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Die Kinderiehler.
Zeitschrift für Kinderforschung
mit besonderer Berücksichtigung
der pädagogischen Pathologie.
Im Verein mit
Medizinalrat Dr. J. L. A. Koch und Prof. Dr. theol. et phil. Zimmer
herausgegeben
von
Institutsdirektor J. Trüper und Rektor Chr. Ufer.
Achter Jahrgang.
Langensalza
Hermann Beyer & Söhne
(Beyer & Mann)
Herzogl. Sichs. Hofbuchhändler
1903
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Alle Rechte vorbehalten.
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Inhalt.
A. Abhandlungen:
Koca, Dr. J. L. A., Die erbliche Belastung bei den Psychopathien
Gızyck1, Dr. von, Wie urteilen Schulkinder über Funddiebstahll? . . . . .
Könıs, A., Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei Kindern . . 49.
ScHozz, Dr. L., Abnorme Kindesnaturen . x 2 2 2 2 220200... GL
Ds Kari Über Schülerbefähigung
Lossin, Marx, Einige NN über das Gedächtnis bei Sehwachle-
fähigten Sur ’ >. Ioi
BARBER, Karl, Ein Beitiär zu dem Kapitel ropade Mindeiwerbe-
keiten
HirscHrELD, Dr. Maxus, Das irase Kind
B. Mitteilungen:
Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. Von Aporr Rupe 26. 74. 123.
Unsere jugendlichen Verbrecher. Von J. TrÜPER E S
Unsere diesjährigen Neulinge in sprachlicher Hinsicht, Von Max Meuserr
Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. Von J.
Chr. HaGEN. . . 40. 81.
An die Mitglieder und Freiane des Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands
Tagesordnung für den 4. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands
Zur Sprachentwicklung. Von Dr. WoLFERT u
Neue Methode. Von O. DANGER
Falsches Zeugnis . Be ren ee ae 6
Über die Verwertung der Gchörreske bei abstimmen: Von Rup. BROHMER
Ethische Anschauungen japanischer Mädchen. Von Anxa Bock
Verein für Kinderforschung .
Zur Nachricht.
IV. Verbandstag der Filfsschulen Deutschlands Fe e A 0.168.
Die Versammlung des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik.
Probleme der Kindersprache. Von Dr. Paur Maus. . . . Be >21.
Erziehungs- und Fürsorge-Verein für geistig-zurückgebliebene fsehwachkinnise)
Kinder zu Berlin i
IV. Schweizerische Konferenz für das onen
Ein taubstummer Gelehrter . u
Die ästhetischen Elementargefühle. von ie RMANN Gu Waa. ; a
Innenleben der Stotterer und seine Berücksichtigung bci der Behandlung. Von
Orto LEGEL
IV Inh alt.
Auswahl von Schülern für die Hilfsschulen. Von MICHAEL
Medizin und Pädagogik. Von J. TRÜPER
. . . . . . . . « .
C. Literatur:
O. Godtfring, für den Artikulations-, Stimmbildungs- und Sprechunter-
richt. Von SIEMEN . . eu A
H. Stelling, Die Erziehung der söhwnchberabten und En Taub-
stummen und die Teilung nach Fähigkeiten überhaupt. Von Fr. FRENZEL
Prof. Dr. G. Stanley Hall, Ausgewählte zur Kinderpsychologie und
Pädagogik. Von UFER Be
Dr. med. Doll, Ärztliche Unkörsichungen aus der Hiltsschule für ON
sinnige Kinder zu Karlsruhe. Von H. SEIFART .
Heinrich Schreiber, 1. Beiträge zur Theorie und Praxis des ian ilena
tarunterrichts. 2. Die Tyrannei der Zahl. Von L. B.
Prof. Dr. Krieg, Lehrbuch der Pädagogik. Von HERMANN GRÜNEWALD
L. Veeb, Die Pädagogik des Pessimismus. Von HERMANN GRÜNEWALD
Größ, Über Alkoholismus im Kindesalter. Von Dr. med. SPANIER
Silberstein, Ein Fall von Suggestionsneurose. Von Dr. med. SPANIER
Helene Keller, The Story of my Life. Von O. Daxter N a a
Richard Fuhrmann, Herunter die Maske. Von HERMANN GRÜNEWALD.
M. Braunschweig, Das dritte Geschlecht. Von HERMANN GRÜNEWALD.
K. Ziegler, »Unsere schwachen Kinder«e. Von Trürer.
Dr. med. Eichholz und Sonnenberger, Kalender für Frauen- mii Kia: Aie
Prof. Dr. Sikorsky, Die Seele des Kindes nebst kurzem Grundriß der weiteren
psychischen Evolution. Von HERMANN GRÜNWALH ; i
Seminaroberlehrer L. Habrich, Pädagog. Psychologie. Von HERMANN er
Prof. Dr. med. Georg Sticker, Gesundheit und Erziehung. Von Urer
Franziskus Hähnel, Alkoholismus und Erziehung. Von Trürrr
Zur Psychologie des ersten Leseunterrichts. Von Trürer En
Dr. H. E. Piggott, Die sittliche Entwicklung und Erziehung des Kihder Von
STUKENBERG
Dr. W. A. Lay, Eimerimeitelle, Didaktik. Von ORtekt R
Eingegangene Schriften
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A. Abhandlungen.
1. Die erbliche Belastung bei den Psychopathien.
. 2: Von
Dr. J. L. A. Koch, Staatsirrenanstaltsdirektor a. D.
Die erbliche Belastung und immer wieder die erbliche Belastung!
Wie oft hört und liest man doch von der erblichen Belastung geistes-
kranker oder psychopathisch minderwertiger Personen. Und Ärzte
wie. Laien: wieviel und wie Richtiges und Wohlbewiesenes glauben
sie doch beigebracht zu haben, wenn sie von einem Menschen, der
an einer Psychose (einer Geisteskrankheit) oder an einer psycho-
pathischen. Minderwertigkeit leidet, aussagen, dafs er erblich belastet sei.
Und in Wahrheit: wie wenig und wie Falsches ist doch oft damit
‚gesagt. Wie über die Mafsen gedankenlos wird der Begriff der erb-
‚lichen Belastung so häufig verwertet! Ä Ä
Ja, es ist gewils: die erbliche Belastung spielt bei den Psycho-
pathien eine grofse, sie spielt in unserer Zeit eine unheimlich grolse
Rolle. Aber nur um so mehr sollte man sich davor hüten, auch da
von erblicher Belastung als von einer erwiesenen Tatsache zu reden,
wo blofs die Möglichkeit besteht, dafs eine solche Belastung vor-
liegt. Und noch viel mehr sollte man sich davor hüten, von erb-
licher Belastung zu reden, wo es im voraus schlechterdings un-
möglich ist, dafs eine erbliche Belastung entstehen konnte. Leider
hütet man sich vor solchen Ungenauigkeiten und Unrichtigkeiten gar
nicht. Auf diese Dinge machte ich schon vor langer Zeit aufmerk-
sam, und ich wies auch seither immer wieder einmal aufs neue dar-
auf hin, aber, soweit ich schen kann, mit wenig Erfolg. Es wird
not tun, dafs wir zum Beginn dieser Untersuchungen noch einmal
darauf zurückkommen.
Dio Kinderfehler. VIII. Jahrgang. 1
2 A. Abhandlungen.
Wenn man über einen Menschen, der an einer Psychopathie
(einer Psychose oder einer psychopathischen Minderwertigkeit) leidet,
aussagt, dafs er erblich belastet sei, so meint man damit, dafs bei
einem oder bei mehreren seiner Eltern und Voreltern oder auch
bei Seitenverwandten von ihm ebenfalls nicht alles in Ordnung war,
dafs vielmehr auch in seiner Blutsverwandtschaft eine Nervenkrank-
heit oder mehrere Nervenkrankheiten (Geisteskrankheiten, psycho-
pathische Minderwertigkeiten, andere breitere Nervenleiden) bestanden
und beziehungsweise noch bestehen, und dafs die in seiner Ver-
wandtschaft bestehenden Nervenleiden auf dem Wege der Vererbung
zur Ursache wurden, dafs auch er selbst nervenleidend, speziell also
psychopathisch geworden ist.
Ein solcher Zusammenhang findet sich nun bei Personen, die in
der geraden Linie verwandt sind, in der Tat oft genug. Da ist
z. B. ein Mann, dessen Mutter zur Zeit der Konzeption und als sie
mit dem Kinde schwanger ging, an einem konstitutionellen Nerven-
leiden litt, etwa an einer (psychopathisch minderwertigen) Hysterie.
Die konstitutionelle Schädigung des Nervensystems seiner Mutter
hat sich auf diesen Mann vererbt und infolgedessen wird auch er
hysterisch, vielleicht schon als Knabe, vielleicht auch erst später. Es
kann sich zufolge der ererbten Schädigung seines Nervensystems!)
auch ein anderer krankhafter Zustand bei ihm einstellen als die
Hysterie, an der seine Mutter litt. Das wird sogar mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit der Fall sein. Er kann z. B. epileptisch werden.
Er kann auch irrsinnig oder idiotisch werden oder eine psycho-
pathische Minderwertigkeit davontragen, die nicht hysterischer Natur
ist. Und solcher Dinge eines oder gar eine Verbindung solcher
Dinge stellt sich ein, sei es, dafs das die ererbte Schädigung für sich
allein bewirkte, sei es, dafs noch andere Schädlichkeiten als Gelegen-
heitsursachen dazu mithalfen.
Wenn man also von jemand, der nervenkranke Vorfahren hat
und der nun selbst irgend einmal geisteskrank wird, sagt, er sei erb-
lich belastet, so hat man alles Recht, so zu sagen, vorausgesetzt
nur, dafs man den Nachweis geliefert hat, dafs die Schädigung des
Nervensystems vom betreffenden Menschen in der Tat eine ererbte
oder doch mit eine ererbte war. Leider nur pflegen sich mit einem
1) Wir haben hier immer nur solche Fälle im Auge, wo ein krankhafter
Schade besonderer Art, wo ein eigentliches Nervenleiden bei den Vorfahren besteht,
und lassen andere Fälle aus dem Spiel, z. B. die Fälle, wo allgemein schwächliche
Eltern ihre allgemeine Schwächlichkeit und damit auch eine gewisse Schwächlich-
keit des Nervensystems auf Nachkommen vererben.
Koch: Die erbliche Belastung bei den Psychopathien. 3
solchen Nachweis nicht blofs die meisten Laien, sondern auch die
meisten Ärzte gar nicht erst lange aufzuhalten. Oder vielmehr: der
Nachweis ist ihnen in jedem solchen Falle eben damit schon ge-
liefert, dafs ein Nervenleiden (speziell gar eine Psychopathie) in der
Aszendenz und eine Geisteskrankheit bei dem Deszendenten kon-
statiert ist. Sie sind erstaunt, wenn man noch mehr verlangt. In
allen solchen Fällen ist ja doch die Sache, so meinen sie, ohne
weiteres völlig klar: hier ist ein idiotischer Knabe, ein in konsti-
tutionell rezidivierender Weise!) melancholisches Mädchen, ein para-
lytischer Mann; die Mutter des Knaben war epileptisch, der Vater
des Mädchens war paranöisch, der Grofsvater des Mannes litt einmal
an Delirium tremens: also sind jene beiden Kinder und ist dieser
Mann erblich belastet. Ja, wenn das nur gewils wäre, wenn das
nur notwendig immer so sein mülste! Aber nicht in jedem Falle,
wo der Vater oder die Mutter eines Kindes, um nur von diesen zu
reden, zur Zeit der Zeugung desselben, und beziehungsweise zur
Zeit der Schwangerschaft, nervenleidend war, — nicht in jedem
solchen Falle wird ein Nervenschade nun auch auf dieses Kind und
etwa auch auf Geschwister von ihm oder auf alle seine Geschwister
vererbt. Wenn aber auf ein Kind, das nervenleidende Eltern hat,
nichts überging, keine Schädigung der Nerven überging, und es
erwirbt im Laufe seines Lebens aus ganz andern Gründen eine
Geisteskrankheit, z. B. durch eine Vergiftung, so kann man in
einem solchen Falle doch nicht sagen, diese Geisteskrankheit sei
die Folge einer erblichen Belastung.?) Man sollte wenigstens
meinen, dafs man das nicht sagen könne. Allein, manchen guten
Leuten, denen die bei der Aszendenz vorhandenen Nervenleiden
und die Psychopathien bei der Deszendenz immer ganz selbst-
verständlich durch die eiserne Klammer der erblichen Belastung ver-
bunden sind, manche gehen so weit, jene Klammer verknüpft ihnen
die betreffenden Vorkommnisse so ohne alle Wahl, dafs sie erbliche
Belastung nicht nur bei Fällen wie der letztgedachte, sondern selbst
da noch behaupten, wo jemand erst nach der Geburt seines »erb-
lich belasteten« Deszendenten nervenkrank, speziell geisteskrank oder
1) Vergl. hieızu die im Jahre 1889 erschienene 2. Aufl. meines Leitfadens
der Psychiatrie und meine 1890 erschienene Spezielle Diagnostik der Psychosen.
?) Selbst eine angeborene Disposition zu Psychopathien oder etwa auch
eine angeborene Idiotie mufs in hergehörigen Fällen nicht immer notwendig auf
einer vererbten Schädigung beruhen, der Fötus kann sich vielmehr krankhaft ent-
wickeln, ohne dafs der Zustand der nervenkranken Mutter oder des nervenkranken
Vaters irgend eine Schuld daran trägt. Das kann da ebensogut geschehen wie bei
den Kindern gesunder Eltern.
1*
4 A. Abhandlungen.
psychopathisch minderwertig wurde! Wenn aber ein Mensch, der
in seinem Nervensystem vordem völlig gesund war, etwa durch
einen Fall auf den Kopf oder durch Alkoholmißsbrauch eine Geistes-
krankheit oder ein anderes Nervenleiden erwirbt: wie soll er es’ denn
angreifen, um die Schädigung scines Nervensystems auf Kinder zu
vererben, die auf die Welt kamen, ehe er auf den Kopf stürzte und
che er sich dem Trinken ergab?
Es kommt aber noch dicker. — Wenn man von diesem oder
jenem Menschen, der von einem konstitutionell nervenleidenden Vater
gezeugt wurde und sich später als psychopathisch erwies, ` ohne
weiteres sagt, er sei erblich belastet, so liegt doch wenigstens die
Möglichkeit vor, dals dem so ist; ja, wenn das Nervenleiden des »be-
lastenden« Vaters wirklich ein konstitutionelles Leiden war, so ist
im voraus ein gewisser Grad von Wahrscheinlichkeit vorhanden, ist die
Vermutung gerechtfertigt, dafs der Betreffende erblich belastet sei. Aber
wie verhält es sich z. B. dann, wenn man einen psychopathischen
Menschen als erblich belastet bezeichnet lediglich nur deshalb, weil
ein Onkel von ihm auch nervenleidend war, und vielleicht auch gar
erst nach der Geburt des Neffen nervenleidend wurde? Lediglich
nur deshalb! Es kommt oft genug vor, dafs man derartiges aus-
spricht. Blofs das kommt nicht vor, dafs es je einmal wahr wäre.
Und es wird auch dadurch nicht zu etwas Möglichem gemacht, dafs
sich sogar die »Wissenschaft« der Sache angenommen hat und ganz
unbefangen die erbliche Belastung durch Seitenverwandte aufgestellt,
der betreffenden Vererbung auch einen schönen Namen gegeben hat,
nämlich den Namen: Kollaterale Vererbung, beziehungsweise Be-
lastung. Aber vom Blute, so wollen wir einmal sagen, vom Blute
des Onkels oder der Tante oder ihrer Kinder, meiner Vettern und
Basen, ist nichts in mir und kann nichts auf mich übergehen aufser
durch Transfusion. Wenn also der Onkel eines psychopathischen
Mannes ebenfalls an ciner Psychopathie oder wenn er sonst an
einem Nervenübel leidet: was tut man dann, wenn man lediglich
nur deshalb den Neffen erblich belastet nennt? Nun, man tut damit
mindestens etwas recht Unnötiges, Schiefes und Mifsverständliches.
Entweder behauptet man damit — und das ist geradezu töricht —,
es sei eine körperliche Beschaffenheit von dem Onkel auf den Neffen
übergegangen, was doch ganz unmöglich ist — man denke doch nur
cin wenig nach — oder man will einfach die Tatsache feststellen,
dafs der Herr Onkel auch nervenleidend war. Das könnte man aber
auf einem einfacheren, weniger mifsverständlichen und im tiefsten
Grunde weniger unrichtigen Wege tun als mit einer solehen Um-
Koch: Die erbliche Belastung bei den Psychopathien. 5
biegung und Neuverwendung eines an anderen Orte passenden tech-
nischen Ausdrucks. Warum nennt man denn die psychopathischen
Bekannten jenes Onkels, die nicht mit ihm verwandt sind, oder
einen ihm nicht verwandten psychopathischen Soldaten, der in seiner
Kompagnie dient, nicht auch erblich belastet, von ihm erblich be-
lastet? Man hätte das gleiche Recht dazu.
Wenn es nun aber auch keine kollaterale Vererbung gibt und
geben kann, so kann doch wenigstens ein Zusammenhang bestehen
zwischen dem Nervenleiden des Onkels und dem Nervenleiden seines
Neffen. Dabei bleibt aber alles stehen, was ich oben sagte; denn
dieser Zusammenhang ist niemals ein ursächlicher Zusammen-
hang.
Der Vater des mit dem Neffen blutsverwandten Onkels ist der
Grolsvater des Neffen; die Mutter des Onkels ist des Neffen Grols-
mutter. Vom Grofsvater aber und von der Grofsmutter kann ich
durch meine Eltern hindurch eine Nervenschädigung ererben, und
mein Onkel kann sie auch von ihnen ererben. In einem solchen
Falle hat also nicht der Onkel etwas auf den Neffen übertragen,
aber der gleiche Vorfahre oder mehrere Vorfahren haben auf den
Onkel wie auf den Neffen eine Schädigung des Nervensystems ver-
erbt, die Quelle ihres Leidens ist ein und dieselbe. Wo sich aber
die Sache in dieser Weise verhält, da kann es wohl auch vorkommen,
dafs nur die bei dem Onkel und die bei dem Neffen auftretenden
Störungen deutlich genug sind, um von der Umgebung derselben be-
merkt zu werden, beziehungsweise dafs ihre Umgebung nur das
Leiden dieser beiden, nicht aber auch das des Grofsvaters oder der
Grofsmutter zu erkennen befähigt war oder in Erfahrung zu bringen
vermochte. So wird denn immerhin in jedem Falle, wo der (bluts-
verwandte) Onkel wie der Neffe nervenleidend ist, ein Anlals vor-
liegen, zwar nicht ohne weiteres anzunehmen, dafs beim Neffen eine
erbliche Belastung vorhanden sei, aber nachzuschen, ob sie nicht vor-
handen sein möchte, nämlich eine erbliche Belastung nicht vom
Onkel her, aber eine Belastung von dem Vorfahren her, der auch
den Onkel belastet hat. Und wenn nun gar auch noch Geschwister
des Onkels und Kinder von ihm nervenkrank sind und etwa auch
Geschwister des Neffen, so steigt natürlich schon dadurch, noch ganz
abgesehen von weiteren Anhaltspunkten, die Wahrscheinlichkeit
sehr, dals die in der betreffenden Familie verbreitete Nervenschädigung
eine Schädigung ist, die sich vererbt hat, und dafs an ihr auch der
Neffe teilnahm.
6 A. Abhandlungen.
Wir halten uns nun des weiteren ausschliefslich an das, was
auf unserem Gebiet in der Tat erbliche Belastung ist, und fragen
zunächst, worin denn nun diese erbliche Belastung besteht und ob
und wie sie sich zu erkennen gibt.
Die Vorstellungen, die man über diesen Gegenstand hat, sind
zum Teil recht unklare Vorstellungen. Man hegt vielfach den mehr
oder weniger dunkeln Gedanken, es sei eben die Psychopathie,
z. B. der Iırsinn, der bei einem von nervenkranken Vorfahren ab-
stammenden Menschen im Verlaufe seines Lebens auftritt, es sei
eben sie und nur sie die erbliche Belastung. Dann wäre die Be-
lastung ein Nichts bis dahin, wo der Iırsinn auftritt. Dringt man
aber mit seinem Nachdenken tiefer ein, so meint man doch oft, die
Belastung sei zwar von frühauf vorhanden, aber sie sei nicht merk-
bar, sie könne nicht festgestellt werden bis dahin, wo der Irısinn
ausbricht. Diese beiderlei Vorstellungen sind nicht richtig. Ich
werde dies im Zusammenhang mit andern Dingen sofort nachweisen.
Wer belastet ist, ‘auf dem liegt eine Last, und wenn er erb-
lich belastet ist, so ist die Last notwendig eme angeborene; im
späteren Leben kann sie nicht mehr über ihn kommen. Und diese
Last ist kein blofser Gedanke, sondern etwas Wirkliches auch aufser-
halb der Vorstellung. Es fragt sich also nur, ob dieses Wirkliche
von der Umgebung des erblich Belasteten, speziell ob es vom Arzte
bemerkt und aufgezeigt werden kann, oder ob es zwar vorhanden
ist, aber an sich selbst und in seiner Wirkung verborgen bleibt bis
dahin, wo sich in den späteren Lebensjahren des Belasteten eine
Psychopathie bei ihm einstellt.
Wenn man überlegt, worin dieses Wirkliche wohl bestehen möge,
so steht natürlich das im voraus fest, dafs es eine Schädigung des
Nervensystems sein müsse. Aber das Nervensystem kann auf
zweierlei Weise geschädigt sein. Entweder ist sein grob-anato-
mischer Aufbau, bezichungsweise seine mikro-anatomische
Struktur fehlerhaft, und es sind zufolge des pathologischen Baues
des Gehirns auch seine Leistungen abnorm, oder der makro-ana-
tomische wie der mikro-anatomische Aufbau des Gehirns ist von der
richtigen Art, aber es fehlt an der richtigen mikro-chemischen
Beschaffenheit des Gehirns (was schliefslich natürlich wohl nicht
ohne irgend welche mikro-physikalische Rückwirkung bleiben kann),
und es sind infolgedessen die Funktionen des Gehirns fehlerhaft.
Man sollte nun vermuten, dafs ein erblich belasteter Mensch,
der die bekannten anatomischen Degenerationszeichen in mehr oder
weniger grofser Anzahl an seinem Leibe mit sich herumträgt, solche
Dife 0
Kocu: Die erbliche Belastung bei den Psychopathien. 7
Degenerationszeichen auch an seinem Gehirn aufweisen werde, und
dafs sie die Ursache seiner psychischen Anomalien seien. Nun kann
er möglicherweise anatomische Degenerationszeichen an seinem Ge-
hirn in der Tat haben. Aber von hier aus kommen wir nicht weiter.
Diese Degenerationszeichen sind nicht das, worauf es hier ankommt.
Und grob anatomische und mikro-anatomische Abänderungen, welche
hier in Betracht kämen, findet man — abgesehen von der Idiotie
aus erblicher Belastung — bei den Sektionen erblich belasteter
Menschen nicht, soweit eben ihre crerbte Belastung in Betracht
kommt. Man findet sie wenigstens bis jetzt nicht. — So bleibt denn
vorerst nichts übriWals die Annahme. dafs die fehlerhaften Funktionen
der belasteten (nichtidiotischen) Gehirne auf mikro-chemischen Ab-
weichungen vom Noaten beruhen (die dann des weiteren auch bei
der Idiotie vorhanden sein können), beziehungsweise auf den Stoff-
wechselanomalien und der Selbstvergiftung, welche die Folge dieser
mikro-chemischen Anomalien der Zellen sind.
Man hätte also wohl immer in einer ererbten mikro-chemischen
Fehlerhaftigkeit des Gehirns dessen cerbliche Belastung zu erblicken?
Diese Frage kann nicht schlechthin bejaht werden. Es kann allerdings
am letzten Ende lediglich nur eine Fehlerhaftigkeit im Stoffwechsel
des Gehirns selbst sein, was die Anomalien in den psychischen
Leistungen eines Menschen bewirkt, aber der abnorme Stoffwechsel
im Gehirn kann unter Umständen auch anderswo herstammen als
aus der Anlage des Gehims selbst. Es ist als möglich denkbar, dafs
die ursprüngliche Last nicht auf die Nerven, sondern auf andere
Organe des Körpers gelegt ist, und dafs die Alteration des Gehirn-
stoffwechsels auf einer Vergiftung beruht, die von andern, ursprüng-
lich mikro-chemisch geschädigten Organen herkommt, also beruht
auf einer sekundären Änderung in der Mikrochemie des Gehirns.
In Wahrheit wird wohl beides vorkommen: ursprüngliche chemische
Anomalien im Nervensystem selbst (oder auch im Nervensystem)
und ursprüngliche chemische Anomalien in andern Organen und
dann erst von hier aus eine Schädigung des Gehirns.
Dem Leser ist nicht entgangen, dafs der letzte Absatz etwas
hypothetisch gehalten ist. Dieser hypothetische Charakter des vor-
hergehenden Absatzes entspricht aber der tatsächlichen Lage der
Dinge. Wir vermögen diese abnormen chemischen Konstitutionen
und die aus ihnen entspringenden Ernährungs- und Stoffwechsel-
anomalien,. deren Vorhandensein in dieser oder jener Gestalt wir nach
dem derzeitigen Stande unseres Wissens gleichwohl auf das be-
stimmteste annehmen müssen, vorerst nicht aufzuzeigen und jeweils
8 A. Abhandungen.
nach ihrer Eigenart zu bestimmen. Wir können dies weder durch
chemische Reaktionen, noch durch sonst etwas bewerkstelligen. ,
So könnte man nun meinen, dafs das Wirkliche, worin die erb-
liche Belastung sich ausdrückt, in der Tat cben doch niemals als
vorhanden nachgewiesen werden könne, so lange nicht im
späteren Leben eines Belasteten eine Psychopathie auftrete. Aber
dem ist nicht so. Diese Annahme ginge zu weit. Die hier in Be-
tracht kommenden Produkte eines abnormen Stoffwechsels und was
diesen Stoffwechsel bedingt, das alles können wir allerdings nicht
vorzeigen: aber wir können schon frühe, schon schr frühe im Leben
der Belasteten die Folgen der Belastung zeigen, die uns für sich
allein oder in ihrem Zusammenhang mit anderen gestatten, auf die
erbliche Belastung zurückzuschliefsen; wir können also wenigstens
das Vorhandensein der Belastung nachweisen.
Zwei Reihen von Erscheinungen sind es, die jenen Rückschlufs
ermöglichen und beziehungsweise ermöglichen helfen: erstens eine
Reihe von sogenannten funktionellen Degenerationszeichen auf dem
körperlichen Gebiet, zweitens eine Reihe von abnormen psychi-
schen Erscheinungen. — Diese Erscheinungen treten zu bestimmten,
verschiedenartigen Krankheitsbildern zusammen. |
Zufolge der erblichen Belastung, die schon während des Fötal-
lebens eines Kindes irgendwie auf den Nerven des Kindes liegt, kommt
dasselbe entweder geisteskrank und zwar speziell mit einer angeborenen
Idiotie zur Welt (ein Iırsinn kann es nicht sein), mit einer Idiotic,
die sich bei der Entwicklung des Kindes sehr bald und desto früher
bemerkbar macht, je höher ihr Grad ist, oder spricht sich die ererbte
Schädigung der Nerven in einer psychopathischen Minder-
wertigkeit aus, die ebenfalls meist schon frühe, schon beim Säug-
ling, erkannt werden kann.
Wir verfolgen die Idiotie, diejenige Idiotie, in der sich ein cr-
erbter Schade des Nervensystems ausdrückt, nicht weiter, halten uns
vielmehr im nachfolgenden ausschliefslich an die psychopathischen
Minderwertigkeiten, die zufolge ererbt-angeborener Schädigungen des
Nervensystems als der Ausdruck solcher Schädigungen des Nerven-
systems auftreten. !)
Von der ererbt-angeborenen Idiotie also abgesehen, spricht sich
die erbliche Belastung in einer psychopathischen Minderwertigkeit aus.
Sie spricht sich nahezu in jedem Falle merkbar darin aus. Man
1) Wir reden also auch nicht von Schädigungen, die zwar angeboren, aber
nicht im engern und engsten Sinne ererbt sind.
Koc#: Die erbliche Belastung bei den Psychopathien. 9
mufs zwar nach dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft unter
den psychopathischen Minderwertigkciten immer noch die latente
psychopathische Disposition zulassen, denn in vereinzelten Fällen ver-
mag man bei erblich belasteten Menschen eine ‘psychopathische
Minderwertigkeit nicht mit Sicherheit zu erkennen, und kann nur
später, wenn eine Psychopathie bei ihnen ausbricht, aus den ein-
zelnen (somatischen und psychischen) Erscheinungen und dem Verlaufe
der Krankheit den Rückschlufs machen, dafs eine erbliche Belastung
bestanden habe. Ich vermute aber, dafs die kleine Zahl der Belasteten
mit angeborener latenter psychopathischer Minderwertigkeit durch den
Fortschritt der Wissenschaft immer kleiner werden wird. Man wird
lernen, manches, was sich jetzt noch verbirgt, ans Licht zu bringen.
Doch mag es immerhin sein, dafs ein Rest von latenter psychopathi-
scher Disposition auch später noch übrig bleiben wird. Wirkliche
Latenz wäre da z. B. möglich — um nur eines anzuführen —, wenn
schädigende Stoffwechselprodukte irgendwo im Körper zunächst nur
in kleiner, noch nicht vergiftender Menge, und erst mit der Zeit
(durch eigene Weiterentwicklung der Sache oder mehr unter der
Mitwirkung von Gelegenheitsursachen) in gröfserer, vergiftender
Menge produziert würden. Dann bliebe die erbliche Belastung bis
dahin, wo: das Gift wirklich als Gift auftritt, ohne merkbare Folgen
für das Nervensystem, also auch ohne Ausdruck im psychischen
Leben. Um sich derartige Dinge klar zu machen, darf man z. B. nur
an eine ererbt-angeborene Gicht denken, deren spezifischen Stoff-
wechselprodukte zunächst keine sichtbaren Folgen auf den Körper
haben, mit der Zeit aber — wenn diese Produkte im weitern Ver-
laufe der Krankheit in immer gröfserer Menge auftreten — zunehmend
mehr schädigen.
Lassen wir nun des weitern, wie die ererbt-angeborene Idiotie,
so auch die ererbt-angeborene latente psychopathische Disposition aus
dem Spiel, so können wir des übrigen zunächst einmal sagen: die
uns hier interessierende ererbte Schädigung cines belasteten Menschen
findet ihren Ausdruck in dem Bestehen einer angeborenen psycho-
pathischen Minderwertigkeit dieser oder jener Art; in dieser Minder-
wertigkeit gibt sie sich zu erkennen. Wo also in der Aszen-
denz!) für die entscheidenden Zeiten (der Zeugung und Schwanger-
1) Für die gewöhnlichen praktischen Zwecke halte ich es nicht für nötig, dafs
man bei seinen diesbezüglichen Nachforschungen die gerade aufsteigenden Linien
(die väterliche wie die mütterliche) weiter verfolgt als bis zu den Grolseltern des
zu Untersuchenden. Noch weiter binauf stehen ohnehin in der Regel keine oder
doch keine zuverlässigen und brauchbaren Nachrichten mehr zu Gebot.
10 A. Abhandlungen.
schaft) konstitutionelle Nervenleiden nachzuweisen sind, ein Deszendent.
aber anatomische Degenerationszeichen an sich trägt, jedenfalls aber
frühe eine angeborene psychopathische Minderwertigkeit mit körper-
lichen funktionellen Degenerationszeichen und mit den charakte-
ristischen psychischen Anomalien zu erkennen gibt, da ist man auch
berechtigt, diese psychopathische Minderwertigkeit als das Produkt
einer ererbten Schädigung, den Betreffenden also für erblich belastet
zu erklären. —
Die psychopathische Minderwertigkeit, in der sich die ererbte
Belastung eines Nervensystems ausdrückt, wird nun ihre weitern
Schicksale haben. Entweder bleibt sie in ihrer Stärke im wesent-
lichen stationär, wobei sie aber selbstverständlich mit ihrem Träger
einen Gang der Entwicklung (in ihrer Linie) durchmacht, oder
nimmt sie unter günstigen Verhältnissen und heilsamen medizinisch-
pädagogischen Einwirkungen mit der Zeit ab, oder auch kann sie
sich steigern (eventuell bis zur Psychose). Das letztere, die Steige-
rung, kann eintreten aus Ursachen, die unausweichlich in der spe-
ziellen Natur der Schädigung selbst liegen, oder zufolge einer Be-
schaffenheit der Schädigung, bei der schon die gewöhnlichen Rei-
bungen des Lebens genügen, eine Steigerung der Schädigung hervor-
zubringen, oder zufolge des Hinzutretens noch besonderer Gelegenheits-
ursachen. Dies leitet hinüber zu folgendem Gegenstand:
Die erbliche Belastung, durch die eine angeborene psychopathische
Minderwertigkeit hervorgerufen wird, ist nun nicht blofs eben das, was
die angeborene, früh erkennbare psychopathische Minderwertigkeit her-
vorruft, sondern sie bildet auch, sei es für sich allein, sei es in Ver-
bindung mit der ihrerseits wieder zurückwirkenden primären psycho-
pathischen Minderwertigkeit, sehr oft eine Prädisposition für das
Eintreten noch weiterer Dinge, noch weiterer Psychopathien und
psvchopathischen Erscheinungen. Und diese Prädisposition ist es,
die man unter Aufserachtlassung der angeborenen Minderwertigkeit
häufig allein im Auge hat, wenn man von erblicher Belastung spricht.
Sie hängt aber in der Luft, wenn man die angeborene, mehr oder
weniger früh merkbare psychopathische Minderwertigkeit übersieht.
Selbstverständlich ist diese angeborene Prädisposition nicht das
einzige prädisponierende Moment, das sich bei einem erblich be-
lasteten Menschen finden kann. Über einen solchen Belasteten können
vielmehr im Laufe seines Lebens — mit oder olıne seine Schuld und
mit oder ohne Schuld seiner ererbt-angeborenen psychopathischen
Minderwertigkeit — noch weitere prädisponierende Dinge kommen.
Und selbstverständlich trägt nicht an jedem Eintreten einer Psycho-
Koch: Die erbliche Belastung bei den Psychopathien. 11
pathie bei einem älteren Belasteten nun eben diese angeborene Prä-
disposition die Schuld oder auch nur die Mitschuld. Ein erblich be-
lasteter Mensch kann auch ganz unabhängig von seiner Belastung,
kann ohne jede Mitwirkung derselben eine Psychopathie (eine Psy-
chose oder eine psychopathische Minderwertigkeit) erwerben, wie sie
auch das »rüstigste« Nervensystem unter gleichen Umständen er-
werben würde, z. B. einmal bei einer Vergiftung durch Influenzagift.
In vielen Fällen, wo bei erblich belasteten Menschen im Laufe ihres
späteren Lebens Psychopathien auftreten, trägt nun aber jeweils doch
nur die vorhandene Prädisposition die Schuld oder andere Male wenig-
stens die Mitschuld, dafs Dinge, die unter Umständen ungünstig auf
das Nervensystem einzuwirken vermögen, eine Psychopathie hervor-
rufen, die ohne die angeborene Prädisposition nicht eingetreten wäre
oder sich weniger stark ausgebildet (auch wohl ihre besondere Fär-
bung nicht angenommen) hätte. Interessant ist es aber, jedoch wohl
verständlich und nebenbei tröstlich, dafs den zuletzt gedachten Fällen
andere gegenüberstehen, wo kräftige Menschen trotz ihrer erblichen
Belastung und ihrer angeborenen psychopathischen Minderwertigkeit
widerstandsfähiger sind als manche gesunde Menschen, und infolge
ihrer gröfseren Widerstandsfähigkeit!) manchen Gelegenheitsursachen
nicht erliegen, denen dieser oder jener weniger widerstandsfähige
gesunde Mensch nicht zu widerstehen vermöchte.?)
* *
*
Noch möchte ich einige Bemerkungen über das machen, was
man auf unserem Gebiete als atavistische Vererbung zu bezeichnen
gewohnt ist.
Wenn in einer Familie bei einem der Grofseltern — um nur
von diesen zu reden — oder bei beiden Grolseltern ein Nervenleiden
vorhanden ist, das bei der Deszendenz erbliche Belastung zu begründen
vermag, so kommt es vor, dafs bei den Kindern der Grolseltern, also bei
den Eltern der Enkel, keinerlei psychopathische (oder sonst nervöse)
Erscheinungen gefunden werden, dagegen bei einem oder mehreren der
Enkel wieder psychopathische Erscheinungen auftreten und bemerkt
1) Manchmal sogar auch noch zufolge von Rückwirkungen ihrer angeborenen
Minderwertigkeit selbst. Vielleicht auch einmal zufolge eines spezifischen Schutzes,
den ihre chemisch abgeänderten Nervenzellen gegen Angriffe von aulsen her ge-
währen mögen; wer weils es?
?) Vergl. zu diesem ganzen Gegenstand auch die Lehre von den gemischten
psychopathischen Minderwertigkeiten in meinem Lehrbuch über die psychopathischen
Minderwertigkeiten und in anderen meiner Schriften.
12 A. Abhandlungen.
werden, und zwar Erscheinungen, die sich als durch erbliche Be-
lastung bedingt dokumentieren. In solchen Fällen redet man von
atavistischer erblicher Belastung.
Gibt es nun wirklich solchen Atavismus?
Unbedingt wahr und gültig wäre der obige Satz für alle die-
jenigen Fälle, wo man die Worte »gefunden werden« in der Be-
deutung zu nehmen das Recht hätte: Anomalien bei den Eltern seien
zwar vorhanden, aber man bemerke sie nicht. So meint man jedoch
die Sache nicht. Nehmen wir sie nun aber einmal in diesem Sinne,
so gibt es zwei Ursachen solchen Nicht-Findens. Entweder hält sich
das, was man sucht, an sich selbst so sehr und in einer solchen Art
versteckt (bezw. es wird absichtlich so geschickt verborgen gehalten),
dafs man es wirklich’ nicht zu Gesicht bekommen kann, oder es liegt
gar nicht so tief verborgen, es liegt vielleicht sogar recht offen auf
dem Tisch, und man sieht es nur nicht, so leicht man es sehen
könnte, man sieht es nicht, weil man den Blick und das Verständnis
dafür nicht hat. |
Das weifs ich aus vielfacher Erfahrung, dafs mancher Bce-
obachter zwar im stande war, z. B. den Irrsinn bei einem Grofsvater
als eine Psychopathie zu erkennen, und dals er auch die Psychose
des Enkels als eine solche erkannte, dafs er aber die dick aufgetragene
psychopathische Minderwertigkeit des Vaters durchaus nicht als etwas
Psychopathisches zu erkennen oder auch nur anzuerkennen vermochte,
sondern den Vater für ganz normal hielt und hält, und darum
nun von atavistischer Vererbung, beziehungsweise von cinem Rück-
schlag (auf den Grofsvater) redet. Und derartige Erfahrungen macht
man immer wieder aufs neue. |
Aber vielleicht, so wird man fragen, bleiben trotzdem immer
noch Fälle übrig, wo in der Tat beim Vater lediglich nichts Ab-
normes vorhanden und crst der Enkel wieder belastet ist, wo es
sich also beim Enkel wirklich um einen Rückschlag, beziehungs-
weise um eine Ererbung vom Grofsvater her handelt?
Ich glaube nicht, dafs es solche Fälle gibt. Aber ich halte es
immerhin für denkbar, dafs es in seltenen Fällen auch unter den
günstigsten Umständen unmöglich ist, beim Vater etwas Abnormes
aufzufinden, nämlich nicht, weil keine erbliche Schädigung bei ihm
vorhanden wäre. sondern weil die vorhandene Schädigung auch für
den geübten und pünktlichen Beobachter latent bleibt, dieweil sie
keine psychopathischen (oder sonst nervösen) Erscheinungen hervor-
ruft. In solchen Fällen hat dann also der Enkel seine ererbte
Schädigung gleichwohl nicht (unmittelbar) vom Grofsvater, sondern
Kocu: Die erbliche Belastung bei den Psychopathien. 13
vom Vater her, denn der Schade. beim Vater, der latent ist. ist eben
nichtsdestoweniger doch da. |
Ich wülste mir auch gar nicht zu denken, wie es der Grofsvater
sollte angreifen können, um den Schaden, den er hat. durch den
ganz gesund gebliebenen Vater hindurch auf den Enkel zu bringen.
— Wenn eine Taubenvarietät nach wenig Generationen der Verwil-
derung auf die Felstaube zurückschlägt, oder eine künstlich herbei-
geführte Erdbeerenvarietät, sich selbst überlassen, auf die betreffende
Walderdbeere, so sind das doch ganz andere Dinge. In der ganzen An-
lage und dem ganzen Bildungstrieb des Enkels liegt oder ruht doch
nicht irgend etwas, das ihn nötigte, das pathologische Leiden des
Grofsvaters wieder aufzunehmen und hervorzubringen, in eine Krank-
heit hineinzuwachsen, nicht weil sein Vater die Anlage dazu auch
gehabt hätte, sondern lediglich nur deshalb; weil die Krankheit den
‚Grofsvater, den Vater des ganz gesund gebliebenen Vaters, heim-
gesucht hatte.
Also: ich, weils, dafs der Grofsvater die hier in Betracht kom-
menden Dinge durch den (selbst geschädigten) Vater hindurch auf
den Enkel vererben kann, und ich halte es für möglich, dafs dabei
der Schade im Nervensystem (oder überhaupt im Körper) des Vaters
latent, verborgen bleiben kann; aber ieh halte es nicht für möglich,
dafs der Grolsvater etwas auf.den Enkel zu übertragen vermag, wenn
der Vater wirklich ganz normal geblieben ist. Dann gibt es aber
auch nicht das, was man als eine atavistische Vererbung
von Nervenleiden bezeichnet. | | |
- Wie sehr man bei solchen Dingen auf der Hut sein muls, kann
ich durch ein Beispiel illustrieren, das ich an. mir selbst erlebte.
Mein Vater war im wesentlichen rechtshändig; manche Dinge aber,
die man sonst mit der rechten Hand vollbringt, konnte er mit der
linken Hand ebenso gut, manche derselben sogar besser mit, der
linken als mit der rechten Hand ausrichten. Bei mir selbst bemerkte
ich keinerlei .Linkshändigkeit, ich suchte auch nicht danach, denn ich
konnte ja blofs mit der rechten Hand schreiben u. s w. Dagegen
waren diejenigen meiner Kinder, die mehr nach mir als nach meiner
rechtshändigen Frau geartet sind, wesentlich linkshändig, und dabei
in Dingen, wo sie amphidexter sind (z. B. beim Schreiben und
Zeichnen), mit ihrer Neigung und Geschicklichkeit doch mehr links-
händig als rechtshändig. Ich selbst bin also rechtshändig und gab
mich früher auch immer dafür aus. Folglich hatte man bei meinen
Kindern den schönsten Atavismus vor sich. Ja, wenn es nur wahr
wäre! Aber, als ich schon ziemlich alt geworden war, »Tande ich (s.
14 A. Abhandlungen.
oben), dafs ich einige Dinge nur mit der linken Hand ausführe und
richtig ausführen könne, die andere Leute mit derrechten Hand besorgen.
Ich hatte blofs nie bemerkt, dafs man sonst die betreffenden Dinge
mit der rechten Hand tut. Und es scheint mir nun auch, dafs ich
mich bei manchem, was meine rechte Hand besorgt, wenn ich es ein-
mal mit der linken versuche, doch etwas geschickter anstelle als die
völlig und zweifellos Rechtshändigen.
2. Wie urteilen Schulkinder über Funddiebstahl?!)
.Von
Dr. P. v. Gizycki, Stadtschulinspektor, Berlin.
Unter den wertvollen Veröffentlichungen des Musöe pédagogique
in Paris befindet sich eine Schrift von M. F. LicHTEnBERGER über den
Moralunterricht in den französischen Volksschulen. Das interessante
Werkchen bildet einen Extrakt aus den anläßlich der Pariser Welt-
ausstellung von 1889 erstatteten Berichten der Schulinspektoren über
diesen Unterrichtsgegenstand und gibt im wesentlichen wortgetreue
Auszüge aus den amtlichen Schriftstücken.
Im ersten Jahrzehnt nach Einführung der neuen Lehrpläne hatte
die weltliche Volksschule in Frankreich und besonders der Moral-
unterricht die hartnäckigsten Widerstände in den durch die Geistlich-
keit beherrschten Volkskreisen zu überwinden, Widerstände, deren
Kraft und zähe Ausdauer wir aus der Heftigkeit des noch heute in
Frankreich tobenden Kulturkampfes ermessen können. Vor 1889
galt es zunächst, die Existenzberechtigung der weltlichen Schule als
Erzieherin und die Gleichwertigkeit ihrer Leistungen mit den Unter-
richtserfolgen der von geistlichen Orden geleiteten Anstalten nach-
zuweisen. Die Abschlufsprüfungen zur Erlangung des Certificat
d’études boten dem Publikum vielfach Gelegenheit, die Erziehungs-
resultate beider Arten von Schulen gegen einander abzuwägen, und
so wählten die staatlichen Prüfungskommissionen nicht selten Auf-
gaben, welche den Grad der sittlichen Reife der Kandidaten deutlich
erkennen lassen mufsten. In Angoulême wurde bei einer solchen
Gelegenheit den Schülerinnen folgendes Thema für den französischen
Aufsatz gestellt: »Du gehst mit einer Freundin auf dem Jahrmarkt
1) Man vergleiche hierzu die Arbeit von Anrosso »Das Ehrbarkeitsgefühl bei
Kindern« im I. Jahrgange dieser Zeitschrift. U.
v. Gizyrckı: Wie urteilen Schulkinder über Funddiebstahl? 1
RD |
spazieren. Du hast nicht einen Sou in der Tasche, denn deine Eltern
sind arm. Plötzlich findest du ein Portemonnaie mit einem schönen
Fünffrankstück. Gib an, was du damit tun wirst.< Der Bericht
teilt mit, dafs an der Prüfung 111 Schülerinnen teilnahmen: 81 aus
Kongreganistenschulen (von geistlichen Orden geleiteten Anstalten),
30 aus Laienschulen. Von den 30 letzteren Mädchen waren sich
23 bewulst, dafs sie einen Diebstahl begehen würden, wenn sie das
Geld behielten, die 7 andern wollten sich Spielzeug oder Bonbons
kaufen. Von den Schülerinnen der Kongreganistenschulen wulsten
nur 30, dafs man gefundene Gegenstände dem Verlierer zurück-
erstatten müsse, die andern 51 amüsierten sich in voller Gewissens-
ruhe für das Geld auf dem Jahrmarkt, machten Einkäufe, fuhren
Karussell u. s. w. Ein kleines Mädchen wollte das Geld seinen
Eltern geben, »welche sich dafür mehrere gute Mahlzeiten bereiten
würden, während es derjenige, dem es gehörte, möglicherweise ver-
geudet haben würde, hätte man es ihm zurückgegeben.« !)
Dieser Bericht brachte mich auf den Gedanken, ein ähnliches
Thema in einer Berliner Gemeindeschule von Schülerinnen der
obersten Klassen bearbeiten zu lassen, Kindern, welche allerdings im
Durchschnitt ein Jahr älter sein dürften als die Kandidatinnen für
das Certificat d’études in Frankreich. Ich wählte dazu die Zeit vor
den Weihnachtsferien, wann die öffentlichen Plätze in Berlin mit
Weihnachtsbäumen und Buden aller Art bedeckt sind, und stellte in
einer gut organisierten und gut geleiteten Gemeindeschule für Mäd-
chen das Thema:
»Du gehst mit einer Freundin auf den Weihnachtsmarkt. Ihr
habt nicht einen Pfennig in der Tasche, da die Eltern arm sind. Der
Vater hat keine Arbeit. Da findest du cin Portemonnaie mit einem
schönen, blanken Fünfmarkstück. Was wirst du tun ?«
Dem Aufsatz war folgende kurze Disposition beigegeben:
»1. Kurze Beschreibung des Weihnachtsmarktes.
2. Was empfindest du beim Anblick der ausgestellten Waren?
3. Du findest das Portemonnaie.
4. Was tust du damit?«
Aufserdem wurden keinerlei Angaben gemacht und keinerlei
Hilfsmittel zugelassen. Die Aufgabe war in keiner Weise vorbe-
reitet und kam Lehrern und Kindern völlig unerwartet.
1) M. F. Lichtengercer. L’education moralo dans les écoles primaires.
Mémoires et documents scolaires publiés par le Musce pédagogique. 26 série,
Fascicule No. 28. p. 113.
16 A. Abhandlungen.
= as tler es — ~ —
‚An der Bearbeitung beteiligten sich zwei Erste Klassen im da-
maligen scchsklassigen Schulsystem, nämlich eine sog. Oberklasse
(Selekta) und eine andere Erste Klasse, 23 + 41 = 69 Mädchen,
die sich im Alter zwischen 11 Jahren und S Monaten und 14 Jahren
und 6 Alonaten befanden. Von ihnen waren unter 12 Jahren 4,
zwischen 12 und 13 Jahren 15, zwischen 13 und 14 Jahren 47,
älter als. 14 Jahre 3 Kinder. Töchter von Witwen, bezw. ehever-
lassenen Frauen waren 9, die übrigen lebten in Haushaltungen,
denen der Vater vorstand. Dem Berufe nach waren die Väter von
9 Kindern Beamte, von 6 selbständige Gewerbetreibende, von den
übrigen Arbeiter, Handwerksgehilfen und dergl. Vollwaisen befanden
sich unter den Kindern nicht.
Die Bearbeitung des Themas fand unter sorgfältiger Aufsicht in
zwei gesonderten Klassenräumen statt.
Das Ergebnis, auf welches es hier ankommt, war in Kürze
folgendes: In der Oberklasse des Rektors, in welcher ich seibst die
Aufsicht führte, entschieden sich 27 von 28 Mädehen für Rückgabe
des Geldes, also, wenn ich so sagen daif, im positiven Sinne, ein
Kind wollte den Fund: für sich behalten. In der andern Klasse, in
welcher der Rektor die Aufsicht führte, fielen von 41 Entscheidungen
13 positiv, 27. negativ aus. Ein Kind hatte das Thema insoweit
verfehlt, dafs es schilderte, wie es das Geld nicht auf dem Weih-
nachtsmarkte sondern in der Kleidertasche cines alten Rockes seiner
Mutter »gefunden« und dann auf dem Weihnachtsmarkt vergeudet
habe. Von den 69 an dem Thema beteiligten Mädchen hatten also
40 für Rückgabe dos Geldes, 29 für Nichtrückgabe gestimmt.
Man würde gewifs irren, wenn man dieses Votum als einen
zuverlässigen Maflsstab dafür ansehen wollte, was diese Kinder in
cinem konkreten Falle gleicher oder ähnlicher Art wirklich getan
hätten. Wahrscheinlich würde ihnen die Wirklichkeit mancherlei
Motive der verschiedensten Art suggeriert haben, die bei der
blofsen Vorstellung von einer nicht wirklich erlebten Situation
ausfallen oder minder wirksam auftreten mufsten. Möglicherweise
wären der wirklichen Versuchung im Bewulfstsein des Kindes
schlummernde sittliche Motive, als hemmende Suggestionen in den
Weg getreten, deren sich die Kinder bei der kühlen Darstellung
cines fingierten Falles nicht bewufst wurden; viel wahrscheinlicher
freilich erschemt mir das Gegenteil, nämlich, dafs die wirkliche Ver-
suchung ein in sittlicher Hinsicht ungünstigeres Resultat zur Folge
gehabt hätte, als es die Kinder selbst voraussahen. Die schriftlich
niedergelegten Antworten beweisen uns also nicht, was die Kinder
Y
x
Gızrckı: Wie urteilen Schulkinder über Funddiebstahl? 17
wirklich getan haben würden, sondern was sie, unbeeinflufst und
nach reiflicher Überlegung, für richtig hielten.
Nächst dieser grundsätzlichen Entscheidung des sittlichen Pro-
blems werden uns die Motive interessieren, welche für die einzelnen
Kinder bei ihrer Stellungnahme malsgebend waren, und deren sie
sich soweit bewufst wurden, um sie darzustellen. Werfen wir zu-
nächst einen Blick auf die Äufserungen der 40 Kinder, welche im
positiven Sinne entschieden haben.
Eine ganze Anzahl spricht sich ohne Zögern für Rückgabe des
Fundes aus, unterläfst es jedoch, ein Motiv für diese Stellungnahme
anzudeuten. Das sind zunächst solche‘ Schülerinnen, denen die
stilistische Darstellung überhaupt erhebliche Schwierigkeiten bereitet.
Ihr Schweigen über die malsgebenden Triebfedern für ihre Entschei-
dung kann daher wohl nicht selten durch die Unfähigkeit erklärt
werden, abstrakte Ideen in klaren Worten darzustellen: andrerseits
ist es aber auch möglich, dafs ihre Entscheidung wirklich instinktiv
ohne viel Nachdenken erfolgte, und dafs klare Ideen über ihre Gründe
ihnen nicht zum Bewulstsein kamen. Zuweilen sind auch bei ihnen
die Keime einer sittlichen Reflexion bemerkbar wie in einem Aufsatz,
wo es heifst: »Wir dachten: Sollen wir uns für das Geld etwas
kaufen, oder sollen wir es der Polizei übcrliefern? Gedacht, getan!
Wir trugen die Geldtasche zur Polizei«, oder in einer andern Arbeit,
in der die Verfasserin schreibt: »Da trat die Versuchung an uns
heran. Wir schwankten hin und her. Da erklärten wir, es der
Polizei zu überliefern.« t)
Hier sind sich die Mädchen wohl eines innern Kampfes
aber nicht der durchschlagenden Motive für ihre eigene Entschei-
dung bewufst geworden, oder sie scheiterten an der Schwierigkeit
dieselben darzulegen. Auf diese Weise erfahren wir über die Trieb-
federn von 8 Kindern nichts bestimmtes, die übrigen 32 lassen uns
mehr oder minder klare Einblicke in den Mechanismus ihres sitt-
lichen Empfindens tun.
Von Interesse dürfte es dabei sein, zu prüfen, in welchem Mafse
die anerkannten Hauptsanktionen der Moral als Triebfedern bei der
Entscheidung derjenigen Schülerinnen beteiligt waren, welche den
Fund zurückgeben wollten.
Da die Kinder an dem Religionsunterricht der Schule teilge-
1) Satzbau und Darstellungsweise der Kinder wurden hier wie im folgenden
bei allen wörtlichen Anführungen unverändert beibehalten, doch sind Fehler gegen
die Rechtschreibung und Interpunktionslehre richtig gestellt worden.
Die Kinderfehler. VIH. Jahrgang. 2
1S A. Abhandlungen.
nommen hatten und ihrem Alter entsprechend zu der Zeit meistens
den Konfirmandenunterricht besuchten, so durfte man wohl zunächst
auf die Wirksamkeit der theologischen Sanktion rechnen und etwa
einen Hinweis auf die Allgegenwart Gottes und seinen Zorn über
die Verletzung des siebenten Gebotes erwarten. Auffallenderweise
findet sich jedoch von religiösen Motiven in keinem der 40 Aufsätze
cine bestimmte Erwähnung. Der spezielle Fall des Funddiebstahls
hatte sich den Kindern wohl niemals unter der Kategorie einer Ver-
letzung des siebenten Gebotes dargestellt. Die Ideenverbindungen,
welche bei andern Fällen von Verletzung fremden Eigentums zweifel-
los funktioniert hätten, waren für dieses Gebiet noch nicht geknüpft
worden.
Ebenso gering erwies sich auch der Einflufs der strafrechtlichen
Sanktion auf die Kinder. Nur ein einziges Mal wird auf die rechtliche
Seite der Frage etwas bestimmter eingegangen, indem das betreffende
Kind sich fragt: »War es nicht strafbar, sich fremdes Geld anzu-
eignen ?«
In allen andern Fällen sind sich die Kinder augenscheinlich
weder der zivilrechtlichen Tragweite eines Fundes noch der straf-
rechtlichen Konsequenzen des Funddiebstahls klar bewufst und handeln,
wenn sie das Richtige treffen, lediglich unter dem Einflusse anderer
Instinkte oder Erwägungen. In den meisten Fällen, 15 von 40, er-
scheinen die Eltern, besonders die Mütter, als Träger der sittlichen
Idee. Der Gedanke: »Was werden die Eltern dazu sagen, wenn ich
das Geld nach Hause bringe ?« ist offenbar für viele Kinder der ent-
scheidende Gesichtspunkt, der freilich zum Teil in ideeller Konkurrenz
mit andern sittlichen Motiven auftritt.
An zweiter Stelle kommt die in dem Sprichwort »Ehrlich währt
am längsten« ausgeprägte Sanktion der öffentlichen Meinung zur
Geltung. Auf dieses in der Schule gelernte Sprichwort wird in 13
von 40 Fällen direkt Bezug genommen. Auf das Urteil der Menschen
als ein Element des Gewissens wird in einem in mancher Hinsicht
bemerkenswerten Aufsatz ausdrücklich hingewiesen. Die Verfasserin
ist jene Einzige, welche sich auch bewulst ist, dals sie eine strafbare
Handlung begehen würde, wenn sie sich das gefundene Geld aneignete,
und schliefst ihre Ausführungen folgendermafsen: »Notgedrungen
taten wir es« (sie gaben das Portemonnaie der Verliererin zurück),
»erhielten aber als Ersatz dafür eine Kleinigkeit zum Geschenk. So
konnten wir doch mit reinem Gewissen jedem Menschen unsere
Sachen zeigen und brauchten nichts zu verheimlichen.«
In zwei Fällen wird das Mitleid mit der Verliererin des Porte-
Gızyrckı: Wie urteilen Schulkinder über Funddiebstahl ? 19
monnaies als sittliches Motiv zur Rückgabe des Fundes angedeutet.
Die Verliererin ist eine arme Frau, und das verlorene Geld bildete
ihren Wochenlohn, den sie nun mit Schmerzen vermifst. Das eine
der beiden Kinder schildert den Verlauf der Dinge, nachdem das
Portemonnaie gefunden war, folgendermafsen: »Verlegen sahen wir
uns an. Was sollten wir tun? Wem konnte es gehören? Sollte ich
es behalten? Vielleicht gehörte es einer armen Frau, die es
sich durch ihrer Hände Arbeit verdient hatte. Wie schön
konnte ich mir jetzt einen vergnügten Abend bereiten. Aber nein,
| es gehörte mir ja nicht. Da sahen wir, wie eine blasse Frau mit
verweinten ‘Augen ängstlich suchend umherlief. Wir befragten sie
ob der Ursache ihres Kummers und erfuhren nun, dafs sie die Be-
sitzerin des Portemonnaies sei. Freudig gaben wir es zurück. Sie
bedankte sich mit herzlichen Worten. Fröhlich gingen wir nach
Hause und dachten noch viel an unser Erlebnis.«
Das Motiv der Pflicht wird einigemal mit Bestimmtheit erwähnt,
besonders in zwei Fällen, wo die ehrliche Finderin die angebotene
Belohnung ablehnt, da sie nur ihre Pflicht getan habe.
Gesondert dürften jene Aufsätze zu beurteilen sein, in denen
der Finderin für ihre Ehrlichkeit irgend ein materieller Lohn zu teil
wird. Das sind zunächst jene Darstellungen, 4 an der Zahl, in denen
sich der Verlierer nicht ermitteln läfst und das Geld daher der
Verliererin als Eigentum zufällt, ferner jene 8 Fälle, in denen ein
Geldbetrag als Finderlohn gezahlt wird, und jene vereinzelte Schilde-
rung, welche beschreibt, wie der beschäftigungslose Vater infolge
| der Rückgabe des Fundes wegen seiner Ehrlichkeit von dem Ver-
| lierer Arbeit erhält.
- Zweifellos spielt auch die Erwartung eines Finderlohns als Motiv
zur Rückgabe des Geldes eine Rolle. Es entspricht mindestens dem
Gefühl für poetische Gerechtigkeit der betreffenden Kinder, dafs die
Tugend sich auch materiell belohnt machen müsse. In Bezug auf
die Höhe dieses Finderlohns gibt sich vielfach ein naiver Optimis-
mus zu erkennen.
Bescheiden sind jene Mädchen, welche sich mit »einer Kleinig-
keit« begnügen oder mit 10 Pfennigen für jede Finderin, anspruchs-
voller jene, welche auf 3 Mark oder den vollen Betrag des Fundes
als Lohn für ihre Ehrlichkeit rechnen. Am besten macht sich die
Tugend in folgender Darstellung bezahlt: »Man kann sich wohl
unsere Freude denken. Was nun tun? Käthchen schlug vor, es
den Eltern zu bringen. Mein kleiner Bruder hüpfte vor Freude um-
her. Er dachte, wir könnten es behalten. Doch Vater sprach ernst:
IE
20 A. Abhandlungen.
Pr oce o 70 ee
‚Ich werde es auf das Fundbureau bringen‘ Nach drei Tagen
klopft cs bei uns. Ich öffne Ein Herr steht mir gegenüber und
wünscht unsern Vater zu sprechen. Er stellte sich vor und erzählte
uns, dafs er das Fünfmarkstück verloren habe, welches ein teures
Andenken von seiner verstorbenen Mutter sei. Er bedankte sich
vielmals und schenkte mir für meine Ehrlichkeit, wie er sagte, ein
Zehnmarkstück, welches ich mir mit Käthchen teilte. Am Weihnachts-
abend kommt der Postbote und bringt ein grolses Paket. Wir öffnen
es. Es enthält lauter schöne Gaben von dem fremden Herrn. Wir
freuten uns sehr. Zu unterst lag ein Brief, in welchem er uns noch
einmal dankte und mit den schönen Worten schlols: ‚Ehrlichkeit
währt am längsten !'«
Vielleicht verdient bei dieser Gelegenheit auch der Umstand
Erwähnung, dafs die Kinder den wertvollen Fund vielfach ohne jede
ernste Prüfung dem ersten Besten, der sich meldet, oder der nach
einem verlorenen Gegenstand sucht, anbieten. Eine Schülerin schreibt:
»Meine Freundin redet mir zu, es doch zu behalten. Ich nehme es
und frage einer jeden (sic!) Person, ob es ihr gehört. Da seh’ ich
eine Frau, die irrt umher und sucht. Ich gehe zu ihr und frage
sie, ob ihr das Portemonnaie gehört.«
28 Kinder schlagen entweder selbständig oder im Auftrage der
Eltern den richtigen Weg ein, den Fund der Polizei (dem Schutz-
mann, dem Fundbureau) anzuzeigen bezw. auszuliefern.!)
Für Nichtrückgabe des Fundes entscheiden sich, wie oben an-
gedeutet, 28 Kinder. Ihre Motive sind nicht weniger verschieden-
artig, ihre Reflexionen nicht weniger interessant als die der zuerst
besprochenen Gruppe. Wie unter den positiv antwortenden Schüle-
rinnen hinsichtlich der angedeuteten sittlichen Triebfedern deutlich
eine Skala zu bemerken ist, die etwa von jenem Kinde anhebt, das
»notgedrungen« das Geld zurückgibt, weil es sich keiner strafbaren
Handlung schuldig machen und vor den Menschen ehrlich bleiben
will, und jenen andern, welche beträchtlichen materiellen Vorteil von
ihrer Ehrlichkeit erwarten, und bis zu den unbewulsten Schülerinnen
!) Der bezügliche $ 965 des bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich
lautet: »Wer eine verlorene Sache findet und an sich nimmt, hat dem Verlierer
oder dem Eigentümer oder einem ‘sonstigen Empfangsberechtigten unverzüglich An-
zeige zu machen.
Kennt der Finder die Empfangsberechtigten nicht oder ist ihm ihr Aufenthalt
unbekannt, so hat er den Fund und die Umstände, welche für die Ermittlung des
Empfangsberechtigten erheblich sein können, unverzüglich der Polizeibehörde anzu-
zeigen. Ist die Sache nicht mehr als 3 Mark wert, so bedarf es der Anzeige nicht. «
Vergl. auch die folgenden $8.
m
Gızyckı: Wie urteilen Schulkinder über Funddiebstahl? 21
des grofsen Kant emporsteigt, die, dem kategorischen Imperativ gc-
horchend, aus Pflichtgefühl jede Belohnung zurückweisen, so
müssen wir auch im Urteil derjenigen Kinder, welche die Rückgabe
des Geldes ablehnen, in sittlicher Hinsicht wichtige Wertunterschiede
konstatieren.
Eine eigene, durch viele Grade von den Anschauungen der übrigen
getrennte Stellung nehmen die fast anormalen Äufserungen jenes
Kindes ein, welches das Geld in der Tasche der Mutter »findet« und
dasselbe ohne Bedenken auf dem Weihnachtsmarkt vergeudet, ob-
gleich es selbst von der Voraussetzung ausgcht, dafs zu Hause Not
herrscht und der Vater keine Arbeit hat.
Für die Beurteilung der übrigen negativen Entscheidungen ist
in erster Linie die Verwendung des Geldes mafsgebend. Ein Fall,
in dem ein Kind das gefundene Geld leichtsinnig vernaschte, ohne
daran zu denken, andern eine Freude zu bereiten, müfste natürlich
ganz anders beurteilt werden als cin anderer, in dem der Fund etwa
zur Linderung häuslicher Not diente. Erfreulicherweise läfst sich
konstatieren, dafs abgesehen, von dem bereits erwähnten anormalen
Falle, eine rein selbstsüchtige Verwendung des gefundenen Geldes in
keinem Aufsatz geschildert wird. Wenn auch die Kinder mehrfach
für sich Geschenke einkaufen, so denken sie doch immer auch an die
Wünsche und Bedürfnisse ihrer Licben.
Was das Begehren der Kinder selbst erregt, was sie Eltern und
Geschwistern vom Weihnachtsmarkte mitbringen, ist vielfach charakte-
ristisch für das Urteil und die Geschmacksrichtung unserer Volks-
schulkinder. Im ganzen sind ihre Wünsche bescheiden und meist
auf nützliche Dinge gerichtet. Die Schilderung des Weihnachts-
marktes mit seinen reich gefüllten Buden gibt ihnen die rechte Ge-
legenheit, auf die Herrlichkeiten einzugehen, welche sie besonders
reizen, trotzdem aber werden Süfsigkeiten und Näschereien fast niemals
eingekauft; dagegen beschert man dem Vater Pantoffeln, eine Unter-
jacke und eine lange Pfeife, der Mutter Tassen, Nippsachen, warme
Schuhe, eine Deckc, dem Brüderchen ein kleines Pferd, dem Schwester-
chen Schürzen, ein Püppchen und Pfefferkuchen. An sich selbst
denken die Finderinnen gewöhnlich zuletzt, aber cs bleibt nach den
übrigen Einkäufen wohl noch soviel übrig, um eine Schürze und Material
für eine Handarbeit zu kaufen oder »für den Rest von 1,50 M« ein
Weihnachtsbäumchen und cin paar Lichte zu erstehen.
Die meisten Kinder, 17 von 28, wollen den Fund oder die dafür
gekauften Geschenke den Eltern mitbringen, rechnen darauf, dafs sie
sich aufrichtig freuen, und dafs sie selbst eventuell die erforderlichen
292 A. Abhandlungen.
Einkäufe besorgen werden. Ihnen fehlt jede mala fides. Sie schil-
dern im guten Glauben, was sie für recht halten, und sind sich der
Zustimmung der höchsten weltlichen und göttlichen Autoritäten sicher.
Es ist bemerkenswert, dafs gerade bei dieser Gelegenheit mehrmals
das religiöse Empfinden der Kinder deutlich hervorbricht, indem sie
Gott für die gnädige Fügung ihren Dank aussprechen. So schliefst
eine Schülerin ihren Aufsatz mit den Worten: »Fröhlich und glück-
lich ging ich nach Hause. Ich erzählte den Vorfall mit dem Porte-
monnaie meinen Eltern, zeigte ihnen meine Schürze und gab ihnen
das übriggebliebene Geld. Als ich am Abend schlafen ging, dankte
ich dem lieben Gott für alles, was er heute an mir getan hatte.«
Eine andere erzählt: »Wir teilten uns das (Geld) beide, und jeder
(sic!) kaufte eine Kleinigkeit für ihre Mutter. Ich kaufte meiner
Mutter kleine Nippsachen und noch anderes. Als ich es meiner
Mutter mit nach Hause brachte, fragte sie, wo ich das Geld her habe.
Da erzählte ich ihr den Vorgang. Sie freute sich aber sehr darüber
und sprach: ‚Dafür müssen wir Gott danken, was er uns heut ge-
tan hat'.«
Aber doch nicht alle Kinder, welche den Fund behalten, fühlen
sich in ihrem Gewissen so ganz beruhigt. Wie unter der ersten
Gruppe der sich für Rückgabe des Fundes entscheidenden Kinder
eine Anzahl war, welche in der Ablieferung auf der Polizei gewisser-
malsen nur einen ersten Schritt zur definitiven Besitzergreifung des
Fundes erblickte, da sich der Verlierer nicht ermitteln hiefs, so findet
sich auch hier ein Kind, welches sich bewufst ist, dafs der Fund von
rechtswegen dem Verlierer zurückgegeben werden müfste; es be-
gnügt sich aber im Einverständnis mit seiner Mutter mit einigen
oberflächlichen privaten Erkundigungen und wartet ein wenig, ob
sich der Verlierer nicht von selbst melden wird, dann erklärt es
aber: »Als sich jedoch niemand zeigte, teilten wir uns das Geld.«
Auch in andern Fällen dienen die Recherchen nach dem Ver-
lierer bei ihrer ganz ungenügenden Gründlichkeit offenbar nur dazu,
um das Gewissen der Finderin zu beruhigen. Wie jene Kinder der
positiven Gruppe das Geld ohne Vorsicht leichtsinnig der ersten besten
Person aushändigsen, die Anspruch auf den Fund erhebt, so stecken
diese Kinder nach ebenso oberflächlicher Nachfrage das Geld in die
eigene Tasche, da sich der Verlierer nicht sogleich meldet.
Selbst das Motiv des Mitleids läfst sich, wenn auch schwach an-
gedeutet. bei den negativ entscheidenden Kindern, allerdings hier als
erschwerender Umstand, nachweisen. Mitleid ist in einem Falle vor-
handen, wird aber, wie die andern sittlichen Impulse, von der Selbst-
si
Gızyrckı: Wie urteilen Schulkinder über Funddiebstahl? 253
sucht überwunden. Es heifst in dem betreffenden Aufsatz: »Voller
Freude ging ich nach Hause und erzählte es meiner Mutter. Diese
war darüber auch sehr erfreut, aber sie sagte doch: ‚Wenn es man
nur kein Armer verloren hat!‘ Am andern Tage gab mir meine
Mutter 10 Pfennig. Dafür konnte ich mir etwas kaufen.«
Komplizierter ist ein letzter Fall dieser Art. Es heifst dort.
»Meine Freundin redete mich (sie!) zu, es doch zu unnützen Sachen
zu gebrauchen, aber ich wollte etliche Personen fragen, ob es ihnen
gehöre. Meine Freundin sagte aber, dann könnten ja alle sagen, es
gehöre ihnen. Schliefslich sagte ich es auch selber. Ich denke an
unser eignes Elend, an die Mutter und die kleinen Geschwister. Wir
machen uns auf den Heimweg, wo ich, zu Hause angelangt, meiner
Mutter das Geld abgab.«< Die Momente, welche hier in Betracht
kommen, sind: das tatsächlich vorhandene Gefühl des Unrechtes, das
die Finderin begehen will — die Freundin als erfolgreiche Verführerin,
wodurch die Erzählerin gewissermafsen ihre Schuld mildert — der
an sich richtige Einwand gegen die wahllose, leichtfertige Abgabe des
Fundes, welcher die Abgabe überhaupt verhindert (da sich der rechte
Verlierer augenblicklich nicht ermitteln läfst, so bleibt nichts übrig,
als das Geld zu behalten) — der Gedanke an die eigene Not, an
Mutter und kleine Geschwister — die Selbstverleugnung des Kindes,
welches das Geld nicht zu unnützen Ausgaben für sich verwendet,
sondern es der Mutter ausliefert. Wer erkennt in diesen kindlichen
Gedankengängen nicht jenes Gewebe von Trugschlüssen und »stich-
haltigen Gründen«. wieder, das uns Erwachsene so oft umgarnt und
auf dem rechten Wege zurückhält. Wie oft schieben nicht auch wir
die Schuld auf den bösen Ratgeber, wie oft, wenn es gilt, eine
schwere Pflicht zu erfüllen, sprechen nicht auch wir: »Erstens ist cs
überhaupt unmöglich, zweitens würde ja der Unrechte davon Vorteil
haben, drittens mufs ich zunächst an mich und die Meinen denken,
viertens handle ich doch wenigstens selbstlos und überlasse «die end-
gültige Entscheidung einer höheren Instanz.<
Es wäre jedenfalls sehr vorcilig, wenn man aus der unter solchen
Umständen gefällten Entscheidung eines einzelnen Casus conscientiae
einen Schlufs auf die sittliche Qualität der einzelnen Kinder, auf
ihre Erziehung und auf das Milieu ziehen wollte, aus welchem sie
hervorgegangen sind. |
Die Beurteilung cines einzelnen Falles kann uns gewifs man-
cherlei Anregungen zum Nachdenken bieten, aber sie wird niemals
die Basis zu so weitreichenden Schlußsfolgerungen abgeben dürfen.
A. Abhandlungen.
| W
NG
Gerade über das Fundrecht herrschen, wie wir uns durch Rücksprache
mit Männern und Frauen besonders der ungebildeten Gesellschafts-
klassen unseres Volkes täglich ohne Mühe überzeugen können, in
vielen Kreisen zum Teil recht verworrene und irrige Anschauungen.
Gleichwohl können die einfachen hier mitgeteilten Tatsachen zum
Ausgangspunkt von Reflexionen auf verschiedenen praktischen und
wissenschaftlichen Gebieten gemacht werden. — Den Ethiker ver-
anlassen sie vielleicht zu Betrachtungen über die verschiedene Kraft
und Wirksamkeit der einzelnen moralischen Sanktionen. Dem Straf-
rechtslehrer, dem Pädagogen, dem Verwaltungsbeamten wird die Tat-
sache zu denken geben, dafs sich unter 69 Mädchen, die in Kürze
die Schule verlassen sollten, eine so grofse Anzahl über ein einfaches
Rechtsproblem, das jeder von ihnen täglich praktisch entgegentreten
und vielleicht ihre ganze Zukunft entscheiden konnte, in Unkenntnis
war. Wer die ernste Tatsache des Anwachsens des jugendlichen
Verbrechertums in Erwägung zieht, dem wird sich hierbei vielleicht
die Frage aufdrängen: Liefse sich dieser traurigen Erscheinung nicht
bis zu einem gewissen Grade dadurch begegnen, dafs man, ähnlich
wie es bei andern Nationen z. B. in Frankreich geschieht, den not-
wendigsten Rechtsbelehrungen in dem Lehrplane der Volksschule
eine Stelle einräumte, damit die ins Leben tretenden jungen Menschen
wenigstens vor dem unverdienten schrecklichen Schicksal bewahrt
bleiben, sich aus bloßser Unkenntnis in den eisernen Maschen des
Strafrechts zu verfangen? Wissen wir doch alle, dafs, wer einmal
dem Strafrichter verfallen ist, sich nur selten von seinem Falle völlig
erhebt und häufig genug früher oder später unter der Schar der
Rückfälligen von neuem auf der Anklagebank erscheint.
Einen wesentlich andern Standpunkt nimmt den angeführten
Tatsachen gegenüber der wissenschaftliche Psychologe ein. Ihn
interessieren möglicherweise weniger die aus dem geschilderten Ver-
such zu gewinnenden ethischen Resultate oder volkswirtschaftlichen
Schlulsfolgerungen als die Methode der Untersuchung selbst. Seine
Frage lautet vielleicht: »Inwieweit und unter welchen Voraussetzungen
ist der Schüleraufsatz ein Mittel zur Erforschung des kindlichen
Seelenlebens?«
Wenn auch diese immerhin schwierige Frage hier nicht be-
antwortet werden kann, so will ich doch versuchen, einige Momente
hervorzuheben, welche im vorliegenden Falle die Lösung der Auf-
gabe begünstigten und die Erzielung eines zuverlässigen Resultates
ermöglichten.
Zunächst wurde, soweit ich es beurteilen kann, die wichtigste
Gızrck1: Wie urteilen Schulkinder über Funddiebstahl ? 95
Vorbedingung für jede exakte psychologische Beobachtung dieser Art
erfüllt. Die völlige Unbefangenheit und Selbständigkeit der befragten
Personen wurde durch geeignete Vorsichtsmafsregeln in hohem Grade
gewahrt. Keins der Kinder war auf das Thema vorbereitet, keins
konnte mit einem andern verkehren, keins erhielt irgend welche, auf
die Lösung des Problems bezügliche Andeutungen. Die auf diese
Weise erzielte aufsergewöhnliche Selbständigkeit der Bearbeitung ver-
riet sich denn auch nicht blofs in der Behandlung des ethischen
Problems sondern auch in der durchaus individuellen Gestaltung
des Satzbaues, der Orthographie und der Interpunktion. Nicht zwei
Aufsätze unter 69 boten einen gleichlautenden Abschnitt dar, obgleich
die Entwicklung des Themas durch die Disposition ziemlich genau
vorgezeichnet wurde.
Ein einziges Wort des Lehrers, die kleinste Andeutung einer
Parteinahme für die eine oder die andere Lösung würde das Ergeb-
nis der ganzen Arbeit jedes wissenschaftlichen Wertes beraubt haben.
Eine Untersuchung derart kann daher mit Nutzen nur von solchen
Personen ausgeführt werden, welche kein anderes Interesse als das
der lauteren Wahrheit haben. Eine solche Untersuchung läfst sich
aber auch nicht zweimal in einem engumgrenzten Zeitraum und Be-
zirke wiederholen. Jeder Versuch dieser Art hat eine Anzahl von
privaten Versuchen und Unterweisungen ad hoc zur Folge, welche
die Unbefangenheit aller Beteiligten beeinträchtigen.
Eine grofse Schwierigkeit bietet die Auswahl des rechten Themas.
Es ist nicht leicht, cine so klar umrissene, leichtverständliche Situation
ausfindig zu machen, wie sie der französische Prüfungsaufsatz darbot.
Es dürfte selten vorkommen, dafs ein gestelltes Thema ohne jede
Vorbereitung von 69 Kindern (mit nur einer Ausnahme) völlig
richtig aufgefalst und dargestellt wird. Unsere Aufgabe hatte den
Vorzug grolser Anschaulichkeit und einer klaren Fixierung cines
sittlichen Problems, das einerseits dem Verständnis der Kinder nahe-
liegt, andrerseits doch nicht in den herkömmlichen Lesebuchstoffen
und Religionslcktionen allzuoft abgehandelt wird.
Besondere Vorzüge des Themas sind ferner die Reichhaltigkeit
der sich darbietenden möglichen Lösungen und die Einführung der
Person der Freundin, welche teils als gute oder böse Ratgeberin auf-
treten, teils auch blofs als dramatische Person Verwendung finden
konnte, um der sittlichen Reflexion die anschaulichere und stilistisch
leichter zu handhabende Form der Wechselrede darzubieten.
Als Aufgabe der schriftlichen Darstellung durfte das Thema nicht
zu schwierig sein und mufste der Leistungsfähigkeit der Kinder völlig
26 B. Mitteilungen.
entsprechen. Hätte der Aufsatz rein äufserlich durch Umfang oder
Verwicklung der Situation an die Arbeitskraft der Kinder zu hohe
Anforderungen gestellt, so würde sich jedenfalls am Schlusse in Er-
matten bemerkbar gemacht haben, was vielleicht in der Tat bei
einigen schon jetzt der Fall gewesen ist, vor allen Dingen würde
aber wahrscheinlich gerade die Ausführlichkeit der sittlichen Re-
flexionen, das schwierigste Gebiet des Aufsatzes, dadurch verkümmert
worden sein.
Zum Schlufs möge noch auf den Umstand hingewiesen werden,
dafs die Kinder, welche sich für Rückgabe des Fundes aussprachen,
also im ganzen ein reiferes sittliches Urteil bekundeten, meistens
auch die grammatisch und stilistisch wertvolleren Arbeiten lieferten,
während die andern gröfsere Unbeholfenheit im Ausdruck verrieten,
eine grölscre Anzahl von groben Sprachfehlern machten und auch in
der praktischen Beurteilung der Situation geringere Lebenserfahrung
und Umsicht an den Tag legten.
EANNA N II NINI men?
B. Mitteilungen.
1. Psychologische Beobachtungen an einem Kinde.
Von Adolf Rude in Nakel a. d. Netze.
Die hier verzeichneten Beobachtungen habe ich an meiner Tochter
Lucie vom Beginn ihres dritten bis zum Schlusse des sechsten Lebens-
jahres gemacht. Durch äufsere Umstände war ich verhindert, die Be-
obachtungen bald nach Lucies Geburt zu beginnen. Auch beschränken sich
meine Beobcehtungen im ganzen auf das Vorstellungsleben. Diese Mängel
erzeugten in mir das jahrelange Bedenken, das gesammelte Material zu
veröffentlichen. Schlielslich kam ich aber doch zu der Ansicht, dafs es
immerhin des Interessanten genug bietet, was die Veröffentlichung zu
rechtfertigen geeignet sein dürfte.
3. Lebensjahr:
Erster Monat: Sprachliches: Lucie bemüht sich nachzusprechen, was
ihr vorgesprochen wird. Die Endsilbe »en« spricht sie »e« aus: Küche
(e kurz), schlaf, ess@, habd, kommč, schreibe Statt Kragen sagt sie:
Kach@. -— Das »f« kann sie nicht aussprechen; statt Fisch sagt sie: Hifs.
Statt ja sagt sie öfters la. Chokolade kürzt sie in Lade, Musik in Siek
ab. — Sie sagt: Mama ihr Kleid (so sagen in unserer Gegend auch un-
gebildete Erwachsene), ferner: meine ihr Kleid (statt mein Kleid). Das
Mein ist ihr noch nicht pronomen possessivum.
Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. 27
Der Nachahmungs- und der Tätigkeitstrieb offenbaren sich.
L. geht mit einem Staublappen an die Möbel heran und tut, als ob sie
dieselben abstaube. Sie geht fast an jedem Abende sehr ungern zu Bette.
Doch kann man sie leichter dazu bewegen, wenn man sie versuchen läfst,
sich selbst zu entkleiden. Hilfe gestattet sie dabei nicht; sie sagt: »Kann
L. selbst Jacke ausziehe.« Sie spielt gern (auch noch in späteren Jahren)
mit den Münzen meiner Sammlung, legt sie in annähernd geraden Reihen,
im Bogen hin. Sie breitet mit Vorliebe Decken aus, legt sie auf den
Teppich, das Bett, den Stuhl etc. Wenn sie mir die bequemen Haus-
schuhe zum Anziehen bringen darf, dann unterbricht sie sich gern in jedem
Spiele. Sie hilft mir die Gamaschen ausziehen, glaubt, es allein getan
zu haben und freut sich darüber. Dann trägt sie dieselben ohne jede
Aufforderung zu dem Dienstmädchen und sagt: »Minna, putlse!« — Sie
geht an die Tür. Ich frage: »Wohin willst du gehen?« Antwort: »Adä,
[sule!« (das heifst: Weg, in die Schule). Dann geht sie wieder an die
Tür und sagt: »Schiep, schiep kaufe« (Hühnchen kaufen), kommt wieder
und grülst: »’n Tach!« Dieses tut sie sehr oft hintereinander, ohne
dessen müde zu werden. Wir haben es hier mit einem durch die
Phantasie gelenkten und gedeuteten Handeln zu tun. Auch
sehen wir, dals Tätigkeit das geistige Lebenselement des Kindes ist.
Überlegung. Verbot und Verbietender. L. ifst sehr gern Obst,
darf aber nicht viel davon essen. In der Küche sind Äpfel geschält
worden. L. möchte nun gern die Schalen essen, weils aber, dafs die
Grolsmutter es ihr nicht erlauben würde. Deshalb sucht sie dieselbe zu
überreden: »Omama, tube gehn!« (Grofsmama, geh’ in die Stube!). L. spielt
sehr gern mit Büchern, am liebsten mit Bilderbüchern; diese nimmt sie
sogar ins Bett mit. Sie weils eine Anzahl abgebildeter Tiere richtig zu
benennen, auch die Maus. Als sie aber zum erstenmal eine lebende Mans
(und zwar in der Falle) sieht, sagt sie: »Vogel«. Vielleicht hat sie die
Drahtfalle an den Drahtkäfig des Kanarienvogels erinnert. Für ein im
Unterscheiden ungeübtes Kinderauge mag auch die Maus Ähnlichkeit mit
einem Vogel haben, wie auch die Grölse nicht sehr verschieden war.
Bilderkenntnisse sind auch bei grölseren Kindern noch keine Sachkenntnisse.
Reproduktion. L. kommt in mein Zimmer, um mir gute Nacht
zu wünschen. Sie sagt: »Lunt’n Ude (später Lutlsi Ude) kommt an.«
Als sie weggeht, laufe ich ihr nach, um sie im Scherze zu haschen.
Beim Fliehen stölst sie sich. An den nächsten Abenden sieht sie sich
nach dem Abschiede beim Weggehen fortwährend um und sagt: »Papa,
nich geife (greifen), nein?« Das sagt sie nur abends.
Scharfe Auffassung. Gedächtnis. Auf dem Bücherregal meines
Schreibtisches stehen die Büsten von Herbart und Comenius. Einmal hat
L. von mir den Namen Herbart unter Hinweis auf die Büste gehört.
Seitdem vergilst sie ihn nicht, weils die Büste Herbarts auch sehr wohl
von der des Comenius zu unterscheiden. Ich vertausche einmal absichtlich
den gewöhnlichen Standpunkt beider. L. zeigt aber, als ich den Namen
Herbart ausspreche, richtig auf dessen Büste.
Apperzeption. Auf einem Stich der Rafaelschen Sixtinischen
38 B. Mitteilungen.
Madonna bezeichnet L. auf meine Fragen: »Wer ist das?« die Personen
folgendermalsen: Engel, Engel (sie erkennt sie an den Flügeln), Tante
(h. Barbara), Onkel (h. Sixtus), Tante (Maria), Erwin (so heifst ihr kleines
Brüderchen — Jesusknabe). Früher bezeichnete sie jede Frau als Tante,
jeden Mann als Onkel.
Gefühlsäufserungen. Anufser den Eltern hat sie das Dienst-
mädchen sehr lieb, möchte stets bei ihm bleiben. Ebenso hat sie ihr
2—3 Wochen altes Brüderchen sehr lieb, külst ihm die Hände. Am
liebsten möchte sie es wie ihre Puppe herumtragen. Als ihr sein Name
Erwin nur einmal genannt wird, vergifst sie ihn nie mehr. Sie spricht
ihn »&win« aus. L. hört gern Musik. Sie bittet, die Mama möchte die
Spieldose spielen lassen: »Siek!«
Reproduktion und Apperzeption. L. sieht einen Chausseestein
mit Ziffern und sagt: »Omama I[seibe« (Grolsmama schreiben). Sie hat
schon einen Begriff des Eigentums. Sie sagt: Mein Buch, meine
Omama, mein Erwin etc. Ich sage einmal darauf: »Nein, mein Erwin!«
Da überlegt sie ein wenig und erkennt dann mich grofsmütig als Mit-
besitzer an mit den Worten: »Beide mein Erwin, ja?« Als Evastochter
putzt sie sich gern und sieht sich gern schön angezogen. Dann kommt
sie gleich an und zeigt mir das neue Kleidchen, die neue Schürze, wenn
diese Sachen auch gar nicht mehr neu, aber doch schön sind. Das Neue
ist kleinen Kindern zumeist schön.
Empfindungswort. L. ist sehr empfindlich. Wenn sie sich stölst,
dann sagt sie: Aua (früher awa).
Apperzeption. Sie sieht Seiltänzer sich produzieren und sagt:
»Puppe tanze!« — L. fragt oft: »Wie spät ist es?« und beantwortet sich
selbst immer die Frage mit: »9 Uhr.« Doch ist dies wohl nur der be-
scheidene Anfang der Bildung einer Zeitvorstellung.
Verwechselung der Zeitbestimmungen. Sie wird gefragt, wie
alt sie sei, und antwortet: »6 Uhr.« Sie versteht die Frage nach dem
Alter nicht, will unverstanden nachsprechen, was ihr vorgesprochen worden
ist (2 Jahre), 2 und 6 kennt sie als Zahlen, Uhr und Jahr klingt ähnlich,
daher wohl die Antwort: »6 Uhr.«
Sinnliches Begehren. L. möchte gern Butter essen, soll es aber
nicht. Sie verlangt sie jedoch andauernd. Da verbiete ich auch dieses.
Nun flüstert sie die Bitte der Mutter ins Ohr. Sie weils, dafs ich es
dann nicht höre. Regung von Ungehorsam.
(Forsetzung folgt.)
2. Zur Frage des jugendlichen Verbrechertums.
Von J. Trüper.
Ich habe wiederholt, in unserer Zeitschrift sowie in dem Beitrage
»Zur Erziehung unserer sitttlich gefährdeten Jugend«!) und in
') Beiträge zur Kinderforschung. Heft V. Langensalza, Hermann Beyer &
Söhne (Beyer & Mann), 1900.
Zur Frage des jugendlichen Verbrechertums. 29
dem Vortrage: »Die Anfänge der abnormen Erscheinungen im
kindlichen Seelenleben « !), darauf hingewiesen, dafs das Problem des
jugendlichen Verbrechertums im Interesse der Zukunft unserer Volks-,
Arbeits- und Wehrkraft, unserer sittlichen und geistigen Kultur immer
dringender eine Lösung erheischt.
In einer unlängst erschienenen Schrift (»Die Jugendlichen in der-
Sozial- und Kriminalpolitik« bei Gustav Fischer, Jena) behandelt der Sozial-
politiker Arthur Dix auf Grund eines reichen einschlägigen Materials die
Kriminalität der Jugendlichen und kommt dabei ebenfalls zu Ergebnissen,
die uns die ganze Furchtbarkeit des augenblicklichen Zustandes erkennen lassen.
In einem Jahre werden jetzt ungefähr 50000 Personen im Alter
zwischen 12 und 18 Jahren gerichtlich bestraft. Während im Jahre 1882
auf 100000 der jugendlichen Zivilbevölkerung erst 568 Verurteilungen
entfielen, waren es im Jahre 1899 über 700. Der gröfste Teil davon ent-
fällt auf Diebstahl und Unterschlagung. Aber Hand in Hand mit der
Zunahme der Bestrafung wegen Eigentumsvergehen geht auch cine Zu-
nahme der Bestrafungen wegen Körperverletzung. Auf 1000 Verurteilungen
Jugendlicher im Jahre 1882 kommen 110 wegen Körperverletzung, im
Jahre 1899 bereits 191. Noch schlimmer ist die Zunahme der rück-
fälligen Jugendlichen. Es erfüllt mit Schrecken, dals cs im Jahre 1899
bereits rund 9000 Personen zwischen 12 und 18 Jahren gab, die
mindestens zum zweiten Male bestraft wurden. Es gab unter ihnen 5485
einmal Vorbestrafte, 1870 zweimal Vorbestrafte, während der Rest dreimal
und öfter vorbestraft war, 1899 also schon mindestens die vierte Strafe
erlitt. Und es wächst nicht blols die Zahl der Vorbestraften, sondern
auch die Zahl ihrer Vorstrafen: im Jahre 1899, seit welcher Zeit diese Er-
mittlungen betrieben werden, gab es 64 Jugendliche, die mindestens zum
siebenten Male bestraft wurden, 1899 schon 177.
Auffällig mag es auf den ersten Blick erscheinen, dafs die Jugend
der Grolsstädte, speziell auch die der Reichshanptstadt, bei den Roheits-
delikten einen wesentlich geringeren Prozentsatz stellt, als die Landjugend.
Dafür ist sie um so mehr bei den Vergehen gegen das Eigentum beteiligt,
und gerade aus dieser Kategorie von Verbrechern rekrutiert sich das ge-
werbsmälsige Verbrechertum. Von diesen berufsmälsigen Verbrechern hat
nahezu ein Drittel diese Laufbahn vor dem 18., der überwiegende Teil
des Restes in den unmittelbar folgenden Lebensjahren begonnen. Eme
Hauptrolle spielt dabei ohne Zweifel die Störung des Familienlebens, das
starke Fluktuieren der jugendlichen Bevölkerung und die ausgedehnte
Fabrikarbeit der Frauen, unter der die Erziehung von Anfang an wesent-
lich leiden muls. Am besten erkennt man die Wirkung der mangelnden
Familienbande daran, dafs von den gewerbsmälsigen Verbrechern ein Neuntel
unehelich geboren, ein Drittel vor dem 14. Lebensjahre Waise geworden ist.
Aus diesen Tatsachen erwächst auch uns die Pflicht, ım neuen
Jahrgange unserer Zeitschrift uns aufs neuc mit der Psychologie wie mit
der Behandlung des jugendlichen Verbrechertums zu beschäftigen und ins-
1) Verlag von Oskar Bonde in Altenburg. 1902.
30 B. Mitteilungen.
besondere die auch für Haus und Schule so bedeutungsvollen Anfänge
und Ursachen aufzudecken.
Für diese Nummer, die bereits eine lehrreiche Abhandlung über den
Funddiebstahl bringt, möchte ich zunächst auf ein paar entwicklungs-
geschichtliche Umstände im Leben von Mördern hinweisen,
welche im letzten Jahre unser Thüringen in grofse Aufregung versetzten.
Am 3. Juli wurde von Behnert, Fousse und Goldschmidt am hellen
Tage um 11 Uhr vormittags in Jena in einer belebten Stralse in einem
offenen Laden ein Raubmord begangen. Eine Althändlerin wurde mit
einem Maurerhammer zu Boden geschlagen und beraubt. Und in zahlreichen
andern Städten sollte das, was sie hier vollbrachten und was ihnen bereits
zuvor in Leipzig gelungen war, wiederholt werden. Die Entwicklungs-
geschichte der beiden ersten wurde nach den Berichten der Tagespresse
nicht weiter festgestellt. Bedeutsam aber ist es, dafs Behnert, der Führer,
der uneheliche Sohn einer Kelinerin, das Produkt des Kneipen-
lebens war.
Über Goldschmidts Entwicklung, deren Zurechnungsfähigkeit an-
gezweifelt wurde, offenbarte die Gerichtsverhandlung folgende psycho-
pathologisch interessante und heilpädagogisch lehrreiche Tatsachen :
Die Eltern des Angeklagten trieben erst einen Obst-, später Holz-
handel. Sie hatten 10 Kinder, von denen 4 am Leben sind. Der Vater
Goldschmidts war ein Trinker. Die Kinder haben meist die englische
Krankheit gehabt und litten an Epilepsie. Der Angeklagte lernte erst nach
dem dritten Jahre gehen. Geistig blieb er zurück, lernte sehr schwer,
war leicht erregbar, jähzornig und grausam, dabei aber frech und faul.
Er ist also alkoholistisch erblich belastet und von Geburt debil.
Deshalb kam er in das Pestalozzistift, wo er drei Jahre bis zur Konfirmation
verblieb. Als er sechs Wochen bei einem Bäcker in der Lehre war, jagte
dieser ihn fort wegen Faulheit, Frechheit und Dummheit. Dann arbeitete
er kurze Zeit in einer Glasfabrik und kam hierauf zu einem Schornstein-
feger in die Lehre. Hier blieb er 21/, Jahre, ohne die Lehrzeit zu voll-
enden, und ist dann auf Wanderschaft gegangen. Das Jahr darauf (1894)
fiel er der Dresdener Polizei in die Hände Mit einer schweren Kopf-
wunde kam er ins Krankenhaus. Er soll mehrmals Kopfverletzungen ge-
habt haben, auch mit Krämpfen behaftet gewesen sein. Hierfür hat sich
bei seinem spätern Aufenthalt in der Irrenanstalt nichts erweisen lassen,
Nur einmal ist er einem ÖOhnmachtsanfall erlegen, was vielleicht auf epi-
leptische Veranlagung schlielsen lassen könnte. Dagegen haben Scharlach,
Blattern, Masern und Diphtherie nebst den Kopfverletzungen das geistige
Nivean des Angeklagten noch mehr herabgedrückt. An Wahnideen hat er
aber nie gelitten. Seine bösen Eigenschaften entwickelten sich immer mehr.
Er war streitsüchtig und prahlerisch, spielte aber, trotzdem er schon ein
grolser Mensch war, gern mit kleinen Kindern. Gegen die Aufseher der
Anstalt war er unbotmälsig, so dafs ihn keiner mehr zur Arbeit haben wollte.
Bei den Ärzten zeigte er sich unterwürfig, um seine Stellung zu verbessern.
Die Charakteranlagen erkennt man aus einzelnen Vorgängen ganz genau.
Eine Katze sperrte er mehrere Stunden lang in einen Tischkasten. Seine
Zur Frage des jugendlichen Verbrechertums. 31
Mitkranken und Stralsenpassanten bewarf er mit Steinen, einem andern
Kranken versuchte er einen Nagel in den Kopf zu treiben. Den Ermah-
nungen setzte er die ständige Redensart entgegen: er sei im Irrenhause,
da könnte man ihm nichts tun. Gern las er Zeitungen. Schliefslich kam
er in die Abteilung der Unruhigen. Im Februar 1899 konnte er jedoch
als gebessert entlassen werden, d. h. seine Reizbarkeit hatte nachgelassen
und es genügte nunmehr die Unterbringung in eine Arbeitsanstalt. Geheilt
war er nicht, kann’s auch nie werden, denn Schwachsinn ist unheilbar,
sagte der psychiatrische Sachverständige Dr. Näcke. Der Freiheit, auch
zur Ausübung verbrecherischer Handlungen, wurde der Psychopath aber
dennoch übergeben.
In dieser Vererbung des Vaters und der Entwicklung des Sohnes
Goldschmidt offenbaren sich alle Hauptprobleme des jugendlichen Ver-
brechertums wie die Unzulänglichkeit, mit den bisherigen Malsnahmen die
Entwicklung der verbrecherischen Neigungen zu hemmen und die Gesell-
schaft vor ihren gefährlichsten Gliedern auch nur entfernt zu schützen.
Wir bedürfen in dieser Frage weitgehender und tiefgreifender
sozial- und individual-erzieherischer Maflsnahmen.
Doch noch an einem dritten Beispiel aus »gebildeten«, akademischen
Kreisen sei das veranschaulicht.
Ein Jahr früher stand vor demselben Schwurgericht in Gotha. der
stud. jur. Fischer wegen Brantmord.
Auch seine Entwicklung enthüllt uns das ganze Problem des jugend-
lichen Verbrechertums und wirft zugleich ein grelles Licht auf die Duld-
samkeit der Regierungs- und Gelehrtenkreise, die an unsern deutschen Uni-
versitäten noch immer sehr zart behandeln, was Giordano Bruno schon
mit folgenden Worten charakterisierfe: »An den deutschen Universitäten
wird das Schwein der Schweine als Fürst der Toren bejubelt.« Man sagt:
»Die Jugend muls sich austoben.« Was das heifst, lehrt eben dieser Fall Fischer.
Der stud. jur. Fischer aus Eisenach ist zwar erblich belastet — die
Mutter litt an Epilepsie, über den Vater verweigert der Hausarzt die Aus-
sage — aber erblich belastet sind auch andere Menschen, die trotzdem mälsig
und keusch leben und für ihre Mitmenschen selbstlose Opfer bringen.
Fischer hatte auch einen angebornen, aber später etwas zurückgegangenen
Wasserkopf, doch ein Helmholtz hatte das auch und leistete Grolses. Eine
grölsere Fähigkeit zum Verbrechertum verleihen vielleicht diese beiden
Momente einem Menschen, aber vielfach nur dann, wenn das Verbreche-
rische zugleich erworben wird.
Was trug dazu bei?
Die Mitschüler verspotteten ihn wegen seiner abnormen Kopfgestalt.
Das machte, dafs er sich vom Verkehr zurückzog und für sich lebte, also
ein Sonderling wurde. Ein Postsekretär machte den Tertianer auf die
Schriften des pathologisch belasteten Schopenhaner und des Geisteskranken
Nietzsche aufmerksam. Sie wurden verschlungen. Die religiös-sittliche
Bildung schöpfte. er aus David Straufs’ und Renans Leben Jesu. So
wurde sein Denkeu und Empfinden abnorm. Als Student in Jena trank er,
wie es andere Verbindungsbrüder ja ebenfalls tun, viel Bier und dazu nicht
——— ee IT
32 B. Mitteilungen.
ganz wenig Schnaps. Aufserdem hat er sehr stark geraucht. Beides ver-
ändert schon bei erblich nicht belasteten Jünglingen das Nerven- und Seelen-
leben und macht sie laster- und verbrecherfähig; wieviel mehr einen be-
lasteten, auch wenn der Psychiater noch keine Zeichen eines Gewohn-
heitstrinkers finden kann. Gelegenheitstrinker sind eben Gelegenheitsüber-
treter göttlicher und menschlicher Gesetze, während die Gewohnheitstrinker
chronische Entarfungen in Gesinnung und Tat bekunden. Im Grunde ist
jedoch jeder Verbindungsbruder zwangsmälsiger Gewohnheitstrinker. Sogar
der Paukarzt, der noch im 17. Semester ein normaler stud. med. sein will,
bezeichnete vor Gericht Fischer als »nicht normal«. Dafs das Kneipen-
leben aber die Hauptursache des Abnormsten im Seelenleben dieses Un-
glücklichen bildete, begreift ein so altes Semester natürlich nicht.
Die Unfähigkeit, das Triebleben zu beherrschen, war die nächste Folge
des Alkoholgenusses. Er war in Jena als »Schürzenjäger« bekannt, und
er belästigte die Exkneipwirtin dermalsen, dafs der Präses der Verbin-
dung, welcher er angehörte, ihm das in ernstester Weise untersagte.
Der Alkoholmilsbrauch hemmt eben das sittliche Urteil und drängt
zum unüberlegten Handeln. wie das »Liebesmahl« in Mörchingen, die
Offiziere auf den Stralsen Insterburgs, der Duellmord Thieme-Held in
Jena und die Arbeiter in Löbtau bewiesen. Auch Fischer forderte darum
das Präsidium auf — Pistolen.
Selbstverständlich machte er auch Schulden. Der tägliche Alkohol-
genuls lähmt das Gewissen: der »freie« Bursche denkt nicht mehr daran
und wenn er noch daran denken kann, so treibt es ihm nicht mehr die
Schamröte in die Wangen darüber, dafs er leichtfertig so wie seine besten
Kräfte auch die Hundertmarkscheine verpralst, die der Vater sich oft ab-
gedarbt hat, damit er den Sohn studieren lassen kann.
Dann ging Fischer nach Berlin, wo ein solcher Jüngling noch günstigeren
Boden findet für seine Sittenentfaltung. Zwar will er hier ordentlich ge-
lernt und gearbeitet haben. Namentlich habe er sich mit dem — Straf-
recht befalst. Er hat also gelernt, welche Verbrechen man begehen kann
und damit waren für den willensschwachen Alkoholisten zahllose, Ziele des
Handelns klarer ıns Bewulstsein gerückt. Die sittliche Abneigung dagegen
hemmt aber der Alkohol. Schlecht, ja mangelhaft will er sich dabei be-
köstigt haben — für ein Glas Bier muls man ja z. B. auf 2—3.Eier oder
2 Glas nahrhaftere Milch verzichten —, so dafs er körperlich abfiel. Aber
der Abfall in Berlin hat für einen »Schürzenjäger« noch wohl andere Ur-
sachen, wobei die Neigung zum weiblichen Geschlecht ihm zeitweilig ganz
zurückgehen konnte, wie es nach seiner Aussage der Fall gewesen sein
soll. Die Händel blieben auch hier nicht aus. In Jena hatte er die Men-
sur glücklich bestanden, in Berlin hatte ihm dieselbe Kopfhieb mit Ver-
letzungen eingetragen, die dumpfe Schmerzen im Kopfe mit sich brachten.
Im Hinblick auf den Beruf konnte er zeitweilig wohl mutlos werden. Be-
rufsstreben mundet unter solchen Umständen nicht. Aber anstatt auf die
alkoholistische Schwächung wird es auf die vermutlich falsche Wahl ge-
schoben. Man möchte umsatteln und das Recht mit Philosophie vertauschen.
Martha Amberg ist »schr schöne. Das zu hören, und ohne sie je
[2
Zur Frage des jugendlichen Verbrechertums. 33
gesehen zu haben, genügte, um sie brieflich zu einem Stelldichein einzu-
laden. Sie geht mit ihm spazieren. Er erklärt ihr seine Liebe und külst
sie. Die Zusammenkünfte wiederholen sich, namentlich auch in — Restau-
rationen. Er war fest überzeugt, dafs sie ihn wieder liebe. Er kennt
die Familienverhältnisse des Mädchens und weifs, dafs die Mutter eine
Totenfrau ist. Er hört, dafs sie ein intimes Verhältnis mit einem — Gym-
nasiasten habe, also sittlich dem »Schürzenjäger« ebenbürtig ist. Auch
die Obduktion der Leiche hat nach Aussagen des Gerichtsarztes ergeben,
dafs sie keineswegs unschuldig gewesen sei, sondern »kranks war. Er
wird ermahnt, die Verhältnisse mit dem Mädchen aufzugeben. Er schlägt
es in den Wind; denn sie weist ja die Beschuldigung mit — Entrüstung
zurück. Er hört, dafs sie auch noch andere Liebhaber hat, Forsteleven
und Einjährig-Freiwillige Er führt das Verhältnis weiter, denn sie habe
sich für ihn allein entschieden. In Berlin, wo er die Schöne nicht mehr
vor Augen hat und umarmen kann, veranlassen anonyme Warnbriefe ihn
zu dem Entschlusse, dals es für alle Ewigkeit aus sein soll und er sich
selbst erschielsen will. Die Wirtin gibt ihm aber ihren Revolver nicht.
Am 20. Mai reist er nach Eisenach. Es kommt zu Auseinandersetzungen.
Sie bittet, ihr das doch zu verzeihen. Photographien werden zurückgegeben.
Er zerreilst die seine vor ihren Augen. Nach schlafloser Nacht schrieb
er an »seine liebe gute Martha« einen geradezu rührenden Brief, in dem
er sie unter Tränen anflehte, ihm doch zu vergeben; alles was er unrecht
getan, sei nur seiner grolsen Liebe entsprungen. Er wiederholt die Bitte
mündlich. Sie gehen am 25. Mai wieder zusammen nach »Bellevue«. In
später Abendstunde, wo bei beiden der Alkohol wieder gewirkt hatte, folgt
abermals grolse Entzweiung. Er will ins Wasser gehen. Sie schreit um
Hilfe. Am 27. und 28. Mai wandeln sie wieder Arm in Arm. Alle diese
Zusammenkünfte sollen nach Angabe Fischers nur keusch verlaufen sein,
die andern mutmalslich nicht. Er hat eine ruhelose Nacht, wird » wahn-
sinnig verzweifelt«. Gegen Morgen falst er den Gedanken, sie und sich
selbst zu erschielsen. Um 9 Uhr kauft er Revolver und Patronen. Dann
geht er in eine Kneipe und trinkt Bier. Durch eine Kellnerin lälst er die
Amberg holen. Er:geht mit ihr ins Klosterholz. Hinter ihren Rücken
lud er den Revolver. Sie will ihn in seiner Trauer trösten, ihn umarmen
und küssen. Er wehrt ab. Sie weint. Er legt seinen linken Arm um
ihre Taille und sie lehnt teilnehmend den Kopf an sein Herz und seine
Schulter. Im nächsten Augenblick erhebt er den Revolver und schiefst
drei, vier mal nach ihrem Kopfe. Mit dem Ausruf »Walter« stürzt sie
blutig und still zu Boden. Er wirft den Revolver fort und külst sie
wiederholt auf Mieder und Hand. Er läuft fort und kehrt wieder zurück
und schmückt die Leiche mit Laub und Kirschblüten. Nachdem er mehrere
Stunden bei ihr verweilt und wiederholt Mund und Hände gekülst, bedeckt
er sie mit seinem Rock, wirft seinen Hut fort und läuft halb entkleidet
dem Bahndamm entlang und meldet der Polizei das Geschehene: »Ich stelle
mich hiermit, ich habe meine Braut totgeschossen.e Im Polizeigewalrsam
zertrümmert er die Fenster, drückt die Splitter ins Brot, um sich so das
Leben zu nehmen. Er kam aber mit Brust- und Leibschmerzen davon.
Die Kinderfehler. VIII. Jahrgang. 3
34 B. Mitteilungen.
Bei der Leichenschau hat er in Gegenwart der Ärzte merkwürdige Ruhe
und Gleichgültigkeit an den Tag gelegt. Das alles sind keine Zeichen
von Irrsinn und Unzurechnungsfähigkeit, wohl aber von psychopathischer
Minderwertigkeit und verminderter Zurechnungsfähigkeit, zumeist entstanden
unter dem Einflusse des Alkohols wie der Dinge, welche so viele Gym-
nasiasten und Studenten auf Abwege bringen.
Mit der Verurteilung Fischers, die ja erfolgen mulste, ist nur dem
Gefühl der Vergeltung Genüge geschehen. Dem jugendlichen Verbrecher-
tum wird dadurch kaum Abbruch getan. Soll das geschehen, so müssen
Zustände auf die Anklagebank, gegen die die Gebildeten fast noch blinder
sind als die Ungebildeten. Oder sie besitzen doch nicht den Mut, sie zu
beseitigen.
Auffallend ist es auch, dals viele unserer malsgebenden Juristen auch
angesichts solcher Fälle noch immer bei dem Begriff »zurechnungsfähig«
oder »unzurechnungsfähig« beharren und die »verminderte Zurechnungs-
fähigkeit« nicht anerkennen wollen, ein Begriff, der bei der Frage der
jugendlichen Gesetzesübertretungen von ganz aulserordentlicher
Tragweite ist.
Erfreulicherweise bricht aber die deutsche und christlich- humane
Auffassung sich immer mehr Bahn in den Kreisen der Gefängnisgeistlichen
und der Psychiater.
Ein Beispiel dafür sind die Verhandlungen der Konferenz von Ge-
fängnisgeistlichen in Düsseldorf im September d. J., wo Pastor Müller in
Öslebshausen bei Bremen über die psychopathisch Minderwertigen
und ihre Behandlung in den Gefängnissen sprach und darüber
folgende Thesen der Versammlung vorlegte.
1. Es ist eine längst bekannte TatsAche, dafs unter den Insassen der
Gefängnisse und Zuchthäuser sich eine grolse Anzahl psychopathisch Minder-
wertiger befinden, für deren sachgemälse Unterbringung und Behandlung
aber die Verhandlungen noch nicht über theoretische Erörterungen hinaus-
gekommen sind.
2. Alle Minderwertigkeiten, erworbene oder ererbte, beruhen auf Krank-
heiten oder Schädigungen der Nerven und des Gehirns, daher die damit
Behafteten als leiblich Kranke anzusehen und zu behandeln sind.
3. Die bisherige gesetzliche Praxis, welche keine verminderte Zu-
rechnungsfähigkeit kennt und diese Art Kranke als Gesunde behandelt,
ist als eine Unbilligkeit anzuschen, die der Rektifikation bedarf; die erst-
malige, durch das Gesetz begangene Unbilligkeit wiederholt sich in einer
fortlaufenden, für die Kranken schädlichen, für den Strafvollzug peinlichen
und lästigen Weise nach der Unterbringung dieser Leute in die Strafanstalten.
4. Der den Strafanstalten gesetzlich anfgegebene Strafvollzug kann um
dieser Kranken willen nicht wohl so von Grund aus geändert werden, wie
es für sie nötig sein würde. Darum ist die Forderung berechtigt, dafs
die Minderwertigen anderweitig, eventuell in besondere Anstalten über-
wiesen werden. |
5. So lange der Staat nicht in der Lage ist, für diese Kranken ge-
nügend zu sorgen, ist die christliche Barmherzigkeit zum Werke aufzurufen,
Zur Frage des jugendlichen Verbrechertuns. 35
— zz nö öES,SE, a ea
in deren Anstalten zudem bereits viele Minderwertige sich befinden und
unter sachverständiger Behandlung und Leitung in gesegneter Arbeit stehen.
Diese Thesen wurden einstimmig angenommen, ihr Inhalt in einer
kürzer gefalsten Resolution an die Generalversammlung für Gefängniswesen
gebracht und auch dort angenommen. Müller meinte, die psychopathisch
Minderwertigen seien leiblich Kranke, über welche die Ärzte, nicht die
Theologen, zunächst etwas zu sagen haben. Und diese sagen, dals die
Minderwertigkeit auf Störungen oder Schwäche der Nerven und des Gehirns,
speziell der Zentren in der Rinde, beruhen. Er wies sodann an 13 Bildern
aus der Öslebshauser Strafanstalt nach, wie sich solche Erscheinungen im
Leben darstellen. Müller meint, dafs die Theologen durch diese ärztlichen
Darlegungen keineswegs bedroht oder gar die Bibel geschädigt, wohl aber
ihre Gewissenhaftigkeit nach einer bisher nicht beachteten Richtung geweckt
werde, dals sie diese Armen jetzt besser verstehen und beurteilen lernen
können und müssen. Dabei wurde auf die Ungerechtigkeit in der Gesetz-
gebung verwiesen, welche keine verminderte Zurechnung kennt und alle
Kranke derart einfach als Gesunde ins Gefängnis verweist. Iliergegen
müsse man Front machen, da der Strafvollzug sie schädigt und die Ge-
wissen der Beamten belastet. Abgeschen von den Trinkern, die am besten
dort immer blieben, gehören diese Leute nicht ohne weiteres ins Gefäng-
nis, welches Gesunde voraussetzt und die »Ruhe für das kranke Gehirn«
nicht gewähren kann. Man erkennt sie nicht als Kranke bei der Anf-
nahme, hat keine Einzelzellen genug für sie, überliefert sie der schaurigen
Gemeinschaftshaft, quält sie durch Arbeitspensa, Strafen, militärischen Ton
(respektiv oft genug durch Barschheit), gewährt ihnen nicht die nötige Ruhe
des Ausschlafens, den Aufenthalt in freundlicher Umgebung, in frischer
Luft, passende Kost; man richtet sie (nach Baer) durch Dunkelarrest u. s. w.
weiter zu Grunde. Inbetreff der Frage nach der Behandlung verlangte
Müller Individualisierung, planmälsige Behandlung unter ständiger Verhand-
lung mit dem Arzte, der überall psychiatrisch gebildet scin sollte, in grolser
Ruhe im Verkehr, in absoluter Gerechtigkeit und mit evangelischem Takt.
Da aber längere Erfahrung bewiesen, dals man damit dennoch nicht Ge-
nügendes erreiche, so müssen diese Leute aus dem Strafvollzug ganz
heraus und in besondere Anstalten, die eventuell von der christlichen
Barmherzigkeit für den geldarmen Staat herzustellen sind, wie sie bereits
an diesem Teile angefangen haben, zu wirken,
Am folgenden Tage folgten noch 2 bedeutsame Referate von Prof.
Pelman-Bonn und Direktor Finkelnburg-Derendorf. Ersterer þe-
leuchtete in geradezu überzeugender Weise nochmals die Schwierigkeiten
der Sache, das Unrecht des Gesetzes gegen solche Kranke; es war klassisch,
wie er den Oberstaatsanwalt Hamm, einen Vertreter der alten Schule: »Strafe
ist Vergeltung, daran darf nicht gerüttelt werden, der Mann ist entweder
gesund, dann mufs er bestraft, oder krank, dann mufs cr freigesprochen
werden, tatium non datur, und der Sachverständige muls das wissen«,
damit abfertigte: »Sie als Vertreter der alten, ich der neuen Schule, kennen
keine Vermittlung. Aber wir werden über die Leichen der Alten hin-
weggehend zum Ziele kommen.« Als einzigen Satz ihres Referates hatten
3t
36 B. Mitteilungen.
beide die Forderung gestellt: das Reichsstrafgesetzbuch bedarf einer Be-
stimmung über verminderte Zurechnungsfähigkeit; diese These wurde an-
genommen.
Gewöhnlich erhebt man den Vorwurf der Orthodoxie gegen die Geist-
lichen. Die Verhandlungen auf der Konferenz in Düsseldorf haben be-
wiesen, dals sie im Verein mit den Ärzten die Fortschrittsleute und die
Juristen die Rückständigen sind.
In letzter Zeit sind oft harte Anklagen gegen die Richter und die
Untersuchungs- wie Vollstreckungsbeamten durch die Tagespresse gegangen.
Auch wir haben im Interesse unseres Volkes ein paar Fragen auf dem Herzen.
1. Wie ist es möglich, dafs nach dem Erscheinen von Kochs Schriften
über »Psychopathische Minderwertigkeitene und die ungeheure Literatur,
welche sie im Gefolge hatte, sich noch ein Jurist sträuben kann gegen
die Anerkennung einer verminderten Zurechnungsfähigkeit, zumal
zahllose Gerichtsfälle immer wieder Gelegenheit zur handgreiflichen Be-
obachtung dieser Tatsache bieten?
2. Wie ist es möglich, dals wenn, wie man so oft in den Zeitungen
liest, cin Verbrecher zum 49., ja zum 100. Male vor die Schranken des
Gerichtes gestellt wird, die Juristen nichts anderes zu tun wissen, um ihn
vor Wiederholungen und die Gesellschaft gegen seine Missetaten zu schützen,
als ihn aufs neue eine kurze Zeit einkerkern zu lassen?
3. Wie ist es möglich, dafs bei der Unzahl der jugendlichen Ver-
brecher die Strafrichter so selten eine ernste Anklage gegen die Milsstände
erheben, welche diese Gesetzesübertretungen verursachen? Wir nennen nur
das Kneipen- und Tingeltangelunwesen und die menschenwidrige Wohnungs-
not in den Grolsstädten wie auf den grofsen Landgütern ?
4. Wie ist es möglich, dafs manche unserer Juristen nicht soviel
psychologische und pädagogische Einsicht sich verschaffen, um zu erkennen,
dals die Verurteilung von Kindern zu Gefängnisstrafen das Verbrechertum
nicht vermindern, sondern vermehren hilft?
3. Unsere diesjährigen Neulingein sprachlicher Hinsicht.
Bericht über eine Zusammenstellung, erstattet von Max Mehnert-Löbtau.
Schon die vorjährige Zusammenstellung der unter den Löbtauer Schul-
kindern vorhandenen Sprachstörungen lieferte den Beweis, dafs eine be-
trächtliche Zahl von Kindern sprachlich zurückgeblieben in die Schule ein-
tritt; standen doch nach jener Zusammenstellung von 91 Stammlern 71
(78,02 °/,) auf der Unterstufe, dagegen 17 (18,68°/,) auf der Mittelstufe,
3 (3,30°/,) auf der Oberstufe. Anders war das Ergebnis hinsichtlich der
Stotterer. Von den 41 Stotterern gehörten 17 (41,46°/,) der Unterstufe,
20 (48,78°/,) der Mittelstufe und 4 (9,76°/,) der Oberstufe an. Diese
letzten Zahlen berechtigten zu dem Schlusse, dals die Zahl der Stotterer
während der Schulzeit zunehme. Bei den Stammlern ist das Gegenteil
als sicher anzunehmen, beseitigt doch schon der erste Sprachunterricht,
besonders der Leseunterricht, ein gut Teil derselben.
Unsere diesjährigen Neulinge in sprachlicher Hinsicht. 37
Die diesjährige Zusammenstellung bezweckte, die genaue Zahl der
mit Sprachstörungen behafteten, in die Schule eintretenden Kinder zu ge-
winnen. Das Ergebnis ist ein unerwartetes, wenig erfreuliches gewesen.
Unter den 1008 in die Schule aufgenommenen Neulingen fanden sich
133 Stammler (13,19°/,) und 8 Stotterer (0,79°;,). Dafs die Zahl der
sprachlich zurückgebliebenen Knaben grölser ist als die ebensolcher Mädchen
ist von neuem erwiesen, denn unter den 500 Knaben sind 86 Stammler
(17,2°/,) und 6 Stotterer (1,2°,,), unter den 508 Mädchen aber nur 47
Stammlerinnen (9,25°/,) und 2 Stotterinnen (0,39, ,).
Am nngünstigsten steht die 2. Bez.-Sch. mit ihren Neulingen da,
etwas besser die 3. Bez.-Sch., noch besser die Bürgerschule, am besten
die 1. Bez.-Sch. Während nach der vorjährigen Zusammenstellung den
Lehrkräften der Bürgerschule der erklärliche Vorteil zufiel, am wenigsten
mit Sprachstörungen bei ihren Zöglingen zu tun zu haben, ist dies in
diesem Jahre anders, wenigstens hinsichtlich des Stammelns. Stotterer hat
die Bürgerschule auch dieses Jahr nicht unter den Elementaristen.
Auf die 1. Bez.-Sch. mit 383 Neuaufgenommenen entfallen 41
Stammler (10,74 °/,) und 3 Stotterer (0,78°,). Die Bürgerschule zählt
unter 188 eingetretenen Kindern 23 Stammler (12,23 °,,), keine Stotterer.
Unter den 240 Neulingen der 3. Bez.-Sch. finden sich 36 Stamniler
(15°/,) und 2 Stotterer (0,83 °/,). Die 2.Bez.-Sch. hat unter den 197 Neu-
lingen 33 Stammler (16,24°,,) und 3 Stotterer (1,52 ° „) aufzuweisen.
Die Stammler und Stotterer verteilen sich — in Prozenten ausge-
drückt — auf die Neulinge der einzelnen Schulen folgendermalsen:
1. Bez.-Sch. 10°, Stammler, 0,78°/, Stotterer
Bürger-Sch. 12°/, . 0%, x
3. Bez.-Sch. 15°% M 0,33%, a
2. Bez.-Sch. 16°,, er 1,929, `
Durchgängig an allen Schulen sind die Knaben sprachlich mehr zu-
rück als das — demnach schon in der Jugend zungenfertigere weibliche
Geschlecht.
Die Bürgerschule zählt unter
121 aufgen. Knab. 15 Sta. (12,39%) — 0°/% Sto.
unter 67 „ Mdch. 8 „ (11,94%) — 0% »
An der 1. Bez.-Sch. finden sich unter
163 Kn. 21 Sta. (12,26°/,) u. 2 Sto. (1,22°/,)
unter 220 Mdch. 20 „ (9,99%) » 1 „(0,45% 4).
Die 2. Bez.-Sch. weist auf unter
95 Kn. 20 Sta. (21,05°/,) u. 2 Sto. (2,10 °),)
unt. 102 Mdch. 13 ,„ (12,75%) =~ 1. (0,98%).
An der 3. Bez.-Sch. ist das Verhältnis folgendes:
Auf 121 Kn. kommen 30 Sta. (24,79°/,), 2 Sto. (1,65 °/)
„ 119 Mdch. „, 6 „n (5,04%) — 0 Sto.
I. Über die Stotterer im besondern ergibt die Zusammenstellung
noch folgendes:
Von den 8 aufgen. Sto. ‘werden 4 (50°/,) als körp. gut, 4 (50%,)
als körp. mittelm. entwickelt bezeichnet.
38 B. Mitteilungen.
Nach ihrer geistigen Beschaffenheit beurteilt,
erhielten 4 Sto. (50°/,) die Bezeichng.: schwach
3. ie IB R mittelm.
1 „ (12,5°,) erhielt die Bezeichng.: gut.
Als Ursachen des Sto. wurden in 2 Fällen Krankheit (1 mal
Keuchhusten) angegeben, in den 6 and. Fällen ist die Ursache unbekannt.
An 1 Stott. wurden Mitbewegungen des Kopfes bemerkt, an den 7 and.
ist nichts von Mitbewegungen beobachtet worden.
Als Laute, bei denen das Sto. besonders hervortritt, sind angegeben:
aus dem 1. Artikulationsgebiete:
bp f, m;
aus dem 2. Artikulationsgebiete:
d, t, s;
aus dem 3. Artikulationsgebiete:
g, k.
In einem Falle wird fast bei allen Konsonanten und Konsonanten-
häufungen gestottert.
Ein Stotterer setzt dem Beginn seiner Rede das bei vielen Rednern
beliebte Verlegenheits- »äh« voraus.
Über die Verbreitung des Stotterns in den betreff. Familien, aus
denen die Stotterer stammen, auch über den Wechsel des Stottergrades,
z. B. bei Witterungsänderung, ist nichts angegeben.
Über den Grad des Sto. beim Sprechen, Lesen und Singen finden
sich folgende Angaben:
5 (62,5 °/,) stottern beim Sprechen mälsig,
2 (25°/,) A X 5 stark,
1 (12,5°/,) stottert ,, E gering.
Beim Lesen stottert 1 Kind stark (12,5°/,),
7 Kinder mälsig (87,5 °/,).
Beim Singen stottert 1 Kind (12,5°/,) gering,
. 7 Kinder (87,5°/,) gar nicht.
I. Über das Stammeln im besondern liefert die Zusammenstellung
noch folgende Ergebnisse:
Als körp. gut entwickelt werden 46°/, d. Sta. bezchnt. (ungef. d. Hälfte),
nn» mittelm. „ j 30a ah
» u Schwach „ a 11°/, bezeichnet.
Der grölste Teil der Sta. wäre demnach körp. gut entwickelt.
Nach der geistigen Beschaffenheit beurteilt,
erhalten 44°/, der Sta. die Bezchg. mittel,
DU ie © a schwach,
Joy a ie, n gut.
Der gröfste Teil der Sta. wäre demnach mittelmälsig veranlagt.
Die Ursachen des Stammelns sieht man
bei 42°/, in mangelhafter Sprachentwicklg,,
„ 28°, „ organ. Fehlern (Zähne),
„1°, » geistiger Unreife,
v 12%, ist sie unbekannt.
Unsere diesjährigen Neulinge in sprachlicher Hinsicht. 39
Die Aussprachefehler der Sta. erstrecken sich in 39 Fällen, d. s.
nahezu 30°/,, auf die S-Laute und die Verbindungen mit S.
Das S wird zu t (heils wird zu heit, Messer zu Metter). Auch der
Laut Sch erfährt mannigfache Vertauschungen.
Er wird zu t (Schule wird zu Tule,
Schüssel zu Tüssel),
oder er wird zu s (Schule wird zu Sule,
schlecht „ ., slecht,
schön ., „ SÖN,
Schüssel „ ,„ süssel,
oder zu z schön ., .„ zön.)
Viel leiden mufs auch der ch-Laut.
Er wird zu s (statt Brotchen hört man Brotsen,
ich — is,
Kirche — Kirse,
oder ch wird zu d, ich — id,
oder zu sch, Geruch — Gerusch).
Sehr oft werden auch die Laute g, k vertauscht
mit d, t oder umgekehrt
d, t mit g, k.
(gesagt wird zu desagt,
ungezogen ,„ „ undezogen,
Kind .„ „ Tind,
König „ ,„ Tönid).
Nicht minder übel ergeht es dem R-Laut. Er wird vertauscht mit h
(Ring wird zu Hing) oder mit |.
Sehr oft wird das R weggelassen ; z. B. schnurren — schnuen,
Lehrer — Leher.
Weggelassen werden auch folgende Laute:
Das End-d in Kind (Kinn, Dinn),
» » t, hat, sieht, ist (ha, sich, is).
»» S, aus (an).
Häufiger als die Weglassung oder Vertauschung einzelstehender Mit-
laute sind die Weglassung und Vertauschung gewisser Mitlaute in Konso-
nantenverbindungen:
Kreide wird zu Dreide,
Knopf „n .» Nopf,
schmeckt ,, „ meckt,
schreibt „ „ reibt,
zwei „ „fei,
Blume ,„ „ Lume oder Ume,
Star „ a Tar
Stuhl „ —„ Tuhl,
ist wird zu it,
beilst ,, „ beit.
Als Vertauschungen von Konsonantenverbindungen mit andern seien
noch folgende angeführt:
40 B. Mitteilungen.
dr wird zu kr (drei — krei),
gr 5 »„ dr (greife — dreife),
kr 5» tr (Krug — Trug),
bl „gl (blau — glau),
» » „ fl (Blume — Flume),
» s p» 8l( „ — — Glume),
oder „ dl ( „ — Dlume),
br 5. fr (bringt — fringt),
oder „ gr ( „ — gringt),
f wid „ gl (fleifsig — gleilsig),
kn „n „ schn (Knabe — Schnabe),
kl „n „ schl (klein — schlein),
schn „ „ dn (Schnee — Dnee),
schl „n „ gl (Schlange — Glange),
ZW 4 n fr (zwei — frei),
Aufser den Weglassungen und Vertauschungen kommen auch Ein-
schiebungen und Anhängsel vor, z. B.:
(zwei — zwrei,
ja — jda,
ich weils — icht heifst).
Auch Entstellungen der Wörter sind angegeben:
gesehen — dastänen,
sieht — diest,
Schlofs — Loch, Luls.
Unter den Neulingen finden sich 2 Näsler und 1 Satzstammler.
Leider ist es nicht möglich, zahlenmälsig genauer darzulegen, welche
Laute und Lautverbindungen am meisten Veränderung erleiden müssen.
Unzweifelhaft erhellt aber aus der vorstehenden Zusammenstellung, dafs
der Elementarlehrer mit der Abstellung von Sprachstörungen, besonders
des Stammelns, vertraut sein muls. Inwieweit der erste Sprachunterricht
zur Beseitigung der Sprachstörungen beiträgt, soll vor Schluls dieses
Schuljahres festgestellt werden. Freilich ist auch bei Sprachstörungen der
Schwerpunkt auf die Verhütung, nicht auf die Heilung zu legen. Des-
halb ist es unerlälsliche Pflicht der Lehrer, den Eltern immer und immer
wieder einzuschärfen:
»Habt acht auf eure Kinder, insbesondere während der Zeit ihrer sprach-
lichen Entwicklung!«
4, Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich
gefährdeten Jugend.
Ein Reisebericht von J. Chr. Hagen, Direktor des Schulheims, Falstad bei Drontheim.
Vorbemerkung der Schriftleitung. Gegen 50000 Jugendliche
im Alter von 12—1S Jahren werden alljährlich im Deutschen Reiche vom
Strafrichter verurteilt. Wo bleiben sie? Was wird aus ihnen? Werden sie
gebessert oder weiter verschlechtert? Das sind ernste Fragen, an denen
nicht blols die Eltern, denen diese Kinder genommen werden, und die
Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 41
Lehrer, welche sie bisher unterrichtet und mit erzogen, und die Geist-
lichen, welche an sie vergeblich Seelsorge geübt haben, interessieren,
sondern es sind Fragen, die jeden angehen, der noch ein menschliches
Mitgefühl in der Brust trägt und wie ich an andern Beispielen in dieser
Nummer gezeigt habe, sind es Fragen, die zugleich bange Sorge um unser
eignes Leben, das von der Verbrechergesellschaft bedroht wird, stellen
muls — von den nationalen und volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten
ganz abgesehen, obgleich diese Fragen auch in dieser Hinsicht nicht ge-
ringwertig anzuschlagen sind und z. B. Professor Pelman in Bonn nach-
gewiesen hat, dals eine einzige, durch Trunksucht moralisch verkommene
Familie den öffentlichen Kassen 5 Millionen Mark gekostet hat.
Herr Direktor Hagen, der nebenbei bemerkt Theologe ist, hat auf
seiner Reise eingehende Beobachtungen gemacht und sie in dem seiner
Behörde eingereichten und in norwegischer Sprache bereits veröffentlichten
Reisebericht niedergelegt. Es mufs auch uns Deutsche interessieren, wie
der Ausländer unsere Anstalten beurteilt. Der ganze Bericht ist aber für
unsere Zeitschrift leider zu lang. Wir mulsten kürzen. Die Auswahl ist
uns wie dem Verfasser schwer geworden. Wir hoffen aber doch, im Ein-
vernehmen mit dem Verfasser die Kürzung so getroifen zu haben, dafs
die verschiedenen Strömungen genügend zum Ausdruck kommen.
Es könnte ja manche Bedenken erregen — und wir Deutschen sind
in der Beziehung aulserordentlich ängstlich und überlassen leider auch die
bessernde Kritik an unsern Öffentlichen Zuständen den negierenden Sozial-
demokraten — dals wir die ungeschminkte Mitteilung über die Zustände in
diesen Anstalten öffentlich mitteilen. Wir meinen aber, dafs die einzelnen
Anstalten ihre prinzipiellen Gründe für ihre Behandlungsweise haben. Sollte
aber dennoch die eine oder die andere Anstalt, die wir absichtlich nient
mit Namen nennen, falsch beurteilt scin, so stellen wir gern unser Blatt
zur Richtigstellnng zur Verfügung. Die Richtigstellung würde dann ja
zugleich auch im Interesse unseres Nationalgefühls gegenüber den Be-
richten an ausländische Behörden liegen.
Die Übersetzung ist von Herrn Hagen selbst. Er bittet, dem Aus-
“länder einige stilistische Unbeholfenheiten wie vielleicht auch einige
Mifsverständnisse dentscher Art und Sitten zu gute zu halten. Tr.
Der nachstehende Bericht wurde dem Departement der königlich
norwegischen Regierung für Kultus und Unterricht erstattet. Durch Stor-
thingsbeschluls ward mir nämlich ein Öffentliches Stipendium bewilligt,
damit ich durch eine Reise nach Schweden, Deutschland und Belgien,
wenn möglich auch noch England, mit Erziehung, Unterricht, Ordnung
und Arbeitsweise an den bemerkenswerteren Anstalten dieser Länder mich
bekannt machen könnte.
Meine Reise, von welcher der Umstände wegen die nach England wegfiel,
erweiterte ich dahin, dafs ich auch Holland und die Schweiz mitnahm.
Die Reise dauerte 4 Monate, in deren Verlauf ich gegen 40 Anstalten
besuchte.
Am längsten hielt ich mich in Düsselthal, Bächtelen und in dem
42 B. Mitteilungen.
num — M om u mon En mn
Trüperschen Erziehungsheim auf der Sophienhöhe bei Jena auf, etwa 14 Tage
an jeder Stelle, und nahm von morgens bis abends an der Wirksamkeit
teil. In Bächtelen war ich so glücklich in der Anstalt selbst wohnen zu
können. Ich erlaube mir, es auch zu erwähnen, dafs ich die Ehre hatte
zu einem Kongrels von Anstaltsdirektoren aus der ganzen Schweiz in
Schaffhausen am 15. und 16. Mai geladen zu werden. Die Haupt-
verhandlungen (Vorträge mit Diskussion) drehten sich um folgende Fragen:
Am 1. Tage: »Wie bewahrt der Erzieher verwahrloster Kinder die Freude
an seinem Beruf?« und am zweiten Tage: »Darf nicht der Name Rettungs-
anstalt durch die mildere Form ‚Erziehungsanstalt‘ ersetzt werden%« Es
erweckte Interesse, als ich gelegentlich erklärte, dafs man in Norwegen
auch nicht durch den Namen »Erziehungsanstalt« sich zufrieden gefühlt,
sondern durch Gesetz den Namen »Schulheim« eingeführt habe.
Wasich besonders zum Gegenstand meiner Untersuchungen machte, war:
1. Wie werden die Zöglinge in den Anstalten erzogen, und welche
Mittel werden angewandt?
2. Inwiefern wird Rücksicht auf psychische und somatische Anomalien
als Ursache ethischer Minderwertigkeiten genommen’?
3. Welche Erfahrungen sind in Hinsicht auf widerrufliche Entlassungen,
sofern sie stattfinden, gemacht?
Zur Beantwortung dieser Fragen erlaube ich mir im folgenden das
alltägliche Leben und die Behandlungsweise in Anstalten von grölserer
Bedeutung zu schildern, dabei feststellend, welche Ordnung durch öffent-
liches Gesetz oder private Initiative bei der Unterbringung der betreffenden
Kinder, nachdem sie die Anstalten verlassen, getroffen werden und endlich
lasse ich noch Mitteilungen über die Trüpersche Anstalt folgen, um auf
Grund der Beobachtungen daselbst einige Bemerkungen über die An-
wendung der Psychiatrie in Erziehungsanstalten zu begründen.
Die Reise ist zwar schon vor 3 Jahren gemacht worden und hier
und da dürften einige Verhältnisse andere geworden sein. Von deutscher
Seite bin ich aber ersucht worden, trotzdem den Bericht in deutscher
Übersetzung zu veröffentlichen. Man sagte mir, dafs hier für so ein-
gehende Informationsreisen keine Stipendien zur Verfügung stehen und
dals diejenigen, welche dennoch kürzere Reisen machen, selten von ihren
Beobachtungen zum gemeinen Nutzen und zur Förderung der wichtigen
Sache der Öffentlichkeit Mitteilungen gemacht werden.
Ich habe versucht, das, was ich gesehen, so objektiv als möglich dar-
zustellen, auch wo ich abweichender Meinung bin. Da ich der Über-
zeugung bin, dafs Regierungen und Anstaltsleiter die angewandten Methoden
als die zweckmälsiesten betrachten, so wird denselben die Bekanntgabe
hoffentlich nur erwünscht sein. Sollten mir aber wider Willen als Aus-
länder irrtümliche Eindrücke unterlaufen sein, so mögen meine Veröffent-
lichungen Anlafs zur öffentlichen Berichtigung bieten. Man sagte mir, in
Deutschland seien bereits gegen 11000 Zöglinge in Zwangserziehungs-
anstalten untergebracht und deren Zahl wächst noch alljährlich. Da hätte
die Öffentlichkeit das allergröfste Interesse daran, zu wissen, wie diese
Mitbürger behandelt werden und was später aus ihnen werden könne. Ich
Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 43
leiste in Erwägung dieses humanen Interesses darum der Aufforderung
gerne Folge und hege nur den Wunsch, dals mein Beobachtungsmaterial
zur Besserung der Erziehungsmethode und damit auch zur Verminderung
des sittlichen Elends unter der heranwachsenden Jugend beitragen möge.
Diejenigen Anstalten, mit deren Erziehungsmethode ich mehr oder
weniger übereinstimme, habe ich namentlich angeführt.
1. Deutschland.
Wie bekannt, gibt es in Deutschland zwei Kategorien für Zwangs-
erziehung.
1. Zwangserziehung nach $ 55 des Strafgesetzbuches, die Strafwürdigen
d. h. diejenigen, die vor dem vollendeten 12. Jahre eine dem Strafgesetz
zufolge mit Strafe belegte Handlung begangen, umfassen.
2. Zwangserziehung nach $ 56 des Strafgesetzbuches: diejenigen um-
fassend, die weil sie unter dem Verbrechen die Bedeutung des Verbrechens
verstanden zu haben nicht angenommen werden können.
Zwangserziehung erster Kategorie ist durch das Gesetz vom 13. März
1878 näher bestimmt. Nach diesem liegt die Fürsorge für die ganzen
Verbrecher den verschiedenen Provinzialverbänden ob. Der Landes-
hauptmann bestimmt die Art, Weise und Dauer der Erziehung und unter-
scheidet die Entlassungsfrage. Die Aufsicht über diese Verfügungen führt
der Oberpräsident, in letzter Instanz der Minister für das Innere. Das
Reglement für die von der Provinzialverwaltung errichteten Erzichungs-
anstalten wird vom Ministerium für das Innere und dem Kultusminister be-
stätigt. An den Kosten der Provinzial-Zwangserziehung ist der Staat mit
einer Hälfte beteiligt.
Die Zahl der Zwangszöglinge nach dem Strafgesetzbuch $ 55 be-
trugen in 1898 10687; davon waren in Familien 5145, in Privatanstalten
4180, in öffentlichen Anstalten 1362 untergebracht. Der Zuwachs solcher
Kinder betrug 1892—98 1618 = 6°/,.
Die Kosten der Zwangserziehung betrugen 1495824,27 M, wovon
der Staat 749219 M refundierte.
Die Zwangserziehung der zweiten Kategorie liegt dem Staate ob, der
zu diesem Zwecke 5 Anstalten errichtet hat. In diese Anstalten können in
allem 640 Knaben und 110 Mädchen untergebracht werden. Daneben
werden auch Privatanstalten benutzt, um Kinder unter 14 Jahren unter-
zubringen. Gewöhnlich dauert der Aufenthalt in der Anstalt zwei Jahre,
wonach die Betreffenden entlassen und entweder in die Lehre oder als
Gesinde untergebracht werden. Die aus der Anstalt Entlassenen sind bis
zum 20. Jahre widerruflich unter der Aufsicht der Anstalt zu betrachten
— und können zu jeder Zeit in die Anstalt zurückgeholt werden.
Im Jahre 1898 waren in den königlichen Erziehungsanstalten 530
Kinder untergebracht. Die nach ihrer Erziehung verbundenen Kosten be-
trugen 219488 M.
1) Vergl. »Die Kinderfehler«, Zeitschr. für Kinderforschung, V. Jahrgang,
Nr. 1. Linz, Beiträge zur Kinderforschung. I. u. IL. Heft.
44 B. Mitteilungen.
Unter den Ursachen der Unterbringung sind Verbrechen oder Ver-
gehen gegen Personen und Eigentum die häufigsten, dann kommt Über-
treten verschiedener Gesetze und endlich Vergehen wider die öffentliche
Ordnung und Religion.
Vom 1. Januar 1900 an trat eine neue Ordnung der Zwangserziehung
ein, da $ 1666 des Strafgesetzes auch solche sittlich verwahrloste
Kinder, die noch nicht mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen, um-
zufassen erweitert wird. Denn nunmehr hat nämlich das Vormundschafts-
gericht Kindern gegenüber, deren geistigem oder körperlichem Wohle da-
durch gefährdet wird, dals der Vater die Fürsorgepflicht gegen die Person
des Kindes milsbraucht, das Kind vernachlässigt oder ehrlosen oder un-
sittlichen Betragens sich schuldig macht. Das Vormundschaftsgericht
kann die Unterbringung des Kindes in eine geeignete Familie oder Er-
ziehungsanstalt bestimmen oder anordnen.
Je nachdem die verschiedenen Bundesstaaten die Reform durchgeführt,
tritt auch eine Tendenz hervor, die Altersgrenze der Strafbarkeit vom ein-
getretenen 12. zum eingetretenen 14. Jahre zu verschieben. Es konnte
auch vernommen werden, dafs ein steigendes Interesse die Anstaltbehand-
lung in eine mehr als bisher pädagogisch -rationelle Richtung überzu-
führen, besonders hinsichtlich der Staatsanstalten sich geltend machte.
Ein grolser Teil der deutschen Bundesstaaten hat — an das Reichs-
strafgesetzbuch — anknüpfend seine eigenen Zwangserziehungsgesetze, eo
auch der Freistaat Hamburg. (Fortsetzung folgt.)
5. An die Mitglieder und Freunde des Verbandes
der Hilfsschulen Deutschlands
richtet der unterzeichnete Vorstand die höfliche und ergebene Bitte, ihm
mitteilen zu wollen, ob und wo aulser den unten angeführten Hilfs-
schulen noch derartige Anstalten bestehen oder bis Ostern 1903 ein-
gerichtet werden.
Der Vorstand
des Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands
Stadtschulrat Dr. Wehrhahn,
1. Vorsitzender.
Verzeichnis der uns bekannten Hilfsschulen.
Altenburg. Karlsruhe. München.
Altenburg. Mannheim. Nürnberg.
Anhalt Pforzheim. | Pirmasens.
Bernburg. Bayern. Braunschweig.
Dessau. Augsburg. À Braunschweig.
Baden. Fürth. Bremen.
Durlach bei Karlsruhe. Kaiserslautern. Bremen.
Frankenthal. Ludwigshafen. l Bremerhafen.
Elsafs-Lothringen. Provinz Hannover.
Mülhausen i/E. Emden.
Strafsburg. Göttingen.
Hameln.
Hamburg. Hannover I.
Hamburg I, Rothenbgsort 95. = JL
„ II, Eilbeckerweg58. Harburg.
„ IH, Markusstr. 40. | Hildesheim.
„ IV, St. Georg, Hobe- | Linden.
stralse 31. Lüneburg.
Hamburg V, St. Pauli, Osnabrück.
Kielerstralse 7. Peine.
Hamburg - Eimsbüttel VI,
Osterstralse 66. Cassel.
Hamburg- Uhlenhorst VII, | Frankfurt a/M.
Humboldstralse.
| Hanau.
Hessen. Provinz Pommern.
Darmstadt. Oöslin.
Gielsen (Nachhilfeklassen). | Stettin.
Mainz. Stolp.
Offenbach. Provinz Posen,
Worms,
Bromberg.
Koburg-Gotha. Posen.
Gotha. Provinz Ost-Preulsen.
Lübeck. Königsberg I.
Lübeck. „ H.
Meiningen. Dil,
Meiningen. Prov. West-Preulsen.
Pössneck. Danzig.
Saalfeld. ı Graudenz.
Preulsen. Rheinprovinz.
Provinz Brandenburg. | Aachen.
Berlin (einf. und kombinierte | Altenessen.
Nachhilfeklassen). Barmen.
Brandenburg. Bonn.
Charlottenburg I. ‚ Duisburg.
A II. :Cöln I.
Cottbus. he ag. I:
Friedenau. | Düsseldorf.
Pankow. Elberfeld.
Potsdam. Essen I.
Rathenow. son «Ele
Rummelsburg. Essen-West I.
Schöneberg I. m II.
er II. | Krefeld.
Steglitz. | Mühlheim ajd. R.
Dt. Wilmersdorf (Hilfskl.). | Saarbrücken.
Zehlendorf. Trier,
An die Mitglieder u. Freunde d. Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands.
Prov. Hessen-Nassau.
———— [1L U IIIa ee ee ee I o m aaa
BEER a FERNE
45
Provinz Sachsen.
Aschersleben.
Eisleben.
Erfurt.
Halberstadt.
Halle.
Magdeburg.
Mühlhausen i/Th.
Nordhausen,
Zeitz.
Provinz Schlesien.
Beuthen.
Breslau I.
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„vll.
we. SEX;
Bunzlau.
Görlitz.
Hirschberg.
Grünberg.
Königshütte.
Ratıbor.
Schweidnitz.
Provinz
Schleswig-Holstein
Altona.
Elmshoan.
Flensburg.
Itzehoe.
Kil.
Neumünster.
Wandsbeck.
Provinz Westfalen.
Bielefeld.
Bochum.
Dortmund I.
u JI.
Gelsenkirchen
i Hagen.
| Herford.
"Lüdenscheid.
Schwelm.
Ückendorf.
| Witten.
46 B. Mitteilungen.
Reufs j. L. ' Kamenz m Reichenbach (Nachhilfe-
Gera. | Kirchberg. klassen).
Seeds ' Kirsa. Zittau.
Borni | Müstein. Zwickau,
Chemnitz (Hilfsklassen). | Leipzig-Plagwitz. | Weimar.
Dresden-Altstadt. „ -Gohlis. Apolda
„ Neustadt. Meilsen. Eisenach
Dresden-Lóbtau. m (Nachhilfe- W. Jena
“Cotta. schule. ee
Freiberg, To i/V. (Nachhilfe- o
Gersdorf. klassen). |
Glauchau (Nachhilfekl.). Oschatz. Württemberg.
Grimma Mi Plauen i/V. Stuttgart (Hayersche Schule),
7. Tagesordnung für den 4. Verbandstag der Hilfs-
schulen Deutschlands.
Auf Grund einer Einladung des Magistrates von Mainz wurde diese
Stadt zum Versammlungsorte für den 4. Verbandstag bestimmt. Derselbe
wird am 14., 15. und 16. April 1903 abgehalten werden. Am Dienstag, den
14. April, abends 7!/, Uhr findet die Vorversammlung und am Mittwoch,
den 15. April morgens 9 Uhr die Hauptversammlung statt.
Nach längeren eingehenden Verhandlungen hat der Vorstand des
Hilfsschulverbandes in einer am 10. September d. J. in Braunschweig ab-
gehaltenen Sitzung folgende Tagesordnung festgesetzt:
I. Vorversammlung.
a) Das Rechnen auf der Unterstufe der Hiltsschule.
Referent: Hauptlehrer Giese-Magdeburg.
b) Können die Kinder der Hilfsschule zwangsweise zugeführt
werden?
Referent: Rektor Grote-Hannover.
c) Rechnungsablage und Revision der Kasse.
d) Vorstandswahl.
II. Hauptversammlung.
a) Das schwachbegabte Kind im Hause und in der Schule.
Referent: Hilfsschulleiter Delitsch-Plauen i. V.
b) Die Berücksichtigung der Schwachsinnigen im bürgerlichen und
öffentlichen Recht des deutschen Reiches.
Referent: Oberamtsrichter Nolte-Braunschweig.
c) Beratung über die, dem 2. Verbandstage vom Hauptlehrer Kiel-
horn-Braunschweig vorgelegten Leitsätze. g) Der Unterricht.
I. Allgemeine Gesichtspunkte. III. Der Stundenplan (s. Bericht
über den 2. Verbandstag S. 25 ff). Dieselben sind nach ein-
gchender Beratung im Vorstande vom Referenten umgearbeitet
und haben nunmchr folgende Fassung erhalten:
C. Literatur. 47
g) Der Unterricht.
I. Allgemeine Gesichtspunkte.
1. Der Unterricht trage erziehlichen Charakter; er suche die Kinder
für das Leben tüchtig zu machen und ihre Erwerbsfähigkeit anzubahnen.
2. Nicht auf die Stoffmenge kommt es an, sondern auf zweck-
entsprechende, sorgfältige Verarbeitung und Aneignung des Stoffes. Über-
bürdung ist zu vermeiden.
3. Die Darbietung des Stoffes sei einfach, knapp, anschaulich und
möglichst lückenlos aufbauend.
4. Lehr- und Lernmittel müssen ausreichend vorhanden sein; denn
der Unterricht mufs von der Anschauung ausgehen und durch die An-
schauung unterstützt werden.
5. Häusliche Arbeiten sivd auf das Mindestmafs zu beschränken.
6. Schulspaziergänge sind oft zu unternehmen. Sie dieneu unter-
richtlichen Zwecken und können in die Unterrichtszeit fallen.
III. Der Stundenplan.
1. Die Unterrichtsstunden für Lehrer betragen im Durchschnitt
wöchentlich etwa 24; daneben ist letzteren die Verpflichtung aufzu-
erlegen, Wohlfahrtsbestrebungen für die Hilfsschulkinder zu fördern.
2. Die Unterrichtsstunden für die Kinder betragen in der Regel
wöchentlich 20—26, einschlieflslich Handarbeit (freies Spiel sowie Be-
schäftigung nicht eingerechnet).
3. Die Verteilung auf die einzelnen Tage ist derart vorzunehmen,
dafs ein Wechsel zwischen mehr und minder ermüdenden Fächern stattfindet.
4. Jede Unterrichtsstunde werde durch eine Pause von 10—15 Minuten
gekürzt; während dieser Zeit sind die Kinder auf den Spielplatz zu ent-
lassen und die Unterrichtsräume zu lüften.
5. Soweit als möglich finde der Unterricht des Vormittags statt.
6. In der mehrklassigen Schule ist darauf Bedacht zu nehmen, dafs
einzelne Kinder in einzelnen Fächern ausgewechselt werden können.
III. Am 16. April Besichtigung der Sehenswürdigkeiten der Stadt
Mainz u. s. w., eventuell Besuch einer Idiotenanstalt.
Hannover. Dr. Wehrhahn, Stadtschulrat, 1. Vorsitzender.
K. Basedow, Rektor. z. Zt. stellvertret. 2. Schriftführer,
C. Literatur.
I. Godtfring, 0., Rektor, Tabelle für den Artikulations-, Stimmbildungs-
und Sprechunterricht. Kiel, H. Fienke. Press IM.
Es ist Thatsache, dals viele Eltern ratlos dastehen, wo es sich um die Be-
seitigung eines einfachen Fehlers handelt; Beweise haben wir genug dafür in den
Vorkursen. Den Eltern werden Bücher in der Regel zu teuer, obgleich zu bedenken
ist, dafs Sprachgebrechen die Kinder im Unterricht weit zurücksetzen. Da ist es
denn eine verdienstliche That des Verfassers, auf einem Bogen in gedrängtestei
48 C. Literatur.
Kürze zusammengefafst die wichtigsten Regeln zur Beseitigung des Stammelns,
Winke für die Stimmbildung und Artikulation, für die Einübung der Einsätze u. s. w.
nebst dem einschlägigen Stoff darzubieten. Bewährten pädagogischen Grundsätzen
folgend, fixiert der Verfasser in der ersten Rubrik die Laute nach der Schwierig-
keit in der Bildung. In phonetischer Beziehung mulste ein Unterschied gemacht
werden in der Behandlung der Stammler und Stotterer; die andere Reihenfolge
deuten eingedruckte Ziffern an. Die Aufstellung derselben zeugt von der lang-
jährigen Erfahrung des in der Sprachhygiene unermüdlich thätigen Verfassers. Die
Winke für Stimmbildung und Artikulation wenden sich zunächst an den Lehrer,
sind jedoch bei den Konsonanten und den schwierigen Zusammiensetzungen so ge-
halten, dafs ein jeder Vater sie verstehen und danach handeln kann. Der betreffende
Stoff ist allen Wortarten entnommen und kann in jeder Beziehung als in lautlicher
Hinsicht gut ausgewähltes Material betrachtet werden. Für die Behandlung der
Stotterer ist auf die verschiedenen Einsätze gebührende Rücksicht genommen. Der
geringe Preis des Bogens ermöglicht es jedem Vater, sich dieses hervorragenden
Hilfsmittels bei seinem sprachkranken Kinde bedienen zu können. Dem Lehrer ist
die Tabelle erst recht ein praktischer und sicherer Auskunftgeber.
Kiel. Siemen,
2. Stelling, H., Die Erziehungder schwachbegabten und schwachsinnigen
Taubstummen und die Teilung nach Fähigkeiten überhaupt. Dar-
gestellt an der Hand eines Reiseberichtes über dänische und norwegische Taub-
stummenanstalten. Leipzig, Carl Merseburger, 1902. Preis 1,80 M.
Der Verfasser vorliegender Schrift, der bereits in einer andern anregenden
Arbeit sich mit der Fürsorge für die schwachbegabten Kinder beschäftigt hat, be-
handelt hauptsächlich die Frage nach einer zweckmäfsigen Trennung der Taubstummen
nach Fähigkeiten. um ihnen eine ihrer Veranlagung entsprechende Ausbildung bieten
zu können. Er beschreibt zunächst in kritischer Darstellung die Malsnahmen, welche
in Dinemark und Norwegen auf dem Gebiete der Taubstummenbildung zur Trennung
nach Fähigkeiten getroffen sind und tritt dann mit seinen Forderungen zwecks einer
bessern Deschulung der Taubstummen für Deutschland, speziell für die Provinz
Hannover hervor. Deshalb scheint die Schrift in erster Linie für Fachleute ge-
schrieben zu sein, besonders auch aus dem Grunde, weil in ihr einzelne methodische
Fragen erörtert werden, über deren zweckmälsige Beantwortung nur erfahrene Taub-
stummenlchrer zu entscheiden vermögen. Allein die psychologischen Erörterungen
und pädagogischen Darlegungen, welche die Grundlage der Erwägungen der Arbeit
bilden, bieten geradezu eine Fülle der anregendsten Gedanken für jeden Pädagogen,
und dadurch gewinnt die Schrift auch eine weitergehende, allgemeine Bedeutung
und verdient die vollste Beachtung in allen pädagogischen Kreisen, namentlich auch
in unserm Leserkreise. Die Ausführungen des Verfassers legen nicht nur beredtes
Zeugnis von Seinem tiefen Verständnisse über anormale Erscheinungen in der
geistigen Entwicklung des Kindes ab, sondern sie bieten auch wertvolle Fingerzeige
für die Erziehung und Unterweisung anormaler Kinder in methodischer und schul-
technischer Beziehung. Die neuste pädagogische Literatur findet in der Arbeit
kritische Würdigung; was hierbei zum Ausdrucke gebracht wird, um das Los der
Gebrechlichen und wirtschaftlich Schwachen zu mildern uud zu bessern, mufs jeder
Heilpädagoze ausdrücklich anerkennen und beachten. Wir können die Schrift als eine
aulserst schätzenswerte Arbeit auf heilpädagogischem Gebiete recht warm empfehlen.
Stolp i. Pom. Fr. Frenzel.
Druck von Hermann Boyer & Söhno (Boyer & Mann) in Langonsalza.
A. Abhandlungen.
1. Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei
| Kindern.
Von
A. König, Seminarlenrer in Altdorf.
In weite, blühende Gefilde der psychologischen Forschung schaut
mein Blick, doch schreitet der Fufs zaghaft vorwärts, denn vor mir
liegt ein wenig betretenes Land. »Für die höchst auffällige Tatsache
— schrieb 1901 der Kunstwart — dafs auf der -Berliner Ausstellung
»Die Kunst im Leben des Kindes« die Musik so gut wie gänzlich
unberücksichtigt geblieben war, läfst sich schlechterdings kein zu-
reichender Grund finden.e Wenn ich vorab des Umstandes ge-
schweige, dafs hauptsächlich die Malerwelt für die Inszenierung jener
Ausstellung ein, zugestandenermalsen nicht einmal ganz ideelles,
Interesse bekundete, so weifs ich trotzdem noch einen zureichenden
Grund, warum auch die Psychologen so ganz das Musikalische ver-
galsen. Die praktischen Lebensbedürfnisse lehren uns dem — meist
mit klaren Gesichtsvorstellungen verbundenen — Worte den Vorzug
geben gegenüber den dunklen, höchstens von einem Gefühlston
begleiteten musikalischen Klängen. Darum bringt die Mehrzahl der
Menschen den bildenden Künsten und der Poesie mehr Verständnis
entgegen als der Musik, dieser ohne natürliches Vorbild dem mensch-
lichen Geiste entsprungnen Kunst. Ein Gemälde, ein neues Drama
will jeder »Gebildete« beurteilen können, über cine Symphonie ge-
trauen sich wenige Ernstgesinnte etwas zu sagen. Der Psychologe,
dem die speziell technische Bildung zur Beurteilung musikalischer
Dinge abgeht, verdient natürlich so wenig einen Vorwurf als der
Die Kinderfehler. VIII. Jahrgang. 4
a
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a
50 A. Abhandlungen.
Musiker, der in den Mühsalen seiner Kunstausübung nicht auch noch
das schwere Rüstzeug des Gelehrten herumschleppen mag. Wenn
aber der richtige deutsche Professor mit souveräner Verachtung auf
den »ungebildeten« Musiker hinabschaut, so wird dem Praktiker auf
künstlerischem Gebiet die stille Arbeit des Gelehrten vielfach als un-
fruchtbares Zeug erscheinen. Und so kommt es, dafs die musikali-
schen Fachzeitschriften und die psychologischen Werke zumeist in
der Nichterforschung der musikalischen Entwicklung unserer Kinder
löblich miteinander wetteifern. Ohne Umschweif gesagt: den meisten
Gelehrten geht das Interesse an musikalischen Dingen ab, weil ihnen
die technische Ausbildung und ein auf so feine musikalische Unter-
schiede geeichtes Ohr fehlt, wie es freilich auch durchaus nicht alle
Musiker besitzen. Meine eigne Berechtigung, an die gestellte Aufgabe
heranzutreten, daf ich wohl gleichermafsen aus konservatorischen
Studien und aus alter Vorliebe für das Gebiet der Psychologie herleiten.
