl 
jene Cpocde des in die einfeitige Oppofition getriebenen Liberalismus 
abgejchloffen hinter ung. „est ift ıhm die große Aufgabe des Neubaues der 
Nation zugefallen. Er weiß, daß er jie nur im Bunde mit der ftärfften Madıt 
Der Vergangenheit, dem deutichen <Sdealismus und dem in der chriütlichen 
Sirche verlörperten religiöjen Ölauben vollziehen tann. 
€ liegt mir fern, behaupten zu wollen, eine politifche Partei müfje die 
einzelnen Punkte ihres Programms direlt aus dem Chriftentum herleiten. Solche 
VBerfuche find immer gefcheitert. Die Harfte Auseinanderfegung über bdieje 
— hat die Vertreter-Verſammlung, die ſich 1896 zur national-ſozialen 
Partei A — m Unterſchied von der in den „chriſtlich⸗ 
ozialen“ Parteien geforderten unklaren Vermiſchung von Chriſtentum und 
olitik ſchied ſie deutlich die politiſchen Einzelforderungen und das Chriſtentum. 
Letzteres ſollte aber den Hintergrund * ltanſchauung bilden. Das Ver⸗ 
hältnis beider Größen läßt ſich nicht beſſer klar machen. Aus dem Chriſtentum 
folgen große ln die für da ganze PVolksleben von Bedeutung fine. 
Zum Beifpiel: Allen Nechten entjprechen Pflichten. Vorrechte einer Ralf, wo 
ſie noch irgendwie beſtehen, müſſen zu um IR größerer Hingebung an das Ganze, 
zu opferfreudiger Tat führen. Das Chriltentum jtellt an das Volfsleben die 
toße Grundforderung jozialer Gerechtigkeit. Wie aber diefer Grundfag in der 
teergelebgebung durchgeführt werden muß, läßt fich nicht aus dem Chriftentum 
Ka ableiten, fondern erfowert eine umfajjende Kenntnis des Steucrbedarfs, 
er Möglichkeit der Verteilung der Steuern, eine Erwägung der wirtfchaftlidyen 
elgen und eine techniſche Kenntnis, die unabhängig vom Chriſtentum iſt. Der 
rundſatz, daß der wirtſchaftlich Schwache vor Ausbeutung geſchützt werden 
Ei wird fich aus dem Chriftentum ableiten laſſen. Aber die Sozialreform 
muß ebenfo bedenken: welche Belajtung verträgt die ndultrie? Wie ların der 
Staat eine im internationalen SKonturrenzlampf —— 7 Induſtrie 
erhalten? Wenn die Induſtrie zugrunde geht, Be are lich auch der Urbeiter- 
tand mit zugrunde. Sn allen diefen Fragen hilft nicht, wie e8 Optimijten 
zum Beifpiel Kutter) meinen, der gute Wille allein, fondern eingehende Fad)- 
enntnis und langjährige praftiihe Erfahrung. 
| Sede PBartei hat e3 dringend nötig, die Waffen ihres Stampfes aus einer 
groben, Gemüt und Willen in Bewegung fegenden Weltanfchauung oder einem 
egeilternden Glauben berzubolen. Das. hat gleihfall3 der Sozialdemokratie 
einen en Borjprung verichafft, daf Ir den breiten glüdshungrigen Mafien 
einen glühenden Blauben an ein herrliches Erdenziel einflößte, ihnen den 
Himmel auf Erden in erreichbarer Nähe der. Zeit vor Augen ftellte. Tie Sozial 
demofratie trat auch hierin das Erbe des LiberaliSmus an. hr Glaube war 
nicht fchlechter al3 der feinige. Denn was ihren Zielen Durchſchlagskraft gab, 
war die Miichung rein egoijtifch-eudämonijtischer Motive und finnlidyen fen 
mit einem idealen Glauben an ein Yteich der Serechtigleit und des Wolfer- 
friedens, wie e3 der menjchhlichen Natur mit ihrem neinander von Einnlichkeit 
und Sittlichleit entjpricht. Und genau wie in der Tonfervativen PBartei waren 
die idealen Motive, von herrlihdem Schimmer umtfleidet, für die Agitation und 
Gewinnung Fernerftehender gut zu brauchen. Die egoiftifhen Motive und 
Standesvorteile wirkten im Slafjentampf ftärter. Das ıjt die ethifche Gefahr 
aller politiihen Parteien, die ihren idealen Gehalt aus einer de oder 
wealijtifchen Weltanfchauung herleiten wollen. Soweit die ethifchen Ziele mr 


_ 


Kirde und politifhe Parteien 207 





dem eigenen Klaffenvorteil zufammengehen, werden fie fjchon bervorgepußt. 
Sobald fie aber Opfer verlangen, läßt man fie jtillfchiweigend fallen. Eine der- 
artige Vtoralheuchelei wird naturgemäß bei den Parteien am fchlimmijten 
empfunden, die fich „chriftliche” nennen. Aber foll man etiva wegen diejes Miß- 
brauchs jeden Zujfammenhang der Parteiforderungen mit einer idealen Welt» 
anihauung aufgeben? Soll man die Entwidlung begünftigen und jede Partei 
einer unverhüllten Vertretung von Standesinterejjen machen, in der jede 
Bartei rüdjicht3los für ihren Vorteil eintritt, ohne ji) um das Wohl des Ganzen 
u Tiimmern? — Tas wäre vielleicht ehrlier und würde die tidertpärtige 
toralheuchelei aufheben (die zum Beifpiel jeßt gerade auf dem Pariſer Friedens- 
fongreß ihre Orgien feiert). Aber damit würde zugleich der Reit wirklicher 
Dtoral fallen, den jede Bartei in fi) trägt. Der nadte Egoismus würde legalijiert. 
Das Anjtandsgefurhl, Das doch immer dazu ziwang, von den ‘Barteiintereifen auf 
Das große Ganze Hinüberzubliden, würde getotet. Daher jcheint mir da8 
entgegengejette Mittel nötig: jede Partei muß ihre Sfdeale in einer Welt- 
anjhauung begründen. Ter religiöfe Glaube des Ehrijtentums, der_die tiefite 
Weltanjchauung bildende Macht in fıch fchließt, ijt Dazu notwendig. Denn über - 
das Beitalter der fälfchlid fogenannten „naturwiflenichaftlihen Welt- 
anschauungen” find twir endgültig hinaus. Denn die Naturwifjenichaften ver- 
mögen wohl .gewifje Beiträge zur Weltanfchauung in den Begrijfen Naturgejeß 
und Entwidlung zu geben. Aber verarbeiten und in ihrer Bedeutung I das 
Ganze der Welt und des Lebens abzufhäten vermag fie nur die Philofophie. Tie 
entjcheidenden Beiträge zur Weltanfchauung liefern die Tatfachen des Geilte3- 
leben3, zuhöchſt Sittlichleit und Religion. 

Sede Partei fann nur gewinnen, wenn fie die Verbindungslinien ihres - 
Programms mit einem fittlicy-religiofen Glauben möglichft energifch zieht. Sie 
fann dies, denn der religiös-fittliche Glaube ift die tiefite und zugleich univerfalfte 
Macht im GBeiftesleben. Er ftrahlt feine Wirkungen in alle Vebensgebiete Fe 
jedes PBarteiprogramm braudt, um idealen ——— und UÜberzeugungskraft 
zu gewinnen, dieſen Zuſammenhang. Aber nicht ſo, daß das Chriſtentum zur 
Parteiſache gemacht wird. Das war der De der Fatholifhen Zentrumspartei - 
und der verihiedenen auf evangeliihem Boden verfuchten chriltlich = fozialen 
en Nicht fol da8 Ehriftentum in den engen Rahmen eines 
Barteiprogrammö gefpannt werden. E3 darf nicht gefagt werden: jeder Ehrift 
muß folgendes fordern. Oder gar: im Namen der Stirche verlangen toir, jei es 
Schuß der Landwirtfchaft oder den Adhtitundentag oder eine Vermögengiteuer 
von fo und fo viel Prozent. 

| Die Konjervativen haben in ihrer Blütezeit unendlich viel Kräfte dadurd) 
gewonnen, daß fie — jei es mit Kecht oder mit Unrecht — die kirchlichen Streije 
in fehr großem Umfange für fi zu gewinnen mußten. Se mehr fie zu einer 


engen Siafjenvertretung wurden, um fo mehr haben E gleichzeitig die Sticche 


in anderen Streifen disfreditiert. Die Kirche hat fich in den beiden legten Jahren 
vielfah um ihr Anfehen gebracht, dadurch daß zahlreiche Pfarrer — fjorvohl 
orthodore wie liberale — öffentlich Politik trieben und für ihre Partei eintraten, 
wodurch fie andersdentende Gemeindeglieder . vor den Kopf jtießen. 
Die pazifiitiiche Bervegung hat unendliden Echaden dadurch erlitten, daß ihr 

ührer 9. U. Fried Die Bolt] oe Berechnung des Nußens eines allgemeinen 
Weltfriden3 und die Schäden, die jeder Krieg für Sieger wie für Bejlegte mit 
lich bringt, — ein ausreichendes Motiv anſieht, das ſchließlich zum Weltfrieden 
führen müſſe. Er läßt ſich zwar gerne die Mitarbeit aller gefallen, die aus 
tieferen chriſtlichen Motiven heraus an der Verſöhnung der Völker mitarbeiten. 
Aber Fried ſelbſt nimmt nur die Motive der neh Aufklärung in Anjprud) 
und überjieht, daß die Erwägung des Nutenz Schließlich immer zum Wideritreit 
Ber snterejien führen und Kriege erzeugen muß. Nur ein ethijches Motiv, das 


1) ch habe das in meiner „Sogialethil”, Tübingen, 3. &. 3. Mohr, 1916, zu 
zAgen geiudt. | 


208 Kirdhe und politifhe Parteien 


um der Gerechtigkeit und Verföhnlichkeit willen Opfer zu bringen und Rechts 
anfprüche zurüdzuftellen bereit ift, fann auf dem fchwierigen der Volle 
berjöhnung allmählich einige Schritte weiter führen. 

Die liberalen Parteien haben die Fehler der Vergangenheit im großen 
und ganzen eingefehen. Sie laufen heute nicht mehr Sturm gegen EChriftentum 
und Stiche, fondern juchen mit Recht die freien Kräfte innerhalb der Kirche zu 
tärten und aus dem Chriftentum oder einem allgemeineren idealiftifhen Glauben 
elbit den idealen Hintergrund ihrer Korderungen zu gewinnen. Go dürften 

nn heute die chrijtlihen Kreife in weiten Umfange für die liberalen Parteien 
geftimmt haben. Zatfählid hat das Chriftentum infofern mit dem Liberaliß- 
mus Vermwandtichaft, ald e3 den ewigen Wert jeder Menfchenfeele, die 
Gottebenbildlichleit auch des Geringften betont. 3 verlangt freie Arbeit jedes 
Vienfchen, verjpricht jedem die I Arbeit gebührende Stelle, verlangt Schuß 
für den Schwaden. Sofern der Sonjervatismus das Recht des biftorifh 
geivordenen vertritt und in der gefellfchaftlihen Ordnung und Abftufung eine 


vernünftige Gliederung de8 Volfslebeng erfennt, wird er gleichfalls Diefe, 


Ordnung unter eine höhere Autorität zu Stellen vermögen. SKonjervatismus und 
Ziberalismus müfjen fich ja ftetS ergänzen und befrudhten. Der Konjervatismuß 
titı gebrochen, teil er überlebte Etandesporurteile nicht rechtzeitig genug aufzu- 
geben bereit war und feine Bertreter eine Vorrangftellung, die ihnen nicht mehr 
gebührte, mit allen Mitteln feitzuhalten fuchten. 

Die meilten ESchtwierigfeiten bat die a ee in ihrer Stellung 
zu Kirche und Ehriftentum bereitet. Sn der Schweiz ijt in diefer Hinficht die 
Entwidlung am weiteiten gediehen. Bier gibt e3 fozialdemokratifche Pfarrer 
wie Kutter, Arbenz, Bader, Tifhhaufer, Liehtenhan u. a., die in den „Neuen 
Wegen” unter Redaktion des Zürcher Profefjors der Theologie L. Ragaz eine 
große Schar jüngerer Theologen in ihre Bahnen ziehen. Sa im Kanton Birich 
gibt es Stirchgemeinden, in die nur jozialdemofratiihe Pfarrer und dehret 
gewählt werden. (Denn in Uberſpannung des demokratiſchen Prinzips werden 
im Kanton Zürich Des die Lehrer dure allgemeine Volksabftimmung in den 
Schulbezirten gewählt.) Diefe Entwidlung hat naturgemäß zu vielen Miß- 


ftänden geführt. An manden Orten wird die Kirche von den meilten Nichte 


Sozialdemokraten gemieden. Tie Sozialdemokraten aber laffen fi die Wirffam- 
feit ihrer Genoffen auf der Kanzel fehr mohl gefallen, damit ihre Partei- 
forderungen einen idealen un befommen. Gie ae fih, wenn den andern 
gehörig ihre Sünden vorgehalten merden.) Wenn aber die fozialijtifchen 
sfarrer und PBrofefforen, wie dies durchaus auch) geichieht, Kririt an den eignen 
Parteigenoffen üben, fo ift man mit ihnen ebenfo unzufrieden, tie mit den 
fozialdemofratifchen KRegierungsräten, die auch nicht den fozialiftiichen Zufunfts- 
ftaat herbeiführen füonnen. So mweit find wir in Deutichland noch nicht, daß man 
wie die Schweizer Religios-Sozialen verfucht, einen Bund zwifchen Chrijtentum 
und Sozialdemofratie zu Shlieben. Auch in der Echmeiz tft e8 nicht gelungen 
und wird nie gelingen, diefen Bund zuftande zu bringen. Dazu ftreben die 
beiden Bermegungen zu Er auseinander. Die foztaliftifhen Theologen haben fidh 
vergebens bemitht, die idealen Momente in der Sozialdemofratie in den Mittel 
punkt zu ftellen. Die politifchen Führer find ihnen nicht gefolgt. Und gegen- 
wärtig haben die den Bolfchemilten zuneigenden Ertremen in der Cozial- 
demofratie, die „Sungburfchen-Vereinigungen” in der Schweiz immer mehr die 
Oberhand gewonnen. Die Methoden des Beneralftreif3 und der Revolution 
Tcheinen ihnen die ausfichtsvollften. Sie eritreben eine Diktatur de Prolctariats, 
eine unverhüllte nichts weniger als demofratifhe Klaffenherrfchaft und babem 
— ſogar die Beſchickung des in Bern tagenden internationalen Sozialiſten- 
ongreſſes abgelehnt, weil ſie weniger von Völkerverſtändigung als von Revolu— 
tion innerhalb jeden Volkes etwas erhoffen. Die gemäßigten Führer der Sozial 


2) Ein Beiſpiel dafür habe ich in meiner „Sozialethik“, S. 156 f., angeführt. 


Kirde und politifche Parteien 909 


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——— — — — — — 


demokratie der Schweiz, Greulich, Knellwolf, Eugſter u. a. ſehen mit Schrecken, 
wie ihnen die Zügel entgleiten und die radikalſten Schlagworte die größte Zug—⸗ 
kraft auf die Maſſen ausüben. 

Trotzdem halte ich es für einen großen Schaden, daß in Deutſchland ſozial— 
demokratiſche Theologen wie Göhre, Maurenbrecher u. a. aus dem Pfarramt und 
der Kirche herausgedrängt, andere, die nur ein wenig zum Entgegenkommen 
gegen berechtigte Forderungen der Sozialdemokratie mahnten, gemaßregelt 
wurden. Wie ganz anders würde doch in der gegenwärtigen Kriſis die Lage der 
Sozialdemokratie wie der Kirche ſein, wenn dieſe Partei eine Zahl tüchtiger 
Manner hätte, die im Namen des Chriſtentums fur die idealen Ziele der Sozial— 
reform eintreten würden! Die Kirche wurde an Popularität ungemein gewonnen 
haben, wenn ſie ſich ernſtlich und ehrlich vollkommen neutral zu allen politiſchen 
Parteien, einſchließlich der Sozialdemotratie, geſtellt hatte. Die Kirche hat bei 
politiſchen Wahlen nicht die Aufgabe, eine beſtimmte Partei zu empfehlen, wie 
es oft römiſch-katholiſche Pfarrer tun; aber ſie kann den Gemeindegliedern das 
Gewiſſen ſcharfen: nicht der eigene Nutzen, nicht die Uberlegung, ob das Intereſſe 
des eignen Standes von einer Partei am ſcharfſten vertreten wird, ſoll den Aus— 
ſchlag geben, ſondern die ernſte Erwägung, welche Partei nach der perſönlichen 
Uberzeugung des einzelnen fuür das Wohl des Ganzen am beſten mitzuwirken 
imſtande iſt. Ferner wird die Kirche immer wieder mahnen können und müſſen, 
im politiſchen Gegner nicht bösartige Votive, Dummheit und Schlechtigteit zu 
ſehen, ſondern ehrliche Uberzeugung auch in ihm zu achten. Schleiermachers 
patriotiſch⸗politiſche Predigten der Jahre 1806 — 1814 geben nach dieſer Richtung 
eine reiche Ausbeute. Seine Theorie ſagt mit Recht: Das Politiſche gehört als 
olches nicht auf die Kanzel. Aber DI ın dem Bolitifchen zugleich ein lethijches 
tedt, gehört es auf die Stanzel. Und wer wollte verfennen, daß die politijchen 
 Wufgaben der Gegenwart fajt ausnahmslos zugleich ethiihe find! Menn nur 
vecht viele Prediger etwas von der Überlegenheit und dem Takte Echleiermacdhers 
hätten, gerade und frei ihre Meinung herauszujagen und, ohne das Chrijtentum 
. an eine Bartei zu binden, die Beitfragen von der Höhe der Ewigkeitsgedanten 
aus zu behandeln.?) 

Bolitiih brauchen Wir die Umwandlung der Sozialdemokratie in eine 
zum Regieren fähige und wwillige Reformpartei, die energiicher als bisher [ich 
bon ihrem Linten 7slügel fcheidet, mit den bürgerlichen Parteien zujammen- 
arbeitet und in diejer Arbeitsgemeinjchaft mit Energie die ssntereflen der Arbeiter 
innerhalb des Erreichbaren und Vioglichen vertritt. ES ware jehr zu wünjchen, 
dak Diänner wie Gohre, Diaurenbredyer u. a. innerhalb einer folhen Bartei eine 
führende Holle jpielen, die materialijtiide Weltanicyauung gründlich revidieren 
und die reichlich vorhandenen Anſatze eines tdealiltiichen Blaubens an den Sieg 
der Gerechtigkeit, an die VBerjöhnung der Stande und Volker ſtärker heraus— 
arbeiten würden. Einer joldyen Partei gegenüber fönnte und müßte die Kirche 
ihre völlige Neutralität erklären. E83 ware fogar wünjchenswert, wenn es in 
Urbeitergemeinden Pfarrer gäbe, die mit diefer ‘Partei in Fühlung ftänden. Die 
Kirche Tann nur an Popularität geminnen, wenn je zu allen idealen 
Beitrebungen des Boltslebens hin Verbindungen unterhält. 

Wir leiden heute ftärker al3 je unter einer Zerrifjenheit und Berfahrenheit 
des Volkslebens. Die Einheit des Geifteslebens, die innere Sammlung unjrer 
Rultur, nach der die tiefiten ©eijter fi) heute jehnen, läßt jich weder von rein 
sationalen, noch von internationalen Gedanten aus, jchlieglied überhaupt nicht 
von einer innerieltlihen Größe aus gewinnen, jondern von einem über alles 


°* Bol. 3. B. die Sammlung „Chriftentum und ®Politif“. 10 ‘Predigten von- 
Baumgarten, Niebergall, Violet u. a. in der Predigt-Bibliothef, Band 15. Göttingen, 
Bandenhoed u. Rupredt. 1918. Vielleicht darf ih auch auf einen Verjud) von mit 
Hinmweijen. „Der Weg Gottes mit dem deutjhen Voll.” Bajel E. Find, 1919, 
5” Pjennig. | 


210 Bolftein 








Sjodiiche Hinausführenden Emigfeitsglauben, der aber ebenfo‘ allen geijtigen, 
fünjtleriichen, wifjenfchaftlihen und philofophiichen Beitrebungen Weihe und 

del geben muß, iwie er auch der ideale Hintergrund alles nationalen und 
politiihen Etrebens, wie aller Berfühnung der Bölfer fein muß. Der 
Protejtantismus aber verträgt feine jtarre gefetliche Regelung des Verhältnijjes 
bon Ehrijtentum und Kulfur, alfo audy nicht von Kirche und politifchen Barteien. 
' Er erwartet vielmehr, daß im Spiel der freien Kräfte und Perfönlichkeiten fich 
eine folye Beziehung in imdividuell verfchiedener Weife bei aller Kulturarbeit 
wie bei allen ‘Barteien aus ihrem eigenen innerjten LVebensdrange heraus 


durchſetzt. 


VE 
ST) s FI 
N re 
ch 





Holitein 


n diefer gärenden Zeit, in der io vieles nad Klärung verlangt, ım 
9 der überall inner- und außerpolitifche und perfünliche Schuldfragen 
4 9 breit erörtert werden, ift altgemohnte politifhe Diskretion ei im 
J & Sturfe gefunten. Allerlei bis dahin jtreng geheime Archive öffnen 
 jich, politiiche Handlungen und politische Serfönlichfeiten erden 





DT dr Durch überrafhende Mitteilungen in eine neue Beleuchtung gerüdt. 

Bon diefem De nachträglicher Scheinwerferbeftrahlung und politijcher 

Möntgendurchleuchtung bleiben auch Perfünlichkeiten nicht bewahrt, die fruher 
ihre ganze Tätigkeit im — auszuüben trachteten. Selten fand ſich dieſer 
Hang zur politiſchen Wirkſamkeit im Verborgenen ſe ausgeprägt wie bei dem 
Mann, der durch lange Zeit den größten Einfluß auf die auswärtige Politik des 
Deutſchen Reiches zu üben vermochte: Baron Holſtein, der im Auswärtigen Amt 
unter vier Kanzlern einen hervorragenden Poſten bekleidet und die politiſchen 
Fäden nach Möglichkeit durch ſeine Hände gelenkt hat. 

Seine ſich ſtets im Hintergrunde haltende Perſönlichkeit war bon einer 
gewiſſen Myſtik umgeben. Für ſeine Scheu vor der Offentlichkeit war es 
bezeichnend, daß das dickleibige Zeitgenoſſen-Lexikon „Wer iſt's?“ unter rer 
fat 20000 Biographien den Namen einer politifch jo wichtigen Perfönlichkeit 
überhaupt nicht verzeichnet. 

Salt Scheimrat v. Holitein früher al3 Sonderling, fo tritt er uns nad 
neueren Teröffentlihungen von Perfönlichkeiten, die früher durch lange Zeit mit 
ihm zufammen gearbeitet haben, immer mehr als eine geiftige Anomalie entgegen. 
syn der „Deutichen Revue” hat kürzlich ‘Prinz Alerander zu Hohenlohe, der 
während der Reichskanzlerfchaft feines Vaters in tägliche Berührung mit Holftein 
fam, Erinnerungen aus dem Auswärtigen Amt in Berlin unter dem Titel „Eine 
graue Eminenz“ veröffentlicht. Cehr viel befchäftigt fich ferner mit Herrn 
vd. Holjtein auch fein früherer Stollege Otto Hammann, der feinem erjten 
Erinnerungsband „Der neue Kurs“ nunmehr bei Reimar Hobbing in Berlin 
Erinnerungen aus den Sahren 1897—1906 unter dem Titel „Zur VBorgefchichte 
des Weltkrieges“ hat folgen lafjen. Echon im „Neuen Kurs” konnten mir 
manchen Einblid tun in die geheimnisvolle Tätigkeit Holfteins im Auswärtigen 
Amt. rn dem neuen Bande äußert Sammann fich über ihn noch deutlicher und 

' mit noch fchärferer Anklage feiner Querlöpfigteit. 


. Bolftein 211 





Aus den Arbeiten der beiden BVerfaffer gewinnen wir den Eindrud einer 
eitweilig geradezu verhängnisvollen Zatigkeit Diefe8 eingelapfelten Welt- 
emdlings, der die politifche Außenwelt nur betrachtete nad) dem Bilde, das er 
ih in feinem Bureauzimmer gemadt, und von den wirklihen Wandlungen in 
er Weit nicht3 mehr fah. | 

Wenn Krititer a auswärtigen PBolitit offen beflagt haben, daß dem 
Auswärtigen Amt offenbar kein der Wirklichkeit entiprechendes Bild durch die 
Berichte unferer Gejandten und Botfchafter gegeben worden wäre, fondern ein 
Bild jo, wie man e3 aus beftimmten Gründen und zu bejtimmten Zmweden in der 
MWilhelmftraße zu — wünſchte, ſo belehrt uns Prinz Alexander von Hohenlohe, 
daß Herr von Holſtein es war, der namentlich in der letzten Zeit ſeiner Amts⸗ 
tätigkeit in immer ſtärkerem Umfange verſchiedene Botſchafter und Geſandte in 
privater Korreſpondenz beeinfluſſen wußte, „was und in welchem Sinne fie. 
u berichten hatten“. Ihe gefährlien Yolgen diefes ShHitem für die ganze 
—** des Reiches haben konnte, ja mußte, liegt auf der Hand. „Beſonders 

efährlich wurden die Konſequenzen dieſes Holſteinſchen Syſtems der beſtellten 
erichte aber in den letzten Jahren, als die Schrullenhaftigkeit, der Zug zum 
Mißtrauen, ja geradezu zum Verfolgungswahn, bei ihm immer mehr zunahmen.“ 

Infolge ſeines mißtrauiſchen Charakters, der auch bei Hammann immer 
wieder hervorgehoben wird, ſpricht Prinz zu Hohenlohe dem Geheimrat 
Holſtein die ſo notwendige Objektivität des Urteils ab, insbeſondere in ſeiner 
Abſchätzung Frankreichs, die auf total falſchen Grundlagen beruhte. „Er lebte 
noch immer in der Vorſtellung, das Frankreich der ſiebziger Jahre, während 

deren er in Paris geweſen iſt, vor IE zu haben. Davon ließ er fich wicht 
abbringen, und auf diefe ganz faljche Vorftellung begründete er feine Politit.” 

BZufammenfafjend bezeichnet Prinz Alerander zu Hohenlohe die Zeit von 
Holſteins gan im Auswärtigen Amt und feines jaN unbeſchränkten Ein- 
fluffe3 auf die Leitung der deutfchen auswärtigen Politik als eine der verhängnis- 
vollſten Phaſen der Geſchichte dieſes Amtes. 

Aus Hammanns öSchilderungen iſt eine Reihe mehr oder weniger ſchwerer 
Konflikte zwiſchen dem Fürſten Bülow und Herrn von Holſtein erſichtlich. Wir 
erleben hier namentlich das Werden des Dreiverbandes, für deſſen drohenden 
Zuſammenſchluß Holſtein kein Verſtändnis hatte, einmal wegen der BE 
Bewertung Frankreichs, und ferner, weil er durchaus in dem Gedanken lebte, 
. daß zwischen England und Rußland ein ewiger Gegenjat beftünde und beitehen 

bleiben müfje. Mit Bezug auf den Maroflo-Sonflitt und die Möglichkeiten feiner 
Löfung Schreibt Hammann: 

„Die Hauptjchuld an den verfäumten Gelegenheiten trug die unglüdliche 
Thefenpolitit Holjteins, die feine anfangliche Erkenntnis der Zmedmäßigfeit einer 
englijch-deutfchen Annäherung eritidte. Was Bismard in dem GSelprädh mit 
St. Vallier al3 Mahnıfinn bezeichnet haben foll, das war ihm Glaubensſatz, näm⸗ 
lih die Ansicht, daß der Antagonismus der beiden Weltmähte England und 
Nußland eine unabanderliche Tatjache fei. Er hielt es für unmöglich, daß gerade 
Marotto, über defjen Küften das frebeherrfchende Greater Britain Chamberlains 
jo aha wadte, jemal3 die Brüde für eine entente cordiale zmwijchen 
England und Frankreich bilden konnte.“ 

Mähren) des Zufammentreffens von König Eduard und Kaifer Wilhelm 
gelegentlich der Kieler Woche gab e3 ziwifchen Holjtein und dem FFürjten Bülom 
einen ſchweren Konflikt. Holſtein ftellte damals aus nichtigen ©ründen da3 
Anfinnen an den Fürften Büloro, daß er einen Wechjel in der Leitung des 
Auswärtigen Amtes eintreten laffen folle. 

„Bülomw,” jo berichtet und Hammann, „Dachte natürlich nicht daran, auf 
die fonderbare Zumutung einzugehen und fih aus nichtigen Gründen von (dem 
Staatsſekretär) KRihthofen zu trennen. Er trug mir auf, nach) meiner 
NRüdfehr zufammen mit dem Unterjtaatsfefretär von Mühlberg Holſtein möglichſt 
u beihwichtigen. Dies undankbare Geſchäft war noch dadurdh erjchiwert, daß 
N Holftein inzwischen in eine Augenklinif begeben hatte und fchriftlich mit ihm 


2192 Holftein 


verhandelt werden mußte. Sn feinen Briefen brachte er neue Gründe für feinen 
Urmut vor, die fi) zum Teil auch gegen Bülow richteten. So beklagte er 
zum Beifpiel, daß das Breftige Deutfchlands in den legten Jahren abgenommen 
babe, wahrend unfere Gegner und Rivalen einen Ring zu bilden im Begri 
jeien. zür die fchwierigen Lagen, die zu gerwärtigen toären, wolle er den Anteil 
ven ttoralifcher Verantwortlichkeit eines Mitarbeiters lieber nicht übernehmen. 
Mit Recht fonnte darauf erwidert werden, daß feit zehn Sahren vom oftajtatifchen 
Dreibumd bis zur Behandlung der Maroflofrage, vom Zransvaalitreit bis zum 
Scheitern der englijhen Annaherungsverfuche und der Pauncefote-Tifferenz mit 
England, in unferer auswärtigen Polttit nidht3 von Bedeutung, abgejehen 
vielleicht von der yafjung der Struger-Tepeiche, gejhehen fei, mozu Holſtein nicht 
geraten hatte, und dag das Aufhoren feiner moralifchen Verantmwortlichleit erit 
vom Tage der Abreile Bulomws nad Stiel zum Beſuche des Königs Eduard 
datierte. Erinem ech vom 1. Juli 1904 ließ Holftein am 6. Juli 1904 
no die Drohung folgen, daß er fih gegen etwaige Preßangriffe bei feinem 
plöglidden Ausscheiden nad Kräften mit allen verfügbaren Mitteln verteidigen 
würde. Noch niemals zuvor waren mir die frankthafte Rankefucht Holfteina und 
jeine terrorijtiihen Anmandlungen fo grel vor Augen getreten. Sein 
Entlaffungsgefuch blieb lange Zeit in suspenso. Nah einer mündlichen Aus 
Tprache nıit dem Kanzler nahm er im September 1904 feinen Dienft unter 
Kichthofen wieder auf. Die provijorifche Ausföhnung war weder für den Reidyg- 
SA und den Staatsjefretär eine Erleichterung nod) für die Politit des Reiches 
ein Gewinn.“ 

Endlich belehren uns die Mitteilungen Hammanns, daß der Rücktriti 
Holſteins ſich nicht in der Weiſe vollzogen, wie bisher überwiegend angenommen 
wurde, nämlich dadurch, daß Tſchirſchky nach Bülows Ohnmachtsanfall im Reichs— 
tag gelegentlich der Marokko-Debatte Holſtein abgeſägt hätte, ſondern daß viel⸗ 
mehr Bülow ſeinerſeits ſeit dem latenten Konflikt mit Holſtein auf deſſen 
Entlaſſung hingearbeitet hat. Staatsſekretär von Tſchirſchky hat noch vor 
Bülows Ohnmacht in deſſen ausdrücklichem Auftrage das Abſchiedsgeſuch 
Holſteins dem RR borgetragen, der die Entlafjung gern erteilte. 

Tie Mitteilungen Hammanns erbringen einen Beweis für Büloms 
diplomatifch-pfychologiiche Kunft, die Abjagung eines nachgerade jo gefahrlid 
geivordenen Weitarbeiters bewirkt zu haben, ohne daß diefer jeinerfeits offenbar 
gemerkt hat, wohin Bülow zielte. Nach den neueren DVeröffentlihungen wird 
jedenfalls der Eindrud verjtärkt, daß der Abjhied eines fo einflußreihen, aber 
geiltig jo eigenartig veranlagten Mannes au8 dem auswärtigen Dienjt für die 
Reichsinterejjen reichlich fpat erfolgt ift. 8.5. 





Allen Manuftripten ift Borto hinzuzufügen, dba andernfall& bei Ablehnung eine Rüdfendung 
nicht verbürgt werden kann. 


Nadhdrud fämtliher Uuftfäge nur mit ausprüdliher Eriaubnis bes Berlagsd geftatter. 
Berantwortlih:; der Herausgeber Beorg Eleinomw ın Berlin -KLichtertelde Well. — Mamuftrivtiendungen und 
Briere werden erbeten unter der Adrerie: 

Un die Schriftleitung der Grenaboten in Berlin SW 11, Tempelboter tifer 35a. 

Bernipiedher des Herausgebers: Amt Bichterieide 498, des Beriags und der Schrittieitung: Amt Bügomw 1510. 
Berlag: Beriag der Srenzboten @. m. 5b. H. in Berlin SW 11, Xempeibofer Ufer Bba. 

Drud: „Der Neihebote” ©. m. b. H. in Berlin SW 11, Defiauer Straße 36/87. 


Mitteilungen 
der Dentihen Bollsräte Bolens und Meitpreubens 


2erantwortlih: Dr. Mar Hilbebert Bochm 
Shriftleitung: Bromberg, Welgienplag 111 
Sernruf Nr. 321 












14. März 1919 









Inhalt: Gloffen zum Tage — Materialien zur oftdeutihen Frage: Die Verbreitung der 
deutihen und polnifhen Bevölkerung in Pofen und Beftpreugen — Aus den 
Deutihen Vollsräten: Die Demarlationsfrage und die Proteftbewegung — Breffes 
fiimmen — Sleine Radrichten. 


Hlojien zum Tage 





Arbeiterräte, Bürgerräte, Solbatenräte, Bauernräte, Srauenräte: fie alle 
geben nur dem Teilmilen von Gruppen und Ständen Ausdrud. Der völtifche 
Gejamtwille ded oftmärfifhen Deutfhtums Tommt allein in’ den Deutfhen 
Bolläräten zum Worte. 


Dag beite Reht der Welt bedarf einer Träftigen Stimme, die e8 geltend 
madt. Bleibt der Oftdeutfche in diefer Zeit der meltpolitifchen Entfheidungen 
ftumm, dann muß er fi felbft die Mitfehuld daran beimefjen, wenn die Zriedeng- 
fonferenz über feine Beiligiten Rechte zur Zagesordnung übergeht. 


Eine Preisaufgabe für Hiltorifer: Wo in der Weltgefhichte ift einem BVolfe 
ein Waffenftilftand zugemutet worden, der ihm die Hände bindet, ohne den 
Teind zur Einftellung der Yeindfeligfeiten zu verpflihten? Die Entente bat das 
Unmögliche möglid gemadt: nur ung, nicht den Polen verbietet fie die %ort- 
führung des Kampfes, den und Landfriedensbreher im eigenen Reiche auf- 
gedrängt Haben. 


Der Pole bricht Shamlos den Waffenftilftand, zwingt ung zum Wieder- 
ftand und zum Proteft und funkt im felben Augenblid nad) Barid: Haltet den 
Dieb! Ein teufliiher Trid, der und in die Rolle de8 Manneß drängt, von 
dem der große Bruder an der Seine mit mweltmännifher Skepſis ſagt: Oh, 
qui s’excuse, s’accusel Ein fehr durchlichtiger Tri! übrigens, freilih nur für 
den, der jehen — will. Wann wird die Welt fehen wollen? 

1 


2 Materialien zur ofdeutfchen Stage 
Materialien zur oftdeutfchen Srage 


Die Derbreitung der deutfchen und polnifchen Bevölkerung in Pofen 
J und Weſtpreußen 


Unſere Karte, die Herbert Heyde unter Leitung von Profeſſor Albrecht Penck 
im Geographiſchen Inſtitut der Berliner Univerſität ausgeführt hat, gibt ein 
weſentlich richtigeres Bild der Verteilung der Deutichen und Polen als die bis— 
herigen, denn ſie iſt nicht nach Kreiſen, ſondern nach Gemeinden bearbeitet. Erſt 
dabei ergibt ſich, wie bunt die Miſchung iſt und wie faſt unmöglich ſchwierig es 
ſein würde, eine ſogenannte „gerechte“ Grenze zu finden. In den folgenden 
Erläuterungen lehnen wir uns an die lichtvolle Darſtellung an, die Profeſſor Dr. 
Albrecht Penck in Nr. 67 der „Deutſchen Allgemeinen Zeitung“ gibt. 

Rein deutſch und rein polniſch heißt: mit weniger als 5 Prozent Beimiſchung 
der anderen Nationalität. Da ſpringt zunächſt eines in die Augen: das rein 
polniſche Gebiet iſt in beiden Provinzen nur wenig mehr als halb ſo groß wie 
die rein deutſchen Gebiete. | 

Die rein deutichen Gebiete liegen im Often und Welten der beiden Provinzen. 
Das Gebiet um Danzig und Elbing, die ganze ftark bevölferte Weichlelniederung 
ift ebenfo rein deutfch, wie die breite Zandftrede füdlih) von Marienmwerder, von 
der Grenze DOftpreußend bi8 zur Weichjelniederung. Danzig als Stadt im 
befonderen ift fo rein deutich wie Berlin. Auf diefem Gebiet fiten auf 3400 Quadrat- 
filometer ungefähr 456000 Deutihe und feine 15000 Polen, alfo nur etwa 
8 Prozent. Im Sften ded Negierungdbezirt8 Bromberg legt fih um den 
Oberlauf der We chiel, ehe fie nad) Norden umbiegt, eine rein deutihe Spradinfel 
zwilhen Brombırg und horn. 

Die reın deutichen Sebieie im Weiten der Poſen ſind Foriſetzungen 
der rein deutſchen Sprachgebiete des Reiches. Nördlich in Weſtpreußen das große 
Gebiet greift bis über Friedland und über Schneidemühl hinaus und geht nach 
Süden bis an die Netze unterhalb Schneidemühl und bis an die Warthe unterhalb 
Birnbaums nach der Provinz Poſen über. Auch die Weſtſpitze der Provinz Poſen 
iſt rein deutſch. Eine Zunge rein deutſchen Gebietes erſtreckt ſich hier von Meſeritz 
bis in die Gegend von Neutomiſchel. Diefe weitlihen rein deutjhen Sprad- 
gebiete der Provinzen umfaſſen 5500 Quadratkilometer mit 208000 Deutſchen 
und etwa 7000 Polen, alſo wieder nur etwa 3 Prozent. Das genannte rein 
deutſche Sprachgebiet in Weſtpreußen und Poſen mißt 8900 Quadratkilometer und 
beherbergt 664000 Deutſche. Rein deutſch iſt alſo der fünfte Teil von Fläche und 
Bemshn:rzahl beider Provinzen. 

Ter Augenfchein lehrt, daß die rein polniihen Gebiete nirgend8 fo gefchloflen 
auftreten, wie die rein deutichen. Sie finden fi} nur in rein ländlihen Sebieten. 
Die Städte haben auch in der Provinz Bofen mwenigjtend 10 Prozent, gewöhnlich 
aber 25 oder mehr Prozent Deutiche. Tie fchmer abgrenzbaren jhwarzen Seile 
füllen vor allem den Süden der Provinz und greifen nur in einen Lleinen Bezirk 
füdlih Krotoihin in den Regierungsbezirk Breslau über. Nördlich Pofend und 
erft recht in Weftpreußen werden fie fpärlid. Schägungsmweile füllen dieje rein 
polnifchen Sebiete 5000 Quabdratfilometer mit faum mehr als 370000 Einwohern, 
darunter 13000 Deurfche. Alfo nad) Zahl der Fläche wenig mehr al8 die Hälfte 
de8 rein deutichen Gebiets! | 

Die völtıfch reinen Gebiete find, wie wir fehen, für beide Nationalitäten 
überwiegend NRandgebiete. Der Stern der Provinzen, der dreiviertel de8 Bodens 
umfaßt, ift gemilhtipradig. Wohl Haben im Norden die Deutihen, im Süden 
die Bolen die Mehrzahl. eine irgendwie Klar trennende Abgrenzung aber ift bei 
dem ftarfen Sneinandergreifen der Gebiete fchlechtweg unmöglid. Um nur eins 
ber vielen Beilpiele zu wählen: die polnifche Spradinfel von Bomft ift von einem 
überwiegend deutichen Gebiete umjdlofien. Ä 


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Materialien zur oftdentichen frage 3 











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4 Materialien zur oftdeutfchen Stage 


Nberrafhend groß und gefchloffen erfheint zuerft daS überwiegend polniid 
gemifchtipradhige Gebiet im nordmeftlihen Weftpreußen, das fi) nördlid von 
Bromberg bis nad) Rirböft an der Dftfee erftredti. Diefe rund 7000 Quadrat- 
filometer, die groß genug find, um auf den meiften etbnographiiden Karten zur 
Darftellung zu gelangen, verlieren jchon durh ihre Bewohnerarmut Ttarl an 
Bedeutung, nur 237000 Slawen und 102000 Deutfhe wohnen auf Dielen 
7000 Quadrattilometern, wobei wir nod) die SSrage beifeite laffen, ob die jpradlid) 
faft Telbftändigen Kafluben, die den größeren Zeil des Gebiete8 bewohnen, denn 
nun mwirflid zu den Polen gehören. Ein Riegel au8 überwiegend. deuticher Be- 
völferung jchnürt audem —— Neuſtadt und Rheda den Landzugang dieſer 
Sprachinſel zum Meere faſt ganz ab.. 

Sit e8 fo mit der polnifch-flawifchen Landbrüde zum Meere fhon nichts, fo 
ift e8 vielleicht daS wichtigfte Ergebnis unferer Starte, daß fich die polniiche Brüde 
lang8 der Weichjel zum Meere ald eine reine SKonftruftion erweift. — Nur durd) 
bie Berechnung nad) Streifen und zwar nad) Zandfreifen möglihd! Sobald man 
3. B. Land- und Gtadifrei8 Thort — wie billig — zufammenrecdnet, verwandelt 
fih die fnappe polnifche Landtreismehrheit von 53 Prozent in eine Mtinderheit 
pon 44 Prozent und auch der Kreis Schweg bat feine Mehrheit von ohnehin nur 
1 Prozent nur durch die weftlichen Hinterländer der Tuchler Heide. Ahnlich fteht 
es im Kreiſe Eulm. | 

Das Gegenteil ift richtig, wie unfere Karte zeigt. E8 geht an der Weichlel 
entlang zwar feine polnifche, wohl aber :eine deutiche Brüde, die auf feften 
Pfeilern ruht und den Deutichen al8 Talbewohrer und Stromanmwohner zeigt. 
Bon Thorn nach Bromberg geht fie dur rein deutiches Gebiet, biß über Graudenz 
hinaus dur) überwiegend deutfches Land, biß weftlicdh Marienmwerder wieder burd 
rein deutfche Streden, um weiter nördlicdy nach einer furzen Unterbrechung durd) 
nur zwei überwiegend polnifche Dörfer wieder in ba8 rein deutihe Land, um 
da8 Weichjeldelta, um Danzig und Elbing zu münden. 

Und wenn dann fchon von Land- und Spradhbrüden geredet werben fol, 
fo verbindet eine ganz ununterbrochene deutjche Brüde, wie unfere Karte zeigt, 
über die Weichfel weg Berlin und Königsberg. Auch fie ift im tmwejentlichen eine 
Tieflandbrüde. Sie verläuft entlang der Warthe und Neke über Schneidemühl 
nad) Bromberg, begleitet ein Stüd die Weichjel bi8 Graudenz und mündet im 
DMarienwerder Gebiet ind Oftpreußifche. 

Nur dadurch, dag faft überall in Weftpreugen die Deutihen wejentlid 
dichter wohnen als die Polen, erfcheint da8 von Polen und SKafjuben bejeste 
weitpreußifche Gebiet jo verhältnismäßig groß. Das Progentverhältnis if 
55 Prozent Deutfche und 45 Prozent Bolen. Rechnet man noch den Regierungsbezirk 
Bromberg nördlid) der Nege binzu, fo ergeben fih auf 31800 Quadrattilometer 
1383 000 Deutihe und nur 714000 Bolen. Alfo 66 Prozent Deutjchen ftehen 
nur 34 Prozent Bolen gegenüber. 

. Zu diefen ftatiftiichen Zeftlegungen über Zahl und Raum pafjen ein paar 
Angaben über zeitliche Bevölferungsverfchiebungen. In der Provinz Pofen- Heigt 
- die Anzahl der Bolen bi8 1900. Bon da ab werden fie langfam dur die 
Deutihen zurüdgemworfen, ihr Prozentfag vermindert fih biß8 1910 um 0,39. — 
Sn Weftpreußen ift ein Hin- ued Herfchwanfen zu beobadhten. Bon 1890 bis 10 
finft der Prozentjag Polen um 2,24. Bon 1%0 bi 1905 fteigt er wieder um 
2,41, fällt dann aber bis 1910 wieder um 2,29. Der progentuale Anteil ber 
Polen ift 1910 um über 2 Prozent geringer al8 1890. — Für Oftpreußen fintt 
die Anzahl der Polen von Beitraum zu Zeitraum. 1910 ift ihr Progentjag gegen 
- 1890 weit unter die Hälfte zurüdgegangen. — Recdhnet man nod) Scylejien Hinzu, 
wo die Zeit von 1%5 biß 1910 für die Polen einen NRüdgang von mehr ald 
1 Prozent aufmeift und nimmt man die Querfummen ber vier öjtlichen Provinzen, 
p ergibt fi, daB die Polen big 1900 in ihrem prozentualen Anteil gefunfen 
ind, fih dann bid 1905 ungefähr auf gleicher Höhe gehalten Haben, dann aber 
bi3 1910 etwa über 1 Prozent verloren haben. Zmwilchen 1890 und 1910 bat 
jih der prozentuale Anteil der Polen um 1,3 Prozent verringert. 


Aus den Dentfyen Dolfsräten 5 


Alfo weder Zeit no Raum noch Zahl begründen irgendwie zwingend 
polnifche Aniprüde auf deutiches Land. Dap Polen zum Meer mill, ift begreif- 
lih und daß die Weichjelande ehedem einmal unter polnijcher Oberhoheit ge⸗ 
ſtanden haben, beſtreitet keiner. Haben dieſe doch recht ausgedehnten Zeiten ſie 
zu polonifieren vermocht? Nein, die Weichſellande haben in dieſen Zeiten auf 
Grund höherer Kultur und befſerer ethiſcher Fähigkeiten — Fleiß und Ausdauer — 
ihren alten deutſchen Charakter gut bewahrt. Und heute hat die große Sprad)- 
inſel Oſt- und Weſtpreußens, die, wie wir ſehen, in den Niederungsgegenden 
weit über Danzig hinausreicht, zehnmal ſoviel deutſche Bewohner, als das ohne— 
hin nur gemiſchtſprachige polniſch-kaſſubiſche Land zwiſchen Bromberg und Rixhöft 
auf den ſandigen Höhen Weſtpreußens, das nirgends Anſchluß an andere polniſche 
Gebiete hat, ſondern deutlich von der deutlichen Südmeft-Nordoft-Brüde abgetrennt 
wird. — Gewiß, was für Böhmen die Elbe ſchon war, muß und kann für Polen 
die Weichſel werden. Ein Ausfuhrweg, den Zollſchranken nicht erfchweren. Da- 
mit ift aber auch alles nötige und alles billige zugeſtanden. 

Im Regierungsbezirk Poſen nun ſtehen die Deutſchen zu den Polen wie 
7 zu 15. Aber nirgends ſitzt in größerer Ausdehnung das polniſche Element 
rein beieinander. Und das ftarke deutſche Bürgertum der Städte ſchlingt überall 
kaum lösbare, nur zerreißbare wirtſchaftliche Bande mit dem übrigen Preußen. 

Damit kommen wir vom ſchon für den Polen nicht erweisbaren Recht der 
reinen Zahl zum Recht, das Wirtſchaft und Kultur gibt. Und da bringt die 
Arbeit von Dr. Moritz Weiß „Die Stellung des Deutſchtums in Poſen und Weſt⸗ 
preußen,“ auf welche die Mitteilungen roh zurüdfommen (W. Greve, Berlin), 
den jedr Haren Nachweis, daß die beiden Lande von jeher ganz deutfch fultiviert 
waren. , Beginnend mit der Koloniftenarbeit im 13 Sahrhundert war der Deutfche 
hier der Kulturbringer und zwar nicht nur ald Städtegründer, fondern aud als 
Bauer, dem doppelt foviel Land zugeiwieſen wurde, weil er doppelt ſoviel zu be— 
arbeiten verſtand. Wie fich das im Auf und Ab der Zeiten allmählich entwidelt 
und gefteigert hat, dafür Iprechen am beiten die furz aufammenfafienden Schluß- 
fäge der Schrift von Weiß, von denen wir die zweite Hälfte twiedergeben: 

„Der Srundbefig. au der Privatbefig, ijt überwiegend deutih. — PDas8 
- deutfhe Bauerntum befigt in Bofen mehr LYand al8 daS polnische. — Das Deutid- 
tum ift im Grundbelig in PBofen ftärfer al8 da8 PBolentum in Oftgalizien. — Die 
Städte find überwiegend deu, auch ohne Militär und Beamtentum. — Der 
Grundbefig in ihnen ift überwiegend deutih. Handel und Berfehr ift überwiegend 
deutijch. — Gewerbe und Snduftrie find, namentlih in den wirtichaftlid wichtigen 
Betrieben, überwiegend deutih. — Die Deutfhen zahlen unverhältnismäßig mehr 
Steuern ald die Polen. — Die Deutichen Haben die fulturelle Ueberlegenheit. — 
Poſen als landwirtſchaftliches Aberſchußgebiet ſindet wirtihaftlih und verfehrs- 
politiſch ſeine natürliche Ergänzung in dem induſtriellen Mittel- und Weſtdeutſch⸗ 
land. Die Zugehörigkeit Poſens zu Preußen hat der Provinz jährlich „Zehnie 
bon Millionen“ eingebracht. 

Die Verbindung mit Polen bedeutet für die Provinz eine wirtfchaftliche 
——— 


Aus den Deutſchen volksräten 


Die Demarkationsfrage und die Proteſtbewegung 


Die oftmärlifhe Frage in der Rede bes 
Gtantsjelretär des Außern Grafen Broddorff- 
Rankau in der Nationalverfammlung am 
14. Yebruar 1919: „... Sind wir hiernad 

entihloffen, ringsumber zugunften deutfcher 
i / 


Brüder das Net der Rationalität geltend 
zu maden, fo wollen wir da8 Net aud) da 
anerfennen, wo e8 fi gegen unjere Madjt- 
ftelung wendet. Da® gilt vor allem für das 
Bolt der Wolen. Wir Haben uns bereit er- 


6 Aus den Deutjchen Dolfsräten 





Härt, alle ungmeifelhaft polnifd befiedelten 
Gebiete unferes Reiches mil dem polniihen 
Staate verbinden zu lafien. Wir wollen da3 
Berfprehen Halten. Welhe Gebiete unter 
den dreizehnten Buntt von Wilfond Brogramm 
fallen, ift ftrittig. Eine unparteiifhe Inftanz 
mag darüber entfcheiden; biß fie entichieden, 
gehören diefe Gebiete zum Reich. (Zuftimmung.) 
Niemand ift befugt, in ihnen Hoheitärechte 
auszuüben, als der preußifhe Staat und die 
Neichsregierung. (Zuftimmung.) Die leiden» 
Ihaftlihe nationalpolnifshe Propaganda Hat 
die Entjcheidung der riedenslonferenz nicht 
abwarten wollen, fondern fih mit Gewalt 
gegen deutfhe und preußiiche Behörden er- 
hoben, um mit möglidjft günftigem Befig- 
ftand in die Friedendverhandlungen einzu- 
treten. So tragen fie die Schrednifje deö 
‚ Krieges don neuem in den deutihen Diten, 
der gleichzeitig von der größeren Gefahr de® 
bolfhewiftiihen Jmperialismus bedroht ilt. 
So verhindern fie und, die preußifhhen Dfte 


probinzen wirffam vor dem gemeinjamen 
Gegner zu fügen. Diefe Tatfahen müßten 


außreihen, um jedem Politifer ar zu madıen, 
‘daß ed die erfte Aufgabe ift, die preußijchen 
Polen zur Ordnung zu rufen, damit fie biß 
zur Friedendlonfereng von angemaßter Gewalt 
Abſtand nehmen. Sie können fih nicht mehr 
auf Notwehr berufen, denn die neue deutiche 
Negierung bat die drüdenden Sondergejeße 
aufgehoben und war bereit, Polen aud) 
in der Beamtenauswahl entgegenzulommen. 
Trogdem ftellen die Bolen uns als Angreifer 
dar, und die Entente unternimmt e3, und 
Anwendung von Gewalt gegen die Bolen in 
unjerem eigenen Land gu unterfagen. Die 


Neich3regierung hat diefe Zumutung abgelehnt - 


, und die Entfernung aller bewaffneten polni- 
{hen Formationen auß dem jegigen Neich3- 
gebiet gefordert. (Beifall.) 

"Für jede andere Yorım der Einwirkung, 
mit der die alliierten und afloziierten Mächte 
Muhe in den polniihen Gebieten heritellen 
wollen, wird die deutiche Regierung volles 
Berftändni® haben. Wir find durch das 
Waferftilftandsablommen verpflidtet, Ab- 
ordnungen unjerer Gegner zu diefem Zweck 
Durdgug don der Oftfee nad) Kongregpolen 
au geitatten, und Werden die Neile der 
Kommilfipn, die fie und angelündiget haben, 


in jeder WVeife erleichtern und unterftügen. 
Unfer eigener Vorteil verlangt, daß die Haß. 
atmofphäre, die augenblidlih die deutfd- 
polniihen Beziehungen vergiftet, noch vor 
Beginn der Friedendverhandlungen reinerer 
Zuft deö gegenfeitigen Berjtändniffes weicht. 
Leider lönnen wir nicht vorauafehen, daß 
wir im polniihen Staat einen bequemen 
Nahbar Haben werden. (Sehr richtig!) Et 
muß und wird unfer Beftreben fein, dur 
forgfältige Pflege der gemeinfamen Intereſſen 
und durd) gegenfeitige Schonung der nati- 
onalen Sigenart einen modus vivendi zu 
finden. 

Dazu gehört vor allem die Anerfennung 
des polniſchen Rechts auf geſicherten Verkehr 
mit der Oſtſee. Das Problem kann durch 
vertragsmäßige Regelung der Weichſelſchiff⸗ 
fahrt und durch Konzeſſionen auf dem Gebiet 
der Eiſenbahnen und des Hafenweſens geloͤſt 
werden, ohne daß die Reichseinheit ũber un⸗ 
veräußerliches weſtpreußiſches Gebiet angetaſtet 
zu werden braucht 

Wenn Polen verlangt, daß dieſe Rechte 
wie überhaupt ſeine ſtaatliche Selbſtändigkeit 
unter internationale Garantien geſtellt werden, 
fo wird Deutſchland nichts dagegen einzu⸗ 
wenden haben, ſolange darin keine Spitze 
gegen einen beſtimmten Nachbar enthalten iſt“ 

Zuſatzabklommen zum Waffenftillſtands⸗ 
vertrage. In den Vorſchlägen zum Zuſatz⸗ 
abkommen über die Verlängerung des Waffen⸗ 
ſtillſtandes, die Marſchall Foch dem Reichs⸗ 
miniſter Erzberger am 14. Februar übergeben 
bat, lautet der auf die Polenfrage bezügliche 
erfte Buntt: | 

Die Deutfhen müflen unverzüglich alle 
Dffenfivbemegungen gegen die Polen in dem 
Gebiet von Rofen oder ın jedem anderen 
Gebiet aufgeben. Zu diefem Zmed wird 
ihnen unterfagt, folgende Xinien durch ihre 
Xruppen überfchreiten zu laflen: 

Gegen Süden die Linie der ehemaligen 
Orenze Dft- und Reftpreußen® gegen Ruß. 
land 613 zur Weidiel, dann weitlih der 
Beichiel die Linie, die über Rodgorz (jüdlid 
bon Thorn), Brgoge, Schubin, Erin, Tipin, 
Samotidin, Chodzieien (Kolmar), Eyarnıkau, 
Niala und Birnbaum läuft. Gegen Often 
die Linie Bentihen, Wollitein, Briment, Sifie, 
Bojanowo, Rawitſch, Trachenberg, Werndorf, 


Aus den Deutfchen Dolfsräten 7 





Groß-Briefe und Drofhlau; von Droihfau 
an die Linie, die über Noldau, Dombrowfa 
und Rupp läuft und die Oder beim Zu- 
fammenfluß der Malapane erreiht und von 
diefem Zufammenfluß an die grüne Linie auf 
beigefügter Karte. 

Auf Grund einer Aussprache, die im Aufs 
trage ded Neich3minifter8 Erzberger und 
Marſchalls Foch zwilchen Generalmajor von 










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Hammerſtein und Generalſtabechef Weygand 
ſtattfand, erhielt der Artikel 1 folgende end⸗ 
gültige Faſſung: Die Demarkationslinie ver⸗ 
läuft folgendermaßen nach der Lagenkarte der 
Oberften Heeresleitung vom 6. Februar: Von 
der ruſſiſchen Grenze bei Luiſenfelde auf einer 
Vinie, die über weſtlich Luiſenfelde, weſtlich 
Groß⸗Neudorf, ſüdlich Brzoze, nördlichSchubin, 
nördlich Exin, ſüdlich Samotſchin, ſüdlich 
Chodzieſen (Kolmar), nördlid Ezarnilau, 


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Dıe im Weßlenstülstandsvertrag vereinbarte Vemarkaliaons, 
| /inie mif den Polen 


. wehtlih Miala, weitlihd Birnbaum, weftlich 


Bentihen, weitlih Wollftein, nördlih Lille, 
nördlich Rawitſch, ſüdlich Krotoſchin, weſtlich 
Adelnau, weſtlich Schildberg und noͤrdlich 
Vieruchow EEichenbronn) bis zur ſchleſiſch⸗ 
ruſſiſchen Grenze. Alſo bleibt Oſt (anſcheinend 
Telegrammverſtümmelung, ſoll wahrſcheinlich 
Oſt⸗ und Weſtpreußen heißen) und Oberſchleſien 
wie heute in unſerer Hand. Die Regierung in 


er 
ERNOISUTT 






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6 





dem jo umjcriebenen Gebiet wird in ben 
Vaffenftillftandsbedingungen nicht vereinbart. 
Kiefe Frage bleibt offen, da tatfächlich feit- 
geitellt ift, daß e8 fich hier nur um eine propis 
foriide Abmahung handelt, welde dem 
Friedensvertrag in feiner Weije vorgreift. 
Der Schuß der Deutihen in diefem Gebiet 
wird von der internationalen Kommilfion in 
Barfchau, welde wahrjcheinlich Vertreter nach 
Spaa entjenden dürfte, garantiert. 


8 “ Aus den Deutfchen Dolfsräten 





Einfprud der beutfihen — 


Eine vom Reichsminiſter Scheidemann unter⸗ 


zeichnete Mitteilung der Reichsregierung an 
den Reichsminiſter Erzberger, Waffenftill⸗ 
ſtandskommiſſion in Trier (vom 16. Februar) 
behandelt die Polenfrage wie folgt: 

Bitte Abkommen unterzeichnen, aber vor⸗ 
her Marſchall Foch folgende ſchriftliche Er⸗ 
klärung übergeben: 

Die deutſche Regierung iſt ſich der Schwere 
der Folgen bewußt, die ſowohl die Annahme 
wie die Ablehnung des Abkommens nach ſich 
ziehen müßte. Wenn ſie ihre Delegierten 
angewieſen hat, zu unterzeichnen, ſo geſchah 
dies in der Aberzeugung, daß die alliierten 
und aſſoziierten Regierungen jetzt ernſtlich 
beſtrebt ſind, innerhalb der kurzen Friſt, für 
die ſie den Waffenſtillſtand verlängert haben, 
der Welt den erſehnten Frieden wiederzugeben. 
Die deutſche Regierung iſt aber genotigt, ihren 
Standpunkt zu den dreiBedingungen des Abtkom⸗ 
mens durch folgende Bemerkungen klarzuſtellen: 


1. Das Abkommen ignoriert die aus dem 


Volkswillen in geordneten Formen herbvor⸗ 
gegangene deutſche Regierung. Es legt den 
Deutſchen in Form ſchroffer Befehle und Ver⸗ 
bote zugunſten der aufſtändiſchen Polen die 
Pflicht auf, eine Anzahl wichtiger Plätze, dar⸗ 
unter Birnbaum und Bentſchen, ohne weiteres 
zu räumen. Dieſe Plätze ſind in deutſcher 
Hand, überwiegend deutſch beſiedelt und von 
weſentlicher Bedeutung für den Verkehr mit 
dem deütſchen Oſten. Dabei leiſten die alli⸗ 
ierten und aſſoziierten Mächte nicht einmal 
die Gewähr dafür, daß die Polen es ihrer⸗ 
ſeits unterlaſſen, neue Angriffe zu unternehmen 
oder vorzubereiten, daß ſie die deutſche Be⸗ 
vblkerung, auf deren Schutz wir verzichten 
ſollen, menſchenwürdig behandeln, daß ſie die 
deutſchen Geiſeln freigeben, deren Feſthaltung 
jetzt jeden Sinn verliert, und daß ſie den 
bisherigen Lebensmittelverlkehr nach dem 
Weſten hin aufrechterhalten. Wenn wir auch 
bereit ſind, jede militäriſche Angriffshandlung 
in Poſen und anderen Gebieten einzuſtellen 
und die gegenwärtige militäriſche Lage dort 
als Baſis anzuerkennen, ſo müſſen wir doch 
erwarten, daß auch die aufſtändiſchen Polen 
die Demarkationslinien einhalten, anderen⸗ 
falls müſſen wir befugt ſein, uns mit Waffen⸗ 
gewalt zur Wehr zu ſetzen.... 


Erzbergers Erflärung. In der Sitzung 
der Nationalverſammlung vom 17. Februar 
äußerte ſich Reichsminiſter Erzberger über die 
Demarlationsfrage wie folgt: 

„Sleichzeitig ließ Marihall Foch uns 
wiſſen, daß er nicht in der Lage ſei, irgend 
etwas an den mir mitgeteilten Abmachungen 


zu ändern oder ſie zu verbreitern, denn die 


Bedingungen ſeien feſtgeſetzt von den Chefs 
der alliierten und aſſoziierten Regierungen, 
und ſein Dolmetſcheroffizier teilte ausdrücklich 
mit, daß auch Präſident Wilſon ausdrüclich 
dieſe Bedingungen genehmigt habe. Dadurch 
war dem Tätigkeitsraum der Kommiſſion eine 
enge Grenze gezogen, trotzdem haben wir 
verſucht, eine Reihe von Milderungen durch⸗ 
zuſetzen. Von einer Ausnahme abgeſehen, 
die ſich auf eine anderweitige Abgrenzung 
gegenüber Polen bezieht, iſt uns dies zu 
unſerm lebhaften Bedauern nicht gelungen. 
Nach den mir am Freitagnachmittag über⸗ 
reichten Bedingungen und nach der Karte, 
die ich auf den Tiſch des Hauſes niederlege, 
ſollte das von uns zu räumende reſp. nicht 
zu überſchreitende Gebiet im Süden, die 
Oder entlanggehend, ganz Oberfchlefien um- 
faffen. 3 babe fofort erllärt, daß auf der 
Grundlage diefer Vorichläge von den deutidhen 
Unterbändlern nicht verhandelt werden Tönne, 
denn alle diejfe Gebiete feien nicht, wie Mar- 
Hal oh irtümlid annehme, von den 
Bolen befegt. E8 fand eine Auzipradhe der 
beiderjeitigen militärii hen Sadverftändigen 
ftatt, die dazu geführt Hat, daß fowohl der 
Negediftrift bei Bromberg nicht in das Gebiet 
einbezogen wird, ald au Oberfchlefien aus 
dem Gebiete ausgefchaltet bleibt. Mehr war 
angefiht? der Berhältniffe nicht zu erreichen. 
Die Forderung, daß die deutfche Stadt Birn« 
baum nit von ung geräumt werden mülle, 
wurde abgelehnt, ebenjo bezüglid) Bentichen?. 
Bir Haben nur da8 eine erreicht, daß der 
Bahnhof Bentfchen von unferen Truppen nit 
geräumt werden muß. Die Alliierten haben 
ihrerjeit3 die Verpflichtung übernommen, zu 
gewährleiften, daß auch die Bolen fich ftrikie 
an die verabredete Linie halten follen. Die 
Bemühungen, zum Schuge der Deuticen in 
allen diefen Gebieten Beftimmungen in den 
BVaffenftiliftandsvertrag aufzunehmen, waren 
erfolglos. Foch Hat nur in Ausficht geftellt, 


Aus den Deutfchen Dolfsräten 9 


daß er fi bemühen werde, für eine Löfung 
der Frage in unferm Sinne in ber inter- 
allierten Kommiffion einzutreten. Er erflärte 
politiv, daß da8 ganze Ablommen in feinem 
eriten Artifel eine rein militäriihe Maßnahme 
darftele und Teinerlei politiihe Folgewir- 
tungen nad) fi) ziehen Tönne, daB alfo aud 
durch die Abgrenzung diefer Gebiete in feiner 
Weile der Erledigung des dreizehnten Bunttes 
des Wilſonſchen Programms vorgegriffen 
werden ſolle. Es bleibt den künftigen Ver⸗ 
handlungen überlaſſen, daß den von uns 
geräumten Gebieten ein genügender Schutz 
geleiſtet wird. Wichtig iſt, daß nach den 
Verſicherungen der Allierten auch die Polen 
jede militärifde Offenfivbewegung gegen 
Deutihland einguftellen haben.“ 


Die Proteftbewegung 


Namens der in den Deutichen Bollsräten . 


ber Provinz Pofen zufammengeidloffenen 
800000 Deutihen ging am 20. yebruar fols 
gende Drabtung an die Rationalverfammlung, 
an den Neichtfanzler und an die Waffen- 
ftilftandstommilfion: 

Sn voller Würdigung der großen Schwier 
rigleiten, unter denen die Waffenitillftand?« 
tommiffion die Gejamtintereffen des deutfchen 
Volle8 und in ihrem Nahmen auch unfere 
oftmärfiihen Lebensnotwendigfeiten zu ber- 
teidigen hat und in Anerkennung der bisher 
geleifteten Arbeit diefer Kommilfion erheben 
wir gegen die Vergewaltigung der oftmärli« 
fen Deutihen dur die Entente flammenden 
Broteft. "Die wirtichaftlihe und Tulturelle 
Strufiur des im Kern deutfchen Landes wird 
durh eine Außerlihe, von polnifder Seite 
vielfach tendenziös mißbraudte Nationalitäten» 
ftatiftit nicht wirklichleitögetreu erfaßt. Der 
gefamte Tulturelle Beitand de& jeinerzeit in 
‚völliger Verwahrlofung dem zerfallenden 
Bolenftaate entglittenen Landes verdankt deuts 
fdem Fleiß und Erfindung2geift fein Dafein. 
Da im demofratiihen Deutihland den Polen 
weitherzige Gewährung fuliureller und natios 
naler Autonomie fiher ift, Tiegt Tein Anlaß 
. au Gebietdabtrennungen vor, die die Lebens 
interefjien des deutihen Volles, vor allem auf 
dem Gebiete des Ernährungsweſens, bedrohen 
und deshalb den Keim gu neuen europäifchen 
Berwidlungen umd Friedenzftörungen legen 


müffen, an denen: von der Entente allein 
Branfreih ein egoiftifches Antereffe hat. Die 
den ausdrüdliden Kundgebungen BWilfons 
und der Entente zuimiderlaufende Präjudi- 
zierung der riedensverhandlumgen und damit 
da3 erjhüttende Ergebnid der legten Waffen» 
ftilftandöverhandlungen wurden den Polen 
dur) einen militärischen Landfriedensbruch 
möglid, der die unentrinnbare Folge der 
Unterlafjungsfünden umferer Regierung in 
den Monaten November und Dezember ger 
weien if. Eine weitere Erichwerung der 
Stellung unferer Delegation bei den end» 
gültigen Friedeneverbandlungen ift nur durd) 
Berbhinderung weiterer militärifher wie auch 
verwaltungdtechnifcher Übergriffe und Prä- 
judizierungen der Polen abzuwehren. Erite 
Boraudfegung ift die durchgreifende Abwehr 
aller Banden, die unter polniiher Zlagge 
vielfach rein bolfchewiftifhe Tendenzen vere 
bergen, dur) gut Ddilziplinierte Xruppen. 
Ferner ift eine unabiweigliche Forderung die 
Wiederherftellung der Berwaltungseinheit der 
Provinz Pofen biß zum endgültigen Sprude 
des Friedenslongrefie® und die einftweilige 
Belafjung der zentralen Yunttionen für die 
ganze Provinz bei den Bromberger Behörden. 
Damit ift ein Verzicht des Oberften polnifchen 
Bollsrate® auf feine angemakten Hoheit?» 
rechte gefordert. Gelingt e8 nicht, das jhwer 
erjchütterte Aniehen der rechtmäßigen Ne- 
gierungsgewalt in der Oſtmark unverzüglich 
wiederherzuſtellen, ſo iſt damit eine Einbuße 
an Reichsfreudigkeit und Zukunftsglauben auch 
bei drei Millionen Deutſchen der Oſtmark 
mit Sicherheit zu erivarten. Für die politi» 
[hen Zolgen folden nationalen Yufammen- 
bruches lehnen wir die Verantwortung feier- 
li ab, da wir die verfehlte Politit des 
Minifterialdireftord von Gerlad) und der von 
ihm informierten Berliner Stellen unter Vor⸗ 
ausfiht der inzwifchen eingetretenen Kolgen 
durch Warnungen und Protefte don An« 
beginn auf da3 entidhiedenfte befämpft haben. 
gez. Sleinow. 