Man wird also erwarten dürfen, die Erfahrungstatsachen aus dem
Gebiete der Musik zuverlässig mitgeteilt und kritisch geprüft zu sehen.
Im Interesse einer scharfen Abgrenzung unserer Aufgabe muls
zunächst der Begriff des Musikalischen nach seinen verschiedenen
Seiten festgestellt werden. Worin offenbaren Naturmensch und Kind
zuerst musikalischen Sinn? Wenn die Weisen der Militärkapelle und
der Tanzmusik in die Glieder fahren, das Kind hinter den Trommeln
seiner »Kriegskamceräden« herläuft, der Wilde an Rasseln und Klappern
sich ergötzt, dann offenbart sich die erste und unterste Stufe musi-
kalischen Sinnes, das Gefühl für Rhythmus Rhythmus ist die
Ordnung in der Bewegung, mithin nicht etwas spezifisch Musika-
lisches; wie die Verse einer Dichtung, so beherrscht er die Linien
eines Ornaments. — Je rauschender das Spiel, je mehr Trompetenton,
um so lebhafter gerät der Naturmensch in Bewegung: die Freude
am musikalischen Klang bekundet also fernerhin den musikalischen
Sinn. Demnächst kommt das Melodische als ein Hauptstück
der Musik in Betracht. Die melodische Folge ist es zunächst, die
in uns Stimmungen hervorruft. Auch das Rezitativ, die im gewöhn-
lichen Sinne vom Rhythmus losgelöste Melodie, vermag cine tief-
gehende musikalische Wirkung zu erreichen. — Wer einmal den
wunderbaren Klängen alter Kirchenmusik mit ihrem Geranke von
Stimmen gelauscht, wird gerne den Sinn für Harmonie und Poly-
phonie als ein wichtiges Stück musikalischer Befähigung erkennen.
Im musikalischen Menschen zeigen sich aber auch noch andere, mehr
geistige Seiten der Befähigung: Formenverständnis, Gedächtnis,
musikalisches Urteil, schöpferische Phantasie. Führen wir
Köne: Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei Kindern. 51
schliefslich noch an, dafs die Mehrzahl liebender Tanten von dem
musikalischen Talent entzückt ist, sobald ein bischen Fingerfertigkeit,
ein wenig gute Stimme sich zeigen, so sehen wir, dafs eine gewisse
organische Veranlagung häufig schon für Musikalischsein gc-
nommen wird. Wie viele dieser Fähigkeiten müssen vereinigt sein,
um vom Vorhandensein musikalischen Sinnes reden zu dürfen? Der
tapfere Krieger auf dem Schlachtfeld und der geniale Schlachtenlenker
— beide sind gute Soldaten, trotz verschiedener Fähigkeiten. Nicht
anders in der Musik: Wer ein instinktives Urteil über die Schönheit
einer Melodie ohne die Fähigkeit des Verfolgens ins einzelne besitzt;
wer Melodien gut hört, ohne im harmonischen Labyrinth sich zurecht-
zufinden; wer Gehör besitzt, aber nicht auswendig zu merken ver-
mag: ihrer keinem darf der musikalische Sinn abgesprochen werden.
Wo sind die Glücklichen, die alles vereinigen? Ein Mozart, ein Bacu
sind Erscheinungen, deren jedes Jahrhundert ihrer wenige gebiert.
Also: den musikalischen Sinn unserer Kleinen nicht mit dem Mafs-
stab des Genies oder nur des Erwachsenen messen wollen!
Am besten betrachten wir die einzelnen Richtungen in der Ent-
wicklung des musikalischen Sinnes und beginnen mit der Emp-
findung des musikalischen Klanges. Bekanntlich reagiert das Ohr
des Neugebornen noch nicht auf äufsere Eindrücke, und es wird
kaum mit Sicherheit bestimmt werden können, wann das Kind zu
hören beginnt. Nach Prevers Beobachtungen (Leben der Seele) wurde
ein Kind bereits in der 6. Woche durch Gesang beruhigt; in der
T. Woche stellte sich bei leise gesungenen Wiegenliedern der Aus-
druck höchster Befriedigung ein, während in der 8. Woche bei jedem
forte des Klavierspiels sich ungewöhnliche Spannung im Auge ver-
bunden mit lebhaften Bewegungen der Arme und Beine zeigte.
Höhere und leisere Töne brachten geringere Eindrücke hervor. Von
einem 12 wöchentlichen Kind berichtet SrrümpeLL, dafs es auf das
Klavierspiel merkte und allein sang. Die Freude am musikalischen
Klang wächst im 2. und 3. Vierteljahr. Das häufig bemerkte freudige
Schlagen auf die Klaviertasten verzeichnet Preyer nach dem ersten
Jahr; ich konnte es an meinem Knaben noch früher beobachten.
SULLEY konstatiert das kindliche Vergnügen am Laut. Wir alle wissen
ja, mit welcher Vorliebe so ein kleiner Schlingel mit dem Efslöffel
Teller und Stühle bearbeitet. Im allgemeinen scheinen aber neu-
geborene Tiere dem kleinen Menschenkind im Hören überlegen zı
sein. Verhältnismälsig bald zeigt sich bei Kindern gegenüber ver-
schieden gearteten Tönen auch cin verschiedenes Verhalten. Wenn
bei Metalltönen, Gesang und Klavierklängen im allgemeinen Befriedi-
4*
t
ID
A. Abhandlungen.
gung auf den Gesichtern sich spiegelt, so zeigt sich gegen manche
andere Töne eine Empfindlichkeit, die nur in der Regel weniger be-
achtet zu werden pflegt als die gleichgeartete Erscheinung in der
Tierwelt. Den Hund, der bei einer für uns himmlischen Musik heult,
bemerken wir eben sehr leicht, während wir kindliches Geschrei nur
allzugerne andern Umständen zuschreiben. Preyer konstatiert zu-
nächst, dafs höhere Töne geringern Eindruck machten. Sollten viel-
leicht die kleinern Fasern des Cortischen Organs erst später zur Ent-
wicklung gelangen und gebrauchsfähig werden, um dann allerdings
um so empfindlicher und um so länger gebrauchsfähig zu bleiben?
Schwerhörige können hohe Töne verhältnismäßsig gut wahrnehmen,
und gerade die höchsten Töne. der Geige sind es, die das mensch-
liche Ohr schmerzen und jenes steinerweichende Hundegeheul ver-
ursachen. Gurzkow erzählt, dafs er die Geige nicht hören mochte;
mein eigner Knabe weinte im ersten Halbjahr bei Violinspiel. Ob-
wohl ein Trupp fröhlicher Kinder mit Trompeten, Pfeifen und
Trommeln aufserordentlich viel Lärm vertragen kann, möchte ich
doch bezweifeln, ob so ein zartes Geschöpf an dem forte einer wirk-
lichen Trompete ein Vergnügen empfände Der kleine Mozart
wenigstens konnte den Trompetenton nicht vertragen. Der Jahrgang
1535 der Eutonia berichtet von einem 1820 geborenen Kinde, das
mit 3/, Jahren bei Moll und bei kreischenden Flötentönen geweint
habe. Diese Beispiele scheinen dafür zu sprechen, dafs Kinder be-
sonders gegen die hohen und aufdringlichen Obertöne der Geigen
und Trompeten empfindlich sind. Im ganzen herrscht bei gesunden
Kindern die Freude an den voleren Tönen der Blasinstrumente
(natürlich nicht grell gespielt) vor; Sinn für zartere Klangfarben ent-
wickelt sich erst später. Ich entsinne mich noch aus den vorge-
schritteneren KRnabenjahren, dafs mir der Klang der Saiteninstrumente
einer wahrscheinlich freilich recht divftigen Theaterkapelle ziemliches
Mifsbehagen verursachte Allgemeine Abneigung gegen den musi-
kalischen Klang, die ich übrigens bei Kindern nicht beobachtet habe,
ist oft auf gar wunderliche Ursachen zurückzuführen. So erzählt
z. B. Dr. Häser (Euterpe 1575) von einem Mann, der infolge ver-
schieden langer Gehörgänge widerliche Eindrücke von Musik hatte.
— Übrigens ist die Freude am rauschenden musikalischen Klang, am
blofen »Stoffe der Musik, wohl die tiefste Stufe in der Entwicklung
des musikalischen Sinnes, eine Stufe, die dem Menschen wie dem
Tiere gleichermafsen eigen ist. Habe ich doch wiederholt beobachtet,
wie Singvögel, wenn man Ihnen vorpfeift, in Unruhe und wiegende
Bewegung geraten.
Könıs: Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei Kindern. 523
Neben der Empfänglichkeit für den musikalischen Ton regt sich
sehr bald der Sinn für Rhythmus. Die Entwicklung des Kindes
zeigt hier völlige Übereinstimmung mit jener der Völker: im Anfang
waren Trommel, Klapper und Händeklatschen. Frühzeitig erweckt
das Ticken der Uhr und der Pendelschlag die Aufmerksamkeit des
Kindes. Meines Bruders Hansel geriet mit 3/, Jahr bei lebhaft rhyth-
mischer Musik — Meyerhceers Prophetenmarsch und Gounods Soldaten-
chor — in ausgelassene Bewegung: »Ich sah, erzählt Sıaısvunn (Kind
und Welt), 3/,jährige Kinder beim Klange einer rauschenden Blas-
musik lebhaft im Mantel hüpfen, als wollten sie den Takt durch
thythmische Bewegungen nachahmen.« PrEYER konstatiert im 7. Viertel-
jahre taktmäfsige Bewegungen nach der Musik und berichtet von
einem 19 Monate alten Kind, das vorgesungene Lieder rhythmisch
korrekt mit den Händen begleitete.!) Übrigens kann ich aus viel-
facher Erfahrung versichern. dafs es durchaus nur die allerelemen-
tarsten rhythmischen Formen sind, welche dem Menschen sozusagen
im Blute liegen — hauptsächlich die Form zweier zusammengehöriger,
gleich langer, aber ungleich betonter Zeiten, wie sie gewöhnlich im
Marsch sich darbietet. Das eigentliche Kinderlied ist auf diesen zwei-
teiligen Rhythmus (Trochäen) eingerichtet: 5 DEN DD ZN
Dreiteiliger Rhythmus findet sich erst bei Kinderliedern, die deutlich
den Stempel der Einwirkung Erwachsener an sich tragen. Aufser
diesem sozusagen eingeborenen zweiteiligen Rhythmus erwarte man
übrigens nicht viel Sinn für rhythmische Gestaltungen. Haben doch
selbst die meisten gebildeten Musiker nicht allzuviel Verständnis für
scharfe, exakte Rhythmen. Dem Musiklehrer verursacht daher gerade
der rhythmische Teil der Tonstücke meist schweren Ärger. So wird
von Schülern insbesondere der Rhythmus M | meist so = | aus-
geführt. Es scheint also der menschlichen Nani das Grundbestreben
innezuwohnen, dem accentuierten Teil auch cine längere Quantität
zuzuerkennen. Selbst an ältern Schülern noch kann man das geringe
Verständnis für komplizierte Rhythmen beobachten, wenn z. B. das
gefürchtete Bild eines Haypxschen Adagios im Unterricht erscheint.
Offenbar findet hier eine Kreuzung und Hemmung zweier Vor-
stellungsreihen statt. Die starre, mechanische, in der körperlichen
Empfindung wurzelnde Reihe (- v, bezw. — vu) soll in sich ein ver-
wickeltes rhythmisches Bild in der Weise aufnehmen, dafs auf die ver-
1!) Einen kleinen Capresen von 7 Monaten sah ich auf dem Arme seiner Mutter
die Tarantella durch rhythmische Finger- und Handbewegungen, Rumpfbewegungen
und Gesichtsausdruck tanzen beim Anhören der Musik. Die Lustempfindungen und
Tanzbewegungen erwachsener Tänzer offenbarten sich hier schon keimartig.
54 A. Abhandlungen.
schiedenen Accentteile (Taktteile) verschieden viele Noten kommen, bei-
spielsweise auf das erste Viertel 1, auf das 2. Viertel 16. Der natür-
liche Mensch aber, der nichts vom Geiste Gottes vernimmt, pardon,
der die verwickelten Gebilde eines Haypxschen Adagios nicht zu er-
fassen vermag, lebt in der ersten mechanischen Rhythmusreihe mecha-
nisch weiter, und es macht sich bei ihm sozusagen ein musikalischer
horror vacui geltend — in die Praxis umgesetzt: er möchte gerne
das eine Viertel ebenso schnell spielen als jedes der einzelnen Sechs-
zchntel. Besonders das weibliche Geschlecht ist in dieser Beziehung
grofis. Summa: der Rhythmus, den man die Seele der Musik zu
nennen liebt, ist bei Kindern durchaus nur in der elementarsten
Form dem Gefühl eingeprägt.
Wie sich das ganz natürliche, von unserer Kulturmusik noch
nicht wesentlich beeinflufste Kind zur Melodie stellt, darüber werden
wir am besten die Kinderlieder befragen. Selbstverständlich nicht
jene, die auf dem Giftboden städtischer Tingeltangel- und Couplet-
musik erwachsen, sondern die noch von der reinen, rauhen Landluft
durchweht sind. Kinder in Städten sind ja vielfach keine Kinder,
sind Zwitter, frühreife, unreife oder angefaulte Früchte (»Früchterl«
im Süddeutschen). Natürlich ist die Melodie echter Kinderlieder sehr
einfach. Das umfängliche Werk von Bönue über deutsches Kinder-
lied und Kinderspiel wird wohl die gröfste Sammlung hierhergehöriger
Melodien enthalten. Von diesen scheide ich vorweg die meist
hübschen Wiegenlieder, als nur von Müttern gesungen, aus. In
Betracht kommen hauptsächlich Ringelreihen, Maikäferlieder, Aus-
zählreime, Ansingelieder, Tanzreime. Die Melodie des Kinderliedes
zeigt deutlich, wie in gehobener Stimmung der Sprechton zum musi-
kalischen Klang sich verdichtet, das Sprechen zur Melodie wird. Und
wie in der Sprache eines Volkes im ganzen der gleiche Tonfall
wiederkehrt, so zeigt sich in den Melodien der Kinderlieder immer
wieder eine stereotype Weise. Böune verzeichnet drei Grundformeln
mit je mehreren Varianten. Nach meinen Erinnerungen und Beob-
achtungen ist die eigentliche Melodie fast aller Kinderlieder diese
= SEFEIFSZE Mit Böhme möchte ich übereinstimmen,
ED-e-e-e 7-0 )]- wenn er als Eigenschaften der Kindermelo-
dien anführt, dafs sie in kleinen Tonschritten sich ergehen, aus-
schliefslich in Dur stehen, einstimmig und frei von Modulationen
sind, dafs auf jede Silbe nur eine Note kommt und dafs der Text
zumeist in Trochäen abgefafst ist. Dazu bemerke ich noch folgendes.
Die Intervallenschritte in obiger stereotyper Kindermelodie sind der -
Gianzton (grofse Sekunde) nach oben und die kleine Terz nach unten
Köme: Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei Kindern. 55
(Kuckucksterz!). Ein gröfserer Sprung kommt noch vielfach in
andern Melodien vor, der überhaupt bei allem Gesang cine grofse
Rolle spielt und der die meisten Lieder mit jambischem Versmafs
eröffnet, das ist die Quarte unterhalb des Grundtones. Der geneigte
Leser gebe sich die Mühe, ca. 100 Lieder mit Auftakt auf diesen
Quartenschritt hin zu prüfen. Der ganze Umfang obiger Kinder-
melodie beträgt ebenfalls eine Quart. Gröfsere Intervalle singt das
Kind und der Naturmensch aus eignem Antrieb nicht wohl. Die
leidenschaftslose Rede, der Rezitationston ist meist auf diesen Quar-
tenschritt eingerichtet. Die griechische Tonreihe bestand bekanntlich
aus Tetrachorden, auch unsere Durtonleiter läfst sich in zwei gleich-
geartete Tetrachorde zerlegen. Der gregorianische Choralgesang, ob-
wohl im ganzen zunächst den Umfang ciner Sexte festhaltend, be-
schränkt sich doch in den einzelnen Motiven vielfach ebenfalls auf
das Tetrachord. All das beweist die Wichtigkeit der Viertonreihe.
Auffällig ist an obiger Melodie, dafs ein Ton innerhalb des Tetra-
chordumfanges fehlt, sowie, dafs kein Halbton vorkommt. Wollte
man den fehlenden Ton ergänzen, so könnte die Reihe nach unserm
ZR NN nl
T r — -NNN N :
musikalischen Gefühl nur heifsen : aR e a y So gibt
n nn nn e-
sie auch Lewarter (BönneE Nr. 227) wieder. Tonartlich würden wir
moderne Musikmenschen mit unserm eingefleischten Dùrbewufstsein
obige Melodie freilich als ein C-dur auffassen, mit der Quinte bc-
ginnend, mit der Terz schliefsend. Werkwürdigerweise ist aber
nirgends der Grundton zu hören. Nach antiker Auffassung dagegen
ergäbe die Reihe ein Tetrachord, das im Sinne der sogenannten
Kirchentonarten mixolydisch, im Sinne der griechischen Musik dorisch
wäre. Also dürfte für diese »Urmelodie« die Behauptung, dafs sie
in Dur stehe, anfechtbar sein. Ein Volk mit vorherrschenden Moll-
tonarten könnte sie ebensogut als Moll empfinden. Erinnern wir
uns, dals nicht nur die meisten altdeutschen Volkslieder, sondern
auch die der meisten Naturvölker in Moll stehen, so läfst sich aus
obiger Melodie schwerlich nachweisen, ob dem kindlich musikalischen
Sinn Dur oder Moll näher liegt. Darin hat freilich Bömme unbe-
stritten recht, dafs andere Kinderlieder (welche nämlich über diesen
Quartenumfang hinausreichen und bereits ausgesprochene Liedform
besitzen) durchweg Durcharakter haben; sie sind eben unter der
Herrschaft unseres Dursystems entstanden und von Kindern den Er-
wachsenen nachgesungen. Um Schlüsse ziehen zu können, mülste
man Kinderlieder aus Ländern mit vorherrschendem Moll zur Hand
haben — aber meine grolse Sammlung von Notizen über Volkslieder
56 A. Abhandlungen.
lehrt mich, dafs den meisten Berichterstattern Sinn oder Fähigkeit
für Aufzeichnung der Melodien abgeht. — An weiteren Kinderliedern,
die im Umfang über jene Urmelodie hinausgehen, fällt mir auf, dafs
sie nur den Halbton von der 3. zur 4 Stufe der Tonleiter (e fin
C-dur), fast nie aber von der 7. zur 8. (Leiteton = h c) enthalten;
man vergleiche z. B. das allbekannte »Fuchs, du hast die Gans gc-
stohlen.« Auch nach meinen sonstigen Erfahrungen ist das Treffen
des Leitetones nicht etwas Leichtes und Selbstverständliches. Bei
ciner ganzen Reihe meiner Schüler hatte ich im Klavier- und Orgel-
unterricht den Eindruck, dafs sie im mehrstimmigen Satze die kleine
Scpte an Stelle der grofsen (des Leitetones) durchaus nicht als falsch
zu empfinden scheinen, was den harmonisch geschulten Musiker
ziemlich aufser Fassung bringen kann. Sollte unser wissenschaftlich
so fest begründetes Tonsystem für »natürliche< Ohren doch nicht so
natürlich und selbstverständlich sem? Im übrigen weifs jeder Ge-
sanglehrer, dafs die in der sogenannten Naturharmonie begründeten
Intervalle am leichtesten ‘zu treffen sind: reine Quinte, Oktave, grolse
Terz, kleine Septe. Merkwürdigerweise wird die Oktav für sich allein
nicht immer am leichtesten ausgeführt; dagegen prägt sich der Dur-
dreiklang bald den Ohren ein und verhältnismälsig rasch erlernt sich
auch die Durtonleiter. Damit steht keineswegs die Behauptung
R. Laxees in Widerspruch, dafs die Gesangskünstler ihren letzten
Triumph darin fänden, eine Tonleiter in langandauernden Tönen rem
zu singen. Das langsame Singen eines kunstmäfsig gebildeten Tones
ist eben etwas anderes, als die Tonleiter eines Volksschülers; zudem
handelt es sich bei dem Künstler um den Unterschied von reiner und
temperierter Stimmung, der das Bewußstsein des Kindes noch nicht
beunruhigt. — Die kleine Sekunde widerstrebt länger dem Eingang
ins musikalische Gedächtnis; auch sind die widerhaarigen über-
mäfsigen und verminderten Intervalle nur dem eigentlich Musika-
lischen bei längerem Studium zugänglich. Übrigens kann das Treffen
einzelner Intervalle durch Assoziationshilfen erleichtet werden. So
berichtet Streuner (das Lied als Gefühlsausdruck) dafs in den Unter-
klassen auch von Schülern, die eine vorgesungene Quarte nicht trafen,
dieses Intervall ganz rein zu erhalten war durch Anknüpfen an das
den Rindern bekannte Feuerwehrsignal (d g mit Text: Es brennt)
u. derel. mehr. — Das Hinaufschleifen und Sinkenlassen des Tones,
zwei bei Kindern vielfach anzutreffende Fehler, deuten auf ein noch
unvollkommen ausgebildetes Gehör, lassen aber keineswegs auf Mangel
an musikalischem Sinn schliefsen. Vielmehr verursacht meist die
Ungeübtheit des ausführenden Organes (des Kehlkopfes) jene Er-
~l
Köxre: Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei Kindern. 5
scheinungen. Im erstern Falle setzt das Kind in der gewohnten
Sprechlage ein, um bis zu dem vom Gehör als richtig erkannten Ton
heraufzuschleifen. Auch das so milsliche und gerade im Schulgesange
so viel beobachtete allmähliche Heruntersinken ist m der ungenügen-
den Übung (oder auch in unnatürlicher Anstrengung) des Kehlkopfes
und der dadurch hervorgerufenen raschen Ermüdung der Gesangs-
werkzeuge begründet.
Erfahrungsgemäls stellt sich die Fähigkeit der Auffassung von
Harmonien ganz zuletzt ein. Hat doch die gesamte Menschheit
bis etwa ins 15. Jahrhundert herein gebraucht, um zu einer wirklich
mehrstimmigen Musik und zur Ausbildung einer Lehre von den
Harmonien zu kommen, die wiederum erst ein paar hundert Jahre
später ihre wissenschaftliche Begründung erfahren hat. Die Musik
der Naturvölker ist einstimmig: Kinder folgen hierin so genau der
allgemein menschheitlichen Entwicklung, dafs es ihnen anfangs sogar
schwer wird, die von Männerstimmen in der tiefern Oktave in-
tonierte Melodie in der höhern Oktave mitzusingen. Späterhin zeigt
sich Sinn für Harmonie im Sckundieren. Manche Kinder mögen
dies schon vor der Schulzeit fertig bringen, einen gröfsern Teil kann
man bekanntlich auch später nicht dazu gebrauchen. Kinder der
letztern Art müssen nicht absolut unmusikalisch sein. Eine mir be-
kannte sehr musikalische Dame kann ich doch nicht dazu bringen,
ctwas anderes als Melodie im Chore mitzusingen. Warum soll ein
Mensch, der statt einer richtigen Bafsstimme die Melodie in der
tiefern Oktave mitsingt — eine in ländlichen Männerchören sehr bce-
kannte Erscheinung — keinen Sinn für Musik besitzen? Hat er ja
doch nur statt der an sich nicht notwendigen und für den Sänger
nicht gleich fafsbaren Stimme die Melodie ganz richtig im Ohr. —
Nach der Fähigkeit des Sekundierens pflegt sich der Sinn für Har-
monie zunächst in der Form einzustellen, dafs ein verschwommener
Allgemeineindruck eines Akkordes vorhanden ist, z. B. »das ist C-dure.
Erst später, meist nach vielen Übungen, können die einzelnen Töne
(Stimmen) erfafst werden. Wie weit die Fähigkeit von Kindern hierin
geht, lälst sich schwer sagen, da unser gesamter Musikunterricht in
dieser Hinsicht mit jüngern Schülern keine Versuche anzustellen
pflegt. Das vermaledeite Klavierspiel, das dem Schüler die Möglich-
keit aller Tonkombinationen fortwährend an die Hand gibt und ihn
der Mühe musikalischen Denkens enthebt, ist gewifs im ganzen kein
Segen für die Pflege des Gehörs und für die Entwicklung des eigent-
lich musikalischen Sinnes gewesen. Wir mülsten ja sonst wahre
Musikheilige sein.
58 A. Abhandlungen.
Die Fähigkeit richtiger Auffassung und Wiedergabe einer Melodie,
späterhin auch «das Erfassen des harmonischen Gehaltes einer Kom-
position, pflegen wir als musikalisches Gehör zu bezeichnen. Ist es
hei Kindern vorhanden, und in welchem Grade? Wenn auch ziem-
lieh frühzeitig der Versuch des Nachsingens gemacht wird, halte ich
doch den von Preyer erwähnten Fall, dafs ein Kind mit 9 Monaten
jeden auf dem Klavier angegebenen Ton richtig nachgesungen habe,
für eine aufserordentliche Seltenheit. Da Prever daneben auch von
einem andern Kinde berichtet, das zu Ende des 3. Jahres trotz feinen
Gehörs für Geräusche die Töne e d e nicht zu merken vermochte,
so ergibt sich aus beiden Fällen für das musikalische Gehör eine
großse individuelle Verschiedenheit, meines Erachtens eine gröfsere
als im Bereich des Rhythmus, für den — wie Kinderspiel, Marsch
und Tanz uns lehren — die Empfänglichkeit von Anfang an eine
gleichmäßsigere ist. Das Gehör entwickelt sich oft sozusagen nur
stückweise. So konnte einer meiner ältern Schüler zwar nach einem
vorgespielten Ton auf der Violine rein nachspielen, für sich aber
nichts Reines zusammenbringen. Hier war offenbar das leibliche Ohr
in Ordnung, aber das geistige Ohr und Tongedächtnis nicht genügend
entwickelt. Absolutes Gehör — darin bestehend, dafs man einen be-
liebigen Ton ohne Hilfsmittel nach seiner Höhe bestimmen oder einen
verlangten aus dem Gedächtnis angeben kann — darf man natürlich
von Kindern nicht verlangen: besitzen es «doch nur wenige Er-
wachsene. Hat aber ein Schüler, der nach Tagen ein gelerntes Lied
in richtiger Tonhöhe anstimmen kann — und deren gibt es doch
wohl — nicht ein Stück absoluten Gehörs? Aus Versuchen mit aller-
dings 15—20jährigen Schülern möchte ich «ie Behauptung wagen,
dafs musikalisches Gehör — gewöhnlich für ein Geschenk von Gottes
Gnaden gehalten, das ohn alles Zutun einzelnen Beglückten in den
Schoß fält — der Ausbildung fähig, und zwar einer viel gröfsern
Ausbildung fähig ist, als man gewöhnlich annimmt. Ich möchte mir
selbst mit Versuchen an jüngern Schülern ganz gute Erfolge ver-
sprechen. Unsere ganze Musiziererei ist eben leider in den Sumpf
der Fingerfertigkeitspflege hineingeraten, statt auf Gehörbildung von
Anfang an auszugehen. Als ob das Musikalische in den Händen
statt in den Ohren stäke! Mit meinen Erfahrungen und Ansichten
stimmen beispielsweise überein: mein Freund Horzısger in Erlangen,
ein tüchtiger Musikpädagoge (»Das Gehör ist äufserst selten zu gering
und wird bei verständiger Übung immer besser«); Stumer in der
Euterpe 1573 (>Absoluter Mangel an Gehör ist selten, in Marschen
häufiger als in Gebirgene); A. B. Marx (>»Ein gänzlicher Mangel an
Könie: Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei Kindern. 50
mn ann al a mo mm mn Be a a Da hei di be —— i
Musiksinn scheint zu den höchst seltnen Fällen zu gehören.« Er
habe unter Tausenden, die er beobachtet, nur zweimal sänzlichen
Mangel an Musiksinn gefunden): L. Lonse (»Mir ist in 40 Jahren nicht
ein gesundes Kind vorgekommen, das bei gutem Willen im 7. Lebens-
jahre nicht den Dreiklang hätte singen lernen«). Ähnliche Meinungen
sprechen die meisten guten Musikpädagogen aus: nur schlechte
pflegen sich mit dem Mangel an Gehör zu trösten und zu ent-
schuldigen. Irrungen im Hören haben hie und da ihren Grund in
der Wahrnehmung starker Obertöne. So wird es z. B. oftmals schwer
die Töne grofser Glocken zu bestimmen. Aus cigner Jugendzeit er-
innere ich mich, über die Höhe der Tenorstimmen, die ja bekanntlich
sehr starke Obertöne hören lassen. lange im Unklaren gewesen zu
sein. Das Kind merkt hier, seinem natürlichen Empfinden folgend,
auf die Obertöne, die der Erwachsene infolge lang gewohnter Ab-
straktionen nicht mehr beachtet.
In der Entwicklung des musikalischen Sinnes gesellt sieh zur
Auffassung des musikalischen Tones bald «das musikalische Gedächt-
nis. Nach Preyer können Kinder mit ausgebildetem Tonsinn schon
im 1. Jahr Melodien behalten. Obwohl graduell sehr verschieden,
ist das musikalische Gedächtnis doch immer vorhanden. , ToLzisser
fand es bei allen Schülern, ist aber der Meinung, dafs es einer
methodischen Pflege bedürfe.. Der große Gedächtniskünstler BëLow
vertrat ebenfalls die Ansicht, Gedächtnis sei nur eine Sache der
Übung. Bei systematischer Ausbildung vermögen selbst Kinder im
Behalten von Kompositionen Grofses zu leisten. Der aufmerksame
Klavierlehrer ertappt oft genug seine Schüler darüber, dafs sie von
den Noten wegschen und aus dem Gedächtnis spielen.
-Die Entwicklung des musikalischen Sinnes wird nur allzuoft
durch die natürliche Befähigung der ausführenden Organe
in bestimmte Bahnen geleitet. Ein Kind mit Wolfsrachen kann kein
Sänger werden, aber, wie ein mir bekannter Fall zeigt, ein guter
Geiger, und ein Schüler mit fehlerhaft gebauter Hand zeigt keine
»Begabung« fürs Klavierspiel. Bei Kindern sind vielfach die Gre-
sangwerkzeuge noch nicht genügend entwickelt. Einzelne Töne
werden getroffen, andere nicht festgehalten, wieder andere zitterig
angegeben; oft fehlt das Metall der Stimme. Infolge fehlerhaften
Zun genbaues stellt sich der Nasenton ein. Bexxart berichtet in der
Euterpe 1873 von einem Chemiker, der lange Musikstücke behielt
und die Reinheit des Gesanges zu beurteilen vermochte, jedoch selbst
beständig grundfalsch sang. Verschwinden derartige organische Fehler
mit der Zeit nicht von selbst, so beeinträchtigen sie natürlich die
60 A. Abhandlungen.
Entwicklung des musikalischen Sinnes wenigstens nach einer Seite
bedeutend. Übrigens sind die angeführten Fälle wiederum eine
Mahnung, in der Beurteilung der musikalischen Befähigung eines
Kindes vorsichtig zu sein.
Nun noch die Frage, ob die musikalische Entwicklung des Kindes
sich auch in der höchsten Form, als schöpferischer Trieb, be-
tätiet. Wer vermag dem kleinen Neelchen nachzugehen, wenn es
aus dem Eigenen zu schöpfen sucht? Ich halte es für eine der
schwierigsten psychologischen Arbeiten. Nur das möchte ich be-
haupten: So gut das Kind zeichnet und aus Sand Häuser baut, so
gut probiert es auch, Föne zusammenzufügen. Es würde sich ver-
lohnen, daraufhin Kinder zu beobachten: bislang liegt meines Wissens
cin Versuch in dieser Richtung nicht vor. Warnen möchte ich vor
dem Gedanken, dafs die Melodie der Kinderlieder eigne Schöpfungen
unserer Kleinen seien. Nur die oben erwähnte typische Kinder-
melodie geht so sehr aus dem Sprechton hervor, dafs auch Kinder
auf ihre Erfindung verfallen sein konnten. Allen im Rhythmus
irgendwie gekünstelten und im Umfang wesentlich über eine Quart
hinausgehenden Liedern möchte ich die Erfindung «dureh Kinder ab-
sprechen, wenn sie auch noch so gerne in Schule und Haus ge-
sungen werden. Mit vermehrtem Musikunterricht pflegt sich auch
da und dort der Drang zum »Komponieren« einzustellen. Soweit
ich an allerdings ältern Schülern (14—15 Jahre) beobachten konnte,
würden gar viele Musikbeflissene zur Erfindung cines anständigen
Motivs oder einer ganz brauchbaren Melodie erzogen werden können,
so wie man ja auch viele Menschen zu einem brauchbaren, manche
sogar zu einem guten Aufsatz heranbilden kann, ohne deswegen den ein-
zelnen zum Schriftsteller machen zu wollen. Durch Versuche der obigen
Art könnte die Entwicklung des musikalischen Sinnes nur gewinnen.
Eine ganz eigentümliche Erscheinung im geistigen Leben sind
die sogenannten Musikphantome (Photismen). Das Anhören von Musik
erzeugt bei einzelnen Menschen Farbenempfindungen oder sogar voll-
ständige Bilder (vergl. 2. B. Rurns, Musikphantome). Hann - Stimpri,,
Der Inhalt des Geistes der Kinder bei ihrem Eintritte in die Schule
(Baver. Lehrerz. 1900) scheint das Vorhandensein solcher Musik-
phantome bei Kindern zu bestätigen: von 53 Kindern haben 21 die
Töne gewisser Instrumente als farbig bezeichnet. Ich habe bei Kindern
nach dieser Seite hin keine Untersuchungen angestellt, dagegen bei
Erwachsenen (vom 14. Jahr an bis zum reifen Mannesalter) viel Um-
trage gehalten, ohne irgend welches Resultat zu erzielen. Sollte nicht
in vielen der oben angeführten Fälle eine Täuschung vorliegen, was
ScHoLz: Abnorme Kindesnaturen. 61
ja bei der Schwierigkeit psychologischer Untersuchungen an Kindern
leicht möglich wäre, so mülste man zu dem Schlusse gelangen, dafs
Musikphantome in der Jugend häufiger als in spätern Jahren vor-
kommen, dafs also mit dem zunehmenden Alter gewisse Assozlations-
bahnen verschwinden oder nicht mehr benutzt werden. ? —
(Schluls folgt.)
2. Abnorme Kindesnaturen.
Vortrag, gehalten am 6. Dez. 1902 im Waldbröler Lehrerverein.
Von
Dr. L. Scholz, dirig. Arzt der Irrenanstalt in Waldbröl.
M. H. Das Thema, über das ich heute zu sprechen die Ehre
habe, bedarf in Ihrem Kreise keiner Rechtfertigung. Die Kenntnis
abnormer Kindesnaturen und ihre richtige Beurteilung beansprucht
eine praktische Bedeutung, die für den Erzieher nicht weniger grofs
ist als für den Įrrenarzt. Denn wir begegnen den unglücklichen
Kindern in Schule und Haus häufiger, als Lehrer und Eltern selbst
es wissen. Und darin eben liegt das Traurige: die Verkennung der
abnormen Zustände bildet die Regel, die Erkennung die Ausnahme.
Wie kommt das? Die Erklärung ist nicht so schwer zu finden: es
gibt der Berührungs- und Übergangspunkte zwischen dem Normalen
und Abnormen so viele, dafs im gewöhnlichen Leben sehr oft über-
haupt nicht an die Möglichkeit einer pathologischen Abweichung ge-
dacht wird. Man spricht von Charakterfehlern oder, nichtssagend
genug, von Charaktereigentümlichkeiten, wo der Ausdruck Psycho-
pathien eher am Platze wäre Und doch, wie manches Elend, wie
manche Ungerechtigkeit und Härte liefse sich vermeiden, wenn der
Lehrer versuchte, gewisse kindliche Eigenarten und Ausschreitungen
unter dem Gesichtspunkte zu erfassen, der uns heute Führer sein soll.
Nicht also bedarf mein Vortrag einer Rechtfertigung, wohl aber
zunächst einer Erläuterung. Was heifst abnorm? Schon hier
gerate ich in Verlegenheit. Umschreibe ich das Wort und sage:
von der Norm, der Regel abweichend, so ist damit nieht viel ge-
wonnen. Versteht man unter Regel soviel wie Richtschnur, Vor-
schrift und stellt als Forderung etwa die vollkommene Harmonie der
seelischen Funktionen hin, so ist kein Mensch normal. Besser ist
es deshalb, von der Regel im Sinne der Regelmäfsigkeit, des dureh-
schnittlichen Verhaltens zu sprechen. Diese Bedeutung palst sieh
ja auch im allgemeinen dem populären Sprachgebrauch an. Normal
62 A. Abhandlungen.
wäre dann der sogenannte Durchschnittsmensch, abnorm der, der
vom Durchschnitt abweicht. Im normalen Seelenleben sollen sich
die Gefühls-, Verstandes- und Willenselemente wenigstens einiger-
malsen die Wage halten, trotz aller sonstigen Verschiedenheiten in
der Gestaltung, wie sie durch die Eigenart der Geschlechter, der
Altersstufen, der Rassen u. s. w. hervorgerufen werden. Schlägt das
Zünglein nach der einen oder andern Seite zu lebhaft aus, über-
wuchert ein Teil der Seelenkräfte gar zu einseitig oder ist ein andrer
direkt verkümmert, so sprechen wir von Disharmonie. Und Dis-
harmonie ist das Wesen der Abnormität.
Aber geistige Disharmonie und Abnormität ist nicht ohne
weiteres dasselbe. Die Disharmonie mufs vielmehr den Menschen
dauernd besitzen, sie muls organisch, d. h. anatomisch und physio-
logisch bestimmt, und vor allem sie mufs vererbbar sein. Die Ein-
reihung vorübergehender Scelensehwankungen, z. B. der »Nervosität«
nach Gemütserregungen, würde dem Begriff Abnormität eine un-
zweckmäfsige Ausdehnung geben. Dabei braucht die Abweichung
vom Durchschnittstypus keineswegs angeboren zu sein: sie kommt
auch als erworbene Eigenschaft vor, z. B. bei Trinkern, bei Epilep-
tikern, bei Morphinisten, bei unvollkommen geheilten Geisteskranken.
Abnormität in diesem Sinne der andauernden, vererbbaren Ab-
weichung vom Durehschnittstypus bezeichnen manche Autoren,
z. B. Mösgtes!) auch mit Emtartung, einem Ausdruck, der recht gut
ist, sobald man ihn ganz wörtlich: von der Art abweichend, nimmt
und die populäre Nebenbedeutung des moralisch Verkommenen bei-
seite läft. Für weniger glücklich halte ich die von Koch?) einge-
führte Bezeichnung »Psychopathische Minderwertigkeitene. Denn
erstens ist das Wort Minderwertiekeit sehr häfslich und zweitens
auch nicht immer richtig. Denn wir werden gleich sehen, dafs der
Wert abnormer Menschen durchaus nicht immer gemindert, sondern
bisweilen sogar »gemehrt« ist. Das Attribut psvchopathisch aber
kann das falsche Hauptwort nicht korrigieren.
Dals abnorm und krankhaft nicht jedesmal dasselbe bedeuten,
ergibt eine Betrachtung des genialen Greisteszustandes. Recht viele,
wenn auch nicht alle, Genies sind zwar geistig abnorm, «disharmonisch
veranlagt, aber keineswegs krank. Krankheit ist Leben unter andern
Bedingungen, jedoch unter Bedingungen, die das Individuum und
häufig auch seme Nachkommen schädigen. Ohne diesen einschränken-
') Mösıvs, P. J., Über Entartung. 1900.
?) Kocen, J. I. A., Die psychopathischen Minderwertigkeiten. 1891.
€
ScHoLz: Abnorme Kindesnaturen. 63
den Zusatz wäre sonst jede ärztliche Einwirkung, jede Operation,
jedes Verabreichen eines Medikaments, jede hydropathische Ein-
packung ein krankmachender Eingriff. Auch müfste man eine ah-
norme Muskelkraft oder eine auffallende Lungenkapazität für krank-
haft halten. Richtig ist ja, dafs geniale Menschen mehr als andere
zum Irrsinn veranlagt sind, indes ist damit die Identität von Genie
und Wahnsinn keineswegs gegeben. Geisteskranke haben mit den
Genies wohl die lebhafte Reizempfänglichkeit. die Leidenschaft und
die Phantasie gemein, was sie aber von diesen unterscheidet, das
ist der Mangel an Urteilskraft. Kühnes Denken und Reichtum an
Einbildungsvermögen allein stempelt noch niemanden zum Genie.
Abnorm ist also nicht dasselbe wie krank. Aber die Begriffe
normal, abnorm und krank berühren sich so eng, dafs wir doch ver-
suchen müssen, uns über ihr gegenseitiges Verhältnis klar zu werden.
Von der Auffassung eines Geisteszustandes hängt seine Beurteilung
und seine Behandlung ab. Der Geisteskranke ist unzurechnungsfähig,
der Gesunde zurechnungsfähig. Die »normale« Dummheit cines
Kindes fällt in das Gebiet des Pädagogen, die krankhafte Geistes-
schwäche in das des Arztes. Ebenso können die Charaktereigen-
tümlichkeiten und sittlichen Verfehlungen auf gesunder oder kranker
Basis erwachsen. Sünde und Schuld auf der einen, Krankheit und
Unschuld auf der andern, — wo liegt die Wahrheit?
Die Natur macht keine Sprünge. Wie wir im Farbenspektrum
vergeblich nach einer scharfen Grenze zwischen dem Rot und Gelb,
dem Gelb und Grün suchen, so fliefsen auch Gesundheit und Krank-
heit ohne feste Scheidewand ineinander über. Gesund und krank
sind nicht zwei Begriffe, die sich diametral gegenüberstehen wie
positiv und negativ, sondern sie bezeichnen relative Größsen, wie
gut und schlecht, grofs und klein, schön und häßlieh. Lediglich aus
Zweckmälsigkeitsgründen sind wir genötigt, willkürlich eine Grenze
festzusetzen, wo es in Wirklichkeit keine gibt. Um jedoch dem
mählichen Übergang von einem geistigen Zustand in den andern
wenigstens einigermafsen Rechnung zu tragen, hat man sich gewöhnt,
von einem Grenz- oder Zwischengebiet zu sprechen und zählt
hierher die Abnormen, Entarteten, Psychopathen und Neuropathen,
die Minderwertigen oder welcherlei Ausdrücke noch sonst im Gic-
brauche sind. Vielleicht könnte man auch die Bezeichnung geistes-
kränklich, entsprechend dem körperlich-kränklieh, anwenden; doch
ist sie bisher nicht Mode geworden. Dieses Zwischengebiet bevölkern
nun alle jene zahllosen geistig nicht vollwertigen, an Verstand zurück-
gebliebenen und an Charakter vom Durchschnittsmenschen abweichenden
64 A. Abhandlungen.
Naturen, jene excentrischen. problematischen Wesen, überspannten
Phantasten, Träumer und widerspruchsvollen Geister, jene Trieb-
menschen, denen es an Ebenmafs und Harmonie gebricht. Viele von
ihnen werden im Laufe der Jahre geisteskrank, ihre Mehrzahl indes
bleibt davon verschont. Wohl aber herrscht die Psychose vielfach
unter ihren Vorfahren oder Nachkonmnen. Sie selbst sind gleichsam
auf der Vorstufe stehen geblieben. Was grade diesen Halbkranken
cine hohe, praktische Bedeutung verleiht, das ist der Umstand, dafs
sie, eben infolge ihrer abnormen Geistesbeschaffenheit, leichter als
ihre normal gearteten Mitmenschen mit den Strafgesetzen in Konflikt
geraten. Nun kennt aber das Gesetz nur Gesunde und Kranke, und
der ärztliche Sachverständige mufs sich in seinem Gutachten an diese
wissenschaftlich ungenügende Voraussetzung halten. Der Begriff der
„verminderten Zureehnungsfähigkeit«, der auf die Abnormen
am ersten angewendet werden könnte, existiert juristisch nicht und
die »mildernden Umstände« sind grade für eine Reihe der schwersten
Verbrechen wie Mord, Meineid, Raub ausgeschlossen. Was soll der
Arzt tun? Er muls sich für ein entweder — oder, gesund — krank
entscheiden. So erklären sich die Widersprüche in der Endbeur-
teilung des Geisteszustandes eines Angeklagten, wie sie mitunter bei
verschiedenen Begutachtern vorkommen, einfach dadurch, dafs der
eine den Begriff Gesundheit enger oder weiter fast als der andere.
Das Publikum aber, das diese Schwierigkeiten gar nicht ahnt, ent-
rüstet sich bafs über die irrenärztliche Unwissenheit: »da sieht man
mal wieder, wie es mit den Psychiatern bestellt ist, — der eine er-
klärt den Menschen für gesund und der andere für verrückt!«
Unser Seelenleben ist eine Einheit. Es gibt keinen Zustand,
der reines Erkennen, reines Fühlen und reines Wollen wäre. Aber,
praktisch betrachtet, läfst sich immerhin ein Unterschied zwischen
den beiden Grundfunktionen, des Erkennens einerseits und des
Fühlens und Wollens andrerseits, machen. So sprechen wir auch
in der Psychiatrie von intellektuellen Störungen und Krankheiten
der Gemüts- und Willenssphäre. | |
Auf die intellektuell abnormen Kinder, die Geistesschwachen
im engem Sinne, gche ich nur der Vollständigkeit wegen mit kurzen
Worten ein, da ihre Beurteilung in pädagogischen Kreisen auf mehr
Kenntnis und Verständnis stößst als die der abnorm gearteten
Charaktere. Wie dem Lehrer bekannt, kommen alle nur erdenk-
lichen Stufen von Idiotte vor. Die tiefstehenden Idioten bleiben
geistig unter dem Niveau der Tiere. Von Bildungsfähigkeit kann
hier gar nicht oder nur in beschränktestem Sinne gesprochen werden
ScHoLz: Abnorme Kindesnaturen. 65
und für die Schule kommen sie überhaupt nicht in Betracht. Unter
den bildungsfähigen Idioten sondert der Arzt wieder eine besondere,
höher stehende Gruppe, die der Imbecillen, ab. Die geistige Leistungs-
unfähigkeit erstreckt sich durchaus nicht über alle Gebiete gleich-
mälsig, ja wir finden mitunter bei Idioten einseitige Talente, die
uns in Erstaunen setzen, z. B. cin enormes Zahlen- oder Namen-
gedächtnis oder hervorragende künstlerische Fähigkeiten. So war
der als Katzenraffael berühmte Maler Mrsp ein kaum bildungsfähiger
Idiot. Nun ist es sehr wichtig zu wissen, dafs allerhand körperliche
Störungen leicht einen gröfsern Intelligenzdefekt vortäuschen, als er
in Wirklichkeit besteht. Man könnte hier von einer scheinbaren oder
Pseudo-Idiotie sprechen. Da finden wir zunächst Erkrankungen der
äulsern Sinnesorgane. Unter den im Jahre 1901 zur Aufnahme in
die Hilfsschulen für Schwachbegabte in Berlin vorgeschlagenen 248
Kindern litten an Schwerhörigkeit 15°/,, an Sehstörungen 170%., an
Wucherungen im Nascenrachenraum, die das geistige Auffassungs-
vermögen stark beeinträchtigen können, ebenfalls 17°%,. Dazu ge-
sellten sich Sprachstörungen, Stottern und Stammeln bei 24°/,. Es
liegt auf der Hand, wieviel Nutzen hier dureh richtiges Erkennen
und frühzeitiges Behandeln gestiftet werden und wie segensreich ein
tüchtiger Schularzt wirken kann. Und selbst bei ertolgloser ärztlicher
Behandlung, — wie manche ungerechte Bestrafung wegen Unaufmerk-
samkeit und Faulheit liefse sich bei diesen Kindern vermeiden!
Ohne alle Frage gibt es keine feste Grenze zwischen der nor-
malen und krankhaften Beschränktheit. Mit einer ein- oder mehr-
maligen Untersuchung des Geisteszustandes wird man auch zu
keinem Resultat kommen. Hier kann nur das Ergebnis eines ge-
nügend lange fortgesetzten und, fügen wir gleich hinzu, verständnis-
vollen Unterrichts, verbunden mit sachverständiger ärztlicher Prüfung,
Aufklärung geben. Es gibt Kinder, die sich nur schwer in das Ge-
triebe und die Anforderungen der Schule hineinfinden und dennoch
ganz normal entwickelt sind. Ihre Neigungen und Fähigkeiten
wenden sich andern Aufgaben zu: künstlerisch veranlagten Schülern
kann z. B. der mathematische Unterricht eine Qual sein. Auch
stehen nicht alle Lehrer (Sie verzeihen mir) auf der Höhe päda-
gogischen Geschickes. Ein Schüler. dem die Schule nicht behagt,
ist darum noch Jange kein Dummkopf oder Faulpelz; er kann sogar
auf seinem Leistungsgebiet recht klug und ebenso fleifsig sein. Dazu
mufs man berücksichtigen, dafs sich manche Kinder anfangs langsam
entwickeln, um erst später im gewünschten Tempo weiter zu marschieren.
Auch treten gelegentliche Hemmungen in der geistigen Entwicklung
-
Die Kinderfchler. VII. Jahrgang. D
66 A. Abhandlungen.
ein, die aber nur vorübergehender Natur sind. Direktor TRÜPER
schreibt:!) »Der Chemiker Justus Liesis, der Mathemathiker Gauss,
der Naturforscher Darwis, der Hofprediger Froxuurı, der Naturforscher
Hewvnorız, sie alle wurden in ihrer Jugend von ihren Lehrern für
dermafsen minderwertig gehalten, dafs diese Ihnen prophezeiten, es
würde nichts Gescheites aus ihnen werden, dafs sie also an der
Grenze des Schwachsinns ständen.s Auch von ALEXANDER v. Hux-
BOLDT wird dasselbe erzählt. Erst wenn ein Kind ein oder zwei Jahre
ohne allen Erfolg einem guten Schulunterricht beigewohnt hat, dann
(von cklatanten Fällen natürlich abgesehen) darf man wohl den Be-
weis seiner geistigen Schwäche als geführt ansehen.
Hilfsschulen für schwachbegabte Volksschüler sind zwar schon
vor 35 Jahren, zuerst 1567 in Dresden, gegründet worden, aber erst
seit etwa zwölf bis fünfzehn Jahren recht in Aufschwung gekommen.
Im Jahre 1900 gab cs in Deutschland 95 Hilfsschulen mit 326
Klassen, über 300 Lehrkräften und 7013 Schülern. Den Vorteil
dieser Einrichtung genielsen beide, die vollsinnigen und die schwach-
sinnigen Kinder, erstere, weil sie in ihren Fortschritten nicht mehr
durch die Schwachbegabten gehemmt werden, und letztere, weil man
ihrer mangelhaften Befähigung besser Rechnung tragen kann. Auch
für die Lehrer an den Normalschulen bedeutet das System eine
wesentliche Erleichterung. Über die Unterriehtsmethode und ihre
Erfolge zu sprechen, Hegt nicht im Bereich meiner Aufgabe.
Der zweite Teil meines Vortrages, der von den abnormen
Charakteren der Kinder handelt, wird eine ausführlichere Be-
sprechung nötig machen, denn er liegt dem Gesichtskreis des Laien
(und ich darf Sie wohl auch in «diesem Fall als Laien bezeichnen)
ferner.
Unter Kindern mit abnormen Charakteren versteht man solche,
deren Abartung sich wesentlich auf die Gemüts- und Willenssphäre
erstreckt. Die Intelligenz kann dabei defekt sein, ja sie ist es zu-
meist. Ein heifser Streit aber wogt um die Frage, ob gerade jene
praktisch bedeutsanste Gruppe der Abnormen, die nämlich, deren
Abweichung sich vor allem in sittlichen Mängeln dartut, auch in
jedem Falle eine Verstandessehwäche aufweise, — mit andern Worten,
ob mit dem moralischen Schwachsinn stets ein intellektueller ver-
bunden sei. Ich bin dieser Meinung nicht, sondern glaube, dafs
psychopathische sittliche Defekte recht wohl bei normal und gut ent-
H) TrürerR, J., Die Anfänge der abnormen Erscheinungen im kindlichen
Seelenleben. 1902.
ScHoLz: Abnorme Kindesnaturen. 67
ae mei ren nr a nn En ee
wickeltem Verstande vorkommen können. Wie man den Geistes-
zustand solcher abnormen Persönlichkeiten auffassen und bezeichnen
wil, ob man auf die etwas in Mifskredit geratene Lehre von der
moral insanity, dem moralischen Irrsinn oder Schwachsinn, oder aber
auf die vielleicht noch mehr angefochtene Loxgroso’sche Theorie
vom »geborenen Verbrecher« schwört, mag zunächst gleichgültig sein.
Wir wollen hier nicht einen Wortstreit bringen, sondern Tatsachen
schildern.
Die hohe Bedeutung des Gegenstandes zwingt mich, einige
psychologische Erörterungen vorauszuschicken.
Das, was unserm innersten Wesen den Stempel aufdrückt, sind
nicht die Erkenntnis-, sondern die Gefühls- und Willenselemente.
Zwar wirkt die Aufsenwelt ununterbrochen auf uns ein: was aber
von den zahllosen Reizen aufgenommen und wie es aufgenommen
und verarbeitet wird, ist Gefühls- und Willenssache Hinge unser
Wesen allein oder auch nur vorzugsweise von unsrer Erkenntnis ab,
so mülsten z. B. Kinder, die in gleicher Umgebung aufwachsen, alle
einander nicht nur an Wissen, sondern auch an Charakter gleichen.
Die Seele des Neugeborenen ist kein weilßses Blatt Papier, das rein
passiv mit Zeichen ausgefüllt wird, sondern sie ist eine wohlpräparierte
und individuell bestimmte Platte, ein Gebilde, das sich von Anfang
an höchst aktiv verhält, das aufnimmt, ablehnt, formt und sichtet.
freilich ohne sich dieser seiner Tätiekeit bewufst zu werden. Die
Form, die Organisation ist vor aller Erfahrung und drückt jedem
menschlichen Seelenleben ein eigenes Gepräge auf. Erst auf späterer
Entwicklungsstufe tritt eine Wechselwirkung der Erkenntnis auf das
Gefühl und des Gefühls auf die Erkenntnis ein. Zu dem angeborenen
Charakter gesellt sich der erworbene.
Wir unterscheiden einfache und höhere Gefühle. Die einfachen
oder sinnlichen sind an die Organ- und Sinnesempfindungen gc-
knüpft und dienen zur Selbsterhaltung des Körpers und zur Fort-
pflanzung. Es gehören zu ihnen die mit den Empfindungen der
innern Organe und der Sinnesapparate verbundenen Gefühle Sie
lösen ganz unmittelbar und ohne Vermittlung der Erkenntnis
Strebungen und Triebe aus. Der Wille ist nichts anderes als
die aktive Seite des Gefühls und auf primitiver Stufe untrennbar
mit ihm verknüpft. Das Neugeborene macht Saugbewegungen, ohne
sich des Zweckes bewußt zu sein, das aus dem Ei gesehlüpfte
Hühnchen pickt Körner auf, ohne zu wissen warum u. s. w. Das
Hauptfundament, das gewaltigste aller Gefühle, das uns trotz seiner
Bedeutung nur unklar zum Bewufstsein kommt, ist das von den
æ ate
r 20
(9)
65 A. Abhandlungen.
Organempfindungen abhängige Gemein- oder Lebensgefühl. In der
Grundstimmung und ihrer Reaktion nach aufsen, dem Temperament,
tritt es m Erscheinung. Wie sehr das Temperament nicht nur unsere
Gefühls-, sondern sekundär auch unsre Gedankenrichtung beherrscht,
ist bekannt genug. Die auf seiner Basis beruhende vorherrschende
Richtung unseres Willens bezeichnet den angeborenen Charakter.
Wie sich auf den Organ- und Sinnesempfindungen die höhern
Erkenntniselemente, Gedächtnis, Verstand, Urteil Phantasie erheben,
so bauen sich auf den niederen, sinnlichen Gefühlen die höheren.
vor allem die ethischen und ästhetischen auf. Und nun tritt
jene vorhin erwähnte Wechselwirkung ein: die durch Erfahrung ge-
wonnene Erkenntnis beeinflulst das Gefühlsleben und umgekehrt.
Immer aber gibt die angeborene oder in frühester Jugend vor der
eigentlichen Verstandesentwicklung «durch Gewöhnung und Nach-
ahmung entstandene Gefühls- und Willensrichtung den Grundton
an und verleiht den seelischen Klängen Charakter und Färbung.
Nur selten bleiben unsere innersten Neigungen ganz unberührt. Wenn
es sich um Lösung irgend einer wissenschaftlichen Frage handelt,
die mit unsern Interessen nicht verknüpft ist, so spricht unser Ge-
fühl allerdings nicht mit und räumt der Verstandestätigkeit allein
das Feld: ob z. B. die Summe der Winkel im Dreieck zwei Rechte
beträgt oder ob eine französische Vokabel männlichen oder weiblichen
Geschlechts ist, erschüttert uns nicht. Wie sehr aber grade die an-
geblich unparteiische und voraussetzungslose Wissenschaft von unsern
Sympathien und Antipathien getragen wird, «davon gibt selbst die
»exakte« Naturforschung, mit der sich alles Mögliche »beweisen«
lälst, ein Beispiel — von historischen und philosophischen Streitig-
keiten gar nicht zu reden! Unparteiisch zu sein ist eben ganz un-
möglich. Wer überzeugen will, mufs deshalb auch an die Neigungen
und Leidenschaften appellieren, und wo er nicht auf gleichgeartete
Gefühle stölst, da bedarf es einer unermüdlichen, immer wiederholten,
zähen Kleinarbeit, um den Seelenacker bis auf die Tiefe zu durch-
wühlen und neue Erde hinaufzutragen, in der die Saat Wurzel fassen
kann. Reformen, und mögen sie die herrlichsten und erhabendsten
sein, erfüllen sich erst, wenn ihre Zeit gekommen, d. h. die Seele
des Einzelnen, der Gesellschaftsklasse, des Volkes umgestimmt und
präpariert ist. Jede neue Lehre erregt einen Zwiespalt: bei dem
Gleichgültigen nur im Kopf und darum ist er bald zu gewinnen, bei
dem Interessierten aber gleichzeitig auch im Herzen, und diesen
Gegenstrom zu überwinden, erfordert Zeit und Arbeit. »Wenn Lır’s
nieht fühlt, Ihr werdet's nicht erjagen!« Warum vermag der Gläubige
Scholz: Abnorme Kindesnaturen. 09
nicht den Ungläubigen zu überzeugen, warum der Liberale nicht den
Konservativen, der Schutzzöllner nicht den Freisinnigen? Besitzt der
eine wirklich mehr Verstand als der andere? Warum findet eine
so gute Sache wie der Kampf gegen den Alkoholismus so reichlichen
passiven und aktiven Widerstand? Die schwere Masse der durch
Temperament und althergebrachte Gewohnheit festgewurzelten Gefühle
bewegt sich nur träge und will sich nicht aus ihrer Ruhe bringen
lassen. Des Menschen Augenblickslaune wechselt leicht, aber seine
Grundstimmung bildet das beharrende Element in der seelischen
Erscheinungen Flucht. Die menschliche Natur ist konservativ und
widerstrebt allen Neuerungen. Aber sie begreift sich selber nicht
und redet sich deshalb vor, die Vernunft sei es, die sich auflehne,
ohne zu merken, wie sehr eben diese Vernunft in den Banden des
Herzens liegt.
So unterschätzen wir die Bedeutung des angeborenen Charakters
und überschätzen die des erworbenen. Wir vergessen, dafs dieser
letztere schliefslich doch auf unsere leiblich-geistige Konstitution
zurückweist, die nicht unser eigenes Werk ist. Und weil uns unser
innerstes Wesen mit seinen Gefühlen und Trieben ein Buch mit
sieben Siegeln bleibt, so beurteilen wir uns (und unsere Mitmenschen)
so häufig ganz falsch. Wir verwechseln die Scheinmotive mit den
wahren und suchen an der Oberfläche, wo wir in die Tiefe hinab-
steigen sollten. Grade bei den geistig noch unentwickelten Kindern
und grade bei den geistig verkümmerten, wie bei abnormen und
kranken Naturen überhaupt, wird uns mancher sonst rätselhafte Ge-
dankengang und Entschlufs erst begreiflich, wenn wir an die Rolle
des unbewulfsten oder unklar bewufsten Seelenlebens denken. Und
lassen wir uns darin nicht täuschen: das Kind versucht ebenso wie
der Erwachsene sein Handeln vernunftmäfsig zu begründen, — sein
Handeln, das ihm selbst nur zu oft unverständlich bleibt, und gibt
Beweggründe an, die gar nicht die eigentlich treibenden gewesen
sind. Ohne Absicht betrügt cs uns und — sich selbst.
M. H. Halten wir also fest: das Gefühl und seine äufßsere
Reaktion, der Wille, bilden unseres Wesens Kern, nicht der ent-
wicklungsgeschichtlich erst später erscheinende Intellekt. Beide be-
haupten in ihrer weitern Ausbildung, trotz der Weehselwirkung, eine
relative Selbständigkeit. Talentierte Menschen sind nicht immer sitt-
lich tadellos und unbegabte, zeichnen sich oft durch ihre Sittenrein-
heit aus. Die Ausbildung des Charakters kann auf niedriger Stufe
stehen bleiben, so dafs die niederen, sinnlichen Triebe das Übergewicht
behalten. Auch beim Gesunden kommen tausenderlei Variationen
70 A. Abhandlungen.
vor: hoch differenziertes ästhetisches Gefühl bei moralischer Ver-
kommenheit und umgekehrt, isolierte sittliche Defekte wie Mangel
an Ehrgefühl (manchmal nur ganz bestimmten Beleidigungen gegen-
über) oder an moralischem Mut oder an Taktgefühl u. s. w. Niemand
macht von dieser psychologischen Erscheinung ein Aufhebens, ge-
schweige denn, dafs er diese Tatsachen leugnete, und um so wunder-
barer berührt es deshalb, wenn sogar von mancher wissenschaftlichen
Seite bestritten wird, dafs auch größere Gruppen ethischer Gefühle
infolge abnormer geistiger Organisation fehlen können. Es geht nicht
an, diese Verkümmerung einzig und allein mangelhafter Erziehung
in die Schuhe zu schieben. Die einfache Beobachtung, dafs wir alle,
auch trotz bester äufserer Einflüsse und ehrlicher Selbstzucht, gewisse
Temperamentsfebler und Mängel haben, sollte doch darüber belehren,
dafs es sich um angeborene Eigenheiten handelt, die mit unserm
seelischen Leben ebenso verwachsen sind wie die Atmung oder Ver-
dauung mit unserm körperlichen.
Nach diesen Vorbemerkungen gehe ich nun zur eigentlichen
Schilderung der abnormen Kindesnaturen über. Die Kürze
der Zeit verlangt, dafs ich mich mit wenigen Typen begnüge.
Ein normales Kind soll sich weder zu langsam noch zu rasch
entwickeln, d. h. an Verstand, Gemüt und Willen das besitzen, was
auf der Leiter menschlicher Entwicklung die Sprosse des Kindesalters
von ihm verlangt. Es soll, mit einem Worte, kindlich sein. Gleicht
es an Wissen und Wollen dem Erwachsenen, so wird die überreife
Frucht bald faulen. Frühreife, falls nicht anerzogen oder durch
ernste Lebenserfahrungen erworben, trägt immer den Keim des Un-
gesunden in sich. Wunderkimder halten im Alter selten, was sie in
der Jugend versprochen. Verdorben — gestorben steht auf manchem
ihrer Grabsteine. Wohl ihnen, wenn sie sich in späteren Lebens-
jahren wenigstens auf der goldenen Alittelstralse halten! Die Zahl
derer, die wie Goxtu® oder Mozart Wunderkinder waren und W under-
männer wurden, ist nicht grofs.
Schon das gesunde Kind besitzt eine lebhaftere Reizempfäng-
lichkeit als der Erwachsene. Aber die Nervenerregbarkeit kann
die Grenze des Normalen überschreiten, das Kind ist »nervös«. Ein
Nadelstich oder ein unbedeutender chirurgischer Eingriff (Impfen),
eine unangenehme Nachricht oder ein häfslicher Anblick ruft hier
nicht nur Tränen und Wehegeschrei, sondern selbst Muskelzuckungen,
Krämpfe und wildes Umsichschlagen hervor. Weniger Bedenkliches hat
das andere Extrem, die wilde Ausgelassenheit bei gehobener Stim-
mung, denn das kindliche Wesen ist von Natur heiter und lebhaft.
ScHoLz: Abnorme Kindesnaturen. 71
Wie die Eindrucksfähigkeit, so ist beim normalen Kind auch die
Phantasie, d. h. das Vermögen, neue Vorstellungen ohne Mitwirkung
der Sinne zu bilden, reich entwickelt und kann das Scelenleben bis-
weilen förmlich überwuchern. Überstarke Reizempfänglichkeit und
Phantasie offenbart sich dann in recht verschiedenen Zuständen, je
nachdem die kindliche Grundstimmung gedrückt und scheu oder
selbstbewufst und tatkräftig ist. In ersterem Fall haben wir die
traurigen und ängstlichen Kinder. Die Angst tritt hier auf, auch
ohne dafs sie äufserlich motiviert wäre. Hierher gehört z. B. die
Furcht vor dem Alleinsein, vor der Dunkelheit, die Angst vor dem
Kommenden, Ungewissen, die Angst vor der Angst. Zweifellos können
diese Zustände auch künstlich erzeugt oder genährt werden durch
eine unvernünftige Erziehung, die sich in Bangemachen und Er-
zählungen von Gruselgeschichten gefällt. Aber immerhin trägt das
ungewöhnlich häufige und heftige Auftreten solcher Angstanfälle,
namentlich auch des Nachts in Gestalt von schreckhaften Träumen,
den Charakter des Abnormen an sich.
Bei schwer veranlagten, weichgestimmten Kindern entwickelt sich
öfters ein gewisses träumerisch-sentimentales Wesen, das sich
in einem unklaren Sehnen und energielosen Schwärmen nach un-
bekannten Zielen kundgibt. In der Zeit der Reifeentwicklung pflegt
sich auch bei Normalen eine ähnliche weltschmerzliche Stimmung
herauszubilden, die aber bald wieder gesundem Empfinden Platz
macht. Was die Kinder wollen, wissen sie eigentlich selbst nicht.
Sie fühlen sich unverstanden, verkannt, gekränkt und träumen von
besseren Welten. Solche Regungen sind nicht ganz unbedenklich.
Sie können zum Selbstmord Veranlassung geben, oft nach ganz
geringfügigen Vorkommnissen. Einem Kinde wird ein Wunsch ver-
sagt oder eine leichte Bestrafung zuteil, — »wenn ich erst mal tot
bin«, so reflektiert der kleine Bursch, »dann werden meine Eltern
ihr Unrecht einsehen«, und nun spinnt er mit wollüstigem Behagen
den Gedanken weiter aus, wie die Eltern angstvoll nach ihrem Kinde
suchen. wie sie zur Polizei schicken, wie die kleine Leiche gefunden
wird und Vater und Mutter weinend um Verzeihung flehen, nun
wo es zu spät ist u. s. w. Jeder Mensch ist gern gekränkt, auch
für das Kind hat die Rolle des Märtyrers etwas Anziehendes und der
Tod schreckt es nicht wie den Erwachsenen, weil ihm seine Be-
deutung unklarer zum Bewulstsein kommt.
Auch in Fällen mit weniger tragischem Ausgang ziehen sich die
Kinder in die Einsamkeit zurück, meiden den Umgang mit den Spicl-
gefährten und werden menschenscheu. Einige Verwandtschaft zeigt
72 A. Abhandlungen.
der Typus der krankhaften Gewissensmenschen, die über Zweifeln
und Selbstquälereien nie zu wahrer Lebensfreude gelangen, immer
fürchten, ihre Pflicht nicht genügend getan zu haben, die von einem
Bedenken ins andere verfallen, alles peinlich erwägen und überlegen
und nur für des Lebens Mühsale Empfänglichkeit besitzen. Solche
Kinder sind in höchstem Grade bedauernswert. Denn von ihren
Schulkameraden werden sie als Kopfhänger verlacht und verachtet
und von den Lehrern wohl ihres Eifers wegen gelobt, nicht aber,
wie es sein sollte, bemitleidet und auf andere Bahnen gelenkt.
Neben diesen Kindern mit ängstlicher und depressiver Gemüts-
stimmung trifft man solche, bei denen mehr das Reizbare, Ver-
bitterte in den Vordergrund tritt. Es ergibt sich dann eine höchst
seltsame Mischung kontrastierender Eigenschaften: die Kinder sind
selbstsüchtig, empfindlich, anspruchsvoll, eigensinnig und recht-
haberisch und doch wieder leicht verzagt, ängstlich, zerknirscht und
selbstquälerisch. Immerhin pflegt die reizbare Stimmung die Ober-
hand zu behalten und macht diese Naturen im Umgang ganz un-
leidlich, besonders dann, wenn, wie so häufig, sich ein Zug des Mifs-
trauens hinzugesellt, so dafs sich geradezu Ideen der Beeinträchtigung
wie bei Geisteskranken entwickeln. Bisweilen treten auch leiden-
schaftliche Erregungszustände und sinnlose Wutausbrüche mit nach-
folgender tiefer Erschöpfung auf. Die Kinder werden im gewöhn-
lichen Leben kurzweg launenhaft gescholten und mit diesem be-
quemen Schlagwort gibt man sich zufrieden. Aber das Abnorme tut
sich hier vor allem darin kund, dafs die Stimmungsschwankungen
von innen heraus, ohne oder wenigstens ohne genügenden äufseren
Anlafs geboren werden, ferner darin, dafs die Erregungs- und
Depressionszustände bisweilen in deutlichem periodischem Wechsel
eintreten und dafs der »Launenhaftes sich trotz aller Willensan-
strengung nicht zusammennchmen kann. Versucht er es, so be-
kommt sein Wesen etwas Unnatürliches und Gezwungenes. Nicht
er hat den Willen, sondern der Wille hat ihn. Von ihm gilt das
Wort des bekannten Seelenarztes FEUCHTERSLEBEX: »Stimmungen nicht
zu haben, ist nicht in unsere Gewalt gegeben.« Zu der im Kindes-
alter keineswegs seltenen Hysterie führen unmerkliche Übergänge.
Reges Spiel der Einbildungskraft läfst die Kinder nicht selten
als Lügner erscheinen. Die Phantasie tritt mit soleher Plastizität
auf, dafs das Kind ihre Gebilde mit der Wirklichkeit verwechselt.
Wo die Auffassung des Gesehenen oder Gehörten mangelhaft war
und die Erinnerung im Stich läfst, werden die Gedächtnislücken un-
willkürlich dureh Vorstellungskombinationen ausgefüllt. Auch prägt
ScHnoLz: Abnorme Kindesnaturen.
mm uaaa aaa nn mem m mn nn
sich Selbstgedachtes mitunter in so scharf umrissenen Bildern aus,
dafs das Kind nicht mehr zwischen Wahrheit und Dichtung unter-
scheiden kann. Überdies spielt die dem jugendlichen Alter eigene
Lust am Fabulieren mit hinein. Geschickte Lügner glauben schliels-
lich an ihre eigenen Erzählungen. GoTtrrısp Kerer hat in seinem
»Grünen Heinrich« ein solches klassisches Beispiel kindlicher »patho-
logischer Lüge« geschildert. Mitunter spinnen sich die Kinder ganze
Romane aus: sie seien nicht die echten Sprößlinge ihrer Eltern, sondern
von hoher Abkunft, Prinzen oder Prinzessinnen, in frühester Kindheit
von Räubern entführt, aber die Zeit der Entdeckung werde schon
kommen u. s. w. Es ist interessant, dafs sich der Gedankengang
mancher Geisteskranker, zumal jugendlicher, gern in solchen Sphären
bewegt. Der Irrenarzt nennt diese Krankheitsformen originäre Ver-
rücktheit. Entschlossene Naturen treibt der Hang zur Romantik
hinaus in die Welt. Sie wollen Abenteuer und Gefahren suchen
und der schnöden Alltagswelt mitsamt der verhafsten Schule Lebe-
wohl sagen. Hin und wieder lesen wir in den Zeitungen von diesen
kleinen Helden, die Indianer oder Räuber werden oder den Buren
zu Hilfe eilen wollen, des Vaters Kasse angreifen und aus dem Eltern-
hause verschwinden, um bald darauf von der nüchterner denkenden
Polizei in irgend einem Hafenorte aufgegriffen zu werden.
Übergrofse Erregbarkeit bringt die von allen Lehrem so gc-
fürchtete Zerstreutheit und Zerfahrenheit mit sich. Alle Kinder
sind leicht ablenkbar und ihre Gedanken bleiben nicht bei der Stange.
Das ist durchaus normal. Aber die Sprunghaftigkeit kann so lebhaft
werden, dafs sich der Gedankengang förmlich überstürzt und — im
Verein mit körperlicher Unruhe und Beweglichkeit an das «dem
Irrenarzt als Manie bekannte Bild erinnert. "Temperamentvolle
Naturen zeichnen sich auch durch rasche und heftige Gefühls-
schwankungen aus: sie entflammen und erkalten rasch, über-
schwängliche Zärtlichkeit wechselt mit jähem Hals, Begeisterung mit
Verachtung, Lerneifer mit Faulheit. Das Gemütsleben entbehrt der
Nachhaltigkeit, es wird exzentrisch und widerspruchsvoll.
Im Gegensatz zu der abnormen leichten steht die abnorm
schwere Erregbarkeit. Die gleichgültigen, stumpfen, indolenten
Naturen gehören hierher. Das gesunde Kind ist heiter und lebendig,
Indolenz daher verdächtig. Selbstverständlich steht die Gleichgültige-
keit durchaus nicht immer auf krankhaftem Boden, mangelndes
Interesse an der Schule, auf gut Deutsch Faulheit, ist sogar nichts
weniger als abnorm. Wichtig aber erscheint das Verhalten eines
Kindes in den Stunden, wo es über seine Zeit frei verfügen kann.
TA B. Mitteilung. n.
nmi a l M a
ganz besonders beim Spielen. Es ist eine alte Erfahrung, dafs sich
der Charakter der Kinder beim Spiel offenbart. Ähnlich geht es bei
den Erwachsenen: womit und wie sie sich in Ihren Mulfsestunden
beschäftigen, das kennzeichnet sie fast unfehlbar. Gesunde Kinder
besitzen einen lebhaften Spieltricb, denn das Spiel ist im Grunde
nichts weiter als die m "Tätigkeit versetzte Phantasie. Mangel an
diesem Triebe darf man ohne weiteres als Abnormität bezeichnen.
Oft kündigt er den Ausbruch einer schweren körperlichen oder
geistigen Krankheit an. (Schluls folgt.)
B. Mitteilungen.
1. Psychologische Beobachtungen an einem Kinde.
Von Adolf Rude in Nakcel a. d. Netze.
(Fortsetzung.)
1!/, Monate; Sprachliches. Wortfolge: Komm mit ich, Mama. —
L. sucht mit mir zu schäkern: Ich heifs’ Olga (nicht wahr). Heils’ ich
Oiga. Olga heifs’ ich. Ich heifs’ ich Olga. Ich heifs’ Nucie Olga. —
Sie hat von anderen Kindern die Betonung: Mäma gehört, ist aber darauf
aufmerksam gemacht worden, dafs das falsch ist. Trotzdem spricht sie oft
so, verbessert sich aber dann. — L. hat für einige Zeit besondere Lieblings-
ausdrücke, so jetzt: »Komm bald wieder.« Meistens wendet sie diese
Ausdrücke bei passender Gelegenheit an, manchmal aber auch ohne ge-
gebene Veranlassung, — »Da is er!« sagt sie auch bei feminina und
neutra.
Erweist sich praktisch. Sie nimmt die Schuhe aus dem Schränk-
chen. Da auf denselben andere liegen, hält sie diese mit der einen Hand
fest {einmal mit der rechten, ein andermal mit der linken), während sie
das gewünschte Paar mit der anderen hervorholt. Von den Schranktüren
schlielst sie immer richtig die mit der Deckleiste zuletzt.
2 Monate: Zur Zeitauffassung. Für »später« sagt sie »morgen«
(ihre jüngeren Geschwister ebenso).
Apperzeption. In einer illustrierten Zeitschrift sieht sie einen
Koch in der kaiserlichen Küche abgebildet. Sofort zeigt sie darauf und
sagt: »Onkel Herbart.« Beide waren bartlos. Der Koch ist weils ge-
kleidet; Herbarts Büste ist auch weils. Von Herbart hat sie übrigens nie
ein Bild, sondern nur die Büste gesehen. Bild und Büste erzeugen aber
die Vorstellung eines Menschen.
Reproduktion. Wenn der kleine Erwin mit den Fingern spielt,
dann sagt L.: »Erwin macht Siek« (Musik). — Wenn sie sich setzen will,
sagt sie: »Sitzen bleiben.« Sie versteht wohl »sitzen«, aber nicht »bleiben«.
— Sie versucht, alles, was sie hört, nachzusprechen. — Wenn sie getadelt
Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. 75
wird, sagt sie: »Lucie artige Tochter« oder: »Lucie schönes Kind« Sie
meint, sie wolle artig sein. Artig und schön sind für sie identische
Begriffe.
3 Monate: Phantasiethätigkeit. L. thut, als ergreife sie eine
(in Wirklichkeit nicht vorhandene) Katze, hält darauf dis Arme so, als
hielte sie die Katze darin, und sagt: »Hab’ ich Kila« (Katze). — Sie
nimmt einen Stuhl, stellt ein Buch wie Noten aufrecht und bewegt dann
die Finger wie auf Tasten, wobei sie auf die angeblichen Noten sieht. —
Handeln, das aus Phantasievorstellungen entspringt. An
der Thür des Bratofens befindet sich ein Hebel, der zum Öffnen und
Schlie[sen dient. L. stellt ein Töpfchen darunter, bewegt den Hebel hin
und her und sagt: »Wasser pumpe!« — L. bittet: »Mama, Schiche (Geschichte)
erzähle!« Wenn die Mutter dann vom Rotkäppchen oder von Hänsel und
Grethel erzählt, dann sitzt sie ganz ruhig und hört zu. — Sie beantwortet
einige Fragen folgendermalsen (die beiden ersten richtig, die letzte un-
richtig): Wie heifst du? »Lucie Rude.« Wo wohnst du? »In Schulitz.« Wie
alt bist du? »Neun Jahr.« — Ein anderes Kind hat sie besucht und will
später weggehen. Da hält L. die Tür zu und sagt: »Hier bleibe! Draufse
dunkel!« Es ist aber gar nicht dunkel. So verleitet sie ein Wunsch, ein
Behinderungsmotiv zu erfinden. Dafs sie die Unwahrheit sagt, ist ihr wohl
nicht recht bewufst. Auf einer tiefen sittlichen Entwickelungsstufe heiligt
überhaupt der Zweck die Mittel.
31/, Monate: Identifizierende Apperzeption. L. sieht zum
erstenmal ein Bild Herbarts und erkennt ihn sofort (nach der Büste).
Ein Eingreifen in ihre vermeintlichen Rechte vermerkt sie
übel. Sie hat von der Mutter ein ganz kurzes Weihnachtsgedicht gelernt,
das sie nun als ausschlielslich ihr gehörig betrachtet. Als ich es spreche,
wird sie ärgerlich. — Auch sicht sie cs als ihr Privilegium an, mich zu
Tische zu rufen. Wenn mich ein anderer ruft, ist sie ungehalten. (Das
habe ich später auch an ihren jüngeren Geschwistern beobachtet.)
Sprachliches. Sılbenvertauschung: Statt Pantoffel sagt sie: Toffel-
pan. — Wortfolge: 1. Ich schlaf mit Puppen. 2, Schlaf ich mit Puppen.
3. Mit Puppen schlaf ich. — Das Märchen vom Rotkäppchen erzählt sie
folgendermalsen: »Sind Blumen. Rotkäppchen pflückt. Korb ist Kuche,
Fleisch, Wein. Korb hintragen. Kann Wolf kommen. Kommt der Wolf.
Wolf lauft Grofsmutter. Wolf kommt in Stube. Wolf hauen. Dann ist
er tof.« — Das Märchen von Frau Holle will sie nicht erzählen, da es
ihr zu schwer ist. Sie sagt: »Ich kann nicht.«
Verwechselung von Begriffen. Eine bittere Nuls speit sie aus
und sagt: »Madig.« Sie hat madiges Obst und auch bittere Sachen nicht
gegessen; madig und bitter gilt ihr als ungenielsbar. — L. hat ein Stück
Wurst. Die Grofsmutter tut, als ob sie gern etwas davon haben wolle.
L. mag aber nichts abgeben und sagt: »Wurst ist hart.«
4 Monate: Ein psychischer Begriff vom Menschen hat sich heraus-
gebildet. Sie zeigt einen solchen auf einem Bilde und sagt: »Mensch.«
Ihr jetziges Lieblingswort ist: »Na, so ’was!«
Verwechselung infolge ähnlichen Klanges. Statt »Tablette«
76 B. Mitteilungen.
sagt sie »Ballett«. Natürlich hat sie keine Ahnung von der Bedeutung
des letzteren. — Sie schreibt auf der Tafel Auf- und Abstriche in Ver-
bindung.
5 Monate: L. schlägt ihrer Puppe beim Spielen die Augen in den
Kopf hinein und fürchtet sich nun sehr vor ihr. Sie sagt: »Puppe hat
keine Augen. Ich hab’ Angst.< Sie will sie gar nicht mehr sehen und
anfassen (ähnlich ihr Bruder in demselben Alter). Das Auge verleiht dem
Gesichte den lebensvollen Ausdruck. Durch sein Fehlen gewinnt das Ge-
sicht ein unheimliches Ausschen. —- Ein Knabe, Namens Heske, sieht sie
an und verzieht im Scherze das Gesicht. Da fürchtet sie sich und sagt:
»Hefte macht dummes Zeug. So 'was ist dummes Zeug. Ich bring’
gleich Stock. Abscheulich'«
Richtiger Schluls. L. hat Hunger und verlangt Semmel. Sie
erhält zur Antwort: »Minna (das Dienstmädchen) soll erst Semmeln holen.«
Während später L. im Zimmer ist, hört sie, dafs die Tür vom Flur nach
der Küche geöffnet wird. Sie schliefst sofort richtig: »Minna hat Sem-
meln gebrachi.«
Der Geschmackssinn beeinflulst das Urteil. Die Mutter hat
ihr gesagt, wenn sie zu viel esse, dann bekomme sie Magenschmerzen,
der Magen tue weh. Das hat sich L. gemerkt. Wenn ihr jetzt etwas
nicht schmeckt, dann sagt sie: »Ich will nicht mehr haben; ich bekomm’
Magel!« Wenn sie dagegen Chokolade oder etwas anderes bekommt, was
ihr gut schmeckt, dann sagt sie: »Davon bekomm’ ich nicht Magel!« —
Essen und trinken unterscheidet sie noch nicht in allen Fällen. So sagt
sie: »Bier essen.« — Vor dem Stocke hat sie grolse Angst, obgleich sie
damit noch nie Prügel damit bekommen hat. Eine Drohung mit dem
Stocke fruchtet stets, wenn sie unartig ist. — Sie ruft mich; da ich nicht
darauf achte, sagt sie: »Papa, bist du taub?« Was taub bedentet, versteht
sie aber wohl noch nicht. Sie hat diese zurechtweisende Frage gehött,
als sie nicht aufmerkte.
Falsch subsumierende Apperzeption. Jede Art von Kompott
nennt sie »Gulken« (Gurken). — Ihr jetziges Lieblingswort ist: »Ich denk’«
(ich glaube, meine).
6 Monate: Notapperzeption. Bei der Überschwemmung des Schu-
litzer Weichseltales sieht L. am Rande des Hochwassers Kähne. Sie sagt
zur Mutter: »Mama, Badewanne. Mama, baden!
Gewohnheit erzeugt Ordnungssinn. Ich gebe L. ein Bilder-
buch in die Hand, doch so, dals nicht der Deckel, sondern ein Blatt nach
aufsen gekehrt ist. L. bringt das Buch gleich in Ordnung und sagt:
»Das ist nicht so, Papa; das ist so!« -— Ich kaufe mir ein Paar Hand-
schuhe, und L. kombiniert: »Sonntag tragen!«
Identifizierende Apperzeption. L. ist im Zimmer, hört aber
im Hausflur das Kind einer nebenan wohnenden Familie weinen. Sie er-
kennt des Kindes Stimme und sagt: »Richard weint.«
Fruchtlose Suggestion. L. lälst sich eine sichere Geschmacks-
empfindung nicht ansreden. Sie ifst Früchte, Kompott u. dergl. sehr gern.
Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. rar
Die Mutter sagt: »Fleisch schmeckt besser als Pflaumen.« L. bleibt aber.
trotz der Suggestion dabei: »Pflaumen schmecken besser.«
Notapperzeption. Sie hört von Erwachsenen das Wort »himmel-
angst«e. Sie wiederholt »Klingel Angst. Wenn nämlich der Klingelzug
gezogen wird, so dafs die Glocke ertönt, dann erschrickt L. jedesmal und
fängt oft laut an zu weinen.
Vorstellung des Teilens. Sie möchte meine beiden Manschetten-
knöpfe haben. Auf meinen Hinweis, dafs ich sie selbst gebrauche, macht
L. mir den Vorschlag zu teilen: »Mir einen, Papa einen!
Phantasiethätigkeit. Ihre Puppe nennt sie ihr Kind. Ein ander-
mal meint sie: »Die Puppe hat Hochzeit.«
Schauspielern und Phantasieren. Denkt sich weg. L. bedeckt
ihr Gesicht mit einem Tuche und fragt: »Papa, wo ist die Lucie? Ich bin
nicht hier. Ich bin in Anenau« (Argenan). Dann nimmt sie das Tuch
weg und sagt: »Jetzt bin ich wieder da.
Die Phantasie belebt leblose Gegenstände. L. zerreifst Apfel-
sinenschalen und legt die Stückchen in eine (gebogene) Reihe. Dann sagt
sie: »Das sind Leute. Eine Leute, zwei Leute, elf Leute.«
Sprachliches. Statt »Knopf« sagt sie: »Zopf«e. — Den Familien-
namen »Knitter« spricht sie »Schitter«, zuweilen auch »Kitter« aus. Die
kKonsonantenverbindung »kn« kann sie überhaupt nicht aussprechen. —
Die Diphthonge verwechselt sie nicht selten, z. B. »Mag der Papa leifen«
(laufen)! — Verwechselung von Präpositionen: Statt »in, auf, über« sagt
sie oft: »bei«e, z. B. »Papa geht bei Schule« (in die Schule). Ein ander-
mal sagt sie dagegen: »Auf Grolsmama fahren!«
7 Monate: Notapperzeption. Sie sagt: »In der Rosine ist ein
Knochen« (Kern).
Phantasietätigkeit. Sie klebt] Papierstückchen an die Fenster-
scheibe und sagt: »Das sind Vögel.«
Sprachliches. Sie liebt es, Abbreviaturen zu bilden. Statt Mama
sagt sie: Ma, statt Papa: Pa.
9 Monate: Reproduktion. L. hat vor drei Wochen bei der Grofs-
mama Spinat gegessen. Als er später zu Hause auf den Tisch kommt,
erinnert sie sofort daran.
Apperzeption. Auf einer Wiese harkt cin Mann Gras zusammen.
L. sieht zu und sagt: »Der Mann fegt die Blumen aus.« |
Beobachtung. Am Abende sagt sie: »Der Mond nimmt die Sonne
weg«, am Morgen: »Die Sonne nimmt den Mond weg.«
Sinnestäuschung. L. läuft mir im Freien entgegen; dabei blickt
sie auf den Mond und sagt: »Der Mond kommt mit zum Tapa.«
Einwand. Auf dem gegenüber dem unserigen liegenden Hause ist
die Figur eines Löwen angebracht. L. möchte vor uie Tür gehen. Ich
sage: »Nein, es regnet!« Da wendet sie ein: ‚Der Löwe ist aber auch
draulsen !«
Belebung lebloser Gegenstände durch die Phantasie L.
nimmt einen Blumenstraufs in den Arm und sagt: »Llier hab’ ich Tochter.
Alle Tochterns. Ich hops’ (hüpfe) mit Tochterns. Jetzt leg’ ich sie hin.«
78 B. Mitteilungen.
Gedächtnis. Wir waren spazieren. Sie weils, welche Stralse sie
gehen muls, um nach Hause zu kommen. An der Stralsenecke sagt sie:
»Da in dem roten Haus wohnen wir.«
Gewohnheit. Ich habe in dem untersten Fache eines Bücher-
spindes die Bücher, die sonst aufrecht standen, hingelegt. L. sagt: »Das
ist nicht gut. So sollen sie nicht sein!« Sie stellt sie aufrecht hin. —
Sie verwechselt die Bezeichnung der blanen und der weilsen Farbe.
Gemütsäuflserungen. L. freut sich immer sehr, wenn sie spazieren
gehen kann. Gegen ihr Brüderchen, das zwei Jahre jünger ist, ist sie
sehr zärtlich. Sie sagt oft kosend: »Mein Brüderchen.«c Wenn sie auf
Spaziergängen Blumen findet, fragt sie meistens: »Soll ich sie Erwin mit-
nehmen? — Ich drohe ihr einmal Strafe an. Da meint sie: »Dann sag’
ich’s Erwin nach.«
Freude an Körperbewegungen. Ich spiele mit L. turnen, was
ihr viel Vergnügen macht. Sic lernt sehr leicht Freiübungen nach dem
Kommando ausführen, z. B. Hüften fest! Kniee beugt, streckt! Kopf vor-
wärts beugt, streckt! Rückwärts beugt, streckt! Kopf rechtsseitwärts beugt,
streckt! Linksseitwärts beugt, streckt! Kopf rechts dreht, vorwärts dreht!
Hüften los! Rührt euch!
Vorsatz. L. sagt sehr oft: »Wenn ich grols sein werd’, dann geh’
ich in die Schule. Da schreiben die Kinder und lesen und singen und
sehen Bilder an.«
10 Monate: Phantasicetätigkeit. Scherben nennt sie Geld und
will dafür einkaufen. Sand ist ihr Salz, Reis u. s. w. — Sie ist am
liebsten im Freien und spielt mit Sand und Steinchen.
Mittel zum Zweck. I. ist mit der Mama in meinem Arbeits-
zimmer, das eine Treppe höher liegt als die übrigen Wohnräume. Ich
arbeite. Da L. sehr laut ist, sagt die Mama zu ihr: »Papa sagt, wenn
du unartig bist, mulst du nach unten gehen.« Sie ist darauf ruhig. Nach
einiger Zeit sagt sie aber: »Mama, jetzt bin ich unartig; jetzt will ich
nach unten gehen.«e — Die Mutter gibt L. ein Geldstück. Dafür soll sie
aus einem nahen Kaufladen etwas einkaufen. Sie trifft aber unterweg-
einen Bettler und schenkt ihm die Münze. Wenn sonst Bettler ins Haus
gekommen sind, dann hat sie ihnen öfters das von den Eltern gespendets
Geldstück gereicht. Obiger Fall ist also wohl mehr die Folge einer Re-
produktion als ciner Gemütsäufserung. (Schlufs folgt.)
2. Zur Sprachentwicklung.
Schon die Jlüchtigste Beobachtung des Säuglings läfst erkennen, dafs
nach Ablauf des ersten Lebensvierteljahres die Intelligenz des Kindes sich
regt und Verständnis für die Umgebung beginnt. Nicht allein das cha-
rakteristische Beobachten der Augen des Pflegers, auch das der Mund-
bewegungen desselben ist deutlich zu erkennen, und überraschend bald
zeigt sich, daľs das Kind auch die öfter genannten Personen, Gegenstände
und Verrichtungen erkennt, verlangtes versteht und nicht allein Unbehagen
=
Zur Sprachentwicklung. 7
sondern auch Freude durch unartikulierte Laute zu erkennen gibt. Dies
sind die Vorläufer und -ersten Anfänge des spätern Sprechens. Wenn
letzteres selbst nun so beginnt, dafs das Kind versucht, die oft genannten
Gegenstände durch Wortversuche zu bezeichnen, so ist als der dem nächste
Fortschritt das Zusammenstellen der Worte, zunächst Hauptwort und
Verbum im Infinitiv, zu betrachten, was ja leicht begreiflich ist. Schwerer
aber ist zu ergründen, wie das Kind in meist so sehr überraschender
Weise zur Verwendung von Phrasen gelangt ist, deren Herkunft nicht
nachweisbar ist; und dazu noch sogar werden diese Phrasen, man möchte
behaupten, immer, an richtiger Stelle und in richtigem Sinne verwendet.
Vermittler kaun ja doch selbstredend nur das Gehör gewesen sein, und
sicher oft zu solchen Zeiten und so durchaus beiläufig, dals garnicht an-
zunehmen ist, dafs das Kind zur Zeit der Aufnahme solcher Sätze be-
sonders gespannt aufmerksam gewesen sein sollte. Es hat also der flüch-
tigste Eindruck auf das junge Gehirn genügt, ihm dieselben so fest ein-
zuprägen, selbst wo nur ein einmaliges Hören angenommen werden kann,
dafs er später, man möchte meinen, automatisch, wieder gegeben wird. Es
ist ja eine charakteristische Tatsache für das junge Gehirn, dals alle, selbst
die geringsten Eindrücke, leicht sich festsetzen und bis ins Alter sich
dauernd erhalten, im Gegensatz zum alternden Gehirn, wo diese Eindrücke
oft so oberflächlich und wenig dauerhaft sind, dals selbst ein Erinnern
von fremder Seite sie nicht wieder zu wecken vermag.
Einschalten möchte ich hier in Rücksicht auf die Sprachentwicklung
die eigentümlich merkwürdige Tatsache, dafs das Kind, sobald es sich
über die einfache Anwendung des Infinitivs fortgesetzt hat, mit über-
raschender Genauigkeit das Verbum flektiert, und selbst da, wo es dem
Sprachgebrauch entgegen falsche Formen anwendet, sie doch dem Paradigma
entsprechend, richtig bildet, wie etwa »geganken« statt »gegangen« Doch
dies nur beiläufig! Ich komme wieder auf den Gehöreindruck zurück.
Hierfür möchte ich die vortrefflich sich bewährende Methode der Berlitz
school of language in erster Linie anführen. Nach derselben wird der
Schüler gezwungen, ohne ein Wort seiner Muttersprache zu hören oder zu
gebrauchen, nur die fremde zu erlernende Sprache zu hören, und mit
dem Material des gehörten sich zu behelfen, um sich auszudrücken. Der
Erfolg ist glänzend und die Methode wohl dem Umstande entnommen,
dafs man eine fremde Sprache auffallend rasch durch den ausschliefslichen
Gebrauch und besonders das ausschliefsliche Hören im fremden Lande er-
lernt. Es ist eine Tatsache, die jeder an sich erfahren kann oder cr-
fahren hat, dafs er das einmal in der fremden Sprache gehörte Wort fast
immer sofort behält, während er dasselbe Wort zehnmal im Diktionär auf-
schlagen kann und dennoch immer wieder vergilst; ebenso, wie niemand
eine fremde Sprache sprechen lernen würde, dadurch, dafs er Jahre lang
keine andere Lektüre als die in der fremden Sprache gehabt hätte; hört
er sie aber sprechen, dann spricht er sie auch bald selbst. -— Ja, die
Sache geht noch weiter: Man kann beispielsweise vor Jahren eine fremde
Sprache geläufig gesprochen, sic aber im Laufe vieler Jahre so schr ver-
gessen haben, dafs man nicht wehr imstande ist, die einfachsten Sätze
80 B. Mitteilungen.
oder Gedanken in derselben wiederzugeben, zum Teil schon, weil eine
Anzahl von Worten und Ausdrücken verloren gegangen sind. Da ergibt
sich plötzlich die Veranlassung oder Gelegenheit, sich in dieser vergessenen
Sprache ausdrücken zu müssen, und in kaum einer Stunde tauchen die
Erinnerungen wieder auf, nicht etwa allein durch das von der andern
Seite gehörte, sondern die Lücken füllen sich sofort auch da wieder, wo
keine Erinnerung an diese Lücken durch die Konversation gegeben worden
ist. — Kann es ja doch vorkommen, dals uns in der eignen Mutter-
sprache plötzlich ein Wort durch den Kopf schielst, scheinbar sogar ohne
äulsere Veranlassung, wo man sich sagt: dies Wort hast du wohl seit
+0 Jahren nicht gebrancht oder auch nur gehört.
Vielleicht, aber eben auch nur vielleicht verwandt hiermit dürfte die
Erscheinung sein, dals ein entfallenes Wort, dessen man sich durch keine
mnemotechnischen Kunststücke wieder erinnern kann, uns plötzlich, wie
vom Himmel gefallen, wieder einfällt, da, wo nicht der geringste Um-
stand nachweisbar ist, der einem Erinnern gleich geachtet werden
könnte.
Eine andere Erscheinung aber, die ich auf die unwillkürliche An-
regung alter Eindrücke auf das Gehirn zurückführen möchte, ist das
auch beim geistig gesundesten Menschen, man kann wohl sagen, bei allen
Menschen ab und zu einmal vorkommende Hören eines ganzen Satzes,
auch mit einer nicht zu verkennenden bestimmten und bekannten Stimme;
eine Erscheinung, die durchaus nicht etwa mit Hallucinationen Geistes-
kranker zu verwechseln ist.
Aus alle dem Vorstehenden möchte ich den Schluls ziehen, dafs die
Sprache sich durch das Gehör einprägt hauptsächlich in der Weise, dafs
das Gehirn vergleichsweise etwa — sit venia verbo! — die Rolle einer
pbonographischen Walze spielt, indem es, dieser ähnlich, die Eindrücke
in sich so aufnimmt, dafs sie durch irgend einen bis jetzt noch nicht zu
definierenden Einfluls zum Klingen gebracht werden.
Es dürfte sich verlohnen, einem solchen Gedanken weiter nachzu-
gehen, um zu schen, welche greifbaren Resultate etwa dadurch zu er-
langen wären.
Berlin. Dr. Wolfert.
3. »Neue Methode.«
In Band IH Nr. 5 der Association Review, die den deutschen Taub-
stummenanstalten recht warm empfohlen werden kann, ist ein Aufsatz
von W. Wade, Oakmont, Pa. unter der Überschrift »Revolutionary
Methods«, der zeigt, dals man auch jenseits des Ozeans eine allein selig-
nachende Methode nicht anerkennen will. »Methoden nehmen immer
eine untergeordnete Stelle beim Unterrichte ein; der beste Lehrer
macht sich selbst seine Methode.
Als die hervorragende Geistes- und Sprachbildung der taubblinden
Helene Keller nicht mehr gelcugnet werden konnte, protestierte ihre
Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 81
Lehrerin Fräulein Sullivan bekanntlich ganz energisch dagegen, sie als
ein Wunderkind zu bezeichnen und behauptete, dafs ein jedes taubblinde
Kind auf eine gleiche Höhe geführt werden könne, wenn es nach der-
selben Methode unterrichtet würde, wie H. K. Ein hervorragender Ver-
treter unserer Sache in Amerika fügte aber hinzu: »Jawohl, wenn es ein
Fräulein Sullivan zur Lehrerin hat.« Damit ist in gewisser Weise auch
schon gesagt, dals an erste Stelle nicht die Methode, sondern der Lehrer
zu stellen ist. Aber auch in anderer Weise muls der Ausspruch von
Frl. Sullivan noch eingeschränkt werden. Sie sagt, jedes taubblinde
Kind. Würde sie, statt Lehrerin eines Kindes Klassenlehrerin
gewesen sein, so würde sie jenen Ausdruck sicher nicht gebraucht
haben.
In den amerikanischen Taubstummenanstalten wird jetzt schon eine
Reihe von Taubblinden unterrichtet. Fräulein A. Lyon (Ohio Inst) sagt
ausdrücklich, dals sie beim Unterrichte des taubblinden Leslie Oren den-
selben Weg einschlage, den Frl. Suliivan mit Erfolg gegangen sei.
Bei der bekannten Agitation ist wohl anzunehmen, dafs auch von andern
Lehrerinnen, von Taubblinden unausgesprochen in gleicher oder ähnlicher
Weise verfahren wird. Und doch findet sich in den vereinigten Staaten
noch kein Taubblinder, der verspricht, aucn nur annähernd so weit ge-
fordert werden zu können, wie H. K. ist. »Was tue ich mit einer
Methode, die bei 99,9 °/, von Schülern nicht zum Ziele führt?« Übrigens
wird in Wades Aufsatze die »Neuheit« von Frl. Sullivans »Methode«
bezweifelt.
Die Hochschätzung von Frl. Sullivans Leistungen als Lehrerin
wird hierdurch nicht abgeschwächt.
Emden. O. Danger.
4. Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich
gefährdeten Jugend.
Ein Reisebericht von J. Chr. Hagen, Direktor des Schulheims zu Falstad bei Drontheim.
(Fortsetzung.)
Hamburg.
Das Zwangserziehungsgesetz Ilamburgs trat den 1. Septbr. 1887 in
Wirksamkeit. Die Untersuchung und Entscheidung, sofern gesetzmälsige
Voraussetzungen für Zwangserziehung vorliegen, verweist es an eine rein
bürgerliche Institution, an die Behörde für Zwangserziehung. Diese Kom-
mission besteht aus neun Mitgliedern: zwei Repräsentanten für den Senat,
einem für die höchste Autorität des Schulwesens, einem für die Armen-
verwaltung nebst vier Mitgliedern von der Bürgerschaft Hamburgs ge-
wählt. Die Kommission kann indessen nur über Zwangserziehung bc-
Stimmen. wenn die Eltern damit cinverstanden sind. Im andern Falle
hat das Vormundschaftsgericht zu bestimmen.
Dio Kinderfehler. VIH. Jahrzanr. 0
2 B. Mitteilungen.
Nach $ 1 des Hamburgischen Zwangserziehungsgesetzes kann in
3 Fällen die Zwangserziehung angewendet werden. 1. auf Kinder unter
12 Jahren, 2. auf verurteilte Jugendliche, 3. auf Kinder unter 16 Jahren,
welchen gegenüber die Erziehungsmittel der Schule und des Elternhanses,
sie vor sittlichen Verderbungen zu bewahren, sich ungenügend erwiesen.
In den beiden ersten Fällen ist aufser begangenem Verbrechen sittliche
Verwahrlosung die Voraussetzung für Anstaltsüberweisung.
$ 9 des Gesetzes bestimmt, dafs die Kommission wie oben erwähnt,
beschlielst, ob das Kind in Anstalt oder Familie untergebracht werden soll.
Als Anstalt wird dann beinahe ausschliefslich die 1884 errichtete Er-
zichungs- und Verbessernngsanstalt Ohlsdorf angewendet. Fbenso kann
die Kommission zu jeder Zeit das Kind aus der Anstalt herausnehmen
und es in Familienpflege unterbringen und umgekehrt. Sie fungiert immer
als gesetzlicher Vormund der untergebrachten Kinder. $ 11 des Gesetzes
schreibt Regeln für die Entlassung aus der Anstalt vor. Diese findet
für die Kategorie Nr. 1 beim erreichten 15. Jahr, für Nr. 2 und 3 beim
18. statt. Doch können in besondern Fällen die Betreffenden auch
früher entlassen werden, so wie der Aufenthalt in der Anstalt aufs
20. Jahr erstreckt werden kann. $ 12 bestimmt, dafs die Kommision
auch die Unterbringung von Kindern beschliefsen kann, die nach $ 56
des Strafgesetzbuches verurteilt sind. Dies sind die wesentlichen Be-
stimmungen im Damburgischen Gesetz über Zwangserziehung.
Die Erziehungs- und Verbesserungsanstalt Ohlsdorf bietet
äufserlich günstige Verhältnisse. Es liegt das Bestreben des Hamburger
Freistaates vor, etwas Gutes bieten zu wollen und er hat es geboten. Der
Raum versagt es uns, dies näher darzulegen, wie es in meinem in
norwegischer Sprache gedruckten Bericht S. S—11 geschehen ist. 1)
Besonderes Gewicht ward auf praktische körperliche Arbeit ge-
lest. Man bezweckt damit 1. die Jungen zum Bewulstsein vom sittlichen
Wert der Arbeit dadurch zu bringen, dafs sie zu anstrenrender Wirksam-
keit gewöhnt wurden; 2. Hand und Geist zur Selbsthilfe zu entwickeln
und 3. dals der Junge selbst zu den mit seiner Erziehung verbundenen
Kosten etwas beitragen sollte.
Die Arbeitszeit betrug für die noch schulpflichtigen Zöglinge 2 Stunden
täglich, für die nicht schulpflichtigen 5 Stunden täglich.
Die Arbeit bestand in 1. Landwirtschaft, 2. Gärtnerei, 3. Tischlerei,
4. Schuhmacherei, 5. Schneiderei, 6. Sattlerei, 7. Buchbinderei, 8 Bürsten-
binderei, 9. Korbflechten, 10. Küchenarbeit und verschiedenen andern vor-
tallenden Arbeiten.
Die Jungen waren in bestimmte Gruppen eingeteilt; die einzelne
Gruppe ward immer mit derselben Arbeit beschäftigt. Dadurch wollte
man Stätigkeit und Gründlichkeit fördern und daraus erfolgte auch, dafs
es der Anstalt möglich wurde, die wesentlichen ihrer Bedürfnisse (Mo-
') Beretning om en i 1899 med off. stip. foretaget rise til udenlandske an-
stalter af J. Chr. Hagen.
Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. g3
bilien, Bekleidung, Einrichtung u. s. w.) insofern es auf handwerksmälsige
Ausführung ankam, selbst zu bestreiten. Die kleinen und diejenigen, die
sich am schlechtesten betrugen, wurden zu :Kartoffelschälen und dergl.
gesetzt. Zeigte es sich, dafs ein Knabe in einer gewissen Zeit in dem
betreffenden Fache nicht Genügendes zu leisten vermochte, so ward er zu
einer andern Gruppe versetzt; solche Versetzung aber wurde in der Regel
nur einmal gestattet.
In der Arbeit wurde gefordert, dafs der Junge sich ernstlich an-
strengen sollte; denn, wie der Direktor sich aussprach, das Leben gibt
die Arbeit nicht als Spiel, sondern als Anstrengung; also sollen
sie die Arbeit nicht als Spiel, sondern als wirkliche Anstrengung zu
fühlen sich gewöhnen.
In der Erziehungsarbeit der Anstalt betonte der Direktor vor allem
den persönlichen Verkehr der Kinder mit dem Personal. Dies
allein ermöglicht eine direkte persönliche Einwirkung auf das Kind. Ohne
ein solches Verhalten sah man die Arbeit der Anstalt für ganz nutz-
los an. Es ist eben die kundige verständnisvolile Behandlung des Kindes,
die vor allem den in einem sittlich verkommenen Milieu herangewachsenen
und vergifteten Kinderseelen als eine neue Atmosphäre dienen soll.
Bei der Aufnahme wird jedem Kinde absolutes Schweigen hinsichtlich
seines früheren Lebens und Treibens auferlegt und es wird streng be-
straft, wenn dies Gebot nicht befolgt wird.
Als Erstes wird angestrebt, die Gemüts- und Charakterbildung zu
fördern. Nebst regelmälsiger Schul- und körperlicher Arbeit und einem
unabweislichen Anspruch auf Ordnung, Sauberkeit, Fleils und Ehrlichkeit
dienen zu diesem Zwecke auch planmälsig geordnete Zerstreuungen. Es
werden Spaziergänge, Ausflüge und Festlichkeiten arrangiert; den älteren
Knaben steht eine Kegelbahn offen. Die Anstalt hat auch eine Bibliothek
von ca. 800 Bänden; Gesang und Musik werden mit Sorgfalt betrieben.
Der Direktor erwies mir die Ehre, die Jungen eine Aufführung in Musik
und Gesang geben zu lassen, wo in mustergültiger Weise mehrstimmiger
Gesang (teils von Knaben allein, teils von Knaben und Mädchen) wie auch
ÖOrchestralmusik mit Solos und ÖOrgelbegleitung vorgetragen wurde. Zu-
folge der persönlichen Erfahrung, die ich da machte, bin ich noch mehr
in der Überzeugung bestärkt worden, dals es gradzu ein Fehler bei
unsern Erziehungs-Anstalten ist, dafs der Musik und dem Gesange nicht
ein ganz anders hervortretender Platz zugeteilt wird, als es für gewöhn-
lich der Fall ist.
Im überaus geschmackvollen Andachtssaal (von den Knaben ein-
gerichtet) ward an jedem Feiertage für die gesamten Anstaltsbewohner
Gottesdienst gehalten.
Wie angedeutet, wird die Forderung auf geziemendes Betragen, Ord-
nung, Sauberkeit u. s. w. streng betont. Vernachlässigungen sind mit
disziplinaren Strafen belegt. Als solche sind im speziellen Strafreglement
aufgestellt: 1. Verweise, körperliche Strafe, Nachsitzen, 2. Verlust von
Mahlzeit, 3. Isolation in einer Zelle. Nach dem Strafjournal zu schlielsen,
kamen verhältnismälsig selten gröbere Übertretungen vor.
6”
S4 B. Mitteilungen.
Von Hamburg fuhr ich zu einer
Königl. preufsischen Erziehungsanstalt in N.
Die Anstalt befindet sich in einem alten Schlosse, das einst
einem depossidierten Fürsten gehörte. Unwillkürlich macht es einen
etwas gefängnisartigen Eindruck. Beinahe alle Fenster waren mit Eisen-
gittern versehen, zudem waren sie auch verriegelt. Der Hof, der Spiel-
platz und der Park — kurzum die ganze Anstalt war mit hohen Eisen-
staketen, zum Teil mit Mauern umgeben. Überall war geschlossen.
Die Zimmer waren grofs und geräumig, ebenso die Korridore, die Licht-
verhältnisse aber entsprachen kaum den Forderungen der jetzigen Zeit.
(In den Korridoren waren Spritzenschlangen in gläsernen Schränken auf-
geschraubt.) Unbequem schien es mir, dafs die Küche im Erdgeschofs,
die Speisesäle im zweiten lagen. Das Essen ward darum in grofsen
blechernen Eimern hinauftransportiert. Die Schulzimmer und Kontore
des Direktors und des Sekretärs lagen im Erdgeschols. Im zweiten lagen
die Speisezimmer, die auch als Wohnstuben dienten. Hier hatten die
Knaben ihre numerierten Schränke, in welchen sie in besondern Räumen
ihre Bücher, ihr Eflszeug und ihre Putzsachen und auf einem Brette
unter dem Schrank ihre Stiefel hatten. Diese kleinen Schränke (ohne
Schlols), waren an den Wänden herum in passender Höhe angebracht.
Im dritten Geschosse lagen die Schlafzimmer. Sie waren mit eisernen
Betten versehen und übrigens sehr einfach eingerichtet. Die Aborte
waren im Erdgeschofs. Auch im dritten und vierten Stock waren Fenster
und Glastüren vergittert. Das Dachzimmergeschols hatte die Kranken-
zimmer, 2 Kerker und 6 Isolationsräume, daneben auch die Schneider-
und Schusterwerkstätten der Anstalt. In besondern Gebäuden waren
Schmiede und Tischlerei, wie in diesen auch die Schul- und Handwerks-
lehrer, der Ökonom und die Aufseher ihre Wohnungen hatten. Zwischen
den Hauptgebäuden und den übrigen lag ein hübscher Park. Sonst war
die Anstalt von ihren Gärten — Frucht-, Gemüsegarten nebst dem Garten
der Funktionäre — umgeben. Es waren nämlich einem jeden der Funktionäre
cine bestimmte Fläche Land als Garten angewiesen, den Lehrern 7, den
Aufsehern 5 Ar, jedoch gegen eine kleine Abgabe.
Die Arbeit der Funktionäre. Der Direktor führt die Oberaufsicht
der Anstalt. Er unterrichtet 6 Stunden wöchentlich und besorgt an den
Feiertagen die Predigt im Andachtssaal der Anstalt, ist aber nicht mit
irgend welcher speziellen Inspektion betraut. Zum Gehilfen in den
laufenden Kontorgeschäften hat er einen Sekretär, der die Bücher und
Journale u. s. w. führt.
Die Lehrer haben wesentlich nur mit dem Unterricht, nicht mit der
körperlichen Arbeit zu tun. Sie liefern dem Direktor monatlichen Rapport
über das Benehmen jedes cinzelneu Zöglings ihrer besondern Abteilungen
und überreichen ein Strafenverzeichnis. Im nötigen Falle trifft jener
gegen besondere Versehen seine Verfügung. Dann hat jeder von den
3 Lehrern 2 Tage ədu jour« in der Woche. Er findet sich da pünktlich
um 6 Uhr ein und führt die Oberaufsicht in den Gängen; die besondere
Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. S5
Aufsicht in jeder Abteilung wird von 6 bis 81/, Uhr morgens und von
12—9 Uhr nachmittags von den Aufsehern geführt. Diese inspizierten
also bei allen Mahlzeiten und bei dem Lektionslesen. Um 9 Uhr abends
traf der Nachtwächter ein. Er war, aus Rücksicht auf seine persönliche
Sicherheit den Knaben gegenüber von zwei Hunden begleitet. Diese
hatte er im Korridore liegen, von wo er die Schlafsäle wiederholt in-
spizierte.e Morgens 5 Uhr schickte er sie nach Hause, damit die Knaben
keine Gelegenheit haben sollten, sie sich vertraut zu machen, und um
6 Uhr übergab er die Anstalt dem Jourhabenden.
Tagesordnung. Um 6 Uhr wird mit der Glocke geläutet. Alle
stehen auf, die Aufseher treten in die Schlafsäle ein und kontrollieren
streng das Bettmachen. Die Matratzen werden gewandt; die zwei wollenen
Decken aus ihren baumwollenen gewürfelten Überzügen herausgenommen,
sorgsam zusammengelegt, der Überzug herumgestülpt, dann werden sie
an das Fulsende der lakengedeckten Betten gelegt. Dieses wird von
zwei Abteilungen (Schlafsälen) gleich nach dem Aufstehen getan, die
dritte dagegen steigt erst in den Toilettenraum hinunter und wäscht sich,
worauf sie, indem sie um ihrerseits ihre Betten zu machen hinaufsteigen,
von den zwei übrigen abgelöst werden, nachdem diese mit ihren Sälen
fertig sind. Das Waschzimmer ist mit 2 grolsen freistehenden Tischen
versehen, in deren schiefersteinernen Platten zwei Reihen emaillierte
Waschgefälse auf Zapfen angebracht sind, die von beiden Seiten des
obern Randes der Gefälse in die Tischplatte hineingehen, so dafs das
Wasser, womit die Gefälse aus kleinen Wasserkränen versehen werden,
in eine unter den Tischen stehende, zu einer Kloake führende Metall-
rinne mit Leichtigkeit entleert werden kann. Die Knaben stellen sich, ihr
Handtuch und Seifenstück mitbringend, vor ihren Gefälsen auf. Das
Hemd wird über die Schultern hinuntergezogen und aufser Gesicht und
Händen werden Kopf, Ohren, Hals und Brust gewaschen. Je nachdem
die Knaben das Wasser abgewischt, gehen sie rasch zu dem Aufseher
hin, zeigen die Hände hervorgestreckt, drehen den Kopf, dafs an dem Halse
nachgesehen werden kann, zeigen Brust und Rücken, und wenn der Bce-
treffende vollkommen rein ist, wird das Ankleiden fortgesetzt. Wenn die
Abteilung fertig ist, wird sie vor den Gefälsen aufgestellt, jeder Knabe
mit seinem Handtuch und seiner Seife, die Gefälse werden geleert, cs
wird kommandiert: rechts um, der Aufseher nimmt in der Tür Platz, und
auf »Marsch« gehen die Knaben, Handtuch und Seife dem Aufseher
präsentierend, nach dem Speisesaal hinauf. Hier wird sogleich an das Ab-
wischen des Staubes von den Schränkchen die Hand angelegt, ihr Inhalt
nachgesehen und im nötigen Falle in ihnen geordnet. Sobald der Lehrer
ədu jour« hereintritt, stellt sich der Aufseher stramm und meldet an,
wieviel Knaben die Abteilung heute zählt. Diese Meldung empfängt der
»du jour« in allen drei Sälen, da er dem Direktor gegenüber verant-
wortlich ist und Meldung soll abstatten können, wenn dieser sich ein-
findet. Nun kommen die für jeden Tag auserschenen Knaben mit dem
Frühstückskessel, entweder Weizen- oder Roggenmehlsuppe oder Kaffee
enthaltend, stellen ihn auf ein Holzbrett mitten auf den Boden und
S6 B. Mitteilungen.
daneben auch zwei Eimer Wasser (einen mit kaltem, den andern mit
warmem W.) Dann begeben sich alle zur Abteilung des Jourhabenden,
in einen von den drei Speisesälen. Es soll Andacht gehalten werden. Der
ədu joure gibt einen Psalmenvers auf, zum Auswendigsingen, worauf
ein Schriftstück, ein Dankgebet für Beschirmung während dieser Nacht
und ein Vaterunser vorgelesen wird; dann wünscht er sämtlichen »ge-
segnetes Frühstücke. Die Knaben antworten mit denselben Worten, worauf
das Frühstück in den einzelnen Speisesälen eingenommen wird. Nach dem
Frühstück gehen die ältesten Abteilungen sogleich zur Arbeit; die jüngsten
(12 bis 14 Jahre) zur Lektionsvorbereitung, die eine Stunde dauert. Wenn
diese vorbei ist, treten die Aufseher ab, und die Lehrer beginnen den
Unterricht, der mit Unterbrechung einer halben Stunde (91/,—10) bis
12 Uhr fortgesetzt wird. Jetzt wird das Mittagsmahl eingenommen; die
angestellten Knaben bringen die Eimer mit dem Essen hinauf. Jeder
Knabe holt sein Efszeug hervor aus dem Schränkchen und nimmt seinen
Platz ein. An jedem Tisch ist ein Tischältester da, der für gutes Be-
tragen dem Aufseher verantwortlich ist, welcher nun wieder sich für den
Rest des Tages eingefunden. Sämtliche Tischältesten stellen sich mit
ihrem 6-Mannsgefälse vor dem Schöpfer auf und begeben sich nach dem
Einschöpfen zu ihren Tischen, wo sie wieder jedem Knaben in dessen
eigene Schale schöpfen. Auf die Frage des Aufsehers: »Sind alle beim
ersten Tische zugegen?« meldet der betreffende Tischälteste, ob jemand
fchlt oder nicht. So der Reihe nach bei jedem Tische. Dann hält der
Aufseher Bediente Tischgebet:
Komm, Ilerr Jesu, sei unser Gast —
Und segne, was du uns bescheeret hast. Amen.
»Gesegnete Mahlzeit.< Die Knaben antworten: »Gesegnete Mahlzeit.«
Der Anfscher nimmt auch seine Mahlzeit ein. Nach der Mahlzeit
gchen die Knaben, um ihre Schüssel, Messer u. s. w. im Wasser der
obenerwähnten 2 Eimer zu waschen. Ich bemerkte, dals Fleisch, Speck
und Hering nicht von cinem Teller, sondern von einem lolzbrettchen ge-
gessen wurde. Von da an bis 1 Uhr (d. h. 15 bis 20 Minuten) sind die
Kinder frei. Da nachmittags keine Schule ist, so wird darauf die Arbeit
wieder in vollen Gang gesetzt bis 5 Uhr, wenn die Glocke zum Vesper
läutet: nun versammeln die verschiedenen Aufseher ihre Knaben, treten
mit ihnen in den Hof, zählen ihre einzelnen Arbeitsgruppen mit dem Zu-
wachs, den sie aus den Werkstätten nun erhalten, rapportieren dem
ədu jour« ob alle zugegen, rücken auf die Kompagnielinie ein und
marschieren zum Küchenfenster, von wo eine Schnitte Brot mit entweder
einem Stück Käse, Schmalz oder Apfelbrei ausgeliefert wird. Dies wird
auf dem lofplatze gegessen. Sollte etwa jemand es nicht verspeisen
wollen, darf er es in seinem Schränkchen aufbewahren. — Nach dem
Vesper nimmt jeder Knabe seine Bürsten und seine Schmierschachtel,
und sie treten aufs neue auf die Linie, wo sie ihr Schuhzeug unter der
schärfsten Aufsicht der Aufseher putzen. Wenn es nicht absolut tadellos
getan wird, muls es gleich wiederholt werden. Wenn alle fertig sind,
wird mit den Putzsachen in die Speisesäle abmarschiert, wonach die zwei
Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. S7
ältesten Abteilungen sich wieder an die Arbeit begeben, während die
jüngeren, die C-Zöglinge da bleiben und an die Lektionsvorbereitung gehen
bis acht Uhr, wo das Abendessen serviert wird. Um 9 Uhr ist Bettzeit.
Der Unterricht erzielt die Kenntnisstufe, die erreicht werden soll,
wenn ein Kind die oberste Klasse der Volksschule auf dem Lande ver-
läfst. Die Unterrichtszeit war so verteilt, dafs auf die Knaben von 12
bis 14 Jahren 3 Stunden täglich aufser dem Lektionslesen, das auch
3 Stunden betrug, fielen. Die nächste Gruppe (14—16 Jahre) hat 4 Stunden
wöchentlich Unterricht, und die älteste (16—18) 2 Stunden wöchentlich.
Diese zwei letzten bilde die Fortbildungsschnle und haben als Fächer:
Rechnen, Weltgeschichte und Religion. Die jüngste war wieder in 3 auf-
steigende Klassen geteilt und hatte sämtliche Fächer der Volksschule.
Die übrigen Stunden der Arbeitstage der Woche waren mit körperlicher
Arbeit ausgefüllt. Gymnastik und pädagogische Slöid (Handfertigkeit) kam
nicht vor. Man hatte dazu keine Lokale und empfand auch nicht die
Notwendigkeit dieser Disziplinen. Die Klassenzimmer waren mit alt-
modischen Bänken eingerichtet und die Sammlung von Karten, Plänen
und anderm Material war recht dürftig.
Die körperlicne Arbeit der Knaben. Die Anstalt besals nur
soviel Wiese, dafs sie 6 Kühe ernähren konnte, sie hatte keine Pferde
und Schweine. Die Landbauarbeit war also schr beschränkt. Alle Acker-
und auch Transportarbeit ward durch die Handkraft der Knaben aus-
geführt. Statt den Acker zu pflügen, durcharbeitete man ihn mit Spaten
und Hacke. Die Knaben zogen den Dünger auf die Äcker. Zum Trans-
portfahren wurden 6 Knaben mit Hilfe von Schulterzugriemen dem
4räderigen Wagen vorgespannt und 4 stielsen nach. Kamen z. B. Güter
mit der Eisenbahn zur Anstalt, sah man gleich cinen Knabenwagen an-
fahren. So erschienen die Knaben mit ihrem Wagen auf der Eisenbahn-
station um Brot zu holen. Es schien schwer zu sein, und dieses Schleppen
der vornübergebogenen, in den Ricmen anliegenden Knaben, die ihren
Brotwagen durch die Stralsen der Stadt fuhren, machte einen nicht ganz
angenehmen Eindruck.
Ein paar Knaben leisteten dem Viehlnecht Beihilfe. Sonst wurden
sie im Garten, Park, dem Obst- und ziemlich grofsen Gemüsegarten be-
schäftigt. Während meines Aufenthaltes waren einige mit der Aufführung
einer hohen Mauer um den Garten herum wirksam.
Es fanden sich auch wohleingerichtete Werkstätten: Schmicde-,
Tischler- und Schlosser-Werkstätten. An jeder dieser hing eine Tafel,
das Pensum, was jeder zur Werkstatt hingewiesene Knabe zu durchgehen
hatte, und die als notwendig angeschene Zeit angebend, um in jedem
Teil der Arbeit Fertigkeit zu erreichen.
Die Pensumliste z. B. für die Schmiedewerkstatt war ungefähr wie
nach folgendem Schema abgefalst:
(Siehe Scite 88.)
Die Werkstätten befriedigten in der Regel das gesamte Bedürfnis
von Reparaturen an Inventar, Einrichtung und Gerätschaften. Die Werk-
SS B. Mitteilungen.
Abteilung Pensum Lernzeit Probestücke
I. 1. Gebrauch verschiedener Feilen
2. Bedienung des Balges Eine eigen-
3. Kenntnis der verschiedenen angewandten händig ge-
Wärmegrade 6 Monate ?_ arbeitete
4. Einzelne Arbeiten: Schrauben, Mutter, Schraube
Zinnlötung mit Mutter
5. Teilnehmung an gröfseren Stückarbeiten
II. 1. Lötungsarbeit mit Kupfer und Messing Selbständig
2 m: verschiedenes
2. Eisen auf dem Ambols zu bearbeiten, in der
zu biegen u. s. w. Schmiede vor-
l i 6 Monate { ~%
3. Eisen in der Esse zu bearbeiten kommendes
4. Selbständig Ofenrohre, Stäbe und Tür- Handwerks-
chläo ie zeug zu repa-
beschläge auszuführen rieren
Ill. Selbständige Ausführung allerlei kleinerer
l ay l Ein
Hufschmiedearbeiten; einige Anleitung g 6 Monate 5
= j Türschlofs
des Meisters erlaubt
Ausbildung in obenerwähnter Arbeit erfordert im ganzen 1!/⁄, Jahr.
Der Direktor.
meister führten genau Buch über ein- und ausgehendes Material. Die
Rechnung des Materiallieferanten wird in die Rechnungsschemas um-
geschrieben, wo auf dem Fufse des Blanketts ein Schemata gedruckt sind
für Anweisung des Direktors, Kontoanweisung, endlich für Quittung des
Lieferanten.
Das Verhalten der Knaben. Zur Zeit waren ca. 150 Knaben
wegen Diebstahls, Sittlichkeitsvergehen, Störung des Strafsenfriedens u. s. w.
zur Unterbringung verurteilt. Obgleich der Haupteindruck der Disziplin
der Knaben günstig war, ist es doch selbstverständlich, dals öfters zum
Teil sehr grobe Verbrechen vorkamen, z. B. Einbruchsversuche, Aus-
reilsen, Gewalt gegen Funktionäre, Verweigerung zu arbeiten. Jedes Ver-
gehen ward streng und genau untersucht, und Vermahnungen, Verweise
oder Strafe erfolgten sogleich. Der Funktionär, der das Versehen ent-
deckte, oder auch gegen den es gerichtet war, notierte dasselbe augen-
blicklich, um es später in seinem Monatsrapport einzufügen; in gra-
vierenderen Fällen ward eine Meldung sogleich zum Direktor gebracht.
Die härteren Strafen, wie körperliche (mit spanischem Rohre, das dem
Reglement zufolge nicht über 0,5 cm Durchschnitt haben durfte), Kerker
und Isolation durften nur vom Direktor zuerkannt werden. In Fällen
von Entweichung wurden die Knaben von der Polizei eingeholt und zur
Deckung der Einholungskosten ward der Betreflenden Spargeld verwandt.
Als Strafe für solche Vergehen bekam der Ausreifser Prügel und ward
im Isolationsraum eingesperrt, mit einem Kittel und Beinkleidern von
lichtblauem baumwollenen Zeuge angetan. Die Tracht war aufserdem
mit weilsen Streifen an den Schultern und längs den Säumen der Bein-
kleider versehen. Auf den Fall, dafs der Knabe wieder ausreilsen möchte,
wäre er leicht kennbar, jedenfalls bis er Gelegenheit fand, andere Kleider
Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. g9
anzuschaffen. Diese Tracht trägt der Betreffende, bis man einigermafsen
versichert ist, dafs er die Ausreifsungsgedanken aufgegeben; sie war auch
ziemlich gefürchtet.
Wenn ein übergeordneter Funktionär oder ein Fremder in die Klasse,
den Speisesaal oder irgendwo dergleichen hereinkam, wo die Knaben sich
aufhielten, erhoben sich diese rasch auf das Kommandowort: Achtung!
und blieben stehen, bis sie sich zu setzen Zeichen oder Wort bekamen.
Die Knaben grüfsten in militärischer Weise, aber hatten sie, wenn
von einem Vorgesetzten angeredet, die Mütze auf dem Kopf, so nahmen
sie diese, während sie angeredet wurden, in die Hand.
Sie machten übrigens den Eindruck, etwas träge zu sein und hatten
gar kein keckes, rasches Wesen. Stumpfheit und Indolenz war ziemlich
häufig. Der Direktor erklärte, dafs Onanie sehr gewöhnlich, Sodomiterei
auch entdeckt sei; beide Laster gingen nachts in dem Schlafsal vor.
Einzelnen hatte man sogar die Hände binden müssen, wenn sie zu Bett
gingen. Selbstmord war ein paar Wochen vor meiner Ankunft vor-
gekommen. Der Knabe hatte einem Kameraden ein Paar Hosenträger
gestohlen. Dieses war entdeckt und aus Furcht vor der drohenden Strafe
(Prügel) ging er auf den Heuboden und erhängte sich. Es ist überflüssig,
zu bemerken, dafs Faulenzerei und Arbeitsscheu gewöhnlich war. Die
Aufseher mufsten immer ein Auge auf die Knaben haben und antreiben.
Die Gerätschaften behandelten sie sehr fahrlässig. Fin Aufseher sagte,
man dürfte ihnen nicht eher den Rücken wenden, als bis sie mit der
Arbeit ganz aufhörten.
Die Bekleidung der Knaben. Jeder Knabe hatte eine Mütze
(deutsche Schulmützenforn.) mit rotem, blauem oder weilsem Bande, die
Abteilung, zu der er gehörte, bezeichnend. Weiter war er mit einknöpfiger
Jacke aus blauem Düffel, schwarzgrauen Beinkleidern aus Fries, Leder-
stiefeln, weilsem wollenen Unterzeug und wollenen Strümpfen bekleidet. Die
Sonntagstracht war von demselben Stoffe. Es war den Knaben streng
geboten, ihre Kleider sorgfältig zu behandeln. In der Stopfenstube
besserten die Knaben ihre Strümpfe aus. Zu den gröberen schmutzigen
Arbeiten gebrauchten sie Schutzhemden und Schutzhosen oder Schurzfell.
Die sämtlichen Bekleidungssachen wie überhaupt alles, was dem Knaben
zu beständigem Gebrauch überlassen, war mit dem Namen der Anstalt
gestempelt, so z. B. Bücher, Löffel und Gabeln ete.
Die Speisung der Knaben. Die Kost wird monatlich für jeden
Tag mit der Genehmigung des Direktors von dem Ökonomen festgesetzt
und dieses Monatsreglement in der Küche aufgeschlagen. Als Köche
fungierten zwei ältere, vom Ökonomen unterrichtete Knaben; sie waren voll-
ständig facheskundig. Ich fand sie immer allein mit der Zubereitung
des Essens beschäftigt. Das Essen ward in zwei grolsen, mit Druck-
messern versehenen Dampfkesseln gekocht. Der in den Kesseln über-
flüssige Dampf wird in einen Zylinder geleitet, wo er kondensiert wurde
und für das Aufwaschen hinlängliches Wassar lieferte.
Zum Frühstück wechselte man, wie früher erwähnt, mit 1. Weizen-
melılsuppe, wozu 2 Teile frischer Milch, 1 Teil Wasser und cin passendes
90 B. Mitteilungen.
Quantum Weizenmehl; dazu kommen 75 g Brot. 2. Roggenmehlsuppe
nach demselben Verhältnisse zubereitet und ebenso Brod. 3. Kaffee mit
Brot. Zum Mittag war für die erste Woche meines Aufenthaltes auf der
kKüchenliste angeführt ungefähr wie folgt:
‚3.99. Bohnen (auf weilsen Bohnen gekochte mit Fett und ein
wenig Essig zugesetzten Suppe) und Hering.
2./3. 99. Reissuppe.
3./3. „ Linsen mit Talg.
4.3. „ Fleisch mit Reissuppe.
5.3.» Speck und Sauerkraut.
5.3. „ Fisch.
7.3.» Bohnen mit Talg.
8./3. „ Fleisch und Brot.
Dies waren die Gerichte, die den Monat hindurch gewechselt wurden.
Gewichtsteile waren nicht auf der Kostliste angeführt; die Portionen
waren nach unsern Verhältnissen klein.
Das Vesperbrot ist früher erwähnt und das Abendessen war wie das
Frühstück, den Kaffee ausgenommen. Geschah es, dafs ein Knabe seine
Portion nicht meistern konnte, mulste er es dem Angestellten melden,
der es dann dem Knaben, der es am meisten zu bedürfen schien, über-
lassen konnte. Wenn die Knaben sich zu Tisch setzten, wurde darauf
geachtet, dafs alle Stühle in genau gerader Linie standen, und dafs die
Knaben die linke Hand fach auf dem Tische liegend hatten, während sie
alsen ; selbst bei Fisch- und Heringsmahlzeiten wurden nicht Tischmesser
gebraucht. Im ganzen genommen, herrscht keine besondere Sauberkeit
am Tische, wo man mit den Fingern als und den man —- sonderbar
genug — mit ziemlich grolser Unordnung verlels.
Schlufsbemerkungen. Wie auf den Gebäuden so ruhte auch auf
dem Leben der Anstalt ein gelängnisartiges Gepräge. Den sorgsamen
Vergitterungen und den immer zugeriegelten Pforten und Türschlössern,
die überall dem Auge der Knaben begegneten und ihn an Absperrung er-
innerten, entsprach die Kälte und Leblosigkeit, das Distanzverhältnis, das
zwischen Zöglingen und Funktionären herrschte. Ich erinnere mich, dafs,
als ein Lehrer mir die verschiedenen Sachen in einem Knabenschrank,
wie sie geputzt, geordnet u. s. w. waren, zeigte, ich dem Knaben, der
cben da stand, und der seine Sachen im ausgezeichnetsten Stande hatte,
zunickte und bemerkte, dals es gut war, Das war gewils nicht »korrekt«
gehandelt, denn der Lehrer wandte sich mir sehr bedenklich zu und sprach
— offenbar so, dals der Knabe cs hören sollte —: Na, es ist nur, wozu er
unterrichtet und verpflichtet ist. Auf meine Frage, ob es aus Prinzip ge-
schehe, dafs man die Knaben nicht gern lobte, war die Antwort: ja. Ich
konnte überhaupt nicht viel von Aufmunterungen hören, auch hörte ich,
während ich da war, keinen Knaben je loben. Dies Prinzip ist gewils
richtig, insofern das Lob nicht zu leicht und wohlfeil erteilt werden darf.
Aber ebenso gewils ist es, dals ein verständiges Lob einfach erforderlich
ist. Die Aufmunterung stärkt den Glauben an sich selbst, fördert den
Mut und die Lust, sich aus der Schlaffheit, Gleichgültigkeit u. s. w. zu
Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 91
erheben. Der Knabe empfängt das Gefühl, dals er die Möglichkeit be-
sitzt, etwas auszurichten. Das Bewulstsein, dafs das Arbeiten und Streben,
seine Pflicht zu erfüllen, Beifall gewinnt und ein freundliches Wort her-
vorruft, wie auch das Empfinden, dafs das Herz meines Nächsten mir
gegenüber verständnisvoll gestimmt ist — wie spricht das zu meinem
Herzen und weckt die guten Gedanken, die Hoffnung nnd Lebenslust!
Merkt der bisher verwahrloste und verbrecherische Knabe, der plötzlich
von seinen Irrwegen geholt ist und sich bisher wie geächtet in der Goc-
sellschaft gefühlt, dafs es doch, wenn er sich, wie es sich gebührt, be-
trägt, und was ihm aufliegt erfüllt, anerkannt wird, so baut diese Sympathie,
die er in der Aufmunterung merkt, zwischen ihm und der Gesellschaft,
gegen die er sich verbrach, die Brücke über jenen Abgrund der Selbst-
verachtung und Selbstaufgebung, woraus es immer vorher so trostlos
lautete: Es hilft dir alles doch nichts, lebenslänglicher Sklave! Fahre
drum getrost fort auf der Balın des Verbrechens!
Die Knaben waren, wie früher erwähnt, in 3 Abteilungen geteilt.
Jede Abteilung wird von einem Lehrer mit ein paar Aufschcern als
Assistenten geleitet; aber fürs erste hatten die Lehrer, ausgenommen zwel-
mal in der Woche »du jour«, anfser ihren Unterrichtsstunden nichts mit
den Knaben zu tun, und fürs zweite — diese Aufseher, die schweigsam
und ernst in ihrer Polizeimütze als Wächter umherwandelten, lielsen
sich, so viel ich sehen konnte, aufser dem absolut Notwendigen, irgend
einem Wink, Zurechtweisung u. dergl. unter der Arbeit, nicht mit den
Kindern ein. Sie waren überhaupt polizeimäfsig in all ihrem Tun und
Lassen. Ich konnte in diesen Formen keinen Platz finden für die not-
wendige individuelle Einwirkung, aufser wenn ein Knabe nach einem
grölseren Versehen in das Kontor des Direktors hereingerufen wurde.
Auf meine Frage, ob man nicht bezügl. stark hervortretender
Degenerationszeichen, maniakalischer Eigentümlichkeiten und
überhaupt anomalischer Symptome irgend eine psychiatrische
Behandlung aufgenommen hatte, wurde die Antwort verneint.
Es schien als ob dieses Feld gar nicht in Betracht käme Wenn Zu-
sprache nicht half, mufste man die Rute oder den Karzer benutzen.
Wenn ich kurz die Beobachtungen resumiere, werde ich sic so
pointieren können: 1. Die Knaben blieben während ihres ganzen Aulent-
haltes, Sonntagsausflüge und Materialliolen ausgenommen, innerhalb der
vergitterten Fenster, geschlossenen Tore und hohen Mauern der Anstalt.
Es konnten Wochen hingehen, ohne dafs die meisten von ihnen nicht
weiter sahen als bis zu den Mauern, ausgenommen, wenn sie zu den
Mahlzeiten und zur Bettzeit in den oberen Etagen sich befanden und
einen Blick aus den Fenstern über die nächste Umgebung werfen
konnten. Die ganze Zeit aulser den Sonntagen und einer halben Stunde
der Werktage war mit Schule und Arbeit vom Morgen bis Abend aus-
gefüllt. Es hiefs, dafs sie von 7—8 nachmittags frei wären, aber auch
in dieser Zeit mufsten sie die Putzarbeiten besorgen. Auf diese Weise
war keine Zeit für körperliche Übungen, Spielen und andern Zerstreuungen
übrig. Überhaupt sah ich, so lange ich da war, selten die Knaben spielen;
92 B. Mitteilungen
auch hörte ich kein einziges Mal ein frisches, herzliches Lachen. Es kam
mir vor, als wenn der kindliche Frohsinn in allen abgestorben sei. Trotz
der vielen Aufseher, wie sie genannt wurden — schon der Name schien
mir unglücklich —, die immer unter ihnen umhergingen, wenn nicht
Schule gehalten wurde, konnte kein Zusammenleben verspürt werden.
Niemals erlaubte sich ein Aufseher einen heiteren Spals; kalt und offiziell
ging das Ganze vor sich. Wie man unter solchen Umständen das Herz
der Kinder gewinnen uud da einem neuen Menschen den Weg bahnen
kann, ist nicht leicht zu verstehen. Lob nnd Ermunterung fielen sehr
spärlich; ganz selten ward jedoch eine Geldprämie erteilt. 2. Weibliche
Angestellte gab es nicht. Das mütterliche Element in Gestalt einer Haus-
mutter war nicht vorhanden. Man sollte glauben, dafs eine Hausmutter
mit einer geschickten weiblichen Gehilfin in der Haushaltung, beim Nähen
der Kleidung und bei der Krankenpflege — überhaupt als Repräsentantin
des Familiären — vorzugsweise auf ihrem Platze wäre. In solcher Be-
ziehung füllt ein Weib durch ihre praktische Einsicht und selbst durch
ihr Wesen den Platz besser als der gewissenhafteste Aufseher aus. Es
mufs erinnert werden, dafs die Knaben von ihrem 11. Jahre aufgenommen
werden, und es dürfte wohl nicht ungereimt sein, wenn sie unter dem
täglichen Zusammensein dem älteren gebildeten Weibe begegneten und in
ein gewisses kindliches Verhältnis zu ihm kämen. Es kam mir vor, dals
die königliche Instruktion den Direktor, der persönlich ein sehr liebens-
würdiger Mann zu sein mir den Eindruck machte, den Knaben nahe
genug zu kommen hinderte.!) Man bemerkte kein herzliches und ver-
trauensvolles Verhältnis. 3. Ansprechend und nachahmungswürdig
war doch die Ordnung durch seine Einfachheit, durch die Prä-
zision der Beamten und ihre absolute Befolgung des Reglements.
Im ganzen war die Anstalt von Ordnung und Korrektheit ge-
prägt. Was man vermilste, war der Hauch der Liebe.
(Fortsetzung folgt.)
5. »Falsches Zeugnis.«
In Bezug auf die Zeugenaussagen vor Gericht hat Professor
von Liszt vor längerer Zeit auf die Tatsache hingewiesen, dafs selbst
bei ganz unbefangenen, intelligenten Menschen zwischen der Wahrnehmung
und der darüber abgegebenen Aussage sich Vorstellungen geltend machen,
die das Bild trüben und den Aussagen ihre Zuverlässigkeit rauben. Bei
befangenen, ungebildeten Zeugen sei dies noch in höherem Malse der Fall.
Auch wies cr auf den Einfluls von Massensuggestion hin und forderte
eine Umgestaltung des ganzen Voruntersuchungsverfahrens, begründet auf
einer bessern psychologischen Wertung der Zeugenaussagen. Bei Kindern
1) Mit Recht befürchtet Trüper 'in seiner Schrift »Zur Frage der Er-
ziehung unserer sittlich gefährdeten Jugends, dafs das preufsische Für-
sorgegesetz, das Psychiatrie und Pädagogik ignoriert, zu einer eigenartigen juristisch-
polizistischen Erziehung führen würde.
Der Verein für Kinderforschung. 93
sind diese Gefahren selbstverständlich noch grölser. Um den Wert der
Zeugenaussagen von schulpflichtigen Kindern festzustellen, hat
unser Mitarbeiter K. Agahd in Rixdorf dies an einem Beispiele fest-
gestellt, das er in der »Pädagog. Zeitunge mitteilt. Ein körperlich zu
bestrafendes Kind erhielt vor dem Lehrpulte drei Rutenhiebe in Gegen-
wart der ganzen aus 52 Knaben bestehenden Klasse. Nach fünf Tagen
stellte er nun folgende Fragen: »Wer hat gesehen, dafs ich F. gezüchtigt
habe?< 40 Kinder meldeten sich, mithin scheiden die andern als Zeugen
aus. »Wann habe ich ihn gezüchtigt?« 31 Kinder sagen den richtigen
Tag. »In welcher Stunde?« 26 sagen richtig aus. »Wieviel Hiebe hat
er bekommen?« Nur 24 richtige Antworten. »Hat sich F. bücken müssen,
ehe er bestraft wurde? 12 Kinder behaupten es fälschlich, und zwar
4 von den in den beiden vordern Bänken sitzenden Kindern. Über den
Grund der Strafe erfolgten seitens 35 Kinder — acht verschiedene
Angaben. Auch der Breslauer Privatdozent Dr. Stern hat durch aus-
gedehnte Versuche an Erwachsenen festgestellt, dals selbst bei normalen
Menschen eine psychologische Täuschung des Gedächtnisses eintreten kann,
so dals in der Erinnerung aus einem Hasen eine Katze, aus einem Stocke
ein Schirm, aus rechts links u. s. w. wurde, Diese Ergebnisse hatte er
durch Versuche mit 30 Studenten bezw. Studentinnen gewonnen. Das
sind jedoch alles normale Erscheinungen, die sich bei vielen noch patho-
logisch steigern. Und jene normale Erinnerungstäuschung wie diese patho-
logische Lüge wird bei Kindern noch um so krasser, als hier die logische
Kontrolle des Geschauten oder Gehörten noch auf unsichereren Fülsen
steht als bei geistig normalen Erwachsenen. Mädchen neigen in noch
viel grölserm Malse zur pathologischen Lüge als Knaben. Alle dise Um-
stände können von den schwerwiegendsten Folgen im Strafprozesse sein.
Aber auch für die pädagogische Beurteilung von Handlungen ist dies
nicht minder wichtig, wie wir schon wiederholt darlegten und noch der
Artikel in der letzten Nummer von Danger: »Ich hielt meine Lügen
für Wahrheit<e in drastischer Weise bekundete. Dr. Stern hat sich nun
die Sonderaufgabe gestellt, umfassende Beobachtungen und Experimente
über diese Frage anzustellen. Wir werden nicht verfehlen, unsere Leser
von seinen weiteren Ergebnissen zu unterrichten.
6. Der Verein für Kinderforschung
tagt nach dem vorjährigen Beschlusse in Jena dieses Jahr in Halle a. d. S.
Es hat sich daselbst ein Orts-Komitee gebildet, bestehend aus den Herren
Professor Dr. med. Aschaffenburg, Stadtschulrat Brendel, Rektor
Dr. Maennel, Dr. med. Schmid-Monnard, den Ililfsschullehrern
Kläbe und Schultze wie den beiden Vorsitzenden des Lehrerinnen-
und Lehrer-Vereivs Fräulein Schubrink und Lehrer Lauche.
Damit die Versammlung auf keinen Schultag fällt, und andrerseits
so nahe an das Ende der Ferien gerückt wird, dals jeder zurückkehrende
94 C. Literatur.
daran teilnehmen kann, ist die Versammlung auf Sonntag den 2. August
nachmittags und Montag den 3. August vormittags festgesetzt.
Die Tagesordnung wird im nächsten Heft bekannt gegeben.
Nähere Auskunft erteilen die Herren Dr. med. Schmid-Monnard
in Halle, Dr. med. Strohmayer in Jena und Lehrer Stukenberg,
Jena-Sophienhöhe. Anmeldungen von Vorträgen nimmt der Unter-
zeichnete entgegen. Trüper.
C. Literatur.
í. Stanley Hall, Prof. Dr. G., Ausgewählte Beiträge zur Kinderpsychologie
“und Pädagogik, Aus dem Englischen übersetzt von Dr. J. Stimpfl. (Inter-
nationale Pädagogische Bibliothek, Pd. IV.) Altenburg, Oskar Bonde, 1902. gr. S®.
454 N. Preis S M, in Halbleder geb 9,50 M.
Kein Laud ist gegenwärtig von der deutschen Pädagogik so stark beeinflulst
wie Nordamerika, und niemand hat in dieser linsicht gröfsere Verdienste als
G. Stanley Hall. Aber Hall ist nicht blols ein Vermittler deutscher Gedanken,
sondern auch ein unermüdlicher selbständiger Forscher, dessen Arbeit wiederum die
deutsche Pädagogik beeinflalst. Das bei uns gegenwärtig so stark im Vordergrunde
stehende Bemühen, in der Psychologie des Kindes eine wissenschaftliche Grundlage
für die Pädagogik zu schaffen und in diesem Sinne die Pädagogik auszubauen, hat
in ihm seinen wichtigsten Ausgangspunkt. Die Kinderpsychologie, die auf deutschem
Boden begründet wurde, ist von ihm gleichsam wieder entdeckt worden, und die
pädagogische Kinderpsychologie hat er sozusagen neu begründet.
Hall ist bei uns längst kein Fremder mehr. Zustimmung und auch Wider-
spruch hat er bereits in reichem Mafse erfahren, ohne dals er bis jetzt überhaupt
ein pädagvgisches oder psychologisches Buch geschrieben hätte. Seine Lebensarbeit
besteht aulser seiner fruchtbaren Tätigkeit als akademischer Lehrer und Herausgeber
von Zeitschriften einstweilen nur in einer grolsen Zahl von Abhandlungen, die an
verschiedenen Stellen erschienen sind. Dr. Stimpf£l, der sich bereits durch mehrere
srölsere Übersetzungsarbeiten bekannt gemacht hat, verdanken wir die vorliegende,
unter Beihilfe des Verfassers veranstaltete Sammlung in deutschem Gewande.
Das Buch ist natürlich kein zusammenhängendes, einheitliches Werk, aber
dieser Nachteil wird aufgewogen durch die grolse Mannigfaltigkeit des Inhalts, die
es wesentlich auch als Anregung zu Vorträgen wertvoll macht. Eingeleitet wird
der Band durch eine ziemlich eingehende Arbeit des Übersetzers über Halls Leben
und über seine Bedeutung für die Psychologie und die Pädagogik. Die Abband-
lungen haben folgende Überschriften. I. Die Kinderforschung und ihr Verhältnis
zur Erzielung; 11. Ein Beitrag zur Beobachtung kleiner Kinder; DI. Der Inhalt
des Geistes der Kinder beim Eintritt in die Schule (54 Seiten); IV. Das Lügen der
Kinder; V. Die Geschichte eines Sandhaufens, eine pädagogische Idylle; VI. Kinder-
forschung als Grundlage der exakten Pädagogik; VII. Die Liebe zur Natur und das
Studium derselben als Teil der Erziehung; VNI. Forschen — der Lebensgeist des
Lehrers; IX. Die neue Psychologie als ein Hauptbestandteil der allgemeinen Bil-
dung; X, Die ideale Schule, gegründet auf Kinderforschung; ATI. Elf Fragebogen
zur Kinderforschung; XI. Einige Seiten des ersten Ich-Gefühls; X1IL Eine Unter-
C. Literatur. 95
suchung über die Furcht (108 Seiten). Aufserdem enthält das Buch wertvolle An-
merkungen und Zusätze des UÜbersetzers. Ufer.
2. Doll, Dr. med., Ärztliche Untersuchungen aus der Milfsschule für
schwachsinnige Kinder zu Karlsruhe. Karlsruhe, Macklot, 1902.
Es liegen schon mehrere Schriften vor, in denen Ärzte, welche an Iilfsschulen
tätig sind, ihre Beobachtungen und Erfahrungen gesammelt und zum Wohl der
schwachsinnigen Kinder veröffentlicht haben. Das vorliegende Heft ist das Er-
gebnis einer sorgfältigen, allseitigen und gewissenhaften Untersuchung der Karls-
ruber Hilfsschüler, die der Verfasser im Auftrag der städtischen Schulkommission
vorgenommen hat. Die gemachten Beobachtungen erscheinen dadurch noch besonders
zuverlässig, dals nicht allein die Erfahrungen und Aufzeichnungen der Lehrer benutzt,
sondern dafs zu der Untersuchung auch die Angehörigen hinzugezugen worden sind.
Die Untersuchungen sind nach folgendem Schema vorgenommen worden: Ehe-
lich oder unehelich, Familiengeschichte und Vorgeschichte des Kindes, allgemeiner
Eindruck, Charakter, Leistungen, Grad des Schwachsinns, Messung des Körpers nach
Gewicht und Länge, der Brust und des Schädels, Kopf und Hals, Thorax und Bauch,
Extremitäten, Augen, Ohren, Sprache, Gang, Bewegungen. Wir greifen bei unserer
Besprechung nur einige Punkte heraus. Auffallend ist, dals unter den Schülern
der Karlsruheı Hilfsschule so wenig unehelich geborene Kinder sind. Dies kommt
daher, dals der Verfasser diejenigen ausgeschlossen hat, denen durch spätere Ver-
heiratung der Eltern eine geregelte Erziehung zu teil geworden ist. Von welch
grofsem und segensreichem Erfolg die letztere ist, wird ebenfalls dureh die ge-
machten Erfahrungen bewiesen. Unter den 72 Kindern waren nicht weniger als
14, also 19,40/ die den Vater durch den Tod verloren hatten. Die Untersuchungen
Dolls liefern, wie die Demoors, Schmid-Monnards, Laquers den traurigen Beweis,
dafs die Trunksucht einen grofsen Prozentsatz Schwachsinniger liefert. Schr cin-
dripglich reden in dieser Ilinsicht die Zahlen Schmid -Monnards, welche dieser in
seinem Aufsatz »Die Ursachen der Minderbegabunge (Sonderabdruck der Zeitschrift
für Schulgesundheitspflege) anführt, Von 6 Trinkern waren in ihren Leistungen
0°’, Kinder gut, 16°/, mittelmäßsig, und 849%, schlecht. Sehr schädlich in ihrem
Einflufs auf die geistige Entwicklung des Kindes hält Do!l in Übereinstimmung mit
Demoor die Rhachitis. Es wäre daher wünschenswert, wenn auf dieselbe von
seiten der Eltern mehr Gewicht gelegt würde. Mit Recht tadelt bei dieser Ge-
legenheit Doll den Unfug, dals deu geschwächten Kindern ohne, aber auch mit
Übereinstimmung des Arztes Alkohol (Tokayer Wein) als Arznei gereicht würde.
Geistig belastet sind auch solche Kinder, welche die letzten Glieder einer sehr zahl-
reichen Familie bilden; denn bei multiparen Frauen tritt nicht allein bei dem 5.
oder 6. Kind cine Erschöpfung ein, sondern es kommt noch erschwerend hinzu,
dafs bei jedem neu hinzugebornen Kind die Lebenshäaltung eine schlechtere wird.
Daraus erklären sich dann die nachteiligen Folgen, welche der Verfasser bei schwach-
sinnigen Kindern gefunden hat. Alle vorgenommenen Untersuchungen liefern den
Beweis, dals die Knaben in Bezug auf ihre körperliche Entwicklung ungünstiger
gestellt sind als die Mädchen. Dies wird auch nicht wundernehmen, da sich die-
selbe Erscheinung bei normalen Kindern zeigt. Während aber nach der vor-
genommenen Wicgung von den Volksschülern — Knaben und Mädchen zusammen-
genommen — nur 18,3%, untergewichtig sind, blieben bei den Ililfsschülern 27,7 o
hinter dem Durchschnittsgewicht zurück. Auf das Verhältnis zwischen Körperlänge
und Körpergewicht geht Dr. Schmid-Monnard in seinem sehr interessanten Aufsatz
»UÜber den Wert von Körpermalsen zur Beurteilung des Körperzustandes von Kindern .
96 C. Literatur.
ein. Er hat gefunden, dafs die schwachsinnigen Mädchen hinter ihren gleichaltrigen
Genossinnen der Volksschule nach Gewicht und Gröfse mehr zurückbleiben als die
Knaben. Dafs die Hilfsschüler im Längenwachstum mehr zurückbleiben als in der
Gewichtszunahme sieht Doll als eine Folge der Rhachitis an. Der Verfasser vermilst,
dafs in gröfserem Umfang Messungen des Brustumfanges und der inspiratorischen
Erweiterungen vorgenommen und veröffentlicht worden sind. Wir möchten bei
diesem Punkt nochmals auf die oben erwähnte Arbeit von Dr. Schmid-Monnard
hinweisen. Die Untersuchungen von Auge und Ohr sind von Spezialärzten vor-
gcnommen worden. Daher sind die Ergebnisse derselben sehr beachtenswert. Aber
auch nach diesen heiden Seiten hat es sich herausgestellt, dafs die Hilfsschüler mehr
belastet sind als die Volksschüler. Die Arbeit schlielst mit einer kurzen Zusammen-
stellung der besonders bemerkenswerten Erscheinungen. Zum Schluls möchten wir
noch einen Wunsch aussprechen. Da der Verfasser auch wohl auf Leser aus
Lehrerkreisen. rechnet, wäre es gut gewesen, wenn neben den technischen Aus-
drücken auch die deutsche Bezeichnung stünde; denn man findet nicht alle Be-
zeichnungen im Lexikon oder Fremdwörterbuch.
Altenburg. H. Seifart.
3. Heinrich Schreiber, Lehrer in Würzburg, 1. Beiträge zur Theorie und
Praxis des gesamten Elementarunterrichts. 84 S. Preis 1,50 M.
2, Die Tyrannei der Zahl. Altenburg, H. A. Pierer. 36 S. Preis 60 M.
Die erstgenannte dieser zwei Schriften ist insbesondere eine Antwort auf die
von dem evangelischen Diakonieverein gestellte Preisfrage: Wie lälst der erste
Sprachunterricht (einschliefslich des Anschauungs-, Schreib- und Leseunterrichts)
durch das Verfahren des Selbstfindens sich weiterbilden?!) Der Verfasser löst die
Frage vom Standpunkt des erziehenden Unterrichts aus. Hierüber giebt er darum
— nachdem er auf das Verfahren des Selbstfindens im Laufe der Geschichte hin-
gewiesen — entsprechende allgemeine Ausführungen und behandelt dann im An-
schlusse hieran den eigentlichen Sprachunterricht, Die zweite Schrift ist iusofern
eine Ergänzung zur ersten, als sie von den gleichen Grundgedanken getragen wird,
die, wie dort insbesondere auf den Sprachunterricht, so hier auf den Rechenunter-
richt angewandt werden. Während sich jedoch in dieser Anwendung die erst-
aufgeführte Schrift mehr im Gebiet des ersten Schuljahres hält, geht die zweite
darüber hinaus, erstreckt sich in einzelnen Ausführungen bis auf Fortbildungsschule
und Mittelschule. — Beide Schriften üben eine scharfe, jedoch völlig berechtigte
Kritik an den geltenden Lehrplänen und den damit zusammenhängenden Lehrweisen.
Es wird da unter anderem gezeigt, wie gerade durch letztere viele der Fehler bei
den Kindern erst begründet werden, über welche dann so viel geklagt wird. Be-
sonders wertvoll sind jedoch die zwei Abhandlungen noch durch die Besserungs-
vorschläge, deren Ausführung der Verfasser in vielen Beispielen zeigt. Die neuen
Wege, welche er dabei geht, weichen von der fast ausnahmslos üblichen Weise
völlig ab. Viele werden aber gerade aus diesen Unterrichtsbeispielen besser als aus
theoretischen Auseinandersetzungen erkennen, wie die Kinder in rechter Weise zum
Ziele zu führen sind.
W, L. B.
') Der Arbeit wurde mit noch 4 anderen der Preis zuerkannt.
Druck von Hermann Beyer & Söhno (Beyer & Mann) in Langensalza.
A. Abhandlungen.
1. Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei
Kindern.
Von
A. König, Seminarlehrer in Altdorf.
(Schluls.)
Der Gelegenheiten, bei denen uxsere Kinder musikalischen
Sinn bekunden, sind viele: das kindliche Spiel, insonderheit der
Reigen, erweckt die Gesangeslust: in der Kinderstube wird, in Nach-
) >
ahmung väterlicher Tätigkeit, mit der aus Brett und Schnur fabri-
zierten Geige, mit Trichter und Blechstürze ein Konzert aufgeführt.
v i as mehr in der Welt herumstreun tönt z
Wenn der Bube etwas mehi ler Welt he treunt, ertönt auf
den Gassen sein Pfiff (das Mädchen ist dazu wohl zu sittsam), und
kommt das Frühjahr, so wird vom saftigen Weidenaste die Bastpfeife
geschnitten. Es wäre hochinteressant, die Kinder verschiedener
Nationen auf die Betätigung und Entwicklung musikalischen Sinnes
beobachten zu können. Ich konnte hierüber, wie schon oben ange-
deutet, nur wenige Mitteilungen finden. Im ganzen zeigt wohl auch
die Kinderwelt verschiedener Nationen mancherlei Unterschiede. Man
ie italienische Sangeslust und weils, dafs auch unsere deutschen
kennt die italienische Sangeslust und weils, dal | e deutschen
Kinder gerne singen. Srrenwer erzählt in seinem Buch -Das Lied
als Gefühlsausdruck-, dafs im Erzgebirge von seinen Kameraden dic
zweite Stimme blofs nach dem Gehör, und zwar meist richtig, aus-
geführt wurde, und dafs dieses Scekundieren eine allgemeine Er-
scheinung im Erzgebirge sei: später sei er erstaunt gewesen, Wie
wenig und so wenig gut er am Elbstrom singen hörte (wieder ein
Die Kinderfehler. VIII. Jahrgang. 7
Digitized by G oogle
95 A. Abhandlungen.
Beweis, dafs in den Niederungen die Sangeslust abnimmt). Ein Buch
über Kinderlieder und Kinderspiele im Kanton Bern von G. ZÜRICHER
(enthaltend 1096 Einzelnummern) darf wohl an sich schon als ein
Beweis von der Sangesfreudigkeit der dortigen Jugend gelten. Von
englischen Kindern las ich einmal, dafs sie wenig sängen, und von
Nordamerika berichtet eine Erzählung »Die Auswanderer von Talvj
(einer bekannten Forscherin auf dem Gebiete des Volksliedes), dafs
selbst die Kinderwärfterinnen nicht immer sängen, sondern oft die
Kinder summend und schaukelnd in den Schlaf lullen, weil ein ab-
solutes Unvermögen des Gesanges vorhanden sei. Freilich — Amerika
ist grofs, und manches mag inzwischen (seit 1852) anders geworden
sein. Wenigstens lese ich in einem Bericht über ein Konzert der
amerikanischen Fisk- Sänger (von der Fisk- University Nashville) in
München (1875) dafs das zum gröfsten Teil aus Negermelodien der
südlichen Provinzen bestehende Programm von Kindern ehemaliger
Sklaven ausgeführt wurde, »und es würde für andere Künstler un-
möglich sein, derartig in den tiefen Sinn dieser eigenartigen Volks-
lieder emzudringen und diese mit solchem Gefühl und soleher Hin-
gabe zu Gehör zu bringen<e. ZEtlichen Überschwang des Bericht-
erstatters abgezogen, beweist die Mitteilung doch wenigstens das Vor-
handensem musikalischen Sinnes und die Bildbarkeit jener Kinder
(bezw. der schwarzen Rasse). Russische bausbäckige Jungen hörte
ich im Chore der Napia SLAvIaxskyY mit grofser Sicherheit und Rein-
heit singen. Wenn in Böhmen viel musikalische Begabung vor-
handen ist, so darf man es zum Teil auf Rechnung des von M. M.
v. Weser (C. M. v. Weeer, ein Lebensbild) erwähnten Umstandes
setzen, dafs im 17. u. 18. Jahrhundert der Unterricht in Gesang und
Musik selbst in der untergeordnetsten Dorfschule einen Hauptgegen-
stand der Unterweisung bildete. An den ägyptischen Gassenjungen
gröfserer Städte fiel es Pasie (Beil. z. Alle. Zte. 1592) auf, dafs sie
nicht pfeifen. Über spanische Kinderlieder beriehtet Disrexs (Gorr-
SCHALL, Unsere Zeit 1885), dals Rundtänze mit Gesang begleitet
werden. »Die Melodien dieser Lieder sollen sehr alt sein, jedenfalls
sind sie überaus monoton, und dies ist bei dem Reichtum an
hübschen, leichten Tondichtungen und bei dem Reichtum der Volks-
musik an anziehenden Airs schon befremdend.« Es kann mir natür-
lieh nicht beifallen, aus diesen dürftigen Notizen irgendwelche Schlüsse
zichen zu wollen, zumal die Beobachter meist keine Melodien ver-
zeichnen. Hier liegt noch ein reiches Arbeitsfeld brach. Wer
heackert mit?
Im kurzen Rückblick möchte ich zusammenfassen, wie und was
Köxıc: Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei Kindern. 99
die Musik im Kinde wirkt. »Wer weils, was ein Kind hören mag
in deinen göttlichen Seufzern, geboren aus der Luft, die es atmet!«
Dem überschwenglichen Ausruf des Dichters Musser möchte der
prüfende Psychologe etwas kühl gegenüberstehen. Das normale Kind
hört in der Musik zunächst nichts oder recht herzlich wenig von
göttlichen Seufzern, und von Gemüt enthält die stereotype Formel
des Kinderliedes meines Erachtens gar nichts. Was ists doch, das
dem Kinde zuerst Freude an der Musik verursacht? Nur der Klang,
nur das Stoffliche, das Sinnliche. Je heller die Obertöne klingen,
je harmonischer die einzelnen Elemente verschmelzen, um so mehr
strahlt das Gesicht, um so mehr zappeln Hände und Füfse. Glocken,
Stahlplatten, Gläser sind im ersten Stadium willkommene Dinge.
Darnach entwickelt sich die immer noch sehr rohe Freude an einem
ganz elementaren Rhythmus. Kinder reifen auch in musikalischen
Dingen normalerweise vom Einfachen zum Höheren, vom Sinn-
lichen zum Geistigen. Meiner eigenen Entwicklung gedenkend, würde
ich es keinem gesunden Schüler verargen, wenn er zunächst an den
weichen Weisen der italienischen Opernschule, an der formalen Musik
eines Kustav u. s. w. Gefallen findet, auf die der Erwachsene oft
mit einem überlegenen Lächeln herabsicht. Ohne Bedenken ver-
werfe ich deshalb die Bestrebungen jener Pädagogen, die in falscher
Anwendung des Spruches von dem Besten, das für unsere Kinder
gerade gut genug sein soll, möglichst rasch zu ein paar wenn auch
noch so amıseligen Stücken von Bacu greifen. Will man nicht viel-
leicht im Leseunterricht Ausschnitte aus Kant bieten? — Auch das
Formenverständnis erwacht normalerweise zuerst nur für die cin-
fachen Gebilde des Liedes, des Marsches, der Sonatine, sehr spät
erst für den polyphonen Satz. Nicht, als ob einem geweckten 9- bis
1Ojährigen Kinde das Charakteristische der Stimmenführung unzu-
gänglich wäre, aber innerlich fühlen wird das Kind dabei nichts.
Sehr allmählich erst entwickelt sich Geschmack und Urteil — genau
wie bei Werken der Dichtung und der bildenden Kunst. Im allge-
meinen wird Musik von Kindern, wenn überhaupt erfalst, nur von der
Seite des Gefühls, nicht von der eines ästhetisch gebildeten Urteils
verstanden werden. Darum versteht auch das Kind die Schönheit
der musikalischen Form in der Regel so wenig wie den Aufbau
eines Gedichtes. Dem Polyphonen insbesondere bringt der Schüler
fast kein Interesse entgegen. Es ist ja ganz natürlich, dafs dem so
sehr in der sinnlichen Anschauung befangenen, von allem Sinnen-
fälligen angezogenen und beherrschten Kinde derartige Abstraktionen
ferne liegen. Und doch mufs der Mensch aus den Niederungen des
qF
100 A. Abhandlungen.
Materiellen in die hiehteren Höhen des Geistigen emporsteigen, der
musikalische Sinn mufs sich zuletzt auch zum Verständnis der Form
und des «rehaltes einer Komposition emporschwingen. HoLZINGER
schreibt mir: Sinn für das geistig Musikalische? Er ist mir fast nie
begegnet. In einer Zeit, wo man ihn hätte suchen, wecken und
pflegen können, hatte ich gewöhnlich nicht mehr «lie Ehre, der Lehrer
des Betreffenden zu sein. Ein Spiel mit Empfindung, mit ver-
ständiger Phrasierung, ein Singenlassen des Instrumentes, ein Vor-
trag mit Hören auf die Stimmführung u. s. w. — angestrebt habe
ich dies allezeit, erreicht fast nie.« Trotzdem darf man Kindern den
musikalischen Sinn noch nicht absprechen, wenn das sogenannte
musikalische Urteil noch nicht vorhanden oder reif ist; würden
doch auch Empfänglichere die formalen Schönheiten z. B. von
Schillers Glocke schwerlich verstehen. Fast möchte man glauben,
dafs die Geschlechtsreife, die so mancherlei Gefühle auslöst, auch
das musikalische Gefühl erstarken und erblühen Jäfst. Schliefslich
darf nieht vergessen werden, dafs zu jeder gedeihlichen Kunst-
ausübung eine allgemeine Verstandesreife gchört, die erst in späteren
Jahren erworben wird. So kommt es denn, dafs manche Kinder mit
ganz gutem Sinn für das Klangliche und für Rhythmus bei aller
Übung es in der Musik späterhin nie zu etwas Bedeutendem bringen,
weil ihnen der Geist fehlt, um cine künstlerische Stufe zu erklimmen.
»Gehör allein tuts nicht. Einer meiner Schiler hatte ganz gutes
Ohr, war aber im übrigen geistig minimal begabt; mit ihm mulste
ich aufhören« (Horzixser). — Wenn ich nun noch die Frage streife,
wie weit die Entwicklung des musikalischen Sinnes von ererbten
Anlagen abhängig sei, so geschieht dies mit einigem Zagen. Weils
ich doch zu gut, wie gerade in diesem Punkt bei Laienurteil Un-
wissenheit und kecke Behauptung in geradem Verhältnis zu stehen
pilegen. Man vergleiche damit, wie vorsichtig z. B. NÄsELı in seiner
Abstammungslchre sich über die Vererbung von Anlagen ausspricht.
— Den Anteil des Gehirns an der musikalischen Anlage und Ent-
wicklungsfähigkeit mögen Anatomen und Physiologen zum Gegen-
stand ihrer Untersuchungen machen. Bei dem gegenwärtigen Stand
der Gcehirnforschung sind wohl auf lange Zeit Aufschlüsse in dieser
Beziehung nicht zu erwarten. Man sagt, Singvögel hätten das
günstigste Hirngewicht (Scuuutzz, vergl. Seelenkunde). Auch soll der
normale Bau der Gehör- und besonders der Stimmorgane, mithin
auch die Befähigung zum Kunstgesang, in dem Grade zunehmen, in
dem die menschliche Schädelbildung sich von der animalischen ent-
fernt (Dr. Häiser, Euterpe 1873). Defekte in der musikalischen Be-
Könis: Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei Kindern. 101
gabung scheinen manchmal Zeichen von Degencration infolge Ver-
mischung verwandten Blutes zu sein. So berichtet Euterpe 1875,
dafs bei den Mennoniten in den Werdern durch Tneinanderheiraten
körperliche Gebrechen, auch Taubheit, Schwerhörigkeit u. s. w. ver-
ursacht werde. Ein Lehrer jener Gegend mufste wegen der geringen
Begabung der Knaben, die obiger Berichterstatter ebenfalls auf das
Ineinanderheiraten zurückführt, Mädchen zum Leichensingen ver-
wenden. Bei Juden, wo dieselben geringer Verbreitung halber eben-
falls ineinander heiraten, sollen die meisten Taubstummen vorkommen.
SCHMID - NMoxxarps Untersuchungen (72. deutscher Naturforschertag)
ergaben, dafs geistig beschränkte Kinder meist auch körperlich minder-
wertig waren und in schlechten Verhältnissen lebten, vielfach aus
Trinkerfamilien hervorgingen. Das Hörvermögen war nur bei tio
normal, 1/, verstand die Flüstersprache nur unter 4 m Entfernung,
4/, hatten Nasenwucherungen. Nach Trürzr, Kinderfehler, hört fast
1/, der Schulkinder nicht normal; auch Moxror (Studium defekter
Kinder in Amerika) kommt zu ähnlichen Resultaten. Von einem
‚geistig schwachen, aber sittlich begabten Knaben berichtet Trürer
(Kinderfehler 1896), dafs scine Tonvorstellungen etwas herabgemindert
waren, dafs er im Chor richtig mitsang, allein aber keinen Ton hielt.
Gerade Trürers Anstalt mülste reichliche Gelegenheit zu Beob-
achtungen bieten. Geistig nicht normale Kinder können immerhin für
das eigentlich Materielle in der Musik, Klang und Rhythmus, emp-
fänglich sein, für das Geistige natürlich so wenig wie auf andern
Gebieten. Früher beobachtete ich ein solches Kind, das insbe-
sondere am Trompetenton seine lebhafte Freude äufserte.
Von grolsem Interesse — beispielsweise für eine Lehrplantheorie
— wäre die auf Versuche zu gründende Darstellung der Durch-
schnittsbegabung für Gesicht und Gehör. Die bisher zur Ermittelung
des kindlichen Gedankenkreises angewandten Fragentabellen bieten
für einen Vergleich der Gehörs- und Gesichtsvorstellungen zu wenig
Anhaltspunkte, indem z. B. von 100 Fragen 98 das Auge, nur 2 das
Ohr berücksichtigen. Ich habe mir die Mühe gemacht, aus einer
dieser Tabellen einen rechnerischen Durchschnitt zu suchen und
habe für cine Gesichts- und eine Gehörsvorstellung ungefähr gleich
viel Prozente ermittelt. Freilich lege ich dieser Berechnung nicht
den geringsten Wert bei, da mir ja nur 2 Angaben über das Gehör
zur Verfügung standen. Zudem wiegt in der Beurteilung das genaue
Nachsingen eines Tones oder gar das richtige Singen eines Liedes
viel schwerer, als etwa die Feststellung, das Kind habe schon cine
Gans, eine Lokomotive u. s. w. gesehen. Im letzteren Falle handelt
102 A. Abhandlungen.
es sich um die Erinnerung an eine meist noch dazu unklare Vor-
stellung, im ersteren um das viel schwierigere Nachmachen — ein
wichtiger Unterschied, den meines Wissens die Fragetabellen bisher
überhaupt aufser acht gelassen haben. Dieses so verlockend und
wissenschaftlich ausschauende Rechnen nach Prozenten wird sich
überhaupt manchen Zweifel an seiner Richtigkeit gefallen lassen
MÜSSEN.
Dem normalen Kinde steht das frühreife, das scheinbar oder
wirklich aufserordentlich begabte, gegenüber. Wer kennt sie nicht,
die musikalischen Wunderkinder, die aufblitzenden und rasch ver-
löschenden Meteore am Himmel der Kunst? »Man halte ja im all-
gemeinen nicht viel von Wunderkindern«, liest man bei jedem ein-
zelnen Falle in den stets offenen Spalten der Zeitungen, »aber dies-
mal — — —.c Nun, die Zukunft hat es noch fast immer gelehrt,
dafs es auch diesmal weiter nichts war, als eine früh gereifte, aber
durchaus nicht anders geartete Frucht. Im 15.—20. Jahr pflegen
die Knaben. im 14.—17. Jahr «die Mädchen nachzulassen, und zu-
meist fordert mit beginnender Geschlechtsreife der Tod seine Opfer..
Unsere grofsen Heroen sind ja, allerdings nicht ganz im landläufigen
Sinne, zumeist Wunderkinder gewesen. Das gröfste unter ihnen,
Mozart, hat es an seiner geistigen Entwicklung und an seinem
Leben schwer büfsen müssen. Einer meiner jüngeren Freunde war
soleh ein Wunderkind auf einem Saiteninstrumente Er ist später
auch kein gröfserer Musiker geworden als scine Kameraden, aber
der Reiz des Lebens — auch des musikalischen — war für ihn
schon abgestreift zu der Zeit, da gewöhnliche Leute das Leben noch
gar nicht recht zu schen pflegen; »des Lebens Mai blüht nur ein-
mal, meiner ist verblühte, pflegte er resigniert zu sagen. Danken
wir Gott, dafs es auch auf musikalischem Gebiete wenige Wunder-
kinder gibt. Übrigens hatten die meisten grofsen Musiker und die
meisten Wunderkinder in ihrer Jugend sich eines vorzüglichen
Unterrichts zu erfreuen.
Auch das Geschlecht spielt eine Rolle hinsichtlich der musika-
lischen Begabung; kaum auf dem Gebiete der Wissenschaften ist der
Unterschied der Begabung gröfser als in der Musik. Zum Entsetzen
meiner Leser, «die wahrscheinlich die Musik eine weibliche oder gar
weibische Kunst nennen, wage ich die Behauptung: der innerste
Kern der Musik ist nur Männern zugänglich, das Weib verhält sich
im ganzen empfangend und das Empfangene wiedergebend; das
Klavier ist sein Schlachtfeld, und immer mehr verstehe ich das
Scherzwort unseres originellen Professors H. von den vierhändigen
Köne: Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei Kindern. 103
Frauenzimmern. Das Mädchen hat von Haus aus vor dem Knaben
mehrere Vorzüge, die es in der musikalischen Entwicklung fördern.
In der Regel ist die Stimme des Mädchens geschmeidiger und wird
bekanntlich durch die Mutation nicht in dem Mafse verändert wie
die Knabenstimme. Die zarteren Hände, die bei Spiel und Arbeit
nicht so derb zuzulangen pflegen. die gröfsere Ausdauer begünstigt
das Erlernen eines Instrumentes. Doch will es mich nach meinen
Erfahrungen bedünken, dafs die Mädchen sehr bald allem kompliziert
Rhythmischen hilfloser gegenüberstehen als die Knaben.
Das Verhältnis von allgemeiner und musikalischer Begabung ist
in der Lehrerwelt Gegenstand vieler, manchmal sogar bewegter Er-
örterungen. Oft genug hört man die Klage, gute Musiker seien im
übrigen schlechte Schüler (oder wie der Volkswitz drastischer sagt:
Gute Musikanten, schlechte Christen). Ich leugne nicht, dafs in
manchen Fällen bei einer verhältnismäfsig guten musikalischen Be-
gabung wenig Sinn fürs Wissenschaftliche zu finden ist, bitte aber
auch nicht aufser acht zu lassen, dafs ein Teil dieser Fälle von vorn-
herein auszuscheiden ist, wenn nämlich bei sonst fähigen Schülern
die Sirenenklänge der Musik die Lust an der scheinbar oder wirk-
lich trockenen Lernarbeit ertöten. Die gegenteilige Behauptung, dafs
die wissenschaftlich tüchtigsten Schüler in der Regel schlechte Musiker
seien, mufs ich bestreiten. Gute Schüler sind nach meiner Erfahrung
in vielen Fällen auch vorzügliche Musiker gewesen, mindestens gc-
hörten sie zum guten Mittelschlag, und wo die musikalisch - tech-
nische Befähigung unzureichend war, mochte in vielen Fällen Mangel
an frühzeitiger Ausbildung die Schuld tragen. Es wäre doch zu
sonderbar, wenn bei dem normalen Menschen, der von Jugend auf
in wissenschaftlicher Richtung erzogen wird, aber keinen Musik-
unterricht genicefst, nicht die sogenannte wissenschaftliche Beanlagung
die musikalische überwöge. Zum Schlusse noch eines: man wird
nicht nachweisen können, dafs wirkliche Künstler auf musikalischem
Gebiet im übrigen Dummköpfe waren; aus ihren Biographien erhellt
das Gegenteil — und richtige Dummköpfe waren noch nie wirkliche
Künstler.
Als Beispiel für die Vererbung musikalischer Fähigkeiten pflegt
man die bekannte Familie Baca anzuführen. Selbst wenn man aber
die Fortpflanzung der Anlage annimmt, darf man doch die Vorteile
der Söhne gegenüber den Vätern nicht aus dem Auge lassen, darin
bestehend, dafs des Vaters methodische Geschicklichkeit vermöge der
erworbenen musikalischen Fähigkeiten bei dem Sohne bereits an
einem höheren Punkte einzusetzen vermochte, als der Ahn an dem
104 A. Abhandlungen.
Vater es gekonnt. Sehwierigkeiten für die Deutung bereitet auch
der bekannte Umstand, dafs der musikalische Sinn bei verschiedenen
Kindern einer Familie verschieden sein kann. Auch das kommt
nicht allzuselten vor, dafs aus recht musikalischen Familien gänzlich
unmusikaliseche Kinder hervorgehen. Im ganzen ist die Frage der
Vererbung eine so ungeklärte und heikle, «dafs ich nicht leicht eine
pädagogische Mafsregel auf sie gründen möchte. Ich spreche, wenn
ich auch hierin raschem Widerspruch begegnen sollte, auf Grund
vielfacher Erfahrungen die Meinung aus, dafs die Durchschnitts-
begabung für Musik im ganzen nicht größser und nicht geringer sel,
als für andere Fächer.
Darf man aus der Entwicklung des musikalischen Sinnes bei
Kindern weitergehende Schlüsse ziehen? Die schon von Preyer nach-
rückhlieh betonte Tatsache steht unzweifelhaft fest, dafs musikalische
Klänge bereits ein volles Jahr vor den eigentlichen Sprechversuchen
perzipiert und unterschieden werden. Das allerdings ganz primitive
Singen gehört nach Prevers Beobachtungen, die ich aus eigenen Be-
obachtungen an meinem Knaben bestätigen kann, zu den frühesten
nachahmenden Tätigkeiten der Kinder. Die Bedeutung dieser Tat-
sachen sucht freilich Sıuuen im 13. Bd. der Zeitschrift für Völker-
psychologie von Lazarcs und Sreixtnar abzuschwächen, indem er be-
hauptet, ¿Kinder sängen nicht aus eigenem Antrieb nach: das wort-
lose Vorsichhinsingen werde nur bei Erwachsenen, nie bei kleinen
Kindern beobachtet, die immer Worte sängen.« Indessen ist doch
auch nicht zu übersehen, dafs Kinder in der Regel cher Töne
nachsingen, als sie Worte nachsprechen. Darf man aus den er-
wähnfen Tatsachen einen Schlufs auf den Urzustand der mensch-
lichen Sprache wagen? Sollte das musikalische Element in den An-
fangsstadien der Sprache eine größere Rolle gespielt haben, als wir
annehmen? Die Sprachen sind ja in ihrer Kindheit musikalisch klang-
voller als später, und Berichterstatter wissen vielfach zu erzählen,
dafs die Sprache der Naturvölker etwas Ningendes hat. Etwas Ahn-
liches ist ja der richtige, von der Kulturmusik noch unbeeinflufste
Kindergesang: kein Singen im künstlerischen Sinne, nicht eine
Melodie nach unsern musikalischen Begriffen, sondern mehr ein
singendes Rezitieren, das den Wortaccent markiert, etwas sozusagen
noch Indifferenziertes -- Ursprache. — Wie ich diesen Punkt nur
flüchtig berühren kann, so auch einen andern, nämlich Darwıns Be-
hauptung, der Gesang sei ursprünglich sexuelles Reizmittel gewesen.
Es hat diese Ansicht viel Bestechendes, sofern man die Tierwelt mit
ihren gefiederten Sängern ins Auge falst. Indessen bestreitet schon
Köxıc: Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei Kindern. 105
SIMMEL in der erwähnten Abhandlung die Richtigkeit der Darwisschen
Behauptung unter Hinweis auf das Jodeln der Gebirgsbewohner, das
in gar keinem strengen Zusammenhang mit der Geschlechtssphäre
stehe. Auch die Entwicklung des musikalischen Sinnes vermag zu-
nächst nichts zu beweisen. Kinder singen sehr gerne: was sollte
aber ihr Gesang mit dem geschlechtlichen Leben zu tun haben? Um
Darwıss Anschauung zu stützen, mülste der Nachweis erbracht
werden, dafs die beginnende Geschlechtsreife den Sangestrieb in auf-
fallender Weise hervortreten lasse oder ändere. Nun bringt aller-
dings die körperliche Entwicklung eine unter dem Namen Mutation
bekannte und besonders bei dem männlichen Geschecht auffällige Ver-
änderung der Stimme mit sich; ob aber mit der erwachenden Gc-
schlechtsliebe wesentliche Umwälzungen auf gesanglichen Gebiet ein-
treten, dieser Frage möchte ich heute aus Mangel an hinreichendem
Material nicht näher treten, möchte sie aber aus meiner bisherigen
Erfahrung heraus keineswegs unbedingt bejahen. Nach Grosse (Die
Anfänge der Kunst) soll die primitive Musik in einem gewissen Zu-
sammenhange mit dem Kriege stehen; auch in dieser Beziehung gibt
die musikalische Entwicklung des Kindes nicht wohl einen Anhalts-
punkt. — Vielleicht liefsen sich im Anschlufs an das gewonnene
Material noch manche derartige interessante Fragen aufwerfen; der
Beobachtungen sind aber noch viel zu wenige, als dafs man nicht
in Schlüssen die äulserste Vorsicht zu beobachten hätte.
Und nun, da wir es nicht wohl ohne eine »Awendunge tun,
noch ein paar pädagogische Ergebnisse. — Sprache und Musik
geben dem Gehör erst seine Bedeutung, erheben den Menschen in die
Sphäre des Geistigen. Dem Tiere ist das Gehör kaum etwas Höheres,
als der Geruch: ein Instrument, das ihm zu seines Leibes Nahrung
und Notdurft dienlich ist. Wer jeglichen musikalischen Sinnes er-
mangelt, dem geht cin Stück allgemein menschlicher Bildung ab so
gut wie dem, der beim Anblick eines künstlerischen Bildes oder beim
Hören einer vorzüglichen Dichtung nichts empfindet. Die Musik ist
etwas Eigenes, was sich mit keinem andern Erzeugnis des menseh-
lichen Geistes vergleichen läfst; sie ist ohne natürliches Vorbild.
Hervorragende musikalische Begabung ist ebenso selten wie Mangel
an jeglicher Begabung — genau wie in andern Fächern. Die Welt
ist weit und hat viel Platz für die goldene Mittelmälsigkeit; über
geringe Anlagen klagen, ist töricht. Der Engländer Iriran wurde
seinerzeit ausgesandt, um den Gesang auf dem Festlande zu studieren.
»In Deutschland sind die Resultate des Unterrichts die denkbar
ärmsten, während sie in der Schweiz, in Holland und in Belgien in
106 A. Abhandlungen.
hohem Grade zufriedenstellend sind. Besonders die Schulen von
Holland und Belgien bieten zahllose Beispiele, dafs Kinder aus den
niedrigsten Klassen im Alter von 9 und 10 Jahren nicht nur das,
was sie cingeübt haben, geschmackvoll und fein vortragen, sondern
dafs sie auch sehr schwierige Sachen a vista mit soviel Leichtigkeit
und Verständnis singen, wie man von ihnen beim Lesen neuer, aber
innerhalb ihres Verständnisses liegender literarischer Sätze verlangen
kann.« Merkwürdie, dafs gerade in Deutschland so wenige musika-
lische Anlagen vorhanden sind, in dem Land, das seit 100 Jahren
die klassische Periode der Tonkunst erlebt hat, das noch heute an
der Spitze des europäischen Musiktreibens steht! Oder sollte der alt-
beliebte Schlendrian unseres sogenannten Gesangunterrichts an jenen
Milserfolgen schuld sein? In den Münchener Singschulen hörte ich
unter GreLLs Leitung recht bedeutende Leistungen. Merkwürdig auch,
dafs sich gerade durch Huruans und anderer Bestrebungen die Anlagen
der englischen Jugend so erfreulich gebessert haben! Denn früher be-
trug (Päd. Jahresber. v. Gottschalg 1890) in den Elementarschulen
die Zahl der nach Noten singenden Kinder 20 %,, 6 Jahre später
630%. — Aus meinen auf Erfahrung gegründeten Anschauungen
über musikalische Anlagen ergeben sich, wenigstens für mich, folgende
Konsequenzen: wo Musik in den Lehr plan einer Schule Sienno
ist, haben Dispense genau dieselbe Berechtigung wie z. B. in
Mathematik, für welche die Durchschnittsbegabung keine höhere ist
als in Musik (vergl. auch Herm über Gesangunterricht im letzten
Jahrb. d. Ver. f. wissensch. Päd.); Anlagennoten in Musik (wie bei
uns in Baycın an Lehrer oe eingeführt) setzten eigent-
lich auch Anlagennoten für einzelne andere Unterrichtsfächer voraus.
— Die natürliche Anlage wird sich ohne äufßserlichen Anstofs nicht
wohl entfalten; das Talent kann schlafen. Es mag sem, dals einzelne
(Genies E und trotz aller Erziehung eigene Wege finden und
dafs, nach Ror, der Einflußs der Erziehung nur für die Mittel-
mäfsigkeit ancrkannt werden kann; diese Mittelmäfsigkeit ist aber
die gröfsere Menge, und die Erziehung ist im allgemeinen dafür ver-
antwortlich zu machen, ob die musikalische Durchschnittsbildung
eines Volkes gut oder schlecht sci. Im Urteil über die Anlage sei
man vorsichtig, doppelt, wenn es sich um die Berufswahl handelt.
Rasche Entwicklung berechtigt nicht immer zu grofsen Hoffnungen,
langsame nicht unbedingt zu Schwarzscherei. Man bedenke nur, was
2. B. im Klavierunterricht so eine kleine Seele alles auf einmal an
soll: Noten, Zeilen, Takt, Rhythmus, schöne Hand- und Körperhaltung,
verschiedenes Spiel beider Hände. Talentvolle Schüler, die durch
Köxre: Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei Kindern. 107
En on m 2711011 mn nm m Un
Pedanterie oder Nachlässigkeit gewaltsam zurückgehalten werden, ver-
lieren oft die Lust und werden nicht selten für unbegabt erklärt. —
Hauptmittel für die Entwicklung des musikalischen Sinnes ist die
Gehörbildung, also in erster Linie der Gesang. Glücklicherweise
bringt dazu fast jeder das nötige Instrument mit. Die Fähigkeit des
Treffens ist bei der Aufnahme in die Schule nicht grofs. Sie cr-
erstreckt sich hauptsächlich auf die Töne der Mittellage. Die soge-
nannten Brummer sind durchaus nicht immer unmusikalisch und
lassen sich durch gewisse pädagogische Mafsnahmen meist bald zum
richtigen Singen erzichen. Aus verschiedenen Gründen mufs der
Gesangunterricht nicht nur von der Mittellage ausgehen, sondern
auch lange dabei verweilen. Der Rhythmus ist nach meinen obigen
Darlegungen nicht Sache des Denkens, sondern mehr des körper-
lichen Empfindens. Deshalb verwerfe ich lautes Mitzählen des
Schülers während des Klavierspiels, nach meiner Erfahrung regelt
nicht der Schüler sein Spiel durch das Zählen, sondern er läfst sein
Zählen durch das Spiel beeinflussen, was bemerkbar wird, sobald
sich rhythmische Fehler einstellen. Gutheifsen möchte ich es da-
gegen, wenn der Lehrer mit Konsequenz sich so lange der Mühe des
Mitzählens unterzieht, bis der Takt dem Schüler in Fleisch und Blut
übergeht. — Das musikalische Gedächtnis wird im allgemeinen zu
wenig geübt. Phantasieren soll man dem Kinde nicht wehren, sofern
das Kind ein Bedürfnis dazu empfindet. — Da für eine höhere Ent-
wicklung des musikalischen Sinnes eine gewisse allgemeine Geistes-
reife erforderlich ist, soll ein eigentlicher Musikunterricht nicht vor
dem 9. oder 10. Jahre beginnen, dann aber auch mit klarem Be-
wufstsein auf die Entwicklung des musikalischen Verständnisses hin-
zuarbeiten suchen. Wenn ich eben darauf hingewiesen habe, wie
sehr allmählich die Entwicklung des musikalischen Sinnes vor sich
geht, wie insbesondere das eigentlich Geistig-\Musikalische von Kindern
nicht erfalst wird, wie das Verständnis für Harmonien, Formen u. s. w.
sehr spät sich entwickelt, so mag der geneigte Leser selbst ein Urteil
fällen über die durch die Hamburger Lehrerschaft aufgekommenen,
recht gut gemeinten Bestrebungen, den Kunstsinn der Kinder durch
Besuch klassischer Konzerte zu wecken.
Meine Arbeit suchte «die Entwicklung des musikalischen Sinnes
bei Kindern im einzelnen darzustellen und daraus etliche pädagogische
Hauptgesichtspunkte zu gewinnen. Die spezielle Anwendung der
letzteren auf den Unterricht kann hier nicht meine Sache sein.
Gerne gestehe ich zu, dafs in diesen Zeilen nur ein Fragment vor-
liegt, das noch gar schr der Ergänzung bedarf. Man benötigte noch
108
A. Abhandlungen.
eines reichen Beobachtungsmaterials, zu dessen Beibringung sich Arzt,
Naturforscher, Psychologe, Lehrer und Musiker vereinigen mülsten.
Um dieses zu gewinnen, lade ich Freunde der Sache ein, auf folgende
Punkte ihr Augenmerk zu richten.
I. Personalien.
1.
Name, Geschlecht, Geburtszeit, Geburtsort (Konfession),
Stamm, Nation des Kindes.
Die Eltern, bezw. Vorfahren. Haben sie Sinn für Musik?
Etwaige Verwandtschaft der Eltern.
. Die Geschwister. Wie verhält sich deren Allgemeinbegabung
zu der des zu beobachtenden Kindes?
ll. Allgemeinbelinden.
Das körperlich normale Kind.
4.
Ist das Kind körperlich, besonders in Bezug auf Gehör,
normal? In welcher Entfernung versteht es Flüstersprache?
Körperliche Anormalitäten.
rn
3.
6.
Vorhandene Sprachfehler und deren Ursachen.
Nervosität.
Geistige normales Kind.
T.
S.
Wie verhalten sich die Anlagen für Sprachliches, Mathe-
matik, Musik, Zeichnen?
Temperament. Hat es auf die Erlernung der Musik einen
Einflufs geübt? Nimmt der Schüler leicht auf, ist er auf-
merksam, wann tritt Ermüdung ein?
Geistig Anormalen.
9,
Stumpfsinn, Blödsinn. Ursachen. Ist irgend welche Emp-
fünglichkeit für Musik vorhanden, nach welcher Richtung?
III. Einwirkungen auf das Kind.
10.
11
Hat die Mutter Wiegenlieder u. s. w. gesungen?
Ist die Heimat sangesfreudig?
Einflufs des Kindergartens.
Gesellschaft, mit der das Kind verkehrt.
IV. Die einzelnen Richtungen des musikalischen Sinnes.
Empfänglicheit für musikalische Klänge.
14.
15.
16.
17.
Wann und wie ist sie an Tieren zu bemerken?
Wann reagiert das Kind auf musikalische Klänge?
Welche Klänge verursachen Befriedigung, welche Mifsbehagen ?
Wie verhält sich das Kind zu hohen und tiefen Tönen, zu
starken und schwachen Tönen (des gleichen Instrumentes),
zu Tönen verschiedener Instrumente?
. Zeigt sich Interesse an Naturlauten (Vogelstimmen)?
Köwie: Die Entwicklung des musikalisches Sinnes bei Kindern. 109
Melodie.
19. Wann beginnt das Nachsingen ?
20. Welche Töne werden nachgesungen ?
21. Nach welchen Instrumenten wird leichter gesungen?
22. Wann gelingt das Nachsingen eines Liedes? (Zu empfchlen
wäre, nur das erste Stückchen eines ganz leichten Kinder-
liedes vorzusingen. Alles neu macht der Mai, oder Fuchs,
du hast die Gans gestohlen.) Wievielmaliges Vorsingen ist nötig?
23. Wann werden Melodien ohne Text behalten?
24. Welche Intervalle werden leicht, welche schwer getroffen?
Ist ein bestimmter Zeitpunkt festzustellen ?
25. Die beliebtesten, von den Kindern aus freiem Antrieb ge-
sungenen Kinderlieder.
Rhythmus.
26. Wann treten Bewegungen bei lebhaften Rhythmus ein?
(Angabe der gehörten Musikstücke.) Erfolgt die Reaktion
auch bei blofsem Rhythmus? (Trommelschlag, Klopfen mit
Hölzern) Wann erfolgen die Bewegungen dem Takt der
Musik entsprechend?
27. Bemerkenswerte Fehler gegen den Rhythmus.
28. Werden irgend welche Rhythmen bevorzugt?
Harmonie.
29.
30.
31.
32.
Wann versucht sich das Kind im Sekundieren?
Wann zeigt sich Sinn für Konsonanz und Dissonanz?
Wann für eigenartige Harmonien?
Wie verhält sich das Kind zu Dur und Moll?
Gehör.
33.
31
38.
Ist ein Unterschied zwischen klavierspielenden und gewöhn-
lichen Schülern zu merken ?
Können angegebene Töne nach ihrer Höhe bestimmt werden?
Wann zeigt sich Formensinn? (Verständnis für Phrasierung.)
Zeigt sich schöpferischer Trieb? Wie?
Eintritt der Mutation?
Treten Musikphantome auf? Wann? Welche?
Im allgemeinen wäre noch zu bemerken, dafs zweckmäfsig jeder
Beobachtung das Datum beizusetzen wäre. Über die Schwierigkeiten
des Beobachtens brauche ich mich nicht zu äufsern, sie sind bereits
in Hartyaxys Analyse des kindlichen Gedankenkreises ins rechte
Licht gerückt. Liefsen sich derartige Beobachtungen in ganzen
Schulen durchführen, so könnten bezüglich einiger Punkte auch Be-
rechnungen nach Prozenten angestellt werden. Man würde finden,
110 A. Abhandlungen.
was gemeinsam und was individuell ist; man wird erkennen, welche
Gesetzmälsigkeiten in der Entwicklung des musikalischen Sinnes zu
verzeichnen sind. Wer geneigt ist, meine Ausführungen zu ergänzen,
zu berichtigen oder zu widerlegen, von dem verabschiede ich mich
mit SHAKESPEARES Worten: Sehn wir uns wieder, freun wir uns gewils. 1)
2. Abnorme Kindesnaturen.
Vortrag, gehalten am 6. Dez. 1902 im Waldbröler Lehrerverein.
Von
Dr. L. Scholz, dirig. Arzt der Irrenanstalt in Waldbröl.
(Schluls.)
Auf die Häufigkeit von Unebenheiten und Widersprüchen
im Charakter der Abnormen ist schon hingewiesen worden. Auch
hier handelt cs sich im Grunde nur um eine Steigerung von Eigen-
tümlichkeiten, die den meisten gesunden Menschen anhaften. Ab-
solute Konsequenz im Urteilen und Handeln finden wir — vielleicht
glücklicherweise — auch bei normalen Naturen nicht. Besonders
hei komplizierter veranlagten Charakteren stoßsen wir bisweilen auf
die ungleichartigsten Eigenschaften, die m mehr oder minder fried-
lichem Verein zusammenwohnen. Bei den Abnormen fällt das Wider-
spruchsvolle noch stärker auf: Herzensgüte und Gefühlsroheit, Sanft-
mut und Jähzom, Geiz und Verschwendung, Feigheit und Mut,
Krittelsucht und mildes Verzeihen liegen oft in derselben Brust.
Denken wir an solche Naturen wie VortamE und Heise; ihre Lob-
redner und Tadler haben beide recht und unrecht. Über ein und
dieselbe Person oder Sache ergiefsen sie die Schale des Spottes, um
sie zu anderer Zeit wieder in überschwänglichen Worten zu preisen.
Das sicht natürlich nach Charakterlosigkeit und Heuchelei aus. Indes
beide Male kann (es kann, nicht es mufs) ihr Urteil völlig ihrer Über-
zeugung entsprechen. Auch unser Urteil wechselt ja: einen Menschen,
ein Kunstwerk, eine Landschaft lieben wir heute und morgen lassen
sie uns gleichgültig. Und beide Male sind wir aufrichtig. Der Unter-
schied zwischen unsern Gefühlsäufserungen und denen der »Charakter-
losen« ist nur quantitativ: wir erwärmen uns, wo jene begeistert
sind, wir tadeln, wo jene verabscheuen. Hermer preist das eine Mal
unser Vaterland mit Enthusiasmus, das andere Mal zieht er es in
') Unsere Zeitschrift ist geru bereit, diese Freude des Wiedersehen zu er-
möglichen. Tr.
ScHoLz: Abnorme Kindesnaturen. 111
Ma a zz e
den Kot. Auch unsere Ansicht bleibt nicht konstant, nur schwankt
sie in geringeren Grenzen. Aber wenn wir für die Ehrlichkeit unserer
Überzeugung eintreten, haben wir da cin Recht, sie bei jenem zu
leugnen, allein deshalb, weil scine Empfindung nach der guten und
bösen Seite hin heftiger lodert?
Abnormität ist der Krankheit verwandt, und so treffen wir bei
zahlreichen Psychopathen auf Zustände, in denen sieh der Charakter
des Krankhaften deutlicher ausspricht. Hierher gehören die Zwangs-
vorstellungen oder, besser ausgedrückt. die Zwangsgefühle. Es sind
das mit lebhaften Vorstellungen verknüpfte Gefühle, die sich zwangs-
mäfsig und unwiderstehlich dem Bewulstsein aufdrängen, obwohl sie
als etwas Fremdes, Unnatürliches empfunden werden. Auch em
normal empfindender Mensch kann im Zweifel sein. ob er z. B. das
Licht ausgelöscht, die Haustüre verschlossen. Briefe nicht in ein
falsches Couvert gesteckt habe. Aber er beruhigt sich doch, wenn
er sich von der Grundlosigkeit seines Zweifels überzeugt hat. Der
an Zwangsgefühlen Leidende tut das nicht: der Zweifel stellt sich
immer wieder ein, quält und peinigt ihn, läfst ihm keine Ruhe und
treibt ihn, ihm selbst zur Qual. sich abermals, zum dritten, zum
zehnten, zum zwanzigsten Male von dem zu überzeugen, was er
längst weils. Die Zweifel können auch ernstere Dinge betreffen: ob
man nicht schuld sei an dem Tode seines Kindes. indem man cs
nicht genügend gepflegt, ob man nicht den Mord begangen. der
gestern in der Stadt passiert, ob der im.Flusse liegende Körper nicht
ein Mensch gewesen sci, den man hätte retten müssen. Bei andern
wieder drängen sich sinnlose oder zwecklose Fragen unaufhörlich
zwischen das Denken: warum ist 2? X 2 = 4 und nicht = 5?
Warum sieht der Buchstabe a nicht wie b aus? Warum ist die
Birne kein Apfel? Wieviel Strafsen gibt es in Berlin, wieviel
Pflastersteine, wie viele Taschenmesser? Kinder fragen bekanntlich
mehr, als zehn Weise beantworten können. Das ist durchaus natür-
lich. Aber sie beruhigen sich, sobald sie irgend cine Antwort er-
halten haben. Kinder mit Zwangsdenken dagegen können sich, ob-
wohl sie sich des Unnatürlichen bewufst sind und «darunter leiden,
dieser Fragen und Grübeleien nicht erwehren.
Verbreitet, auch bei Kindern, ist die Furcht, sich zu beschmutzen.
Solche Kinder waschen sich am Tage zwanzig-, vierzigmal die Hände.
Auch die Ansteckungs- und Bazillenfurcht gehört zum Teil hierher:
sie kommt, aller Willensanstrengung zum Trotz. immer wieder.
Zimperlichkeit und Pedanterie sind vielfach auf Zwangsgefühle zurück-
zuführen: die Schulbücher müssen genau nach der Größe geordnet,
112 A. Abhandlungen.
Federhalter und Bleistift parallel liegen, das Löschblatt ganz sauber
vchalten werden, der Schulranzen gerade am Nagel hängen, — eher
findet «das Kind keine Ruhe. Bei Erwachsenen ist die Platzangst,
die Unfähigkeit, allein über emen freien Platz zu gehen, bekannt.
Dann haben wir die Angst vor dem Eingeschlossensein, vor Dieben
und Mördern (die Kinder schen nicht einmal unter das Bett wie
einfach ängstliche, sondern immer und immer wieder), vor Feuer,
die Angst vor dem Steckenbleiben im Vortrag, die als Lampenfieber
bekannt ist, die Examensangst u. s. w. Die Befürchtung, es könnte
etwas Übles passieren, drängt sich, auch ohne dafs sie durch die
Umstände, z. B. beim Examinanden durch mangelhafte Vorbereitung,
gerechtfertigt ist, so energisch in den Vordergrund, dafs es nicht ge-
lingen will, sie zu überwinden.
Erwachsene haben sich im allgemeinen so weit in der Gewalt,
dafs die Zwangsgefühle nicht gerade zu gefährlichen oder bedenk-
lichen Handlungen führen. Bei Kindern ist das anders. Der
Zwangsgedanke: du mufst dich aus dem Fenster stürzen oder du
mufst das Haus anzünden oder du mufst mitten im Unterricht dem
Lehrer ein Schimpfwort zurufen oder ın der Stille des Gottesdienstes
plötzlich laut schreien oder du mufst den wertvollen Spiegel zer-
trümmern, kann schr wohl von der Tat gefolgt sein. Freilich spielt
hier auch das ausgeprägte Triebleben der abnormen Kinder, von dem
gleich die Rede sein wird, mit hinein. Auch manche der sabnormen
Gewohnheitens beruhen auf Zwangshandlungen: allerhand Selt-
samkeiten beim Essen, beim Gehen, beim Sprechen, das Grimassieren
und Fratzenschneiden, das Nägelkauen, das gezierte und geschraubte
Wesen, das Sammeln von auch für Kinder gänzlich wertlosen Dingen
(Papierschnitzeln) u. s. w.
Bei weitem das gröfste praktische Interesse unter der grofsen
Zahl der Abnormen beansprucht jene Gruppe, die man als die der
moralisch Schwachsinnigen bezeichnet hat. Diesen Individuen
gcht das Vermögen ab, in ihrem Tun und Lassen durch sittliche Ge-
fühle bestimmt zu werden, und zwar erweist sich diese Unfähigkeit
nicht als eine Wirkung mangelhafter Erziehung, sondern als die einer
unvollkommenen Gcehimorganisation. Kinder kommen weder als
moralische noch als unmoralische Wesen zur Welt, gute und böse
Keime liegen schlummernd in ihrer Seele. Nun ist es Aufgabe der
Erziehung, die guten Anlagen zu fördern, die bösen zu hemmen.
cim kleinen Kinde walten, ähnlich wie beim Tier, anfangs die
niederen, sinnlichen Gefühle und Strebungen vor und der Selbst-
erhaltungstrieb, der Egoismus, dominiert über alle andern Regungen.
ScHoLz: Abnorme Kindesnaturen. 113
Allmählich jedoch lernt das Kind, belehrt durch eigene Erfahrung
und fremde Anleitung, die niederen Triebe auf Kosten der höheren,
ethischen in Schranken zu halten. Das erwachende Mitgefühl zügelt
die Selbsucht und den Eigenwillen. Jedes gesunde Individuum ist
in dieser Weise erziehungsfähig.
Vollzieht sich der Entwicklungsgang trotz günstiger äÄufserer
Lebensumstände nicht in dieser Weise, so bleibt das Kind, manchmal
bei guten Verstandesgaben, auf sittlich niedriger Stufe stehen. Es
unterscheidet recht wohl zwischen Gut und Böse, es weils, was es
darf und nicht darf, es sagt die zehn Gebote am Schnürchen her,
aber die Moralregeln durchsetzen sein Gefühlsleben nicht, sie
sind ihm, was dem Schüler die Genusregeln oder Vokabeln, sie
werden ihm zu keiner treibenden geistigen Kraft, nicht zum inte-
grierenden Bestandteil seines innersten Wesens und damit nicht zur
Richtschnur seines Handelns. Deshalb kennt es auch keine Reue,
kein Schamgefühl, keine Gewissensbisse. Um ein Schuldbewulstsein
hervorzurufen, genügt nicht die leere Kenntnis des Unreceht-Getan-
habens, das blofse Wortwissen, sondern die Erkenntnis mufs mit dem
Fühlen, der Kopf mit dem Herzen ein Bündnis eingegangen sein.
Auf schwerer Versündigung ertappt, ärgert sich das Kind wohl über
seinen Mifserfolg, etwa wie ein Reisender, der ein Dutzend Cigarren
über .die Grenze hat schmuggeln wollen und nun erwischt worden
ist, aber von innerer Zerknirschung ist bei ihm ebensowenig zu
spüren wie bei diesem.
Bisweilen freilich liegt die Sache noch anders. Das moralische
Gefühl, Scham und Reue, fehlen nicht ganz. aber sie sind viel zu
schwach entwickelt, um dem weit mächtigeren und oft überstark
ausgebildeten Triebleben das nötige Gegengewicht zu leisten.
Moralisch Schwachsinnige neigen, wie die Mehrzahl der Abnormen
überhaupt, zu impulsiven Handlungen: der Trieb setzt sich sofort in
die Tat um, ohne dafs wie beim Gesunden die Überlegung warnend
dazwischentritt. Manche dieser Handlungen erweisen sich schon
durch ihre Zweck- und Sinnlosigkeit, sowie durch den Umstand, dafs
der Täter absolut sicher die Strafe oder die sonstigen bösen Folgen im
voraus erkennen mufste, als krankhaft, so z. B. die wilden Wutaus-
brüche nach geringfürigsten Anlässen mit blinder Zerstörungssucht oder
Diebstähle, Brandstiftungen, selbst Totschlägereien ohne jedes sichtbare
Motiv. In früheren Zeiten spielte auch bei den Irrenärzten die Lehre
von den Monomanien eine gewisse Rolle: die Kleptomanie oder der
Stehltrieb, die Pyromanie oder der Brandstiftungstrieb u. s. w. Man
glaubte, derartige Triebe könnten bei sonst ganz gesunden Personen
Dio Kinderfehler. VIH. Jahrgang. S
114 A. Abhandlungen.
auftreten. Das war ein Irrtum. Die Täter sind entweder Psycho-
pathen, wie sie hier geschildert werden, oder Epileptiker oder Idioten
oder auch Geisteskranke im engeren Sinne. , Bemerkenswert, auch für
die Beurteilung schwachsinniger Kinder, ist der sogenannte Wander-
trieb, das impulsive Fortlaufen und Sich-Umhertreiben.!) Selbst
Personen, die in äufseren guten Verhältnissen leben, haben einen un-
widerstehlichen Hang zur Vagabundage und sind zu keinem bestän-
digen Leben zu zwingen. Auch manche Desertionen beim Militär
müssen in dieser Weise aufgefafst werden. Ich kenne einen jungen
Menschen aus angesehener Familie, der während seiner Einjährigen-
Dienstzeit nicht weniger als dreimal desertierte, obwohl er gern Soldat
war und gar keinen Grund zum Davonlaufen hatte Er pflegte sich
nach S—14 Tagen selbst wieder zu stellen, nachdem er sich irgend-
wo herumgetrieben hatte, und gab dann an, er wisse eigentlich
selbst nicht recht, warum er fortgelaufen sei: es sei so über ihn
gckommen. Auch hier handelte es sich um einen von Geburt an Ab-
normen, der — im Gegensatz zu seinen gut gearteten Geschwistern
— den Eltern von jeher unendlichen Kummer bereitet hatte. Übrigens
schen wir aus diesem Beispiel wieder die bereits oben erwähnte
Erscheinung der Periodicität des Handelns und erkennen daraus
abermals die auch schon besprochene Tatsache, dafs solche Entschlüsse
aus dem Innersten der Seele entspringen, dem Kranken selbst unklar
und unverständlich. Sein bewußstes Empfinden hat an ihnen keinen
Anteil. Aber eben weil die eigene Tat ihm unbegreiflich bleibt, so
versucht er, Gründe zu finden, d. h. sie sich und andern begreiflich
zu machen, — Gründe, die selten die wahren sind und doch von Un-
kundigen leider geglaubt werden, wenn sie nur halbwegs annehmbar
klingen und andere, sichtbare, nicht zu entdecken sind.
So hoffe ich nun, meine Herren, Ihnen Eines klar vor Augen
eeführt zu haben: unmoralischer Lebenswandel ist nicht immer die
Folge von mangelhafter Erziehung, von schlechten Beispiel und Ver-
führung. Natürlich kann der üble Einfufs der Umgebung, in der
das Kind aufwächst, gleichzeitig das junge Seelenleben vergiften, ja
es wird sich sehr häufig um diese Doppelwirkung handeln. Aber
wir finden bisweilen Familien, m denen sich neben gut gearteten
Kindern ein milsratenes findet. Hier können doch die äufseren
Lebensverhältnisse, die auf alle Zöglinge gleichmälsig einwirkten,
nicht die Schuld an dem Mifswuchs des einen tragen. Der Schaden
muls vielmehr im Keime selbst liegen, etwa wie bei einer wurzel-
') Vielfach deutet diese Erscheinung übrigens auf begleitende Epilepsie hin.
ScHoLZ: Abnorme Kindesnaturen. . 115
kranken Pflanze, die trotz aller Pflege keine wohlgebildeten Blätter
und Blüten hervorbringen will. Und umgekehrt erleben wir mitunter
das rührende Schauspiel, dafs Kinder in der Umgebung gemeiner
Verbrecher aufwachsen und doch Seelenregungen an den Tag legen,
die uns sonst nur als die edelsten Blüten sorgfältiger Erziehung ent-
gegentreten. Zucht und Belehrung allein können nichts ausrichten,
so wenig der verständnisvollste Zeichen- oder Musikunterricht bei
einem talentlosen Kinde Früchte zeitigt. Des Erfolges erste Be-
dingung liegt in der Beschaffenheit des Fundaments, auf dem
gebaut werden soll.
Der Lebensgang der sittlich Abnormen gleicht sich in seinen
Grundzügen ganz auffallend. Schon in früher Jugend fallen sie durch
ihre Boshaftigkeit und Durchtriebenheit auf. Sie sind jähzornig, zer-
störungssüchtig, tierquälerisch, hinterlistig und schadenfroh, dabei ver-
logen, faul und oberflächlich. Zur Onanie neigen sie schon in jungen
Jahren. Durch geistige Frühreife, altkluges Reden und gewandte
Formen verstehen sie zu imponieren. Aber ihre Kenntnisse gehen
nicht in die Tiefe und ihr Denken ist sprunghaft; ihr Interesse wird
nur erregt, wo der eigene Vorteil ins Spiel kommt. Dann können
selbst intellektuell wenig begabte Kinder aufserordentlich schlau und
raffiniert sein, weshalb die Eltern von dem Schwachsinn ihrer
Kinder gewöhnlich nichts wissen wollen; sie bedenken nicht, dafs
auch der Fuchs und die Katze in der Verfolgung ihrer Interessen
sehr listig sind und doch, im Vergleich zum Menschen, auf niederem
geistigen Niveau stehen. Prügel, Belohnungen oder moralische Be-
lehrungen helfen höchstens vorübergehend. Älter geworden machen
sie sich eine Art Privatmoral zurecht, etwa in dem Sinne, dafs die
andern Menschen auch nicht besser, nur dümmer seien als sie. Die
Gebildeten unter ihnen drapieren sich wohl auch mit einem philo-
sophischen Mäntelchen, etwa im Sinne der Nırrzscneschen »Herren-
moral« mit ihrer »Umwertung aller Werte« und sind sehr stolz
darauf, ihre Neigung zum »Sich-Ausleben« mit den Lehren eines so
angesehenen Philosophen rechtfertigen zu können. Selbst rücksichts-
los, verlangen sie Rücksicht von jedermann. Dafs Rechte auch
Pflichten begründen, gilt nicht für sie, sondern nur für die Anhänger
der »Sklavenmorale. Erlaubt ist, was gefällt. Die üblen Lebens-
erfahrungen, die sie im Laufe der Zeit machen, beunruligen sie nur
wenig. Nicht sie sind an ihrem Unglück schuld, sondern immer die
andern! Überhaupt fehlt es ihnen an Mut und Selbstvertrauen keines-
wegs und um ihre Zukunft sind sie gar nicht bange. — das findet
sich alles! Alkoholexzesse und geschlechtliche Ausschweifungen, auch
8*
116 A. Abhandlungen.
Perversitäten, werden früh geübt. Wegen irgend eines Vergehens
aus der Schule gejagt, versuchen sie es in einer zweiten und dritten,
schliefslich in einer Presse; nirgends halten sie aus. Die Familie ist
in Not und Verzweiflung. Glücklich in einer Stellung untergebracht,
z. B. auf einem Kontor, greifen sie die Kasse an. Man schickt sie
nach Amerika. Dort gehen sie entweder zu Grunde oder arbeiten
sich, bald mittellos geworden, als .Kohlenzieher herüber. Von Zeit
zu Zeit nehmen sie einen kräftigen Anlauf zum Besseren, es geht
eine Weile gut, die gequälten Eltern atmen auf. Vergebliche Hoff-
nung, — nach kurzer Frist beginnt das alte Elend von neuem! Die
Kinder Unbemittelter geraten frühzeitig ans Betteln und Vagabundieren
und machen bald mit dem Gefängnis Bekanntschaft, die Mädchen
verfallen der Prostitution. Das Ende vom Liede ist das Arbeitshaus,
das Gefängnis oder die Irrenanstalt. Das Leben Tausender von Un-
glücklichen verläuft in diesen Bahnen!
Besitzen wir nun, so werden Sie fragen, gar keine bestimmteren,
praktisch verwertbaren Anhaltspunkte, die Gesunden von den
Kranken und namentlich die sittlich Schlechten von den sittlich
Schwachsinnigen zu unterscheiden?
Nein, sichere Anhaltspunkte besitzen wir leider nicht. Der
Mensch, nicht die Natur hat die Begriffe gesund und krank geschaffen
und willkürlich Gegensätze gebildet, die in Wirklichkeit nicht exi-
stieren. Und doch sind wir auf der schwierigen Suche nach einem
Ausweg nicht ganz führerlos. Einen Wink geben uns, wenigstens
bei den angeborenen Abnormitfäten (und um sie handelt es sich
bei den Kindern ja meist) die anatomischen und physiologischen Ent-
artungs- oder Degenerationszeichen, auch Stigmata genannt.
Man hat ihre Bedeutung manchmal überschätzt und sie dadurch
neuerdings etwas in Mifskredit gebracht. Vereinzelt kommen sie
nämlich auch bei völlig normalen Persönlichkeiten vor und haben
deshalb diagnostischen Wert nur dann, wenn sie bei einem Indi-
viduum in größerer Zahl und deutlicher Ausprägung wahrgenommen
werden. So findet sich z. B. eine unsymmetrische Schädelbildung
auch bei geistig ganz Gesunden, aber in Verbindung mit stark vor-
springenden Kiefern, einem hohen, engen Gaumen, unregelmäfsiger
Zahnbildung und anderem weist sie fast immer auf eine geistige Ab-
normität hin. Von andern Degenerationszeichen seien genannt die
Hiehende Stirn. steil abfallondes Tinterhaupt, zusammengewachsene
Augenbrauen, allerlei Verbildungen an der Ohrmuschel, Hasenscharte
und Wolfsrachen, abnorme Körperbehaarung, Klumpfufs, überzählige
Finger, milsbildete Geschleehtsteile. Dazu gesellen sich allerhand
ScHuoLz: Abnorme Kindesnaturen. 117
physiologische Abweichungen, wie Muskelzittern, Krämpfe (Epilepsie),
Konvulsionen, Lähmungen, Neuralgien, nervöses Herzklopfen, bei
Kindern ferner häufiges nächtliches Einnässen, Delirien schon bei
leichtem Fieber, Verzögerung des Gehen- und Sprechenlernens, sowie
Sprachfehler allerlei Art. Auch die praktisch sehr wichtige soge-
nannte Intoleranz gegen alkoholische Getränke sei hier erwähnt.
Nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene besitzen mitunter eine
so geringe Widerstandskraft gegen die Schädlichkeiten des Alkohol-
genusses, dafs sie schon nach wenigen Glas leichten Bieres einen
schweren Rauschzustand mit starker Bewufstseinsumneblung. Gewalt-
tätigkeit und nachträglicher völliger oder fast völliger Erinnerungs-
losigkeit davontragen. Derartige »pathologische« Trunkenheit kann
kriminell sehr wichtig werden. Noch einmal indes betone ich, dafs
die Degenerationszeichen die Diagnose auf geistige Abnormität oder
Schwachsinn nur wahrscheinlich machen, nicht sie sichern. Der
anatomisch - physiologischen Untersuchung mus in jedem Falle die
psychologische folgen.
Und deshalb wird auch der Lehrer um die Erwerbung einiger
psychologischer und psychopathologischer Kenntnisse nicht herum
können. Er mufs wenigstens wissen, welche Probleme es in der
praktischen Seelenkunde gibt und wo sie beginnen; die Entscheidung
im Einzelfall bleibt dem Arzt überlassen. Mag er sich noch so schr
dagegen sträuben und erklären, solche Wissenschaft zu treiben, sei
nicht seines Amtes: die Verhältnisse zwingen ihn einfach dazu. Er
kann ihnen gar nicht ausweichen. wenn er sich nicht der Gefahr
aussetzen will, gegebenenfalls unvernünftig und ungerecht zu ver-
fahren. Kein Vernünftiger wird leugnen wollen. dafs die Haupt-
quelle jugendlicher Verderbtheit in verfehlter Erziehung
und schlechtem Beispiel liegt und ich betone hier, um Mils-
verständnissen zu begegnen, diesen Satz mit aller Fntschieden-
heit. Aber es ist bedauerlich zu schen, wie selbst ein so wichtiges
und an sich erfreuliches Gesetz wie das Preufsische Fürsorge-
gesetz die abnorm veranlagten Naturen überhaupt nicht berück-
sichtigt und die Schuld an der kindlichen Verwahrlosung ganz aus-
schliefslich mifslichen äufseren Umständen in die Schuhe schiebt.
Das ist einseitig und ungerecht, und man merkt. dafs an dem Gesetz-
entwurf kein psychiatrisch Geschulter mitgearbeitet hat.
Auf den ersten Blick die sittlich verkommenen von den sittlich
schwachsinnigen Kindern zu unterscheiden, wird häufig ein ver-
gebliches Bemühen sein, besonders dann, wenn, wie so oft, die
inneren und äufseren Ursachen der Verwahrlosung zusammentreffen.
11S A. Abhandlungen.
Leichter wird das Erkennen schon bei gleichzeitiger Intelligenz-
schwäche. Stutzig muls es auch machen, wenn wir hören, dafs das
Kind erblich belastet ist (obwohl dies an sich natürlich gar nichts
beweist!) Wichtig sind ferner die Beobachtungen, die an den Kindern
schon im frühesten Kindesalter gemacht werden. Abnormes Ver-
halten findet sich bereits bei Säuglingen t); hieraus erkennen wir
deutlich das Psychopathische der ganzen geistigen Anlage. Im übrigen
müssen wir uns an zweierlei halten. Erstens an die auffallenden
Charaktereigenschaften der Entarteten: das Widerspruchsvolle
ihres Benehmens, die mangelnde äufsere Motivierung ihrer Handlungs-
weise, die Unbedachtsamkeit, mit der die Vergehen trotz der in Aus-
sicht stehenden Strafe begangen werden, die Triebartigkeit, die
Periodizität der Erscheinungen, die mannigfachen Absonderlichkeiten
und Zwangsimpulse. Dazu gesellen sich die anatomischen und funk-
tionellen Entartungszeichen. Und als zweites diagnostisches Hilfs-
mittel kommt die Unverbesserlichkeit in Betracht. Ein gesundes
Kind, und sei es noch so verwahrlost, läfst sich immer erziehen, wenn
es in die richtigen Hände kommt. Marw v. Epxer-EschHexBach hat
in ihrem »Gemeindekind« in ganz prächtiger Weise einen bis zum
Aufsersten verkommenen, von aller Welt verkannten Knaben ge-
schildert, der durch seinen Lehrer schliefslich auf den rechten Weg
geführt wird. Ein abnorm geartetes Kind aber trotzt dem erziehe-
rischen Einflufs oder ist ihm doch nur in geringem Umfange zugänglich.
Über Ursachen und Behandlung der geistig Abnormen will
ich mich kurz fassen. Die übergrofse Mehrzahl ist erblich belastet.
Sie sind Abkönmmlinge von Psyehopathen und Neuropathen, von
Geisteskranken, von Epileptikern. von Trinkern. Andere erkennbare
Ursachen fehlen oft ganz. Besonders gefährdet sind die Kinder von
Trinkern. »Dexoor fand, wie er auf dem 6. internationalen Kongrefs
1597 mitteilte, bei Kindern von Trinkern unter 44 Mädchen nur 6,
unter 33 Knaben nur 3 Normale; von den 77 Kindern waren also
08 == 88,3%/, zurückgeblieben, schwachsinnig u. s. w.«?) Selbst
nachsichtige Beurteiler der Schädlichkeit des Alkohols geben zu, dafs
die kindlichen Psychopathen zu mindestens ein Viertel bis ein Drittel
Opfer der elterlichen Liebe zum Alkohol sind. Hier bewahrheitet.
sich in furehtbarer Weise das Bibelwort, dafs die Sünden der Väter
heimgesucht werden an den Kindern bis in das dritte und vierte
Glied.
‚ ))_ Röuer, A., Die psychopathischen Minderwertigkeiten im Säuglingsalter. 1892.
2) Citiert aus Horre, Die Tatsachen über den Alkohol. 2. Aufl. 1901.
ScHoLz: Abnorme Kindesnaturen. 119
Ein etwas geringerer Anteil am Schuldkonto der kindlichen Ent-
artung fällt der Erbsyphilis zu. Nicht, weil sie an sieh ungelähr-
licher wäre. Aber die Kinder syphilitischer Eltern kommen meist
tot zur Welt oder sterben bald nach der Geburt. Immerhin sind
die 10°/,, die Zıenex!) als sicher, die sicbzehn, die er als wahrschein-
lich annimmt, doch ein ernstes Memento für die Bedeutung der Ge-
schlechtskrankheiten auch für die Nachkommenschaft.
Der angeborenen Degeneration steht die in frühester Kindheit
erworbene nahe, an Häufigkeit aber kann sie sich mit jener nicht
messen. Schädelverletzungen, schwere entzündliche Gehirnkrankheiten,
auch dauernde Ernährungsstörungen wie die Englische Krankheit
(Rhachitis) kommen hier als Ursachen in Betracht. Die ominöse Rolle
der Frühgeburt wird gewöhnlich weit überschätzt. Dagegen mufs
abermals und wieder in erster Linie der Alkohol Erwähnung finden.
Kinder, besonders schwächliche und nervöse, sollen weder Wein noch
Bier erhalten; man kräftigt sie nicht damit, sondern vergiftet sie.
Alkohol ist zu gar nichts nütze, am wenigsten bei jugendlichen
Personen. Und doch wissen wir, wie viel grade hier gesündigt wird,
in bestem Glauben, und gesündigt — leider — sogar von Ärzten.
Die in späteren Lebensjahren durch mangelhafte oder verkehrte
Erziehung und andere widrige Lebenseinflüsse, durch geistige und
gemütliche Überanstrengung erworbenen Abnormitäten sollen uns
hier nicht weiter interessieren. Der schädliche Einflufs der Sehul-
überbürdung pflegt oft übertrieben zu werden. Gresctzt auch, es
würden von der Schule unangemessene Forderungen an das jugend-
liche Gehirn gestellt, so handelt es sich doch um ausgleichbare
Störungen, die des Seelenwesens innersten Kern nicht dauernd treffen.
Wenn die Ursache wegfällt, schwindet auch die Wirkung. Wo cs
sich freilich um bereits geistig schwächliche Kinder handelt, da geht
der Schaden tiefer. Ernster zu beurteilen ist die unmittelbar auf
den Charakter wirkende schlechte häusliche Erziehung, und gerade
an dieser pflegt es den Psychopathen nicht zu fehlen, weil die Eltern
so häufig selbst abnorm geartet sind und mit der geistigen Atmo-
sphäre im Hause auch die zarte Seele des Kindes vergiften.
Der Behandlung bester Teil ist die Vorbeugung, sofern sie
das Übel an der Wurzel packt. Dieser Wurzeln aber sind vornehm-
lich drei: erbliche Übertragung, Alkoholismus und Syphilis. Geistig
und körperlich Invalide sollten nicht heiraten, dann wären mit einem
Schlage ?/, der Geisteskranken und -siechen aus der Welt geschafft.
1) Zænex, Tag., Die Geisteskrankheiten des Kindesalters. 1902,
120 A. Abhandlungen.
Freilich bis jetzt ein frommer Wunsch! Solange ganz andere Motive
die Wahl des Gatten und der Gattin bestimmen als die Rücksicht
auf die Gesundheit des Nachwuchses, solange wird ein Appell an die
Vernunft «der Heiratslustigen nicht viel helfen. Die meisten denken
über diesen Punkt überhaupt nicht nach und, die es tun, trösten
sich mit dem Gedanken, dafs ja schliefslich nicht aus allen belasteten
Familien kranke Kinder hervorgehen. Aber wer weils, ob nicht ein-
mal eine Zeit kommen wird, wo man diese bequeme Moral unerträg-
lich finden und es für eine Sünde halten wird, Kinder in die Welt
zu setzen, die mit grofser Wahrscheinlichkeit sich selbst und der
Familie zum Unglück und dem Gemeinwesen zur Last geboren
sind. Wie die Dinge heute liegen, wird mit gesetzlichen Eingriffen
nicht viel anzufangen sein, obwohl es in einzelnen amerikanischen
Staaten, z. B. Texas und Minnesota, bereits staatliche Eheverbote für
gewisse Kranke und schwer Belastete gibt. Die Erfahrungen daselbst
sind noch zu gering, um bestimmte Schlüsse über das Für und Wider
zuzulassen. Bei Gewohnheitsverbrechern hat man übrigens allen
Ernstes die Kastration vorgeschlagen. Aber den Arzt möchte ich
kennen lernen, der sich zu solcher Exekution bereit erklärte!
Angriffsfähiger sind die durch den Alkoholismus hervorgerufenen
Schäden. Die Alkoholfrage erfreut sich jetzt, nachdem man sie lange
genug bespöttelt, einer ernsthaften Diskussion, und das ist sicherlich
mit Genugtuung zu begrüfsen. Auch zur Verhütung der Geschlechts-
krankheiten und zur Hebung der Sittliehkeit sind neuerdings Vereine
in Tätigkeit getreten. Der Rest der Entartungsursachen tritt den
drei Hauptübeln gegenüber an Bedeutung so zurück, dafs wir ihn
hier füglich übergehen können.
Nun aber die Sorge für die Entarteten selbst, vor allem
für die moralisch Defekten. Schutz für sie und Schutz vor ihnen!
lautet hier die Aufgabe. Wer meinen Ausführungen über die Natur
der seelisch Abnormen gefolgt ist, wird von einer Heilung nichts und
von einer Besserung nicht zu viel erwarten. Unter den Erziehungs-
mitteln steht auch für die gesunden Kinder leider noch immer obenan
die moralische Einwirkung in Form der Belehrung. Ihr Wert ist
reichlich problematisch. ScuopEnnauEer sagt in seiner Ethik: » Weiter
als auf die Berichtigung der Erkenntnis erstreckt sich keine mora-
lische Einwirkung, und das Unternehmen, die Charakterfehler eines
Menschen durch Reden und Moralisieren aufheben und so seinen
Charakter selbst, seine eigentliche Moralität umschaffen zu wollen,
ist ganz gleich dem Vorhaben, Blei dureh äufsere Einwirkung in
Gold zu verwandeln oder eine Eiche durch sorgfältige Pflege dahin
ScuoLz: Abnorme Kindesnaturen. 121
zu bringen, dafs sie Aprikosen trüge.< Und wer von dem ScHoPEN-
HAUERScChen Pessimismus von vornherein nichts hält, dem kann ich
mit ScHILLER aufwarten. In dessen »Briefen über die ästhetische Er-
ziehung des Menschen« heifst es: »Die Aufklärung des Verstandes
zeigt im ganzen so wenig einen veredelnden Einflufs auf die Gc-
sinnung, dafs sie vielmehr die Verderbnis durch Maximen bc-
festigt.<
Nun, trotz alledem, ganz so trostlos liegt die Sache wohl nicht.
Zunächst entspringen eine ganze Reihe unserer Sünden und Mängel,
freilich der geringeren, lediglich der Gedankenlosigkeit und sind durch
»Berichtigung der Erkenntnis« wohl korrigierbar. Und zweitens darf
man unsern angeborenen Charakter auch nicht für absolut unwandel-
bar erklären. Freilich die Erziehungsarbeit ist mühsam und der Weg
zum Erfolge weit. Ihr Segen beruht nicht in jenem blofsen Mitteilen
des Wissenswerten, von dem oben die Rede war, sondern in der
dauernden Einwirkung auf die Grundstimmung, auf das Gemütsleben
des Kindes. Denkgewohnheiten setzen (Grefühlsgewohnheiten voraus
und diese wiederum Einübung. Weder intellektuelle noch moralische
Fertigkeiten lassen sich wie ein Kleid übergeben, das man nur an-
zuziehen braucht. Ferner sollte man bedenken, dafs der Salbader-
ton moralischer Belehrung im Stile des seligen Campe schon für
ein gesund empfindendes Kind unerträglich ist, deni es klingt
eitel Selbstgefälligkeit und Dünkel heraus, und im abnorm gc-
arteten Burschen erregt er nur zu leicht heimliches Gelächter, im
günstigeren Falle Aufmucken und Trotz. Und wenn doch eine gute
Wirkung erzielt wird, so liegt das nicht an den schönen Worten
des Erziehers, sondern an seiner Persönlichkeit, vor der das Kind
Respekt hat.
Als bestes Erziehungsmittel wirkt das gute Beispiel, das still und
ohne Wesens von sich zu machen, gegeben wird. Freilich hat es
Autoritätsgefühl zur Vorbedingung seiner Wirksamkeit, und so kommt
doch schliefslich alles auf die Persönlichkeit des Lehrers heraus. Das
Kind muls, auch ohne dafs es ihm gesagt wird, merken, wieviel
besser es sich bei Folgsamkeit und gutem Betragen steht. Dann geht
langsam und ohne grolse Erschütterung, etwa wie man bei einem
wankenden Gebäude, die morschen Stützen eine nach der andern
entzieht und allmählich durch neue ersetzt, die Umwandlung, die Er-
neuerung des Scelenlebens vor sich. So wird man weiter kommen
als mit Moralisieren und weiter auch als mit Belohnungen und Strafen.
Gewifs, ein Musterkind wird sich nie aus der alten Schale entpuppen
und in den schlimmsten Fällen, da besonders, wo das Triebleben
122 A. Abhandlungen.
übermächtig herrscht, wird aller Liebe Müh umsonst sein. Hier
mufs sich der Erzieher eben bescheiden und seinen Lohn in dem
Bewufstsein erfüllter Pflicht suchen.
Freilich, eines ist zu solcher Erziehung nötig: sie mufs in einer
Hand ruhen. Und hier liegt eben der Haas im Pfeffer. Für den
Lehrer, insbesondere den Volksschullehrer mit seiner oft übergrolsen
Schülerzahl ist die Forderung der sogenannten Individualisierung
nicht viel mehr als ein Schlagwort, und wenn gar ein trunksüchtiger
Vater oder eine nervöse Mutter daheim alles wieder verdirbt, was
er Gutes geschaffen, so wird sein Einflufs ziemlich illusorisch sein.
Schon aus diesem Grunde gehören, noch weniger als die geistes-
schwachen Kinder, die sittlich schwachen in die gewöhnlichen Schulen.
Für den Lehrer, für die gesunden Kinder und nicht zum wenigsten
für die Psychopathen selbst ist die Entfernung in andere Um-
geebung notwendig. Auch im Elternhause können sie meist nicht
bleiben, weil sie die Angehörigen tyrannisieren und ihre Geschwister
sittlich gefährden. Wohin nun mit den Sorgenkindern? Für Be-
mittelte eröffnet sich der Ausweg, sie einer Privatpflege, etwa bei
einem Geistlichen, einem Lehrer, einem Arzte auf dem Lande anzu-
vertrauen. Freilich dürfen hier ebenfalls keine Kinder im Haushalt
sein, die durch böses Beispiel verdorben werden könnten. Anstalten
für schwer erziehbare und sittlich schwache Kinder gibt es kaum;
mir ist nur als einzige das Erziehungsheim des Direktors TRÜPER in
Jena bekannt. Die Rettungs- und Korrektionshäuser eignen
sich zur Aufnahme nicht recht, denn sie bekümmern sich im wesent-
lichen nur um die Erziehung Verwahrloster, nicht Abnormer und
es fehlt deshalb oft an dem wünschenswerten Verständnis für die
psycho-pathologischen Erscheinungen. Auch leidet die Erziehung bis-
weilen unter der zu grolsen Anzahl von Zöglingen, denn von
Individualsierung kann natürlich nicht viel die Rede sein. Auch
in die Idiotenanstalten passen die Kinder nicht, wenn sie nicht
gleichzeitig intellektuel! verkümmert sind. Kurz und gut, für die
dégénérés supérieurs, wie sie der Franzose nennt, mangelt es noch
sehr an geeigneter Fürsorge. Und das mufs lebhaft beklagt werden,
Denn einmal erwachsen, bilden diese Entarteten eine entsetzliche
Plage für die menschliche Gesellschaft, da sie mit dem Sitten- und
dem Strafgesctz auf sehr gespanntem Fufse leben. Sie sind nicht
krank, sie sind nicht gesund, sie gehören nicht in die Irrenanstalten,
sic gehören nicht in die Gefängnisse, und doch mufs die Menschheit
sich ihrer erwehren. Es ist ein vielunstrittenes und in den Fach-
blättern bis zur Ermüdung diskutiertes Problem, was man mit ihnen
Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. 123
beginnen sol. Denn dafs das Strafgesetz von heute, wonach diese
Individuen wegen Diebstahls und Vagabundage zwanzig-, dreifsig-,
fünfzig-, hundertmal bestraft und nach kurzer Zeit wieder losgelassen
werden, nachdem sie sich im Gefängnis in der Kunst, ihre Mit-
menschen zu schädigen, vervollkommnet haben, — dafs dieses Gesetz
nicht von übermälsiger Weisheit zeugt, liegt auf der Hand. Es
gleicht der Methode, nach der man einem bissigen Hunde den Maul-
korb erst anlegen wollte, wenn er gebissen, und auch dann nur
für einige Stunden, um ihm erst nach abermaligem Beifsen wiederum
das Maul zu sperren. Es wird eine verantwortungsvolle und schwierige
Frage für die Zukunft sein, wie man jene beiden Forderungen ver-
einigen soll: Schutz des Publikums vor den Entarteten und Schutz
der Entarteten vor ungerechter Beurteilung und Behandlung durch
das Publikum!
Damit, meine Herren, wäre ich zum Schlufs meines Vortrages
gelangt, und ich hoffe, Sie zum Nachdenken über einen der inter-
essantesten und bedeutsamsten Wissenszweige angeregt zu haben.
Je tiefer wir in das Gebiet der normalen und pathologischen Psy-
chologie hineintauchen, um so mehr Rätsel treten uns entgegen. Und
wir möchten darüber verzagt werden. Aber einen Gewinn nehmen
wir dennoch mit. Wir schen, wie tief die Beweggründe unseres
Handelns aus dem Innersten der Scele, die nur zum kleinsten Teil
unsere eigene Schöpfung ist, entspringen, und das macht uns be-
scheidener gegen unsere Verdienste und milder gegen fremde Fehler.
Wir lernen verzeihen, weil wir begreifen.
NSA OL L m a E E a
B. Mitteilungen.
l1. Psychologische Beobachtungen an einem Kinde.
Von Adolf Rude in Nakel a. d. Netze.
(Schlufs.)
4. Lebensjahr:
Anfang desselben. Sprachliches. L. sagt oft: Badawanna (weils
das Wort Badewanne aber auch richtig auszusprechen), Karahell (Karussell),
Rosakranz (Rosenkranz), Trombase (Trompete).
Beobachtung. Einwand. Sie möchte barfufs laufen. Da es ihr
wegen des schlechten Wetters nicht erlaubt wird, sagt sie: »Der Löwe«
(auf dem gegenüberliegenden Hause) »ist auch barfufs.« — Im Spiele und
124 B. Mitteilungen.
mn m LLILLLLLLLL l a
dann auch leichthin Littend sagt sie oftmals: »Ich fahr’ nach Bromberg.«
Da mache ich einmal anscheinend Ernst und sage: »Jetzt zieh’ dich an,
geh’ auf den Bahnhof und fahr’ los!« Nun mag sie durchaus nicht fahren,
Die Reise erscheint ihr, allein ausgeführt, als etwas höchst Gewagtes. — In
der Schlimbachschen Fibel, die sie sich oft zum Anschauen der Normal-
wortbilder ausbittet, kann sie die meisten richtig benennen, z. B. Dach,
Haus, Esel, Leiter, Gans, Feder, Mond, Baum, Kreuz, Vögel, Rübe, Jäger,
Mäuse, Wagen, Schwein, Raupe, Pudel, Pferd u. s. w., dagegen nicht Ast,
Uhu, Bär, Igel.
Fertigkeit. Eine Nuls malt sie nach einmaligem Vorzeichnen ganz
auffallend richtig nach.
1!/, Monate: Findet die Ursache. L. sieht, dafs ein kleiner, mit
Luft angefüllter Ballon aus dünner laut in dem Zimmer täglich kleiner
wird und sagt: »Der Ballon wird immer kleiner. Die Luft geht heraus.«
Vorher hat sie gehört, dafs Luft darin sei.
Interesse erzeugt Aufmerksamkeit. Das Interesse für Märchen
entwickelt sich immer mehr. Lucie sitzt beim Zuhören vollständig still
und rührt sich nicht. Das Märchen vom Rotkäppchen hört sie besonders
gern. Als sie einmal eine rote Schürze trägt, nenne ich sie Rotschürzchen.
Ein andermal trägt sie eine weilse (aber schmutzige) Schürze und sagt zu
mir: »detzt bin ich kein Rotschürzchen; jetzt bin ich ein Weilsschürzchen.«
Ich erwidere: »Nein, ein Schmutzigschürzchen.«< Das gefällt ihr aber
nicht.
Interessierte Wahrnehmungen erzeugen klare Vorstellungen
und feste Überzeugungen. L. war im Puppentheater. Nach der
Rückkehr weißs sie ihrer Freude gar nicht genug Ausdruck zu geben,
Sie redet fortwährend vom Könige, von Tanten und von einer grolsen
Puppe. Sie erzählt: »Eine Puppe ist totgeschossen. Die Puppen haben
geprochen« (gesprochen). Ich erinnere sie daran, dafs ihre eigene Puppe
doch nicht sprechen könne. L. stutzt und weils es sich offenbar nicht
zu erklären, dals die Theaterpuppen gesprochen haben (weil sie die
sprechenden Menschen hinter den Coulissen nicht gesehen hat). Sie bleibt
aber dabei: »Die Puppen haben doch geprochen.«
Gleichzeitig gehörte Worte reproduzieren einander. L. hat
vergessen, wen die Büsten auf dem Schreibtische (Herbart und Comenius)
darstellen. Sie wird an Herbart erinnert. Da fällt ihr sofort der Name
Comenius ein.
Reproduktion. Schlielsen. Die Mutter schreibt einen Brief an
eine Freundin. Ich bitte, dieselbe von mir zu grülsen. Darauf fragt L.:
»Fährt denn die Mama weg?« Sie hat öfters vor einer Abreise Gruls-
aufträge gehört.
Nichtgelingen erzeugt Unlustgefühl, Gelingen Lustgefühl,
Interesse. L. hält der Mutter Wolle beim Abwickeln. Anfangs ge-
liugt es gut und bereitet ihr Vergnügen. Als aber die Wolle verworren
wird und das Abwickeln Schwierigkeiten bereitet, wird es L. langweilig.
Sie sagt, sie sei müde. Weiterhin geht dann das Abwickeln wieder ohne
Schwierigkeit von statten. Die Mutter zeigt ihr auch, wie sie beim Ab-
Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. 125
an
wickeln mit den Armen wiegen könne. Da verliert L. die Langeweile;
die Müdigkeit ist vergessen, und als das Abwickeln der Wolle beendet
ist, bittet sie so lange, bis die Mutter eine neue Wolllage zum Abwickeln
vornimmt.
Erwin ist unruhig. Um ihn zu beruhigen, verspricht ihm L. alle
-Lieder, die sie kann, vorzusingen. Sie zählt sie auf.
2 Monate: Apperzeptionen. L. hat von den roten Hosen der
Franzosen gehört. In dem Hintergebäude auf unserm Grundstücke wohnt
eine Frau Zudse. Da sagt L.: »Frau Zosen hat rote Hosen.« Sie hört
das Weihnachtslied: Am Weihnachtsbaum die Lichter trennen. Wie glänzt
er festlich, lieb und mild!« Sie sagt: »Wie glänzt der Pfennig lieb und
mild!«
Sie sieht auf einem Bilde Hopfenstangen und nennt sie Bäume.
Sie sieht die beiden Bilder: Märchen und Lied von Bodenhausen
und sagt: »Dieses Fräulein und dieses ziehen sich an.«
Wissenstrieb. Sie fragt mich: »Papa, macht der liebe Gott noch
Sterne?«
Psychischer Begriff. Die Mama ist verreist. Da sagt L. zu
mir: »Wenn die Mama nicht wiederkommt, das ist Sünde.« Sie legt sich
Sünde als etwas aus, das man nicht tun dürfe.
31/, Monate: L. lälst jetzt das »Du« aus den Sätzen oft weg, z. B.:
»Dann kommst mit.« »Gibst mir das?«
4 Monate: Lucie hofmeistert an ihren Spielgenossen viel herum,
namentlich auch bei Sprech- und Sprachfchlern, die sie als solche kennt.
Sie sagt z. B.: »Es heifst nicht: schont; es heifst: schon.«e — Sie gibt
Kindern etwas, und als der Dank ausbleibt, fordert sie sich ihn ener-
gisch ein.
Fehlerhafte Apperzeption. Ich singe ihr das Lied: » Winter
ade!« vor. Sie wiederholt: Winter a, b, c.
Vorstellung der Gefahr und des Verlustes. Phantasiertes
Schmerzge[lühl. Ich hatte mit meiner Frau einen Spaziergang über
die zugefrorene Weichsel verabredet. L. kommt in mein Arbeitszimmer,
weint und sagt: »Mama soll nicht mit auf die Weichsel gehen!« Ich
frage: »Warum?« Antwort: »Dann ist sie bald tot, und dann hab’ ich
keine Mama.« Ich suche L. zu belehren: »Die Weichsel ist jetzt zu-
gefroren, und man kann jetzt so darüber gehen wie hier in der Stube.
Es gehen da viele Leute.« L. scheint aber wenig überzeugt zu sein, da
sie den Strom noch nicht zugefroren geschen hat, und bittet fortwährend:
»Bitte, Papa, die Mama soll nicht hinüber gehen!« Ich entscheide: »Wenn
sie nicht will, dann braucht sie nicht.« Da ruft L. voller Frende: »Ja,
ja, ich werde es der Mama sagen.« Als sie dieses tut nnd die Mama
lacht, sagt L. ärgerlich: »Aber lach’ doch nicht so viel!«
Reproduktion. Abgewöhnung durch Einsicht. Wenn L. in
mein Arbeitszimmer kommt, klopft sie vorher an und ruft dabei selbst:
‚„Herein!« Ich mache sie darauf aufmerksam, dafs und weshalb ich das
tun müsse. Hinfort macht sie den Fehler nur noch selten, bald gar
nicht ınehr.
126 B. Mitteilungen.
Unbedingter Gehorsam, der sogar die Sinneslust besiegt. — Es
sind Gäste bei uns. L. ilst Marzipan und bittet mich um noch ein Stück.
Ich verweigere es, weil sie genug gegessen hat. Da sagt sie nichts mehr.
Später bietet ihr einer der Gäste ein Stück Marzipan an. Sie nimmt es
aber nicht. Der Gast will es ihr in den Mund stecken. Da hält sie
den Mund zu und wehrt sich nach Kräften. Ich sage kein Wort dazu.
Nach längerer Zeit erlaube ich ihr, noch ein kleines Stück zu essen. Sie
nimmt es nun mit freudestrahlendem Gesichte und läfst es sich wohl
schmecken.
Apperzeption erzeugt Interesse. Von allen Bildern gefallen
ihr die bunten zu den Märchen: Dornröschen, Rotkäppchen, Hänsel und
Gretel, Schneewittchen am besten. — Eins der grolsen Stralsburger An-
schauungsbilder steht in meinem Arbeitszimmer zugerollt. L. lälst es
sich etwa vierzehn Tage lang täglich auf den Fulsboden legen und besieht
es sich genau. Am besten gefällt ihr darauf die Puppe. Solche Bilder,
die sie nicht versteht, überblättert sie im Buche nach flüchtigem Ansehen.
Sie schwatzt jetzt ungemein viel.
5 Monate: Lebhalte Phantasietätigkeit. L. spricht viel zu
lingierten Personen. Wenn ich sage: »Da ist ja niemand!« dann antwortet
sie lebhaft: »Ja, da sitzt er.«
Religiöses und spekulatives Interesse L. redet viel vom
lieben Gott. Sie stellt sich in die Zimmerecke und sagt: »Ich bin der
liebe Gott.« Sie schüttelt an der Gardine und meint: »Der liebe Gott
lälst regnen.«
Teilnahme. Vorsatz. L. hat schon gefrühstückt, ich dagegen
noch nicht. Sie fragt mich: »Warum trinkst du keinen Kaffee?« Ich
antworte scherzend: »Die Mama gibt mir ja keinen.« Da bittet L. diese
gar schr, sie möge mir doch auch Kaffee geben. Die Mama stellt sich
so an, als wolle sie es nicht tun. Da tröstet mich L.: »Wenn ich grofs
bin, dann koch’ ich dir Kaffee !«
6 Monate: L. hört, dals die Kinder (bei der Konfirmation) eingesegnet
werden. Sie fragt: »Wo werden sie eingesegnet? Hier? Hier?« Sie
zeigt dabei auf verschicdene Körperteile. Später fragte sie: »Wird der
Pastor auch eingesegnet?«
Warum soll ich gröfser wachsen? Weil ich in der Schule und in
die Kirche gehen soll?
Sie spielt andauernd gern mit Münzen, legt damit einen Kreis, eine
Stralse, kauft und verkauft damit.
9 Monate: Vorstellung vom Titel. Die Mama sagt ihr, der Papa
sei jetzt Rektor geworden. Da antwortet sie: »Ich werde doch immer
zu ihm ‚Papa‘ sagen.«
Statt wozu sagt sic! zuwo?
5. Lebensjahr.
4 Jahre: Falsche Wortfolge. Bei ihrem Abendgebete sagt sie
fast jedesmal statt:
» Hab’ ich Unrecht heut‘ getan« ... »Unrecht hab’ ich heut’ getan«...
Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. 127
Sie kann einiges rechnen, ohne dals es mit ihr geübt worden wäre:
1+1,2+1,3-+1;2—1, 3— 1,4 — 1, dagegen kann sie nicht
4 — 2,4 —3.
1 Monat: Zuneigung. Gegen ihr zweijähriges Brüderchen ist sie
überaus zärtlich, meistert aber germ an ihm herum.
Freude am Zerstörer. Spekulieren: Erwin spielt mit dem
Baukasten. L. möchte gern das von ihm Aufgebaute umwerfen; er
will es aber nicht leiden. Da sagt sie: »Sieh doch einmal zum Papa
hin, aber lange!« Augenscheinlich hat sie die Absicht, in dieser Zeit
ihr Zerstörungswerk auszuführen.
2 Monate: Notapperzeption. Sie kommt wieder auf die Ein-
segnung zurück (vergl. 4. Lebensjahr, 6. Monat; vergl. auch Grabs,
Psychologische Beobachtungen, Jahrbuch des Vereins für wissenschaftliche
Pädagogik). Sie fragt: »Mama, was ist einsegnen? Macht der Pastor
dann so?« (Sie sägt dabei anscheinend ihren Körper ein.)
Zunahme der Kenntnisse und Fertigkeiten: Sie hat an ihrer
kleinen russischen Rechenmaschine, die ihr von der Grolsmutter geschenkt
worden ist‘, bis 8 zuzählen und abziehen gelernt. — Sie singt Töne der
mittleren Lage, die ihr vorgesungen werden, richtig nach. Hohe Töne
dagegen singt sie falsch.
5 Monate: Aufmerksamkeit. - Sie hört sehr lange gespannt zu,
wenn Kinder biblische Geschichten erzählen. Doch kommt sie von selbst
nicht darauf zurück, stellt auch keine darauf bezüglichen Fragen. Sie
sieht auch lange genau zu, als einige Knaben in meiner Wohnung Schach
spielen.
Interesse erheischt Wiederholung. Sie sieht immer wieder
dieselben Bilder an, hört immer wieder dieselben Märchen gern erzählen:
Frau Holle; Rotkäppchen; Schneewittchen; Strohhalm, Kohle und Bohne.
Kinder wiederholen gern sonderbar klingende Worte.
Es macht L. Vergnügen, schwierige Wörter, die ihr vorgesprochen
werden, nachzusprechen. Sie macht es auch ohne viele Übung richtig:
Horribilikribrifax von Donnerkeil auf Wusthausen. — Das Zungenspitzen-
R kann sie noch nicht richtig aussprechen.
Sie kommt zu mir mit der Bitte, mit »Onkel« Fuchs (einem Kollegen
von mir) Hochzeit machen zu dürfen. Sie bittet mich um Geld, damit
sie eine Torte bestellen könne.
Vorsatz durch Sinneslust besiegt: Es wird ihr erzählt, dals
man vom Essen vieler Bonbons Zahnschmerzen bekomme. Da nimmt sie
sich vor, keine mehr zu essen. Vorsichtigerweise fragt sie mich aber, ob
man sie lutschen dürfe. Ihren Vorsatz hält sie dann nicht.
Erinnerung. Reproduktion nach langer Zeit. Sie spricht
plötzlich von Personen und Ereignissen, von denen sie ein bis zwei Jahre
geschwiegen hat.
Reproduktion wird verhindert, wenn Vorstellung und
Wahrnehmung nicht übereinstimmen. In meinem Arbeitszimmer
hängen die Bilder des Kaisers und der Kaiserin. L. kennt sie ganz genau.
Zu einer patriotischen Schulfeier wird das Bild der Kaiserin in die Schule
128 B. Mitteilungen.
genommen und bekränzt. L. sieht es, erkennt es aber nicht, weils nicht,
wen ces darstellt. — Als sie von der Schulfeier nach Hause kommt,
wiederholt sie fortwährend das dort gehörte Lied: »Deutschland, Deutsch-
land über alles« (nur diese Zeile).
Kein andauerndes Gefühl. Von dem Dienstmädchen ist sie fast
unzertrennlich.. Als dasselbe aber den Dienst verläfst und ein neues
Mädchen eintritt, spricht sie nicht mehr viel von dem ersteren.
Ideenflucht. Vorstellungen und Wünsche wechseln schnell.
Innerhalb 35 Minuten bringt sie eine ganze Zahl von Wünschen vor, die
aber samt und sonders nicht befriedigt werden. Zuerst möchte sie
hinausgehen. Ich sage, es sei zu kalt. Dann möchte sie Geld haben,
um Wurmkuchen zu kaufen. Als auch dies abgelehnt ‘wird, bittet
sie mich: »Ich möchte so gern Holzpantoffel tragen«, wie sie solche
bei andern Kindern gesehen hat. Ich antworte, ich hätte gerade
genug von dem in der Schule verursachten Holzpantoffel-Geklapper. Da
verspricht sie, wenn sie in die Schule gehen werde, dann wolle sie die
Pantoffel ausziehen. Endlich bittet sie mich, ihr einen Stuhlschlitten za
kaufen.
Erwartung. Sie spricht täglich, ja zuweilen ohne Unterlals davon,
wie schön es sein werde, wenn sie in die Schule gehen werde.
6 Monate: Notapperzeption. - Sie hat einmal das Lied gehört:
»Fünfmalhunderttausend Teufel
Kamen einstmals in die Welt;
Aber ach, die armen Teufel
llatten keinen Heller Geld.«
Da bittet sie später: »Sing’ doch einmal das Lied vom »hellen Geld!«
8 Monate: Spekulatives Interesse (an der Funktion der Organe).
Sie fragt die Mama: »Wo geht das alles hinein, was ich esse?« Ant-
wort: »In den Magen.« L.: »Ich dachte schon, in das Herz.«
Psychischer Begriff (der König kann etwas besser als andere):
Wer von den Kindern zuerst den Teller leergegessen hat, prahlt sehr
oft, eine Zeitlang regelmälsig, dem andern gegenüber: »Ich bin König«
(zuweilen auch Kaiser). Dann sagt das andere sicher: »Ja, König von
Kabot.« (Kabot ist ein Dorf, eine Art Schilda in der Nähe von Schulitz.)
Darauf entgegnet das erste dann wieder: »König von Berlin.«
Ich sage zu ihr: »Deine Haare auf der Stirn sind schon viel zu
lang.« L. antwortet: »Dann kaufe ich mir eine Haarspanne.« Ich: »Es
heifst: Spange« Dieser Ausdruck kommt ihr sonderbar vor. Sie meint:
»Das hört sich fast wie ‚Bonbon‘ an.«
Unteibrechung des Denkens erzeugt Unlinstgefühl. Sie
vermag nicht weiter zu sprechen, wenn man in ihre Rede hinein ein
Lied singt. Sie versucht mehrmals vergeblich weiterzusprechen und weint
schlielslich ärgerlich.
9 Monate: Die Sinne lenken die Gedanken ab. Sie betet vor
dem Zubettgchen ihr Abendgebet: »Müde bin ich« ... Die letzten Worte
der Strophe spricht sie sehneller, und gleich im Anschlusse daran fragt
sic: »Papa, warum hast du einen Schnurrbart?« Ich stellte die Gegen-
Über die Verwertung der Gehörreste bei Taubstummen. 129
frage: »Warum hast du keinen %« Antwort: »Weil mir keiner gewachsen
ist.« Ich: »Und ich habe einen, weil mir einer gewachsen ist.«
Ähnliches reproduziert sich. Gleich darauf sieht sie einen
Band von Shakespeares Werken und fragt (einige Tage später auch ihr
Brüderchen im Alter von 2?/, Jahren): »Papa, ist das ein Kochbuch ?«
Beide Bücher haben dasselbe Format und dieselbe Farbe.
Lucie bekommt eine Ahnung vom Geldverdienen. Sie hat
im Garten des Hausbesitzers beim Heuharken geholfen. Fräulein B. sagt
ihr, sie müsse Bezahlung dafür erhalten. Lucie läuft nun schnell zur
Mama und erzählt es ihr. Diese sagt im Scherz: »Wenn du nicht einen
Taler bekommst, dann nimm gar nichts!« L. eilt wieder in den
Garten und bestellt es dem Fräulein. Dieses gibt ihr im Scherz einen
Taler. Lucie glaubt aber, denselben redlich verdient zu haben, zeigt ihn
überall herum und erzählt, wofür sie ihn bekommen habe. Als sie ihn
abgeben soll, ist sie traurig und sagt: »Dann kann ich mir ja nicht kaufen,
was ich brauche!« Schlielslich gibt sie sich aber gern zufrieden, als sie
an Stelle des Talers ein Stück Kuchen erhält.
11 Monate: L. hat den sehnlichen Wunsch, dem sic oft Ausdruck
gibt, sich als Kindermädchen bei ihrer 1'/,jährigen Cousine Erika zu
vermieten.
Es wird ihr, mehr im Spiele als im Ernste, einigemal je ein Buch-
stabe vorgeschrieben. Sie schreibt ohne besondere Mühe nach: e, i, ei.
Einmal schreibt sie das i von rechts nach links. Sie findet diese Buch-
staben auch in der Fibel anf.
Vorstellungen reproduzieren einander in derselben Reihen-
folge, wie sie entstanden sind. Zwei ihr verwandte Schwestern,
Emma und Sophie, nennt sie fast nie einzeln, sondern fast immer zu-
sammen und zwar in der angegebenen Reihenfolge. (Schlufs folgt.)
2. Über die Verwertung der Gehörreste bei Taub-
stummen.
Von Rud. Brohmer, Taubstummenlehrer, Weilsenfels a./S.
Wenn wir an die Insassen einer Taubstummenanstalt denken, so
dürfen wir durchaus nicht annehmen, dafs die gesamte Zahl derselben
vollständig taub sei. Durchaus nicht! Manche von ihnen sind nur in
solchem Grade taub, dafs es ihnen unmöglich war, die Sprache auf dem
gewöhnlichen Wege zu erlernen. Diese Tatsache hat man schon längst
erkannt und die Taubstuminen nach dem Grade ihrer restlichen Hörfähig-
keit in verschiedene Gruppen geordnet.
So unterscheidet der französische Arzt Itard in seinem Werke »Die
Krankheiten des Ohres und des Gehöres«, das im Jahre 1822 erschien,
folgende Grade der Taubheit:
1. Hören der Rede mit Modulationen, ausdrückend Verwunderung,
Schmerz, Mitleid, Freude cte. und rechnet, dals etwa der 40. Teil (2,5 0/9)
aller Taubstummen dieser Gruppe angehören.
Die Kinderfehler. VII. Jahrgang. 9
e
130 B. Mitteilungen.
2. Hören der Stimme. Darunter versteht er hauptsächlich die
Perzeption der Vokale und weniger Konsonanten. Er gibt an, dafs etwa
der 30. Teil (3,3°/) der Taubstummen in diesem Grade mit Gehör be-
gabt sind.
3. Hören der Töne. Dabei versteht er die Perzeption der mit be-
sonderer Stärke und Dauer hervorgebrachten Vokale Dieser Gruppe teilt
er ungefähr den 24. Teil der Taubstummen zu (4,2 0/9).
4. Hören des Lärmes, Donners, Gewehrfeuers, Pochens. Die Zahl
solcher Taubstummen schätzt er auf ?/, aller Taubstummen (40 °/,).
5. Vollkommene Taubneit. Diese Gruppe umfafst etwas mehr
als die llälfte aller Taubstummen (50%).
Schmalz falst die drei ersten Grade, wie sie Itard angegeben, zu-
sammen und nimmt drei Grade der Taubheit an: 1. Hören der Stimme
(10°). 2. Hören des Lärmes (50°). 3. Gänzliche Taubheit (40°/,).
Hartmann, ein Berliner Öhrenarzt, unterscheidet: 1. Vollständige
Taubheit. 2. Schailgehör. 3. Vokalgebör. 4. Wortgehör.
Gemeinhin hat man in Taubstummenlehrerkreisen schon seit langer
Zeit von eigentlichen (völlig tauben) und uneigentlichen (mit Gehörresten
begabten) Taubstummen gesprochen.
Was die Klassifikation der Taubstummen durch die erwähnten Ärzte
angeht, so mufs man ihr nach dem heutigen Stande der Wissenschaft
Ungenauigkeit nachreden, die aber darin begründet ist, dals jenen Männern
die rechte wissenschaftliche Grundlage, sowie auch die rechten Mittel bei
ihren Untersuchungen fehlten. Ferner ermangeln die obigen Einteilungen
der Allgemeingültigkeit, weil immer nur eine beschränkte Zahl Taub-
stummer denjenigen Untersuchungen unterlag, von welchen sie abgeleitet
wurden.
In unsern Tagen ist nicht nur cine genügende wissenschaftliche
Grundlage vorhanden, sondern man verfügt auch über die zu Untersuchungen
der Gehörsorgane nötigen Hilfsmittel.
Das Verdienst, uns das eigentliche Gehörsorgan kennen gelehrt zu
haben, gebührt bekanntlich dem berühmten Forscher Hermann von
Helmholtz. Er hat durch exakte Forschung gezeigt, dals das eigent-
liche Organ des Hörens, die Endausbreitungen des Gehörnerven, im
Schneckengange zu finden sind. Anfänglich sah er die sogen. Cortischen
Fasern als das eigentliche Gehörsorgan an. Der Umstand aber, dafs bei
Vögeln und Amphibien diese Gebilde fehlen, machte seine Annahme hin-
fällig. Nunmehr schrieb er den Fasern der Grundmembran diese Funktion
zu. Die Grundmembran bildet nach der Paukentreppe der Schnecke hin
den Abschluls für den Schneckengang und ist eine aus starken Querfasern,
die nur lose verbunden sind, bestehende Haut, die nach ihrem Ende zu
immer breiter wird und zuletzt die zwölffache Breite hat als zu Anfang.
Die einzelnen Fasern dieser Membran werden durch entsprechende
Schwingungen, die von akustischen Erscheinungen aufserhalb des Ohres
herrühren und die durch Trommelfell, Gehörknöchelchen, ovales Fensterchen
dem Hörwasser im Innern der Schnecke zugeleitet werden, in Erregung,
in Schwingungen versetzt. Die Fasern der Grundmembran sind also ein
Über die Verwertung der Gehörreste bei Taubstummen. 131
Apparat zum Mitschwingen, ja Mittönen, und wir können sie getrost mit
den Saiten eines Klaviers vergleichen, von denen auch die entsprechende
Saite mittönt, wenn wir einen bestimmten Ton z. B. hinein singen. Und
um den Vergleich weiter zu spinnen, sei erwähnt, dals man die Cortischen
Fasern als Dämpfer ansieht, welche ein Nachschwingen verhindern. —
Wenn man sich nun vergegenwärtigt, dafs die Fasern am Grunde der
Schnecke am kürzesten und am Gipfel derselben am längsten sind. so ge-
langt man — nach der Analogie der in der Akustik vorkommenden Er-
scheinungen — zu der Annahme, dals hohe Töne am Grunde der Schnecke,
dagegen tiefe Töne am Gipfel derselben Erregung verursachen. Eben
dieses hat auch die Wissenschaft durch Sektionen und notwendigerweise
denselben vorangegangene Beobachtungen als zutreffend erwiesen und
gleichzeitig dadurch eine Stütze für die Helmholtzsche Theorie geboten.
Wenn nun ein menschliches Hörorgan eine unverietzte Grundmembran
besitzt — und natürlich auch der Nerven-Apparat normal ist —, so ist
es im stande, die gesamte kontinuierliche Tonreihe, zu deren Perzeption das
menschliche Organ überhaupt fähig ist, zu vernehmen. Ist der Gipfel
der Grundmembran durch Eiterungen zerstört, so können tiefe Töne nicht
perzipiert werden; ist der Anfang der Grundimembran nicht mehr vor-
handen, so werden hohe Töne nicht mehr wahrgenommen. Es ist über-
haupt klar, dafs gewisse Töne nnd Tonreihen nur dann perzipiert werden,
wenn die entsprechenden Stellen bei völligem Intaktsein der übrigen Teile
der akustischen Nervenleitung erhalten geblieben sind. Die Frage, ob
nicht in erster Linie Defekte des Zuleitungsapparates (äufseres und mitt-
leres Ohr) den Verlust des Gehörs bedingen, ist von untergeordneter Be-
deutung. In den meisten dieser Fälle wird das Hören nur beeinträchtigt,
aber nicht vollständig gehemmt. Die Fälle, bei denen der Zuleitungs-
apparat derart zerstört ist, dals trotz des Intaktseins der Schnecke und
abgesehen von der Zuleitung der Schallschwingungen durch die Knochen
des Kopfes absolut nichts gehört wird, sind äulserst vereinzelt. —
Eingangs wurde gesagt, dafs früher die Mittel gefehlt haben, deren
man zu gründlicher Untersuchung von Gehörsorganen benötigt ist. Jetzt
besitzt man sie. Professor Bezold-München hat eine kontinuierliche
Tonreihe hergestellt, die derjenigen entspricht, welche das normale mensch-
liche Ohr zu perzipieren überhaupt im stande ist. Er bedient sich mehrerer
Stimmgabeln mit Laufgewichten, zweier kleinen Orgelpfeifen und des
sogenannten Galtonpfeifchens. Das Instrumentarium setzt sich in folgender
Weise zusammen:
Für die Strecke C, — a? sind Stimmgabeln vorhanden; jede der-
selben dient zur Erzeugung von Tönen im Bereiche von einer Quinte bis
Sexte.
Die Tonreihe von a? bis zur unteren Grenze des Galtonpfeifchens
wird mittels zweier gedackten Orgelpfeifen von verschiedener Grölse und
mit verschiebbarem Stempel erzeugt.
Zur Hervorbringung der übrigen Töne — im ganzen kann eine Ton-
reihe von 11 Oktaven zur Darstellung gebracht werden — wird das
Galtonpfeifehen benutzt.
N) *
132 B. Mitteilungen.
Diese Vorrichtung ermöglicht es dem Öhrenarzte, die einzelnen Ge-
hörsorgane auf ihre Hörfähigkeit hin gründlich zu untersuchen.
Solche Untersuchungen sind an Taubstummen zuerst von Bezold im
Jahre 1893, in jüngerer Zeit auch noch von anderen Ötologen vor-
genommen worden.
Professor Bezold untersuchte 79 Kinder der Münchener Taubstummen-
Anstalt oder 158 Gehörsorgane. Von diesen waren
1. unbestimmbar . . 2.2. 2 Organe = 1,30),
2. total taub . 20202020. 48 n = 30,4
3. mit Gehörresten behaftet . . 108 „ = 68,4”
Bei den unter 3 angeführten Organen waren natürlich die Reste sehr
verschieden. Bezold bildete hierbei 6 Gruppen.
1. Er fand Organe, welche mehrere vereinzelt liegende Stellen der
Skala perzipierten. Bei diesen Organen waren also einige Stellen der
Grundmembran erhalten geblicben. Diese Stellen nennt er Inseln, Hör-
inseln, die er in folgender Weise darstellt.
2, Es gab Organe, die vom Anfang der Skala an perzipierten, dann
aber mehrere Töne nicht vernahmen; hierauf wurde wieder ein Teil der
Skala gehört, darnach wieder ein Stück ausgelassen. Es fanden sich
Lücken, Hörlücken vor. Darstellung:
|
ENS —— |
3. An gewissen Organen war nur ein Defekt am oberen Ende der
Skala.
=]
4. An andern Oiganen zeigte sich ein Defekt sowohl am oberen, als
auch am unteren Ende der Skala.
=A |
5. Andere Organe zeigten einen Defekt am unteren Ende der Skala
und zwar
a) über 4 Oktaven hinaus,
b) unter 4 Oktaven.
Auf diese Weise ist es möglich, ein getreues Abbild von der rest-
lichen Hörfähigkeit der Gehörsorgane taubstummer Kinder zu erlangen.
Die Ergebnisse dieser genauen Prüfungen haben nun nicht nur für
den Ohrenarzt, sondern auch besonders für denjenigen weittragendes
Interesse, der die restliche Hörfähigkeit zur Perzeption unserer Lautsprache
verwenden will. Um recht zu erkennen, wie die Gehörreste in beregter
Hinsicht benutzt werden können, müssen wir noch einmal auf Ergebnissen
der Forschung des genialen Helmholtz fufsen.
Wir wissen, dafs ein Gebiet seiner Forschung die Zerlegung von
Klängen in ihre Teiltöne war und dafs er sich bei jener Zerlegung der
von ihm erfundenen Resonatoren bediente, von denen jeder einzelne auf
einen ganz bestimmten Ton abgestimmt war. — Unsere Vokale sind eben-
falls Klänge, die er ın den Bereich seiner Untersuchungen zog, deren Teil-
töne er ermittelte. Den Eigenton der einzelnen Vokale, d. i. den eigent-
lich charakteristischen Ton setzte er in folgender Weise fest:
Über die Verwertung der Gehörreste bei Taubstummen. 133
Dez m mm
|
u (0) a | e Ä 1l |
f b! b? bft | di&f
|
Von den Konsonanten hat man gleicherweise die Eigentöne fest-
gestellt. Zwar sind die Angaben der einzelnen Forscher schwankend, doch
darf uns das bei vorliegendem Gegenstande nicht beirren.
Die Wissenschaft sagt nun, dafs ein Ohr einen gewissen Laut perzi-
pieren muls, wenn es den Eigenton des betreffenden Lantes perzipiert.
Ferner hat die Wissenschaft festgestellt, dals zur Perzeption der Sprache
im äufsersten Falle nur die Peızeption der Stelle in der Skala vom bt
bis inkl. g? nötig ist.
Stellt nun die ohrenärztliche Untersuchung fest, dafs jene Stelle der
Skala perzipiert wird, so erweist sich vorderhand das betr. Individuum
zum Hören der Sprache, zur Vornahme von systematischen Hörübungen
als geeignet.
Man könnte fragen: Wozu ist denn diese umständliche Untersuchung
nötig? und sagen: Man spreche doch einfach ins Ohr der Kinder, so wird
man durch den Erfolg schon erkennen, wie grols die Gehörreste sind.
Gewifs ist es angängig, von einer Untersuchung mittels der kontinuierlichen
Tonreihe abzusehen und blind darauf los zu experimentieren, indem man
durch längere Versuche und Übungen, bei denen man sich der Lautsprache
bedient, schlielslich fesstellen kann, was die betreffenden mit Gehörresten
behafteten Taubstummen noch hören und was sie nicht vernehmen. Diese
Art wäre aber doch der andern gegenüber, welcher die ohrenärztliche
Untersuchung vorangeht, entschieden als ein Umweg zu bezeichnen, auf
dem man sich unnützer Mühen unterzicht und später zum Ziele kommt.
Noch näher als jene Frage liegt diese: Warum hat denn jedes taub-
stumme Kind, welches die zum Hören der Sprache notwendigen Gehör-
reste besitzt, nicht wenigstens annähernd wie normale Kinder in der
Familie die Lautsprache erlernt? Das kommt daher, dafs sein Gehör eben
nicht normal war und dafs die Umgebung des Kindes diesem Umstande
nicht Rechnung getragen hat und auch nicht tragen konnte, nachdem sie
den Mangel des Gehörs nach ihrem Laienurteil erkannt hatte. Zudem
war durch die Zerstörung des eigentlichen Gehörsorganes durch Ver-
kalkungen etc. auch die Empfindlichkeit desselben beeinträchtigt worden,
so dals die Sprache der Umgebung, wenn sie überhaupt sein Ohr traf ın
der Seele des Kindes nicht derart klare Lautbilder schuf, dafs sich ein
sensorisches, viel weniger ein motorisches Lautbildzentrum hätte bilden
können. So konnnte das betreffende Kind also die Lautsprache nicht erlernen.
Es wäre auch ein grofser Irrtum, wollte man annehmen, dafs mit
den nötigen Gehörresten begabte Taubstumme sogleich unsere Sprache
verstehen und reden könnten, wenn man ihrem Gebrechen nur insofern
Rechnung trägt, dafs man mit krältigerer Stimme und in grölserer Nähe
des Ohres als gewöhnlich zu ihnen spricht. Solch einem Taubstummen
154 B. Mitteilungen.
ergeht es etwa wie es Kaspar Hauser erging, der — aus der Dunkel-
heit, in welcher er von Lebensanfang gewesen war, hervorgezogen und
ans Licht gebracht — eine schöne blumige Wiese als buntbekleckste
Fläche bezeichnete Wie dieser nicht die optischen Eindrücke analysieren
konnte, so gelingt auch jenem Taubstummen die Analyse der akustischen
Eindrücke nicht. Das Ohr ist in diesem Falle gar nicht perzeptionsbereit,
wenngleich es schon als perzeptionsfähig bezeichnet werden konnte. Der
Betreffende muls es erst lernen, seine Aufmerksamkeit anf die akustischen
Eindrücke zu richten, da ihm dieses Sinnesorgan bisher gar nicht oder
doch nur in sehr geringem Mafse dienstbar war. Er kann auch — un-
geübt — gar nicht angeben, welchen Laut, welche Silbe, welches Wort
er gehört hat: hat sich doch bei ihm noch nicht einmal ein akustisches Sen-
sorium gebildet. Ein akustisches Motorium hat sich gleichfalls noch nicht
gebildet, und noch ferner liegt die Möglichkeit, dafs sich mit den emp-
fangenen akustischen Eindrücken ein Sinn, ein Begriff verbinde, da die’
Nervenbalınen zum Direktorium hin noch nicht wegbar gemacht worden
sind. Hierin liegt die Notwendigkeit begründet für die Vornahme von
systematischen Hörübungen. Der Zweck derselben ist eben, jene Laut-,
Silben- und Wortbildzentren zu bilden, nicht nur die sensorischen, sondern
auch die motorischen, kurzum die akustische Nervenbahn gangbar zu
machen. — Bei diesem Beginnen steht uns zum Glück eine Hilfe bereit.
Durch den Taubstummen-Sprachunterricht, der sich bekanntlich auf das
Gesicht (und auf das Gefühl) gründet, sind schon Laut-, Silben- und
Wortbildzentren, natürlich innerhalb der optischen Nervenbahn gebildet
worden. Mit denselben müssen die innerhalb der akustischen Nervenbahn
neu zu bildenden Zentren durch Wegbarmachen der sie verbindenden
Nervenbahnen verknüpft werden. Das geschieht dadurch, dals man an-
fänglich die auf optischem Wege erlangten Vorstellungen durch Vorsprechen
seitens des Lehrers und Absehen seitens des Kindes ins Bewulstsein ruft
und nun die akustischen zum Bewulstsein bringt.
Auf Grund der Errungenschaften der medizinischen und physikalischen
Wissenschaften und auf Grund physiologisch- psychologischer Erwägungen
hat man nun besonders in deutschen Taubstummen- Anstalten Versuche
gemacht, noch vorhandene Gehörreste der Schüler zu verwerten. Dies
geschah teils nach vorangegangener ohrenärztlicher Untersuchung mittels
der kontinuierlichen Tonreilie, teils ohne diese Grundlage. Was die Theorie
aufgestellt hat, das haben die praktischen Versuche voll und ganz bestätigt.
Aus eigener Erfahrung kann ich bezeugen, dafs entsprechende Übungen,
vorgenommen mit solchen Kindern, welche mutmafslich noch (iehörreste
besalsen, je nach dem Grade jener Reste Resultate gezeitigt haben, welche
den Voraussetzungen, die man auf Grund der Theorie hegte, voll und ganz
entsprachen.
Ein Knabe A, welcher einzelne ihm bekannte Worte hörte, ist durch
die Übungen dahin gebracht worden, dals er sämtliche Laute (Vokale und
und Konsonanten) unserer Sprache hört und die Sprache soweit durchs
Ohr vernimmt, dafs man mit ihm ohne viele Stockungen ein Unterrichts-
gespräch führen kann und zwar in einer Entfernung des sprechenden
Über die Verwertung der Gehörreste bei Taubstummen. 135
t
Mundes vom Ohr von !/, bis 1, m. Nur selten braucht ihm ein Wort
silbenweise, noch seltener lautweise zu Gehör gebracht zu werden. —
Ein Mädchen B hatte Vokalgehör und wurde durch Übung dahin ge-
fördert, dafs es in seiner Hörfähigkeit dem eben erwähnten Knaben sa
nahe kommt, dafs es mit ihm gemeinsame Übung erfährt. — Zwei Knaben
C und D hörten bei Beginn der Übungen a und u; jetzt hören sie —
nahe am Ohr oder ins Hörrohr gesprochen — alle Vokale und die Kon-
sonanten p (b) t (d) k (g) schsfchjlr (m) z. — Sind nun Wörter aus
solchen Lauten gebildet, welche sie hören können, so werden diese von
den Kindern meistens ohne weiteres gehört; enthalten aber gewisse Wörter
Laute, welche die Kinder nicht wahrnehmen können, so kombinieren sie.
Das ist leicht, wenn die Wörter ihrem Sprachschatze angehören, schwer,
wenn sie ihnen völlig fremd sind; im letzeren Falle ist es ihnen zuweilen
unmöglich, das betreffende Wort zu verstehen. Ein fünftes Kind, ein
Knabe E, der bereits drei Jahre lang unterrichtet und für völlig taub ge-
halten worden war, wurde auf Veranlassung und Kosten seiner Eltern
vom Öhrenarzte untersucht und als ein solcher Taubstummer bezeichnet,
der mit Gehörresten begabt sei und infolgedessen mit Erfolg an Hör-
übungen teilnehmen könne, wenn auch seine Gehörreste gering seien.
In der Tat erwies sich bald die Behauptung des Otologen als wahr, uud
heute hört der Knabe alle Vokale und die Konsonanten I r sch k. In
Bezug auf das Hören von Wörtern steht er den beiden letzterwähnten
Knaben begreiflicherweise nach. Bemerkt sei noch, dafs die 4 zuerst be-
zeichneten Kinder alles von ihnen selbst Gesprochene hören, natürlich
durch das Hörrohr. — Diese 5 Hörschüler gehören einer Klasse an,
welche 10 Insassen besitzt. Um Irrtümer zu vermeiden, sei nach diesem
Bericht noch bemerkt, dafs in physischer Hinsicht das G>hör dieser Kinder
keine Erweiterung erfahren hat. Die Fähigkeit, das alles zu hören, be-
salsen sie schon, ehe jene Übungen angestellt wurden. Es ist nur die
Fertigkeit zu hören gesteigert worden. Zu den crlangten Resultaten hat
auch der übrige Unterricht zu einem grofsen Teile mit verholfen; macht
man doch überhaupt die Erfahrung, dafs die betreffenden taubstummen
Kinder nach Verlauf einiger Schuljahre auch ohne entsprechende Übungen
mehr hören als zu Anfang der Schulzeit, weil ja durch den Sprachunter-
richt ihnen ein Sprachschatz verschafft wird, der ihnen durch seine apper-
zipierende Kraft das Kombinieren wesentlich erleichtert. -—
Auf den ersten Blick erscheinen die gekennzeichneten Jrgebnisse
dieser Übungen als ein bedeutender Erfolg; man muls sie auch als solchen
bezeichnen, wenn man die Hörlähigkeit der Kinder vor und nach den
Übungen in Vergleich stellt. Wer dagegen seine Erwartungen hinsichtlich
der Erfolge jener Übungen zu hoch spannt und annimmt, Tanbstumme
sollten durch dieselben normal llörende werden und die Taubstummheit
könnte nunmehr gehoben werden, der befindet sich natürlich im Irrtume,
der findet sich natürlich auch in seinen Erwartungen getäuscht, wenn cr
die oben näher bezeichneten Erfolge betrachtet. Er wird vielleicht fragen:
Welchen praktischen Wert hat es denn, dafs Kinder in nur so geringer
Entfernung etwas durchs Ohr vernehmen? Ist es denn wirkliches Hören,
136 B. Mitteilungen.
wenn nur einige Laute gehört und die andern erraten werden? Stehen
die aufgewandten Mühen und Anstrengungen mit den Erfolgen in einem
Verhältnisse, welches die Vornahme solcher Übungen ratsam erscheinen
läfst ?
Beantworten wir diese Fragen in umgekehrter Folge!
Anstrengungen sind mit den Übungen verbunden; denn wenn anch
eine Stimme mittlerer Stärke genügt, so verlangt doch das Sprechen bei
den Übungen grölseren Kraftaufwand als das Sprechen im gewöhnlichen
Unterrichte. Jedoch sind die Anstrengungen nicht derart, dals sie einem
gesunden Körper schaden könnten. Dazu kommt, dafs auch die Stimmen
der Hörschüler verwandt werden. Wer ein Herz für die Unglücklichen
bat, wer ein Verständnis für den grolsen Wert solcher Übungen für Taub-
stummen hat, wer dazn — das soll nicht aufser acht gelassen werden
angemessener Entschädigung entgegensieht, der wird sich gern diesen
Bemühungen unterwerfen.
Wenn die mit teilweisen Gehör behafteten Taubstummen nur einige
Laute eines Wortes hören, die übrigen nicht vernehmen aber durch Kom-
bination zu cınem Verstehen des Wortes gelangen, so befinden sie sich
in ähnlichen Verhältnissen wie Normalhörende, die aus gröfserer Ent-
fernung etwas zu hören sich bemühen oder auch wje die Schwerbörigen.
Tun sie etwas anderes als hören?
Sollten diese auf die Funktion ihres Gehörs verzichten? Sollte es der
Taubstumme, dessen Gehör noch in gewissem Grade funktioniert? Gewils
nicht! Und darum hat der Taubstummen- Unterricht die Aufgabe, die Ge-
hörteste in gebührender Weise zu berücksichtigen. Wird man bei dem
Blinden-Unterrichte nicht auch vorhandene Reste von Selhkraft gern be-
nutzen, vorausgesetzt, dafs dadurch den Gesichtsorganen nicht grölserer
Schaden droht? Wird jemand auf den Gebrauch seiner verkrüppelten
Hand, wenn sie auch nur einen ganz geringen Fingerstumpf besälse, ohne
weiteres Verzicht leisten?
Der mit Gehörresten begabte Taubstumme steht wahrlich mit dem
Schwerhörigen auf einer Stufe; nur ist der letztere insofern glücklicher
daran, als er schon geübt ist, akustische Eindrücke zu deuten und als
ihm ein auf normalem Wege erlangter grölserer Sprachschatz eigen ist,
der ihm das Kombinieren bedeutend erleichtert.
Es ist die Aufgabe der Hörübungen oder, wie man sich in neuester
Zeit besser ausdrückt, des »Sprachergänzungsunterrichtes durchs Ohre,
den Taubstummen mehr und mehr in den Stand zu setzen, akustische
Eindrücke deuten zu können und dabei seinen durch die optische Bahn
erlangten Sprachschatz dienstbar zu machen. Die auf letzterem Wege er-
langte Sprache soll, soweit es möglich ist, auch durchs Ohr aufgenommen
werden. Die optischen und akustischen Wahrnehmungen sollen sich er-
gänzen. Beide — an sich nicht ganz vollkommen und deutlich —
gleichen zwei verwischten Urkunden über eine und dieselbe Sache, welche,
wie man hofft, sich ergänzen sollen. Letzteres ist natürlich um so mehr
möglich, je weniger die akustischen Wahrnehmungen lückenhaft sind, je
mehr der betreffende Taubstumme von der Sprache noch hört. —
Ethische Anschauungen japanischer Mädchen. 137
Wenn selbst der Sprachschatz des betreffenden Schülers nicht er-
weitert werden könnte, so würde er doch befestigt werden; denn es
würden eben seine Assoziationen vermehrt werden. Eine entschiedene
Erweiterung erfährt aber die Sprache derjenigen Schüler, welche zu den
»am besten hörenden Taubstummen« gezählt werden können; denn, da sie
in Bezug auf ihre Hörfähigkeit dem Normalhörenden am nächsten stehen,
nähert sich auch die Sprache nicht nur nach ihrem mechanischen, sondern
besonders auch nach ihrem geistigen Teile infolge der Übungen derjenigen
des Vollsinnigen. Mit solcnen Schülern kann man sich anf dem Gebiete
der Sprache viel freier bewegen und braucht man sich nicht nach der be-
schränkten »Taubstummensprache« zu richten. Im Sprachergänzungsunter-
` richte hört und lernt er viele Wörter und Wendungen, die ein Unterricht,
der durchs Auge vermittelt wird, seinen ganzen Wesen entsprechend,
unberücksichtigt lassen muls. Ist das nicht in praktischer Hinsicht
wertvoll?
Denken wir aber auch an Schüler, welche nur geringe Gehörreste
besitzen, welche nur die Vokale hören lernen. Auch dieser Erfolg ist
schon wertvoll, weil dann die Sprache volltönend, wonlklingend, natürlich
werden mufs. Das ist um so mehr der Fall, wenn ein Schüler, sei es
auch nur durchs Hörrohr, seine eignen Vokale hören lernt, weil dann
erst die sensorisch-motorische akustische Nervenbahn in ihm geschlossen
ist, und weil so das Ohr der Regulator für sein Sprechen sein kann, wie
es dem natürlichen Verhältnisse entspricht. Wer wollte auch hiernach
den praktischen Nutzen der Hörübungen in Zweifel ziehen?
Es sei noch bemerkt, dafs mit Gehörresten begabte Tanbstumme
durch Übung auch lernen auf andere akustische Erscheinungen als die
Lautsprache ihre Aufmerksamkeit zu richten und sie zu vernehmen. Als
Beispiel sei angeführt, dafs ein Knabe zu Beginn der Übungen das Länten
der Schulglocke nicht vernahm, es aber nach 4 Wochen 5 m weit hörte.
Die geschilderte Art der Verwertung der Gehörreste bei Taubstummen
wird in den Taubstummen - Anstalten immer mehr Platz greifen. Schon
fragt man sich in beteiligten Kreisen: Soll man für solch »hörende Taub-
stumme« besondere Klassen in den jetzigen Anstalten oder besondere An-
stalten errichten? — Jedenfalls haben wir es mit einer ganz natürlichen
Ergänzung des Taubstummen-Unterrichtes zu tun, welche jenen Unglück-
lichen nur zum Segen gereichen und der bisher geübten Methode nur
dienen kann.
3. Ethische Anschauungen japanischer Mädchen.')
Interessante Untersuchungen aus Osaka (den japanischen »Times« entnommen).
Herr Shimizutani, der Leiter der höheren Märdchenschule zu
Osaka, hat interessante Zusammenstellungen gemacht über die ethischen
Anschauungen 12— 16 jähriger Schulmädchen. Es wurden eine Reihe von
1) Aus dem »Open Court« (Chicago) übersetzt von Anna Bock in Altenburg.
138 B. Mitteilungen.
Fragen — im ganzen elf — aufgestellt, welche die Mädchen zu beant-
worten hatten und die etwa folgende Punkte betrafen: 1. die weiblichste
Tugend und ihr Gegenteil, 2. das gröfste Verdienst der Frau und das
Gegenteil, 3. die glücklichste und die unglücklichste Lage für eine Frau,
4. ie für die Frau lobenswerteste nnd tadelnswerteste Tat u. dergl. mehr.
Auf die Erage, worin die weiblichste Tugend besteht, gaben die
Mädchen des ersten Jahres und die des vierten, d. h. der abgehenden
Klasse, folgende, in Prozenten angegebene Antworten:
1. Jahr 4: Fahr Durchschnitt
von 4 Klassen
Keuschheit . . 2.2.2.0... .[180 63,8 36,5
Lebensart 20 R2 16,7 21,0
Gehorsam . . Be He ia RE 1,6 17,0
W itschaftlichlkeit: gon e e o a 4,5 13,0
Güte. . . Fu 1,6 1,4 2,9
Verschiedenes ie inbekannt Fe 9,4 6,0 9,6
Als unweiblichste Tugenden wurden die nachstehenden bezeichnet:
í; Ihr 4. Jahr Durchschnitt
von 4 Klassen
Unkeuschheit . . 2. 2 2020.20..155 48,5 25,2
Eifersucht . . e wo 2020202... TR 23,5 24,6
unzienliches an ee BDA 10,3 15,2
Dünkel . . . ee 10,3 10,0
Schwatzhaftigkeit . ee, 00 4.7 8,5
Verschiedenes oder unbekannt . . 37,2 23,7 16,5
Das grölste Verdienst für das Wesen der Frau ergab folgende Zahlen:
1. Jahr 4. Jahr Durchschnitt
von 4 Klassen
True . . 02 2 20 20202020. 42,6 51,5 41,0
DOPE a ne e 7,5 31,2 22,5
Glen At 12,1 11,5
Anmut A. a d. a a ee a 1,5 6,6
Haushalten. . . er 9,8 3,0 6,8
Verschiedenes und unbekannt. v oca B2 31,2 31,1
Über den gröfsten Fehler einer Frau wurde folgendermafsen abge-
stimmt:
1. Jahr 4. Jahr Durchschnitt
von 4 Klassen
Eifersucht . . 2 2 2 202020..164 28,8 22,1
Engherziekeitt . . 2. 2 2 202. 6.5 21,2 21,0
körperliche Schwäche . . ......156 19,7 15,2
Schwatzhaftigkeit. . . . . . 10,4 9,1 7,6
Verschiedenes und abet | 31,2 31,1
Die Frage, welcher Beruf der für die Frau geeignetste sei, ergab die
nachstehenden Antworten:
Ethische Anschauungen japanischer Mädchen. 139
1. Jahr 4. Jahr ae
Nähen . . 2. 2 2020202020. 50,0 12,2 36,6
Haushalten. . . . 20 . . . . 189 40,9 34,8
Krankenpflege. . . 2 2 220.0 41 24,2 11,4
Kinderpflege . . . a a ; 10,6 5,3
Verschiedenes und unbekannt 41,3 14,1 12,1
Nach der Meinung der De Mädchen bedingen folgende Um-
stände das Glück der Frau:
1. Jahr ee
Glückliches Familienleben . . . . 13,9 45,5 29,7
wissenschaftliche Bildung . . . . 25,4 15,7 18,0
elückliche Ehe . . . . . 2.. 189 4,5 11,0
gute Kinder . . ee ee 18,2 9,0
hohes Alter der Eltern u S 9.8 1,5 E
Verschiedenes . . . . 21 14,6 27,4
Die Frage nach der CE ertesten Tat ergab folgende Resultate:
Dim a Sn
Liebe zum Herrscher und den Eltern 32,8 36,4 36,6
Vaterlandsliebe . . 2. 2020.20. [B1 21,2 15,7
Güte. . . Be ee A 1,6 10,0
Bescheilienlieik, sg z 4123 3,0 8,0
Wirken für allgemeine Wohlfahrt . 0,8 4,5 4,0
Verschiedenes . . 2 220 2020....25,3 28,3 25,7
Endlich kommen wir auf religiöse Ideen, und in dieser Hinsicht geben
die Mädchen interessante Antworten, zunächst in Bezug auf ihren Glauben:
1. Jahr ijala Sl
von 4 Klassen
Buddhismus . . 2 20202020..96,0 25,0 . 44,0
SINtoISMUSs 22 2,6 3159 ‚4
Christentum 2020. 2,6 9,4 6,5
keine Religion . . 2 2 2020...23,6 11,0 8,0
unbekannt . . . 2. 2 202020...86,2 Sal 33,06
Die Frage, was aus uns nach unserem Tode wird, führte folgende
Antworten herbei:
1. Jahr 4. Jahr Durchschnitt
von + Klassen
Wir sterben mit dem Körper. . . 16,4 31,30 24,9
wir kommen in den Himmel. . . 81,0 20,30 23,2
wir machen cine Seelenwanderung
durch . .. a u ma s Las 9,41 3,8
wir bleiben irgendwo Bo 16,4 21,90 19,8
wir bleiben zu Hause oder auf de
Kirchhof. . . . 2.2... D21 1,60 6,7
Verschiedenes . . 2. 2.2... . 10,3 34,49 9,6
140 C. Literatur.
Die letzte Frage war die: ist die Gottheit allmächtig? Die Antworten
erfolgten in nachstehender Weise:
1. Jahr 4. Jahr me
Allmächtig . . 2:2 2 20 2000...098 73,4 74,0
nicht allmächtig . . . .. . . 160,4 25,0 20,8
unbekannt . 22 nn 2. 7,8 1,6 5,2
Aus Vorstehendem kann man ersehen, wie fest die alte Idee von
Liebe und Gehorsam noch in der Seele der japanischen Mädchen haftet.
4. Verein für Kinderforschung.
Einem dringenden Wunsche des Ortskomites in Halle wie auch ver-
schiedener anderer Mitglieder des Vereins folgend, wird die diesjährige
Versammlung nicht im August, sondern erst im Oktober gegen
den Schlufs der Herbstferien in Halle abgehalten werden.
Die Tagesordnung wird später bekannt gegeben werden.
Nähere Auskunft erteilen die Herren Dr. med. Schmid-Monnard
in Halle, Dr. med. Strohmayer in Jena und Lehrer Stukenberg
in Jena-Sophienhöhe. Anmeldungen von Vorträgen nimmt der Unter-
zeichnete entgegen. Trüper.
5. Zur Nachricht.
Mit dem 1. Mai dieses Jahres wird der Unterzeichnete nach Elber-
feld übersiedeln (Kurfürstenstralse 26).
Die Fortsetzung des Hagenschen Reiseberichtes erfolgt in der
nächsten Nummer. Ufer.
C. Literatur.
I. Krieg, Prof. Dr, Lebrbuch der Pädagogik. Paderborn, Druck und Verlag
von Ferdinand Schönineh, 1900. 489 S. |
In diesem Lehrbuch erörtert Umiversitätsprofessor Dr. Krieg u. a. auch in
eingehender Weise die auf das Seelenleben der Kinder sich beziehenden Fragen.
Der Herr Verfasser Äulsert im Vorwort: »Die psychologischen Gesetze sind
eingehender als manchem nötig scheinen mag, zur Erörterung gekommen, während
zuweilen das Pädagogische und Praktische zurücktritt. Allein der Verfasser ist der
Meinung, dals derjenige, welcher die Gesetze des menschlichen Innenlebens,
die Tätigkeiten in und zwischen den scelischen Kräften kennt, die praktischen Folge-
rungen oder die pädagogische Regel leichter abzuleiten versteht. Überhaupt war
er bestrebt, von der Heerstraßse pädagogischer Gemeinpläfze und Regeln, wie sie
in vielen pädagogischen Werken sich breit machen, abzulenken und dafür den Ge-
setzen des Geistes nachzugehen, um einen festen, psychologischen
Grund zu legen.« Krieg weist ferner mit Recht darauf hin, dafs man in der
Theorie oft eine Unsumme von Regeln und Vorschriften aufstelle, statt dem Grund-
gesetze alles Erziehens nachzugehen. Dies treffe insbesondere auch dort häufig zu,
wo es sich um die Besserung eines verkehrt erzogenen Kindes oder um die Ab-
C. Literatur. 141
schaffung von Fehlern und Unarten, um »Erkrankungen« oder sittliche Störungen
handele. Der Erzieher müsse es hier verstehen, des Zöglings innerstes Wesen,
das Gemüt zu berühren und zu bewegen.
Krieg zeichnet in $ 96 seines Werkes die Gesetze und den Verlauf der
natürlichen Entwicklung. Er unterscheidet nach dem Vorgange von Aristoteles ein
Kindes-, Knaben- und Jünglingsalter. Diese drei Perioden werden nach ihren phy-
sischen und psychischen Bestimmtheiten genau beschrieben. Darauf wendet sich
Krieg zur Darstellung der jedem Kinde eigentümlichen Bestimmtheit, der
Individualität, sowie der mitbestimmenden Faktoren derselben, des Ge-
schlechts, Temperaments, der leiblichen Konstitution, der ethischen
Veranlagung und der Volksindividualität. Es verdient hervorgehoben zu
werden, dals Krieg auch die Einflüsse auf Leib und Seele vor der Geburt und ım
Kindesalter im einzelnen beleuchtet ($ 120). Überhaupt ist der Verfasser bemüht
gewesen, die Bedeutung des leiblichen Lebens für das Seelenleben gebührend
hervorzuheben. Er weist nachdrucksvoll darauf hin, dafs nur falsche spiritualistische
und asketische Anschauungen die enge Wechselbeziehung zwischen Leib und Seele
verkennen. Der Leib sei nicht nur die Wohnung der Seele, sondern kraft der
engen Verbindung Organ und Träger derselben im vollsten Sinne. Die Erziehung
habe demgemäfs dahin zu wirken, dafs der Leib nicht nur gesund, kräftig und ge-
wandt werde, sondern sie habe ihm vielmehr auch Eigenschaften anzuerziehen,
welche in das Gebiet des Sittlichen hinübergreifen: Anstand und Reinheit.
Folgende Ansicht des Verfassers dürfte besonders in ernstliche Erwägung zu ziehen
sein: »Die oft angepriesene, einseitige Turnerei ist von Schaden. Das übliche
Turnen bietet sittliche Gefahren. Die jugendliche Unbefangenheit wird beeinträchtigt,
Eitelkeit, Roheit, Frechheit, Überwuchern der Sinnlichkeit treten nicht selten zu
Tage, so dafs die Spiele im Freien, namentlich auch Jugendspiele, wie sie in
der Gegenwart vielfach gepflegt werden, für Geist und Körper vorzuziehen sind.
Ganz zu verwerfen bei Kindern ist das Tanzen. das durch Spiele ersetzt werden
muls; vollends Kinderbälle sind eine feine Unzucht, ein Blofsstellen (Prostitution)
von Leib und Seele. Das Mädchenturnen, wie es vielfach angepriesen und be-
trieben wird, ist erst recht eine Art feiner Prostitution: (S. 358).
In dem letzten Teil seines Werkes verbreitet sich Krieg sodann eingehend
über die Erziehung der Seele (S. 364—476). Als scholastischer Aristoteliker
gibt er — wie Gutberlet,') Hagemann,?’) Stöckl, ”) Schneid?) -— eine Analyse
der Seelenkräfte, eine Beschreibung ihrer Wirkungsweise und im Anschlufs
daran die Regeln für die Erziehung der Einzelkraft. Bei der Lektüre dieses
Teiles dürfte es zu empfehlen sein, wenn man die psychologische Terminologie
Kriegs im Lichte von Prof. Dr. Joh. Rehmkes neuestem Werk »Die Seele des
Mlenschen«°) kritisch betrachtete. Für die scholastische Terminologie, die uns
nicht sonderlich anmutet, werden wir reichlich entschädigt durch die Fülle fein-
sinniger Beobachtungen über das Seelenleben des Kindes und die praktischen An-
weisungen, welche damit verknüpft werden.
Herborn. Hermann Grünewald.
1) Lehrbuch der Philosophie. III. Bd. Die Psychologie. 2. Aufl. Münster, 1890.
?) Psychologie. 4. Aufl. Freiburg i. D.. 1889.
3) Lehrbuch dor Philosophie. 6. Aufl. I. Bd. Mainz, 1887.
1) Psychologie im Geiste des heil. Thomas von Aquin. Paderborn, 1892,
°) Aus Natur u. Geisteswelt. 36. Bändchen. Leipzig, 1902,
142 C. Literatur.
2. Veeh, L., Die Pädagogik des Pessimismus. Leipzig, Verlag von Hermann
Ilaacke, 1900. 46 8.
L. Veeh vesucht in diesem Schriftchen die Resultate der Spekulation Ed. v.
Hartmanns auf die Pädagogik anzuwenden. Der 1. Teil handelt von der pessi-
mistischen Weltauschauung, der 2. von der Pädagogik des Pessimismus. Allen Er-
scheinungen liegt hiernach das »All-Eine Unbewulste« zu Grunde, das als unpersön-
licher Geist zu denken ist. Wille und Vorstellung sind in demselben in un-
trennbarer Einheit vorhanden. Der Mensch ist eine Erscheinung des Absoluten.
Den beiden Attributen des Absoluten entsprechen die beiden Grundfunktionen des
menschlichen Geistes: Wollen und Vorstellen. Lust ist erfüllter, Unlust nicht er-
füllter Wille. Der Angriffspunkt der Erziehung im Individuum liegt im Bewufst-
sein, welches unter dem Zusammenwirken der Materie und des unbewulsten Geistes
entsteht. Die treibenden Momente in dem Menschen sind das in der Entwicklung
begriffene Weltwesen, wovon er ein Tell ist, die Vererbung und Zuchtwahl;
als äulserer Faktor wirkt der Kampf ums Dasein. Dies sind die Faktoren der
Bewulstseinssteigerung, in welcher Veeh auch das Ziel der Erziehung er-
blickt. Mit der Steigerung des Bewulstseins wächst nämlich die Ein-
sicht in die Aussichtslosigkeit alles Strebens, wodurch es möglich ist,
dals die universelle Erlösung zu stande kommt. Dem Strahlenbündel von Kräften,
die dem Unbewulsten entstammen und auf einen Komplex von Atomen ge-
richtet sind, füllt die Hauptrolle in der Erziehung des Menschengeschlechts zu, und
es wäre cine Überhebung der Pädagogik, wenn sie sich anmalste, durch bewulste
Einwirkung auf den Zögling diesen Faktor ersetzen zu wollen (Rationalismus). Auf
der andern Seite muls freilich daran festgehalten werden, dafs die Erziehung nicht
alles vop dem immanenten Entwicklungsprinzip erwarten darf (Pietismus), sondern
dafs sie selbst auch mit Hand anlegen mufs, dals immer mehr Reize ihren Weg
ins Bewulfstsein finden, damit die Reaktionen des Unbewulsten sich vermehren und
der Geist immer mehr zu sich selber komme. Veeh macht darauf auf-
merksam, dafs der Begriff der Erziehung, blofs unter dem Gesichtspunkt der be-
wulsten Einwirkung gereifter Persönlichkeiten auf unreife betrachtet, zu eng gefalst
sei. Die Macht der sogenannten unkontrollierbaren Miterzieher, der äufseren Ein-
flüsse, Verhältnisse, Klimata, Konstitution, Gesundheit, Schicksal, Lebensführungen
stellen gewils wichtige Faktoren in der Erziehung des Einzelnen dar; ja sie machen
oft das planmälsige Einwirken der Erzieher erfolglos.) Veeh vertritt den Deter-
minismus. Die Willensentscheidungen kommen auch im Kinde in der Weise zu
stande, dafs sie von dem »All-Einen Unbewulsten« determiniert werden und dals
sie auf der andern Seite durch die Motive, welche von aufsen herantreten, zwar
nicht determiniert, aber modifiziert werden können, indem sie von dem Bewulstsein
erfalst, verarbeitet, ungebeugt werden und dann in der Resultante der gleichzeitigen
Begehrungen, d. h. dem Wollen nach aulsen zurückstrahlen. Dem Erzieher fällt
die Aufgabe zu, die geeigneten Motive an den Zögling heranzubringen, damit seine
Begehrungen, aus denen sein Wollen resultiert, dem Sinne der sittlichen Welt-
ordnung gemäls seien und sein Charakter eine Bereicherung und Vertiefung erhalte.
Auch soll sie ihm u. a. noch den Sinn für den Zusammenhang der Welt
mit seinem Urgrunde öffnen.
Vorstehender kurzer Auszug dürfte genügen, um über die Anschauungen des
t) cfr. hierzu: Dexexe, Erziehungs- und Unterrichtslehre. Berlin, 1835. $ +.
Die drei Erzieher des Menschen.
C. Literatur. 143
moderren Pessimismus, soweit sie sich auf die psychologische Pädagogik bezichen,
genügend zu orientieren. Ob aber die pessimistische Weltanschauung »mit dem
Schwerte des Geistes, das durch die unerbittliche Logik der Tatsachen geschärft
wird«e — wie der Verfasser optimistisch im Vorwort äulsert — »die Welt er-
obern wirde, will mir doch sehr fraglich erscheinen. Wer das Leben unter dem
Gesichtspunkte einer Verwirklichung von Werten zu betrachten gelernt hat,
wird der pessimistischen Anschauung nur ablehnend gegenüber stehen. Goethe
sagte einmal bezeichnend:
»Mir will das kranke Zeug nicht munden;
Autoren sollten erst gesunden'«
Herborn. Hermann Grünewald.
3. Grösz, Über Alkoholismus im Kindesalter. Archiv für Kinderheilkunde,
34. Band, 1. u. 2. Heft.
Verfasser, Direktor des Adele Brödy-Kinderhospitals in Budapest, be-
spricht zuerst die akute Alkoholvergiftung bei Kindern, die sich bei der grölseren
Reizbarkeit des kindlichen Nervensystems in einer viel intensiveren Weise als bei
Erwachsenen, oftmals unter Krämpfen, zu erkennen gibt, und behandelt danach die
krankhaften Veränderungen, die durch den längere Zeit fortgesotzten Genuls von
Spirituosen im kindlichen Organismus hervorgerufen werden. Die Verabreichung
von Alkohol in kleinen Dosen wirkt belebend auf das Nervensystem des Kindes,
doch ist diese Wirkung nur eine scheinbare, denn auf die Reizung folet alsbald das
Stadium der Lähmung. Sehr häufig sind die Fälle, in welchen die Eltern, von der
falschen Ansicht ausgehend , dafs »der Alkohol den Organismus stärkt«e, ihren
Kindern, und zwar vom Säuglingsalter angefangen bis hinauf zur Pubertät, täglich
2 bis 5 g und auch mehr Cognac, Tokaver u. s. w. in konzentrierter oder auch in
verdünnter Form verabreichen. In solchen Fällen ist durch die Reizung der Magen-
schleimhaut eine Dyspepsie (Verdauungsstörung) meist beständig, und dieselbe kann
zum Ausgangspunkt cines schweren Magendarmkatarıhs werden. Auch der durch
längere Zeit geübte regelmälsige Genuls von Bier und leichten Weinen, selbst in
verdünnter Form, kann ähnliche Zustände hervorrufen. Dieser Milsbrauch findet
sich bei Armen und Reichen, und selbst Mütter, die zu den gebildetsten Kreisen
gehören, geben ihren Kindern bei den geringsten Verdauungsstörungen Cognac oder
schweren alten Wein, oft mehrmals des Tages, Wochen, ja Monate lang. Sehr
häufig trifft man blutarme Kinder, die fortwährend an Verdauungsstörungen leiden
und dabei regelmälsig geistige Getränke in relativ grolsen Mengen erhalten. Es ist
offenkundig, dafs die in diesen Fällen vorhandenen Verdauungsstörungen infolge des
Genusses der Alkoholica noch gesteigert werden. — Von schwereren Störungen konnte
der Verfasser eine Anzahl von Erkrankungen an Leberverhärtung, Epilepsie und
Chorea (Veitstanz) bei Kindern im Alter von 6 bis 13 Jahren auf Alkoholmilsbrauch
zurückführen. Auch als Ursache für die Nervosität spielt der Alkohol eine grolse
Rolle.
Die Trunksucht der Eltern wird den Kindern nicht nur gefährlich durch die
höhere Sterblichkeit und die häufig konstatierte physische und psychische Entartung
der Kinder, sondern auch dadurch verhängnisvoll, dafs der Alkoholismus als solcher
erblich sein kann, auch wenn die Kinder schon frühzeitig der vernachlässigten Er-
ziehung und dem schlechten Beispiele der Eltern entzogen werden.
Als Medikament verwendet der Verfasser den Alkohol im Kindesalter nur
noch bei Fälleu von raschem Kräfteverfall und plötzlich auftretender ITerzschwäche,
144 C. Literatur.
z. B. bei akuten Infektionskrankheiten (Diphtherie, Scharlach, Masern, Typhus),
grölseren Blutverlusten u. s. w., wo der Alkohol von lebensrettender Wirkung sein
kann; doch dürfen die Spirituosen bei diesen Fällen nur in ganz genau vom Arzte
bemessenen Dosen verabreicht und muss der Gebrauch des Alkohols mit der Wieder-
herstellung des Kindes auch sofort eingestellt werden.
Hannover. Dr. med. Spanier.
4. Silberstein, Ein Fall von Suggestionsneurose. Wiener klinische Rund-
schau, 1902, No. 38.
In dem interessanten Falle des Verfassers war ein 7 jähriger, willensschwacher,
mit leichter Chorea behafteter, aber sonst geistig normaler Knabe durch ein wahr-
scheinlich mit »moral insanity« behaftetes Dienstmädchen suggestiv beeinflufst worden,
die Schuld für alle Handlungen des letzteren auf sich zu nehmen. Er ertrug alle
über ihn als den vermemtlich Schuldigen verhängten Strafen. Nach Entfernung
des Mädchens aus dem Hause hörte der Spuk auf; der Junge erschien vollständig
gesund und geistig normal; vermutlich ist auch die Chorea auf die psychische Ein-
wirkung zurückzuführen.
Hannover. Dr. med. Spanier.
5. Keller, Helen, The Story of my Life. Ladies’ Home Journal. Philadelphia,
1902. ')
»In der Geschichte meines Lebens, die ich hier den Lesern des Ladies’ home
journal darbiete, habe ich zu zeigen versucht, dals man über Widerwärtigkeiten so
weit hinwegkommen kann, dafs sie Wohltaten werden. Mit diesen Worten beginnt
die taubblinde Helene Keller ihre Lebensgeschichte, zu deren Aufzeichnung sie
von ihren Freunden gedrängt wurde, Seitens des Verlegers ist diese in der vor-
nehmsten Weise ausgestattet, und alle die prachtvollen Cliches, die auf seine Kosten
angefertigt sind, werden Eigentum von Helene Keller, damit die noch in diesem
Jahre in Buchform gleichzeitig in deutscher, englischer, französischer und italienischer
Sprache erscheinenden Ausgaben gleichfalls ein Feierkleid tragen. Jch möchte hier
nur zum Lesen des Werkes anregen und beschränke mich deshalb darauf, die
Überschriften einiger Teile zu geben: »Die lange Nacht.« »Licht! Gib mir Licht!
war der wortlose Ruf meiner Seele.« »Der Morgen naht.« »Ich bin ebenso glück-
lich, wie ihr cs seid«.
Und das Schlufswort: »Ich durchlebe dasselbe Leben, wie ihr, und ich bin
ebenso glücklich, wie ihr es seid. Die äufseren Umstände unsers Lebens sind nur
die Schale. Mein Leben ist von Liebe durchdrungen, wie die Wolke vom Licht.
Taubheit ist ein Schutz vor Zudringlichkeiten und die Blindheit läfst uns ver-
gessen, was in der Welt häfslich und aufregend ist. Inmitten des Unangenehmen
bewege ich mich wie jemand, der eine unsichtbarmachende Kappe trägt... Ich
versuche das Licht in den Augen anderer Menschen zu meiner Sonne zu machen,
die Musik, die in anderer Ohren klingt, zu meiner Symphonie, das Lächeln anderer
Lippen zu meinem Glücke.«
Emden. O. Danger.
1) Wertvoll sind auch die folgenden Nummern von »The Ladies’ Home Jour-
nal.« Sie enthalten einen Aufsatz von dem früheren Lehrer der Harvard Univer-
sität, Jobn Albert Maoy, »Helen Keller as she really is.s
Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
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A. Abhandlungen. i
—
l. Über Schülerbefähigung.
Von
Karl Baldrian, Nauptlehrer a'd. n. ©. Landes-Taubstummenanstalt in Wien (XIX).
Vorbemerkung der Schriftleitung.
Der nachstehende Aufsatz behandelt eine weitgreifende Frage.
Für die landläufige Schulpraxis an höheren wie niederen Schulen,
die immer wieder zum Schema F drängt. und für das davon abhängige
didaktische Denken werden es neue Gedanken sein. Aber es dürfte
nicht überflüssig sein, darauf hinzuweisen, dafs DörrrEnLD, dessen
Denkmal Ende Juli in Barmen eingeweiht werden soll, bis zum letzten
Atemzuge gekämpft hat gegen diese oberflächliche didaktische An-
sicht, die das gedächtnismäfßsige Wortwissen für geistige Befähigung
ausgibt. Ich verweise u. a. auf seine Schriften: -Denken und
Gedächtnis» und »Wider den didaktischen Materialismus“.!)
Auch für die Behandlung der „Schwachen hat er eine vortreffliche
aber trotz meiner früheren Hinweise an diesem Orte wenig beachtete
Anweisung gegeben. ?)
Auch ich habe wiederholt und bei jeder Gelegenheit auf die em-
seitiee Beurteilung der Schüler und auf deren Folgen hingewiesen,
sowohl an diesem Orte wie in meinen ‚Psyehologischen Minder-
wertigkeiten im Kindesalter (1593 vergriffen) wie in den «Ai
fängen abnormer Erscheinungen im kindlichen Seelen-
1) Gesammelte Schriften. Gütersloh, C. Bertelsmann. Pd. I u. H.
?) Vergl. Anxa Carsap, Friedrieh Wilhehn Dorpfeld. Aus seinem Leben und
Wirken. Gütersloh, C. Bertelsmann, 1903. 2. Aufl, N. 1485— 152.
Die Kinderfehler. VIT. Jahrgang. 10
Mımıtı>nn Ih
DI UNLIZCU Vy
146 A. Abbandlungen.
leben« (Altenburg, Oskar Bonde, 1902) und in den drei Abhand-
lungen über »Die Schule und die sozialen Fragen unserer
Jeit« (Gütersloh, 1900).
Aber ehe der Bann der Zeugnisdidaktik durchbrochen ist, wird
noch wohl viel Wasser bergab fliefsen müssen. Es tut demnach
immer aufs neue not, diese falsche Beurteilung der Kinder aufzu-
decken. | i
Herr Barprias hat nun die Konsequenzen für die Taubstummen-
anstalt gezogen. Es wäre schr zu wünschen, dafs die Kollegen an
niederen wie an höheren Schulen ähnliche Nutzanwendungen vom
ABC der Psychologie des Kindes machten. Der heranwachsenden
Jugend würde dadurch eine aufserordentliche Wohltat erwiesen. Ich
sage das aus Erfahrung. Unser Erziehungsheim ist eine einfache
Anwendung dieser Überlegung. Eine Reihe von Knaben, die durch
jene Praxis mit und ohne »Repetieren« auf den höheren Schulen
leiblich wie seelisch zu Grunde zu gehen drohten, erholten sich bei
unserer Methode derart, dafs sie ihre Bildungsziele, voll und vor
allem auch mit der nötigen Lernfreude bei der Rückkehr auf die
öffentliche Schule erreichten.
Ein Beispiel entgegengesctzter Art ist die Praxis der Hilfsschul-
organisatoren, ein Kind erst zwei Jahre in der untersten Volksschul-
klasse sitzen und seelisch verkommen zu lassen, ehe man zu er-
kennen vermag oder erkennen will, dafs es geistesschwach ist und
einer besonderen Fürsorge bedarf durch Aufnahme in die Hilfsschule.
Beim Erscheinen des Schriftehens von Dr. Braxpexgure (Zur Für-
sorge für die Schwachsinnigen. Bielefeld, R. Helmich, 1890)
habe ich bereits zum ersten Male auf diese Unbegreiflichkeit hinge-
wiesen. Seitdem haben aber manche Regierungen ein Schema F
daraus gemacht und einfach verordnet: nachdem ein Kind zwei Jahre
die unterste Klasse einer Volksschule besucht hat und noch nicht ver-
setzungsreif geworden ist, darf es in der Hilfsschule Aufnahme finden.
Das ist keine Fürsorge für «das Kind: das ist eine Nachsorge. In
den zwei Jahren hätte manches Kind schulreif werden können. Es
wchört doch wahrhaftig keine grofse Kunst dazu, im ersten Monate,
um nicht zu sagen in der ersten Stunde, zu erkennen, ob ein Kind
wesentlich zurückgeblieben und fürsorgebedürftig ist oder nicht. Ver-
waltungsbehörden ist leider in der Regel nur mit der Geldfrage bei-
zukommen. Der Beweis ist aber nicht schwer zu erbringen, dafs
diese Fürsorge den Kommunen in vielen Fällen 20 mal weniger Geld
kostet als jene Nachsorge. Wir treiben jedoch hier keine Finanz-
politik, sondern Kinderpsvchologie. Und da drängt es mich, nach-
Barprıax: Über Schülerbefähigung. 147
drücklich zu betonen, wie ich in jenen Schriften näher ausgeführt
habe, dafs in der Elementarklasse aller Schulen zahllose Kinder-
seelen elend und dauernd zu Grunde gerichtet worden. Mögen darum
die nachstehenden Ausführungen eines erfahrenen Kinderpsychologen
volle Beachtung finden! Trüper.