- Die Waffenftilliftandstommiffion in Span 
dat auf da8 namen? der in den Deutichen 
Bollsräten der Provinz PBofen zufammen- 
geihlofjenen 800 000 Deutfhen abgegangene 
Proteittelegramm an Gebeimrat Georg 
Eleinoiw in Bromberg folgende Antwort ges 


219 Holftein 


— — — — — — — —— — — — — e — — — —— —— — ——— —— — 
— —— — — —— ñ —⸗ — — ñ Ta I 


verhandelt werden mußte. In ſeinen Briefen brachte er neue Gründe für ſeinen 
Unmut vor, die ſich zum Teil auch gegen Bülow richteten. So beklagte er 
zum Beiſpiel, daß das Preſtige Deutſchlands in den letzten Jahren abgenommen 
habe, während unſere Gegner und Rivalen einen Ring zu bilden im Begriff 
ſeien. Für die ſchwierigen Lagen, die zu gewärtigen wären, wolle er den Anteil 
von moraliſcher Verantwortlichkeit eines Mitarbeiters lieber nicht übernehmen. 
Mit Recht konnte darauf erwidert werden, daß ſeit zehn Jahren vom oſtaſialtiſchen 
Dreibund bis zur Behandlung der Marokkofrage, vom Transvaalſtreit bis zum 
Scheitern der engliſchen Annäherungsverſuche und der Pauncefote-Differenz mit 
England, in unſerer auswärtigen Politik nichts von Bedeutung, abgeſehen 
vielleicht von der Faſſung der Krüger-Depeſche, geſchehen ſei, wozu Holſtein nicht 
geraten hätte, und daß das Aufhören ſeiner moraliſchen Verantwortlichleit erſt 
vom Tage der Abreiſe Bülows nach Kiel zum Beſuche des Königs Eduard 
datierte. Crinem Abjchiedsgefucdh vom 1. „Juli 1904 ließ Holftein am 6. uli 1904 
noch die Drohung folgen, daß er fich gegen etwaige Preßangriffe bei feinem 
plößlihen Ausicheiven nah Kräften mit allen verfügbaren Mitteln verteidigen 
würde. Noch niemals zupor waren mir die frankhafte Räanfefuht Holjteing und 
feine terroristiihen Anmandlungen jo grel vor Augen getreten. Sein 
GEntlaffungsgefuch blieb lange Zeit in suspenso. Nad) einer mündlihen Aus 
Iprache nit dem Kanzler nahm er im September 1904 feinen Dienjt unter 
Nichthofen wieder auf. Die provijorifche Ausföhnung war weder für den Reidh3- 
— und den Staatsſekretär eine Erleichterung noch für die Politik des Reiches 
ein Gewinn.“ 

Endlich belehren uns die Mitteilungen Hammanns, daß der Rücktriti 

Holſteins ſich nicht in der Weiſe vollzogen, wie bisher überwiegend angenommen 
wurde, nämlich dadurch, daß Tſchirſchth nach Bülows Ohnmachtsanfall im Reichs⸗ 
tag gelegentlich der Marokko⸗-Debatte Holſtein abgeſägt hätte, ſondern daß viel— 
mehr Bülow ſeinerſeits ſeit dem latenten Konflikt mit Holſtein auf deſſen 
Entlaſſung hingearbeitet hat. Staatsſekretär von Tſchirſchky hat noch vor 
Bülows Ohnmacht in deſſen ausdrücklichem Auftrage das Abſchiedsgeſuch 
Holſteins dem Nie borgetragen, der die Entlafjung gern erteilte. 
! Die Mitteilungen Hammanns erbringen einen Beweis für Büloms 
diplomatisch-pfgchologiiche Kunft, die Abjfägung eines nachgerade fo gefährlich 
gewordenen Mitarbeiters bewirkt zu haben, ohne daß diefer feinerjeits offenbaz 
gemerkt bat, wohin Bülow zielte. Nach den neueren Veröffentlichungen wird 
jedenfall der Eindrud verjtarkt, daß der Abjchied eines jo eniflüßreidien, aber 
geiftig jo eigenartig veranlagten Mannes aus dem auswärtigen Dienft für die 
Neichsinterefjen reichlich fpät erfolgt ift. £. 5. 





Allen Manujkripten ift Borto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehuung eine Rüdfenbung 
nicht verbürgt werden kann. 





Nahprud fämtliher Untiäge nur mit ausdrüfliher (Eriaubnis bed Berlagd geftatter. 
Berantwortlid: der Herausgeber &eorg Eleinomw in Berlin Lichterteide Well. — Manuitriptienbungen und 
Briere werden erbeten unter der Adrefie: 
An die Echriftleitung der Greuaboten in Berlin SW 11, Tempelbofer fer 3b a. 
de® Herausgebers: Amt Lichterielde 498, bed Beriags und der Schrittieitung: Amt Bügow 516. 
Berlag: Berlag der Srenzboten &. m. b. H. in Berlin SW 11, Xempeibofer Ufer Bba. 
Drud: „Der Neihkbote” ©. m. 5.9. in Berlin SW 11, Defjauer Straße 38/87. 


Fernſprecher 


Mitteilungen 
‚der Deutiihen Bollsräte Bolens und Weitpreuhens 


Zerantwortlihd: Dr. Mag Hildebert Bocehm 
Schriftleitung: Bromberg, Welgienplag 111 
Fernruf Nr. 321 












Nr. 1/2 14.März 1919 









Inhalt: Gloffen zum Tage — Materialien zur oftdeutihen Frage: Die Verbreitung der 
deutfhen und polnifhen Bevöllerung in Pofen und WBeftpreußen — Aus den 
Deutihen Bollzräten: Die Demarlationdfrage und die Brotefibewegung — Prefie- 
fimmen — Kleine Nachrichten. 


Slofjen zum Tage 





Arbeiterräte, Bürgerräte, Soldatenräte, Bauernräte, rauenräte: fie alle 
geben nur dem Zeilmilen von Gruppen und Ständen Ausdrud. Der völfifche 
Geſamtwille des oſtmärkiſchen Deutſchtums Tommt allein in den Deutfhen 
Bolldräten zum Worte. 


Das beite Reht der Welt bedarf einer Träftigen Stimme, die e8 geltend 
madt. Bleibt der Oftdeutjche in diefer Zeit der weltpolitiihen Entfeidungen 
ftumm, dann muß er fidh jelbft die Mitfhuld daran beimefjen, wenn die Friedens⸗ 
fonferenz über feine heiligiten Rechte zur Zagedordnung übergeht. 


Eine Preisaufgabe für Hiftorifer: Wo in der Weltgefhichte ift einem Volte 
ein Baffenftilftand gugemutet worden, der ihm die Hände bindet, ohne den 
Zeind zur Einftellung der Feindjeligfeiten zu verpflichten? Die Entente bat da3 
Unmögliche möglih gemadt: nur ung, nicht den Polen verbietet fie die Fort— 
führung des Stampfeß, den ung Landfriedensbredher im eigenen Reiche auf- 
gedrängt Baben. 


Der Pole bricht ſchamlos den Waffenftillftand, zwingt ung zum Wieder- 
ftand und zum Broteft und funkt im felben Augenblid nad) Paris: Haltet den 
Died! Ein teufliiher Trid, der und in die Rolle de8 Mannes drängt, von 
bem ber große Bruder an der Seine mit mweltmännifher Stepfiß fagt: Oh, 
qui s’excuse, s’accuse! Ein fehr durdhlichtiger Trid übrigens, freilih nur für 
den, der jehen — will. Wann wird die Welt jehen wollen? 


2 Materialien zur ofldeutfhen Srage 
Materialien zur oftdeutichen Srage 


Die Derbreitung der deutfchen und polnifchen Bevölkerung in Pofen 
| und Weftpreußen | 


Unfere Karte, die Herbert Heyde unter Leitung von Profefior Albrecht Pend . 
im Geographiihen SInititut der Berliner Univerfität ausgeführt Hat, gibt ein 
mwefentlich richtigere® Bild der Berteilung der Deut'hen und Bolen als die biß- 
berigen, denn fie ift nıdht nach Streifen, fondern nach Gemeinden bearbeitet. Erft 
Dabei ergibt fih, wie bunt die Mifhung ift und wie faft unmöglich fchmwierig e& 
fein würde, eine fogenannte „geredhte” Grenze zu finden. In den folgenden 
Erläuterungen lehnen wir ung an die lihtvolle Darftellung an, die Profefjor Dr. 
Albredt Pend in Nr. 67 der „Deutihen Allgemeinen Zeitung” gibt. 

Rein deutih und rein polnifch Heißi: mit weniger ald 5 Prozent Beimifchung 
der anderen Nationalität. Da fpringt zunädhft eines in die Augen: da3 rein 
polnifche ®ebiet iit in beiden Provinzen nur wenig mehr ald Halb fo groß wie 
die rein deutichen Gebiete. | 

Die rein deutichen Gebiete liegen im DOften und Welten der beiden Provinzen. 
Das Gebiet um Danzig und Elbing, die ganze ftarf bevölferte Weichjelniederung 
ift ebenfo rein deutfch, wie die breite Zandftrede Tüdlid von Marienmerder, von 
der ®renze Oftpreußens bi zur Weichlelniederung. Danzig al3 Stadt im 
befonderen ift jo rein deutlich wie Berlin. Auf diefem Gebiet fiten auf 3400 Quadrat- 
filometer ungefähr 456000 Deutiche und feine 15000 Polen, alfo nur etwa 
3 Prozent. Im Oſten des Regierungsbezirks Bromberg legt fib um den 
Oberlauf der Weſchſel, ehe ſie nach Norden umbiegt, eine rein deutſche Sprachinſel 
zwilchen Brombırg und Thorn. 

Die rein deutſchen Gebiete im Weſten der Provinz Poſen ſind Foriſetzungen 
der rein deutſchen Sprachgebiete des Reiches. Nördlich in Weſtpreußen das große 
Gebiet greift bis über Friedland und über Schneidemühl hinaus und geht nach 
Süden bis an die Netze unterhalb Schneidemühl und bis an die Warthe unterhalb 
Birnbaums nach der Provinz Poſen über. Auch die Weſtſpitze der Provinz Poſen 
iſt rein deutſch. Eine Zunge rein deutſchen Gebietes erſtreckt ſich hier von Meſeritz 
bis in die Gegend von Neutomiſchel. Dieſe weſtlichen rein deutfhen Sprad) 
gebiete der Provinzen umfaſſen 5500 Quadratkilometer mit 208000 Deutſchen 
und etwa 7000 Polen, alſo wieder nur etwa 3 Prozent. Das genannte rein 
deutſche Sprachgebiet in Weſtpreußen und Poſen mißt 8900 Quadraikilometer und 
beherbergt 664000 Deutſche. Rein deutſch iſt alſo der fünfte Teil von Fläche und 
Bewshn:rzahl beider Provinzen. 

Ter Augenichein lehrt, daß die rein polnischen ®ehiete nirgends fo gefchloflen 
auftreten, wie die rein deutichen. Sie finden fi) nur in rein ländliden Gebieten. 
Die Städte haben auch in der Provinz Bofen mwenigitend 10 Prozent, gewöhnlich 
aber 25 oder mehr Prozent Deutihe. Die ſchwer abgrenzbaren ſchwarzen Keile 
füllen vor allem den Süden der Provinz und greifen nur in einen Bleinen Bezirk 
füdlih Krotoihin in den Regierungsbezirk Breslau über. Nördlich Pofens und 
erft recht in Weftpreußen werden fie fpärlid. SchägungSweile füllen dieje rein 
polnifchen Sebiete 5000 Quadratfilometer mit faum mehr al8 370000 Einwohern, 
darunter 13000 Deusfhe. Alfo nad) Zahl der Fläche wenig mehr alß die Hälfte 
des rein deutichen Gebiets! 

Die völkıfch reinen Gebiete find, wie wir jehen, für beide Nationalitäten 
überwiegend Nandgebiete. Der Kern der Provinzen, der dreiviertel de8 Bodens 
umfaßt, ift gemilchtipradig. Wohl Haben im Norden die Deutihen, im Süden 
die Polen die Mehrzahl. eine irgendwie Flar trennende Abgrenzung aber ift bei 
dem ftarfen Sneinandergreifen der Gebiete fchlechtweg unmöglid. Um nur eins 
der vielen Beilpiele zu wählen: die polnifche Spradinfel von Bomft ift von einem 
überwiegend deutichen ®ebiete umfdlofien. 





Materialien zur oftdeutichen Srage 3 








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4 Materialien zur oftdeutfchen Stage 


Nberrafhend groß und geichlofien erfheint zuerft da8 überwiegend polniid 
gemifchtipradjige Gebiet im nordmweftlihen Weftpreußen, das fi nördlid von 
Bromberg bis nad) Rirböft an der DOftfee erftredt. Diefe rund 7000 Quadrat- 
filometer, die groß genug find, um auf den meiften ethnographildden Karten zur 
Darftellung zu gelangen, verlieren fon dur ihre Bewohnerarmut ftarlt an 
Bedeutung, nur 237000 Slawen und 102000 Deutfche wohnen auf diejen 
7000 Quadratfilometern, wobei wir noch bie Srage beifeite laffen, ob die jpradhlid) 
faft jelbftändigen Kafluben, die den größeren Zeil ded Gebieted bewohnen, denn 
nun wirflih zu den Polen gehören. Ein Riegel auß überwiegend. deuticher Be- 
völferung fchnürt audem ya Neuftadt und Rheda den Landzugang dieſer 
Spradinfel zum Meere falt ganz ab. . 

Sit e8 fo mit der polnifch-flawifchen Landbrüde zum Meere fhon nichts, fo 
ift e8 vielleicht da8 wichtigfte Ergebnis unferer Starte, daß fi) die polniihe Brüde 
läng8 der Weichjel zum Meere ald eine reine Konftruftion erweilt. — Nur durd) 
die Berechnung nach Streifen und zwar nad) Zandfreifen möglid! Sobald man 
3. Bd. Land- und Stadtfreid Thor — wie billig — zufammenredhnet, verwandelt 
fih die Inappe polnifche Landtreismehrheit von 53 Prozent in eine Minderheit 
von 44 PBrozent und aud) der Kreiß Schweg bat feine Mehrheit von ohnehin nur 
1 Prozent nur durch die weftlichen Hinterländer der Tuchler Heide. Ahdnlich fteht 
e3 im Kreife Eulm. 

Dad Gegenteil ift richtig, wie unfere Karte zeigt. E&& geht an ber Weichlel 
entlang zwar feine polnifche, wohl aber ‘eine deutihe Brüde, die auf fellen 
Pfeilern ruht und den Deutihen ald ZTalbewohrer und Stromanmwohner zeigt. 
Bon Thorn nad) Bromberg geht fie durch rein deutfches Gebiet, biß über Graudenz 
hinaus durd überwiegend deutfches Land, biß weitlich Dearienmwerder wieder dur) 
rein deutiche Streden, um weiter nörblich nach einer furzen Unterbrehung durd 
nur zwei überwiegend polniihe Dörfer wieder in da8 rein deutjhe Land, um 
das Weichjeldelta, um Danzig und Elbing zu münden. 

Und wenn dann fehon von Land- und Spradhbrüden geredet werden foll, 
fo verbindet eine ganz ununterbrochene deutjche Brüde, wie unfere Starte zeigt, 
über die Weichjel weg Berlin und Königsberg. Auch fie ift im mwejentlichen eine 
Zieflandbrüde. Sie verläuft entlang der Warthe und Nete über Schneidemühl 
nad) Bromberg, begleitet ein Stüd die Weichfel Hi8 Graudenz und mündet im 
Dearienwerder Gebiet ind Oftpreußifche. 

Nur dadurd, dag faft überall in Weftpreußen die Deutihen wejentlid) 
dichter wohnen al8 die Polen, eriheint da8 von Polen und SKafluben bejekte 
weitpreugßifche Gebiet jo verhältnismäßig groß. Das Prozentverhältnis iſt 
55 PBrogent Deutjche und 45 Prozent Bolen. Rechnet man noch den Regierungsbezirk 
Bromberg nördlid) der Nege Hinzu, jo ergeben fih auf 31800 Quadratfilometer 
1383000 Deutihe und nur 714000 Bolen. Alfo 66 Prozent Deutichen jtehen 
nur 34 Prozent Bolen gegenüber. 

‚ Zu diefen ftatiftifhen Seftlegungen über Zahl und Raum paflen ein paar 
 Ungaben über zeitliche Bevölkerungsverjhiebungen. In der Provinz Bofen- fieigt 
die Anzahl der Polen bi8 1%0. Bon dba ab werden fie langfam durd die 
Deutihen zurüdgeworfen, ihr Prozentiag vermindert fih biß8 1910 um 0,39. — 
In Weftpreußen ift ein Hin- ued Herfcywanfen gu beobadhten. Bon 1890 big 1900 
finft der Progentjag Polen um 2,24. on 1900 bi 1905 fteigt er wieder um 
2,41, fällt dann aber bi8 1910 wieder um 2,29. Der prozentuale Anteil der 
Bolen ift 1910 um über 2 Prozent geringer al8 1890. — Für Oftpreußen fintt 
die Anzahl der Polen von Zeitraum zu Zeitraum. 1910 ift ihr Progentjag gegen 
1590 weit unter die Hälfte zurüdgegangen. — Redynet man nod) Sclejien Hinzu, 
wo die Zeit von 1%5 biß 1910 für die Polen einen Nüdgang von mehr al? 
1 Prozent aufmweift und ninnmt man die Querfummen der vier öftlichen Provinzen, 
jo ergibt ji, daB die Polen biß 1900 in ihrem prozentualen Anteil gejunfen 
find, fih dann bi8 1905 ungefähr auf gleicher Höhe gehalten haben, dann aber 
bi3 1910 etwa über 1 Progent verloren Haben. Zwijchen 1890 und 1910 hat 
ih der prozentuale Anteil der Polen um 1,3 Prozent verringert. 


Aus den Dentfdhen Dolfsräten | 5 


Alfo weder Zeit no Raum nocd) Zahl begründen irgendwie aimingend 
polnifhe Anfprühe auf deutfches Land. Daß Bolen zum Meer will, ift begreif- 
li und daß die Weichjellande ehedem einmal unter polnifcher Oberhoheit ge- 
ftanden Haben, beftreitet feiner. Haben diefe do recht auggedebnten Zeiten fie 
au polonifieren vermodht? Nein, die Weichlelande haben in diejen Seiten auf 
Grund höherer Kultur und beflerer ethiicher Zähigfeiten — Fleiß und Ausdauer — 
ihren alten deutichen Charafter gut bewahrt. Und heute hat die große Sprad)- 
injel Dft- und Weftnreußens, die, mie wir fehen, in den Niederungsgegenden 
weit über Danzig binausreicht, zehnmal foviel deutjche Bewohner, ald das ohne- 
Bin nur gemilchtiprachige polnifch-kaffubiihe Land zwilchen Bromberg und Rirböft 
auf den fandigen Höhen Weftpreußens, da3 nirgends Anjchluß an andere polnifche 
G®ebiete Hat, jondern deutlih von der deulfhen Sudweft-Nordoft-Brüde abgetrennt 
wird. — Gemwiß, was für Böhmen die Elbe Schon war, muß und fann für Polen 
die Weichjel werden. Ein Ausfugrweg, den Zollihranten nicht erjchweren. Da- 
mit iſt aber auch alles nötige und alles billige zugeſtanden. 

Im Regierungsbezirk Poſen nun ſtehen die Deutſchen zu den Polen wie 
7 zu 15. Aber nirgends ſitzt in größerer Ausdehnung das polniſche Element 
rein beieinander. Und da3 ftarfe deutſche Bürgertum der Städte ſchlingt überall 
kaum lösbare, nur zerreißbare wirtſchaftliche Bande mit dem übrigen Preußen. 

Damit kommen wir vom ſchon für den Polen nicht erweisbaren Recht der 
reinen Zahl zum Recht, das Wirtſchaft und Kultur gibt. Und da bringt die 
Arbeit von Dr. Moritz Weiß „Die Stellung des Deutſchtums in Poſen und Weſt⸗ 
preußen,“ auf welche die Mitteilungen noch zurückkommen (W. Greve, Berlin), 
den ſehr klaren Nachweis, daß die beiden Lande von jeher ganz deutſch kultiviert 
waren., Beginnend mit der Koloniſtenarbeit im 13 Jahrhundert war der Deutſche 
hier der Kulturbringer und zwar nicht nur als Städtegründer, ſondern auch als 
Bauer, dem doppelt ſoviel Land zugeivieſen wurde, weil er doppelt ſoviel zu be— 
arbeiten verſtand. Wie fich das im Auf und Ab der Zeiten allmählid entwidelt 
und gefteigert bat, Dafür jprechen am beiten die furz aufammenfafienden Schluß- 
läge der Schrift von Weiß, von denen wir die zweite Hälfte wiedergeben: 

„Der Grundbefig. aud) der Privatbefig, ift überwiegend deutih. — Das 
| deutſche Bauerntum beſitzt in Poſen mehr Land als das polniſche. — Das Deutjſch⸗ 
tum iſt im Grundbeſitz in Poſen ſtärker als das Polentum in Oſtgalizien. — Die 
Städte find überwiegend deuiſch, auch ohne Militär und Beamtentum. — Der 
Grundbeſitz in ihnen iſt überwiegend deutſch. Handel und Verkehr iſt überwiegend 
deutſch. — Gewerbe und Induſtrie find, namentlich in den wirtſchaftlich wichtigen 
Betrieben, überwiegend deutſch. — Die Deutſchen zahlen unverhältnismäßig mehr 
Steuern als die Polen. — Die Deutſchen haben die kulturelle Ueberlegenheit. — 
Poſen als landwirtſchaftliches Uberſchußgebiet ſindet wirtſchaftlich und verkehrs⸗ 
politiſch ſeine natürliche Ergänzung in dem induſtriellen Mittel- und Weftdeutich- 
land. Die Zugehörigkeit Poſens zu Preußen hat der Provinz jährlich „Zehnie 
von Millionen“ eingebracht. 

Die Verbindung mit Polen bedeutet für die Provinz eine wirtfchaftliche 
——— 


Aus den Deutſchen Dolfsräten 


Die Demarlationsfrage und die Proteftbewegung 


Die oftmärlifhe Frage in der Rede des 
GStantsjelretär des Außern Grafen Broddorff- 
Ranykau in der Nationalverfammlung am 
14. Sebruar 1919: „... Sind wir hiernad) 
entihloffen, ringsumber qzugunften deutjcher 


Brüder dad Mecht der Rationalität geltend 
zu maden, jo wollen wir dad Nedht aud) da 
anerfennen, wo e8 fi gegen unjere Macht⸗ 
ftellung wendet. Da3 gilt vor allem für das 
Boll der Polen. Wir Haben unß bereit er- 


6 Aus den Deutihen Dolfsräten 





Märt, alle unzweifelhaft polnifh befiedelten 
Gebiete unferes Reiches mil dem polnischen 
Staate verbinden zu lafien. Wir wollen dad 
Veriprehen halten. Welche Gebiete unter 
den dreizgehnten Bunt von Bilfond Brogramm 
fallen, ift ftrittig. Eine unparteiifhe Jnftanz 
mag darüber entfcheiden; 6iß fie entichieden, 
gehören dieje Gebiete zum Reich. (Zuftimmung.) 
Niemand ift befugt, in ihnen Hobeitörechte 
auszuüben, ala der preußifhe Staat und die 
Neihäregierung. (Zuftimmung.) Die leiden» 
ihaftlihe nationalpolniihe Propaganda hat 
die Entjcheidung der Friedendlonferenz nicht 
abwarten wollen, fondern fih mit Gewalt 
gegen deutiche und preußiiche Behörden er» 
hoben, um mit möglidhft günftigem Befig- 
ftand in die Zriedensverhandlungen einzu» 
treten. So tragen fie die Schrednifje deö 
‚ Krieged don neuem in den beutihen Dften, 
der gleichzeitig von der größeren Gefahr des 
bolfhewiftifchen Xmperialismus bedroht ift. 
So verhindern fie ung, die preußifhen Dft« 


probinzen Wirffam bor dem gemeinjamen - 
Gegner zu fhügen. Diefe Tatfahen müßten 


ausreichen, um jedem PBolitifer klar zu machen, 
"daß e8 die erite Aufgabe ift, die preußiichen 
Polen zur Ordnung zu rufen, damit fie bi$ 
zur Friedenslonferenz von angemaßter Gewalt 
Abftand nehmen. Sie Tönnen fi nit mehr 
auf Notwehr berufen, denn die neue deutiche 
Negierung bat die drüdenden Sondergefege 
aufgehoben und war bereit, Polen aud) 
in der Beamtenauswahl entgegenzulommen. 
Trogdem ftelen die Bolen una als Angreifer 
dar, und die Entente unternimmt es, und 
Anwendung von Gewalt gegen die Bolen in 
unferem eigenen Land zu unterfagen. Die 


Neichöregierung hat diefe Zumutung abgelehnt - 


‚ und die Entfernung aller bewaffneten polni- 
ſchen Formationen aus dem jetzigen Reichs⸗ 
gebiet gefordert. (Beifall.) 

Für jede andere Form der Einwirkung, 
mit der die alliierten und aſſoziierten Mächte 
Ruhe in den polniſchen Gebieten herſtellen 
wollen, wird die deutſche Regierung volles 
Verſtändnis haben. Wir ſind durch das 
Waffenſtillſtandſablommen verpflichtet, Ab⸗ 
ordnungen unſerer Gegner zu dieſem Zweck 
Durchzug von der Oſtſee nach Kongreßpolen 
zu geſtatten, und werden die Reiſe der 
Kommiſſibn, die ſie uns angekündigt haben, 


in jeder Weiſe erleichtern und unterſtützen. 
Unfer eigener Vorteil verlangt, daß die Haß⸗ 
atmojphäre, die augenblidlih die deutfd- 
polniihen Beziehungen vergiftet, noch vor 
Beginn der Triedendverhandlungen reinerer 
Luft de gegenfeitigen Verftändniffes weicht. ' 
Zeider Tönnen wir nicht borausfehen, daß 
wir im polniihen Staat einen bequemen 
Nachbar Haben werden. (Sehr rihtig!) Es 
muß und wird unfer Beftreben fein, dur 
forgfältige Pflege der gemeinfamen Anterefien 
und durch gegenfeitige Schonung der natie 
onalen Gigenart einen modus vivendi zu 
finden. 

Dazu gehört vor allem die Anerlennung 
de3 polniihen Rechts auf gefiherten Verkehr 
mit der Oftfe. Dad Problem Tann dur 
vertraggmäßige Regelung der Beichjelidif- 
fahrt und dur) Konzeffionen auf dem Gebiet 
der Eijenbahnen und de3 Hafentwejens gelöft 
werden, ohne daß die Reichdeinheit über un« 
verãußerliches weſtpreußiſches Gebiet angetaſtet 
zu werden braucht 

Wenn Polen verlangt, daß dieſe Rechte 
wie überhaupt ſeine ſtaatliche Selbſtändigkeit 
unter internationale Garantien geſtellt werden, 
jo wird Deutſchland nichts dagegen einzu⸗ 
wenden haben, ſolange darin keine Spitze 
gegen einen beſtimmten Nachbar enthalten iſt.“ 

Zuſatzabkommen zum Waffenſtillſtands⸗ 
vertrage. In den Vorſchlägen zum Zuſatz⸗ 
abkommen über die Verlängerung des Waffen⸗ 
ſtillſtandes, die Marſchall Foch dem Reichs⸗ 
miniſter Erzberger am 14. Februar übergeben 
hat, lautet der auf die Polenfrage bezügliche 
erfte Buntt: 

Fie Deutfhen müfjen unverzüglih alle 
Offenfivbewegungen gegen die Polen in dem 
Gebiet von Rofen oder in jedem anderen 
Gebiet aufgeben. Zu diefem Zwed wird 
ihnen unterfagt, folgende Linien dur ihre 
Zruppen überfchreiten zu laflen: 

Gegen Süden die Linie der ehemaligen 
Grenze Dft- und Reftpreußen® gegen Rup- 
land bi8 zur Weicdfel, dann weitlih der 
Beichiel die Linie, die über Podgorz (ſfüdlich 
bon Thorn), Bryoge, Schubin, Erin, Tipin, 
Samotidin, Chodzieien (Kolmar), Ezarnilau, 
Miala und Birnbaum läuft. Gegen Diten 
die Linie Bentihen, Wollitein, Briment, Lifia, 
Bojanowo, Rawitfh, Trachenberg, Werndarf, 


Aus den Deutfchen Dolfsräten 7 


a  Z ZZ a —— — — 


Sroß-Briefe und Drofdlau; von Droſchkau 
an die Linie, die über Noldau, Dombrotvfa 
und Kupp Yäuft und die Oder beim Yu- 
fammenfluß der Malapane erreiht und von 
diefem Zufammenfluß an die grüne Linie auf 
beigefügter Karte. 

Auf Grund einer Ausfprache, die im Aufs 
trage des Reichsminiſters Erzberger und 
Marſchalls Foch zwiſchen Generalmajor von 


— 
Tır urg 


. weitlih Miala, meltlih Birubaum, iweftlich 


Bentihen, weitlih Wollitein, nördlih Lille, 
nördlich Rawitſch, ſüdlich Krotoſchin, weſtlich 
Adelnau, weſtlich Schildberg und noördlich 
Vieruchow (Eichenbronn) bis zur ſchleſiſch⸗ 
ruſſiſchen Grenze. Alſo bleibt Oſt (anſcheinend 
Telegrammverſtümmelung, ſoll wahrſcheinlich 
Oſt⸗ und Weſtpreußen heißen) und Oberſchlefſien 
wie heute in unſerer Hand. Die Regierung in 


Ae m Watienstüüstandsvertrag vereinbörte Vemarkahians} 
_/inie mif den Polen 


Hammerftein und Generalftabehef Weygand 
ftattfand, erhielt der Artifel 1 folgende end» 
gültige Yaflung: Die Demarlationglinie vers 
läuft folgendermaßen nad) der Zagentarte der 
Oberften Heeregleitung pom.6d. Februar: Bon 
der rujfilchen Grenze bei Quijenfelde auf einer 
Zinie, die über weitlich Zuifenfelde, mweitlich 
Groß Neudorf, füdlich Braoge, nördihHEchubin, 
nördlih Erin, füdlid Samotidhin, füdlich 
Chedziefen (Kolmar), nördlid Ezarnilau, 





dem fo umjichriebenen Gebiet wird in den 
Baffenitilftandsbedingungen nicht vereinbart. 
Siefe Frage bleibt offen, da tatjächlich feite 
geftellt ift, daß e8 fi) Hier nur um eine provi⸗ 
foriide Abmahung Handelt, welde dem 
Sriedensperirag in feiner Weije vorgreift. 
Der Schug der Deutihen in diefem Gebiet 
wird von der internationalen Kommilfion in 
Barfchau, welde wahrfcheinlich Vertreter nad 
Spaa enijenden dürfte, garantiert. 


8 | " Aus den Deutfchen Dolfsräten 





Einſpruch der deutſchen Reichsregierung. 


Eine vom Reichsminiſter Scheidemann unter⸗ 


zeichnete Mitteilung der Reichſsregierung an 
den Reichsminiſter Erzberger, Waffenſtill⸗ 
ſtandskommiſſton in Trier (vom 16. Februar) 
behandelt die Polenfrage wie folgt: 

Bitte Abkommen unterzeichnen, aber vor⸗ 
her Marſchall Foch folgende ſchriftliche Er⸗ 
klärung übergeben: 

Die deutſche Regierung iſt ſich der Schwere 
der Folgen bewußt, die ſowohl die Annahme 
wie die Ablehnung des Abkommens nach ſich 
ziehen müßte. Wenn ſie ihre Delegierten 
angewieſen hat, zu unterzeichnen, ſo geſchah 
dies in der Aberzeugung, daß die alliierten 
und aſſoziierten Regierungen jetzt ernftlich 
beſtrebt ſind, innerhalb der kurzen Friſt, für 
die ſie den Waffenſtillſtand verlängert haben, 
der Welt den erſehnten Frieden wiederzugeben. 
Die deutſche Regierung iſt aber genötigt, ihren 
Standpunkt zu den dreiBedingungen des Abkom⸗ 
mens durch folgende Bemerkungen klarzuſtellen: 


1. Das Abkommen ignoriert die aus dem 


Volkswillen in geordneten Formen hervor⸗ 
gegangene deutſche Regierung. Es legt den 
Deutſchen in Form ſchroffer Befehle und Ver⸗ 
bote zugunften der aufftändiihen Polen Die 
Bfliht auf, eine Anzahl wichtiger Pläte, dar⸗ 
unter Birnbaum und Bentfdhen, ohne weiteres 
zu räumen. Diefe Pläße jind in deuticher 
Hand, überwiegend deutjch befiedelt und von 
wejentliher Bedeutung für den Verkehr mit 
dem deutihen DOften. Dabei leiften die alli 
terten und afloziierten Mächte nit einmal 
die Gewähr dafür, daß die Polen e8 ihrer- 
feitö unterlafjen, neue Angriffe zu unternehmen 
oder Worgubereiten, daß fie die deutiche Bes 
völferung, auf deren Schu wir verzichten 
follen, menjhenwürdig behandeln, daß fie die 
deutfchen Geifeln freigeben, deren ejthaltung 
jegt jeden Sinn verliert, und daß fie den 
bisherigen Lebendmittelverlefr nah dem 
Beiten bin aufrechterhalten. Wenn wir aud) 
bereit find, jede militärifche Angriffehandlung 
in Pofen und anderen Gebieten einzuftellen 
und die gegenwärtige militärifhe Qage dort 
ald Bafis anguerfennen, fo müflen wir doc 


erwarten, daB aud die aufitändifhen Bolen 


die Demarlationzlinien einhalten, anderen. 
fall3 müflen wir befugt fein, und mit Waffen» 
gewalt zur Wehr zu fegen.... . 