Das Wort »minderbefähigt« oder »schwachbefähigt«, das man bei
Urteilen über die Geistesfähigkeiten der Schüler leider nicht zu selten
zu hören bekommt, scheint in manchen Fällen nicht mit der nötigen
Besonnenheit ausgesprochen zu werden und nicht immer der Aus-
druck eines völlig klaren Beurteilens zu sein.
Um in diesem Punkte zur Klarheit zu kommen, müssen wir uns
fragen, welche Eigenschaften des Geistes es sind, die einem Indivi-
duum eigen sein müssen, «dafs es vor dieser »Kennzeichnung« ver-
schont werde.
In der Regel wird schon derjenige Schüler als gut oder normal
befähigt bezeichnet, der ein »gutes« Gedächtnis besitzt.
Zeigt sich ein rasches „gedächtnismäßigese (mechanisches) An-
eignen, die Fähigkeit unveränderten Behaltens des zu Merkenden und
die weitere, das Gelernte jederzeit ohne Schwierigkeit wiederzugeben,
also das, was man mit den Ausdrücken »Leichtigkeit der Auffassung«,
»Treue« und »Dienstbarkeit- des Gedächtnisses bezeichnet. so wird
ein solches Kind ohne weiteres in der Regel als »recht gute, wenn
nicht »sehr gute befähigt gehalten und auch dafür andern Personen
gegenüber hingestellt.
Verbindet ein Kind mit diesen an sich gewißs schätzenswerfen
Eigenschaften eines guten Gedächtnisses, die für sich allein bekannt-
lich noch lange nicht der Beweis für gute Befähigung sind, noch
die Fähigkeit, etwas, das seinem geistigen Auge anschaulich und klar
vorgeführt wurde, richtig, vielleicht auch schon bei der ersten Zer-
gliederung, aufzufassen, d. h. nach seinem geistigen Inhalte zu cer-
fassen, bringt es also dem Unterrichtsgegenstande »Verständnis-
entgegen, so hören wir — darauf ist fast zu schwören! — gewils
von »talentiert«, »besonderes Talent« und Ähnlichem reden.
Und doch ist dieses Urteil keineswegs richtig. Es gibt Menschen-
kinder, die sich weder eines besonders guten Gedächtnisses erfreuen
noch über eine hervorragende Auffassungsgabe verfügen und doch
solchen geistig unbestreitbar überlegen sind, welehe die beiden gc-
nannten Qualitäten ihr eigen nennen können.
Worin liegt aber dann der Vorzug mancher nicht mit glänzen-
107
148 A. Abhandlungen.
dem Gedächtnisse und bewunderungswürdiger Auffassungskrafit aus-
gestatteter Wesen vor andern, die damit von Mutter Natur beglückt
wurden?
Einfach darin etwas selbständig geistig verarbeiten zu
können, allein einen eigenen Denkprozefs abwickeln, nicht
blo »Vorgedachtese snachdenken zu können« (»nachdenken«
natürlich nicht im Sinne von »Suchen im Geistes, sondern von
mechanischem Nachbilden der durch andere vorher entwickelten Urteile).
Erst derjenige, der aufser den Eigenschaften eines vorzüglichen
Gedächtnisses und großsen Verständnisses auch noch die Urkraft
des Schaffens, d. i. selbständiger Geistesbetätigung besitzt,
kann als besonders talentiert gelten.
So wie nach dieser Richtung durch nicht genug gründliches Be-
obachten leicht ein oberflächliches und falsches Urteil gefällt werden
kann, geschieht es auch nach der entgegengesetzten Seite.
Äufserungen, oft unscheinbar aber von hohem Werte für
die »Schätzung« der Geisteskraft, die ein selbständiges Ar-
beiten der jungen Psyche verraten, bleiben nicht selten
unbeachtet oder doch unbewertet, weil die geringen
Leistungen, die Gedächtnis und Auffassung aufweisen, den Blick des
pädagogischen Beobachters seiner Freiheit und Unbefangenheit be-
rauben. Und so lautet dann das ungerechte Urteil »minder befähigt«.
Nun können wir die oben gestellte Frage beantworten und sagen,
dafs gerade der Besitz der relativ gewifs minderen Geistesgaben,
eines guten Gredächtnisses und einer leichten Auffassungsfähigkeit
nämlich, vor der ominösen »Kennzeichnung« gewöhnlich verschonen
wird.
Es ist deshalb auch nicht jenes Individuum, das bei keineswegs
vorzüglichem Gedächtnisse und nicht besonderer Fähigkeit des »Ver-
stehens« noch eine gewisse Selbständigkeit im Denken bekundet, ohne
längeres Prüfen unter die »minder befähigten« Schüler einzureihen.
Daraus ist wohl zu ersehen, mit welch grofser Vorsicht bei Be-
urteillung der Schüler unter Umständen vorzugehen ist. Auch das
gcecht aus dem Gesagten hervor, dafs der Ausdruck »minder- oder
schwachbefähigt« nicht gerade glücklich zu nennen ist, da ja öfters
nicht die Gesamtheit der geistigen Fähigkeiten, sondern ge-
rade nur die mehr äufserlichen, die einer leichteren Beobach-
tung zugänglich sind, beurteilt wurden. In dem eimen oder
andern Falle wird der als »minderbefähigt« geltende blofs »gedächtnis-
schwache oder, was häufiger vorkommen wird, »langsam oder
schwer auffassend« sein. Damit soll aber keineswegs zu bestreiten
Barorıax: Über Schülerbefähigung. 149
gesucht werden, dafs in vielen Fällen sämtliche geistigen Fähigkeiten
geschwächt erscheinen.
Man wird vielleicht einwenden, dafs ein Beurteilen der Be-
fähigung nach dem Grade selbständiger Geistesarbeit schon deshalb
schwer möglich ist, weil ja von Kindern überhaupt ein » Produzieren«
nur in geringem Mafse zu erwarten ist. Darauf müfste man er-
widern: Gewifs! Grofses Bedeutendes werden wir nicht erhoffen
dürfen, aber Freude und Lust am Selbstfinden-Wollen
geistiger Beziehungen (Grund und Folge) sowie der Erklärung
natürlicher Erscheinungen einfachster Art (Ursache und
Wirkung) werden dem scharfen Auge des geschulten praktischen
Psychologen schon untrügliche Kennzeichen für die Höhe und den
Wert der Geisteskraft und für ihre zu erwartende Entwicklungs-
fähigkeit sein und liefern.
Sollte dem Angeführten etwa noch entgegengehalten werden, dafs
wir ja gerade in der Schule vor allem Gedächtnis und Auffassungs-
kraft zum »Lernen« benötigen, so müfste darauf geantwortet werden,
dafs es nicht darauf ankommt »viel« und »schnell« zu lernen, sondern
dafs neben dem »was« von gröfster Richtigkeit das »wie< zu stehen
kommt. Wenn wir weiter nichts als »Denken« gelernt hätten, wäre
es genug. Denn Sprache nach Inhalt und Form, die beim wahren
Denken gebraucht ist und geübt wird, bleibt ohnehin mit dem bil-
denden Denkstoffe so innig verknüpft, dafs beide zum unverler-
baren Besitze werden; alles andere ist tote, beschwerende Last, die
die Entfaltung des Geistes nur behindert. Darum sollte in der Schule
das Denken hauptsächlich an praktischem, fürs ganze Leben und für
alle Lagen wichtigem Stoffe geübt werden, der durch die Übung die
Denkkraft stärkt und selbst unverlierbarer Besitz bliebe. Wie oft
aber wird nicht die Denkübung an zweite Stelle gerückt oder an
einer Materie vorgenommen, deren sich das vollgepfropfte Gehirn
förmlich mit Lust zu entlasten sucht, um frei von jedem gewaltsamen
Drucke funktionieren zu können. Leider sind die meisten unserer
Schulen trotz aller schönen theoretischen Prinzipien der »Anschau-
lichkeit« und »Erziehung zur Selbständigkeit in der Praxis noch
ziemlich weit von dem wünschenswerten Zustande entfernt.
Früher begnügte man sich mit dem blofßsen gedächtnismälsigen
Aneignen des Lehrstoffes; heutzutage fordert man hierzu als voraus-
gehendes Element volles Verständnis, doch selten auch geschieht dies
in voller Übereinstimmung des realen und formalen Bil-
dungszweckes, um den, Schüler an brauchbarem, Geist, Herz
und Willen bildendem Stoffe zu einem seiner Eigenart ent-
150 A. Abhandlungen.
sprechenden kräftigen, selbständigen Denken, Fühlen und
Wollen zu führen.
Damit kommen wir wieder auf die Art der Schülerbefähigung,
deren Beurteilung und Berücksichtigung, also auf das Individuali-
sieren, zu sprechen.
Werden nicht oft Kinder wegen eines nicht besonders guten Ge-
dächtnisses oder mangels intensiveren Interesses an dem einen oder
andern Fache des Lernens (wofür der Grund nicht selten aufser dem
Schüler liegt!) und wegen daraus sich ergebender Unaufmerksan-
keit und dadurch begründeten, zu geringen Verständnisses für den
Unterrichtsstoff für schwachbefähigt erklärt?
In Mittelschulen besonders werden solche Schüler zu einem sehr
häufig unseligen »Repetieren« der Klasse verurteilt. Wäre es da
nicht besser, den Schüler einer seiner Geistesrichtung mehr angepalsten
Schulgattung zu übergeben oder ihn mit dem »Studieren« ganz zu
verschonen? Freilich ist mancher Vater, der nicht über die nötigen
materiellen Mittel verfügt, um durch gerechtes Entgegenkommen der
Eigenart semes Sohnes zu entsprechen, trotz besserer Erkenntnis ge-
zwungen, seinen Spröfsling unnatürlicher geistiger Behandlung preis-
zugeben! Warum? Weil der Staat Passierscheine, Zeugnisse genannt,
fordert, die allein den Zutritt zu bestimmten Lebenswegen ermöglichen,
die allein nur aus sozialen Gründen von dem einen oder andern betreten
werden können. Ob die durch die verlangten Zeugnisse nachzuweisenden
Fähigkeiten auch wirklich dafür Zeugenschaft geben, dafs der Besitzer
in dem bestimmten Wirkungskreise ausreichende Leistungen hervor-
bringen wird, ist ohnehin eine Frage! Seltsamerweise findet sich auch
der gegenteilige Fall fast allerwärts. Wird nicht noch in den meisten
Staaten dem Juristen, vertrauend auf seinen formal geschulten Geist,
die Fähigkeit, alles »verstehen« und leiten zu können, dadurch zu-
gesprochen, dafs man ihn öffentlich in alle höchsten Ämter beruft,
vielleicht nicht zu selten zum Unsegen industrieller, volkswirtschaft-
licher, handels- und gewerbepolitischer Staats - Einrichtungen und
wahrer Volkswohlfahrt?! —
Nach dieser kurzen Abschweifung, die sich ungesucht auf-
drängt, kehren wir wieder zu unserem Gegenstande näher zurück.
Jedenfalls ist aus den wenigen, oben angeführten Worten zu er-
sehen, dafs ein Urteil über Befähigung eines Individuums
nicht nur Gedächtnisgüte und Auffassungsgrad, sondern
vorzugsweise dessen freie Verarbeitungsfähigkeit — so schwer
dies unter Umständen auch sein mag —szu berücksichtigen und zu
prüfen hat.
Baroriax: Über Schülerbefähigung. 151
Daraus ergibt sich wohl von selbst, dafs jenes Einzelwesen, das
ein Manco im selbständigen Denken nebst schwachem Gedächtnisse
und geringer Fähigkeit, einem geistigen Prozesse folgen zu können,
aufweist, zu den geringst befähigten zu zählen sein wird.
Leicht erklärt sich auch das scheinbar überraschende Vorkommnis,
dafs aus Kindern, die als geradezu schlechte Schüler galten, Männer
hervorgingen, die, hoch erhaben über das Mittelmaßs, die Schärfe
ihres Urteilsvermögens zu Nutz und Frommen ihrer Mitmenschen
und der Nachwelt als Denker, Dichter, Forscher und Erfinder in
strahlender Weise bekundeten. Freilich kommt da noch beim wahren
Poeten die Tiefe des (refühles, beim Forscher die Zähigkeit des
Wollens und bei manchem Erfinder die. Laune des Zufalles in Be-
tracht. Die alte Erfahrung kann nicht angezweifelt werden, dafs bc-
deutende Kraft im Schaffen, d. i. im selbständigen Urteilen und auch
Handeln, mit phänomenalem Gedächtnisse und leichter, rascher und
sicherer Auffassungsfähigkeit geistiger Vorgänge gepaart erscheint und
durch letztere beiden — aber nicht immer — angedeutet wird. Aus
einer Reihe besonderer Denkakte würde man daher bei scharfer
psychologischer Beobachtung den künftigen Denker viel leichter mit
einiger Wahrscheinlichkeit voraus bestimmen können, als aus den
sich jedem schon bei flüchtiger Beobachtung fast aufdrängenden
Eigenschaften des »staunenerregenden« Gedächtnisses und leichter
Auffassungsfähigkeit.
Damit im Zusammenhange erklärt sich auch, wieso es kommt,
dafs mancher Erzieher oder Vater, der, auf die besonderen Quali-
täten der niedrigeren Geistesfunktionen allzuviel bauend, von seinem
Zöglinge Hohes erwartete, doch durch die Durchschnittsleistungen
oder gar noch geringere sich nicht befriedigt oder wohl gar ent-
täuscht fühlt. Wären besonders die vielleicht spärlichen Äußerungen
des Intellektes ciner sorgfältigeren Beobachtung unterzogen
worden, hätte es höchstwahrscheinliceh — ja gewifs — keine Ent-
täuschung gegeben — natürlich abgesehen von der späteren Betätigung
des Gefühles, Begehrens und Wollens, also von der Handlungsweise
und dem Charakter, die ja durch vieles andere aufser durch den Grad
der Intelligenz bedingt werden — und daher noch viel unsicherer
vorherbestimmt werden können.
Im nachfolgenden soll eine praktische Anwendung obiger Ge-
danken darzustellen versucht werden. Es soll ausgeführt werden, wie
beispielsweise taubstummen Schülern verschiedenen Intelli-
genzgrades durch Berücksichtigung ihrer individuellen
Geistes - Veranlagung Gerechtigkeit hinsichtlich ihrer
152 A. Abhandlungen.
geistigen Entwicklung widerfahren könnte, wobei infolge er-
höhter Schwierigkeiten bei Fällung eines zutreffenden Urteiles über
die Befähigung Gehörloser eine Prüfung um so mehr Sorgfalt und
Zeit erfordern muß. Würde jemand der Meinung sein, daß für den
taubstummen Schüler eine gewisse Gedächtniskraft und Auf-
fassungsfähigkeit genügen werde, um sein Schul- und Unter-
richtspensum bewältigen zu können, so würde er gewifs keine Ahnung
davon haben, auf welch kompliziertem Wege — für Schüler noch
mehr wie für Lehrer — der Gehörlose durch die künstliche
Sprachaneignung — nach der lautlichen, formellen und inhalt-
lichen Seite der Sprache kompliziert! — in den Besitz der mensch-
lichen Sprache gebracht wird.
Hierzu gehört auch noch aufser den genannten Fähigkeiten ein
ziemlich bedeutendes Mafs von Geisteskraft und Willensstärke,
die, vom Lehrer nieht nur förmlich, sondern tatsächlich, physisch-
psychisch überstrahlend auf und in den Schüler, im Sprechen-Lernenden
die in diesem schlummernde Lebenskraft für Sprachfähigkeit erwecken
müssen. Nur dann, wenn des kleinen Sprachschülers Intelligenz
und Wille zur Betätigung gelangt, wird dessen Sprechen wirklich
Sprache und nieht »leeres Plappern« sem und je nach der Inten-
sität dieser Qualitäten wird des einen oder andern Schülers
Sprache mehr oder weniger Spontaneität — Eigenleben der
Sprache und Trieb, Lust und Liebe zur Sprache und deren
Entwicklung — aufweisen.
Nachdem im Vorausgehenden im allgemeinen und besondern auf
die Notwendigkeit der Berücksichtigung des Intelligenzgrades zum
Zwecke der Erziehung und des Unterrichtes, also auf ein Indivi-
dualisieren der Schüler nach ihrer Urteilskraft, theoretisch
hingewiesen wurde, soll im folgenden an dem Beispiele der Taub-
stummenschule praktisch die Möglichkeit und Nützlichkeit der
Durchführung dieses Prinzips besprochen werden.
Die Ausführung dieses Prinzipes erfordert die Trennung der
Schüler nach ihren Fähigkeiten.
Fast ausnahmslos ist man der Überzeugung, dafs eine Trennung
der Schüler nach ihren geistigen Fähigkeiten sowohl den befähigteren
wie den schwächeren zum Segen gereichen müsse. Nur vereinzelt
taucht mehr die keineswegs leicht zu begründende Ansicht auf, dafs
die minderbefähigten durch die besseren Schüler besonders gefördert
werden. Jedenfalls können die schwächeren Schüler, wenn sie allein,
also nicht gemeinsam mit den besseren, unterrichtet werden, mehr
lernen, als wenn sie dic talentiertsten Mitschüler in der Klasse haben;
Baıpriax: Über Schülerbefähigung. 153
ja je grölser eben der geistige Abstand der zwei — oder mehrerer
— Schülergruppen in derselben Klasse ist, desto größer sind die
Nachteile für beide. Und sicher ist auch, selbst wenn man eine ge-
wisse günstige Beeinflussung der minderbefähigteren Schüler durch
die befähigteren zugibt, die Hemmung dieser eine ungleich gröfsere
als die Förderung jener bei gemeinsamem Unterrichte. Schon dieses
arge Mifsverhältnis in der gegenseitigen Einwirkung der Schüler
macht eine Trennung derselben wünschenswert. Dieser stehen aller-
dings Schwierigkeiten im Wege, die nicht unberücksichtigt bleiben
dürfen, so die mit der Durchführung der Trennung entstehende Zwei-
teilung der Schülerzahl einer ganzen Anstalt, das Widerstreben
mancher Lehrkraft, nur schwache Kinder unterrichten zu sollen u. s. w.
Der folgende Vorschlag, wie eine Scheielung nach Fähigkeiten
der Schüler zu geschehen hätte, will besonders diese Schwierigkeiten
berücksichtigen.
Die verschiedenen Punkte des Vorschlages mülsten natürlich der
Einrichtung der einzelnen Schulen angepafst werden. Wie sollte
also die Scheidung der Schüler durchgeführt werden?
Ungefähr zwei bis drei Monate nach Eintritt der Neulinge wäre
erst deren Trennung vorzunehmen. Am Ende des ersten Schuljahres
oder auch schon früher sollten jene Schüler, die sich zu einem
normalen Fortschreiten doch zu schwach erweisen, aus der Abteilung
der Befähigteren der Abteilung der Schwächeren zugewiesen werden.
Jener Lehrer, der die Abteilung der Schwachen führt, sollte diese
durch drei Jahre behalten. Während dieser drei Jahre sollte der
Lehrstoff der ersten zwei Schuljahre vermittelt werdem Es wäre
bei unserer Methode, die ja stets gründlich bis in die Elemente,
anschaulich bis zur Plastizität und klar bis zur Durchsichtigkeit
vorgeht, eine Aufstellung eines besondern Lehrplanes nicht unbedingt
erforderlich, sondern vielmehr eine Verteilung des Lehrstoffes in
zweckentsprechender Weise nötig. Leitender Gedanke hierbei mülste
sein, so langsam als möglich und erforderlich, besonders im
ersten und zweiten Schuljahre, vorwärts zu schreiten, so dafs Übung,
Wiederholung und Anwendung zu ihrem vollen Rechte kämen.
Hierin läge der Schwerpunkt in der wunterrichtlichen Behandlung
unserer schwachen Schüler.
Also schon die Artikulation (die Entlockung der Sprachlaute
und deren Verbindungen zu Silben und Wörtern, also die Ent-
stummung der taubstummen Kinder) hätten einen weit gröfseren
Zeitraum zur Bewältigung ihres schwierigen Pensums zu bean-
spruchen. Man wende ja nicht ein, dafs wir froh sein mülsten.
154 A. Abhandlungen.
unsere Kinder über diese weniger geistbildende Periode der Schulzeit
beizeiten hinauszubringen. Nichts rächt sich hekanntermafßsen bitterer:
als eine Überstürzung in der Lautier-(Artikulations-) Arbeit. Nicht
nur des Schülers Aussprache wird in Zukunft .schlecht bleiben, wenn
nicht gar noch schlechter werden, nein, ‘auch in sprachlich - geistiger
Beziehung wird, ja mufs der schlecht und schwerfällig artikulierende
Schüler ungemein zurückbleiben; er mufs jede Sprachfreudigkeit ver-
lieren, da er sich des Mittels der Sprachbetätigung nur unter gröfster
Anstrengung und nach Überwindung mancherlei Hindernisse zu be-
dienen in der Lage ist. Die nächste Lage unvollkommener Artiku-
lation ist aber die zu geringe Übung in der Sprachanwendung in-
folge der Sprachunlust. Dieses eben besprochene Moment ist von
einschneidendster Bedeutung für die gesamte Sprach-Erlernung und
cs erscheint nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, dafs die un-
zureichende Sprachbeherrschung manches unserer nicht
gerade schwachbefähigten Schüler darin seinen Haupt-
erund hat. Wenn also die schrittweise Durcharbeitung der Arti-
kulation Grundbedingung für ein günstiges Resultat schon bei normal
veranlagten Taubstummen ist, so wird für schwachbefähigte Taub-
stumme ein noch langsameres, allmählicheres Fortschreiten
unbedingt gefordert werden müssen. Aber auch der gesamte
Elementar-Sprachunterricht (zur Vermittlung der einfachsten
Sprachstoffe in den leichtesten Sprachformen) wird dieses »Ritar-
dando« stets im Auge behalten müssen und ein Erstarken der
(reisteskraft seiner Schüler vor allem herbeizuführen haben. Aus
diesem Grunde ist auch der Segen einer Vorschule für Taub-
stumme, worin die kleinen Taubstummen körperliche Wartung,
geistige Anregung und Vorbereitung für den eigentlichen Schuunter-
richt erfahren, ein aufser allem Zweifel grofser. Der Übergang oder
besser gesagt der Sprung aus fast völliger geistiger und körperlicher
Untätigkeit so vieler Taubstummen im Elternhause zu den relativ
hohen Anforderungen gleich bei Beginn des Taubstummenunter-
richtes kann nicht besser ausgefüllt werden, als durch eine Vor-
schule für Taubstumme. Vergleichen wir die Volksschule und
Taubstummenschule eingehend miteinander, so finden wir, dafs wir
von unseren Schülern, besonders zu Anfang des Lernens, beinahe
unvermittelt viel, ja zuviel verlangen, freilich zum Teile auch ver-
langen müssen.
Deshalb ist die Frage jedenfalls begründet, ob nicht eine Ver-
schiebung der Menge des Lehistoffes nach den höheren Schuljahren
hin dem Taubstummen-Unterrichte dadurch dienlich würde, dafs dann
Baupriax: Über Schülerbefähigung.
das Wenige des Stoffes der unteren Schuljahre zum bleibenden,
frei verfügbaren, geistigen Sprachbesitze der Schüler würde.
Dann könnte die Selbständigkeit in sprachlicher Hinsicht, das
Sprechenkönnen (hier besonders in geistiger Bezichung als Sprach-
fertigkeit und Sprechbereitschaft gemeint) manchen Gewinn davon-
tragen.
Auch das eben Gesagte gilt für den Taubstummen - Unterricht
überhaupt, hat aber für den Unterricht schwachbefähigter sprach-
loser Kinder erhöhte Bedeutung.
Hier seien nun noch die weiteren Mafsnahmen zur Durchführung
des Planes der Trennung taubstummer Schüler nach Fähigkeiten in
der Weise wiedergegeben, wie sie vom Verfasser dieser Zeilen der
Anstalts - Lehrer- Konferenz vorgeschlagen und von dieser zur even-
tuellen Verwirklichung (für den Fall, als eine Neu-Aufnahme dic
Trennung der Schüler notwendig erscheinen lassen sollte) — ange-
nommen wurden.
Nach Verlauf der ersten «drei Unterrichtsjahre wären die Schüler
der schwachen Abteilung derart aufzuteilen, dafs «die schwächeren
davon in die zweite Klasse der Normalbefähigten versetzt
würden, während die »Besseren< in die dritte Klasse der Normalen
einzureihen wären. Es würde sich daher nach drei Jahren diese Ab-
teilung ganz auflösen.
Auf diese Weise kämen die Schwachbefähigten, auch wenn sie
acht Jahre in der Anstalt blieben, also bei einem achtjährigen Orga-
nismus, im günstigeren Falle bis in die siebente, im ungünstigeren
Falle nur bis in die sechste Klasse, ja falls sie bei ihrem Eintritte das
Durchschnittsalter für die Aufnahme, das siebente Lebensjahr, sehon
überschritten hätten — das kommt leider infolge des Mangels emes
Schul- oder Unterrichtszwanges nur zu häufig vor — auch nur in
die fünfte Klasse.
So würden dann auch die oberen Klassen nur von befähig-
teren Schülern besucht sein, was von selbst einleuchtende, grofse
Vorteile für deren geistige und sprachliche Ausbildung bringen
mülste.
Durch diese hiermit angeregte Form «der Durchführung der
Scheidung der Schüler nach Fähigkeiten könnte ohne wesentliche
Vermehrung des Lehrpersonals — besonders dort, wosohnchin Parallel-
klassen bestehen — und ohne Überbürdung desselben (denn der
einzelne Lehrer bliebe ja nur drei Jahre bei den Schwachen und
jedes Jahr übernähme ein anderer der Reihe nach die neue Klasse
der Schwachen) manchen Schüler, der sonst vor geistigem Unvermögen
156 A. Abhandlungen.
und Unmut erlahmen müßste, eine grofse Wohltat und Gerechtig-
keit erwiesen werden.
Das steht aber fest, dafs ein so zur Tat gewordenes Individuali-
sieren — oder Spezialisieren zum Zwecke des Individualisieren-
Könnens — weit zweckdienlicher genannt werden mufs, als das bis
jetzt so übliche »Repetieren-Lassen«.
Es ist ja nicht zu leugnen, dafs für einen normal veranlagten
Schüler, der z. B. durch Krankheit viele Unterrichtsstunden versäumt
oder wegen argen, andauernden Unfleifses nur geringe Fortschritte
gemacht hat. ein Wiederholen der Klasse Nutzen bringen kann und
daher notwendig sein wird. — Ganz anders steht die Sache aber für
einen Schwachbegabten! Für diesen wird ein abermaliges Durch-
arbeiten des Stoffes in dem gleichen »Tempo«, wie das erste
Mal, nicht viel mehr Erfolg haben, wie eben zuerst. Er wird sich
nach ganz kurzer Zeit überrumpelt fühlen und entmutigt zusammen-
brechen. Sein Geist wird eben nur dann erstarken, wenn
GGeistesarbeit von ihm in einer seinem Auffassungs- und
Verarbeitungsvermögen völlig angepalsten Zeitdauer voll-
bracht werden kann. Hierin ruht die psychologische Lösung der
Frage, warum blofses Repetieren schwacher Schüler zu gar keinem,
oder doch nur geringem Resultate führt, während individuelle Be-
handlung in besonderen Abteilungen den verhältnismäfsig gröfsten
Nutzen schaffen mufs.
Hat der schwachbefähigte Schüler durch dreijährige Rücksicht-
nahme auf seine geringen Kräfte diese selbst erstarken und wachsen
gefühlt, wird er, ermutigt und geistig gestärkt, in die dritte, eventuell
zweite Klasse der Normalen versetzt, mit diesen ferner so ziemlich
gleichen Schritt zu halten im stande sein.
Wird dies erreicht, hat die Trennung der Schüler nach Fähig-
keiten ihren Zweck voll erfüllt! Möge die Mahnung an das päda-
eogische »Eines schickt sich nicht für alle« und die hier daran
gcknüpfte Ausführung für ein spezielles Unterrichtsgebiet, dem der
Verfasser infolge fast zwanzigjähriger Praxis manche Erfahrung ver-
dankt, auch Anregung auf verwandten Zweigen pädagogischer
Betätigung sein und werden!
Lossien: Einige Untersuchungen über das Gedächtnis bei Schwachbefähigten. 157
masse N UI nn mn nn.
2. Einige Untersuchungen über das Gedächtnis bei
| Schwachbefähigten.
Von
, Marx Lobsien, Kiel.
In der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnes-
organe, herausgegeben von EspixcHavs und Könıs, Bd. 27, S. 54—18
untersuchte ich auf Grund einer einfachen Metliode die Gedächtnis-
entwicklung bei normal begabten Schulkindern. Hier möge der Ver-
such gemacht werden, das Problem auch bei AMlinderbefähigten zu
erforschen. Weiter allerdings. als um einen Versuch kann es sich
nicht handeln und zwar aus dem Grunde, weil das Beobachtungs-
material viel zu gering ist, um aus demselben sichere Ergebnisse
herausziehen zu können. Es handelt sich um ein Schülermaterial von
30 Knaben und Mädchen. Wenn ich trotzdem. allerdings unter er-
neuter Betonung des cben erwähnten Vorbehalts, die Ergebnisse meiner
Untersuchungen einem weiteren Leserkreise unterbreite, so geschieht
es zu allermeist in der Hoffnung, zu ähnlichen experimentellen Unter-
suchungen eine Anregung geben zu können, keineswegs aber m der
bestimmten Erwartung, die gewonnenen Ergebnisse in allen ihren
Teilen bestätigt oder gar frischweg zur Grundlage praktischer Konse-
quenzen gemacht zu schen. Uber den Wert solcher Untersuchungen
darf und brauche ich nichts zu bemerken: doch kann ich den Gedanken
nicht zurückhalten, dafs auf dem Gebiete der Imbezill-P’sychologie das
Experiment bei weitem nicht die Würdigung erfahren hat, die es
verdient. Ich bin fest davon überzeugt, dafs es gerade hier sowohl
für diese selbst und ihre praktische Ausführung, wie für die Psyeho-
logie des normalen Kindes Großes zu leisten im stande ist.
Zweifelsohne — das Experiment hat hier seine besondere
Schwierigkeiten, aber wohin sollte es führen, wenn man sich durch
drohende Schwierigkeiten abschrecken lassen wollte. Solange sie sich
nicht in dem Mafse häufen, dafs sie zur Unmöglichkeit sich ver-
dichten, bleiben sie nur ein Anreiz mehr, den Versuch zu wagen.
Und wenn es wahr ist, dafs Beispiele ermutigen — man denke doch
an die so aufserordentlich wertvollen »Psvchologischen Arbeiten:
Krarpeuıss — das sind Untersuchungen, die ganz gewils oft unter
noch viel schwierigeren Umständen angestellt wurden, wie wir sie
in der Schwachbefähigten-Schule antreffen würden. Allerdings wird
sich von vornherein sagen lassen, dafs es hier in erhöhtem Mafse
158 A. Abhandlungen.
mt Le uaaa aaia hä nö m —
der Vorsicht, der Geduld, der Übung, des Talents für derartige
Untersuchungen seitens des Experimentators bedarf, dafs ferner die
Einzeluntersuchungen notwendig in ihren Ergebnissen eine Sub-
traktion an Genauigkeit erfahren, die Beobachtungen also über ein
in gleichem Mafse wachsendes statistisches Material verfügen
müssen.
Die vorliegenden Untersuchungen sind lediglich ein Versuch.
Es steht gar nicht einmal fest, ob die angewandte Methode, die ohne
weiteres von Experimenten mit Normalbegabten auf Imbezillen über-
tragen wurde, auch zureichend ist, oder ob sie eine Kürzung oder
eine andere Änderung erfahren müsse. Hier gilt es also, das In-
strument erst zu erproben, mit dem Experimente selbst zu experi-
mentieren, um das geeignete Rüstzeug zu finden.
Methode.
Es sei gestattet, mit einigen Strichen die Methode, wie ich sie
in der oben genannten Zeitschrift beschrieben habe, zu zeichnen.
Über die Untersuchungen A. Nerscuwerrs - St. Petersburg bezüglich
der Gedächtnisentwicklung bei Schulkindern, äufsert Herr Professor
Bexxo ErpMaxny (die Psychologie des Kindes und die Schule 1901
S. 34), dafs sie an zu weit gchenden Verallgemeinerungen leide, be-
sonders soweit das Verhältnis der beiden Geschlechter in Betracht
kommt. Nach zwei Seiten hin ist dieser Vorwurf berechtigt. Zu-
nächst vergilst Nerschwerrs, nachdrücklich zu betonen, dafs seine
Untersuchungen sich nur auf die sogenannte mechanische Seite des
Gedächtnisses beziehen, sodann aber — und das fällt schwerer ins
Gewicht — haften seinen Experimenten versuchstechnische Mängel
an, die unmöglich so gesicherte Ergebnisse bezüglich des Verhält-
nisses der beiden Geschlechter gewährleisten, dafs ein sicheres Ver-
gleichen unter ihnen möglich ist. Dieser Umstand zusamt andern,
die näher auszuführen hier zu weit gehen würde, bestimmten mich
an der Versuchstechnik Nerscuaserrs eine eingehendere Korrektur
vorzunehmen.
Das Experiment wurde in der Weise angestellt, dafs aus acht
verschiedenen Gebieten je neun Eindrucke unmittelbar nacheinander
den Schülern geboten, bezw. diktiert wurden mit der dann folgenden
Weisung, sie auf eine bereitgehaltene Schreibfläche niederzuschreiben.
Die acht Gebiete lassen sich in zwei Gruppen sondern. Die erste
unmfalst reale Eindrücke und zwar: a) real-visuelle, b) real-
akustische, die zweite Wörter verschiedenen Inhalts. Den Kindern
Logsiex: Einige Untersuchungen über das Gedächtnis bei Schwachbefähigten. 159
| gg nn m 0.
wurden in Zeitabständen von je 10 Sekunden folgende Dinge ge-
zeigt (a):
Zeitung, Schlüssel, Taschentuch, Glas, Tafel, Kasten, Buch, Hand,
Kreide,
dann wurden ihnen reale Geräusche vorgemacht:
Händeklatschen, Rlopfen, Zerreifsen von Papier, Stampfen,
Pfeifen, Klingeln, Rollen einer Kugel, Klirren mit Schlüsseln, Brummen,
jedoch so, dafs lediglich die Geräusche gehört, nicht aber die sie ver-
anlassenden Organe und deren Bewegungen beobachtet werden
konnten.
Die folgende Gruppe enthält Wörter und zwar:
Zahlwörter: 37, 68, 54, 27, 63, 96. 45, 28, 17.
Visuelle Vorstellungen: Blitzstrahl, Wandkalender, Ziffer-
blatt, Fensterbank, Mondscheibe, Sonnenstrahl, Feuerschein, Himmel-
blau.
Akustische Vorstellungen: Schuls, Gekreisch, Gebell, Donner,
Gebraus, Krachen. Gebrüll, Pfeifen, Gekmall.
Tast- und Empfindungsvorstellungen: kalt, weich, rund,
glatt, heifs, rauh, spitz, kühl, scharf.
Gefühlsvorstellungen: Sorge, Feigheit, Hoffnung, Zweifel,
Hunger, Angst, Freude, Reue, Neid.
Den Schülern gegenüber sinnlose Lauthäufungen: auditiv,
simultan, subjektiv, Transaktion, Lyceun, Quantität, Integral, Diffusion,
Attraktion.
Die Hauptschwierigkeit bei der Auswahl dieser Wörter liegt
offenbar darin, die Arbeitsforderung übereinstimmend zu gestalten.
Diese Übereinstimmung beruht darauf, dafs jedes Wort im Vergleich
zu den andern in gleichem Mafse den Versuchspersonen bekannt, in
gleichem Malse «das Interesse derselben gefangen hält, in gleichen
Mafse endlich sich einer schnellen Reproduktion zu Diensten stellt.
Selbstverständlich kann es sich praktisch nur um Annäherungs-
werte handeln, die Aufgabe: gleiche Arbeitsforderung wird sieh
niemals reinlich lösen lassen, man bleibt immer darauf angewiesen,
entsprechend dem Wesen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, eine mög-
lichst grofse Anzahl von Einzelversuchen anzustellen in der Hoffnung,
dafs sich die Wahrscheinlichkeitskreise um das imaginäre Zentrum
immer enger ziehen werden. — Die Wörter wurden möghehst so
ausgewählt, dafs die jeweiligen Reihen nur von dem mechanischen
Gedächtnisse aufgenommen und dureh dessen Hilfe wiedergegeben
werden mufßsten, dafs also nicht, sei es dureh Assonanzassozlafionen,
sei es durch inhaltliche Verwandtschaft oder auch Gegensatz un-
160 A. Abhandlungen.
kontrollierbarer Gruppenbildungen vom Schüler vorgenommen werden
konnten, wenigstens nicht zu erwarten waren. Wo eine solche Ge-
fahr naheliegend schien, suchte ich ihr dadurch zu begegnen, dafs ich
die fraglichen Wörter innerhalb der Reihe möglichst weit auseinander
rückte.
Die äufsere Gleichgestaltung der Wörter bezüglich der Zahl der
Laute und Silben kommt hier keineswegs so schwerwiegend in Be-
tracht, dafs man nicht je und je davon abweichen dürfte.
Herrn Nerschaserrs Beobachtungen erstreckten sich auf sechs
verschiedene Lehranstalten in St. Petersburg, Volksschulen für Knaben
und für Mädchen, Realschule, Mädchenstift und Lyceum, und auf Schüler
im Alter von 9—18 Jahren. Dem gegenüber beschränken sich meine
Experimente auf Schüler und Schülerinnen hiesiger Volksschulen im
Alter von 9—141/, Jahren. Diesem Mangel in der Anzahl steht aber
eine wesentlich größere Anzahl innerhalb des angegebenen Zeitraums
gegenüber. Ich stellte Versuche an mit 462 Schülern, 238 Knaben und
24-4 Mädchen. Nerscnwerr beobachtete SS Volksschüler, 47 Knaben
und 4+1 Mädchen im Alter von 9—11 Jahren. Die Versuche an
Mädchenschulen hat er so sehr in der Minderzahl gehalten, dafs ich
lebhaft Bedenken trage, zumal wo sie zum Vergleich mit solchen der
Knabenklassen herangezogen werden, sie in allen Teilen zu unter-
schreiben. Für das 9.—11. Schuljahr kommen insgesamt 41 Volks-
schülerinnen in Betracht und zwar für das 9. neun, das 10. fünfzehn,
das 11. dreizehn, für die Zeit vom 12.— 14. sechzig, bis zum 15. neun-
undsiebenzig. Somit stehen 60 + 41 = 101 Versuche mit Mädchen
solehen mit 343 Knaben gegenüber! Dazu kommt ferner: die Mäd-
chen gehören wesentlich verschiedenen Bildungsanstalten an (41 der
Volksschule, 60 dem Gymnasium). Die Versuchsergebnisse erfahren
damit noch eine weitere Einbuße an ihrem Werte. Denn die ganze
Unterrichts- und Erziehungsweise des Gymnasiums gegenüber der
Volksschule bedingt notwendig Verschiedenheiten in der Entwicklung
der Gedächtnisarten, schon quantitativ eine verschiedene Inanspruch-
nahme dieser oder jener (redächtnisweise Unterschiede bleiben ge-
wifs auch bestehen innerhalb der verschiedenen Klassen solcher Bil-
dungsanstalten, die gleiche Ziele verfolgen. Wenn man aber in der
Weise NETSCHAEFFS eine geringe Anzahl Versuche mit Mädchen ver-
sehiedener Bildungsanstalten mit einer überwiegend grofsen Anzahl
Knaben, die derselben Schule angehören, vergleicht, dann vergröfsert
man den Fehler und gelangt zu Ergebnissen, die noch weit weniger
einwandfrei sein können. Ich suchte dem Experiment und seinen
Ergebnissen dadurch eine größere Gleichmäfsigkeit zu geben, dafs
Losses: Einige Untersuchungen über das Gedächtnis bei Schwachbefähigten. 161
ich die Versuche mit Knaben und Mädchen annähernd gleich-
gestaltete und den Versuch beschränkte auf Unterrichtsanstalten.
die in ihren Klassen- und Gesamtzielen theoretisch gleichge-
stellt sind.
Für die Wertung der Versuchsergebnisse kommen auch für die
vorliegenden Untersuchungen nur die richtigen Aufzeichnungen
in Betracht. Ich gebe die Vorsuchsergebnisse in Prozenten wieder.
Zunächst aber ist notwendig, aus jenen Experimenten die Ergebnisse
anzumerken, die hier zum Vergleiche dienen sollen.
A. Die wichtigsten Versuchsergebnisse normaler Schüler.
Ich suchte zunächst zu gewinnen die zu vergleichenden Gesamt-
werte der verschiedenen Gedächtnisweisen auf allen Altersstufen. Ich
fand folgende:
Knaben Mädchen
o
Art des Gedächtnisses
—
m —
Reale Dinge . . : 222 nn nn nn 82.2 91,4
„» Geräusche. 2 ze a a‘ 59,0 52,2
Zahlwörter. . 2 nen 64,8 71.8
Wörter: visuelle Vorstellungen. . . . .. 50,6 71.0
akustische Vorstellungen . . . 2 2 202. 59,4 60,2
Tastvorstelungen . . 2 2 2 nn ne. 64,2 67.2
Gefühlsvorsteliungen . . 2 2 2 2 20. 3.2 59.4
Lautbäufungen . 2. 2.20 nn 24,0 23,8
Schon diese Übersicht zeigt deutlich, dafs die Energie des mecha-
nischen Gedächtnisses insgesamt bei den Mädchen höher liegt
als bei den Knaben und zwar um 7.6°/
Die nachstehenden Übersichten sollen die Höhe der Gedächtnis-
entwicklung auf den verschiedenen Altersstufen der Knaben und
Mädchen offenbaren. Obwohl für die vorliegenden Untersuchungen
nur zwei Altersstufen leider Verwertung finden konnten, so möchte
ich doch im Interesse einer etwaigen Nachprüfung und auch der
Vollständigkeit wegen. die Tabelen ganz herstellen. Die Altersstufen
sind bezeichnet mit I = 9-10, I = 10—11, HI = I1-12, IV
= 12—13, V = 15—111, Jahre.
(Niehe Tabelle N. 162.)
Die Kinderfehler. VII. Jahrgang. 11
A. Abhandlungen.
I. Knaben.
| Art des Gedächtnisses
— a Pae ger | p
E ap S =» e S
Stufe £ z | NS 2, HEMET =
= = | 2 | BEI En S
A F SE ah Se, S =
=: | fe = = u EE G | =... 3 = (ge)
= ; z = n WS Q oa yz z | JS 03 2
T & 87 & |5
I. 92,56 o 71,89 | 8067 | 73,00 | 4,18 75,33 | 75,44 | 40,56
II. 76,45 | 5733 | 7233 | 69,67 54.89 73,67 | 58,67 | 37,07
IH. 89.78 | 57,13 | 70,22 | 59,67 | 63,00 | | 35,33 | 19,89
IV. 87,12 | 55,33 | 49,33 | 55.11 | 4844 | 57.11 | 3832 | 12,44
y. 6400 | 53,33 | 49,09 | 56,56 | 48,78 | 43,07 | 27,22 | 7.22
Ich bitte, bis zur I. Stufe zu
vergleichen.
die Gesamtentwicklung von der V.
Sie beträgt:
42,56 74.78
für Gegenstände: 64,00 akustische Vorstellungen +3,78
28,56%, "31,00%,
71,59 15,33
für Geräusche: 53,33 Tastvorstellungen: 43,67
18.1077, 31,66%,
s 1544
50.67 Gefühlsvorstellungen: 27,22
für Zahlen: 49,09 \ Is9507
EEA r E A
durchschnitt für Wörter: 34,33%,
für Wörter: 73,00 Laut- 40,56
visuelle Vorstellungen: 46,56 häufungen ohne Inhalt: 7,22
26,44%, 33,34%,
Am weitesten wächst also das Gedächtnis für Gefühlsvorstellungen
am geringsten das für Geräusche. Berechnet man nun
aus der vorstehenden Tabelle die Differenzen der Gedächtnisentwick-
lung auf den verschiedenen Altersstufen, so findet man für das drei-
zehnte Lebensjahr eine bedeutende Zunahme für Gegenstände, Ge-
räusche und Gefühlsvorstellungen besonders im Vergleich zu der
Altersstufe, die sogar einen Rückgang aufweist. Da-
und Zahlen,
vorhergehenden
rür zeist dieses Alter eine bedeutende Zunahme des Gedächtnisses
für Wörter visuellen Inhalts und für Wortbilder. Um das zehnte
Lebensjahr herum offenbart sich die grölste Zunahme überhaupt im
Zahlengedächtnis, für akustische, Tast- und Gefühlsvorstellungen.
Wir
Lossen: Einige Untersuchungen über das Gedächtnis bei Schwachbefähigten. 163
haben hier, abgesehen von den Differenzen im Gedächtnis für Gegen-
stände und Geräusche zwischen Stufe I und II, überhaupt den relativ
bedeutendsten Gedächtniszuwachs zu verzeichnen. In dem
9.—10. Lebensjahre findet sich eine Steigerung des Gedächtnisses für
reale Gegenstände und Wörter visuellen Inhalts. Es zeigt sich also,
dafs auf verschiedenen Altersstufen die Energie in der Gc-
dächtniszunahme sich je auf einzelne Seiten konzentriert
und andere weniger berücksichtigt.
Der Gesamtzuwachs im Gedächtnis betrug bei Knaben:
Gedächtnis für reale Dinge . . ..... etwa 1),
” s Geräusche =... 0 so o e Us
5 s Zahle- = =. 0 a e oe a 4
5 „ Wörter: visuelle Vorst. . a 15
e : $ akustische Vorst. u 3/4
D 5 ` Tastvorstellungen . m eh
gegenüber der Energie um das 9. Lebensjahr herum. Dagegen stieg
die Zunahme im Gedächtnis für
Gefühlsvorstellungen um . . etwa 1%,,
sinnlose Lautkompositionen . „47,
der ursprünglichen Energie.
II. Mädchen.
c_i ser —— an Ben
Art des @sdächtiisses
| j A | AÀ i . en
a | = u en g =
z ` mon G OET 5 A O
mr 23 10 8% E, 4% $8 Seles|s
5 Jp ğ =z ı DEı mA, 28 et =
2 7 T Seile T a eke 2
=: O i fa zZz = =~ C Ben A e = 5
= | = | =] a T I g 7
œ T 33 © © es
EEE RER 8 |’ ä | u
| QC s kps | en | e [m Ic )Y
I. 99,56 | 82,67 ' 87.22 . 96,76 | 71,44 | 72,00 | 70,22 : 41,33
JI. 92,89 | 75,56 | 74,89 | 77,22 | 63,11 | 7467 | 67,33 34,89
II. 94,00 | 56,00 | 73,56 | T278 | 72,11 70,89 | 7i 33 | 23,22
IV. 75,78 | 46,22 | 62,44 5622, 5478 | 58 n 13,22 0H
V. 89,23 | 46,22 ! 50,44 | 54,23 38.22 | 51,11 | 3250 6,80
| i
Die Differenz für die Gesanitentwicklung der ersten gegen die
letzte Altersstufe beträgt also:
99,56 82,67
für reale Gegenstände: 89,33 für Geräusche: 46,22
1 0,35 ur 36,9
11*
164 A. Abhandlungen.
81,22 52,00
für Zahlen: 50,47 Tastvorstellungen: 51,11
36,18% 30,89 9/9
70,22
für Wörter: TL4 Gefühlsvorstellungen: 32,89
visuelle Vorstellungen: 38,22 "373307
399907 9 Jo
ee 41,33
14 Lautkompositionen: 6,89
akustische Vorstellungen: BS22 O Gesamt- 34,149),
33,220, durchschnitt für Wörter: 33,49 T
Gedächtnisentwicklung überhaupt 30,28%, gegenüber 27,97 °/, bei
den gleichalterigen Knaben.
Es zeigt sich mithin bei Mädchen gegen den Anfangswert eine
Zunahme:
für Gegenstände . . 2. 22.2.2... um etwa Ih
in erdusche.s a a a a ee es
a Zahlen u & & 2 2.8 vum ae a y
„ Wörter: visuelle Vorstellungen . . a o} 4h
" n akustische i Jaa a a
A] r © 3
& 5 Tastvorstellungen . . . 2. 2009» 8
s P Gefühlsvorstellungen x ahe
„ Lauthäufangen . . . 2202020200, das 6fache
der Anfangshöhe.
Es offenbart sich einem Vergleich der einzelnen Altersstufen
untereinander bei Mädchen für alle Seiten eine bedeutende Ge-
dächtniszunahme um das 12. Lebensjahr herum. Über-
troffen wird diese Zunahme nur im 14. Lebensjahre bezüg-
lich des Gedächtnisses für visuelle Vorstellungen. Um das
3. Lebensjahr zeigt sich die weitaus grölste Steigerung der Gedächt-
nisenergie für Geräusche und sinnlose Lauthäufungen. Ein
auffallender Rückgang im Gedächtnis für Gegenstände zeigt sich bei
dem Übergang von der II. zur IV. Stufe.
Vergleich.
Ich will in aller Kürze einige Momente, die hier wesentlich sind,
hervorkehren:
l. Der Gesamtdurchschnitt der Gedächtniszunahme liegt bei den
Mädchen etwas höher als bei den Knaben, nämlich:
Mädchen . ......3028%,
Knaben. ı e s a DIESEN,
Diklerenz; «. = -a L01
Lopsıen: Einige Untersuchungen über das Gedächtnis bei Schwachbefähigten. 165
2. Für die einzelnen Seiten des Gedächtnisses ergeben sich fol-
gende Worte:
Mädchen . 10,33
reale Gegenstände
Knaben. . 28,56
K. = + 1823,
ten M. . . . 36,45
N | K.e 2.2.3158
K. — 487%
M. . . . 368
AAN | RK. 2... 03138
K. — 5,20%,
M. 4% 5.899
visuelle Vorstellungen | K... . 2H
K. — 075%,
Me u w e 8
akustische Vorstellungen ! K. . . . 3100
Kea 2220
M . . . 30.99
stellung« J l
Tastvorstellungen UK. . . . 3166
K. F 0,7%,
i Mo. o 3733
Gefühlsvorstellungen | K... 4822
K. + 10,99%%
ri i Mo... 3349
Wörter überhaupt Ko 3133
K. + 0,54%
F Mo.. 2A
Lauthäufungen | K.. 3334
K. — 110%
Nur in der Gedächtnisentwicklung für reale Dinge, Tast-, Ge-
fühlsvorstellungen und sinnvolle Wörter überhaupt zeigen sich die
Knaben den Mädchen überlegen. dabei mufs man aber bedenken, dafs
diese Werte ihren wahren Sinn nur gewinnen, wenn man die je-
weiligen Anfangshöhen auf Stufe V beiderseits vergleicht. Hier zeigt
sich, dafs die Knaben mit einer oft wesentlich geringeren Gedächtnis-
energie begabt waren. Am schnellsten orientiert über diese Verhält-
nisse eine Kurve; ein Vergleich der zwischen den Kurven liegenden
Ordinatenstücke mit ihrer Gesamtlänge zeigt die zu vergleichenden
Werte der Energichöhen.
166 A. Abhandlungen.
|
2
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3. Das Verhältnis der Durchschnittswerte auf den einzelnen
Altersstufen zeigt folgendes Bild:
Stufe Knaben | Mädchen | Durchschnitt
I: 7,81 8,69 8,25
I: HI 253 3,08 2,30
III: IV 10.60 16,75 13,67
Iv:V 6,91 4,82 5,86
Die relative Gedächtniszunahme ist also am gröfsten zwischen
der IH. und IV. Altersstufe, wie auch nachstehende Zeichnung ver-
anschaulicht:
Losses: Einige Untersuchungen über das Gedächtnis bei Schwachbefähigten. 167
ee re en ne I—III
HI—IV
Diese relative Zunahme berechtigt nur im Vergleich zu dem
Gedächtnisumfang bei Beginn der Untersuchungen zu
richtigen Schlüssen über die Verschiedenheit des Gedächtnisses
zwischen Mädchen und Knaben.
3. Das Übergewicht in der Gedächtniszunahme der Mädchen
gegenüber den Knaben ist auf den verschiedenen Altersstufen:
13—14!/, Jahre alt 5.91%: für Wörter überhaupt: 5,5 9%
12—13 ee . 4.1701,
11—12 r aSa a r 9,459),
10—11 ooa = ODT yooo a 3,67%,
9—10 m 1 1) . 3,9707,
Zum Schlufs möchte ich noch einen Vergleich erwähnen, der ın
das Bereich der vorliegenden Aufgabe fällt, ich meine zwischen den
Versuchsergebnissen mit Wörtern akustischen und visuellen Inhalts
einerseits und den entsprechenden realen Dingen und Geräuschen
andrerseits.
(Niche Tabelle S. 108.)
Die Tabelle offenbart deutlich als eigentümliches Ergebnis, dafs
zwar die unmittelbare Beobachtung gegenüber der durch das Wort
veranlafsten Reproduktion einer visuellen Vorstellung für die Energie
des Gedächtnisses von sehr großer Bedeutung ist, keineswegs aber
auch immer das wirkliche Geräusch dem durch das Wort reprodu-
zierten gegenüber. Die Tabelle weist für Knaben im Alter von 9
168 B. Mitteilungen.
Knaben Mädchen
Stufe O A RE ERIGUEEE,
Gegen- Wort | Ge- © Wort Gegen- Wort Ge- Wort
stand | räusch Ä stand į usch) č räusch
1. 92,56 | 43, 00 71.89 | 74,78 | 99.56 | 96,67 96.67 | 8207! 82,67 71,44
II. 76,45 ' 60.67 . 57,33 | 64,89 | 92.80 : 77,22 | 75,56 | 63,00
IT. 89,78 59,67. 57,19 | 63,00 | 9400 , 72,78 | 56,00 | 72,4
IV. 87,12 | 55,11 55,33 | 48,44 | 75.78 | 56,22 | 46,22 | 54,78
V. 64.60 | 46,56 | 53,33 , 43,78 | 89,33 | 54,22 | 46,22 | 38,22
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i
his 11 Jahren für akustische Vorstellungen gegenüber den realen Ge-
räuschen zwar einen Vorteil der ersteren nach; um das 12. Lebensjahr
herum aber kreuzen sich die Werte und es überwiegt, wenn auch nicht
sehr stark, das Wortgedächtnis. Auch bei den Mädchen zeigt sich
um dieselbe Zeit em ähnlicher Umschwung. Hier aber überwiegt bei
älteren Kindern das Gedächtnis für akustische Reize gegenüber dem
entsprechenden Wortgedächtnis, während bei den kleineren der Um-
fang des Gedächtnisses für Wörter mit akustischem Vorstellungsinhalt
gegenüber wirklichen Geräuschen überwiegt. Nur für das Alter von
9—10 Jahren findet sich ein kleines Übergewicht. Denken wir uns
die Werte in Kurven veranschaulicht, dann finden wir durchgehends
ein Überwiegen des Gredächtnisses für reale Dinge, doch ist der Ab-
stand gegen «das Wortgedächtnis keineswegs konstant. Zwischen
Knaben und Mädchen besteht der charakteristische Unterschied, dafs
hei diesen die Differenz der Ordinatenlängen von unten nach oben
konstant geringer wird, und zwar ist das zurückzuführen auf die be-
deutende Zunahme des Wortgedächtnisses, zumal im 13.—14. Lebens-
jahre. Bei den Knaben ist die Abnahme der Distanz weniger gleich-
mälsig. Am bedeutendsten überragt das Gedächtnis für reale Dinge
in der Zeit vom 10.—12. Jahre, am wenigsten um das 13. herum.
(Schlufs folgt.)
Day za N A e nem
B. Mitteilungen.
l. IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands.
Am 14. und 15. April fand in Mainz der IV. Verbandstag der
Hilfsschulen Deutschlands statt, der sich einer aulserordentlich regen
Beteiligung aus allen Teilen Deutschlands und auch aus dem Auslande zu
erfreuen hatte. Schon die Zahl der beim ÖOrtsausschusse eingelaufenen
IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands. 169
Anmeldungen zeigte eine Steigerung selbst gegenüber dem so glänzend
verlaufenen 3. Verbandstage in Augsburg. Wieder waren neben den Ver-
tretern der Hilfsschulen Schulauftsichtsbeamte, Vertreter von Ministerien,
Regierungen und Magistraten, Professoren. Ärzte, Geistliche und die
Lehrerschaft der verschiedensten Schulen sowie auch Privatpersonen in
beträchtlicher Zahl anwesend. Am 14. April fand um 11 Uhr mittags eine
Sitzung des Verbandsvorstandes und nachmittags 4 Uhr eine gemeinsame
Sitzung des Vorstandes und Ortsausschusses zur Besprechung geschäft-
licher Fragen statt. Abends 7 Uhr begann die 1. Versammlung im Heilig-
geistrestaurant, an der 214 Personen teilnahmen. Der 1. Vorsitzende
Stadtschulrat Dr. Wchrhahn-Hannover begrülste die Versammlung im
Namen des Vorstandes und Ortsausschusses, dankte in beider Namen für
das zahlreiche Erscheinen und gab dann einen kurzen Rückblick über die
2 verflossenen Jahre und die während derselben vom Vorstande entfaltete
Tätigkeit. Es sind in über Erwarten grolser Zahl neue Hilfsschulen ent-
standen, ebenso ist die Zahl der Verbandsmitglieder ganz aulserordentlich
gewachsen. Von den verschiedensten Seiten ergingen Anfragen an den
Vorstand; die von demselben herausgegebenen Berichte wurden in so grofser
Zahl verlangt, dafs die über den 1. und 2. Verbandstag jetzt völlig ver-
griffen sind. In einigen Gegenden und Städten sind kleinere Vereine und
Verbände zur Förderung des Hilfsschulwesens und zwecks sozialer Für-
sorge für die Hilfsschulzöglinge entstanden. Der Verband kann das nur
herzlichst begrülsen, mufs aber auch andrerseits den dringenden Wunsch
hegen, dafs derartige Vereine sich dem Verbande anschlielsen und im
Einvernehmen und Zusammenwirken mit ihm den für beide ja gemeinsamen
Zielen zustreben. Auch im Auslande falst man die Gründung von Hilfs-
schulrerbänden ins Auge. Nach unmittelbar vor dem Verbandstage aus
England eingegangenen Nachrichten ist dort bereits aus 30 Städten die
Bereitwilligkeit dazu erklärt worden, und es wird dort im nächsten Jahre
— (dem deutschen Beispiel folgend, wie der betreffende Herr aus Liver-
pool schreibt — der 1. Hilfsschulverbandstag stattfinden. — Vielfach ge-
äufserten Wünschen entsprechend hat sich der Vorstand entschlossen, die
Versammlung um die Ermächtigung zu bitten, Schritte bei den Behörden
zu unternehmen, die auf die Einrichtung von Kursen zur Ausbildung und
Fortbildung von Hilfsschullchrern hinzielen. — Zum Zweck der Klärung der
vielfach erörterten Frage, ob zwangsweise Kinder der Hilfsschule zugeführt
werden können, hat der Vorstand eine Rundfrage an die Schulverwaltungs-
organe der Städte mit Hilfsschulen ergehen lassen und ein Vorstands-
mitglied mit Verarbeitung des eingegangenen Materials beauftragt. — Der
Vorstand bittet ferner die Versammlung um die Zustimmung zu einer
Änderung des $ 1 der Satzungen in dem Sinne, dafs auch die soziale
Fürsorge für die Hilfsschulzöglinge ausdrücklich als Aufgabe des Verbandes
hingestellt wird.
Hierauf hielt Hauptlehrer Giese-Magdeburg einen Vortrag über
»Das Rechnen auf der Unterstufe der Lilfsschule.« Der Vor-
tragende hob neben dem formalen Werte des Rechnens die praktische Bce-
deutung für das spätere Leben hervor, die in vielen Fällen noch die des
170 B. Mitteilungen.
Lesens und Schreibens übersteige, betonte, dafs die Hilfsschule sich in
ihrem Rechenstoff auf das Äulfserste zu beschränken habe und bezeichnete
als Ziele für 6 Schuljahre in der Hilfsschule: Addition und Subtraktion
von 1—10 im 1. Jahre, dasselbe bis 20 im 2., dasselbe bis 100 im 3.,
Multiplikation und Division bis 100 im 4., die 4 Spezies bis 1000, dezi-
male Schreibung von M — Pf, m — cm, hl — l und die bekanntesten
Fälle der Bruchrechnung im 5. und 6. Jahre, wobei noch nach dem Malse
der Gliederung der einzelnen Schule zu modifizieren sei. Die Beschränkung
auf Addition und Subtraktion in den ersten Jahren begründete der Vor-
tragende damit, dafs man den Hilfsschulzöglingen nicht zuviel gleichzeitig
bringen dürfe, dafs Multiplikation und Division als abgekürzte Addition
und Subtraktion wesentlich schwieriger seien als diese Rechenspezies und
erst nach erlangter voller Sicherheit im Addieren und Subtrahieren mit
Erfolg behandelt werden könnten, vorher meist nur auf ein mechanisches
Einprägen hinauslaufen würden, dals ferner im Zahlenraume von 1—10
nicht geniigendes Übungsmaterial für Multiplikation und Division zur Ver-
fügung stehe. Im 1. Jahre läfst Referent folgende Übungen treiben:
Zählen vor- und rückwärts, zuerst an Dingen, dann an Zeichen, endlich
ohne sinnliche Veranschaulichung: Bestimmung des Platzes einer Zahl in
der Zahlenreihe; Zerlegen der Zahlen und die Umkehrung desselben, das
Ergänzen; Adqdieren und Subtrahieren. Zerlegen und Ergänzen sind sehr
wichtige Übungen, da sie erst den Inhalt der Zahl völlig erkennen lehren,
das Überschreiten des 1. Zehners wirksam vorbereiten und weil, nachdem
sie gründlich betrieben sind, Addieren und Subtrahieren im Wesen nichts
Neues mehr bieten. Eine Zerlegung des Gebiets in die 2 Gruppen
1—5 und 6—10 hält Referent für ungeeignet. Der Hilfsschulzögling
vermag nicht mehrere Zahlvorstellungen kurz hintereinander aufzunehmen ;
man muls also von Zahl zu Zahl fortschreiten und jede für sich er-
schöpfend behandeln. Da man beim Eintritt des Kindes in die Hilfsschule
absolut keine Zahlenvorstellungen voraussetzen darf, so müssen zunächste
die Begriffe »cins« und »viele durch mannigfache Übung entwickelt und
festgelegt werden. Stets werde zuerst mit benannten Zahlen gerechnet
und zwar erst mit, dann ohne Veranschaulichungsmittel. Erst, wenn die
Vorstellung klar und deutlich geworden ist, trete die ıunbenannte Zahl auf.
Von vornherein müssen angewandte Aufgaben mit herangezogen werden.
Neben der mündlichen Übung darf die schriftliche nicht fehlen. Vor der
Kenntnis der Ziffern behilft man sich mit anderen Zeichen, die dann
später allmählich zurücktreten. Im 2. Jahre bereitet nur das Überschreiten
des 1. Zehners Schwierigkeit, weil hier jede Aufgabe cine 3fache Tätig-
keit erfordert. Unbedingte Sicherheit im Ergänzen und Zerlegen sind dabei
unerlälsliches Erfordernis. — Wegen der Schwierigkeit des Rechnens für
die denkschwachen Zöglinge der Hilfsschule ist weitgehendste Veranschau-
lichung nötig. Die Anschauung sci wahr (die Vorstellungen müssen an
konkreten Dingen gewonnen, Münzen, Malse und Gewichte unmittelbar
angeschaut werden), sie sei mannigfaltig (Münzen, Malse und Gewichte
worden nicht blols gezeigt, sondern die Kinder operieren auch selbst
damit), sie werde oft wiederholt, finde daher nicht blols bei der ersten
IV. Verbandstag der Milfsschulen Deutschlands. 171
Durchnahme, sondern auch bei der Einübung und Wiederholung statt.
Neben Rechenfähigkeit ist soviel wie möglich auch auf Rechenfertigkeit
hinzuwirken. Daher mufs stets reichliche Übung bis zur völligen Sicher-
heit stattfinden. Als Rechenvorteile empfiehlt Redner: Vertauschen der
Summanden (9 + 2 statt 2 + 9), Ausgehen von bequemen Aufgaben
(7 + 8= 7 4+ 7 + 1), Zurückführen auf die Grundzahlen (bei 18 —3
denke man an 8 —3), Heranzichen einer verwandten Rechnungsart
(leichter als 87 —”9 ist die betreffende Ergänzung), Gegenüberstellen von
Zuzählen und Abziehen. Vielfache Wiederholung ist durchaus nötig, doch
sei sie planmäfsig geordnet. Als Anschauungsmittel sind cinfache Dinge
aus der Umgebung des Kindes, Rechenapparate, graphische Darstellungen
reichlich zu benutzen. Wechsel in denselben erhöht die Klarheit der Be-
griffe. Besonders zu empfehlen sind solche, die cin selbsttätiges Darstellen
der Kinder zulassen. Auch die Zahlenbilder sind als ein, aber nicht als
das einzige Anschauungsmittel zu verwenden. — Redner empfiehlt den
Gebrauch eines Rechenbuches in der Ililfsschule, da dasselbe Zeit erspart,
wenn in weniger gegliederten Schulen Abteilungen schriftlich beschättigt
werden müssen, weil es eine Mithilfe der Eltern ermöglicht und die Ein-
heitlichkeit des Unterrichts in mehrklassigen Schulen und bei Lehrer-
wechsel unterstützt. Der darin enthaltene Stoff ist auf das Notwenlligste
zu beschränken, alles nebensächliche Beiwerk ist fernzuhalten, die Schwierig-
keiten dürfen nur ganz allmählich gesteigert und es muls für alles ein
reicher Übungsstoff geboten werden.
An den Vortrag schlols sich eine schr ausgedehnte lebhafte Debatte,
die sich zunächst mit dem dem 1. Schuljahre gesteckten Ziele befafste.
Verschiedene Redner waren unter Betonung des individuellen Verfahrens
als Grundlage des gesamten Hilfsschulunterrichts gegen jede Zielsetzung,
indem sie auf die so sehr verschiedene Gliederung der Ililfsschulen und
auf die aufserordentliche Verschiedenheit des Schülermaterials hinwiesen ;
andere forderten Herabsetzung auf das Gebiet von 1—5, wieder andere
waren gegen Ausschluls der Multiplikation und Division. Von anderer
Seite wurde energisch betont, dafs die Versammlung zu positiven Fost-
setzungen schon im Interesse der noch zu gründenden Hilfsschulen kommen
müsse und dafs dazu völlig ausreichende Erfahrung vorliege!). Die grölsere
Mehrheit stimmte schlielslich dem Referenten zu mit dem Vorbehalt, dafs
das Gebiet von 1—10 nicht als Ziel des 1. Schuljahres, sondern der
I) »Der Mensch sieht nur, was er weils«, sagt der Psychologe IIerbart.
Auch hier geht es so, Die nicht psychologisch - kritische Erfahrung hat einen sehr
zweifelhaften Wert. Ich habe bei anderen Fragen schon wiederholt dargctan, wie
die landläufige Erfahrung papageienmälsiges Wortwissen für tatsächliche Sachkennt-
nisse hält. Das Rechnen macht auch keine Ausnahme. Die Frage des ersten
Rechenuuterrichts läfst sich darum erst beantworten, wenn cine genaue Unter-
suchung über die Zahlvorstellungen bei normalen wie bei schwachsinnigen Kindern
und über die natürliche Entwicklung der Zahlbegriffe vorliegt. Die fehlt uns m. W.
noch immer. Und so lange schweben alle jene Fragen teilweise in der Luft.
Trüper.
112 B. Mitteilungen.
untersten Rechenstnfe bezeichnet wurde. In Bezug auf Veranschaulichung
im Rechenunterrichte wurde von verschiedenen Seiten der hervorragende
Nutzen und die Notwendigkeit der selbsttätigen Darstellung von seiten der
Kinder betont. Auch die Frage des Rechenbuchs rief eine lebhafte Aus-
sprache für und wider hervor. Die vom Redner vorgelegten Thesen er-
hielten durch die Debatte folgende Fassung:
1. In der Hilfsschule kommen auf der untersten Stufe Addition und
Subtraktion im Zahlenraume von 1—10 und auf der zweiten Stufe die-
selben Grundrechnungsarten bis 20 zur Behandlung. 2. Durch mannig-
faltige und häufige Anschaunng und Darstellung wird Rechenverständnis
angebahnt. 3. Durch vielseitige Übung und wnermüdliche Wiederholung
ist Rechenfertigkeit zu erzielen. 4. Für die Hilfsschule ist ein den Ver-
hältnissen derselben angepalstes Rechenbuch wünschenswert.
(Schlufs folgt.)
2. Psychologische Beobachtungen an einem Kinde.
Von Adolf Rude in Nakel a. d. Netze.
(Schlufs.)
6. Lebensjahr.
5 Jahre: Spekulation berichtigt Sinnestäuschung. Wir, die
Eltern und die Kinder, wollen bei schönem Wetter in einem Wagen nach
Bromberg fahren. Da es vor der Fahrt sehr windig wird, sagt Lucie:
»Das ist vom lieben Gott doch gar nicht schön eingerichtet, dafs gerade
heute so schlechtes Wetter ist.« Wir fahren trotzdem. Der dreijährige
Erwin sagt: »Sieh, wie die Weichsel mitfährt und die Bäume!« Da be-
lehrt ihn L.: »Nein, das sieht blofs so aus. Wir fahren, und die
Bäume bleiben stehen.«
1 Monat: Reproduktion nach dem Gesetze der Ähnlichheit,
Beobachtung. Unterscheidung. L. hat bei der Grolsmutter einen
sogenannten Hausscgen gesehen: eine Tafel mit einem Spruche und
den beiden Engeln von der sixtinischen Madonna. Sie kennt ferner, wie
schon oben angeführt ist, das ganze Bild selbst in einem grolsen Stich.
Nun sieht sie auf einem Wäschebeutel die beideu Engel in Stickerei ab-
gebildet. Diese reproduzieren sofort das Bild auf dem Haussegen, nicht
aber das Gesamtbild. Sie wundert sich wiederholt über die sonderbare
Haltung der Engel, namentlich über das Stützen des Kopfes. (Der drei-
jährige Erwin findet auf meine Frage sofort heraus, dafs das Bild auf
dem Haussegen, den er früher einmal gesehen hat, blau und rot sei, der
Stich aber schwarz.)
Unterscheidung. L. kennt ein Bild Bismarcks mit einem
Hute. Erwin zeigt auf das Bild einer fremden Person und sagt un-
richtig: »Das ist Bismarck.« L. meint: »Nein, er trägt ja einen Helm,
und Bismarck trägt einen Hut.«
Sie will mich belchren: »Papa, weifst du? Am heil’gen Abend ist
ww
Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. 17:
Kaisers Geburtstag.« Die vielen Lichter an beiden Festen verursachen
wohl diese Annahme.
Ein andermal sagt sie: »Unsere Kaiserin heilst Auguste Viktoria.
Unser Kaiser hat sich mit ihr verheiratet. Nicht wahr, Mama% Als
Erwin falsch wiederholt »Eiguste«, lacht sie.
Empirisches und spekulatives Interesse L. fragt nach
allem, was sie sieht und nicht versteht, so auch, auf ein Thermometer
deutend: »Wozu ist das?« Ich erkläre: »In der weilsen Kugel ist
Quecksilber. Wenn es in der Stube warm wird, kriecht das Quecksilber
nach oben; wenn es kalt ist, fällt es nach unten.« Das merkt sie sich
und nimmt sich vor: »Wenn die Mama uns Schokolade gibt, dann machen
wir von dem weilsen Silberpapier auch solche Kugeln und spielen
Thbermometer.« Auf meine Frage, wo wir noch andere Thermometer
haben, zeigt sie auf das aulsen am Fenster angebrachte Thermometer
und auf das des Lamprechtschen Polymeters. Dann erinnert sie sich: »In
der Wohnstube ist auch eins« [zusammen mit dem Barometer).
Sie weils sicher zu unterscheiden, was rechts und was links ist.
Sie freut sich immer sehr auf den Sonntag.
2 Monate: Schlie[st: »Wenn Erwin dem Papa etwas zu Weihnachten
schenken will, dann mufs er etwas machen. Wenn er nichts machen
kann, dann muls er etwas kaufen. Wenn er auch kein Geld hat, dann
kann er nichts schenken.«
Sittliches Urteil: Ich trinke Limonade L. bittet die Mama
auch darum, und diese verspricht sie ihr für später. Am Abende mahnt
L. darum. Mama meint: »Ich hatte es vergessen. Hast Du denn
noch Durst? Jetzt ist es schon so spät.« Da antwortet L.: »Du hast
mir doch versprochen; dann darfst Du es auch nicht vergessen! Sie
hat die Überzeugung, dals man ein Versprechen auch halten muls. Aufser-
dem kommt ihr der Einfall recht gelegen.
L. sieht Bilder in einer Zeitschrift und sagt: »Das ist ein Heider-
dorf« (manchmal auch: Heidedorf). Ich frage: »Was ist ein Heidedorf%
L. weils zunächst nichts anderes zu sagen als: »Wenn Ihr oder
Hedwig etwas sagt, dann höre ich genau zu und spreche es nach.« Auf
meine wiederholte Frage, was ein Heidedorf sei, antwortet sie: »Eine
Heide und ein Dorf.« Ich: »Was ist eine Heide?« Antwort: »Wo gar
nichts ist, auch kein Kirchhof. Mama hat eine Erika-Geschichte davon
erzählt.. — Auf einem andern Bilde sieht sie Südsee-Insulaner. Sie
sagt: »Diese sehen einmal ‚drollig‘ aus.« Dieses Wort scheint ihr zu ge-
fallen; denn sie wiederholt cs mehrmals.
Genaue Beobachtung. Auf einem andern Bilde sieht L. die
weinenden Zwerge an dem Glassarge von Schneewittchen. Das Gesicht
des einen Zwerges ist stark schattiert. Da meint L.: »Der hat sich
wohl an der Laterne das Gesicht verbrannt?“ Jeh sche auf dem Bilde
keine Laterne und frage: »An welcher Laterne?“ Da weist mich Lucie
auf ein anderes Bild zu demselben Märchen. Dort wirft ein Zwerg mit
einer Blendlaterne Licht auf das in dem Bette ruhende Schneewittchen.
Spekulatives Interesse. Zweck menschlicher Organe. IL. fragt
174 B. Mitteilungen.
mich: »Warum hast Du da (Wimpern) und hier (Brauen) Haare? Wozu
sind sie?%« Solche Fragen nach dem Zwecke oder dem Grunde stellt
sie oft.
Beobachtet Anffälliges und schliefst nun auf anderes.
Es werden Kieler Sprotten gegessen. Da beobachtet Lucie: »Der Kopf
ist so leer. Ist unser Kopf auch leer%
Sie urteilt: »Rote Tücher sind moderner (sie meint: schöner) als
gelbe« — Sie sieht ein gelbseidenes Tuch und vergleicht: »Das glänzt
so schön wie Gold oder Silber.« — Ein anderer Vergleich: »Erwin
hat so rote Backen, als ob sie der Herr Behnke (der im Hause wohnende
Konditor) angestrichen hätte.«
Bei einer Halskrankheit mufs sie mit einer Alaunlösung gurgeln.
Beim erstenmal schreit und weint sie, später schon weniger. Als nur
noch wenig in der Flasche ist, fragt sie jeden Augenblick, ob sie nicht
wieder gurgeln solle. Ihrem Brüderchen muls mit einer scharfen Lösung
die Mundhöhle ausgepinselt werden, da sich an derselben Bläschen ge-
bildet haben. Erwin schreit jedesmal beim Einpinseln sehr. L. sucht
ihm nun Mut zu machen: »Wenn gepinselt wird, wirst Du ja bald ge-
sund. Das Gurgeln ist noch viel schlimmer. Das mufs man ganz hinten
im Halse machen.«
3 Monate: Veränderung lälst eine identifizierende Apper-
zeption nicht zu. L. sieht ein Bild zu dem Märchen: »Der ge-
stiefelte Kater.« Sie fragt später einmal die Mama: »Haben alle Kater
gelbe Stiefel an?« Weil der Kater im Märchen aufrechtgehend und
menschenähnlich abgebildet ist, hat sie anscheinend gar nicht begriffen,
dafs der Kater eine (männliche) Katze ist.
Sic versteckt ein Spielzeug in der Befürchtung: »Die Spitzen (Spitz-
buben) könnten es stehlen.«
Überlegung einer Ergänzung. Im vorigen Jahre ist ihr bald
nach Weihnachten der Kopf ihrer grolsen, schönen Puppe zerbrochen. In
diesem Jahre wünscht sie sich nicht eine neue Puppe, sondern einen
Kopf zu dem kopflosen Puppenkörper.
Beobachtung und Spekulation. Ihr 31/, Jahre alter Bruder
fragt mich, ob er von einem gebrauchten Couvert die Briefmarke »ab-
machen« dürfe. Ich frage ihn, wozu er sie haben wolle Er antwortet:
‚Ich wyUl sie auf einen Brief kleben und ihn an die Grolsmama schicken.«
Da belehrt ihn L.: »Das geht nicht! Es ist schon ein Stempel drauf.«
4 Monate: Falsch identifizierende Apperzeption. Von Büsten
hat Jvcie bisher nur die Herbarts und Comenius? gesehen. Bei der
Feier des Geburtstages des Kaisers in der Schule, wozu sie mitkommen
darf, sicht sie eine grolse Büste Kaiser Wilhelms J. Sie fragt: »Warum
ist der Herbart so grofs?«
Religiös-empirische Spekulation. Es ist ihr von dem Jesus-
knaben erzählt worden, und sie, hat auch ein Bild von ihm gesehen.
Nun stellt sie folgende Frage: sIst der Herr Jesus noch jetzt so klein?«
— Auf dem katholischen Kirchhofe sicht sie ein grolses Kruzifix. Sie
fragt: »Ist das auf dem katholischen Kirchhof der wirkliche Herr Jesus”?«
Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. 175
SympathetischesInteresse. Freiwilliges Versprechen. Speku-
lation. Es ist ihr ein Schwesterchen geboren worden. Darüber ist sie
ganz freudig erregt. Sie geht, ohne dafs sie dazu von jemandem an-
geregt worden wäre, zur Mama und sagt, sie werde jetzt auch immer
recht artig sein. Sie hat anscheinend das Gefühl, dals sie auf ihre kleine
Schwester Rücksicht nehmen müsse. Zu mir sagt sie, jetzt müsse das
Schwesterchen auch getauft werden. Ich frage: »Wozu?« Antwort:...
»Dals sie einen Namen bekommt.«
Spekulatives Interesse Ich sage: »Es sind im Zimmer nur
S Grad. Es mufs geheizt werden.«e L. hört es und fragt: »S Grad
kalt?« Ich: »Nein, warm.« Da wundert sie sich, dals es warm sein soll,
während es ihr kalt vorkommt.
5 Monate: Ihr 31/,jähriges Brüderchen erkennt auf einem Bilde ein
Kalb nicht. L. äufsert ihr Erstaunen darüber, will Erwin aber cin-
helfen. Sie kommt nun auf die Sprünge mancher Kunstkatecheten, indem
sie fragt: »Von was macht man Kalbtleisch?- Wie es bei solchen Kunst-
katechesen nicht gar selten geschehen soll, bleibt auch in diesem Falle
die Antwort aus. Da sagt sie ihm vor: »Das ist ein Kalb.« — Ein
anderes Mal erkennt Erwin auf einem gezeichneten Dache den Schornstein
nicht sofort. Da fragt I.: »Was haben wir auf dem Dach?
Empfindet Nichtwissen als einen Mangel, dessen man
sich zu schämen habe. Auf einem andren Bilde sieht L. ein nicht
gerade deutlich abgebildetes Schaf ohne Hörner. Sie weils nun nicht
genau, ob es ein Schaf sei. Da sagt sie zur Mama: »Erwin weils nicht,
was das ist.« Ich frage sie: »Na, was ist cs denn?« Da bleibt die Ant-
wort aus, und L. macht ein sehr verlegenes Gesicht. Endlich bringt
sie zögernd heraus: »Ein Schaf.«e Später stellt sie an die Mama die
Frage: »Ein kleines Schaf hat keine Hörner; nicht wahr?« Sie hat richtig
das Fehlen der Hörner beobachtet. und dieses liels zu Anfang nicht die
Apperzeption zu stande kommen.
6 Monate: Praktisch. In einer Ecke meines Arbeitszimmers stehen
Meinholdsche Bilder für den Anschauungsunterricht. I. nimmt nach
eingeholter Erlaubnis eins heraus und legt es auf den Fulsboden, um es
mit Erwin zu besehen. Dieser legt auf einen Rand ein Buch hinauf, da-
mit das Bild sich nicht wieder zusammenrolle. Er legt das Buch aber
vollständig hinauf und zwar schräg. Da sagt L.: »So muls das nicht
liegen!« Sie legt es parallel mit der Kante auf das Bild und zwar so,
dafs möglichst wenig von der Bildfläche bedeckt wird. Das Bild stellt
ein Getreidefeld und darüber ein Gewitter dar. Da meint L.: »Wo es
weils ist, da ist der Himmel, und wo es schwarz ist, ist die Hölle
(falscher Schluls).
Dauerhaftes Gedächtnis. L. sieht ein rotbraunes Pferd und
sagt: »Das ist ein Fuchs.< Ich frage darauf: >Wie heilst ein weilses
Pferd?« Antwort: »Schimmel.« Ich: »Ein schwarzes Plerd?« Antwort:
»Rappe.« Ich: »Ein rotes?« Antwort: »Fuchs« Ich: „Woher weilst
du es?« Antwort: »Du hast cs uns früher einmal gesagt.‘
Kinder wenden unverstandene Bezeichnungen an. L. hat
176 B. Mitteilungen.
das Lied gehört: „Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh’? Sie versucht
es pachzusingen, und das Lied summt ihr lange Zeit im Kopfe herum.
Nun sieht L. auf einem Bilde eine Anzahl Kinder abgebildet. Sie zeigt
dieselben und sagt: »Das bin ich, das ist der Erwin, das ist der Hans, das
ist die ‘Seele.«c Da fragt Erwin: »Und wo ist die Ruh’?« L. sagt:
‚Hier!« und zeigt auf ein abgebildetes Kind. Ich frage sie: »Was ist
denn die Seele? Antwort: »Mit der Seele kommt man in den Himmel.«
Einfall. Eines Tages äufsert sie: »Ich habe noch keinen Mann ge-
heiratet.«
Praktisch. Ich klebe eine Anzahl Bilder auf Blätter auf. Nach-
dem jedes aufgeklebt ist, streiche ich es mit meinem Taschentuche fest
und glatt. Danach stecke ich es ohne weitere Überlegung jedesmal wieder
in die Tasche zurück. Nachdem ich es mehrmals getan habe, spricht
L.: »Warum steckst du das Taschentuch immer wieder in die Tasche
zurück? Leg’ es doch auf den Tisch! Dann brauchst du es nicht immer
herauszunehmen. «
Bemerkt sprachliche Unrichtigkeiten (Bildung des Sprach-
gefühls). Erwin sagt: »Die Biberss haben gekommen.« L. ver-
bessert... »sind gekommen.« Dals Bibers falsch ist, weils sie nicht.
L. kann die ganze Schreibschrift lesen und schreiben. Sie hat das
mehr spielend gelernt. Ich verspreche ihr nun: »Wenn du Gedrucktes
gut lesen kannst, dann schenke ich dir das Märchenbuch mit den Bildern.«
Darauf freut sie sich nun sehr; sie nimmt sich vor, dann dem Erwin
Geschichten vorzulesen.
6!/, Monate: Wahl nach Überlegung. L. redet tagelang davon,
dals sie zu Arnemanns, einer befreundeten Familie, gehen möchte Als
ihr aber die Wahl gestellt wird, ob sie lieber ins Marionettentheater zur
Schneewittchen-Vorstellung oder zu Arnemanns gehen wolle, wählt sie das
erstere und meint: »Zu Arnemanns kann ich noch ein andermal gehen.«
Neugierde. Sie fragt fortwährend: »Was ist über dem Himmel?«
7 Monate: Zweifel an der Existenz wunderbarer Zustände.
L. hat vom Schlaraffenlande gehört und fragt mich: »Gibt es ein
richtiges Schlaraffenland, so wie Schulitz ?«
Reproduktion. Einsicht, dals man aus Büchern Belehrung
schöpft. Sie hat in früheren Jahren geschen, wie ich nach Garckes Flora
Pflanzen bestimmte. Jetzt bringe ich von einem Spaziergange auch eine
Pflanze mit. Da fragt mich L. mehrmals: »Nicht wahr, wenn du etwas
nicht weilst, dann suchst du im Buche?«
Sucht Bedeutung von Namen. Ich gehe mit L. und Erwin
spazieren. Wir schen blühendes Frühlingsfingerkraut (Potentilla verna).
L. fragt, was das sei, und ich sage ihr den Namen. Sie fragt weiter:
»Warum heifst das so% Ich erkläre ihr den Namen. L. meint darauf:
»Wer das nicht weils, denkt, man kann Finger daraus machen.« Über
den Namen »Stiefmütterchen«e wundert sie sich sehr und meint: »Das ist
eine Mutter, die hat Stiefel ans (Notapperzeption).
Empirisches und spekulatives Interesse Ich bringe von
einem Spazierzauge einen kleinen Weidenzweig mit Kätzchen heim nnd
| _ 0 ( a
Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. 17
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schenke ihn L. Es ist bereits ziemlich dunkel im Zimmer. Sie fragt
»Was ist das?« Ich antwortete: »Das sind Weidenkätzchen.« L. fragt
mit grolsem Erstaunen in der Stimme weiter: »Wirkliche Kätzchen %
Antwort: »Ja, wirkliche Kätzchen.« Neue Frage: »Kätzchen mit Augen %
Ich: »Nein, Augen haben sie nicht. Ich habe sie vom Baum abgebrochen.«
Lucie freut sich trotzdem sehr über das Geschenk und redet lange Zeit
wnaufhörlich davon. Schliefslich fragt sie mich: » Wenn man diese Kätzchen
(sie zeigt auf den ganzen Zweig) in die Erde pflanzt, wächst dann ein
Baum heraus, der auch solche Kätzchen trägt?« Nach einigen Wochen
kommt sie wieder darauf zu sprechen und sagt: »Kätzchenweiden.«
Einwand. Schon lange vor Ostern spricht L. mit ihrem Bruder
vom Stiepen!) (auch Stiepern), vom Österhasen und den Ostereiern. Am
ersten Österfeiertage darf sie nun mit Erwin Eier suchen. Sie findet auch
ein ÖOsterhäschen aus Zucker. Als sie alles gefunden hat, was für sie
versteckt worden war, sucht sie noch weiter nnd hört erst auf, als ich ihr
sage: »Der Osterhase hat mir gesagt, dafs für dich nicht mehr Eier sind.«
Da dreht sie ihr Osterhäschen um, das von unten aus hohl ist und sagt
dann: »In dem Hasen sind ja keine Eier mehr. Wie kann er nur Eier
legen ?« Sie fragt das mehrmals, so dals ich ihr schlielslich sage: »Frage
doch den Hasen selbst!« Sie antwortet: »Er sagt mir nichts.« Ich: »Dann
wird er mir auch nicht antworten.« L.: »Du hast mir ja aber gesagt,
dafs der Hase zu dir gesprochen hat, er hat blols vier Eier für mich
gelegt ?«
Verwechselung des Stoffes mit dem (Gegenstande Die
Mama hat ein Osterlämmchen aus Butter gekauft. Jetzt bitten D. und
Erwin: »Mama, bitte um eine Stulle mit Osterlämmcehen'!« Das Interesse
für das Osterlämmchen und seine Form hat die übliche Bezeichnung des
Stoffes zurückgedrängt, aber nicht den Zweck desselben vergessen gemacht.
Ein im Hause wohnender Konditorgehilfe hat sich eine Blutvergiftung
zugezogen. L. erzählt mir: »Der Gehilfe hat ‚Giftung‘ gehabt.« Dieses
Wort gefällt Erwin aulserordentlich und er wiederholt es mehrmals.
Beobachtung eines Unterschiedes. Ich schneide von einem
Brote eine Schnitte ab. Da ich es nicht gewohnt bin, fällt es ungeschickt
aus. L. wundert sich und sagt: »Papa schneidet immer schräg.«
§ Monate: Religiöse Spekulation. L. hört, dafs heute Himmel-
fahrtsfest ist und sagt: »Heute vor vielen Jahren ist der Herr Jesus in
den Himmel gefahren.« Das hat sie von der Mama gehört. Sie fragt
mich: »Wo war er vorher?« Ich antwortete: »Anf der Erde« L.:
»Aber er hat sich wohl nicht sehen lassen%« Ich: »Natürlich hat er sich
sehen lassen.« Darüber wundert sie sich sehr.
9 Monate: Empirisches Interesse. Bildung eines Vorsatzes.
L. hat ohne Anregung von anderer Seite zwei Erbsen in die Erde
gesät und freut sich aufserordentlich, als die beiden Pflänzchen aufgehen.
t) Ostersitte: Schlagen mit Ruten oder Begielsen mit Wasser. Am 2. Oster-
tage morgens schlagen die Knaben die Mädchen mit Ruten und bekommen dafür
Eier; am nächsten Morgen ist es umgekehrt.
Die Kinderfohler. VIII. Jahrgang. 12
178 B. Mitteilungen.
Sie begielst sie und sicht jeden Tag nach, wie sie gewachsen sind. Sie
sagt zu mir: »Wenn Erbsen sein werden, braucht die Mama keine zu
kaufen. Ich gebe sie ihr dann und sie kann sie kochen.«
Freude am Gelingen. Formen- und Gröflsen-Beobachtung.
L. ist auf ein Spiel gekommen, das ihr sehr viel Vergnügen macht:
Sie steckt die Blüten der ÖOchsenzunge (Anchusa officinalis), auch der
Ackerwinde (Convolvulus sepinm) einzeln auf einen steifen, dünnen Gras-
halm, eine Blüte dicht über die andere. Das erfordert sehr viel Geduld
(der 33/, Jahre alte Bruder macht es nach; es geht ihm aber schliefslich
die Geduld aus). Wenn sie einen Halm so ausgeschmückt hat, dann freut
sie sich über ihr Werk und verschenkt es der Mama oder mir. Sie glaubt
dabei, etwas Wertvolles verschenkt zu haben. Einmal bringt sie mir zwei
Halme, einen längeren und einen kürzeren. Ich lege diese zum Kreuze
zusammen. Da sagt D.: »Ein Kreuz !« Das (der untere Teil) ist immer
länger als das (der obere Teil). Über den Namen Ochsenzunge wundert
sic sich schr.
Auswendig Gelerntes sprechen macht Kindern Vergnügen.
L. hat von einem die Schule besuchenden Knaben das erste Gebot
gehört und gelernt. Sie sagt es nun gern auf und lernt auf ihren Wunsch
von der Mama durch mehrmaliges Vor- und Nachsprechen auch das zweite
und dritte Gebot. Dann kommt sie zu mir und spricht sie. Darauf er-
klärt sie mir: »Die Gebote möchte man immerzu sprechen.«
Nachdenken. Ich frage sie, was es heilse: Du sollst deinen Vater
und deine Mutter ehren! L. antwortet: »Gehorchen.« Ich: »Woher weilst
du denn das?» Antwort: »Weilst du, woher ich es weils? Von keinem,
ganz von selbst.«
Fertigkeiten. L. beherrscht die Schreibschrift vollständig (natür-
lich nicht nach der Orthographic) lesend und schreibend. Sie rechnet
in der Zahlenreihe 1—10 die Addition, Subtraktion uud Multiplikation ;
die Division dagegen versteht sie noch nicht. Auch bei den drei ersten
Rechnungsarten macht sie bei schwierigen Aufgaben noch Fehler.
Begehren regt die Spekulation an. Wir haben mehrmals von
einer Frau namens Dattel Birnen durch L. holen lassen. Sie möchte
gern wieder Birnen holen und essen, sagt es aber nicht direkt heraus,
sondern kommt auf Umwegen damit hervor: »Ich weils, wo die Frau Dattel
wohnt.« Ich tuc, als ob mich das gar nichts anginge. Da geht L.
schon näher auf das Ziel los: »Birnen schmecken gut.« Ich sage wieder
nichts. Da fragt sie direkt: »Papa, soll ich Birnen holen?
Unrichtige und richtige Zwecksetzung. Im Garten liegt eine
Stange, mit der ich Obst von einem hohen Baume geschüttelt habe. Als
dies geschehen ist, lasse ich die Stange von L. und Erwin hinter die
Sträucher tragen. Sie liegt dort nicht im Wege und soll auch nicht von
Dieben so leicht bemerkt werden. Die Kinder legen sich die Stange auf
die Schulter und tragen sie mit vielem Vergnügen an den bezeichneten
Ort. Erwin hat aber den Zweck des Wegtragens nicht erfalst. Er hielt
es für ein Spiel. Nach einiger Zeit fragt er: »Papa, sollen wir wieder die
Stange herumtragen?« Da belacht ihn L.: »Die muls doch da liegen bleiben !«
Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. 179
Kombination. L. hat einen meiner Schüler namens Unruh, der
vor einigen Monaten aus Berlin nach Schulitz gezogen war, einigemal in
meiner Wohnung gesehen. Im Sommer komme ich von einem Besuche
der Berliner Gewerbeausstellung zurück und erzähle meiner Fran, dafs ich
dort einen bekannten Herrn namens Ortlieb aus Bromberg getroffen habe.
L. hört das und sagt zu Erwin: »Der Unruh wohnt nicht mehr in
Berlin. Er heifst Unruh Ortlieb.« Ich frage, wie sie darauf gekommen
und erhalte zur Antwort: »Der Unruh aus Berlin war bei uns. Da hab’
ich seinen Namen gehört. Ein andermal habe ich gehört, dals du Ortlieb
in Berlin getroffen hast. Dann habe ich das zusammen gedacht.«
6 Jahre alt:
Einfall und Kombination. L. kommt schnell in ein Zimmer
zur Mama gelaufen und fragt: »Mama, wieviel Geld hast du bekommen,
als du dich verheiratetest?« Die Mama weils zuerst vor Erstaunen über
diese Frage nichts zu erwidern. Dann sagt sie: »Wie kommst du zu der
Frage?« Antwort: »Ich möchte wissen, was ich einmal anschaffen soll,
was ich kaufen kann: Tische, Spinde und anderes, wenn ich mich ver-
heirate.« Das kommt nicht etwa altklug, sondern ganz kindlich - naiv heraus.
Beurteilt etwas als unschicklich. Der vierjährige Erwin fragt
mich: »Papa, kommt zu Weihnachten der Grolspapa?« Ich antworte:
»Ich weils nicht; vielleicht.« Erwin: »Heilst nicht der Grolspapa Heinrich?«
L. meint: »Nein.« Ich: »Natürlich heifst er so.« Da ruft Erwin mehrmals
fröhlich aus: »Der Heinrich kommt !« L. belehrt ihn jedoch mit strafendem
Tone: »Sag’ nur nicht so zum Grolspapa; sonst wird er böse!«
Bei der Feier ihres sechsten Geburtstages sagt sie: »Ich bin so
lustig, dals ich Geburtstag hab’« Sie erzählt es auch jedem, den sie
trifft. Unter anderen Geschenken erhält sie ein Kinder-Elsbesteck, und
sie darf von nun an mit den Eltern an demselben Tische essen. Darauf
ist sie ganz stolz. Sie fragt jetzt fortwährend das Dienstmädchen nach
ihrem Besteck: ob es schon geputzt sei ete. Sie sctzt sich auch lange
vor der Mahlzeit voll Erwartung an den Efstischh — Sie hat ferner zu
ihrem Geburtstage einen sogenannten Lichtteller bekommen: In einen Teller
ist weilser Sand geschüttet worden, der dann festgedrückt wurde. Dann
ist in die Mitte ein langes Licht, das Lebenslicht, gestellt worden. Rings
im Kreise sind sechs kurze Lichte (nach der Zahl der bisherigen Lebens-
jahre) eingepflanzt worden. Darüber freut sich L. sehr. Sie löscht
die Lichte am Morgen bald aus, um das Vergnügen am Nachmittage
wieder haben zu können. — Die Mama hat dem Erwin eine Tafel Schokolade
gegeben, damit er sie der L. zum Geburtstage schenke. Diese schickt ihn
aber bald zur Mama zurück, damit er sich dafür bedanke. Dann dankt
sie ihm.
Tätigkeitstricb. L. schneidet aus Papier nach eigenen Vor-
stellungen Tische, Stühle, Spinde mit Konsolen etc. aus und stellt sie zu
einer Zimmereinrichtung zusammen. Sie bringt damit viele Stunden zu,
zuweilen ganze Nachmittage, beinahe ohne einmal anfzustchen.
Vorstellung von cinem Honorarmalsstabe. Ich arbeite an
]2*
180 B. Mitteilungen.
meiner Herbart-Bibliographie. L. sieht, dafs ich nun lange Zeit täglich
viele Stunden schreibe. Da fragt sie: »Papa, wird das gedruckt, was du
schreibst?« Ich antworte: »Ja.« L.: »In der Zeitung? Ich: »Nein, in
einem Buche.« L.: »Ach so! Bekommst du das bezahlt%« Ich: »Ja.«
L.: »Wieviel bekommst du für ein Pfund ?«
Beobachtung und Spekulation. L. sieht durch das offen-
stehende Fenster den Halbmond. Sie fragt: »Nicht wahr, Papa, jetzt sieht
man »also« (in dieser Zeit ihr Lieblingswort) nur einen Fuls, den halben
Bauch, den halben Kopf, den halben Mund, die halbe Nase und ein Auge
vom Mann im Mond; aber sein Paket auf dem Rücken sieht man ganz;
nicht wahr ?«
3. Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich
gefährdeten Jugend.
Ein Reisebericht von J. Chr.H agen, Direktor des Schulheims zu Falstad bei Drontheim.
(Fortsetzung.)
3. Düsselthal, ein evangelisches Rettungshaus in der Rhein-
provinz.
Diese Anstalt liegt unweit Düsseldorf, sie ist für Knaben und Mädchen
gemeinschaftlich und nach «dem Familiensystem eingerichtet. Sie zählte
236 Kinder, 151 Knaben und 85 Mädchen. Sie wird zur Zeit von Pastor
Karsch dirigiert, der zur Beihilfe 3 Lehrer, 9 sogenannte Brüder, 1 Vikar,
1 Buchhalter und 1 Verwalter hatte.
Die Mädchenabteilung, die unter der Oberaufsicht der Frau K. als
Hausmutter steht, wird von 9 sogenannten Schwestern bedient. Von den
Zöglingen der ganzen Anstalt waren !/, durch Verfügung des Landeshaupt-
manns und 3/, durch Verfügung verschiedener Armenwesen und durch
Private untergebracht. Die Kinder werden zuweilen schon im Alter von
2 Jahren, in der Regel cıst vom schulpflichtigen Alter ab aufgenommen;
die meisten sind jedoch im Alter von 5—6 Jahren eingetreten. Sie bleiben
bis zu ihrem 14. Jahre und verlassen die Anstalt, nachdem sie konfirmiert
worden. Sie werden alsdann in Lehre oder in Gesindestellungen unter-
gebracht, und der Direktor hat Vormundschaftsrecht über einen Teil derselben
bis zu dem 18. Jahr. Wenn sie sich bei ihrem Hausherrn oder Meister,
der in fortwährendem Rapport mit der Anstalt steht, nicht gut betragen,
bringt der Direktor sie bei einem andern unter; entweicht der Zögling, so
wendet sich der Direktor an die Polizei mit dem Ersuchen ihn aufzusuchen,
und diese vermittelt dann, dals der Betreffende geholt, und wieder beim
Hausherrn untergebracht werde. Hilft das nicht, wird das Kind in eine
Anstalt für Schulentlassene gebracht.
Beschäftigung. Schule wird das ganze Jahr hindurch mit 4 Stun-
den täglichem Unterricht gehalten; hier wie bei den übrigen Anstalten folgte
dieser einem von der Regierung festgesetztem Unterrichtsplane und einem
von dem städtischen Schulrat genehmigten Stundenplane. Die Schule war
in zwei Klassen, jede mit 24 Stunden wöchentlich, geteilt. Die Nach-
Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 1S1
zügler erhalten an 2 Tagen der Woche 2 Stunden Hilfsunterricht. Zur
Lektionsvorbereitung und Ausführung der schriftlichen Aufgaben werden
täglich 2 Stunden (1/, morgens und 11/, abends) angewandt unter der Auf-
sicht eines »Bruders«, der die Ordnung überwacht und dabei acht gibt, ob
die Lektionen gelernt werden. Diese Arbeit geht in den betreffenden Fa-
milienstuben vor sich. Das Ziel der Anstaltsschnle entspricht ungefähr
dem der Stadtschule. Ich wohnte einem Examen der Knaben bei, die
eben die Anstalt verlassen sollten. Es wurden schriftliche Aufgaben in der
Muttersprache und im Rechnen gelöst, dieselben zeichneten sich alle da-
durch aus, dafs sie beinahe fehlerfrei und von einer mustergültigen Prä-
zision waren. Die Prüfung zeigte mir ein schönes Resultat korrekter
Unterrichtsmethode. Das Lesen war ausdrucksvoll nnd zeugte von Be-
herrschung des Stoffes; in der Grammatik zeigten sie solides Verständnis
und gründliche Übung. Die übrigen Fächer Geschichte, Geographie und
Naturkunde, hatten sie sehr gut inne. Erstaunlich waren ihre sicheren
Begriffsdefinitionen und die reife seloständige Auffassung. Sie antworteten
immer in geordneten Sätzen. Auch in dieser Anstalt zeichnete sich der
Gesang durch Präzision und schönen Vortrag aus. Er ward nach Gehör
dreistimmig eingeübt.
Die Klassen beherbergten beide Geschlechter, und man fand, dafs
diese Ordnung ihre grofsen Vorteile hatte. Es spornte in hohem Grade
die Knaben an, mit den Mädchen in Fleils und Ordnung zu wetteifern,
sowie das Wesen dieser gewissermalsen das Betragen jener dämpfte und
milderte, während zur gleichen Zeit die Mädchen selbst etwas von dem
keckeren, freieren und offneren Charakter der Knaben sich aneigneten.
2. Körperliche Arbeit. Die Knaben werden im wesentlichen mit
Gartenbau und in den leichteren Zweigen des Ackerbaues beschäftigt;
doch schien es mir, dafs man sich allzuängstlich vor Überbürdung hütete.
Sie wurden nicht im Kuh- oder Pferdestall und nicht zum Fahren ver-
wendet; nur zum Teil zum Düngerstreuen, Kartoffelpflanzen und zum
Ernten. Die übrige Gehöftsarbeit ward von den Knechten und den Brüderu
verrichtet, die, während die Kinder zur Schule waren, als Arbeitsleute
dienten. Die Aulsenarbeit war für die Kinder überhaupt ziemlich begrenzt
und bestand wesentlich nur in den verschiedensten Gartenarbeiten. In der
Anstalt befanden sich Schuster- und Schneiderwerkstätte wie eine Bäckerei
und zum Gehöft gehörte eine Mühle. Mit dem Haushalt war eine Meierei
verbunden, die an der Seite der Küche gelegen war. Die Knaben wurden
nur in den Schuster- und Schneiderwerkstätten und zwar nur mit Flick-
und Ausbesserungsarbeit beschäftigt. Alles Neuschaffen ward vom Schneider
und Schuster getan. Jener wurde auch als Krankenwärter benutzt, weshalb
je eins der Krankenzimmer an jeder Scite der Schneiderstube gelegen
waren. Die Bäckerei und die Mühle wurden von einem Meister mit
einem Lehrjungen bedient.
Tagesordnung,
Werktage:
Uhr 51/, läutete die Anstaltsglocke zum Zeichen, dals der Tag beginnt.
Sobald nun die Kinder angekleidet und die Betten in Ordnung
152 B. Mitteilungen.
gebracht hatten, wurde in jedem Abteilungsraum gemeinschaftliches
Gebet gehalten.
6-—7 (Lektionslesen) Lernstunde.
T—7!/, Frühstück.
71/,—S Gemeinschaftliche Andacht in der Kirche der Anstalt (Gesang,
Bibellesen mit katechetischen Fragen und Gebet).
8—12? Schule.
12—1 Mittagsessen und Feiern.
1—1!/, Schriftliche Arbeiten.
11/,—4 Arbeit.
4—4!/, Vesperkost.
41/,—61/, Arbeit.
61/,—7 Reinigungsarbeit.
7 Abendessen.
7!/, Gemeinschaftliche Andacht in der Kirche.
8—S!/, Freizeit zum Spiel und dergl.
S1/, Schlafen gehen.
Sonntage:
Uhr 6 stehen die Kinder auf; gemeinschaftliche Andacht im den Ab-
teilungen.
8—10. Die Zeit wird zum Lesen, Briefschreiben, Auswendiglernen
eines Gesanges oder einer biblischen Geschichte angewandt.
10 Gottesdienst.
12 Mittagsessen.
1!/,—2!/, Nachmittagskatechisation. (Den Kindern unter 9 Jahren
hält während dieser Zeit eine »Schwester« Kindergottesdienst).
21/, Kaffee.
21/,—7 wird, wenn das Wetter schön ist, zum Spazieren (die einzelnen
Gruppen unter Begleitung eines »Bruders«, resp. »Schwester«)
oder längeren Ausflügen der gesamten Anstalt mit dem Knaben-
musikkorps an der Spitze angewandt. Ist das Wetter nicht
günstig, wird der Nachmittag mit Spielen, Vorlesen und sonstigen
Lieblingsbeschäftigungen der Zöglinge verbracht. !)
Die Behandlungsweise, das Verhalten der Kinder u. s. w.
Unter genauer Befolgung obenstehender Tagesordnung ist das leitende
Prinzip, soweit es möglich ist, die Familienerziehung nachzuahmen. Die
Kinder sind darum in kleine Gruppen geteilt, Familien von 10 bis höch-
stens 18 Kinder darstellend. Dieses Prinzip hatte schon der Gründer der
1) Bei der Beschäftigung der Mädchen finde ich keinen Grund, mich länger
aufzuhalten, da sie aufser in den gewöhnlichen häuslichen Geschäften (nach der
Reihe Unterricht in Küchendienst, Waschen u. s. w.) nur in weiblichen Handarbeiten
(Zuschneiden, Nähen, Stricken, Flicken, Stopfen u. s. w.) bestand. Schon vorher
ist bemerkt, dafs sie den Schulunterricht mit den Knaben zusammen und ungefähr
in demselben Umfange wie diese genossen.
Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 183
Anstalt, Graf v. d. Recke. als das Richtige erkannt; er begann seine
Rettungsarbeit mit zwei Knabenakteilnngen, deren jede einen Lehrer und
einen Aufseher hatte, während Schlaf- und Speisesaal gemeinschaftlich
waren. Später ward das Prinzip in weiterem Malsstabe durchgeführt.
Das altmodische Gebände, in welchem sowohl Knaben- als Mädchen-
abteilung unter demselben Dache wohnen, erscheint mir doch nicht ganz
zweckmäfsig. Im ganzen waren da 14 Familien, d. h. in Düsselthal 7 Knaben-
und 4 Mädchenfamilien, in dem nahegelegenen Zoppenbrück 2 Knaben-
und 1 Mädchenfamilie. Sowohl in der Knaben- als m der Mädchen-
abteilung, die übrigens keineswegs streng geschieden waren, bilden die
schulentlassenen Zöglinge eine besondere Familie. Die Knaben, die in der
Anstalt unter der Aufsicht cines »Bruders« wohnen, sind in den nahe-
liegenden Industrieanlagen, hanptsächlich Gielsereien und Maschinenwerk-
stätten, als Lehrlinge beschäftigt. Die kleinen noch nicht schulpflichtigen
Kinder machen eine Familie für sich aus. Jede Familie hat ihren be-
sonderen Erzieher, der den Namen »Bruder« führt, der das beständige
Überwachen hat und die Schulzeit (5—12 vorm.) ausgenommen, Tag und
Nacht bei ihr sein muls. Anf diese Weise wird der Erzicher mehr mit
den einzelnen Kindern vertraut. Auf den wöchentlichen Konferenzen
(jeden Montag) haben »die Brüder« vor dem Direktor von besonderen Be-
gebenheiten oder Beobachtungen in ihrer speziellen Familie Bericht zu er-
statten. Im Besitz jedes »Bruders« ist darum eine »Gehilfen -Ordnung
mit Anhang über Haus- und Anstandsregelne.!) Dieses Heft enthält aus-
führliche Anleitung für seine Wirksamkeit samt Regeln über 1. körper-
liche Haltung und Sauberkeit, 2. Ordnung in der Familienstube, 3. An-
standslehre u. s. w. und ist zur Beifügung nener Vorschriften oder Regeln,
Erklärungen oder Winke, die der Direktor bei den wöchentlichen Konfe-
renzen gibt, interfoliiert.
Es ist offenbar von grolser Bedeutung, zu diesen Diensten Leute zu
bekommen, die durch Charakter und Lebensansicht Erzieher zu sein ge-
schickt sind. Es können nur christliche Persönlichkeiten mit pädagogischen
Anlagen und mit einem Herzen voll Liebe für die Kinder gebraucht werden.
Sie müssen auch praktischen Sinn haben und wenigstens cine gute Ele-
mentarschulbildung besitzen. Sie wurden meistens unter den christlichen
Jünglingen des Bürgerstandes gefunden. Wegen des anstrengenden Dienstes
der »Brüder« (sie waren ja nachts wie tags an ihre Wirksamkeit ge-
bunden) sorgte der Direktor dafür, dals diese Stellungen so ökonomisch
vorteilhaft wie irgend möglich seien, damit man die einmal Angestellten
längere Zeit behalte. Leider hat auch diese Anstalt früher unter den Folgen
zu geringer Besoldung leiden müssen. Die Erzieher (weibliche wie die
männliche) erhielten zur Zeit 300 M nebst freiem Aufenthalt. Freie Zeit
hatten sie nur einen Sonntagvormittag jeder sechsten Woche und einen
Urlaub von acht Tagen im Sommer, doch nur, wenn cs die Verhältnisse
erlaubten. Der Direktor arbeitete zur Zeit daran, eine durchgreifende
Besserung dieser Verhältnisse durchzuführen.
!) Herausgegeben vom Rauhen Hause.
1854 | B. Mitteilungen.
Das Düsselthaler Familiensystem schien mir grofse Vorzüge zu bieten.
Es gibt zu grölserer Individualisierung, häufigerer und intensiverer Ein-
wirkung auf den einzelnen Gelegenheit, erleichtert die Disziplin, verein-
tacht auch die Übersicht über das Ganze und leistet grölsere Garantie
gegen Ausreilserei.
Es könnte jedoch scheinen, als ob der Begriff »Familie«, insofern die
Anstalt als ein Ganzes mit dem Direktor an der Spitze als solche gelten
sollte, nicht ganz zu ihrem vollen Rechte käme. Diese Zerstückelung des
Beleges in Familien, jede unter ihrem »Bruder«, mulste wie mir schien,
die innere Entfernung der Kinder von dem Haupt der Anstalt herbei-
führen. Den Familien mangelt cs in der Tat am familiären Gepräge. Ihre
Leiter waren verhältnismälsig Junge Menschen und zwar unverheiratet. Sie
verblieben auch selten dauernd in dem Posten. Freilich nannten die
Kinder den Direktor »Vater«e und seine Frau »Mutter«. Der wechsel-
seitige Rapport aber, der dem Vater- und Mutternamen zu Grunde liegen
sollte, kann doch unter dieser IJlausordnung und bei solch’ grolser
Kinderzahl nur in etwas beschränkter Form stattfinden. Ich bekam
darum auch hier das Gefühl, dals das Familiensystem dann erst seinem
Zwecke ganz entsprechen würde, wenn man einen Schritt weiter ginge,
d. h. statt einer grolsen Anstalt mit Bruderabteilungen kleinere Internate
(mit ca. 15 Kinder) eimichtete, an deren Spitze ein verheirateter, päda-
gogisch gebildeter, praktischer und fähiger Mann stünde, der Hausvater,
und dessen Frau Hausmutter wäre Wenn diese Familienväter als Ge-
hilfen einen jüngeren Mann nähmen, würde man der Idee des Familien-
systems näher kommen. Fin grölseres Eigentum z. B. könnte auf eine
Anzahl solcher Heime verteilt werden, deren jedes seinen kleinen Acker,
u. s. w. hätte. Die gesamte Anlage mülste dann unter Oberleitung eines
Direktors stehen. — Doch ziehe ich eine Ordnung wie die zu Düsselthal
dem Massensvstem vor.
Für die moralische Besserung konnte der Direktor keine Prozent-
berechnung geben und wollte es auch nicht, da ihm solche Berechnung
wertlos erschien. Er meinte, wenn ein Knabe einmal mit der Polizei
in Kollision käme, wäre cs kaum immer korrekt, ihn zu dem nicht Ge-
besserten zu zählen. und umgekehrt würde ein verschmitzter Bursche, der,
ohne zuverlässig zu sein, besonderer Bestrafung auszuweichen wülste,
nicht immer als gerettet zu betrachten sein. Man müsse, was immer man
vermöge, an den Kindern tun; die Früchte uns zu zeigen, stünde dann in
der Hand des Herrn. Durch Nachforschungen hatte er indes festgestellt,
dals von den in den letzten 6 Jaluen entlassenen 292 Knaben 20 sich
absolut schlecht betragen hatten. 3% hatten sich scheinbar recht gut be-
währt, 83 gut, 60 einigermalsen gut, 35 befriedigend, 23 weniger be-
friedigend; über 21 hätten gar keine Erkundigungen eingeholt werden
können,
Die am meisten hervortretenden Fehler und Laster waren 1. Unwahr-
haftigkeit und Unchrlichkeit, 2. diebische Neigungen und 3. Unsittlichkeit.
Am grölsten war die Anzahl der wegen grölserer oder kleinerer Unehr-
lichkeiten Untergebrachten. Sie hatten oft nicht einmal das Gefühl des
Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 185
Sündhaften und Verkehrten dieses Lasters, ja sie waren sogar häufig direkt
dazu in dem Elternhause angeleitet worden, Man hatte darum Vorsoige
getroffen, dals die Kinder während sie frei und ungehindert innerhalb des
Umkreises der Anstalt umhergingen, doch keine Gelegenheit hatten zu
stehlen oder zu nehmen, was nicht genommen werden durfte. Nament-
lich wachte man sorgsam darüber, dals sie nicht mit Geld in Berührung
kamen. Dadurch wurde diesem Laster — der Neigung zum Stehlen —
bei denjenigen, denen es zur Gewohnheit geworden, der Nahrıungsstoff ge-
nommen, und in vielen Fällen wurde der Drang zum Stehlen auch unter-
drückt. Allein wenn das Kind später wieder in andere Verhältnisse kommt
und die Stimme des Gewfssens durch die vielen neuen Lockungen
von draulsen übertäubt wird, kommt auch die alte Sünde wieder zum
Leben. Es sei darum, meinte der Direktor, von der gröfsten Wichtigkeit,
dafs das Kind so lange wie möglich in solchen Verhältnissen verbliebe,
wo es wenig Gelegenheit zur Unredlichkeit habe. Dieses gilt besonders
von solchen Kindern, welche mit erblicher Neigung zum Stehlen belastet
sind. Es wird längere Zeit zur Ausrottung des angeerbten Lasters nötig
sein. Direktor Karsch hatte gar keinen Zweifel, dafs erbliche Belastung
ziemlich stark vertreten sei. Er erzählte von einem Knaben, der sowohl
in als aulserhalb der Anstalt von dieser Schwachheit nicht los machen
konnte, dals derselbe zu ihm gekommen sei und ihn gebeten habe,
dals er in eine Stelle gebracht werden möchte, m der er so wenig wie
möglich Versuchung zum stellen habe, da er so gern von dieser Sünde
befreit werden möchte. Auch die Unsittlichkeit hatte tiefe und weit ver-
breitete Wurzeln geschlagen; man kämpfte einen Kampf der Verzweiflung
dawider.
Der Direktor bezeichnete als Prinzip der Erziehungsmetliode der Anstalt
folgendes: 1. die Kinder mit möglichst unverdorbener, christlicher Lutt
zu umgeben, 2. sie zu täglichem einfachen Gebete aufzumnntern, 3. Gottes
Wort nahe an ihr Herz zu bringen. Darum wurde grolses Gewicht darauf
gelegt, dals alle Kinder der Anstalt, die das Alter von 8—9 Jahren
erreicht, an der täglichen gemeinschaftlichen Morgen- und Abendandacht,
an dem Gottesdienst und der jeden Sonntag regelmälsig stattfindenden
Katechisation teilnahmen. Wie man sicht, wurde genau überwacht, dals das
religiöse Leben zu jeder Zeit als Voraussetzung für jede moralische Ein-
wirkung festgehalten werde. Allerdings wulste man sehr wohl, wie leicht
Heuchelei bei den Kindern Eingang findet; das aber konnte nicht hindern,
dals man nicht an den Erfolg dieses Systems glaubte. Es schien mir
doch, als ob in dieser Bezichung hier und da etwas Schablonenmälsiges
obwaltete, dessen Schädlichkeit glücklicherweise dadurch in allem wesent-
lichen aufgehoben wurde, dafs die Anstalt in ihrem Direktor eine echte
warm -Christlich und feingebildete Persönlichkeit hatte. Eine auf psychi-
atrische Rücksichten begründete spezielle Behandlungsweise kam nicht vor,
ebensowenig als in »N«. Es schien, dafs die Anschauungen Kochs noch
keinen Eingang gefunden hatten, wenn man keineswegs blind dafür war,
dafs anormale Zustände vorkamen.
Hinsichtlich der Aufmunterungen soll bemerkt werden, dafs in dieser
156 B. Mitteilungen.
Anstalt Prämien und Belohnungen prinzipiell nicht ausgeteilt wurden, weil
man glaubte, dafs das ungünstig wirke. Die Kinder sollten moralisch
leben und ihre Pflichten erfüllen lernen, getrieben von der Freude und
sefriedligung, die das vorbildliche Leben an und für sich verschafft.
Es war, im Einklang mit diesem Prinzip, auch nicht die Rede von
irgend einer Auszeichnung durch besondere Ehrenämter, Ehrenzeichen oder
dergl., worüber ich aber wesentlich anders denke. Ein Ehrenamt vermehrt
unwiderstellich das Interesse für die Arbeit und hebt die Selbstachtung.
Die Knaben, die in den Schuster- und Schneiderwerkstätten arbeiteten, er-
hielten indes 50 Pf. pro Monat. Dieses Geld wird vom Direktor aufbewahrt,
bis sie die Anstalt verlassen. f
Bekleidung. Jedes Kind hatte drei Hemden; Anzüge 4: einen
zum Gebrauch beim Gottesdienst und bei Feierlichkeiten, einen zum
Wechseln, wenn sie aus dem Gottesdienst kommen, einen in der Schule
und einen bei schmutzigeren Arbeiten. Das Fufszeug war aus Leder. Die
Kleider der Knaben waren nur mit einer Tasche versehen.
Die Kinder aufserhalb der Anstalt, ihre Unterbringung
in der Lehre u. s. w. Die Unterbringung der Kinder, sobald sie die
Anstalt verlassen haben, besorgt die Anstalt, die Hilfe der oft in einem
übeln Rufe stehenden Verwandten der Kinder ablehnend.
Während die Mädchen am längsten, bis sie 16 Jahre alt geworden
sind, in der Anstalt verbleiben, werden die Knaben in der Regel gleich
nach der Konfirmation mit 14 Jahren hinausgesandt. Es geschah sogar, dals
die Anstalt die weitere Ausbildung einzeluer selbst übernahm. Diese (etwa
10—12 an der Zahl), die in naheligenden Fabriken Beschäftigung hatten,
wohnten wie oben erwähnt, in der Anstalt unter der Aufsicht eines
»Bruders«. Sie durften, soweit die Hausordnung der Anstalt es erlaubte,
sich möglichst nach Wunsch einrichten, ihren Tabak rauchen, doch nicht
innerhalb der Anstalt, auch durften sie allein ihre Spaziergänge zur
Stadt machen, u. s. w. Diese freiere Behandlung der Knaben, wo sie das
Anstaltsleben mit dem freien Treiben draufsecn in der Welt vertauschen
lernen sollten, schien mir sehr richtig. Auf der andern Seite ist es von
grolscr Bedeutung für diese schon älteren Knaben, dafs sie einige Jahre
nach ihrer Konfirmation noch mit ihren Erziehern, zu denen sie vertrauens-
voll aufschauen, verbunden bleiben; denn das Leben besonders unter
Fabrikarbeitern bietet den Jungen eben nicht eine besonders gesunde mora-
lische Luft.
Die Verordnung des Landeshauptmanns über die Unterbringung der
Zöglinge in der Rheinprovinz ist für die erörterte Frage malsgebend und
wir verweisen darum auf dieselbe. (Fortsetzung folgt.)
4. Die Versammlung des Vereins für Kinderforschung
findet am 11. u. 12. Oktober d. J. zu Halle a. S. statt. Versammlungs-
lokal: Grand Hotel Bode, Magdeburgerstr. 65 (Nähe des Bahnhofs).
I. Eröffnungsversamnmlung: Sonntag, den 11. Oktober, 6 Uhr Abends:
C. Literatur. 187
1. Eröffnungsansprache durch den Vorsitzenden, Direktor Trüper, Jena.
— 2. Begrülsung durch Stadtschulrat Brendel, Halle. — 3. Vortrag:
Uber die Bedeutung der Stimmungsschwankungen bei Epileptikern, Univ.
Prof. Dr. med. Aschaffenburg, Halle. 4. Das Kind und die Kunst,
H. Landmann, Oberlehrer des Päd. Universitätsseminars in Jena.
Nach Schluls der Verhandlungen geselliges Beisammensein im Ver-
sammlungslokale. Dort sind auch Zimmer im Preise von 2 M an erhält-
lich. In der Nähe des Bahnhofs befinden sich zu weiterer Auswahl zahl-
reiche Hötels.
U. Verhandlungen am Montag, den 12. Oktober, 81/, Uhr Morgens:
1. Vortrag: Die ersten Zeichen der Nervosität des Kindesalters, Prof.
Dr. Oppenheim, Berlin. 2. Vortrag: Das Werden der Zahl und des
Rechnens im Kinde und in der Menschheit, Schnldircktor Dr. B. Wilk,
Gotha. 3. Vortrag: Körperliche Ursachen geistig minderwertiger Leistungen,
Kinderarzt Dr. Schmid-Monnard, Halle. — 4. Vortrag: Psychopathische
Minderwertigkeiten als Ursachen der Gesetzesverletzungen Jugendlicher,
Direktor Trüper, Jena.
C. Literatur.
Fuhrmann, Richard, IIerunter die Maske! Bamberg, Druck und Verlag der
Handelsdruckerei. 96 8.
Wie schon der Titel verrät, ist diese Schrift polemischer Natur. Sie ist »eine
Anklageschrift gegen unsere unmoralische Moral und unser perverses Sexualleben«.
Weil sie sich dabei auch über das Sexualleben der Jugend verbreitet, und angebliche
Schäden in Erziehung und Unterricht berührt, dürfte ihre Besprechung in unserer
Zeitschrift gerechtfertigt erscheinen. Für unsere Zwecke kommen vornehmlich
folgende Kapitel in Betracht: Kap. II: ‚Wie wir an den Kindern sündigen« (S. 19
bis 26), Kap. III: »Sexuelle Verirrungen der Knaben« (N. 27—32), Kap. IV: »Demi-
Vierges« (S. 33—38), Kap. V: »Die Zeit der Geschlechtsreife und ihre Gefahren«
S5. 39—48), Kap. IX: »Perversität in Literatur und Kunst« (S. 79—86).
In Kapitel II rügt es Fuhrmann, dafs die Kleinen vielfach nicht von der
Mutter ernährt, sondern mit Ammenmilch grofs gezogen werden. Das Kind werde
hierdurch nicht so widerstands- und leistungsfähig und erhalte unter Umständen
durch Vererbung die schlechten Eigenschaften der Amme. Ein weiterer Fehler
werde in der ersten Erziehung dadurch begangen, dals man den sexuellen Trieb
und damit eine ungesunde Frühreife hervorrufe. Dies geschehe zunächst durch
Züchtigung der Kleinen in der Nähe des Afters. Auch hätten Dienstboten oft die
rüde Angewohnheit, »um die Kinder einzuschläfern, an deren Genitalien Manipula-
tionen vorzunehmen«. Von den Dienstboten würden sie dann später durch zweifel-
hafte Gespräche verdorben; andrerseits ziehe man durch Verhätschelung den Eigen-
sinn des Kindes grofs. Die Trennung der Geschlechter in der Erziehung
des Knaben- und Mädchenalters sei ebenfalls nicht zu billigen. Dei geeignetor
Überwachung sei das Zusammenleben von Knaben und Mädchen bis zum Beginn
der Pubertät nur zu empfehlen. Uber die moderne Schulerziehung spricht Fuh-
1SS C. Literatur.
mann ein hartes Urteil. Der Verfasser scheint hierbei nicht dem Fehler der vor-
schnellen Verallgemeinerung entgangen zu sein. Er nennt die Schule »ein immer
mehr zur Maschine entartendes Institute. Es komme in derselben nicht darauf an,
dafs das Erlernte ordentlich verdaut werde. Hastig betreibe man den Unterricht,
welcher andererseits durch seine lange Dauer ermüdend wirke. Die Direktoren und
Lehrer legten nicht Wert darauf, wirklich gebildete Menschen zu entlassen, welche
gefeit seien gegen die Anfechtungen des Lebens, sondern sie sendeten nur »Speicher
von Kenntnissen, geistige Wiederkäuer, voll von eingeimpfter Prüderie« in die Welt
hinaus. Auch kümmere sich niemand um das physische Wohl der Schüler. Den
Lehrern fehle gänzlich die so notwendige individuelle Behandlung ihrer Schüler.
Manche hätten sogar schreckliche Launen, die sie ihre Schüler fühlen liefsen —
sogenannte »Pikens auf diesen oder jenen, der sich dann ganz verraten oder ver-
kauft fühle.
Wir geben zu, dals die geschilderten Verhältnisse wohl hier und da anzutreffen
sind; allgemein verbreitete Regelwidrigkeiten sind sie damit noch nicht.
Ein weiterer Übelstand bei der Erziehung sei dann am schwerwiegendsten und
folgenschwersten: Weder Eltern noch Erzieher belehrten die heranwachsende Jugend
rechtzeitig in vernünftiger Weise über das Natürlich-Geschlechtliche. Das
Mysterium reizte aber «die Wilsbegier, und die Phantasie führte die Knaben auf Ab-
wege. Durch »erfahrenes Kameraden werde der Knabe, der nicht von berufener
Seite belehrt worden sei, aufgeklärt; kein Wunder, wenn er dann der Versuchung
unterliege und Onanie treibe.
Es ist ja gewils, dafs allen Erziehern in Anbetracht dieser Tatsachen eine
schwere Aufgabe erwächst. Nur charaktervolle ernste Persönlichkeiten
können sie lösen.'!)
Im 3. Kapitel verbreitet sich Fuhrmann über die sexuellen Verirrungen
der Knaben. Die Hauptschuld an der zur Wollust entarteten Onanie trifft nach
seiner Anschauung die Prüderie der Erzieher. Man müsse die Kinder recht-
zeitig in vernünftiger Weise über das Wesen der Fortpflanzung aufklären.
Hierdurch würde man dem Unheil vorbeugen. Für die an der Onanie erkrankten
Zöglinge müsse man einen Blitzableiter suchen; d. h. »lafst sie ihren Lieblings-
beschäftigungen recht viel nachgehen, vornehmlich, wenn diese mit körperlicher Be-
wegung verbunden sind« (Turnen, Spielen, Spazierengehen). Daun würden sie abends
ermüdet sein und nach dem Zubettgehen sofort einschlafen. Fuhrmann wamt
besonders vor dem Genuls scharfer Gewürze, vor dem Alkohol und vor der Lektüre
der berüchtigten »Kurpfuscherschriften«e. Gemüse und Obst, sowie Fleisch in mälsigen
Portionen wird empfohlen.
Die Leitung der weiblichen Jugend wird von Fuhrmann im 4. Kapitel nicht
so eingehend besprochen als diejenige der männlichen Jugend im 3. Kapitel. Fuhr-
mann meint, die Mädchen seien in ihren Kinder- und Pubertätsjahren dank ihrer
natürlichen Veranlagung weit weniger der Versuchung ausgesetzt als Knaben und
Jünglinge. Wie über den Unterricht der Knaben, so bricht er auch über den
') Gelegenheit findet sich im Unterricht z. B. bei der Behandlung des Gebots:
»Du sollst nicht chebrechen« und in der Naturkunde. Trotzdem gehen manche
Lehrer stillschweigend mit Angstlichkeit an diesen »heiklen« Dinge vorüber. Allein
sie täuschen sich, wenn sie annehmen, für die Jugend gelte »Ignoti nulla cupido«
(d. i. das Unbekannte liebt man nicht); ja, wenn die ererbten Triebe nicht wären,
dann würde dies Wort gelten.
C. Literatur. 189
»Töchterschulunterricht« den Stab.!) Doch auch hier scheint der Verfasser etwas
vorschnell zu generalisieren. Die Gedankenarbeit ist nach seiner Ansicht in
der Töchterschule eine »mechanische<«. Sinn für Hohes und Edles, für Einfachheit,
für Ernst und Würde des Lebens werde nicht erweckt oder gehe, wenn er im Keim
vorhanden, in der Seichtheit der modernen weiblichen Halbbildung
unter.
Fuhrmann geifselt in beredten Worten sodann die Sucht »unserer höheren
Töchter<«, lüsterne Romane zu lesen, ja zu verschlingen und sich an der darin an-
gedeuteten pikanten Sinnlichkeit zu berauschen. Die Moral werde hierdurch
verdorben und die Seele nachts mit wüst-sinnlichen Träumen erfüllt, welche im
Verein mit der mangelhaften Bildung und falschen Erziehung durch Eltern und
Schule und unter dem Einflufs des laxen Pensions- und Grolsstadtlebens das Weib
fin de siecle zeitigten. Fuhrmann zitiert als Belege seiner Behauptungen längere
Stellen aus den Werken »Der Zeitgeist der modernen Literatur Europas« von
Dr. Siegmar Schulze und »Also sprach Zarathustra« von Nietzsche (das Kapitel
»Über die Keuschheit«). — Die Perversität in Literatur und Kunst beleuchtet er
besonders im IX. Kapitel. Es ist traurig, dals die Worte dieses Kapitels so wahr
sind. »Fast jeder Roman, fast jedes Drama unserer »Modernen« dreht sich um die
sexuelle Frage, um sexuelle Raffiniertheiten. Den Stoff liefern stets gesucht schmutzige
Gesellschaftszustände unserer Grofsstädte; im Vordergrunde das dekadente Weib, die
personifizierte Lüsternheit. Alles hat nur den Zweck, die Phantasie zu reizen und
sinnlich wollüstige Gefühle in dem Leser zu erwecken.« Dals diese Bücher (mit
sinnlich obscönen Gestalten als TitelLildern) die Sinnlichkeit der Jugend erwecken,
ist nur zu natürlich. Voll Heifshunger werden die darin in sinnlichem Gewande
enthaltenen perversen Ideen und degenerierten Anschauungen aufgenommen. Eine
vollständige Vergiftung des Herzens ist die Folge.
Die Zeit der Geschlechtsreife und ihre Gefahren behandelt Fuhr-
mann im 5. Kapitel. Er eifert hier besonders gegen den Milsbrauch, welcher mit
dem Worte »Sinnlichkeit« getrieben werde. Er scheidet zwischen »Geilheite und
»Sinnlichkeite. Geılbeit gilt ihm als raffinierte Wollust.?) Die Geilheit ist die
Quelle alles Lasters, wie dies besonders Graf Leo Tolstoi betont. Fuhrmann
weist auf die alten Germanen hin, welche sittenrein waren, aber mit dieser Sitten-
reinheit naturgemäls eine grolse, echte Sinnlichkeit verbanden. »Geilheit« finden wir
dagegen beim römischen Volke zur Zeit seines Verfalles.
Im Gegensatz zu Paolo Mantegazza, welcher in seiner »Hygiene der Liebhe«
die Onanie oder Masturbation als eine Erbärmlichkeit verdammt, äufsert Fuhr-
mann von dem Jünglingsalter: »Besser ist wohl, vom Standpunkte kühler
Vernunft die Masturbation, wenn sich der Geschlechtstrieb zwingend fühlbar
macht, als sich der ausschweifenden Art der geschlechtlichen Befriedigung mit p1o-
stituierten Dirnen hinzugeben, die im Grunde genommen nichts anderes
ist als Onanie und überdies die Gefahr ansteckender Krankheiten in sich
schlielst«e. (S. 44.) Unter Abwägung all dieser Verhältnisse wird Fuhrmann zu
einem bereiten Anwalt der ‚frühen Ehe«, welche den im -Banne der Konvention
stehenden Milieumeuschen« begreiflicherweise nicht zusage. Fuhrmann berührt
1) An die Volksschule scheint der Verfasser nicht zu denken, ebenso auch
nicht an die Jünglinge und Jungfrauen aus dem sog. »Vulke.
2) In dieser Bedeutung wird das Wort auch Röm. 13, 14 gebraucht: >» Wartet
des Leibes, doch also, dafs er nicht geil werde«.
190 C. Literatur.
hier eine Frage von der grölsten sittlichen und sozialen Tragweite. Ich wurde bet
der Lektüre dieses Kapitels lebhaft an Augustin erinnert, welcher in seinen »Be-
kenntnissen« seinen Eltern den Vorwurf macht, sie hätten durch die Veranlassung
einer jugendlichen Ehe ihn vor dem Versinken in den Pfuhl der Wollust bewahren
können.
Herborn. Hermann Grünewald.
Braunschweig. M., Das dritte Geschlecht. Beiträge zum homosexuellen Problem,
Halle a. S., Verlag von Carl Marhold. 1902. 588.
Der Verfasser beleuchtet in seiner Schrift (durch Beispiele belegt) die merk-
würdige Erscheinung der »gleichgeschlechtlichen Liebes, eine Erscheinung, deren
Kenntnis nicht nur für Sozialpolitiker, Richter, Anatomen und Pathologen, sondern
auch für Pädagogen wichtig ist. »Nicht zum wenigsten werden Eltern und Er-
zicher nur zu häufig sich bemülsigt sehen, Stellung zu dieser Erscheinung zu
nehmen, die als homosexuelles Problem erst seit kurzer Zeit von wenigen in
ihrer ganzen Eigentümlichkeit und Gröfse ernster Forschung gewürdigt ist«: Mit
diesen Worten weist der Verfasser am Eingang seiner Schrift auf die pädagogische
Bedeutung der homosexuellen Frage hin. Die näheren Ausführungen bietet er auf
S. 40 ff.
Zunächst entwirft Braunschweig eine geschichtliche Skizze über das Auf-
treten der konträren Sexualempfindung. (S. 11-—-17.) Sodann charakterisiert er die
verschiedenen mit dem geschlechtlichen Problem im Zusammenhang stehenden Er-
scheinungen: Fetischismus, Sadismus, Masochismus, Onanie, Exhibitionismus, Nekro-
manen und Koprolagnisten, illusionäre Kohabitation, lesbisches Laster u, a Für den
Pädagogen kommt zunächst der Fetischismus in Betracht. Dieser tritt in ver-
schiedenen Stufen auf: »Über die harmlose Verehrung des Schülers, der beim An-
blick einer Mädchenlocke in unkontrollierbaren Sehnsüchten der unschuldigen Ange-
beteten gedenkt, lächeln wir. Mit ihrer Intensität nimmt die Gefahr zu. Das
Taschentuch, einen Handschuh des begehrten Individuums zu Götzen
zu wählen, vor dem die Liebesfeuer angezündet werden, erscheint
weniger harmlos, wenn daran Kleptomanie reifte. (S. 20.) Als Äulfserungen des
Sadismus dürften im ‚Jugendalter besondere Mifshandlungen von Mädchen durch
Knaben angesehen werden. Das Gegenstück zum Sadısmus ist der Masochismus.
Ersterer ist aktiv; letzterer ist passiv. »Der Sadist bereitet Schmerzen, um sein
Wollustgefühl zu schüren, der Masochist verlangt sie aus demselben Grunde für
seine Person.«e (S. 21.) Die Bezeichnung Masochismus wurde von Krafft-Ebing
geprägt. Letzterer zeichnete ein klares Bild eines Masochisten; wir finden es auf
S. 23—25 der Schrift Braunschweigs. Ein neues Licht auf die verderbliche
Wirkung der körperlichen Züchtigung werfen folgende Stellen aus dem
von Krafft-Ebing mitgeteilten Bericht des betreffenden Masochisten: »Ich erinnere
wich deutlich, als Kind mehrere wirkliche Züchtigungen, auch von weiblicher Hand,
erhalten zu haben. Niemals war damit eine andere Empfindung als Schmerz und
Scham verbunden; nic ist es mir eingefallen, solche Wirklichkeiten mit meiner
Phantasie in Zusammenhang zu bringen. Die Absicht, mich zu strafen, erschütterte
mich schmerzlich, während ich mit meinen Phantasiegobilden eine Ab-
sicht voraussetzte, die mich entzückte. Auf einsamen Wegen im Waldo
geilselto ich mich mit herabgefallenen Zweigen und liefs meine Ein-
bildungskraft dabei im gewohnten Sinne spielen«e. (S. 23.) Eine andere sexuelle
Erscheinung ist die »illusionäre Kohabitation«, welche an lüsternen Wor-
C. Literatur. 191
ten und unanständigen Bowegungen befriedigendes Genügen hat«. Sie wird
gefährlich durch »das ansteckende Gift der Verführung«. (S. 27.) Schaufenster
und Eisenbahn sind Pflegestätten dieses Übels. Man denke nur an die schlüpfrigen
Schriften und Bilder, welche zum Kaufe ausliegen; man denke ferner an alle
Obscöna, welche in der Eisenbahn, in öffentlichen Bedürfnisanstalten den Sinnen
schriftlich und mündlich dargeboten werden! In Internaten und gemeinsamen Schüler-
pissoirs kann der Exhibitionismus gezüchtet werden. Dieser besteht in dem
Hang, die Geschlechtsteile entblölst zur Schau zu tragen. »Er besitzt die dämonische
Kraft aus unschuldigen Menschen lasterhafte, aus armseligen Schwächlingen ver-
derbte Gesellen zu machen«. (8. 27.)
Auf S. 30—32 und S. 34 erörtert Braunschweig das Laster der Onanie
beim männlichen und weiblichen Geschblechte. Ein »geradezu ungeheuerliches Dei-
spiele von der Onanie eines fünfzehnjährigen Burschen finden wir auf S. 31. Die
Onanie ist — wie Braunschweig S. 30 hervorhebt — »ein aulserordentliches
Düngemittel zur Förderung urnischer Liebhabereiene (d. i. geschlechtlicher Verkehr
nur zwischen männlichen Geschlecht). Dasselbe gilt auch von den weiblichen
Onanisten. Diese werden vielfach zu Lesbierinnen und Tribaden (vgl. S. 34 ff.).
Hinter der Onanie steht also immer das drohende Schreckgespenst der Homo-
sexualität.
Braunschweig ruft zum Schlusse (S. 49 ff.) die wahre Erzielung zur Hilfe
an, während die Erziehung der Gegenwart von ihm hart verurteilt wird. Er äufsert
u. a.: »Mit Ammenmärchen und verlogeuer Moral werden wir von Kindesbeinen an
gefüttert, bis wir auf einmal sehen müssen, in welche Fährlichkeiten eine derartig
vertuschende Pädagogik uns geworfen hat. — Bei einiger Sachkenutnis über das
Wesen der konträren Sexualempfindung wird es Eltern und Erziehern nicht schwer
fallen, sexuell pathologische Keime zu entdecken. Und jede mit ihnen in Verbin-
dung stehende Regung im Kindesalter einzudämmen, zu leiten, abzuschwächen, um-
zumodeln, heifst die verkehrte Geschlechtsempfindung an der Wurzel fassens.
(S. 50.) »Verkehrte Triebrichtungen« sollen die Eltern nicht als »kindliche Harm-
losigkeitene behandeln. Als Beispiel erwähnt Braunschweig den »Buben von
zwei Jahren« einer ihm befreundeten Familie, dessen gröfste Freude ein nackter
Arm oder ein entblöfstes Bein gewesen sei. Aus dem Knaben sei ein »ausgesprochener
homosexueller Fetischist« geworden.
Mädchen, welche eine offene Abneigung gegen Beschäftigungen, wie sie jungen
Mädchen ziemen, an den Tag legen und Knaben, welche nur Sinn für Mädchen-
spiele bekunden, sollen mit dem Erziehungsmittel der »wohlwollenden Ver-
achtung« auf die rechte Bahn geführt werden.
Weiterhin soll man die »unmoralische Moral des Storchmärchens« bekämpfen,
jenes »Pharisäertum, welches das Feigenblatt für die vollendetste Schöpfung hält
und binterdrein die heimliche Zote sich zum Nachtisch hinter Vorhängen servieren
Herborn. Hermann Grünewald.
Ziegler, K, -Unsere schwachen Kinder-. Acht Briefe für Väter und Mütter.
Idstein, Verlag Erziehungsanstalt, 1903. 85 S. Preis 0,80 M.
Der Verfasser will den vorzugweise Ichrhaften Charakter vermeiden und sieh
mehr »intimeren, tiefere Gemütssaiten berührenden Reflexionen. hingeben. Zwar
will er Vätern und Müttern auch mit heilpädagogischen Belehrungen und Rat-
schlägen an die Hand gehen, ihnen daneben aber besonders noch Trost und Zu-
192 C. Literatur,
spruch in ihrem Unglück bieten. Er hat dafür die Briefform gewählt, die ja in dieser
Beziehung vielleicht auch eher anspricht. Solchen Trost und Zuspruch gewähren,
ist keine leichte Aufgabe. Die Sorge und der Gram um das von der Natur ver-
stolsene, aber von den Eltern nicht selten überstark geliebte Schmerzenskind be-
lasten das Elternherz aulserordentlich schwer, zumal wenn dann noch das Gewissen
anklagt, dals durch das unglückliche Kind elterliche Sünden heimgesucht werden.
Ziegler meint: wenn man unmittelbarer Augenzeuge solch schmerzlichen Ringens
ist, dann kann die innige, aufrichtige Teilnahme mit seinen leidenden Mitmenschen
nicht fern bleiben, da drängt es zu ein paar guten und freundlichen Worten des
Trostes und der Aufmunterung. Und die hat er hier zu geben versucht.
In dem Naturgeschehen, in der Kette von Ursachen und Folgen, kann hier
allerdings wenig Trost gefunden werden. Man mus hineingreifen in eine andere
Welt und in dem Glauben, dafs denen, die Gott lieben, alle Dinge zum besten
dienen, sich in Ergeberheit dem Schicksal beugen lernen. Wo aber der Glaube
anfängt, da hört die Wissenschaft und die äulsere Erfahrung auf. Die innere Er-
fahrung ist subjektiver Art und schreibt deswegen auch der Kritik Glaubensfreiheit
vor. Wer darum in seinem subjektiven Empfinden Herrn Ziegler auch nicht
immer folgen kann, wird doch gern das Buch bedrückten Vätern und Müttern in
der Hoffnung, dals dadurch die dunklen Stunden ihres stillen Kummers ein klein
wenig erhellt werden, in die Hand geben.
Das Buch will aber auch zeigen, wie fremde Liebe und fremde Hände sich
sorgend bemühen, den Schmerzenslieblingen der Eltern ein möglichst angenehmes
Dasein zu verschaffen und dwch anstaltliche Fürsorge ihnen mehr Förderung an-
gedeihen zu lassen, als das Elternhaus es vermag. Bekanntlich schrecken viele
Eltern zurück, ihr Schmerzenkind einer Anstalt anzuvertrauen, selbst dann, wenn
die dringende Pflicht es gebietet, den sämtlichen Kindern noch lange eine nerven-
gesunde Mutter zu erhalten und die übrigen Kinder nicht durch das Schmerzens-
kind in ihrer Entwicklung nachteilig beeinflussen zu lassen. Da ist das Buch
Zieglers wohl geeignet, den Eltern zu zeigen. dafs ein solches Kind in den guten
Anstalten gut aufgehoben ist, dals auch hier Liebe und Fürsorge walten und dals
es nur heilsam ist, wenn dieselben nicht wie bei mancher Mutter durch starke
Affekte zum Ausdruck kommt.
Hilfsschullehrer und Anstaltsleiter tun also gut, in ihrem eigenen wie der
Eltern Interesse das Büchlein diesen angelegentlichst zu empfehlen. Unsere Leser
aber finden in zwei Briefen der Schrift alte und gewils auch liebe Bekannte.
Li;
Eichholz, Dr. med. und Sonnenberger, Dr. med., Kalender für Frauen- und
Kinder-Ärzte. Bad Kreuznach, Verlag von Ferd. Harrach. Elegant gebunden
in Leder. Preis 2,50 M.
Für Frauen- und Kinderärzte cin unentbehrliches Taschenbuch. Verschiedene
wissenschaftliche Aufsätze beanspruchen auch das Interesse des Kinderpsychologen.
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Druck von Hermann Beyer & Söhne (Boyer & Mann) in Langensalza.
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A. Abhandlungen.
1. Einige Untersuchungen über das Gedächtnis bei
Schwachbefähigten.
Yon
Marx Lobsien, Kicl.
(Schluls.)
B. Untersuchungen an Imbezillen.
Ich stelle zunächst die Ergebnisse zusammen, geordnet nach den
beiden Klassen. Die Werte sind Prozentangaben. Klasse III: Durch-
schnittsalter 11—12 Jahre, Klasse IV: Durchsehnittsalter 10—11 Jahre.
Knaben:
Art des Gedächtnisses
j | | P a | ;
=i g Si eg Fo
! 4 = m u: er
Stufe u N EE E E AO a
BE 5: A l © % © D 2 a T, kh R]
5 i = E — S A zn A S == 77 — g: =
at F = z2 7 7 Z æ 2 E =
y Q, = e A E E E i
2 = = ae
© = = = | z
et TE eE EEE NEBEN =
In. ee BSımli aaa, %
Iy: EE SS LE SE TE TE 5
Die Stufen habe ich analog den Versuchsergebnissen an normalen
Schülern bezeichnet.
(Siehe Tabelle S. 194.)
Die Kinderfchler. VII. Jahrgang. L3
194 A. Abhandlungen.
ne een Sn md mn nn
Mädchen.
Art des Gedächtnisses
|
|
| | A
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P | e wi. S felg |g
Stufe T ® N De. a ae
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2 E > El ES] EEJ DE =
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F > | © in: E-
Tr T O a e ` |
II, 93 öl | 3; 56 | 2 j 3 | 4 | 13
IV. 58 38 | 1 | 22 | 21 | 29 | 15 —
Vergleicht man die beiden Tabellen, so findet man im allgemeinen
das früher gefundene Ergebnis bestätigt, dafs die Mädchen in der
Energie des Gedächtnisses den Knaben überlegen sind, aber die
Distanz ist merklich herabgedrückt und oft zeigen sich auch die
Knaben den Mädchen überlegen.
Von wesentlich grölserem Interesse ist ein
Vergleich mit den Normalwerten.
1. Es darf offenbar aus den Normalwerten auch das Vorherrschen
dieser oder jener Gedächtnisseite sowie das Verhältnis der Werte
untereinander als Norm angesprochen werden. Um einen Überblick
zu gewinnen, stelle ich die (resamtergebnisse der Knaben und Mädchen
für die Stufen UI und IV nur bei den Tabellengruppen zusammen..
Als Normalwerte fand ich Stufe:
JII.
92 57 2 65 67 64 21
oder
9 6 T 7 7 6 2
ze, eo rs e
Vergleicht man damit die zugehörigen nichtnormalen Werte:
II.
Lossien: Einige Untersuchungen über das Gedächtnis bei Schwachbefähigten. 195
IV.
6: He nz: ee ee 2
Å | \ un | S —
— 2 — 3 +1 +0 +1 —1 +0
Dann gewahrt man, abgesehen von den Wertangaben über Ge-
dächtnisenergie für reale Dinge und für sinnlose Lautkompositionen,
bei den normalen Kindern in den Differenzwerten eine
sehr grofse Stetigkeit, Übercinstimmung in der Ausbildung
der verschiedenen Gedächtnisseiten. Dem entspricht bei
den abnorm Begabten eine bedeutende Ungleichmälsigkeit.
Neben relativ bedeutenden Gedächtnisleistungen auf diesem Gebiete
finden wir auf anderen solche von ganz minimalem Werte.
2. Die Differenz in der Gedächtnisleistung der Imbezillen gegen-
über den Normalen in Zahlen anzugeben, hat bei den vorliegenden
wenigen Untersuchungen!) gewils seine Bedenken. Unter dem Vor-
behalt, dafs man sie vorsichtig aufnehme, will ich die Berechnung
trotzdem anstellen, weil mir gerade diese Seite solcher Untersuchungen
von besonderer Bedeutung scheint. Denn ich bin der festen Über-
zeugung, dafs gerade experimentelle Gedächtnisuntersuchungen sch wach
befähigter Schüler in hohem Mafse geeignet scheinen nicht nur
wichtige pädagogische Fingerzeige zu bieten, sondern vor
allem auch ein sicheres Urteil zulassen hei der Aufnahme
Schwachbegabter in die für sie bestimmten Unterrichts-
anstalten. Die Gedächtnisuntersuchungen geben den allgemeinen
sicheren Rahmen ab, in den dann die weiteren Intelligenzprüfungen
und ärztlichen Untersuchungen sich einfügen. Selbstverständlich darf
man solche Leistungen von Untersuchungen vorliegender Art erst
dann erwarten, wenn sie in möglichst grofser Anzahl an mög-
lichst vielen Anstalten angestellt worden sind und so eine
zuverlässige Norm abgeben können, an der dann einzelne Beob-
achtungen wie etwa bei der Aufnahme oder bei den Prüfungen sich
messen. Ich mufs dann weiter noch zu bedenken geben, dafs es sich
hier um Klassenleistungen handelt, dafs natürlich die einzelnen Zög-
linge in sehr verschiedenem Mafse minderbefähigt sind. Einwände.
die man aus diesem Umstande etwa erheben wollte, kann man mit
dem Hinweis darauf begegnen, dafs auch die Normalwerte der Aus-
druck der Klassenleistungen sind. Übrigens will ich weiter unten auf
diese Unterschiede kurz näher eingehen.
1) Jene Untersuchungen erstrecken sich auf über 30000 Einzelbeobach-
tungen.
13*
196 A. Abhandlungen.
Differenzwerte der Knaben.
Wie die schwache Befähigung sich in geringeren Gedächtnis-
leistungen äußert, so hat man umgekehrt in dem Differenzwert gegen
die Norm einen Ausdruck und ein Kennzeichen der Imbe-
zıllität.
Stufe III.
Art des Gedächtnisses
|
|
|
|
|
|
p) > | = | = x | S ] 5 |
Kinder 05 D nn 332: 235 % zur
S =: S oo 27 835 29 88! 5
5 l =. Er Q, £ = e ep Ga w
oa | p — — ge} 2” nn - E: | far
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[ge] i l | =] ' B = | [= |
a a S __ — —— Be EN —— t i —
en ee Ba a a ar
Normal 0, 5,0 | 60 — 63 , 73 | 55 | 20
Imbezill oA, j 33 | 4 | 4 7
z l č i )
Differenz W 15 |2 | 4 30 99 | l4 , 18
j f t l
Eine Differenz gegenüber dem normalen Gedächtnis weisen alle-
Seiten auf. Während der Minuswert bei den visuellen Vorstellungen,
die wörtlichen Ausdruck finden, auffallend gering ist, zeigt sich
auf andern Gebieten ein erschreckend hoher Wert: auf dem der realen
visucllen Reize ist «die Getdächtnisenergie fast um 1/ mehr als 1/,
auf dem der realen Geräusche, fast 1/,, wo es sich um akustische
und visuelle Wertinhalte, beträchtlich mehr als t, bei den sinnlosen
Lauthäufungen minderwertiger. Diesen zuletzt genannten hohen
Werten gegenüber ist der minimale von +4 allerdings nicht wenig
auffällig, zumal dem Wert der ersten Kolonne von 20 gegenüber:
doch, die zu geringe Anzahl von Beobachtungen bedenkend, halte ich
eme Vermutung, die der Deutung dienen könnte, zurück.
Die (esamtgedächtnishöhe der Normalen gegenüber den imbe-
zillen Knaben verhielt sich auf dieser Stufe wie 488 : 342 oder
rund wie
Da
Dabei gilt es wieder noch zu bedenken, dafs es sich um Klassen-
werte handelt, noch nicht um den Vergleich der Gedächtnisleistungen
von imbezillen Minuswerten innerhalb dieser Klassennorm.
Insbesondere offenbart sich ein Unterschied in dem Gedächtnis
für Wörter überhaupt wie
N 64:1 46
Das Gedächtnis für Lauthäufungen betrug N: Y,, I: aber nur
14 des Gedächtnisses für sinnvolle Wörter.
Lossen: Einige Untersuchungen über das Gedächtnis bei Schwachbefähigten. 197
Die Gedächtnisenergie für reale Reize gegenüber den zugehörigen
durch das Wort vermittelten Vorstellungen erwies sich bei den Minder-
begabten zwar herabgesetzt, doch zeigte sich das Verhältnis beider-
seits übereinstimmend. Ich fand:
N:15:13
I: 7:4.
IV. Stufe (Knaben).
Art des Gedächtnisses
i | A l A A Pr
(ep) 1 1 + 3 PN
Kinder % De ee ah rs =
= PR 2 D, 2 T2’ > o iE D
=: 2 ®© ı E = Z u = Z z=, +
zy 2 = ie z6 # k? ®
=æ = J3 a 3 S I
© | © © © ©
D | = | 2 = = |
Normal 87 | 5 | 49 55 18 57 38 12
Imbezill 62 ı 4 : 15 |? 23 18 31 20 5
Differenz 25 l4 ' 34 ` 32 30 26:18 7
(Siehe Zeichnung der Kurven S. 198.)
Der für die III. Stufe entworfenen Tabelle gegenüber bedeuten
diese Differenzen durchweg größsere Werte, Werte, die zu dem Er-
gebnis führen möchten, dafs auf den jüngeren Altersstufen sich die
Schwachbefähigung in zum Teil viel höherem Maße der Norm gegen-
über bemerkbar macht, eine Erscheinung, die sich teilweise durch
die Auslese, welche die Einteilung in verschiedene Klassen bedingt,
erklären läfst, andrerseits aber auch aus dem Umistande, dafs, nach
Ausweis der Normaltabelle von der V. zur IV. Altersstufe für manche
Seiten der Gedächtnisentwicklung ein starker Aufschwung nachweis-
bar ist.
Die Gesamtenergie der Norm gegenüber I prägt sich aus:
N 401 : J 215 = 4:2
Der Unterschied im Wortgedächtnis stellte sich:
N 48:1 20
Das Gedächtnis für sinnlose Wortbilder gegenüber dem für
Wörter normiert sich N = !/, und I = 1.
Den Wert des Realgedächtnisses gegenüber dem Wortgedächtnis
berechnete ich:
N = 14:10 und I = 10:4
Die Differenzen aus allen Knabenversuchen auf diesen Alters-
stufen betrugen:
98 A. Abhandlungen.
te-
J < N 2. > = = m
z > = 2 A Q, =
wa Ag: — mi er
© © A <
S 5 = 7. Z 2
L © + = s S
` u
Er
e T
I. Gesamtenergie: N 4,5 : I 25
~o
IM. Wortgedächtnis: N 11: I
IH. Wortgedächtnis: N = 14,5 : 11,5
IV. Realgedächtnis: I = 8,5 : 40.
Die Versuche zeigen deutlich ein bedeutendes Übergewicht in
der normalen Gedächtnisenergie gegenüber der abnormen und dann
im besonderen noch, wie ungleich fester Wort und Vorstellung
bei dem normal begabten Kinde assoziiert sind, wieviel
nachdrücklicher das unmittelbare Veranschaulichen bei den
Imbezillen zu pflegen ist.
Mädchen.
Ich kann mich nun darauf beschränken, die Tabellen über die
Mädchenversuche kurz unter sich und die Gesamtergebnisse mit den
oben angedeuteten zu vergleichen.
Lossen: Einige Untersuchungen über das Gedächtnis bei Schwachbefähigten. 199
III. Stufe.
Aıt des Gedächtnisses
| | Z Br
S F| S |fe g To
Kinder on D N 2n| 258 ar Aa —
5 S: = o E 24 epg 2 S =
(ra = et — o p< 57 — =. > S: Z
S: © t 5515 S, goa 5 F S
a | 8 |% Telg on
| | f | B | - BE
Normal 94 6 | 74 ; 73 | 72 | 71 | 73 | 28
Imbezill 93 51 31: 56 522 36 | 49 13
Differenz 1 5 43 | 17 | 50 35 | 24 | 15
IV. Stufe.
Art des Gedächtnisses
| 4 | Ee < <
2 | o | 8 la slá |a
Knaben A N a Ż z Aal 26 &
B ı & = o 2 Da ©, g E an =
= | 2 S | B2|ER|ErT|ISE g
= E = g ® a Z J ag l
ce I e o € © ©
© = = = =
_ | | | | |
Normal 76 | 46 | 62 | 56 | 55 | 5s | a3 f 10
Imbezill ie 38 11 2» 021 | 2 | 35 n
Differenz 8 | 51 | 32 | 34 | 3 | 38 | 10
(Siehe Zeichnung der Kurven S. 200.)
Die dritte Stufe weist eine Gesamtdifferenz von 190 auf gegen-
über 233 der vierten. Die Vergleichswerte gegenüber der Norm be-
rechnete ich auf:
I. Gesamtenergie:
Stufe II: N = 541 : I = 951-5 :4
P Se E APESE
II. Wortgedächtnis:
Stufe II: N = 4: I = 2 15:15
„DW:N=-5:1- 15 i ?