GErzberger8 Erflärung. In der Sigung 
der Nationalverfammlung vom 17. Februar 
äußerte fi Neihsminifter Erzberger über die 
Demarlationsfrage wie folgt: 

„Gleichzeitig ließ Marſchall Foch uns 
wiſſen, daß er nicht in der Lage ſei, irgend 
etwas an den mir mitgeteilten Abmachungen 


zu ändern oder ſie zu verbreitern, denn die 


Bedingungen ſeien feſtgeſetzt von den Chefs 
der’ alliierten und afloziierten Megierungen, 
und fein Dolmeticheroffizier teilte ausdrudlid 
mit, daß aud Präfident Vilfon ausdrädlid 
diefe Bedingungen genehmigt Habe. Dadurd) 
war dem Tätigfeitgraum der Kommiffion eine 
enge Grenze gezogen, trogdem haben wir 
verfucdht, eine Reihe von Milderungen durd- 
aufegen. Bon einer Ausnahme abgefehen, 
die fih auf eine anderweitige Abgrenzung 
gegenüber Polen bezieht, ift und dies zu 
unferm lebhaften Bedauern nit gelungen. 
Nah den mir am Freitagnadhmittag über: 
reichten Bedingungen und nad der Starte, 
die ih auf den Tiich ded Haufes niederlege, 
follte da8 von uns zu räumende reip. nidt 
zu überjchreitende Gebiet im Süden, bie 
Dder entlanggehend, ganz Oberfchlefien um- 
faffen. SH Habe fofort erllärt, daß auf der 
Grundlage diefer Vorjhläge don den deutfchen 
Unterhändlern nicht verhandelt werden Tönne, 
denn alle diefe Gebiete feien nicht, wie Mar» 
Hal Koh irmtümlid annehme, don den 
VBolen befegt. E& fand eine Augipradhe der 
beiderfeitigen militärifhen Sadverftändigen 
ftatt, die dazu geführt hat, daß fowohl der 
Negediftrift bei Bromberg nicht in das Gebiet 
einbezogen wird, ald aud) Oberfdhlejien aus 
bem Gebiete außgefchaltet bleibt. Mehr war 
angeficht3 der Verhältniffe nicht zu erreichen. 
Die Forderung, daB die deutihe Stadt Birn« 
baum nicht von uns geräumt werden müfle, 
wurde abgelehnt, ebenfo bezüglich Bentichene. 
Bir haben nur da8 eine erreicht, daß der 
Bahnhof Bentihen von unferen Truppen nidt 
geräumt werden muß. Die Mliierten haben 
ihrerfeit3 die Verpflichtung übernommen, zu 
gewährleiften, daß auch die Bolen fi) ftritte 
an die verabredete Linie halten follen. Die 
Bemühungen, zum Schuße der Deutidhen in 
allen diefen Gebieten Veitimmungen in den 
Vaffenftilftandsvertrag aufzunehmen, waren 
erfolglos. och bat nur in Ausficht geftellt, 


Aus den Deutfchen Dolfsräten 9 


daß er fih bemühen werde, für eine Löfung 
der Trage in unferm Sinne in der inter. 
allierten Kommiffion einzutreten. Er erflärte 
pofitiv, daß dad ganze Ablommen in feinem 
eriten Artifel eine rein militäriihe Maßnahme 
darfiele und keinerlei politiide Folgewwir» 
tungen nad) fich ziehen Tönne, daß alfo auch 
durch die Abgrenzung diefer Gebiete in feiner 
Beije der Erledigung des dreizehnten Punktes 
des Bilfonihden Programme vorgegriffen 
werden fole. &3 bleibt den Tünftigen Ber. 
Bandlungen überlafien, daß den von und 
geräumten Gebieten ein genügender Schuß 
geleiftet wird. Wichtig ift, daß nah den 
Verfiherungen der Allierten auch die Bolen 
jede militäriide Offenfivdewegung gegen 
Deutihland einzuftellen haben.“ 
Die Proteftbewegung 

Namen? der in den Deutihen Bollgräten 
der Brovinz Bofen zufammengeicdloffenen 
800000 Deutichen ging am 20. fyebruar fole 
gende Drabtung an die Rationalverfammlung, 
an den Neihsfangler und an die Waffen- 
ftilftandstommiffion: 

An voller Würdigung der großen Schwie- 
rigleiten, unter denen die Waffenftilljtand« 
tommilffion die Gefamtintereffen de deutfchen 
Volles und in ihrem Nahmen auch unfere 
oftmärlifhen LXebensnotiwendigfeiten zu ber» 
teidigen hat und in Anerkennung der bisher 
geleifteten Arbeit diefer Kommilfion erheben 
wir gegen die Vergewaltigung der oftmärli« 
fen Deutihen dur die Entente flammenden 
Brotefl. "Die wirtihaftlide und FTulturelle 
Strutiur des im Stern deutfhen Landes wird 
dur eine äußerlihe, von polnifher Seite 
vielfach tendenzios mißbrauchte Rationalitäten« 
ftatiftit nicht wirflichleitögetreu erfaßt. Der 
gefamte Zulturelle Beitand des feinerzeit in 
böfliger Bermwahrlofung dem zerfallenden 
Bolenftaate entglittenen Lande verdankt deuts 
fhem Tsleiß und Erfindung2geift fein Dafein. 
Da im demofratiiden Deutihland den Polen 
weitberzige Gewährung fultureller und natio» 
naler Autonomie ficher ift, liegt lein Anlaß 
. 3u Gebietdabtrennungen vor, die die Lebende 
interefjien de8 deutichen Volles, vor allem auf 
dem Gebiete de? Ernäbrungsiwefens, bedrohen 
und de3halb den Keim zu neuen europäilchen 
Berwidlungen umd Friedenaftörungen legen 


müflen, an denen: von der Entente allein 
Granfreih ein egoiftiihes Antereffe hat. Die 
den ausdrüdlihen Kundgebungen Wilfons 
und der Entente zumiderlaufende Präjudi- 
zierung der Friedensverhandlungen und damit 
da3 erihüttende Ergebnis der legten Waffen 
ftilftandeverbandlungen wurden den Polen 
durch einen militärifhen Landfriedensbruch 
möglid, der die unentrinnbare Folge der 
Unterlafjungsfünden unferer Regierung in 
den Monaten November und Dezember ge» 
weien if. Eine weitere Erjchiverung der 
Stellung unferer Delegation bei den end 
gültigen Friedensverhandlungen ift nur durd) 
Verhinderung weiterer militärifcher wie auch 
verwaltungstechnifher Übergriffe und Prä- 
judizierungen der Polen abzuwehren. Erſte 
Boraudfegung ift die durdhgreifende Abwehr 
aller Banden, die unter polniſcher Flagge 
vielfach rein bolſchewiſtiſche Tendenzen ver⸗ 
bergen, durch gut diſziplinierte Truppen. 
Ferner iſt eine unabweisliche Forderung die 
Wiederherſtellung der Verwaltungseinheit der 
Provinz Poſen bis zum endgültigen Spruche 
des Friedenskongreſſes und die einſtweilige 
Belaſſung der zentralen Funktionen für die 
ganze Provinz bei den Bromberger Behörden. 
Damit ift ein Verzicht des Oberjten polnischen 
Bolfarate® auf feine angemaßten Hoheit?» 
rechte gefordert. Gelingt e8 nicht, das |hwer 
erjchütterte Aniehen der rechtmäßigen es 
gierungsgewalt in der Oſtmark unverzüglich 
wiederherzuftellen, fo ijt damit eine Einbuße 
an Reichdfreudigkeit und Zufunfteglauben aud) 
bei drei Millionen Deutihen der Oftmart 
mit Sicherheit zu erivarten. Für die politi» 
fhen Folgen folden nationalen ZBufammen« 
brudhed lehnen wir die Berantiwortung feier. 
id ab, da Wir die verfehlte Politit des 
Minifterialdireftord von Gerlah und der von 
ihm informierten Berliner Stellen unter Vor- 
ausfiht der inzwifchen eingetretenen Folgen 
durch Warnungen und Proteſte von Une 
beginn auf da3 entihiedenfte belämpjt haben. 
gez. Cleinoiv. 

Die Waffenftillftandslommiffion in Spaa 
bat auf da8 namens der in den Deutjchen 
Bollsräten der Provinz Bojen zujammen- 
geihloflenen 800 000 Deutfhen abgegangene 
PVroteittelegramm an Gebeimrat Georg 
Eleinow in Bromberg folgende Antwort ge- 


3 


In 


12 | Holftein 





verhandelt werden mußte. $n feinen Briefen brachte er neue Gründe für feinen 
Unmut vor, die fi) zum Zeil auch gegen Bülow richteten. So beklagte er 
zum Beifpiel, daß das Preſtige Deutſchlands in den legten Jahren abgenommen 
habe, wubrend unfere ®egner und Rivalen einen Ring zu bilden im Segtif 
ſeien. Für die ſchwierigen Lagen, die zu gewärtigen wären, wolle er den Ante 
von moraliſcher Verantwortlichkeit eines Mitarbeiters lieber nicht übernehmen. 
Mit Recht konnte darauf erwidert werden, daß ſeit zehn Jahren vom oſtaſiatiſchen 
Dreibund bis zur Behandlung der Marokkofrage, vom Transvaalſtreit bis zum 
Scheitern der engliſchen Annaherungsverſuche und der Pauncefote-Differenz mit 
England, in unſerer auswärtigen Politik nichts von Bedeutung, abgeſehen 
vielleicht von der Faſſung der Krüger-Depeſche, geſchehen ſei, wozu Holſtein nicht 
geraten hätte, und daß das Aufhören ſeiner moraliſchen Verantwortlichleit erſt 
vom Tage der Abreiſe Bülows nach Kiel zum Beſuche des Königs Eduard 
datierte. Seinem Abſchiedsgeſuch vom J1. Juli 1904 ließ Holſtein am 6. Juli 1904 
noch die Drohung folgen, daß er ſich gegen etwaige Preßangriffe bei ſeinem 
plötzlichen Ausſcheiden nach Kräften mit allen verfügbaren Mitteln verteidigen 
würde. Noch niemals zuvor waren mir die krankhafte Ränkeſucht Holſteins und 
terroriſtiſchen Anwandlungen ſo grell vor Augen getreten. Sein 
Entlaſſungsgeſuch blieb lange Zeit in suspenso. Nach einer mündlichen Aus— 
ſprache mit dem Kanzler nahm er im September 1904 ſeinen Dienſt unter 
Richthofen wieder auf. Die proviſoriſche Ausſöhnung war weder für den Reichs— 
ls und den Staatsjefretar eine Erleichterung nod) für die Bolitit des Reiches 
ein Gewinn.“ 

Endlih belehren uns die Mitteilungen Sammanns, daß der NRüdtritt 
SHoljteins fich nicht in der Weife vollzogen, wie bisher überwiegend angenommen 
wurde, nämlich dadurch), dag Tichirfchty nach Bülowms Ohnmadhıtsanfall im Reidys- 
tag gelegentlich der Wtaroffo-Debatte Holjtein abgejägt hätte, jondern daß viel- 
mehr Bülow feinerfeits feit dem latenten Konflitt mit Holftein auf dejjen 
Entlaffung bingearbeitet hat. GStaatsjefretär von Tfhirihly hat noch dor 
Bülows Ohnmadht in dejjen ausdrüdlihdem Aufttage das Abſchiedsgeſuch 
Holiteins dem — vorgetragen, der die Entlaſſung gern erteilte. 

Die Mitteilungen Hammanns erbringen einen Beweis für Bülows 
diplomatiſch-pſychologiſche Kunſt, die Abſägung eines nachgerade ſo gefährlich 
gewordenen Mitarbeiters bewirkt zu haben, ne daß diefer jeinerfeits offenbar 
gemerkt hat, wohin Bülow zielte. Nach den neueren Veröffentlihungen mird 
jedenfalls der Eindrud verftärkt, daß der Abjchied eines fo Einrluhreihen, aber 
geiltig jo eigenartig veranlagten Mannes aus dem auswärtigen Dienjt für Die 
Neichsinterejjen reichlich fpäat erfolgt ift. 2.5. 





Allen Manuftripten ift Borto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehuung eine Rüdfendung 
nicht verbürgt werden kann. 


Nahdrud fänıtliher Unutfäge nur mit ansprädiiher Erlaubnis ded Berlags geftatter. 
Berantwortlih: der Herausgeber Beorg Gleinomw ın Berlin. Lichterfelde Well. — Dannitriptiendungen und 
Briere werden erbeten unter der Adreſſe: 

Un die Schriftleitung der Srenaboten in Berlin SW 11, Tempelbofer tlfer 85a. 

Sernipredder bes Herausgebers: Amt Lichterfelde 498, ded Berlags und der Sonn Amt Bügom (510. 
Berlag: Berlag der Brenzboten &. m. b. H. in Berlin 568 li, Xempeibofer Ufer Bba. 

Drud: „Der Neihebote” &. m. 5. 9. in Berlin SW 11, Deflauer Gtrage 36/87. 


Mitteilungen 
der Deutihen Bolfsräte Polens und Weitpreußens 


Zerantwortlih: Br. Mar Hildebert Bochm 
Schriftleitung: Bromberg, Welgienplag 111 
Fernruf Nr. 321 












Nr. 1/2 14.März 1919 









Inhalt: Gloffen zum Tage — Materialien zur oftdeutihen Frage: Die Verbreitung der 
deuifhen und polnifhen Bevölterung in Pofen und Weftpreußen — Aus den 
Deutichen Bolfaräten: Die Demarlationdfrage und die Broteftbewegung — Prefie- 
flimmen — Sleine Radrichten. 


Slojjen zum Tage 





Arbeiterräte, Bürgerräte, Soldatenräte, Bauernräte, Yrauenräte: fie alle 
geben nur dem Zeilmiken von Gruppen und Ständen Ausdrud. Der völtifche 
Geſamtwille des oſtmärkiſchen Deutſchtums kommt allein in den Deutſchen 
Volksräten zum Worte. 


Das beſte Recht der Welt bedarf einer kräftigen Stimme, die es geltend 
macht. Bleibt der Oſtdeutſche in dieſer Zeit der weltpolitiſchen Entſcheidungen 
ſtumm, dann muß er ſich ſelbſt die Mitſchuld daran beimeſſen, wenn die Friedens⸗ 
konferenz über ſeine heiligſten Rechte zur Tagesordnung übergeht. 


Eine Preisaufgabe für Hiſtoriker: Wo in der Weltgeſchichte iſt einem Volke 
ein Waffenſtillſtand zugemutet worden, der ihm die Hände bindet, ohne den 
Feind zur Einſtellung der Feindſeligkeiten zu verpflichten? Die Entente hat das 
Unmögliche möglich gemacht: nur uns, nicht den Polen verbietet fie die Fort⸗ 
führung des Kampfes, den uns Landfriedensbrecher im eigenen Reiche auf— 
gedrängt haben. 


Der Bole bricht Shamlos den Waffenftilftand, zwingt uns zum Wieber- 
ftand und zum Broteft und funkt im felben Augenblid nad) Paris: Haltet den 
Dieb! Ein teufliiher Trid, der ung in die Rolle de8 Manne8 drängt, von 
bem der große Bruder an der Seine mit meltmännifher Stepfiß fagt: Oh, 
qui s’excuse, s’accusel Ein fehr durdhfichtiger Trid übrigens, freilih nur für 
den, der jehen — mil. Bann wird die Welt jehen wollen? 


2 Materialien zur ofldeutfhen Stage 
Materialien zur oftdeutfchen Srage 


Die Derbreitung der deutfchen und polnifchen Bevölkerung in Pofen 
| und Weftpreußen | | 


Unfere Karte, die Herbert Heyde unter Zeitung von Profeffor Albreht Pend 
im Geographiihen Snititut der Berliner Univerfität ausgeführt Hat, gibt ein 
mwefentlich) richtigered8 Bild der Berteilung der Deut'hen und Polen alS die biß- 
berigen, denn fie ift nıcht nad Streifen, fondern nach Gemeinden bearbeitet. Erft 
dabei ergibt fih, twie bunt die Mifchung ift und wie faft unmöglich fchwierig eg 
jein würde, eine jogenannte „geredhte” Grenze zu finden. In den folgenden 
Erläuterungen lehnen wir ung an die lihtvolle Darftelung an, die Profefjor Dr. 
Albreht Pend in Nr. 67 der „Deutfhen Allgemeinen Beitung“ gibt. 

Rein deutih und rein polnijch heißi: mit weniger al8 5 Prozent Beimifdhung 
der anderen Nationalität. Da fpringt zunädjft eine in die Augen: daS rein 
polnifche ®ebiet iit in beiden Provinzen nur wenig mehr als Halb fo groß wie 
die rein deutjchen Gebiete. 

Die rein deutihen Gebiete liegen im Often und Welten der beiden Provinzen. 
Das Gebiet um Danzig und Elbing, die ganze ftarf bevölferte Weichjelniederung 
ift ebenfo rein deutfch, wie die breite Landftrede füdlih von Marienwerder, von 
der Grenze Ditpreußend bid zur Weichjelniederung.e Danzig ald Stadt im 
befonderen ift jo rein deutlich wie Berlin. Auf diefem Sebiet figen auf 3400 Quadrat- 
tilometer ungefähr 456000 Deutiche und feine 15000 Polen, alfo nur etwa 
3 Prozent. Im Ojften ded NegierungSbezirf® Bromberg legt fih um ben 
Oberlauf der We hjel, ehe fie nach Norden umbiegt, eine rein deutihe Spradinfel 
zwilhen Brombırg und Thorn. | 

Die rein deutichen Gebiete im Welten der Provinz Bofen find Foriſetzungen 
der rein deutfchen Sprachgebiete de Neiche!. Nördlich in Weftpreußen da8 große 
Gebiet greift bi3 über zriedland und über Schneidemühl Hinaus und gebt nah 
Süden bid an die Nete unterhalb Schneidemühl und bi8 an die Warthe unterhalb 
Birnbaumd nach der Provinz PBofen über. Auch die Weltipige der Brovinz Bofen 
ift rein deutfch. Eine Zunge rein deutfchen Gebietes erjtredt fi bier von Meferit 
bi8 in die Gegend von Neutomifchel. Diefe weitlihen rein deutften Sprad)- 
gebiete der Provinzen umfafjen 5500 Quadratlilometer mit 208000 Deutichen 
und etwa 7000 Polen, alfo wieder nur etwa 3 Prozent. Daß genannte rein 
deutiche Spramgebiet in Weftpreußen und Bofen mißt 8900 Quadratfilometer und 
beherbergt 664000 Deutſche. Rein deutſch iſt alſo der fünfte Zeil von Fläche und 
Bewshn:rzahl beider Provinzen. 

Ter Augenichein lehrt, daß die rein polniſchen ®ehiete nirgends jo geichloflen 
auftreten, wie die rein deutichen. Sie finden fih nur in rein ländliden Sebieten. 
Die Städte haben auch in der Provinz Bofen wenigitend 10 Prozent, gewöhnlich 
aber 25 oder mehr Prozent Deutihe. Lie jchmer abgrenzbaren fhwarzen Seile 
füllen vor allem den Süden der Provinz und greifen nur in einen Lleinen Bezirf 
füdlih Krotoihin in den Regierungsbezirt Breslau über. Nördlich Pojens und 
erft recht in Weltpreußen werden fie fpärlid. Schägungsweile füllen diefe rein 
polnischen Bebiete 5000 Quadratfilometer mit faum mehr als 370000 Einwohern, 
darunter 13000 Deurfche. Alfo nad) Zahl der Zläche wenig mehr al die Hälfte 
des rein deutfchen Gebiet?! 

Die völtıfch reinen Gebiete find, wie wir jehen, für beide Nationalitäten 
überwiegend Randgebiete. Der Stern der Provinzen, der dreiviertel de8 Bodens 
umfaßt, ift gemifdtipradig. Wohl Haben im Norden die Deutihen, im Süben 
die Polen die Mehrzahl. eine irgendwie Klar trennende Abgrenzung aber ift bei 
dem ftarfen Sneinandergreifen der Gebiete fchledhtweg unmöglid. Um nur eins 
ber vielen Beilpiele zu wählen: die polnifche Spradinfel von Bomft ift von einem 
überwiegend deutichen Gebiete umfclofien. Ä 


Materialien zur oftdeutichen frage 3 





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4 Materialien zur oftdeutfhhen Stage 


Mberrafchend groß und gefchloffen erfheint zuerft da8 überwiegend polniid 
gemifchtipradhige Gebiet im nordmweftlihen Weftpreußen, da8 fi nördlih von 
Bromberg bi8 nad) Rirböft an der Oftfee erftredt. Diefe rund 7000 Quadrat⸗ 
filometer, die groß genug find, um auf den meiften ethnograpbiihen Karten zur 
Darftellung zu gelangen, verlieren jhon durch ihre Berwohnerarmut ftarl an 
Bedeutung, nur 237000 Slawen und 102000 Deutfche wohnen auf Dielen 
7000 Quabdrattilometern, mobei wir noch die Srage beijeite laffen, ob die jpradlid 
faft jelbftändigen Kafluben, die den größeren Zeil de8 Gebietes bewohnen, denn 
nun mwirflih zu den Polen gehören. Ein Riegel auß überwiegend. deuticher Be- 
völferung fchnürt zudem — Neuſtadt und Rheda den Landzugang dieſer 
Spradinfel zum Meere faft ganz ab. . 

Sit e8 fo mit der polnisch-flawifchen Landbrüde zum Meere Shon nichts, fo 
ift e8 vielleicht da wichtigfte Ergebnis unjerer Starte, daß fich die polnifhe Brüde 
längs der Weichfel zum Meere ald eine reine Konftruftion erweift. — Nur durd) 
die Berehnung nad) reifen und zwar nach Zandfreifen möglid! Sobald man 
.B. Land- und Stadtfrei8 Thort — wie billig — zufammenrecdnet, verwandelt 
in die fnappe polnifche Randtreismehrheit von 53 Prozent in eine Minderheit 
pon 44 Prozent und aud) der Kreis Schweg Bat feine Mehrheit von ohnehin nur 
1 Prozent nur durch bie weftlichen Hinterländer der Tuchler Heide. Ahnlic fieht 
e3 im Sreife Eulm. 

Das Gegenteil ift richtig, wie unfere Karte zeigt. E8 gebt an der Weichiel 
entlang zwar feine polnifche, wohl aber eine deutſche Brüde, die auf felten 
Pfeilern ruht und den Deutichen al8 Talbewohrer und Stromanmohner zeigt. 
Bon Thorn nad) Bromberg geht fie durch rein deutiches Gebiet, biß über Graudenz 
hinaus dur überwiegend deutfches Land, 5iß weftlich Marienmwerder wieder durd 
rein deutiche Streden, um weiter nördlich nad) einer furzen Unterbredung durd) 
nur zwei überwiegend polniiche Dörfer wieder in da8 rein deutijhe Land, um 
das Weichjeldelta, um Danzig und Elbing zu münden. 

Und wenn dann fehon von Land- und Sprahbrüden geredet werden fol, 
fo verbindet eine gang ununterbrodhene deutihe Brüde, wie unjere Starte zeigt, 
über die Weichjel weg Berlin und Königsberg. Aud) fie ift im mefentlichen eine 
Tieflandbrüde. Sie verläuft entlang der Warthe und Neke über Schneidemühl 
nad) Bromberg, begleitet ein Stüd die Weichjel bi8 Graudenz und mündet im 
DMearienwerder Gebiet ing Oftpreußifche. 

Nur dadurd), daß faft überall in Weftpreußen die Deutihen wefentlid) 
dichter wohnen ald die Polen, erjheint da8 von Polen und Safluben befeste 
weitpreußifche Gebiet jo verhältnismäßig groß. Das Progentverhältnis iſt 
55 Prozent Deutfche und 45 Prozent Bolen. Rechnet man nod) den Regierungsbezirk 
Bromberg nördlich der Nege Hinzu, fo ergeben fih auf 31800 Quadrattilometer 
1383000 Deutihe und nur 714000 Bolen. Alfo 66 Prozent Deutihen ftehen 
nur 34 Prozent Bolen gegenüber. 

‚ Zu diefen ftatiftifchen — über Zahl und Raum paſſen ein paar 
Angaben über zeitliche Bevölkerungsverſchiebungen. In der Provinz Poſen fieigt 
die Anzahl der Polen bis 1900. Von da ab werden ſie langſam durch die 
Deutſchen zurückgeworfen, ihr Prozentſatz vermindert ſich bis 1910 um 0,89. — 
In Weſtpreußen iſt ein Hin- ued Herſchwanken zu beobachten. Von 1890 bis 1900 
ſinkt der Prozentſatz Polen um 2,24. Von 1900 bis 1905 ſteigt er wieder um 
2,41, fällt dann aber bi8 1910 wieder um 2,29. Der progentuale Anteil der 
Polen ift 1910 um über 2 Prozent geringer al8 18%. — Yür Oftpreußen fintt 
die Anzahl der Polen von Zeitraum zu Zeitraum. 1910 ift ihr Progentjag gegen 
15% weit unter die Hälfte zurüdgegangen. — Rechnet man noch Schleſien hinzu. 
wo die Zeit von 1%5 biß 1910 für die Polen einen’ Rüdgang von mehr ald 
1 Prozent aufmeift und nimmt man die Querfummen ber vier öltlichen Provinzen, 
to ergibt fi, daß die Polen bis 1900 in ihrem prozentualen Anteil gejunten 
find, fih dann bi8 1905 ungefähr auf gleicher Höhe gehalten haben, dann aber 
bi3 1910 etwa über 1 Prozent verloren haben. Zwilchen 189% und 1910 Hat 
jth der prozentuale Anteil der Polen um 1,3 Prozent verringert. 


/ 


Aus den Deutfhen Dolfsräten | 5 


Alfo weder Zeit no Raum noch Zahl begründen irgendwie zwingend 
polnifche Anjprüde auf deutfches Land. Daß Polen zum Meer will, ift begreif- 
lih und daß die Weichjelande ehedem einmal unter polnifcher Oberboheit ge⸗ 
ſtanden haben, beſtreitet keiner. Haben dieſe doch recht ausgedehnten Zeiten ſie 
zu polonifieren vermocht? Nein, die Weichſellande haben in dieſen Zeiten auf 
Grund höherer Kultur und beſſerer ethiſcher Fähigkeiten — Fleiß und Ausdauer — 
ihren alten deutſchen Charakter gut bewahrt. Und heute bat die große Sprach— 
infel DOft- und Weftnreußeng, die, wie wir fehen, in den Niederungdgegenden 
weit über Danzig binausreicht, zehnmal foviel deutiche Bewohner, ald das ohne- 
bin nur gemiſchtſprachige polniſch-kaſſubiſche Land zwiſchen Bromberg und Rirxhöft 
auf den ſandigen Höhen Weſtpreußens, das nirgends Anſchluß an andere polniſche 
Gebiete hat, ſondern deutlich von der deutſchen Südweſt-Nordoſt-Brücke abgetrennt 
wird. — Gewiß, was für Böhmen die Elbe ſchon war, muß und kann für Polen 
die Weichſel werden. Ein Ausfuhrweg, den Zollſchranken nicht erſchweren. Da⸗ 
mit ift aber auch alles nötige und alles billige zugeitanden. 

Im Regierungdbezirt Pojen nun ftehen die Deutihen zu den Polen wie 
7 gu 15. Aber nirgend3 figt in größerer Ausdehnung da8 polnifhe Element 
rein beieinander. Und da3 ftarfe deutiche Bürgertum der Städte jchlingt überall 
faum lösbare, nur zerreißbare mirtichaftlihe Bande mit dem übrigen Preußen. 

Damit fommen wir vom fchon für den Polen nit erweicbaren Recht der 
reinen Zahl zum Recht, dad Wirtfchaft und Kultur gibt. Und da bringt die 
Arbeit von Dr. Morig Weiß „Die Stellung des Deutſchtums in PBofen und Welt- 
preußen,“ auf welche die Mitteilungen nod zurüdfommen (8. Greve, Berlin), 
den jehr Haren Nachweis, daß die beiden Yande von jeher ganz deutjch kultiviert 
waren. , Beginnend mit der Stoloniftenarbeit im 13 Sahrhundert war der Deutiche 
bier der Kulturbringer und zwar nicht nur al8 Städtegründer, jondern au als 
Bauer, dem doppelt foviel Land zugeiieſen wurde, weil er doppelt ſoviel zu be— 
arbeiten verſtand. Wie ſich das im Auf und Ab der Zeiten allmählich entwickelt 
und geſteigert hat, dafür ſprechen am beſten die kurz zuſammenfaſſenden Schluß—⸗ 
ſätze der Schrift von Weiß, von denen wir die zweite Hälfte wiedergeben: 

„Der Grundbeſitz, auch der Privaätbeſitz, iſt überwiegend deutſch. — Das 
deutſche Bauerntum befigt in Bofen mehr Zand als daS polnische. — Das Deutic- 
tum ift im Grumdbeitg in Bofen ftärfer al3 da8 Polentum in Oftgalizien. — Die 
Städte find überwiegend deu, aud ohne Militär und Beamtentum. — Der 
Srundbeiig in ihnen ift überwiegend deutich. Handel und Berfehr ilt überwiegend 
deutfch. — Gewerbe und Snduftrie find, namentlich) in den wirtichaftlid wichtigen 
Betrieben, überwiegend deutich. — Die Deutfhen zahlen unverhältnismäßig mehr 
Steuern al8 die Polen. — Die Deutichen haben die fulturelle Ueberlegenheit. — 
Bofen ald landwirtihaftliche8 Mberihußgebiet findet wirtihaftlih und verfehrs- 
politiich feine natürlihe Ergänzung in dem induftriellen Mittel- und Weftdeutich- 
land. Die Zugehörigkeit Pojens zu Preußen Hat der Provinz jährlich „Zehnte 
von Millionen“ eingebradit. 

Die Verbindung mit Bolen bedeutet für die Provinz eine twirtfhaftliche 
Saale 


Aus den Deutjchen Dolfsräten 
Die Demarlationsfrage und die Proteftbewegung 


Die oftmärlifhe Frage in der Rebe bed 
Gtantsfjelretär des Außern Grafen Broddorff- 
NRantau in der Nationalverfammlung am 
14. Zebruar 1919: „... Sind wir hiernad 

entſchloſſen, ringgumher zugunſten deutſcher 
| 


Brüder da8 Net der Rationalität geltend 
zu maden, jo wollen wir da8 Net au) da 
anerlenrien, wo e& fi gegen unjere Madt- 
ftellung wendet. Daß gilt vor allem für das 
Bolt der Wolen. Wir Haben und bereit er- 


6 Aus den Deutichen Dolfsräten 





Märt, alle unzweifelhaft polnifch befiedelten 
Gebiete unferes Neiched mil dem polniihen 
Staate verbinden zu lafien. Wir wollen da3 
BVeriprehen halten. Welche Gebiete unter 
ben dreizehnten Bunt von Wilfond Programm 
fallen, ift ftrittig. Eine unparteiifhe Inftanz 
mag darüber entfcheiden; biß fie entichieden, 
gehören diefe Gebiete zum Reich. (Zuftimmung.) 
Niemand ift befugt, in ihnen Hobeitörechte 
auszuüben, al& der preußifhe Staat und die 
Reichsregierung. (Zuftimmung.) Die leiden» 
haftliche nationalpolniihe Propaganda Bat 
die Entfcheidung der Friedendtonferenz nicht 
abwarten wollen, fondern fi mit Gewalt 
gegen deutfche und preußifche Behörden er- 
hoben, um mit möglidhft günftigem Belig- 
ftand in die Friedendverhandlungen einzu« 
treten. So tragen fie die Schrednifie deö 
‚ Kriege von neuem in den deutfchen Dften, 
der gleichzeitig von der größeren Gefahr des 
bolfchewiftifchen Imperialismus bedroht it. 
So verhindern fie und, die preußifhen DOft« 


probinzen wirffam dor dem gemeinjamen 
Gegner zu jhügen. Diefe Tatfahen müßten 


außreichen, um jedem Politiker klar zu machen, 
daß e8 die erfte Aufgabe ift, die preußifchen 
Polen zur Ordnung zu rufen, damit fie bis 
zur Sriedenstonfereng von angemaßter Geiwalt 
Abftand nehmen. Sie Tönnen fid nit mehr 
auf Notwehr berufen, denn die neue beutiche 
Negierung bat die drüdenden Sondergefege 
aufgehoben und war bereit, Polen aud 
in der Beamtenauswahl entgegenzulommen. 
Trogdem ftellen die Bolen uns als Angreifer 
dar, und die Entente unternimmt e®, und 
Anwendung von Gewalt gegen die Polen in 
unferem eigenen Land zu unterfagen. Die 


Neichsregierung hat diefe Jumutung abgelehnt - 


, und die Entfernung aller bewaffneten polni- 
{hen Formationen aud dem jegigen Neich- 
gebiet gefordert. (Beifall.) 

‚Für jede andere Form der Einwirkung, 
mit der die alliierten und afloziierten Mächte 
Nude in den polniihen Gebieten berjtellen 
wollen, wird die deutihe Negierung volles 
Berftändnig haben. Wir find durh das 
Baffenftilftandsablommen verpflichtet, Ab» 
ordnungen unferer Gegner zu diefem Yuwed 
Durdgug von der Dftfee nah Kongregpolen 
au geftatten, und Werden die Neife der 
Kommilfion, die fie und angelündigt haben, 


in jeder Weife erleichtern und unterftügen. 
Unfer eigener Vorteil verlangt, daß die Haß⸗ 
atmofphäre, die augenblidlih die deut 
polniihen Beziehungen vergiftet, no vor 
Beginn der Tsriedendverhandlungen reinerer 
Luft ded gegenfeitigen Verftändniffes weit. 
Reider Tönnen wir nicht vorausfehen, daß 
wir im polniihden Staat einen bequemen 
.Nachbar Haben werden. (Sehr ridtig!) Es 
muß und wird unfer Beftreben fein, dur 
forgfältige Pflege der gemeinfamen Snterefjen 
und dur gegenfeitige Schonung der natie 
onalen @igenart einen modus vivendi zu 
finden. 