III. Real- : Wortgedächtnis:
Stufe II: N =6:7
I=5:2 |N = 65:
w IVEN Tao I = 5,5 : 25
I=6:3
Rechnet man diese gefundenen Werte in Dezimalbrüche um,
200 A. Abhandlungen.
I
uəjqez
JSTO A HE
"ISIOAISUL,
"ISLO SIA
un
.* ud
D
Ep, z
D =
IQ 7
O aa
> =>
A 5
'JSIOAS[UNFOH
dann hat man offenbar eine Form gefunden, in der sie unterein-
ander vergleichbar sind:
Mädchen:
I. Stufe HI und IV = 0,66
I. „UI, IV = 043
I. „ MH ENTE |
I: I = 0,45
Knaben:
I. Stufe HI und IV = 0,55
IL. „ II „IV = 054
IM. „ m„ MW N:N — 079
I: I= 0,4
0,79 :
: 0,45
0,47
Logsien: Einige Untersuchungen über das Gedächtnis bei Schwachbefähigten. 201
u
~
1
A
In dieser Berechnung ist überall N —= 1 gesetzt. Die Mädchen
zeigen sich in der Gesamtenergie den Knaben überlegen, denn während
diese, der Norm gegenüber, gewertet werden konnten mit 0,55, kam
auf jene 0,66. Im \Wortgedächtnis waren hingegen die Knaben den
Mädchen voraus. Endlich ergab sich für den Vergleich der Ge-
dächtnisenergie für sinnvolle Wörter gegenüber den Wortbildern.
entsprechend der einfachen Formel:
0,92 : 0,45 = 0,79: x
x = 0,59
nicht, wie oben für Knaben gefunden wurde 0,47, sondern dafs diese
wenigstens relativ den Mädchen überlegen waren.
So zeigen auch diese wenigen experimentellen Beobachtungen
charakteristische Unterschiede in der Gedächtnisenergie normaler
Knaben und Mädchen und schwachbefähigter untereinander. Dort
fand man durchgehends ein Dominieren des weiblichen Ge-
schlechts. — Ich möchte dem Leser überlassen, weitere Vergleiche
nach den obigen Tabellen anzustellen und mich mit der Bemerkung
begnügen, dafs mir neben sonstigen Intelligenzprüfungen gerade auch
die Gedächtnisuntersuchungen an schwachbefähigten Schülern, wenn
sie mit genügender Sorgfalt und in gehörigem Umfange angestellt
werden, gar wohl geeignet scheinen, das Mafs der Minderbegabung,
dessen Zu- oder Abnahme und manchen dankbaren Fingerzeig für
die praktische Behandlung der Minderwertigen zu bieten.
C. Vergleich nach den Minuswerten auf den verschiedenen
Altersstufen.
Trotzdem ich sehr wohl weils, dafs ich zum Schlußs mich auf
ein durch die vorliegenden Untersuchungen noch weniger gesichertes
(rebiet begebe, möchte ich das schon deshalb nicht unterlassen, um
einigen Mifsdeutungen vorzubeugen.
Schon in den Normalschulen ist der Prozentsatz derer nicht
gering, die, ohne doch zu den Minderbefähigten gerechnet werden zu
dürfen, »sitzen bleiben«e. So finden sich in jeder Klasse Alters-
differenzen. Wo diese Altersunterschiede bedingt sind durch
schwächere Befähigung, wird offenbar cin Vergleich zwischen zwei
annähernd gleich fähigen Schülern zu Gunsten des Jüngeren ausfallen
müssen. Diese Altersunterschiede sind naturgemäfs in den einzelnen
Kursen der Hilfsschulen noch größer und für die relative Wertung
‘der Imbezillität spielt das Alter eine ungleich wichtigere
Rolle als in jenen Bildungsanstalten.
902 A. Abhandlungen.
Auch bei den vorliegenden Gedächtnisuntersuchungen ist uner-
läfslich, die Altersstufe einzurechnen. Die voraufgegangenen Unter-
suchungen bestimmten lediglich das Durchschnittsalter der
klasse. Hier soll nun der Versuch gemacht werden, die gleich-
alterigen in gleichem Sinne Minderbefähigten bezüglich
der kedächtnisenergie zu vergleichen. Leider konnten sich
meine Beobachtungen nur auf 10 bis 10 1/, jährige Schüler erstrecken.
Ich hatte die Herren, die in licebenswürdigster Weise ihre Unter-
stützung zusagten, gebeten, jeden Zögling gegenüber dem gleich-
alterigen Normalschüler durch einen Bruch zu werten. So fand ich
Schüler bezeichnet als 2/3, Ya, 4; und 1/, normal. Ich weils sehr
wohl, dafs diese Art der Schätzung ihre Bedenken hat, sie setzt Er-
fahrung, ruhiges Erwägen voraus und ist trotzdem oft nicht wohl
ausführbar, weil eben die Begabung nicht einheitlich ist. sondern
ihrem Wesen nach sich aus Komponenten zusammensetzt, von denen
bald dieser, bald jener in den Vordergrund sich drängt. Die Werte
sind nicht das, was sie scheinen, exakte Malsbestimmungen.
Derartig sichere Mafse können wir auch hier nur gewinnen
auf experimentellem Wege. Ich bitte die nachfolgenden Aus-
führungen lediglich als ein Beispiel zu betrachten, in dem
versucht wird, den umgekehrten Weg einzuschlagen, nicht vom Ex-
periment aus zu festen Werten zu gelangen, sondern umgekehrt eine
solche Schätzung hinterdrein durch den Versuch zu bestätigen. Ge-
rade unter so unsicheren Verhältnissen wie den vorliegenden wird
man zwar einerseits einen nicht zu scharfen Malsstab anlegen, audrer-
seits aber wohl in einer Übereinstimmung zugleich die Bestätigung
dafür erblicken, dafs der N. 201 gegen Ende ausgesprochene Gedanke
wenigstens nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen ist.
Ergebnis: Alter 10—10!/, Jahre.
laute . 2 2020200. 1 1 —
Begabte z 3 i 2 hs e 4
| | ElSsIElEeIE[5|5
Gedächtnisart 2168 » | 5 > = > mw:
© | A Č j =a © S © E
Sr, m ee nun. st ehe koa 5 MES en ee | È = | 5
Gegenstände 18 | 67 60 60 23 | — 29 | ee
Geräusche . Be 45 | 56 33 32 10 | — 10 ; —
Zahlen... a 88 | 4 j 10 | 10 | 10 | 20 | —
vis. Vorstellung. . . | ,45 | 56 33 32 10 | sà zš =
ak. Vorstellung . . . 25 | 32 33 32 2 | — un =
Tastvorstellung . . . 45 32 >. | 32 22 — 10 | —
Gefühlsvorstellung . . 20 $5 2 | 22 10 — 10 | —
|
|
|
|
Barger: Ein Beitrag zu dem Kapitel »psychopathische Minderwertigkeiten«e. 203
Zunächst mufs man sich vergegenwärtigen, dafs die Ziffern-
angabe, die selbst nur durch Schätzung gewonnen wurde, nicht für
alle Seiten des Gedächtnisses zutreffend sein werde Wäre dem so,
dann brauchte man offenbar nur die einzelnen Werte zu verrechnen:
Ca 1,3
2
I= Ix?
MI = IH x 3
vV_-IVx4
und müfste dann auf den berechneten Normalwert kommen. Es
hiefse selbstverständlich das Wesen des vorliegenden Experiments
und des psychologischen überhaupt. vollkommen verkennen, wollte
man derartige Anforderungen stellen. Zunächst beruht die Wert-
angabe auf Schätzung, dann aber arbeitet das Experiment nirgends
mit derartig exakten Mafsen, man darf niemals vergessen, dafs seine
Mafsbestimmungen zu ganz überwiegendem Teile der Wahrscheinlich-
keitsrechnung unterworfen sind. Es kann nicht dringend genug vor
derartigen Hoffnungen und Anschauungen gewarnt werden. So auch
kann die obige Tabelle höchstens den Nachweis erbringen, dafs im
allgemeinen die Schätzungsziffern mit den Untersuchungsergebnissen
übereinstimmen; auch dann, wenn sie sich lediglich auf die Ge-
dächtnisenergie beschränkt hätten, dürfte man ein Mehreres nicht er-
warten.
Ich beschränke mich auf die Versuchsergebnisse mit Knaben,
die nicht lückenhaft waren wie die andern und berechnete als Gie-
samtenergiewerte:
29232012 107% 72
und finde, dafs sie tatsächlich, natürlich keineswegs ziffernmäfsig
genau, aber im allgemeinen mit den Schätzungsdaten über-
einstimmen.
2. Ein Beitrag zu dem Kapitel »psychopathische Minder-
wertigkeiten.«.
Von
Karl Barbier, Taubstummenlchrer in Frankenthal.
Mit gütiger Erlaubnis der verehrlichen Redaktion der „Kinder-
fehler« möchte ich hier einen Fall zur Darstellung bringen, der uns
in deutlicher und interessanter Weise zeigt, welchen ungeheuern Ein-
204 A. Abhandlungen.
flufs eine dauernde Störung im physiologischen Mechanismus auf die
geistige Entwicklung des Kindes ausübt, wenn dabei als zweites nicht
zu unterschätzendes Moment die fast gänzliche Ausschaltung aller
auf das normale Kind einstürmenden äufsern Reize hinzukommt.
Die Tatsache, daß bei dem hier in Frage kommenden Kind auch ein
(rehördefekt vorliegt, dürfte nicht allzustark in Rechnung zu ziehen
sein, wenn man bedenkt, daß selbst ganz taube Kinder aus ihrem
vorschulpflichtigen Alter einen gewissen geistigen Besitz mitbringen
und dafs der mangelnde Sinn der weiteren Ausbildung keine un-
überwindlichen Hindernisse in den Weg legt.
Doch nun zu unserm Fall selbst.
Das Kind, ein Mädchen, ist geboren am 22. April 1891 zu N.
in der Rheinpfalz als Tochter eines Schiffers. Da der Vater ein
starker Liebhaber von Alkohol, die Mutter aber eine kränkliche Frau
war, so herrschte in der Familie mit ihren 5 Kindern das bitterste
Elend. Dabei mußste das Kind verschiedene schwere Erkrankungen
überstehen. So z. B. zeigt die rechte Backenseite noch jetzt
gegen den Hals zu Narben aufgebrochener skrofulöser Geschwüre,
und unter dem Kinn befindet sich ein Eitersack, der noch nicht ganz
verheilt ist. Breite Narben auf dem Kopf erklärte der Arzt als von
einer heftigen Entzündung der Kopfschwarte herrührend. Die Ur-
sache des Giehördefekts konnte nicht festgestellt werden. Der Um-
stand aber, dafs B., wie wir das Mädchen nennen wollen, heute noch an
Ohrenflußs leidet und daß das Trommielfell des linken Ohres zerstört
ist, lälst darauf schliefsen, dafs der Defekt auf eine Mittelohreiterung
zurückzuführen ist.) Wir sehen, B. mufste mehrere, zum Teil lang-
wierige Krankheitsprozesse und zwar unter den denkbar ungünstigsten
Umständen überwinden. Die Ernährung war durchaus ungenügend
und die Pflege mangelhaft, von einer sorgfältigen ärztlichen Behand-
lung nicht zu reden. Ein allmähliches Gesunden konnte deshalb
nicht emtreten, da Ja das Blut in seiner schlechten Zusammensetzung
verblieb. Geistige Anregungen kamen von keiner Seite, und so vege-
tierte B. während der ersten Jahre ihres Lebens in dumpfer Teil-
') Die Perzeptionsfähigkeit des Ohres ist verhältnismälsig noch bedeutend.
Nach genauer Prüfung vermittels der durch Professor Dr. BrzoLn in München zu-
sammengestellten sogenannten kontinuierlichen Tonreihe hört B. rechts sämtliche Töne
von G18,—c? (Stimmgabeln) und e’--Galton O (Pfeifen) links: von Gis, —c® (Stimm-
gabeln) und e’—Galton 2 (Pfeifen), also fast in der ganzen Ausdehnung der Perzep-
tionsfähigkeit des normalen Ohres. Nur die Hördauer ist auf ungefähr 50°, der
des normalen Ohres beschränkt. Darin liegt der Defekt. Wörter und leichtere
Sätze kann also B. noch auf eine Entfernung von 1 m auffassen.
BarBER: Ein Beitrag zu dem Kapitel »psychopathische Minderwertigkeiten«e. 205
nahmslosigkeit dahin. Sie afs und trank, was man ihr reichte, aber
die übrige Zeit safs sie in irgend einer Ecke und starrte vor sich hin.
Jedermann hielt sie für blödsinnig.
In ihrem 8. Lebensjahr bekam ihr Dasein eine andere Wendung.
Der Vater ging auf und davon, und die Mutter starb bald darauf im
tiefsten Elend. Nun mufste die Gemeinde einschreiten. Die grofsen
Kinder wurden in verschiedenen Familien untergebracht, die »blöd-
sinnige« B. kam mit ihrer jüngern Schwester in das mit dem Dia-
konissenhaus verbundene Waisenhaus in Sp. Dort blieb B. zwei Jahre.
Aber von einem Erwachen aus ihrer Lethargie war nichts zu be-
merken. Tag für Tag trug sie ihre Puppe umher, gab oft ihrem
Unbehagen durch heftiges Weinen Ausdruck oder sals wieder stunden-
lang vollständig teilnahmslos da.
Da man schliefslich glaubte, ihren geistigen Tiefstand auf das
mangelhafte Gehör zurückführen zu müssen, so kam sie von Sp. in
die Kreistaubstummen-Anstalt Frankenthal. B. bildete den Gegen-
stand des lebhaftesten Interesses sämtlicher Lehrer. Aber unser Ur-
teil war kein günstiges. Denn der Eindruck, den B. machte, war
geradezu entmutigend. Mit leerem Blick und geöffnetem Mund sals
sie da. Versuche, sie durch Zeichen und Gebärden, welche die
meisten Taubstummen schon mitbringen, an Heimat, Eltern und Ge-
schwister zu erinnern, oder sie durch Bilder und Spielsachen zu einer
Äufserung ihrer Freude oder ihres Mifsfallens zu bewegen, scheiterten
an ihrer ablehnenden Gleichgültigkeit. Scheinbar ohne Ursache fing
sie plötzlich an zu weinen, war übel gelaunt und ging auf keine An-
regung ein. Das Essen schmeckte ihr, und in ihren Bewegungen
zeigte sie keine Unbeholfenheit. Einigemale war sie leicht unpäßlich
und befand sich namentlich wegen ihres Ohrenflusses in ständiger
ärztlicher Behandlung.
Nach mehreren Wochen und nach vielen vergeblichen Be-
mühungen, einen artikulierten Laut aus ihr hervorzulocken, gelang
es, sie zum Sprechen der Lautverbindung »ialala« zu bewegen. Da
sie Wortgehör besitzt, geschah die Auffassung durch das Ohr. Nie
reagierte aber nur dann auf den Ruf, wenn sie den Eindruck hatte,
dafs das Ganze nur ein Spiel sei. Im Unterricht versagte sie fast immor.
Manchmal indes fing sie selbst an zu rufen, — namentlich der
Direktor unserer Anstalt wurde in dieser Hinsicht von ihr ausgezeich-
net — und augenscheinlich bereitete es ihr riesiges Vergnügen, wenn
der Betreffende auf ihren Ruf »iaia« sich zu ihr hinwandte und Ant-
wort gab. Sie konnte dann in ein geradezu unheimliches Lachen
ausbrechen.
206 A. Abhandlungen.
— Yin Am De 00 m m 11 Lt m mm nn nn aat
Allein das waren nur einzelne lichte Momente, denen wieder
Tage stumpfsinnigen Brütens folgten. Namentlich in der Schule
zeigte sie sich derartig teilnahmslos und widerspenstig, dafs sie oft
nicht einmal die Laute »ialas, die sie doch virtuos bilden konnte,
auf Verlangen wiedergab. Von Konsonanten nicht zu reden. Trotz
aller Mühe brachte sie es im ersten Jahr nur zum Nachmalen eines
Tisches, einer Bank, eines Buchstabens ete., aber zu keinem begriff-
lichen Erfassen, nicht einmal mit Hilfe der Gebärde.
Auch im zweiten Jahr waren die Fortschritte B.s dermalsen be-
scheidene, dafs man sich fragen mufte, ob die Taubstummenanstalt der
richtige Ort für sie sei. Fortschritte waren übrigens doch zu ver-
zeichnen, wenn auch, wie gesagt, recht geringe. B. fing an, sich für
Bilder zu interessieren und die Stellungen der betreffenden Tiere
und Menschen nachzuahmen. Ein weiterer Schritt war, dafs sie die
auf Bildern dargestellten Objekte mit den entsprechenden Dingen
ihrer Umgebung identisch fand. Auch konnte sie am Schlusse des
Jahres ungefähr 10—15 Wörter schreiben und mit den betreffenden
Dingen in Beziehung setzen. Zum Sprechen jedoch brachte man sie
trotz ihres relativ guten (iehöres nicht. Überhaupt setzte sie jeder
direkten Beeinflussung von seiten des Lehrers einen zwar passiven,
aber energischen Widerstand entgegen. Dabei war B. äulserst reizbar
und gegen Mitschüler wie Lehrer nichts weniger als liebenswürdig.
Mit Hilfe einiger Gebärden ihre Klassengenossen verklagen und ihrem
lehrer ihr Mifsfallen ausdrücken, war ihre Lieblingsbeschäftigung,
und kein gröfseres Vergnügen hatte sie, als wenn einer ihrer Mit-
schüler bestraft werden mulste.
Das waren die Ergebnisse des zweiten Jahres. Niemand glaubte mehr
an ein Erfassen der Lautsprache, oder nur an ein geistiges Wachsen
mit Hilfe der Schriftsprache. Da endlich vollzog sich unmerklich,
aber doch sicher ein Wandel. Während B. bisher im Unterricht nicht
die geringste Teilnahme gezeigt hatte und nur etwas tätig war, wenn
sie für sich schreiben, malen, oder Bilder betrachten durfte, fing sie
nach und nach an, auch den Vorgängen um sie her einiges Interesse
abzugewinnen. Da die Klasse, in der sich B. befand, Artikulations-
klasse war, so hatte sie Gelegenheit, die Gewinnung der einzelnen
Sprachlaute «deutlich zu verfolgen. Dabei ergab sich denn anfangs
die merkwürdige Tatsache, dafs B. trotz ihres guten Gehörs die zur
Erzeugung der betreffenden akustischen Effekte nötigen Artikulationen
blofs als optische Erscheinungen auffafste und diese Bewegungsbilder
ohne Stimme nachzuahmen suchte. Sie brachte es darin so weit, dafs
sie das vom Lehrer vorgesprochene Wort nachsprach — immer durch
Barger: Ein Beitrag zu dem Kapitel »psychopathische Minderwertigkeiten«. 207
Lippen- und Zungenbewegungen und ohne Stimmton — und dann auf
das wirkliche Ding zeigte. Ebenso sicher wurde allmählich die Ver-
bindung des Schriftbildes mit dem entsprechenden Begriff. Weiter
jedoch schien B. nicht gehen zu wollen. Jeder Versuch, sie zur be-
wulsten, auch für das Ohr wahrnehmbaren Bildung einzelner Laute
zu zwingen, scheiterte an dem passiven Widerstand, den sie jeder
direkten Beeinflussung entgegensetzte. Ihr Gesicht nahm dann den
allbekannten Ausdruck völliger Leere und Stumpfheit an, so dafs -man
sie gehen lassen mußte. Im Laufe der Zeit vollzog sich auch hier
ein Umschwung. Bei der intensiven Übung, die ein Entwickeln und
Fixieren der Laute unbedingt erfordert, schlugen Tag für Tag die
mächtigen Klänge der Vokale an ihr Ohr, forderten Einlafs und
drängten zur Nachahmung. Und siche, eines Tages, als die Klasse
wieder übte »bababa«, da schrie B. laut mit. Ebenso lernte sie auch
die andern Vokale sprechen und ging endlich, da nun die Bahn für
die bewufste Bildung der Sprachlaute geebnet war, an die Erlernung
der Konsonanten. Und da ihr Ohr sie hier teilweise im Stich liels,
so kam sie oft selbst zu ihrem Lehrer, um ihm den betreffenden Laut
vorzusprechen und ihn zur Hilfeleistung und Korrektur aufzufordern.
Ruhig liefs ‚sie sich jetzt die nötigen Eingriffe zur Herstellung der
richtigen Artikulationsstellung gefallen und übte unermüdlich den zu
bildenden Laut. Mit strahlendem Gesicht nahm sie dann das Lob
ihres Lehrers in Empfang. Hicrmit war das Eis gebrochen. In kurzer
Zeit beherrschte B. sämtliche Laute, sprach laut und verständlich
einzelne Wörter und kleine Sätze, brachte dem Unterricht das gröfste
Interesse entgegen und lernte mit grofßsem Fleifs ihre Aufgaben. Jetzt,
also in ihrem 12. Jahr, befindet sich das Kind in der II. Klasse und
macht sowohl im Sprach- und Sachunterricht wie im Rechnen und
in der Technik des Sprechens derartige Fortschritte, dafs sie zu den
besten Schülern gehört. Und ich glaube, man darf die Hoffnung
hegen, daß so bald kein Rückfall eintreten wird.
Wir kommen nun zur physiologisch-psychologischen Erklärung
dieses eigenartigen Falles. Jou. Fror. Hersart und Prof. Dr. STRÜMPELL
dürften uns hier die nötigen Fingerzeige geben. Nach Hersarr
äulsert sich bekanntlich das rein animale Leben des Menschen in
dreierlei Form. Er unterscheidet zunächst alle die Vorgänge, die zur
Ernährung des Körpers beitragen, also Verdauung, Blutkreislauf, Stoff-
wechsel und bezeichnet sie als Vegetation. Die zweite Form des
animalen Lebens bilden alle Bewegungen, die willkürlich oder unwill-
kürlich durch unsere Muskeln ausgeführt und in dem Begriff Irri-
tabilität zusammengefaßt werden. Unter der dritten Form versteht
205 A. Abhandlungen.
Hersart die gesamte Nerventätigkeit, die von zwei Zentren, dem Ge-
him und dem Rückenmark ausgeht, oder zu diesen hinleitet, und
nennt sie Sensibilität. Je nachdem nun auf dem einen oder andern
dieser drei Gebiete des animalen Lebens eine Störung eintritt, wird
auch das geistige Leben des Kindes beeinflußt, entwickelt sich die
Kindernatur.
In unserm Falle lag offenbar eine Störung in der Vegetation
vor. Die skrofulösen Geschwüre, die bis jetzt noch nicht ver-
schwunden sind, der fortwährende Ohrenfluß und die von heftigen
Entzündungen der Kopfschwarte herrührenden Narben reden deutlich
davon. Ungenügende Nahrung und mangelnde Pflege halfen dazu,
das Blut in seiner schlechten Zusammensetzung erhalten, und infolge-
dessen litt die Ernährung des Gesamtorganismus.
Aber nicht nur in der Vegetation, auch in der Sensibilität war
em vollständig anormaler Zustand vorhanden. Offenbar war die spezi-
fische Energie des Nervensystems nicht von Geburt aus so gering,
wie sie sich später zeigte. Aber die Störung in der Vegetation und
das damit verbundene ständig herrschende Gefühl des Unbehagens
und vor allen Dingen die jahrelange Abgeschlossenheit des Kindes
von der uns umgebenden Erfahrungswelt führten nach und nach ein
fast gänzliches Erschlaffen der gesamten Nerventätigkeit herbei. Die
Nerven hatten verlernt, auf cindringende Reize zu reagieren, und nur
ungeheuer schwer löste der physische Reiz in der Zentrale ein psy-
chisches Empfinden aus. Von einer höhern geistigen Tätigkeit, von
den im Brennpunkte des Bewufstseins sich abspielenden Prozessen
des Denkens, des Fühlens, des ästhetischen und ethischen Urteilens
und des Wollens, oder, um mit STRÜNPELL zu reden, von dem » Wirken
der freien Kausalitätens konnte unter solchen Umständen selbstver-
ständlich nichts zu bemerken sein.
Hergart bezeichnet den Typus ciner solchen Kindernatur als
den des böotischen Cholerikus des tückischen Dummkopfs, der auf
schr niedriger Stufe steht und der infolge des Überwiegens der Irri-
tabilität eine große Lust am Zerstören hat, jeder Beeinflussung einen
starren Widerstand entgegensetzt und schon frühe eine boshafte,
häßsliche Gesinnung zeigt. Alles Erscheinungen, die bei unserm Falle
zutrafen.
Woher kam nun die Entwicklung zu einer verhältnismäßig nor-
malen Kindesnatur? Offenbar setzte eine Besserung in der Ernährung
schon mit der Verbringung B.s in das Waisenhaus in Sp. ein. Nur
fehlte hier die intensive geistige Anregung. Deshalb waren neben
den im Waisenhaus verbrachten 2 Jahren noch weitere 3 Jahre in
IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands. 209
unserer Anstalt nötig, bis durch eine kräftige Nahrung, eine peinliche
Reinlichkeit und eine energische ärztliche Behandlung die Krankheits-
prozesse zum Stillstand gebracht und vor allem das Blut derartig ver-
bessert wurde, daß Verdauung, Blutkreislauf und Stoffwechsel in einer
der gesunden Entwicklung des Organismus entsprechenden Weise vor
sich gehen konnten und das Allgemeinbefinden ganz bedeutend ge-
hoben wurde. Dadurch fiel auch der deprimierende Eindruck fort,
den eine starke Störung in der Vegetation und das daraus resul-
tierende vorherrschende Unlustgefühl auf das Nervenleben ausüben.
Dazu kam die intensive Einwirkung der in unaufhörlichen Wellen-
schlägen heranflutenden Reize, so daß die Nerven in ihrer Indifferenz
auf die Dauer nicht mehr verharren konnten. So trat nach und nach
die gesamte Sinnestätigkeit wieder in Aktion, der psychische Mecha-
nismus funktionierte rasch und sicher und auch die Tätigkeit der
freien Kausalitäten« konnte beginnen. Vielleicht kommen auch jetzt
noch Zeiten, in denen ein Stillstehen oder gar eine rückläufige Be-
wegung in dem geistigen Werden B.s zu bemerken sind, aber ein Zu-
rücksinken in den alten Zustand der Lethargie glaube ich nicht mehr
befürchten zu müssen.
Damit wäre ich zu Ende. Sollte auch der eine oder der andere
Leser der »Kinderfehler« in diesem oder jenem Punkte nicht gleicher
Meinung mit mir sein, so werden mir doch alle darin zustimmen,
dafs man in der Beurteilung von Kindern, bei denen deutlich eine
Störung im physiologischen Mechanismus zu erkennen ist und bei
denen infolgedessen auch der psychische Mechanismus gehemmt und
das Hervortreten der »freien Kausalitäten« gehindert wird, nicht vor-
sichtig genug sein kann und an einem endlichen Gelingen eigentlich
nie verzweifeln darf.
DV WW Ep Se u ZN ZU NINANA
B. Mitteilungen.
1. IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands.
(Schlufs.)
Alsdann sprach Rektor Grote-Hannover über die Frage: »Können
die Kinder zwangsweise der Hilfsschule zugeführt werden?«
und führte etwa folgendes aus: Als seinerzeit die ersten Hilfsschulen ein-
gerichtet wurden, man nach einer zweckmälsigen Organisation erst noch
suchte, des Erfolges noch nicht sicher war, da machte man in der Er-
kenntnis von der Schwere des Schrittes und infolge des Umstandes, dals
Die Kinderfehler. VIIT. Jahrgang. 14
210 B. Mitteilungen.
doch noch nicht alle schwach befähigten Kinder aufgenommen werden
konnten, die Überweisung von Kindern in die Hilfsschule von der Ein-
willigung der Eltern abhängig. Jetzt aber bestehen in vielen Orten völlig
für den Bedarf ausreichende Hilfsschulen, die Frage ihrer Organisation ist
im wesentlichen geklärt, sie haben den Nachweis ihrer Daseinsberechtigung
völlig erbracht, grolse Opfer werden von den Kommunen für sie auf-
gewandt. Da liegt die Forderung nahe, dafs nun auch wirklich alle in
Frage kommenden Kinder der Hilfsschule zugeführt werden, erforderlichen-
falls auch zwangsweise. Staat und Gemeinde haben ein hervorragendes
Interesse daran, dals diese Rinder zu brauchbaren Gliedern der Gesellschaft
erzogen werden, und nicht minder liegt die Überführung im Interesse der
Kinder selbst und der Eltern. Schon um jener willen darf man sich nicht
scheuen, (diesen nötigenfalls die ihnen durch die Hilfsschule erwiesene
Wohltat aufzudrängen. Macht es doch der Staat an anderen Stellen, z. B.
bei Fürsorge- oder Zwangserzichung ebenso. Die Überführung liegt endlich
auch im Interesse der Volksschule, welche dadurch wesentlich entlastet
wird. Gegenüber dem Einwande, dafs den betreffenden Kindern dadurch
der Stempel der Minderwertigkeit aufgedrückt werde ist zu bemerken, dafs
das Kind die Zeichen derselben schon in die Schule mitbringt. Schulzeugnisse,
Klassenplatz, Nichtversetztwerden bestätigen die geistige Schwäche, das ganze
Verhalten, Reden und Tun des Kindes offenbaren sie. Eine Konfirmation
aus den untersten Volksschulklassen entlastet sicher nicht mehr als eine
solche aus der 1. Hilfsschulklasse. Die Ililfsschule will nicht den Stempel
der Minderwertigkeit aufdrücken, sie erstrebt im Gegenteil und erfahrungs-
gemäls in schr vielen Fällen mit Erfolg die Zeichen derselben zu beseitigen.
Der in der Hilfsschule über das Kind geführte Personalbogen kann oft für das-
selbe im späteren Leben von Nutzen sein. Dals durch zwangsweise Überführung
einer ersprielslichen Schularbeit Abbruch getan werden könnte, ist nicht
zu befürchten; die Erfahrung hat sogar gelehrt, dals zuerst widerstrebende
Eltern später oft warme Freunde der Hilfsschule werden. Der Einwurf, dals.
gesetzliche Bestimmungen oder behördliche Verordnungen nicht nötig seien,
wenn nur der rechte Geist die Schularbeit durchziehe, ist durch die Er-
fahrung genugsam widerlegt. In den bei weitem meisten Antworten auf
die oben erwähnte Rundfrage ist die Notwendigkeit von Bestimmungen
anerkannt worden, welche eine Überführung in die Hilfsschule auch gegen
den Willen der Eltern ermöglichen. Da, wo man sie verneint, fragt man
meist die Eltern gar nicht und ist auch keinem Widerspruche von ihrer
Seite begegnet. Überall aber, wo die Entscheidung den Eltern überlassen
wird, sind auch Fälle von hartnäckiger Weigerung vorgekommen, und nur
für diese kommt die zwangsweise Überführung in Frage. Es ist nun die
Frage zu erörtern, ob neben der Notwendigkeit auch die Möglichkeit einer
zwangsweisen Überführung gegeben ist. Im Königreich Sachsen und in
Sachsen-Weimar ist das bestimmt der Fall infolge von Bestimmungen der
betreffenden Volksschulgesetze (§ 4 Absatz 5 bezw. § 8). Aber auch in
Staaten, die keine derartigen Bestimmungen besitzen, speziell in Preulsen ist
cine zwangsweise Überführung nach Ansicht des Referenten möglich. Die
Hilfsschule ist aus der Volksschule hervorgewachsen, wird durch dieselben
IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands. 211
nd
Organe wie diese beaufsichtigt und verwaltet, untersteht denselben Be-
stimmungen, sie dient wie diese der Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht,
ihre Lehrer sind Volksschullehrer. Wie nun die Schulbehörde ein Kind
einer bestimmten Schule und Klasse auch gegen den Willen der Eltern
zuweisen kann, wie allein sie über Verzetzung in andere Klassen entscheidet,
so kann sie auch die für das Leben in der Volksschule überhaupt nicht
geeigneten Kinder der Hilfsschule überweisen. Diesen Standpunkt teilt
man vielerorten, überweist die Kinder ohne weiteres und hält weitere Be-
stimmungen für unnötig. Selbst preulsische Regierungen scheinen auf
diesem Standpunkte zu stehen, indem sie Statuten genehmigten, welche eine
zwangsweise Überführung vorsehen, oder indem sie Beschwerden der Eltern
zurückwiesen. Letzteres ist auch vom preufsischen Unterrichtsministerium
in 2 Fällen geschehen. Damit aber nicht in jedem Einzelfalle und an
jedem einzelnen Orte eine behördliche Entscheidung nötig wird, ist es
dringend wünschenswert, dafs durch allgemein gültige Verfügung der
Ministerien die Frage geregelt wird, was ja nicht mehr bedenklich er-
scheinen kann, nachdem die Hilfsschule den Nachweis erbracht hat, dafs
sie ihren Zöglingen eine fruchtbringende Erziehung zu geben vermag.
Natürlich mülste die Überführung von einer durchaus sorgsamen ärztlichen
und pädagogischen Feststellung der Schwachbefähigung des Lketreffenden
Kindes abhängig gemacht werden. Das geschieht übrigens bereits überall,
wo zwangsweise Überführung erfolgt. Überall ist man sich bewulst, dals
die Überführung ein Akt grolser Verantwortung ist, dafs die Kinder bis
zur äufsersten noch möglichen Grenze in der Volksschule verbleiben müssen.
Billige Rücksicht auf die Eltern wird auch fernerhin stets erfordern, mög-
lichst gütliche Vereinbarung mit ihnen zu erzielen. Der Erlals von be-
züglichen Bestimmungen kann erreicht werden durch Petition der in den
einzelnen Staaten bestehenden Hilfsschulen bei den betreffenden Ministerien
oder dadurch, dals der Verbandsvorstand vorstellig wird. Redner hält
letzteres für den einfacheren Weg und bittet daher die Versammlung, den
Vorstand mit einem dahingehenden Auftrage zu versehen. — In der
Debatte wurde allgemein die Notwendigkeit von gesetzlichen Bestimmungen
bezw. behördlichen Verordnungen, welche eine zwangsweise Überführung
in die Hilfsschule ermöglichen, anerkannt, nur beschlols man, in die vom
Referenten vorgelegten Thesen einen Passus aufzunehmen, nach dem die
zwangsweise Überführung nicht einzutreten habe, wenn die Eltern den
Nachweis bringen, dafs für ihr Kind anderweitig wunterrichtlich genügend
gesorgt ist. Auch wurde darauf hingewiesen,. dals das Fürsorgegesetz eine
gewisse Handhabe biete. Der Vorstand wurde schlielslich mit einen dem
Antrage des Vortragenden entsprechenden Auftrage versehen. Es erfolgte
alsdann die Rechnungsablage und Vorstandswahl. Der ausscheidende 2. Vor-
sitzende Hauptlehrer Kielhorn-Braunschweig, der 1. Schriftführer
Rektor Grote-Hannover und der 2. Rechnungsführer Schulvorsteher
Wintermann-Bremen wurden wieder gewählt, Rektor Basedow-
Hannover wurde als 3. Schriftführer neu gewählt. Die Satzungsänderung
wurde dem Vorschlage des Vorstandes gemäls angenommen. Endlich
wurde der Vorstand beauftragt, an malsgebender Stelle auf die Einrichtung
14*
212 B. Mitteilungen.
von Ausbildungs- und Fortbildungskursen für Hilfsschullehrer hinzuwirken,
wie solche schon 1889 vom 2. Vorsitzenden angeregt wurden, und be-
züglich deren schon vor 2 Jahren der Vorstand anf Verlangen ein aus-
führliches Gutachten an Herrn Geheimrat Brandi im preufsischen Kultus-
ministerium eingereicht hat.
Am 15. April begann vormittags 9 Uhr im Konzertsaal der »Lieder-
tafel« die von 293 Personen besuchte Hauptversammlung. Der 1. Vor-
sitzende entbot derselben herzlichen Willkommgrufs, hob hervor, dafs der
so zahlreiche Besuch wohl als Beweis für das Interesse gelten dürfte,
welches den Hilfsschulen und dem Verbande entgegengebracht würde, und
gab durch einige Zahlen ein Bild von der Entwicklung des Hilfsschul-
wesens. 1893 bestanden in 32 deutschen Städten 118 Klassen mit
2290 Kindern, 1898 in 52 Städten 202 Klassen mit 4281 Kindern, 1901
in 87 Städten 390 Klassen mit 7871 Kindern und nach einer vom Vor-
stande ergangenen Anfrage jetzt in 147 Städten 174 Schulen mit circa
16000 Kindern, so dafs sich seit der Gründung des Verbandes die Zahl
der Hilfsschulzöglinge annähernd vervierfacht hat. Im besondern begrülste
der Vorsitzende die anwcsenden Vertreter der hessischen Regierung sowie
der Stadt Mainz und dankte der Mainzer Stadtverwaltung für die dem
Verbandstage gewährte materielle Unterstützung sowie dem Ortsausschusse
für die von ihm geleistete umfangreiche treue Arbeit. Die Versammlung
wurde hierauf begrüfst im Namen und Auftrage der hessischen Regierung
durch Oberschulrat Dr. Scheuermann-Darmstadt, im Namen der
Stadt Mainz durch den 1. Beigeordneten Dr. Schmidt, im Namen
des Ortsausschusses durch Kreisschulinspektor Dr. Zank. Hilfs-
schulleiter Drews überbrachte den Grufs der Stadt Hamburg und teilte
zugleich mit, dafs dort jetzt S Hilfsschulen mit 50 Lehrkräften bestehen
und dafs letztere einen kleineren Verein gebildet haben, welcher dem
Hilfsschulverbande beitreten wird. Der Vorsitzende dankte den Rednern
für die dargebrachten Wünsche und die der Hilfsschularbeit und dem Ver-
bande bekundete Anerkennung und teilte sodann eine Anzahl von schrift-
lichen Begrülsungen des Verbandstages mit, unter anderen ein Schreiben
desHerrn Geheimrats Brandi im Preulsischen Kultusministerium, welcher
bedauert, durch Krankheit an der Teilnahme am Verbandstage gehindert
zu sein. Die Versammlung beschlofs sodann, Begrülsungstelegramme zu
entsenden an Se. Excellenz den preulsischen Kultusminister und an die
Herren Geheimrat Brandi und Ministerialdirektor Geheimrat Dr. Eisen-
huth-Darmstadt. Nachdem ferner noch der Vorsitzende gebeten hatte, jede
Neugründung von Hilfsschulen dem Vorstande mitzuteilen und nachdem
die Beschlüsse der Vorversammlung und die vom Vorstande für die Haupt-
versammlung aufgestellte Tagesordnung von der Versammlung genehmigt
worden waren, sprach Hilfsschulleiter Delitsch-Plauen über das Thema:
»Das schwachbegabte Kind im Haus und in der Schule.« Der
Gedankengang des Vortrags war, in Kürze wiedergegeben, folgender:
Die relativ geringen geistigen Defekte bei schwachbegabten Kindern ver-
raten sich meist später als bei völlig schwachsinnigen, werden vielfach
erst in der Schulzeit erkannt. Bleibt daher jenen zuerst manche Zurück-
IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands. 213
setzung erspart, so fehlt es ihnen andrerseits auch an rechtzeitiger, ihrem
Zustande entsprechender Pflege und Erziehung. Gerade die früheste Kind-
heit ist aber von höchster Bedeutung für die Geistesentwicklung, indem
während derselben eine so rapide Entwicklung des Gehirns stattfindet, dals
dieses bereits mit dem vollendeten 3. Lebensjahre sein höchstes Gewicht er-
reicht und von da an nur noch der feinere Ausbau desselben stattfindet.
Nach klinischen und anatomischen Erfahrungen ist das eigentliche Geistes-
organ die Grofshirnrinde. Entwicklungstörungen desselben verursachen je
nach Art, Grad und Gehirngebiet die sehr verschiedenen Grade und Formen
des Schwachsinns. Diese vollziehen sich meist in der Zeit vom Beginn
embryonaler Entwicklung bis zum 3. Jahre. Bei schwacher Begabung
handelt es sich weniger um makroskopische Hirndefekte; sie erklärt sich
vielmehr aus der geringen Stärke der Rindenschicht und der geringeren
Zahl und Grölse der Ganglienzellen in derselben (Redner demonstriert Zeich-
nungen von Hirnrindenschnitten nach Hammerberg). In den ersten Jahren
herrscht infolge des überaus raschen Stoffwechsels im Gehirn innigste Be-
ziehung zwischen Gehirnentwicklung und Körperernährung. Jede die
letztere schädigende Krankheit kann daher, ohne das Gehirn direkt zu
berühren, für die geistige Entwicklung schlimme Folgen haben. Jede
leibliche Vernachlässigung der Kinder im ersten Lebensjahre sollte mit der
grölsten Sorgfalt verhütet werden. In der 2. Periode vom 4.— 6. Lebens-
jahre äufsert sich die schwache Begabung deutlicher in auffallender Ver-
spätung und Unvollkommenheit motorischer Äufserungen des allmählich
erwachenden Bewulstseins.. Die Verzögerung der Befähigung, die Sinnes-
organe einzustellen, die Sprachorgane zu gebrauchen, den Nachahmungs-
trieb zu betätigen, muls notwendig die Geistesentwicklung hemmen, selten
findet eine krankhafte Steigerung geistiger Funktionen statt. Von ihrer
Umgebung, selbst von den Geschwistern werden diese Kinder wegen ihrer
mangelhaften Sprache, ihres blöden Gebahrens, ihrer oft entstellten äufseren
Erscheinung zurückgestolsen und gekränkt, und im Gegensatz zu idiotischen
Kindern fühlen sie die Zurücksetzung sehr wohl. Selbst bei den Eltern
finden sie oft weniger Liebe, Klagen und Tränen der besorgten Mutter
verschüchtern und bedrücken sie. Aufgabe der letzteren wäre es, statt
dessen den schwachen Nachahmungstrieb ihres Kindes zu beleben, die
schlummernde Aufmerksamkeit zu wecken und zu leiten, verunglückte
Sprachbemühungen zu fördern; das mangelhafte Gedächtnis durch sinn-
volle Übungen zu stärken, ohne es zu überbürden. — Mit welchen Ge-
fühlen bringt die Mutter wohl solch ein minderbegabtes Kind zur Schule!
Sie weils, dals von nun an seine Schwäche der Öffentlichkeit preisgegeben
ist. Bald wird es vom Spotte seiner Mitschüler verfolgt. Gar oft wird
der noch unerfahrene Lehrer der Unterklasse die Schwäche als eine solche
nicht gelten lassen und nicht zu behandeln wissen. Die Erfolge seiner
Schüler sind seine Lust und sein Lohn, seine Ehre und sein Vorteil,
Mifserfolge seine Sorge im Ilinblick auf Inspektionen und auf seine Zu-
kunft. Leicht setzt er Milserfolge auf das Konto von unverzeihlichem
Leichtsinn oder Faulheit seiner Schüler und eröffnet nun einen energischen
Kampf gegen diese angenommenen Charakterfehler. Im grellen Gegen-
214 B. Mitteilungen.
satze zu dem Anspruch auf Schonung körperlich und geistig schwacher
Kinder stehen die Zwangsmalsregeln des Lehrers: Strafarbeiten, Nach-
sitzen, Nachhilfeunterricht. Ehrgeizige Eltern unterstützen vielfach noch
das Bestreben, anormale Kinder zu normalen Leistungen zu zwingen. Er-
lahmt endlich die Energie der Erzieher an der Erfolglosigkeit ihrer Be-
mühungen, so überläfst man das zurückbleibende Kind sich selbst, obgleich
es doch der geistigen Anregung ganz besonders bedürfte, und unbenutzt
verstreichen so die für die geistige Entfaltung bedeutsamsten Jahre. So
war es, so ist es vielfach noch, so darf es nicht bleiben. Es liegt im
Interesse des Staates, es ist seine Pflicht, hier zu helfen. Zwingt er
Schwachbegabte zur Schule, so bewahre er sie auch nach Möglichkeit
vor Überbürdung und geistiger Verwahrlosung und gewähre allen den
Kindern individuellen Unterricht, die schon in der Volksschule. im Kampfe
ums Dasein unterliegen. Es ist wahrhaft human, christlich und verständig,
dafs sich alle Erziehungsfaktoren vereinen, dem Schwachen schon dann
beizustehen, wenn ihm noch zu helfen ist. Ihm hilft kein Nachhilfe-
unterricht, der seine Last vermehrt, keine Nachhilfeklasse, welche die ver-
schiedensten Bildungsgrade und Bildungsstufen vereint, sondern nur eine
Spezialvolksschule für Schwachbegabte. Diese, die Hilfsschule, mufs fol-
genden Forderungen genügen: Sie darf nur wirklich Schwachbegabte,
andrerseits aber auch keine Schwachsinnigen aufnehmen. Bei der Aus-
wahl stütze sich der Hilfsschulleiter auf das Urteil der bisherigen Lehrer,
suche die Eltern zu gewinnen, mache sich Rat und Hilfe des Arztes
nutzbar, damit Kinder mit schweren Sinnesdefekten und Kranke, die ihre
Mitschüler gefährden könnten, von der Hilfsschule ausgeschlossen bleiben
und ärztliche Hilfe und pädagogische Schonung leidender Schüler herbei-
geführt werde. Die Hilfsschule muls hinreichend gegliedert, zweckmälsig
mit Lehrkräften, Lehrmitteln und Lehrstunden bedacht sein. Der Hilfs-
schullehrer mufs sich schon vor seinem Antritt damit abgefunden haben,
dals er sehr vieles entbehren muls, was den Verkehr mit normalen Kindern
anziehend macht, dals ihm die mannigfachsten Abnormitäten und Defekte
in der gesamten Erscheinung seiner Zöglinge, speziell in der Kopf- und
Gesichtsbildung, sowie im Triebleben, Gang, Haltung, Sprache, Benehmen,
im gesamten Verhalten und der ganzen Denkweise entgegentreten. Und
doch gehört keine besondere Aufopferungsfähigkeit dazu, sich der Hilfs-
schularbeit zu widmen. Alle kleinen Bedenken müssen verschwinden
gegenüber dem tiefgehenden Interesse der besonderen Aufgabe eines päda-
gogischen Psychiaters, und vor dem Bewulstsein, mit ihrer Lösung hilfs-
bedürftigen Kindern, dem Volkswohle und der Wissenschaft zu dienen.
Der Hilfsschullehrer gewinne erst seine Schüler, erwecke erst ihr Selbst-
vertrauen. — Er unterrichte individuell, sei Erzieher, verbünde sich dem-
gemäls, soweit es dienlich ist, mit den Eltern seiner Zöglinge, treffe
andrerseits Mafsregeln zur Verhütung falscher Behandlung oder im Eltern-
hause drohender Verwahrlosung. -— Er leite seine Schüler von der Schule
ins Leben, wenn nötig, bis zu geeigneter Berufsstätte, bleibe auch den
aus der Hilfsschule Entlassenen auf Wunsch treuer Berater und Helfer.
— Er wehre unverständiger Beurteilung und Behandlung Schwachbegabter,
IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands. 215
erwecke das allgemeine Mitgefühl für ihr unverschuldetes Elend und
werbe diesen Stiefkindern der Natur hilfbereite Freunde. Zur Erfüllung
solcher Pflichten bedarf er hinreichende Gelegenheit zur Selbstbildung,
Freiheit der Bewegung im Amte und behördliche Unterstützung seiner
Erziehungsmalsregeln, wie seiner sonstigen humanen Bestrebungen. In-
sonderheit scheint es geboten, ihm die Möglichkeit zu geben, sich für den
Handfertigkeitsunterricht vorzubereiten und weitergehende Studien in der
Anatomie, Psychologie und Hygiene, in der Pathologie und Therapie des
Kindesalters und in der genetischen Psychologie des normalen und anor-
malen Kindes zu machen. Ausbildungskurse nach Muster der Schweizer
sind in hohem Grade wünschenswert. Der Hilfsschule mu[s volle Selb-
ständigkeit unter eigener fachkundiger Leitung eingeräumt werden. Unter
all diesen Voraussetzungen werden sicher die Hilfsschulen den Schwach-
begabten zu reichstem Segen gereichen. — Von einer Debatte wurde auf
Antrag aus der Versammlung heraus abgesehen.
Es erhielt daher sofort Oberamtsrichter Nolte-Braunschweig das
Wort zu seinem Vortrage über das Thema: Die Berücksichtigung der
Schwachsinnigen im bürgerlichen und öffentlichen Recht des
deutschen Reiches, aus dem im nachstehenden die wesentlichsfen
Punkte angeführt werden sollen. Der Vortrag soll einen Beitrag zu der
Frage liefern, ob die Geistesschwachen auf dem Gebiete des bürgerlichen
und öffentlichen Rechtes gebührende Berücksichtigung gefunden haben
und ob bezw. in welcher Beziehung noch Weiteres zu erstreben ist. Red-
ner betont, dals wie auf so vielen Gebieten des Rechtes so auch auf diesem
seit der Einigung Deutschlands sehr viel geschehen, sehr viel aber auch
noch zu tun sei. Bei der Umfänglichkeit des in Frage stehenden Mate-
riales sah er sich gezwungen, seme Ausführungen auf das bürgerliche
Recht und die diesem verwandten Gebiete zu beschränken. Das neue
bürgerliche Gesetzbuch unterscheidet die Rechtsfähigkeit, die jeder besitzt,
von der Geschäftsfähigkeit d. h. der Fähigkeit, mit rechtlicher Wirkung
selbst zu handeln oder die Handlungen anderer entgegen zu nelımen.
Geschäftsfähig ist ($ 104) 1. wer nicht das 7. Lebensjahr vollendet
hat, 2. wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschliefsenden
Zustande krankhafter Geistesstörung befindet, soweit nicht der Zustand
seiner Natur nach ein vorübergehender ist und 3. wer wegen Geistes-
krankheit entmündigt ist. Die Fassung von Passus 2 und 3 hat seiner
Zeit viele Schwierigkeiten bereitet. Es sollen alle abnormen Greisteszustände
darin eingeschlossen sein. Ob Ausschlufs der freien Willensbestimmung
vorliegt, hat eine sorgfältige Prüfung jedes Einzelfalles zu entscheiden.
Willenserklärungen Geschäftsunfähiger sind nichtig ($ 105). Willens-
erklärungen anderer Personen ihnen gegenüber z. B. Kündigungen sind
nur gültig, wenn sie dem gesetzlichen Vertreter zugehen. Letztere Be-
stimmung gilt nicht für Personen, die sicb im Zustande der Bewulstlosig-
keit oder vorübergehender Störung der Geistestätigkeit befinden, wohl aber
gelten auch ihre in diesem Zustande abgegebenen Willenserklärungen als
nichtig. Volljährige wegen Geisteskrankheit Entmündigte erhalten einen
Vormund, vorübergehend von Bewulstlosigkeit oder geistiger Störung Be-
216 B. Mitteilungen.
troffene nötigenfalls einen Pfleger. Zwischen den Geschäftsfähigen und
-unfähigen stehen die in der Geschäftsfähigkeit Beschränkten. Zu diesen
gehören ($ 114) die wegen Geistesschwäche entmündigten und die nach
S 1906 unter vorläufige Vormundschaft gestellten Personen. Entmündigt
werden kann nach § 6, wer infolge Geisteskrankheit oder Geistesschwäche
seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag. Wodurch unterscheiden
sich aber im Sinne des Gesetzes Geisteskrankheit und Geistesschwäche? Diese
Frage ist von grofser praktischer Bedeutung, weil jene Geschäftsunfähig-
keit, diese nur Beschränkung in der Geschäftsfähigkeit zur Folge hat.
Die Ursache dieser Zustände kann nicht Unterscheidungsgrund sein, denn
beide können sowohl angeboren wie durch spätere Krankheit erworben
sein. Zur Unterscheidung dürfen vielmehr nur der Grad der geistigen
Anomalie und die damit verknüpften Folgen dienen und zwar muls der
Grad der geistigen Abnormität bei »Geisteskrankheit« ein so hoher sein,
dals er zur Verhängung der Geschäftsunfähigkeit berechtigt, während die
Annahme von »Geistesschwäche« voraussetzt, dafs die betreffende Per-
son, obwohl sie des gesetzlichen Schutzes bedürftig ist, doch noch in
gewissem Malse Erwerbsgeschäfte betreiben und eine Dienststellung ver-
sehen kann. Wichtig ist der Umstand, dafs Entmündigung nur dann ein-
tritt, wenn der geistig Gestörte seine Angelegenheiten nicht selbst zu be-
sorgen vermag. Es scheiden daher viele Fälle aus, wo die Angelegenheiten
des Betreffenden sehr einfacher Art sind und Freunde und Verwandte
ihm helfend zur Seite stehen. Es ist die Absicht des Gesetzes, dafs
Entmündigung in den angegebenen Fällen nicht blols ausgesprochen
werden darf, sondern im Interesse des Geistesgestörten ausgesprochen
werden soll. Die Entmündigung erfolgt auf Antrag des Gatten, der
Verwandten oder des gesetzlichen Vertreters des zu Entmündigenden
durch Beschluls des zuständigen Amtsgerichts, jedoch ist ein vorher-
gchendes genaues Ermittelungsverfahren, insonderheit eine Untersuchung
durch Sachverständige vorgeschrieben. Fällt der Entmündigungsgrund
weg, so ist auch die Entmündigung aufzuheben. Sowohl die Ent-
mündigung als auch deren Aufhebung ist der Vormundschaftsbehörde mit-
zuteilen. Eine vorläufige Vormundschaft wird vom Vormundschaftsgericht
angeordnet für die Zeit zwischen Stellung des Antrags auf Entmündigurg
und dem Entmündigungsheschlusse, wenn andernfalls eine wesentliche Ge-
fährdung der Person oder des Vermögens des zu Entmündigenden zu be-
fürchten ist. Auch die in der Geschältsfähigkeit beschränkte Person er-
hält einen gesetzlichen Vertreter, jedoch gilt ein von ihr ohne Zustimmung
des letzteren geschlossener Vertrag als wirksam, wenn für die durch den
Vertrag auferlegte Leistung die Mittel von dem Vertreter und zwar zu
diesem Zwecke zur Verfügung gestellt sind. Ermächtigt dieser den in
seiner Geschäftsfähigkeit Beschränkten zum selbständigen Betriebe eines
Erwerbsgeschäftes (wozu aber Einwilligung des Vormundschaftsgerichts
erforderlich ist) oder zum Eintritt in ein Dienst- oder Arbeitsverhältnis,
so gilt letzterer für alle hieraus erwachsenden Rechtsgeschäfte als un-
beschränkt geschäftsfähig, abgeschen von Geschäften, für die auch der ge-
gesetzliche Vertreter der Einwilligung des Vormundschaftsgerichtes bedarf.
IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands. 21
~J]
Willenserklärungen, die in ihrer Geschäftsfähigkeit beschränkten Personen
gegenüber abgegeben sind, werden erst dann wirksam, wenn sie dem ge-
setzlichen Vertreter zugehen. Geschäftsunfähige und in der Geschäfts-
fähigkeit Beschränkte können ihren Wohnsitz nur mit Genehmigung ihres
Vertreters ändern. Eine Ehe eingehen können nur letztere und auch nur
mit Einwilligung ihres Vertreters. Eine von einem Geschäftsunfähigen
eingegangene Ehe ist nichtig, ebenso eine Ehe, bei deren Schlielsung sich
einer der Gatten im Zustande der Bewulstlosigkeit oder vorübergehender
Geistesstörung befand, wofern er nicht die Ehe vor Nichtigkeitserklärung
derselben nach wieder erlangter Geschäftsfähigkeit bestätigt. Die Nichtigkeit
einer Ehe kann nur infolge einer Nichtigkeitsklage durch Urteil aus-
gesprochen werden. Ein in seiner Geschäftsfähigkeit beschränkter Ehe-
gatte, der zur Zeit der Eheschlielsung im Zustande der Geschäftsunfähig-
keit war, kann seine Ehe anfechten, aber nur durch seinen Vertreter,
wenn dieselbe ohne Einwilligung des gesetzlichen Vertreters geschlossen
ist. Der andere Ehegatte hat kein Anfechtungsrecht. Eine Eheschei-
dung wegen Geistesschwäche wird man als ausgeschlossen ansehen
müssen, denn wenn auch Geisteskrankheit zwar als Scheidungsgrund gel-
ten kann, so ist das doch nur bei einem so hohen Grade der Fall, dals
dadurch jede geistige Gemeinschaft zwischen den Ehegatten aufgehoben
wird. Wegen Geistesschwäche Entmündigte und selbstverständlich auch die
Geschäftsunfähigen können nicht selbständig ein Testament erreichen
(S 2229). Bei nicht entmündigten Geistesschwachen mufs in jedem
Einzelfalle festgestellt werden, ob wirklich freie Willensbestimmung an-
genommen werden kann. Wie schon erwähnt wurde, stellt das Gesetz
den Geschäftsunfähigen und den in der Geschäftsfähigkeit Beschränkten
einen Vertreter zur Seite — entweder die Eltern oder einen Vormund,
welcher für die Person und das Vermögen des Kindes bezw. Mündels und
dessen Vertretung im Rechtsleben zu sorgen hat. Die Sorge für die Per-
son umfalst alle persönlichen Verhältnisse nach der tatsächlichen Seite
(Erziehung, Aufsicht, Fürsorge bei Krankheit etc.) und nach der recht-
lichen (Wahl der Konfession, Antrag auf Volljährigkeit, Ermächtigung zu
selbständigem Geschäftsbetriebe etc.) Die Sorge für das Vermögen er-
streckt sich auf die Erhaltung, Verwertung und Vermehrung desselben in
tatsächlicher und rechtlicher Beziehung. Die Tätigkeit der gesetzlichen
Vertreter wird auf Grund zahlreicher Bestimmungen des Gesetzes genau
durch das Vormundschaftsgericht überwacht, in vielen Fällen bedürfen
ihre Malsnahmen der Zustimmung des letzteren. Das Vormundschalts-
gericht wird hierbei unterstützt durch die Gemeindewaisenräte, welche die
unmittelbare Aufsicht über die in Rede stehenden Personen führen.
Als weiteren Fall der Fürsorge sieht das Gesetz in § 1910 die Ein-
setzung eines Pflegers vor, wenn ein Volljähriger, der nicht unter Vor-
mundschaft steht, wegen geistiger oder körperlicher Gebrechen einzelne
seiner Angelegenheiten, insbesondere seine Vermögensangelegenheiten nicht
zu besorgen vermag, jedoch ist die Pflegschaft nur mit Einwilligung des
Gebrechlichen anzuordnen und auf seinen Antrag aufzuheben. Der Wir-
kungskreis des Pflegers ist daher vom Umfange des Bedürfnisses und dem
218 B. Mitteilungen.
Willen des Gebrechlichen abhängig. Die Einsetzung der Pflegschaft hat
auf die Geschäftsfähigkeit des Gebrechlichen keinen Einflufs, selbst be-
züglich der in den Wirkungskreis des Pflegers fallenden Handlungen.
Redner schlofs mit dem Wunsche, dafs die Kenntnis der zahlreichen zum
Schutze der Geistesschwachen bestehenden gesetzlichen Bestimmungen bald
weitere Verbreitungen finden möchte, damit wirklich die durch sie be-
zweckten Mafsnahmen in möglichst allen einschlägigen Fällen zur Durch-
führung kämen.
Eine Debatte über den Vortrag wurde von der Versammlung nicht
gewünscht. Der Vorsitzende wies darauf hin, dafs das vom Referenten
gebotene Material gewils oft willkommene Handhaben zur Unterstützung
der Hilfsschulzöglinge im späteren Leben biete und sprach die Hoffnung
aus, dafs der Vortragende auf einem der nächsten Verbandstage auch die
übrigen Rechtsgebiete ähnlich behandeln werde.
Eine recht lebhafte Debatte entstand bei der von Hauptlehrer Kiel-
horn-Braunschweig eingeleiteten Beratung von 2 Abschnitten der dem
2. Verbandstage vorgelegten Leitsätze über die Organisation der Hilfs-
schule (allgemeine Gesichtspunkte für den Unterricht und den Stundenplan
betreffend). Jedoch fand schliefslich die vom Vorstande revidierte, in
Beft 1 der »Kinderfehler« bei Mitteilung der Tagesordnung für den 4. Ver-
bandstag bekannt gegebene Fassung Annahme Aus der Versammlung
heraus wurde der Antrag gestellt, den Thesen die folgende hinzuzufügen:
Öffentliche Prüfungen finden in der Hilfsschule nicht statt, doch ist es
empfehlenswert, den Eltern alljährlich einmal zu gestatten, dem Unterrichte
beizuwohnen. Die Versammlung entschied sich jedoch für Ablehnung.
Auf Wunsch des grölseren Teils der Versammlung hielt dann noch
Hauptlehrer Mayer-Mannheim einen von ihm erst nach Veröffentlichung
der Tagesordnung angemeldeten Vortrag tiber das Thema: »Welche Be-
sonderheiten ergeben sich für den Sachunterricht in der Hilfs-
schule?« dessen Gedankengang etwa folgender war: Bej allen Schwach-
sinnigen tritt ein auflfälliger Mangel an Aufmerksamkeit zu Tage und schon
dieser macht ihre geringe geistige Entwicklung begreiflich. Betrachtete
man früher die Aufmerksamkeit als ein angeborenes Seelenvermögen, so
weist die neuere Psychologie nach, dafs dieselbe motorisch ist, dafs ihre
Voraussetzungen mehr im körperlichen als im geistigen Organismus liegen.
Die äulseren Symptome der Aufmerksamkeit betreffen in gleicher Weise
die Atmungs- und Muskeltätigkeit. Jeder erfährt an sich, wie das Atmen
und jede Körperbewegung zeitweilig völlig eingestellt wird, der ganze Or-
ganısmus vorübergehend im Zustande des Gespanntseins ist. Diese Span-
nung bedeutet ein Einstellen der Organe auf den zu erfassenden Reiz, den
Vorgang, welchen die Aufmerksamkeit veranlalst. Sie rührt von den
Muskelempfindungen her, die durch das auf den peripheren Reiz reagierende
Inbereitschaftsetzen und Einstellen der Organe zur inneren Wahrnehmung
gelangen. Richtig aufmerksam kann daher nur der sein, dessen musku-
löse und nervöse Organe sich in normaler Beschaffenheit befinden. Die
Schwachsinnigen aber stehen in der Regel an Gewicht, Gröfse, Kraft und
Lebensenergie den Normalen nach, daher ihre Unfähigkeit, aufzumerken.
IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands. 219
Sie müssen deshalb durch Stärkung ihrer motorischen Apparate zur Auf-
merksamkeit erst fähig gemacht werden. Voraussetzungslos von vorn be-
ginnend muls man systematisch alles bei ihnen nachholen, was normale
Kinder durch Spiel und Nachahmung schon vor der Schulzeit durchmachen.
Man beginne daher mit dem Bewegungsspiel, welches zweckmälsig mit
Rhytmus und Musik verbunden wird. Dann folgt spezielle Ausbildung der
einzelnen Sinne Auch hier handelt es sich zunächst um motorische
Funktionen. So falst z. B. der Gesichtssinn Formen, Gröfse und Entfer-
nung nicht obne Bewegung der Augen und der tastenden Hand auf. Für
die Ausbildung des Gesichtsorganes dürfen dem schwachsinnigen Kinde
nicht gleich Dinge, Tiere, Modelle dargeboten werden, da es erfahrungs-
gemäls nicht einmal einfache Flächenformen, geschweige denn komplizierte
Körperformen auffasen kann. Ebenso mangelhaft ist die Leistungsfähigkeit
der übrigen Sinnesorgane; sie müssen daher alle erst in systematischer
Weise zu ihren elementaren Funktionen erzogen werden. Referent gibt
Mittel hierfür an. Zur ersten Übung des Gesichts- und Tastsinnes emp-
fiehlt er das Formenbrett. Zwecks richtigen Einsetzens der Scheiben
mufs das Kind den Umrissen dieser und der Öffnungen mit Auge und
Hand folgen; es entsteht so eine Reihe von Muskel- und Bewegungs-
empfindungen, die in ihrer Gesamtheit die Darstellung der Form erzeugen.
Wer die motorische Seite .der Sinnestätigkeit übersicht, die Ausbildung der
motorischen Apparate vernachlässigt, wird es nie dahin bringen, dafs die
einzelnen Eindrücke des Kindes sich nach Form und Gröfse voneinander
abheben, dafs letzteres zu einer genauen Verzeption der Aulsenwelt ge-
langt. Es wird wohl Worte sprechen lernen, aber die Begriffe werden
verschwommen sein oder ganz fehlen. —- Gleichzeitig mit den elementaren
Funktionen der Sinnesauffassung müssen die der Darstellung geübt werden.
Es müssen daher von vornherein Dinge und Tätigkeiten bei allen Übungen
genannt werden. Doch ist die Sprache nicht die einzige und nächst-
liegende Darstellungsform ; sie hat in der Geste ihren Ursprung, manches
läfst sich in ihr gar nicht ausdrücken. Die Ausbildung der übrigen Or-
gane des Ausdruckes, insbesondere der Hand ist daher ebenso wichtig. An
die Sinnesübungen schlielse sich deshalb ein systematischer Handarbeits-
unterricht an. Durch denselben werden nicht blols die Vorstellungen
körperlich dargestellt, die darstellenden Organe geübt und die Erwerbs-
fähigkeit vorbereitet, sondern geradezu konstituierende Elemente des
Geisteslebens geschaffen (Grundlagen des Kausalbewulstseins und des logi-
schen Denkens, Selbst- und Persönlichkeitsbewulstsein). Auch die grolse
Ausdehnung des motorischen Gehirnzentrums spricht für die Wichtigkeit
der Arbeit. Die überall in den Hilfsschulen konstatierte Tatsache einer
geringeren Anzahl von Mädchen erklärt sich vor allem daraus, dafs das
Mädchen vor der Schulzeit mehr und bessere Spielgelegenheit hat schon
dadurch, dafs es die Mutter in ihrer Arbeit und in ihrem Verkehr mit
dem Kinde nachahmen darf, dann aber auch aus dem Umstande, dafs die
Mutter ihre Tochter, selbst wenn diese noch so ungeschickt ist, doch mehr
zu allerlei Dienstleistungen heranzieht. Wegen der vorgerückten Zeit
konnte an den Vortrag eine längere Debatte sich nicht knüplen. Der
Vorsitzende stellte nur noch einige geschäftliche Sachen zur Erledigung
und schlofs dann die Versammlung mit nochmaligem Dank an die Teil-
nchmer, den Ortsausschuls, die Referenten und die Vertreter der Presse.
Unmittelbar darauf fand ein Festessen statt und an dieses schlofls sich
eine Führung durch den Dom. Abends wurde in der Stadthalle von
5 Mainzer Gesangvereinen ein Festabend veranstaltet. Während der Ver-
bandstage war das römisch-germanische Museum den Teilnehmern unent-
geltlich zugänglich. — Im Laufe des Tages liefen Danktelegramme aus
dem Preufsischen Unterrichtsministerrium und von Geheimrat Brandi ein.
Am 16. April begab sich ein Teil der Teilnehmer am Verbandstage nach
Idstein, um die dortige Erziehungsanstalt zu besichtigen, ein anderer Teil
fuhr nach Giefsen, wo unter Führung von Professor Dr. Sommer eine
Besichtigung der neuen psychiatrischen Klinik stattfand. Im Anschlufs
daran hielt Professor Sommer einen Vortrag über »Die verschiedenen
Formen der Idiotie vom Standpunkt der Therapie und Prophylaxe«, er-
läutert durch Photographien u. s. w., aus dem nachstehend nur einiges
mitgeteilt sei. Die Idiotie bietet eine ungeheure Variation in ihren Er-
scheinungen dar, die das Endresultat sehr verschiedener Krankheitsprozesse
sind; eine Einteilung ist nur auf Grund der Entstehung möglich. Auch
graduell besteht ein enormer Unterschied. Die Hilfsschule, die es mit den
weniger in die Augen springenden Formen des Übergangs zur Normalität
zu tun hat, arbeitet daher unter psychologisch schwierigen Verhältnissen.
Sie bezeichnet eine ähnliche Entwicklung in der Pädagogik, wie sie auch
in der Psychiatrie zu verzeichnen ist, in der man früher allein auf An-
stalten sein Augenmerk richtete. Verschiedene Gruppen der Idiotie sind
nach dem heutigen Standpunkte der Wissenschaft scharf differenzierbar.
So die Hydrocephalie. Sie entsteht durch Wasseransammlung in den
mittleren Gehirnhöhlen. Dadurch wird sekundär das Gehirn und damit
auch der Schädel ausgedehnt, oft so gewaltig, dals letzterer wie maceriert
erscheint, an vielen Stellen nur Bindegewebe besitzt und dafs infolgedessen
leicht Gehirnverletzungen eintreten können. Die Hydrocephalie erzeugt
Idiotie, Epilepsie, starke Reizbarkeit, oft aber auch nur Übergangsfälle.
Bisweilen sind die Hydrocephalen intellektuell ganz leidlich gestellt, stets
aber sind sie impulsive, sehr wechselnde Naturen. Die Prognose der Hydro-
cephalie ist günstig; es kann namentlich im Beginn der Krankheit durch
Medikamente günstig auf sie gewirkt werden, und die Wissenschaft wird
jedenfalls schliefslich dahin gelangen, dic Hydrocephalie zu heilen. Im
Gegensatz dazu ist die Prognose für die Mikrocephalie recht ungünstig,
da letztere auf der gesamten Gchirnorganisation beruht. Die Mikrocephalie
ist wenig beeinflulsbar; man wird daher bezüglich derselben stets auf
Anstaltserzichung Bedacht zu nehmen haben. Dagegen bietet der Kreti-
nismus oft wieder eine bessere Pragnose trotz der mancherlei körperlichen
Abnormitäten z. B. schwamnige, runzlige Haut, eingesunkene Nasenwurzel,
grolse Zunge. Die Ursache ist eine Erkrankung der Schilddrüse, es sei nun,
dals diese ein Gift ausscheidet oder ein normalerweise im Körper entstehendes
Gift nicht mehr abtötet. Die Krankheit wirkt vor allem auf Haut, Knochen
und Gehirn, oft auf eins mehr als auf das andere. Behandlung mit Schild-
Probleme der Kindersprache. 22]
drüsenextrakt scheint guten Erfolg zu versprechen. Die Porencephalie
hat als Ursache Spaltbildung im Schädel mit Ausfall gewisser Hirnteile,
entstanden bei der Geburt, durch Platzen einer Ader oder durch Zer-
trümmerung oder Entzündung des Schädels. Sie ist der Behandlung vor-
züglich zugänglich, namentlich in motorischer Beziehung, indem man durch
Muskelübung auf die betreffenden Nervenpartien einwirkt. — Zahlreiche
sonstige Erscheinungen der Idiotie mit morphologischen Ercheinungen, be-
sonders Schädelabnormitäten sind noch nicht näher differenziert. Für sie
pflegt die Aneignung abstrakter Begriffe sehr schwer zu fallen; man sollte
daher bei diesen Fällen von vornherein mehr die Hand zu mechanischer
Tätigkeit bilden. Deformationen des Schädels hängen oft mit Verknöche-
rung von Schädelnähten zusammen. — Nicht selten begegnet man Fällen,
wo die Idiotie nicht angeboren, sondern erst durch Krankheit nach der
Geburt erworben ist. Epileptische Zustände, die im ersten Lebens-
alter entstehen, können oft wie angeboren erscheinen. Auch auf diesem
Gebiete wird die Wissenschaft gewifs einmal therapeutisch besser gestellt
sein, nachdem für Erforschung der Epilepsie gewisse Vorarbeiten geliefert
sind. — Zusammenfassend ist zu sagen, dafs auf dem Gesamtgebiete der
Idiotie zweifellos viel zu erreichen ist, wenn Pädagogen und Ärzte zu-
sammen arbeiten, die pädagogische Behandlung eine medizinische Psycho-
logie auf naturwissenschaftlichem Boden zur Grundlage hat.
Hannover. A. Henze.
2. Probleme der Kindersprache.
Von Dr. Paul Maas, Spezialarzt für Sprachstörungen in Aachen.
Die Kinderpsychologie erfreut sich in den letzten Jahren cines leb-
haften Interesses seitens der Pädagogen, Ärzte und Psychologen. Die
Pädagogen haben eingesehen, dafs die Gesetze des Geisteslevens Er-
wachsener sich nicht ohne weiteres auf das Kind übertragen lassen und
dafs daher eine rationelle Erziehung sich nur auf eine genaue Kenntnis
des kindlichen Geisteslebens aufbauen könne. Die Psychiater haben er-
kannt, dafs viele abnorme Erscheinungen beim Erwachsenen sich schon in
der Kindheit vorbereiten, teilweise sogar auf angeborene Defekte zurück-
zuführen sind und dafs eine genaue Erforschung der normalen sowie anor-
malen psychischen Vorgänge beim Kinde von der grölsten Bedeutung für
die Erkenntnis und event. Verhütung der Geisteskrankheiten ist. Den Psycho-
logen endlich liefert das Studium der Kindesscele in vielen Fällen erst den
Schlüssel für die komplizierten Erscheinungen beim Erwachsenen, ähnlich
wie die Anatomen den verwickelten Bau des ausgebildeten menschlichen
Gehirnes erst durch das Studium der einfacheren Verhältnisse beim Embryo
und bei dem Kinde erschlossen haben. Eines der interessantesten Kapitel
der Kinderpsychologie bildet nun die Entwicklung der Sprache. Aber auf
keinem Gebiete sind die Meinungsverschiedenheiten der Autoren grölser als
gerade auf diesem. Es beruht dies teilweise auf der Schwierigkeit der
Beobachtung und noch mehr der Deutung des beobachteten, zum grolsen
222 B. Mitteilungen.
Teil aber auch auf einer Unklarheit der Begriffe, die in grundlegenden
Fragen verwandt werden. Eine Klärung des »Begriffesder Kindersprachę<
an sich sowie einiger wichtiger Begriffe der Kindersprache strebt Ament
in seiner Arbeit über »Begriff und Begriffe der Kindersprache« !) an. Der
Verfasser, auf dessen Ausführungen ich in folgendem näher eingehen werde,
hat einzelne Fragen in befriedigender Weise gelöst, in manchen Punkten
allerdings fordern seine Anschauungen zum Widerspruch heraus.
Die Untersuchung beginnt mit der Darstellung der Streitfragen, die
hinsichtlich der Ursache des Sprecheulernens beim Kinde existieren. Es
haben sich zwei Anschauungen gebildet. Die eine suchte die Ursache des
Sprechenlernens im Kinde und in der Umgebung, die andere vornehmlich
in der Umgebung. Es dreht sich also der Streit um die Existenz von
Erscheinungen, deren Ursachen im Kinde liegen sollen oder nicht. Da
man eine solche Eigenschaft im allgemeinsten Sinne als Spontaneität be-
zeichnet, so handelt es sich also um die Frage, ob und was beim Sprechen-
lernen im Kinde spontan entsteht oder nicht entsteht.
Zu der Frage, ob etwas beim Sprechenlernen im Kinde spontan ent-
steht oder nicht, hat sich die erste Anschauung dahin ausgesprochen, dafs
das Kind die Fähigkeit zu sprechen angeboren besälse und nur auf Grund
dieser Fähigkeit später durch Nachahmung die Muttersprache erlerne. Die
erste Anschauung vertritt also dic Spontaneität des Kindes neben der An-
cignung der Muttersprache durch Erlernen. Hinsichtlich der Auffassung
der Spontaneität gehen aber die Ansichten auseinander. Man kann eine
willkürliche, absichtliche, bewulste, vernünftige oder eine unwillkürliche,
unabsichtliche, unbewulste, instinktive Spontaneität unterscheiden, je nach-
dem der Wille an ihrem Zustandekommen beteiligt ist oder nicht. Nur
wenige der Autoren haben sich mit klaren Worten ausdrücklich zu einer
dieser Formen bekannt. Die Mehrzahl hat sich hierüber gar nicht aus-
gesprochen, sie gebraucht die Begriffe Erfindung, Schöpfung, Erzeugung
bezüglich Hervorbringung ohne Stellung zum Problem der willkürlichen oder
unwillkürlichen Spontaneität zu nehmen.
Die Vertreter der zweiten Anschauung, welche die Ursache des
Sprechenlernens nur in der Umgebung sucht, sind sich über die beiden
Formen der Spontaneität zwar im Klaren. Bezüglich späterer Erscheinungen
der Kindersprache z. B. der Wortumgestaltungen sagen viele hierher ge-
hörige Autoren, dals sie im Kinde selbst entstehen, sie betrachten sie als
unwillkürliche Spontaneitäten, andrerseits verbreiten sie sich aber auch ein-
gehend über willkürliche Bildungen, diesen gleich setzen sie den Begriff
der Erfindung. Erfindungen glauben sie aber dem Kinde beim Sprechen-
lernen nicht zugestehen zu können. Da aber die eigentümlichen sprach-
lichen Erscheinungen im Kindermund nicht wegzuleugnen waren, so mufsten
sie auf eine ganz andere Ursache zurückgeführt und deshalb als eine Er-
findung der Mütter und Ammen betrachtet werden.
Aus diesen Ausführungen Aments ergibt sich nun, dals hinter den
Gegensätzen gar nicht die gleichen Begriffe stecken. Die erste Anschauung,
1) Berlin, Verlag von Reuther & Reichard, 1902.
Probleme der Kindersprache. 993
welche willkürliche und unwillkürliche Spontaneität nicht scheidet, kann die
Begriffe Erfindung, Schöpfung u. s. w. überhaupt nicht eindeutig gebrauchen,
sie verwendet sie in einem sehr weiten Sinne. Die zweite Anschauung
gebraucht den Begriff der Erfindung nur im Sinne der willkürlichen Spon-
taneität, sie verwendet ihn also in einem engern Sinne. Bei einer Dis-
kussion über die Frage der Spracherfindung hätte also eine Definition des
beiderseitigen Begriffes »Erfindung« allen polemischen Ausführungen voran-
gehen müssen. Dies geschah aber nicht, und indem die zweite Anschauung
vom Standpunkte ihres Begriffes »Erfindung« der erstern gegenübertrat,
verwarf sie jene vollständig, auch das was an ihr richtig war. Sie über-
sah dabei, dafs neben dem Begriff der Erfindung, der willkürlichen Spon-
taneität, auch der der angeborenen Fähigkeit zu sprechen, die unwillkür-
liche Spontaneität, möglich ist. Eine willkürliche Spontaneität besteht
keineswegs in dem Umfange, wie dies z. B. von Romanes!) behauptet
wird, der angibt, dafs Kinder sich eine vollständige Sprache ganz aus sich
heraus gebildet hätten. Ob die seltenen Fälle unerklärbarer Wortbildungen,
die in der Literatur angeführt sind als Erfindungen, willkürliche Sponta-
neitäten anzusehen sind, möchte ich erst bei der Besprechung der Wort-
bildungen erörtern. Eine unwillkürliche Spontaneität müssen wir dem
Kinde zugestehen. Sie zeigt sich schon in der Art und Weise, wie das
Kind seine wechselnden Gefühle durch verschiedene Nüancierungen des
Schreiens ausdrückt, und weiter wie es seine Lalllaute gebraucht, um seine
Wünsche kundzugeben. Und ebenso zeigen die Ausdrucksformen, welche
taubstumme Kinder unabhängig vom Unterricht sich schaffen, um sich der
Umgebung verständlich zu machen, eine Spontaneität der Sprachbildung.
Wortbildungen wie papa, mama, wauwau, welche heute den Kindern von
den Müttern und Ammen überliefert werden, und deren Erfindung man
diesen überhaupt zugeschrieben hat, sind nur dadurch erklärlich, dafs sic
von den Kindern ursprünglich gebildet, von der Umgebung fixiert über-
liefert und in Analogiebildungen nachgeahmt worden sind.
Hand und Hand mit dieser Unklarheit über den Begriff der Erfindung
geht die Unsicherheit über den »Begriff der Kindersprache« an sich. Als
sprachliche Erscheinungen im Munde des Kindes führt Amen t folgende an:?)
I. Zu Beginn der Spracherlernung.
1. Die Bildung der Wörter, ursprüngliche Wortbildung,
a) spontane Stimmreaktionen (Lalllaute),
b) Interjektionen,
1) Die von Romanos mitgeteilten Worterfindungen eines amerikanischen Kindes
sind wahrscheinlich französiche Worte, die dem Kinde wahrscheinlich von der
Mutter, die des Französischen mächtig war, beigebracht wurden. i
2? Ich habe diese Übersicht in derselben Form angeführt, wie sie Ament an-
gegeben hat, möchte allerdings hier schon bemerken, dafs die ursprünglichen Wort-
bedeutungen nicht als Assoziationen zwischen Sach- und Wortvorstellungen aufzu-
fassen sind, aulserdem dafs die von Ament als Verallgemeinerungen bezeichneten
Bildungen nur scheinbare Verallgemeinerungen sind, Ich werde bei der Besprechung
der Wortbedeutungen näher darauf eingehen.
B. Mitteilungen.
c) Onomatopoetika,
d) Worterfindungen (Neubildungen, Wortmedaillen, Wortschöpfungen).
2. Die Bildung der Assoziation von Sach- und Wortvorstellungen, ur-
sprüngliche Wortbedeutung.
II. Zur Zeit der Nachahmung der Muttersprache.
1. Die Umgestaltungen
a) der Wörter bei der Wortbildung durch Nachahmung von Worten
der Muttersprache, Wortumgestaltungen,
b) der Bedeutungen,
«) Wortbeschränkungen,
P) Wortverallgemeinerungen.
Analogiebildungen, Wortbildung durch Ableitung.
Wortbildung durch Zusammensetzung.
Wortbildung durch Kontamination. +)
. Wortbildung durch Etymologie. ?)
In dieser Spezialisierung sind die sprachlichen Erscheinungen beim
Kinde von keinem der Autoren erörtert worden. Einige gehen überhaupt
nicht auf Einzelheiten ein, und soweit dies bei andern geschieht, werden
die Einzelheiten nicht erschöpfend behandelt. Infolgedessen mulste die
Beantwortung der Frage, was beim Kinde spontan gebildet würde, ver-
schieden ausfallen, je nachdem diese oder jene Erscheinung in den Kreis
der Erörterung miteinbezogen wurde. Da also der Begriff der Kinder-
sprache bei den einzelnen Autoren bezüglich seines Inhaltes und Umfanges
keineswegs konstant ist, so versucht Ament eine neue Begriffsbestinnmung.
Sie muls einerseits mit der Tatsache der Spontaneität rechnen, andrerseits
das Verhältnis dieser zur Nachahmung der Muttersprache in Betracht
ziehen. Die Spontaneität des Kindes, welche, wenn wir von den noch um-
strittenen seltenen Fällen willkürlicher Spontaneität absehen, eine unwill-
kürliche ist, ist die Grundlage für die spätere Nachahmung der Mutter-
sprache. Die Nachahmung glückt aber anfänglich nicht getreu, sondern
ist von mehreren Bedingungen abhängig, die wir hinsichtlich der Formen
innerhalb des Kindes in Aufmerksamkeitszuständen und in der Entwicklung
des Gehör- und Sprachorgans, ferner in der Unerfahrenheit hinsichtlich der
Formen der Muttersprache erkennen. Demgegenüber stehen die zeitlich
festbestimmten Formen und Bedeutungen der Muttersprache. Durch das
Zusammentreffen dieser beiden Faktoren entsteht ein Konflikt, dessen Pro-
dukt im Kindermunde eigenartige, in der Muttersprache ungebräuchliche
Formen und Bedeutungen neben gebräuchlichen sind, deren Gesamtheit
unter dem Begriff Kindersprache zusammengefalst wird.
Ament definiert also den Begriff der Kindersprache als die Gesamt-
"heit der aus dem Konflikt zwischen dem spontanen Sprachtrieb des
Kindes und den zeitlich festbestimmten Formen der Muttersprache resul-
rl
') Kontamination = Verschmelzung synonymer oder verwandter Ausdrucks-
formen, z. B. lauterlei aus lauter und allerlei.
2) Dadurch dafs einem an sich unbekannten Worte durch Gestaltsveränderung
ein bekannter Siun untergeschoben wird, z. B. Fuhrwerk für Furie.
Probleme der Kindersprache. 225
tierenden Erscheinungen. Der Umfang dieses Begriffes umspannt alle
sprachlichen Erscheinungen des Kindes, wie sie in der vorhin gegebenen
Übersicht zusammengestellt sind.
Der Begriff der Erfindung soll für die willkürlichen Spontaneitäten
reserviert bleiben.
Derselbe Gegensatz, wie in den Anschauungen über den Anteil des
Kindes und der Umgebung am Sprechenlernen überhaupt, zeigt sich auch
in den Anschauungen über den Anteil dieser an einzelnen Erscheinungen
des Sprechenlernens. Am schärfsten ist er zweifellos in der Benrteilung
der Wortbildung des Kindes zu Tage getreten. Auch hier wird die Frage,
ob Wortbildungen beim Sprechenlernen im Kinde spontan entstehen, von
den einen bejaht, von den andern verneint. Aber auch hier wird der Be-
griff der Erfindung in seiner besondern Form der Worterfindung von den
einen in einer weiten, von den andern in einer engern Bedeutung gebraucht
und die Vertreter der zweiten Anschauung übersehen, dafs die Verneinung
der willkürlichen spontanen Wortbildung immer noch die Existenz der un-
willkürlich spontanen offen lälst.
Die andere Frage, welche Wortbildungen beim Sprechenlernen im
Kinde spontan entstehen, ist wieder in verschiedener Weise beantwortet
worden, je nachdem dieser und jener Autor diese und jene Formen unter
dem Begriffe der Wortbildungen behandelte oder nicht behandelte.
Zur Klärung der Streitfrage ist es also notwendig festzustellen, welche
von den sprachlichen Erscheinungen des Kindes als Wortbildungen über-
haupt in Betracht kommen und in welchem Verhältnis sie zu den Be-
griffen der unwillkürlichen oder willkürlichen Spontaneität stehen. Diese
Frage wird nun von Ament ausgehend von der oben gegebenen Definition
der Erfindung näher geprüft.
Die ersten sprachlichen Äufserungen des Kindes sind das Schreien
und das Lallen, letzteres pflegt bekanntlich direkt in sprachliche Worte,
Lallworte wie mama, papa überzugehen. Solche Silben entstehen, wenn
der ausgeatmeten Luft durch die Lippen (p, b, f, r, m) oder die An-
pressung der Zungenspitze an die Zähne oder den Alveolarrand (t, d, I, n)
des Zungenrückens an den Gaumen (k, g) der Weg versperrt wird. Sie
werden unwillkürlich, nicht willkürlich spontan hervorgebracht, weshalb von
Worterfindung bei ihnen nicht. gesprochen werden kann. Ament bezeichnet
sie als Stimmreaktionen und zwar dem Wesen ihrer Entstehung nach als
impulsive.
Daneben gibt es cine Gruppe von Erscheinungen, die zwar auch Stimm-
reaktionen sind, aber keine impulsiven, sondern reflexartige. Sie sind der
unwillkürliche spontane Ausdruck für plötzliche oder intensive Gefühls-
zustände Auch bei ihnen kann deshalb von Worterfindung nicht ge-
sprochen werden.
Als eine weitere Gruppe erscheinen die Onomatopoctica. Sie sind
durch den Mund des Kindes wiedergegebene Naturlaute und entstehen
nicht anders, wie das Nachsprechen der Worte der Muttersprache. Auch
sie sind keine Worterfindungen. Analogiebildungen und Wortumgestaltungen
sind weder Wortbildungen überhaupt noch Worterfindungen. Es bleibt
Die Kinderfchler. VIII. Jahrgang. 15
296 B. Mitteilungen.
noch eine Gruppe erst in neuerer Zeit und nur selten zur Beobachtung
gelangter Billungen übrig, deren Charakteristikum ihre Unerklärlichkeit ist,
weshalb man den Namen der Worterfindung auch den der Neubildung, der
Wortmedaille, der Wortschöpfung ganz speziell für sie heranzog. Von allen
derartigen Bildungen, welche in der Literatur mitgeteilt sind, lälst Ament
nur zwei als beweiskräftig für die Existenz der Worterfindungen gelten. Es
sind dies der von Strümpel mitgeteilte Laut »tibu«e, den sein Kind beim
Anblick der Vögel im Alter von 10 Monaten äulserte und der Laut »adis,
den das von Ament beobachtete Kind gebrauchte, um wie Ament angibt,
»Kuchen« zu bezeichnen. Auf diese letztere Wortbildung möchte ich
etwas näher eingehen, da Ament die Umstände, unter denen diese Laut-
äulserung vor sich ging, genauer mitteilt. In seinem grölseren Werke
über »Entwicklung vom Denken und Sprechen beim Kindes hat Ament
die sprachlichen Erscheinungen des von ihm beobachteten Kindes Luise
aufgezeichnet. Wir finden am 672. Tag »Kuchen nennt sie adie. In der
vorliegenden Arbeit gibt Ament darüber Näheres an: »Es sah mir eines
Tages zu, wie ich einen Kuchen zerteilte. Es ist verständlich, dafs hier
in einem zuschauenden Kinde der Wunsch rege wird, ein Stückchen davon
zu erhalten. Es hatte aber Kuchen weder mit dem gebräuchlichen noch
mit einem ungebräuchlichen Ausdruck benennen gelernt. Wie drückte mir
das Kind nun aus, dafs es Kuchen haben möchte? Es ruft, den Blick
unverwandt auf den Kuchen gewendet, plötzlich adi. Ich wulste aus den
Umständen heraus, was es wollte und mit seinem Stückchen Kuchen trollte
es befriedigt davon.« Aus dieser Darstellung geht zunächst hervor, dafs
das Kind mit dieser Wortbildung nur einen Wunsch ausdrücken wollte,
dafs sie aber keineswegs als eine Benennung des Kuchens aufzufassen ist.
Ament, der die Berechtigung dieses eventuellen Einwurfs anerkennt, nimmt
nur an, dafs die Kinder meist mit der substantivischen Benennung des
Gegenstandes zu verlangen pflegen. Was mich nun veranlafst, die will-
kürliche Spontaneität der Wortbildung adi zu bezweifeln, ist folgendes:
In dem oben erwähnten gröfsern Werke findet sich der Laut addi am
679. Tage wieder und zwar in folgendem Zusammenhang: „Luise lernte
das Kinderverschen aus dem Struwelpeter: „Wenn die Kinder artig sind,
kommt zu ihnen das Christkind u. s. w.« in folgender Weise ergänzen:
wenn die Kinder — addı, kommt zu ihnen tinni u. s. w. Wenn man
jetzt vom Christkindchen spricht, sagt sie oft addi.« Ich halte es nun
für sehr leicht möglich, dafs dem Kinde vor dem 672. Tag auch einmal
gesagt worden ist, »wenn du artig bist, bekommst du Kuchen« und ebenso
wie »Christkindchen« bei ihm den Laut addi reproduziert, kann auch der
Anblick des Kuchens und der Wunsch, ein Stück davon zu bekommen, den
Laut adi reproduzieren. Jedenfalls sind wir nicht ohne weiteres berechtigt,
aus der Unerklärlichkeit einer Wortbildung auf Worterfindung zu schliefsen.
Wir sind gar nicht in der Lage alle die Laute, die von dem Kinde ge-
legentlich einmal aufgenommen werden, zu kontrollieren. Durch die bis-
herigen Beobachtungen ist meines Erachtens die Existenz wirklicher Wort-
erfindungen scitens des Kindes keineswegs einwandsfrei bewiesen. Ament
begeht auch den Fehler, dals er irgendwelche Laute, die ein Kind beim
Erziehungs- u. Fürsorge-Verein f. geistig-zurückgebliebene (schwachs.) Kinder. 227
Zeigen eines. Gegenstandes produziert, ohne weiteres zu diesem Gegenstand.
in Beziehung bringt oder gar als Benennung dieses Gegenstandes deutet.
Er führt im Zusammenhang mit der Wortbildung adi einen Lallmonolog
des Kindes an, der seiner Ansicht nach den Weg zeigt, wie derartige
Worterfindungen entstehen können. Er berichtet darüber: »Ich führte sie
in den Garten. Hier hielt sie einen Lallmonolog, der in mannigfachem
Wechsel von baba, mamm, ruru, debüh, monné, mimi, d’boda« bestand..
Vieles was ich ihr zur Benennung bot, wie Blätter, Būcher bekam irgend
einen dieser Namen. Nun scheint mir der Lallmonolog zu zeigen, wie
ein ganz selbständiges Wort entstehen kann. Wir werden uns deren Ent-
stehung so denken müssen, dafs sie aus dem Sprachtrieb und den. Sprach-
gefühl gleichsam spontan herausflossen und nur die Absicht, etwas zu be-
nennen, hierbei bewulst war. Dazu scheint der Lallmonolog noch ersicht-
lich zu machen, wie leicht das Kind geneigt ist, bedeutungslose Silben,
deren es im Lallen so viele zur Verfügung hat, auf ganz beliebige Gegen-
stände zu übertragen.«e Nun hat Meumann!) schon darauf hingewiesen,
dafs hier von einer Übertragung der Lalllaute auf die betreffenden Gegen-
stände oder von einer Absicht etwas zu benennen, keine Rede sein kann,
sondern dafs der Anblick der Objekte und die Anregung durch den Er-
wachsenen dem Kinde Veranlassung geben, seinen Sprechapparat in voll-
kommen willkürlicher Weise funktionieren zu lassen. Ich kann die Rich-
tigkeit dieser Ansicht durch Beobachtung an einem 2!/, jährigen psychisch-
tauben ?) Knaben bestätigen. Das Kind, welches ursprünglich stumm war,
lernte bald einige Laute durch Nachahmung, dadurch dals ich ihm Bilder
zeigte und die Namen der Bilder laut aussprach. In der Folge wurden
nun beim Zeigen der Bilder auch spontan einige Laute (u, ä, pa, ua u. s. w.)
produziert. Von einer Absicht, die Bilder mit diesen Lauten zu benennen,
kann bei dem geistigen Zustande des Kindes gar keine Rede sein. Das
Kind weils gar nicht, dals die beim Zeigen der Bilder gesprochenen
Worte in irgend einer Beziehung zu den Gegenständen stehen. Das
Zeigen der Tafeln ist für das Kind nur eine Anregung, scine Sprachwerk-
zeuge, deren Gebrauch ihm jetzt anscheinend Vergnügen macht, in Be-
wegung zu setzen. (Schlufs folgt.)
38. Erziehungs- und Fürsorge-Verein für geistig-zurück-
gebliebene (schwachsinnige) Kinder zu Berlin.
Am 26. März dieses Jahres ist in Berlin ein Erziehungs- und Für-
sorge- Verein für geistig zurückgebliebene (schwachsinnige) Kinder gegründet
worden. Er verfolgt den Zweck, »Interesse und Verständnis für die Aus-
bildung und Erziehung der geistig zurückgebliebenen (schwachsinnigen)
!) Meumann, Die Entstehung dor ersten Wortbedeutung beim Kinde (1902) S. 36.
2) Unter psychischer Taubheit versteht man Fehlen des Sprachbverstäudnisses
bei normaler Hörfähigkeit. Kinder, bei denen die psychologische Taubheit angeboren
ist, sind stumm oder sprechen nur einzelne Laute.
15*
228 B. Mitteilungen.
Kinder zu wecken und zu beleben und an der geistigen, leiblichen, sitt-
lichen und wirtschaftlichen Förderung dieser Minderjährigen mitzuwirken.«
Die konstituierende Versammlung fand im Preulsischen Abgeordnetenhause statt
und vereinigte Pädagogen, Mediziner, Volkswirtschaftler, Volkswohltäter und
behördliche Personen. Die Ziele des Vereins wurden dargelegt von Herrn
Kgl. Kreisschulinspektor Dr. von Gizycki, Herrn Rektor Henstorf und
Herrn Rektor Pagel. Ersterer besprach die Entwicklung der Hilfsschul-
einrichtungen; Herr Henstorf berichtete über die sozial- wirtschaftlichen
Schwächen und moralischen Gefahren, denen schwachsinnige Kinder und
Erwachsene ausgesetzt sind, und Herr Pagel endlich erläuterte die Orga-
nisation des Vereins. Ein Statutenentwurf wurde von der Versammlung
genehmigt, ebenso ein Aufruf, der sich an das grolse Publikum wenden
sol. Zum Vorsitzenden wurde Herr Schulinspektor Dr. von Gizycki,
zu seinen Stellvertretern wurden die Herren Schulinspektor Dr. Fischer
und Sanitätsrat Prof. Dr. Hartmann gewählt. Das Amt des ersten Schrift-
führers bekleidet Herr Schulinspektor Gäding. Aulser dem üblichen Vor-
stand wurde noch eine Reihe von Beisitzern ernannt, darunter Herr General-
superintendent D. Faber, Herr Probst Neuber, Herr Mosse, Heır
Schulrat Dr. Zwick, Herr Erziehungsinspekter Piper u. a — Die
ausführenden Organe des Vorstandes sind einzelne Kommissionen, von
denen die Pädagogische Kommission sogleich gegründet wurde; die
Begründung einer sozialen, hygienischen und juristischen Kommission ist
in Aussicht genommen. —: Die Pädagogische Kommission hielt am
S8. Mai ihre erste Sitzung ab. Dicselbe wurde von ca. 100 Personen be-
sucht, unter denen sich auch Herr Geh. Ob.-Reg.-Rat Brandi befand.
Nachdem der Vorsitzende, Herr Rektor Stodt, die Ziele der Kommission klar-
gelegt hatte, sprach der Unterzeichnete Arno Fuchs über »die nächsten
ZielederlHilfsschulpädagogik.« Referent schickte seinem Vertrage einen
kurzen Bericht über den Mainzer Hilfsschultag voraus und betonte im An-
schluls daran die Notwendigkeit eines Zusammenschlusses der Berliner
Hilfsschulpädagogen und Hilfsschulfreunde. Dals es sich bei der Grün-
dung des Berliner Vereins nur um ceine ideale Konkurrenz handeln könne,
im übrigen aber das Bestreben herrsche, mit allen Gleichstrebenden in
Deutschland einträchtig und eimnmütig zu arbeiten, gehe auch daraus hervor,
dafs der Berliner Verein in Kürze dem Ililfsschultag als Mitglied beitreten
werde. Als das nächste Ziel der Hilfsschulpädagogik betrachtete der Re-
ferent die Ordnung und Zusammenfassung der gesammelten Erfahrungen und
Beobachtungen auf dem Gebicte der Psychologie und Methodik nach päda-
gogisch wissenschaftlichen Gesichtspunkten. Die hierdurch geschaffenen
monographischen Abhandlungen, z. B. über die ungenaue Perzeption, die
logische Denkschwäche, den Konkretismus im Denken, die ungünstige Dis-
position bei schwachsinnigen Kindern, würden der wissenschaftlichen Psy-
chologie, der Psychiatrie, der Hilfs- und Volksschulmethodik wertvolle
Aufschlüsse geben. Auf diesem Wege sei auch am ersten eine pädago-
gische wissenschaftliche Charakteristik des Schwachsinns zu erarbeiten, die
grundlegende Bedeutung gewinnen werde für die äufsere Organisation der
Hilfsschulen und Fürsorgeveranstaltungen. Mit einer Mahnung an die Hörer
IV. Schweizerische Konferenz für das Idiotenwesen. 299
zur regen Mitarbeit auf dem interessanten Gebiete, auf dem Neues und
Wertvolles geschaffen werden könne, schlofs der Vortragende seine Aus-
führungen. Aus der Debatte sind besonders die Bemerkungen des Herrn
Geh. Ob.-Reg.-Rats Brandi hervorzuheben. Er sprach seine Freude aus
über die Einmütigkeit, die auf dem Gebiete des Hilfsschulwesens in ganz
Deutschland herrsche und die sich auch in dieser Versammlung gezeigt hate.
Die preulsische Schulbehörde habe absichtlich keine Lehrpläne für Hilfs-
schulen vorgeschrieben, da sie auf dem Standpunkte stehe, dafs die Vor-
schläge aus den Kreisen derer kommen müssen, die praktisch in der Hilfs-
schule arbeiten. Die preufsische Behörde habe die sogenannten Nachhilfe-
klassen für verwahrloste und vernachlässigte, aber normale Kinder verboten.
Die Behörde erkenne ferner das Ziel der Hilfsklassen, die schwachsinnigen
Kinder für die Volksschule vorzubereiten, nicht an. Das Hauptgewicht bei
der Erziehung schwachsinniger Kinder sei auf die Gemütsbildung zu legen.
Der Berliner Verein zählt gegenwärtig ca. 150 Mitglieder.
Berlin. A. Fuchs.
4. IV. Schweizerische Konferenz für das Idiotenwesen.
Seit 1899 versammelt sich die Schweizerische Konferenz für das Idioten-
wesen regelmälsig alle 2 Jahre. An der diesjährigen Versammlung, die
am 11. und 12. Mai in Luzern stattfand, waren etwa 230 Teilnehmer aus
allen Teilen der Schweiz und 2 Gäste aus Stetten (Württemberg) anwesend.
Der Vorsitzende, Sekundarlehrer Aner in Schwanden (Glarus), hielt das
einleitende Referat über den »gegenwärtigen Staud der Sorge für
geistesschwache Kinder in der Schweiz«e. Gegenwärtig bestehen
22 schweizerische Erziehungs- und Pflegeanstalten für Geistes-
schwache mit 958 Zöglingen; seit ihrer Gründung sind 3028 Kinder,
1630 Knaben und 1398 Mädchen aufgenommen worden; in den letzten
6 Jahren, also seit der ersten schweizerischen Zählung der anormalen
Kinder, ist die Zahl der Anstaltszöglinge um 110°/, gestiegen. Spezial-
klassen (Hilfsschulen) für Schwachbegabte gibt es 57 mit 1160
Schülern; die Zahl der letzteren hat sich seit 1897 um 100°/, vermehrt.
Nachhilfeklassen für Schwache bestehen in St. Gaben und Appenzell
als Notbehelf in kleineren Gemeinden und leisten Gutes. Im Juli dieses
Jahres erscheint in Zürich ein für die Schüler der Hilfsklassen und Er-
ziehungsanstalten bestimmtes Lesebuch in 3 Teilen. Die Gründung ver-
schiedener neuer Anstalten und Hilfsklassen steht in Aussicht; es geht in
der Schweiz mit den Bestrebungen der Konferenz vorwärts; die im Laufe
dieses Jahres in Kraft tretende eidgenössische Schulsubvention wird auch
die Erziehung der geistesschwachen Kinder fördern.
Das Hauptthema des 1. Tages bildete ein Vortrag von Dr. Ulrich,
Arzt der Anstalt für Epileptische in Zürich: »Der Schwachsinn bei
Kindern, seine anatomischen Grundlagen, seine Ursachen,
seine Verhütung.« Die Ausführungen stützten sich auf vieljährige
Untersuchungen und Beobachtungen und wurden durch Vorweisung von
230 B. Mitteilungen.
grofsen Abbildungen anormaler Gehirne illustriert. Aus dem überaus
interessanten, reichen Material, das durch Direktor F. Kölle mit statistischen
Angaben aus meist deutschen Anstalten ergänzt wurde, sei nur folgendes
angeführt: Als Hauptaufgaben für die Gesunden zur Bekämpfung und Ver-
hütung des Schwachsinns ergeben sich: Aufklärung des Volkes über Wesen
und Folgen der erblichen Belastung, Bekämpfung des Alkoholmifsbrauches
und anderer Gewohnheitsgifte, Bekämpfung der Syphilis, der Tuberkulose,
des Kretinismus, der Armut und des Elendes überhaupt; Schonung der
Mutter während der Schwangerschaft, Schonung der Kinder vor, bei und
nach der Geburt.
Det 2. Konferenztag bracht 3 Vorträge mehr praktischer Natur. Über
das Thema »Steilung der Lehrkräfte und der übrigen Angestellten
in den Anstalten für Schwachsinnige« referierten die Vorsteher
Öberhänsli in Mauren-Thurgau und Heimgartner in Chur. Verschie-
dene an manchen Anstalten bestehende Übelstände werden gerügt und fol-
gende von der Versammlung gutgeheilsene Forderungen aufgestellt: Den
Hauscltern in den Anstalten sollen von den Aufsichtsorganen keine be-
engenden Schranken gesetzt werden; der Hausvater soll bei der Wahl des
Lehr- und Dienstpersonals beratende Stimme haben; es ist darauf zu
dringen, dafs die Lehrkräfte an den Anstalten finanziell mindestens so
günstig gestellt werden wie ihre Kollegen an den öffentlichen Schulen,
dals ihnen namentlich beim Übertritt in den öffentlichen Schuldienst die an
Anstalten zugebrachten Dienstjahre bezüglich Alterszulagen angerechnet werden.
In dem Vortrage »Stellung der Lehrkäfte an den Spezial-
(Hilfs-)klassen für Schwachbegabte« (Lehrer Herzog in Luzern)
wurde festgestellt: Die Spezialklasse für Schwachbegabte ist ein integrierender
Teil der Volksschule. Kein Lehrer kann zur Übernahme einer solchen
Klasse gezwungen werden. Durch seine spezielle berufliche Ausbildung
erhält der Hilfsschullehrer eine gewisse selbständige Stellung. Die ver-
mehrten Anforderungen an die Kräfte des Lehrers der Schwachen sollen
durch eine Gehaltszulage cinigermalsen ausgeglichen werden. Baldmöglichst
soll wicder einschweizerischer Bildungskurs für Lehrkräfte an Hilfs-
klassen und Anstalten ins Leben treten.
Der letzte Konferenzvortrag behandelte die »Sorge für die Schwach-
sinnigen und Schwachbegabten nach ihrem Austritt aus der
Anstalt beziehungsweise Spezialklasse« (Vorsteher Staumann in
Biberstein-Aarau und Lehrer Graf in Zürich V.). Soll die Erziehungsarbeit
nicht ohne bleibende Frucht bleiben, so mufs für diese Kinder auch nach
dem Verlassen der Anstalt und Schule eine Fürsorge eintreten. Darum
sind an den betreffenden Orten Patronate für diese Jugendlichen ins Leben
zu rufen, welche den crwerbsfähigen Schwachsinnigen geeignete Stellen
suchen und ihnen mit Rat und Tat beistehen. Für die nur teilweise Er-
werbsfähigen sind Asyle mit landwirtschaftlichem Betrieb einzurichten;
Blödsinnige und erwerbsunfähige Schwachsinnige sind in besonders zu grün-
denden Pflegeanstalten unterzubringen.
Der im Juli erscheinende gedruckte Bericht über die Verhandlungen
der IV. Schweizerischen Konferenz wird eine wertvolle Publikation sein,
Ein taubstummer Gelehrter. 231
da er nicht nur sämtliche Vorträge und Debatten im Wortlaut, sondern
auch eine grölsere Anzahl Illustrationen (aus dem Vortrag von Dr. Ulrich),
sowie ein Verzeichnis sämtlicher schweizerischen Anstalten für Geistes-
schwache enthalten wird. Er ist vom Vorsitzenden Herrn Auer in
Schwanden-Glarus für fr. 1,20 ct. zu beziehen.
Zürich. H. Graf.
5. Ein taubstummer Gelehrter.
Nach Einreichung einer Inaugural - Dissertation, betreffend: »Unter-
suchungen über die Zusammensetzung des deutschen und amerikanischen
Rotklees, der Zottelwicke und der Saatwicke während verschiedener Wachs-
tumsstadien, sowie über den Einflufs bestimmter Düngemittel auf die Zu-
sammensetzung der Wickes !) erwarb sich der Privatgelehrte Walther
Kuntze in Leutzsch bei Leipzig im vorigen Semester vor der philosophischen
Fakultät in Leipzig den akademischen Doktorgrad. Es ist dieses aus dem
Grunde von Interesse, da Dr. Kuntze — fast taub geboren ist und legt Zeugnis
davon ab, wie weit auch in wissenschaftlicher Hinsicht Taubstumme sich
entwickeln können, wenn alle Verhältnisse günstig liegen. Dr. Kuntze
ward 1869 in Halle a/S. geboren. Bald nach seiner Geburt zeigte sich
sein Gehörleiden. Sein Vater, der über reiche Mittel verfügen konnte,
konsultierte die bedeutendsten Öhrenärzte Deutschlands; sie erklärten das
Gehörleiden für unheilbar und rieten ihm, seinen Sohn einer Taubstummen-
anstalt zu übergeben. Dieses geschah allerdings nicht, doch wurde
W. Kuntze bis zu seinem 9. Lebensjahre von einem Taubstummenlchrer
in Halle privatim unterrichtet. Schon bei diesem Elementarunterrichte
zeigte sich die hervorragende Begabung und die eiserne Willenskraft des
Gebörkranken. Sein Vater entschlofs sich deshalb, ihm eine wissen-
schaftliche Ausbildung geben zu lassen und übergab ihn als Privat-
zögling dem damaligen Unterrichtsdirigenten der Tanbstummenanstalt zu
Braunschweig. Hier wurde er von diesem und von einem Tanb-
stummenlehrer privatim unterrichtet und zwar mit so gutem Erfolge, dals
gar bald dem Unterrichte der Lehrplan der Gymnasialsexta zu Grunde
gelegt werden konnte. Turnen, Zeichnen und andere technische Fächer
hatte W. K. zusammen mit vollsinnigen Knaben in der Realschule von
Dr. Günther. Der Umgang mit diesen, sowie das absolute Fernhalten von
gebärdenden Taubstummen war sehr wichtig für seine Zukunft. — Als
1882 sein Pensionsvater nach Ostfriesland berufen wurde, kam W. K.
auf Rat desselben nach Hildesheim, wo von dem damaligen Direktor
und von zwei Lehrern der dortigen Taubstummenanstalt das begonnene
Werk fortgesetzt wurde. Aber schon nach einem Jahre wünschte der Vater
von W. K. eine Änderung. Da ward ihm von Emden geschrieben: »Ihr
Sohn bedarf keines Taubstummenlehrers mehr; lassen Sie ihn privatım
von Gymnasiallehrern unterrichten.« Das geschah, und es zeigte sich
bald, dafs W. K. von seinem früheren Lehrer nicht überschätzt war. Seine
1) Lobend anerkannt im Lübecker Wochenblatte für Landwirtschaft u. Garten-
bau, Nr. 29 vom 18. Juli dieses Jahres.
232 B. Mitteilungen
Absehfertigkeit war so vorzüglich, dafs er dem Unterrichte seiner neuen
Lehrer vollständig folgen konnte. Bis hin zur Oberprima ward W. K. nach
dem Lehrplane des Gymnasiums mit vorzüglichem Erfolge unterrichtet.
Da aber streikten seine Nerven. Er gab das Studium zunächst auf und
erlernte die Landwirtschaft. Sein Ziel war aber nicht, später die Güter
seines Vaters zu übernehmen, sondern ein kleines Gut zu kaufen, das er
ohne Hilfe von Inspektoren selbst verwalten konnte. Auch in diesem Be-
rufe zeigte sich bald seine aulserordentliche Begabung; obgleich ihm die
plattdeutsche Sprache bislang völlig unbekannt gewesen war, konnte er
schon als Volontär auf einem Gute in Mecklenburg mit den plattdeutsch
sprechenden Arbeitsleuten bald fertig werden. — Doch jeder kehrt zuletzt
zu seiner ersten Liebe zurück. Wenngleich W. K. inzwischen ein glück-
licher Familienvater geworden war, wandte er sich doch wieder dem
Studium zu. Am 26. Februar dieses Jahres nalım der Procancellar der
philosophisch-historischen Sektion der Universität Leipzig seine Inaugural-
Dissertation an. Von der vorzüglichen Herzensbegabung des Taubstummen
zeugen die Umstände, dafs er die Dissertation seinem Lehrer, der ihn auf
seinem wissenschaftlichen Wege führte, dem Professor Dr. Emil Suchs-
land in Halle a/S. dedizierte, seinem »lieben alten Lehrer« aber in dank-
barer Erinnerung sein Bild nach Emden sandte, !)
0. Danger.
6. Die ästhetischen Elementargefühle.
Beobachtungen und Reflexionen von Hermann Grünewald.
Gegenwärtig hebt man die »Schulung des Geschmacks« oder »die
Bildung der Fähigkeit, durch ästhetisch wahrhaft Wertvolles zu ästhetischen
Gefühlen angeregt zu werder« (Höfler)?), als eine wichtige Aufgabe von
Erziehung und Unterricht hervor. In der Regel denkt man hierbei an
die höheren ästhetischen Gefühle, also an diejenigen, deren Vorstellungs-
grundlage sich durch eine reichere Fülle und Gliederung auszeichnet.
Unsere Betrachtung ist den sogenannten „ästhetischen Elementar-
gelühlen«?°) gewidmet.
Den Ausgangspunkt unserer Erörterungen bilden Beobachtungen im
»Schönschreibunterricht«. Die Buchstabenformen des »Preufsischen Normal-
Alphabets« (herausgegeben von Julius Neve) lagen diesem Unterricht zu
H) Was in dem Menschen steckt, pflegt später sich zu offenbaren. Ein früherer
Schüler der Emder Taubstummenanstalt, Siebelt Wilken, ging als einfacher Bauern-
knecht nach Amerika und lebt dort jetzt als wohlhabender Farmer. Bei seinem
ersten Besuche in der alten Heimat gab er Proben davon, dafs er sich auch eng-
lisch verständigen konnte. Als er zum zweitenmale kam, und zwar um sich eine
(taubstumme) Frau zu holen, fuhr er auf einem holländischen Schiffe und äulserte
sich nachher: »Ich kann plattdeutsch pröten. Da verstanden mich die Holländer
und ich habe sie auch verstanden.«
2) Psychologie. Wien u. Prag 1897. S. 433. 434.
») Jodl, Lehrbuch der Psychologie. Stuttgart 1896. S. 44 ff.
Die ästhetischen Elementargefühle. 233
Grunde. In drei Klassen der hiesigen kgl. Präparanden-Anstalt veranlafste
ich die Schüler, jeden Buchstaben der deutschen und lateinischen Klein-
und Grolsschrift, der am besten gefalle, der »am schönsten« sei, zu unter-
streichen. In allen drei Klassen fiel die Mehrheit der Vorzugsurteile
auf das grofse deutsche »H«. Die Einzelheiten der Versuchsergebnisse
sind aus folgender Tabelle ersichtlich. (Die neben den Buchstaben
stehenden arabischen Ziffern bezeichnen die Zahl der Vorzugsurteile.)
Klasse I Klasse II | Klasse III
Ao | ao | Aa |. A, | ao | A, a A loa lA,
B, bo B, bo B bo | Bo bo Ba b, Bo
C, Co Co Co Co | co © Col c Co Co Co
D, dd |D, do I. | da | Dal dao f D | |D,
€, eo E, eo C, eo Eg | ei Ea : eo | Eo
Fo fo Fo | fo Yo fo | Fo fo So 1 Fo
©, 93 Go 82 Go Go | Go 80 &, 8o | Go
He do H, h, Hı Do | Ho h, Ñ.. | bo | U,
I l Io | io o j lb, L lo Se lo : Id
5 PE kepi Ce | IK
£o lo L, | lo Ni | lo | Lo | lo Lo | fao i Lo
M, | m | M, | m |N j m Mim | M | m | M
No no N, | no N, | no | N, No No ` no ;, No
So Tlos bOr Top 15; | de a Og ae f a l a g O
0 Pa Po | P4 34 Do | Po Po P. | dp, | Po
Do qo Qo q- Don | Po — Qo Lo Do | qi | Qo
R, Io Ro | T9 No | qlo R, ‚to R, | Üo R,
S, 18, | So So So Yo ` o — So So foo | So
To jt To | to To od: , To to Zo ; to To
U, uo Uo | Up u, to i Uo ug Uo uo — Up
Va Vo Vo | Yo Vo to © Vi Vo Bo Vo | Vo
W w, W, | wo Bı | Vo | Wo Wo BW; Wo | Wi.
X o Es Xo Xo X o wo : Xo Xo Xo £s | Xo
Dı Ys Yo Yo do &: | Yo. Yo Dı Yo | Yo
Bo ö Z, Zo Bo Vo | Z, Zi Bo dı | Zo
K, | ck; ii ; Ka ck a
ch, Bs | l ch,
Das Ergebnis dieses nach Fechners »Methode der Wahl« aus-
geführten Versuchs war also die durchgängige Bevorzugung des
»grolsen deutschen H«. Es erhebt sich nun die Frage nach dem
Grunde, warum sich gerade an diese elementare Formung eine solche
ästhetische Gefühlswirkung knüpfte.
Auf Befragen erhielt ich vielfach zur Antwort, das H erinnere an
L und y und sei doch etwas Neues. Das ästhetische Gefühl stellte
sich also in dem vorliegenden Falle als eine »Freude an dem Auf-
fassen von Beziehungen«!) dar. Man könnte den Begriff »Proportion«
1) cfr. Höfler, Psychologie a. a. O. S. 432.
234 B. Mitteilungen
als Bezeichnung für die in Rede stehende Kombination optischer Inhalte,
welche den Gegenstand oder die Veranlassung des elementaren ästhetischen
Gefallens bildet, wählen. Zwischen zwei ungleichen Grölsen L und y,
welche sich in der Gröfse H zusammenfinden, waltet jetzt das Verhältnis
des Ausgleichs oder der Einstimmigkeit. »Die Proportion ist ein ver-
einheitlichendes Element.«!) Es ist ferner zu beachten, dafs y unter den
Kleinbuchstaben in Klasse I und das ihm ähnliche x in Klasse II und
III bevorzugt wurde. L allein wurde nicht ästhetisch bewertet. Aus
unserem Beispiel ist so recht die ästhetische Wirkung der Kombination
von Reizen ersichtlich. In der II. und III. Klasse wurden L und y nicht
ästhetisch bewertet. (In der II. Klasse fiel auf L nur ein Versuchsurteil.)
Das Lustgefühl, welches durch die passende Vereinigung der beiden
Formen L und y ausgelöst wurde, ist demnach nicht als ein Totalgefühl
aufzufassen, das sich aus den Gefühlswerten von L und y (als Komponenten)
zusammensetzte.?) Sind diese doch fast indifferent. Die Gefühlswirkung,
welche durch die Kombination erzeugt wird, »ist nicht die blofse Summe
der Eindrücke der einzelnen kombinierten Elemente, sondern ein neues
psychisches Produkt, welches man zum Unterschiede von dem sinnlich
Angenehmen und Unangenehmen im engsten Sinne als das Wohlgefällige
und Mifsfällige und mit Rücksicht auf die Funktion als den elementaren
Geschmack bezeichnen kann.«°)
Versuche betreffs der ästhetischen Bewertung der arabischen
Ziffern ergaben in allen Klassen eine Bevorzugung von 5. Auch hier
ist die Proportion die Veranlassung des ästhetischen Gefallens. Dazu ge-
sellt sich die Verschiedenheit der Elemente (Punkt, Oval, Bogen und
Gerade), welche zur Einheit verbunden sind. Die Gefählswirkung von
Kombinationen ist um so stärker, je gröfser die Mannigfaltigkeit der Ein-
drücke und je anschaulicher die sie zusammenhaltende Einheit ist. Mannig-
faltigkeit und Einheit sind bedingende Momente ästhetischer
Lust. Das Gesagte ergab sich auch aus einer Untersuchung betreffs der
ästhetischen Bewertung geometrischer Gebilde. Die Prüfung erstreckte
sich auf Dreiecke und Vierecke. Unter diesen wurden Rhombus und
Rhomboid bevorzugt. Die Zahlen der auf beide Figuren entfallenden
Vorzugsurteile stehen im Verhältnis von 1:2. (Bei Quadrat und Rechteck
standen die Vorzugsurteile im Verhältnis von 3:4.) Auf Befragen, warum
Rhombus und Rhomboid am schönsten seien, erhielt ich zur Antwort, weil
sie an ein Quadrat bezw. an ein Rechteck erinnerten und doch
durch ihre schiefen Linien »freier« erschienen. Man kann nach dem
Sprachgebrauche von Ehrenfelst) und Meinong?) die durch die Linien
- _— —_
1) cfr. Jodl a. a. O. S. 410.
?) cfr. Wundt, Völkerpsychologie. I. 1. Leipzig 1900. S. 39.
3) cfr. Jodl a. a. O. S. 407.
4) cfr. Über Gestaltqualitäten. (Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philo-
sophie 1890. S. 249—192.)
5) cfr. Zur Theorie der Komplexionen und Relationen. (Zeitschr. f. Psychol.
u. Physiol. d. Sinnesorgane. JI. Bd. S. 245—265.)
Die ästhetischen Elementargefühle. 23
QI
markierten Örter als »fundierende Vorstellungen« und dio Quadrat-
bezw. Rechtecksvorstellung, welche dazu auftritt, als »fundierten Inhalt«
oder »Gestaltqualität« bezeichnen. Höfler ist nun der Anschauung,
dafs die »Grenze zwischen vorästhetischen und ästhetischen Gefühlen da
beginne, wo zu fundierenden Inhalten fundierte Inhalte kommen.!) Ästhe-
tisch sei also nur die Lust bezw. Unlust an fundierten Inhalten. Unser
Beispiel zeigt aber auch, dafs je nach der Eigenart der fundierten Inhalte
sich das ästhetische Gefallen steigern kann. Im vorliegenden Falle werden
Rhombus und Rhomboid ästhetisch höher bewertet als Quadrat und Rechteck,
weil ihre Bildungselemente »freier« erscheinen. Ein ähnliches Ergebnis
lieferte auch ein Versuch mit a) Schlangen-, b) Wellen-, c) Zickzack-
und d) Mäanderlinien.
Die Zahlen der Vorzugsurteile, welche auf diese Gebilde fielen, ver-
hielten sich wie 10:13:0:3. Schlangen- und Wellenlinien erhielten
den Vorzug, weil sie den Eindruck der »Freiheit« machten gegenüber
der Zickzack- und Mäanderlinie, welche »steif« erschienen. Die grölste
ästhetische Wirkung hatte jedoch die Wellenlinie. Es ist bemerkenswert,
dafs auch schon Hogarth diese Linie als »Schönheitslinie« bezeichnete.
Vielleicht ist auch die Leichtigkeit des Vollzuges der Augenmuskel-
bewegungen bei der Betrachtung der Wellenlinie (im Vergleich zur
Mäanderlinie) eine Teilursache der Bevorzugung der ersteren.
Unter den Kombinationen qualitätsverwandter Reize, welche ästhetische
Elementargefühle auslösen, verdient u. a. auch der Rhythmus hervor-
gehoben zu werden. Versuche über den Wohlgefälligkeitswert der Vers-
fülse (Trochäus, Jambus, Spondeus, Daktylus, Anagäst) ergab eine durch-
gängige Bevorzugung des Daktylus. Hiermit steht auch die Beliebtheit
des Walzertempos, des ?/, Taktes im Zusammenhang.
Versuche über den Wohlgefälligkeitswert von Farben und Farben-
zusammenstellungen, von Tönen und Tonverbindungen habe ich noch nicht
ausgeführt. Von grölstem Interesse sind in ersterer Hinsicht auch heute
noch Goethes Erörterungen über die »sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe«
(Goethes sämtl. Werke. Stuttgart 1885. Bd. 10. S. 166—194.) Goethe
sagt da u. a.: »Alle Naturen, die mit einer glücklichen Sinnlichkeit be-
gabt sind, Frauen, Kinder, sind fähig, uns lebhafte und wohl-
gefalste Bemerkungen mitzuteilen.« Die Betrachtung der Farben-
zusammenstellungen in den verschiedenen Trachten wäre gewils auch eine
dankbare Aufgabe Es ist gewils, dals vielfach Bevorzugung bezw. Ab-
lehnung von einfachen Qualitäten auf Rechnung der sogenannten Idio-
synkrasien, welche durch Vererbung, Gewöhnung und Assoziation be-
festigt sind, kommt.
Es ist ferner gewils, »dals die Grenzen dessen, was als elementar
schön gilt, je nach Individualität und Zeitstimmung sehr wechselnd sein
kann.«?2) (Jodl.) Der Satz »Schön ist, was allgemein gefällt, bezieht
1) cfr. Höflera.a. O. S. 445.
2) cfr. Schultze, Psychologie der Naturvölker. Leipzig 1900. S. 172 ff.
S. 102 ff.
236 C. Literatur.
sich nur auf eine Mehrheit einer gemeinsamen Kultur- und
Bildungsstufe angehörenden Menschen. In diesem Sinne mögen
auch die vorstehenden Betrachtungen aufgefalst werden.
C. Literatur.
Sikorsky, Prof. Dr., Die Seele des Kindes nebt kurzem Grundrils der
weiteren psychischen Evolution. Leipzig, Verlag von Johann Ambrosius
Barth, 1902. 80 S.
Der Herr Verfasser verfolgt in dieser Schrift den Zweck, »die Entwicklungs-
geschichte der Kindesseele zu entwerfen und in kurzen Zügen die weitere psy-
chische Evolution mit dem fortschreitenden Alter darzustellen.«e Er versucht es
dabei, sich an eine präzise Feststellung und Beschreibung der Tatsachen zu halten
und Abstraktionen zu vermeiden. Der Darstellung des Ganzen liegt folgende Ein-
teilung zu Grunde: I. Die Seele im ersten Kindesalter, II. Die Seele im zweiten
Kindesalter, IlI. Die Jugend, IV. Das reife Alter, V. Das Alter. Der gröfste Teil
der Schrift ist jedoch der Beschreibung des ersten Kindesalters gewidmet (S. 5—67).
Dem Gang der neuro-psychischen Entwicklung des Kindes folgend, teilt Professor
Sikorsky das erste Kindesalter in folgende Perioden ein: 1. Die Seele des neu-
geborenen Kindes, 2. Die ersten drei Monate nach der Geburt, 3. Vom vierten bis
zehnten Lebensmonat, 4. Ende des ersten und Anfang des zweiten Lebensjahres,
D. Vom zweiten bis sechsten Lebensjahr. Gestützt auf die Forschungsergebnisse
von Flechsig und Goltz schildert er die Entwicklung des kindlichen Seelenlebens,
welche der Entwicklung des Nervensystems parallel läuft. An einer Reihe von
Beispielen zeigt er, dafs das neugeborene Kind nur Geschmacks- und Geruchs-
erkenntnis besitzt. Aulserdem regen sich Unlustgefühle bei Hunger, Durst
und Ermüdung, Lustgefühle bei der Nahrungsaufnahme und im Bade. In den
ersten drei Monaten nach der Geburt entwickelt sich die taktile, optische und
akustische Erkenntnis. Der Herr Verfasser stützt sich in seinen anschaulichen,
übersichtlichen Darlegungen dieser Entwicklung auf eine Reihe von Beobachtungen,
welche er von 1875—1884 an Neugeborenen der Petersburger Eutbindungsanstalt
und an Kindern des Petersburger Findelhauses (Abteilung der ehelichen Kinder) im
ersten Kindesalter zu machen Gelegenheit hatte. Seine Beobachtungen über die
Entfaltung der optischen Erkenntnis, nämlich: 1. Starren, 2. Richten des Blicks,
3. Betrachten des Objekts, 4. Sehen in die Nähe und in die Ferne, bestätigen aufs
neue die Ergebnisse der Untersuchungen Preyers. Das erste spezielle Gefühl,
welches sich in den ersten drei Monaten regt, ist das Gefühl der Überraschung,
welches auf der Grenze zwischen Lust- und Unlustgefühlen steht. Der Herr Ver-
fasser gibt sodann betreffs der neuro-psychischen Hygiene in den ersten drei
Monaten treffliche Ratschläge, nämlich 1. sich jeder Mitwirkung an der psy-
chischen Entwicklung des Kindes zu enthalten, 2. das Kind von starken
und anhaltenden Eindrücken, die beide eine Ermüdung der Nervenapparate her-
vorrufen, zu bewahren. Auch das uuausgesetzte Verweilen der Mutter oder der
Wärterin beim Kinde wirkt ermüdend. »Wir haben uns davon überzeugt, dafs es
für das Kind von gröfstem Nutzen ist, wenn man es im wachen Zustande etwas
isoliert und sich selbst überlälst, um ihm Augenblicke der Ruhe und des völlig
C. Literatur. 937
selbständigen Verhaltens zur Aulsenwelt zu gewähren.« Dem Kinde ist 3. ge-
nügender und ruhiger Schlaf zu verschaffen.
Die Periode vom vierten bis zehnten Monat nach der Geburt betrachtet Prof.
Sikorsky als die wichtigste im ganzen Leben des Kindes. An einer
Reihe von Beobachtungen, die äufßserst instruktiv sind, zeigt er, wie der kindliche
Geist die Eindrücke aufnimmt und verarbeitet (S. 33—49). Die psychische
Tätigkeit des Kindes ist vom vierten Monat ab auf die Vereinheitlichung der Emp-
findungen gerichtet; es bilden sich eine Reihe von Grundassoziationen. Das Kind
sucht nicht allein nach Eindrücken, sondern es verweilt auch bei denselben mit
Aufmerksamkeit; aufserdem strebt es nach Verbindung und Verknüpfung
des empfangenen Eindrucks, z. B. nach Einpiägung der Töne der Glocke und
ihres Aussehens, der Farbe des Zuckers und seines Geschmacks.!) Das auffallend
übereinstimmende Schema der hauptsächlichsten Assoziationen beim Kinde in dieser
Periode bestebt darin, »dals, wenn Kinder einen Eindruck durch ein Sinnesorgan
empfangen, sie die erhaltenen Resultate mit den Wahrnehmungen eines anderen
Sinnesorgans verbinden und sich zum Schlufs minutenlangem Vergnügen oder einer
anderen Emotion hingeben, die sie meistenteils mit der Umgebung zu teilen be-
müht sind.«
In dem folgenden Lebensabschnitt (Ende des ersten und Anfang des zweiten
Jahres) entwickelt sich die Sprache des Kindes. In der Entwicklung des
Sprechens unterscheidet Prof. Sikorsky 3 Perioden: a) Periode der Erlernung der
Laute (Vorbereitungsperiode), b) das Verstehen der Wörter, c) Aussprache der
Wörter. ?)
Die Periode des kindlichen Lebens vom zweiten bis zum sechsten Lebensjahr
ist bis jetzt am wenigsten erforscht. In dieser Zeit entwickeln sich alle Seiten
des kindlichen Seelenlebens gleichmälsig. »Das wesentliche Gepräge dieser Periode
bildet die Vereinigung aller Gefühls-, Denk- und Willensprozesse zu einer ganzen
einheitlichen menschlichen Persönlichkeit.: Die Gefühle im ersten Kındesalter
werden von Prof. Sikorsky genau analysiert und auch physiologisch interpretiert.
Zu dem Gefühl der Überraschung gesellt sich die Angst, die Wut und die
Eifersucht; später erst entwickeln sich die Gefühle der Scham, der Schuld
und der Ehrfurcht. Prof. Sikorsky weist nachdrücklich darauf hin, dafs in
diesem Lebensabschnitt die Pflege der höheren Gefühle (Ehrfurcht, Geduld,
Sanftmut, Milde, Grofsmut u. s. w.) eine der wichtigsten Aufgaben der Erziehung
sei. Die einzig richtige Methode, diese Gefühle in den Kindern zu entwickeln, kann
nur in dem Beispiel der Grofsen und nicht in Predigten und Morallehren
bestehen.
An zwei interessanten Beispielen erläutert Prof. Sikorsky die Entwicklung
des kindlichen Verstandes (S. 59—61). Schr belehrend sind sodann auch seine Be-
obachtungen und Reflexionen über die Entwicklung des Willens und der Persön-
lichkeit des Kindes. Die Bedeutung des Spiels für die Entwicklung des kind-
lichen Seelenlebens wird angemessen gewertet.
Die Entwicklung des Seelenlebens im zweiten Kindesalter (7—14 J.) — unter-
schieden a) in reifere Kindheit (7—12 J.), b) in Zwischenalter (12—15 J.) —
') Die Assoziationszentren übertreffen nach Flechsig ihrem Umfange nach
beim Menschen dreimal die sensorischen Zentren.
?) Auf die Darstellung der kindlichen Sprache werden wir in einem andern
Zusammenhang noch näher eingehen.
238 C. Literatur,
skizziert Prof. Sikorsky ziemlich kurz. Dasselbe gilt auch von der Jugend (16
bis 25 J.), dem reifen Alter (26—45 J.) und dem Alter (45—X J.).
Das Büchlein ist als ein gutes Mittel der \Wegleitung allen denjenigen, welche
das Seelenleben des Kindes beobachten, bestens zu empfehlen,
Herborn. Hermann Grünewald.
Habrich, L., Seminar - Oberlehrer, Pädagogische Psychologie. II. Teil: Das
Strebevermögen. Kempten, Verlag der Jos. Köselschen Buchhandlung, 1903.
659 S. Preis broch. 4,50 M, geb. 5,50 M.
Der 1901 erschienene 1. Teil des Werkes wurde von mir im 3. Heft des
Jahrgangs 1902 unserer Zeitschrift angezeigt und beurteilt. Indem ich auf diese
Beurteilung, welche sich insonderheit auf die aristotelisch-scholastische Tendenz des
Werkes bezieht, verweise, kann ich nicht umhin, auch diesen 2. Teil trotz mancher
anfechtbaren Behauptung, die er enthält, zu empfehlen. Diese Empfehlung ist durch
den Hinweis auf die Fülle pädagogisch bedeutsamer Winke, welche das
Werk im Anschluls an die psychologischen Erörterungen bietet, zu rechtfertigen.
Der Herr Verfasser betrachtet als das oberste Ziel der Selbsterziehung und der Er-
ziehung anderer die christliche Tugend. Er knüpft daran die Behauptung:
»Darum mufs unsere Seelenlehre mit dem Wesen der Tugend, mit der christlichen
Tugendlehre übereinstimmen. Mit der modernen Seelenlehre, die so wenig sich um
christliche Tugend und Tugendlehre kümmert, oft mit ihr in Gegensatz tritt, ist da
nicht auszukommen. Sie kann nicht helfen, zur christlichen Tugend, zur christlichen
Charakterfestigkeit zu erziehen.« Der »physiologischen Psychologie« (wie etwa der-
jenigen Prof. Ziehens) gegenüber ist — nach Habrich — eine christliche Tugend-
erziehung ein Unsinn, ein Widerspruch. Ihr könne man in der Gesamtauf-
fassung des seelischen Lebens nicht folgen. Die aristotelisch -scholastische
Philosophie und Psychologie stehe dagegen mit der christlichen Tugendlehre in
voller Übereinstimmung.
Habrich unterscheidet in seinen Ausführungen nicht Psychologie, Ethik und
Metaphysik. Er hat in dieser Beziehung nicht den lateinischen Spruch beachtet:
Bene docet, qui bene distinguit. Es kann aber auch sein, dals Habrich absichtlich
sich des dialektischen Kunstgriffs der Erweiterung bediente, um mit
seinen Behauptungen recht zu behalten.
Habrich behauptet: »Mit der modernen Seelenlehre, die so wenig sich um
christliche Tugend und Tugendlehre kümmert, oft mit ihr in Gegensatz tritt, ist da
nicht auszukommen. «
Warum? 1. »Ihre meisten Vertreter lehren z. B. den sogenannten Deter-
minismus, d. h. die notwendige Bestimmtheit des menschlichen Wollens.«
2. »Die Seelenlehre lehrt mich, dafs nur ich selbst mir das Gesetz geben
dürfe, welches mein Haudeln bestimme, dafs jede Annahme eines von aulsen
kommenden Gesetzes (auch des von Gott kommenden) eine unwürdige Hetero-
nomio (Fremdgesetzgebung) sei, wie soll ich da noch dem lieben Gott gehorchen,
noch beten und handeln: »Dein Wille geschehe, wie im Himmel also auch auf
Erden ?«
Zu der ersten Begründung ist zu bemerken, dafs das Problem der Willens-
freiheit vorwiegend ein metaphysisches ist. Die physiologische Psychologie hat
mit diesem Problem zunächst nichts zu tun. Der Herr Verfasser verwirft den
Determinismus; Herbart fordert denselben als notwendig, »weil sonst von
einer geregelten Erziehung nicht die Rede sein könne, sondern alles in
C. Literatur. 939
Willkür und Zufall sich auflösen müsse.«!) Habrich erweitert den Begriff
Determinismus in ungehöriger Weise, wenn er ihn in dem Imperativ ausdrückt:
»Dein vermeintliches Tugendstreben ist Einbildung; lafs es sein, lafs dich treiben !«
Wir finden auch hier wieder das Wort Preyers bestätigt: »Wenn die Wörter
ausreichten, die klaren Begriffe klar auszudrücken, dann würde der grölste Teil der
philosophischen und theologischen Literatur nicht existieren. Er ist entstanden,
weil verschiedene Menschen mit demselben Worte nicht denselben Begriff ver-
binden, also ein Wort zur Bezeichnung verschiedener Begriffe verwendet wird, wie
vom Kinde.« Das Wort Determinismus ist eben auch eine dehnbare Hülse!
Gegen die zweite Begründung wäre folgendes einzuwenden. Zunächst gibt
die Psychologie überhaupt nicht »Gesetze, welche das Handeln bestimmen;« das
ist vielmehr Sache der Ethik. Nur die Ethik erörtert auch den Gegensatz.
zwischen autoritativen und autonomen Moralsystemen oder zwischen Hete-
ronomie und Autonomie. Herr Habrich hat also auch dem Begriff »Seelen-
lehre« eine ungebührliche Erweiterung gegeben, um seine Behauptung zu recht-
fertigen.
Ein Vertreter moderner Psychologie, den Herr Habrich zitiert, nämlich Prof.
Dr. Ziehen, erklärt aber geradezu: »Absolute ethische Gesetze darf man
von der Psychologie ebensowenig erwarten wie absolute ästhetische Gesetze. Was
würden auch dem Ethiker etwaige vom Psychologen gefundene Gesetze helfen, da
sie doch immer nur empirischen Charakter haben könnten. «°)
Die Vorwürfe, welche also Habrich der physiologischen Psychologie
macht, sind unbegründet; sie können sich höchstens auf metaphysische und
ethische Theorien beziehen.
Anzuerkennen ist es, dafs es Habrich im 2. Teil seines Werkes als eine
»seiner Hauptsorgen« betrachtete, »die Erziehung zur christlichen Tugend
psychologisch verstehen zu lehren und den Erzieher so in ihrer Hand-
habung zu unterstützene. Dals die »Psychologie der Religion« bis Jetzt noch
zu stiefmütterlich in Darstellungen der pädagogischen Psychologie behandelt wurde,
mufs wohl jeder zugeben.
Anhangsweise gibt Habrich auch noch einen kurzen Überblick über die
Entwicklung des kindlichen Geistes (S. 571—598) und cine Skizze über die päda-
gogische Pathologie. Leider ist dieser Anhang sehr oberflächlich; die Darstellung
des kindlichen Spiels zeigt u. a. geradezu eine beschämende Dürftig-
keit.°) Doch erklärt die mutmalsliche Eile bei der Abfassung die Mangelhaftig-
keit der Darstellung.
Herborn. Hermann Grünewald.
Sticker, Georg, Prof. Dr. med, Gesundheit und Erziehung. Eine Vorschule
der Ehe. 2. Aufl. Giefsen, Rickersche Buchhandlung (Alfred Töpelmann), 1903.
80. 275 8,
1) cfr. auch Drobisch, Die moralische Statistik u. s. w. 1867.
Scholten, Der freie Wille. 1874.
Hebler, Elemente einer philosophischen Freiheitslehre. 1887.
Traeger, Wille, Determinismus, Strafe. 1895.
2) cfr. Ziehen, Leitfaden der physiologischen Psychologie. Jena 1896. S. 224.
3) cfr. dagegen. Vom Spiel des Kindes v. Ufer. (Kinderfehler VII. Jahrgang.
2. Heft. S. 82 ff.)
240 C. Literatur.
Das vorliegende Buch hätte schon in seiner ersten Auflage vor zwei Jahren
von uns angezeigt werden sollen. Da dies aus einem leidigen Zufall damals nicht ge-
schehen konnte, so sei das Versäumte jetzt nachgeholt und zwar sei das Buch nicht
blofs angezeigt, sondern nachdrücklich empfohlen.
Den Inhalt der Schrift lälst der Titel einigermafsen verraten, Der Gegenstand
wird in neun Abschnitten höchst feinsinnig und klar behandelt. Aus dem Anhang
ersieht man, dafs hinter dem Wortlaute des Werkchens eine nicht unbedeutende
Gelehrsamkeit verborgen ist, die, soweit es sich um pädagogische Dinge handelt, bei
einem Mediziner wohl überraschen darf.
Elberfeld. Ufer.
Hähnel, Franziskus, Alkoholismus und Erziehung. Bibliothek für modernes
Geistesleben, Jahrgang I, Heft 5. 30 S. Ausnahmepreis 50 Pf.
Meine Stellung zu der Titelfrage ist den Lesern dieses Blattes hinreichend
bekannt und ich hoffe. dals in kurzem meine angekündigte Schrift erscheinen wird.
Anderweitige dringende Arbeiten und meine vorjährige Krankheit sind die Ursachen,
dafs es bis jetzt nicht geschehen, was ich bei dieser Gelegenheit den Lesern zur
Entschuldigung sagen möchte. Als ich meinen Vortrag über diese Frage auf dem
Verbandstage der Hilfsschulen in Kassel hielt, begegneten meinen Ausführungen
neben freudiger Zustimmung hie und da noch Kopfschütteln und leisen Spott. Der
Ernst der Frage wurde damals noch nicht begriffen. In diesen Tagen hat der Kon-
grefs gegen den Alkoholismus in Bremen, den die Tagespresse doch nicht ganz
totschweigen konnte, die Antialkoholbewegung in weite Kreise getragen, und von
Mälsiskeits- wie Enthaltsamkeitsfreunden ist das, was ich seinerzeit in Kassel sagte,
nur bestätigt worden.
lch habe damals das zum Ausdruck gebracht, worin Mäfsigkeits- und Enthalt-
samkeitsfreunde sich einig sind, und habe das zurückgedrängt, was beide trennt, und
ich halte das noch heute für das zweckmälsigste,
Hähnel ist Guttempler und stellt sich auf den Standpunkt der entschiedenen
Enthaltsamen. Als solcher vermeidet er anscheinend sorgfältig, seine Bundesgenossen,
die auch noch Temperenzbestrebungen dulden, zu erwähnen. Er hätte sonst seine
Leser auf bedeutsamere Literatur hinweisen können. Vielleicht wären ihm dann
auch noch andere erzieherische Gesichtspunkte entgegengetreten. Nichtsdestoweniger
bitton wir auch diejenigen von unseren Lesern, die nach klassischen Beispielen die
Enthaltsamen noch immer nicht für ernst nehmen, doch die Schrift als eine ernste zu
betrachten. Die Bedeutung der Enthaltsamkeit wird ihnen selbst klar werden, wenn
sie einmal auch nur vorübergehend für ein Jahr oder wenigstens für etliche Monate
versuchen, voll enthaltsam zu leben. Sie werden dann an Lebensfreude nichts ein-*
büfsen, sondern nur gewinnen, und Gesundheit und Arbeitskraft wird sich wesent-
lich steigern. Dals die Alkoholfrage eine ernste Erziehungsfrage ist, wird ihnen
dann ebenfalls klar werden. Jeder Kinder- und Volksfreund kann in der Tat die
Alkoholfrage nicht länger beiseite schieben. Für eine kurze Orientierung wie für
Werbezwecke können wir darum das Schriftchen Eltern und Lehrern nur ange-
legentlichst zur Beherzigung empfehlen. Tr.
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Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beycı & Mann) in Langensalza.
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A. Abhandlungen.
Das urnische Kind.
Von
Dr. Magnus Hirschfeld, Arzt in Charlottenburg.
Für das Angeborensein einer Eigenschaft ist es in hohem Maße
bezeichnend. wenn dieselbe, soweit «die Erinnerung reicht, nach-
weisbar ist.
Bereits V. Macsas, der große französische Psychiater, welcher
die konträre Sexualempfindung noch zu den freistesstörungen der
Entarteten zählt, sagt:!) »Sie zeigt sieh oft schon in früher Jugend
und gerade das ist charakteristisch; nichts spricht deutlicher für die
ererbte Beschaffenheit der Anomalie als ihr frühzeitiges Auftreten.«
Und zwei Jahre vorher bemerkt derselbe in einer andern Vorlesung:
»Es handelt sich bei dem Zustand, den Wesrruan konträre Sexual-
empfindung nannte und Cnarcor und ich als Verkehrung des ge-
schlechtlichen Empfindens (inversion du sens genital) beschrieben,
um ein ab ovo krankhaftes Gefühl, denn die Störung macht sich
schon in frühester Jugend, zuweilen vom fünften Jahre an geltend,
also bevor fehlerhafte Erziehung oder lasterhafte Gewohnheit den
Menschen verderben können.
Ganz vortrefflich meint auch Scrrexk-NorzisG:?) »Sehr wichtig
für die originäre Anlage zur konträren Sexualempfindung ist der
1) Psychiatrische Vorlesungen, TI./IlI. Heft, übersetzt von Möss, Leipzig,
Thieme, 1892, in der II. aus dem Jahre 1887 stammenden Verlesung S. 26 und
in der IJI. über geschlechtliche Abweichungen und Vorkehrungen im Jahre 1855.
?) Hauptwerk S. 195. Aus dem Jahre 1892.
Die Kinderfehler. VIII. Jahrgang. 16
242 A. Abhandlungen.
Nachweis, daß der weibliche Typus im männlichen Kinde schon vor
der Zeit der ersten sexualen Regungen (nicht der Pubertät)
charakterologisch sich entwickelte, und daß aus diesem weiblichen
Charakter als cine folgerichtige Teilerscheinung weibliches Geschlechts-
gefühl entstand ohne den »Zwang äußerer Verhältnisse«.
SCHRENK hielt 1592, als er dies schrieb, diesen Nachweis nicht.
erbracht, heute scheint es mir sicher zu stehen, daß der Uranier von
vornherein den Stempel seiner körperlichen und geistigen Eigen-
tümlichkeiten trägt. Seine Besonderheit ist von frühester Jugend
vorhanden, während sie unter den Geschwistern trotz gleicher Er-
ziehung und gleichen Milieus meist fehlt. Jeder Homosexuelle er-
innert sich, daß er anders war als die gewöhnlichen Knaben. Sehr
oft war ihm die Tatsache, wenn auch nicht die Ursache schon
während der Schulzeit klar. Weniger von ihm selbst, um so mehr
aber von den Angehörigen und Fernerstehenden wird in dieser
Eigenart das Mädchenhafte erkannt. Wir geben einige Urteile der
Umgebung wieder, die in größter Mannigfaltigkeit vorliegen. Ein
homosexueller Schriftsteller schreibt: »Das Wort: ‚Du wärst besser
ein Mädchen geworden‘, habe ich unendlich oft hören müssen. Als
fünfjähriger Junge nahm ich oft ein Tuch und schlug es um, so daß
es schleppte, und sagte: nun: bin ich ein Mädchen, das war mein
größtes Vergnügen. Von Knaben zog ich mich zurück, ohne aber
damals einzusehen, daß ich anders geartet war.«
Ein urmischer Chemiker, der sich noch nie in seinem Leben
betätigte, berichtet: »Ich war als Kind sehr artig und habe im Gegen-
satz zu meinen Brüdern von meinen Eltern nie Prügel bekommen,
Onanie ist mir unbekannt. Dice wilden Knabenspiele waren mir zu-
wider, ich schloß mich mit Vorliebe an Mädchen an und hatte des-
wegen viel Neckerei und Spott zu crdulden, das war mir sehr
unangenehm, doch konnte ich nicht dagegen an. Ich liebte zu nähen,
zu sticken, beim Kochen und Backen zu helfen und mich mit
Bändern wie ein kleines Mädchen zu schmücken. Es ist mir jetzt
immer schr peinlich, wenn diese Jugenderinnerungen von Angehörigen
ausgekramt werden.«
Andere Mitteilungen von Urningen lauten: »Im Kadettenkorps
hieß ich die keusche Jungfrau.« »In der Schule nannte man mich
allgemein Fräulein.«e »Als ich 13 Jahre alt war, sagte unser Haus-
arzt, ich sei kein Kerl, sondern ein hysterisches Frauenzimmer.«
»Mein Vater rief mich Wilhelmine.« »In der Tanzstunde nannten
mich die Damen: Willy mit den Mädchenaugen.« »Schon zu Hause,
wie später in der vornehmen Gesellschaft führte ich den Spitznamen:
HirscHreLv: Das urnische Kind. 243
die Baronesse.« »Wenn ich einen Stein in die Luft warf, sagten
die Jugendgespielen: »De Widdigs Jong wirft grad wie ein Mädchen.«
»Meine Mutter sagte oft von mir, er ist meine kleine Tochter.«
»Von mir und meiner ältesten Schwester hieß es stets, wir seien
verwechselt worden.«e »Mama meinte stets, meine Schwester hätte
der Junge und ich das Mädel werden sollen.«c »Als Kind schon
hieß ich Mademoiselle.« »Zu Hause nannten sie mich: der Träumer.
»Als ich klein war, kämmte man mir die Haare ins Gesicht und
freute sich: der Junge sieht wie ein kleines Mädchen aus.« »Es
wurde oft gesagt: er ist kein Junge.« »Meine Stiefmutter meinte: er
ersetzt mir mehr als eine Tochter.< Urnische Damen berichten: »So
lange ich denken kann, wurde ich boy genannt.« Eine andere:
»Schon als Kind trug ich mit Vorliebe Mütze und Stock meines
Vaters, kletterte auf die höchsten Bäume und wurde immer Junge
gerufen.«
Oft nutzen die Angehörigen die Veranlagung urnischer Kinder
in einem richtigen Gefühl aus. Die Väter fühlen sich zu wrnischen
Töchtern besonders hingezogen — man denke an das der Wirklich-
keit fein abgelauschte Verhältnis zwischen Bildhauer Kramer und
seiner Tochter Michaelina in Geruarpr Hauprvanıs »Michacl Kramer«
— die Mütter hingegen lieben besonders ihre wurnischen Söhne,
welche sie gern zu allerlei häuslichen Beschäftigungen, wie Bce-
aufsichtigung der Geschwister verwenden. Man glaube nur nicht,
daß erst durch die Erziehung diese femininen oder virilen Eigen-
schaften hervorgerufen werden, bei einem nicht urmischen Knaben
würde die Mutter überhaupt nicht solche Verwendung versuchen.
Auch hier noch zwei Beispiele: »Meine neue Mama — schreibt
W. v. S. — ließ sich die Vorzüge meiner angeborenen Mädchen-
natur wohl gefallen, ich verstand im Haushalt alles so gut, daß sie
sich um nichts zu kümmern brauchte, ihre Toiletten lagen vollendet
bereit zu jeder Gelegenheit des Tages, das Haar wurde frisiert, die
Hüte auf das modernste garniert, die Wirtschaft besorgt, Menüs
bestellt und überwacht, eigenhändig die Tafel dekoriert, und kam ich
dann zu den Gästen in den Saal, hieß es zu nicht geringem Er-
staunen der Anwesenden: »So, jetzt ist meine Tochter fertig, nun
kann der Sohn uns etwas vorsingen.« Gute Alte, ich höre sie noch
und habe sie so lich, wie ich ihr aber letztes Jahr die Augen öffnete
über die Tochterschaft ihres vermeintlichen Sohnes, litt und kämpfte
sie sehr, leider vergeblich.«
Ein junger Leutnant erzählt: »Sobald ich dem Schulzimmer ent-
flohen war, eilte ich zu meinen Freundinnen; ich galt überall bei
16*
2414 A. Abhandlungen.
Bekannten und Lehrern als ein Musterknabe. Meine Mutter liebte
es, mich zu ihren Geschäftsgängen mitzunehmen und fragte mich
dann bei Finkäufen, wie mir dieses oder jenes gefiele Bei jedem
neuen Hut, den sich meine Mutter kaufte, wurde ich als Modell ver-
wandt, das heißt mir wurden die verschiedenen Damenhüte auf den
Kopf gesetzt und der mich am besten kleidete, den erkor meine
Mutter für sich. ‚Du siehst wie ein kleines Mädchen aus‘, sagte mir
meine Mutter häufig bei der Hutprobe, ‚schade, daß du kein Mädel
geworden bist“.« Dersclbe Gewährsmann gibt noch folgende sehr be-
zeichnende Schilderung: »Mein Vater war Offizier und seinem Willen
gemäß sollten seine drei Söhne auch Offiziere werden. Ich stand im
13. Lebensjahre, als ich zum Kadettenkorps einberufen wurde. Von
meinen Vorgesetzten habe ich nur Gutes erfahren, da ich selbst ein
recht braver Schiler war und zum Tadeln wenig Veranlassung bot.
An den wilden Jugendspielen beteiligte ich mich wenig und nur
auf höheren Befehl, mein Liebstes waren Plauderstündchen mit gleich-
gesinnten Kameraden, die wilden mied ich, eines Tages aber konnte
ich die Erfahrung machen, daß ein solch’ wilder Bursche eine be-
sondere Zuneigung zu mir faßte, mich öfters mit Kleinigkeiten be-
schenkte und mir half, wo er helfen konnte, dabei bemerkte er, ich
besäße ein so ‚ätherisches Wesen‘, das gefiele ihm so, er behauptete,
ich duftete immer nach Vanille. Im Singen war ich die Säule des
Soprans, wie der Lehrer sich ausdrückte und als in der Literatur-
stunde Schillers Jungfrau von Orleans mit verteilten Rollen gelesen
wurde, und es sich um die Besetzung der Jeanne d’Arc handelte,
da war mein Lehrer keinen Augenblick im Zweifel und übertrug
dieselbe mir unter allgemeiner Akklamation der Kameraden. Von da
ab behielt ich im Korps den Titel: ‚Die Jungfrau von Orleans‘ oder
auch ‚Fräulein Johanna‘.«
Die Vorliebe der Normalsexuellen für den arnischen Mitschüler,
dessen weibliche Grundnatur sie instinktiv herausfühlen, ist sehr
charakteristisch, so berichtet cin anderer Offizier, der auf einer Ritter-
akademie erzogen wurde, daß, als er 13 Jahre alt war, fast alle
älteren Kameraden in ihn verliebt waren.
Mit der Mädchenhaftigkeit hängt es auch zusammen, daß urnische
Knaben oft eine sehr große Ähnlichkeit mit der Mutter haben, bei
manchen wird auch dic auffallende Übereinstimmung mit der Groß-
mutter hervorgehoben. Doch ist beides durchaus nicht durchgängig
der Fall, vielmehr zeigt die Erfahrung, daß ebenso wie die männ-
lichen und weiblichen auch die urnischen Kinder körperlich und
geistig unter dem Einfluß der gemischten und latenten Vererbung
HiırscHreLp: Das urnische Kind. 245
stehen. Viele scheinen in der Jugend mehr der Mutter, später mehr
dem Vater zu gleichen.
Von manchen Seiten, besonders von Tarxowsky, ist vorgeschlagen,
Knaben, welche zu weiblichen Beschäftigungen neigen, recht zu ver-
spotten, um so der Entwicklung homosexueller Triebe vorzubeugen.
Es heißt die Macht der Erziehung weit überschätzen, wenn man
annımmt, daß eine so tief in der Persönlichkeit wurzelnde Triebkraft
dadurch nennenswert beeinflußt werden könnte Wir halten diese
prophylaktische Maßnahme nicht nur für wirkungslos, sondern auch
für verhängnisvoll, weil sie geeignet ist, das ohnehin schüchterne,
empfindsame, zum Weinen geneigte urnische Kind noch zaghafter
und scheuer zu machen. Diese Kleinen spüren es instinktiv, daß
sie eigentlich weder zu den Knaben noch unter die Mädchen ge-
hören, ihr Selbstvertrauen leidet unter diesem Zwiespalt, sie nehmen
alles tiefer und ernster wie die gleichaltrigen Kameraden. Unter den
jugendlichen Selbstmördern befinden sich gewiß relativ viel umische
Knaben. Eine wohlbedachte Erziehung sollte das psychologische Er-
fassen des Kindes stets zur Grundlage haben, sie sollte individuali-
sieren, indem sie die vorhandenen guten Keime in die rechten Bahnen
leitet, die schlechten Anlagen liebevoll hemmt. Statt dessen wird in
völliger Unkenntnis der Kindesnatur von Eltern und Lehrern nur
zu oft generalisiert. Gerade die wrnische Kindesseele, welche sich
schon deutlich von der Knabenscele durch eine größere Rezeptivität,
von der Mädchenseele durch stärkere Produktivität unterscheidet,
enthält viele Keime, deren sorgsame Pflege sich außerordentlich ver-
lohnen würde.
Die meist in hohem Maße vorhandene geistige Befähigung wird
durch eine gewisse Unsicherheit und Verträumtheit, oft auch durch
Zerstreutheit infolge allzu reger Phantasie wesentlich beemträchtigt,
doch kommen die meisten recht gut in der Schule mit, cine be-
sondere Vorliebe besteht für schöngeistige Fächer, namentlich Literatur,
für Geschichte und Geographie, Musik und Zeichnen, etwas weniger
für Sprachen, dagegen zeigen sich von 100 urmischen Kindern 90
ungewöhnlich schwach für Mathematik veranlagt. Merkwürdig cr-
scheint es demgegenüber, daß von den übrig bleibenden 10°/, jedoch
4. eine weit über dem Durchschnitt stehende mathematische Be-
fühigung aufweisen. So schreibt ein urnischer Ingenieur: feh habe
auf dem Fragebogen meine geistigen Fähigkeiten als hervorragend’
bezeichnet, denn ich daf ohne Überhebung sagen, daß ich als Knabe
das Durchschnittsmaß ganz erheblich überragte. Ich war vor allen
Dingen als guter Rechner und Mathematiker bekannt und von den
246 A. Abhandlungen.
= ——— — -uaaa a Te a
Kameraden war meine Hilfe bei ihren Arbeiten stark gesucht. Vo-
kabeln lernte ich spielend leicht. Zu Hause zu arbeiten, hatte ich
überhaupt nicht nötig, ich lernte alles bei der ersten Durchnahme
in der Schule. Das sog. Präparieren und Repetieren kannte ich
überhaupt nicht, ich extemporierte stets, ob es sich um lateinische,
griechische, französische oder englische Klassiker handelte. In Mathe-
matik überraschte ich meinen Lehrer häufig durch rasche, elegante
Lösung der Konstruktionsaufgaben und fand ein großes Vergnügen
daran, meinen Lehrer selbst gelegentlich ‚hincinzulegen‘. Den Primus-
platz hatte ich bis in die oberen Klassen inne.«
Um die Reifezeit herun besteht bei urnischen Knaben oft eine
starke religiöse Schwärmerei, zum Turnen mangelt es oft an Muskel-
kraft und Mut, doch wird dieser Ausfall oft durch Geschicklichkeit,
ästhetisches Wohlgefallen an den körperlichen Übungen der Mit-
wirkenden und Eifer, es ihnen nachzutun, ausgeglichen.
Das Interesse für den Unterrichtsgegenstand steht bei vielen im
engsten Zusammenhang mit der Person des Lehrers. Die Verehrung
urnischer Knaben für manchen Lehrer, diejenige wmischer Mädchen
für bestimmte Lehrerinnen und Erzieherinnen trägt oft den Charakter
abgöttischer Schwärmerei. Daneben geht neben einer Zurückhaltung
vor den übrigen Mitschülern meist eine heftige Zuneigung zu einem
Kameraden, dessen Gesichtstypus besonders reizt; vielfach ist der-
selbe aus einer andern Klasse oder Schule. Masturbiert der urnische
Junge, was häufig der Fall ist, so geschieht es ohne oder unter Vor-
stellungen männlicher Personen: manche haben Abneigung vor soli-
tärer, dagegen Hang zu mutueller Onanie. Im Traume spielen lange
vor dem Erwachen des eigentlichen Geschlechtstriebes hübsche
Kameraden eine große Rolle. Ein Urning teilt uns mit: »Es be-
standen schon sehr frühe schwärmerische, unbewußt gleichgeschlecht-
liche Empfindungen, eine besondere Vorliebe hatte ich für schöne
Ministranten, und das schon mit $, 9 Jahren. Ich konnte mich nicht
satt an ihnen sehen, im Traume schwebten sie mir wieder und wieder
vor.< Die leidenschaftliche Zuneigung urnischer Kinder zu Personen
desselben Geschlechts ist von den kameradschaftlichen Verhältnissen
normaler Knaben, die auch oft einen erotischen Beigeschmack haben,
wesentlich verschieden, indem es sich bei letzteren oft nur um
starken Freundschaftsenthusiasmus, oft um das instinktive Heraus-
fühlen des Andersgeschlechtlichen, Mädchenhaften im Umingsknaben,
oder auch um rein onanistische Manipulationen handelt. Ich halte
dic, namentlich von Professor Dessorr vertretene Auffassung, daß der
präpubische Geschleehtstrieb undifferenziert ist, nur insofern für
HiırscureLD: Das urnische Kind. 947
richtig, als er nach der Reife erst klarer ins Bewußtsein tritt. Wie
‚ alle Geschlechtszeichen bereits vor ihrer Entfaltung latent einen be-
stimmten Charakter tragen, so auch der Trieb.
Nur so sind die vom heterosexuellen Rinde sichtlich abweichenden
Ereignisse zu verstehen, die sich im Urmingskinde abspielen, von
denen ich noch einige recht anschauliche Belege geben will; die
ersten drei Schilderungen rühren von Fdelleuten, die vierte von
einem Kaufmann her.
»1. Als Kind lebte ich in Märchenphantasien und bekam häufig
Schelte, weil ich mir mit den Spielsachen meiner Schwester lieber
zu schaffen machte als mit Peitsche, Schaukelpferd und Zinnsoldaten.
1870 — ich war S Jahr — kam ein Wirtschaftsinspektor zu uns,
der mich völlig bezauberte. Ich starrte diesen Mann bei Tische so
unablässig an, daß mein Vater mich fragte, was ich an ihm habe,
worauf ich erwiderte, sein rötlicher Bart gefiele mir über alles.
Verabschiedete sich dieser Herr am Abend von meinen Eltern, lief
ich ihm auf den Korridor des Hauses nach und erbettelte einen Kub
von ihm. Hatte ich einen solchen erlangt, drückte ich diesen Kuß
in meine Linke, ballte diese zur Faust und nahm den Kuß so mit zu
Bett, um in der Dunkelheit die Hand immer wieder zu küssen, bis
ich einschlief. Sehr liebte ich es auch, den Inspektor Sonntags in
seinem Zimmer zu besuchen und, wenn er auf dem Sopha lag, mich
neben ihm hinzustrecken.”
»2. Ich haßte Knaben und Knabenspiele, das größte Glück war
mir und meiner um 1Y, Jahre jüngeren Schwester unser gegen-
seitiges, überaus inniges Verhältnis. Wir waren beide überall die
Lieblinge, sie brünett, graziös und energisch, ich blond, sinnend,
träumerisch, am glücklichsten waren wir ohne andere Menschen.
Meine Schwester war mein alter ego, während mein 13 Jahre älterer
Bruder, ein schr schöner Mann, mein zehnjähriges, reines, unschuldiges
Herz furchtbar verwirrte. Teh habe ihn weit mehr seiner Schönheit,
als seiner guten Eigenschaften wegen angebetet. Dabei wurde ich
äußerlich immer schroffer gegen ihn. Mit 10 Jahren weinte ich eime
ganze Nacht, als ich mich in seiner, mir schaurig-süßen Gegenwart
zur Ruhe habe begeben müssen. Ich empfand ein Schangefühl, wie
ich es in Vaters, Mutters und Schwesters Gegenwart nicht kannte.
Ich erinnere mich genau, daß mir im 6. oder 7. Jahr vorübergehend
meines Bruders Schönheit wie ein geoffenbartes Mysterium durch
Mark und Bein zitterte. Klar und bewußt, natürlich als tiefstes Ge-
heinnis, zumal vor ihm, habe ich ihn vom 10.—15. Jahr angebetet,
am höchsten stand «die Verehrung vom 10.—12. Jahr, als er sich
248 A. Abhandlungen.
verheiratete. Ich war todunglücklich, daß er uns dadurch ferner
rückte, und empfand es als etwas Entsetzliches, daß er, wie ich
glaubte, nun seine Jungfräulichkeit einbüßte.«
>». Ich bin auf dem Lande unter denkbar günstigen Verhält-
nissen aufgewachsen — als achtes Kind unter 9 Geschwistern, von
denen eine Schwester früh an Scharlach starb; zwei erlagen der
Schwindsucht während ihrer Brautzeit. Erwiesenermaßen ist die
Krankheit vom Bräutigam erst auf die eine, dann auf die andere
übertragen worden. Dies sind die einzigen Fälle von Lungen-
schwindsucht, die überhaupt in unserer Familie vorgekommen. Meine
Brüder und übrigen Geschwister sind das Bild der Gesundheit — wie
ich selber. Von Kinderkrankheiten hatte ich nur Masern und Keuch-
husten, neigte aber bei den geringsten Erkältungen sehr leicht zu
Ficher, was sich aber scit meinem 10. oder 11. Jahr gänzlich ge-
geben hat.
Das Entzücken meiner Kindheit war das Puppenspiel. Mit aus-
schweifender Phantasie begabt, zeichnete und schrieb ich, so gut ich
es damals vermochte, Modejournale für meine Lieblinge. Ich erfand
zum Entsetzen meiner jüngsten Schwester, meiner Spielgefährtin, die
abnormsten Kostüme — meist Schleppgewänder aus zarten, durch-
sichtigen Stoffen und Schleiern; ich flocht das flächserne Haar zu
den abenteuerlichsten Frisuren. Ich inscenierte Tauf-, Sterbe- und
Heiratsscenen; ich hielt Reden, bei denen ich mich selber zu Tränen
rührte. Ich lernte sehr rasch und leicht, hatte aber cin schlechtes
Gedächtnis für Zahlen, während ich frühzeitig Talent und Liebe für
lebende Sprachen entwickelte, bei deren Erlernen sich mein Ge-
dächtmis stets als treu und fest erwies. Mit ziemlichem Widerwillen
dagegen betrieb ich Griechisch und Lateinisch. Mathematik ist stets
meine größte Schwäche gewesen, und bin ich darin, obgleich ich
seinerzeit die Abiturientenprüfung in allen Ehren bestanden, un-
glaublich unwissend.
Früh hatte ich cin Jeidenschaftliches Verlangen, selbst schrift-
stellerisch tätig zu sein. Mit S Jahren verfaßte ich ein Lustspiel,
das als Kuriosum noch bis heute in unserer Familie erhalten blieb.
Ohne je einen Roman gelesen zu haben, schrieb ich etwa ein halbes
Dutzend so betitelter Sachen in meinem 10. 11. und 12. Jahre. Ich
habe einiges davon aufbewahrt und lese manchmal noch mit stiller
Freude gewisse Stellen, die ich mir in absoluter Unkenntnis des
sexucllen Lebens geleistet. So lasse ich denn unter anderem ein
Paar Zwillinge über Nacht im Bett des Vaters zur Welt kommen.
Am Morgen bemerkt der Entzückte die Überraschung und beeilt sich,
HırscureLp: Das urnische Kind. 349
der ahnungslosen Mutter die Freudenbotschaft zu überbringen. Da
es mir verboten war, andere Sprachen, als die in der Schule ge-
lehrten zu betreiben, so verfaßte ich heimlich eine eigens erfundene
Sprache mit besonderen Buchstaben. Ich schrieb eine eigene Gram-
matik, in der Regeln mit den ungeheuerlichsten Ausnahmen vor-
herrschend waren; ich verfaßte Übungsbücher und Lexika. Ein
Resultat der Stunden der physikalischen Geographie waren eigens
gezeichnete, gemalte und geschriebene Karten von unseren Buchten
und inselreichen Seen, zu einer Zeit, wo ich mir das Wasser als
Land und das Land als Wasser dachte. Ja, ich schrieb sogar eine
Geschichte der damals dort lebenden Völker und deren tragischen
Untergang in Folge vulkanischer Eruptionen, welche dann die heutige
Gestalt der Erdoberfläche zur Folge hatten.
Die ersten, noch unbewußten Regungen des homosexuellen
Lebens fallen etwa ins 10. und 11. Jahr. Wir hatten einen Kutscher,
einen schönen und kräftig gebauten Menschen mit langem, dunkelen
Schnurrbart. Es machte mir stets Vergnügen, um ihn zu sein und
ihn in seinen hohen Stiefeln, Hosen und Livreerock, oder winters in
seinem russischen Schafpelz zu bewundern. Ich hatte schließlich
das unwiderstehliche Verlangen, ihn zu umarmen, da das aber schwer
anging, so schlich ich mich öfters, wenn ich ihn bei der Arbeit
wußte, in seine Wohnung, schlüpfte in seine riesigen Stiefel, hing
scinen Rock oder Pelz um mich und hatte ein Gefühl des seligsten
Wohlbehagens. Ich drückte die Kleidungsstücke fest und krampf-
haft an mich, und der Geruch der Lederstiefel und der ledernen
Hosen, welche ich auf meinem Schoß hielt und öfters an mich
drückte, verbunden mit dem Gedanken an den schönen, groß ge-
bauten Kutscher, den ich mir dachte, indem ich die Kleidungsstücke
an meinem Körper befühlte, verursachten mir heftige Erektionen, über
die ich jedesmal, ohne mir bewußt zu sein, infolge wovon sie ent-
standen, entsetzt war, da ich sie für cine krankhafte Erscheinung
hielt. — Eines Tages, nach reiflichem Hin- und Herdenken wußte
ich mit Hilfe meiner Kameraden, Knaben, die mit mir erzogen
wurden, eine Scene ins Werk zu setzen, bei welcher der Kutscher
veranlaßt wurde, mich emporzuheben. Diese Gelegenheit benutzte
ich nun, da meine Kameraden mich ihm entreißen wollten, meine
Wange an scin bärtiges Gesicht zu legen, meinen Arm um seinen
Nacken zu schlingen und meine Beine fest an seinen Körper zu
pressen. Ich schloß die Augen und spürte ein Gefühl schwindelnder
Wonne. — Im Sommer pflegten wir cin Haus am Strande zu be-
ziehen. Dicht an der Veranda, zwischen Haus und Meer, führte
250 A. Abhandlungen.
eine Straße vorbei, auf welcher zu gewissen Stunden die Strand-
gscnsdarmen vorbeipatrouillierten. — Ich fühlte. mich sofort zu den
strammen Kerlen mit hohen Stiefeln, straffer Uniform und gebräunten
Gesichtern mit flottem Schnurrbart hingezogen. Bald konzentrierte
sich all’ mein Denken auf sie. Abends im Bett, vor dem Einschlafen,
malte ich mir die ungeheuerlichsten Scenen aus: Es klopfte ans
Fenster, ich öffne neugierig. da langt plötzlich eine braune Hand,
cin Arm hinein, an dessen Ärmel ich die militärischen Aufschläge
und Knöpfe wahrnehme Ehe ich mich versche, werde ich hinaus-
gezogen. Unter dem Militärmantel geborgen, an der Brust eines
Mannes liegend, den ich fest, fest umklammere, so daß ich mein nnd
sein Herz zusammmenschlagen höre, werde ich cilenden Schrittes
davongetragen. Dazu höre ich den Säbel klirren, empfinde den
festen Tritt der derben Stiefel und den Ledergeruch, den sie aus-
strömen. In eine Hütte tief im Walde bringt mich der Gensdarm,
er legt mich in sein Bett, küßt mich und legt sich dann mir zur
Scite, ich klammere mich fest an ihn — und bin endlos glücklich,
selig. — Resultat dieser Phantasien waren die Träume, in denen
sie fortgesponnen wurden, wobei ich zum erstenmal Pollutionen hatte,
bei denen ich erwachte und entsetzt war über die merkwürdige Er-
scheinung, die ich für eine Krankheit hielt. Schließlich verspürte
ich ein riesiges Verlangen, diese Phantasie zu verwirklichen. —
Abends, wenn es bereits dämmerte, ‚versteckte ich mich im Walde
hinter einem Busch an der Straße, auf welcher der Gensdarm vorbei-
kommen mußte. Wie klopfte mein Herz, wenn ich seine Schritte
hörte. Oft ging er so nahe vorbei, daß ich nur meine Hand hätte
auszustrecken brauchen, um seine Füße zu berühren, — aber ich
tat nichts dergleichen — in einer Art Starrkrampf lag ich da, mit
geschlossenen Augen, in der Hoffnung, er würde mich entdecken,
unter seinen Mantel stecken und mit mir davongehen — wie im
Traum. Da das zu meinem unendlichen Kummer nie geschah, gab
ich den vergeblichen Versuch schließlich auf und tröstete mich in
meinen Phantasien. — Meinen Angehörigen teilte ich nie etwas von
meinen Gedanken und Gefühlen mit — nicht, weil ich etwas Un-
rechtes zu tun glaubte, aber doch wohl, weil ich mir schon damals
unwillkürlich werde bewußt gewesen sein, etwas 'zu empfinden, das
nur mir selber verständlich war. —
Ein anderes Erlebnis steht lebhaft in meiner Erinnerung. Es
ist cin wolkenloser, sonnig klarer Herbsttag. Das Getreide ist ge-
schnitten und liegt in schimmernden Garben auf dem Stoppelfelde,
Das Laub der Bäume in den Alleen und Gärten schimmert gelblich,
HirscureLp: Das urnische Kind. >51
Tam nn nn _LLU M o M
rötlich und in der Ferne, vom dunkelsten Grün bis in die hellsten
Schattierungen des Blau, dem Himmel gleich sich verlierend, die end-
losen Wälder meiner Heimat. Wir Jungens siud auf der Jagd nach
Feldmäusen, die wir unter den Getreidehaufen hervorscheuchen. Da
ein heller, schallender Ton, der mich aufhorchen macht — und in
der Richtung, wo er hergekommen, da blitzt und glitzert es. Die
Musik wird lauter — und das Blitzen und Funkeln, das auf der
Landstraße näher und näher kommt, ist ein Trupp Soldaten mit
blinkenden Säbeln und Flinten. Jetzt biegen sie von der Straße ab
und marschieren über die Wiese, die sich längs dem Felde hinzieht,
auf dem wir uns befinden. Den Soldaten voran marschiert cein
Offizier, der erste, den ich in meinem Leben geschen. — Er ist groß
und kräftig, mit blondem Schnurrbart und blauen, froh leuchtenden
Augen. Jede Bewegung an ihm ist Kraft und Leben und Freude,
als wäre er der klare, wolkenlose Himmel und die reine, köstliche
Herbstluft, die mich umgab. Es überkommt mich ein Gefühl großer
endloser Freude, ein Gefühl edler Taten- und Schaffensfreudigkeit
und zugleich eines schrecklichen und evstickenden Schnens, so dab
ich unwillkürllch die Hände cmporstrecke — und dann zu weinen
beginne — mir selber nicht bewußt, warum. —- Die andern Knaben
waren den davonmarschierenden Soldaten nachgelaufen, so war ich
unbeobachtet geblieben. — Zu Hause angekommen, erfuhr ich, dab
der Offizier unser Gast war. — Aus welcher Veranlassung sich der
kleine Trupp Soldaten damals in unsere entlegene Waldeinsamkeit
verirrt hatte, vermag ich heute nicht zu sagen. — Im Vorhause ent-
deckte ich den Mantel und Säbel des Offiziers. Ich konnte der Ver-
suchung nicht widerstehen, den Säbel zu befühlen und meinen Kopf
in den Mantel zu stecken, wobei mir, mit den peinlichsten Erektionen
verbunden, deutlich die Scene auf dem Felde vor Augen stand. —
Bei Tisch, wo ich kaum meine Augen zu erheben wagte, fesselten
die strammen Beine unseres Gastes meine Aufmerksamkeit. Ich hätte
die Beine, in der kleidsamen Uniform sitzend, umarmen und drücken
mögen. Beim Abschiede hängte mir der Offizier cin goldenes Kreuzchen,
an einer braunseidenen Schnur, um «den Hals. Ich war damals, wie
wenigstens meine älteren Geschwister behaupten, ein hübscher Junge.
— Das Geschenk machte mich selig. Man stelle sich daher meinen
Schmerz und meine Wut vor, wie meine streng orthodoxe, evangelisch-
lutherische Mutter mir verbot, das Kreuz zu tragen, weil cs eins
nach griechisch-katholischem Muster geformtes war, und es mir cin-
fach fortnahm. Ich heulte aber was half es. Noch Jahre ist der
Besitz dieses Kreuzes das höchste Ziel meiner Wünsche gewesen, ja
A. Abhandlungen.
nV
‚Qi
I IND
ich ging sogar einmal mit dem Gedanken um, den Schreibtisch meiner
Mutter zu erbrechen, um mich so in den Besitz des Heiligtums zu
bringen. Aber die Jahre vergingen. und das Kreuz ist in Vergessen-
heit geraten.
>. Mein Vater las und studierte viel, zum Landwirt war er
garnicht geeignet. Störungen liebte er garnicht. Wenn wir zu laut
wurden, und dann sein Befehl »Ruhe«e bis in die Kinderstube drang,
wurden wir vor Schreek mäuschenstill. Wir mieden die Zimmer, in
welchen er sich aufhielt, tunlichst und waren ihm eigentlich stets
merkwürdig fremd geblieben. Um mein Seclenleben hat er sich nie
recht bekümmert. Mein weibisches Wesen, meine mädchenhaften
“igenheiten entgingen selbstverständlich ihm ebensowenig wie den
andern. ‚Der Junge ist das richtige Mädel‘, äußerte er sich zu
meinem Arger oft Fremden gegenüber. Mit Zinnsoldaten spielte ich
nur, weil ich als Junge doch eigentlich mußte; das war der Beginn
meines Urningsschicksals: im Leben stets Komödie spielen zu müssen,
beständig etwas anderes vorstellen zu müssen, als man in Wirklich-
keit gern möchte. Am Hhiebsten stellten meine Schwester und ich
erwachsene Herren und Damen dar. Meiner Schwester imponierten die
schwarzen Husarenoffiziere der Garnison, die ständige Besucher
unseres gastlichen Elternhauses waren und sich manchmal auf Bällen
den Scherz machten, die kleine Dame zu einer Extratour zu enga-
gieren. Sic umgürtete sich mit einer Elle als Säbel, stülpte einen
ausrangierten, altmodischen, mütterlichen Muff auf den Kopf, machte
sich aus Blumendraht ein Monokel und stellte den Herrn Leutnant
vor. — leh entlehnte dem Wäschekasten eine gebrauchte Küchen-
schürze, die ich verkehrt umband, um die Schleppe zu markieren,
hing mir Mamas alte Mantille um und setzte den Gartenhut meiner
Schwester, dem ich durch einen Fliederzweig oder eine dem Gärtner
entwendete Rose mehr Chie zu geben suchte, kokett auf den Hinter-
kopf, um vorn Raum genug für die ‚Stirmlöckchen‘ zu haben, und
bildete mir ein, nun eine schr schöne und vornehme Dame zu sein.
‚mädiges Fräulein haben heute wieder ganz wun—der—ba—re Toilette
gemacht‘, näselte dann meine Schwester, die Hacken zusammen-
nehmend. „Ach, Herr Leutnant, es ist ja nur ein ganz einfaches
Kleid", flötete ich, meiner Meinung nach sehr distinguiert die Augen
aufschlagend, indem ich die Kattunschleppe meiner imaginären
Scidenrobe möglichst graziös aufraffte, und mir mit dem großen
Klettenblatt, welches den Fächer vorzustellen hatte, Kühlung zu-
wehte. Als ich in die Stadt zur Schule kam, fingen meine Leidens-
jahre an. Ein nieht normal veranlagtes Kind sollte man nicht nach
Hırscurkın: Das urnische Kind. 953
der Schablone erziehen. Für mich hätte ein einsichtsvoller Privat-
lehrer ein Segen sein können. Das Gymnasium, zu dessen Zierden
ich fortan zählen sollte, war für mich — in den ersten Jahren
wenigstens — einfach eine Marter. Wenn man ein kleines, schüchternes
Mädchen in eine Klasse von 40—50 wilden Jungen steckt, wird es
sich unter diesen sicher nicht behaglich fühlen, und cs hat doch
wenigstens den Vorteil voraus, gleich äußerlich als andersartig ge-
kennzeichnet zu sein. Ich arme, scheue, ländliche Mädchenseele im
Knabenkörper befand mich nun plötzlich inmitten eines halben
Hundert derber Großstadtjungen. Ich hatte große Hoffnungen auf
die Schule, angenehme Lehrer und liebe Mitschüler gesetzt; ich sollte
gräßlich enttäuscht werden. Von all’ den Jungen hätte ich nicht
einen zum Freunde haben mögen, ebenso hätte sich wohl ein jeder
von ihnen für meine Freundschaft bedankt. Wir waren gar zu ver-
schieden geartet und erzogen. Mein Lehrer war ein Mensch, der
gern durch unzarte Scherzchen über meine Zimperlichkeit den Hohn
meiner Mitschüler, die ohnedies zu Hänselcien nur zu sehr geneigt
waren, herausforderte Zimperlich war ich, das steht fest; heute muß
ich selbst darüber lachen. Als ein Beweis meiner übergroßen Scham-
haftigkeit, die vielleicht durch meine Veranlagung bedingt wurde, sei
erwähnt, daß ich es Jahre lang nicht über mich gewinnen konnte,
den gemeinsamen Abort zu benutzen. Mit einigen meiner Mit-
scnüler wurde ich genauer bekannt. Für einen schönen Polen, ein
Bild von einem Menschen, interessierte ich mich schr; er war, wenn
ich es recht bedenke, meine erste Liebe. Küssen durfte ich ihn bei
allen möglichen Anlässen ohne Auffälligkeit, da es ja bei den Polen
sehr üblich ist. Ich machte ihm kleine Geschenke, erwies ihm, so
oft es anging, Aufmerksamkeiten, um wieder geküßt zu werden; zu
meinem Leidwesen tat er es ganz leidenschaftslos. Er war jünger
als ich, und meine Klassenkollegen verdachten es mir sehr, daß ich
mit dem Jungen umging und sie vernachlässigte. Meine Neigung
war so groß, daß ich mir nichts daraus machte und die Unliebens-
würdigkeiten, die das im Gefolge hatte, willig ertrug. Er besaß die
den meisten Polen eigene obeiflächliche Liebenswürdigkeit, sehr tief
war seine Neigung zu mir nicht, es schmeichelte ihm, von dem
Schüler der oberen Klasse bevorzugt zu werden. Geschlechtliche
Annäherungen haben — weder mit ihm, noch mit andern Schülern
— stattgefunden, ich ergab mich stillen Ergüssen. Als ich meinen
Adonis nach Jahren wiedersah, hatte er viel von seiner Schönheit
eingebüßt, war ein großer Mädchenjäger geworden und litt an einer
Greschlechtskrankheit.
254 A. Abhandlungen.
Bemerkenswert ist noch ein Traum, der ganz homosexueller
Natur war, obgleich ich damals von gleichgeschlechtlicher Liebe nicht
die geringste Ahnung hatte. Dieser Traum ist für mich der untrüg-
lichste Beweis, daß mein Urningtum angeboren ist: Einer meiner
Lehrer, ein hübscher, unverheirateter Herr, war mein Ideal. Bei
ihm hatten wir Geographie und Geschichte, meine Lieblingsfächer.
Um ihm zu gefallen, bereitete ich mich für scine Stunden mit der
größten Sorgfalt vor und blieb selten eine Frage schuldig. Von ihm
träumte mir nun, und zwar so lebhaft, daß ich noch beim Aufwachen
das deutliche Gefühl davon hatte, er läge bei mir im Bett. Der
Traum war ungeheuer wollüstig und bewirkte eine Ejakulation. Ich
mußte schr oft und noch lange daran denken, sprach aber zu
niemandem davon, weil ich mich schämte. — Als ich nach dem
Abiturientenexamen bei ihm, der mir in der letzten Zeit keinen
Unterricht erteilt hatte, meine pflichtschuldige Visite machte, küßte
er mich glückwünschend und abschiednehmend auf die Stirn. Dieser
Kuß erregte mich so stark, daß ich an mich halten mußte, ihm nicht
um den Hals zu fallen. Heute bedaure ich, es nicht getan zu haben;
ich glaube, er hätte mir meine Dreistigkeit verziehen.
Die letzten Schuljahre waren besser als der unglückselige Be-
ginn. Meine Zeugnisse waren befriedigend und die Lehrer lobten
mein musterhaftes Betragen — ein Wildfang bin ich ja nie gewesen.
Während der letzten drei Jahre war ich sogar Primus und meine
Mitschüler gestanden mir aus eigenem Antrieb eine gewisse Autorität
zu. Ich konnte also sagen: ‚Ende gut, alles gut‘ Diese Vergeltung
war mir das Schicksal in Anbetracht der vielen vorherigen — ich
kann wohl sagen — unverdienten Qualen, die mir die Kindheit ver-
gifteten, schuldig. Der Eindruck, den die Leiden der Knabenzeit
auf mich machten, war so gewaltig, daß ich selbst jetzt noch, ‚im
Schwabenalter‘ bisweilen von bangen Schulträumen heimgesucht werde;
ich erwache beängstigt, um dann aufzuatmen mit dem erhebenden
Bewußtsein, daß diese Kümmernisse zum Glück längst nicht mehr
der Wirklichkeit angehören.«
Diese lebenswahren Schilderungen, herausgegriffen aus einer
größeren Anzahl ähnlicher, gewähren einen höchst wertvollen Ein-
blick in die Psychologie der urnischen Kindesseele.
In der Reifezeit zeigen sich bei urnischen Knaben und Mädchen
allerlei von der Norm abweichende Erscheinungen. Der Stimm-
wechsel tritt oft überhaupt nicht ein, manchmal orstreckt er sich
über eine lange Zeit, nicht selten macht er sich verhältnismäßig spät
mit 19 oder 20 ‚Jahren bemerkbar; sehr viele haben nach der Mu-
a.
LO
J
Ot
HiırscureLD: Das urnische Kind.
tation noch die Neigung, Sopran oder Fistelstimme zu singen, andere,
die nicht mutiert haben, sind im stande, durch methodische Übungen
ihr Organ wesentlich zu vertiefen. So berichtet W. v. S, ein ganz
hervorragender Barytonsänger (mit Tenorqualitäten): »Meine Stimme
hat nie einen merklichen Umschlag oder Übergang gehabt, mit
23 Jahren konnte ich Sopran singen und kann es noch heute
(30 Jahre). Tiefere Sprach- und Singtöne habe ich erst durch Schule
und Übung erlangt« Während die Vergrößerung der Stimmbänder
ausblieb, vergrößerten sich während der Reife um so mehr die Brüste,
die noch jetzt, wie ich mich durch Inspektion und Palpation über-
zeugte, einen vollkommen weiblichen Carakter tragen. Oft werden
junge Urninge wegen ihrer hohen hellen Stimme geneckt, so schreibt
ein urmischer Arbeiter: »Meine Stimme ist nicht gebrochen, man
nannte mich in Arbeiterkreisen wegen meiner hohen Stimme: ‚Gret-
chen‘.« Bei vielen bleibt die Stimme ohne männliche Kraft.
Urmische Mädchen bekommen zur Zeit der Pubertät oft eine
tiefere Stimmlage. Ich kenne cinen derartigen Fall, wo ein Spezial-
arzt für Halskrankheiten, weil er Kehlkopfkatarrh annahm, mehrere
Monate pinselte. Der Bartwuchs stellt sich bei urnischen Jünglingen
oft sehr spät, oft auch recht spärlich und ungleich ein. Dagegen ist
ein hie und da mit Schmerzhaftigkeit verknüpftes Anschwellen der
Brüste zur Reifezeit eine bei umischen Knaben durchaus nicht sel-
tenes Vorkommnis, während hingegen urnische Mädchen recht häufig
sehr mangelhafte Brustentwicklung darbieten. Bei urnischen Knaben
scheint mir endlich nicht selten ein besonders üppiger, an das Weib
erinnernder Wuchs der Haupthaare vorzukommen, hingegen weist die
Körperbehaarung urnischer Knaben oft feminine, die urnischer Mäd-
chen oft virile Anklänge auf. Von pathologischen Störungen findet
man bei urnischen Söhnen verhältnismäßig häufig Migräne und
Chlorose, zwei Krankeiten, von denen sonst mit Vorlicbe das weib-
liche Geschlecht heimgesucht wird.
Sind diese Zeichen auch durchaus nicht in jedem Falle nach-
weisbar und läßt sich aus ihnen auch nicht mit unbedingter Sicher-
heit homosexuelles Empfinden schließen, so wird die Diagnose im
Verein mit den vorher geschilderten Symptomen doch eine völlig
sichere.
Ich habe wiederholt bei 10- bis 14 jährigen Kindern die Diagnose
Uranismus gestellt. So konsultierte mich cine Mutter mit cinem
13jährigen Knaben, der an Migräne litt, sehr schreckhaft war und viel
weinte. Er wurde von seinen Mitschülern, an deren Treiben er sich
nicht beteiligte, viel gehänselt, war am liebsten mit einer Cousine zu-
256 B. Mitteilungen.
sammen und besaß einen Freund, den er in der Sommerfrische kennen
eclernt hatte und mit welchem er täglich korrespondierte. Er liebte
besonders Blumen und Musik, dagegen konnte er Mathematik »nicht
kapieren«. Die Untersuchung der bei großer Liebenswürdigkeit außer-
ordentlich schamhaften Knaben ergab einen noch völlig unentwickelten
(ienitalapparat, der Penis glich dem eines 4jährigen Kindes, dagegen
zeigte sich eine Beschaffenheit der mammae wie bei Mädchen im Be-
ginn der Pubertät. Ich stellte die Diagnose auf Uranismus und
klärte die Eltern entsprechend auf. In diesen und 2 ähnlichen
Fällen ist die Zeit noch zu kurz, so daß eine postpubische Bestäti-
gung ermangelt. Dagegen habe ich bei einem jetzt 1Sjährigen homo-
sexuellen Photographen bereits vor + Jahren, che derselbe entwickelt
war, Uranismus diagnostizieren können. Noch eine weitere Beob-
achtung gehört hierher. Ich erinnerte mich aus meiner Gymnasial-
zeit an einen Knaben, der von den Mitschülern »Alieze« genannt
wurde. Neben andern femininen Eigenschaften besaß er eine be-
sondere Kunstfertigkeit im Kochen und in der Verwendung von
Flicken, die er Papierpuppen sehr geschickt aufnähte. Er war der
vorjüngste von 7 Geschwistern, meistens Knaben, die alle dieselbe
strenge Erziehung genossen. Der Vater wurde, als der Sohn in
Quarta war, versetzt, und so war mir dieser Schüler entschwunden.
Bei meinem Zwischenstufen-Studium fiel er mir ein, und ich forschte
nach mehr als zwanzig Jahren, was aus ihm geworden sei. Ich eı-
fuhr, daß er Damenhutmacher geworden sei, ledig geblieben war und
seit Jahren ein anscheinend sehr ideales Verhältnis mit einem Freunde
hatte, auch lagen andere Anzeichen vor, die über seine Geschlechts-
zugchörigkeit keinen Zweifel ließen. Aus dem urnischen Kinde war
ein homosexueller Mann geworden mit derselben Naturnotwendigkeit,
mit der sich aus dem Normalkinde cin heterosexueller Mensch ent-
wickelt.
Nachschrift der Schriftleitung. »Der Mensch sieht nur,
was er weiß«, behauptet Hersart. Ich möchte hinzufügen: und was
er zu wissen glaubt, was er sich einbildet. Nun hat in dem letzten
Jahrzehnt die sexuelle Frage eine außerordentliche Rolle in der Lite-
ratur jeder Art gespielt. Es grübelt schon die Schuljugend über
Dinge, die man früher allgemein — etwa mit Ausnahme entarteter
(roßstädter — am liebsten mit Nacht und Grauen sorgsam verdeckte.
Man huldigte damals dem Sprichwort, daß man den Teufel nicht an
die Wand malen solle, sonst käme er. Jetzt ist man eher ins ent-
gegengesctzte Extrem verfallen. Ob das eine oder andere besser,
d. h. heilsamer für die Bewahrung der Jugend vor sexuellen Ab-
Innenleben der Stotterer und seine Berücksichtigung bei der Behandlung 257
wegen, ist, wage ich nicht durch eine einfache Behauptung zu ent-
scheiden. Aus meiner Erfahrung heraus möchte ich aber namentlich
jüngere Lehrer und Lehrerinnen wie übersorgsame Mütter warnen,
keine sexuellen Gespenster zu schen.
Ohne Frage sind die obigen Ausführungen des Herrn Dr. Hırsch-
FELD psychologisch interessant und beachtenswert, und wir haben
ihnen gerne Raum gegeben. Es frägt sich aber, ob alle die Er-
scheinungen unbedingt homosexuell zu deuten sind und ob mancher
haltlose Uming seine unverständigen, widernatürlichen Handlungen
nicht durch solche Ausdeutungen zu beschönigen trachtet. Tr.
DE a Ze ee Zu Zr ZW ee
B. Mitteilungen.
1. Innenleben der Stotterer und seine Berücksichtigung
bei der Behandlung.
Von Otto Legel, Uchtspringe (Altmark).
Der griechische Redner Demosthenes war, so erzählt die Ge-
schichte, bevor er vor die Öffentlichkeit trat, mit dem Stottern behaftet.
Um sich von seinem Übel zu befreien, ging er in die Einsamkeit, an den
Strand des Meeres und suchte das Toben der Brandung mit seiner Stimme
zu übertönen. Mit Hilfe dieser seiner Methode gelang cs ihm, sich von
seinem Sprachgebrechen zu befreien. So, wie cs der grolse Grieche mit
sich selbst machte, so geschieht es noch heute von vielen Therapeuten,
die stotternde Patienten behandeln.
Was Demosthenes hinausschrie über das weite Meer, können nur
langgedehnte Vokale gewesen sein, die er nach kurzem Einatmen mit
langem Ausatmen in rythmischer Weise von sich gab, die er dann mit
an- und auslautenden Konsonanten verband, zu Silben vereinigte, bis es
ihm gelang, Wörter, Sätze und Satzverbindungen fehlerfrei zu sprechen.
Hier in der Einsamkeit, wo ihn niemand sah und hörte, wo keiner über
sein (rebrechen lächelte, verschaffte er sich das Gefühl der Sicherheit in
seiner Rede, das es ihm dann ermöglichte, vor die Volksmenge zu treten
und sie durch seine Reden zu begeistern. Dieser wichtige Umstand, erst
aus der Umgebung herausgerissen und dort von der jedem Stotterer
eigenen Sprachangst befreit zu werden, verdient bei Lehrern und Ärzten,
„die sich mit der Heilung von Stotterern beschäftigen, noch mehr Bce-
achtung als er bis jetzt besitzt. Er bildet die Grundlage, auf der sich
die weitere Behandlungsmethode sicher aufbauen kann.
Es ist eine bekannte Tatsache, dals fast alle Stotterer, wenn sie
allein sind, ja manchmal auch im Verkehr mit Kameraden ohne Unter-
brechung der Rede sprechen können, also nicht stottern. Treten sie aber
Die Kinderfohler. VIII. Jahrgang. 17
258 B. Mitteilungen.
unter ibnen fremde Menschen oder in eine neue Umgebung, die be-
stimmte Anforderungen stellen, so werden sie sofort von einer wahren
Sprechangst befallen. Sie versuchen durch Bewegungen verschiedener
Muskelpartien über dieses oder jenes ihnen schwierig erscheinende Wort
hinwegzukommen; erwachsene Patienten haben es sogar zu einer ge-
wissen Fertigkeit gebracht, durch Umschreibung bestimmter Wörter mit
ihnen ungeläufigen Konsonanten ihr Ubel zu vertuschen oder mindestens
abgeschwächt erscheinen zu lassen. Andere wieder schweigen eher, als
ihrer Umgebung ihr Gebrechen zu entdecken. Hierdurch geraten sie oft
in eigenartige Situationen und müssen es sich gefallen lassen, als »dumm«
zu gelten. Und nun vergegenwärtige man sich das Innenleben der
Stotterer! Ihre Sprechangst hat, von wenigen Ausnahmen abgesehen,
ihren Grund im Verhalten der Umgebung, die meist dem Leidenden ver-
ständnislos oder gar hartherzig gegenübersteht. Jeder Stotterer ist ein
krankhafter, nervöser Mensch. Sobald sich bei einem Kinde die ersten
Anfänge des Stotterns zeigen, wird es, im vorschulpflichtigen Alter, von
den Eltern ermahnt, diese »Angewohnheit« zu lassen. Als gehorsames
Kind bemüht es sich, beim nächsten Satze das Stottern zu unterdrücken.
Es richtet seine ganze Aufmerksamkeit auf das Wort, das ihm als schwierig
erscheint, strengt sich verzweifelt an, es möglichst gut herauszubringen
und siehe da — es gelingt ihm vorbei. Die Eltern werden milsgestimmt
ob dieser »Energielosigkeit«; ihre Ermahnungen werden strenger, ja sie
verwandeln sich in unbarmherzige Schläge. In demselben Verhältnis, in
dem die Erregtheit und Strenge der Eltern sich steigert, wächst die
nervöse Angst des Kindes. Sehen die Eltern alle ihre Mittel erfolglos
an ihrem »energielosen« Kinde abprallen, so instruieren sie die Spiel-
kameraden des Kleinen, ihn zu verspotten oder gar vom fröhlichen Spiel
auszuschlielsen, wenn er stottert. Und die Kinder tun es nicht mehr wie
gern, tun sie doch den Eltern einen grolsen Gefallen, und diese ver-
sprechen sich eine erfolgreiche Wirkung ihrer Mafsnahmen. So bemächtigt
sich der armen Kranken eine grofse Scheu im Verkehr mit den Kame-
raden. Furcht, Scham, Schreck, Angst und Zorn erhöhen ihre Übel. Und
diese Menge psychischer Depressionen schadet der Charakterbildung der
Kinder ungeheuer. Sie empfinden, dafs sie ungerecht getadelt und ge-
straft werden und werden dadurch abstolsend gegen Eltern und Ge-
schwister. Das Verhalten der Spielkameraden macht sie milstrauisch
gegen jedermann, schüchtert sie ein und macht sie unentschlossen und
wankelmütig. Während der Mund anderer Kinder nie vor der Fülle der
Fragen nach ihnen neu entgegentretenden Dingen, Tätigkeiten usw. stille
steht und so dem kindlichen Geiste, dem Denken, das gerade in diesem
Alter die gröfsten Fortschritte macht, immer neue Stoffe und Anregungen
zuführt, versagen sich stotternde Kinder das Fragen; sie unterdrücken ge-
waltsam den inneren Drang nach Wissen und bleiben folgerichtig in ihrer
geistigen Ausbildung zurück. Wie unendlich grofs ist diese Gefahr! Die
Eltern ahnen nicht, wie sie ihrem unglücklichen Kinde schaden.
Nun kommt dieses pathologische Kind zur Schule. Neue ungünstige
Einwirkungen treten zu der Menge der alten hinzu. Die ganze Situation
Innenleben der Stotterer und seine Berücksichtigung bei der Behandlung. 259
erschwert dem Stotterer das Sprechen noch mehr, Die Schule stellt
höhere Anforderungen an die spontane Sprache ihrer Zöglinge, wodurch
die Koordination der Sprachbewegungen noch mehr gestört wird. Jetzt
soll das Kind vor der ganzen Klasse, unter der Aufmerksamkeit des
Lehrers und der Mitschüler sprechen. Es weils, dals es schon ım Kreise
seiner Spielgefährten nur auf Hohn und Spott stiels, sobald es den Mund
auftat, und was wird ihm nun hier widerfahren! Furcht und Scham
hindern es zu sprechen. Bringt es endlich das gütige Zureden des
Lehrers so weit, dafs das Kind einen Versuch macht, so merkt es, dafs
seine Sprache, die sonst noch annehmbar war, bedeutend schlechter ist.
Verzieht der Lehrer nur eine Miene, so tritt dem Kinde die Schamröte ins
Gesicht. Es sieht sich von den übrigen Schülern mit höhnischem Lächeln
beobachtet, und sein Seelenzustand wird noch verzweifelter. Leider be-
teiligen sich oft die Lehrer am Gespött und Gelächter der Klasse oder
sie dulden es doch, und dem Kinde wird die Schule zur Qual. Auf dem
Nachhausewege, in den Pausen verstärkt sich die Neckerei. Bald ist das
unglückliche Geschöpf unter der ganzen Schuljugend als »Stotterbock« be-
kannt. Dieser oder jener Schüler ahmt ihm alle Mitbewegungen
nach und erregt dadurch die Lachlust der übrigen, häufig zu seinem
eigenen Schaden. Es ist ja eine bekannte Tatsache, die zahlenmälsig in
statistischen Erhebungen festgelegt ist, dals sich die Zahl der Stotterer
während der Schulzeit stark vermehrt, weil einmal viele ängstliche,
schüchterne Naturen sich erst mit dem Beginn der Schulzeit zu Stotterern
herausbilden, weil zum andern aber manche dieses Übel, das sie anfangs
nur nachahmten, übernehmen. Angesichts dieser letzteren Tatsache wäre
es ein billiges Verlangen, im Interesse der Schule und noch mehr im
Hinblick auf die armen Stotterer, diese während der Dauer ihres Leidens
vom Unterrichte fern zu balten und sie einem Lehrer zur Behandlung zu
überweisen. !)
Der Leidensweg wird mit dem Aufsteigen in höhere Klassen für den
Stotterer immer dornenvoller. Zum Segen der Unglücklichen kommt es
ja oft vor, dafs dieser oder jener Lehrer darüber wacht, dafs stotternde
Kinder nicht gehänselt werden. In den höheren Klassen tritt die spontane
Sprache der Schüler mehr und mehr in den Vordergrund. Da kann man
häufig von den Lehrern die an sich ganz richtige Bemerkung hören, dals
dies oder jenes Kind um so schlechter spricht, wenn es nicht ordentlich
gelernt hat. Grundfalsch wäre es nun aber, diese Beobachtung zu ver-
allgemeinern und das Stottern als einen Prüfstein ungenügender Präparation
hinzustellen. Es gibt viele Stotterer, die durch die Bemerkung des Lehrers,
dafs sie nur stottern, wenn sie nicht ordentlich gelernt haben, ein neues
Moment der Angst zu ihrem Übel hinzubekommen und bei nächster Ge-
1) Hierbei sind jedoch zwei Fragen ernstlich zu erwägen: 1. Dice Kosten für
die private Erziehung; 2. Ob das andauernde Fernbleiben von der Schule nicht ein
zu hoher Preis ist. Hier mülste ein Ausweg gesucht werden, der auch zum Ziele
führt. (Nebenunterricht für Heilbehandlung, Fürsorge für größeren Schutz der Ge-
brechlichen in der Schule usw.) Tr.
Ä 17*
260 B. Mitteilungen.
legenheit, trotzdem sie gut antworten können und gut vorbereitet sind,
mehr als sonst stottern, nur in der Angst, dals, wenn sie jetzt stottern,
würden sie vom Lehrer als faul angesehen werden. Manche Stotterer
haben vor diesem oder jenem Menschen eine gewisse Antipathie, in deren
Folge es ihnen unmöglich wird, einen fliefsenden Satz herauszubringen.
Oft ist aber das Sprechen zuzeiten ganz gut, zu andern Zeiten geht es
wieder gar nicht, so dals mancher Lehrer ausruft: »Ja, vor ein paar
Tagen hast du’s doch gekonnt, da hast du dir Mühe gegeben. Strenge
dich nur heute auch etwas an!« Oder die Klasse verrät dem Lehrer:
»Bei Herrn N. N. spricht er ganz gut!« Der Stotterer ist eben ein
.nervöser Mensch, der in seinem Leiden unberechenbar ist.
Zu einem harten, falschen Urteil über den Fleils des Kindes kommt
der Lehrer auch häufig dadurch, dafs ein Stotterer ganz fliefsend lesen
kann. Da das Lesen eine rein mechanische Tätigkeit ist, so gelingt sie
dem Stotterer auch weit leichter als das spontane Sprechen, bei dem das
Kind seine eigenen Gedanken in kurzer Zeit in eine annehmbare Form
kleiden soll. Sie suchen in nervöser Hast nach Worten, kaum haben sie
einen passenden Ausdruck gefunden, so merken sie, dals dieser gerade
den Laut enthält, bei dem sie stottern. Sie versuchen, einen andern Aus-
druck zu finden; auch dieser gefällt ihnen nicht, sie kehren nun zum
ersten zurück und sprechen nun das Wort im sichern angstvollen Vor-
‚gefühl, dafs sie dabei stottern. Während dieser Augenblicke haben sie
alle die Sprachbewegungen mit den Sprechwerkzeugen durchprobiert, wie
man bei vielen Stotterern beobachten kann. In den oberen Klassen der
Schule werden nun auch Fragen gestellt, die an die Zöglinge eine höhere
Anforderung an ihr Denken und Wissen stellen. Für den Stotterer wächst
die Schwierigkeit des Sprecbens mit der Schwere der Frage. Kann er
eine richtige Antwort geben, so gelingt ihm das Sprechen selbstverständlich
besser, da ein hemmendes Moment beseitigt ist; zweifelt er auch nur
leise an der Richtigkeit der Antwort, so lälst die Sicherheit im Sprechen
bedentend nach, ja das Kind schweigt manchmal lieber, als den Unterrichts-
gang durch das Warten des Lehrers auf seine Antwort, die am Ende
doch falsch ist, aufzuhalten und sich einen Tadel zu verdienen. Man
kann hier füglich nicht von einem Stottern »mit Willen« reden.
Für den Schüler höherer Lehranstalten treten mit dem Beginn des
fremdsprachlichen Unterrichts neue Schwierigkeiten auf; es kommt vor, dafs
mit diesem Zeitpunkt manche Kinder mit dem Stottern beginnen. Der
Stotterer sieht sich da vor eine unüberbrückbare Kluft gestellt und seine
seelische Depression steigert sich unendlich.
Um nun eine exakte Behandlung einzuleiten, müssen die oben aus-
geführten störenden und hindernden Momente beseitigt, resp. wirkungslos
gemacht werden. Der Patient mufs herausgenommen werden aus dem
alltäglichen Kreise, er muls in die Einsamkeit, d. h. da hin, wo er un-
geniert sprechen kann, wo ihn nichts stört und ängstigt. Ihm muls die
Sprechangst genommen werden und damit alle die übrigen psychischen
Symptome. Denn diese sekundären Ursachen des Übels müssen nach
meiner Meinung erst beseitigt sein, um Hand an die primäre Wurzel des
Innenleben der Stotterer und seine Berücksichtigung bei der Behandlung, 261
Stotterns, der Übertreibung des konsonantischen Elementes der Sprache,
zu legen und die Affektion des zentralen Sprechzentrums zu beseitigen.
Dazu ist eine rationelle Behandlung nötig, die von einem mit der
Methode des Stotterns betrauten Lehrer ausgeübt, nur mit geringen Aus-
nahmen zum Ziele führt. Man mache dabei der Umgebung klar, dals die
Befreiung vom Stottern keinen Unterricht vielleicht in der „autbildung
erfordere, nein, dafs es eine Behandlung ist, dafs der Stotterer ein patho-
logischer Mensch ist, der sich wie jeder andere Patient nach vollzogener
Behandlung in einer Rekonvaleszenz befindet, natürlich auf das sprachliche
Gebiet übertragen, die ein schonendes Verhalten des Behandelten selbst
als noch mehr seiner Umgebung erfordert. Das ist meist eine ganz ver-
kannte Tatsache. Man sieht die Heilung des Stotterns als einen Unter-
richt an, der mit einer bestandenen Prüfung seinen Abschluls erreicht,
bei dem man auch an der Hand eines Lehrplanes vorgeht und vielleicht
nach dem ersten Monat der Behandlung schon ein bestimmtes Pensum
erledigt hat. Hält man vielleicht mit einem von einer Magenkrankheit
geheilten Patienten eine Prüfung ab, indem man ihm eine Portion Aal
oder anderer schwerverdaulicher Speisen vorsetzt? Nie, im Gegenteil,
man vermeidet jedes Schwerverdauliche, bis sich der Magen allmählich
an die normale Kost gewöhnt hat. Und wie häufig bei diesen neuro-
pathischen Menschen die Zeit der Rekonvaleszenz aufser acht gelassen
wird, ja sofort nach Beendigung eines Heilkursus eine von seiten der
Eltern oder Lehrer anberaumte Prüfung einsetzt, das lehrt die Tätigkeit
auf diesem Gebiete leider zu oft. Der Knabe kommt zurück aus der An-
stalt oder aus dem Kursus. Dem Vater hat die Heilung Geld gekostet;
er will nun sehen, was er für sein Geld bekommen hat. »Nun wollen
wir einmal hören, was du gelernt hast«, sagt er zu seinem Sohne, stellt
ihn vor sich hin und spricht ihm nun anfangs leichtere, dann immer
schwerere Worte vor, bis er endlich, halb froh, dafs er dem Lehrer nun
einen Wischer geben kann, halb milsgestimmt, dafs das Geld fortgeworfen
und das Übel geblieben sei, ein Wort oder einen Satz ergattert hat, bei
dem der Knabe doch noch stottert. Nun schimpft und zetert er über
den Jungen, der ihm soviel Kosten und Sorgen macht und bedenkt nicht,
' dafs der Rückfall, der nun vielleicht infolge dieser Menge und der Un-
verdaulichkeit der Kost eintritt, durch seine verkehrte, fahrlässige Handlungs-
weise verschuldet is. Und der Knabe, der nach Hause kam mit dem
felsenfesten Bewulstsein, dafs sein Übel beseitigt sei, ist niedergeschlagen
und angstvoll vor der Zukunft, die ihm nun wieder eine Kette neuer
Leiden bietet. Richtig! Er kommt am andern Tage zur Schule. »Na,
da bist du ja, Schulze! Nun wollen wir doch mal schen, was du ge-
lernt hast«, so empfängt ihn der Lehrer. Im Knaben hat die nervöse
Angst die Oberhand bekommen. Er weils ja schon, dafs er wieder stottert.
Der Lehrer fragt und fragt, und da, er schüttelt lächelnd mit dem Kopf,
»Schulze, es ist die alte Geschichte, du wirst es wohl nicht verlernen.«
Diese Worte aus dem Munde der andern Autorität brechen alle Brücken
hinter dem Knaben ab. Er sagt sich selbst: Du bist und bleibst zeit-
lebens ein Stotterer. Eine erneute Behandlung tritt in den meisten Fällen
269 B. Mitteilungen.
ee a
nicht ein. Der Knabe mufs bei Ergreifung eines Berufes mit seinem
Übel rechnen, er geht dem Fache, für das er vielleicht am geeignetesten war,
verloren und wird zu einem Erwerbszweige gezwungen, der ihm nicht
zusagt. Und unter dem Drucke seines Sprachfehlers bülst er sein Lebens-
glück ein. Wie unendlich wichtig ist darum eine rechtzeitige, sach-
gcemälse Behandlung!
Tritt bei einem Kinde das Stottern ein, so bemühen sich zumeist die
Eltern erst einmal selbst. um ihrem Kinde das Stottern »abzugewöhnen«.
Das Wort. bei dem es gestottert hat, wird ihm vorgesprochen, damit es
nun das Kind nachspricht. Die Eltern verfahren dabei sehr energisch.
Die Angst des Kindes steigert sich, die Atmungstätigkeiten werden in
ihrem regulären Verlaufe gestört, und dem Kinde wird es unmöglich, das
Wort herauszubringen. Es kommt über den Anfangslaut nicht hinweg.
Die Eltern ändern ihre Taktik; sie sagen sich: Nun, wenn das Kind den
Laut nicht kann, so müssen wir Wörter mit demselben Anlaut üben.
Das angstvolle Kind, das genau weils, welche Schwierigkeifen ihm der
Laut macht, kann natürlich keins der Wörter gut nachsprechen und prägt
sich nun ein, dals ihm der und der Laut schwer fällt, ja, von ihm gar-
nicht gesprochen werden kann. Das ist der Anfang der »Lautfurchte«.
Infolgedessen vermeidet es diese Laute und Worte mit ihren Verbindungen,
wenn das Kind nicht gerade dazu gezwungen wird. In diesem Falle
natürlich gelingt der Laut oder das Wort nie. Nun versuchen die Eltern,
dem Kinde mit besonderen »Hilfen« an die Hand zu gehen.
Sie empfehien dem Kinde, in der Meinung, dals es nicht genügend
atme und infolge davon das Wort nicht herausbringe, erst ordentlich Luft
zu holen, oder sie suggerieren ihm, dals, wenn es mit der Hand an die
Seite. an die Hosennaht klopfe oder mit dem linken Fulse stampfe, das
Wort richtig herauskäme. Der Patient hat damit die Gewilsheit, dafs es
gehen wird, das Symptom der Angst schwindet, und oft, ja fast immer
gelingt ihm die Aussprache. So entstehen die willkürlichen Bewegungen,
die oft die Sprache Stotternder begleiten und die dem Hörer ein Lächeln
abzwingen. Ist es dem Stotterer erst einmal gelungen, mit Hilfe solch
einer Mitbewegung eine Schwierigkeit zu überwinden, so sucht er neue
auf. Er wackelt, bevor er seine Rede beginnt mit dem Kopfe, zwinkert `
init den Augen, er tritt von einem auf den andern Fufs usw. Ich kannte
einen Knaben, der vor jedem Satze energisch nach der rechten Schulter
schnappte und dann den Satz flielsend sprach. Diese accessorischen Be-
wegungen sind die UHilfsbrücken, anf denen die Sprechangst abgeleitet
werder soll. Mit dem zunehmenden Alter der Kinder mehren sich selbst-
verständlich diese Mittelchen, bis sich der Patient bald nicht mehr hindurch-
findet. Sie erschweren ihm nur das Sprechen noch mehr und unter-
brechen die Kontinuität der Rede in noch stärkerem Mafse. Zu unter-
scheiden von diesen Mitbewegungen sind die eigentlichen Stotter-Be-
wegungen, die sich beim Stotterer an den Lippen, der Zunge und am
Gaumen beobachten lassen, je nach der Artikulationsstelle des zu bildenden
Lautes. Dwch die oft empfohlenen Atmungsbewegungen, die der Patient
dem Sprechen vorausgehen lassen soll, bekommt er nur noch ein Symptom
Probleme der Kindersprache. 263
mehr, das ihm Sorge bereitet. Der normalsprechende Mensch atmet un-
bewufst beim Sprechen. Der Stotterer nun soll auch noch neben der
Angst, mit der er jeden ihm schwierig erscheinenden Laut erwartet, seine
Atmung kontrollieren. Das verschlechtert nur noch seine Sprache. Und
wird er mit einer Rede, die vor jedem Satze durch ein tiefes Luft-
schöpfen unterbrochen wird, nicht ebenso bei seinen Mitmenschen auf-
fallen und nicht in gleicher Weise verspottet werden, als wenn er stottert!
Auf die Beseitigung der Sprechangst und aller willkürlichen Bewegungen
hat sich demnach die Therapie des Stotterns zuerst zu richten, dann wird
es mit Hilfe einer exakten Methode gelingen, dem Patienten die Sprache
seiner gesunden Mitmenschen zu schaffen.
2. Probleme der Kindersprache.
Von Dr. Paul Maas, Spezialarzt für Sprachstörungen in Aachen.
(Schlufs.)
Wenn nun auch die eigentlichen Worterfindungen nicht eınwandsfrei
bewiesen sind, so müssen wir dem Kinde doch eine gewisse Willkürlich-
keit in der Umformung der gegebenen Worte, in der Bevorzugung ein-
zelner Ausdrücke und in der Verbindung zu zusammengesetzten Be-
zeichnungen und zu Sätzen zugestehen, welche sogar in einzelnen Fällen
zur Bildung einer eignen Sprache führen kann. Eine solche Beobachtung
teilt C. Stumpf bezüglich seines eignen Sohnes mit, der sich durch
Nachbildung der Worte der Umgebung eine eigne Sprache schuf und die-
selbe bis zu seinem 4. Lebensjahre gebrauchte, um dann plötzlich die
Sprache der Umgebung anzunehmen. 1)
Hinsichtlich der Nachahmung der Worte der Muttersprache durch
das Kind finden sich Gegensätze, insofern einzelne Autoren diese Ver
änderungen aus einer bestimmten Gesetzmälsigkeit in der Reihenfolge
dieser Laute erklären wollen, während die Mchrzalhl dies bestreitet. Es
ist vor allem Schultze?) gewesen, der das Gesetz aufstellte, »dals die
Sprachlaute im Kindermunde in einer Reihenfolge hervorgebracht werden,
die von den mit der geringsten physiologischen Anstrengung zu stande
kommenden Lauten allmählich übergeht zu den mit grölserer und endet
bei den mit grölster physiologischer Anstrengung zu stande gebrachten
Sprachlauten.<e Bezüglich der Wortumgestaltungen nimmt er folgendes
Lautverschiebungsgesetz an: »Für den dem Kinde noch unaussprechbaren
Laut setzt dasselbe den diesem schwierigen Laute nächst verwandten mit
geringerer physiologischer Schwierigkeit sprechharen Laut und wenn es
auch diesen noch nicht zu beobachten vermag, so lälst es ihn einfach
ganz und gar weg.« Ament macht nun darauf aufmerksam, dafs die
Anschauung, die leichten Laute entständen früher, die schwierigen dagegen
1) Eigenartige sprachliche Entwicklung eines Kindes. Zeitschrift f. pädag.
Psychologie II. S. 419 ff.
?) Schultze, Die Sprache des Kindes. Kosmos IV. Jahrg. 1880.
364 B. Mitteilungen.
später, auf einer ungenauen Beobachtung beruhe. Als Kardinalbeispiel
fungierte immer das bekannte auffällig späte Auftreten der k- und g-Laute
lange nach der ersten Wortnachahmung, die oft bis ins 4. Lebensjahr
durch die t- und d-Laute ersetzt zu werden pflegen. Nun beruht aber
die Ersetzung der k- und g-Laute durch t und d zur Zeit der Nach-
ahmung von Worten der Muttersprache nicht darauf, dafs das Kind die-
selben noch nicht, sondern dafs es dieselben nicht mehr sprechen kann,
weil sie im Lautbau der ersten erlernten Wörter Schwierigkeiten be-
gegnen und deshalb bis zur Erreichung nötiger Übung geradezu wieder
verlernt werden. Das Kind kann nämlich im Lallstadium die k- und g-
Laute sehr gut sprechen, sie kommen sogar ziemlich häufig vor. Bei
dem von mir behandelten psychisch-tauben Kinde traten die k- und g-
Laute vor den t und d-Lauten spontan auf, nachdem t und d durch ent-
sprechende Handgriffe erlernt waren, wurden die k- und g-Laute wieder
vergessen und konnten eine Zeitlang in zusammengesetzten Silben nur
durch Handgrifie hervorgerufen werden. Von einer grölseren oder ge-
ringeren Schwierigkeit der einzelnen Laute kann man also nicht reden.
Ebensowenig können wir vorläufig eine bestimmte Reihenfolge in dem
Auftreten der Laute bestimmen. Die Beobachtung ergibt nun, dafs ein-
zelne Laute häufiger auftreten als andere z. B. die Lipper- und Zahn-
laute. Dies hat seinen Grund zunächst darin, dafs die Lippen durch das
Saugen vorgeübt sind und ferner darin, dals Lippenlaute am besten vom
Munde abzulesen sind, da sprechenlernende Kinder auf den Mund des
Sprechenden schauen. »Die Anschauung, dals in den Wörtern die
schwierigen Laute durch die leichtern ersetzt oder sonstwie umgangen
würden, fällt mit der Widerlegung der vorigen, dies geht übrigens auch
daraus hervor, dafs die Kinder zur gleichen Zeit einen Laut elidieren,
den sie in einem andern Worte sprechen.« Ein Kind kann z. B. Laut,
Leine usw. ganz gut sprechen, dagegen wird in klein das l durch r er-
setzt (krein) Es ist also nicht die Schwierigkeit des Lautes l an und
für sich, welche diese Wortumgestaltung hervorruft, sondern in diesem
Falle die Unfähigkeit, die Artikulationsstellen schnell hintereinander zu
wechseln. Läfst man mit einer kleinen Pause zwischen k und 1
k-lein sprechen, so gelingt dies ganz gut. Ament macht noch darauf
aufmerksam, dals die Ungeschicklichkeit der Sprachorgane allein nicht in
allen Fällen ausreicht, um die Veränderungen im Lautbau des Wortes zu
erklären, weitere Ursachen sind mangelhafte Entwicklung des Gehörorgans,
Unaufmerksamkeit, sowie nachlässige Aussprache der hochdeutschen Sprache
durch die Erwachsenen.
Das häufigere Auftreten gewisser Laute im Lallstadium erklärt
Ament aus dem Wesen des Baues der Artikulationswerkzeuge und der Art
der Lauterzeugung. Das Lallen entsteht ohne Überwachung durch den
Verstand und ohne gewollten Zweck einfach dadurch, dafs der Luftstrom
beim Passieren des Kehlkopfes und Mundes durch die Beweglichkeit
der Sprachorgane zum Tönen gebracht oder gehemmt wird. Da der Luft-
strom den Gaumen zuerst passiert, so ist hierdurch eine gewisse Bevor-
zugung der Gaumenlaute gegeben, was allerdings von den meisten Autoren
Probleme der Kindersprache. 265
übersehen wird. Die Vorübung der Lippen durch die Saugtätigkeit be-
dingt, wie schon vorhin bemerkt wurde, eine Bevorzugung der Lippen- und
Zahnlautee Dals bei der Beweglichkeit des kindlichen Artikulations-
mechanismus eine plötzliche Schliefsung und Wiederöffung irgend einer
Stelle desselben um vieles eher eintritt, als eine andauernde Verengerung,
bevorzugt die Verschlufslaute vor den Reibelauten.
Zum Schlusse wendet sich Ament gegen die Bezeichnung der Ver-
änderungen, welchen die Worte der Muttersprache im Kindermunde er-
liegen als Lautverstümmelungen, Lautverschiebungen und Verwandlungen,
Reduktion, Physiologisches Stammeln, da diese Bezeichnungen auf einer
ungenügenden Kenntnis der Detailerscheinungen beruhen. Er schlägt da-
für die Bezeichnung Wortumgestaltungen vor.
In dem folgenden Kapitel seiner Arbeit besprichtt Ament die
Meinungsverschiedenheiten in den Anschauungen über die Entstehung der
Wortbedeutungen des Kindes Man hat sich die Entstehung der Wort-
bedeutungen auch beim Kinde in der Weise gedacht, dals das Kind zu-
nächst Worte höre, die für es nur Worte ohne Bedeutung seien, andrerseits
besitze es aber vor dem Beginn des Sprechenlernens eine Fülle von Sach-
vorstellungen.. Durch Verknüpfung der Wort- und Sachvorstellungen
werden letztere nun Bedeutungsvorstellungen.!) Der Streit drehte sich
nur noch darum, wie jene Association zu stande komme, ob spontan
und unter dem Einflufs der Umgebung wie die einen, oder nur unter
dem Einfluls der Umgebung, wie die andern behaupten. Ament be-
merkt hierzu, dafs in der Erscheinung der Association zwei gesonderte
Momente enthalten sind: die Fähigkeit zur Association an sich und die
Ursache des Entstehens der Association im einzelnen Fall. Dafs die
Fähigkeit zur Association an sich im Kinde angeboren liege, vedarf
keiner Erörterung. Es handelt sich also nur noch darum, die Ursache
der Association im einzelnen Falle festzustellen. Ament ist der Ansicht,
dafs das Kind spontan Vorstellungen associieren kann, ohne dafs die Um-
gebung vermittels hinweisender Gebärde usw. deren Nebeneinander und
Nacheinander vermittle. Auch in diesem Punkte wird man Ament
recht geben können. Wenn das Kind z. B. seinem Unlustgefühl durch
den Laut mammam Ausdruck verleiht und die Umgebung seine gute
Laune durch Darreichen von irgendwelchen Gegenständen z. B. Brezel-
stücken wiederherzustellen sucht, so kann sich die Vorstellung von einem
befriedigten Bedürfnisse mit dem Lallworte mammanı spontan ohne be-
sondern Hinweis der Umgebung associieren, so dafs später Unlustgefühle
diesen Laut reproduzieren. Ament untersucht nun noch die Frage, ob
die die Wortbedeutungen repräsentierenden Associationen als Begriffe auf-
zufassen seien oder ob man unter Begriffen nur, wie dies B. Erdmann?)
verlangt, die wissenschaftlich festgestellten Wortbedeutungen verstehen
1) Vergl. Ament, Entwicklung von Sprechen und Denken beim Kinde S. 29 ff.
und Meumann |]. c. S. 15 ff.
2» B. Erdmann, Die psychologischen Grundlagen der Beziehung zwischen
Denken und Sprechen. Archiv f. systemat. Philosophie II., IH. und VII. Bd.
266 B. Mitteilungen.
solle. Er glaubt die Frage zu Gunsten jeglicher Wortbedeutung, also auch
der ersten Wortbedeutungen des Kindes beantworten zu müssen, weil
zwischen den Denkprozessen des Kindes und den logischen des Gelehrten
nur graduelle Unterschiede beständen. »Die Denkprozesse, die wir im
Kinde wahrnehmen, sind wirklich die nämlichen, welche wir beim Er-
wachsenen begriffliche nennen, die Umfangserweiterungen des Kindes die
nämlichen, die wir auch in der Logik zu behandeln gewohnt
sind.« Die ursprünglichen Wortbedeutungen des Kindes bezeichnet er als
»Urbegriffe« und charakterisiert sie als die Bedeutung eines Wortes,
welches mit einer undiflferenzierten Vorstellung verknüpft ist. Hiermit
wäre also die Frage nach der Entstehung der ersten begrifflichen Wort-
bedeutungen des Kindes gelöst.
Dies ist aber keineswegs der Fall. Meumann hat nämlich in der
schon mehrfach zitierten Arbeit nachgewiesen, dafs das Schema — Ent-
stehung der Wortbedeutung durch Association von Sach- und Wortvor-
stellung, welches zwar für die Wortbedeutungen des Erwachsenen passe,
nicht ohne weiteres auf die ersten Wortbedeutungen des Kindes zu über-
tiagen sei. Das Kind associiert bei den ersten Anfängen des Sprechens
keineswegs Wort- und Sachvorstellungen, sondern die ersten Wortbedeutungen
des Kindes sind Wunschwörter. »Sie bezeichnen Wünsche, Begeiirungen,
etwas haben wollen, Abneigungen, Neigungen und gemütliche Erregungen
jeder Art, aber nicht Gegenstände an und für sich. Aments eigne Be-
obachtungen bestätigen die Richtigkeit dieser Ansicht, nur sind die Be-
obachtungen von ihm falsch gedeutet worden. Er berichtet!) 206. Tg.
Luise sprach das Lallwort mammamm (ohne Bedeutung). 354. Tg. Sie
gebraucht es zum ersten Male für Objekte, nämlich Brot- und Bretzel-
stückchen und rief es ihrer Schwester Daisy einmal entgegen, die ihr oft
deren schenkte. 513. Tg. Alle Speisen und Getränke heilsen mammamm.
517. Tg. Als ihr Spielzeug gefallen war und ihre Schwester Irma es
aufheben wollte, rief sic unwillig mammamm. 528. Tg. Sie verlangte
damit ıhr Abendessen. 537. Tg. Brot, Fleisch, Gemüse, Suppe, Milch
bezeichnet sie mit diesem Wort. Personen seit dem 354. Tag nicht wieder.
Ilieraus geht zur Genüge hervor, dafs das Lällwort nur Wünsche
und Interesse an den Gegenständen ausdrückt. Durch diese Erklärung der
ersten Wortbedeutungen als Wunsch- bezüg!l. Affektworte verschwindet
auch »die logisch hegrilfliche Allgemeinheit«, »die echten Umfangs-
erweiterungen« der ersten Worte des Kindes, worauf Ament die begriff-
liche Auffassung stützt. Es werden nämlich nicht verschiedene Gegen-
stände mit demselben Wort bezeichnet, sondern cs ist immer nur der Aus-
druck des Wunsches oder des Interesses, der geäulsert wird.
Meumann hat aber auch weiter nachgewiesen, dafs nicht nur den
Wunschwörtern des Kindes, sondern auch den ersten Worten, welche schon
eine gegenständliche Bedeutung zeigen, der begriffliche Charakter fehlt
und dafs erst auf einer spätern Stufe der Sprachentwicklung aus den an-
fangs associativ gebildeten Wortbedeutungen die eigentlichen Begriffe ent-
1) Ament, Entwicklung von Denken und Sprechen beim Kinde. S. 77.
Probleme der Kindersprache. 267
stehen. Er erläutert den Vorgang, wie die associativen Wortbedautungen
des Kindes sich bilden, an mehreren Beispielen, von denen ich eins an-
führen möchte. »Ein Kind, welches zu sprechen anfing, sah und hörte
eine Ente auf dem Wasser und sagte kuak. Darauf nannte cs einerseits
alle Vögel und Insekten, andrerseits alle Flüssigkeiten kuak. Endlich
nannte es auch alle Münzen kuak, nachdem es einen Adler auf einem
Geldstück (Sous) gesehen hatte. Es bezeichnete also mit demselben Worte
so verschiedenartige Gegenstände, wie die Münze, die Fliege und den
Wein. Preyer, der dieses Beispiel nach Romanes zitieıt, hat dies
ebenso wie Ament als eine allmähliche \Verallgemeinerung gedeutet.
Meumann macht nun darauf aufmerksam, dals wir hier zwei Stadien
der Wortbildung trennen müssen. »Zunächst die Ausdehnung des Wortes
kuak von den Vögeln auf die Münze; diese ist nichts anderes als associa-
tive Übertragung durch Simultaneität und zeigt die reine Wirksamkeit der
Association. Sie folgt dem Schema, was bei Gelegenheit des Aktes der
Benennung gleichzeitig in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit fällt, das
associiert sich mit der Benennung und wird in die Wortbedeutung mit
aufgenommen. Hier haben wir zugleich ein besonders deutliches Beispiel
von dem völlig alogischen, rein associativen Charakter der kindlichen Be-
deutungsbildung, denn die Münze wird wirklich als neuer Wortinhait auf-
genommen, aber die Verschiedenartigkeit der bezeichneten Gegenstände
(Münze und Vogel) lälst keinen Zweifel darüber aufkommen, dals das
Kind sie in keiner Weise als eine gemeinsame Klasse von Dingen anf-
falst.. Der Wortinhalt wird einfach in so naiver Weise bereichert, weil
dem Kinde das Bewufstsein noch völlig fehlt, dafs ein Wortinhalt eine
logische Einheit zusammengehöriger Merkmale sein soll, welche durch
logische Synthese und nicht durch das Spiel der Association zu stande
kommen muls. Es ist infolgedessen ganz unmöglich, diesen Prozels als
ə Verallgemeinerung« eines Begriffes oder Wortes zu bezeichnen. Es
handelt sich weder um Verallgemeinerung, noch um einen Begriff und
ebenso nicht um eine Wortverallgemeinerung. Es ist associative Über-
tragung eines Wortes auf einen ganz neuen Inhalt, die mit dem, was man
gewöhnlich unter Verallgemeincrung versteht, nichts gemein hat. Der
Anschein der Verallgemeinerung besteht nur für den Erwachsenen, der
die ın Wahrheit wirksamen Prozesse nicht kennt. Etwas anders steht die
Sache bei den zuerst genannten Objekten, den Insekten und den Flüssig-
keiten. Der Prozels ist hier dieser, dafs das Kind sein Wort kuak erworben
hat bei einer bestimmten Wahrnehmung, als es diese bestimmte Ente auf
dem Wasser sah. Wenn überhaupt eine Analyse dieses Gesamteindruckes
‚>Ente auf dem Wasser« stattgefunden hat, so enthält sie nur diese beiden
»Merkmale« fliegendes oder geflügeltes Tier und Flüssigkeit. Diese sind
ferner offenbar keine eigentlichen »Merkmale«. Das Kind verrät vielmehr
durch die unbekümmerte Art und Weise, wie das Wort verwendet wird,
überall, wo etwas der Ente und dem Wasser nur entfernt ähnliches wieder-
kehrt, dals sie nichts von dem Charakter jener bestimmt begrenzten Merk-
male der Begriffe des Erwachsenen an sich tragen. Sie sind als die beiden
Seiten der Gesamtwahrnehmung aufzufassen, welche dem Kind besonders
268 B. Mitteilungen.
aufgefallen sind und welche sich mit dem Namen associiert haben. Überall
nun, wo diese beiden Bestandteile eines Wahrnehmungsobjektes wieder-
kehren, wirken sie reproduzierend auf die associierte Benennung. Es be-
tätigt sich hierbei jenes Gesetz der Ähnlichkeitsassociation, nach welchem
auf Grund der Association eines Eindrucks A mit einer Vorstellung B.
auch jeder dem A ähnliche Eindruck die Vorstellung B reproduzieren
kann. Dasjenige, was hierbei benannt wird, sind also gar nicht die ver-
schiedenartigen Dinge (etwa die sämtlichen Insekten oder Wein, Wasser,
Teich und Bach), sondern nur jene Seiten oder Bestandteile der Gesamt-
wahrnehmung, mit welchen der Name kuak associiert ist. Man sieht nun
leicht, wodurch der Schein jener Allgemeinheit des Wortes entsteht. Er
entsteht dadurch, dafs der Erwachsene nicht weils, was von dem Kinde
eigentlich benannt wird. Das Kind benennt die immer gleichen oder an-
nähcınd gleichen Bestandteile des Eindrucks, welche die Wortreproduktion
veranlassen. Der Erwachsene schiebt ihm unter, dafs es die ihm be-
kannten Dinge mit der Fülle ihrer verschiedenen Eigenschaften benennt.«
Die eigentliche Begrifisbildung kommt nach Meumann erst viel
später teils unter dem Einflufs der zunehmenden Intelligenz, teils auf
Grund des Unterrichts zu stande. Es würde zu weit führen, an dieser
Stelle hierauf näher einzugehen. Im letzten Kapitel seiner Arbeit bespricht
Ament noch das Verhältnis des biogenetischen Grundgesetzes zur Ent-
wicklung der Sprache. lläckel hat bekanntlich das Gesetz aufgestellt,
dals die ontogenetische Entwicklung eine kurze Wiederholung der phylo-
genetischen sei und man hat nun dieses für die körperliche Entwicklung
angenommene Gesetz auch auf die geistige Entwicklung zu übertragen ge-
sucht. Tatsächlich zeigen sich zwischen der Sprache des Kindes und der
einfacher ungebildeter Völker so viele Analogien, dafs wir vielleicht be-
rechtigt sind, in der Sprachentwicklung des Kindes eine kurze Wieder-
holung der Entwicklung der menschlichen Sprache überhaupt anzunehmen.
3. Auswahl von Schülern für die Hilfsschulen.
Von 1lilfsschullehrer Michael in Potsdam.
Für die Auswahl von Hilfsschülern wurden den hiesigen sieben-
stufigen Gemeindeschulen von mir folgende Gesichtspunkte empfohlen:
In die llilfsschule gehören in erster Linie die schwachsinnigen
Schüler. Dieselben sind leicht herauszufinden; denn sie zeigen
1. anatomische Verbildungen; Näheres s. Dr. Koch, Psychopath.
2. funktionelle Anomalien; Minderwertigkeiten
3. eine blöde Physiognomie;
4. bedeutende Willensschwäche;
5. läppisch-kindisches Benehmen ;
6. geistige Stumpfheit;
aulserordentlich engen Gedankenkreis ;
S. mangelndes Gedächtnis;
Auswahl von Schülern für die Hilfsschulen. 209
9. Leistungen, welche besonders im Rechnen ungenügende sind und
nach 2jährigem Schulbesuch nur in seltenen Ausnahmefällen dem Zahlen-
kreis 1—5 genügen.
10. Ein Vergleich mit Idioten wird in dem einen oder andern Punkte
sich aufdrängen.
In zweiter Linie sind aufzunehmen die sogenannten »Schwach-
begabten«, welche im günstigsten Falle immer noch unter der Linie
normaler Leistungsfähigkeit stehen, deren Scheidung von den als schwach-
begabte Gemeindeschüler in den Normalenklassen verbleibenden Kameraden
Schwierigkeiten begegnen kann.
Als normal sieht die Behörde (bei den örtlichen siebenstufigen
Schulsystemen) noch diejenigen Schüler an, welche innerhalb acht Jahren
das Pensum von vier Klassen bewältigen, zu jedem also % Jahre
brauchen.!) Das Pensum der Hilfsschule ist im wesentlichen dem der
drei untersten Gemeindeschulklassen entnommen; auf ein Jahrespensum
von dort entfallen also hier rund 3 Jahre. Mithin wird nach 2 Schul-
jahren die Scheidung in Gemeinde- und Hilfsschüler in der erfolgreichen
Versetzungsprüfung auf der einen, in der erfolglosen Prüfung auf der
andern Seite eine greifbare Gestalt gewinnen.
Aber noch ein zweites, wichtigeres Moment.
Die meisten Schüler haben zu genanntem Zeitpunkt das achte Lebens-
jahr vollendet. Die voraufgegangenen Schuljahre haben Gelegenheit ge-
geben, zu beobachten, ob und inwieweit rückständige Entwicklung aus der
vorschulpflichtigen Zeit sich ausgeglichen hat. Diese Beobachtungen zu-
sammen mit den Prüfungsergebnissen können zu einer verhältnismälsig
sichern Schätzung der künftigen geistigen Arbeits-Mittel führen,
und darin liegt der Kern alles Erfragens. — Die Schätzung der
künftigen Mittel, das mufls das Ausschlaggebende sein,
schlielslich auch einmal im Widerspruch mit den Versetzungsarbeiten am
Ende des 2. Schuljahres. (Letztere kommen z. B. wenig oder garnicht in
Betracht, wenn ein »noch« normaler Schüler die letzten 3 Monate vor
der Prüfung fehlte.)
Zuverlässig wird das Urteil des Klassenlehrers erst, wenn derselbe
sich mit den Eltern der — ein oder zwei —- schwachen Zöglinge in Ver-
bindung setzt, um ein umfassendes Bild der geistigen und
körperlichen Entwicklung von der ersten Jugend an zu ge-
winnen. Geforscht muls werden:
1. nach etwa vererbter Geistesschwäche (Eltern machen gern Aus-
flüchte; sagen »Zahnziehen« und »unglückliches Fallen« statt »Alkoho-
lismus !«);
2. nach vererbter Schwindsuchtsanlage;
3. nach dem Verlauf von Krankheiten, die häufig eine Schwächung
des Gehirns zur Folge haben (Typhus, Gehirnentzündung);
') Dann sind alle, die in einem Jahre das Pensum regelmäßig erledigen,
abnorme, ebenso auch die Lehrpläne der Schulen. Tr.
B. Mitteilungen.
[Y
=~]
©
—
4. nach solchen Krankheiten, wo dies auch leicht geschehen kann
(Scharlach, Diphterie, Rachitis) ;
5. nach Krankheitsrzuständen, welche oft auftreten oder länger an-
dauernd das Lernen behindern (Schwindel, schmerzhafte Ohrenleiden,
Schwerhörigkeit, ganz besonders aber Wucherungen im Nasen-
rachenraum).
Daneben fallen ins Gewicht als äu[sere Faktoren:
1. ungeregelter Schulbesuch ;
2, Überbürdung durch häusliche Inanspruchnahme ;
Mangel an körperlicher Pflege,
. an Beaufsichtigung,
an Hilfe bei der Schularbeit,
an anregendem Umgang.
Eine zuletzt an der Hilfsschule vorzunehmende Prüfung der vor-
geschlagenen Kinder ist notwendig, weil die Beurteilungsmalsstäbe an den
verschiedenen Gemeindeschulen nicht die gleichen sind und weil auch
eine vorgeschriebene Klassenfrequenz berücksichtigt werden muls. Die
Hilfsschullehrer führen das methodische Examen aus, welches für die
Aufnahme entscheidet und dem Schularzt liegt danach die
körperliche Untersuchung ob.
Wichtig ist alsdann die Führung der Personalbogen.
Die Eintragungen in die Personalbogen erfolgen neuerdings nach
folgender Gruppierung: |
nm
I. Kreis
2. b. C.
1. Krankheiten. E 1. Schulbesuch.
2, körperl. Entwicklung. ($es0nd. rnährung, 2. Pünktlichkeit
| Beaufsicht., Hilfe).
organ. u.funkt.
en stungen stungen,
Störungen). 5 5
II. Kreis
a. b. C. d.
1; un Haltung. Betragen (besonders | Temiluse Sittl. a
= Dr 2 gegen Lehrer, , 1. Interesse, Auf- dessen Reife en e),
Sauberkeit Schüler, und auf merksamkeit. (? Inwiefern aia
(besonders Kleider Schulweg) 9 Häusl. Fleifs. | Herrschaft des
u. Bücher). a l | sittlichen Willens.)
III. Kreis IV. Kreis
a. b. c. d. a. b. C.
| praca Münd- | Schrift-
Apper- Go- Denk- | Sao Fort- liche liche
| (? besonders schritte. Te: lei
|
|
zeption. | dächtnis. | vermögen.
l
L
I
=]
ji
Medizin und Pädagogik. 9
Es sind vier Kreise, in deren Mittelpunkten stehen: I. das Eltern-
haus, von dem für den Schüler gewünscht wird Pflege und Zucht; II. der
Schüler selbst, der alle Anforderungen in der einen erfüllt: sittlicher
Charakterstärke; III. die Natur, welche die Anlagen spendet; IV. die
Schule (Lehrer) mit fördersamem Unterricht.
Gegenüber den in den Schulen für normale Kinder üblichen Zensur-
büchern markiert das Schema besonders in Nr. I und II dentlich:
Die in den Vordergrund tretende hygienische Sorge der Hilfsschule,
sowie ihr eigentliches Wesen als Erziehungsheim.
4. Medizin und Pädagogik.
Von J. Trüper.
Unsere Zeitschrift wie unser Verein für Kinderforschung sind mit der
nachdrücklich ausgesprochenen Einsicht ins Leben gerufen worden, dals
die Lehrer allein — ebenso wie die Ärzte, die Geistlichen, die Juristen
usw. allein — unfähig sind, die Kindheit und Jugend allseitig zu begreifen und
in der bestmöglichen Weise alle ihre Kräfte und Anlagen harmonisch zu
entfalten, dafs vielmehr verschiedene Wissenschaften und verschiedene Be-
rufsstände hier gemeinsam zu raten wie zu taten haben. Koch, der Psy-
chiater, Zimmer, der Theologe, Ufer als Leiter einer Schule für Nor-
male, ich als solcher für Abnorme haben das in einem ausführlichen Pro-
gramme entwickelt und wir sind bis heute in jeder Beziehung unsern
Grundsätzen getreu geblieben. Diese Grundsätze hat auf meine Anregung
hin dann auch Prof. Rein für sein »Encyklopädisches Handbuch
der Pädagogik«, das bereits in 2. Auflage erscheint,!) übernommen.
Es ist die erste pädagogische Encyklopädie, welche in umfangreicher
Weise Mediziner als Mitarbeiter hat. Koch und ich haben in voller Har-
monie daselbst das Zusammenwirken von Medizin und Pädagogik in einem
Doppelartikel näher dargelegt. Unter andern hat Prof. Ziehen zahllose
Artikel für diese Encyklopädie geschrieben und sie unter der Leitung
eines Pädagogen veröffentlicht, ohne es »unter seiner Standeswürde zu
findene. Ziehen folgte dann selbst diesem Beispiel und begründete mit
Prof. Schiller die »Sammlung von Abhandlungen usw.«.
Und wie auf theoretischem Gebiete so hat sich auch auf praktischem
Gebiete überall das korporative Zusammenwirken als das segensreichste
erwiesen, namentlich in der Fürsorge für Abnorme. Geistliche und Lehrer
waren es vor allem und zuerst, welche aus freier Neigung und ohne Ge-
schrei nach staatlichen Titeln, Besoldungen, Pensionen usw. durch Grün-
dung von Schulen und Anstalten für Verwahrloste (ethisch Albnorme),
Blöde, Schwachbefähigte, Epileptische usw. sich dieser Armen annahmen,
und Ärzte übernahmen willig die für sie notwendigen Dienstleistungen.
1) W. Rein, Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik. 10 Dände, à Band
elegant gebunden Preis 17 M 50 Pf.
—
9792 B. Mitteilungen.
Später folgten auch Ärzte jenen Beispielen und Geistliche und Lekrer
traten helfend zur Seite.
Dals in beiden Fällen es nicht überall so war, wie es nach dem
Stande der Wissenschaft sein könnte, ist schon deswegen begreiflich, weil
die Mittel fehlten. Aber auch mit denselben Mitteln lielse sich oft weit
Besseres erreichen, wenn die Einsicht sich bessern wollte. Um hier
nach Kräften zu helfen, gründeten wir unsere Zeitschrift. Pädagogik und
Medizin sollten einander durchdringen und befruchten.
Für die Erziehung der Epileptischen und Idioten war das ja schon
längst vor uns als ein notwendiges Bedürfnis erkannt worden, wie die
Konferenz für Idiotenwesen und die von Schröter und Wildermuth heraus-
gegebene »Zeitschrift für die Behandlung Sch wachsinniger und
Epileptischer« beweist. Aber wir wollten vorrücken mit dieser Frage
bis an die Grenze voller Normalität, also auch hinein in die öffentlichen
Schulen höherer wie niederer Art.
Was wir hier erreicht haben, inwieweit unsere Bestrebungen ein
Segen geworden sind, das wissen unscre Leser besser als wir. Wir
könnten das ja durch manche anerkennende Zuschrift von gebildeten Eltern
und — Medizinern dartun. Aber wir arbeiten nicht um der Anerkennung
willen und weisen nur zur Abwehr auf diese Tatsachen hin.
Inzwischen kam Mariaberg. Aber anstatt dafs man mutig den Sturm-
lauf gegen Rom, das für solche Zustände verantwortlich ist, wagte, ver-
suchten einige Mediziner, die deutsche Pädagogik mit solchen Zuständen
zu belasten und die Frage des Dienens einer guten Sache zu einer Frage
des Herrschens über einen andern Stand zu machen.
Hiergegen habe ich mich wiederholt frei, öffentlich und namentlich
gewandt. Zuletzt in den Artikeln: Ȇber das Zusammenwirken von
Medizin und Pädagogik bei der Fürsorge für unsere abnormen
Kinder« (Jahrg. 1902, Heft I u. II).
Leider sehen wir uns veranlalst, aufs neue zur Abwehr, aber
hoffentlich damit wohl auch zur Förderung weiteren Zusammenwirkens
aller derer, denen die Sache und nicht das Standesinteresse in erster
Linie steht, das Wort zu nchmen.
Was sachlicher Art ist, werden wir sachlich widerlegen, was anderer
Art ist, dieser Art entsprechend zurückweisen.
I.
»Im Vereinsblatt der Pfälzischen Ärzte« vom Mai 1903 ver-
öffentlicht Dr. Bernhart, Arzt der Irrenabteilung der Kreis-Kranken-
und Pflege-Anstalt der Pfalz, einen sachlich gehaltenen Artikel über
»Medizin und Pädagogik in der Idioten-Anstalt«.
Ich teile ihn, weil er sachlich ist, ganz im Wortlaut mit und werde
dann meine Gegenbemerkungen in Fulsnoten direkt beifügen. Sollte das
der »wissenschaftlichen Gepflogenheit« wieder nicht entsprechen, dann
jedenfalls doch der sittlichen Forderung, mit Fleils sich zu bemühen,
dals auch der Gegner unmilsverständlich zu Worte komme, damit man
ihm gerecht werde. Im übrigen aber hoffe ich, dafs meine Gegen-
Medizin und Pädagogik. 273
bemerkungen zu einer Verständigung mit Herrn Dr. Bernhart führen
werden, wie wir sie suchen. Der Artikel lautet:
»Bis vor nicht allzulanger Zeit huldigte die deutsche Psychiatrie fast
durchweg der Anschauung, dafs der Arzt in der Idiotenanstalt eigentlich
recht wenig zu suchen hat!) und deren Leitung ohne ernstere Bedenken
andern Berufen überlassen kann.?) Noch im Jahre 1891 sprach sich
Pellmann, Professor der Psychiatrie zu Bonn, in seiner Vorrede zu der
Übersetzung von Solliers Werk »Der Idiot und der Imbecille« folgender-
malsen aus: »Darüber kann am Ende ein Zweifel nicht bestehen, dafs die
heilende Tätigkeit des Arztes auf diesem Gebiete keinen Boden findet und
in dieser Beziehung zwischen Idiotie und Geistesstörung ein durchgreifender
Unterschied besteht. Was uns bei Idioten als die pathologische Grund-
lage ihres Leidens entgegentritt, das sind die Residuen längst abge-
laufener Krankheitsprozesse, und diese können wir durch keine ärztliche
Kunst mehr beseitigen. Die geistige Schwäche, die ihren Grund in der
angeborenen oder in den ersten Kinderjahren erworbenen Gehirnkrankheit
hat, ist einer Heilung nicht mehr fähig und die Aufgabe des Arztes kann
daher eine nur wenig lohnende sein. Etwas besser liegt es auf dem Ge-
biete der Erziehung, und wenn sich der Schwerpunkt der Idiotenpflege
bei uns mehr dieser Richtung zugewandt hat, und die Idiotenanstalten
meist unter Leitung von Pädagogen oder Geistlichen stehen, so ist da-
gegen nichts zu erwidern: als dafs die wissenschaftliche Erforschung der
pathologischen Grundzustände und des Wesens der Erkrankung selbst
darunter selbstverständlich zurückstehen mulste.«
Dieser Standpunkt dürfte nach den Milsständen, die einige Jahre nach
den Auslassungen Pellmanns in den rheinischen Landen der bekannte
Alexianerprozefs zu Tage gefördert hat,?) schon nicht mehr für die er-
wachsenen Idioten aufrecht zu erhalten sein, jedenfalls aber ist es ganz
und gar zu verwerfen, für die jugendlichen,%) seit die Bedeutung der
Schilddrüsenerkrankungen sowie der skrophulösen Prozesse an den Schleim-
häuten uud Drüsen des Visceralschädels (vergl. meinen Aufsatz »Theo-
retisches und Praktisches über die Entartung« Vereinsblatt der pfälzischen
Ärzte April 1902) für die Pathogenese der Idiotie immer mehr erkannt
wird. 5) Angesichts dieser Tatsachen muls sogar behauptet werden, dafs
den Aufgaben, die die Idiotenanstalt an die ärztliche Kunst und Wissen-
1) Unsere Meinung war seit je die gegenteilige. Es gibt dort viel, noch mehr
als in den Familien, für den Arzt zu tun.
2) Muß man denn jede Sache unbedingt leiten, der man dienen soll? Die
Gründe Pellmanns sind bis heute meines Wissens noch von keinem stichhaltig
widerlegt, und auch die Bernhartschen Einwände sind keine Widerlegung.
®) Es ist ganz unbegreiflich, ja psychologisch rätselhaft, wie man immer
wieder die nachreformatorische Pädagogik, ja auch nur die evangelische Geistlich-
keit mit diesen römisch-mittelalterlichen Zuständen zu belasten wagen mag.
4) Auch wegen Mariaberg?
5) Aber was hat das mit der Leitung von Anstalten zu tun? Ich habe a. a. O.
auch nachdrücklich darauf hingewiesen, daß die medizinische Forschung hier noch
viel leisten kann, bin also darin mit dem Verfasser einverstanden.
Die Kinderfehler. VIII. Jahrgang. 18
274 B. Mitteilungen.
schaft stellt, der in erster Linie dazu berufene Psychiater allein garnicht
mehr gewachsen ist, sondern dafs er zur Beseitigung der an den ver-
schiedenen Sinnesorganen vorbandenen Mängel, zur Orthopädie gelähmter
Glieder, zur Bekämpfung der das Gehirn fortwährend gefährdenden chro-
nischen eitrigen und nicht eitrigen Katarrhe im Nasenrachenraume und
Mittelohre, sowie zu etwaigen chirurgischen Eingriffen in das Zentral-
nervensystem selbst der Unterstützung seitens der verschiedensten medi-
zinischen Spezialfächer benötigt. Unter keinen Umständen also dürfen die
Idiotenanstalten den Pädagogen oder Geistlichen allein!) überlassen bleiben,
sondern die Psychiatrie muls sich der Pädagogik gegenüber eine ähnliche
Stellung zu erobern suchen, die der somatischen Medizin im turnerischen
Training und ganz besonders in der Heilgymnastik allmählich ganz von
selbst zugefallen ist. ?)
Das Verhältnis des Psychiaters zum Pädagogen wird sich immer so
gestalten müssen,®) dafs der erstere die geistigen und körperlichen De-
fekte am Kranken genau feststellt, das die Idiotie bedingende körperliche
Leiden nach Möglichkeit kausal behandelt und wenn dies nicht gelingt,
den somatischen und psychischen Symptomen der Erkrankung nach den
Regeln seiner Wissenschaft entgegentritt, während es dem Pädagogen ob-
liegt, die Funktionsfähigkeit der intakt gebliebenen Organe und Organ-
abschnitte durch Übung dahin zu fördern, dals ein möglichst weitgehen-
der Ersatz für das durch die Krankheit unwiederbringlich Verlorene her-
beigeführt werde; hierbei mufs der Entscheid, welche Kranke zum Unter-
richte herangezogen werden und worauf sich derselbe zu erstrecken hat)
dem Arzte vorbehalten bleiben.
Was an wissenschaftlichem Rüstzeuge zur Verfügung steht, ist für
beide Teile schr wenig,°) so dafs es für sie zunächst darauf ankommen
') Wer wünscht das? Selbst die Mariaberger hatten ihren Arzt. Ob der seine
Pflicht getan. mag Herr Dr. Bernhart entscheiden.
”) Auch ganz und gar unsere Meinung. Aber »den Löwenanteil« fällt dennoch
der Pädagogik zu, das bekennt selbst Dr. Weygandt unumwunden.
3 Müssen? Warum müssen? Wenn sie beide, wie Dr. B. behauptet, gleich
unwissend und ausschließlich auf die Empirie angewiesen sind, dann ist das Fest-
stellen doch in erster Linie im Interesse der Sache eine Pflicht derer, die die
längste Zeit sich mit den Zöglingen oder Pfleglingen beschäftigen und damit die
meiste Gelegenheit haben, sich Erfahrung mit ihnen zu sammeln. Bei den Bildungs-
fähigen wäre das der Lehrer, bei den kranken Pfleglingen der Arzt, falls es nicht
möglich ist, daß sie das gemeinsam tun.
1) Was würde der Arzt sagen, wenn der Lehrer bestimmen soll, worauf sich
die Heiltätigkeit des Arztes zu erstrecken habe? Was dem einen recht ist, ist dem
andern billig, diese ethische Forderung hat doch wohl Allgemeingültigkeit.
5) Ich bezweifle das für beide Teile. Den Beweisjfür die Medizin zu führen,
ist nicht meine Sache. Über die pädagogische Vorarbeit pflegen die Medıziner sich
gewöhnlich Rat aus der Weygandtschen Schrift zu holen. Wer sich aber in päda-
gogischen Dingen hinsichtlich der Literatur darauf verläßt, der ist verlassen geuug.
Damit ist aber nicht gesagt, daß für beide Teile nicht noch sehr viel zu tun übrig
bleibt.
Medizin und Pädagogik. 275
wird, ein solches erst zu schaffen heraus aus der Empirie, auf die sie vor-
läufig fast ausschliefslich angewiesen sind. Als Vorbild wird sich die
Psychopathologie der Erwachsenen, die die psychiatrischen Lehrbücher
hauptsächlich zum Gegenstande haben, empfehlen. In demselben findet
sich mitunter wohl auch anhangsweise die Idiotie abgehandelt, doch ge-
schieht dies so einseitig und oberflächlich, dals das dort Gegebene wesent-
licher Erweiterungen und Richtigstellungen bedarf, um praktisch in der
Idiotenanstalt verwendbar zu sein.!) Schon die Einteilung der idiotischen
Zustände ist eine höchst mangelhafte. Ätiologisch spricht man von er-
erbter und erworbener Idiotie und erkennt höchstens noch den Kretinis-
mus als einheitliche Gruppe an, im übrigen aber weils man nur von
einer Einteilung dem Grade nach, nämlich in Idiotie, Imbecillität, Debi-
lıtät.?2) Mit dieser Einteilung wird aber nicht einmal dem Pädagogen ge-
dient sein, da es für ihn darauf ankommt zu wissen, welche Gebiete des
Seelenlebens seiner Tätigkeit zugängig, d. h. von dem Krankheitsprozels
verschont geblieben sind. Es muls deshalb vom Arzte verlangt werden,
dafs er nicht allein über den Grad und die Ursache der Erkrankung, sondern
auch über deren Ausdehnung auf Gehirn und Seelenleben Forschungen an-
stellt. Dies kann geschehen in Anlehnung an das System der Psychiatrie,
das Meynert in seinen Grundlinien festgelegt und Wernicke zum Ab-
schlusse (Grundrifs der Psychiatrie, Leipzig 1900) gebracht hat. Wernicke
unterscheidet mit Meinert im Gehirn zwei Arten von Fasersystemen,
nämlich ein Associationsfasernsystem, das die Zellen der Grolshirnrinde
untereinander und ein Projektionsfasernsystem, das sie mit den Sinnes-
organen und mit der willkürlichen Muskulatur verbindet. Geisteskrankheiten
im eigentlichen Sinne sind Erkrankungen des Associationsfasernsystems,
während die Erkrankungen des Projektionsfasernsystems als Gehirn-
krankheiten zu bezeichnen sind. Die motorischen wie die sensiblen Pro-
jektionsfasern eines jeden Körperteiles treten je in eine ganz bestimmte
Region der Hirnrinde, das zuständige Projektionsfeld ein. Zwischen den
sensiblen und motorischen Elementen in der Hirnrinde spannen sich die
aus Ganglienzellen und deren Fasern bestehenden psychischen Reflexhogen
aus. Das Bewulstsein erstreckt sich auf drei Gebiete, die Persönlichkeit,
die Aufsenwelt und die Körperlichkeit und zerfällt darnach in ein. auto-
psychisches, allopsychisches und somatopsychisches Bewulstsein. Ersteres
hat seinen Sitz in der oberflächlichen Zellschicht der Hirnrinde, letzteres
in der untersten dem Marke zunächst gelegenen, während das allopsychische
Bewulstsein die mittlere Schicht einnimmt. Je nachdem ein Abschnitt
des psychischen Reflexbogens erkrankt, ist die Geistesstörung cine psycho-
sensorische, eine psychomotorische oder eine intrapsychische, und je
nachdem die Erregbarkeit bezw. Leitungsfähigkeit der Bahnen herabgesetzt,
gesteigert ist oder sich pervers gestaltet, unterscheidet man eine
1) Und aus dieser Einseitigkeit und Oberflächlichkeit will man so weittragende
einseitige Forderungen ableiten?!
2) Genau dasselbe habe auch ich wiederholt behauptet, zuletzt in der Schrift:
»Die Anfänge abnormer Erscheinungen« (Altenburg 1902).
18*
276 B. Mitteilungen.
Psychosensorische Psychomotorische Intrapsychische
Anästhesie Akinesie Afunktion
Hyperästhesie Hyperkinesie Hyperfunktion
Parästhesie Parakinesie Parafunktion
Aufserdem zerfallen die Geistesstörungen je nach der Verfälschung, die
die Bewulstseinsinhalte infolge der vorbezeichneten Funktionsstörungen im
psychischen Reflexbogen erleiden, in Auto-, Allo- und Somatopsychosen,
die sich miteinander verschiedentlich kombinieren können.!)
Gar manches an dem Wernickeschen System erscheint noch un-
fertig und muls, um auch für die Idiotie brauchbar zu sein, sicher
noch verschiedentlich modifiziert werden.
Ist es aber einmal gelungen,?) die Psychopathologie der Idioten auf
gleiche Höhe mit jener der Erwachsenen zu bringen, so wird dieselbe
nicht allein bei der Erziehung der Idioten von grofsem Vorteil sein, son-
dern der Pädagogik überhaupt zum Segen gereichen. Durch die Lücken,
die bei den idiotischen Zuständen dauernd in der Psyche bestehen bleiben,
wird der Pädagoge Gelegenheit haben, das Gefüge des normalen Seelen-
lebens genauer wie bisher kennen zu lernen; er wird sich auf Grund
seiner Ergebnisse eine von aller Pseudowissenschaft freie Seelenlehre auf-
bauen und diese zur Erweiterung und Vervollkommnung seiner Erziehungs-
und Unterrichtsmethode benutzen. Endlich wird der Pädagoge in der
Idiotenanstalt sein Auge auch schärfen für die Erforschung und Be-
urteilung der normalen Kinderseele und sich so in den Stand setzen, den
vielen Unvollkommenheiten, die unserem ganzen Erziehungswesen noch
anhaften, wirksamer entgegen zu treten. Unentbehrlich wird ihm hierbei
die Unterstützung des Schularztes sein; doch wird dieser seinen Aufgaben
erst dann voll gerecht werden können, wenn er zu seiner übrigen medi-
zinischen Bildung sich auch mit der Neuro- und Psychopathologie des
Kindes in der Idiotenanstalt genügend vertraut gemacht haben wird.«®)
Soweit Dr. Bernhart.
Wesentlich anderer Art ist ein Artikel von Sanitätsrat Dr. Jenz in
der Zeitschrift: »Die Krankenpflege«, herausgegeben von Prof. Dr. med.
Martin Mendelssohn in Berlin. Jahrg. 1902/03, Heft 6. Dementsprechend
wird auch unsere Abwehr anderer Art sein müssen. Sie wird in Heft II
n. J. folgen.
a a a de u Zu
') Das ist wissenschaftlich sehr interessant, aber für die Erziehung der
Schwachen hat die Theorie noch wenig Bedeutung. Die Faserlehre ist vielfach doch
noch reine Glaubenssache oder Hypothese. Was der sicheren Beobachtung zu-
gänglich ist, das sind nicht erkrankte Nervenbahnen, Gehirnzellen usw,, sondern
seelische und leibliche Betätigungen, mit welchen die Pädagogik, wenn auch viel-
fach in unzulänglicher und irriger Weise, seit je gerechnet hat und welche auch
die Medizin benutzt, um Schlüsse auf Erkrankung des Gehirns zu machen, die im
günstigsten Falle doch erst nach dem Tode sichtbar nachgewiesen werden kann.
?) Bis jetzt ist es also noch nicht der Fall.
3) Diese Ausführungen decken sich ganz und gar mit unserem Programm.
Wir hoffen darum, daß Herr Dr. B. die obigen Einwände als Zeichen dieser Zu-
sammenarbeit und als Ergänzung seiner Ausführungen aufnehmen wird,
C. Literatur. 97
| eq
C. Literatur.
Zur Psychologie des ersten Schreibleseunterrichts.
Meine kritischen Bemerkungen zu dieser Frage in Heft 5, Jahrg. 1900 und
Heft 1, Jhrg. 1901 haben verschiedene Zusendungen und Zuschriften zur Folge
gehabt, ein Zeichen, daß die Lösung oder wenigstens die Förderung dieser Frage
ein Bedürfnis ist, namentlich im Hinblick auf Schwachbegabte.
Ein guter Freund und Mitarbeiter, der übersehen hatte, daß ich selber die
Bemerkungen geschrieben, meinte, der Verfasser einer der kritisierten Bücher sei
ihm persönlich als ein sehr tüchtiger Lebrer bekannt; die Beurteilung schien ein
Ubelwollender verfaßt zu haben. Mir waren aber die Personen gänzlich unbekannt.
Von Übelwollen konnte also absolut keine Rede sein. Ich wollte an der Hand von
neuen Beispielen nur die schwebende Frage kennzeichnen, und ich konnte ihm ant-
worten, daß, wenn er seine eigenen vortrefflichen Gedanken über die Behandlung
Sprachgebrechlicher Kinder zu Ende denken würde, er unbedingt zu meinem Urteil
kommen müsse. Der Freund hatte also damals die Frage in ihrer grundsätzlichen
Bedeutung noch nicht erkannt. —
Im Gegensatz dazu schickte mir eine Lehrerin (Diakonisse), eine Fibel zur
Prüfung, welche — wie sie schreibt — ein leider schon verstorbener »sehr treuer
Elementarlehrer nach zwanzigjähriger Erfahrung zusammengestellt hat, allerdings
zunächst für normalbegabte Kinder .. . Vielleicht kann sie auch ein wenig zur
Förderung der guten Sache dienen ... Bei dem Unterrichte meiner schwachsinnigen
Taubstummen leistet mir die Fibel gute Dienste, um die Kinder etwas langsamer
in die Druckschrift einzuführen, da in der Taubstummenfibel, der Vatter'schen so-
wohl als auch in der von Streich der Übergang von der Schreibschrift zur Druck-
schrift für meine schwachen Schüler zu rasch ist. Ich hatte früher die Bertholdsche
Fibel dazu zu benutzen versucht; aber da schwindelte es den Kindern und mir
selbst auch.«
Der Titel dieser Fibel lautet:
Stichwort-Fibel von Joh. Sturzenbaum. Regensburg, Verlag von W.
Wunderling.
Es ist interessant zu lesen, wie der Verfasser in dem §8 Seiten langen Vorwort
wiederholt ernste Befreiungsversuche macht, dem landläufigen Verbalismus zu ent-
rinnen, aber doch in praxi immer aufs neuc in denselben zurückfällt. —
Praktischer und darum auch vom Wortkram freier sind die Holländer. Sie
sandten mir als Beweis dafür folgende beachtenswerte Bücher, meinend, daß darin
unsere Wünsche erfüllt seien:
1. Leesboekje voor het Aanvankelijk Leesonderwijs door W. J. Jon-
gejan, Hoofd eener school to s’Gravenhage. Amsterdam, W. Versluys, 1890.
Vierde druk. In 7 Heften. Preis 0,20 F. das left von je 48 8.
2. Handleiding voor het Aanvankelijh Leesonderwijs. Tweede om-
gewerkte druk von de Toelichting bij de Leesbockjes. Ten gebruike van de school
en van inrichtingen tot opleiding van onderwijzers. Met Vragen en Opgaven door
W. J. Jongejan. Amsterdam, W. Versluys. 1900. Prijs F 1, —.
Der Text der Bücher ist ein nüchterner, vielleicht sehr nüchtemer; er ent-
spricht dem Charakter der Holländer. Dafür bietet er aber auch Inhalt, während
viele andere Fibeln und Leschücher dem Kinde, ich sage: dem Kinde, keinen oder
275 C. Literatur.
nur einen sehr abgeblabten, krankhaft ideenflüchtigen bieten. Der Lesestoff in den
7 Büchern ist ein reichhaltiger. Gewöhnlich bieten die Fibeln trotz ihres Papageien-
geschwätzes quantitativ ungenügenden Stoff, worüber jene Lehrerin ja auch klagt.
Papier, Druck und Bildschmuck sind gegenüber den meisten deutschen Fibeln
geradezu musterhaft, allerdings sind sie wieder ganz holländisch. Ich denke für den
grundlegenden Gesamtsprachunterricht brauchten deutsche Verleger nicht so zu
geizen, wie es leider allzuoft geschieht. Es wäre gut, wenn wir dann und wann
auch von Ausländern etwas lernen wollten, wie diese es umgekehrt tun. Schaden
könnte es nicht.
Ein Anfang mit einer besseren Ausstattung ist gemacht in dem Büchlein:
Im Sonnenschein. Erstes Lesebuch für die Kleinen, Von Otto
Fritz. Mit vielen Orkginalzeichnungen von Karl Thoma. Karlsruhe, J. Langs
Verlagsbuchhandlung.
Etwas mehr Sonnenschein als die hergebrachten Fibeln bieten vor allem die
inhaltreichen und zum Teil auch künstlerischen Anforderungen entsprechenden
Bilder. Hier haben die Kinder wenigstens etwas zum Lesen. Doch auch der Wort-
text zeigt eine Wendung zum Bessern, d. h. eine Abkehr vom öden, geisttötenden
Verbalismus und mehr Verständnis für die Kindesseele der Fibelschützen. —
Von Aneignung pädagogisch-psychologischer Gedanken für den ersten Sprach-
unterricht zeugt:
Das erste Schuljahr bei fremdsprachigen Kindern von Paul
Schwarz, Rektor. Lissa i. P., Friedrich Ebbeckes Verlag. 1903. 1028. 1,20 M.
Dieses kleine Buch für die Anwendung des ersten Unterrichts bei fremd-
sprachigen, insbesondere polnischen Kindern gewinnt dadurch ein besonderes Inter-
esse für die Leser dieser Zeitschrift für Kinderforschung, als unsere Be-
strebungen hier eine praktische Anwendung fanden. Schou der eingangs gegebene,
zwei eiten lange Literaturnachweis zeigt, daß der Verfasser in der Hauptsache
sich mit den kinderpsychologischen Arbeiten über Sprache und Spracherlernung
beschäftigt hat, und der erste Teil, Seite 7— 36, behandelt die »psychologische und
sachliche Voraussetzungs und beweist, daß der Verfasser sich bemüht hat, den
Papageienunterricht der landläufigen Fibeln sich nicht zum Muster zu nehmen,
sondern sich Rats in der Kinderpsychologie zu erholen.
Leider vermißt man aber im 2. Teile eine gesunde Lehrplantheorie, welche
für einen psychologischen Unterricht ebenfalls unerläßlich ist. —
Wiederholt habe ich auch mündlich die Frage des ersten Schulunterrichts mit
Herrn Prof. Zimmer besprochen. Er hat dann meine Wünsche mit aufgenommen
in Seinen Preisaufgaben des Evangelischen Diakonievereins. Die daraus hervor-
gegangenen Schriften von Henke, Jetter, Lehmensiek, Schreiber und
Wigge werden unsern Lesern hinreichend bekannt sein. Ich möchte aber noch-
mals ausdrücklich darauf hinweisen, —
Eingehender und unter besonderer Rücksicht auf den ersten Schreibleseunter-
richt für Schwachsinnige hat sich mit den von mir hingeworfenen Gedanken Herr
Ed. Schulz, Uilfsschullehrer in Halle a.,S., beschäftigt. Er sandte eine längere
Abhandlung, worin er u. a. auch über cigene Versuche berichtet. Wir bringen sie
im I. Defte des neuen Jahrganges zum Abdruck und eröffnen damit zugleich eine
weitere psychologische Erörterung dieser Frage.
Entgegnungen und Ergänzungen, psychologisch begründet, bis zur Länge von
2 Druckseiten werden gern aufgenommen. Voraussetzung ist jedoch, daß sie ge-
eignet sind, die Frage vorwärts zu bringen. Nur diesen Zweck verfolgen wir,
und zwar ohne Ansehen von Personen wie Behörden und deren Vorschriften. Tr.
C. Literatur. 279
Piggott, Dr. H. E., Die sittliche Entwicklung und Erziehung des Kindes.
Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1903. 778. Preis 1,25 M.
Das Büchlein erscheint als VII. Heft der von Koch, Trüper und Ufer heraus-
gegebenen »Beiträge zur Kinderforschung«. Der Verfasser hat sich die Aufgabe
gestellt, »die Bedingungen, Tendenzen und den Gang der (sittlichen) Eutwicklung«
beim Kinde nach Maßgabe der Forschungen von anerkannten Gelehrten darzulegen.
Damit ist der Charakter des ganzen Buches bestimmt, es bietet eine Zusammen-
fassung, besser eine tüchtig durchdachte Auswahl alles dessen, was in den letzten
Jahren auf diesem Gebiete erschienen ist. Anerkannt muß werden, daß der Ver-
fasser nur das Hervorragendste berücksichtigt hat.
Nach einer verhältnismäßig kurzen Einleitung über den Begriff der sittlichen
Entwicklung beim Kinde gliedert sich dio ganze Arbeit in drei große Abschnitte:
1. Die Analyse der Natur des Kindes in moralischer Hinsicht. Es
ist natürlich, daß sich der Verfasser zunächst in Erörterungen über die Instinkte
ergeht. Es gelingt ihm auch, eine vortreffliche Übersicht über dieses heikle Gebiet
zu geben. Wir betonen, cs ist eine Übersicht, aber eine zum Nachdenken an-
regende, auch wo man nicht mit dem Verfasser stets einer Meinung ist. So ließe
sich für den Nomadeninstinkt wohl noch ein tieferer Instinkt als Wurzel angeben,
wenn man einerseits die philogenctische Eutwicklung der Menschheit, andrerseits
die Tatsache im Auge behält, daß das Auftreten des genannten Instinktes fast stets
im Alter der Pubertät oder im späteren Jünglingsalter zu beobachten ist. Doch das
sind Nebenfragen. Wir möchten wünschen, daß gerade dieses Kapitel von den
Instinkten von allen Erziehern gründlich studiert werde. Manche sonst hart be-
urteilte Tat eines Kindes wird dann in ganz anderem Lichte erscheinen. Von dem,
was sonst noch zur Analyse der Kindesnatur in sittlicher Hinsicht gesagt ist,
möchten wir besonders den Abschnitt über die sittlichen Dispositionen
empfehlen. Es ist dies aber ein wenig abgeklärtes Gebiet. Man mul darum die
Augen offen halten. Besser wäre es gewesen, der Verfasser hätte dieses Thema
ausführlicher behandelt, denn es leuchtet ein, daß unter den Bedingungen der sitt-
lichen Entwicklung die Dispositionen eine große Bedeutung haben. Doch ist dem
Verfasser kaum ein Vorwurf zu machen. Was uns hier fehlt, sind Monographien,
ähnlich denen, die Dörpfeld schon vor langer Zeit anregte und selbst begann.
2. Die Umgebung und ihre Einflüsse auf das Kind. In logischer
Weise geht der Verfasser von dem im Kinde Vorhandenen weiter zu den Einflüssen,
welche das Vorhandene anregen und Wirkungen in sittlicher Hinsicht hervorbringen.
Es ist dabei im ganzen der Ilerbartsche Standpunkt vertreten. Die Statistiken, be-
sonders die amerikanischen, werden bei den Darlegungen in Interessanter Weise
verwertet. Ist es auch nicht viel Neues, was in diesem Abschnitte geboten wird,
so ist es doch anerkennenswert, mit welchem Fleiße der Verfasser die Arbeiten der
fremden und einheimischen Autoren dieses Gebietes sich zu eigen gemacht hat und
wie er diese oft zu Weitschweifigkeiten führenden Tatsachen unter dem Gesichts-
punkte der sittlichen Entwickung festzuhalten versteht.
3. Die Kontrolle der Umgebung in Hinsicht auf die moralische
Entwicklung. Damit begibt sich der Verfasser in das Gebiet der Erziehung zur
Sittlichkeit. Er gibt eine Übersicht über die Methoden, die in einzelnen Ländern
geübt werden. Die französische Art der steten Überwachung wird verworfen, denn
Freiheit und Verantwortlichkeit hält er für notwendig zur moralischen Entwicklung.
Darin geben wir dem Verfasser Recht, stimmen jedoch nicht in das Lob ein, das
er der der französischen Methode gerade entgegengesetzten amerikanischen widmet.
280 C. Literatur.
—.
Die Gefahren, die er selbst anführt — »Man klagt schon, daß sittlicher Zweifel und
sittliches Zögern, welche aus einer übertriebenen Empfindlichkeit entstehen, die
Spontaneität des Handelns bei jungen Leuten lähmt.« usw. — wollen wir doch ganz
besonders hervorheben. Am vorteilhaftesten ist auch hier der Mittelweg. Gewiß
sollen die Kinder in Freiheit aufwachsen, aber nicht iu der Freiheit der Erwachsenen.
Das ist auch der Vorwurf, den man der amerikanischen Erziehung machen muß.
Wir möchten dieses Buch trotz mancher übergroßen Knappheit allen Erziehern
und nicht nur diesen, sondern auch denen, welchen die sittliche Verwahrlosung
unserer Jugrnd mit Schrecken immer klarer wird, warm empfehlen. Es bietet viel
Anregung und manchen Fingerzeig zu einer gründlichen und rationellen Erziehung.
Vor allen Dingen aber wird diese Arbeit einen Ansporn geben, daß auch in deutschen
Ländern die Erforschung der sittlichen Entwicklung beim Kinde energischer angefaßt
werde. Man lese nur einmal das Verzeichnis der einschlägigen Arbeiten am Schluß
des Buches. Sollen wir uns von den Amerikanern überall überholen lassen?
Stukenberg.
Lay, Dr. W. A, Experimentelle Didaktik. Ihre Grundlegung mit besonderer
Rücksicht auf Muskelsinn, Wille und Tat. 1. Allgemeiner Teil. Wiesbaden, Otto
Nemnich, 1903. Preis 9 M, in ganz Leinen gebunden 10 M.
Der ganze Titel sagt schon, daß der Verfasser auf didaktischem Gebiet etwas
Neues will. Er spricht sich selbst darüber im Vorwort folgendermaßen aus:
»Ist eine experimentelle Didaktik möglich und notwendig? — Diese Frage ist
bis jetzt noch von keinem Pädagogen erhoben worden; noch viel weniger liegt ein
Versuch zur Begründung und Lösung dieses für die Pädagogik hochwichtigen Pro-
blemes vor. Es scheint mir deshalb für die Beurteilung vorliegenden Versuches
einer Grundlegung der experimentollen Didaktik notwendig, den Leser über die Ent-
stehung des Buches an dieser Stelle zu orientieren.
Die Überzeugung von der Möglichkeit und der Notwendigkeit einer experimen-
tellen Didaktik ist im Verlaufe der letzten 15 Jahre in mir gereift. Ich begann
damit, philosophische und physiologische und physiologisch-psychologische Erkennt-
nisse in der Unterrichtspraxis zu verwerten, die ich im Verlaufe der Zeit auf alle
Unterrichtsgegenstände ausdehnte, ersten Lese-, Schreib-, Rechen- und Anschauungs-
unterricht, Religionsunterricht, Zeichen-, Gesang- und Turnunterricht eingeschlossen.
In meiner ersten größeren Arbeit, der »Methodik des naturgeschichtlichen Unter-
richts und Kritik der Reformbestrebungen« nahm ich mir dann — 1892 — vor, an
der Methodik eines Unterrichtsgegenstandes zu zeigen, daß die physiologische Psycho-
logie für die Pädagogik in hohem Grade fruchtbar ist und daß ihr die volle Auf-
merksamkeit zugewendet werden muß.e — 1. Auflage, Vorwort S. IX. — Schon
vorher hatte ich aber begonnen, das psychologische Experiment zum ersten Male
für die Begründung des Lehrverfahrens eines Unterrichtsgegenstandes, des
orthographischen Unterrichts, zu verwerten und brachte die Untersuchung nach
mehrfacher Unterbrechung im Jahre 1896 zum Abschlusse. Um gewisse Ein-
wendungen zu widerlegen, suchte ich durch meine Arbeit über die Psychologie der
Zahl und den ersten Rechenunterricht an einem weiteren Beispiele nachzuweisen,
daß es möglich und notwendig sei, didaktisch-methodische Fragen nach der experi-
mentellen Forschungsmethode zu behandeln. In allen Arbeiten, auch in den 1894
erschienenen Aufsätzen: Physiologische Psychologie und Schulpraxis in der »Deut-
schen Schulpraxis«, habe ich stets mit Nachdruck die hohe didaktische Bedeutung
der vollständig vernachlässigten Bewegungsvorstellungen hervorgehoben.
C. Literatur. 281
Der Beifall sowohl als der Widerspruch, die meine Arbeiten fanden, waren
es nun, die mich veranlaßten, die Möglichkeit und Notwendigkeit einer experimen-
tellen Didaktik überhaupt theoretisch und praktisch nachzuweisen und die Grund-
legung derselben zu beginnen. Ich war mir der großen Schwierigkeit des Unter-
nehmens völlig bewußt. Aber der passive Widerstand, den da und dort meine Be-
strebungen fanden, die Art des Widerspruchs, der sich aber verhältnismäßig selten
an die Öffentlichkeit wagte, insbesondere aber die sterile dogmatische, spekulative
und dialektische Behandlungsweise methodischer Fragen, der ausgebreitete ruhe
Empuismus und der Wirrwarr der Meinungen, der auf allen Gebieten des Unter-
richts sich findet, drängten mich einerseits, die schwierige Arbeit in Angriff zu
nehmen. Andererseits war der Beifall, den meine Arbeiten fanden, geeignet, mich
zu ermutigen. Die ausführlichen Besprechungen in den bedeutendsten pädagogischen
und psychologischen Zeitschriften, in vielen Konferenzen und größeren Lehrer-
versammlungen besonders in Mittel- und Norddeutschland, die Kontrollversuche und
die an die experimentellen Untersuchungen des »Rechtschreib- und Rechenführer«
sich anschließende Literatur, Hunderte von Zuschriften aus allen Teilen Deutsch-
lands, aus der Schweiz, aus Österreich und Ungarn, aus Holland, Frankreich und
Nordamerika, die Aufnahme meiner Grundanschauungen über das didaktisch-psycho-
logische Experiment in den Bericht des Internationalen Psychologenkongresses vom
Jahre 1900, die über die Bedeutung des didaktischen Experiments für den fremd-
sprachlichen Unterricht in den Bericht des Internationalen Kongresses für den
Unterricht in den lebenden Sprachen in Paris — 1900 —, endlich die Anerkennung
meiner Bestrebungen durch hervorragende Philosophen, Psychologen und Pädagogen:
Riehl, v. Sallwürk, Wundt, Münsterberg, Sully, Forel, Zichen,
Stanley Hall, Natorp — sie alle haben mich ermutigt und immer wieder von
neuem angeregt.
Der vorliegende erste, allgemeine Teil der experimentellen Didaktik möchte
nun über die Voraussetzungen, das Wesen, die Bedeutung und die Durchführung
der experimentellen Forschungsmethode auf dem Gebicte dor Didaktik theoretisch
und praktisch orientieren, zur praktischen Anwendung derselben aufmuntern uud
diese erleichtern.
Zu diesem Zwecke bietet er zunächst kinderpsychologische, psychologische
und erkenntnistheoretische, ethische, ästhetische und religiöse, pathologische und
hygienische Tatsachen und Literaturangaben, soweit sic dem Unterrichte und seiner
experimentellen Erforschung zur Zeit als allgemeine Grundlage dienen können.
Weitere Ausführungen sollen in der Methodik der einzelnen Unterrichtsgegenstände
folgen. Die Kinderpsychologie, Psychopathologie und viele hygienische Tatsachen
mußten um so mehr Berücksichtigung finden, als sie auch von den größten Werken
der Didaktik nicht beachtet wurden. Nicht bloß die deutsche, sondern auch die
französische, englische und nordamerikanische Literatur mußte zu Rate gezogen
werden, um — wohl zum ersten Male — eine innige Verknüpfung der modernen
Psychologie mit der Didaktik herbeizuführen und einen fruchtbaren Boden für das
didaktische Experiment zu gewinnen. Eine eingehende Behandlung war den
motorischen Prozessen und insbesondere den Bewegungsvorstellungen zu widmen,
da deren Gebiet in der pädagogischen Literatur und bei den Schulmännern im
allgemeinen noch eine terra incognita darstellt und die Bewegungen für die ex-
perimentelle Forschungsmethode als Reaktionen von größter Bedeutung sind.
In unmittelbarem Anschluß an die grundlegenden Tatsachen sird die Resultate
experimenteller Forschung mitgeteilt, didaktische Probleme gestellt, Mittel und Wege
292 C. Literatur.
zur Lösung durch Beobachtung und Experiment angegeben und eine Reihe von
didaktischen Beobachtungen und Versuchen nach ihrer Entstehung, Durchführung
und praktischen Verwertung als typische Beispiele bis ins einzelne dargestellt. Neu
und in der vorliegenden Schrift zum erstenmal veröffentlicht, sind die didaktischen
Beobachtungen und Experimente: 1. über die Sprechbewegungsvorstellungen im
mündlichen Unterricht, 2. über die Sprechbewegungsvorstellungen im Gesangsunter-
richt, 3. über die Auffassung von Formen, 4. über die Anschauungs- und Gedächtnis-
typen, 5. über das psychische Tempo und die psychische Energie im Verlaufe der
Tages- und Jahreszeiten.
Zum Schlusse wird das Wesen und die Bedeutung der experimentellen
Forschungsmethode, der didaktischen Beobachtung, Umfrage, Statistik und des
didaktischen Experiments zur Darstellung gebracht und auf die Notwendigkeit der
Errichtung pädagogischer Lehrstühle an unsern Hochschulen, der Pflege päda-
gogischer Forschung an den Lehrerseminarien und pädagogischer Institute größerer
städtischer Gemeinwesen hingewiesen. Für manchen Leser mag es sich empfehlen,
mit deu Ausführungen des Schlußkapitels die Lektüre der Schrift zu beginnen.
Unzählbar wie der Sand am Meere sind die didaktischen und methodischen
Aufsätze in den pädagogischen Zeitungen und Zeitschriften; ungeheuer groß ist die
Zahl der methodischen und didaktischen Broschüren und Bücher. Welch reges
didaktisches Interesse tritt da zu Tage! Wieviel Kraft und Zeit wird aufgeboten! —
Wie grol ist aber trotz alledem die Zerfahrenheit der Ansichten auf allen Gebieten
des Unterrichts in den fundamentalsten Fragen eines jeden Unterrichtsgegenstandes!
Die Lehrverfahren stehen oft in offenem Widerspruche und geradezu kläglich ist
der eigentliche, nicht durch den Lehrstoff selbst bedingte Fortschritt in Theorie und
Praxis. Es gilt daher, die Didaktik vom sterilen Flugsande, gebildet durch rohen
Empirisinus, blindgläubige Dogmatik, müßige Spekulation, unbefugte Generalisation,
rechthaberische Dialektik, auf den fruchtbaren Ackerboden der wissenschaftlichen,
experimentellen Forschungsmethode zu verpflanzen, zu gleicher Zeit der über-
wuchernden Oberflächlichkeit, der kritiklosen Kritik, den spitzfindigen Künsteleien,
dem niedrigen Drill cin Ende zu bereiten und die Kräfte für die experimentelle
Fuorschungsmetlode, wie sie im Schlußkapitel vorliegender Arbeit dargestellt ist,
frei zu machen. Dort ist gezeigt, daß die experimentelle Didaktik in hohem Maße
geeignet ist, die pädagogischen Kräfte auf neutralem Gebiete zu sammeln, sie vor
Kraft und Zeitverschwendung zu bewahren und eine Organisation und Arbeitsteilung
herbeizuführen, die bei dem heutigen Stande der Dinge sicherlich viele Vorteile
bieten würde.
Um das Studium des Buches auch dem Seminaristen und angehenden
Lehrer zu ermöglichen und ihnen für die unendliche Fülle der Erscheinungen der
Unterrichtspraxis zunächst die Augen zu öffnen, um auch für die ersten psycho-
logischen, kinderpsychologischen und didaktischen Beobachtungen und Versuche an-
zuleiten, habe ich mich einer möglichst einfachen Darstellung befleißigt und stets
an konkrete Fälle angeschlossen.
Der zweite, spezielle Teil soll auf experimenteller Grundlage die Methodik
der einzelnen Unterrichtsgegenstände behandeln und im Verlaufe der nächsten Jahre
in einzelnen Abteilungen erscheinen.«
Über welche Frage Dr. Lay sich verbreitet, mag weiterhin das Inhalts-
verzeichnis uns sagen: Muskelsinn und Bewegungen im allgemeinen. Ein
Blick auf das Problem des Willens und der Tat in der Gegenwart, Entwicklungsgang der
Auffassung des Muskelsinns und der Bewegungsvorstellungen, Charakteristik und
C. Literatur. 283
physio-psychologische Entstehung der Lage- und Bewegungsvorstellungen, physio-
psychologische Entwicklung der Bewegungen im Kindesalter. — Triebbewegungen
und Spiele des Kindes. a) Das Experimentieren mit den sensorischen Organen,
didaktische Experimente über das Auffassen von Formen; b) Das Experimentieren
mit den motorischen Organen, Kampfbetrieb, äußere Nachahmung, innere Nach-
ahmung. — Empfindungs- und Vorstellungsbewegungen, Prinzip der An-
schauungen, Ausdrucksbewegungen, Gefühle und Affekte, die Auf-
merksamkeit und ihre Bewegungen, Association und Assimilation,
Sach- und Sprachunterricht, Anschauungs- und Gedächtnistypen.
Beobachtungstatsachen, Ergebnisse aus der experimentellen Untersuchung des Recht-
schreibens, Klassenbeobachtungen über den sprechmotorischen Typus, didaktische
Experimente über das sprechmotorische Element im Gesangsunterricht, didaktische
Experimente über die Anschauungstypen a) im Sprach- und Rechenunterricht, b)
im Sachunterricht, Didaktische Bedeutung der Anschauungstypen. — Phantasie-
tätigkeit. Kinderpsychologische Tatsachen, didaktische Experimente über Auf-
fassungstypen. — Denktätigkeit. Analyse und Synthese, Begriffsbildung,
Urteilsbildung, Schlußbildung, Kausalität und Finalität, der Erkenntnisprozeß
und die sogenannten formalen Stufen. — Suggestion. Das Wesen der Sug-
gestion (auf Grund von Experimenten), Bedeutung der Suggestion, didaktische
Verwertung der Suggestion. — Übung und Gedächtnis. Hemmung, Koordi-
nation und Übung, das Lernen, das Gewöhnen, Didaktische Übung von Lernen
und Gewöhnen, Wiederholung und Übungszuwachs (auf Grund von Experi-
menten), Vorlage, Wiederholung und Willensimpuls (auf Grund von Experi-
menten), Einheit und Vielheit: Raum und Zeit, Zahl und Größe (auf Grund
von Experimenten), Aemorieren, Behalten und Vergessen (auf Grund von
Experimenten). — Willenstätigkeit. I. Der Wille als biologische Erscheinung.
IL Der Wille als physiologisch-psychologische Erscheinung, Organisation und
Funktion, Das Prinzip der Vererbung, Disposition und Anlage, Kritik des soge-
nannten psychogenetischen Grundgesetzes, das Prinzip der Funktion und Korrelation,
der Lehrgang und seine Glieder, das Prinzip der Periodizität, Didaktische Experi-
mente über psychische Energie, psychisches Tenıpo und ihre Wellenbewegung, die
Entwicklungsperioden, das hygienische Prinzip. Stoffwechsel und geistige Leistungs-
fähigkeit, Prüfungen und Zensuren, Schlaf-, Spiel- und Arbeitszeit, Individualitäten-
liste. ILL. Der erkenntnistheoretische und ethische Wille. — Willensbildung.
I. Intellektuelle Willensbildung. II. Ethische Wilfensbildung, Beeinflussung von
Gefühlen nnd Trieben, das »Handeln in Gedanken,« Glaube und Vorbild, eine
didaktische Umfrage und Statistik, die Klassengemeinde, Verantwortlichkeit und
Strafe, das einheitliche Schulsystem. III. Ästhetische Willensbildung, das Kunst-
schöne, das Naturschöne, didaktische Verwertung. IV. Religiöse Willensbildung,
kinderpsychologische Tatsachen, über das Wesen der Religion, didaktische Folge-
rungen. — Einheit und Sachlichkeit, Natur- und Kulturgemäßheit
des Unterrichts. Die Einheit des Lehrstoffs, die gesetzlichen und normativen
Hilfswissenschaften der Pädagogik, Übersicht über den natürlichen Zusammenhang
der »Lehrfächer«. Wesen und Bedeutung derexperimentellen Didaktik.« —
Iu einem der nächsten Hefte werden wir prüfen, ob und inwieweit die experi-
mentelle Didaktik Lays einen Fortschritt zum Wohle der Jugend und zur Bereiche-
rung der Pädagogik bedeutet.
C. Literatur.
Io
%
>
Eingegangene Schriften.
Dr. A. Wehrhahn, Stadtschulrat und Königl. Kreisschulinspektor, Das Volks-
schulwesen der Königlichen Haupt- und Residenzstadt Hannover.
Hannover, Verlag der Stadtschulinspektion, 1903. 119 S.
58. Bericht über den Zustand der Taubstummenanstalt in Emden. Emden,
Th. Hahns Wwe., 1903.
Karl Baldrian, Die Mitwirkung der Ärzte bei der Taubstummen-
bildung. Separatabdruck aus der Med.-päd. Monatsschrift für die gesamte Sprach-
heilkunde von Gutzmann. 1903. Heft 3/4.
Dr. A. Baer, Geh. Med.-Rat, Über jugendliche Mörder und Totschläger.
Kriminalanthropologische Beobachtungen. Separatabdr. aus dem Archiv für Kriminal-
anthropologie. XI. Band. Leipzig, F. C. W. Vogel, 1903.
Über das Lügen der Kinder. Erörterungen aus der pädagogischen Lite-
ratur von J. Trüper, Stanley Hall, Sully, Tracy, Jean Paul, Eugen Pappenheim u. a.
Zusammengestellt von Gertrud Pappenheim. In der Zeitschrift: »Kindergarten, Be-
wahranstalt und Elementarklasse.« Herausgegeben vom Deutschen Fröbelverband.
1903. Heft 6.
Verhandlungen der Teilnehmer an der vom 26.—29. Mai 1902 in Düssel-
dorf stattgehabten Konferenz von Vorstehern an Rettungshäusern, Pro-
vinzial-Erziehungs-, Besserungs- und Fürsorgeerziehungs-Anstalten.
Rechenbuch in 4 Heften von J. Giese, Hauptlehrer in Magdeburg und
F. Loeper, Rektor in Barmen. Zu beziehen durch Hauptlehrer Giese-Magdeburg.
Die deutsche Schule. Monatsschrift. Herausgegeben im Auftrage des
Deutschen Lehrervereins von Robert Rissmann. VI. Jahrgang. 1902. Leipzig und
Berlin, Julius Klinkhard.
Evangelisches Schulblatt, begründet von Fr. W. Dörpfeld. Herausgegeben
von D. Horn, A. Hollenberg, Dr. G. von Rhoden. 1903. Heft 8. Festnummer
zur Einweihung des Dörpfeld-Denkmals in Barmen. Mit drei Abbildungen.
Gütersloh, Druck und Verlag von C. Bertelsmann. Preis 0,50 M.
Anna Carnap, Friedrich Wilhelm Dörpfeld. Aus seinem Leben und Wirken.
Gütersloh, 2 Aufl. 1903. Verlag von C. Bertelsmann, Gütersloh.
Fr. Frenzel, Die Hilfsschule für schwachbegabte Kinder. Hamburg, Leopold
Voß. 88 S. Preis 1 M.
Paul Schwarz, Rektor, Das erste Schuljahr bei fremdsprachigen
Kindern. Lissa i. P., Friedrich Ebbeckes Verlag, 1903. Preis 1,20 M.
Hermann Lleinicke u. Richard Bretschneider, Beiträge zur Alkoholfrage
zugleich eine Erläuterung der »Dresdner Bilder gegen den Alkohol«. Mit
6 verkleinerten Abbildungen der farbigen Wandtafeln. 1. u. 2, Tausend. Kom-
missionsverlag: A. Müller. Dresden, Fröbelhaus, 1903.
Über Begriff und Bedeutung der Demenz. Referat, erstattet der
Jahresversammlung des deutschen Vereins für Psychiatrie zu Jena am 21. April 1903.
Von Prof. Dr. F. Tuexek in Marburg. Separatabdruck aus der »Monatsschrift für
Psychiatrie u. Neurologies von C. Wernicke und Th. Ziehen. Berlin NW. 6, Ver-
lag von S. Karger.
a
Druck von Hormann Beyor & Süöhno (Boyo & Mann) in Langensalza.
Die Kinderfehler.
Zeitschrift für Kinderforschung
mit besonderer Berücksichtigung
der pädagogischen Pathologie.
Im Verein mit
Medizinalrat Dr. J. L. A. Koch,
Irrenanstaltsdirektor a. D. in Cannstatt
herausgegeben von
J. Trüper, und Chr. Ufer,
Direktor des Erziehungsheimes und Kinder- Rektor der Mädchenmittelschule in
sanatoriums auf der Sophienhöhe bei Jena
Neunter Jahrgang.
Langensalza
Hermann Beyer & Söhne
(Beyer & Mann)
Herzogl. Sächs. Hofbuchhärdler
1904
Alle Rechte vorbehalten.
Inhalt.
A. Abhandlungen:
SCHULZE, Epvarn, Der erste Lese- und Schreib- Unterricht in der Hilfsschule
OPPENHEIN, Prof. Dr., Über die ersten Zeichen der Nervosität des Kindesalters
ASCHAFFENBURG, Prof. Dr. Gustav, Über die nu der Stimmungsschwan-
kungen bei Epileptikern . .
TrRÜPER, J., Psychopathische Minderwertigkeiten "als Ursache von Gesetzes-
verletzungen Jugendlicher . . . Be . 146.
TrÜPER, J., Medizin und Pädagogik . a i 1 160.
KıerER, Dr. O., Hygienische und psychologische Bedenken der körperlichen
Züchtigung bei Kindern. .
Dupoxt, Dr. med. A., Eine merkwürdige Entdeckung über die Bedeutung der
Schilddrüse TEE Be ee er A
»Schutz für Geistesschwache« .
Hıeroxyaus, D., Vererbung und erbliche Belastung in ihrer Bedeutung für
Jugend- und Volkserziehung . .
EsoeLuorx, Medizinalrat Dr., Welche Bedeutung für die Schulhygiene hat die
Psychologie und Psychopathologie der Entwicklungsjahre? .
B. Mitteilungen:
Die Liebe bei den Kindern. Von R. Server. . re
Über einige abnorme Erscheinungen im kindlichen Seelenleben. Von Dr.
A. Kümer . e e A
Zur Vererbung der Taubheit. Von O. DANGER ;
Zur diesjährigen Versammlung des Vereins für Kinderforschung am 11. und
12. Oktober in Halle a. S. Von Dr. med. Scmap-Moxsarn . .
Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. Von J.
Cur. HAGEN . . 34T.
Bericht über die V. Jahresversammlung des Vereins für Kinderforschung am
11. u. 12. Oktober 1903 in Halle a. S. Von Dr. med. StromsmavEr und
STUKENBERG .
An die Mitglieder des Vereins für Kinderforschung. Von STUKENBERG ;
Zulassung von Volksschullehrern zum akademischen Studium. Von J. TRÜPER
Für geistig zurückgebliebene Jünglinge und Jungfrauen rn
t Dr. med. Scınap-Moxsarv.. . . .
Herder und die Kindesscele. Von Prof. Dr. Leo LANGER
Der I. internationale Kongreß für Schulhygiene . ;
Sechste Bundesversammlung deutscher Taubstummenlehrer
Deutscher Kongreß für P Psychologie .
Schwachsinn und Militärpflicht . . u
Der Schularzt im Oberamt Cannstatt. Von Medizinalrat Dr. J. L. A. Koon .
a) Einige Bemerkungen. Von A. PAULMANN ; m a a a
b) Von EvvArn Schulze
Über Bettnässen. Von Aroıs Hark .
Neunter aan
Jugendgerichte 5
IV Inhalt.
Vom Kongreß für experimentelle Psychologie zu Gießen. Von UFER .
I. Internationaler Kongreß für ODVRNE zu DE vom 4.—9. April
1904. Von Franz FRENZEL .
Hörstummbeit. Von G. Mayor . .
Kurse in Theorie und Praxis der Fröbel - Erziehungslehre für Kinder-
gärtnerinnen, Elementarlehrer und Lehrerinnen ;
Ferienkurse in Jena . .
Die diesjährige Versammlung des Vereins für Kinderforschung
Zur Beantwortung mehrerer Briefe i
Der gegenwärtige” Stand der Heilpädagogik i in Ungam. Von Dr. PauL RANSCH-
BURG . f
Erziehung und Krankheit. Von Dr. med. HERMANN
Vom Kinde in der Kunst. Von FRIEDRICH KERST
Ein Fall von motorischer Aphasie. Von H. DörREICH .
Kiuderlaunen. Von Frau Hexxy Bock-NEUMANN .
Uber Bettnässen .
Das urnisehe Kind .
An die Vereinigungen für Kinderpsychologio ı und | Heilpädagogik u und Freunde
dieser Wissenschaften .
e
3
C. Literatur:
Ziehen, Dr. Jul., Über den Gedanken der Gründung eines Reichsschulmuseums
Von J. TRÜPER . a Bin A an a
Stadelmann, Schulen für nervenkranke Kinder. Von Dr. STROHMAYER . .
Ein nachahmenswertes Buch. Von Dr. Kocu . . 2 2 2 2 20202 .44
Eingegangene Schriften
Mönkemöller, Geistesstörung und Verbrechen im "Kindesalter. Von Dr. STROH-
MAYER . .
Möbius, P. J., Ausgewählte Werke. Von Dr. "STROHNAYER A
Verhandlungen der IV. schweizerischen Konferenz für das Idiotenwesen zu
Luzern am 11. und 12. Mai 1903. Von Fr. FRENZEL l
Schiner und Bösbauer, Fibel für abnorme Kinder. Von EDUARD SCHULZE SU
Brohmer und Kühling, Taubstummenlehrer, Übungsbuch zum Gebrauche beim
Rechenunterricht. Von Huco SEIFART . E i
Keller, Helen, Optimism. An Essay. Von O. DAsGER ;
Karth, Max, Uber abnorme Erscheinungen in der geistigen Entwicklung des
Kindes. Von O. DANGER . .
Berninger, Johannes, Ziele und Aufgabe der modernen Schul- und Volkshygiene.
Von Trkürkr . .
Oppenheim, Prof. Dr. H., "Die ersten Zeichen der Nervosität des Kindesalters.
Von Trürrr .
Baur, P , Seminararzt, Hygienischer Taschenatlas für Haus und Schule. Von
RËPER. . ; gois
Hahn, T Dio Strafrechtsreform und die jugendlichen Verbrecher, Von
ÜPER .
Archiv für Altersmundarten und Sprechsprache. Von UFER .
Berkhan, Dr. O., Über den angeborenen und früh erworbenen Schwachsinn.
Von TRÜPER ; E e ;
„Schutz für Geistesschwaches. Von TrüPER g
Gutberlet, Dr. C., Der Kampf um die Seele. Von Urer. . be en Dr i
Ament, Dr. W., Fortschritte der Kinderseelenkunde 1895—1903. Von UFER
Ribot, Th., Psychologio der Gefühle. Von Urer . ken a Sr e
Kroiss, Karl, Zur Methodik des Hörunterrichts. Von O. DANGER ,
NINA A ADLAN NA a Na
\ ~y? A ” K 7
A, Abhandlungen,
1. Der erste Lese- und Schreib-Unterricht in der
Hilfsschule.
Ein praktischer Versuch
Von
Eduard Schulze, Lehrer an der Hilfsschule zu Halle a/S.
»Die beste Bürgschaft für irgend eine neue Me-
thode, mag sie sich auf das Lesen, Schreiben und
Rechnen oder auf eine neue oder alte Sprache be-
ziehen, besteht darin, daß sie auf eine genaue
Kenntnis und Erklärung des Inhalts und der
Verfahrungsweise des kindlichen Geistes ge-
gründet ist.« G. Stauley Hall.
Der Lehrer der Schwachbegabten empfindet in höherem Maße die
Unvollkommenheiten der Unterrichtsmethodik als der Lehrer normal
beanlagter Kinder; durch die Schüler selbst wird der Hilfsschullehrer
getrieben, unausgesetzt nach neuen, besseren, psychologisch-richtigeren
Wegen im Unterrichte zu suchen. »Das wahre Unterrichten kennt
keine Unfehlbarkeit, sondern nur unausgesetztes Sinnen über
stete Vervollkommnung« (Fick).
Unter den Lehrfächern der Hilfsschule ist neben dem Rechen-
unterrichte besonders der erste Lese- und Schreib-Unterricht ein
schwerdrückendes Kreuz für Schüler und Lehrer. In der Hoffnung,
beiden Teilen diesen Unterricht erleichtern zu helfen und in der An-
nahme. daß jeder ernste Versuch, diesen Unterricht naturgemäß und
erfolgreich zu gestalten, meinen Kollegen willkommen ist, will ich
Die Kinderfehler. IX. Jahrgang. ]
2 A. Abhandlungen.
berichten über einen Lehrgang, den ich im verflossenen Schuljahre mit
einer Vorstufenklasse der hiesigen Hilfsschule praktisch versucht habe.
Veranlaßt wurde ich zu diesem Versuche durch die beiden be-
kannten Preisausschreiben des Evangelischen Diakonievereins: 1. Wie
läßt der erste Sprachunterricht durch das Verfahren des Selbstfinden-
lassens sich weiterbilden? 2. Des Kindes erstes Schulbuch, verfaßt
nach dem Grundsatze der Selbsttätigkeit, deren Bearbeitung von
Rektor Hexer, Rektor Wicar, Oberlehrer Lenuensick, Lehrer JETTER,
Lehrer Lemgke, Lehrer Scureiger, Lehrer Vocer und mir mit Erfolg
versucht wurde. Selbstverständlich habe ich mich bei meinem Ver-
suche von den Ausführungen dieser Männer beraten und leiten lassen.
Der Unterricht wurde nach Ostern 1902 mit sogenannten Vor-
übungen begonnen: die Kinder bildeten Reimrätsel (nach Wiese) und
faßten Laute, Silben und Wörter auf unter stetiger Verwertung von
Betätigungsübungen (Stäbchen- und Bogenlegen, Zeichnen in feuchten
Sand, auf Wandtafel, Schiefertafel, Papier. Immer gab bei diesen
Vorübungenn der Interessenkreis der Kinder die Anregung
und Führung ab.
Der eigentliche Leseunterricht begann erst in der Zeit nach den
Sommerferien. Zu diesem Zwecke wurden die Großbuchstaben
der lateinischen Druckschrift (A B C) einzeln vom Lehrer in
Papier ausgeschnitten und auf Pappe geklebt. Nachdem der Buch-
stabe von den Kindern erfaßt war, wurde er ihnen in etwas kleinerer
Form (Alphabet erschienen bei Jul. Klinkhardt-Leipzig) nahegebracht
und so bald es anging, mit «den schon erlernten Zeichen zu Silben
und Wörtern zusammengestellt. Als sodann die Kinder allmählich
über einen kleinen Wortschatz verfügten, lernten sie Lesetafeln
kennen, welche 5—12 Worte enthielten, und zwar solche mit ein-
heitlichem Gedankengange, dem ethischen und realistischen Stoffe
oder den täglichen Erlebnissen der Kinder entnommen; weitere
Übungswörter aus demselben Gedankenkreise entstanden unter Beihilfe
der Kinder an der Wandtafel.
Zu dieser Mannigfaltigkeit der Leseübung gesellte sich nun eine
solche der Handtätigkeit. Diejenigen Buchstabenformen, welche von
den Kindern erfaßt werden sollten, wurden mit Stäbchen und Bogen
aus Draht (lange Stäbchen von 6 em Länge, kurze Stäbchen von
3 em Länge, große und kleine halbe Bogen, deren Durchmesser den
langen und kurzen Stäbehen entsprechen) gelegt, in feuchten Sand
geschrieben, aus den Buchstaben der Klassen-Lesemaschine und den
Hescrschen Buchstabentäfelehen, die sich in der Hand jedes Kindes
befanden, herausgesucht; weiterhin wurden die Formen der Buch-
ScHuLzE: Der erste Lese- und Schreib-Unterricht in der Hilfsschule. 3
—m—[-
staben verschiedentlich auf der Wandtafel und im Schreibhefte
(Liniatur: einfache blaue Linien mit 6 mm Abstand) anfangs inner-
halb drei, später zwischen zwei Linien »gemalt«. Diese Übungen
ließen sich noch vermehren dadurch, daß die Buchstaben von den
Kindern in Ton geformt und in Papier, Kartoffeln oder Rüben aus-
geschnitten werden. Nicht bloß die Formen der einzelnen Buch-
staben, sondern auch die dem Interessenkreise der Kinder ent-
nommenen Übungswörter wurden durch die genannten mannig-
fachen Übungen der Selbsttätigkeit den Schülern nahegebracht. Geübt
und eingeprägt wurden auf diese Weise bis zum Ende des Schul-
jahres sämtliche Laute unserer Sprache und deren Zeichen mit Aus-
nahme von St, Sp, Pf im Anlaut, Ph, X, C, Y, Q.
Die Reihenfolge der einzuübenden Laute und ihrer Zeichen er-
gab sich an der Hand folgender ethischer und realistischer Gedanken-
gänge:
August: 1. Wie Gott auch dem Menschen Nahrung gibt.
2. Was während des Sommers auf dem Felde getan wird.
(Getreideernte.)
September: 1. Wie Gott die Erde fruchtbar macht durch Regen und
Sonnenschein — wie er uns auch im Unwetter be-
hütet.
2. Was wir essen.und trinken.
Oktober: 1. Wie Gott die Früchte reifen läßt.
2. Was der Herbst uns bringt in Garten und Feld.
1. Wie Gott die Pflanzen, Tiere und Menschen absterben
läßt. (Totenfest.)
November:
2. Was der Herbst uns nimmt.
Dezember: 1. Wie das Jesuskind geboren wird.
2. Welche Freuden der Winter den Kindern bringt.
Januar: 1. Gott läßt Tag und Nacht werden; er läßt Sonne, Mond
und Sterne scheinen.
2. Wie die Zeit eingeteilt wird. Der Himmel. Kaisers
Geburtstag.
Februar: 1. Was Gott mir alles gegeben hat.
2. Was das Kind von seinem Körper kennen lernt.
März: 1. Wie das Kind Gott lieben lernt.
. Wie das Kind auf seinen Körper achten lernen muß.
Die aus den vorstehenden Unterrichtsstoffen sich ergebenden
Übungswörter an dieser Stelle anzuführen, verbietet mir der zur Ver-
fügung stehende Raum; ich verweise darum auf das weiter unten
angegebene Beispiel vom Monat Dezember.
J
u
4 A. Abhandlungen.
Der weitere Fortgang des Unterrichts wird sich wie folgt ge-
stalten: Nach Ostern werden die Kinder bekannt gemacht mit den
Formen der kleinen lateinischen Druckbuchstaben, deren An-
eignung wenig Schwierigkeiten bereiten wird, da diese Formen den
groben Buchstaben gleichen oder ganz geringe Abweichungen
von diesen aufweisen. Zum Vergleich stelle ich eine Übersichts-
tabelle der vier lateinischen Alphabete hierher:
. 0 Ö U Ü |S W V J P ZK C X Y
2 o Öö u ü İ $s w v j p z k CcC xXx y
S
N
N
N
¿E 4 w “v J J xv k ez 7
OCWÜSSWIZITEHELY
. F E B R H L T D M N A Q&Q
Hu
ID
f e b r h I t d m n a Qq
3f 4 K x rA £ 4 d 772 72 KA Pá Fá
FEDNÄLTSGM MN AGO
Mit der Form der kleinen Druckbuchstaben zugleich kann man
auch die Form der Schreibbuchstaben einführen und kommt so
zum Schreiben der lateinischen kleinen und großen Schreibschrift.
»Die ‚lateinische‘ Schreibschrift, die von der Kursivschrift abstammt,
welche zu Anfang des 16. Jahrhunderts im Buchdruck eingeführt
wurde, war leicht zu bilden: die langen Buchstaben erhielten Schleifen,
die Buchstaben wurden miteinander verbunden und die Buchstaben
und Wörter möglichst in einem Zuge geschrieben. Die eckige Fraktur-
schrift des Buchdrucks hingegen bot viel mehr Schwierigkeiten dar,
als man begann, eine flüchtige ‚deutsche‘ Schreibschrift aus ihr ab-
zuleiten.« (Lay.)
Der vorbezeichnete Gang wird sich empfehlen, wenn man un-
bedingt jetzt schon »schreiben« will; da wir aber das eigentliche
Schreiben aus mancherlei Gründen so weit als möglich hinausschieben
wollen, werden wir erst sämtliche kleine Druckbuchstaben erledigen
und nach genügender Übung im Lesen derselben zur kleinen und
SCHULZE: Der erste Lese- und Schreib-Unterricht in der Hilfsschule. 5
endlich zur großen lateinischen Schreibschrift übergehen. Dieser
Gang hat den Vorteil, daß Schüler und Lehrer ihre ganze Kraft
einer Schwierigkeit, zuerst dem Lesen, widmen können und später,
bei Einübung der Schreibschrift, mehr Zeit dem Schreiben zu-
erteilen können, weil das Lesen keine Schwierigkeiten mehr bieten
wird. Wenn uns auch während der Behandlung der kleinen Druck-
schrift das Schreiben fehlen wird, so erblicken wir darin keinen
Nachteil; denn zur Betätigung der Hand haben wir immer noch die
Hrsckschen Buchstabentäfelchen, deren mannigfache Verwendung wir
jetzt in vollem Umfange aufnehmen können;!) außerdem bleibt uns
ja das Legen mit Stäbchen und Bogen und das Malen der Begriffs-
wörter in großen lateinischen Druckbuchstaben.
So werden wir auf diesem interessanten Wege am Ende des
zweiten Jahres sämtliche vier lateinische Alphabete bewältigt haben,
und die Kinder können nun an die Erlernung der sogenannten
deutschen Alphabete?) herangehen, die sie schnell sich aneignen
werden, weil sie im Lesen an vier Alphabeten reichlich geübt sind.
weil sie auch für das Schreiben die nötige geistige Reife und
körperliche Geschicklichkeit erlangt haben, weil endlich die Ab-
leitung der deutschen Schreib- und Druckschrift aus den schon be-
kannten Alphabeten ungezwungen sich ergibt.
Bei dem bezeichneten Lehrgange nehmen wir immer noch Rück-
sicht auf die bestehenden behördlichen Verordnungen; wären diese
nicht, so würden wir den Anfang für Lesen und Schreiben bis auf
ein späteres Lebensjahr hinausschieben, weil wir und mit uns viele
andere Erzieher und Eltern wie Pestalozzi, FRrÜöBEL, ZILLER, REN,
ParpexnnEım, Karu RicHter , Trürer u. a. (ich erinnere ferner an
die Bewegung, die durch Arrtuur Scuurz in seinen »Blättern für
deutsche Erziehung« vertreten wird) der Überzeugung sind, daß
in dem bezeichneten Alter die Erleinung dieser mechanischen
Fertigkeiten, die Erlernung von 25 Lauten und deren Zeichen in
einer erstaunlich kurzen Zeit und ohne geistige und körperliche
Anstrengung, ohne Schaden an Leib und Scele von den Kindern cr-
reicht werden kann. Es würden dann auch viele Kinder, die nach
»zwei Jahren« das Ziel des 1. Schuljahres nicht erreicht haben und
nun als »schwachbegabt« bezeichnet werden, der Hilfsschule fern-
1) Zur Orientierung verweise ich auf das Schriftchen des Herausgebers der
Täfelchen: Rektor Win. Hexck, Neue Bahnen im Elementarunterrichte. Selbst-
verlag. Rothenditmold-Kassel. 0,40 M.
2) Vergl. die Ausführungen Grımms über diese sogenannte »deutsche« Schrift
im Vorwort zum Deutschen Wörterbuche.
6 A. Abhandlungen.
bleiben können. An Stelle des Schreibleseunterrichts mit seiner
großen Anzahl von Lehrstunden, deren Erfolge in keinem rechten
Verhältnis zu der aufgewandten Zeit und Mühe stehen, haben wir
einen umfangreicheren Sachunterricht gesetzt, und zwar einen
Unterricht in der freien Natur; mehr wert als das Schreiben ist uns
die Bildung richtiger und reichlicher Sachvorstellungen. Diese sind
jedem Menschen, erst recht dem schwachbegabten, im späteren Leben,
für das wir ihn doch vorbereiten wollen, unentbehrlich, ja der Mangel
derselben wäre ihm sogar schadenbringend, während das »Schön-
schreiben« für ihn wohl ganz nützlich, aber doch entbehrlich ist.
Wir sind mit Dissterweg der Meinung: »\Wenn du das Kind zum
denkenden Sehen anleitest, so tust du viel mehr für dasselbe, als
wenn du ihm das Lesen und Schreiben beibringst. Ein Lesen und
Schreiben ohne Gedanken ist wertlos, aber ein wirklich sehendes
Auge, ein wirklich hörendes Ohr und einen denkenden
Geist hat jeder und in jedem Augenblicke nötig.« Aber wann
wird diese Ansicht allgemein anerkannt werden! »Die Tradition,
gleichviel ob sie berechtigt und verständig oder sinnlos und un-
berechtigt ist, behauptet sich mit dem Bleigewichte des Beharrungs-
vermögens, und der Kampf dagegen ist nicht gerade aussichtsvoll.«
Warum wählen wir nun als Anfangsalphabet die lateinischen
groen Druckbuchstaben? Wir sind nicht der Meinung, daß es »für
das Erlernen des Lesens ganz gleichgültig ist, welches Alphabet zur
Bezeichnung der Laute angewandt wird«. Uns Lehrern der Schwachen
kann es nicht »ganz gleichgültig« sein, ob unsere Schüler die Laute
durch sogenannte deutsche oder lateinische, durch Druck- oder Schreib-
buchstaben bezeichnen lernen; bei der Aneignung der Lautzeichen
spricht auch die Form derselben mit, und wir müssen uns fragen:
welche Buchstabenform prägt sich dem schwachen Geiste am sicher-
sten und leichtesten ein? Bei dem Nachdenken über diese Frage
müssen wir, wenn wir die Eigenart unserer Schüler berücksichtigen,
zu der Überzeugung kommen, daß von den acht Alphabeten, die
unsere Schüler leider immer noch sich aneignen müssen, keines so
einfache, klare und deutliche, dabei doch so charakteristische,
untereinander so verschiedene (nicht zu verwechselnde) Fornen
aufweist, als die großen lateinischen Druckbuchstaben. Wir fragen
weiter: Aus welchem Alphabete, als dem ersten für die Erlernung
des Lesens, lassen sich die übrigen, später noch zu erlernenden am
leichtesten, deutlichsten und sichtbarsten ableiten? Schon die geschicht-
liche Entwicklung der Schrift gibt uns die Antwort auf diese für die
Methodik des ersten Lescunterrichts nicht unwichtige Frage: aus der
Schutze: Der erste Lese- und Schreib-Unterricht in der Hilfsschule. 7
Antiqua. Wir fragen noch weiter: Welche Buchstabenfornm bietet
die meisten Apperzeptionshilfen, welche Buchstabenform gewährt
die zur sicheren Einprägung unentbehrlichen, welche diemannig-
faltigsten Übungen? Auch bei Beantwortung dieser wichtigen
Fragen entscheiden wir uns für die Buchstaben des lateinischen
Druckalphabets. Denn überall treten sie unsern Kindern in großen
Lettern als Aufschriften an Häusern und Schildern, an Wagen,
Karten und Bildern, in Büchern und Zeitungen entgegen. Ein
charakteristisches Beispiel für unsere Behauptung erzählt uns Grass
im 19. Jahrbuche des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik S. 233
von seinem im 5. Lebensjahre stehenden Sohne, der mit Bauklötzen
ein |— gelegt hat und fragt: »Papa, wie heißt der Buchstabe?« Auf
die Frage des Vaters, woher er den Buchstaben kenne, antwortet der
Knabe: »Ich habe ihn schon vielmal gesehen.« Als ich einst
meinen Schülern in der Unterstufe der Hilfsschule (Klasse III) sagte,
sie könnten jetzt malen, was sie am liebsten hätten, brachten mir
mehrere ein Haus (»Kaufladen«) mit einem Schaufenster, worüber sie
in richtiger Form lateinische große Druckbuchstaben gesetzt hatten,
natürlich ohne das Wort aufgefaßt zu haben. Diese Beispiele von
der leichteren Auffaßbarkeit der Form des genannten Alphabets
könnte jeder Vater vermehren durch hierauf bezügliche Erlebnisse
an seinen eigenen Kindern. Ferner möchte ich daran erinnern, daß
die Blinden, wenn sie für schende Menschen etwas schriftlich dar-
stellen wollen, sich ebenfalls dieses Alphabets bedienen. Warum
wohl? Da wir die Formen auch »malen«, stellt der Schüler nicht
etwa schriftlich andere Zeichen dar als er gelesen: ein Übersetzen
dieser Formen in die Schreibschrift — das wäre cin komplizierterer
physiologischer Prozeß — ist also nicht nötig.