Dazu gehört vor allem die Anerlennung 
des polniſchen Rechts auf gefiherten BVerfehr 
mit der Oftfe. Das Problem Tann durd 
vertragsmäßige Regelung der Weichſelſchiff⸗ 
fahrt und durch Konzeſſionen auf dem Gebiet 
der Eiſenbahnen und des Hafenweſens geloͤſt 
werden, ohne daß die Reichseinheit über un⸗ 
veräußerliches weſtpreußiſches Gebiet angetaſtet 
zu werden braucht 

Wenn Polen verlangt, daß dieſe Rechte 
wie ũberhaupt ſeine ſtaatliche Selbſtändigkeit 
unter internationale Garantien geſtellt werden, 
fo wird Deutſchland nichts dagegen einzu⸗ 
wenden haben, ſolange darin keine Spitze 
gegen einen beſtimmten Nachbar enthalten ift.“ 

Zufagablommen zum Waffenftillftands- 
vertrage. In den Borihlägen zum YZufaße 
ablommen über die Verlängerung des Waffen 
Killftandes, die Marfhal Zoch dem Reich 
minifter Ergberger am 14. Februar übergeben 
bat, lautet der auf die Bolenfrage bezügliche 
erſte Punkt: 

Die Deutſchen müſſen unverzüglich alle 
Offenſivbewegungen gegen die Polen in dem 
Gebiet von Poſen oder in jedem anderen 
Gebiet aufgeben. Zu dieſem Zweck wird 
ihnen unterſagt, folgende Linien durch ihre 
Truppen überſchreiten zu laſſen: 

Gegen Süden die Linie der ehemaligen 
Grenze Dft- und Weſtpreußens gegen Ruß⸗ 
land bis zur Weichſel, dann weſtlich der 
Weichſel die Linie, die über Podgorz (füdlich 
von Thorn), Brzoze, Schubin, Exin, Lipin, 
Samotſchin, Chodzieſen (Kolmar), Czarnikau, 
Miala und Birnbaum läuft. Gegen Oſten 
die Linie Bentſchen, Wollſtein, Priment, Liſſa, 
Bojanowo, Rawitih, Trachenberg, Werndorf, 


Aus den Deutfchen Dolfsräten 7 
——n Tune 


Groß-Briefe und Drofhlau; von Drofchlau 
an die Linie, die über Noldau, Dombrowfa 
und Kupp läuft und die Oder beim Zur 
fammenfluß der Malapane erreicht und von 
diefem Zufammenfluß an die grüne Linie auf 
beigefügter Karte. 

Auf Grund einer Ausfprache, die im Aufs 
trage de3 Neichdminifterd Erzberger und 
Marfhalls Yoch zwilhen Generalmajor von 


Ö 
m. rc 
won vurg 


Er PN 


. weitlih Miala, mweitlihd Birnbaum, weftlich 


Bentihen, weftlih Wollftein, nördlih Lille, 
nördlich Rawitſch, ſüdlich Krotoſchin, weſtlich 
Adelnau, weſtlich Schildberg und noͤrdlich 
Vieruchow EEichenbronn) bis zur ſchleſiſch⸗ 
ruſſiſchen Grenze. Alſo bleibt Oſt (anſcheinend 
Telegrammverſtümmelung, ſoll wahrſcheinlich 
Oſt⸗ und Weſtpreußen heißen) und Oberſchleſien 
wie heute in unſerer Hand. Die Regierung in 


De Aztenbron 
a Hamılsch Ya 


Sa 2 oO 
B/CIEU zu %% 


Do, 


% 


PR 


| 2% m Wefienstülstandsvertrag vereinbarte Temerkatian 
| _/imie mif den Polen 


Hammerftein und Generalftabzchef Weygand 
ftattfand, erhielt der Artilel 1 folgende end» 
gültige Faflung: Die Demarlationzlinie vers 
läuft folgendermaßen nad) der Zagentarte der 
Oberften Heeresleitung vom.6. Februar: Bon 
der ruffiihen ®renze bei Quifenfelde auf einer 
Zinie, die Über weitlich Zuifenfelde, weitlich 
GroßsNeudorf, füdlih Braoze, nördihEchubin, 
nördlid Erin, füdlid Samotidin, füdlih 
CHedzieien (Kolmar), nördlid Ezarnilau, 





dem fo umjichriebenen Gebiet wird in den 
Baffenftillftandsbedingungen nicht vereinbart. 
Fiefe Frage bleibt offen, da tatjächlich feit- 
geftellt ift, daß e8 fich hier nur um eine prodis 
ſoriſche Abmachung Handelt, welhe dem 
Friedensperirag in Teiner Weile vorgreift. 
Der Schug der Deutichen in diefem Gebiet 
wird von der internationalen Kommilffion in 
Barfhau, weldhe wahricheinlich Vertreter nach 
Spaa enifenden dürfte, garantiert. 


8 | “ Aus den Deutfchen Dolfsräten 





Einfprud der dbeutichen Reichsregierung. 


Eine vom Neihdminifter Scheidemann unter-. 


zeichnete Mitteilung der Neichdregierung an 
den Reichsminiſter Erzberger, Waffenſtill⸗ 
ſtandskommiſſton in Trier (vom 16. Februar) 
behandelt die Polenfrage wie folgt: 

Bitte Abkommen unterzeichnen, aber vor⸗ 
her Marſchall Foch folgende ſchriftliche Er⸗ 
klärung übergeben: 

Die deutſche Regierung iſt ſich der Schwere 
der Folgen bewußt, die ſowohl die Annahme 
wie die Ablehnung des Abkommens nach ſich 
ziehen müßte. Wenn ſie ihre Delegierten 
angewieſen hat, zu unterzeichnen, ſo geſchah 
dies in der Aberzeugung, daß die alliierten 
und aſſoziierten Regierungen jetzt ernſtlich 
beſtrebt ſind, innerhalb der kurzen Friſt, für 
die ſie den Waffenſtillſtand verlängert haben, 
der Welt den erſehnten Frieden wiederzugeben. 
Die deutſche Regierung iſt aber genötigt, ihren 
Standpunkt zu den dreiBedingungen des Abkom⸗ 
mens durch folgende Bemerkungen klarzuftellen: 

1. Das Abkommen ignoriert die aus dem 
Volkswillen in geordneten Formen hervor⸗ 
gegangene deutſche Regierung. Es legt den 
Deutſchen in Form ſchroffer Befehle und Ver⸗ 
bote zugunſten der aufftändifchen Polen die 
Pflicht auf, eine Anzahl wichtiger Pläte, dar» 
unter Birndbaum und Bentfhen, ohne weiteres 
zu räumen. Diefe Bläge jind in deuticher 
Hand, überwiegend deutich befiedelt und von 
wefentlicher Bedeutung für den Verkehr mit 
dem deutfhen Dften. Dabei leiften die allie 
terten und afjoziierten Mächte nit einmal 
die Gewähr dafür, daß die Polen e8 ihrer» 
jeit3 unterlafjen, neue Angriffe zu unternehmen 
oder worzubereiten, daß fie die deutiche Bes 
völferung, auf deren Schu wir verzichten 
follen, menfhenwürdig behandeln, daß fie die 
deutfhen Geifeln freigeben, deren Fejthaltung 
jegt jeden Sinn verliert, und daß fie den 
bisherigen Lebensmittelverlehfr nah dem 
Beften bin aufrechterhalten. Wenn wir aud 
bereit find, jede militäriihe Angriffshandlung 
in Bofen und anderen Gebieten einzuftellen 
und die gegenwärtige militärifhe Qage dort 
ald Baſis anzuerfennen, fo müfjfen wir bo 
erwarten, daß aud die aufitändifhen Polen 
die Demarlationzlinien einhalten, anderen. 
fall müflen wir befugt fein, uns mit Baffen« 
gewalt zur Wehr zu fegen.... . 


GErzbergers Erflärung. In ber Siyung 
der Nationalverfammlung vom 17. Februar 
äußerte fi Reiheminifter Erzberger über die 
Demarlationsfrage wie folgt: 

„Sleichzeitig ließ Marihall Fo uns 
willen, daß er nicht in der Lage fei, irgend 
etwas an den mir mitgeteilten Abmacdjungen 


'zu ändern oder fie zu berbreitern, denn die‘ 


Bedingungen feien feitgejeßt von den Chefs 
der‘ alliierten und afloziierten Negierungen, 
und fein Dolmeticheroffizier teilte ausdrüdlich 
mit, daß au Präfident Wilfon ausdrüdlich 
diefe Bedingungen genehmigt habe. Dadurd) 
war dem TätigleitSraum der Kommilfion eine 
enge Örenze gezogen, trogdem "haben ir 
berfucht, eine Reihe von Milderungen durch» 
zufegen. Bon einer Ausnahme abgefehen, 
die fih auf eine anderweitige Abgrenzung 
gegenüber Polen bezieht, ift und Die® zu 
unferm lebhaften Bedauern nicht gelungen. 
Nah den mir am Freitagnadmittag über» 
reihten Bedingungen und nad der Karte, 
die ich auf den Til des Hauled niederlege, 
follte da8 von uns zu räumende reip. nicht 
zu überfchreitende Gebiet im Süden, die 
Dder entlanggehend, ganz Oberfclefien um- 
faffen. 3 habe fofort erllärt, daß auf der 
Grundlage diefer Borjhläge don den deutichen 
Unterhändlern nicht verhandelt werden Tönne, 
denn alle diefe Gebiete feien nicht, wie Mar 
hal Koh irrtümlih annehme, von den 
Volen befegt. &8 fand eine Auzfpradhe der 
beiderfeitigen militärif den Sadverftändigen 
ftatt, die dazu geführt hat, daß jomwohl der 
Negediftrift bei Brombderg nit in das Gebiet 
einbezogen wird, ald aud) Oberjdlejien aus 
dem Gebiete ausgefchaltet bleibt. Mehr war 
angefichts der Verhältniffe nicht zu erreichen. 
Die Forderung, daß die deutihe Stadt Birn« 
baum nit von uns geräumt werden müfle, 
wurde abgelehnt, ebenfo bezüglich Bentichen®. 
Bir haben nur da8 eine erreidht, daß der 
Bahnhof Bentfhen von unferen Truppen nicht 
geräumt werden muß. Die Alliierten haben 
ihrerfeit3 die Verpflichtung übernommen, zu 
gewäßrleiften, daß aud die Polen fi ftrilie 
an die verabredete Linie halten follen. Die 
Bemühungen, zum Schuße der Deutiden in 
allen diefen Gebieten Beftimmungen in den 
Waffenftillftandsvertrag aufzunehmen, waren 
erfolglos. %ocd Bat nur in Ausficht geftellt, 


Aus den Deutfchen Dolfsräten 9 


daß er fi bemühen werde, für eine Löfung 
der Frage in unferm Sinne in der inter» 
allierten Kommiffton einzutreten. Er erflärte 
pofitiv, daß da3 ganze Abfommen in feinem 
erften Artifel eine rein militärifhe Maßnahme 
darftele und Teinerlei politiihe Folgewir- 
tungen nad) fi) ziehen Tönne, daß alfo aud) 
durch die Abgrenzung diefer Gebiete in feiner 
Weiſe der Erledigung des dreizehnten Bunttes 
de8 Wilfonihen Programms vorgegriffen 
werden folle. &3 bleibt den Tünftigen Ber. 
Bandlungen überlafien, daß den von un? 
geräumten Gebieten ein genügender Schuß 
geleiftet wird. Wichtig if, daß nach den 
Berfiherungen der Allierten aud die Bolen 
jede militärifde Offenfivdewegung gegen 
Deutihland einzuftellen haben.” 


Die Proteftbewegung 


Namen der in den Deutfchen Bollsräten . 


der Provinz PBofen zufammengefcloffenen 
800 000 Deutfchen ging am 20. Februar fol« 
gende Drahtung an die NRationalverfammlung, 
an ben Neichäfanzler und an die Waffen» 
ſtillſtandskommiſſion: 

In voller Würdigung der großen Schwie⸗ 
rigkeiten, unter denen die Waffenſtillſtands⸗ 
kommiſſion die Geſamtintereſſen des deutſchen 
Volkes und in ihrem Rahmen auch unſere 
oſtmärkiſchen Lebenſsnotwendigkeiten zu ver⸗ 
teidigen hat und in Anerkennung der bisher 
geleiſteten Arbeit dieſer Kommiſſion erheben 
wir gegen die Vergewaltigung der oſtmärki⸗ 
ſchen Deutſchen durch die Entente flammenden 
Proteft. Die wirtſchaftliche und kulturelle 
Struklur des im Kern deutſchen Landes wird 
durch eine äußerliche, von polniſcher Seite 
vielfach tendenziõös mißbrauchte Nationalitäten⸗ 
ſtatiſtik nicht wirklichkeitsgetreu erfaßt. Der 
geſamte kulturelle Beſtand des ſeinerzeit in 
võlliger Verwahrloſung dem zerfallenden 
Polenſtaate entglittenen Landes verdankt deut⸗ 
ſchem Fleiß und Erfindungsgeiſt ſein Daſein. 
Da im demobratiſchen Deutſchland den Polen 
weitherzige Gewährung kultureller und natio⸗ 
naler Autonomie ſicher iſt, liegt kein Anlaß 
zu Gebietsabtrennungen vor, die die Lebens⸗ 
intereſſen des deutſchen Volkes, vor allem auf 
dem Gebiete des Ernährungsweſens, bedrohen 
und deshalb den Keim zu neuen europäiſchen 


Verwicklungen und Friedensſtörungen legen 


müſſen, an denen von der Entente allein 
Frankreich ein egoiſtiſches Intereſſe hat. Die 
den ausdrücklichen Kundgebungen Wilſons 
und der Entente zuwiderlaufende Präjudi⸗ 
zierung der Friedensverhandlumen und damit 
das erſchüttende Ergebnis der letzten Waffen⸗ 
ſtillſtande verhandlungen wurden den Polen 
durch einen militäriſchen Landfriedensbruch 
möglich, der die unentrinnbare Folge der 
Unterlaſſungsſünden unſerer Regierung in 
den Monaten November und Dezember ge» 
weien if. Eine weitere Erihwerung der 
Stellung unjerer Delegation bei den end« 
gültigen SFriedentverhandlungen ift nur durch 
Berbinderung weiterer militärifcher wie au 
berwaltungdtechnifcher Übergriffe und Prä⸗ 
judigierungen der Polen abzuwehren. Erite 
Boraußfegung ift die Durchgreifende Abwehr 
aller Banden, die unter polniſcher Flagge 
vielfach rein bolſchewiſtiſche Tendenzen ver⸗ 
bergen, durch gut diſziplinierte Truppen. 
Ferner iſt eine unabweisliche Forderung die 
Wiederherſtellung der Verwaltungseinheit der 
Provinz Poſen bis zum endgültigen Spruche 
des Friedenskongreſſes und die einſtweilige 
Belaffung der zentralen Funktionen für die 
ganze Provinz bei den Bromberger Behörden. 
Damit ift ein Verzicht des Oberften polnischen 
Bolfarates auf feine angemaßten Hoheit?» 
rechte gefordert. Gelingt e3 nicht, das fchwer 
erihütterte Unjehen der rechtmäßigen Hte= 
gierung3gewalt in der Ofjtmarf unverzüglid) 
wiederberzuftellen, fo ijt damit eine Einbuße 
an Reichsfreudigkeit und Zukunftsglauben auch 
bei drei Millionen Deutſchen der Oſtmark 
mit Sicherheit zu erwarten. Für die politie 
ſchen Folgen ſolchen nationalen Zuſammen⸗ 
bruches lehnen wir die Verantwortung feier⸗ 
lich ab, da wir die verfehlte Politik des 
Miniſterialdirektors von Gerlach und der von 
ihm informierten Berliner Stellen unter Vor⸗ 
ausfiht der inzwifchen eingetretenen Folgen 
durh Warnungen und ®Brotefte don An⸗ 
beginn auf da3 entihiedenite befämpft haben. 
gez. Kleinow. 

- Die Waffenftilfftandstommiffion in Span 
dat auf dad namen der in den Deutjchen 
Bollsräten der Provinz Pojen zufammen« 
geihlofienen 800 000 Deutfhen abgegangene 
Protefttelegramm an Gebeimrat Georg 
Eleinow in Bromberg folgende Antivort ge» 


10 Aus den Deutfhen Dolfsräten 








fandt: „Beftätigen dad Telegramm vom 20. 
Die Feftlegung einer Bemarlationglinie ift 
nur eine proviforiihe Maßnahme und feine 
Präjudigierung der Friedensverhandlungen. 
Diesfeitd wird auf der Grundlage der Wiljon- 
jhen Programmpunfte alle geihehen, um 
die Abtrennung deutiher Gebietäteile dom 
eich zu vermeiden. Für Abwehrmaßnahmen 
ift die Neichäleitung zuftändig. Eine Ab» 
Ichrift Ihres Telegramms ift dorthin ger 
geben.“ 


Am 19. Februar drahtete der Deutidhe 
Bollsrat für Bromberg Stadt und Land 
an die Nationalvderfammlung in Weimar, 
die Waffenftillftand3fommiffion in Spaa und 
und an den Minifterpräfidenten Scheidemann 
in Weimar: „Xrogdem Bromberg und der 
Negediftrikt durch die in den Waffenſtillſtands⸗ 
bedingungen vorgezeichnete Demarlationzlinie 
jelder niht dom Mutterlande abgetrennt 
werden, erhebt die hiefige deutiche Bevölfe- 
rung dennod) einmütigen entrüfteten Einſpruch 
gegen den Rerfud, die twirtichaftlihe und 
tulturelle Einheit der Provinz Pofen durd) 
eine Linie zu zerreißen, die auf dem zufälligen 
Stand der gegenwärtigen militärijhen 
Operationen beruft. Das Bromberger 
Deutihtum erflärt id mit den nationalen 
Snterefien der vom Mutterlande abaeglıederten 
oftmärfiihen Brüder folidarifh und ftellt für 
die Friedendverhandlungen al Richtſchnur 
den Grundfag auf: Up ewig ungedeelt.“ 

gez. Hille. 

Der Bollörat für Bromberg erhielt am 
21. Februar folgended Telegramm: 


Beimar Schloß, 21. Februar. Die wirts 
Ihaftlihe und fulturele Einheit der Provinz 
PBofen fol durch die Demarlationzlinie, wie 
Marihal Foch zugeſagt, nit zerriflen 
werden. Demarlationzlinie fejtgelegt in QBe- 
jpredhung des Generald von Hammerjtein mit 
franzöſiſchem Generalſtabechef. Demarkations⸗ 
linie präjudiziert in keiner Weiſe Friedens⸗ 
verhandlungen. Reichsminiſter Erzborger. 

Am 16. Februar wurde aus Bromberg 
folgendes Telegramm an den Reichspräfi⸗ 
denten Ebert und die Miniſter Scheidemann, 
Noske, Graf Brockdorff nach Weimar, an die 
Nationalverſammlung Weimar und an den 
Miniſter Erzberger geſandt: 


Berlin hat. 





„In Ausſicht ſtehende Waffenſtillftands⸗ 
bedingungen über Demarlationslinie in der 
Provinz Poſen erregen ſchwerſte Beunruhigung 
und Sorge und würden für deutichen Often 
und Deutihes Neid verbängnisvoll werden. 
Namen? ganzer Bevöllerung proteitieren wir 
nadhdrüdlidh und bitten eindringlichft, diefe 
Forderung abzulehnen.” 

v. Bülow, Negierungapräfident, 
zugleich als ftellvertretender Dberpräfident. 
Vollzugsausſchuß des Arbeiter und Soldaten- 
rates für den Regierungsbezirk Bromberg. 

GStoeßel. Langrod. 
Halle, Eifenbahnpräfident. 
Miglaff, Oberbürgermeifter. 

Auf da8 VBromberger Brotefttelegranm 
vom 16. $ebruar an Minifter Erzberger nad) 
Trier ift an Oberbürgermeifter Mitlaff fol- 
gende Antiwort eingegangen: 


Telegramm erhalten. Sogenannte De- 
marfationalinie präjudiziert in feiner WVeife 
Sriedensvertrag, fie ift lediglich militärifche 
Angelegenheit; vom Wilfonprogramm Wird 
beim Frieden in feiner Weile abgewichen 
werden. Schuß ded Deutihtumd Wird er- 
wirft dur deutſche Regierung bei inter 
alliierter Kommilfion Warjhau, die den 
General Dupont al® Berbindungoffizier in 
Neichdminifter Erzberger. 

Beim Magiftrat der Stadt Bromberg ift 
am 18. Februar folgende Telegramm ein- 
gegangen: | 

Bromberg und Negediftrift durch foebeu 
abgeichlofienes Baffenftiliftandsablommen vor 
Einfall polniiher Banden gefichert. 

| Erzberger. 

An der Bollverfammlung des Arbeiter- 
und Goldatenrat8 Bromberg am 18. Ye 
bruar 1919 wurde folgende don Dr. Hille 
eingebradte Entſchließung einſtimmig an⸗ 
genommen und den maßgebenden Stellen 
drahtlich übermittelt: 

„Das am 15. Februar 1919 abgeſchloſſene 
Waffenſtillſtandeabkommen ſetzt für die Pro—⸗ 
vinz Poſen eine Demarlationslinie feſt, die 
Jahrhunderte lange kulturelle und wirtſchaft⸗ 
liche deutſche Arbeit zunichte macht und dem 
Bevölkerungsſtandpunkt nicht richtig Rechnung 
trägt. Es muß mit aller Beſtimmtheit fefi⸗ 
gehalten werden, daß die Deutſchen ver⸗ 


Aus den Deutfhen Dolßsräten 11 


teidigend nur ihr Recht wahren. Sie find bie 
Ungefallenen und erklären, ihren geihichte 
lihen Anfprud auf die Provinz fo nicht von 
einer ausländiſchen Macht regeln Iafien zu 
fönnen. Sie fehen in dem gewaltfamen, 
rüdhaltlofen Borgehen der Polen ein durch 
nicht3 begründete® Vorgreifen der Tsriedend» 
verbandlungen. Nun follen allein die Deut. 
fhen die WBaffenhandlungen gegen Lands 
friedenabrucdh einftelen. Der Arbeiter- und 
Soldatenrat Bromberg erhebt dagegen den 
alerfhärfften Einfprud. Er weilt warnend 
darauf hin, daB unter andern Kujawien ‚die 
Korn» und YZuderlammer der Provinz und 
Preußens‘ in polnifchen Händen ift; infondere 
beit ijt aber Brombergd ganze wirtichaftliche 
Zage durch diefed Abkommen aufs hödjite 
gefährdet.“ 

Der Kreistag des Landlreifes Brom- 
berg hat folgende® Telegramm an den 
Staatdjefretär de3 Auswärtigen gerichtet: 


Staattjefretär Graf Broddorff » Ranpau,. 


Weimar. Ger heute verfammelte Streidtag 
ded Landfreiied Bromberg Hat einftimmig 
folgenden Beihluß gefaßt: Wir wollen bei 
Deutihland bleiben, zu dem wir nit nur 


mit drei Fünfteln unferer Rationalität, fon» 


den aud nad Sitte und Kultur gehören. 
Euer Erzellenz bitten wir, mit allen Kräften 
dafür einzutreten, daß wir nit gegen den 
Wunfh der Mehrzahl unferer Bevölferung 


und jomit aud entgegen den Wilfonfhen. 


Orundjägen an Polen abgetreten werden. 
Sleichzeitig bitten wir um aldbaldige ener- 
giſche Abwehrmaßnahmen, damit den ung 
täglid mehr bedrohenden polnifhen Er» 
oberung2gelüften Halt geboten wird. 
gez. Haudleutner, Landrat. 
Auf dad Telegramm de Kreißtages bes 
Landlreifes Bromberg ift folgendes Anwort- 
telegramım eingegangen: Dem Sfreißtage des 
Zandfreifes Bromberg danle id) für den Be- 
|hluß, mit dem er einftimmig feinen Wilen zur 
dauernden Zugebörigleit zum Deutihen Reich 
befundet Hat; ich werde alles tun, was in 
meiner Madıt fteht, um die beredhtigten An« 
Iprüde der jhiwer bedrängten Deuiſchen im 
Dften auf der Friedenafonferenz zur Geltung 
gu bringen. Graf Broddorfj-Rangau. 
In der Bromberger Stadtwerordnneten- 
»erfammlung am 20. Zebruar wurde ber 


fhloffen, in folgendem Zelegrumm an bie 
Rationalverfammlung, den Reich3präfidenten 
Ebert, den Minijterpräfidenten Scheidemann 
fowie die Reichminilter Erzberger und Graf 
Broddorff gegen den Baeffenftilftandsvertrag 
Einiprud zu erheben: 

Gegen den Waffenftillitandsvertrag mit 
der Eintente erheben wir allernahdrüdlichiten 
Einfprud. Der Beitand des Deutihtums im 
Dften und die Eicherheit ded Meiched find 
auf das fchiverite gefährdet, wenn die jegt 
den Poren überlaffenen Gebiete, die durd 
deuishe Kultur zu blübender Entwidelung 
gebradt und al wirtichaftliches Hinterland 
für die angrenzenden Gebiete und für die 
allgemeine Ernährung des deutichen Boltes 
don größter Bedeutung find, dauernd verloren 
gegeben werden. Aud) wenn die gegenwärtigen 
Abmadhungen nur probiforiih Bi8 zum 
sriedengihluß gelten, bringt die Feſtſetzung 
der Bemarfationzlinie die größte Gefahr mit 
fih, daß da3 Bofener Land in der Zwifchen- 
zeit gründlichiter Bolonifierung anheimfällt. 
Bir müflen daher durhaus die Forderung 
außfpreden, daR alles daran gefett wird, 
daß diejer Zuftand wieder bejeitigt wird und 
das ‘bisher deutihe Gebiet unverjehrt beim 
Neiche bleibt. 

Hür den Magiftrat: 
Miglaff, Oberbürgermeiiter. 
Für die Stadtverordnetenverjammlung: 
Suftizrat Söppen, Stadtverordnetenvorfteher. 

Lie Orttgruppe Bromberg der Deutfchen 
Bollspartei telegraphierte am 20. Februar 
an die Rationalverfammlung: 

Die in den Waffenitillftandsbedingungen 
feftgefegte Temarfationglinie zerreißt blühende 
Kultur, wirtihaftlihen Hodftand, begründetes 
gejchichtliches Anrecht der Deutichen in der 
Oſtmark. Auch wird der Bevölferungaftande 
puntt nicht berüdfihtigt; wohl aber find an« 


‚maßende Übergriffe polniſchen Landfriedens⸗ 


brucdied belohnt. Die übriggebliebenen Tläg» 
lien deutfchen Randfegen find wirtichaftl:ch 
fo lebensunmögli, daß ed nur ein entrüjtetes 
Nein geben Tann. 

Die Teutihe Bollepartei Ortegruppe 
Bromberg erhebt mit 90L0 Wählern gegen 
dieſe ſchmachvolle Feſtſetzung flammend Ein- 
ſpruch und behauptet ihren alten Standpunkt, 
die ganze Provinz für das Reich zu fordern. 


12 Aus den Deutfchen Dolfsräten 


Am 19. Pebruar richtete der Deutiche 
Bollerat Fordon und Umgegend an die 
Rationalverfammlung, den Minifterpräfidenten 
Scheidemann und die deutſche Waffenſtillſtands⸗ 
kommiſſion folgendes Proteſt⸗Telegramm: 

Die deutſchen Volksräte der Stadt Fordon 
(Weichſel) und der benachbarten 12 Land⸗ 
gemeinden erheben flammenden Einſpruch 
gegen die allem nationalen Ehrgefühl hohn⸗ 
ſprechenden und den Beſchlüſſen der Friedens⸗ 
konferenz vorgreifenden neuen Waffenſtill⸗ 
ftandebedingungen. Sie erwarten auf das 
beftimmtefte, daß dem natürlichen Rechte, aufe 
rübrerifsche Landegeinwohner in ihre Schranfen 
zurüdweifen und fie nötigenfalls gewaltiam 
zur Nube zwingen zu dürfen, Geltung ver- 
Ihafft werde. 

GSlander. Dieltellamp. Krig. 

Der Deutſche Bollsrat Nalel jandte an 
die Nationalverfammlung, Neicheregierung 
und Waffenſtillſtandskommiſſion folgende 
Drahtung: 

Die deutihe Bevölkerung Nateld hat durch 
die Annahme der ung diltierten neuen Waffen- 
ftillftand8bedingungen den Eindrud geivonnen, 
daß diefe Bedingungen von Männern angenom« 
men wurden, die über die wahren Berhältnifie 
in unferer Oftmart vollftändig im Unflaren 
find. Gerade uns in Nafel, die wir wiederholt 
dur) polnische Mitbürger überfallen worden 
find, ift e8 unverftändlid, wie man e8 hin- 
nehmen fonnte, daß bon einer deutichen 
Dffenfive geiproden wurde Wir vermiflen 
den ernften Willen der Regierung, wichtige 
wirtichaftlicte Gebiete dem Deutſchen Reiche 
zu erhalten und jehen mit größter Beſorgnis 
unjere beutihen Mitbewohner der Provinz 
Pofen dem Haß und der Wut polnifcher, den 
Händen ihrer Führer entalittener, zügellofer 
Banden autgejett. 
feinen Vertrag gehalten. &3 fteht daher zu 
befürdhten, daß auf Grund weiterer polnifcher 
Teindfeligleiten ein neuer WVaffenftillftands- 
vertrag au und in die Demarfationzlinie 
einichließt. Wir proteftieren daher gegen die 
Annahme der Baffenftilftandebedingungen 
und hoffen, daß ein wirklicher Friede und 
und unfere deutfchen Brüder in dem jegt von 
und losgerifjenen Gebiete nicht unter polnische 
Anehtihaft bringt. 

Der deutihe Vollerat Natel. 


Die Polen haben bisher 


Bon der WVaffenftiliftandstommiffion in 


Spas ift beim Deutfhen Bollerat Natel 


daraufhin folgendes Telegramm eingetroffen: 

Der Broteft der deutfchen Bebölferung 
Katels ift der interalliierten Waffenſtillſtands⸗ 
fommilfion zur Senntni® gebradt worden. 
Die deutihe Waffenftillftandslommiffion tut 
alle, was in ihrer Macht Steht, um die be» 
rechtigten deutihen nterefien in der Provinz 
Bofen zu wahren. gez. Frhr. dv. Hammerftein. 

Der Deutſche Bolksrat und der Deutfcdhe 
Arbeiterrat von Hohenfalza drahteten am 
18. Sebruar an die Nationalderfammlung, 
den Minilterpräfidenten Scheidemann und 
die Waffenſtillſtandskommiſſion: 

Die deutſche Bevölkerung Hohenſalzas er⸗ 
hebt einmütig Einſpruch gegen die in den 
Baftenftilitand3bedingungen Tundgewordene 
Abfiht der Negierung, die militärifhen Ab- 
wehrmaßnahmen zu unferer Befreiung von 
der polniſchen Zwangsherrſchaft einzufſtellen. 
Die Demarkationslinie, die durch den zu⸗ 
fälligen gegenwärtigen Stand der militäriſchen 
Ereigniſſe beſtimmt iſt, trägt den Stempel 
der Willkürlichkeit an der Stirne und bedroht 
die Provinz Poſen mit einer Zerreißung in 
wirtſchaftlich und kulturell nicht lebensfähige 
Teile. Durch die Zerſchneidung der wichtigſten 
Verkehrsader unſerer Heimat wird das Er⸗ 
werbsleben der deutſchen wie auch der pol⸗ 
niſchen Bevölkerung unſerer Stadt gleichmãäßig 
gelähmt. Die treue Arbeit, die unſere Väter 
im Dienſt der deutſchen Sache in der Oſtmark 
geleiſtet haben, verpflichtet das deutſche Volk, 
uns nicht der Verelendung in einem lebens⸗ 
unfaͤhigen Polenſtaate preiszugeben. 

gez. Krexa. 
Auf den Proteſt des Deutſchen Vollsrates 


und des Deutſchen Arbeiterrates Hohenſalza 


iſt folgende Antwort der Waffenſtillſtands⸗ 
kommiſſion in Spaa eingegangen: 

Der Einſpruch der deutſchen Bevölkerung 
Hohenſalzas iſt hier verwertet worden. Wenn 
alles, was deutſch iſt, laut ſeine Stimme für 
das Deutſchtum erhebt und opferwillig dafür 
eintritt, muß es gelingen, den deutſchen Beſitz 
zu erhalten. gez. Frhr. v. Hammerſtein. 

Aus Lobſens erging am 20. Februar 
folgende Drahtung: 

Der Deutſche Volksrat des Bezirks Lobſens 
empfindet die Waffenftillſtandsbedingungen als 


Aus den Deutfhen Dolfsräten 13 


eine unerhörte Vergewaltigung de Deutich- 
tum® im Often, er legt daher Verwahrung 
ein gegen die Preidgabe deutjcdhen Bodens. 
Er erwartet, daß alle® daran gefegt wird, 
unfere Seimatprovinz dem Deutihen Reiche 
zu erhalten und daß die Einftelung der 
polnifhen Feindfeligleiten erzmungen wird. 
Die Schubiner Deutjchen telegraphierten 
am 21. Februar an die Rationalverfammlung 
und an den Reihäminifter Ergberger: 
Schubin und Umgegend, zum Netediftritt 
gehörend, no immer von Polen bejegt. 
Hunderte Flüchtlinge, aller Habe bar, jeit 
Wochen bon den Angehörigen getrennt, er» 
bitten Müdfehr unter Garantie perfönlicher 
Sreibeit und des Eigentumß gu ermöglichen. 
J. A.: Kißler. 
Aus Kolmar i. P. wurde an die maß—⸗ 
gebenden Stellen am 19. Februar gedrahtet: 
Die Bedingungen des Waffenſtillſtandes 
bedeuten, wenn erhoben zu Friedensbe⸗ 
dingungen, für 500 000 Deutſche der Provinz 
Poſen Vergewaltigung und Untergang. Der 
feit 300 Jahren deutſchen Kreisſtadt Kolmar 
ſind alle Lebensbedingungen von Süden ab⸗ 
geſchnitten. Der Deutſche Volksrat des Kreiſes 
Kolmar in Poſen mit 156000 Mitgliedern 
ſteht nach wie vor auf den von beiden Seiten 
anerkannten Grundſätzen des Wilſonſchen 
Rechtsfriedens. Es kann deshalb die Zuge⸗ 
hörigkeit der Provinz Poſen nur durch Volks⸗ 
abſtimmung entſchieden werden. 
Der Deutſche Volksrat. Fratzle, Rektor. 
Der Deutſche Frauenrat. Urſula Hübinger. 
Der Deutſche Vollsrat Schönlanke, Stadt 
und Land, erließ folgenden Proteſt: 


Schönlanke, 19. Februar. Die deutſche 


Stadt Schönlanke in Poſen erhebt in ein⸗ 
mütigem Proteſt aller ihrer Bürger ihre 
Stimme. Vor unſerer Stadt liegen die pol⸗ 
niſchen Linien. Unſer überwiegend deutſcher 
Kreis iſt zerriſſen, die Kreisſtadt beſetzt, die 
Behörden verjagt. Der neue Waffenſtillſtand 
gibt dieſem Unrecht Dauer, er ſchützt unſere 
deutſchen Dörfer nicht vor Gewalttat, er 
hindert uns nur, den deutſchen Brüdern zu 
helfen, die offenbares Unrecht leiden. Bleibt 
das Unrecht, jo wird im Oſtland jetzt ein 
Haß geſät, der einſt mehr Geſchlechtern Ver⸗ 
derben bringt, als uns allein. Wir mahnen 
und warnen alle die, die für die Zukunft zu 
ſorgen haben. gez. Schönbeck. 