Und nun die mannigfaltigen Übungen zur Einprägung der
Form: wir können die Buchstaben mit Stäbchen und Bogen legen,
können sie in Ton formen, in Papier ausschneiden und aufkleben, in
feuchten Sand schreiben, mit den Hexcxschen Buchstabentäfelchen
vor uns auf den Tisch legen, an der Lesemaschine aufstellen, an die
Wandtafel und in das Schreibheft »malen«. Mit welchem andern
Alphabete lassen sich so verschiedenartige Übungen anstellen?! Sollten
dieselben nicht beitragen zur festen und sicheren Einprägung der
Form?!
Der erste Schreihleseunterricht in seiner jetzigen Form stellt viel
zu hohe Anforderungen
1. an das mechanische Gedächtnis,
S A. Abhandlungen.
2. an das Formenauffassungsvermögen,
>. an die manuelle Geschicklichkeit.
Zu 1: Die heute so viel beklagte Überbürdung und die geistige
Ermüdung mit allen ihren verderblichen Folgen für Leib und Seele
der Kinder sind nur ein Ergebnis des in unsern Schulen noch
mächtig herrschenden Intellektualismus: wir Schulleute berück-
sichtigen bei der Erziehung der jetzigen Generation noch viel zu sehr
die Bildung des Verstandes, des rein mechanischen Gedächt-
nisses: wir glauben immer noch. die Vorstellungen, die wir über-
mitteln wollen, kommen allein durch Worte zu stande; wir glauben
genug zu tun, wenn wir Gehörs- und Gesichtssinn pflegen, wenn’ wir
uns an sie wenden, wenn der Schüler mit diesen arbeitet. Und die-
jenigen Erzieher, welche auf Grund ihrer gewonnenen Einsicht diesen
Fehler vermeiden wollen, werden durch die Stofffülle der Lehrpläne
und durch das Hinarbeitenmüssen auf äußerlich sichtbare Resultate
für den Revisor zu einem solchen Unterrichte geradezu gedrängt.
Diese einseitige Erziehung wird immer fühlbarer, darum erschallt
immer lauter der Ruf: harmonische Ausbildung aller Kräfte!
Durch den von uns beschrittenen Weg wollen wir nicht die
ganze Arbeit von dem Gedächtnis und von dem schwachen Verstande
des Schülers verlangen, sondern das, was der Verstand erwerben soll,
soll er mit Hilfe von Sinnes- und Bewegungseindrücken erwerben.
Es ist klar, daß die Aufnahme und Erwerbung, sowie das Fest-
halten des Neuen ungenügend sein muß, wenn nur ein Sinn tätig
ist, bei der Koordinierung mehrerer Sinne wird die Leistung
schon besser sein, und das Höchste werden wir erreichen bei gleich-
zeitiger Sinnesaufnahme und Bewegungsempfindung und
-vorstellung. Die Welt unseres ganzen geistigen Lebens
baut sich auf aus Sinnes- und Bewegungseindrücken. Der
Schüler wird darum leichter, schneller und sicherer lernen, wenn er
nicht bloß anschauend durch Auge und Ohr mit dem Gedächtnis
aufnimmt, sondern wenn er selbsttätig nachbildet und darstellt,
wenn er nicht nur »passiver Empfänger«, sondern »aktiver
Produzent« ist, wenn seine Hände mitarbeiten zum Nutzen des
Geistes, wenn zum Unterrichte des Lehrers die praktische
Tätigkeit des Schülers kommt. Es entspricht diese Art und Weise
des Unterrichts auch mehr der Eigenart des Kindes; denn dasselbe
ist mehr noch als der Erwachsene ein tätiges, ein handelndes
Wesen, weil es noch nicht, wie der Erwachsene, gelernt hat, seine
Worte, Bewegungen und Handlungen zu unterdrücken.
Erst durch die handelnde Darstellung findet die Anschauung
SchuLzE: Der erste Lese- und Schreib-Unterricht in der Hilfsschule. a)
ihre Vollendung. Man hat deshalb nicht mit Unrecht den Be-
wegungs-, den Tastsinn als den Ursinn alles geistigen Lebens
bezeichnet. »Die Gesichtsvorstellungen entwickeln sich bei Kindern
unter dem deutlichen Einflusse der Tast- und Bewegungsempfindungen.
Die Tastempfindungen sind die nachdrücklichsten und in praktischer
Beziehung die wichtigsten Empfindungen: daher übersetzen wir den
Inhalt des Gesichts- und Gehörsinnes in die Sprache des Tastsinnes:
kalte, warme, glühende, weiche, zarte Farben: weicher, harter, scharfer,
rauher, zarter, runder Ton.«1) Natürlich müssen wir bei der Aus-
nutzung der angeführten Tatsachen für unseren Unterricht immer be-
rücksichtigen, daß viele Gesichts-. Tast- und andere Vorstellungen,
die uns Erwachsenen wohl sehr einfach erscheinen, vom Geiste des
Kindes, besonders des schwachbegabten Kindes, erst allmählich er-
worben werden.
Aus dem Vorstehenden wird klar geworden sein, von welcher
wichtigen Bedeutung für die geistige Entwicklung des Kindes der
von der pädagogischen Psychologie bis jetzt so gut wie vergessene
Bewegungssinn ist, von einer Bedeutung, die ein Erzieher nicht
unterschätzen sollte! »Die Hand ist in einem gewissen Sinne dem
Gehirn niemals so nahe wie jetzt; die Kenntnisse wollen sich in
dieser Periode praktisch zeigen, und die Muskelentwicklung bildet
zu keiner andern Zeit eine solch wichtige Bedingung für das
Geistige.«
In welchem Umfange nun neben den Gesichts- und Gehörs-
vorstellungen auch der Tastsinn und die Bewegungsvorstellungen nach
dem im 1. Teile geschilderten Lehrgange Anteil am Lesenlernen
haben. wird man jetzt erkennen.
Die von uns angewandte Methode wird sich im weiteren Fort-
gange des Unterrichts zu dem entwickeln, was man gemeinhin jetzt
als »Handarbeitsunterricht« versteht, natürlich nicht in dem Sinne
als Fach, in dem die meisten Anhänger dieses Unterrichts das Wort
verstehen, sondern als Unterrichtsprinzip,?) wie ich bei Beratung
des Themas über »Handfertigkeitsunterrieht in der Hilfsschule« auf
dem III. Verbandstage in Augsburg angedeutet habe.
Zu 2: Haben wir uns bei dem heutigen Betriebe des ersten
Schreiblescunterrichts schon einmal klar gemacht, welche gewaltigen
Anforderungen wir an das Formenauffassungsvermögen des
1) W. A. Lay, Führer durch den Rechenunterricht.
?) Vergl. hierzu die ganz in meinem Sinne gehaltenen Ausführungen von
Max EsperLix, »Erziehung durch Arbeit« in den Blättern für Knabenhandarbeit 1903.
10 A. Abhandlungen.
kleinen ABC-Schützen stellen? Haben wir Lehrer der Schwachen
uns schon ernstlich die Frage zu beantworten gesucht, warum unsere
Schüler die uns so einfach erscheinenden Formen der deutschen
Schreibschrift während ihres zwei- und mehrjährigen Aufenthalts in
der Volksschule nicht erlernen konnten? Was haben wir getan, um
unseren Schülern die Sache einfacher und leichter zu gestalten?
Was konnten wir dazu tun? Nichts weiter als üben, und stets nur
dieselbe Übung: Schreibt die Tafel voll! Auslöschen! Noch ein-
mal! Auslöschen! Immer noch einmal! So geht es fort einen Tag wie
den andern, bis durch diese Quälerei auch das wenige noch vorhan-
dene Interesse vollständig ertötet ist. Und nun vergleiche man
damit die Anforderungen, die durch den vorgeschlagenen Lehrgang
an das Formenauffassungsvermögen unserer Zöglinge gestellt werden:
1. Die Leichtigkeit der Formen der großen lateinischen Druck-
buchstaben z. B. V, H, K, A, Z, R, P, G, gegenüber den Schwierig-
keiten der deutschen Schreibschriftformen
s Jo > , 3 > Jo GE
2. Die mannigfaltigen Übungen zur Aneignung der Formen der
großen lateinischen Druckbuchstaben gegenüber den geisttötenden
Übungen zur Befestigung der deutschen Schreibschriftformen: Durch
das Legen der Buchstaben mit Stäbchen und Bogen, durch das Formen
in Ton, durch das Ausschneiden usw. werden die Schüler geübt
im richtigen Beobachten und Wahrnehmen; sie werden durch diese
verschiedenartigen Tätigkeiten zu einer genauen Auffassung der Form
geradezu gezwungen; denn dieselbe wird sich in der Vorstellung um
so reiner, deutlicher und stärker bilden, je vielseitiger die An-
schauung und je mannigfaltiger die Übung ist. ZILLER weist auf
die große Bedeutung solcher vorbereitenden Tätigkeit für den Unter-
richt hin, wenn er in seiner »Grundlegungs sagt: »Das ist auch
nicht der geringste Vorzug des Ancinanderreihens aufgequollenener
Erbsen, des Formens aus Ton, des Ausschneidens, Faltens, Flechtens,
Bauens, Klebens, Durchstechens, Ausnähens und ähnlicher Frögenschen
Arbeiten, die zu den ersten Übungen im Auffassen der Gestalt
und im Augenmaße gehören und eine notwendige Vorstufe für
scometrie, Zeichnen, Gcographie und Schreiben bilden, daß sie so
leicht im übrigen Leben der Zöglinge fortwirken, daß sie sich so
leicht in deren Spiele, m deren Unterhaltungen, in das die
Kindheit Bewegende und Treibende verflechten und dadurch
die Einheit des Bewußtseins begünstigen.« Um wieviel sicherer
wird »das Auffassen der Gestalt« erfolgen, um wieviel mehr werden
SCHULZE: Der erste Lese- und Schreib-Unterricht in der Hilfsschule. 11
wir »die Einheit des Bewußtseins begünstigen«, wenn wir diese
spielenden und unterhaltenden Tätigkeiten mit den Buchstaben selber
vornehmen! Und dann wird es dem Schwachen auch nicht schwer
fallen, die auf die mannigfachste Weise eingeprägte Form zu »schreiben«:
|— \/ ( ) |, die wir alle,
der natürlichen Richtung entsprechend, von oben nach unten ziehen,
lassen sich sämtliche Buchstabenformen des vorgeschlagenen Alphabets
schreiben.
Zu 3: Die Schreibfertigkeit unserer Kinder ist zum großen Teile
doch nur deshalb so mangelhaft, weil die Ausbildung der Hand-
geschicklichkeit!) versäumt worden ist: sie sind für ihr ganzes
Leben schlechte Schreiber, weil die bei den frühzeitigen Schreib-
übungen gebrauchten, in der Ausbildung begriffenen, feineren Muskel-
gruppen überanstrengt werden. Die Grundlagen der Schreib-
fertigkeit und einer schönen Schrift sind der Zeichenunterricht
und systematisch geordnete Bewegungsübungen. Auf die grund-
legende Bedeutung des Zeichenunterrichts für das Schreiben hat
Trürer im Evangelischen Schulblatt schon im Jahre 1884?) hingewiesen;
ich kann deshalb von diesem Nachweise abschen, um mehr die
Wichtigkeit der Bewegungsübungen und der Ausbildung der manuellen
Geschicklichkeit zu betonen. Es ist unpsychologisch, wenn wir durch
unseren Unterricht nur den Geist bilden und die Bildung des Kör-
pers und seiner Glieder, besonders der Hände, vernachlässigen oder
höchstens die Bildung der letzteren im Turn- und Handfertigkeits-
unterrichte neben der Geistesbildung anstreben, wenn wir bei der
Erziehung der jungen Menschenkinder die Tatsache unberücksichtigt
lassen, daß Geist und Körper in ihrer Entwicklung sich gegenseitig
bedingen, wenn wir die Ausbildung der motorischen Zentren des
Gehirns versäumen. Diese Versäumnis muß der Erwachsene unter
vielen Mühen nachholen, unter vielen Mühen, weil die günstigste
Zeit für die Entwicklung und Ausbildung der Gehirmzentren, welche
die Muskelbewegungen «der Hände dirigieren, ungefähr in das 3. bis
15. Lebensjahr fällt. Während dieser Zeit können wir durch richtige
Erziehung die motorischen Zentren des Gehirns zu ciner Voll-
kommenheit entwickeln, die in einer späteren Lebensperivode nie zu
mit sechs verschiedenen Linien
t) Das Folgende ist inhaltlich verwandt und wird sich zum Teil decken mit
den Ausführungen, die ich zu Absatz 1 über »Bewegungsvorsteilungen« gemacht
habe; ich bitte die Leser, das dort Gesagte hierbei nochmals in Erwägung zu ziehen.
2) In der Abhandlung: »Fundamentalsätze für den Zeichenuuterricht, vom
Standpunkte des erziehenden Unterrichts« in Heft 4—9.
m
12 A. Abhandlungen.
erreichen ist. Darum werden Erziehung und Unterricht am
natürlichsten und damit auch am leichtesten und schnell-
sten in enger Verbindung mit der Bewegungstätigkeit vor
sich gehen. Aus diesem Grunde sollten Handtätigkeit und Bewegung
für jedes Kind, besonders für das schwachbegabte, wichtige Erziehungs-
mittel sein, ebenso wichtige, wie die Übung von Auge und Ohr, und
eine ungeschickte Hand sollte als ein ebenso großes Gebrechen an-
gesehen werden wie ein ungeübtes Auge und Ohr.
‚Wenn wir erwägen, daß die Muskelerziehung größtenteils der
geistigen Erziehung vorausgehen sollte, insbesondere seitdem man das
Denken als eine unterdrückte Muskeltätigkeit aufzufassen beginnt,
und wenn wir uns an das wichtige Gesetz erinnern, daß alle Kräfte
entwickelt werden, che sich die Fähigkeit zu deren Beherrschung
oder Hemmung entfaltet. 1) so müßten wir doch unbedingt eine Än-
derung unserer bisherigen Methode, bei der wir diese Tatsachen un-
berücksichtigt lassen, fordern. Wir können uns weiter der Erkennt-
nis nicht verschließen, daß ein Unterschied besteht zwischen den
fundamentalen Bewegungen und den feineren, späteren, äußerlichen,
accessorischen, daß die motorische Tätigkeit sich zuerst in den
größeren und später in den kleineren Muskeln entwickelt, daß die
größeren Muskelgruppen leichter zu beherrschen sind als die kleineren.
Auch nach diesen physiologischen Gesetzen sollten wir unsere Lehr-
methoden berichtigen. Auf den ersten Schreibunterricht angewandt
würde das bedeuten: zuerst vorbereitende Übungen wie Zeichnen
(besonders an der Wandtafel) und verschiedene FrögeLsche Tätig-
keiten. dann Buchstabenformen mit einer Länge innerhalb
zweier Linien, senkrecht stehend, mit derselben Muskel-
bewegung und mit derselben Muskelanstrengung zu »malen« —
die lateinischen großen Druckbuchstaben — und endlich das eigent-
liche Schreiben einer Schriftform, die den angeführten psychologischen
und physiologischen Gesetzen entspräche — vollständige Neuform
unserer jetzigen Schrift. Das wären Vorteile, die für das Schreiben
unserer Schwachbegabten, welche noch dazu häufig an Bewegungs-
schwächen oder Bewegungsstörungen leiden, nicht zu gering an-
zuschlagen wären.
Wohl hört man oft davon reden, daß die Schüler, besonders
unsere schwachen Schüler, mehr zur Selbsttätigkeit angeregt
werden sollen.?2) Aber haben wir mit diesem Grundsatze in unserer
') G. STASLEY lIarı-Stınrrt, Ausgewählte Beiträge zur Kinderpsychologie und
Pädagogik.
2) Vergl. Kinderfehler Jahrgang II, S. 104.
SchuzzE: Der erste Lese- und Schreib-Unterricht in der Hilfsschule. 13
Methodik wirklich Ernst gemacht? Es ist das Verdienst TrÜrERs, des
Vereins für Kinderforschung und des Evangelischen Diakonievereins,
die Selbsttätigkeit als Unterrichtsprinzip nachdrücklich betont zu
haben. Nur in der Schule werden die Kinder freudig arbeiten. in
der ihnen zur Selbsttätigkeit reichlich Gelegenheit gegeben wird;
denn erst durch das Selhsttätigsein erhält das Kind klare Vorstel-
lungen und damit größeres Interesse und höhere Freude am Unter-
richt. Die alte pädagogische Forderung: Unterrichte interessant! läßt
sich am sichersten erfüllen, wenn der Lehrer in seinem Unterrichte
den Kindern oft Anlaß zum Selbsttätigsein bietet, andrerseits wird
sie eine allgemeine Redensart, ein pädagogisches Schlagwort bleiben.
Besonders im ersten Sprech-, Schreib- und Leseunterricht sollte dieser
Grundsatz Geltung haben; doch »wenn irgendwo, so fehlt gerade auf
diesem Gebiete noch sehr die Durchführung des Grundsatzes der
Selbsttätigkeit in irgend einer Form.« Diese Anklage wird hinfällig,
wenn man den ersten Sprachunterricht und seine einzelnen Zweige
nach dem im vorstehenden gekennzeichneten Lehrgange erteilt.
Wir haben viel über Zerstreutheit, Unaufmerksankeit
und Interesselosigkeit unserer Zöglinge im Schreibleseunterrichte
zu klagen. Und doch sollten wir uns über diese Untugenden nicht
wundern, so lange wir Ruhe, Stillesitzen und Händefalten als höchste
Tugenden der Schüler preisen. Dazu kommt noch, daß das Ge-
dächtnis unserer Schwachen für die Lautklangbilder, für die Sprech-
bewegungsvorstellungen der Laute und für die Schreibbewegungs-
vorstellungen der Lautzeichen oft nicht stark genug ist, um die Re-
sultate festzuhalten, daß infolgedessen Interesselosigkeit, Abneigung
und Widerwille unbedingt entstehen müssen. Warum schlagen wir
nun nicht neue Wege ein, auf denen wir diese »Kinderfehler« ver-
hüten können? Ich habe mich überzeugt, daß die Aufmerksamkeit der
Schwachbegabten intensiver und die im Unterrichte empfangenen Ein-
drücke bei ihnen tiefer und dauernder sind, wenn wir sie selbst-
tätig, durch eigene Erfahrung, »handgreiflich« lernen lassen,
wenn wir den ihnen innewohnenden Bewegungstrieb richtig benutzen.
Da die Muskeltätigkeit von der Aufmerksamkeit begleitet wird, be-
gleitet sein muß, so beugen wir durch die mehrfachen Betätigungs-
übungen der Unaufmerksamkeit vor und erzielen Unterrichtsresultate,
die wir auf dem bisher beschrittenen Wege nie erreichen konnten.
Man muß erlebt haben, mit welcher Aufmerksamkeit jedes Kind,
selbst das aufgeregte und zerstreute, den Buchstaben oder das Wort
richtig legen und zuerst damit fertie werden will! In der Vorstulen-
klasse sitzen vier Kinder, die bis dahin noch keine Schule besucht
14 A. Abhandlungen.
haben: mit welchem Interesse, mit welcher Lebendigkeit haben diese.
vier gearbeitet! Und die andern Kinder, die mit dem Quark der Fibel
und mit den langweiligen, uninteressanten Schreibübungen schon ein-,
zwei- und mehrmal gequält wurden, sollten sie das Neue jetzt nicht
interessant finden? Die Erfahrung hat es gezeigt. Auch das wäre ein
Grund, den vorgeschlagenen, von dem Althergebrachten abweichenden
Lehrgang an der Hilfsschule einzuführen.
Durch diesen Lehrgang glauben wir auch der besonders in
unseren Kreisen mit Recht so oft betonten Forderung gerecht zu
werden: Berücksichtige die Individualität deiner Schüler! Durch
dieses mehr spielende Lernen, durch das Selbsttätigsein der Kinder,
durch das Hinausschieben des eigentlichen Schreibens glauben wir
uns mehr der leiblichen und geistigen Eigenart unserer Schüler an-
zupassen, als das durch den bisherigen Unterrichtsbetrieb möglich
war. Durch die Tätigkeit wird auch die Begabung der Kinder, die
man sonst für beschränkt hielt, ins rechte Licht gestellt; es gibt
Kinder, die dem alten Gedächtniskram wenig Interesse entgegen-
bringen, weil derselbe nicht ihrem Wesen entspricht, die aber scharfe
Augen, große Geschicklichkeit und lebhaftes Interesse zeigen, sobald
sie tätig sein können. Durch Tätigsein wird die Individuali-
tät entwickelt, sie wird offenbar, und der Lehrer kann sie
berücksichtigen.
Bei unserem Lehrgange kann selbst der Schwächste mit, dadurch
wächst ihm der verloren gegangene Mut; er ist mit »Lust und
Liebe« bei der Sache, weil er fühlt, daß er den Anforderungen, die
der Lehrer an ihn stellt, gewachsen ist. Es ist dies dieselbe Er-
fahrung innerhalb der Hilfsschule, die wir jedes Jahr bei der Auf-
nahme unserer Kinder von der Volksschule her machen: die dort
aus mancherlei Ursachen verschüchterten, unbeachtet gebliebenen
und zurückgestoßenen Kinder merken bei uns bald, daß sie doch
nicht so »dumm« sind als man sic glauben machen wollte, sie »tauen
auf«e. Diesen sittlichen Gewinn sollten wir nicht gering achten,
Wie viele Schüler haben wir nicht, die durch Worte ihres früheren
Lehrers, durch Spott der besser beanlagten Mitschüler und durch
falsche Behandlung unverständiger Eltern Mut und Vertrauen zu
sich selbst verloren haben! Sollten wir nicht jedes Mittel, das den
hedauernswerten Geschöpfen diese Eigenschaften zurückgibt, mit
Freuden begrüßen?!
Kurz erwähnen möchte ich noch, daß durch das Tätigsein mit
den Beschäftigungsmitteln auch der Sinn für Ordnung, die Acht-
samkeit, das gegenseitige Helfen und Raten gefördert werden.
SCHULZE: Der erste Lese- und Schreib-Unterricht in der Hilfsschule. 15
Mit dem Lesen- und Schreibenlernen im engsten Zusamme.u-
hange steht nun die Frage nach einem geeigneten ersten
Schulbuche für die Hand unserer Kinder. Es sei mir daher
gestattet, dies Thema zum Schluß zu berühren, zumal ich glaube, mit
dem von mir eingeschlagenen Wege auch die Fibelfrage zufrieden-
stellend gelöst zu haben. In den heute gebräuchlichen Leselehrmethoden
herrscht noch unumschränkt der Verbalismus, »der nicht den Schwach-
sinn und die Ideenflucht bei Schwachsinnigen bessert, sondern sie
vermehren muß,« der den jeweiligen Standpunkt des kindlichen Geistes
und Körpers mißachtet oder gar mißhandelt. Die meisten Stoffe der
ersten Schulbücher gehen über den Anschauungskreis und über die
Entwicklung des Verstandes, des Interesses und der Fassungskraft
des Schülers hinaus, sie setzen bei ihm eine Kenntnis voraus, die er
nicht besitzt, nicht besitzen kann und machen dadurch unseren
Unterricht zu einem bloßen Wortkram. Besonders für die Kinder
der Großstadt ist die Gefahr unzuverlässiger Voraussetzungen eine
große, weil der Hauptinhalt ihrer Fibeln nach altem Herkommen aus
dem Landleben entnommen ist. Beispiele zum Beweise unserer Be-
hauptung finden sich in jeder Fibel. Das oberflächliche, gedanken-
lose Lesen, das cin besonderes Zeichen unserer Zeit ist, ist die Folge
des im 1. Schuljahre mit den Fibeln beginnenden Lesens nicht-
verstandener Begriffe. Die Sprache der Fibel an sich betrachtet, ist
auch nicht die Sprache der Kinder, sondern die Sprache der Er-
wachsenen oder wohl gar die gezierte Phrasensprache der Buch-
und Zeitungsschriftstellerei. Man findet sogar Fibeln und Sprach-
bücher, welche die Sprache als solche zu lehren versuchen, losgelöst
von Gegenständen, Handlungen und der konkreten Wirklichkeit und
Wahrheit. Wie widersinnig! Sollte man nicht schon durch den Aus-
druck »Sprachunterricht< darauf kommen, daß dieser Unterricht
sich an das lebendige, »gesprochene« Wort wenden muß! Die
mangelhaften Ergebnisse des Sprachunterrichts sind zum größten
Teile die Folgen dieser papiernen Spracherlernung.
Triper hat in seinen Schriften »Die psychopathischen Minder-
wertigkeiten im Kindesalter und »Die Schule und die sozialen
Fragen«, sowie an verschiedenen Stellen dieser Zeitschrift oft mit
scharfen Worten auf diese Mängel im heutigen Sprachunterrichte hin-
gewiesen, doch wie es scheint, bisher ohne Erfolg: jede neu erschie-
nene Fibel liefert den Beweis. Warum leiden nun trotz der vielen
Hinweise noch alle Fibeln mehr oder weniger an diesen Fehlern?
Weil jede Fibel, sobald ihr Lehrgang abhängig gemacht wird von der
Sprechschwierigkeit und leichteren Verbindbarkeit der Laute, von der
16 A. Abhandlungen.
Schreibschwierigkeit der Buchstaben, von der Schreibweise der Laut-
entwicklungswörter u. s. w., nicht anders sein kann. Darum: Los
von der Fibel! Wir brauchen keine Fibel für den ersten Lese- und
Schreibunterricht! Wir wollen nicht schon den ABC-Schützen an ein
Buch fesseln! Das lebendige Kind soll uns alles, das Buch soll
uns nichts sein! Jeder Lehrer macht sich seinen Gang für den
Schreibleseunterricht selber und zwar im Anschluß an den übrigen
Unterricht und in engster Verbindung mit ihm. Nur auf diese Weise
können wir die von einer psychologisch-richtigen Lehrplantheorie auf-
gestellten Grundsätze, nach welchen für alle Uhnterrichtsfächer eine
innige Verbindung zu einer organischen Gedankeneinheit
verlangt wird, durchführen. Im Lehrplane jeder Schule sollte auf
jeder Stufe das Sachliche, nach psychologischen Gesichtspunkten
geordnet, die Grundlage bilden und das Systematische daran sich an-
lehnen. Das letztere sollte niemals einen selbständigen Gang an-
nehmen oder wohl gar das Sachliche beherrschen. Diese Wahrheit
gilt auch für den ersten Lesc- und Schreibunterricht und für die
Fibeln. Wir bieten darum unseren Kindern, unseren schwachen
Kindern, nicht ein Sammelsurium von unverdaulichen Worten aus
allen möglichen Sachgebieten, sondern wir bleiben in dem zur Zeit
behandelten Sachgebiete und lesen Wörter, die im Anschauungskreise
des Kindes wirklich liegen und eben jetzt im Vordergrunde des In-
teresses stehen. Alles, was das Kind liest, ist ihm durch den Unter-
richt bekannt, interessant und lieb geworden. Ich verstehe nicht,
wie Kritiker von Fibeln jene Kollegen, die als Lesestoff nur Wörter
aus dem Anschauungskreise der Kinder verlangen, als » Anschauungs-
fanatiker« verurteilen können, Kritiker, die da behaupten, eine Fibel
sei zum »Lesenlernen« da, sie sei nicht ein Leitfaden für den An-
schauungsunterricht. Das ist's ja eben, was jene wollen, nur daß sie
aus dem Prinzip einen richtigen Schluß ziehen, während diese Rezen-.
senten den falschen Schluß tun: weil die Fibel ein Buch nur zum
Lesenlernen ist, dürfen die unsinnigsten Wörter darin stehen; denn
es kommt nur auf das Lesenlernen, auf das Zusammenziehen der
Laute an. 1) Ein alter pädagogischer Grundsatz lautet: Immer nur eine
1) Buchstaben zusammenzulesen, kann doch wohl höchstens Mittel zum Zweck
sein. Das Kind soll lernen, mit Hilfe der Buchstaben Gedanken zusammenzu-
lesen, den Inhalt zu sammeln, und zwar von vorneherein. Aus einem Papageien
wird nie ein denkender Mensch. Wie zu den Zeiten des St. Paulus tötet noch
immer der Buchstabe, und auch noch heute ist es nur der Geist, der Inhalt, der
lebendig macht. Er muß darum auch überall im Unterrichte die Buchstaben be-
herrschen, nie umgekehrt. Trüper.
ScHhuLzE: Der erste Lese- und Schreib-Unterricht in der Hilfsschule. 17
Schwierigkeit auf einmal! Sollte er nicht gelten für den ersten Lese-
unterricht? Ist es nicht richtiger, dem Kinde, das lesen lernen soll,
also Wortbilder neu in sich erzeugen soll, zuerst nur Bilder von
solchen Wörtern zu geben, die ihm durchaus geläufig sind, die
es selbst in seiner Sprache gebraucht?! Ist es nicht an-
gemessener, wir sorgen dafür, daß jedes gelesene Wort unserer
Sprache in den Geist des Kindes so eingefügt wird, daß es wirklich
die entsprechenden Anschauungen damit verbindet und vorstellt, daß
jedes Wort dann überliefert wird, wenn die dadurch bezeichneten
Dinge, Eigenschaften, Vorgänge vom Kinde mit Interesse angeschaut
werden, wenn im Kinde ein Bedürfnis nach eben diesem Worte er-
zeugt wird?! Das Sprachverständnis ist das Hauptmittel zur
Sprachaneignung. Wir können doch nicht vom Kinde — vom
schwachsinnigen Kinde — neben der Erschaffung eines neuen W ort-
bildes auch noch die Erzeugung einer neuen Vorstellung ver-
langen! In den Lesetexten wird die vom Kinde gesprochene Sprache
nur wiedergegeben, nicht etwa weitergeführt. Erst auf einer
späteren Stufe suchen wir durch den Lesestoff auch neue Begriffe
zu entwickeln und neue Wörter einzuführen. ?)
Wie erlangen wir nun Kenntnis von der vom Kinde gesprochenen
Sprache, von seinem sprachlichen Standpunkte? »Was wir nötig
haben und in der Tat aller Wahrscheinlichkeit nach bald besitzen
werden, das sind sorgfältig angeordnete Kinderwortschätze über die
Formen und die Bedeutung der Wörter, um den Lehrern die Laut-
elemente und Lautverbindungen, mit welchen sich die Kinder anı
meisten abzumühen haben, dann die Wörter, welche sie am schnellsten
und sichersten erwerben, ferner die Zahl und Reihenfolge der Wörter
in jedem Gedankenkreise, und endlich die Attribute und Bedeutungen,
welche sie am meisten verwirren, zu zeigen.«?) Dies gewissenhafte
Forschen und Sammeln ist nötig, weil die Kinder nicht etwa, wie
die Fibelfabrikanten zu glauben scheinen, kleine Erwachsene sind mit
denselben Fähigkeiten, mit denselben Gefühlen und Trieben, mit den-
selben Interessen, nur in verkleinertem Maße, sondern weil sie einzig-
artige, von uns Erwachsenen nach dieser Seite hin ganz verschiedene Ge-
schöpfe sind. Wohl beobachten wir auch bei dem Kinde, wie bei dem
Erwachsenen, eine Abgrenzung und Anwendung der Begriffe, aber die-
selbe ist eine ganz andere als die, welche wir uns angeeignet haben.
Denn während die Begriffe bei uns scharf abgegrenzt sind, faßt sie das
1) Vergl. die Schriften von DertuoLDb Orrto.
?) HarL-Stiuert, Beiträge usw.
Die Kinderfehler. IX. Jahrzanr. 4
IS A. Abhandlungen.
Kind oft viel weiter, so daß es ihm möglich wird, auch das auszudrücken,
was ihm wegen Mangel an Wörtern von unserem Standpunkte aus
nicht gelingen würde. Diese individuelle Wortbedeutung sollten
wir erforschen und im ersten Leseunterrichte nicht unbeachtet lassen.
Wir sollten beobachten, welche Wörter es am häufigsten gebraucht,
welehe Ausdrücke es richtig oder falsch anwendet, welche eigentüm-
lichen Ausdrücke es benützt, wie es seine Sätze formuliert; wir
sollten diese Inhalte, Gedankengänge und Formen der kindlichen
Sprache studieren bei Kindern, wenn sie im Selbstgespräche und
wenn sie im Gespräche mit andern Kindern sind. Gelegenheit dazu
bieten das Schulleben, die Lehrspaziergänge und die Beobachtung der
eigenen Kinder. Dabei werden wir erkennen, daß »die Entwicklung
der Sprache bei dem normalen Kinde nicht regellos geschieht, weder
in Hinsicht auf ihr Hervortreten im Laute (Sprechen), noch, was ich
hier besonders im Auge habe, hinsichtlich ihres Aufbaues, wie der-
selbe stufenweise nach Inhalt und Form vor sich geht. Die Ent-
wicklung der Sprache des normalen Kindes ist ein Naturprozeß, der
aus ureigener Kraft hervorgerufen wird und sich ohne jede Vermitt-
lung vollzieht.<c Auch ohne jede gewaltsame Vermittlung der Fibel-
fabrikanten. Für uns Lehrer der Schwachen wäre die Forscherarbeit
noch zu erweitern, da wir auch die Ergebnisse der Erforschung der
Sprachentwicklung bei anormalen Kindern zu berücksichtigen hätten.
Woher nehmen wir nun unsere Lesetexte, wenn wir die Fibel
aus der Schule verbannen? Wir lassen sie durch die Arbeit der
Kinder an der Wandtafel entstehen. Die Stoffe dazu bieten der
übrige Unterricht, die Lehrspaziergänge, die Erlebnisse der Klasse
und auch, wenn der Gegenstand allgemein interessiert, Erlebnisse des
Einzelnen. Wir werden niemals über Mangel an Stoffen in Verlegen-
heit sein, denn es ist auch hier »das Leben in seiner reichen,
wechselnden Mannigfaltigkeit, welches die erste Sprache schafft, es
ist das Leben, welches das schöpferische Werde! spricht.« Dabei
kommt der geistige und besonders der sprachliche Standpunkt des
Kindes und die von seiner Natur verlangte beeriffliche Bearbeitung
aller Anschauungen sehr deutlich zum Ausdruck. Diese Art des
Entstehenlassens der Texte werden wir nicht nur auf der Fibelstufe
anwenden, sondern auf allen Altersstufen fortsetzen, und wir kommen
auf diese Weise zu Lesebüchern, die dem jeweiligen Standpunkte
unserer Kinder, ihrem Verstande, ihrer Fassungskraft, ihrem Interesse
wirklich entsprechen. (Man vergl. die Bestrebungen BsrTHoLD Orros
in den Hauslehrerschriften: Altersmundarten.) Für die Schüler ist
die Bearbeitung der Lesetexte zugleich eine gute Vorbereitung auf
ScHuzzE: Der erste Lese- und Schreib-Unterricht in der Hilfsschule. 19
die spätere selbständige Abfassung derselben, und ich verspreche mir
bei Durchführung dieses Prinzips auf allen Stufen große Vorteile für
den Aufsatzunterricht der oberen Stufe. Man wird überrascht sein,
mit welchem Interesse, mit welchem Wetteifer auch der Schwächste
an der Gestaltung der Texte arbeitet, welche Resultate der Unterricht
zeitigt, da auch hier die psychologische Wahrheit gilt, daß aller
Unterricht um so packender und erfolgreicher ist, je mehr
er sich an das lebendige, an das gesprochene Wort hält.
»Die Muttersprache wird die Vermittlerin fast des ganzen Unterrichts
dieser Periode sein; sie muß es aber auf dem kurzen Kreislauf vom
Ohr zum Munde sein, welches unbekannte Zeitalter lang vor dem
Schreiben oder Lesen existierte, aber nicht der Hauptsache nach auf
dem langen Kreislauf und biologisch ganz neuen Gehirnpfad vom
Auge zur Hand. Die Lehrer preisen die schriftlichen Haus- und
Schulaufgaben; all diese wenden sich aber an die neuen und un-
entwickelten Fähigkeiten der Nerven und Muskeln. Weil wir auf
solchen, zu dieser Zeit noch unzuverlässigen Grundlagen ein gutes
Deutsch aufbauen wollen, gibt es so viele berechtigte Klagen über
ein schlechtes Deutsch. Durch die Verfrühung ruinieren wir sowohl
die Handschrift als auch das idiomatische Sprechen. Das Kind sollte
in einer Welt der Lautsprache leben. Es sollte jeden Tag stunden-
lang hören und sprechen; dann könnte es die Fundamente für ein
reines und richtiges Deutsch legen und das Schreiblesen dem Hören
und Sprechen unterordnen, wie es sich gehört. Es würde schreiben,
wie es spricht, und wir würden dem Greuel der Büchersprache ent-
rinnen.« !)
Nach diesen Ausführungen vergleiche man den Lesestoff, den
die Schilder nach dem neuen Lehrgange z. B. im Monat Dezember
mit seinen den Kindern überaus naheliegenden ethischen und realisti-
schen Gebieten erarbeitet und gelesen haben, mit dem durch den
Lehrgang der Fibel gebotenen Übungsstoff, bei dem man zur Weih-
nachtszeit vielleicht zu den Buchstaben - Pi und 2 gckommen ist.
Lesestoff nach dem neuen Lehrgange:
JE SUS, KIND LEIN, MUT TER, MA RI A, JO SEF,
HIR TEN, FEL DE, HEU, WIN DELN.
TAN NE, ZE DER, WIN TER ZEIT, ZEN SUR.
KÖR BE, KET TEN, ZUK KER, RO SI NEN.
!) HarL-Stiurt, Beitiäge usw.
20 A. Abhandlungen.
PUP PE, WA GEN, SOL DA TEN, REI TER, BU REN.
PELZ, JOP PE, JAK KE, KAP PE.
Lesestoff nach der in der Hallischen Hilfsschule benutzten Fibel
von STEGER und \WVOHLRABE:
Ba E E nu 20
ae
Be ua, DI a a pe es
u A er
BER AU famy E E 2 T di
"e F E
Auch im weiteren Verlaufe des Unterrichts nach dem Lehrgange
der Fibel, bei Einführung der kleinen Druckschrift sowohl, wie auch
der großen Schreib- und Druckschrift, kann von einem geistig an-
regenden Material, von wirksamen Konzentrationsbildern niemals die
Rede sein, während der neue Lehrgang durch Einführung der kleinen
lateinischen Druckschrift (bei mir vom 2. Jahre ab) das Selbstbilden
und Lesen von Sätzen ermöglicht, die dem Anschauungskreise der
Schüler entnommen sind, ihrer Ausdrucksweise, ihrer Sprechfertigkeit
und Sprachbildung entsprechen; in engster Beziehung zum Lesen-
und Schreibenlernen stehen auch hier wieder, wie überall, die Be-
tätigungsübungen, die nach der hergebrachten Lehrmethode infolge
des gekennzeichneten Mangels natürlicherweise gelähmt oder ge-
mindert sind.
Der vorbezeichnete Lehrgang mit seiner Auswahl angemessener
Sachgebiete, mit dem unausgesetzt in Regsamkeit gehaltenen kind-
lichen Interesse und der Ordnung und Vermehrung der kindlichen
Gedanken, sowie endlich mit seinem mannigfaltigen Umsetzen des
Gesehenen und Gehörten in ein bewußtes Tun, vermittelt das geistige
Erwachen der oft noch recht tief schlummernden Psyche wohl eher
und sicherer, als der durch die Fibel gewiesene Lehrfortschritt, nach
welchem die Förderung der Lese- und Schreibfertigkeit höher bewertet
wird als die Gesamtentwicklung des kindlichen Geistes. Die Not-
wendigkeit einer Neuform des ersten Lese- uud Schreibunterrichts
wird jeder Einsichtige zugeben. Wir Lehrer der Schwachbegabten
haben wohl alle das lebhafte Verlangen, unsern Schülern diesen
Unterricht so viel als möglich zu erleichtern. Eine Erleichterung
erhoffte ich gerade von dieser Methode, von der wir wohl dasselbe
Die Liebe bei den Kindern. 2}
behaupten dürfen, was ein Taubstummenlehrer von FoRCHAAMMERS
imitativem Sprachunterricht in der Taubstummenschule sagt: sie ist
eine humane Methode, die an die Schüler keine größeren An-
forderungen stellt, als sie mit Leichtigkeit erfüllen können. Selbst-
verständlich will ich nicht gesagt haben, daß das Neue nur in der
hier angegebenen Weise ausgeführt werden könne, dazu reichen die
Erfahrungen nicht aus; weitere Versuche von den verschiedensten
Kollegen in den verschiedensten Schulen durchgeführt, werden auch
bier das Richtigste und Praktischste ergeben. Darum empfehle ich den
Versuch allen Kollegen aus voller Überzeugung. An Einwendungen
wird es nicht fehlen: dieselben werden uns aber, sachlich gehalten,
zur Förderung der Frage willkommen sein. Möge man deshalb ohne
Voreingenommenheit und mit Ernst prüfen; denn es ist nicht gut,
wenn man sich das objektive Beurteilen durch vorgefaßte Meinungen
von vornherein verdirbt. »Jede Unterrichtsweise, welche die Selbst-
tätigkeit fördert, ist aufmerksamster Pflege wert«, schrieb erst jüngst
wieder der von mir hochgeschätzte Kollege WEHLE.
Möchten diese Zeilen als ein Beitrag zur Förderung des ersten
Sprech-, Schreib- und Leseunterrichts in der Hilfsschule zum Segen
für unsere Schüler sich erweisen!
Literaturnachweis:
Hexck, Reform des Lese-, Schreib- und Sprachunterrichts in der Elementarklasse.
LEHauensick, Das Prinzip des Selbstfindens in seiner Anwendung auf den ersten
Sprachunterricht.
Wise, Der erste Sprachunterricht nach dem Prinzip der Selbsttätigkeit.
SCHREIBER, Beiträge zur Theorie und Praxis des gesamten Elementarunterrichts.
VogEL, Die Erziehung unserer Schulneulinge zum Wissen.
HarL-Srtivprt, Ausgewählte Beiträge zur Kiuderpsychologie und Pädagogik.
Erpvass und Dover, Psychologische Untersuchungen über das Lesen.
Fatıuans, Geschichte der Schrift.
FORCHHANMER, Der imitative Sprachunterricht.
Lay, Führer durch den Rechtschreibunterricht.
Ders., Führer durch den Rechenunterricht.
Schutz, Blätter für deutsche Erziehung.
Orro, Hauslehrerschriften.
B. Mitteilungen.
l. Die Liebe bei den Kindern.
Von R. Speyer.
Die beiden grofsen, weltbewegenden Eigenschaften: der Hafs und die
Liebe vibrieren in dem psychischen Organismus eines Kindes ebenso heftig
22 B. Mitteilungen.
wie in dem eines Erwachsenen. Je nach der Veranlagung des Kindes
wird die Herrschaft, die diese beiden Leidenschaften über das Kind be-
kommen, verschieden grols sein, und sich bei einem mit reicher Fantasie
begabten Kinde stets am stärksten zeigen. Beim Studium des ver-
brecherischen Kindes, sind Psychologen wie Montegazza und Lino
Ferriani, auf die wir uns hier beziehen [von Ferriani siud die nachstehen-
den Briefe entnommen], zu der Überzeugung gekommen, dafs die grofsen
Leidenschaften der Menschen, die Liebe und der Hafs, die Seele eines
Kindes mit gröfserer Schnelligkeit und Heftigkeit erfassen, als die eines
Erwachsenen. Die rege Phantasie, die Sorglosigkeit des Alters, der Mangel
an Erfahrung und die schnelle Fassungsgabe des Kindes, diese Faktoren,
die das Feuer in dem kleinen Herzen schüren und leicht die ernsteste
Schädigung des psycho-intellektuellen Organismus herbeiführen, arten
später nur zu oft in Perversität aus.
Die Erziehung muls hier schon frühzeitig einsetzen und einer über-
starken Sentimentalitätsäulserung des Kindes zu steuern versuchen. Das
Prinzip moderner Pädagogen, dem Kinde Gelegenheit zur freien Entfaltung
der Anlagen zu geben, weder zu unterdrücken noch zu fördern, und nur
allein durch gute Beispiele zu wirken, ist im allgemeinen bei normal
veranlagten Kindern wohl durchaus richtig, andere aber, und mit diesen
beschäftigen wir uns hier in erster Reihe, brauchen eine sicher führende
Hand, die es versucht, mit Klugheit und grölstem Zartgefühl das Kind
zu leiten. Es muls dem Kinde die Gelegenheit genommen werden, seine
Empfindungen, seine liebenden Wünsche in so stürmischer und heftiger
Weise, wie es oft bei ihm der Fall ist, zu äÄulsern.
Mit den vornelimeren Waffen der Klugheit und des Zartgefühls wird
man bei der Erziehung stets viel mehr erreichen, als mit der leider bei
so vielen Erziehern üblichen Manier, den Kindern in höhnischer, verächt-
licher und gleichgültiger Weise entgegenzutreten. Das sind die Mord-
waffen, mit denen so viel in unserer Erziehung gesündigt wird, die jedes
zarte Empfinden des Kindes ertöten und sie, die getäuscht und belogen
werden, zu leuchlern und Lügnern stempelt.
Man geht vielfach von der irrigen Ansicht aus, dafs die psychischen
Anlagen des Kindes im Verhältnis zu seiner körperlichen Entwicklung
stehen, und glaubt, dafs in einem kleinen Körper auch nur kleine Leiden-
schaften wohnen können. Das ist ein grofser Irrtum, denn wir sehen oft,
dafs das Herz eines Kindes ganz ebenso von einer Leidenschaft erfalst
wird wie das eines Erwachsenen, und dafs, wenn hier Erfahrung, Über-
legung und Erziehung mildernd eingreifen, das Kind, dem dies alles fehlt,
sich ihr in der sorglosesten und schrankenlosesten Weise hingibt. Und
wenn hier nicht durch die kluge Hand des Erziehers energisch eingegriffen
wird, wenn die Atmosphäre, in der das Kind lebt, nicht eine reine und
gesunde ist, so kann die Liebe des Kindes, deren Schwester die Eifersucht
ist, leicht grolses Unglück anrichten. Ist das Kind erblich belastet oder
in einer verbrecherischen Familie zu leben gezwungen, so hat die Eifer-
sucht, das kleine anormale Wesen schon zu Handlungen getrieben, wie
sie schlimmer nicht von den gröfsten Verbrechern ausgeführt werden können.
Die Liebe bei den Kindern. 23
a LU e e a a e a am a aM a a i a aaa amaaa amama aIamŘħiIħõ
Die Seele des Kindes offenbart sich am besten in Briefen, und deshalb
sollen hier einige eingefügt werden, die den Beweis erbringen, welch’
grofse Rolle die Liebe im Leben der Kinder spielt. Die Briefe rühren
erstens von anormalen Kindern her, die einer verbrecherischen Familie
entstammen, zweitens von normalen, aber mit besonders stark verliebtem
Naturell begabten Kindern. Die leidenschaftlichen Briefe, in denen die
Liebe vorherrscht, unterscheiden sich nicht wesentlich voneinander, in
Bezug auf die Eifersucht aber sind sie ganz verschieden: die kleinen Ver-
brecher gehen in ihren Drohungen bis zum äulsersten, ja bis zum Mord;
die andern hingegen ergehen sich in melancholischen Ausdrücken und
sprechen sogar die Absicht aus, sich das Leben zu nehmen.
Anormal.
Ein kleiner Knabe von neun Jahren, der einer liederlichen
Arbeiterfamilie entstammt. Der Vater ist wegen Diebstahl mehrfach be-
straft; das verbrecherische Milieu hat viel zur abnormen Entwicklung des
Kindes beigetragen. Seine Liebe war früh dem Laster verfallen, blieb aber
ihrem Anbeter gegenüber unempfindlich:
»Liebe Anna!
Du weifst ja, dafs ich Dich liebe, wenn Du aber dabei bleibst,
mir immer nein zu sagen, breche ich Dir die Rippen entzwei. In-
zwischen küsse ich Dich.«
Ein Mädchen von zwölf Jahren, das einer wohlhabenden und
anständigen Familie angehört, wurde, weil die Mutter nicht die geeignete
Erzieberin des Kindes war, früh in eine Pension geschickt, da man der
Ansicht war, dafs die Keime, die in dem Kinde steckten, dort am besten
bekämpft werden könnten, bedachte aber nicht, dafs hier oft uieser
Leidenschaft Vorschub geleistet wird. Eine Dame bemerkte einmal sehr
richtig: »In der Pension werden einem alle Bäume zu Männern, und
später, in Wirklichkeit, alle Männer zu Bäumen.« Dafs Kinder sich in
Erwachsene verlieben, kann man nur zu oft beobachten. Sie kommen
sich dadurch selbst erwachsener vor und glauben die andern auch leicht
über ihr wahres Alter zu täuschen.
Das zwölfjährige Mädchen hatte sich in den zweiundzwanzigjährigen
Sohn (des Pensionsgärtners verliebt, der sie wohl zuweilen verliebt ange-
blickt hatte, dessen Braut aber ein Dienstmädchen der Pension war. Von
Eifersucht gequält schrieb das Kind an ihn:
»Ich liebe Dich, ich bete Dich an, und will, dafs Du mein seist,
mein, mein, mein ganz allein, mein Gatte, meine einzige Liebe; wenn Du
nicht einwilligst, werde ich mich schrecklich rächen, und sollte die Welt
auch daran zu Grunde gehen.«
Ein Knabe von dreizehn Jalıren, Sohn eines Mannes, der
zweimal wegen Körperverletzung bestraft wurde. Er liebt ein fünfzehn-
jähriges Mädchen, das ihm zuerst mit Kälte und dann mit Hohn begegnet.
Er schreibt an sie:
»Wenn Du mich nicht lieben willst, zerfleische ich Dir das Gesicht;
nimm Dich in acht, ich bin im stande Dich zu töten.«
24 B. Mitteilungen.
Ein Knabe von dreizehn Jahren an ein kleines dreizehnjähriges,
sehr hübsches und kokettes Mädchen:
»Du wirst mein sein, oder ich bringe Dich um! Ich bin eifer-
süchtig und könnte Dich töten!«
Er war ein kleiner Othello und warf der kleinen Koketten, die von
drei Knaben geliebt wurde, einst bei einem Anfall von Eifersucht einen
Stein an den Kopf.
Normal. +
Ein Mädchen von neun Jahren aus adliger Familie, das sich in
einen sechsunddreilsigjährigen Lehrer verliebt hat.
»Ich bete Dich an wie die Engel im Paradies Gott anbeten.
Liebe mich, sonst sterbe ich vor Gram.«
Ein Mädchen von zwölf Jahren aus adliger Familie verliebt sich
in einen schönen Knaben von fünfzehn Jahren, der ihre Zärtlichkeit
mit Verachtung von sich weist, und sie wie eine Herumtreiberin be-
handelt. Sie schreibt ihm:
»Ach, mein Gott, was muls ich leiden, wie habe ich weinen
müssen, als Du mir gesagt hast, ich wäre eine Herumtreiberin! Warum
quälst Du mich so? Siehst Du denn nicht wie ich leide, wie elend ich
werde; ich schlafe nicht mehr, ich esse nicht mehr. Ach Gott! Ich
fühle es, wenn Du mich nicht liebst, werde ich mir das Leben nehmen,
ich tue es ganz bestimmt, und wenn ich einst tot bin, wirst Du mir
eine Rose auf mein Grab pflanzen.«
Hier ist der Selbstmord mit einer romantischen Idee verknüpft, die
weit über das Alter hinausgeht. Ungeeignete Lektüre oder Theaterbesuche
haben augenscheinlich diese Ideen in die Seele des Kindes gepflanzt.
Ein kleines Mädchen von zehn Jahren und ein Knabe von
zwölf Jahren aus adliger Familie.
Es handelt sich hier um einen schr ernsten Fall, der durch den
Wunsch der Eltern aus den Kindern der beiden befreundeten Familien
ein Paar zu machen entstanden ist. Die Erziehung, die die beiden
Kinder bekommen haben, war die denkbar beste, sie haben auch bei den
Eltern und im Hause nur das Beste vor Augen gesehen, aber man
amüsierte sich damit, die beiden Kinder schon früh als zukünftiges Ehe-
paar zu denken und ihre Spiele als Mann und Frau gut zu heilsen. Das
bringt immer Gefahr, und derartig verliebte Empfindungen können leicht
in eine traurige Wahrheit ausarten. Die Studienzeit des Knaben trennt
die beiden Kinder. Er hat seine kleine Freundin vergessen; sie aber
liebt den Mann, wie sie schon den Knaben geliebt hat, wird aber die
Frau eines andern. Sie treffen sich wieder als junge und schöne
Menschen und die Zeit, da sie Mann und Frau spielten, steht ihnen
wieder vor Augen, bald verfallen sie wieder in das frühere »Du« und
er wird ihr Geliebter. Die Kinder-Komödie verwandelt sich hier in ein
Ehebruchsdrama.
Hier noch ein Brief aus ihrer Kinderzeit, den das Mädchen in der
Hoffnung schreibt, dals ihr kleiner Gatte ihr treu bleiben wird, denn sie
fiiblt, dafs sie ohne ihn und seine Liebkosungen nicht mehr leben kann.
Über einige abnorme Erscheinungen im kindlichen Seelenleben. 25
»Du bist mein einziger Gedanke, dich sehe ich überall, beim
Spiel, bei der Arbeit, beim Essen und mit Sehnsucht erwarte ich den
Beginn der Ferien, um Dich zu umarmen und Dir zu sagen, dafs ich
für immer und ganz Dir angehöre.«
Aus all’ diesem geht hervor, wie unrecht die Eltern tun, wenn sie
den Leidenschaften der Kinder und ihren sentimentalen Neigungen nicht
genügende Aufmerksamkeit schenken, und wie wichtig es für die Mutter
ist, in ihr Erziehungsprogramm die Psychologie ihrer Kinder mit aufzu-
nehmen.
2. Über einige abnorme Erscheinungen im kindlichen
Seelenleben.
Von Dr. A. Kühner, Koburg.
Die Kinderforschung bildet eine der reichsten und ergiebigsten
Quellen der Erweiterung des Wissens und Könnens für den Arzt, den
Lehrer, den Seelsorger, für Haus und Familie. Die Kindheit ist für uns eine
der beredtesten Naturerscheinungen geworden, die uns in ihrer allmählichen
Entwicklung sowohl über unsere Verwandtschaft mit der Tierwelt als über
verschiedene Zustände beim Erwachsenen Anfklärung gibt sowie über die
Kräfte berichtet, durch welche die Menschheit im Laufe der Zeit eine so
erhabene Stellung sich erworben hat. Lehrer, Erzieher und Ärzte müssen
daher gemeinsam wirken zur Aufklärung abnormer Erscheinungen im
Kindesalter, gutartiger oder hösartiger Natur. Bei der regen Arbeit und
Fürsorge für das abnorme Kind und seine Behandlung, bei der allmäh-
lichen Klärung der abnormen Erscheinungen im kindlichen Leibes- und
Seelenleben,!) bei der ungemein wichtigen Bedeutung von Defekten im
Seelenleben bei Kindern und Erwachsenen für die strafrechtliche Würdi-
gung, hingesehen auf die Tatsache, dals das Geistesleben des Erwachsenen
uns vielfach erst aus dessen Vorleben und der kindlichen Entwicklung
erschlossen wird, ist die Erfahrung tief zu beklagen, dals diese For-
schungen der Pädagogen und Psychiater von der Rechtspflege, welcher
sie den grölsten praktischen Nutzen versprechen, ganz unbeachtet
bleiben. Man rügt die vielen widersprechenden Gutachten Sachverständiger
in forensischen Fällen. Stehen die gerichtlichen Erkenntnisse, die im In-
stanzenzug geradezu den Rechtsirrtum als tatsächlich bekennen, etwa nicht
in Widerspruch? Der Vorwurf der notorischen Verschiedenheit, durch
welche man ärztliche Gutachten in ein verdächtiges Licht zu setzen sucht,
trifft selbst die exakteste angewandte Wissenschaft, die Mechanik, bei
welcher verschiedene Vorschläge zur Erreichung desselben Zwecks sich be-
streiten. Und sehen wir nicht, dals in allen andern Rechtsfragen, in
Wir setzen zahlreiche wervolle Beiträge über diesen Gegenstand in der
»Zeitschrift für Kinderforschung« als bekannt voraus, insbesondere auch die Sonder-
schrift von J. Trüper, Die Anfänge der abnormen Erscheinungen im kindlichen
Seelenleben, eine Arbeit, auf deren Inhalt wir mehrfach verweisen,
26 B. Mitteilungen.
theologischen, politischen, pädagogischen Problemen die Ansichten so zahl-
reich sind als die Köpfe? Und in der Medizin, die ein stets im Wechsel
begriffenes lebendiges Wissen von einem Organismus bildet, der, weil er
lebt, in gleicher Umwandlung sich befindet, in unseren Gutachten über
normales und abnormes Geschehen von Menschen, an Menschen verlangt
man Einigkeit bei der Beurteilung menschlicher Situationen, welche
äulsere und innere Verwicklungen und Kombinationen bieten der mannig-
fachsten Art, man erwartet Einigkeit zu einer Zeit, in welcher uns die
Entwicklungslehre!) sagt, dafs die Dinge an sich weder warm noch kalt,
weder gut noch böse, weder schön noch hälslich, weder normal noch ab-
norm, weder gesund noch krankhaft, nie das eine oder das andere sind,
sondern immer beides zugleich! Man verlangt Einheit, Gewifsheit, Tat-
sächlichkeit von einer Wissenschaft, die im raschen Flug wechselvoller
Erscheinungen nur eine Probabilitätsrechnung zuläfst. Schon Schiller
erhebt im »Verbrechen aus verlorener Ehre« den Vorwurf: »Die Richter
sehen in das Buch der Gesetze, aber nicht einer in die Gemütsverfassung
des Beklagten.« Dieser Zustand besteht noch heute zu Recht mit wenigen
Ausnahmen. Auf dem Kongrefs für Kriminalanthropologie zu Genf ist
vor einigen Jahren behanptet worden: »Der Richter als Vertreter des Ge-
setzes muls im gegebenen Fall unterscheiden, ob der Delinquent verant-
wortlich ist oder nicht. Niemals aber wird er seine säkulare Gewalt vor
einer Kommission von Ärzten oder Soziologen niederlegen. Die juristischen
Wissenschaften und unter ihnen die Wissenschaft vom Strafrecht müssen
ihre Autonomie in der Hierarchie der Wissenschaften aufrecht halten,
Kriminalanthropologie aber ist ein Wortmilsbrauch gleichbedeutend mit
philologischer Astronomie und metaphysischer Chemie.« Hierauf erwidert
der Abgeordnete und Professor »der Rechte« Ferri aus Rom die
schönen Worte: »Wenn Herr Zakrewsky verspricht, nie den Forderungen
der Wissenschaft weichen zu wollen, so vergifst er vielleicht, dafs die
Richter nur die Diener, die Vollzieher des Rechts, niemals aber seine
Schöpfer sind. Da das Recht durch den umbildenden Einfluls wissen-
schaftlicher Eroberungen täglich sich umgestaltet, so ist es auch notwendig
und selbstverständlich, dafs der Richter sich den Neuerungen anzupassen
hat. Und wenn der gegenwärtige Richter von unserer Wissenschaft nichts
versteht, so liegt der Fehler nicht an ihr, sondern an den mangelhaften
und verjährten Universitäts-Einrichtungen, aus denen er ohne Begriffe von
Psychologie, Soziologie und Psychiatrie als Rechtsgelehrter hervorgegangen
ist. Sollten die Richter, wie die apokalyptische Behauptung des Herrn
Zakvewsky beilst, niemals ihre säkulare Gewalt, weder vor einer Ge-
sellschaft von Ärzten, noch vor einer Gesellschaft von Soziologen ablegen,
so bleibt uns als einzige Erwiderung: Um so schlimmer für die Richter,
wenn sie sich über die Wissenschaft erhaben fühlen. Aber den Herrn
Senator möchte ich noch an einen Gedanken erinnern, der von einem der
t) Ich verweise zu dieser Erkenntnis auf das soeben erschienene epoche-
machende Werk von Julius Iart: Die neue Welterkenntuis. Verlegt bei Eugen
Diederichs, Leipzig. 5 M, geb. 6 M.
a
Über einige abnorme Erscheinungen im kindlichen Seelenleben. 27
klassischen Juristen aller Zeiten herrührt und der ihm zeigt, wie tief sich
das Recht von den Tatsachen der Anthropologie d. h. von den biologischen
und psychologischen Erkenntnissen inspizieren lassen muls, um als wahres
Recht zu gelten. Vielleicht schreibt Herr Zakrewsky diesen Ausspruch
jener philosophischen Astronomie zu, von der er uns eben unterhielt, wir
aber haben ihn von dem grofsen römischen Redner und Juristen Cicero.
Er schreibt: A natura hominis discenda est natura juris. »Von der
menschlichen Natur muls man die Natur des Rechts lernen« und das gilt
von der Natur des Einzelmenschen so gut wie von der Natur des Kollektiv-
menschen. «
Die Tagespresse bemerkt, anlälslich des diesjährigen Juristentages,
dafs »eine Kluft sich bilde zwischen der geübten Rechtspflege und den
Rechtsanschauungen des Volks«, dals »gewisse Urteile, die mehr der Spitz-
findigkeit und Haarspalterei, als dem gesunden Menschenverstand dienen,
in weiten Kreisen Aufsehen erregen« u. s. f. Häckel vermilst im »Welt-
rätsel«e die psychologische Schulung der Juristen. Noch entschiedener
tritt der Professor der technischen Hochschule zu Charlottenburg, Riedler
auf. In der Sitzung des preufsischen Herrenhauses vom 29. März 1901
sagte er u.a.: »Die Juristen haben einen Wall von Vorurteilen und Vor-
rechten aufgetürmt. Der Wall verträgt keine Bresche, sonst fällt der ganze
künstliche Bau zusammen.« »Klarsehende Juristen schen wohl ein, dafs
ihr Ansehen im Land trotz der Monopole im Niedergang ist, in dem
Mafs, als selbst im eigentlichen Rechtsleben die Rechtsprechung mit dem
Rechtsbewulstsein im Volk in Widerspruch kommt, in dem Mafs, als die
Rechtspraxis eine Kunst der Zunft wird, unzugänglich dem gesunden
Menschenverstand.« Hingesehen auf diese Äufserungen der Zeit und ihrer
Sachverständigen, hingesehen auf den kindlichen Entwicklungsgang und
dessen Ausdruck im Erwachsenen, wird man gegen vorstehende Betrach-
tung gewils nicht den Vorwurf erheben, sie sei nicht praktisch, nicht
zeit- oder ortsgemäls. Zu unserer Rechtfertigung der Behauptung vom
Formalismus, der unsere lebendige Wissenschaft von den Natur -Lebens-
erscheinungen des Kindes und Erwachsenen beherrscht, zitieren wir die
neuste Entscheidung des Reichsgerichts 4. Zivils. v. 13. Febr. 1902 betr.
den Unterschied zwischen Geisteskrankheit und Geistes-
schwäche nach $6 Nr. 1 B. G. B. ein Erkenntnis, dessen Abdruck und
Motivierung in einer »Zeitschrift für Kinderforschung« nicht fehlen darf:
»Der Unterschied beider Begriffe ist nur in dem Grade (?) der geistigen
Anomalie zu finden und zwar nach der Richtung, ob die krankhafte (?)
Störung der Geistestätigkeit dem Erkrankten vollständig die Fähigkeit
nimmt, die Gesamtheit seiner Angelegenheiten zu besorgen oder ob sie
ihm wenigstens noch diejenigen Fähigkeiten lälst, welche bei cinem Minder-
jährigen von 7 (?) bis 21 Jahren in der Besorgung seiner Angelegenheiten
vorausgesetzt werden können. Fehlt es an jedem zuverlässigen Material
(?) eines Unterschiedes zwischen Geisteskrankheit und Geistesschwäche,
so ergibt sich mit Sicherheit doch so viel, dafs jene die schwerere, diese
die leichtere (?) Form ist. Im ersteren Fall entspricht es der Absicht
.des Gesetzes, die Entmündigung wegen Geisteskrankheit, in dem zweiten,
28 B. Mitteilungen.
sie wegen Geistesschwäche eintreten zu lassen. »Diese Entscheidung ist
daher, mangels hierüber feststehender medizinischer Begriffe
(?), keine psychiatrische, sondern eine überwiegend tatsächliche, welche
der Richter trifft und die nur zum Teil auf dem ärztlichen Gutachten,
das den Stoff zu seinen Schlüssen liefert, beruht.« Trotz dieser Erkennt-
nisse und ihrer Bedenken fassen wir, gestützt auf die Ansicht des klas-
sischsten Juristen aller Zeiten, dafs sich das Recht von den Tatsachen der
Anthropologie d. h. von den biologischen und psychologischen Erkennt-
nissen inspizieren lassen muls, um als wahres Recht zu gelten, den Mut,
uns über einige abnorme Zustände der Kinder zu verbreiten, um aus dem
Ergebnis dieser Betrachtung einige Schlüsse zu ziehen für die Lehre der
Geistesschwäche.
Dals unsere Terminologie der Abweichungen von der Breite der Ge-
sundheit im kindlichen Seelenleben die Begriffe Kretinismus, Idiotismus,
Imbezillität, Debilität zusammenwirft, ist bereits von Trüper in jenem
Vortrag hervorgehoben und von ihm in Vorschlag gebracht worden, jene
Abweichungen als abnorme Erscheinungen im Seelenleben im all-
gemeinen zusammenfassen oder nach dem Vorgang von Koch als seelische
Minderwertigkeiten und insofern diese krankhafter Natur, als psycho-
pathische Minderwertigkeiten zu bezeichnen. Neben graduellen Ver-
schiedenheiten der Geisteskräfte haben wir auch mit qualitativen Ver-
schiedenheiten zu rechnen. »Nicht nur dıe Intelligenz kann im Seelen-
leben abnorm sein, sondern in demselben Malse kann auch des Gemüts-
und Willensleben sowohl krankhaft geschwächt, als auch krankhaft ge-
steigert und krankhaft entartet sein. Es gibt auch einen moralischen
Schwachsinn wie eine moralische Verrücktheit.« (Trüper.) Ich verweise
des weiteren auf diesen Vortrag. Über gewisse abnorme Erscheinungen
im kindlichen Seelenleben erbringt die Zeitschrift »Lancet« soeben als
Originalbeitrag drei Vorlesungen!) des englischen Kinderarztes Still, Aus-
führungen, welche wir im nachfolgenden ir originaler Bearbeitung und in
gedrängtester Kürze wiedergeben. Still betrachtet zunächst die mora-
lische Schwäche, einen Mangel an moralischem Widerstands-
vermögen. Dals ein solcher Defekt in Verbindung mit den verschiedenen
oben bezeichneten Graden geistiger Schwäche, selbst geistiger Störung vor-
kommt, abhängig oder unabhängig von diesen Zuständen, ist uns bekannt.
Es kommen aber andere Fälle vor, welche nicht jener Kategorie angehören,
Kinder mit vorübergehendem oder bleibendem Defekt moralischer Wider-
standskraft, Zustände, bei welchen die Frage entsteht, ob dieselben nicht
der Ausdruck eines abnormen Seelenzustandes, Kinder, die indes nichts-
destoweniger als solche von normaler Begabung gelten, Zustände, welche
sorgfältige Beachtung wünschenswert machen. Wenngleich einige dieser
1) The Goulstonian Lectures on some abnormal psychical conditions in children,
Delivered before the Royal College of Physiciaus of London by George F. Still,
M. A. M. D. Cantab, F. R. C. P. Lond. Assistant physician for diseases of children,
King's College Hospital; Assistant physician to the Hospital for sick children, Great
Ormond - Street.
Über einige abnorme Erscheinungen im kindlichen Seelenleben. 29
Zustände auch bei Erwachsenen vorkommen, so ist doch die Gelegenheit,
diese Vorgänge zu erforschen, zu keiner Lebensperiode so günstig, als in
der Kindheit, zu welcher Zeit der Einflufs der Umgebung nicht so
wechselnd und kompliziert und die Möglichkeit besteht, eine mehr oder
wepiger zuverlässige Lebensgeschichte des Individuums zu erlangen, ein
Umstand von grolser Wichtigkeit, wenn die Frage der angebornen Schwäche
entsteht, eine Zeit, in welcher wir die Entwicklung eines Fehlers sorg-
fältig und unbeirrt verfolgen können.
Das moralische Widerstandsvermögen des normalen Kindes.
Für den Psychologen bedeutet moralisches Widerstandsvermögen die
Fähigkeit zu handeln konform mit der Idee des Guten überhaupt. Die
moralische Widerstandskraft setzt das Erkenntnisvermögen des Verhaltens
zur Umgebung voraus, d. h. die Fähigkeit, Vergleiche mit der Umgebung
anzustellen. Aus diesem Erkenntnisvermögen erwächst das Bewulstsein
der Fähigkeit des Wollens des Guten überhaupt seitens des Individuums,
das moralische Bewulstsein. Das moralische Widerstandsvermögen besteht
also in der Fähigkeit zu handeln, konform mit dem moralischen Bewufst-
sein. Die Fähigkeit, Vergleiche anzustellen, setzt gewisse intellektuelle
Fähigkeiten voraus, um zum moralischen Bewulstsein zu gelangen und
zwar einen um so höheren Grad von Fähigkeit, je komplizierter die Ver-
hältnisse zur Aufsenwelt sind. Insofern ist das moralische Widerstands-
vermögen abhängig von der Intelligenz. Das moralische Vermögen ist aber
weiterhin abhängig von der Willenskraft, die kaum als eine intellektuelle
Fähigkeit betrachtet werden kann; moralische und Willenskraft entwickeln
sich daher erst einige Zeit nach der Geburt, sobald die Aktivität, die
Fähigkeit zu handeln, anstatt wie bislang instinktiv, reflexiv oder impulsiv,
intuitiv, willenskräftig geworden, ein Zeitpunkt, der nicht genau zu be-
stimmen, jedenfalls aber erst nach Wochen, Monaten des extrauterinen
Lebens beginnt. Diese Fähigkeit des moralischen Bewulstseins und des
Wollens wächst beim normalen Kind mit dem allgemeinen Wachstum, was
für die Bedeutung als krankhafte Erscheinung von Wichtigkeit ist, insofern
eine graduelle Äufserung des moralischen Widerstandsvermögens, das völlig
normal in sehr jugendlichem Alter, später eine ganz andere Deutung er-
fahren muls. Für diese entscheidet ferner die Umgebung und ganze Er-
ziehung.
Defekte des moralischen Widerstandsvermögens in Verbindung
mit andern Mängeln im Seelenleben.
Bei den niederen Graden des Schwachsinns ist das moralische Wider-
standsvermögen natürlich eine Unmöglichkeit. Der Blödsinnige, der keine
Personen kennt, selbst die Qualität der materiellen Nahrung nicht unter-
scheidet, ist einem Automaten vergleichbar. Im übrigen gleicht das mora-
lische Widerstandsvermögen einem dreistöckigen Haus, dessen zweiten
Stock es inne hat. Dieser zweite Stock kann nicht bestehen, wenn nicht
30 B. Mitteilungen.
——
der erste, das Erkenntnisvermögen zu Grunde liegt, und der die Willens-
fähigkeit beherbergende Dritte kann nicht bestehen, wenn nicht der erste
und zweite gegenwärtig. Bei den innigen Beziehungen der Seelentätigkeiten,
die fortwährend ineinander und untereinander fliesen, ist dieses natürlich
nur ein Vergleich. Hierbei entsteht sofort die Frage: Ist der moralische
Defekt notwendig proportional dem intellektuellen? Können wir sagen, dafs
dieses oder jenes Kind intellektuell und deshalb auch an moralischer
Widerstandskraft schwächer ist, als ein anderes? Hingesehen auf die viel-
fachen Kombinationen und Komplikationen im Seelenleben muls zugegeben
werden, dafs das moralische Widerstandsvermögen und Bewulstsein sowie
dessen Störungen etwas Apartes gegenüber den übrigen Seelentätigkeiten
bilden kann. Insbesondere werden bei manchen leichteren Graden des
Schwachsinns die Beziehungen beider zueinander gelockert, so dafs deren
graduelle Unterschiede verschieden ausfallen und ein Kind mit einem nur
leichteren Grad von Schwachsinn einen bei weitem grölseren Defekt an
moralischem Widerstandsvermögen zeigen kann, als ein mit höheren Graden
des Schwachsinns behaftetes Kind.
Krankhafte Defekte des moralischen Widerstandsvermögens in
Verbindung mit körperlichen Abweichungen.
Unser Geist wurzelt in Gegensatzbildern, aber nur, indem er die
Gegensätze aufrecht erhält und sie zugleich überwindet, gelangt er
zu einer reinen Anschauung. Ihm ist jedes Ding eine Einheit, doch nicht
nur eine Einheit — ihm ist jedes Ding eine Vielheit, doch nicht nur
eine Vielheit. Unser Bewulstsein ist völlig blind für die Vorstellung der
reinen Einheit wie für die der reinen Vielheit, wir jagen blofsen Schemen
nach, wenn wir sie ergreifen und begreifen wollen. Getrennt existieren
sie nicht, sondern nur in der Vereinigung; nur als Vieleinheit besteht
die Welt und alles, was sich in ihr befindet. Diese Betrachtung trifft vor
allem das Seelenleben sowie die Begriffe von Gesundheit und Krankheit,
normal und abnorm, gesund nnd krankhaft. Unter dieser Rücksicht-
nahme kann der krankhafte, abnorme Charakter eines Defektes des mora-
lischen Widerstandsvermögens erschlossen werden nach dem Grade, den
wir ermessen nach unserer allgemeinen Erfahrung sowie auf Grund der
Abschätzung, Anpassung nach dem vorliegenden Alter und nach seiner
Disharmonie mit den Einflüssen der Umgebung. In manchen Fällen er-
weist sich der Defekt im moralischen Bewulstsein als Ausfluls oder Vor-
hersage einer körperlichen Krankheit, Fälle von ungemein grofser prak-
tischer Bedeutung. In Betracht kommen hierbei in erster Linie Erkran-
kungen des Gehirns und der Nerven: Gehirnentzündungen, Geschwülste,
Kopfverletzungen, Epilepsie, Lähmungen, Typhus, Diphtherie, Scharlach,
akute Krankheiten der verschiedensten Art.!) In beinahe allen diesen
!) Interessenten verweisen wir auf die sehr ausführliche Kasuistik von Dr. Still
in dessen bereits erwähnten Vorlesungen. (Lancet v. 19. April d. J. ff.), Fälle,
die vun um so grölserem Interesse, als sie die innigen Beziehungen psychischer
Über einige abnorme Erscheinungen im kindlichen Sceelenleben. 31
Fällen bestand die Veränderung in einem Verlust des bereits erworbenen
moralischen Widerstandsvermögens. Würde die somatische Störung in
einem früheren Alter eingesetzt haben, so war anzunehmen, dafs die mora-
lische Entwicklung hintangehalten worden wäre. Man kann dieses Zurück-
bleiben einer so komplizierten geistigen Fähigkeit wie das moralische
Unterscheidungsvermögen des Kindes vergleichen mit dem Verlust der
Sprache, die bisweilen infolge körperlicher Erkrankung eintritt, wobei in
Rücksicht zu ziehen, dafs sich das moralische Bewulstsein später und viel
allmählicher, als die Sprache entwickelt.
Defekt des moralischen Widerstandsvermögens als eine krank-
hafte Erscheinung ohne allgemeine Herabminderung der
Intelligenz und ohne körperliche Abweichung.
Dals bei Erwachsenen krankhafte Abweichungen des moralischen
Widerstandsvermögens ohne allgemeine Herabminderung der Intelligenz
und ohne körperliche Störungen vorkommen, ist den Psychiatern bekannt.
Man fafst solche Abweichungen unter dem Namen moralisches Irre-
sein (moral insanity, Gefühlsirresein), und wenn der Zustand mit In-
telligenzdefekten verbunden, als Gefühlsschwachsinn, moralische
Idiotie zusammen. Das Krankhafte des Zustandes darf hierbei nie-
mals allein aus der ausgesprochenen Schlechtigkeit des Charakters,
sondern aus Abstammung, körperlichen und geistigen Degenerationszeicher,
Nutzlosigkeit versuchter Erziehung erschlossen werden, der Schwerpunkt
der Störung liegt im krankhaften Seelenleben, als dessen Ausflu[s der
moralische Befund und dessen Äulserungen zu betrachten sind. Auch bei
Kindern kommen mit der allmählichen Entwicklung des moralischen Be-
wulstseins solche pathologische Entartungen vor, z. B. Diebstahl von Kleinig-
keiten bei reichem Besitz, womit noch häufig Sonderbarkeiten sich ver-
binden z. B. die Generosität des Verschenkens des Gestohlenen oder der
Hang zum Stehlen aus Vergnügen, aus Sammelwut oder ohne jede Moti-
vierung, der sofortige Rückfall nach erfolgter Bestrafung. Nicht nur der
aulsergewöhnliche Grad des moralischen Defektes, auch das unnatürliche
Motiv entscheidet für das krankhafte Geschehen. Bei näherer Betrachtung
kann man bei solchen Störungen unterscheiden: 1. krankhaftes Zurück-
bleiben der Entwicklung des moralischen Widerstandsver-
mögens und Verlust des bereits erlangten Widerstandsver-
mögens. Auch für diese Kategorien findet sich als Nachweis in jenen
Vorlesungen eine reiche Kasuistik, auf welche wir Interessenten verweisen.
und physischer Zustände erweisen, aber fast sämtlich ohne wesentliche Intelligenz-
effekte verlaufen, so dafs wir hier Beispiele vorfinden von einer krankhaften Alte-
ration des moralischen Widerstandsvermögens obne allgemeine Ilerabminderung des
Intellekts.
32 B. Mitteilungen.
3. Zur Vererbung der Taubheit.
Wir Deutschen haben Ursache, Amerika wegen des vom Professor
Fay in Washington D. C. beigebrachten Materials über die »Vererbung der
Taubheit« zu beneiden. Es ist zahlenmäfsig durch dasselbe nachgewiesen,
dafs falls ein Ehegatte oder wenn beide Gatten taub geboren sind und
Familien entstammen, in denen sich in aufsteigender Linie be-
reits Gehörleiden gezeigt haben, eine grolse Gefahr vorliegt, dals diesen
Ehen mehr taube Kinder entstammen werden, als nicht belasteten Familien.
Aus der der Besprechung des Werkes »Mariages of the deaf in America« !)
beigegebenen Tabelle ist zu ersehen, dafs verhältnismäfsig 9,7°/, von Taub-
stummenehen taube Nachkommen entstammen, und dafs durchschnittlich
8,6°/, der Kinder aus diesen Ehen taub sind. Bei erblicher Be-
lastung der tauben Gatten haben aber 28,4°/, der Ehen taube Nach-
kommen und 30,3°/, aller Kinder aus diesen Ehen sind taub. Die Frage
aber, ob Blutsverwandtschaft der Eltern als solche ein Grund für
die Ausbreitung des Gebrechens ist, kann durch die Faysche Aufnahmen
nicht genügend beantwortet werden; von 4471 Taubstummenehen konnte
nur bei 31 Blutsverwandtschaft der Eheleute nachgewiesen werden. Gegen
folgenden Schluls möchte wenig zu sagen sein:
Taubheit ist keine Krankheit, sondern ein Gebrechen.
Taubheit als solche ist nicht vererblich, wohl aber die Anlage zu
mancher Ursachskrankheit derselben.
Bei Ehen Blutsverwandter ist häufig anzunehmen, dafs beide Gatten
die Anlage zu derselben Krankheit besitzen.
Auf Kinder aus solchen Ehen wird die Anlage zu der Ursachskrank-
heit der Tanbheit sowohl vom Vater, wie von der Mutter auf die Kinder
vererbt. Darum ist anzunehmen, dafs den Ehen Blutsverwandter verhält-
nismälsig mehr taube Kinder entstammen werden, als andern Ehen.
Ein auf statistischem Material ruhender Beweis ist aber bislang noch
nicht beigebracht.
Es wäre wünschenswert, wenn in dieser Hinsicht Material beschafft
würde. Hier ist etwas aus meiner kleinen Anstalt.
Die 33 Zöglinge derselben entstammen 28 verschiedenen Familien.
In 7 derselben sind die Gatten blutsverwandt, von diesen finden sich
nachweislich in 5 Familien in aufsteigender Linie gehörkranke Glieder, 2)
nämlich:
1 Familie: Vaters Schwester ist taubstumm: 1 taubstummes Kind.
1 Fanilie: ,„, = i : 3 taubstumme Kinder.
1 Familie: Der Mutter Vetter ist taubstumm : 2 taubstumme Kinder.
2 Familien: „ ,„ e a : je 1 taubstummes Kind.
Dagegen entstammen Familien, in denen die Gatten nachweislich
nicht blutsverwandt sind:
1!) Siehe Kinderfebler, Jahrgang 1900. Heft I u. I.
°) Es war nur von einem Gliede aufwärts bezw. seitwärts sichere Nachricht
zu erhalten.
Zur diesjährigen Versammlung des Vereins für Kinderforschung. 33
1 Familie je 4 taubstumme Kinder und
2 Familien je 2 taubstumme Kinder,
und von früheren Jahrgängen:
2 Familien entstammen je 3 taubstumme Kinder,
4. ” ” „ 2 ” ”
Emden. O. Danger.
4. Zur diesjährigen Versammlung des Vereins für
Kinderforschung am 1l. u. 12. Oktober in Halle a/S.
Das gastliche Halle rüstet sich zur Zeit als vielbegehrte Versammlungs-
stadt, die deutschen Philologen zu empfangen. Kurz nach Schluls der
vielseitigen Verhandlungen, welche der Philologentag bringen wird, gilt es,
eine weitere Vereinigung zu beherbergen, eine Vereinigung, welche in
aller Stille ihre Arbeit vorbereitet hat und in aller Schlichtheit ihre Dar-
bietungen zur Besprechung bringen wird: es ist die Versammlung des im
Jahre 1897 gegründeten
Vereins für Kinderforschung.
Wenn man von.einer Kinderforschung hört oder liest, so meint man
vielleicht, dals die allerorts blühenden freien Vereinigungen der Lehrer
und Lehrerinnen bereits das erledigen, was ein gesonderter Verein für
Kinderforschung sich etwa zur Aufgabe stellen kann. Mit dem Kinde und
seiner Entwicklung hat sich jeder Erzieher das eine oder das andere Mal
schon beschäftigt. Aber eine planvolle Erforschung der Eigenart, die Indi-
vidualität, zu betreiben, ihr gerecht zu werden durch naturwissenschaftlich
exakte Methoden zum Zwecke einer sicheren Fundierung der Lehr- und
Erziehungspraxis, sowie zur sozialen Gesundung unseres Volkslebens: das
ist bisher noch nicht als das erstrebenswerte, gemeinsame Ziel vieler
Gleichgesinnter hingestellt worden. Und zwar sind mit diesen Gleich-
gesinnten nicht nur alle Erzieher, wie Eltern, Geistliche, Lehrer und
Lehrerinnen gemeint, welche in ihrer Tätigkeit oft vor schier unlösbaren
Rätseln stehen, die kindliche Entwicklung, ein Stück der Naturwissenschaft
der Menschen, bedarf zu ihrer Erforschung auch der Mitarbeit des Medi-
ziners. Pädagogik und Medizin müssen sich oft, namentlich bei dem oft
abnorme Wege nehmenden Gange in der Entwicklung des kindlichen
Geistes und Körpers, gegenseitig ergänzen und gegenseitig Handreichung
leisten. Im Vereine für Kinderforschung bietet sich eine willkommene
Gelegenheit, dieses Hand in Hand gehen zu betätigen. Nun, ein Einblick
in die Vereinsliste beweist, dafs diese Gelegenheit von einer ganzen Reihe
namhafter Mediziner bereits benutzt wird. Haben sich doch im Vorstande
des sich schnell entwickelten Vereins mit den Pädagogen Un. Prof. Dr.
W. Rein-Jena und Anstaltsdirektor J. Trüper-Jena die Mediziner: Geh. Hot-
und Medizinalrat Prof. Dr. Binswanger-Jena, Un. Prof. Dr. Ebbinghaus-
Breslau, Un. Prot. Dr. Ziehen-Halle vereinigt. Der Verein für Kinder-
forschung möchte aber noch weitere Kreise als Helfer bei der Lösung
seiner wichtigen Aufgaben gewinnen. Juristen und insbesondere Krimi-
Die Kinderfehler. IX. Jahrgang. 3
34 B. Mitteilungen.
nalisten dürften hier ein willkommenes Arbeitsfeld finden. Die Gedanken-
kreise: Grolsstadtjugend und das Verbrechen, sowie dessen Sühnung vor
Gericht bedürfen wohl heute mehr denn je einer vielseitigen Prüfung zum:
Zwecke einer Gesundung unseres Volkslebens. Kurzum, der Zusammen-
schlufs vieler Helfer aus den verschiedensten Berufskreisen ist ebenso er-
wünscht als notwendig, wenn es gilt, das Gedeihen unserer Jugend zu
fördern.
Diesem idealen Zwecke will auch in vielseitiger Weise diese V. Tagung
des Vereins für Kinderforschung dienen. In der am 11. Oktober, 6 Uhr
abends, im Grand Hötel stattfindenden Eröffnungsversammlung werden
nach einer Begrüfsung durch Schulrat Brendel-Halle sprechen: Un. Prof.
Dr. Aschaffenburg-Halle Ȇber die Bedeutung der Stimmungsschwankungen
bei Epileptikern«, Oberlehrer Landmann-Jena »Über das Kind und die
Kunste Die am 12. Oktober 81/, Uhr morgens beginnende Haupt-
versammlung wird Vorträge bringen: 1. »Die ersten Zeichen der Nervosi-
tät des Kindesalters«e von Un.-Prof. Dr. Oppenheim-Berlin. 2. »Körper-
liche Ursachen geistig minderwertiger Leistungen« von Kinderarzt Dr.
Schmid- Monnard-Halle. 3. »Psychopathische Minderwertigkeiten als Ur-
sache der Gesetzverletzungen Jugendlicher« von Anstaltsdirektor J. Trüper-
Jena. Der Besuch der Versammlungen, welche auch Nichtmitgliedern gern
gestattet ist, wird zeigen, ob die Schulstadt Halle, welche zu ihren viel-
seitigen Schuleinrichtungen auch eine wohlentwickelte Hilfsschule für
schwachbefähigte Schüler zählt, auch für den in aller Schlichtheit arbeiten-
den Verein für Kinderforschung mit seinen grolsen Aufgaben die alte An-
ziehungskraft als gern aufgesuchte Versammlungsstadt besitzt.
Dr. med. Schmid-Monnard.
5. Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich
gefährdeten Jugend. !)
Ein Reisebericht von J. Chr.Hagen, Direktor des Schulheims zu Falstad bei Drontheim..
(Fortsetzung.)
4. Baden.
Im Grolsherzogtum Baden hat die Arbeit für die verwahrlosten Kinder:
eine stetige Entwicklung durch eine Organisation erhalten, die wegen der
konsequenten Durchführung ihrer Ideen Beachtung verdient, was übrigens
nur durch das in diesem Lande allgemein verbreitete Interesse für die
Sache möglich geworden ist. Durch das Gesetz über Zwangserziehung nimmt
der Staat die verwahrlosten Kinder und Jugendlichen wie die Umherstreifer
in seine Obhut und sorgt für ihre zweckmälsige Erziehung, um sie so weit
wie möglich für die Gesellschaft zu retten. Man hat aber vom ersten
Beginn an eingesehen, dals, wenn diese Arbeit sich darauf beschränken
wollte, die verwahrlosten Kinder blols in einer Anstalt unterzubringen, und
t!) Vgl. Jhrg. 1903 Heft I, II und IV.
Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 35
man sich mit der einfachen Anwendung des Gesetzes über Zwangs-
erziehung begnügen wollte, nur die halbe Arbeit getan wäre.
Man hat einen offenen Blick dafür gehabt, dafs eben bei der Ent-
lassung aus der Anstalt die schwerste und gefährlichste Zeit beginnt —
mit andern Worten, dafs man, um den vollen Nutzen des genannten Ge-
setzes zu haben, spezielle Veranstaltungen treffen müsse für die Vermittlung
des Überganges. Es ist eine Voraussetzung für die Wirksamkeit des Ge-
setzes, dals der Staat mit der privaten Fürsorge Hand in Hand zu arbeiten
hat. Schon seit mehreren Jahren ist dieses Prinzip auf der einen Seite
für das Eingreifen der öffentlichen Behörden und auf der andern Seite für
das der privaten Initiative maflsgebend gewesen. Es sind nämlich vor
mehreren Jahren sogenannte Schutzvereine für freigelassene Gefangenen er-
richtet. Diese Schutzvereine sind allmählich recht zahlreich geworden.
Überall in den Städten und auf dem Lande sind Kreis- oder Distrikts-
vereine gebildet worden, in deren Administration in der Regel die örtliche
Behörde Mitglied ist. Es sind im ganzen ungefähr 60 solcher Vereine mit
zusammen etwas über 8000 Mitgliedern und einem Vereinsvermögen von
63000 M. Diese Vereine bilden zusammen einen Landesverein, an dessen
Spitze eine Zentraladministration steht. Wie die Prädikate dieses Bundes
zum Schutz von freigelassenen Gefangenen andeuten, hatte («icse Institution
ursprünglich dasselbe Ziel wie unsere Gefängnisgesellschaften; aber schon
früh erweiterte sie ihre Wirksamkeit — unter Hinsicht auf die Zwangs-
erziehungsgesetze — dahin, dals sie sich auch der verwahrlosten
Kinder und verbrecherischen Jugend anzunehmen habe.
Die Zentraladministration hat vornehmlich, soweit es die letzte Kategorie
angeht, die Frage über die Aufnahme an den von diesen mit Beistand
des Staates errichteten und unterhaltenen Anstalten zu entscheiden, ver-
waltet die durch die Kreisvereine eingekommenen Mittel und kann aus ihrer
durch diese Mittel und die von dem Staate gegebenen Zuschüsse gebildeten
Kasse die nötigen Beiträge für die Wirksamkeit der verschiedenen Kreis-
vereine bewilligen. Sowohl dem Landesbund, als den einzelnen Vereinen
ist durch Staatsministerialbeschluls vom 4. Mai 1887 Bewilligung erteilt,
als öffentliche Korporation mit den im Reichsgesetz gewährleisteten
Rechten zu wirken. Vermögen und Eigentum (Anstalten, Landbesitz usw.)
der Gesellschaften sind steuerfrei. Die Zentraladministration verfügt jetzt
über ein gesammeltes Vermögen von ca. 100000 M. Die Bezirksvereine
haben — unter Beistand der Zentraladministration — sich der Unter-
bringung in Lehre oder Dienst anzunehmen, durch ihre Mitglieder Aufsicht
zu führen und mit Rat und Tat den so Untergebrachten beizustehen. Sie
geben der Zentraladministration jährlichen Bericht von ihrer Wirksamkeit.
So wie die einzelnen Vereine ihre jährlichen Gencralversammlungen, so
hat der Landesbund seine Kongresse, wo dic Vereine durch ihre Ver-
treter erscheinen, und wo die verschiedensten Fragen diskutiert und ent-
schieden werden. Zur Beleuchtung der Wirksamkeit des lLandesvereins
sollen hier einige statistische Angaben für 1897 folgen (die Angaben für
1898 waren noch nicht publiziert).
1897 wurden durch die Bezirksvereine 331 Entscheidungen über
3*
36 B. Mitteilungen.
Jugendliche unter 18 Jahren, (wovon 278 männlichen, 53 weiblichen Ge-
schlechts) und 802 über Männer und Weiber über 18 Jahre, zusammen
über 1133 Fälle, getroffen.
Die Erfolge der Wirksamkeit der Vereine bei den bis 1897 Unter-
gebrachten und Versorgten waren bei 67 gut, bei 16 schlecht, bei denen
in 1897: bei 50 gut, bei 26 schlecht. In Arbeit traten 1897 203 unter
18 Jahren, 120 über 18 Jahre.
Die sämtlichen Beiträge betrugen ca. 10000 M, die Verwaltungs-
kosten ca. 1800 M und die Ausgaben in Form von Unterstützung, Bei-
trägen zu den verschiedenen Anstalten und zu den Arbeitskolonien zu-
sammen va. 6500 M.
Wie oben angedeutet, erstreckt sich die Tätigkeit des Landesbundes
sowohl auf die eigentlichen Erziehungsanstalten als auf die Arbeitskolonien,
Arbeitsanweisungskontoren und auf die Unterbringung in Arbeit. Von den
Fragen, die zur Besprechung auf der Generalversammlung aufgeworfen
wurden, mögen genannt werden:
1. Welche Persönlichkeiten darf man vor allem für aktive Teilnahme
an der Arbeit der Schutzvereine gewinnen?
2. Welche Bedeutung hat organisierter, unentgeltlich gebotener Arbeits-
nachweis für die entlassenen Individuen?
3. Welche Bedeutung haben Arbeiterkolonien oder dergl. Zufluchtsorte
für Entlassene beider Geschlechter, die bei der Entlassung arbeitslos und
hilfebedürftig sind?
Auf der letzterwähnten Generalversammlung ward unter anderm im
Hinblick auf Punkt 2 beschlossen: Es müssen eingerichtet und unterhalten
werden Verbindungen zwischen den Administrationen der entsprechenden
Vereine und der nächsten Anstalt für Arbeitsnachweis.
Es ist begreiflich, dals diese Ordnung von grolser Bedeutung für die
Bestrebungen der Vereine ist, wenn es entlassene Anstaltszöglinge unter-
zubringen gilt. Die Vereine werden auf diese Weise zu jeder Zeit von
ledigen Dienststellungen, Gelegenheit zur Arbeit usw. unterrichtet und
haben dann wesentlich ihre Auswahl unter den für den Zweck geschick-
testen Arbeitsherren zu treffen.
Von den Anstalten Badens besuchte ich Flehingen, Sickingen,
Scheibenhart und Durlach. Von diesen stehen Flehingen und Sickingen
direkt unter der Zentraladministration des Landesbundes. Scheibenhart ist
1886 von dem badischen Frauenverein unter Protektion ihrer Kgl. Hoheit
der Grolsherzogin Louise errichtet. Durlach ist ein Mittelding zwischen
Staats- und Privatanstalt. Von diesen boten nur Flehingen und Sickingen
etwas von besonderem Interesse. Hier soll nur Flehingen erwähnt werden.
Nachdem ich vorher von Herrn Geheimen Oberfinanzrat Fuchs, der
Präsident der Administration der badischen Schutzvereine ist, freundlich
empfangen und durch ihn von dem Stand der anstaltlichen Arbeit in
Baden im allgemeinen unterrichtet worden war, besuchte ich die Anstalt
Flehingen, die im Dorfe desselben Namens liegt. Sie ist in einem alten
ärmlichen Schlosse interniert. Eine Brücke führt über die früheren, nun
ausgefüllten und bebauten Schlolsgräben in die Anstalt. Diese macht,
Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 37
restauriert und aufgeputzt wie sie ist, einen vorteilhaften Eindruck.
Das Innere der Lokale dagegen kam mir lange nicht so ansprechend vor;
sie waren auch ziemlich unzweckmälsig, wie es in einem Gebäude kaum
anders erwartet werden kann, das ursprünglich für einen andern Zweck
bestimmt war.
Ich erlaube mir das Wesentlichste der Statuten, Reglements und Haus-
ordnung der Anstalt anzuführen:
$ 1. Die Anstalt ist zunächst für Knaben bestimmt, die über das
schulpflichtige Alter hinaus sind und
1. auf Grund des Strafgesetzbuches, $ 56, oder
2. infolge des Gesetzes vom 4. Mai 1886 in einer Erziehungsanstalt
untergebracht werden sollen.
3. kann die Anstalt als Detentionsplatz für die bestrafte männliche
Jugend dienen, indem sie dann entweder statt zuerkannter Strafe eintritt
oder als Aufenthaltsstelle nach überstandener Strafe dient.
$ 2. Die Zöglinge der Anstalt sollen zu einem sittlich-religiösen,
arbeitsamen, und anspruchslosen Leben erzogen werden, den nötigen Unter-
richt erhalten und mit nötigen Kenntnissen ausgerüstet werden. Wenn
sie die Anstalt verlassen, soll ihnen zu einer ordentlichen Existenz ver-
holfen und ihre geistige Verbindung mit der Anstalt fortgesetzt werden.
§ 3. Die Anstalt wird durch Beiträge vom Staate und von der Zentral-
administration des Landesbundes der badischen Vereine zum Schutze ent-
lassener Gefangenen erhalten. Die besondere Aufsicht wird einem Komitee,
dem sowohl Vertreter des Landesbundes als des Staates angehören, überlassen.
§ 4. Die Verwaltung der Anstalt und die Erziehung der Zöglinge
liegt einem Hausvater ob, der von der erforderlichen Anzahl von Gehilfen
unterstützt wird. Unter den Aufsichtspersonal sollen sich Vertreter beider
Bekenntnisse befinden. Von den Funktionären müssen einige im Gartenbau,
in Gemüsezucht und im Handwerk ausgebildet sein. Der Hausvater hat
500 M Kaution zu stellen.
$ 5. Seelsorge und Religionsunterricht liegen in den Händen der
Geistlichen des Ortes.
§ 6. Die Aufnahme sowohl als die Entlassung aus der Anstalt wird
von dem Komitee der Zentraladministration beschlossen. In der Regel
werden Knaben unter 14 und über 18 Jahre nicht aufgenommen, auch
nicht Kranke oder mit körperlichen Fehlern behaftete. Bei der Aufnahme
wird ein Verpflegungskontrakt gemacht. Die Verpflegungskosten betragen
1 M pro Tag. Die durch Zwangserziehung veranlalsten Kosten werden
teils von der Armenkasse der Heimat des Betreffenden ganz, teils von
dieser und dem Distriktsvereine, der sonst für den Knaben zu sorgen
gehabt hätte, gedeckt.
$ 7. Der der Entscheidung des Zentralkomitees zufolge aufgenommene
Knabe, wird zuerst ins Bad gebracht, dann wird die Kleidung der An-
stalt angezogen, darauf wird in Schulkenntnissen geprüft und bei erster
Gelegenheit wird er dann dem Seelsorger und dem Arzt vorgestellt. Er
wird sogleich mit Tagesordnung und Pflichten bekannt gemacht und zum
Guten ermahnt.
38 B. Mitteilungen.
$ S. Andachten und vorgeschriebene Gebete sollen vom Hausvater
oder einem der Assistenten verrichtet werden.
$ 9. Die Knaben werden zu Fleifs und sittlichem Lebenswandel ver-
pflichtet.
$ 10. Brave und fleilsige Zöglinge sollen durch vernünftiges Lob
und Belohnungen aufgemuntert werden. Als solche gelten:
1. Arbeitsbelohnungen bis 1 M pro Monat, die zusammengespart
werden sollen. Die nach dem Strafgesetzbuch, $ 56, und die zufolge des
Gesetzes über die Fürsorge des Staates für die verwahrloste Jugend unter-
gebrachten Knaben können erst nach 6 Monaten Aufenthalt in der Anstalt
irgend eine Belohnung erhalten.
2. Gestattung von ausgewählter Lektüre.
3. Besonderer Unterricht in Zeichnen, Sprache, Musik.
4. Ein Gartenstück wird zur speziellen Bewirtschaftung überlassen.
5. Erlaubnis zum häufigeren Briefwechsel und Besuchsannahme.
6. Arbeit bei Vertrauen erweckenden Meistern aulserhalb der Anstalt.
T. Erlaubnis, eine bestimmte Arbejt zu verrichten oder ein bestimmtes
Instrument zu spielen, mit erweiterter Freiheit dazu.
8. Erlaubnis zu verständiger und kontrollierter Verwendung von Spar-
geld, doch nicht über 1/, des Ersparten.
$ 11. Als Strafen benutzt man:
1. Zurechtweisungen.
2. Verlust von Freistunden, Ausschlielsung von Spielen und Spazier-
gängen, Verbot, sich mit den Kameraden zu unterhalten.
3. Auferlegung einer unbehaglichen Arbeit.
4. Einsperren ohne Beschäftigung bis zu 12 Stunden, unter Umständen
im finsteren Raum.
5. Untersagung von Briefschreiben und Empfang von Verwandten, bis
zu 6 Monaten.
Nach diesem möglichst kurzen Resumé der Statuten der Anstalt dürfte
cs sich empfehlen, einige Mitteilungen über die Anstalt selbst zu machen.
Dafs man unter den dortigen Knaben mit besonders schweren Ele-
menten zu arbeiten hatte, ging aus dem streng disziplinarem Gepräge, das
über dem Ganzen ruhte, hervor. Die Freistunden waren sehr knapp: in
der Mittagszeit !/, Stunde und am Abend 1 Stunde. Auch an den Sonn-
tagen wurde die volle Freizeit auf ein Minimum beschränkt; Gottesdienst
und Andachten nahmen zusammen 6 Stunden ein! An und für sich mufs
es ja freilich zugegeben werden, dals einer grofsen Schar vernach-
lässigter und verdorbener Burschen gegenüber jede Freizeit ihre Bedenken
haben mag. Es ist im ganzen merkwürdig, wie wenig Spielraum nötig
ist, wenn die schlechten, unmoralischen Anlagen hervorbrechen und zünden
sollen; es dürfte aber doch eine Frage sein, ob diesem dadurch entgegen-
gewirkt wird, dafs man in so grofsem Umfange den Kindern Pflichtarbeit
auferlegt; ob man nicht dadurch das Bedürfnis des Kindes nach glück-
lichen Stunden übersieht. Es ist allerdings eine Hauptforderung, dafs das
Kind zur Verantwortlichkeit und Pflichttreue erzogen und dafs es unter
Hinweis darauf zu arbeiten gewöhnt wird; aber es liegt ebenso gewifs
Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 39
eine erziehende Macht darin, dals das Kind eine Zeit des Tages erhält,
wo nicht die gegebenen Befehle, sondern sein eigener Wille sein Tun und
Lassen bestimmen. Eben dann, wenn die freie Zeit dem Kinde gehört,
wird es unwillkürlich im Genufs derselben den Segen, den gerade die ge-
ordnete Arbeit zu erwecken vermag, in erhöhtem Mafse verspüren. Treten da
die Funktionäre hinzu, verständuisvoll interessiert und aufmunternd, statt
die Feierstunden als einfache Wachtstunden aufzufassen, so wird eine etwas
grölsere Ausdehnung der Feierstunden sogar von grofser Bedeutung sein.
Sie wird es sein nicht nur durch die nötige Ruhe, die sie gibt, sondern
vor allem dadurch, dafs die bei diesen Individuen vorkommende verkehrte
Energie durch den unwillkürlichen Impuls der regulären Pflichtarbeit auf
eine natürliche Weise weiter leitet, aber in rechte Balınen und zu nütz-
lichem Ziele, sei es Spiel, Sport oder Arbeit. Und zur selben Zeit er-
hält das Kind allmählich mehr Verständnis für die Genugtunng, die darin
liegt, nach seinem eigenen Kopfe seine eigene Zeit zum Nutzen und zur
Freude anzuwenden, d. h. zur rechtschaffenen Selbstbetätigung in Frei-
heit. Es ist ja auch die Aufgabe, den Jungen zu einem Leben in persön-
licher Freiheit, die nicht gemilsbraucht wird, zu erziehen.
Ich erhielt indes nicht den Eindruck, dals dieses Moment in irgend
einem besonderen Grade in Flehingen betont würde. Im Gegenteil machte
man den Knaben gegenüber kein Hell daraus, dafs sie Gegenstand des
Verdachtes waren, und dals man zu jeder Zeit Widerspenstigkeit, Aufruhr
und Enutweichung erwarte.
Bei meiner Vorstellung bei Herrn Fuchs teilte er mir mit, dals er
schon dem Direktor der Anstalt Ordre gegeben hatte, die verschiedenen
Sorten, wie er es nannte, d. h. die verschiedenen Kategorien
vor die Front hervorzurufen und mir zu präsentieren: 1. die-
jenigen, die auf Probe ein-, zwei-, drei-, viermal entlasscu waren; 2. die
vor ihrem Eintritt in die Anstalt schon bestraft waren; 3. die schon cin-
oder mehrmals entwichen waren, usw.
Gerade als während meines Besuches in der Anstalt cs mir graute
vor der Zeit zu dieser Parade, da erscholl das Hornsignal zur Auf-
stellung auf der Linie. Der Direktor erklärte, dals er nun die ver-
schiedenen Gruppen wolle hervortreten lassen. Meinem Versuch, diesem
wie mir schien, peinlichen Akte zu entgehen, ward damit begegnet, dals
er von der Zentralleitung Ordres empfangen hatte und dafs es darum ge-
schehen müsse.
Im schmalen, engen Hofraum war die Kompagnie aufgestellt und als
eine gesonderte Gruppe 7 Aufscher mit schweren Knotenstöcken und Signal-
hörnern über die Schultern hängend. Ein scharfes: »Achtung« schallte
zwischen den Mauerwänden, und ich befand mich vor einer laugen Doppel-
reihe von durchgehends harten, abstolsenden Gesichtern. Mit einem harten
Kommandowort wurden dic, die einmal auf Probe entlassen und dann aufs
neue eingesetzt, hervorgerufen. Der Direktor bezeichnete unter diesen die,
die besonders schlimme Kanaillen waren, und die dies oder das Verbrechen
begangen hatten. Dann kamen die zum zweitenmal, zum drittenmal, zum
viertenmal vergebens auf Probe Entlassenen. Für jede Gruppe erbielt ich
40 B. Mitteilungen.
von den einzelnen, indem der Direktor sie kennzeichnete, einige charakte-
ristische Personalien, und nach einer summarischen Bemerkung liefs er
die Gruppe dann in das Glied zurücktreten. So wurde auch mit den-
jenigen, die ein oder mehrere Male gestraft worden, fortgefahren; auch die
ein oder mehrere Male Entwichenen mufsten hervor. Einer dieser letzten
ward mir später an dem Tage vorgestellt. Er trug wie alle Durchbrenner
Hosen, deren unterer Teil aus blaugestreiftem Kadettzeug bestand. Aber
dazu trug er auch einen Messinggürtel, der rund um den Leib
durch Jacke, Weste und Hose gezogen und hinten mit einem
Vorlegeschlofs geschlossen war. (Er mulste in gewissen Fällen
sich an einen Aufseher wenden, um gelöst zu werden!) Solange der
Direktor beim Verhör des Knaben mir seine Fehler und Versehen erzählte,
war das Gesicht desselben sehr hart und frech und es erzählte mir deut-
licher als Worte es können von dem ausgerotteten Ehrgefühl. Dals es
aber in diesem Knabenherzen andere Saiten mit weicheren Tönen gab, die
nur angeschlagen zu werden erwarteten, sollte ich aus einem späteren
Gespräch mit ihm erfahren. Es war wirklich ein Rest des Guten darin
übrig, das zur Anknüpfung für wirklich moralische Beeinflussung benutzt
werden konnte: Besserung aber konnte nicht durch die permanente Schande
erreicht werden, die ihm buchstäblich durch einen lächerlich aussehenden
Anzug, geschlossenen Messinggürtel und zur Schande glattgeschorenes
Haar, angetan war. Nach meiner Auffassung muls Verbitterung, Milsmut,
ja geradezu Verhärtung durch solche Malsregeln hervorgerufen werden.
Wenn es erst dazu kommt, dafs die Knaben ihrer Versehen wegen hervor-
gerufen und vor der Front durchgegangen und den Fremden als Kanaillen
vorgeführt werden, so mülste es ein Wunder sein, wenn dieses auf das
Gemüt des Jungen in irgend einer zuträglichen Richtung wirkte. Ich erfuhr
übrigens, dafs die disziplinaren Schwierigkeiten der Anstalt sich für einen
nicht unwesentlichen Teil von den auf Probe entlassenen, aber wieder
zurückgeschickten Zöglingen herrührten. Es war ihnen jedesmal, wenn sie
wiederkamen, immer schwerer, sich unter den Regeln und Forderungen
der Anstalt zu beugen; sie schienen härter und steifer zu werden, je
älter sie wurden. Die häufigen Entweichungen waren auch in der Regel
das Werk dieser Rückfälligen.
Die Beschäftigung der Knaben bestand, aufser in Unterricht nach
dem Plane der Volksschule, im wesentlichen in körperlicher Arbeit.
Als solche ward in grolsem Umfange Gartenbau betrieben; zum
Teil Feldbau, ferner Tischlerarbeit und endlich Arbeit in dem Steinbruche
der Anstalt. Der gröfste Teil der Belegschaft ward, sobald es die Jahres-
zeit erlaubte, in dem Steinbruche verwandt. Dieser lag ca. 50 Minuten
von der Anstalt entfernt. Bei meinem Besuch waren sämtliche Zöglinge
dort beschäftigt. Sie kamen gegen 12 Uhr nach Hause. Nach !/, Stunde
Ruhe erscholl wieder das Signal zum Abmarschieren. Die Knaben stellten
sich in Reihe und Glied. Die 7 Aufscher mit ihren Signalhörnern und
Stöcken musterten Ihre besonderen Gruppen und mit ausgerückten Rotten
zog die Abteilung aus dem Burgtore, durch das Dorf zur Grube ab.
Auf das freundliche Anerbieten des Direktors folgte ich ihm dahin.
Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 41
Aus einer mehrere Meter tiefen Grube hoben die Knaben mit Handkraft
die Steine auf, zermalmten sie und rollten und schichteten sie zu Haufen.
Überall patroullierten die Aufscher. Sie waren nicht mit bei der Arbeit
tätig und liefsen sich auch nicht mit den Knaben ins Gespräch ein. Diese
arbeiteten in der Welt ihrer eigenen Gedanken und man merkte wohl, dafs
die Männer mit Stöcken und Hörnern ihnen nicht verhehlten, dals sie
scharf jede geringste Bewegung beobachteten. »Sobald Widerspenstigkeit
um sich greift oder jemand durchbrennt«, erzählte mir ein Aufscher
»signalisieren wir mit den Hörnern, wodurch alle umliegenden Höfe gc-
warnt werden.« Entweichung fand häufig statt, es waren bis 28 Fälle
im Jahre vorgekommen. Mehrere Meutereien waren ins Werk gesetzt
mit dem Zwecke bald den Direktor, bald Funktionäre zu töten.
Die Anfseher, die an der Seite der Schlafsäle lagen, mulsten während der
Nacht ihre Tür fest verschlossen halten; sie war mit Schlofs und solidem
Riegel versehen.
Die Arbeit in dem Steinbruche der Anstalt mufste allerdings ziemlich
einförmig ausfallen. Da sie sich zudem über mehrere Monate erstreckte,
den einen Tag wie den andern und bei jedem Wetter — fand ich es
ganz erklärlich, wenn sie dazu beitrug, die Knaben des Ganzen überdrüssig
zu machen. In jedem Falle schien sie mir unzweckmälsig, der Arbeitsschen
entgegenzuwirken. Dazu ist eine bildendere Beschäftigung erforderlich.
Es waren denn auch unter den Verhandlungen des Badischen Landtages
Einwendungen dagegen vorgekommen. Auf dem Kongresse der Zentral-
leitung war darauf geantwortet worden, dafs der Steinbruch eine ziem-
lich grofse ökonomische Ausbeute brächte und dafs es in der Anstalt an
nötigem Raum fehle, um Handwerksunterricht in dem gewünschten Um-
fange aufzunehmen.
Die Verhältnisse in Flehingen zeigten im ganzen, welche wesentliche
Bedeutung cs hat, dafs die Anstalt darauf eingerichtet ist und Gelegen-
heit hat zu einem praktischen, rationell geordneten und nicht zu begrenzten
Umfang der Beschäftigung — und wie Mangel in dieser Hinsicht dic
Anstaltwirksamkeit lähmt und auch in disziplinärer Richtung bedenkliche
Folgen nach sich zieht. Es liegt ja immer ein starkes erziehendes Moment
darin, dafs der Junge fühlt und trotz seiner Arbeitsschen bekennen muls:
»Hier lerne ich wirklich etwas«e ; dafs er sich sagen muls: »Dies habe
ich gelernt selbst zu machen; das ist etwas, was man braucht und was
gebraucht werden kann.« —
Der Direktor der Anstalt (Verwalter genannt) leitet die Austalt unter
der Kontrolle der Zentraladministration der Schutzvereine. Scine Frau hat
die Leitung des Haushaltes. Das Gehalt des Direktors beträgt 1500 M,
nebst freier Wohnung, Licht und Feuerung, samt Kost für sich und seine
Familie nach festgesetztem Regulativ für das Gewicht und die Beschaffen-
heit des Essens.
Der Lehrer wird mit 800 M und Junggesellenwohnung besoldet. 7
Aufseher — auch in der Anstalt wohnend — erhalten 406—602 M und
freie Wohnung. Ein jeder der Aufseher mufs als Militär gedient haben.
(Zur Zeit war ein Unteroffizier als Direktor angestellt.)
a
42 B. Mitteilungen.
Aulserdem waren der katholische sowie der lutherische Pfarrer als
Lehrer und Seelsorger der Anstalt beigegeben.
Der Staat leistet als jährlichen Zuschufs 5000 M und hat dazu um-
sonst der Anstalt die Gebäude zum Gebrauch überlassen. Die Kommune
trägt 1 M täglich für jeden Knaben, den sie unterbringt, bei (zwei Drittel
davon werden ihnen vom Staate zurückerstattet), und von der Zentralkasse
der Schutzvereine kommen jährlich 1000 M. Alles in allem ergeben diese
Beiträge eine Einnahme von 30000 M. Hierzu kommen die Ausbeute des
Land- (hauptsächlich Garten-) baues und des Steinpruches, zusammen ca.
6800 M. Weiter die Renten und Kapitale, die von Zeit zu Zeit der
Anstalt geschenkt werden, ca. 30000 M. Die gesamte Einnahme der An-
stalt beträgt ca. 65800, die jährlichen Ausgaben ca. 60000 M, demzufolge
die Anstalt durchschnittlich einen Überschuls hat von ca. 6000 M.
Die ökonomisch günstige Stellung der Anstalt hat doch nicht allein
— obgleich wesentlich — ibre Ursache in der Bereitwilligkeit, womit der
Staat, die Schutzvereine und die Zentraladministration derselben sie stützt,
sondern auch darin, dafs die Bekleidung und die Kost so sparsam und
frugal wie irgend möglich angelegt ist.
Es war z. B. reglementarisch bestimmt, dafs die Hemden 2 Jahre lang
dauern sollten; Unterbeinkleider und Sonntagskleider ebenso; Arbeits-
kleider 1 Jahr; die Hosenträger sollten 2 Jahre halten. Die so fest-
gesetzte Gebrauchszeit ist als minimale zu betrachten.
Es ist doch eine Frage, ob es nicht seine bedenklichen Seiten hat,
die budgetmälsigen Rücksichten und Bestrebungen, Überschüsse zu erzielen,
einen zu dominierenden Einfluls auf die Behandlungsweise gewinnen zu lassen.
Schliefslich will ich noch bemerken — was übrigens aus den an-
geführten Beobachtungen schon hervorgeht — dafs in der Fürsorge für
die Knaben nichts besonderes von individueller Behandlung sich erkennen
liefs. Man nahm keine Rücksicht auf psychische Anomalten, ausgenommen
den Fall, dafs diese geradezu die tägliche Wirksamkeit hinderten. Der
Direktor sprach sich dahin aus, dafs er nicht persönlich mit den
dazu gehörenden Fragen vertraut sei. Zur Förderung der Aufgaben der
Anstaltserzichung — hiels cs — kommen hauptsächlich zwei Fragen in
Betracht. Die erste ist, durch streng geordnete Arbeit die eingelieferten
Knaben an Fleils, Ordnung und Gehorsam zu gewöhnen und dadurch einer-
seits der sittlichen Verkommenheit entgegenzuarbeiten, andrerseits ihre
Gesundheit zu stärken und ihre körperlichen Kräfte zu entwickeln. Die
„weite Aufgabe besteht darin, die Knaben, die Besserung zeigen, für ihre
Zukunft vorzubereiten. So lautet cs auch im Plan der Anstalt. Wie man
sicht, nüchtern und ohne ein Streifchen psycho-pathologischen Interesses.
Auch stand man ciner Anstalt gegenüber, deren Aufgabe es war, zu erT-
ziehen, ohne dals irgend cin Gedanke, weder in Theorie noch Praxis, in der
Richtung, was gegenüber dem eigentümlichen Erziehungsobjekt solcher
Anstalten gefordert werden sollte, der pädagogischen Pathologie gewid-
met war. Ist es eine Tatsache, dafs wir überall in den Schulen unter den
kindern psychopathische Symptome antreffen, so ist es ganz gewils nicht
am wenigsten der Fall unter »den verwahrlosten Kindern« Sei es, dafs
C. Literatur. 43
man auf vererbte, sei es, dafs man auf erworbene psychische Unregel-
mälsigkeiten hinsieht, haben sie beide einen besonders fruchtbaren Boden
sowohl in den moralischen als auch den ökonomischen Verhältnissen der
Gesellschaftsschichten, aus welchen hauptsächlich die Anstaltszögliuge
stammen.
Überhaupt fand ich diese Seite der Sache ganz unbeobachtet an
sämtlichen von mir besuchten deutschen Anstalten, ausgenommen das Er-
ziehungshaus des Direktors Trüper in Jena. Aber Trüper ist ja auch,
soviel ich weils, der erste, der — selbst ein eifriger Psychiater — die
Theorie Dr. Kochs, Strümpells, Scholzs u. a. in den Dienst der praktischen
Pädagogik hineingeführt hat.
Ich gehe daher dazu über, die Trüpersche Anstalt kurz zu be-
sprechen. Sie ist allerdings nicht eine Zwangserziehungsanstalt, sie
schlielst neben Epileptikern und Blödsinnigen auch moralisch Entartete und
Verkommene von der Aufnahme aus und sie wird nicht wie unsere An-
stalten hauptsächlich von den breiten Schichten aus rekrutiert, nimmt aber
überhaupt Kinder mit vererbten oder erworbenen psychischen Defekten, d.h.
schwer erziehbare Kinder, auf und begründet seine Behandlungsweise psy-
chiatrisch ; Kinder, die, wenn sie aus ärmeren Kreisen stammen, die
äufseren Umstände, die sittliche Luft ihrer Familie und deren soziale Ver-
hältnisse auch in unsere Anstalten drängen.
Die Erfahrungen, die ich in meiner Wirksamkeit als Direktor einer
Erziehungsanstalt habe machen können, schienen mir fortwährend zu zeigen,
dafs die moralischen Fehler und Verbrechen, die die Unterbringung der
Knaben in der Anstalt zur Folge hatten, in grofser Ausdehnung Produkte
pathologischer Zustände waren, welchen die ethischen und sozialen Ge-
brechen des Mililieus als günstiger Boden gedient hatte. Ich fand es
daher von gröfstem Interesse zu sehen, wo ich in einer Zwangserziehungs-
anstalt Anwendung der Psychiatrie finden konnte, so wie sie Trüper
in Praxis durchführt. Ich fand aber keine. (Schluß folgt.)
C. Literatur.
Ziehen, Dr. Julius, Über den Gedanken der Gründung eines Reichs-
schulmuseums. Frankfurt a/M., Kesselring. 27 S. 0,50 M.
Scheinbar gehören diese Gedanken nicht in den Rahmen unserer Zeitschrift
Wir möchten aber dennoch unseren Lesern diesen kleinen gediegenen und gedanken-
reichen Vortrag sehr empfehlen. Was Ziehen hier sagt, hat Hand und Fuß und
ist nicht ohne Bedeutung für die Entfaltung des gesamten deutschen Bildungswesens.
Hinzu kommt noch, daß Ziehen ein Vertreter des Einheitsschulwesens ist und
zwar im vollen Sinne des Wortes. Sein Vortrag umfabt darum die Interessen
aller, auch der Volksschulen. Das von Ziehen gedachte Reichsschulmuseum
würde auch der geeignetste Ort sein, die in unserer Zeitschrift vertretenen Be-
strebungen zweckmäßig zu zentralisieren. Tr.
Pr
44 C. Literatur.
Stadelmann, Schulen für nervenkranke Kinder. Berlin 1903. Preis 0,75 M.
Das Schriftchen ist in der bekannten Sammlung von Abhandlungen von
Ziegler und Ziehen erschienen. Es beleuchtet das vielbesprochene Gebiet der
Frühbehandlung und Prophylaxe der Neurosen und Psychosen, auf dem sich der
Arzt und der Pädagoge zu ersprießlicher Tätigkeit die Hand reichen sollen. Der
Verfasser bringt nichts, was nicht da und dort schon einmal eindringlich gefordert
worden ist. Eine Wahrheit jedoch, die zum Fortschritt mahnt, läuft nie Gefahr,
durch Wiederholung ihre Wirkung zu verlieren.
Stadelmann meint: Das Verweilen nervenkranker Kinder in der allgemeinen
Schule ist für gesunde und kranke Schüler gefahrvoll. Die nervenkranken Kinder
sollen von dem allgemeinen Unterrichte feıngehalten werden wegen seiner zu langen
Dauer und wegen des für die pathologische Anlage unzweckmäßigen Lehrprogramms.
In die Schule für nervenkranke Kinder gehören: Jugendliche Psycho- und Neuro-
pathen, bildungsfähige Schwachsinnige, Kinder mit Sprachstörungen und Epileptische
(ausgenommen die Kranken mit gehäuften Anfällen und zu schweren Intelligenz-
defekten).
Die Grundsätze, welche Stadelmann bei der psychischen und physischen Be- -
handlung der Kinder in den von ihm empfohlenen Schulen befolgt wissen will, haben
sich seit geraumer Zeit bei Ärzten und Pädagogen das Bürgerrecht erworben.
Weshalb Stadelmann zum Schlusse seiner Ausführungen gegen den »verfehlten
Vorschlag« front macht, epileptische Kinder in einem ländlichen Pfarrhause oder
am besten in einer besonders für solche Kranke eingerichteten Erziehungsanstalt
unter der Leitung eines fachkundigen Pädagogen unterzubringen, ist mir nicht klar
geworden. Kein Geringerer als Binswanger hat den Vorschlag gemacht, den ich
‚in meiner kleinen Laienpredigt über »Die Epilepsie im Kindesalter«') als vollständig
zweckmäßig aufgriff, Daß ich mit diesem Vorschlag die jugendlichen Epileptiker
nicht dem Machtbereiche des Nervenarztes entziehen wollte, hätte Stadelmann sehen
können, wenn er seine Gäusefüßchen nicht zu früh geschlossen hätte. Ich verlangte
eine »ständige Beratung durch einen Spezialarzt« (vgl. 1. c. pag. 28.). Unter dieser
Voraussetzung überlasse ich ein epileptisches Kind, das nicht gerade unter einem
direkten Heilverfahren z. B. der Opium-Bromkur steht, dem Pädagogen gern ohne Sorge..
Jena. Dr. Strohmayer.
Eie nachahmenswertes Buch,
La protection de l’enfance en Belgique. Législation. Enfants mal-
heureux. Mineurs délinquants par Arthur Levoz, Substitut du procureur
du Roi à Verviers, Docteur en sciences politiques et administratives, Président
de la Sociċté pour la protection de l’enfance et le patronage des condamnés, des
vagabonds et des aliénés à Verviers, Membre de la commission royale des patro-
nages de Belgique. Bruxelles, J. Goemaere, Imprimeur du Roi, rue de la Li-
mite 21. 1902. 80, S. 497.
Wenn wir von diesem Buche statt ciner trocknen Nachricht von seinem Er-
scheinen cine eingehende Inhaltsangabo bringen, so geschieht dies deshalb, weil
dasselbe eine wirkliche Lücke ausfüllt und es äußerst praktisch wäre, wenn ein
solches Werk in jedem Lande erschiene. Es ist ein in sich vollständiges und höchst
interessantes Werk, so recht geschaffen einerseits gerade für solche, die ohne vor-
') Strohmayer, Die Epilepsie im Kindesalter. Vortrag gehalten auf der
4. Versammlung des Vereins für Kinderforschung. Altenburg, Oskar Bonde, 1902.
Preis 0,80 M.
C. Literatur. 45
herige Spezialkenntnisse sich an die Beschäftigung mit den Fragen der unglücklichen,
vernachlässigten, oder anormalen Kinder herantreten, andrerseits für Spezialisten, die
sich über die verschiedenen Methoden und die besondere Literatur belehren wollen.
Obwohl das Buch zunächst nur die Belgier interessiert, so ist es doch auch
andern von höchstem Nutzen, zuerst durch den Vergleich mit den belgischen Ein-
richtungen betreffs des Schutzes der unglücklichen und vernachlässigten Kindheit.
dann durch die Überlegungen, Berichte und Ratschläge, die Herr Levoz
auf langjährige Erfahrungen gestützt, daran knüpft, sowie durch die ungemein
reichhaltigen Belege und Quellen, auf die er auf jeder Seite hinweist und
die eine wirklich tiefe Gelehrsamkeit des Autors in diesem Fache beweisen.
Das Buch zerfällt in drei Hauptteile, von denen der erste la législation
concernant l’enfance«, die die Kindheit betreffende Gesetzgebung, der zweite
»l’enfance malheureuse«, die unglückliche Kindheit, und der dritte »les mineurs
delinquants«, die Kinder, die sich eines Vergehens schuldig gemacht haben, be-
handelt.
Der erste Teil enthält alle Bestimmungen des Code Napoleon mit den im
Laufe der letzten Jahrzehnte hinzugefügten Modifikationen der belgischen Gesetz-
gebung über den Bürgerstand des Kindes von dem Augenblicke seiner Emp-
fängnis an bis zu seiner Mündigkeitt und die unentbehrlichen Erklärungen und Be-
lehrungen für den Laien, soweit solche dem Zwecke des vorliegenden Werkes ent-
sprechen. Nun ist der Zweck dieses Teiles, wie der Verfasser in einer Anmerkung
auf der ersten Seite seines Buches sagt, nicht so sehr die fachgemäße Aufzählung
und Erklärung jeder möglichen rechtlichen Lage des Kindes, als vielmehr der Hin-
weis auf die Schwierigkeiten, die sich für die Rechte der Kinder und die Maß-
regeln zu ihrem Schutze ergeben können, damit die nichtjuristischen Mitglieder der
Schutzvereine wissen, was sie zum Besten ihrer Schützlinge unternehmen können.
So erfahren wir in dem ersten Kapitel nach und nach die gesetzlichen Vorschriften
über die Geburtserklärung, den Familiennamen (besonders bei illegitimen
Kindern), die erlaubten Vornamen, die Findlinge, die Nationalität und
die Heimatsberechtigung der Kinder, die legitime Abstammung seitens
des Vaters und seitens der Mutter, über die Lage der natürlichen Kinder
und die Möglichkeit ihrer Anerkennung und Legitimierung, das Aufsuchen
der Mutterschaft (la recherche de la maternité est admise) und der Vater-
schaft (la recherche de la paternite est interdite, eine Bestimmung, die Herr Levoz
ein Übereinstimmung mit allen rechtlich denkenden Leuten als ‚la plus detestable
du Code« erklärt, und deren Revision in Frankreich und Belgien namentlich seitens
der Feministen nachgesucht wird); dabei erfahren wir, daß die aus Ehebruch
oder Inzest hervorgegangenen Kinder durchaus gar keine Rechte haben; sie dürfen
selbst die Mutterschaft nicht nachsuchen und haben nur dann allenfalls Anspruch
auf Pflegegelder, wenn ausnahmsweise ihre Abstammung gerichtlich festgestellt
werden mußte; sonst können sie weder erben noch selbst von ihren Eltern Ge-
schenke empfangen, auch haben sie keinen Familiennamen, es sind vollständige
Parias. Diese barbarischen Bestimmungen müßten nach Herrn Levoz' Ansicht be-
deutend gemildert werden. — Danach wird die Adoption behandelt, die offizielle
Vormundschaft. sowohl für die legitimen wie für alle andern Kinder, die
Pflichten der Eltern gegen ihre Kinder, Ernährung, Erziehung, besonders
betreffs der natürlichen und sozusagen rechtlosen Kinder, und dann die väter-
liche Gewalt, die nach Herrn Levoz im Code civil auch tiefe Lücken und be-
dauerliche Übertreibungen enthält. Daran schließen sich die Rechte der Eltern
46 C. Literatur.
in Hinsicht auf die Erziehung, Beaufsichtigung und Züchtigung der Kinder
und die Fälle, wo Eltern dieses Recht verlieren oder verlieren müßten. Herr
Levoz ist für gänzliche Abschaffung der körperlichen Züchtigung, was wohl ein
wenig zu weit gegangen ist. In Belgien kann ein Vater sein Kind auf sein Ver-
langen bis zu einem Monat in gerichtlichem Gewahrsam halten lassen, bei Minder-
jährigen über 16 Jahre sogar bis zu 6 Monaten. In solchem Falle ist es Sache
der Schutzgesellschaften, für das Kind einzutreten, um Mißbräuche zu verhindern;
solche Freiheitsstrafen werden aber nicht gebucht. Doch ist es dann noch vor dem
Einsperren des Kindes Pflicht des Richters, einerseits durch gütiges Zureden den
Zorn des Vaters zu besänftigen und andrerseits auf das Gemüt des Kindes ein-
zuwirken zu suchen, und er soll den Befehl zum Einsperren des Kindes erst er-
teilen, nachdem seine Versuche fruchtlos geblieben sind. Es ist nun Sache der
Patronate (Schutzvereine), sich des eingesperrten Kindes anzunehmen oder es
eventuell gegen seine eigene Familie zu schützen; die Mitglieder solcher Vereine
haben die Erlaubnis, Kinder im Gefängnis zu besuchen.
Nun folgen die Bestimmungen über die Verwaltung des Vermögens der
Kinder; in der Festsetzung der elterlichen Autorität betreffs des Vermögens bei
natürlichen Kindern sind die gesetzlichen Anordnungen auch außerordentlich lücken-
haft und ihre Auslegung ist infolgedessen sehr vielseitig.
Das darauf folgende Kapitel über den Verlust der Elternrechte ist sowohl
für die legitimen als auch für die natürlichen Eltern sehr erschöpfend behandelt
und zahlreiche Rechtsquellen sowie Winke für Ausnutzung der im Gesetze vor-
handenen Lücken sind sorgfältig angegeben, um die Kinder dem verderblichen Ein-
fluß, der Mißhandlung oder der Vernachlässigung unwürdiger Eltern zu entziehen.
Das Thema des darauf folgenden Kapitels ist die rechtliche Lage der Kinder
im Falle der Ehescheidung der Eltern, und das darauf kommende behandelt
die rechtliche Lage der Unmündigen, ihre rechtlichen Befähigungen und
Untauglichkeiten, und zwar nicht nur als ganz junge Kinder, sondern auch
später, z. B. bei der Heirat, bei Schenkungen, Testamonten, Arbeits-
verträgen, Stimmrecht bei Unterstützungsvereinen und Sparkassen, Zeugnis-
ablegen, Klagen vor Gericht.
Die wichtigen Bestimmungen über die Vormundschaft nehmen die nächsten
Paragraphen in sehr erschöpfender Weise ein; jeder Fall ist darin vorgesehen,
Iierauf folgt der ebenso wichtige Paragraph über die rechtliche Verantwortung
der Eltern, Vormünder, Lehrer und Lehrherren für die von den Kindern
begangenen Handlungen.
Das zweite Kapitel enthält die Verordnungen des Verwaltungsrechtes
und spricht zunächst von den Kindern, welche der öffentlichen Wohltätigkeit an-
vertraut sind, den Findlingen, den Waisen, den Verlassenen. Wir lesen
dort die gesetzlichen Erklärungen dieser Ausdrücke, damit man weiß, zu welcher
Kategorie die uns etwa auvertrauten Kinder zu zählen sind; ferner die von den
belgischen Behörden erlassenen Verordnungen über die Frage, wer für diese Kinder
zu sorgen habe und wie dieses zu geschehen habe. Wir erfahren dabei, daß die
Meinungen über den letzteren Punkt sehr geteilt sind und die verschiedenen Ge-
meinden verschiedene Systeme haben. In Belgien wird die »Charit& publique«
(öffentliche Wohltätigkeit) durch zwei Organe ausgeübt: die »Hospices« und die
»Bureaux de bienfaisance« (Armenverwaltung). Nach einem kaiserlichen Dekret
von 1811 haben die Hospitien für die drei Arten von Kindern zu sorgen, aber in
der Praxis handelt jede Gemeinde nach ihrem Ermessen. Dasselbe Dekret wollte
C. Literatur. 47
den Eltern das Verlassen und Aussetzen ihrer ganz jungen Kinder erleichtern,
deshalb schrieb es die Einrichtung eines »Tour< vor, d. h. eines Findelhauses mit
Drehlade, in welche man die Säuglinge legen konnte ohne gesehen zu werden. Der
angebliche Zweck war, die Kindermorde zu vermindern, zu damaliger Zeit aber wohl
in Wahrheit, zukünftige Matrosen und Soldaten zu gewinnen. Das artete aber in
Mißbräuche aus; die Aussetzungen der Kinder wurden immer häufiger, ja sogar
Fuhrleute nahmen gegen entsprechenden Lohn gewerbsmäßig Säuglinge aus der
Provinz mit nach den größeren Städten, um dieselben dort in den »Tour« zu legen.
Deshalb suchte man nach Mitteln, um diese allmählich sehr zahlreich gewordenen
Einrichtungen nach und nach zu unterdrücken; die ergriffenen Maliregeln riefen
nun viele Debatten hervor, man bestritt ihre Gesetzmäßigkeit und ihre Menschlich-
keit, doch wurde die Unterdrückueg beibehalten, und auch in Belgien haben diese
Tours zu bestehen aufgehört. In Paris hat man eine andere Einrichtung dafür ein-
geführt, den »Abandon secret«, das verschwiegene Verlassen, indem man in dem
Wartezimmer des Hospice de la rue Denfert-Rochereau eine Anzeige aufgehängt
hat, die sagt: »Jede Person, welche ein Kind hierher biingt mit der Absicht, es zu
verlassen, ist benachrichtigt, dal ihr im Interesse des Kindes Fragen gestellt werden,
daß es ihr aber gestattet ist, dieselben unbeantwortet zu lassen oder dieselben nur
teilweise zu beantworten. Auch die Vorlage eines Geburtsscheines ist nicht not-
wendig.«e Und alles dies, weil der Versuch, ein Kınderleben zu retten, alle andern
Bedenken beseitigt, und diese Bestimmung möchte Herr Levoz auch in Belgien
aufgenommen wissen. Vorläufig nehmen sich nur die Gesellschaften »des Enfants
martyrs« oder die Kinderschutzvereine der armen Verlassenen an.
Es folgt nun die Auseinandersetzung der Verordnungen betreffs der Vor-
mundschaft der unter der Ägide der Hospitien erzogenen Kinder und
über die Verwaltung der diesen letzteren etwa zufallenden Gelder und Erb-
schaften, über ihre Erziehung, die gewöhnlich bei Bauern oder Handwerkern, die
dafür eine kleine Pension erhalten, stattfindet, und über die Fälle, wo die Vor-
mundschaft der Hospitien ein Ende erreicht.
Betreffs der von den Eltern im Stich gelassenen größeren Kinder und
für die Waisen hat das Gesetz lange nicht dieselbe Fürsorge wie für die Findlinge,
was Herr Levoz auch als einen großen Fehler erklärt, da diese letzteren ebenso
sehr menschliche Teilnahme verdienen, als die ersten. Auch hatte die Regierung
die Mängel dieser Gesetze empfunden und im Jahre 1895 eine Kommission ernannt,
die mit dem Studium einer Reform in der Armenverwaltung betraut war; dieselbe
hat auch nach fünfjähriger Arbeit einen Bericht vorgelegt, der aber nur wenig von
diesen unglücklichen Kindern spricht und übrigens noch nicht zum Gesetz geworden
ist. Herr Levoz ist der Meinung, daß die Patronate und Wohltätigkeitsvereine die
bürgerrechtliche Personifizierung erlangen müßten, um mit Erfolg ohne behördliches
Einschreiten den faktisch und ebenso schr den moralisch verlassenen Kindern zu
Hilfe kommen zu können. Herr Levoz versetzt hier der belgischen Abgeortl-
netenkammer einen wohlverdienten Hieb, indem er den Wunsch ausspricht, die
Herren Abgeordneten möchten einmal ihre endlosen abgeschmackten politischen De-
batten lassen, um die von allen gemütvollen Menschen erschnten der Jetztzeit ent-
sprechenden Gesetze zu schaffen betreffs des Schutzes der Kindheit, des
Nachsuchensder Vaterschaft, desSchulzwangs, der Reform der Armen-
verwaltung, der Vorschriften über die Geisteskranken undder Sittenpolizei,
sowie der Gesetze über die Trunkenheit. Wer möchte dem nicht beistimmen?
(Schluß folgt.)
48 C. Literatur.
Eingegangene Schriften.
Die Irrenpflege. Monatsschrift zur Belehrung, Fortbildung, Unterhaltung
und Hebung des Pflegepersonals an Heil- und Pflegeanstalten, Fachblatt zur Ver-
tretung der Standesinteressen des Pflegepersonals in Deutschland und Österreich-
Ungarn. Mit Berücksichtigung der freien, kolonialen und familiären Behandlung
der häuslichen und allgemeinen Krankenpflege begründet und herausgegeben von
Dr. Konrad Alt, Direktor und Chefarzt der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Ucht-
springe. Unter ständiger Mitarbeit erfahrener Fachärzte und Anstaltsbeamten
redigiert von Dr. Ludwig Scholz, dirig. Arzt der Heil- und Pflegeanstalt Waldbroel
(Rheinland) und Dr. Heinrich Sehlöss, Direktor der nö. Landes-Irren-Anstalt Kier-
ling Guggiez bei Wien. Halle a/S., Verlag von Carl Marhold, VII. Jahrg. Nr. 1.
Preis für das Halbjahr 3 M.
Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift. Redigiert von Ober-
arzt Dr. Joh. Bresler. Halle a/S., Verlag von Carl Marhold. V. Jahrgang. Nr.1.
Preis für das Vierteljahr 4 M.
Dr. J. Demoor, Société protectrice de l'enfance anormale. Rapport de M. le
Secrétaire général à la 20 Assembloć generale annuelle tenue à l'Hotel Ravenstein,
le S mars 1903. Bruxelles, Palleunis & Ceuterich, 1903.
Dr. A. Kühner, Abnorme Kinder. In der Zeitschrift für Kinderheilkunde
»Der Kinder-Arzt«, herausgegeben von Dr. med. Sonnenberger in Worms, 1903. Nr. 2.
Bulletin of Jowa State Institutions. A quarterly journal of the
scientific and clinical work in the Hospitals for the insane, and in the Institutions
for the Feeble Minded, and containing information touching all other Institutions
under the care of the Board of Control. Vol V. 1903. Nr. 1.
Report of the School Committee of the City of Springfield, Massachusetts.
International Reports of Schools for the Deaf. Mode to the Volta
Bureau January 1901.
Der Rettungshausbote, Korrespondenzblatt für die christliche Erziehungs-
und Rettungsarbeit an der Jugend. Herausgegeben von Pastor FR. Kirstein in
Templin (Uckermark) 1903.
Die Gesundheitswarte der Schule. Monatsschrift für Stadt- und Land-
lehrer. Redigiert von Dr. med. Alfred Baur, Seminararzt und Lehrer der Schul-
gesundheitspflege im Kgl. Lehrer- und Lebrerinnen-Seminar in Schwb. Gmünd.
M. Enderlin, Erziehung durch Arbeit. Eine Untersuchung über die
Stellung der Handarbeit in der Erziehung. Leipzig, Verlag von Frankenstein
& Wagner. 1903.
Karl Knortz, Streifzüge auf dem Gebiete amerikanischer Volks-
kunde. Darmstadt und Leipzig, Verlag von Erust Hoppe. 1903.
L. Maurer, Beobachtungen über das Anschauungsvermögen der Kinder. I.
Sonderabdruck aus Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene.
R. Paschen, Der Schiefwuchs der Kinder. I Die Skoliose, Ent-
stehung und Heilung derselben vermittels persönlich konstruierter Apparate nach
eigenen, in 16jähriger Anstaltstätigkeit gesammelten Erfahrungen für Ärzte und
Laien. Dessau, Anbhaltische Verlagsanstalt, 1902,
Albert Schmitz, Zweck und Einrichtung der Hilfsschulen. Aus:
Pädagogisches Magazin, Abhandlungen vom Gebiete der Pädagogik und ihrer
Hilfswissenschaften. Herausgegeben von Friedrich Mann. Langensalza, Hermann
Beyer & Söhne (Beyer & Mann).
Druck von Hermann Beyer & Sohno (Beyer & Mann) in Langonsalza.
A. Abhandlungen.
1. Über die ersten Zeichen der Nervosität des Kindes-
alters.
Vortrag, gehalten im Verein für Kinderforschung am 11. Oktober 1903.
Von
Prof. Dr. Oppenheim.
In einem früheren Vortrage,!) welcher das Thema Nervenleiden
und Erziehung behandelte, habe ich die Bezeichnung »nervös« und
»Nervosität« angewandt, ohne eine Definition des Begriffes zu geben,
ohne das Wesen und die Erscheinungen dieser krankhaften Zustände
zu erläutern. Diese Lücke ist dadurch entstanden, daß ich stets streng
darauf gehalten habe, Fragen und Ergebnisse unserer Wissenschaft
nur in dem engeren Kreise der Fachgenossen zu besprechen und
mich lange dagegen sträubte, sie aus diesem hinauszutragen und vor
ein weiteres Forum zu bringen. Nicht als ob ich daran gezweifelt
hätte, daß es Probleme und Resultate der ärztlichen Forschung gibt,
die ein allgemeines Interesse beanspruchen — nein, nur der Wider-
wille gegen die übliche Art der Behandlung medizinischer 'Themata
in der Tagespresse, der oft sensationelle Charakter derartiger Mit-
teilungen hatte mich wie viele andere zu einem Extrem der Zu-
rückhaltung gedrängt, das mir heute nicht mehr berechtigt erscheint,
das mich auch in Konflikt mit meinen eigenen Bestrebungen bringen
mußte, als ich die vom Standpunkte des Nervenarztes aus wichtigen
Erziehungsgrundsätze aufzustellen versuchte. Meine damaligen Aus-
führungen konnten nur dadurch fruchtbringend werden, dab sie zur
1) Nervenleiden und Erziehung. Berlin, Verlag von S. Korger, 1899.
Die Kinderfehler. IX. Jahrgang. 4
Digitized by G oogle
50 A. Abhandlungen.
Kenntnis derer gelangten, denen die Erziehung der Jugend obliegt.
Dann durfte aber auch nicht mit Begriffen operiert werden, mit denen
nur der Fachmann eine klare, bestimmte Vorstellung verbindet. In
dieser Hinsicht sollen nun meine heutigen Ausführungen eine Er-
gänzung und Vervollständigung der früheren bilden.
Ich will nämlich über die Nervosität des Kindesalters
sprechen und besonders über die Erscheinungen, durch welche sie
sıch am frühesten offenbart, welche die angeborene Anlage zur Ner-
vosität schon in der Frühe des Lebens erkennen lassen. Meine Dar-
stellung erstreckt sich nicht auf die organischen Gehirnkrankheiten
und Psychosen; selbst die Zustände angeborener Geistesschwäche,
über deren erste Äußerungen Herr Trürer vor kurzem gesprochen
hat,!) werde ich, soweit es möglich ist, umgehen und mich auf das
Gebiet der Neurasthenie, Hysterie und ihrer Mischformen beschränken.
Das Studium der Nervosität des Kindesalters erhält dadurch
einen besonderen Reiz und einen besonderen Wert, daß es uns Ge-
legenheit gibt, sie gewissermaßen an ihrer Quelle, in ihrem ersten
Entwicklungsstadium kennen zu lernen. Auch ist ihr Auftreten in
dieser Zeit ganz dazu angetan, ihr ein besonderes Gepräge oder doch
wenigstens einzelne charakteristische Züge zu verleihen.
Wenn wir mit den psychischen Abnormitäten — unter Aus-
schluß der Geistesstöürungen — beginnen, so spielen als Merkmale
der Nervosität zunächst die Stimmungsanomalien und abnormen Ge-
mütsreaktionen eine wesentliche Rolle Die Art der Gemütsreaktion
kann eine krankhafte sein 1. der Intensität nach, indem leichte
Reize unverhältnismäßig starke Gefühlsausbrüche auslösen.
Diese Reizbarkeit kann zu den frühesten Zeichen der Nervosität ge-
hören, ja sic bildet schr oft ihr Erstlingssymptom. Das umgekehrte
Verhalten, die krankhafte Apathie und Indolenz spielt bei den Neu-
rosen im engeren Sinne nur eine untergeordnete Rolle, 2. der Dauer
nach, indem die durch einen Eindruck erzeugte Gemütsreaktion über-
mäßig lange haften bleibt, nicht schnell ausklingt wie beim gesunden
Kinde, sondern den Reiz unverhältnismäßig lange überdauert. Die
Nervosität kann sich aber auch 3. durch ein zu kurzes Haften
und einen zu rapiden Wechsel der Gemütsreaktion, durch eine
ungewöhnlich starke Labilität der Stimmung kennzeichnen. Es ist
aber gerade bei der Feststellung dieses Faktors der Kindesnatur im
vollen Umfang Rechnung zu tragen: in der Seele des Kindes wohnen
Lust und Unlust sehr nahe beieinander, die Stimmungen wechseln
1) Die Anfänge abnormer Erscheinungen im kindlichen Seelenleben. Alten-
burg, Verlag von Oskar Bonde, 1902.
OPPENHEIM: Über die ersten Zeichen der Nervosität des Kindesalters. 51
schnell und können unvermittelt ineinander übergehen. Indes gibt-
es doch auch hier eine Unbeständigkeit und Überstürzung, die den
krankhaften Charakter ohne weiteres zur Schau trägt.
Man könnte schließlich noch 4. von einer perversen, para-
doxen Gemütsreaktion sprechen, wenn Eindrücke, die bei normalen
Kindern ein Lustgefühl hervorbringen oder ihre Stimmung überhaupt
nicht beeinflussen, eine lebhafte Unlustreaktion erzeugen. Ich denke
hier z. B. an die oft aufs äußerste gesteigerte Abneigung gegen be-
stimmte Farben, Gerüche, Geschmacksreize, die für das normale Kind
indifferent sind oder gar ein Wohlgefühl bei ihm hervorrufen, ebenso
an oft schon früh hervortretende unerklärliche Antipathien gegen be-
stimmte Personen usw. —, indes gehören diese Erscheinungen zum
Teil nicht mehr in die psychische Sphäre hinein, andrerseits ist es
gerade hier sehr schwer, die Grenze zu bestimmen, wo das Patho-
logische anfängt, da der Individualität hier recht weitgehende Rechte
eingeräumt werden müssen.
Zu den angeführten Momenten kommt nun ein weiteres, durch
welches sich der krankhafte Charakter der Gemütsreaktion am deut-
lichsten offenbart, dadurch daß sie nämlich 5. Erscheinungen hervor-
bringt, die dem normalen Kinde fremd sind. Dahin gchört z. B. die
Steigerung des Lachens und Weinens zum Lach- und Weinkrampf,
die Ausartung des Zornaffekts zu einem Krampf- oder Tobsuchts-
anfall, die Ausmündung eines Ärgers in einen Schüttelfrost, der Ein-
tritt von Ohnmacht bei lebhaften Sinnesreizen, von vasomotorischen
Störungen, z. B. Nesselausschlag im Anschluß und infolge von Ge-
mütsbewegungen.
Die abnorme Reizbarkeit findet einen besonders sinnfälligen Aus-
druck in der Schreckhaftigkeit. Die psychische und motorische
Reaktion auf plötzlich einwirkende Sinnesreize, besonders der opti-
schen und akustischen Sphäre oder auf entsprechende psychische In-
sulte, die sich in dem Vorgang des Sich-Erschreckens kundgibt, ist
dem Säuglingsalter im allgemeinen fremd und entwickelt sich ge-
meiniglich erst mit der Bildung der Begriffe, mit dem Erwachen
der Intelligenz. Von einer krankhaften Schreckhaftigkeit können wir
da sprechen, wo schon unverhältnismäßig schwache Reize die Sen-
sation des Schrecks auslösen und wo sowohl die Intensität der moto-
rischen Reaktion als auch die des sie begleitenden Unlustgefühls eine
übermäßig starke und nachwirkende ist. So kann sich aus der in
der Regel blitzartig kurzen Muskelzuckung des Zusammenfahrens ein
Krampf, eine Konvulsion entwickeln oder es kann die Muskelspannung
in ein lebhaftes Muskelzittern übergehen. Besonders charakteristisch
4*
52 A. Abhandlungen.
ist es aber, wenn die Bewegungshemmung, die der Schreck auch beim
Gesunden als vorübergehende Erscheinung erzeugt — Nichtsprechen-
können, kein Glied rühren können vor Schreck usw. — zu einer
dauernden wird, wenn sich eine sogenannte Schreckstummheit oder
Schrecklähmung entwickelt. Diese stellt immer eine pathologische
Erscheinung dar und ist ein sicheres Zeichen der Nervosität.
Ich habe mich bei dieser Frage etwas länger aufgehalten, weil
die Schreckhaftigkeit ein schr häufiges Symptom der kindlichen Ner-
vosität ist. In 19 von 40 Fällen, über die ich mir genauere Notizen
gemacht habe, ist nach der Versicherung der sorgfältig beobachtenden
Angehörigen, die abnorme Schreckhaftigkeit das erste Zeichen der
Nervosität gewesen, das ihnen bei dem Kinde aufgefallen ist. Oft
war sie schon im Säuglingsalter, manchmal schon bald nach der Ge-
burt zu Tage getreten.
Von den Seelenstörungen, die sich auf dem Boden der Neu-
rasthenie und Hysterie im Kindesalter entwickeln können, will ich
nicht sprechen — nur ein Symptomenkomplex, der sich als eine
akute transitorische Geistesstörung darstellt, darf nicht übergangen
werden, da cr gerade bei der infantilen Hysterie nicht selten vor-
kommt, auf die Umgebung sehr alarmierend wirkt una zuweilen
auch von Ärzten verkannt wird, es sind das die sogenannten hallu-
zinatorischen Delirien. Das von einem solchen Anfall betroffene
Kind wird plötzlich verwirrt, unruhig, erregt, die Erregung kann sich
bis zum Toben steigern; bei genauerer Betrachtung ist es schnell zu
erkennen, daß lebhafte Sinnestäuschungen und eine illusionäre Ver-
kennung der Umgebung zu Grunde liegen. Der Anfall, in dem das
Kind völlig verändert erscheint, hat eine Dauer von !/,—!/, Stunde,
kann aber auch Stunden und länger anwähren. Ich habe auch Fälle
geschen, in denen der kleine Patient ruhig saß oder lag und nur
wie in einem Traumzustande vor sich hin weinte, aber durch Zu-
reden in keiner Weise beeinflußt werden konnte. Nachdem der An-
fall vorüber war, konnte ermittelt werden, daß er unter der Herr-
schaft eines schreckerregenden Traumes gestanden hatte, der am Tage
aus dem wachen Zustand heraus scheinbar ganz abrupt sich ent-
wickelt hatte.
Wegen der innigen Beziehung des Schlafes zum Seelenleben
sei hier das Wesentliche über die Schlafstörungen bei der Nervosität
dies Kindesalters angeführt. Namentlich in der zweiten Kindheit ist
die neurasthenische Schlaflosigkeit schon eine nicht seltene Erschei-
nung, wenn sie auch nur ausnahmsweise einen Grad und eine Hart-
näckigkeit erreicht, wie bei der Neurasthenie des reiferen Alters.
ZT
OPPENHEIM: Über die ersten Zeichen der Nervosität des Kindesalters. 53
Eine wesentliche Rolle spielen hier gewisse Charakterveränderungen
des Schlafes: große Bewegungsunruhe, lebhaftes und anhaltendes
Träumen mit Aufschreien, Weinen oder Singen im Schlafe, nächt-
liches Aufschrecken, schließlich das Nachtwandeln oder der nächtliche
Somnambulismus, welcher eine ausgesprochen - neuropathische Er-
scheinung darstellt und nie bei gesunden Kindern vorkommt.
Es reiht sich hier die Besprechung gewisser psychischer Ab-
normitäten an, die auf dem Boden der neuropathischen und psycho-
pathischen Diathese entstehen bei sonst geistig intakten und oft sogar
sehr intelligenten Individuen: ich meine die sogenannten Phobien
und Zwangsvorstellungen.
Ich möchte in diesem Vortrage nur das anführen, was ich selbst
gesehen und erfahren habe, und kann gerade auf Grund dessen be-
haupten, daß die Phobien und auch die echten Zwangsvorstellungen
im Kindesalter keine seltene Erscheinung bilden. Daß die Tatsache
so wenig bekannt ist, liegt in der Natur dieses Leidens begründet.
Zu der Scheu, welche es schon dem Erwachsenen erschwert, über
diese Zustände Auskunft zu geben, kommt im Kindesalter noch die
Schwierigkeit, sich über Seelenvorgänge klar zu werden und deutlich
auszusprechen. Trotzdem ist es mir in einer nun schon großen Zahl
von Fällen gelungen, durch sorgfältige Beobachtung und eine der
Natur des Leidens und des Kindesalters angepaßte Methode der vor-
sichtigen Exploration, über diese Zustände Auskunft und Bekenntnis
zu erhalten.
Besonders aber haben mir erwachsene Neurastheniker häufig
erklärt, daß ihre Phobien und Zwangsvorstellungen bis in die früheste
Kindheit zurückreichen.
Es kommen zunächst Phobien vor, die den Idiosynkrasien
sehr nahe stehen. Bei ihrer Entstehung spielen vererbte oder an-
erzogene, gelegentlich in Aberglauben und Mystik wurzelnde Vor-
stellungen eine Rolle, und es ist da oft schwer zu sagen, ob und
inwieweit etwas Krankhaftes vorliegt. Ich habe da besonders die
Idiosynkrasien gegen gewisse Tier- Arten (Mäuse, Spinnen, Kröten,
Käfer, Würmer und dergl.) im Auge. Sie kommen zweifellos bei
ganz gesunden Individuen vor und werden nicht selten von Gene-
ration zu Generation fortgcerbt.
Aber schon die Intensität der Unlustgefühle, welche der Anblick
oder die Berührung der verabscheuten Ticrspezies erweckt, kann die
krankhafte Grundlage bekunden. Hatte ich doch Gelegenheit, nervöse
Kinder zu behandeln, die unter diesen Verhältnissen von einem Angst-
anfall mit Zittern, Erblassen, Erbrechen, ja von Konvulsionen er-
54 A. Abhandlungen.
griffen wurden, andere, bei denen schon die Vorstellung des ent-
sprechenden Tieres derartige Attaken auszulösen vermochte.
Stark betonte Unlustgefühle dieser und verwandter Art scheinen
mir auch bei den Nahrungsidiosynkrasien zuweilen im Spiele
zu Sein. Ich habe nervöse Menschen behandelt, die in der Kindheit
einmal einen besonders peinigenden Eindruck von einem blutenden
Vogel, einem toten Fische erhalten hatten und seitdem außer stande
waren, Geflügel, Fisch oder selbst das, was mit diesen in Berührung
gekommen, zu genießen. Der erste Eindruck hatte ein starkes Ekel-
gefühl ausgelöst, das nun für immer mit ihm verknüpft blieb. Der-
artige Erinnerungsassoziationen werden mit der Zeit immer fester
und es ist im Hinblick auf die Ernährungsfrage von großer Wichtig-
keit, sie so früh wie möglich zu lockern.
Von den anderweitigen Phobien des Kindesalters können einige
eine einfache Konsequenz der Erziehung sein z. B. die Monophobie,
die Furcht vor dem Alleinsein, die Furcht vor dem Dunkel, dem Ge-
witter usw., aber bei nervösen Kindern erhalten sie durch den hohen
Grad der Verängstigung, durch ihre schon geschilderten abnormen
Äußerungen und die völlige Unfähigkeit der Beherrschnng ein be-
sonderes Gepräge. Andrerseits kommen auch die echten Phobien,
die Zustände von Situationsangst, die immer pathologischen Charakter
haben, z. B. die Platzangst, die Reiseangst, die Schmutzberührungs-
angst, die Waschsucht usw. im Kindesalter nicht selten vor.
Bei einigen meiner Patienten traten vor der Ausbildung dieser
und verwandter Zustände gewisse Eigentümlichkeiten hervor, die als
besonders scharf ausgeprägte Charakterzüge gedeutet werden mußten,
z. B. eine skrupulöse Pünktlichkeit und Ordnungsliebe, ein auffälliger
Geiz, ein ungewöhnlicher Grad von Feigheit; es bedarf aber noch
weiterer sorgfältiger Beobachtungen, um die Beziehungen zwischen
derartigen hervorstechenden Charaktereigenschaften und gewissen
Zwangszuständen klarzustellen.