Die vereinigten deutſchen Vollsräte der 
Weſtkreiſe Poſens ſandten am 17. Februar 
an die Nationalverſammlung in Weimar, an 
Generalfeldmarſchall von Hindenburg, an die 
preußiſche und an die Reichsregierung fol⸗ 
gende Drahtung: 

In Widerſpruch mit dem 18. Artikel 
Wilſons greifen die neuen Bedingungen des 
Waffenſtillſtandes in das Schickſal der Pro⸗ 
vinz Poſen ſchon vor der Friedenskonferenz 
ein. Die heute auf gaſtlichem ſchleſiſchen Boden 
in Sagan verſammelten deutſchen Volksräte 
Weſtpoſens erheben dagegen laut Einſpruch. 
Wir bedauern, daß tapfer verteidigte deutſche 
Städte wie Bentſchen, Neutomiſchel und Birn⸗ 
baum der polniſchen Raubgier kampflos 
überantwortet werden und die für das 
ganzge Wirtſchaftsleben des Reiches wich—⸗ 
tige Bahnlinie Bredlau— Rawitih—Liffa— 
Bentihen— Berlin preisgegeben wird. Wir 
verlangen, da8 Ddiefer Verziht auf der 
Griedenslonferenz wieder rüdgangig gemadt 
wird und don den Wilfonfhen Bedingungen 
unter feinen Umftänden zuungunften des 
deutihen Teiles der Provinz abgemichen wird. 
Bir haben in berechtigter Abwehr der pol« 
nifhen Übergriffe neue fhivere Opfer an Gut 
und Blut für unfere Heimat gebradt und 
dadurh ein bHeilige® Unrecht, gehört zu 
werden. 

gez. Kriefel. Nitter. 

Hentſchke⸗Meſeritz. Schlottke⸗Rawiitſch. 

Der Arbeiterrat und Vollzugsausſchuß 
Meſeritz drahtete am 18. Februar an die 
Reichsregierung und die Waffenſtillſtands⸗ 
kommiſſion: 

Deutſche haben den Frieden in der Provinz 
Poſen nicht geſtört. Andere Informationen 
der Entente falſch. Werden Demarkations⸗ 
linie, ſoweit ſie dem heutigen Beſitzſtande 
entjpricht, trog ſtarler Bedenken reſpelktieren. 
Nach bisherigem Verhalten der Polen iſt an⸗ 
zunehmen, daß ſie ſich, wie bisher, ſtets an 
dieſe Anordnungen nicht kehren werden, zu⸗ 
mal polniſcher Volksrat bekannt gemacht hat, 
daß er Regierung Warſchau nicht anerkenne. 

Behalten uns daher unbedingt vor, Uber⸗ 
griffe der Polen auf das Nachdrücklichſte mit 
Waffengewalt zurückzuweiſen, und Grenzſchutz 
aufrecht zu erhalten. Entente muß Vertreter 
nach hier ſchicken, Warſchau hat keinen Zweck. 

Erheben auch jetzt ſchon Einſpruch gegen 


14 Aus den Deutfhen Dolfsräten 





etwaige Abſicht, Demarkationslinie als ſpätere 
Grenze feſtzulegen, da dadurch Punkt 18 von 
Wilſon verletzt würde. 

Auf den Proteſt des Arbeiterrates Meſeritz 
lief folgende Antwort der Waffenſtillſtands⸗ 
kommiſſion ein: 

Die Deutſche Waffenſtillſtandskommiſſion 
Spaa begrüßt den Einſpruch des Arbeiter⸗ 


rates Meſeritz als wertvolle Unterſtützung in 


ihrem Kampfe für die deutſchen Intereſſen. 
gez. Frhr. v. Hammerſtein. 

Uber die Proteſtkundgebungen in Birn⸗ 
baum, die einen fo erfreulichen Erfolg zeitig⸗ 
ten, berichtet die Meſeritzer Kreiszeitung“ 
vom 25. Februar: 

Befonderen Anflang werden folgende Be- 
ihlüffe de Bertrauensrate® der geiamten 
Truppen de3 Grenzihuge® Birnbaum, 
fowie de Difizierforpe des Grenzihugab- 
&nitte® Birndbaum finden: 

Seit Unterzeihnung des Waffenftillitandes 
im November 1918 bat bei den einzelnen 
Terminen zur Berlängerung de3 Waffenftill- 
ſtands Narſchall Foch dem deutſchen Volke 
Bedingungen geſtellt, die an Rückſichtsloſigkeit 
die eine die andere ũbertraf. Die rückſichts⸗ 
loſeſte aber, Peitſchenhiebe für das deutfche 
Bolt, ift die legte Wir Deutiche follen mit 
Gewehr bei Fuß zuſehen, wie polniſche 
Räuber⸗ und Mörderbanden, die zu einer 
Zeit, da der Welt Völkerfriede und ähnliches 
borgegaufelt wird, über urdeutihe Lande 
berfallen, deutfbe Bürger niedermegeln, 
deutihen Belig brandfhagen und unendliche, 
nicht zu erjegende Sulturwerle zerftären. 
Damit nicht genug, follen wir nun aud) no 
deutihen Boden, für den teures Blut ge 
flofjen, fampflos dieſen polniſchen Räuber⸗ 
banden überlaſſen. Nein, nie und nimmer. 
Eine Regierung, die dem zuſtimmt, iſt keine 
deutſche Regierung. Die deutſchen Männer 
und Jünglinge, die aus allen Teilen des 
weiten deutſchen Vaterlandes zum Grenz⸗ 
ſchutz geeilt ſind, um heiligen deutſchen Boden 
zu verteidigen, deutſche Frauen und Kinder, 
deutſche Art und deutſches Recht zu ſchützen 
und zu ſchirmen, erklären: 

Mag uns befehlen, wer will, wir bleiben 
in den von uns beſetzten Stellungen. So—⸗ 
lange wir noch eine Patrone haben, ſolange 
noch ein Lebensfunke in uns iſt, betritt kein 


Pole unſere jetzige Stellung. Nur über die 
Leichen von tauſenden und abertauſenden 
deutſcher Mämer geht der Weg in die von 
Foch befohlene Stellung. Will Foch es aber 
zum Außerſten lommen laſſen, will er Deutſch⸗ 
land vollſtändig zu Grunde richten, dann ſind 
auch wir zum Außerſten entſchloſſen. Dann 
werden wir dem Bolſchewismus die Tore 
öffnen und mit ihm zuſammen Europa über⸗ 
ſchwemmen, dann dürfte auch für Foch und 
ſeine auf Größenwahn aufgebaute Imperator⸗ 
ſtellung die Stunde geſchlagen haben. 


Im Namen des Vertrauensrates der geſamten 
Truppen des Grenzſchutzes Birnbaum. 


Die geſamte Bevöllerung der Stadt und 
des Kreiſes Birnbaum, ſoweit er noch nicht 
von den Polen beſetzt iſt, in Zahl von etwa 
8000 Perſonen, hat ſich heute in einer ſpon⸗ 
tanen Kundgebung in Wahrung ihres Selbft⸗ 
beſtimmungsrechts einmütig auf den Stand⸗ 
punkt geſtellt. daß ihr Gebiet unbedingt deutſch 
bleiben müſſe und der Grenzſchutz auf keinen 
Fall von ſeiner innegehaltenen Linie zurüd- 
weichen würde. Ebenſo haben die Ver⸗ 
trauensmänner aller Formationen des 
Grenzſchutzabſchnittes Birnbaum einſtimmig 
erklaͤrt, keinen Fuß breit deutſchen Bodens 
der Willkür der Polen überlaſſen zu wollen. 

Das geſamte Offizierkorps betrachtet es 
dbethalb als Ehrenſache, leinen Schritt kampf⸗ 
los zurũctzuweichen und die jetzige deutſche 
Linie bis zum letzten Atemauge zu halten. 

Dies haben wir der Bürgerſchaft ver⸗ 


ſprochen, dies werden wir unter Einſatz der 


eigenen Perſon unbedingt halten. 
Im RNamen des Offizierkorps des Grenz⸗ 
ſchutzabſchnittes Birnbaum. 
Auf die BVirnbaumer Kundgebungen er⸗ 
folgten folgende Antworten: 


Telegramm aus Weimar, 21. Februar. 

Billige feierliches Gelöbnis, aus den ein⸗ 
gezogenen Stellungen, wie fie am 16. d. M. 
waren, nicht zu weichen. Demarlationglinie 
gilt au für Polen. Died ausdrüdlich von 
Marſchall Foch anerkannt. Polen dürfen dieje 
nicht überſchreiten. Demarkationslinie prä⸗ 
judigiert in keiner Weiſe Friedensvertrag. 
Von Wilſons Programm wird kein Punkt 
preisgegeben. Reichsminiſter Erzberger. 


Aus den Deutfchen Dolfsräten 15 





Telegramm vom Autwärtigen Amt, Berlin. 
Troß dringender Borftellung ift e® nicht 
gelungen, die Demarlationelinie jenfeit3 der 
Stadt Birnbaum zu legen. Der beutichen 
Bevöllerung muß anheimgegeben werden, durd) 
energiſche Proteſte das Selbſtbeſtimmungs⸗ 
recht für ſich in Anſpruch zu nehmen und ſo 
den deutſchen Friedensunterhändlern die beſte 
Waffe für den Kampf um den Verbleib der 
Stadt beim deutſchen Reiche in die Hand zu 
geben. Graf Brockdorff. 
Telegramm von dem Generallommando 
8. Armeelkorps, Glogau. 

Ihr Telegramm vom 19. Februar iſt an 
das Armee⸗Ober⸗Kommando Süd weiter⸗ 
gegeben. Das Generallommando hat ſofort 
nach Bekanntwerden der Demarkatiounslinie 
beim Armee⸗Ober⸗Kommando und bei der 
Oberſten Herresleitung beantragt, daß Birn⸗ 
baum in deutſcher Hand bleibt und wird 
weiter mit Nachdruck dafür eintreten. 

Telegramm des Deutſchnationalen 
Abgeordneten der Nationalverſammlung Ohler 
(Grabitz, Kr. Birnbaum). 

Soeben Rüdiprade mit Staatdfelretär 
Erzberger. Nicht zurückgehen. Birnbaum 
unter allen Umſtänden beſetzt halten, komme 
was wolle! gez. Ohler. 

Über da® Grgebnis diefer Pro'ſeſte be 
richtet da3 „Berl. Tageblatt” vom 26. yebruar: 

Vie die Oberfte Heerezleitung mitteilt, 
sahmen die Verhandlungen mit dem fran- 
zöfifhen General Dupont, dem Yührer der 
Ententelommiffion, die nah dem Often zur 
Feltfegung der Demarlationzlinie entjandt 
worden ift, einen günftigen Berlauf. Wan 
Iann fon jegt fagen, daß Birnbaum außer- 
halb der Temarlationslinie liegen und in 
beutfhern Befig bleiben wird. Wahricheinlich 
wird der Statuß, wie er jegt beitebt, als 
Demarlationglinie feftgehalten. 

Die deutihen Zandgerıneinden Lewighaus- 
Iand, Sawade, Zubenhauland, Blake (Kreis 
Meferig) haben folgende Entihließung gefaßt 
und an die Nationalderfammlung fowie an 
den Generaljeldmarfhall bon Hindenburg 
abgefandt: 

Die bißher von deutfher Befagung gegen 
polnifhe Angriffe verteidigten und gehaltenen 
aus rein Teutfchen beftehenden Gemeinden 
Zewighauland, Sawade, Lubenhauland, Blate 


proteflieren gegen die nah den Waffenftill- 
ftand&bedingungen in Ausficht ftehende An» 
gliederung an Polen. Wir erwarten, daß 
die Demarlationelinie öjtlid unferer Ger 
meinden geht. Wir baben uns biäher mit 
Erfolg gegen die Bolen behauptet und wollen 
auch fernerhin deutich bleiben. 
Die Deutfhen Vollsräte von Lewighauland, 
Samwade, Qubenhauland, Blate. 

Auf ein in einer VBerfammlung in Sagan 
an Neiheminifter Erzberger gerichteted Tele» 
gramm, daß alle Schritte ergriffen werden 
follten, um die Abtrennung der Provinz PBofen 
dom Deulihen Reihe abzuwenden, erklärt 
Minifter Erzberger in einem Antwort⸗ 
telegramm: 3 ift außdrüdlih außgemadt 
und von Marihall Fo zugeftanden worden, 
daß die neuen Waffenft:liitandebedingungen 
in feiner WVeife der Zriedendlonferenz vor⸗ 
greifen, fondern daß fie lediglich militäriiche 
Angelegenheiten behandeln, und bon ben 
VBilfonfhen Bedingungen unter Teinen Um⸗ 
fländen zuungunften des deutihen Teiles der 
Brovinz Bojen abgewidhen werte. 

Der deutiche Boifsrat von Tirfchtiegel 
fandte am 19. Februar folgendes Telegramm 
an Minifter Erzberger, Weimar: 

Durh die neuen BBaffenftillftandsbedin. 
gungen follen viele rein deutihe Gebiete den 
plündernden Polen auf Gnade oder Ungnade 
preißgegeben werden, darunter aud) teilweife 
unfer deutſcher Kreis Melerig, der bon 
deutfhen Truppen bejegt if. Die gelamte 
Bevöllerung von Tirfchtiegel und Umgegend 
proteftiert energiih gegen diefe, den Wıljon- 
ihen Grundfägen zumwiderlaufende Vergewale- 
tigung und zwar zugleich für die bereitd von 
den auftändiifhen Polen widerrechtlih be 
fegten deutihen Nadbarfreife. Wir verlangen, 
daß die von unfern XQruppen jegt bejegten 
Stellungen ald Demarfationzlinie gelten. 
Bır find deutih, wollen bdeutfch bleiben 
und ftehen dafür ein bı8 zum legten Yiem- 
zugel Das Wut der bei der Verteidigung 
ihrer Heımat gefallenen Brüder darf nicht 
umfonft gefloffen fein! 

Der Deutihe Bollärat. 

Am 20. Februar erhielt der Deutſche 
Bollörat Tirfchtiegel folgende Antwort 
drabtung: Depeiche erhalten. Belekte Gebiete 
werden Bolen nicht auf Gnade oder Ungnade 


16 Aus den Dentfhyen Dolfsräten 





übergeben. Alliierten haben vielmehr Schug 
der Deutfhen in den geräumten @ebieten 
übernommen. Bemarlationglinie greift end» 
gültigen Friedensverhandlungen nit vor. 
Hätte die Oftmart meinen feit mehreren 
Monaten geäußerten dringenden Wünfchen 
auf eigene Organifation militärifher Ver. 
teidigung entfprochen, würde anderes Nefultat 
erreiht worden fein. 
Neihsminifter Ergberger. 
Darauf fandte der Deutſche Bollsrat 
Tirfhhtiegel folgende Gegenäußerungen: 
Minifter Erzberger, Weimar. 


Shlußlag Antwort W. 362 vom 20. Ye 
bruar bier jehr befremdet. Beweift völlige 
Unfenntniß biefiger Lage. Haben un? von 
Unfang an gegen Polen organifiert und fie 
bißher don unferem Gebiete ferngebalten. 
Benn Negierung mehr Äntereffe für ung, 
wäre Nefultat ein andere. Kühlen uns 
durch Vorwurf nicht getroffen. Troy Waffen» 
ftilftandes greifen Polen weiter an, rauben 
und plündern weiter. Protofoll' folgt. 

Der Deutihe Vollerat. 


Diefem Telegrammiwecdfel fügt der 
Deutſche Volksrat in einer Zufcrift an die 
„Bolfihe Zeitung“ noch folgende Bemer- 
tungen bei: „Waß wir von dem Alliierten« 
(uf Halten, erfparen wir uns zu fagen. Ein 
Grengihut beftand bald nach der Revolution. 
die pojenihen Sarnifonen waren aud) belegt. 
Sehr bald wurden aber auf Grund bon Ver⸗ 
Handlungen zwifchen Berlin und Bofen die 
reindeutijhen Soldaten nad Haufe entlaflen 
und durh „Kaczmareld" (— polniihe Sol« 
daten) erfegt. Die heimlehrenden Truppen« 
teile wurden prompt bon den polnifhen 
Soldatenräten und Truppen de 5. A. . 
entwafinet. Wie follten wir da „eigene 
militäriſche Verteidigung“ organifieren? 
Sollten wir mit Schützenbüchſen gegen die 
von den Polen geraubten Maſchinengewehre 
und Artillerie kämpfen oder mit Knüppeln? 
Als Ende November v. J. Vertreter der 
reindeutſchen acht Randkreiſe Poſens in Berlin 
waren, wurden ſie auf Selbſthilfe verwieſen, 
Lieferung von Waffen und Munition aber 
glatt abgelehnt.“ 


Die Deutſchen in der Stadt Bentſchen 
haben am 17. Februar an die Nationalver⸗ 


ſammlung und die Reichsregierung in Weimar 
eine Drahtung gerichtet, in der es heißt: 
Die Geſamtheit der deutſchen Bürger der 
Stadt Bentihen erhebt flammenden Eins 
fprud) gegen die Einbeziehung BVentſchens 
in da8 Gebiet weftlih der Demarfationglinie. 


Bentſchen iſt der Ausgangspunkt von ſechs 


Bahnftreden, der wichtigſte Eiſenbahnknoten⸗ 
punkt Weſtpoſens. Völlige Abhängigkeit des 
Eiſenbahnverkehrs zwiſchen reindeutſchen Ge⸗ 
bieten von polniſcher Willkũr wäre die Folge. 
Drei Fünftel der Einwohnerſchaft Bentſchens 
iſt deutſch. Schützt uns deutſche Einwohner 
des hieſigen, in harten Kämpfen fiegreich 
verteidigten Gebiets gegen polniſche Grauſam⸗ 
keit und Willkür. 

Das reindeutſche, bei Bentſchen gelegene 
Dorf Streſe proteſtierte ebenfalls gegen die 
drohende Gefahr, polniſcher Willkür ausge⸗ 
liefert zu werden. Was von polniſcher Will⸗ 
für und Grauſamkeit zu erwarten ift, babe 
Strefe in der Schredendnadt ded 11. Januar 
erfahren. 

Der Deutſche Bollsrat in Gulmfee ver- 
öffentlichte am 20. Februar folgenden Rot« 
ſchrei: | 

Rah Siegen, die die ganze Welt in 
Erftaunen und Veriwunderung gejegt haben, 
brah Deutihland zufammen. Heute find 
wir gezwungen, unfere beilige Seimaterde 
gegen fremde Eroberungsgelüfte mit dem 
Wort und der Schrift zu verteidigen. Wie 
im Weften Elfaß-Lothringen — uraltes 
deutiches Land — wieder vom Neiche Io8- 
geriffen. werben fol, fo find im Often die 
Bolen beftrebt, unzweifelhaft deutiche® Land 
mit einer unzweifelhaft deutichen Bevölkerung 
dom Mutterlande loszureißen. Aud die 
Provinz Weftpreußen fol polnilher Zänder- 
gier zum Opfer fallen. Ganz Weftpreußen 
aber ift deutfches Land mit weit überwiegend 
deutfcher Bevölkerung. Einen Schlag in dad 
GSeficht der Gerechtigkeit würde diefer Länder⸗ 
raub bedeuten. Das heutige Gebiet der 
Provinz Weftpreußen ift von 1230 an bon 
dem deutichhen Ritterorden erobert worden. 
BVolen bewohnten diejes Gebiet damals nicht 
und aud) heute no bilden fie Hier die 
Minderheit. 1100000 Deutjhe und nur 
600 000 Rolen und Kafhuben bewohnen 
diefe Provinz. Biweihundert Jahre lang 


Aus den Dentfchen Dolfsräten 17 


(von 1569 bi3 1772) ift Weftpreußen polnijche 
Provinz geweien, wider den Willen feiner 
Bevölferung, wider Neht und feierlichjt ver« 
briefte Verſprechungen. 

Als wir in dem hinter uns liegenden 
Welikriege von Sieg zu Sieg eilten, als wir 


Ruſſiſch⸗Polen von den ruſſiſchen Heeren und 


Herren mit deutſchem Blute befreiten, jubelten 
uns die Polen zu und erklärten, ihr Schick⸗ 
ſal unlöslich mit dem Schickſale Deutſchlands 
verbinden zu wollen. Sie haben ihren 
Schwur vergeſſen, ſie haben treulos ihr Wort 
gebrochen. Von der deutſchen Provinz 
Poſen haben ſie wider Recht und Gerechtig⸗ 
keit und bevor die Friedenskonferenz über 


das Schickſal dieſer Provinz entſchieden hat, 


Beſitz ergr ffen. 

Sie wiſſen es wohl, daß auch die 
Provinz Poſen nicht unzweifelhaft polniſches 
Land iſt. Deutſch iſt die geſchichtliche Ent⸗ 
wicklung dieſer Provinz, Deutſche gründeten 
ihre Städte und Dörfer, deutſche Ein⸗ 
wanderer, von polniſchen Koͤnigen ins Land 
gerufen, brachten dieſe Provinz zu hoher 
Blüte. Und was die Provinz Poſen heute 
iſft, verdankt ſie ihren deutſchen Bewohnern, 
die, über 800C00 Seelen ſtark, faſt die 
Haͤlfte der Provinz ausmachen, und verdankt 
fie der Fürforge ded Deutſchen Reiches. 

Unzweifelhaft deutfches Gebiet jol vom 
deutfchen Diutterlande losgeriſſen werden. 
Bölter der Erdel Wir Deutfchen rufen e3 
euch zu, daß deutich aud) dieje beiden Pro- 
binzen find. Wir wolen Deutiche bleiben, 
wir wollen vom deusfchen Mutterlande nicht 
losgerifjen werden. Nie werden wir aufs 
hören zu proteftieren, wenn und Unredt 
gefhehen folte. Unferen Kindern und 
SKindeskindern wollen wir e® überliefern, 
daB deutfch auch dieje Provinzen jind. Ein 
heilige8 Vermädtnid fol ed den fpäteften 
Enteln jein, die Nüdgabe der deutihen Oft. 
marfen zu fordern. | , 

Nur Unfenntni® oder Züge werden be- 
haupten, daß die Provinzen WWeitpreußen 
und Bofen nicht unzweifelhaft deutfches Land 
find und eine nicht unzweifelhaft deutiche 
Bevöllerung aufiveifen. Auch viele Hundert» 
taufend Bolen, die in diefen Provinzen 


wir aufhören, 


wohnen, find nur polonifierte Deutiche, find 
alfo Deutsche ihrer Abftammung nad), die nur 
die polnische Mutterfpradhe angenommen haben. 
Völker der Erde hört und! Wir fordern 
Neht und Gerechtigkeit für und, nichts 
weiter. Wir find bereit, Gut und Blut für 
unfere %reiheit zu opfern. Mag rüdfidtd- 
Iofe Gewalt au zu unferen Ungunften ent« 
[heiden, mögen Recht und Geredtigfeit don 
den Siegern gebeugt werden, nie erden 
an einen endlihen G©ieg 
unferer gerechten forderungen zu glauben. 
Und diefer Glaube wird uns ftard maden 
und wird und mit Zuverliht an einen end» 
lihen Sieg ded deutihen Recht? erfüllen. 
Aber wir wenden un? vertrauengboll an 
eud, ihr Völker. Ahr werdet e8 nicht dulden, 
daß unfer offenfihtlihes Necht brutaler 
Gewalt zum Opfer fält. Bölfer ber Erde, 
bedentt, daß aud euch unfer Schidfal treffen 
fann. Wollt ihr alsdann Gerechtigkeit finden, 
dann verhbelft uns jegt zu unferen Rechten. 
Auch preußifhe Polen wenden fi gegen 
den Anichluß an dad neue Polen. An der 
am 12. Februar 1919 in Compraditfchüg, 
Krei3 Oppeln, abgehaltenen Verſammlung 
polnifhfprehender Männer und Frauen ifl 
laut amtlihem Protofoll von den eima 350 
Verfammelten einftimmig folgende Ent- 
fhließung angenommen worden: Bahlreiche 
Männer und Frauen auß der Gemeinde 
Compradifhüg, weldhe fih Heute bier vers 
fammelt haben, erflären biermit, daß fie frei 
und ungehindert ihre Mutterfpradhe ger 
brauden, ihre Neligion ausüben und wie 
bisher bei ihrer jchlefiihen Heimat verbleiben 
wollen. Sie erheben feierlid) Einfprud) gegen 
die bon großpolnijcher Seite unternonimenen 
Verfuhe, Oberfchlejien oder Teile davon dem 
neuzugründenden polnifchen Reiche einzuver- 
leiben. Sie erbliden allein in dem Berbleib 
bei Deutichland die Gewähr für Aufrehter 
Haltung ihrer Kultur. Diefe Entichließung 
wird ald Beichluß der Berfamrnelten dem 
Auswärtigen Amt zur Kenntnig gebradt. 
Gemeindevorjteher Wolf. 
Eine gleihartige Entihließung ift aud 
don der Gemeinde Chmiellowig, Kreid Oppeln, 
angenommen worden. 


18 Preſſeſtimmen 





Preſſeſtimmen 


1. Oſtdeutſche Preſſe 

Die „DOftdeutiche Rundihan” Nr. 50 vom 
28. Sebruar fchreibt: 

Der Berlauf deutichen Grund und Bodens 
an Bolen nimmt Hier in Bromberg in be 
forgnißerregender Weile zu. Gefördert wird 
diefer Verrat am Deutfhtum dur) eine weit 
berzweigte Bropaganda der Polen, denen fein 
Preis zu hoch iſt, um ihre nationalpolitifhen 
Pläne zu verwirklichen und dem deutſchen 
Charakter der Stadt Bromberg nach und 
nach ein polniſches Gepräge zu geben. An⸗ 
geſichts der beſchämenden Lauheit und Gleich⸗ 
gültigkeit vieler Deutſchen können wir an alle 
Haus⸗ und Grundbeſitzer nur die dringende 
Mahnung richten, in dieſer ſchweren Zeit ihr 
Deutſchtum nicht im Stiche zu laſſen, ſondern 
treu auszuhalten auf ihrem heimatlichen Be⸗ 
ſiztum. Wer ohne zwingenden Grund dennoch 
an Polen verkauft, der verſündigt ſich aufs 
ihwerfte an feinem Vaterland und muß 
gewärtig fein, bon ſeinen deuiſchen Volks⸗ 
genoſſen verachtet zu werden. Bei unſerem 
derzeitigen niedrigen Geldſtand iſt überdies 
die Veräußerung von Grund und Boden eine 
Unklugheit, die ſich bitter rächen kann. 


2. Preſſe im Reich 

Die „Deutſche Zeitung“ Nr. 83 vom 
20. Februar berichtet: 

Die interfraktionelle Oftmarkenkommiſſion 
in Weimar hat die Richtlinien für ein Pro⸗ 
gramm der Oftmarkenpolitik feſtgeſetzt. Dieſe 
Richtlinien werden zunächſt Gegenſtand der 
Beratungen der einzelnen Fraktionen ſein. 
Die interfraktionelle Kommiſſion legte fol⸗ 
genden Entwurf vor: 

Die Nationalverſammlung fordert: 

1. daß die Reichs- und preußiſche Re⸗ 
gierung unverzüglich alle Mittel anwendet, 
die geeignet ſind, die öſtlichen Provinzen in 
dem im Waffenſtillftandsvertrag vom 11. No⸗ 
vember 1918 vorgeſehenen Zuſtand der un⸗ 
veränderten Grenzen bis 1. Auguſt 1914 
aufrecht zu erhalten. Die Nationalverſamm⸗ 
lung ſtellt feſt, daß die uns durch den Ver⸗ 
trag vom 16. Februar 1919 aufgezwungene 





Demarkationslinie in der Provinz Poſen als 
eine rein militäriſche Maßnahme bezeichnet 
wird, welche der Entſcheidung über die poli⸗ 
tiſche Zugehörigkeit der betreffenden Gebiete 
nicht vorgreift. Sie ſtellt ferner feſt. daß 
innerhalb der Demarkationslinie Gebiete 
liegen, die im Sinne von Punkt 18 der 
Wilſonnote als unbeſtreitbar deutſch anzu⸗ 
ſehen ſind; 

2. ſie erwartet von der Regierung, daß 
fie ihrerſeiis weitere übergriffe der Polen 
abwehrt und der Entente gegenüber darauf 
dringt, daß dieſe entſprechend der in dem 
Ablommen vom 16. Februar 1919 über- 
nommenen Berpflihtung, die Polen an jeg* 
liher Verlegung der Demarfationglinie 
verhindert; 

8. und 4. die Nationalverfammlung ver- 
wahrt fih nahdrüdlichft gegen alle Beſtre⸗ 
bungen, welche darauf hinzielen, Teile Oſt⸗ 
preußens mit neuen litauiſchen und preu⸗ 
ßiſchen Staaten zu vereinigen und fordert 
die Regierung auf, bei den Friedensverhand⸗ 
lungen auf den urdeutſchen Charakter der 
litauiſchen und maſuriſchen Teile Oſtpreußens 
und auf ihre fiebenhundertjährige ununter⸗ 
brochene Zugehö igkeit zu Preußen⸗Deutſch⸗ 
land hinzuweiſen. Die Loslöſung dieſer 
Gebiete vom Deutſchen Reiche würde den 
von Wilſon formulierten Grundlägen direlt 
zuwiderlaufen; 

B. die Nationalverſammlung erwartet auf 
das beſtimmteſte, daß entſprechend den 
Wilſonſchen Grundſätzen Weſtpreußen und 
Oberſchlefien dem Deutſchen Reiche erhalten 
bleiben, da ſie ethnographiſch, politiſch, wirt⸗ 
ſchaftlich und kulturell unbeſtreitbar deutſch 
find, 

6. die Nationalverfammlung fordert von 
der NMegierung, daß fie alle Mittel aufwendet, 
um Angriffe bolfhewift.fher Truppen und 
Banden auf die öftlihen Bropinzen Deutich- 
lands abzuwehren und alle maftenfähıgen 
deutfchen Männer zum Eintritt in die frei- 
willige Bolföwehr zu veranlaflen. 

Die „Deutfche Allgemeine Zeitung” Rr.86 
vom 19. Februar erinnert an die unlösbaren 
Schwierigfeiten, die da8 Bofener Demar- 


Preſſeſtimmen 19 





kationsproblem bereits im Jahre 1848 ge⸗ 
macht hat und fährt dann fort: 

Daß wir aus militäriſchen Gründen auf 
die Feſtung Poſen ohne ſchwerſte Bedrohung 
der Reichshauptſtadt nicht verzichten können, 
ift ſelbft von linksftehender Seite offen zu⸗ 
gegeben worden, die 1848 ſowohl wie jetzt 
für die nationalen Intereſſen des oftmärkiſchen 


Deutſchtums ein verblüffend geringes Ver⸗ 


ſtändnis gezeigt hat. Daß der Negediftrift 
und die Weſtpoſener Kreiſe trotz ihres pol⸗ 
niſchen Einſchlages nach Kultur und Wirt⸗ 
ſchaft, mit dem Präfidenten Wilſon zu reden, 
unzweifelhaft deutſchen Charakter tragen, 
kann kein Kenner der Verhältniſſe leugnen. 
Da wir aber überhaupt in der Provinz 
Poſen von Polen nicht viel mehr als das 
nackte Land überkommen haben, da mit den 
führenden Schichten zugleich alles, was auf 
dieſem Boden gebaut, was in ihn geſenkt 
und gepflanzt iſt, unermüdlichem deutſchem 
Erfindungsgeiſt, zähem deutſchem Fleiße, nicht 
zum geringen Teile auch der Initiative der 
preußiſchen Krone Daſein, Blüte und Ge⸗ 
deihen verdankt, iſt jeder polniſche Verſuch, 
Teile der Provinz Poſen in ihrem heutigen 
konkreten Beſtande als „geraubten Teil“ des 
verlotterten alten Polenſtaates von ehedem 
zu reklamieren, als Verſuch grober Täuſchung 
und brutaler Vergewaltigung anzuſprechen. 

Worauf die Polen im preußiſchen Staate, 
alſo diesſeits ſo gut wie jenſeits der heute 
vorgeſchlagenen Demarkationslinie, einen 
wohlgegründeten Anſpruch haben, iſt eine 


weitgehende kulturelle Autonomie und eine 


weitherzige Berückſichtigung ihrer nationalen 
Eigenart. Der loyalſten Berückſichtigung 
dieſer Anſprüche können ſie im neuen demo⸗ 
kratiſchen Preußen und Deutſchland ſicher 
ſein. Alles, was darüber hinausgeht, iſt 
ein ſchmaͤhlicher Verſuch, die gegenwärtige 
politiſche Ohnmacht Deutſchlands zu gewalt⸗ 
ſamen Gebiets⸗Neuregelungen auszunugen, 
die die Gewähr der Dauer nicht in ſich 
tragen, ſondern mit Naturnotwendigkeit zu 
dauernden politiſchen Verwicklungen und 
damit zu einer ſchweren Gefährdung des 
europaͤiſchen Friedens führen müſſen. Weit 
entfernt auch nur dem Wortlaute des 
Wilſonsprogramms zu entſprechen, laufen 
die allein durch das rachſüchtige Frankreich 





geftützten Anſprüche der preußiſchen Polen 
auch dem Geifte dieſes Programms auf das 
tiefſte zuwider. | 

Unter der fiberfchrift: „Ein Bündnis mit 
Bolen — das Gebot der Stunde” bringt 
die „Bermania” in Nr. 78 vom 14. Februar 
au8 parlamentarifhen Kreifen eine Zufcrift,” 
in der der Berfaffer den Gedanken befämpft, 
daß Preußen und Polen grundfäglid und 
hiftorifch Feinde feien, und in der er zu dem 
Schluß fommt, daß nur ein Bündnid der 
beiden Länder fie vor der gemeinjamen @e- 
fahr retten könnte, in der fie in diefem Augen 
blicke ſchweben. 

Der Verfaſſer ſetzt auseinander, daß die 
feindliche Stimmung, die Polen gegen 
Deutſchland beſeele, aus der halatiſtiſchen 
Politik, dem Kulturkampf“ und der Aus⸗ 
rottungspolitit Preußens entſtanden ſei, und 
daß die Militärverwaltung während des 
Krieges in Polen nichts getan habe, um 
dieſe Stimmung zu heben. Bon einer Be- 
freiung Polens Tönne teine Rede fein, im 
Gegenteil fei da3 alte Syftem der PBolenbe- 
Yampfung nur wieder aufgefriiht worden. 
Der Schreiber der Zufdrift benugt nun die 
Gelegenheit der Verhandlungen des preußifchen 
Minifteriumd® mit den Polenführern, um 
beiden folgende Mahnung zugurufen: 

„Die Entieidung mit den Waffen zu 
ſuchen, liegt weder im Intereſſe Deutſchlands, 
nod) Polend. Beide Länder haben unendlich 
durch den Krieg gelitten und müflen an ihren 
inneren Aufbau denten. Sn beiden Ländern 
berrfhen zurzeit wüfte Parteilämpfe und 
beide Länder find bon den ruffiihen Bol 
[hewifi bedroht. Eine möglichſt baldige 
Berftändigung gwifhen Preußen und Bolen 
ift deahalb dringend geboten. Und fie ilt 
nicht ausſichtslos. Die Polen follten dod 
bedenten, daß die von unferen damaligen 
Machitbabern betriebene: Gewaltpolitif der 
H.Ratiften nicht dem Willen de weitaus 
größten Teiles de3 deutihen Volkes ent⸗ 
iproden hat. Wenn diefe Erfenntnid fi 
vollzieht und dann der wohlverftändige Haß 
gegen die Deutichen ruhigen und vernünftigen 
Erwägungen Plag maden Tann, dann wage. 
id im WRevolutiondjabr 1919 , mit einem 
ähnlichen Vorſchlag hervorzutreten, wie der 
von mir am Anfang dieſes Aufſatges er⸗ 

ge 


20 


Prefleftimmen 








wähnte Politifer ded Nevolutionzjahres 1848 
e3 getatı Bat. Biwilhen Preußen und Bolen 
muß nit nur eine Berftändigung herbeige- 
führt werden, fondern ein Bündni® ge« 
ihloffen werden. Um diefes zu ermöglichen, 
muß zunädjft die Provinz Bofen eine jelbit- 
ftändige NRepublif werden. An wen ji 
diefelbe anfchliegen will, Tann ihrem Selbft- 
beſtimmungsrecht vorbehalten bleiben, denn 


e8 Würde boreilig fein, zu glauben, daß 


man fi für Kongreßpolen ent'cheiden wird. 
Au follie legterem ein Zugang zum Meere 
ermöglicht werden. Wie da3 gefchehen könnte, 
bedarf in diefem Augenblid Teiner weiteren 
Erörterung. Selbftveritändliche Vorausfegung 
wäre, daß aud Stongrekpolen und Galizien 
autonome Nepublifen würden. Dasſelbe 
müßte der Fall fein mit Litauen und dem 
Baltılum. Wenn die fämtlihen genannten 
.Xänder untereinander und mit Deutfchland 
durh ein Bündnid verbunden wären, fo 
würde da8 nit nur für die Verhälmnifie 
diefer Länder, fondern für da3 gefamte 
Europa glüdverbeißend fein.“ 


3. Polnifche Prefie 

Zu den beutfhen PBroteftlundgebungen 
äußert fi) der Bromberger „Dziennil Byd⸗ 
goffy” vom 20. Februar auf folgende Weife: 

„Up ewig ungedeelt.” Der Deutliche 
Bollarat in Bromberg hat nad Weimar, an 
die Vaffenftillftandstommiffion in Epaa und 
an Sceidemann ein Telegramm gefandt, in 
weldhem er awar feine Freude darüber zum 
Ausdrud bringt, daß infolge der Durd 
führung der Demarfationglinie Bromberg 
beim „Mutterlande” verbleibt, aber trogdem 
gegen die Trennung mit den übrigen Deut. 
fhen im Bofenihen proteftiert und feine 
Solidarität mit Ddenfelben erklärt. Das 
Deutihtum in VBromberg ftelt für Die 
Sriedendverbandlungen die Rihtihnur auf, 
daß es für eiwig mit dem Reft der Deutfchen 
in der Bofener Provinz vereinigt bleiben will: 
„Up ewig ungebeelt”. 

Nubig, ruhig, ihr Herren Hafaliften. Yhr 
werdet beitimmmt „ungedeelt“ fein, aber — in 
Polen. Wenn ed euch nicht gefallen follte, jo 
Tönnt ihr eu) wo ander3 euren Sig wählen 
und dort „up ewig ungedeelt” fummen. 


Wilem (Spottwort gegen Kaifer Wilhelm) 
wird euch helfen. 

Der Poſener „Dziennik Poznanſli“ ſchreibt 
in Nr. 45 vom 28 Februar 1919: 

Anträge von Dmowili. „L'Independance 
Polonaife* bringt den Wortlaut der Anträge, 
welde den Schluß des Erpoie von Bmomfli 
bor den Bertretern der Entente bildeten. 
Diele Anträge lauteten: 

1. Die frage der deutichen Gefahr: € 
ift unerläßlih, daß man die Deutfhen mit 
ihrem Vorwärtsdrängen nad dem Dften auf« 
hält, wa® man durd) eine einfahe Forderung 
der DBerbündeten erzielen tönnte. Es ift 
auch nötig, in dem Waffenftillftand, der er- 
neuert werden fol, diejenigen Bedingungen 
feftzulegen, welche der polnifchen Bevölferung 
die Sarantie geben, daß ‚fie nit verfolgt 
werden wird und in Ruhe den Beihluß der 
Sriedengfonferenz erwarten Tann. 

2. &3 ift unbedingt notwendig, daß man 
den Weg über Danzig für den Trangport 
bon Munition, Waffen und Lebenemitteln 
eröffnet. Ber Artitel des Baflenftilitande- 
bertragd, welcher den Verbündeten freie 
Durchfahrt von Danzig nach Thorn geſtattet, 
muß auch erfüllt werden. Died Tann man 
erreihen, wenn die Bahnftrede von Enientes 
militär offupiert wird, oder Wenn eine 
Garantie gegeben wird, daß die Polen freie 
Durcdfahrt befommen, während welder fie 
nicht beläftigt werden. &3 ift dies unbedingt 
‚notwendig, damit die Armee ded Generals 
Haller, welder fo ungeduldig im Lande er- 
wartet wird, abgeihidt werden Tann. Die 
Volen fordern gleihfald, daß man ihnen 
Kleidung, Waffen und Munition für die in 
der Bildung begriffene Armee fhidt. Menicdhen- 
material ift genug da, es fehlt jedoch das, 
wa zu ihrer Equipierung nötig ift. 

3. Die Lage in Oftgaligien muß gleidj« 
fal® geregelt werden. Lemberg wird dort 
fortwährend von den Ufrainern angegriffen, 
die Bolen Tönnten fi wehren und Ordnung 
im Lande einführen, wenn fie die notwendigen 
Kleidungd-, Munitiond- und Waffenvorräte 
für die polnifhe Armee hätten. 

Der „Dziennit Bydgofiy” Nr. 45 vom 
23. November 1919 fchreibt: 

Die Entenie wird Polen das ganze deutfche 
Teilungsgebiet zufammen mit Oberfdlefien 


Preſſeſtimmen 21 


zurädgeben. Während der Verhandlungen in 
Saden der Berlängerung ded Baffenftill- 
ſtandes hat Marſchall Foch anfänglich eine 
Linie beſtimmt, die auch ganz Oberſchlefien 
von Preußen abtrennte. Später zeigte er ſich 
auf die Bitten der Deutſchen damit ein⸗ 
verſtanden, daß die Polen vorläufig nur das 
behalten ſollen, was ſie mit Gewalt weg⸗ 
genommen haben (Anm. d. Red. d. Ztg.: 
Später werden ſie den Reſt deſſen erhalten, 
was ihnen gehört). 

Das Unterlommiſſariat für Schleſien (Herr 
Rechtsanwalt Czapla in Beuthen) gibt ein 
umfangreiche® Schreiben in diefer Sade be» 
fannt, um die Bevölferung darüber aufzu- 
fären. Der Endpafjuß desfelben lautet 
folgendermaßen: 

Die anfänglide Forderung der Entente 
betrefidö der Demarlationglinie (der militä- 
rifhen) erflärt ihr Vorhaben jhon heute ausge» 
geihnetin bezug aufda® Schidjal Oberfchlefien?. 

Die anfangs erwähnte Linie von Drozfi 
im Sycower Kreis, durch Kupy bis zur 
Mündung der Malapane in die Oder iſt 
dieſelbe, welche die Ländereien in dem Milizer, 
Sycower, Oleſti und Oppelner Kreiſe mit 
überwiegend polniſcher Bevölkerung abgrenzt. 
Alles, was öſtlich von dieſer Linie liegt, ſoll 
alſo den Preußen abgenommen werden. Es 
iſt bemerkenswert, daß Marſchall Foch ſich 
genau nach unſerer Nationalitätenkarte richtet, 
wie dieſe z. B. von unſeren größten Forſchern 
auf dieſem Gebiete, dem Geiltlihen Gregor 
aud Tivorlowo im Streile Ratibor und dem 
Brofeflor Romer aus Lemberg, der jegt in 
Baris mweilt, auf der Starte feines polnifhen 
Atlafje® angegeben wird; die weitere „grüne 
Linie‘ aber muß ihre weitere fFortfegung von 
der Mündung der Bonwa biß zur Oder fein 
und im Weiten de Sreifed durch den Nies 
wobliner und ®Pradnicer Krei® gehen und 
weiter no einen Teil des Sreifed® Natibor 
bis zur tihedifhen Grenze unmfaflen, all dies 
foweit dort polnifhe Bevölferung wohnt. Die 
Ländereien, die alfo öftlid von diefer Linie 
fiegen, müffen alfo ald un aguerlannte pol» 
nie Ländereien angefehen werden. 

Schließlid wird ja zwar die Frieden? 
tonferenz enticheiden, aber fchon heute ift die 
Sade fozufagen beichlofen! Oberſchleſien 
war, ift und wird polnijch bleiben. 


Zur Feftfegung der Demarklationslinie be- 
merlt der „Kurjer Boznanfli”, daß fchon die 
Vertreter ded Polniſchen Oberſten Volksrates 
die Beſtimmung einer Demarlklationslinie vor⸗ 
ſchlugen. Die deutſche Regierung verlangte 
darauf die Zurückziehung der polniſchen 
Truppen, was einer Ablehnung des Vor⸗ 
ſchlages gleichſam. Da ſchon damals der 
Regierung das Verlangen der Entente bekannt 
war, die Feindſeligkeiten einzuſtellen, ſo muß 
man annehmen, daß die Regierung es vorzog, 
dem Befehl der Entente zu gehorchen, als 
ſich mit den polniſchen „Aufrührern“ zu 
einigen. Die Demarlationslinie iſt gleich— 
laufend mit den polniſch⸗deuiſchen Stellungen 
vom 6. d. Mts. Die erſten Vorſchläge 
Fochs waren günſtigere, denn ſie umfaßten 
auch die Kreiſe Kreuzburg und Oels. Man 
muß betonen, daß die Demarkationslinie eine 
rein militäriſche iſt, welche die politiſchen 
Grenzen, welche die Friedenskonferenz be⸗ 
ſtimmen wird, in nichts berührt. Die Polen 
werden im Intereſſe der Vermeidung weiteren 
Blutvergießens ſich den von der Entente 
diktierten Waffenſtillſtandebedingungen an⸗ 
paſſen. Auch die deutſche Regierung wird 
wohl nachgeben. Es iſt aber zweifelhaft, ob 
der „Heimatsſchutz“ fich diefem Befehle unter» 
ordnen wird. Die Negierungsform auf den 
borläufig den Polen beitimmten Gebieten iit 
in den Beftimmungen nicht bezeichnet. Das 
bedeutet, daß der jegige Tatbeitand anerfannt 
wird. 3 bleiben allerdingd noch die be» 
gründeten Forderungen unferer Brüder in 
Dfts und Weftpreußen und Oberfchlefien übrig. 
Bir werden nicht aufhören, weiterhin an dieje 
zu erinnern. 

Ein fehr anfhaulidhes Bild von der nadı» 
gerade über jede® vernünftige Maß weit 
binausgehenden polnifhen Begehrlichkeit 
nah fremdem Land entwirft der „Kurjer 
Boznanfli”, der in zwei Abhandlungen, die 
in den Nummern 24 und 25 zu lefjen find 
und einen Dr. Brzeg zunı Verfafler haben, 
als Südgrenze des polniſchen Staates die 
Karpathen in ihrer ganzen Ausdehnung 
fordert. 

Dieſe Grenze, ſo heißt es da, müßte an 
Rumänien ſtoßen, mit dem ſich Polen zweifel⸗ 
los verbünden und Handelsbeziehungen an⸗ 
Müpfen werde, wodurch es auch eine günftige 


22 Drefieftimmen 





Verbindung mit dem Schwarzen Meere er» 
langen lönnte. Durd die an die Karpathen 
fi anlehnende Grenze würde Polen gleich" 
zeitig eine unmittelbare Verbindung mit dem 
weftlihen Slawentum und Rußland biß zu 
dem tief nach Afien reihenden öftlihen Koloß 
berftellen, deffen ungeheure Rohltoffmengen 
auf allen Wegen nad dem Weften fließen 
würden. Nicht zu überfehen feien ferner die 
fhiffbaren Flüffe DOnjeftr und Prutb, deren 
Läufe für den Verkehr und Handel Bolens 
bon ungeheurer Bedeutung feien. Durd die 
Rarpathengrenze würden die in Oftgalizien 


befindliden Betroleumquellen und Salilager- 


in den Befiß Polen? gelangen, wobei von 
beionderem Wert da8 Kali fei, defien vor» 
züglihe Qualität eine erfolgreiche Konfurtenz 
mit dem deutfhen Kali ermöglichen würde. 

Die Oftgrenze Polen® müßte an die 
Pinſker Sümpfe ftoßen und von da in füd- 
liher Nihtung über Luninied — Sarıy — 
Dubno— Rowno bis Berdiczew, Prosklurow, 
Winica und in nördlicher Richtung in gerader 
Linie über Litauen und Weißrußland bis 
zur Polozker Linie verlaufen. Da Polen 
vorausſichtlich keine eigenen Kolonien haben 
werde, müſſe es eine ſolche Ausdehnung 
haben, daß die polniſchen Rückwanderer aus 
Amerika und Weſtfalen es hinfort nicht mehr 
nõtig hätten, „nach Sachſen“ zu gehen, ſon⸗ 
dern, ohne ſich mißhandeln zu laſſen und 
ohne den Deutſchen zu dienen, im eigenen 
Lande Erwerb finden würden, insbeſondere 
in Wolhynien und Podolien, wo die großen 
ſtaatlichen Latifundien ein vorzügliches An⸗ 
ſiedelungsgelände wären. 

Die Entſcheidung über die Grenzen 
Polens dürfe nicht der Klugheit der Politiker 
und Statiſtiker auf dem Friedenskongreß 
überlaſſen werden, ſondern die Polen müßten 
ihre Wünſche ſchon heute durch Erkämpfung 
der Grenzen, die ihnen unerläßlich erſchienen, 
unterſtützen. Nicht umſonſt leiſteten Deutſch⸗ 
land und ÄHfterreich den Ruthenen in den 
Kämpfen um das reiche Oſtgalizien, die 
ſog. „öſterreichiſche Ukraine“, Beiſtand. Auch 
die Polen müßten dieſes wichtige Moment 
verſtehen. Die Weſtgrenze ſei als für die 
Polen günſtig entſchieden zu betrachten; ihre 


ganze Wehrmacht der drei Teilgebiete müſſe 


zum entſcheidenden Kampf um die polniſche 


Oſtgrenze verwendet werden. Denn in der 
endgültigen Regelung dieſer Grenze beſtehe 
für die polniſche Sache zugleich die größte 
Gefahr und der größte Triumph. 

Die Schriftleitung des, Kurjer Poznanſti“ 
macht zu dieſen größenwahnfinnigen Aus⸗ 
führungen zwar hinſichtlich der Oſtgrenze 
einige beſcheidene Vorbehalte, läßt aber im 
übrigen keinen Zweifel daran, daß ſie in 
ihnen eine brauchbare Grundlage zu ernſten 
Erorterungen ſieht. 


4. Auslandpreſſe 


Daß nicht der geſamte Verband von 
blinder Polenfreundlichkeit erfüllt ift, zeigt 
ein Auffag im „WMandefter Guardian” vom 
18. Februar 1919. Darin heißt ed über 
den Gegenftand „Deutihe und Bolen”: 

Bie viele, fragen wir ung, werden fi 
wohl gewahr, daß, wenn die Zeitungen von 
dem deutfchen Angriff gegen die Bolen iprechen, 
der wahre Sadverhalt der ift, daß die Polen 
einen großen Teil bdeutichen Gebiet? über 
rannt haben, und daß Vorgehen der Deutfchen 
nur ein Berfud) ift, fie zurüdgudrängen oder 
fie daran gu hindern, noch weiter vorzugehen. 
Die Provinz PBofen, wo die Bolen einge 
broden find, tft feit über Hundert Jahre 
deutfch oder preußifch gewejen, und wenn fie 
audh an vielen Stellen von Polen bewohnt 
ift, welde die Deutihen vergebens zu dere 
deutfchen bemüht waren, trifft Dieß doch nicht 
überall zu, und auf jeden Kal haben die 
Polen kein Recht, den Beichlüffen der Friedens-⸗ 
tonfereng vorzugreifen und ein Gebiet zu 
überrennen, weldes einen einheitliden Teil 
des deutihen Staates bildet. 

Zweifelo® würde der größte Teil der 
Provinz Pofen an das wiedererrichtete Polen 
fommen; ben deutfhen Widerftand gegen den 


-polnifhen Überfall jedoh als einen Angriff 


der Deutſchen gegen die Polen binzuftellen, 
ift fchnöde Heuchelei. Trogdem befleißigen 
fih nahezu alle Zeitungen und Neuter in 
feinen amtliden Telegrammen dieler heuch⸗ 
lerifhen Sprade. && mag wohl unbequem 
fein, die Polen aud dem von ihnen unrecht⸗ 
mäßigerweije bejegten Gebiet wieder berauß« 
aubelommen, aber weshalb wird died nicht 
zugeftanden, anftatt vorzugeben, daß Deutfdh- 


Kleine Nachrichten 28 





land, das ſchon genügend Verbrechen auf dem 
Gewiſſen habe, ſich nun eines neuen ſchuldig 
gemacht hätte, und darüber entſetzt die Hände 
zu ringen? 

Vor ganz kurzer Zeit kam von der Friedens⸗ 
konferenz die Warnung, daß dergleichen Ver⸗ 
ſuche, Rechtsanſprüche anzuhäufen, aufhören 
müßten, da ſolche Angriffe, ftatt ber Sade 
des Klaͤgers zu dienen, nur gegen ihn zeugen 
würden. Und dennoch wurde da als eine 


der jüngften Bedingungen des Waffenſtill⸗ 
ftands beftimmt, daß den Polen alles, was 
von ihnen bejegt wurde, zuerfannt werden 
fol. Wurde ihnen auch gefagt, wie bie 
Deutihen beredtigterweife fragen, daß fie 
ihre Hand nun ebenfall® nicht mehr weiter 
audftreden dürfen, und wenn fhon eine Linie 
fefigejegt wird, diefe von beiden Seiten inne» 
gehalten werden muß? 


XNleine Nachrichten 


Danzig unb Bolen. Bon zuderläffiger 
Seite lägt Ab die „Boft" aud Warihau 


- melden, daß auf der internationalen Sozia- 


hıftenfouferenz in Vern in der polniihen 
Angelegenheit die folgende Entihließung 
gefagt wurde: „Bei der Errichtung eines 
unabhängigen Polens, da8 entjpredhend den 
vierzehn Punkten Wilſons die Zeile mit 
eıner zweifellos poluifhen Bevölferung ums 
fallen fol, muß die Grengfeftiegung im 
deutihen GOften auf Grund einer Boltd« 
abftimmung in den national» und |prad- 
gemiichten Gebieten erfolgen. Die Sprad- 
grenze Deutihlands erfordert Vermeidung 
einer Übtrennug DOfte und Weſtpreußens 
und widerftreitet der BYufprehung eines 
Zandftreifens bis zur Oftfee an die Polen. 
Die Beıhjel wird für Polen ein ficherer 
und freier Zugang zum Meere durch das 
deutihe Danzig unter Auffiht ded Böllere 
bunde3 werden.” UYudh auf der Barifer 
Konferena bat man fid) mit der frage be» 


ſchäftigt. Wie dem „Tag“ aus Baſel tele⸗ 


graphiert wird, meldet darüber das italieniſche 
Blatt „Italia“: Die polniſche Regierung 
verlangte auf der letzten Sitzung der Pariſer 
Konferenz, daß die neuen Bafenftilitands- 
bedingungen für die Deutichen die Belegung 
von Danzig enthalten folten. Die alliierten 
Vertreter haben jedoch diefes polnifhe Ans 
Anfinnen abgemiejen. 9 


(Thorner „„Breffe” v. 25. Febr.) 


General Duponts Miffion. Leber den 
Aufenthalt ded Generals Dupont in Bofen 
entnehmen wir. einer Mitteilung don maß 
gebender polnijher Seite folgende Einzel- 
beiten: 

„General Dupont wünfchte fi) zu übers 
zeugen, ob die Polen bereit wären, den 
Kampf mit den Deutihen einzuitellen und 
fich der Entſcheidung des Marſchalls Foch 
infſichtlich der Bildung einer Demarkations⸗ 
inie zu fügen. Es ſtellte ſich als not- 
wendig heraus, die an allen Kampfabſchnitten 
beſtehenden Verhälmiſſe genau zu prüfen 
und einen Uberblick über die Gebiete zu ge⸗ 


winnen, die zu räumen und die anderſeits 
zu beſetzen ſeien. Auch der Gedanke, eine 
neutrale Zone auf beiden Seiten der De- 
marfationglinie zu haffen, wurde erwogen. 
Die polnifhen Zivile und Militärbehörden 
brachten hinfichtlich der vom Marſchall Foch 
difiierten Bedingungen Bünfhe zum Aus⸗ 
dıud, die von den Sntereffen der polnischen 
Be ölferung eingegeben waren. General 
Dupont verfprad), diefe Wünfche den maß- 
gebenden Inſtanzen vorzulegen. Angefichts 
der Dilziplinlofigfeit des Deimatfchuges feien 
ale Anderungen in der Stampflinie uns 
vorteilhaft und zwar forwohl vom Stand» 
puhlfte der milutärifchen Antereffen als aud 
mit Rüdfiht auf da8 Wohl der Bevälterung. 
Außerdem jdilderte da8 Kommilflariat ded 
Bolnifhen Oberiten Volfdrates® dem General 
Dupont die beflagenewerte Xage der polni- 
fhen Bevöllerung außerhalb der Kampflinie 
in Schlefien, Welt» und Ofipreußen, wie im 
inneren Deutihland. Dad Kommiflariat 
rigtete zu Händen des Generald Dupont 
die genau begründete Bitte an die Koalition, 
fih der polnifhen Mitbrüder anzunehmen 
und ihnen politifhe Freiheit, indbefondere 


‚aber freien Derlefr mit den gefamten 


Übrigen Polen und den redtmäßigen polnis 
[hen Behörden zu gewährleiften.” 
(Boj. R. Nadır. v. 26. Febr.) 


Aus vielen GOrtichaften Weſtpreußens 
laufen Nahridten ein, daß die polnifchen 
Kriegervereine unter Leitung don Offizieren 
und linteroffizieren exerzieren und regel- 
rechte Yelddienftübungen abhalten, alfo eine 
Zätigfeit entfalten, die weıt über das Ziel 
der Bollswehren Hinausgeht. Au einem 
aufgefundenen Aufruf, der im Nanuar den 
leitenden polnifhen Stellen Weſtpreußens 
augelandt wurde, it die Aufgabe diefer 
polnischen Sriegerbereine klar erſfſichtlich, 
denn bier wird außdrüdlih zur Bildung 
einer polniichen Armee aufgefordert. Schon 


gr haben die Polen fämtlihe öffentlichen 


mter auf dem Papier bejegt. Als Ober. 
landesgericytöpräfident ift der Rechtsanwalt 
Zafzewili in Ausfiht, genommen, Boft und 


24 Kleine Nachrichten 


Bahn dem Leutnant Paſzotta übertragen. 
Wie ſicher die Polen ihrer Sache find, bes 
weiſt, daß der Oberbefehlshaber —XX 
in Warſchau bereits einen Oberbefehlshaber 
für Weſtpreußen beſtimmt hat und auch 
den Rechtsanwalt Wawrowſtki beauftragt 
hat, das Militärgerichtsweſen in Weſtpreußen 
zu organifieren. (Kreuzstg. d. 25. Febr.) 

Bolnifihe Treigebigleit mit Lebens 
mitteln. Unter Hinwei® auf die fchwere 
Notlage ihres Landed haben fi die Polen 
befanntlid) von der Entente Xeben3mittel er- 
bettelt. Mit diefen betreiben fie nunmehr eine 
recht felıfame Berwendung. Sie fuchen, wie 
und aus zuderläfliger Quelle befannt wird, 
allenthalben an der Sront die Moral unjerer 
Grenzihngtruppen gu untergraben, indem 
fie fie. mit Lebengmitteln beitehen und ihnen 
fogar den Schmuggel mit Xeben3mitteln zum 
Dwed der Propaganda unter der Bipil« 
bevölferung diesfeit3 der Demarfarionglinie 
erleichtern. Diefer unter Bernadläjjigung 
der eigenen Zandsleute betriebene Mikbraudy 
it für die umfoziale Gefinnung der Polen 
ebenfo bezeichnend, wie für die Strupel- 
Iofigfeit, mit der fie auf deuljhem, Boden 
auf Bauernfängerei ausziehen. 


Bwangsweife Enteignung der beutchen 
Anfiedler in den polnifchen Gebieten. Einer 
und augegangenen zupderlälligen Privatnach⸗ 
richt zufolge Hat die polnifhe Regierung 
einen bereit3 fertiggeftellten Weldaugsplar, 
um deutfche Anfiedler im deutlich: polnischen 
Gebiet nit nur von ihrer Scholle zu ver- 
treiben, fondern gleichzeitig aud) völlig 
mittello8 zu maden. Sie will den Stand» 
punft einnehmen, daß dem Ulnfiedler da3 Land 
von der Anjiedlungsfommiljion zu einem 
unter dem realeh Wert jtebenden Preije 
überlaffen worden jei, ferner daß die quoten« 
weije auf Jahre verteilte Umortifationerente 
bei etwaigem Uebergang ded Landes in 
polniihe Staat2oberhoheit glei) fälig wäre. 
Xer Anfiedler würde demnad die Differenz 
zwiſchen Ueberlaſſungswert und realem Wert 
ſchulden und müßte dieſe Schuld ſofort be⸗ 
gleichen. Einen Ausgleich würde die polniſche 
Regierung dem Anſiedler laſſen: Er kann 
verfaufen. Aber der Berfaufeprei3 den er 
erzielt, gehört wiederum dem Staat. Denn 
dag etwaige Plus des Verkaufspreiſes über 
den ſeinerzeitigen Ueberlaſſungswert hinaus, 
ſtellt nach polniſcher Auffaſſung einen dem 
Staat geſchuldeten Differenzbetrag dar. Tat⸗ 


ſächlich bleibt der Anſiedler alſo, wenn er 
a ohne Ar und Halm, ohne Geld 
un 


Die Anfiedlungdgeieggebung war eine 
Auswirkung nicht lediglich unferer Oftmarten« 
politit, fondern ebenfofehr der fozialen 
Nichtung, die feit zmei Dezennien Die 
preußiicdhe Agrarpolitif beeinflußte. Aehnlich 
wie das Nentengutgefeg für andere preußiiche 
Provinzen fam da8 Anfiedlungsgefeg im 
Diten dem wirfhaftlid Tüchtigen aber 
Schwaden, d. 5. Unvermögenden zugute — 
auf Koften nicht nur de3 polnifhen, jondern 
audh des deutihen Großgrundbeſitzers. Als 
deutfcher Überlieferung gemäß, entgegen dem 
tömifhen Recht, da den Grund und Boden 
nit von der beweglihen Sade untericheidet, 
wurde bier dem lleinen Dann im Grund» 
befig die „joziale Pofition”“ geichaffen. Weil 
der Erwerber unvermögend var, wurde der 
Kaufpreis zum größeren Teil geſtundet; da⸗ 
mit der Staatäfredit nicht mißbraudbt würde, 
wurde nur der wirtfhaftlih Tüdtige 3 uge 
lafjen, eine wahrhaft agrardemofratiihe 
gelung, die Landarbeit durch Landeigen⸗ 
tum lohnt. 


Unſere weltpolitiſchen Gegner ſpielen die 
Rolle von Vorkämpfern für das „Selbſt⸗ 
beſtimmungsrecht“: Der Schwache ſoll vom 
Starken nicht vergewaltigt, Necht nicht von 
Madht erdrüdt werden. Der Gedanfe ift 
fhön, do nur die Tat Kulturerrungenidaft. 
Die oitdeutihen Anfiedler find wiriſchaftlich 
ſchutzbedürftige Exiſtenzen; ſie wären es noch 
mehr im Rahmen eines polniſchen Staats⸗ 
weſens. Mit Wahl und Erwerb des Bodens, 
mit Arbeit und Rentenzahlung haben fie 
„Selbitbeitimmung“ geübt. — Wird die 
Entente diejed Recht der Selbitbeftimmung 
ihügen, das ausgeübt, damit erivorben, 
berbrieft im heimatlichen Boden für die An» 
fiedler eingetragen ift? 

⸗ %* 

* 

Wir erfahren Bierzu, daß die Kommillion 
für die Bemarlationglinie ih faum mit 
dieſer Frage beſchäftigen dürfte, da fie in 
großen Zügen nur die Srage der allgememen 
. und der fpeziellen Berwaltung?« 
zweige bedrbeiten wird. Sich des Rechts 
* deutſchen Anſiedler anzunehmen, dürfte 


alſo die Pflicht der Waffenſtillſtandskommiſſion 


und der ſpäteren Friedensdelegation ſein. 
(D. Allg. Ztg. v. 10. 3. 19) 


Drud: „Der Reihöbote”, Berlin SU 11. 


m 


- Mitteilungen 
der Dentihen Bollsräte Bojens und Weſtpreußens 


PBerantwortlid: Dr. Max Hildebert Boehm 
Nr. Schriftleitung: Bromberg, Welgienplag 11H 26. März 1919 
Sernruf Nr. 321 


Inhalt: Materialien zur oftdeutichen Frage: Zur kaſchubiſchen Frage. Eine franzöffce 
Dentichrift über die Anjprühe der Bolen — Brefleftimmen. 





Alnterialien zur ofldentfchen Trage 
Zur Pafchubifchen Srage 


Bohniig der Kafchuben. Die Stajchuben wohnen im nordweitlichen Zeile 
der Provinz Weitpreußen, den Kreijen Pusig, Neuftadt, Karthaus, der nordivelt- 
lihen Ede des Streifes Danziger Hohe, dem mweftliden Teile des Streifes DBerent, 
dem nördlichen Teile des Streijes Konig und dem nordöftlichen Teile des Kreiſes 
Schlochau, jowie ald verjprengte —— in den Kreiſen Bütow, Lauenburg und 
Stolp der Provinz Pommern. In den Kreiſen Berent und Konitz grenzen ſie 
an polniſche Stämme, und zwar im Kreiſe Berent an die ſogenannten Kociewiaken, 
im Kreiſe Konitz an die Borowiaken, ſonſt ſind ſie von Teutſchen umſchloſſen, die 
auch vielfach mit ihnen im Gemenge wohnen. 

Sprache. Die Sprache der Kaſchuben, die am reinſten in den nördlichen 
Gegenden erhalten iſt, weiſt — eine Zugehörigkeit zu den ſonſt ausgeſtorbenen 
Oſtſeewenden, deren öſtlichſten Zweig ſie bilden. Nach Süden geht die Sprache 
allmählich in den borowiatiſchen Dialekt des Polniſchen über, vom kociewiakiſchen 
bleibt ſie ſcharf geſchieden. Die links der Weichſel in Weſtpreußen geſprochene 
Dialekte waren den kaſchubiſchen früher weit ähnlicher als jetzt. Wir haben es 
alſo in dieſen Gegenden mit poloniſierten Kaſchuben zu tun. Das Kaſchubiſche, 
das Oſtſeewendiſche und das Polniſche bilden zuſammen die weſtſlawiſche Sprach— 
familie des Lechiſchen, wobei nach den neueſten Forſchungen im Gegenſatz zu der 
von polniſchen Gelehrten vielfach behaupteten Anſicht, das Kaſchubiſche ſei ledig— 
lich ein polniſcher Dialekt, die ſprachliche Selbſtandigleit des Oſtſeewendiſch— 
Kaſchubiſchen gegenüber dem Polniſchen einwandfrei feſtgeſtellt iſt. 

Geſchichte der Kaſchubei. Die Geſchichte der Kaſchubei, die zeitweiſe 
auch als Oſtpommern oder Pommerellen bezeichnet wurde und gegen— 
wärtig im weſentlichen zur preußiſchen Provinz Weſtpreußen gehört, gliedert ſich 
in folgende große Zeitabſchnitte: 
lJ. Vorgeſchichte (bis etwa 950). 

Die Pommern (Kaſchuben) wohnen zwiſchen Oſtſee, Weichſel und Netze 
und grenzen hier an die Polen. 

II. VBerſuche Polens, die Seeküſte zu gewinnen (etwa 950 bis 1310). 

Etwa um die Wende des Jahres 1000 beginnt für Oſtpommern oder die 
Kaſchubei die geſchichtliche Zeit. 997 wird zum erſten Male Danzig genannt. 


96 Materialien zur oftdeutfhen Srage 


— — — — — — — — 
ö— — — —— — — 


Damals ſtanden Oſt- und Weſtpommern unter polniſcher Oberhoheit, bildeten 
aber beine polniſchen engen jondern Hatten Are eigenen Fürftengefchlechter 
behalten, die die polnifche Lehnsoberhoheit anerlannten. Doch auch dief: 
Abhängigkeit ertrugen fie nur mwiderwillig und benugten die erite Gelegenheit, 
um fie abzufchütteln. Ten Weitpommern gelang dies ſchon im Jahre 1013, au 
Oftpommern jcheint fich damals losgeriffen zu haben. “yn der zweiten Hälfte 
des zroölften Sgahrhunderts zerfiel Citpommern in zmweı Gebiete. Das eine 
umfaßte das Land, das begrenzt wird von Weichfel, Brabe, der SKonik- 
Schlochauer Kreisgrenze, der mweitpreußifh-pommerichen Grenze und der Leba, 
das andere umfaßt die heutigen pommerfchen Streife Stolp, Echlawe, Bütomw und 
KRummelsburg und von Weftpreußen den zwiſchen Brahe, Stamionla und 
Kiiddomw liegenden Teil, früher auch noch die Kaftellanei Nafel, d. 5. den Kreis 
slatow und den nördlichen Teil der Provinz ofen bis zur Neke. Nicht zu 
Bommern gehörte die Kaſtellanei Wyscegrod, d. h. der zwifchen Weichfel und 
Brahe liegende Teil der Provinz Pofen. Der Kampf um Lftpommern wogte hin 
und her, bei jedem Niedergange der polnifchen Macht erhoben fich die Pommern 
und nos: ih die Nekegrenze [ir eher, wenn die polniihde Macht erjtartte, 
fam der Rüdichlag. Noch verwidelter wurde die Sachlage dur) das Eingreifen 
der Tanen, die im Anfange des Ddreizehnten Jahrhunderts vie Kaftellaneien 
nee und Stolp bejegten und den Danziger Fürften Meftivin den Erften zum 
Vehnseid zwangen. fen Cohn Emwantopolt befreite fi jedoch von der 
polnifhen Herrihaft und entriß den Tänen die Kaftellanei Etolp. Das 
Schlamwer Beligtum fiel ihm durch Erbichaft zu, nur der dauernde Eriverb der 
Kaftellanei Natel gelang ihm nit. Vieftwin der SZimeite, der Nachfolger 
Smantopolf3, mußte das Memwer Gebiet an den Deutjchen Orden abtreten. Er 
juhte Schuß durch Unterwerfung unter die Lehnsoberhoheit des Markgrafen von 
Brandenburg, vermadte aber fein Rei an Praemyslavd von Polen. So fiel 
ROHDE nad) feinem Tode an Polen. Tadurd) murde e8 aber in Die 
polnifhen Parteifampfe hereingezogen. Dur‘ unzufriedene Große herbei- 
gerufen, machten dann die Brandenburger Markgrafen ihr Lebnsrccht geltend 
und rüdten in das Land ein. Der Deutfche Orden bejebte al3 VBerbündeter 
Polens die Stadt Danzig, tvandte fi) dann aber gegen Polen, eroberte das ganze 
Land und erwarb von den Brandenburgern den Redhtsanipruch darauf. So 
wurde Oftpommern mit Ausnahme der Kaftellaneien Stolp und Echlame ein 
Zeil des Irdenzitaates. Die Bedeutung diefer erften Periode feiner Geichichte 
für den kaſchubiſchen Volksſtamm a darin, das ihm ein Teil feines Gebietes 
verloren ging. Die Kaftellanei Nafel, urfprünglih ein Teil Oftpommerns um® 
bon Stafcyuben bewohnt, fiel an Polen und blieb einftweilen mit ihm vereinigt. 
Die Folge tvar, daß dort die Polonijierung frühzeitig einjegte und das urjprüng: 
liche kaſchubiſche Volkstum verdrängte. 


IL DieKajfhubeiunterderHerrjhaftdes Deutfhen Ordens 
| (1310—1466). ' 


, Die ———— des Deutſchen Ordens brachte der Kaſchubei eine veiche 
Blüte, Recht und Geſetz kamen wieder zur Geltung, der wirtſchaftliche Zuſtand 
deſſerte ſich, eine nationale Bedrängung fand nicht ſtatt. Allerdings führte der 
Orden zahlreiche Koloniſten ins Land, das war jedoch nichts Neues, denn ſchon 
unter den un Surften hatten die von ihrer Gründung an deut 2 
Klöfter Dliva und PBogutfen-Belplin das Recht befommen, ihre großen 
Bejigungen mit Deutichen zu befiedeln, dasfelbe Recht war auch) anderen Grund- 
bejigern verliehen und die Städte Tanzig und Dirfchau. waren al3 deutjche 
Städte gegründet. Dem kafchubifchen Wolkstum drohte eine viel größere Gefahr 
al3 von den Teutijhen von feiten der Polen. Die Iekten Jahre der Orden?- 
herrjchaft, in denen die Macht des Drdens niederging, waren durch Striege mit 
Polen und an angefüllt, die das Land in eine Wüjte verwandelten. Am 
‚stieden von Thorn 1466 fiel das Land an Polen. 


Materialien zur oftdeutfchen raue 97 














IV. Die Kafhubei unter polnifdher derrfgaft (1466—1772). 


Den früheren Wohlitand Hat die Kafchubei unter polnischer Herrichaft nicht 
wieder erlangt, vielmehr verarmte die Bevölferung mehr und mehr und kam 
in drüdende Abhängigkeit von dem Grundherrn. Die Erinnerung daran hat 
jich biS heute noch im bafchubifchen Volke erhalten. Schon feit der Herrichaft des 
Ordens, der neben Deutschen auch Polen anjiedelte, drang das Polnifche 
folonifatorifh vor und verdrängte da8 SKafchubiiche. Die Ergebnifje diefer 
‘Polonifierung urjprünglich nicht polntjcher enden war die Entitehung der 
polnifchen Dialekte des Boromwialifchen und Kociewwialiichen. 


V. Die Kafhubei unter preußifher Herrfhaft (1772 big zur 
Gegenwart). 


1772 Tam Oftpommern oder PBommerellen ebenfo wie der Nepedijtrilt 
unter preußifche Herrfchaft.. ES war damals ein bis — äußerſt herunter 
gekommenes Land, die Bewohner lebten in drückender Abhängigkeit von den 
Grundherren, Schulbildung fehlte faſt ganz, ein finſterer Aberglaube beherrſchte 
die Seelen. Die preußiſche Herrſchaft hob die Landeskultur, baute das Verkehrs— 
netz aus, ſchaffte die Erbuntertänigkeit ab und machte aus recht- und DI ofen 
Yeibeigenen freie Befiter ihres Landes. ES wurden Schulen eingerichtet und Die 
7— eingeführt. Von den Kaſchuben wurde dies auch anerkannt und man 
hätte ſie zu treuen Anhängern des preußiſchen Staates machen können, wenn die 
preußiſche Regierung nicht ſchwere Behandlungsfehler begangen hätte. Man hat 
es nie verſtanden, die Kaſchuben dem polniſchen Einfluß zu entziehen, ſondern 
sl jelber diefen Einfluß, indem man alle Diaßnahnıen, die gegen Die 
‘Bolen notwendig wurden, auch geaen die Kafcyuben richtete und dadurch beide 
völlig getrennten BVolksjtamme zujammenfchweißte. Den Vorteil davon Hatte 
das Polentum, da3 zunehmend das Kafchubentum auffog. Dabei hat es Teines- 
‚vegs an Reaktionen von feiten des legteren gefehlt, aber diefe wurden bon der 
Regierung entweder nicht beachtet oder fogar befampft. 


Neuerliche Kortichritte der Polonifierung der SKafchuben. Unter 
dieſen Umſtänden Hat die Bolonifierung der Stafhuben mit dem Ende 
der polnijhen Herrfihaft nicht aufgehört, fondern ſogar Fortſchritte 
gemadıt, indem fie aus einer unbewußten zu einer bemwußten und +plan- 
mäßigen twurde. Dabei bedient fi) dDa3 Polentum der Mittel, die ihm der 
Staat jelber lieferte. Bor allem ijt e8 die Stirche, die der Polonilierung dient, 
dann die Zeitung und das Berfammlungs- und Bereinsmweien, meijt unter 
durchaus harmlofem Tedmantel. Tabei geht die GBR den an zwei Wegen 
»or: einmal flößt fie dem Stafchuben die polnische Belinnung ein, wobei er 
außerlich in Sprade und Sitte Kafcyube bleibt, innerlich aber zum Polen wird. 
Oder jie gewinnt den Kafchuben zur Annahme der polnischen Sprache, indem 
jie in ihm das Gefühl erwedt, daß der Htafcyube dem Polen gegenüber eine unter- 
geordnete Stellung einnimmt. Dies bedeutet die vollftändige Bolonijterung. 
‚hr unterliegt vor allem der Scebildete, da es eine fafhubifhe Schriftiprache 
nicht gibt. Tanchen fchreitet aud) die unbewußte Bolonifierung der Sprache vor. 
Die kafchubischen Tialefte im Grenzgebiet des Kreijes Konit nähern ji) immer 
mehr dem Polnischen an. Die deutfchen Koloniften der Ordenszeit haben ihr 
Deutſchtum nur da erhalten, wo jie in geichlofjenen Diaffen angefiedelt wurden, 
font find fie im Stafcyubentum oder im PBolentum aufgegangen oder wurden 
wieder verdrängt. Auch einige urjprünglich deutiche Ktlofter wie Oliva und 
Belplin waren allmählid) polnifch geworden und hatten die Polonilierung ihrer 
Hinterfaffen befördert. Die deutiche Anjiedlungstätigkeit der lesten fahrzehnte 
— Ian fo in den Anfängen, daß fi ihre Wirkung nicht abjchliegend über- 

n läßt. | 


— 


28 


Materialien zur ofideutſchen Frage 


Eine franzöſiſche Denkſchrift über die Anſprüche 
der Polen 


Die, Deutſche Allgemeine Zeitung“ Nr. 126 
vom 15. März veröffentlicht einen Bericht, den 
Herr Erneſt Denis, Referent für Polen in 
der dem Dinifterium der auswärtigen Ans 
gelegenheiten in Barid zugeteilten polnijchen 
Kommilfion, feiner vorgejegten Behörde er» 
ftattet Hat. Ter Bericht lautet in Überfegung 
folgendermaßen: ’ 


Dinifterium deraußmärtigen Angelegenbeiten. 
23. Dezember 1918. 

Die etbnographiichen Berbältniffe ald maf- 

gebende Grundlage für die Nüderftattung 

der deutich-polnifhen Gebiete an Polen, 


Unter all den territorialen Problemen, 
die diefer „Krieg für die reiheit” aufs 
geworfen hat, ift da8 Problem „Bolen’' eines 
der brennend widhtigften geworden. Sowohl 
ideologiihe Gefihtspunfte, wie die traditio- 
nelle Freundſchaft mit Franfreich, ferner die 
Nolle, die Polen bei der Vernichtung der 
beiden Zentren der Gewalt und der Unter- 
drüdung, der ruffiihen und deutfchen Kaifer- 
reihe, jpielte, die geographifhe Lage, die 
Bolen zum Bollwert gegen die Barbaren 
Afien? madt, alle diefe Scfihtapunfte vers 
langen von und gebicteriih die Wahrung 
der polnischen Sntereflen. 

Kein anderes Land, da3 diefem großen 
Sreuzzuge feine Entftehung verdankt, den 
die freien Völker für das Wohl der Schiweiters 
nationen und der ganzen bisher durch will« 
fürlide Gewalt bedrüdten Menjhheit geführt 
haben, gibt ein flarere8 und genaueres Bild 
ftraffer Gefchloffenheit aller national-polnifchen 
Elemente in den bisher an Polen noch nicht 
zurüderitatteten Gebieten, Aa3 nah den Be 
ſtimmungen des Waffenſtillſtands vertrages 
alle polniſchen Gebiete einheitlich umfaſſen 
ſoll, als gerade die Provinz Poſen. 

Dieſe Gebietsteile bilden einen Teil 
Preußiſch⸗Polens, und die Berechtigung ihrer 
„Dezannerion“ wird größtenteild von Deutjche 
land beitritten. Hier find indes HYahlen, die 
und genau erfennen lafjen, tvie weit man da8 
Nationalitätsprinzip — das einzige Kriterium 
bei GStreitigfeiten zwilhen Böltern — auf 


- 


den Teil der groß-polnifhen Nation zur An- 
wendung bringen Tann, der fi entgegen 
‚jedem Redht und jeder Geredtigfeit nody 
immer unter der Sllaverei feines jegt dabin- 
fiedenden Hundertjährigen Bedrüders, des 
verhaßten Preußens, befindet. 

Die polnifhen Gebiete, die Preußen zum 
Zeil noch zu behalten verfucht, find faft voll» 
ftändig und in der Mehrzahl der Kreije bor- 
berrfhend polniih. Nur die Grenzgebiete 
dbe8 alten NRuffifh- Polen Haben au3 rein 
militärifhen Gründen eine verhältnismäßig 
ftarfe deutfhe SKolonifation erfahren. Im 
Snnern biefer im übrigen rein polnifchen 
Gebiete gibt e8 zwar auch einige deutidhe 
Zentren, bie und da einige eingefireute 
Enflaven und vereinzelte deutihe Gruppen, 
die jedoch bei genauer Anwendung des Natio- 
nalitäten-Prinzipg ohne jede Bedeutung find. 

Preußiih- Polen zerfällt in folgende vier 
Zeile: 

1. ®ofen, 1815 aus den beiden Begirfen 
des Großherzogtum Barihau-PBofen und 
Bromberg gebildet. 


‚2. Weftpreußen mit den beiden Regie 
rungdbezirfen Danzig und Marienwerder. 


8. Oftpreußen mit dem Regierungsbezirk 
Allenitein, einem Teil ded Negierungäbezirts 
Gumbinnen und dem Sreife Dlegfo. 

4. Sdjlefien, Negierungsbezirt Oppeln 
(in Oberfchlefien) und dem Negierungsbegzirf 
Breslau mit den Kreifen Groß-Wartenberg 
und Namzlau. 

1. Das Großherzogtum Bofen 
umfaßt 27 Reife; von diefen haben 18 eine 
polniiche Bevöllerung in Höhe Hon 75 Prozent, 
während in den übrigen 6 Streifen die pol« 
niihe Bevölferung mehr ald 50 Prozent deu 
Gefamtbevölferung augmaht und in dem 
3 legten Kreifen weniger al® 50 Brozemt 
beträgt. 

as Großherzogtum Bofen fann demnag 
mit vollem Nedt ald ein überwiegend pol 
nifche8 Gebiet angefehen und in feiner Ge 
famtheit Großpolen zugeteilt werden. 


Materialien zur oftdeutfchen Frage 39 


| Da8 Verhältnis der Bevölkerung Poſens 
muerhalb der einzelnen Kreife ift folgendes: 


Brozent 
L Koſten Koscian 89,0 
Schroda Sroda 87.4 
Adolnau Odolanow 87,1 
Goſtyn Goſtyn 86,4 
Schildberg Oſtrszeszow 85,8 
Kempen Kempno 84,1 
Gräg Srodnif 83,5 
Pleſchen Pleszew 83,2 
Poſen Poznan (Och 82,8 
AODr) 71,2 
Kozmin 82,7 
Schrimm Sren 82,6 
Jarotſchin Jarſchin 82,1 
Schmiegel Smiogel 81,8 
Wreſchen Wrzes nia 80,6 
Oſtrowo Oſtrowo 77,8 
Samter Szamotonly 74,4 
Krotoſchin Krotoszyn 62,2 
H. Obomit Oborniki 69,7 
Poſen Poznan (centre) 57,9 
Rawitſch Rawisz 64,2 
Neutomifhel Novo Tomysl 54,2 
Birnbaum Miedrychod 51,2 
Bomft Arbymoft 50,9 
II. Liffa Leszno 88,8 
Frauſtadt Wſohs wa 81,9 
Schwerin Skwierzymo 8,6 


Rur die drei legten Kreife — fhmale be 
deutungslpfe Gebietäftreifen — Tönnen von 
den Deutihen beanfprudht werden, jedod 
nur unter der Bedingung einer weitgehenden 
Iofalen Autonomie für die polnifche Bes 
bölferung. Der Neit muß insgefamt Groß« 
polen angehören, und alle polnifhen Güter, 
die auf Grund des Gefeges vom 19 April1909 
enteignet worden find, müffen ihren früheren 
Befigern unverändert zurüdgegeben werden. 


2. Weſtpreußen 
(auh Königlih Preußen genannt) umfaßt 
zwölf Kreife, in denen die polnifhe Bes 
völferung unbeitreitbar überwiegt (mehr ala 
fünfzig Prozent) und zehn Kreife, in denen 
‘Re weniger al® fünfzig Prozent, zuweilen 
fogar nur einen unbedeutenden Teil der 
Gejamtbevölferung außmadt. E3 muß zu- 
gegeben werden, daß gerade in Weftpreußen 
Sie Seftlegung der polnifch » preußifchen 


4: 


Grenze, wenn man fi an ba8 eihnograppifche 
Prinzip halten will, großen Schwierigkeiten 
begegnet. 

Die Kreife, die an das Meer grenzen, 
haben in der Mehrzahl nur eine polnifche 
Minderheit; diefe Schwierigfeiten müffen 
indeffen unter allen Umftänden auf eine 
Weiſe gelöft werden, die ben Anfprüden 
der Polen auf einen freien Zutritt zur 
Veichjelmündung, auf den Hafen von Danzig 
und den ganzen Küftenftrich, die fogenannte 
Kafjubei, günftig ift, einihließlich des 
Kreijed Bugig, mıt einer polnifchen Majorität 
bon 69,1 Prozent, aber aub einfchlieglid 
der angrenzenden reife Karthaus und 
Neuftadt, wiewohl der Iegtere in Wirklich 
feit nur 48 Prozent polniihe Bevölferung 
aufweiſt. 

Die geographiſche Lage dieſer Kreiſe iſt 
überall die, daß jede andere Löſung als die 
einer einfachen und glatten Rückgabe den 
Intereſſen Polens und ſeiner wirtſchaftlichen 
Entwicklung nachteilig ſein würde, mit der 
wir im Hinblick auf den ſtarken Abſatz der 
franzöjiihen Snduftrie auf den Märtten bes 
Dftens rechnen müffen. 

Sn der Annahme, daß die ritterliche 
polnifhe Nation augenblidlih ein Element 
der Ordnung ziwilchen dem bolfhewiftifchen 
Rußland und dem dedorganifierten und zer 
fallenden Deutihland bildet, Iann die Rote 
wendigfeit, die gefegliche Ordnung in de 
Kreifen mit gemilchter Bevölkerung aufredht- 
zuerhalten, mit Zug und Net den Grund 
zu einer polnifhen Befagung geben, die dort 
mehr oder Weniger lang vorübergehend 


bauern wird. Diefe zeitweilige Befegung 


wird in dem erften und bedeutung&vollften 
Beitpuntt des wirtihaftlihen Aufihiwungs 
Sroßpolens diefem einen freien Zutritt zum 
Meer und zur Küfte fihern und die Mög- 
lichfeit bieten, günftige Bedingungen für eine 
endgültige inverleibung diefer gemifcht- 
Ipradliden Kreife in ihr Mutterland zu 
ſchaffen. Folgendes iſt das Verhältnis der 
polniſchen Beyölkerung zur Gefamibe- 
völkerung in den Kreiſen Weſtpreußens: 


Prozent 
I. Löbau Lubawa 79,7 
Stargard Stargard 78,7 
Karthaus Kartonzy 721 


30 Materialien zur oſtdentſchen Frage 


Prozent 
Putzig Pusk 69,7 
Tuchel Tuchola 66,7 
Strasburg Brodica 66,0 
Berent Koscierzyna 57,7 
Konitz Choinice 55,8 
Kulm Ehelmno 63,8 
Thorn Torn 68,0 
Schwetz Swicie 52,9 
Briejen Walbuzno 61,5 
Il. Neuftadt Beljerom 48,7 
Danzig Sdangt ville 6,0 
Flatau Zlotow 26,6 
Schlochau Czluchow 15,2 
Marienburg Malborg 8,0 
Dt. Krone Maliy 1,6 
Elbing Elblong ville 0,4 
„village 1,0 
Danzig Gdanst (districts 


ruraux) 0,9 bi® 3,0 

An der zweiten Sategorie der Streife 
mit polnifher Minderheit fann man dies 
jenigen nambaft maden, die an Preußen 
zurüdgegeben werden können, ohne die 
Antereffen Groß-Polens dadurd) zu Ihädigen 
(natürlih mit Ausnahme der Stadt und der 
Gegendin Danzig), die Kreife Di.Srone, Elbing 
und Marienburg Iönnen an Preußen zurüd- 
gegeben werden. Der deutihe Anteil an 
den SKreifen von Flatau und Schlodan Tann 
und muß genau begrenzt werden. 


Diefe Art von Kompenfation an Preußen 
wird durch ihre Billigfeit einen guten Eins 
drud maden; um aber alle Nellamationen 
und jeded Sandeln feiten® der Preußen zu 
vermeiden, dürften Ddiefe Kompenfationen 
nur nad einer ftarfen militäriijhen Bejegung 
aller oben benannten Gebiete erfolgen. 

3. Oftpreußen, 
aud Herzrglid Preußen genannt, bietet im 
Gegenjag zu Weftpreußen ein Tlare® und 
genaues Bild. Hier ift das ganze Gebiet, 
an ber Nordgrenze de alten Königreichs 
Polen (Ruffiih-Bolen) von einer ftarlen 
polnifhen Mehrheit bevölkert. 


Brozent 

I. Ortelsburg Sgcytno 69,0 
Johannisburg Yanborst 66,8 
Neidenburg Niborsk 62,4 


Allenſtein Olsztyn rurale 60,6 


Prozent 
II. Lyck Elt 49,1 
Sensburg Jadaborg 46,9 
Dfterode Dftroda (Dites 
tode) 40,1 
Lyk Leo (Xyd) 83,1 
Löten Olecko 31,9 


Dieſe Gebiete müſſen insgeſamt dem 
polniſchen Staate einverleibt werden, unter 
Zubilligung einer lokalen Autonomie für die 
preußiſche Bevölkerung. 

III. Allenſtein: 11,1 Prozent. 

Dieſer Kreis hat zwar nur eine polniſche 
Minderheit, er iſt aber von rein polniſchen 
Gebieten eingeſchloſſen und kann daher unter 
keinen Umſtänden ausgeſchloſſen werden. 

4. Schleſien. 

In der ſchleſiſchen Frage handelt es ſich 
hauptſächlich darum, die Rechte Polens auf 
Oberſchlefien feſtzuſtellen, wo vom ethno⸗ 
graphiſchen Geſichtspunkt aus die Rechte der 


polniſchen Bevölkerung unbeſtreitbar ſind. 


Die polniſche Bevölkerung verteilt ſich 
/ folgendermaßen: 

J— Prozent 
Pleß Pſcyzna 87,6 
Lublinice 85,0 
Nofenberg Olesno 88,6 
Gr. Strelitz Weltie Sirzelce 81,6 
Rybnit 80,6 

Toſt⸗Gleiwitz Toſtcek Glivice 
(district) 79,5 


GSleiwig-Stadt Tofcet Glivice (ville) 25,9 


Dppeln-Land GOpolc (district) 78,2 
„ (ville) 19,9 

Kofel Korzle 78,1 
Tarnowitz Tarnovsky Sory 73,0 
Beuthen Bytom (district) 68,8 
„ (ville) 88,3 

Kattowitz Katovice (ville) 14,2 
„ (district) 63,8 
Hindenburg Zabrze 69,8 
Kreuzburg Kluczbort 53,0 
Königshütte Krolevska Huta 45,5 


Die oben genannten adhtzehn Kreife und 
die beiden reife de3 Megierungebezirls 
(Breslau) Namslau und Groß Wartenberg 
müffen unbedingt Großpolen angehören; die 
Städte, die in ihnen liegen, enthalten in 


Wirklichkeit nur eine Ppolnifhe Minderbeit 





Materialien zur oftdeutfhen Srage 3] 








bei einer Bevölterung, die ſich aus germani⸗ 
Nerten Bolen zufammenfegt. Diefe Städte 
müflen aber daB Lo der Nachbargebiete 
teilen und auch Wieder polnifh werden. 
An Wahrheit ift die ganze Vevölferung 
der drei Schlefien polnifhen Stamme®d, aber 
die Germanifierung in Rieder und Mittel» 
ſchleſien iſt ſo durchgreifend, daß es ſehr 
ſchwierig ſein würde, die ſtreng-⸗ethao⸗ 
graphiſchen Geſichtspunkte für die Rückgabe 
an Polen geltend zu machen. 
%* 


5 
- Dazu fchreibt die „Deutihe Allgemeine 
Zeitung“: 

Oberflähliher, ala e8 in diefer Dent- 
fchrift geichieht, fann man mit den Tatfadhen 
faum umfpringen. Sie behauptet, Die Provinz 
Bofen gäbe ein befonders Tlares Bild eines 
geichloffenen polnifhen Gebiete. ine be- 
wußt falfche Behauptung. Wie ein gefchlofjenes 
Epracdhgebiet außfieht, geht etwa aus einer 
Spradentarte Böhmen? hervor, wo faft alle 
Gerichtäbezirfe de3 Nordrandes mehr als 
95 Prozent Deutfhe haben. Würde man 
den gleihen Maßitab an Polen anlegen 
(h. 5. aud nur Bezirke von 95 Prozent ald 
rein polnifch betrachten und dabei ohne Nüd» 
ſicht auf die Kreiegrenzen ſprachliche Bezirke 
bilden), ſo wird ſich ergeben, daß es ein 
derartiges geſchloſſenes polniſches Sprach⸗ 
gebiet in Poſen, wie es das deuitſche in 
Böhmen ift, nicht gibt; es find nur im Süd- 
weften von Bofen auf Oftromwo zu vereinzelte 
polnifche Anfeln mit über 95 Prozent Polen 
vorhanden. Sie haben untereinander zum 
Teil feinen Zufammenhang. €&3 ift ein Anfel« 
gewirr, da® auf der Starte alles andere als 
den Eindrud der Gefchlolfenheit mad. 

Nichtig ift, daß dad Deutfchtum im 
Negierung3bezirt Pojen, von dem die Dent- 
fhrift nur fpridt, in der Minderheit ift. 
Eine Minderheit allerding3, die über 400 000 
Köpfe umfaßt. Aber diefe Minderheit ift dem 
Polentum kulturell überlegen; ihr gehört 
54,06 Prozent des Grund und Boden? (auf 
Grund des Geleged von 1909 find nur 
1200 Heftar enteignet) und an Einfommen» 
fteuer zahlt fie 11,09 Marl, die Polen aber 
nur 8,02 Mark auf den Kopf der Bevölkerung. 
Kann man bei einer folden Minderheit, wie 
es die franzöfifche Denkichrift tut, von „einigen 


einzelnen deutihen Enflaven und vereinzelten 
bedeutungslofen deutfhen Gruppen“ fprechen? 

Und mwa8 foll man dazu fagen, wenn die 
Dentichrift Kreife wie Bomft, Birnbaum, 
Reutomifhel und Rawitfh den Polen zu- 
fpridt, nur weil die .polnifhe Bevölterung 
bier wenig über 50 Prozent augmadt? Sn 
Birnbaum 3. ®. find 81 Prozent des Grund 
und Bodend deutih, in Reutomifhel und 
Bomft je 64,05 Prozent; bon dem Eintommen- 
fteuerauffommen zahlen die Bolen in Bomft 
nur 86,77 Prozent, in Reutomifchel 28,83 
Prozent und in Birnbaum gar nur 15,06 
Prozentl Kann man folde Kreife unbeftreit- 
bar polnifc nennen, nur weil in den legten 
Sahren — Reutomifchel, Bomft und Birnbaum 
hatten noch 1890 eine deulfhe Majorität — 
eine fleine Berfchiebung zugunften des Bolen- 
tum8 eingetreten ift? 

Die Abtretung Beftpreußen® mit eihno« 
grapbilhen Gründen zu rechtfertigen, wagt 
der Verfaffer gar nidt. Er fpridht ganz 
offen aus, daß abgefehen vom Sreife Pugig 
(au dort find die Anwohner der Küfte 
übrigens kaſchubifierte Deutfche) Fein Kreis, 
der an die See ftößt, eine polnifhe Mehr- 
beit hat, daß aber die wirtfhaftlihen Inter⸗ 
effen Frantreich® (sic!) die Abgabe der Küften- 
reife an Bolen. erforderlih made. Die 
wirtſchaftlichen Intereſſen, welche die Denk⸗ 
ſchrift für die Entſcheidung der Zukunft 
Poſens gänzlich ignoriert, ſind alſo hier mit 
einem Male ausſchlaggebend und die ethno⸗ 
graphiſchen Verhältnifſe, die für Poſen allein 
entſcheidend ſein ſollen, gelten hier gar nichts! 
Wahrlich eine gerechte Art und Weiſe, die 
Löſung des Problems nach Wunſch zu ge- 
ſtalten. Zu dieſem Plan paßt es auch vor⸗ 
züglich, daß man Weſtpreußen durch die 
Polen beſetzen will, um unterdeſſen, günſtigere 
Bedingungen für eine endgültige Einver- 
leibung dieſer gemiſchtſprachlichen Kreije in 
ihr Mutterland zu ſchaffen“, d. h. das Land 
in der Zwilchengzeit fräftig mit brutaler Ge- 
walt zu polonifleren. 

Danach überraſcht es auch nicht, wenn 
die Denkſchrift die wirtſchaftlichen Verhältniſſe 
Oberſchleſiene, den rein deutſchen Urſprung 
und den deutſchen Charakter der dortigen 
Induſtrie, mit Stillſchweigen übergeht. Aber 
aud die Zahlen, die die Denklicrift für 


32 Drefleftimmen 





Oppeln — und ebenfo für Alenftein — 
.anführt, beweifen niit. Der Bezirk Allen- 
ftein bat übergaupt niemal® zu Rolen ger 
hört. Urfprünglid polnifde Namen find 
dort nicht vorhanden. Ausdrüde wie Oleztyn 
und Yanborff find, wie auf der Hand liegt, 
Yediglich Übderfegungen von Allenftein und 
Kobannisburg. Die Ktreife Groß-Wartenberg 
und Ramslau, die die Denklihrift no aus 
dem Bezirk Breslau in daB polnifche Gebiet 
einbezieht, haben nur 83 Prozent bezw. 
20 Prozent Bolen, find alfo weit von einer 


dolnifhen Majorität entfernt. Im übrigen 
ift die dortige polnifhe Bevölferung, die 


ebenfowenig wie die Mafuren bodpolnifch, 
fondern den fogenannten waflerpolnifchen 
Dialekt ſpricht, ſeit 72/, Zahrhunderten von 
Polen getrennt; alle Traditionen dorthin 
ſind abgeriſſen. Erſt in den letzten dreißig 
Jahren iſt von Poſen her eine national⸗ 
polniſche Agitation nach Oberſchleſien hinein⸗ 


getragen; fie iſt, da ſie zugleich die Klaſſen- 
gegenſätze rückſichtslos ausgenutzt hat, nicht 
ganz erfolglos geblieben, hat aber die Maſſe 
der oberſchleſiſchen Waſſerpolen nicht ergriffen. 
1912 haben die Polen nur 98000 Stimmen 
erhalten (von 808 000 abgegebenen Stimmen) 
und bei den Wahlen zur konſtituierenden 
Nationalverſammlung find, obwohl die Polen 
Stimmenthaltung proklamiert hatten, trog 
allem bolſchewiſtiſchen Terror 674000 Wahl⸗ 
berechtigte (60 Prozent) zur Urne gegangen, 
von denen hochſtens 480000 deutſche Wahl⸗ 
berechtigte waren. Die Mehrheit der ober⸗ 
ſchleſiſchen Bevölkerung iſt demnach nicht 
polniſch geſinnt. 

Auf die Gefinnung der Bevölkerung fommt 
es do aber an, wenn da Gelbitbeflim«- 
mungsrecht der Böller in die Wirklichkeit 
umgefegt werden fol, und e& ift beadtens- 
wert, daß die frangöflfhe Denkichrift daven 
überhaupt nicht [prict. - 


Preſſeſtimmen 


Auf die Frage einer Volksabſtimmung im 
Oſten geht ein Artikel von Prof. Dr. Herr⸗ 
mann im „Gerliner Tageblatt“ Nr. 111 vom 
15. März wie folgt ein: 

Endlich muß auch mit der Möglichkeit 
von Volkeabſtimmungen in gewiſſen Gebieten 
gerechnet werden. Hierfür gilt es nicht nur, 
alle tedhniftzen und Itimmunngsmäßigen Vore 
bereitungen zu dreifen, jondern bor allem 
aud) dıe Formen der Mdftimmung in einer 
der Billigfeit entfprehenden Werje mit unferen 
Gegnern zu vereinbaren. Aus der Brovinz 
Rojen 3 B Iind Zehntaufende von Deutiden, 
namentlid) infolge der kriegeriſchen Ereigniſſe, 
geflüchtet, umgefehrt find vielleicht ebenjopiele 
Bolen Ddurd) eine jvitematiich eingeleitete 
Rückwanderung in Die ‘Provinz gefommten. 
Diraus ergibt fih die Notwendigfeit, einen 
beftimmten, vor der polniihen Erhebung 
liegenden Termin als Etidytag für eine et« 
maige Abjtimmung in der Provinz Polen 
feitzulegen. Der 5. Dftober, als der Tag, 
an dem mir ung auf den Boden der Wilfons 
Note vom 8. Nanuar 1918 ftellten, dürfte 
dafur angeinejjen fein. Auch der flüchtigſte 
Blick auf die ethnographiſchen Verhältniſſe 
der Provinz zeigt ferner, wie bedeutſam es 
iſt, ob in Poſen durch die ganze Provinz, 
bzw. nach Regierungebezirken oder Kreiſen 
abgıftimmt wrd. Sin der aefanıten Provinz 
it eine fo untrennbare Gemengelage don 


Drud: 


Bolen und Deutfhen feitzuftellen, dab €’ 
Wilſonſche Brundfag von „unbeftreitbar dol- 


“ nifchen‘ Gebieten in feinem Teile der Pro«- 


binz rein zur Anwendung fommen kann. 
Der Regierungsbezirt Bromherg zählte im 


Dahre 1910 50 Proz., der Regierungsbezirk 


Bolen 38,2 Proz Deutfhe. Am Bronberger 
Bezirf gibr ed Streife mit über 70, ja 80 Broz. 


 Deutihen und nur 4 Streite unter 30 Broz. 


Deutjoen, während int Negterungsbezirf 
Bolen der deutihe Anteil ın den einzelnen 
Kreiien zriihen 10,9 und 92 Proz. Ihwankt. 
Sn den füntlihen Städten der Provinz Zur 
jammen wohnen medr Deutfihe als Polen, 
felbit dann, wenn man Miltär und Beamte 
in Abzug brinat, und die Zahl der Deurfhen 
in allen über 50 Bro3. Bolen zählenden Streifen 
ift größer alg die Zahl der Polen in den 
über 50 Proz. Deutiche “ zählenden Kreifen. 

Shon aus den wınigen bier gegebenen 
Anrequnaen erwachfen der NRerierung Hoch» 
bedextiame und fchwierige Aufgaben. Sie 
wird hoftentlih felbit den Yun haben, fie 
nicht lediglich bureaufratiic), jondern unter 
ftarfer Beieiligung derer, um deren Wohl 
und Wehe c$ datei geht, zu lölen. Die in 


den legten Monaten überall geichaffenen 


Bolf3rüte bieten der Regierung neben den 
für Die Nationalverfammlung gewählten Ber- 
tretern geeignete Mitarbeiter in yülle dar. 


„Ser Reiyabote*, Berlin SW 11. 








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