Während ces so auf der einen Seite schwer sein kann, die Grenze
zwischem dem Normalen und Pathologischen zu ziehen, kommen nun
andrerseits auch im Kindesalter Affektionen dieser Art vor, die eine
so schwere Hemmung hervorrufen, daß sie aus diesem Grunde ver-
kannt und als rätselhafte Erscheinung oder als Geisteskrankheit an-
gesehen werden. So behandelte ich ein Mädchen von 10 Jahren, das
schon in der ersten Kindheit von heftigen Angstanfällen ergriffen
wurde, wenn Mutter oder Vater das Haus verließen. Das Kind
stellte sich an die Tür oder ans Fenster, vor Angst und Aufregung
zitternd und war nicht von der Stelle zu bringen, bis die Eltern
OPPENHEIM: Über die ersten Zeichen der Nervosität des Kindesalters. 55
zurückkehrten. Bald durfte die Mutter das Zimmer überhaupt nicht
mehr verlassen, schließlien war der Angstzustand ein fast permanenter
und beherrschte das Denken und Handeln so vollständig, daß das
Mädchen durchaus einem geisteskranken glich. Es bedurfte einer
sehr genauen Exploration, um festzustellen, daß die Zwangsvorstellung,
es könne den Angehörigen ein Unglück zustoßen, zu Grunde lag und
daß ausschließlich diese für das eigentümliche Verhalten bestimmend
war. Sobald der Angstaffekt gewichen war, war das Kind sich der
Grundlosigkeit seiner Furcht bewußt und empfand sie selbst als eine
krankhafte.e Nachdem ich das Leiden erkannt hatte, gelang es mir,
durch eine entsprechende Behandlung eine wesentliche Besserung
herbeizuführen.
In einem andern Falle bereitete ein 4jähriges, sehr intelligentes
Mädchen der Mutter die größte Qual dadurch, daß es sich nicht an-
kleiden ließ. Beim Versuch, ihm das Hemd oder einen Rock anzu-
ziehen, geriet es in heftige Erregung und sträubte sich energisch
gegen diese Prozedur. Hatte man ihm trotzdem die Bekleidung auf-
genötigt, so stand es wie verzweifelt da, mit den Händen das Kleid
weit vom Körper abziehend. Man konnte sich das Verhalten nicht
erklären. Als ich um Rat gefragt wurde, dachte ich zunächst an
eine Hyperästhesie der Haut. Das traf aber nicht zu, da Berührung,
Reibung der Haut usw. gut ertragen wurde. Da erinnerte ich mich,
daß eine Art von Bekleidungsfurcht als quälende Form der Zwangs-
vorstellung bei Erwachsenen vorkommt. Die Betroffenen haben, so-
bald sie ein Kleid anziehen, das Gefühl der Beengung oder die Vor-
stellung, daß der Körper schief, verschoben ist oder es ist eine pein-
liche Empfindung, die sie nicht genau definieren können. Bei einem
Teil dieser Individuen macht sich die Qual nur dann geltend, wenn
sie ein neues Kleidungsstück anziehen wollen. Ich konnte feststellen,
daß die Bekleidungsphobie bei dem sonst normalen, geistig intakten
aber belasteten Kinde vorlag.
Ich könnte noch eine große Reihe derartiger Fälle aus meiner
Praxis anführen, will aber lieber gleich zu der Betrachtung moto-
rischer Reizerscheinungen oder psychomotorischer Vorgänge
übergehen, die sich zum Teil noch eng an die Zwangszustände an-
schließen. Die wichtigsten sind die, welche von den französischen
Autoren als Tic bezeichnet werden. Im großen und ganzen deckt
sich der Begriff mit dem der Geste. Es gibt leichte und schwere,
lokalisierte und generalisierte Formen desselben. Sie sind bei den
Kindern neuropathischer Familien sehr verbreitet und werden meist
verkannt und zwar in der Weise mißdeutet, daß das Leiden für cine
56 A. Abhandlungen.
»schlechte Gewohnheit« gehalten wird. Wir werden gleich sehen,
inwieweit diese Auffassung etwas Zutreffendes enthält. Es handelt
sich meist um Augenblinzeln, Mundaufreißen, Hin- und Herwerfen
des Kopfes, gestikulationsartige Bewegungen mit den Gliedmaßen,
Schnalzen, Bellen, Räuspern, Ausstoßen von Worten obscönen In-
halts usw. Bald liegt nur eine Zwangsbewegung vor, bald ist der
ganze Körper ergriffen.
Es ist begreiflich, daß die Angehörigen im Beginn, bei schwacher
Ausbildung und enger Begrenzung des Leidens an Unart und Ge-
wohnheit denken. Es gibt auch in der Tat sogenannte Gewohnheiten,
die in ihrer äußeren Erscheinungsform dem Tic sehr nahe stehen.
Aber die Brücke zum Krankhaften ist schnell geschlagen. Die Mehr-
zahl der Menschen, bei denen sich solche Gewohnheiten festsetzen
und nicht abgeschüttelt werden können, sind eben Neuropathen. Bei
diesen ist einmal die Neigung zur Immitation oft eine sehr ausge-
sprochene; andrerseits werden die ursprünglich zweckmäßigen Reflex-
und Ausdrucksbewegungen durch die krankhafte Neigung zur Repe-
tition gerade bei ihnen leicht zu einem Zwang, zu triebartig ausge-
führten Bewegungsakten, die schließlich dem Einfluß des Willens
ganz entzogen sind. Es bedarf kaum der Hervorhebung, wie wichtig
cs ist, die krankhafte Natur dieser Erscheinungen rechtzeitig zu er-
kennen. Besonders deshalb, weil es leichte, gerade an der Grenze
des Pathologischen stehende Formen gibt, in denen durch stetes Er-
innern und Ermahnen die Bewegungsakte unterdrückt werden können,
noch bevor sie zu Zwangsbewegungen, zum eigentlichen Tic aus-
gcartet sind. Vor großer Strenge und Anwendung von Strafe möchte
ich aber immer warnen, da gerade die Verknüpfung dieser Muskel-
bewegungen mit dem Angstaffekt besonders geeignet ist, den echten
Tie zur Entwicklung zu bringen.
Für die Lehrer und Pädagogen haben diese Zustände noch ein
besonderes Interesse dadurch, daß sie eine große Zerstreutheit und
Unaufmerksamkeit mit sich bringen, daß diese Kinder mit einer
oft guten Intellgenz eine beträchtliche Zerfahrenheit verbinden,
dadurch in ihren Leistungen einseitig, mangelhaft und sprunghaft
werden. Überhaupt möchte ich nicht versäumen, anzuführen, daß
die Zerstreutheit schr oft eine Folge der Nervosität ist und zu ihren
frühen Merkmalen gehören kann.
Auf dem Grenzgebiet zwischen der sogenannten schlechten Ge-
wohnheit und dem Tic finden wir noch eine Reihe von Störungen,
die zumeist schon den neuropathischen Charakter haben. Hierzu
rechne ich das Nägelkauen, das Haarpflücken, das Abzupfen der
OPPENHEIM: Über die ersten Zeichen der Nervosität des Kindesalter. 57
nn mm nn III I
Haut u. dergl. Gewiß kommen diese Neigungen in schwacher Ausbildung
auch wohl bei gesunden Kindern vor, aber bei den nervösen werden
sie zu einem unwiderstehlichen Zwang und führen zuweilen zu recht
unangenehmen Selbstbeschädigungen und Verunstaltungen. Ich habe
Neuropathen behandelt, die seit Kindheit mit diesem Übel behaftet,
keine Spur eines Nagels mehr besaßen; die Endphalangen ihrer Finger
waren mit Narben bedeckt und völlig verunstaltet. Man hat be-
hauptet, daß diese Kinder Aspiranten der Masturbation wären. In
der Annahme dieser Beziehungen ist man aber zu weit gegangen.
Das Nägelkauen und Daumenlutschen hat mit der Masturbation direkt
nichts zu tun. Die Erscheinung deutet nur darauf hin, daß es sich
um Individuen handelt, bei denen sich Gewohnheiten leicht fixieren
und einen triebartigen Charakter annehmen und in diesem Sinne
sind sie auch für die Masturbation prädisponiert.
Daß auch Krampfzustände mannigfacher Art schon im frühen
Kindesalter vorkommen und sich zum großen Teil besonders auf dem
Boden der neuropathischen Diathese entwickeln, will ich nur er-
wähnen, ohne dieser Frage hier näher zu treten. Die Beurteilung
der Krämpfe und ihre Differenzierung verlangt genaueste ärztliche
Sachkenntnis und ich halte es für richtiger, dieses Gebiet ganz von
unseren Betrachtungen auszuschließen. Auch das Zittern, die Sprach-
störungen und Lähmungszustände mögen im Hinblick auf die Kürze
der mir zu Gebote stehenden Zeit nur beiläufig angeführt werden.
Ich wende mich lieber gleich einer Gruppe von Erscheinungen zu,
die als besonders charakteristische Merkmale der Nervosität angeschen
werden können und oft schon in der ersten Lebenszeit die nervöse
Anlage verraten, es ist die Gruppe der vasomotorischen, d. h. der
sich im Bereich des Blutkreislauf- Apparates abspielenden Störungen.
Es gibt Individuen, bei denen die Nervosität sich ausschließlich oder
doch vorwiegend durch diese Erscheinungen manifestiert. Auch ist
es nicht ungewöhnlich, daß gerade diese vasomotorische Form der
Nervosität sich vererbt, so daß oft zahlreiche Mitglieder einer Familie
von ihr betroffen sind.
Diese vasomotorischen Naturen haben gewöhnlich schon von Kind
auf unter Zirkulationsstörungen zu leiden. Besonders ist cs das
Kältegefühl an Händen und Füßen, dem meist auch eine Temperatur-
erniedrigung der Haut dieser Teile entspricht, zuweilen eine aus-
gesprochene Neigung zu bläulich-roter Verfärbung unter dem Einfluß
der Kälte oder selbst bei warmer Außentemperatur. Auch die Ge-
sichtsfarbe wechseln sie ungewöhnlich leicht und die erheblichen
Schwankungen in der Blutfüllung der Gesichtsgefäße bedingt es, daß
58 A. Abhandlungen.
sie innerhalb kurzer Zeiträume ihr Aussehen wechseln. Eine seltenere
Störung dieser Art ist der sogenannte Totenfinger, ein anfallsweise
erfolgendes Erblassen und Absterben eines oder einzelner Finger.
Die Kinder dieser Gruppe sind meist empfindlich gegen Haut-
reize, so daß ein Druck oder Stich eine intensive Rötung und Quaddel-
bildung erzeugt. Überhaupt werden sie leicht von Nesselausschlag
befallen. Nach einem Insektenstich erreicht die Hautschwellung oft
ungewöhnliche Grade.
Bei einigen dieser Individuen besteht eine ausgesprochene In-
toleranz gegen Alkohol, so daß beim Genuß ganz kleiner Quanti-
täten, wie sie z. B. in einer Weinsauce oder Biersuppe enthalten
sind, das Gesicht sowie die Schleimhäute des Halses und Rachens
sich lebhaft röten und schwellen. Eigentümliche Formen von
Schnupfen mit übermäßiger Sekretion einer wasserklaren Flüssigkeit
und heftigem Niesreiz kommen dabei vor. — Auch das nervöse
Herzklopfen gehört hierher.
Auf derselben Grundlage kann sich eine weitere Erscheinung
entwickeln, die freilich auch oft einen andern Ursprung hat: die
Neigung zu Ohnmachten. Bei jedem Schmerz, bei jedem pein-
lichen Eindruck, besonders beim Sehen von Blut werden diese Indi-
viducn von einer Ohnmacht befallen, die bald nur eine oberflächliche,
bald mit vollkommener Bewußtlosigkeit verknüpft ist. Ich hatte Ge-
legenheit, Tochter und Mutter an diesem Übel zu behandeln, bei
denen schon das Eintauchen der Hände in kaltes Wasser einen Ohn-
machtsanfall auslöste.
Ich erwähne an dieser Stelle noch eine Erscheinung, die aller-
dings nur in einem lockeren Zusammenhang mit den vasomotorischen
Phänomenen steht: das nervöse Erbrechen. Es gibt Kinder, die
bei jeder Aufregung von Erbrechen befallen werden. Besonders
typisch ist das Erbrechen am Morgen vor dem Schulbesuche Es
sind keineswegs vorwiegend schlechte Schüler, die an diesem Übel
leiden, es ist eine nervöse Erregung unbestimmter Art, die sich mit
dem sogenannten Erwartungsaffekt deckt, welche das Erbrechen ver-
anlaßt. Bei manchen dicser Kinder sind es sogar hauptsächlich
freudige Erregungen, die den Brechakt auslösen.
Mit der abnormen Reizbarkeit des vasomotorischen und des
Brechzentrums ist auch oft eine Hyperästhesie der Gleich-
gewichts-Öentren verbunden, so daß bei plötzlichen oder unge-
wöhnlich schnellen Veränderungen der Beziehungen zum Raume
(Drehbewegungen, Carousselfahrt, Eisenbahnfahrt mit Rücksitz usw.)
Schwindel, Übelkeit und Erbrechen cintritt.
OPPENHEIM: Über die ersten Zeichen der Nervosität des Kindesalters. 59
Wir wollen nun die abnormen Erscheinungen in der sensiblen und
sensorischen Sphäre betrachten, die als Vorboten und frühe Zeichen
der Nervosität auch für die infantile Form gewürdigt werden müssen.
Von schmerzhaften Zuständen ist da in erster Linie der
Kopfschmerz und speziell die Migräne zu nennen.
Von diesem Leiden ist es ja bekannt, daß seine Qual oft schon
in der Kindheit anhebt und daß es vielen ein treuer Begleiter durch
das Leben bleibt und sich oft erst durch die Beschwerden des Alters
ablösen läßt.
Weniger bekannt ist der nervöse Rückenschmerz, der namentlich
bei Mädchen vorkommt und jene schon in der Kindheit sehr ver-
breitete Algien, die durch jede Muskelleistung oder auch nur durch
die Tätigkeit bestimmter Muskelgruppen ausgelöst werden. Sie ver-
dienen deshalb Beachtung, weil sie die Wurzel eines sehr hartnäckigen
aber glücklicherweise seltenen Leidens, der sogenannte Akinesia algera
bilden können.
Von den Hpyperästhesien ist die der Hör- und Sehnerven eine
der Nervosität des Kindesalters keineswegs fremde Erscheinung. Be-
sonders haben WıLsrannp und Sänger gezeigt, welch hervorragende
Rolle die asthenopischen Beschwerden in der Kindheit spielen.
Die Hyperästhesie im engeren Sinne dokumentiert sich dadurch,
daß mechanische Reize der Haut und Weichteile, die bei dem Ge-
sunden kein Unlustgefühl erzeugen, schmerzauslösend wirken.
Es gibt nervöse Kinder, bei denen der ganze Körper, andere, bei
denen nur bestimmte Stellen, z. B. der Oberarm, der Rücken in
diesem Sinne hyperästhetisch ist.
Auf eine interessante Abart resp. Lokalisation dieser Hyper-
ästhesie konnte ich vor kurzem die Aufmerksamkeit der Fachgenossen
lenken: die Hyperästhesia unguium, d. h. die Überempfindlich-
keit der Nägel. Ich fand die Erscheinung, die sich darin äußert, daß
das Reinigen und Beschneiden der Nägel einen übermäßigen Schmerz
hervorruft, der sogar diese Prozedur unmöglich machen kann, nur
bei nervösen Kindern. Heute möchte ich auf eine weitere Form dieser
Überempfindlichkeit hinweisen, die mir in den letzten Jahren wieder-
holt begegegnet ist: die Hyperästhesie der Kopfhaare. Bei einer
meiner Patientinnen handelte es sich um ein cererbtes Übel, an dem
auch Mutter und Großmutter gelitten hatten. Jede Berührung der
Kopfhaare war ihr in dem Maße schmerzhaft, daß ihr das Kämmen
und Ordnen der Haare die größte Pein bereitete und meist höcht
oberflächlich betrieben werden mußte. Bei einem Knaben hatte diese
Störung einen solchen Grad erreicht, daß die verängstigten Eltern
60 A. Abhandlungen.
seit Wochen auf Kämmen und Bürsten verzichtet hatten und mir
das Kind in recht verwahrlostem Zustande zuführten. —
Über die Hyperästhesie und Anästhesie, die Abstumpfung des
Gefühls und der Sinnesfunktionen, können wir schnell hinweggehen,
da sie im wesentlichen nur der Hysterie zukommen — von der
Idiotie sehen wir hier ja ganz ab.
Auch bei den sogenannten trophischen oder Ernährungsstörungen
will ich nicht lange verweilen; sie gehören zu den selteneren Zeichen
der infantilen Neuropathie und betreffen vorwiegend die Haare und
Nägel. Am häufigsten kommt der Haarausfall, namentlich der um-
schriebene, auf dieser Basis vor. Auch ein Ergrauen einzelner Haar-
büschel habe ich in vereinzelten Fällen schon bei Kindern beobachtet.
Nächstdem sind es die Nägel, an denen Ernährungsstörungen infolge
nervöser Diathese schon im Kindesalter zur Ausbildung kommen. Es
handelt sich da besonders um eine abnorme Brüchigkeit und spon-
tanen Ausfall einzelner oder aller Nägel.
Der Verdauungsapparat bildet auch bei Kindern sehr oft den
Ausgangs- und Ansiedelungsort nervöser Beschwerden und Erschei-
nungen. Es gibt zunächst eine Form der Appetitlosigkeit dieses
Charakters. Sie kann sehr hartnäckig sein, eine beträchtliche Ab-
magerung zur Folge haben und bei unzweckmäßiger Behandlung
selbst das Leben gefährden. Auf gewisse Idiosynkrasien gegen
Nahrungsmittel wurde schon hingewiesen. Wir hatten dabei aber
nur die psychologische Seite berücksichtigt. Es kann nun aber bei
nervösen Individuen eine wirkliche Intoleranz des Magens gegen
gewisse Speisen (Eier, Milch, bestimmte Fleischsorten usw.) schon in
der Kindheit hervortreten und sich dadurch äußern, daß der Genuß
derselben jedesmal eine Indigestion zur Folge hat. Auch da macht
sich oft ein familiärer Zug geltend und es ist gewiß denkbar, daß
bei cinem der Aszendenten die Abneigung einen psychischen Ursprung
hatte, während es sich bei den Nachkommen um eine ererbte reelle
Intoleranz handelt. Der sogenannte »schwache Magen« findet sich
überhaupt häufig in nervösen Familien und kann sich schon in der
Kindheit in quälender Weise fühlbar machen. Das gleiche gilt für
die sogenannte nervöse Dyspepsie.
Von einzelnen Beschwerden dieser Art möchte ich das Aufstoßen
und die habituelle Stuhlverstopfung besonders hervorbeben. Aber
auch die nervöse Diarrhoe ist an dieser Stelle anzuführen.
In der Urogenitalsphäre, d. h. im Bereich der Blasen- und
Geschlechtsfunktionen kann die nervöse Anlage sich frühzeitig be-
kunden. So ist das nächtliche Bettnässen und der unfreiwillige Harn-
OPPENHEIM: Über die ersten Zeichen der Nervosität des Kindesalters. 61
abgang am Tage ein Symptom, das meistens auf angeborene Nervo-
sität beruht. Es gibt nervöse Kinder, die bei jeder Aufregung den
Urin, seltener den Stuhl unter sich lassen, während die entsprechen-
den Schließmuskeln sonst gut funktionieren.
Eine psychisch vermittelte Hemmung der Blasenfunktion kommt
ebenfalls vor. Zunächst gibt es neuropathische Kinder, die in Gegen-
wart anderer den Harn nicht entleeren können; das kann sich bis
zu dem Maße steigern, daß schon die Vorstellung des Beobachtet-
werdens die Fähigkeit der Harnentleerung aufhebt. Schließlich kann
sich diese Hemmung mit einem Angstaffekt verknüpfen, der nun
jedesmal eintritt, wenn diese Individuen in einem geschlossenen
Raume von Harndrang befallen werden.
Es ist bekannt, daß bei den Kindern nervöser Eltern die Ge-
schlechtslust oft ungewöhnlich früh erwacht. Die durch ihr vor-
zeitiges Auftreten und ihre Maßlosigkeit ungewöhnlichen Formen der
Masturbation beobachtet man wohl nur bei nervösen und psycho-
pathisch minderwertigen bezw. schwachsinnigen Kindern.
Es ist ferner beachtenswert, daß nach dem Geständnis Erwachsener
die sexuellen Perversitäten oft bis in die Kindheit zurückreichen.
Andrerseits kann aber auch der Ausbildung eines durchaus normalen
Sexualtriebs in der Kindheit eine Periode unklarer und selbst perverser
Vorstellungen und Empfindungen dieser Art vorausgehen. Erektionen
können in seltenen Fällen schon im frühen Knabenalter ein quälendes
Symptom bilden usw.
Ich bin am Schlusse meiner Darlegungen. Ich habe Ihnen ge-
zeigt, daß die Nervosität das Kind schon auf seinem ersten Lebens-
wege begleiten und sich in den mannigfaltigsten Erscheinungen äußern
kann. Es lag mir aber besonders daran, auch den Nicht-Ärzten die
Möglichkeit zu gewähren, die ersten Keime und Knospen dieses
Leidens bei ihren Kindern und Pflegebefohlenen zu erkennen. Aber
gerade in dieser Hinsicht habe ich noch vor einem Fehlschluß und
Fehlgriff zu warnen. Ich habe einzelne Erscheinungen angeführt und
ihnen die Bedeutung von Symptomen der Nervosität zuerkannt. Bei
einem Teil derselben handelt cs sich um Abweichungen von der
Norm, um Eigentümlichkeiten, die ererbt oder erworben sein können,
ohne daß sich aus ihnen jemals ein ausgesprochenes Leiden zu ent-
wickeln braucht. Andrerseits können einzelne dieser Funktions-
störungen auch durch andere Krankheiten, durch Erkrankungen
anderer Organe hervorgerufen werden. Es wird also immer noch
einer vorsichtigen und kritischen Prüfung dieser Merkmale bedürfen,
62 A. Abhandlungen.
namentlich wenn sie vereinzelt in die Erscheinung treten. Mit andern
Worten: Die geschilderten Abnormitäten sollen den Eltern und Er-
ziehern als Warnungssignale dienen, sie sollen sie veranlassen,
den Arzt zu Rate zu ziehen, der nun auf Grund seiner speziellen
Sachkenntnis zu entscheiden hat, ob sich in den ihnen als ungewöhn-
lich auffallenden Erscheinungen die keimende Nervosität offenbart.
Man könnte nun noch die Frage aufwerfen, ob es denn ein Ge-
winn sei, wenn diese krankhaften Zustände früh erkannt werden, ob
damit auch die Mittel an die Hand gegeben seien, sie zu bekämpfen
und im Keim zu vernichten. Nun, die Frage beantwortet sich von
selbst. Wenn wir auch nicht in der Lage sind, die ererbte und an-
geborene neuropathische Konstitution durch eine andere zu ersetzen,
so steht es doch in unserer Macht, durch die Art der Erziehung
und Bchandlung, ganz besonders durch die Fernhaltung gewisser
Schädlichkeiten, auf die ich in früheren Vorträgen hingewiesen habe,
dahin zu wirken, daß die vorhandenen Keime nicht zur üppigen Ent-
wicklung, nicht zur vollen Entfaltung gelangen. Möchten meine An-
regungen in diesem Sinne wirken!
m U a
2. Über die Bedeutung der Stimmungsschwankungen
bei Epileptikern.
Vortrag gehalten am 12. Oktober zu Halle auf der 5. Versammlung des Vereins
für Kinderforschung.
Von
Prof. Dr. Gustav Aschaffenburg.
Nicht ohne ernste Bedenken ergreife ich hier das Wort vor
ciner Versammlung von Nicht-Medizinern, um zu einer klinischen
Frage Stellung zu nehmen, die noch nicht als unzweifelhaftes Er-
oberungsgebiet unserer Fachwissenschaft betrachtet werden darf, zur
Frage nach der Bedeutung der Stimmungsschwankungen bei Epilep-
tikern. Allerdings glaube ich berechtigt zu sein, meine Ansicht zu
vertreten, die das Ergebnis spezieller Untersuchungen ist, und zu der
sich neuerdings auch mehr und mehr die Fachgenossen bekannt haben.
Nicht das also ist, was mich bedenklich macht.
Meine Bedenken wurzeln vielmehr in der Befürchtung, bei jeder
Stimmungsschwankung in dem Herzen der Eltern das Gespenst der
Epilepsie mit all ihren Schrecken auftauchen zu sehen. Und doch
scheint mir diese Furcht das geringere Übel zu sein, gegenüber der
Gefahr, die Epilepsie zu verkennen.
ÄSCHAFFENBURG: Bedeutung der Stimmungsschwankungen bei Epileptikern. 63
Ich möchte anknüpfen an die Worte STROHMEYERS aus seinem Vor-
trage »Über Epilepsie im Kindesalter« auf der vorigen Tagung dieser
Versammlung in Jena: »Je früher und je energischer eingegriffen
wird, um so größer ist die Aussicht auf Heilung.« Nicht allzuoft
ist es möglich, die Epilepsie zu heilen, aber darum brauchen wir die
Hände nicht in den Schoß zu legen. Da, wo unsere Hoffnung auf
völlige Wiederherstellung an der Schwere der Krankheit scheitert,
bleibt uns immer noch die Möglichkeit, wenigstens dem allzuschnellen
Fortschreiten durch Anordnung einer zweckmäßigen Lebensweise Ein-
halt zu tun, wenigstens die schlimmsten Erscheinungsformen der
Epilepsie zu verhindern.
Um das zu können, müssen wir die Krankheit möglichst früh-
zeitig feststellen; deshalb ist cs notwendig, alle die mannigfachen
Formen zu kennen, auf Grund deren wir die Wahrscheinlichkeits-
diagnose der Epilepsie stellen. Die Wahrscheinlichkeitsdiagnose sage
ich ausdrücklich; sie genügt, um den vorsichtigen Arzt zu allen vor-
beugenden Maßnahmen zu veranlassen, deren ein epileptisches Kind
bedarf. Denn das eine bedarf wohl keiner Begründung: Alle pro-
phylaktischen Mittel der Erziehung und Lebensweise schaden keinen
Kinde, auch dem gesunden nicht. Wohl aber kann cine Lebens-
führung, die für ein rüstiges Gehirn unbedenklich ist, bei einem
epileptischen Kinde die größten Nachteile bringen. Nur so also bitte
ich meine Ausführungen zu verstehen; nicht eine übertriebene Ängst-
lichkeit gegenüber psychopathischen Kindern möchte ich wachrufen,
sondern nur zur Vorsicht mahnen, damit nicht aus anscheinend harm-
losen Anfängen größerer Schaden erwächst.
Die Epilepsie ist eine Krankheit von so ausgeprägtem Charakter,
daß sie zu den bestgekannten gehört, soweit wenigstens der große
Krampfanfall in Betracht kommt, dieses erschütternde Bild tiefster
Bewußtlosigkeit, von krampfhaften Zuckungen der Glieder und des
ganzen Körpers begleitet. Der klinischen Beobachtung aber konnte
es nicht lange entgehen, daß die Krankheit nicht immer nur in dieser
Form oder ausschließlich in Kränpfen auftrat. Im Gegenteil; bald
lernte man bestimmte Charaktereigenschaften des Epileptischen kennen,
ferner eine Anzahl von kleinen Anfällen, kurzdauernden Schwindel,
Ohnmachten, blitzschnell vorübergehende Bewußtseinstrübungen, petit
mal genannt, einerseits, andrerseits schwere psychische Erkrankungen,
tage- und wochenlang andauernd, in denen die Kranken, verwirrt und
in phantastischen Erlebnissen befangen, oder auch auf den ersten
oberflächlichen Blick völlig besonnen und scheinbar wohlüberlegt
handelnd, doch ein Traumleben führen.
64 A. Abhandlungen.
Diese schweren Anfälle, die sogenannten Dämmerzustände,
schließen sich nicht selten an einen Krampfanfall an oder enden in
einen solchen; man bezeichnet sie deshalb als post- oder präepilep-
tische Dämmerzustände. Zuweilen aber finden sie sich ohne jeden
Zusammenhang mit Krämpfen, an deren Stelle. Diese Zustände,
ebenso wie die andern Anfälle nicht krampfartiger Natur werden all-
gemein epileptische Äquivalente genannt. Von besonderer Wichtig-
keit im Zusammenhang mit den zu besprechenden Stimmungsschwan-
kungen ist die Tatsache, daß sich leichte Anfälle von Bewußtseins-
trübungen, Krämpfen oder Schwindel zuweilen durch den Genuß
größerer Mengen Alkohols in die schweren Dämmerzustände um-
wandeln lassen, ein Experiment, das leider der Epileptiker vielfach
in der Freiheit macht.
Zu dem festen Besitzstande unserer Kenntnisse von der Epilepsie
gchört auch der epileptische Charakter. Reizbarkeit und Launen-
haftigkeit, Heimtücke und Egoismus, übertriebene Frömmigkeit und
Lügenhaftigkeit, Brutalität und Empfindlichkeit, alles wird dem Epi-
leptiker nachgesagt. An diesem Punkte nun glaube ich darf die
Kritik einsetzen. Kein Zweifel, viele der Epileptiker, besonders der
schwachsinnig gewordenen, zeigen alle diese Charaktereigentümlich-
keiten. Aber nicht alle, nicht einmal der größere Teil. Und bei
näherer Beobachtung mancher Kranken wiederum, die anscheinend
der »epileptischen Charakterdegeneration« verfallen sind, wird man
überrascht sein, die unangenehmen Seiten nicht immer, nicht dauernd
vorzulinden. Manche sind wochenlang leicht lenkbar, zuverlässig,
zuvorkommend bis zur Aufopferung. Plötzlich ändert sich das Bild.
Derselbe Kranke, der noch am Tage vorher sich in nichts von dem
scsunden unterschied, ist plötzlich ablehnend, ärgerlich, verstimmt,
jeden Zuspruch zurückweisend, und bei dem geringsten Anlaß auf-
brausend.
Oft findet man bei einer körperlichen Untersuchung die Zeichen
eines Anfalles, der nur, weil er sich Nachts abspielte, unbemerkt
blieb: Zungenbisse, Blutungen in der Bindehaut des Auges und ähn-
liches. Nicht immer aber läßt sich diese Veränderung im äußeren
Verhalten auf einen Anfall zurückführen; oft läßt sich vielmehr ein
Anfall mit Bestimmtheit ausschließen, besonders dann, wenn die Er-
regung sich unter den Augen des Beobachters im Laufe des Tages
oder plötzlich entwickelt. Diese Zustände sind cs, von denen ich ver-
suchen will, heute nachzuweisen, daß sie an Stelle von cpileptischen
Anfällen auftreten.
Den Anlaß, diese eigenartigen Stimmungsschwankungen näher
ASCHAFFENBURG: Bedeutung der Stimmungsschwankungen bei Epileptikern. 65
zu untersuchen, gaben die Aussagen, die seitens der sogenannten
Dipsomanen (Quartalsäufer) über die Empfindungen gemacht werden,
durch die sie zum Trinken veranlaßt werden, und weiter die Erfahrungen
an solchen Kranken während ihrer dipsomanischen Anfälle und außerhalb
derselben. Bei sorgfältiger Beobachtung zeigte sich, daß die Kranken
in gewissen Intervallen ohne jeden äußeren Grund plötzlich ver-
stimmt, traurig, ängstlich wurden, unter gleichzeitigem Auftreten
körperlicher Begleiterscheinungen, die auf eine Beteiligung des ganzen
Nervensystems hinweisen. Da nun manche Dipsomanen außerdem
an unzweifelhaften epileptischen Anfällen litten, ferner die Umwand-
lung der äußerlich wenig ausgeprägten Verstimmung in schwere
Dämmerzustände unter dem Einflusse des Alkohols auf die enge Be-
ziehung zur Epilepsie hinwiesen, schien die Auffassung vollauf be-
berechtigt, daß die Dipsomanie eine epileptische Psychose sei. Nach
Gaupps!) trefflicher Monographie über die Dipsomanie kann wohl
diese Frage als gelöst betrachtet werden.
Ich habe nun im Anschluß an die Beschäftigung mit der Dipso-
manie 1895 und neuerdings in diesem Jahre eine Anzahl Epileptiker
genauer auf das Bestehen ähnlicher Zustände hin untersucht. In
der ersten Gruppe hatte ich mich nicht streng an die enge Fassung
der Epilepsie gehalten, wie sie manche Autoren aus Furcht vor
einer allzugroßen Ausdehnung der Krankheit, vor einer Verwässerung
des Begriffes der Epilepsie vertreten. Wohl aber in meiner zweiten
Gruppe. Um jede Selbsttäuschung, aber auch jeden Einwand zu bce-
seitigen, habe ich nur solche Epileptiker bei meiner zweiten Unter-
suchungsreihe verwertet, die charakteristische epileptische Anfälle ge-
zeigt hatten, ohne natürlich eine sonstige Auswahl zu treffen. Aller-
dings hatten nicht alle Krampfanfälle. Der Standpunkt, daß nur der
große Krampfanfall die Epilepsie beweise, ist ja wohl längst über-
wunden. SIEMERLING2) sagt darüber, daß die Schwindelanfälle häufiger
und wichtiger seien als die Krampfanfälle.
Es ist hier nicht der Ort auf die Einzelheiten meiner Unter-
suchungen näher einzugehen. Nur 3 Punkte bedürfen der Be-
sprechung: Erstens, wie oft finden sich solche Stimmungsanomalien
bei Epileptikern, zweitens in welcher Form zeigen sie sich, und end-
lich, wodurch läßt sich beweisen, daß cs sich nicht um harmlose
Verstimmungen handelt, denen auch der gesunde und erst recht der
1) Gaurr, Die Dipsomanie. Jena, Gustav Fischer, 1903.
2) SIEMERLING, Über die transitorischen Bewußtseinsstörungen der Epilepsie in
forensischer Beziehung. Berliner klin. Wochenschrift, 1895. S. 938.
Dio Kinderfehler. IX. Jahrgang. ọ
66 A. Abhandlungen.
psychopathische Mensch unterworfen ist, sondern um epileptische
Äquivalente?
Bei meiner ersten Reihe hatte ich in 64°/, aller Fälle, und, bei
ausschließlicher Berücksichtigung der längere Zeit und sorgfältig be-
obachteten, in 780% Stimmungsanomalien gefunden; bei der zweiten
Reihe in 77. Dieses Zusammentreffen ist wohl ein Zufall; aber so-
viel steht wohl fest, daß etwa 3/, aller Epileptiker diese Erscheinung
zeigen. Um nicht mißverstanden zu werden, möchte ich besonders
hervorheben, daß ich den Begriff der Stimmungsanomalie nicht allzu
eng begrenzen möchte. Sehr häufig verdichten sich die unange-
nehmen Empfindungen zu bestimmten Vorstellungen, selbst zu Ver-
folgungsideen, ohne daß sich zwischen diesen etwas komplizierteren
Fällen und der einfacher Verstimmung eine scharfe Grenze ziehen
läßt. Aus dieser Ausdehnung des Begriffes erklärt sich z. T., warum
andere Beobachter!) zu weniger hohen Prozentzahlen gekommen sind.
Die Art, in der sich der Verstimmungsanfall zeigt, ist sehr ver-
schieden und wechselt oft bei demselben Kranken. Die einfachste
Form ist eine leichte Verstimmung mit Selbstvorwürfen, Sorgen
um die Existenz, um die körperliche Gesundheit, hypochondrisches
Selbstbeobachten, unbestimmte Angst, Druckgefühl auf der Brust,
im Kopf, Erschwerung des Denkens; eine besonders wichtige Vor-
stellung ist die des »Heimwehs<. Der Ausdruck wird überraschend
oft von solchen Kranken gebraucht. Man kann leicht erkennen,
daß es sich nicht um eine physiologische, begründete Sehnsucht
nach der Familie und den Angehörigen handelt; sind die Kranken
nämlich in ihrer gewohnten Umgebung, so zeigt sich das gleiche
Gefühl in Form eines Dranges zum Fortlaufen, zur Ortsveränderung.
In den Anstalten kommt es zu lebhaften Protesten gegen die Zurück-
haltung, zu Fluchtversuchen, in der Freiheit zu zwecklosem Um-
herlaufen, zu weiten Reisen ohne Ziel, zu langen Märschen bis zur
völligen Erschöpfung. ?)
Die Kenntnis dieser Zustände gibt uns den Schlüssel zu manchen
unverständlichen Entweichungen, zu mancher Fahnenflucht. Da er-
t) Rarcke, Die transitorischen Bewußtseinsstörungen der Epileptiker. Halle a/S.,
Carl Marhold, 1903. S. 95.
?) Heiupronser (Über Fugues und Fugue-ähnliche Zustände. Jahrbücher für
Psychiatrie 1903) hat völlig recht, wenn er behauptet, solches Flüchten käme auch
bei andern Kranken vor und auch bei Epileptikern außerhalb der Anfälle. Ich muß
aber auf Grund meiner Erfahrungen behaupten, daß die Fugueszustände bei weitem
am häufigsten bei Epileptikern zu beobachten und in jedem Falle als epilepsie-
verdächtig anzusehen sind.
cz
ÄSCHAFFENBURG: Bedeutung der Stimmungsschwankungen bei Epileptikern. 67
fahrungsgemäß Epileptiker oft nach einer psychischen Erregung,
einem Ärger, Kummer oder einer Strafe ihre Anfälle bekommen, so
darf auch der Nachweis eines scheinbar ausreichenden Grundes noch
nicht als Gegenbeweis gegen die pathologische Entstehung des Fort-
laufens angesehen werden.
Die innere Unzufriedenheit mit sich und allem zeigt sich aber
nicht nur in Form der Verstimmung, sondern auch als erhöhte Reiz-
barkeit. Dann machen die Kranken ihrer inneren Spannung durch
lautes Klagen und Schimpfen Luft, sie haben an allem etwas auszu-
setzen, fühlen sich benachteiligt, zurückgesetzt, beschweren sich über
schlechtes Essen, Unfreundlichkeit der Umgebung. Das sind noch
verhältnismäßig harmlose Formen der Erkrankung; es kommt aber
auch zu gefährlichen Ausschreitungen, zu brutalen Angriffen und sinn-
loser Wut. In solchen Zuständen genügt oft ein leiser Widerspruch,
eine geringfügige Zurechtweisung, um die größten Explosionen her-
beizuführen.
Ein charakteristisches Merkmal der nervösen Veranlagung ganz
allgemein ist das Mißverhältnis zwischen Reiz und Reaktion, die über-
große Empfindlichkeit. Aber bei den Erregungszuständen der Epilep-
tiker ist die Beantwortung eines Reizes eine derartig exzessive, daß
auch dem Laien die pathologische Natur klar wird. Die Aufregung
steigert sich schnell und unaufhaltsam; kein Zureden und Beruhigen
vermag der Erregung Einhalt zu tun und sic zu dämpfen. Ein
nicht geringer Teil furchtbarer und motivloser Verbrechen entspringt
solchen Zuständen.
Ich habe mit Absicht das Bild eines besonders schweren An-
falles gegeben, um die Wichtigkeit der Diagnose ins rechte Licht zu
stellen. Zwischen den leichten Verstimmungen und den heftigen
Wutausbrüchen findet man natürlich alle Formen und, glücklicher-
weise, die harmloseren häufiger. Schr wertvoll ist das rechtzeitige
Einschreiten, wenn es möglich ist, den Kranken sofort zweckmäßig
zu behandeln. Das souveräne Mittel ist in solchen Fällen das Bett.
Die Ruhe des Körpers gesellt sich zur Ruhe des Geistes, Reibereien
und die daraus entstehende stärkere Erregung werden vermieden ;
der Anfall verläuft im Stillen. Seine Dauer wechselt von Stunden
bis zu Tagen, in seltenen Fällen auch Wochen.
Besonders bedenklich ist während der Anfälle der Alkoholgenuß.
Er wirkt wie der zündende Funke im Dynamit. Die Notwendigkeit
der Alkoholabstinenz gilt für alle Epileptiker, da die Anfälle sich
unter seiner Einwirkung häufen. Aber bei weitem am gefährlichsten
ist der Genuß geistiger Getränke während der Erregung. Das ist
Kr
68 A. Abhandlungen.
ee
doppelt wichtig, weil der Erwachsene nur zu sehr geneigt ist, die
innere Angst und Unruhe durch geistige Getränke zu beseitigen.
Schwere Dämmerzustände in all ihren Formen sind die traurige
Folge.
Was berechtigt nun, die skizzierten Stimmungsschwankungen als
epileptische Anfälle aufzufassen? Ich schicke nochmals die Warnung
vor dem Mißverständnisse voraus, als ob jede Verstimmung, jeder
Ärger als pathologisch anzusehen sei; selbst dann darf man nicht
soweit gehen, wenn der Affekt sehr lebhaft, die Ursache gering
ist. Nicht einmal dann, wenn sonst die Epilepsie zweifellos ist, darf
jede Stimmungsschwankung als epileptisches Symptom aufgefaßt
werden. Selbstverständlich entgeht kein Epileptiker dem Ärger, der
Trauer, dem Zorn. Als beweisend für die pathologische Entstehung
der Zustände ist deshalb vor allem anzusehen, wenn sie völlig unbe-
gründet, wie aus heiterem Himmel erscheinen. Ich will mich nicht in
Einzelheiten verlieren und Beispiele anführen. Nicht nur die Kranken,
sondern auch ihre Familien und die Lehrer kennen die Erscheinung;
ich habe nicht selten dic charakteristische Äußerung gehört: Heute
hat der Kranke seinen Tag. Viele Eltern berichten, daß ihnen die
plötzliche motivlose Charakterveränderung für kurze Stunden besonders
auffällig sei, der merkwürdige Gegensatz gegenüber dem sonstigen
Wesen.
Ein weiterer Grund, der uns berechtigt, diese Verstimmungen
von der einfachen Launenhaftigkeit zu trennen, liegt in der Periodi-
zität. Allerdings darf man diesen Begriff nicht wörtlich nehmen.
Ebensowenig wie der cpileptische Krampf in völlig gleichen Inter-
vallen wiederkehrt, ebensowenig ist das bei der epileptischen Ver-
stimmung zu erwarten. Pflegt doch auch unser Leben nicht so
gleichmäßig zu verlaufen, daß nicht zu gewissen Zeiten äußere
Schädigungen, Krankheiten, Unwohlsein oder innere, wie Kummer
und Sorgen, sich häufen. Nur in Anstalten, wo das Leben einiger-
maßen geregelt und von äußeren Störungen ziemlich unbeeinflußt bleibt,
tritt die regelmäßige Wiederkehr der Anfälle deutlicher zu Tage.
Gleichwohl läßt auch das Leben in der Freiheit erkennen, daß sich
immer wieder von Zeit zu Zeit die Anfälle einstellen, und daß dieses
Einstellen bei großen Zeiträumen auch die Regelmäßigkeit nicht ver-
missen läßt.
Ich habe vorhin schon darauf hingewiesen, welche Umwandlung
der Alkohol auf die Erscheinungsform des Anfalles ausübt. Er ver-
wandelt die leichte Verstimmung in einen schweren Dämmerzustand,
der alle Merkmale der Epilepsie aufweist: schwere Bewußtseinstrübung,
ASCHAFFENBURG: Bedeutung der Stimmungsschwankungen bei Epileptikern. 69
phantastische Erlebnisse, Sinnestäuschungen, Erinnerungsstörungen.
Gelegentlich beweisen auch Krämpfe als Schlußakt des Anfalles seine
Zugehörigkeit zur Epilepsie. Auch die Häufung der Anfälle bei
dauerndem stärkeren Alkoholgenuß, ihr Seltenerwerden bei Abstinenz
darf dabei nicht überschen werden.
Der 4. Grund, der für die Identität der Verstimmungen mit epi-
leptischen Anfällen spricht, ist der Zusammenhang mit Krämpfen.
Die Zustände ähneln so sehr dem, was man unmittelbar vor oder
nach Krämpfen beobachtet hat, daß der Einwand erhoben werden
konnte, es handle sich tatsächlich wohl um postepileptische Er-
regungen. Nur seien die Anfälle der Beobachtung entgangen. Das
gilt gewiß für einen Teil der Fälle, aber ebenso gewiß nicht für alle.
Wenn man Gelegenheit hat, die Entstehung und Entwicklung
eines solchen Zustandes von Anfang an zu beobachten, was für den
Arzt in Anstalten natürlich leichter möglich ist, als außerhalb, so
kann man oft mit Sicherheit einen Krampfanfall ausschließen. Gut
beobachtende Angehörige haben mir übrigens dasselbe oft mit aller
Bestimmtheit bestätigt.
Ich lege darauf großen Wert, daß die äußerliche Form der epilep-
tischen Verstimmung nach Krämpfen der ohne solche photographisch
ähnlich ist, weil diese Übereinstimmung uns der Notwendigkeit ent-
hebt, allzuängstlich nach den Zeichen des überstandenen Krampfes
zu forschen. Nur dann würde ich diese Symptome (Zungenbisse,
Verunreinigungen, Blutungen usw.) für besonders wichtig halten, wenn
außer den Stimmungsschwankungen kein epileptisches Symptom be-
kannt ist. Deshalb weise ich ausdrücklich darauf hin, daß die
Krämpfe nicht immer den ganzen Körper befallen, sondern auch iso-
liert, auf einzelne Muskelgruppen beschränkt vorkommen.
Der letzte Beweis endlich liegt in den Begleiterscheinungen.
Eins der häufigsten Symptome ist der Kopfschmerz, meist in der
Stirn lokalisiert, selten einseitig, migräncartig. Zuweilen leitet den
Anfall Flimmern vor den Augen, das Schen von Funken, feurigen
Kugeln, roten Flächen, Feuer ein, ganz wie in der Aura des Epilep-
tikers. Der Puls ist beschleunigt, das Gesicht stark gerötet oder auf-
fallend blaß. Zittern der Hände, körperliches Unbehagen bis zu bce-
stimmten, stets wiederkehrenden Klagen, für die aber objektiv kein
Anhaltspunkt zu finden ist, starke Schweißausbrüche, Durchfälle ge-
hören zu den nicht seltenen Erscheinungen. Einige Male konnte ich
feststellen, daß die Pupillen außerordentlich weit waren und auf Licht-
einfall ungenügend oder langsam reagierten.
Alle diese Symptome deuten auf die schwere und allgemeine
70 A. Abhandlungen.
Beteiligung des Zentralnervensystems hin. Sie sind nicht immer vor-
handen, nicht bei jedem Kranken und nicht in jedem Anfalle gleich
deutlich, aber es gelingt fast stets, eine oder die andere Erscheinung
nachzuweisen. Auch die Bewußtseinstrübung fehlt nicht gänzlich.
Stärkere Beeinträchtigungen des klaren Denkens sind allerdings nicht
häufig, aber eine leichte Benommenheit besteht fast immer. Man
darf nur nicht erwarten, sie bei der einfachen Unterhaltung feststellen
zu können. Dazu gehören feinere, exakte, experimentelle Methoden
der Untersuchung. Aber die subjektive Empfindung intelligenter
Kranken ersetzt und ergänzt die bisher gemachten Experimente. Die
Patienten klagen über Erschwerung des Denkens, über Benommen-
heit, über das Gefühl, als ob sie ein Brett vor dem Kopfe hätten,
die Gedanken nicht klar fassen könnten, zerstreut seien. Je schwerer
der Anfall ist, um so deutlicher werden die objektiven Zeichen
und dann entgeht auch meist dem geübten Beobachter die Denk-
störung nicht.
Damit ist der Kreis der Beweisführung meines Erachtens ge-
schlossen. Die Periodizität der Stimmungsschwankungen, ihre Ent-
stehung ohne erkennbaren äußeren Anlaß, die Beziehung zum Alkohol-
genuß, die Gleichheit mit den prä- und postepileptischen Zuständen
und endlich die Begleiterschemungen zwingen zu dem Schlusse, diese
Stimmungsanomalien als epileptische Äquivalente anzusehen.
Aber man darf nun nicht glauben, daß ihr Auftreten den Schluß
auf Epilepsie ohne weiteres gestatte. Es bedarf dazu einer sehr sorg-
fältigen Nachforschung, ob nicht auch noch andere Zeichen der
Epilepsie nachzuweisen sind. Es bedarf vor allem der Feststellung,
daß es sich nicht um anderweitige geistige Störungen, nicht um
Hysterie handelt.
Ich komme damit zum Ausgange meines Vortrages zurück. Der
Mangel an Stetigkeit der Stimmung ist nichts weiter und soll nichts
weiter sein als ein Warnungssignal für die Eltern und Erzieher. Sie
sollen nicht gleichgültig darüber weggehen oder glauben, mit den
Mitteln der Erziehung dagegen ankämpfen zu können. Die Ent-
scheidung, ob Erziehung oder Behandlung und welche Art der Be-
handlung erforderlich ist, kann nur der Arzt treffen. Mir will
scheinen, als ob es für das Kind besser ist, wenn der Arzt einmal
zu viel, als einmal zu wenig zu Rate gezogen wird. Aber der Arzt
kann gerade auf dem Gebiete der Epilepsie auch die Beihilfe des
Lehrers nicht entbehren. Der Arzt sicht gerade das epileptische Kind
meist außerhalb des Anfalles; er'ist deshalb auf die Beobachtung des
Lehrers angewiesen. lch stelle mit besonderer Freude fest, daß diese
Bericht über die V. Jahresversammlung des Vereins für Kinderforschune. 7]
Beobachtungen oft außerordentlich genau und gut waren, ein Beweis
für die Aufmerksamkeit, die den Kindern zu teil wird, und für die
Vertiefung in die Charaktereigenschaften jedes einzelnen Pflege-
befohlenen.
So bitte ich also meine Ausführungen aufzufassen als den
Wunsch, die Lehrer und die Angehörigen der Kinder in der Pflege
und Erziehung zu unterstützen. Der Lehrer, der von diesen Stim-
mungsschwankungen weiß, wird auffälliger Reizbarkeit oder periodisch
wiederkehrender Verstimmung gegenüber argwöhnisch werden. Er
wird die Kinder besonders sorgfältig ins Auge fassen, und seine
Beobachtungen werden dann dem Arzte die unentbehrliche Grund-
lage für seine Untersuchung werden. Das Ergebnis aber (dieses ein-
mütigen Zusammenarbeitens von Arzt und Erzieher kommt dem zu
gute, dem unsere Bestrebungen gelten, dem kranken Kinde.
nn. AOL A AEREAS
B. Mitteilungen.
1. Bericht über die V. Jahresversammlung des Vereins
für Kinderforschung am 11. und 12. Oktober 1903 in
Halle a/S.
Erstattet von den Schriftführern Nervenarzt Dr. med. Strohmayer-Jena und
Anstaltslehrer Stukenberg-Sophienhöhe (Jena).
Der Besuch der diesjährigen Versammlung war zahlreich, ein Um-
stand, wofür zum nicht geringen Teile dem rührigen Ortsausschusse unter
dem Vorsitze des Rektors Dr. B. Maennel der Dank gebührt.
Der Vorsitzende des Vereins, Anstaltsdircektor J. Trüper-
Sophienhöhe b. Jena eröffnete die Versammlung am 11. Oktober abends
6 Uhr mit einem kurzen Rückblick auf die bisherige Arbeit des Vereins.
Er wies auf die vielen Tausende derjenigen Kinder hin, die in ihrer
Eigenart nicht verstanden werden und darum mißraten, und forderte zu
einem einmütigen Zusammenarbeiten aller auf, denen das Wohl unserer
Jugend am Herzen liege, wünschend, daß unsere diesjährigen Beratungen
der Wissenschaft vom Kinde zur Förderung und der Jugend zum Segen
gereichen mögen.
Sodann begrüßte Stadtschulrat Brendel-Halle die Versammlung
namens der Stadtverwaltung. Er wünschte dem Verein volles Blühen
und Gedeihen.
Hilfsschulleiter Kielhorn-Braunschweig überbrachte den Gruß
des Verbandes der Lehrer an Hilfsschulen. Er wünschte, daß sich beide
Vereine gegenseitig ergänzen möchten.
72 B. Mitteilungen.
Prof. Dr. med. Oppenheim-Berlin hielt einen Vortrag über »Die
ersten Zeichen der Nervosität des Kindesalters«.
Da die Vorträge unter den Abhandlungen dieser Zeitschrift im Wort-
laut zum Abdruck kommen, so begnügen wir uns an dieser Stelle mit
dem bloßen Hinweise. Die Debatte wurde lebhaft geführt.
Kinderarzt Wolf Becher-Berlin berichtet über Beobachtungen
an nervösen Kindern in der Kinder-Erholungsstätte vom roten Kreuz in
Schönholz bei Berlin. Unter den Pfleglingen waren Hysterische, Choreatische,
Imbezille, Kinder mit Pavor nocturnus, Halluzinationen usw. Er schildert
die Eigenart der Kinder-Erholungsstätten und legt dar, daß diese Anstalten
sowohl für die kinderpsychologischen Forschungen, als auch Behandlung
und Heilung der im Elternhause und in der Schule als nervenkrank auf-
fallenden Kinder sich ganz besonders eignen.
Prof. Ziehen-Halle bemerkt, daß bei dem Kinde das Vorhanden-
sein von Krankheitseinsicht nicht wie bei dem Erwachsenen stets die
Zwangsvorstellungen gegenüber inhaltsverwandten Wahnvorstellungen cha-
rakterisiere. Entscheidend für die Feststellung von Zwangsvorstellungen
ist vielmehr das Bewußtsein des Kindes, daß es sich um eine ihm fremd-
artige, sonst nicht zu ihm gehörige Vorstellung handelt, die das Kind
selbst gern los sein will. Die Wahnvorstellung dagegen fühlt das Kind
als zu seinem Ich gehörig.
Sanitätsrat Dr. med. Berkhan-Braurnschweig: Besondere Er-
wähnung verdient hier noch der plötzliche Wandertrieb bei Kindern.
Im Alter von 6—8 Jahren verlassen sie plötzlich die Schule oder
das Haus, übernachten im Freien und kommen nach 2 oder 3 Tagen
halbverhungert nach Hause. Später, im 14.— 16. Lebensjahre, in einer
Dienststellung, verhalten sich solche mit Wandertrieb Behaftete noch eine
Zeitlang zur Zufriedenheit ihrer Vorgesetzten, entfernen sich jedoch plötz-
lich und wandern ohne Geld Wochen, aber auch Monate lang, bis sie
reuevoll wieder zu Hause anlangen, um später von neuem zu wandern.
Ob Epilepsie zu Grunde liegt, oder Zwangsvorstellungen oder Zwangs-
handlungen oder Angstaffekte, läßt sich in den einzelnen Fällen schwer
entscheiden.
Es ist aber eine der Aufgaben des Vereins, in diesen nicht seltenen
Fällen die spätere Laufbahn solcher von Wandertrieb befallenen Menschen
zu verfolgen.
Anstaltsdirektor Trüper-Sophienhöhe bei Jena führt ein Bei-
spiel für den Wandertrieb an. Ein Knabe bekam nach halbjährigem
Aufenthalt ohne Heimweh Besuch von seinen Eltern. Am 1. Tage ging
er mit ihnen in die Stadt und kam abends sehr erfreut zurück. Auch
die Eltern lobten sein Verhalten. Am 2. war er plötzlich morgens ver-
schwunden. Er war nach dem Aufstehen vor dem Frühstück bei strengster
Winterkälte ohne Mantel und Handschuhe fortgegangen und hatte bei
einem Bauern einen Wagen für sich bestellen wollen, um nach Weimar
zu fahren. Dort wollte er höchstwahrscheinlich mit seinen heimfahrenden
Eltern zusammentreffen. Ganz klar war ihm jedoch das Ziel nicht. Er
bekam den Wagen nicht und fiel dann auf der Straße einem Schutzmann
Bericht über die V. Jahresversammlung des Vereins für Kinderforschung, 73
auf, dem er die wunderbarsten Angaben machte. Eine Nummer in seinem
Hute veranlaßte den letzteren, bei uns telephonisch anzufragen. Als
Grund des Wandertriebes darf hier wohl gelten eine außergewöhnliche
Erregung, hervorgerufen durch die Freude über den Eilternbesuch, die
einen blindea Drang zum Wandern auslöste.
Prof. Dr. med. Aschaffenburg-Halle bemerkt, daß nach seinen
Erfahrungen in weitaus den meisten Fällen diese eigenartigen Flucht-
zustände auf epileptischer Basis beruhen, jedoch nicht alle; sie kommen
auch als Symptom bei andern Erkrankungen, vielleicht auch bei Ge-
sunden vor. Wenn man aber bei älteren Leuten eine genaue Anamnese
erheben kann, so findet man in dem Vorleben epileptische Merkmale.
Die Beweise für diese Auffassung würden weit über den Rahmen einer
Diskussionsbemerkung hinausgehen; er sei aber zu der erwähnten Uber-
zeugung nach sorgfältigster Verfolgung zahlreicher Einzelbeobachtungen
gekommen.
Dr. med. Strohmayer-Jena möchte den Trüperschen Fall als
hysterischen Dämmerzustand auffassen. Er erinnert daran, daß der soge-
nannte » Wandertrieb« in 30°/, der Fälle hysterischer Dämmerzustand ist.
(Heilbronner.) Gemütsbewegungen sind häufig die auslösende Ursache.
Hauptlehrer Kielhorn-Braunschweig: Unter den schwachbe-
fähigten Kindern, die wir in der Hilfsschule haben, sind sehr viele nervös.
Ich muß auch gestehen, daß ich oft im Unklaren gewesen wäre, wenn
ich nicht den psychiatrischen Beirat des Sanitäts-Rats Dr. Berkhan ge-
habt hätte. Ich möchte darum hier die Notwendigkeit erklären, daß jeder
Hilfsschule ein psychiatrisch gebildeter Arzt zur Seite stehen muß.
Den Wandertrieb betreffend, teile ich mit, daß ich unter den schwach-
befähigten Kindern einen größeren Prozentsatz gefunden habe, die die
Neigung besaßen, sich zwecklos umherzutreiben. Es wird also unter
denen, die vom Wandertricb befallen sind, mancher sein, der geistig
minderwertig ist.
Anstaltsdirektor Trüper-Jena hebt hervor, daß bei den ihm
vorgekommenen Fällen von Wandertrieb weder vorher noch nachher epi-
leptische Anfälle beobachtet worden seien.
Prof. Dr. med. Oppenheim-Berlin spricht im Schlußwort seinen
Dank für die seinem Vortrage erwiesene Aufmerksamkeit aus.
Der Vorsitzende Herr Trüper, macht der Versammlung bekannt,
daß der auf der Tagesordnung angesetzte Vortrag über »Das Kind und
die Kunst«s wegen Erkrankung des Herrn Referenten ausfallen muß.
Statt dessen wird der geschäftliche Teil eriedigt. Die als richtig befundene
Kassenführung ergibt eine Einnahme von 356,08 M. Demgegenüber steht
eine Ausgabe von 323,61 M, so daß also ein Überschuß von 32,47 M
zu verzeichnen ist. Der Kassenwart, Anstaltslehrer Stukenberg-
Sophienhöhe bei Jena bemerkt, daß sich der Verlag der »Zeitschrift für
Kinderforschungs (Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann], Langensalza)
bereit erklärt habe, das 1. Heft des Jahrganges jedem Mitgliede des
Vereins frei ins Haus zu liefern, auch wenn der Beitrag noch nicht ge-
74 B. Mitteilungen.
zahlt sein sollte. Erfolgt dann die Zahlung des Vereinsbeitrages nicht,
so hört die Lieferung auf.
Darauf entsteht eine kurze Debatte über die Satzungen des Vereins.
Es wird beschlossen, Punkt IV fallen zu lassen, und dafür Punkt III
folgendermaßen festzusetzen: »Der Vorstand besteht aus 8 Personen. Er
wählt seinen Vorsitzenden, verteilt die Geschäfte unter sich und ernennt
Schriftführer und Kassenwart.«
Punkt IV lautet nun: »Alljährlich findet eine Hauptversammlung
statt. Zeit und Tagesordnung werden zuvor in dem Vereinsorgan, der
» Zeitschrift für Kinderforschung«, bekannt gegeben. Vorort des Vereins
bleibt Jena. Anmeldungen von Vorträgen, Anträge auf Beschluß-
fassungen usw., welche der Tagesordnung eingefügt und vorher bekannt
gemacht werden sollen, müssen 4 Wochen vor der Hauptversammlung
beim Vorstande eingereicht werden.«
Uber den Mitgliedsbeitrag wird beschlossen, daß er für die außer-
ordentlichen Mitglieder 1 M pro Jahr betragen soll.!)
Nach der Neuwahl des Vorstandes setzt sich derselbe nunmehr aus
folgenden Herren zusammen: Gymn.-Dir. Dr. Altenburg-Glogau, Geh.
Medizinalrat Prof. Dr. Binswanger-Jena, Professor Dr. Ebbinghaus-
Breslau, Professor Dr. Oppenheim-Berlin, Reg.- und Med.-Rat Professor
Dr. Leubuscher-Meiningen, Professor Dr. Rein-Jena, Anstaltsdirektor
Trüper-Jena-Sophienhöhe, Professor Dr. Th. Ziehen-Halle Schrift-
führer und Kassenwart sind Dr. med. Strohmayer-Jena und Anstalts-
lehrer Stukenberg-Jena-Sophienhöhe.
Als Ort der nächsten Hauptversammlung des Vereins wurde Leipzig
gewählt.
Am 12. Oktober, morgens 9 Uhr, begann die 2. Versammlung. Leider
mußte auch heute der Vorsitzende den Ausfall eines Vortrages mitteilen,
da der Referent, Kinderarzt Dr. med. Schmid-Monnard-Halle, plötzlich
schwer erkrankt war.
An crster Stelle sprach deshalb Prof. Dr. med. Aschaffenburg-
Halle Ȇber die Bedeutung der Stimmungsschwankungen bei
Epileptikern«.
In der Debatte zum Vortrage bemerkt Dr. med. Strohmayer-Jena,
daß für die Diagnose »Epilepsie« strikte beweisend nur der epileptische
Anfall ist. Stimmungsschwankungen allein genügen nicht. Vielleicht
klärt ein progredienter geistiger Verfall im Verlaufe die Erkrankung auf,
oder eine günstige Beeinflussung durch Brom ist im stande, die Wahr-
scheinlichkeits-Diagnose zu stützen. Er stimmt im übrigen Aschaffenburg
bei, daß selbst bei ganz unsicherer Diagnose das Bestehen der schwereren
Erkrankung angenommen und demnach therapeutisch gehandelt werden
soll. Es ist besser, daß gelegentlich einmal Epilepsie zu Unrecht ange-
nommen, als daß eine tatsächlich bestehende verkannt wird.
Erziehungsinspektor Pieper-Dalldorf: Vortragender warnte
1) Anmeldungen und Beiträge sind zu richten an Anstaltslehrer W. Stuken-
berg-Jena-Sophienhöhe.
Bericht über die V. Jahresversammlung des Vereins für Kinderforschung. 75
vor pädagogischer Beeinflussung bei Stimmungsschwankungen der in Frage
kommenden Kinder. Sie soll nicht in Strafen bestehen, im Gegenteil, sie
liegt auf ganz andern Gebieten. Der Lehrer hat bei Stimmungsschwan-
kungen derartiger Kinder nach folgenden Grundsätzen zu handeln: 1. Das
Kind darf geistig nicht angestrengt werden. 2. Der Lehrer hat das Kind
freundlich zu behandeln, es friedlich zu stimmen, ihm ein Lob zu
spenden. 3. Er hat das Kind zu schützen gegen nachteilige Einflüsse
der übrigen Kinder. 4. Er hat das Kind den Tag über im Auge zu behalten.
Prof. Dr. med. Aschaffenburg-Halle ist absichtlich nicht auf
Einzelheiten der Diagnose eingegangen. Der Verfall in intellektuelle oder
ethische Schwäche ist ein Symptom, das nicht immer eintritt. Vortr.
hat oft langjähriges Bestehen schwerer, wenn auch nicht häufiger Anfälle
gesehen, ohne Spuren eines beginnenden Defektes. Vor allem aber zeigt
sich der Defekt erst so spät, daß wir gerade im Beginne der Erkrankung
das Symptom nicht feststellen können, und es kommt darauf an, die
Diagnose recht früh zu stellen.
Brom hat sich nicht als diagnostisches Mittel bewährt. Manche
zweifellos epileptische Kranke blieben unbeeinflußt, andere fragliche Fälle
besserten sich schnell. In jedem Falle aber mnß der Versuch mit Brom
gemacht werden, weniger der Diagnose als der Behandlung wegen.
Vortr. hat leider oft die Erfahrung gemacht, daß Lehrer und Eltern
mit Strenge, mit Strafen und Prügeln diesen Stimmungsschwankungen ent-
gegentraten. Das ist kein Vorwurf, weil die Erkennung der Zustände
sehr schwer, die Kenntnis der Erscheinungen wenig verbreitet ist. Gerade
die Lehrer, die stundenlang ihre Zöglinge vor Augen haben, erkennen das
Krankhafte der periodischen Reizbarkeit oft besser als die Eltern und Ärzte.
Daher richtet Vortr. nochmals die Aufforderung zu energischem und ziel-
bewußtem Zusammenarbeiten an Lehrer und Ärzte.
Anstaltsdirektor Trüper-Jena: Was hier über nachteilige Be-
einflussung gesagt worden ist, trifft für viele Fälle durchaus zu. Doch
gilt dies nicht nur für Eltern und Lehrer, sondern auch für Ärzte und
Juristen. Es ist darum auch so außerordentlich wichtig, daß die Auf-
klärung in die weitesten Kreise dringt. Es dürfen Medizin und Päda-
gogik keine Geheimwissenschaften sein.
Ich selbst habe zahlreiche Erfahrurgen betroffs der Stimmungsschwan-
kungen gemacht. Einen Fall will ich hier erwähnen. Es handelte sich
um ein Mädchen von 9 Jahren. Die Eltern konnten mit der Erziehung
nicht fertig werden. Es zeigte zahlreiche Charakterfehler mit großen
Stimmungsschwanknngen, die sich periodisch stärker oder schwächer kund-
gaben. Das Kind war oft sehr lieb und gut und oft unverbesserlich
schlecht. Diese Perioden wurden häufiger und anhaltender; das Kind
wurde Mitzöglingen bedenklich, und infolgedessen entließen wir es.
Ein Jahr darnach hörten wir, daß es schwer epileptisch geworden sei,
trotzdem bei uns garnichts von den eigentlichen Symptomen der Epilepsie,
vor allem nicht die geringsten Spuren von Krampfanfällen zu bemerken
waren. Deshalb kann ich nicht nachdrücklich genug betonen, solche
Stimmungsschwankungen ja zu beachten. Doch darf man auch nicht ins
6 B. Mitteilungen.
Gegenteil verfallen und jeder Launenhaftigkeit nachgeben. Es kommt
eben auf die richtige Erkennung der Zustände an. Deshalb wiederhole ich
noch einmal: es ist nötig, daß überall Schulärzte sind, daß auch die Land-
schulen nach dem Muster des Herzogtums Meiningen wenigstens einen
Kreisschularzt haben, und daß diese auch den Eltern und Lehrern weitere
Aufklärung über die Nervenkrankheiten im Kindesalter vermitteln. Dazu
ist aber erforderlich, daß die Schulärzte sich mehr als das bisher ge-
schehen, mit der Psychiatrie des Kindesalters befassen.
Hierauf hielt Herr Direktor Trüper-Jena-Sophienhöhe seinen
Vortrag »Über psychopathısche Minderwertigkeiten als Ur-
sache von Gesetzesverletzungen«.
Die Debatte drehte sich um folgende vom Redner aufgestellte Leit-
sätze: 1. Es gibt abnorme Erscheinungen und Zusände im Seelenleben der
Jugend, die nicht unter die Rechtsbegriffe »Unzurechnungsfähigkeit« und
»Geistesschwäche« fallen, die aber doch pathologischer Natur sind und bei
manchen zu Gesctzesverletzungen führen, ja unbewußt drängen.
2. Diese Zustände entwickeln sich allmählich aus kleinen Anfängen
und können, rechtzeitig erkannt und zweckentsprechend bei der Er-
ziehung berücksichtigt, in den ersten Fällen gebessert werden. So können
zugleich jugendliche Gesetzesübertretungen verhütet und ihre Gesamtzahl
kann wesentlich vermindert werden.
3. Es ist darum ım Öffentlichen Interesse dringend erwünscht, daß
Lehrer. Schulärzte, Seelsorger und Strafrichter sich mehr als bisher dem
Studium der Entwicklung der Kindesseele und ihrer Eigenarten widmen,
am der Entartung des jugendlichen Charakters rechtzeitig vorbeugen zu
können. Namentlich ist,es erwünscht, daß an den Universitäten in Ver-
bindung mit pädagogischen Seminaren Vorlesungen über Psychologie und
Psychiatrie des Jugendalters gehalten werden, und daß in den Volksschul-
seminaren die künftigen Lehrer Anleitung zum Beobachten des kindlichen
Seelenlebens erhalten.
4. In allen Schulen ist mehr als bisher der Erziehung des Gefühls-
und Willenslebens Rechnung zu tragen und der einseitigen intellektuellen
Überlastung vorzubeugen.
5. Bevor jugendliche Individuen wegen Gesetzesverletzung Öffentlich
vor den Strafrichter gestellt werden, sollten sie zunächst einem »Jugend-
gericht«, bestehend aus dem Lehrer des betreffenden Kindes, dem Leiter
der betreffenden Schule, dem Schularzte, dem Geistlichen und dem Vor-
mundschaftsrichter überwiesen werden. Erst auf Beschluß dieses Jugend-
gerichtes sollten Jugendliche dem öffentlichen Verfahren überwiesen werden.
6. Statt oder neben der Strafe als Sühne oder der bloßen Einsperrung
zum Schutze der Gesellschaft gegen die Übeltäter sollte in besonderen
Anstalten, von besonders vorgebildeten Pädagogen unter medizinisch-psy-
chistrischem Beirate geleitet, eine für Leib und Seele sorgfältig erwogene
Heilerziehung Platz greifen. Die Fürsorgegesetze tragen bisher diesen
Anforderungen nicht genügend Rechnung.
In der Besprechung des Vortrages teilte Geheimrat Prof. Dr. von
Liszt-Charlottenburg im wesentlichen den Standpunkt des Vorredners
Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 77
-e a e e a e a a a e e a ee e e e e
und empfahl, die Thesen bis auf die 5. zur Annahme. Dieser These
gegenüber habe er das Bedenken, daß damit hinter die bisher fast allge-
mein angenommene Forderung, daß Schulkinder unter keinen Umständen
vor den Strafrichter gestellt werden dürfen, zurückgegangen würde. Im
übrigen bitte er die Versammlung, die zur Zeit in diesem Sinne im Gange
befindliche legislative Bewegung zu unterstützen.
Die Thesen wurden darauf auf Antrag von Dr. Strohmayer-Jena
mit Ausnahme der 5. einstimmig angenommen und unter Hinweis auf die
soziale Bedeutung des Kinderstudiums wurde die Versammlung geschlossen.
2. Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich
gefährdeten Jugend. '!)
Ein Reisebericht von J. Chr.H agen, Direktor des Schulheims zu Falstad bei Drontheim.
(Fortsetzung.)
Erziehungsheim Sophienhöhe.?)
Diese private Anstalt liegt außerhalb Jenas auf einer Anhöhe, welche
den Namen Sophienhöhe führt. Die Stelle ist mit besonderer Sorgfalt ge-
wählt. Die Stadt Jena mit ihrer Umgebung gehört der Gesundheitsstatistik
zufolge zu den von Tuberkulose am wenigsten heimgesuchten Gegenden
Deutschlands. Die Anstalt liegt ca. 200 m über dem Meere und ca. 60 m
höher als die Stadt. Die Luft ist so verhältnismäßig rein; die Temperatur
ist weniger wechselnd. Die Gebäude sind von einem ca. 3 ha großen
Park umgeben, hinter dem Park, ca. 10 Minuten von der Anstalt, beginnt
Nadelwaldä, wohin täglich mit den Kindern Spaziergänge gemacht werden.
1) Vergl. Jahrg. 1903 Heft I. IV, und 1904 oft I.
2) Bisher habe ich in den VIII Jahrgängen unserer Zeitschrift es sorgfältig
vermieden, über meine Anstalt irgendwie berichten zu lassen, weil die Zeitschrift
auch von dem Scheinverdacht des Werbezweckes für dieselbe freigchalten werden
muß. Wir haben darum auch Bedenken getragen, den nachstehenden, in norwegischer
Sprache bereits veröffentlichten amtlichen Bericht Hagens hier wiederzugeben.
Weil es sich aber um die Charakterisierung eines Prinzips handelt, dessen An-
wendung Hagen sonst vergeblich auf seiner Reise gesucht hat, und über deren
Richtigkeit und Zweckmäßigkeit man ja streiten kann, so glauben wir schließlich es
sogar als wissenschaftliche Pflicht erachten zu sollen, auch dieser Charakteristik
Raum zu geben.
Unsere Anstalt fällt ja nicht in die Kategorie der von Iagen sonst be-
suchten öffentlichen Anstalten für sittlich Gefährdete. Aber zu ihrer Gründung wurde
ich doch von der Erwägung veranlaßt, daß ein Privatversuch gemacht werden sollte
— öffentliche Anstalten scheuen ja gewöhnlich die Versuche —, das Pathologische
der Kindesnatur auch dort noch heilerzieherisch zu berücksichtigen, wo man es für
gewöhnlich durchaus nicht mehr sucht. Bei den von Hagen mitgeteilten Fällen
ist ja das pathologisch Abnorme gewiß noch sehr auffallend. Es wird sich aber
schon noch Gelegenheit bieten, die Bedeutung der Berücksichtigung auch der kleinsten
Anfänge des Pathologischen für die Behandlung darzutun. Tr.
78 B. Mitteilungen.
Der Ort bietet überhaupt durch seine Lage alle natürlichen Be-
dingungen, um die körperliche Gesundheit zu fördern und Minderwertig-
keiten zu entfernen, soweit sie nervösen Ursprungs und besserungs-
fähig sind.
Planmäßig werden denn auch diese Vorteile, die die Natur bietet,
verwertet durch Gartenbau und andere Beschäftigung im Freien, Turnen
und Spiele, im Sommer Schwimmen, im Winter Schlittschuhlaufen, Hand-
schlittenfahrten im Parke, Wanderungen zu Fuß in der Umgegend usw.
Dieses alles nimmt einen ziemlich großen Platz in dem Erziehungsplan
der Anstalt ein.
Die Tagesordnung nach dem Plane der Anstalt, soweit nicht
vom Arzte verordnete Abweichungen stattfinden, ist folgende:
Die Kinder stehen auf, lüften die Betten usw. im Winter um 7 Uhr
im Sommer um 6 F
Frühstück . . . . im Winter um 71/, Uhr „ $ v 6Ha s
Gemeinschaftliche Andacht ,, ~ 7 3 „ 3» „
Der Unterricht beginnt as u 5 j 3 „ T! „
Die Stunden liegen in den Klassen möglichst parallel und haben eine
Dauer von 8/4 Stunden. Zwischen jeder Lektion wird 15 Minuten pausiert;
doch ist dafür gesorgt, daß Zöglingen, die leicht müde werden, die
Zwischenpausen verlängert werden können.
In den niederen Klassen dauern die Lektionen 30 Minuten und
zwischen den Lektionen werden 30 Minuten zum freien Spielen oder,
wenn es nötig ist, zum vollständigen Ruhen benutzt.
In der Zeit von 9—10 Uhr ist Frühstückspause, dann Spiel oder
ein kurzer Spaziergang.
Theoretischer Unterricht . . . 2.2.2.2. . 10—12 Uhr
Handarbeitsunterricht . 2. 2 2 202020... 12—1 j
Mittagessen. . a 2 2 nn nn Ti o»
Frei . . . 13, —4 »
Während dieser Freizeit. gehen die, welche der Ruhe bedürftig sind,
zur Ruhe; die übrigen sind im Freien beschäftigt, spielen, betreiben Arbeit
im Garten oder in der Werkstatt, werden massiert, treiben Heilgymnastik usw.
Vesperbrot . . . 4—41, Uhr
Von 41/, Uhr bis 53/, Uhr bei den Kleineren und bis 7 Uhr bei
den Größeren wird Unterricht in Gesang und Turnen, Klavierspielen,
Schnitzen u. dergl. erteilt.
Abendessen für die Jüngeren um 5?/, Uhr, für die Größeren um
71/4 Uhr. Nach dem Abendessen freies Spielen oder Beschäftigung unter
Aufsicht wie sonst. Abendandacht wird von den betreffenden aufsicht-
führenden Lehrern oder Erzieherinnen auf den Schlafsälen gehalten nach
der Hausregel: »Dem lieben Gott gilt das letzte Wort«.
Einige ältere Knaben bilden eine Art Lehrlingsabteilung der Anstalt.
Sie haben täglich 4—5 Stunden theoretischen Unterricht, 3 des Morgens
und 2 des Abends. In der übrigen Zeit geht es zu praktischen Arbeiten
mit bestimmten Pausen.
Der Unterricht der Anstalt — mustergültig abgepaßt, zur Ge-
Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 79
nüge inhaltreich und doch abgewogen, beseelt, ruhig und frei von über-
flüssigem Gerede — repräsentierte die geistige Hygiene der Anstalt. Man
sucht ihn erziehend im eigentlichen Sinn zu machen. Er trug immerhin
das Gepräge, daß man streng und zur äußersten Konsequenz nicht nur
einer intellektuellen Entwicklung, sondern auch einer Veredelung von
Gemüt- und Willensleben zustrebte. Aller didaktischer Verbalismus und
Materialismus war darum verpönt. Es wurde das Hauptgewicht darauf
gelegt, das Kind zur selbständigen Betrachtung und zu lebendigem Ver-
ständnis von Natur und Menschenleben anzuleiten und als notwendiger
Abschluß wurde die Anwendung des klar Erkannten gefordert.
In einer Unterrichtsstunde konnte man darum quantitativ gesehen
nicht immer große Fortschritte wahrnehmen — qualitativ genommen aber
konnte man bei den Kindern am Schlusse der Stunde einen merklich
positiven Erfolg feststellen. Ich stellte sogar Proben an und fand im
täglichen Umgange mit diesen Kindern durchgehends eine Gründlichkeit
des Selbsterlebten, eine Befruchtung des Verstandes sowohl, als des Ge-
fühles und Willens, die mich überraschte. Jede Unterrichtsstunde bildete
ein geschlossenes Ganzes. Es war ein begrenzter, aber interessierender
Stoff gewählt, der selten von den Schülern erlesen, als weit mehr von
dem Lehrer entwickelnd dargestellt wurde; Lehrer und Schüler drangen
dialogisch in denselben hinein und bauten auch das Neudargebotene selbst-
tätig auf. Von dem so Durcharbeiteten zogen die Zöglinge selbständig
ihre Schlüsse und durch diese kam der rein unwillkürliche Appell der ge-
ernteten Erfahrungen hervor.
Die Behandlungsweise der Anstalt. Die Wirksamkeit auf
Sophienhöhe ruhte durchgängig auf psychiatrischen Prinzipien, und die
Behandlung der Kinder war darum im vollen Maße individuell. Eine der
vornehmsten Pflichten der Angestellten, insbesondere der Lehrer, war es
denn auch, gründlich die einzelnen Individuen zu studieren. Auf den unter
der Leitung des Direktors gehaltenen wöchentlichen Konferenzen, wo das
Personal seine Beobachtungen vorbrachte und diskutierte, sollten die Lehrer
auch ein Individualitätsbild von jedem der zuletzt aufgenommenen Zög-
linge, nachdem sie etwa einen Monat in der Anstalt sich aufgehalten
haben mochten, schriftlich vorlegen. Nachdem dieses vorgetragen, wurde
es dann diskutiert und die Bcehandlungsweise danach festgesetzt.
Zur Beleuchtung, sowohl wie genau man auf die individuelle Eigen-
tümlichkeiten einging, als wie man später diese bei der Behandlung be-
rücksichtigte, erlaube ich mir cin paar von diesen Individualitätsbildern
der schwierigsten Zöglinge hier mitzuteilen.
l 1. A. L., ca. 9 Jahre, war 4 Wochen in der Anstalt gewesen. In
Rücksicht auf das Körperliche bot er nicht viel Außergewöhnliches.
Sein Kopf war etwas groß, er wuchs langsam, lispelte etwas und
war zum Schwatzen geneigt. Auffallend war dagegen seine Unruhe. Es
war ihm unmöglich, in der Klasse ruhig zu sitzen, er liebte mit den
Beiven zu baumeln, den Nebenmann anzugreifen, sich hin und her zu
wenden, zu plaudern und zu flüstern, kurz er war ein perpetuum mobile.
Warnte ihn der Lehrer, saß er eine Sekunde stille und war dann wieder
EZ
80 B. Mitteilungen.
in Bewegung. Er antwortete, ohne gefragt zu sein, lachte und plapperte
wegen der größten Kleinigkeit.
In psychischer Hinsicht war man über ihn, insofern ich richtig auf-
gefaßt habe, noch nicht ganz klar. Ich besuchte immerfort seine Klasse,
besonders in den Rechenstunden. In einer Normalschule würde von ihm
gewiß gesagt werden: Er ist ein etwas beschränkter, ungezogener Knirps
und er würde als solcher behandelt werden. Ihm mangelte ein ernster
Wille, logischer Sinn ebenfalls; seine Zahlenvorstellungen waren nicht
sehr entwickelt. Von Gehorsam und ÖOrdnungssinn war keine Rede.
Warnungen, scharfe Zurechtweisungen gingen in das eine Ohr hinein und
aus dem andern wieder hinaus.
Man wies nach, wie diese psychischen Mängel mit seiner leiblichen
Unruhe zusammenhingen. Diese nervöse Unruhe war Ursache des Mangels
an logischem Denkvermögen, sowie auch Ursache sowohl der Willens-,
wie der ethischen Defekte. Seine Rezeptivität schien überaus gering zu
sein, sein Reproduktionsvermögen ebenso.
Wie sollte das nun gebessert werden? Mit Vermahnungen richtete
man nichts aus, auch mit Prügel nicht. Man würde weit vom Richtigen
sich entfernen, wenn man seine Unruhe, Unaufmerksamkeit usw. als
mangelhafte Erziehung, als Ungebührlichkeit oder dergl. betrachtete.
Das Mittel in diesem Falle war Ruhe. Es war darum mit dem
medizinischen Ratgeber der Anstalt, Prufessor Dr. Ziehen, vereinbart,
daß der Knabe, sobald diese Unruhe sich zeigte, ins Bett gebracht und da
in vollständiger Ruhe unter ununterbrochener Aufsicht gehalten werde.
Noch in der ersten Woche meines Aufenthaltes in der Anstalt war der
Lehrer recht häufig genötigt, ihn aus der Klasse zu führen, worauf er
ins Bett beordert wurde. Da brachte er den Rest des Tages in un-
gestörter Ruhe zu. Außer dem Knaben durfte dann kein anderer als die
Aufsicht führende Krankenschwester im Zimmer sich aufhalten. Im Bette
mußte der Knabe entweder liegen oder halb angekleidet sitzen. Er be-
kam hin und wieder ein Brettspiel oder dergl. zur Unterhaltung, aber
in Ruhe mußte er damit hantieren. Die Wirkung war sogar in den
Wochen, die ich mich in der Anstalt aufhielt, auffallend. Es war nicht
zu verkennen, daß es verhältnismäßig schnell vorwärts ging.
Das Auftreten der Lehrer so beschwerlichen Schülern gegenüber
zeigte musterhafte Selbstbeherrschung; keine Miene oder Bewegung ver-
riet irgend einen Affekt, was den ganzen Erziehungserfolg gefährdet haben
würde. Daß der Knabe gerettet wurde, schien unzweifelhaft. Durch eine
gowöhnliche Schulbehandlung würde er einfach zu Grunde gerichtet sein.
2. F. H., 9°/, Jahre alt, hatte bei meiner Ankunft sich ca. 8 Tage
in der Anstalt aufgehalten.
In physischer Hinsicht sei bemerkt, daß er ein wenig mikrocephal
war. Der Schädel war etwas zu früh zusammengewachsen. Im übrigen
war er wohlproportioniert. Die Sinne fungierten alle.
Seine Eltern, in England wohnend, waren Verwandte; Vetter und
Cousine. Der Vater ist ein selbständiger Charakter; er ist konfessionslos
geworden und gehört zu der ethischen Kulturgesellschaft. In seiner
u nn nn LT mm a rer ll len ll nn
Familie hält er, statt Andachten in gewöhnlichem Sinne, Stunden, wo er
aus klassischen profanen Werken mit hervortretend ethischem Inhalt rezitiert.
Auch die Mutter war gesund und stark und hatte selbst ihr Kind ge-
stillt. Die Geburt verlief günstig. F. lief und begann auch zu sprechen in
seinem zwölften Monate. Verschiedene Krankheiten hat er durchgemacht.
Er ist sauber und näßt nicht ein. 12 Monate alt fiel er aus einem Wagen
heraus und auf den Kopf. Sein Gang und seine Haltung ist etwas eigen-
tümlich; er hat eine stark ausgeprägte Eigenart in seiner Bewegung.
Wenn er etwas will, bewegt er sich schnell im Kreise. Er unterscheidet
Form und Farbe und kann die Zeit angeben.
Psychisch bot der Knabe viel von Interesse. Der Raum hier gestattet
nur einen Teil der Beobachtungen mitzuteilen.
Ich begleitete ihn in der Gesellschaft des Direktors zum Professor
Ziehen, wo er, wie ein jeder Neuaufgenommene, zur medizinischen
Untersuchung sich vorstellen sollte. In das Zimmer des Professors ein-
getreten, offenbarte er völligen Mangel des Sinnes dafür, daß er nun
einer fremden Person gegenüber stand; geistesabwesend sah er um-
her, gar nicht auf den Professor, sondern auf die Decke und auf die
Wände, ging leise singend umher, stand still vor einem Bücherregal, wo
der Rücken eines Buches mit englischem Titel seine Aufmerksamkeit er-
weckte; da aber in demselben Augenblicke die Wanduhr schlug, fuhr er
zusammen, steckte die Finger in die Ohren und, wie in großer Bedrängnis
jammernd, schrie er: Au, an. Er fuhr so fort, während die Uhr ihre
fünf langsamen Schläge machte, nahm dann ängstlich prüfend die Finger
aus den Ohren. Englisch aufgefordert, wurde er von dem Professor zum
Sitzen gebracht. Unterdes machte sich ein Bedürfnis geltend und er
mußte zum Abort geführt werden. Dieser war ein Wasserklosett und als
er die Wasserspülung gewahrte, brüllte er laut auf, vor Schrecken zitternd,
bleich im Gesicht und mit starkem Herzklopfen. Aber in keinem dieser
Fälle ließ er artikulierte Rede hören. Auf Fragen antwortete er nicht.
Die ganze Zeit, während ich ihn betrachtete — spät und früh —, be-
merkte ich, daß gewisse unartikulierte Laute, wie Glockenschläge, Wagen-
getöse, Sausen oder Wasserklosetts usw. ganz störend auf ihn einwirkten,
während Laute lebender Wesen ihn auf keine Weise affizierten. Er schien
sie im Gegenteil gar nicht zu beachten. In der Unterrichtsstunde ver-
nahm er scheinbar nichts von dem, was vorging, sab unruhig, sang leise,
zeichnete anf der Pultplatte, ging auch wohl in der Klasse umher: es
war, als wäre kein anderer da. Was nur immer in der Stunde vorging,
er lebte wie in einer fremden Welt. Unaufhörlich mußte er korrigiert
werden. Rief man ihn bei Namen, beobachtete er es nicht, sah nicht
einmal nach der Richtung, woher die Anrede kam.
Einer oberflächlichen Betrachtung schien er am meisten einem Idioten
gleich. Und doch Idiot war er gar nicht; ich erinnere mich unter
anderem einer Rechenstunde, wo er auch in seiner gewöhnlichen, wie
geistesabwesenden Weise aß. Der Lehrer operierte mit der Zahlenreihe
1—8; die übiigen Kinder waren eifrig dabei. Als ich ihn doch cinmal
Dio Kinderfehler. IX. Jahrzanz. 6
g2 B. Mitteilungen.
ui
——
leise singend eine Zahl nennen hörte, bat ich den Lehrer ihn zu fragen.
Er wurde hervorgerufen; auf dem Tische lagen 8 Stäbchen. Der Lehrer
mußte ihn bei der Hand festhalten, damit er nicht umherzuwandern be-
gann. Der Knabe sah nicht auf den Tisch oder auf den Lehrer. Er
stand da, leise mit sich selbst sprechend, sah zur Decke auf, auf die
Wände usw. Endlich wurde er gefragt: Wie viele Griffel sind das?
8 — 8 — 8 — sang er. Der Lehrer: Ich nehme drei, wieviel sind
dann übrig? F. murmelnd: 5 — 5 — 5. Er betrachtete aber einige Bilder
an der Wand und gar nicht die Griffe. — Er rechnete schon damals
bis 100 und lernte in wenigen Monaten bloß durch Anwesenheit in der
Klasse, wo die Kinder bereits lasen und schrieben, das ihm schriftsprach-
lich völlig fremde Deutsch korrekt lesen und schreiben. —
Er hatte zum Zeichnen ausgeprägte Anlagen. Eines Tages lieferte er,
als er allein saß, eine Bleistiftskizze.. Man sah gleich, daß es Bismarck
war. Die charakteristischen Züge waren da, das Bild in ungefähr halber
Lebensgröße. So hatte er auch ein Dampfschiff gezeichnet, eine Droschke
mit dem Kutscher auf dem Bocke, ganz selbständig aufgefaßt, ohne Vor-
zeichnung. Seine Fixierung Bismarcks war eine Nachahmung eines Alfenid-
reliefs in dem Zimmer des Direktors, den er nur einige Augenblicke vor
einigen Tagen da gesehen hatte. Diese seine Reproduktionen waren ganz
impressionistisch ausgeführt; rasche, kräftige Hauptlinien, so charakteristisch
gegriffen, daß die Totaiwirkung treffend war.
Noch ein Zug: Der Vater hatte dem Direktor ein in Grün ge-
bundenes Buch, einige klassische Gedichte, die dieser in den früher er-
wähnten ethischen Andachtsstunden verwendete, gesandt. Der Direktor
zcigte dieses dem Knaben und sagte, daß es vom Vater gekommen wäre,
nur um zu ermitteln, ob der Gedanke an die Heimat eine Rolle bei ihm
spiele. Zu unserm großen Erstaunen fing der Knabe an, klar und aus-
drucksvoll auswendig ein hexametrisches Gedicht, das mehrere Blätter des
Buches umfaßte, mit guter Betonung zu deklamieren. Nichts aber verriet,
daß irgend ein besonderes Bild von der Heimat oder ein Gedanke an die-
selbe, an Vater und Mutter geweckt wurde. Aber das Gedicht in dem
ihm bekannten Buche hatte er im Gedächtnis und vom einfachen Vorlesen
aus »The best book«, wie der Knabe es von selber daheim genannt habe,
wortgetreu behalten. Das hatte er sich trotz seiner scheinbaren Geistes-
abwesenheit durch bloßes Hören angeeignet.
Er hiclt sich niemals zu seinen Kameraden, sondern war am liebsten
allein, sprach mit sich selbst, war voller Freude und Zufriedenheit, pflückte
Blumen, liebkoste die Tiere usw.
Es war klar, daß der Knabe »Verstand« hatte, auch Willen und Ge-
fühl, und er besaß auch den Faktor, der unter normalen Umständen sich
zu diesen Eigenschaften wie die Triebfeder zum Uhrwerk verhält: er
hatte Fantasie. Die Fantasie war aber hier stark und einseitig entwickelt,
während andere Eigenschaften noch schlummerten, und die Fantasie die
ganze psychische Energie verschlungen hatte; die einseitige Entwicklung hatte
zur Folge gehabt, daß alle übrigen Vermögen vernachlässigt wurden. Hiermit
hängt im Grunde auch das oben erwähnte eigentümliche Gedächtnis zusammen.
Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 83.
Ich will dies Gedächtnis ein unbewußt mechanisch wirkendes nennen,
bei welchem Auge und Ohr in Wirksamkeit sind — eine durch diese
Organe vermittelte Rezeptivität im Gedächtniszentrum, wobei ein ange-
bornes feines Gefühl für Form und Rhythmus unterstützend wirkt. Er
besaß dagegen nicht das bewußt arbeitende Gedächtnis, das nicht nur die
Eindrücke durch die Sinne empfängt und bewahrt, sondern sie noch
durch einen Willensakt sich einprägt und sie zu systematisierten Bildern
verarbeitet. Wenn man den Knaben betrachtete, kam es einem vor, als
wäre etwas somnambulistisches, etwas tränmerisches und mechanisches in
ihm. Darum stand er auch in keiner bewußten Korrespondenz mit der
Umgebung, sei es mit Lehrern, mit Mitschülern oder mit anderen. Ein
normales Kind würde, wenn die Eindrücke der neuen Umgebungen die
Vorstellungen von den Verhältnissen der Heimat in den Hintergrund ge-
drängt hätten, sich dem einen oder andern in der Anstalt angeschlossen
haben. Das bewußt arbeitende Gedächtnis — die Erinnerung an Vater
und Mutter, an Erlebnisse in der Heimat und dergl. — würde durch
die Entbehrung Sozialvorstellungen hervorrufen, die bei einer normaleren
Fantasie ein Ergebenheitsgefühl wachrufen und es treiben würden
zu einer bewußten, gewollten Anschließung an das Individuum,
das durch sein Hervortreten entweder in äußeren Verhält-
nissen oderin Wesenseigentümlichkeiten diesen Vorstellungen
des Kindes entspricht.
Aus dem Angeführten geht zur Genüge hervor, daß der Knabe weder
in einer Normalschule noch in einer Idiotenanstalt seinen Platz fände.
Die Behandlung wird von dem Resultat, das die neuropathologische Unter-
suchung ergibt, abhängig sein. Zuerst muß in solchen Fällen die
physische Basis des psychopathischen Zustandes medizinisch bestimmt
werden; dann gilt es die psychische Diagnose zu stellen und dann erst
kann die körperliche und geistige Behandlung festgesetzt werden.
Kurz soll hier angegeben werden, wie ich mir — nach dem Zustande
des Knaben zu urteilen — denke, daß die Anstalt dem erwähnten Knaben F.
gegenüber vorgehen sollte.)
Der Bewegungsdrang erschwerte jede Gewalt über ihn, seine eigen-
tümlich krankhafte Überempfindlichkeit des Hörsinnes ebenso. Er muß
Übungen, um die Unruhe seiner Glieder zu beherrschen, unterworfen
werden, zuerst in den rein äußeren Verhältnissen, um den einfachsten
Forderungen des Gehorsams der Ordnung und der Regelmäßigkeit zu will-
fahren. U. a. müssen Gymnastik, ruhige Spaziergänge und dergl. angewandt
werden. Da bei diesem Knaben — wie übrigens bei andern psycho-
pathischen Kindern gewöhnlich — eine antisoziale Natur sich geltend
macht, müssen diese Übungen, die auch in geordneten Spielen bestehen
müssen —, mit andern Kindern zusammen unternommen werden. Es gilt
auch dem stark eguistischen Zuge entgegenzuarbeiter. Nur dadurch, daß
er, selbst wenn er dazu getrieben werden muß, mit Seinesgleichen oder am
1) Zu allererst viel Ruhe, dann sorgfältige Ernährung, ferner vorsichtige Ab-
härtung usw., dann erst psychische Behandlung. Tr.
6*
84 B. Mitteilungen.
—- — -= = Á ma m Tr |
liebsten mit ein wenig Unterlegenen zusammen lebt, wird der Altruismus
des Kindes angespornt, und es werden soziale Eigenschaften erwachen. Er
muß darum auch an dem regulären Unterrichte teilnehmen; wenn er zu viel
Störung in dem Unterrichte verursacht, wird er hinausgeführt, aber unter
pädagogischer Leitung zu freier, geeigneter Beschäftigung angehalten. Ihn
in den Unterricht zu treiben, davon kann unter keinen Umständen die
Rede sein! Das Ziel muß in jedem Falle niedrig gestellt und leicht zu
erreichen sein. Es versteht sich von selbst, daß nur, was das Kind leicht
fassen kann, und wofür es sich interessiert, behandelt werden muß. Der
Stoff muß durch einfache, nicht fantasieerregende Bilder und eine nüchterne
Vorstellung anschaulich gemacht werden. Dadurch wird sein Interesse
erweckt werden und eine Hauptbedingung für Denken, Wollen und Fühlen
gewonnen sein. Instinktiv wird das unbewußt arbeitende Gedächtnis zur
bewußten Funktion gelangen und die psychische Energie überhaupt wird
nicht allein durch allseitigere Eindrücke belebt, sondern auch allmählich
angespornt und aus der Gewalt der einseitig entwickelten Fantasie aus-
gelöst werden. Es muß also gefordert werden, daß die werdende Denk- und
Willenskraft konsequent und methodisch gepflegt wird. Einer geschwächten
Willenskraft nützen Moralpredigten nicht allein; das Mittel muß wieder
in regelmäßiger, wohlgeordneter Beschäftigung gesucht werden und es
müssen leicht erreichbare Ziele gesteckt werden; denn »jede Handlung,
die gelingt, bildet eben eine Quelle fortgesetzten Wollens und Handelns«.
— (Prof. Rein, »Pädagogik im Grundriß«.)
Aus diesen flüchtigen Andeutungen ist zu ersehen, daß die indi-
viduellen Anlagen (z. B. Fantasie, Zeichenanlage usw.) in den
Hintergrund gestellt sind. Sie sollen freilich nicht vernachlässigt oder
außer Betracht gelassen werden, aber sie sollen auch nicht besonders
gepflegt werden; darin würde eine Gefahr für das Kind liegen. Durch
einseitige Pflege einseitiger Anlagen würde nicht erreicht werden, was
zur geistigen Gesundheit, d. h. geistigen Harmonie gehört. Jede Er-
ziehung muß zu einem gewissen Grade die Natur vervollkommnen, die
Mängel und Einseitigkeiten der Natur ausglätten. Sie soll freilich nicht
die individuellen Gaben verleugnen oder schwächen, vielmehr verhindern,
daß sie sich einseitig in einem Grade entwickeln, der das Gleich-
gewicht der geistigen und körperlichen Kräfte bedroht. (Dr. Konr. Lange,
die künstlerische Erziehung der deutschen Jugend.)
Durch die hier angeführten Individualitätsbilder und die daran an-
geknüpften Bemerkungen von der Behandlungsweise auf der Sophienhöhe
ist angedeutet, was bei dem Besuche dieser Anstalt besonderes Inter-
esse hat. (Schluß folgt.)
3. An die Mitglieder des Vereins für Kinderforschung.
Da der neue Jahrgang der Zeitschrift bereits am 1. Oktober dieses
Jahres begann, bitten wir die Mitglieder des Vereins für Kinderforschung,
schon jetzt ihren Beitrag (4,00 M) einsenden zu wollen, um Störungen
in der Lieferung zu vermeiden.
Zulassung von Volksschullehrern zum akademischen Studium. 85
Das Vereinsjahr läuft demnach nicht mehr wie bisher vom 1. Januar
bis zum 31. Dezember, sondern vom 1. Oktober bis zum 30. September.
Jena-Sophienhöhe. Der Kassenwart:
Stukenberg.
4. Zulassung von Volksschullehrern zum akademischen
Studium.
Die hessische Regierung hat eine Verordnung über die Zulassung
von Volksschullehrern zum akademischen Studium erlassen. Danach
können Volksschullehrer, die in der Entlassungsprüfung die erste Zensur
erhalten haben, wenn sie mindestens drei Jahre im öffentlichen Schul-
dienste tätig gewesen sind, auf die Dauer von drei Jahren zum
Besuche der Landesuniversität beurlaubt und dort als Studierende
der Pädagogik immatriknliert werden. Der Abschlufs der Studien erfolgt
durch eine besondere Prüfung, die frühestens nach Ablauf von fünf
Semestern abgelegt werden kann.
Das ist eine sehr zweckmälsige und nützliche Verordnung. Die
Forderung, dafs die Volksschullehrer ihre ganze Ausbildung an der Uni-
versität erhalten, wie von radikaler Seite gefordert wird, halte ich nicht
für heilsam im Hinblick auf die Jugenderziehung. Wenn nur die Seminare
etwas reformfreundlicher sich zeigen wollten. Aber dafs den Tüchtigsten
unter ihnen die Universitätstore geöflnet werden, kann viel Segen stiften.
Leider sind das aber nicht immer die mit I Zensierten. Unter diesen
sind oft auch mechanische Arbeitsmaschinen und Gedächtnismenschen,
während nachdenksame, selbständige Köpfe nicht selten ungünstig zensiert
werden. Darum sollte man die Aulnahmebedingungen etwas weitherziger
fassen. Wir brauchen solche Schulmänner mit höherer und tieferer Bil-
dung bei seminarischer Grundlage als Leiter für Volks- und Mittelschulen,
als Stadt- und Kreisschulinspektoren, als Seminarlehrer und Seminar-
direktoren. Wir brauchen sie vor allem aber auch als Lehrer oder doch
wenigstens als Leiter für Anstalten und Schulen, worin abnorme Kinder
jeder Art gebildet und erzogen werden sollen. Es ist für diese Arbeit
ein solches Mafs von naturwissenschaftlich-hygienischer wie psychologischer
und psychopathologischer Kenntnisse erforderlich, wie das Seminar sie
nicht zu bieten vermag. Tr.
5. Für geistig zurückgebliebene Jünglinge und Jung-
frauen
ist in Berlin, Brunnenstraße 186, eine Fortbildungsschule eingerichtet
worden. Ehemalige Schüler von Nebenklassen und solche junge
Leute, die sich infolge einer eigentümlichen Veranlagung oder schwerer
Erkrankung nur ein geringeres Maß von Schulkenntnissen und Fertig-
keiten aneignen konnten und in den bestehenden Fortbildungsschulen nicht
die entsprechende Weiterbildung erfahren können, sollen in dieser Schule
86 B. Mitteilungen.
soweit ausgebildet werden, daß sie den Anforderungen, die das Leben
an sie stellt, besser als bisher gerecht zu werden vermögen. Es besteht
die Absicht, in jeder Klasse stets nur eine kleine Anzahl von Schülern
(10—12) zu vereinigen, so daß sich die Lehrkräfte jedem einzelnen Schüler
und jeder Schülerin eingehend widmen können. Der Unterricht will zu-
erst das vorhandene Wissen und Können befestigen, sodann die Lücken
ausfüllen und endlich, unter sorgfältigster Beachtung der Eigenart und
des Berufs eines jeden Schülers, im Deutschen, im Rechnen und in der
anschaulichen, praktischen Gesellschaftskunde die möglichste Ausbildung
versuchen. Schwerhörige geistig zurückgebliebene Jünglinge und Mäd-
chen werden in besonderen Klassen nach einer schon erfolgreich ange-
wandten Methode unterrichtet werden. Der Unterricht findet für Jüng-
linge Montags und Donnerstags von 7—9 Uhr, für junge Mädchen Diens-
tags und Freitags von 6—8 Uhr abends statt. Der Besuch der Fort-
bildungsschule ist kostenlos.
6. t Dr. med. Schmid-Monnard.
Der Verein für Kinderforschung hat am 10. November dieses Jahres
einen schweren Verlust erlitten. Ein auf dem Gebiete der Schulhygiene
und Kinderforschung unermüdlich tätiger Arzt, Herr Dr. med. Schmid-
Monnard-Halle a/S., wurde nach kurzer, aber schwerer Erkrankung aus
diesem Leben abgerufen. Die Bürgerschaft Halles hat an dem Genannten
einen eifrigen Stadtverordneten und die Lehrerschaft einen warmen Freund,
sowie insbesondere die Schulkinder einen kundigen Förderer ihrer phy-
sischen und intellektuellen Entwicklung verloren. Zahlreich sind seine
Veröffentlichungen, namentlich in Kotelmanns bekannter »Zeitschrift für
Schulgesundheitspflege«, welche selbständige Forschungen und scharfsinnige
Beobachtungen offenbaren. Seine oft originellen Studien auf dem Gebiete
der Kinderforschung, welche er gerne in den Dienst der öffentlichen Wohl-
fahrtspflege stellte, wollte er in letzter Zeit zusammenfassen in einer
Habilitationsschrift, um sich die vensa legendi an der Friedrichs-Universität
Halle-Wittenberg zu erwerben. Ferner hatte er sich, trotz gerade in letzter
Zeit für ihn sich häufender literarischen Arbeiten, als Mitglied des Halleschen
Örtsausschusses in den Dienst unseres Vereins gestellt. War doch ledig-
lich auf seine lebhafte Werbung hin seinerzeit in Jena beschlossen worden,
eine Tagung des Vereins für Kinderforschung in Halle abzuhalten. Kaum
hatte er für diese einen Vortrag »Über die physischen Ursachen der psychi-
schen Minderwertigkeiten« fertig gestellt: da traf ihn ein hartes Geschick.
Eine Heilanstalt mußte den rastlos Tätigen aufnehmen, in welcher er nun
nach wenigen Wochen verschied.
Wir betrauern den Heimgang des weit über Halle hinaus bekannten
und geschätzten Kinderarztes und werden ihm ein dankbares und getreues
Andenken bewahren.
C. Literatur. ST
C. Literatur.
Ein nachahmenswertes Buch.
La protection de l’enfance en Belgique. Legislation. Enfants mal-
heureux. Mineurs délinquants par Arthur Levoz, Substitut du procureur
du Roi à Verviers, Docteur en sciences politiques et administratives, President
de la Société pour la protection de l’enfance ct le patronage des condamnés, des
vagabonds et des aliénés à Verviers, Membre de la commission royale des patro-
nages de Belgique. Bruxelles, J. Goemaere, Imprimeur du Roi, rue de la Li-
mite 21. 1902. 8%. 497 S. (Schluß.)
Hierauf folgt die ebenfalls wichtige Abteilung über die Frage, wo das
»domicile de secours« (die zur Unterstützung berechtigende Heimat)
jeder Person zu suchen sei, eine Sache, die für verlassene und verwaiste Kinder
von der höchsten Bedeutung werden kann, Herr Levoz untersucht hier wieder
in sehr erschöpfender Weise die rechtliche Lage aller denkbaren Verhältnisse nicht
nur der legitimen und illegitimen (einfach natürlichen oder aus Ehebruch und Inzest
hervorgegangenen) Kinder, sondern auch der mündigen und emanzipierten Personen,
der Verpflichtungen der verschiedenen Gemeinden solcher Personen gegenüber und
der Behörden, die über diese gauzen Verhältnisse eine Aufsicht ausüben können
oder sollen.
Im Kapitel III gelangen wir nun an die Bestimmungen des »Code penal
des belgischen Strafgesetzbuches. Dieses Kapitel fängt mit dem »Avorte-
ment« (Abtreiben des Kindes) an, geht dann über Kindermord, vorsätzliche und
unvorsätzliche Körperverletzung, widerrechtliche Einsperrungen, Ver-
lassen der Kinder (resp. deren Aussetzung), Unterdrückung oder Fälschung
ihres Zivilstandes, Raub oder Entführung, Attentat gegen die Sitt-
lichkeit, Mißbrauch der Schwächen oder Leidenschaften Jder Minder-
jährigen bis zum Diebstahl und zu Betrügereien zwischen »Aszendenten« und
»Deszendenten« (Verwandten in auf- oder absteigender Linie) weiter.
Betreffs der unbeabsichtigten Körperverletzungen stellt Herr Levoz fest, daß
in den Bestimmungen dieser Kategorie gewisse Vergehen gar nicht einmal vor-
gesehen sind. So müßte z. B. 1. die Tatsache, ein Kind ohne die celementarste
materielle Pflege gelassen zu haben, besonders die der Reinlichkeit, es ohne Nah-
rung gelassen zu haben und selbst denselben nur eine ungenügendo oder schlechte
Nahrung gegeben zu haben, als Körperverletzung gelten, und je nach den Um-
ständen als vorsätzliche oder unvorsätzliche angesehen werden. (In Frankreich ist
diese Lücke seit 1898 ausgefüllt: wer einem Kinde unter 15 Jahren ohne Not die
nötige Nahrung und Pflege vorenthält, begeht eine vorsätzliche Körperverletzung
und wird dementsprechend bestraft.) 2. Ebenso die Tatsache, ein Kind zu einer
seine Kräfte überschreitenden Arbeit genötigt zu haben, namentlich dasselbe zu
schwere Lasten haben tragen zu lassen; und Herr Levoz führt einen Fall als Bei-
spiel an, wo ein Mann einen 14jährigen Knaben und einen Hund zum Zichen eines
übermäßig beladenen Karrens zwang, und wo der Mann wegen Überlastung des
Hundes (Tierquälerei) verfolgt werden konnte, des Kindes wegen aber unbehelligt
gelassen werden mußte!
Betreffs des Zivilstandes der neugeborenen Kinder erfahren wir alle
gesetzlichen Vorschriften über das Anzeigen der erfolgten Geburt; interessant
ist, daß die Frage, welche Erklärungen bei der Geburt eines natürlichen Kindes
88 C. Literatur.
verlangt werden dürfen, lauge Erörterungen sowohl in den Kammern als auch in
den ärztlichen Kongressen hervorgerufen hat und schließlich dahin geregelt worden
ist, daß der Name der Mutter bei der obligatorischen Auzeige bei der Geburt eines Kindes
angegeben werden muß; selbst bei totgeborenen Kindern ist die Anzeige obligatorisch.
Bei den Sittlichkeitsvergehen ersehen wir, daß dieselben, wenn sie mit
Kindern unter 14 Jahren begangen werden, natürlich strenger bestraft werden als
solche mit älteren Kindern. Wenn aber das Sittlichkeitsvergehen mit Kindern
über 14 Jahren ohne Gewalt oder Drohungen ausgeführt ist, bleibt es straflos, was
Herr Levoz auch als fehlerhaft bezeichnet, da doch bei sonstigen Vergehen die
Minderjährigen bis zum Alter von 16 Jahren als ohne »Discernement« handelnd
angesehen werden. Als Notzucht wird schon die alleinige fleischliche Annäherung
der beiden Geschlechter betrachtet, wenn dabei cin Kind unter 14 Jahren beteiligt
ist. Die übrigen Bestimmungen werden wohl den in allen zivilisierten Ländern
üblichen ähnlich sein.
Darauf gibt uns der Verfasser eine eingehende Auseinandersetzung der gesetz-
lichen Anordnungen über die Arbeit der Frauen und Kinder, und zwar um
so genauer, als es seine Absicht ist, die Gesellschaften zum Schutze der Kinder und
die Patronate der Verurteilten’ zu belehren, in welchom Alter und unter welchen
Bedingungen sie ihre Schützlinge in die unter der Beaufsichtigung der Behörden
stehenden Industrien eintreten lassen können. Ein Gesetz über die Reglementierung
der Arbeit für Frauen und Kinder wurde im Jahre 1889 veröffentlicht; wie not-
wendig und nützlich dasselbe war, geht aus einem im November 1894 veröffent-
lichten Bericht der Regierung hervor. Derselbe sagt, daß im Jahre 1891 noch
2285 Mädchen und Frauen unter 21 Jahren mit unterirdischen Arbeiten in Kohlen-
und andern Bergwerken beschäftigt waren: im Jahre 1893 waren es noch 1505,
im Jahre 1894 nur noch 1076; im Jahre 1891 waren darunter noch 683 Mädchen
unter 16 Jahren, 1893 nur noch 44 und 1594 gar keine mehr. Aus einem andern
Berichte geht hervor, daß die Zahl der Frauen und Mädchen in den Bergwerken
bis 1897 um cin Drittel vermindert war. Indem das Gesctz das zu lange und
das zu frühe Arbeiten (schon mit & Jahren gingen die Kinder in die Fabriken!),
das übermäßige Arbeiten, die Nachtarbeit, die ungesunde Arbeit ver-
hinderte, hat es die Kindheit menschlich beschützt. Jetzt folgt die ins einzelne
gehende Aufzählung der Vorschriften über das zulässige Alter der Kinder, die
Dauer und Stunden der Arbeit, der deu Kindern untersagten Arbeiten
usw., sowie über die obligatorische Ruhe an einem Tage nach sechs Arbeits-
tagen, Anschlagen dieser Vorschriften in den Werkstätten, ferner die Be-
schreibung der Zusammensetzung und Wirksamkeit des »Ministeriums der In-
dustrie und der Arbeit« die Inspektion der Fabriken, Werkstätten, Berg-
werke, Steinbrüche usw., und die Strafandrohungen für Übertretungsfälle seitens
der Arbeitgeber und der Eltern.
Ein äußerst wichtiger Paragraph ist auch der nun folgende über die in den
ambulanten Professionen angewendeten Kinder. Wir erfahren, daß die bel-
gische Gesetzgebung in ihren letzten Vorschriften vom Jahre 1888 sich vom preußi-
schen Gesetze vom 16. Mai 1853, von zwei italienischen Gesetzen von 1865 und
1873 und von cinem französischen Gesetze von 1874 hat bestimmen lassen. Unter
andern erfahren wir, daß herumziehende Akrobaten, Zirkusdirektoren und dergl.
Kinder unter 18 Jahren nur mit ITerbeizichung der Eltern und solche unter
14 Jahren überhaupt nicht vorführen dürfen, selbst die Eltern dürfen in diesem
Alter ihre eigenen Kinder nicht auftreten lassen. Dabei hat man aber vergessen,
das Auftreten der Kinder in festen Theatern zu verbieten. Wir lernen auch die
C. Literatur. sg
Strafandrohungen bei Verhandeln der Kinder, die Pflichten der herum-
ziehenden Handwerker gegen ihre Lehrlinge usw. kennen.
Im folgenden Paragraphen lesen wir die Bestimmungen über die Ver-
abreichung von geistigen Getränken an von Erwachsenen nicht begleitete
Minderjährige unter 16 Jahren. Selbst das bloße Verabreichen an solche ist
strafbar; sind die Kinder von Erwachsenen begleitet oder ist der Verkäufer nach-
weislich über das Alter des Kindes getäuscht worden, so ist der Verabreichende
straflos.. Aber das Berauschen von Minderjährigen unter 16 Jahren wird sowohl
seitens des Verabreichenden als seiteus des zum Trinken Anregenden bestraft.
Jetzt kommt cin Paragraph über die Bettelei und das Vagabundieren
Minderjähriger. Das Vagabundieren ist überhaupt verboten. Minderjährige über
18 Jahren, welche gewohnheitsmäßig vagabundieren, werden bis zum Alter
von 21 Jahren in eine Besserungsanstalt gebracht. Für jüngere Kinder darf der
Richter, dein solche gewohnheitsmäßigen Vagabundierens wegen vorgeführt werden,
nur dann das Überführen in eine Besserungsanstalt verordnen, wenn die Kinder als
»mmoralisch verlassene angesehen werden müssen. Der Ausdruck »moralisch ver-
lassen« ist aber nicht näher bestimmt und der Auslegung des Richters ist also viel
Spielraum gelassen. Wer Kinder zur Bettelei anhält oder einem Bettler zu diesem
Zwecke verschafft, ist straffällig.
Was das Kolportieren seitens Minderjähriger betrifft, so hat die Gesetz-
gebung noch keine Maßregeln ergriffen; im allgemeinen wird aber zugestanden, daß
die Gemeinden das Recht haben, den Minderjährigen unter einem gewissen Alter,
gewöhnlich 16 Jahren, das Kolportieren zu verbieten. In Brüssel und Antwerpen
müssen die Kolporteure mindestens 18 Jahre alt sein; die meisten Kinder, welche
sich mit Kolportieren beschäftigen, sind Zeitungsverkäufer, da die meisten Zeitungs-
leser hier ihre Blätter einzeln auf der Straße kaufen.
Im letzten Paragraphen des ersten Teiles werden einige Maßregeln betreffs
der Prostitution erwähnt. Ein minderjähriges Mädchen, welches auf den Be-
richt eines Polizeibeamten hin auf die Liste der unter sittenpolizeilicher Aufsicht
Stehenden eingeschrieben worden ist, kann in Frankreich dagegen vor Gericht Ein-
spruch erheben, in Belgien nicht.
Im zweiten Ilauptteile bespricht Herr Levoz »Les enfants malhou-
reuxe. Wie im ersten Teile beginnt er hier mit dem Schutze, der den Kindern
schon vor der Geburt zukommt, weshalb es Pflicht sei, für die Gesundheit und
die nötige köperliche und geistige Ruhe der Mutter vor und nach der
Entbindung zu sorgen. Dann erwähnt er die Wochenbettversicherungen,
die offiziell nur in Deutschland und Österreich-Ungarn eingeführt sind, die unent-
behrlichen Unterstützungen, die namentlich den verführten Mädchen geleistet
werden müssen, um etwaige Kindermorde vor und nach der Geburt zu verhindern,
und die Asyle, die den mittellosen Wöchnerinnen offen stehen müssen, den Mäd-
chen wie den Frauen.
Hierauf folgt der den Kindern unentbehrliche Schutz bei der Geburt,
nicht nur bei der der natürlichen Kinder, sondern auch bei den legitimen, nament-
lich durch wissenschaftliche Bildung derlicbammen und durch gewisson-
hafte Einrichtung der Spitäler und Asyle für Mittellose. Zum Schutze
der Neugeborenen in armen Familien bespricht Herr Levoz die Gründung und
Wirksamkeit gewisser zu diesem Zwecke gegründeter oder zu gründender Vereine,
Überall müßte man Frauenvereine gründen, deren Mitglieder wie wahre Laien-
schwestern es sich zur Aufgabe machten, die hygienische Erziehung der augelienden
Mütter und der Wöchnerinnen zu unternehmen und denselben während der Ent-
90 C. Literatur.
bindung und des Wochenbetts mit Rat und Tat zu helfen; eine Dame aus einem
solchen Vereine sollte dann die Protektrice, der Schutzengel und die Vorsehung des
Neugeborenen, der Wöchnerin und der ganzen Familie werden. Solcher Vereine
bestehen bereits mehrere in Frankreich und Belgien. In einem Paragraphen über
schwächliche und vor der Zeit geborene Kinder wird die sogenannte
»Coureuse d’enfants«, die Kinderbrutanstalt, erklärt, die dazu dient, diese hilf-
losen Geschöpfe zu erhalten und sie auswachsen zu lassen.
Die Pflege und Aufziehung der Neugeborenen ist der Gegenstand
der nächsten Paragraphen. Wir lesen nacheinander Aufklärungen über die
Sterblichkeit der Neugeborenen, Verbrechen gegen die Kindheit (künst-
liches Ilerbeiführen cines raschen Todes), und über die zu andern Leuten in
Pflege gegebenen Kinder (was in den meisten Fällen auch nichts weiter ist
als methodischer Kindermord; bei Brüssel soll eine Ortschaft sein, deren Bewohner
sich ın der Kunst, Säuglinge gegen geringen Entgelt in Pflege zu nehmen und sie
tadellos und straflos aufs schnellste umkommen zu lassen, einen traurigen Ruf er-
worben hat — die Hälfte ihres Kirchhofs ist mit kleinen Gräbern bedeckt). Um
das plaumäßige Umkommen solcher Säuglinge zu verhindern, müssen seit 1898 die
Gemeinde und selbst der Staat einspringen, wenn solche Pflegeeltern plötzlich den
ausbedungenen Pflegelohn nicht mehr erhalten sollten. Hieran schließt sich natur-
gemäß der Paragraph über die Versicherung gegen den Todesfall des
Kindes, gegen welche lebhafte Propaganda erhoben wird; um die Versicherungs-
summe zu erhalten, ließen die geldgierigen gewissenlosen Eltern ihre Sprößlinge
einfach langsam oder vielmehr schnell umkommen.
Indem dann der Verfasser über unwissende und nachlässige Eltern
spricht, Ratschläge an die Mütter erteilt (namentlich daß alt eıngewurzelte,
oft äußerst dumme Vorurteile abgeschafft würden), und die rationelle Ernährung
der Säuglinge erklärt, empfiehlt er unter andern als nachahmenswertes Beispiel
die sogenannten (kostenlosen oder gar obligatorischen) Konsultationen über
die Säuglinge (jede Woche werden die in den Asylen oder Spitälern geborenen
Säuglinge vorgezeigt, untersucht, gemessen und gewogen, wobei die gehörigen Maße
und Gewichte für jedes Alter bis zu einem Jahre angegeben werden). Daran
schließen sich dann die Milchanstalten für Säuglinge (in denen Unbemittelte
die Milch gratis erhalten und die die nötige Ergänzung der Gratiskonsultationen
bilden), die Kleinkinderbewahranstalten, »les Creches« oder »Krippen«,
wohin die Arbeiterinnen ihre noch in der Wiege befindlichen Kinder zur Auf-
bewahrung während des Arbeitstages bringen köunen. Wir lernen auch die soge-
nannten »Pouponnieres« -Wickelkinderhäuser kennen, in welche unbemittelte
junge Mütter mit ihrem Kiude eintreten können unter der Bedingung, einen andern
Säugling mit dem ihrigen zusammen aufzuziehen: eine Einrichtung, die dem töd-
lichen Inpflegegeben der Kinder entgegenarbeiten soll. Auch die Kinderkrank-
keiten werden besprochen.
Darauf folgen wir nun den Kindern zuerst in den Kindergarten (Geschicht-
liches, Beschreibung seines Wesens und der verschiedenen Methoden), der sich an
die »Cröches anschließt und den armen und elenden Geschöpfen Ersatz fürs öde
Elternhaus und den unentbehrlichen Comfort und die Erziehung bieten muß. Dann
kommen wir an die eigentliche Schule. In Belgien existiert die »Freiheit des
Unterrichts«e. Der öffentliche Unterricht (zu dessen Besuch aber niemand ge-
zwungen ist) wird auf Staatskosten gegeben; daneben ist der Privatunterricht an-
erkannt. Nun haben die Statistiker festgestellt, daß in Belgien ungefähr 200000
Kinder von 6 bis 14 Jahren überhaupt keine Schule besuchen oder sich so selten
C. Literatur. 91
dahin begeben, daß sie keinen Nutzen daraus ziehen. »Das ist eine wirklich be-
dauernswerte Sachlage. Diese armen Kleinen, wahrhaft moralisch verlassene Kinder,
verfallen bald ins Vagabundieren und in Bettelei, wenn sie nicht zu vollständigen
Übeltätern werden... Eine im Jahre 1896 in Brüssel angestellte Untersuchung hat
ergeben, daß von 22248 Kindern von 6—14 Jahren 3035 keine Schule besuchten;
1612 sind in der Lehre, 310 helfen ihren Eltern, 1113 vagabondieren. Andrerseits
verläßt eine große Zahl von Kindern die Schule vor Beendigung ihrer Schulklassen.
In diesem Falle waren in Brüssel im Jahre 1896 1262 Kinder oder 72°/,... Wenn
dieses Verhältnis sich so in Brüssel stellt, wo doch die städtische Behörde alles tut,
um eine mustergültige Volksschule zu besitzen, wie wird es nun auf dem Lande
sein ?« Das einzige Heilmittel für solche jämmerlichen Zustände wäre die Ein-
führung des obligatorischen Schulbesuchs, aber der belgische Charakter ist jedem
Eingreifen des Staates ins Familienleben so feind, daß vorläufig (und, fügen wir
hinzu, so lange ein katholisches Ministerium an der Spitze des Staates steht) darauf
nicht zu rechnen ist. Herr Levoz zählt nun die einzelnen Behörden oder Per-
sonen auf, deren Pflicht es ist und die die nötige Autorität haben, die Kinder zum
Schulbesuche anzuhalten, z. B. die Gemeindeverwaltung, das Schulpersonal, die
Schulvorstände (einflußreiche Personen, die im Bereiche der Schule wohnen), die
Schutzvereine und Patronate.
Der folgende Paragraph spricht von den ganz armen Schulkindern und
gibt als Beweis der Notlage vieler Schüler das Ergebnis einer Untersuchung an,
welche die Stadt Brüssel 1. von den Schulvorstehern über die Kleidung, gewöhnliche
Nahrung, Reinlichkeit, Schulbesuch, 2. von Ärzten über den Gesundheitszustand und
Ernährung, und 3. von der Polizei über die Wohnung anstellen ließ. Von den zahl-
reichen zitierten Ziffern erwähnen wir nur, daß unter 14 447 untersuchten Kindern
2442 schlecht beschuht, 3620 schlecht bekleidet und 3663 unzureichend ernährt
waren, ferner daß 5635 in derselben Stube wie ihre Eltern, 590 mit ıhren Eltern ın
demselben Bette, 578 Knaben mit einer und zwei Schwestern in demselben Bette,
579 Mädchen mit einem oder mehreren Brüdern in demselben Bette und 2608 in
dem Raume schliefen, wo das Kochen besorgt wurde. Um den Mängeln der Beklei-
dung und der Ernährung abzuhelfen, veranstalten mildtätige Vereine im Winter Ver-
teilungen von Kleidern und Wäsche und Verabreichungen von Suppe und Brot
morgens und mittags an die hilfsbedürftigen Schüler.
Darauf gibt Herr Levoz Ratschläge für die Schullokale und das Schul-
material, dann solche für die Bildung und das Verhalten der Lehrer;
dieselben sollen sich das Vertrauen und die Zuneigung der Kinder gewinnen; Körper-
strafen, zu denen auch das Einzelneinsperren gehört, müssen unterbleiben, sowie alle
langen Strafpreligten, demütigende Redensarten und ebensolche andere Maßregeln. Da-
gegen muß es auch Belohnungen geben, z. B. Spaziergänge und Ausflüge. Zur Aus-
bildung der Lehrer gehört nicht allein Pädagogiıe, sondern auch Pädologie.
Nach einigen Abschnitten, die der Aufmerksamkeit der Schüler, der Ermüdung
und der geistigen Überanstrengung gewidmet sind, welche die körperliche
Ausbildung, Gesundheitsüberwachung, Kräfteprüfung u. dergl. eingehend behandelt.
Eine besondere Aufmerksamkeit muß auf das reinliche Äußere der Kinder gerichtet
werden, und jede Schule müßte zum wenigsten eine Stube mit den nötigen Wasch-
vorrichtungen besitzen, wo unreinliche Kinder sich waschen können; noch besser
wäre eine Duschanstalt und ein Bade- oder Schwimmbecken.
Die ansteckenden und epidemisch auftretenden Krankheiten
bilden den Gegenstand des nächsten Kapitels, dazu kommen die präventive Heil-
mittelverabreichung, die Hygiene der Augen, Ohren, Kehle, Nase und
>
DD
C. Literatur.
Zähne. Betreffs des Turnens zieht Her Levoz das sogenannte schwedische Turnen
dem Geräteturnen vor; auch Spiole sind zu empfehlen, unter denen Herr Levoz
jedoch die aus England importierten athletischen Spiele u. a. den Foot-ball verwirft
und auch für das Zweirad nicht viel Begeisterung zeigt. Auch die Ferienkolonien
werden besprochen; dieselben wurden von besonderen Vereinen gegründet und werden
von diesen unterhalten, und jede größere Stadt in Belgien besitzt deren mehrere
sehr schöne teils auf dem Lande, teils an der See; dazu gehört auch der »Aus-
tausch«, eine Einrichtung, um den Waisenkindern, die in Waisenhäusern leben,
eine Abwechslung und Luftveränderung zu verschaffen, indem die Anstalten ver-
schiedener Provinzen während der Ferien ihre Zöglinge auf einige Wochen unter-
einander austauschen. Die Transportkosten werden durch milde Gaben und durch
Gratisbeförderung auf der Eisenbahn leicht aufgebracht.
Nach der körperlichen Ausbildung kommt nun die geistige. Zuerst das all-
gemeine Lehrprogramm der Volksschulen, zu dem auch Handarbeit für
Knaben und Mädchen gehört sowie Haushaltungs- und landwirschaftlicher
Unterricht; dann cine Kritik der in Belgien und Frankreich üblichen Preis-
verteilungszermonien, deren pädagogischer und moralischer Wert sehr zweifel-
haft ist. und ein Lob der Ausflüge, wenn, wie es sein soll, deren Zweck nicht
allein Erholung sondern auch Beobachtung ist.
Hierauf folgt die Besprechung der moralischen Erziehung, die in einem
Lande, wo infolge der mangelhaften Schulbildung dcs Volkes die Unwissenheit unter
den gewöhnlichen Massen natürlich sehr groß ist und die körperlichen Strafen durch-
aus untersagt sind, ganz besonders schwer zu bewerkstelligen ist. Der Verfasser
gibt angezeichnete Ratschläge über den Unterricht in der Höflichkeit und in dem
Anstand, in den Grundsätzen der Enthaltsamkeit von dem Alkohol, sowie
der Sparsamkeit; er erwähnt die zu diesem Zwecke gegründeten, schon auf
der Schule bestehenden Spar- und Altersrentenkasse und der gegenseitigen Unter-
stützungsvereine.
Hierbei spricht Herr Levoz den Wunsch aus, daß für die Kinder armer Eltern
auch cein Heim besorgt würde, wo diese nach der Schule und während der Ferien
bleiben könnten, ohne deshalb eiuen Zwang zu fühlen, so daß sie nicht gezwungen
wären, sich bis zur Heimkehr der Eltern von der Arbeit den ganzen Tag aufsichts-
los herumzutreiben.
Die mißhandelten und moralisch verlassenen Kinder bilden den
Gegenstand des darauffolgenden Kapitels. Natürlich handelt es sich hier nicht, wie
im ersten Teile, um ihre rechtliche Lage, sondern um ihre Behandlung und
Rettung. Nach kurzer Aufzählung der ganz unerhörten Tatsachen, welch in Bezug
auf das Märtyrertum der Kinder zu Tage kommen, behandelt Herr Levoz des
längereu die vorzuziehenden Systeme über das Unterbringen solcher mißhandelten
oder verlassenen Kinder. Er meint, nachdem er das Für und das Wider sämtlicher
Systeme untersucht hat, daß che solche Kinder der Vormundschaft des Staates über-
wiesen würden, solche lieber der von Patronaten anvertraut werden müßten, wie
z. B. in Brüssel der Gesellschaft des Enfants martyrs oder in Verviers der
Societo de la Protection de l'enfance, und diese müßten von der Gesetz-
gebung die rechtliche Personifikation und die nötige Autorität erhalten, um solche
Kinder gegen das Zuruckfordern der Eltern zu schützen. Diese Gesellschaften müßten
dann die ihnen überwiesenen Schützlinge zuerst daraufbin untersuchen lassen, ob sie
normal oder anormal wären; die letzteren müßten dann in besondere (noch zu
schaffende) Anstalten gebracht werden (Internate), die andern aber am besten in
kleinen Kolonien bis zu 12 Kindern verschiedenen Alters und Geschlechts bei ge-
C. Literatur. 93
eigneten Familien auf dem Lande nicht zu weit von einer Stadt untergebracht werden,
damit sie als Externe eine tüchtige Schule besuchen oder mit Leichtigkeit zu einem
Meister oder in einer Fabrik in die Lehre gehen könnten. Mit diesem letzten System
habe die Gesellschaft von Verviers höchst erfreuliche Erfolge gehabt. Das Examen,
das bei Übernahme eines Kindes angestellt würde, müßte nicht allein dieses selbst
betreffen, sondern natürlich auch seine Familie oder die Leute, bei denen es wohne
und den Verkehr’und die Umgebung, in der es lebe.
Was die kleinen Vagabunden, Bettler oder Blumen-, Zeitungs-
oder Streichhölzerverkäufer betrifft, so rät Heir Levoz sehr richtig, den-
selben weder etwas zu schenken noch etwas abzukaufen, dieselben lieber den Schutz-
vereinen zu melden, müßte das auch einige Umständlichkeiten nach sich ziehen.
Für die Kinder der herumziehenden Jahrmarktsleute rät Herr
Levoz, dem Beispiel Brüssels zu folgen und überall, wo diese Leute einige Zeit
blieben, für die Kinder besondere Kurse einzurichten. In Brüssel ist konstatiert
worden, daß die meisten dıeser Kinder außerordentlich aufgeweckt sind, die Schule
regelmäßig besuchen und überraschende Fortschritte machen. Dies ist also ein Unter-
nehmen, das die höchste Beachtung verdient.
Die Prostitution der Minderjährigen mit allen Fragen, die sich daran
knüpfen, ihre Abschaffung, ihre gesetzliche Regelung, gesundheitliche und moralische
Prophylaxie; das Eingreifen der Schutzgesellschaften bei moralischer Gefährdung der
Kinder durch das Gewerbe oder das schamlose Leben der Eltern oder deren Ver-
treter; »la Traite des blanches« der weiße Sklavinnenhandel, d. h. das ver-
räterische Verhandeln junger Mädchen in Freudenhäuser bilden der Reihe
nach einen Gegenstand eingehender Besprechung, besonders das letztere. Die War-
nungen und Fingerzeige, die diese Seiten enthalten, können für unerfahrene Leute,
namentlich für junge Madchen von dem höchsten Nutzen sein. Die Pflichten aller
wohlwollenden Menschen und namentlich der Patronate und Schutzvereine gegenüber
den jungen Leuten und Mädchen, die sich schon auf dem Wege der Sünde befinden,
bilden den Inhalt der letzten Seiten dieses hochinteressanten Kapitels.
Das Folgende ist das uns besonders Interessierende über die auormalen
Kinder. Nach einer kurzen Erklärung dessen, was man unter »anorımalem Kinde«
zu verstehen hat, unter kurzer Hinweisung auf die Geschichte der besondern Schulen
(Hilfsschulen) für dieseiben im Ausland (vom belgischen Standpunkt aus) erfahren
wir, daß man in Belgien erst im Jahre 1895 angefangen hat, sich mit dem Gedanken
der Einrichtungen von Hilfsschulen zu beschäftigen, und daß es die Stadt Brüssel
war, die im Jahre 1897 mit der Einrichtung einer besondern Schule für Knaben den
Anfang machte.') Für Mädchen bestehen sechs Hilfsklassen, die über drei Schulen
verteilt sind. In Antwerpen besteht eine solche Schule seit 1899. Zu der letzteren
wird noch ein »Laboratoire d’etudes scientifiquese, ein sogenanntes Laboratorium
wissenschaftlicher Studien (natürlich betreffs der Psychologie solcher Kinder) unter
der Leitung eines Arztes hinzugefügt. Auch in der Brüsseler’ Vorstadt Ixelles
(Elsene) soll eine Ililfsschule gegründet werden.
Im folgenden Paragraphen bespricht der Verfasser die Ursachen, welche die
regelmäßige Entwicklung eines Kindes beeinträchtigen können. Ilinderliche Faktoren
können angeerbt sein oder vor oder nach der Geburt oder während der späteren
Entwicklung des Kindes eintreten. Unter die ersteren gehören organische Unzu-
1) S. „Die Kinderfehler-, 1902, VIL Nr. 3 u. 4, »Ein Besuch in der Brüsseler
Hilfsschule«. Ferner das Buch -Die anormalen Kindere von Dr. Demoor (Alten-
burg, Bonde, 1901), dem llerr Levoz die meisten Ausführungen dieses Teiles entlchnt.
94 C. Literatur.
länglichkeit, Tuberkulose, Syphilis, Alkoholismus, Nervosismus der
Eltern, unter die letzteren die allgemeinen hygienischen Bedingungen,
ansteckende und Nervenkrankheiten und soziale und pädagogische
Umstände. Danach beleuchtet er in einzelnen Paragraphen zuerst die Sprach-
fehler, die Taubstummen (geschichtlicher Rückblick im allgemeinen und insbe-
sondere für Belgien: ein französischer Lehrer namens Pouplin beschäftigte sich 1819
aus Mitleid mit der Erziehung von 2 Taubstummen, ein Jahr darauf hatte er 19 Zög-
linge, im Jahre 1820 wurde dann eine Verwaltungskommission gegründet, welche
1822 die Schaffung eines Pensionats beschloß, dem 1837 ein solches für Blinde hin-
zugefügt wurde, und aus diesen wurde l'Institut royal des sourds- muets et
aveugles. Jetzt gibt es solche Anstalten außerdem in den Provinzen Antwerpen,
Brabant, Ost- und Westflandern, Ilennegau, Limburg und Namur; dann Ursachen
dieses Gebrechens, Behandlung, Erziehung, passende Handwerke, Sta-
tistik der europäischen Länder: in Belgien etwa 65 auf 100000 Einwohner, und
ihren Schutz, der am besten durch Vereine, Patronate u. dergl bewerkstelligt wird);
die Blinden (geschichtlicher Rückblick, Erziehung, Handwerke (Schutz); die Epi-
leptischen und Hysterischen (ein Patronat für Epileptiker wäre wünschenswert,
in Belgien haben drei religiöse Gemeinschaften Asyle für epileptische Kinder) und
die zurückgebliebenen Kinder. Hier gibt der Verfasser eine Übersicht nach
dem Werk des Herrn Prof. Dr. Demoor »Die anormalen Kinder«, ihre Einteilung
in pädagogisch und medizinisch Zurückgebliebene, die Ätiologie und
Diagnose, ihre Behandlung und ihre physische, intellektuelle und mo-
ralische Erziehung. Für die idiotischen und schwachsinnigen Kinder
wünscht der Verfasser ebenfalls Schutz durch Patronate, und zwar ein präventives
Patronat vor dem Internieren, welches letztere er für wünschenswert hält, eines für
die in Irrenhäusern oder zu Hause Internierten und eines für den Schutz der Ent-
lassenen. Ähnliche Patronate bestehen in Tournai, Verviers, Nivelles und Lüttich.
In den beiden nächsten Paragraphen wird von den Patronaten für anor-
male Schüler und der Notwendigkeit von Hilfsschulen gesprochen. Eine
Socicte protectrice de l'eufance anormale wurde auf Veranlassung der
Herren Dr. Demoor und Dr. Daniel, Ärzte der Brüsseler Hilfsschule, gegründet,
Diese Gesellschaft besteht aus zwei Sektionen; die erstere hat besonders den Zweck,
den entlassenen Schülern der Hilfsschule sorgfältig ausgesuchte Stellen für ihre
Lehrjahre zu verschaffen und die in der Schule angefangene moralische und wissen-
schaftliche Bildung fortzusetzen. Diese Sektion hat ein bereitwilliges Entgegen-
kommen seitens der Meister und Kaufleute konstatiert; die Schützlinge der Gesell-
schaft bilden unter sich eine Ililfskasse, die zur allgemeinen Altersrentenkasse ge-
hört. Die andere Sektion verfolgt theoretisch - statistische Zwecke und erstrebt die
Gründung von llilfsschulen. Diese müßten nach Herrn Levoz vom Staate oder der
Provinz übernommen und wie die Anstalten für Taubstumme und Blinde unterhalten
und verwaltet werden.
Im letzten Kapitel des zweiten Hauptteiles behandelt der Verfasser die Ver-
hältnisse der schwächlichen und siechen Kinder, und zwar der Reihe nach
die tuberkulösen, blutarmen und rachitischen Kinder unter Angabe der
möglichen Ursachen ihrer Gebrechen und der Maßregeln, die man ergriffen
hat oder ergreifen müßte, um dieselben entweder zu verhindern oder ihre Folgen
so gut als möglich zu bekämpfen oder zu beseitigen.
In dem dritten Hauptteile handelt es sich um die »Enfants délinquants,
um die Kinder, welche sich Vergehen haben zu schulden kommen lassen. Wegen
des gewaltigen Stoffes, den dieses Thema bietet, sagt der Verfasser, sei es unmög-
C. Literatur. 05
lich, eine erschöpfende Studie desselben zu geben; sein Zweck sei, die Aufmerksam-
keit aller auf seine vielseitigen Probleme zu ziehen. Er konstatiert mit andern
Kriminalisten, daß die Verderbtheit im allgemeinen jetzt bei einem jüngeren
Alter anfängt als früher, wie bei dem Wahnsinn und dem Selbstmord. Verschiedene
Ursachen müssen dafür angegeben werden: zuerst die Verderbtheit der
Familie, schlechte Beispiele, erbliche Belastung, Alkoholismus,
Müßiggang und Vagabundieren, Suggestion, Genußsucht, in andrer
Hinsicht der Zug der Landbevölkerung nach den Städten, oder auch die
Zerrüttung des Familienlebens, das Verschwinden des Respekts und
der Mangel an Unterricht, besonders in Moral und Religion (die öffent-
lichen Schulen Belgiens haben keine Religionsstunden); andere klagen gar die
Nachlässigkeit und das schlechte Beispiel der besitzenden Klassen an.
Unter den Kindern von weniger als 16 Jahren, die Herın Levoz vor allem
interessieren, findet man wirkliche Verbrecher, sogar Mörder; er zitiert einen
Vatermörder von 15 Jahren, einen ebenso alten Knaben, der seinen 3jährigen
Bruder mit dem Beile totschlug, einen vierzehnjährigen, der mit einem Revolver
nach einem Mönche schoß, einen zehnjährigen, der seine kleine Cousine mit Stein-
schlägen tötete usw. Solche Scheusale, fast immer erblich Belastete, müssen einer-
seits durch Einsperren unschädlich gemacht werden, andrerseits muß man versuchen,
sie durch physische, moralische und pädagogische Erziehung zugleich zu bessern.
Dann findet man aber auch zahlreiche Kinder, welche sich einfachere Ver-
gehen haben zu schulden kommen lassen, Diebe, Unzüchtige, Heftige,
Impulsive oder Heuchler, Lügner, Heimtückische, Faullenzer, Passive.
Es ist unbedingt notwendig, sich mit diesen zu befassen, sonst geraten sie ins Verderben.
In den folgenden Kapiteln behandelt der Verfasser ziemlich eingehend die
Fragen betreffs des Einflusses des Alters auf die Straffälligkeit der Kinder,
der gegen sie zu ergreifenden Maßregeln (z. B. Überweisung an eine Besse-
rungsanstalt), ihrer Zurechnungsfähigkeit usw. Dann die gerichtliche
Verfolgung Minderjähriger, besonders bei polizeilichen Protokollen, und
den Schutz der Kinder gegen zu große Strenge, die sie auch auf Abwege
führen kann. So haben die jungen Advokaten in Brüssel ein Comité gegründet,
das als besondere Mission die Verteidigung der vor das Polizeigericht ge-
ladenen Kinder hat. und sich nicht allein hierauf beschränkt, sondern das Schicksal
des ihm anvertrauten Kindes untersucht und dasselbe zum Guten zu wenden trachtet.
Hierauf folgt das Erscheinen der Kinder unter 16 Jahren vor dem Strafgericht
mit allen moralischen und juristischen Bedenken und Folgen; dann das Erscheinen
vor Gericht Minderjähriger von 16—18 Jahren, die in Belgien sehr oft angewandte
bedingungsweise Verurteilung mit deren meist moralischen und zwar guten
Folgen, und die mögliche Berufung gegen die für Minderjährige unter 18 Jahren
getroffenen Maßregeln.
Die schuldig gefundenen Kinder werden »zur Disposition der Regierung
gestellt«, d. h. die Regierung kann sie in eine Besserungsanstalt bringen lassen.
Alle hierbei vorkommenden Maßregeln, Systeme, Art und Weise der Inter-
nierung und der später ausgegebenen Zeugnisse sind der Gegenstand des
nächsten Kapitels, dem dann ein anderes folgt, in welchem diese Besserungsanstalten,
die seit kurzem in Belgien »Ecoles de bienfaisance (Wohltätigkeitsschulen)
genannt werden, nach ihrer geschichtlichen Entwicklung, Einrichtung,
pädagogischen Methode, wissenschaftlichem und handwerklichem
Unterricht usw. bis ins einzelne beschrieben werden. Patronatsgesellschaften
bemühen sich für das moralische und materielle Fortkommen der entlassenen
96 C. Literatur.
——— -- m m a a EEE a a aaaea Ima
Zöglinge; dieselben werden gewöhnlich erst im Alter von 21 Jahren entlassen,
doch können die Lehrer solcher Anstalten für gute und wirklich gebesserte Zöglinge
ein bedingungsweises vorzeitiges Entlassen derselben beantragen. Das Unter-
bringen und Überwachen dieser Zöglinge durch die Patronate, die Wahl
der Pflegeeltern und die zu erfüllenden Vorschriften bei der Plazierung der-
selben bilden den Gegenstand der nächsten Paragraphen. Dazu gehören noch die
Art und Weise des Transports solcher Kinder in die Anstalt oder aus der-
selben, ihre Ausstattung, ihre Teilnahme an der Spar- und Altersrenten-
kasse, die Belohnungen für verdienstvolle Zöglinge, das Verfahren bei
ihrer Erkrankung, die Formalitäten bei ihrem Eintritt in das Heer und
schließlich die Überwachung und ihre Beschützung solcher Soldaten durch die Patronate,
In einem Anhang über die Schutzvereine der Kindheit und über die Patro-
nate für Verurteilte oder entlassene Sträflinge, Vagabunden und Geisteskranke in
Belgien erfahren wir, daß diese Vereine jetzt ein Netz bilden, das sich über das
ganze Land erstreckt, obgleich dieselben erst seit etwa dreizehn Jahren ins Leben
getreten sind. Ein Versuch der Regierung vor etwa 50 Jahren, einen ähnlichen
Zweck auf administrativem Wege zu erreichen, war gänzlich fehlgeschlagen. Die
Initiative zu diesen humanen Unternehmungen und die gänzliche Reform der Be-
handlung der schuldigen Kindheit ist ein Verdienst des Herrn Justizministers
Lc Jeune (1890—94), der bei allen humanen Bestrebungen in juristischer Beziehung
stets oben an steht; derselbe verwandelte die ehemaligen »Penitenciers«e (Bußhäuser)
oder »Maisons de correction« oder »de reforme« (Besserungsanstalten) in »Ecoles de
bienfaisance de l’Etat«, die an die Armen- und nicht au die Polizeiverwaltung atta-
chiert sind, uud organisierte mit Hilfe von Patronaten, deren Bildung er selbst
veranlaßt hatte, das Unterbringen der entlassenen Zöglinge solcher Anstalten bei
Bauern und Handwerkern. Jetzt existieren in Belgien folgende Organe zum
Schutz der schuldigen Kindheit: 1. Obenan zuerst eine »Commission
royale des patronages«, ein an das Justizmivisterium attachierter konsultativer
Ausschuß, der sich besonders mit internationaler Patronierung beschäftigt; daun die
Federation des patronages, Patronatsbund, der aus der Vereinigung des Aus-
schusses der verschiedenen Lokalkomitees besteht. — 2. Neunundzwanzig
Komitces für die Patronierung der entlassenen Sträflinge und den
Schutz der moralisch verlorenen Kinder und der Geisteskranken (ge-
wöhnlich in der Kreishauptstadt.. — 3. Vier Societes protectrices des
enfants martyrs, Schutzvereine für mißhandelte Kinder in Brüssel, Antwerpen,
Lüttich und Gent. — 4. Schutzkomitees zur Verteidigung vorgeladener
Kinder unter den Advokaten Brüssels, Antwerpens, Lüttichs und Verviers. —
5. Eine Société protectrico de l’enfance anormale zu Brüssel seit Mai
1901, mit Sektionen in Antwerpen und Verviers.
Wenn man nun bedenkt, daß jeder dieser hervorgehobenen Abschnitte vom
juristischen, moralischen, wissenschaftlichen und praktischen Standpunkte aus ein-
gehend besprochen ist, und außerdem mit zahlreichen Belegen versehen ist, so wird
man gerne zugeben, daß dieses Werk des Merrn Levoz cine so weitläufige Be-
sprechung wohl verdient hat und dasselbe die Beachtung jedes Mannes, der sich
mit diesen Fragen beschäftigt, und der Behörden auf sich ziehen muß,
Brüssel. Dr. Koch.
Nachschrift der Redaktion: Auch wir möchten das Buch des Herrn
Levoz, über das uns Herr Dr. Koch einen so erschöpfenden und mühevollen
Bericht erstattet hat, dringend empfehlen. Iloffentlich erhalten wir auch in Deutsch-
land bald ein derartiges Werk. Ufer.
Druck von Hormann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza.
A. Abhandlungen.
1. Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache
von Gesetzesverletzungen Jugendlicher.
Vortrag, gehalten auf der V. Versammlung des Vereins für Kinderforschung in
Halle am 12. Oktober 1903.
Von
J. Trüper.
Die Frage nach dem richtigen psychologischen Verständnis der
Gesetzesübertretungen Jugendlicher ist keine ganz unbedeutende. Im
Jahre 1901 wurden im deutschen Reiche 49675 im Alter von 12 bis
18 Jahren verurteilt, und die Zahl dieser jugendlichen Gesetzesüber-
treter ist seit langem stetig gewachsen. Auch ist die Zahl der jugend-
lichen Sünder noch weit größer, weil längst nicht alle Fälle vor den
Strafrichter kommen. Außerdem gibt es göttliche wie menschliche
Gebote der Sitte, des Anstandes, der Ehre, der Menschlichkeit, die
die Buchstaben des Strafgesetzbuches nicht schützen und deren Über-
tretung für gesittete Menschen doch noch weit schändlicher ist, als
wenn z.B. ein Knabe von 12 Jahren und 1 Tag ein paar Äpfel vom
Baume eines andern Besitzers pflückt und sich nun dafür vom Straf-
richter öffentlich unter die jugendlichen Sträflinge stellen und für
sein ganzes Leben als »bestraft« aichen lassen muß.
Auch wie diese jugendlichen Übeltäter in der Voruntersuchung,
vor Gericht und bei Vollstreckung des Urteils, also durch die Strafe,
behandelt und vielleicht für ihr weiteres Leben beeinflußt werden,
ist eine Frage von außerordentlicher Tragweite.
Die Kinderfchler. IX. Jahrgang. 7
98 A. Abhandlungen.
Diese 50000 jugendlichen Missetäter sind zudem keine ab-
sterbenden Greise, sondern werdende Menschen, die dem Vater-
lande später noch eine Nachkommenschaft bieten, auf die sie ihre
Anschauungen, Gefühle und Wollungen bewußt und unbewußt ver-
erben. Es handelt sich also bei dieser Frage um die sittliche und
indirekt auch um die geistige und körperliche Gesunderhaltung eines
großen Teiles unseres Volkes; abgesehen davon, was dieses Heer von
Gesetzesübertretern und ihr Nachwuchs dem deutschen Volke an
materiellen Opfern kostet. Geh. Rat Permax, Prof. der Psychiatrie in
Bonn, hat nachgewiesen, daß schon für eine einzige, namentlich durch
Alkohol entartete Familie Staat und Gemeinden 5 Millionen zu ver-
ausgaben hatten. |
Und schließlich ist noch ein Umstand außerordentlich folgen-
schwer: die Rückfälligkeit der jugendlichen Verbrecher.
Ein Volksschullehrer eines Großstadtvorortes erzählte mir einmal, ein
dreizehnjähriger Knabe, der wegen Diebstahl etliche Tage Gefängnis
erhalten, hätte in der ersten Pause am ersten Tage nach seiner Ent-
lassung auf dem Spielplatze seine ganze Klasse als andächtige Ge-
meinde um sich versammelt gehabt. Er hatte sich auf einen Hügel
mitten unter sie gestellt und in lebhafter Weise den »Spaß« ge-
schildert, den er von der Anzeige an bis zur Gefängnishaft gehabt
habe. Dieses Beispiel ist für sehr viele Fälle typisch. Die große
Rückfälligkeit der gerichtlich Bestraften wird durch dasselbe begreif-
lich, vielleicht auch die große antimoralische Infektion unter den Jugend-
lichen. Und kein geringerer als der bekannte englische Gefängnis-
geistliche Wittram DovsLas Morıssox bemerkt angesichts der Tatsachen,
daß in England bis 79°/, der vom Strafrichter Verurteilten rückfällig
werden — und bei uns wird es auch wohl kaum viel anders sein
—: »Was bedeutet dieses riesige Verhältnis der Gewohnheitsmissetäter
innerhalb der Verbrecherbevölkerung? Es bedeutet, daß gegenüber
der Mehrheit der letzteren das Strafgesetz und die Straf-
behandlung sich als gänzlich unwirksam erwiesen haben.
Das höchste, vielleicht das einzige Ziel jedes richtigen Strafwesens
ist, den Verurteilten von der Wiederholung der Straftat abzuhalten.
Wird dieser Hauptzweck, wie die Tatsachen lehren, in den meisten
Fällen verfehlt, so ist es hoch an der Zeit, daß die Grundlagen
des heutigen Strafwesens abgeändert und umgestaltet
werden. Solange das jetzige System mit seiner Unwirksamkeit fort-
besteht, bleibt das Gemeinwesen von den mit dem Vorhandensein
einer vielköpfigen Menge von Gewohnheitsverbrechern verbundenen
Verlusten, Beunruhigungen und Gefahren bedroht. ... Die Kosten,
Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 99
die der eingesperrte Gewohnheitsverbrecher dem Staat verursacht,
betragen etwa ein Zehntel dessen, was der freiumhergehende ver-
schlingt.« !)
Ich meine nun, eine der Hauptursachen aller dieser Umstände
liegt in dem mangelhaften Verständnis des Unfertigen und
des Pathologischen im Kindes- und Jugendalter und dessen
sachgemäße Wertung bei allen Maßnahmen, ja in dem mangelhaften
Verständnis des werdenden Seelenlebens aller Kinder und Jugend-
lichen überhaupt.
Es darf uns das ja auch nicht wundern. Im deutschen Reiche
gab es im Jahre 1901 22856071 Kinder und Jugendliche unter
18 Jahren u. m. W. nicht einen einzigen Lehrstuhl an allen Univer-
sitäten, der den Auftrag hat, sich in erster Linie mit dem Werden
des Personlebens dieser 23 Millionen, also mit Kinderseelenforschung
zu befassen. Die genetische Psychologie wie die genetische Psychi-
atrie, oder die Psychologie und Psychiatrie der Kindheit und Jugend,
bleibt ganz der freiwilligen Arbeit überlassen, wie sie sich zur Zeit
in unserem Verein für Kinderforschung und verwandten Bestrebungen
organisiert hat. Und von allen deutschen Universitäten hat auch nur
eine einzige, unser Jena, einen selbständigen Lehrstuhl für die Er-
ziehungswissenschaft mit einer Seminarübungsschule, die für die
Lehrer im Hinblick auf die Entwicklung der Jugend dieselbe Be-
deutung hat, wie die Universitätsklinik für die Ärzte im Hinblick
auf die Heilung von Krankheit.
Wenn es sich bei Gesetzesübertretern um ausgesprochene psy-
chische Störungen handelt, dann wird selbstverständlich, wenn leider
auch erst vor den Schranken des öffentlichen Gerichtes, der Psychiater
als Sachverständiger hinzugezogen, und wenn es sich um geistige
Minderwertigkeit handelt, die man als ausgesprochene Geistesschwäche,
als Idiotie, Blödsinn oder Schwachsinn bezeichnen muß, so erkennt
sie ja auch schon der Strafrichter ohne das Gutachten Sachver-
ständiger.
Wesentlich anders ist es aber, wenn das Psychopathische einen
geringeren Grad zeigt und dem oberflächlichen Beobachter nicht in
die Augen springt, wenn man bloß von einer Herabniinderung der
seelischen Betätigungen aus psychopathischen Ursachen, von den
Übergängen von geistiger Zurechnungsfähigkeit zur geistigen Minder-
1) W. D. Morrison, Jugendliche Übeltäter. Autotorisierte deutsche Ausgabe,
frei bearbeitet von LeoroLv Karscuer. Leipzig, Freund & Wittig, 1899. S. VII
und VILI.
7*
100 A. Abhandlungen.
wertigkeitreden kann. Kinder und Jugendliche befinden sich überdies fast
immer in diesem Übergangsstadium. Oder glaubt jemand, daß man über
Nacht mit dem 12. Lebensjahre die Schwelle von der Unzurechnungs-
fähigkeit zur Zurechnungsfähigkeit urplötzlich überschreitet? Von einer
graduellen und darum auch von einer verminderten Zurechnungsfähig-
keit wie von psychopathischen Minderwertigkeiten als Ursache von
Gesetzesverletzungen will die Rechtspflege bis jetzt aber wenig wissen.
Und doch würde schon das einfache Dasein einer offiziellen gene-
tischen Psychiatrie diese Begriffe der Rechtspflege einfach diktieren.
Bis jetzt ist ein Angeklagter für den Strafrichter schlechthin zu-
rechnungsfähig oder unzurechnungsfähig, urteilsfähig oder schwach-
sinnig, gesund oder verrückt. Die Übergänge gibt es für ihn nicht,
eben weil die Gesetzgebung sie nicht kennt und maßgebende Juristen
z. B. den Begriff »verminderte Zurechnungsfähigkeite noch rundweg
ablehnen. Wie es in dieser Beziehung in unserer Rechtspflege steht,
lehrt beispielsweise eine neuere Entscheidung des Reichsgerichts des
4. Ziv.-Sen. vom 13. Febr. 1902, betr. den Unterschied zwischen
Geisteskrankheit und Geistesschwäche nach $ 6 No. 1 des
B. G. S.) Sie lautet:
»Der Unterschied beider Begriffe ist nur in dem Grade der
geistigen Anomalie zu finden und zwar nach der Richtung, ob die
krankhafte Störung der Geistestätigkeit dem Erkrankten vollständig
die Fähigkeit nimmt, die Gesamtheit seiner Angelegenheiten zu be-
sorgen oder ob sie ihm wenigstens noch diejenigen Fähigkeiten läßt,
welche bei einem minderjährigen von 7 bis 21 Jahren in der Be-
sorgung seiner Angelegenheiten vorausgesetzt werden können. Fehlt
es an jedem zuverlässigen Material eines Unterschiedes zwischen
Geisteskrankheit und Geistesschwäche, so ergibt sich mit Sicherheit
doch soviel, daß jene die schwere, diese die leichtere Form ist.
Im ersteren Fall entspricht es der Absicht des Gesetzes, die Ent-
mündigung wegen Geisteskrankheit, in dem zweiten, sie wegen Geistes-
schwäche eintreten zu lassen. Diese Entscheidung ist daher, mangels
hierüber feststehender Begriffe, keine psychiatrische, sondern eine
überwiegend tatsächliche, welche der Richter trifft und die nur zum
Teil auf dem ärztlichen Gutachten, das den Stoff zu seinen Schlüssen
liefert, beruht.«
Wo ist hier bei diesen eigenartigen Definitionen und Unter-
scheidungen auch nur ein bescheidenes Plätzchen für alles Werdende
1) Vergl. Dr. A. Künser, Über einige abnorme Erscheinungen im kindlichen
Seelenleben. Ztschr. f. Kdf. IX. Jahrg. 1. Heft. S. 27 f.
Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 101
und Wechselnde im menschlichen Seelenleben, zumal in dem der
Jugend? Wenn aber das am grünen Holze im Reichsgericht geschieht,
was mag dann im Landgericht und Schöffengericht passieren?
Aber wenn in manchen Fällen bei jugendlichen Vergehen auch
Freisprechung oder Zubilligung mildernder Umstände oder Über-
weisung zur Zwangserziehung erfolgt, so bedeutet das für jene Frage
doch herzlich wenig. Für den Menschenfreund fragt es sich: Ob,
wenn rechtzeitig das Minderwertige oder Psychopathische
in einem werdenden Menschen erkannt wird, die Gesetzes-
übertretungen und die Schäden, die dadurch im Volks-
körper erwachsen, nicht hätten verhütet werden können;
ob es denn gerade immer erst zu Gerichtsverhandlungen kommen
muß, ehe man Schutzmaßnahmen für notwendig hält; ob man den
Brunnen immer erst zudecken darf, wenn das Kind bereits er-
trunken ist?
Es dürfte sich verlohnen, die Bedeutung dieser Fragen an einigen
der breitesten Öffentlichkeit bekannt gewordenen typischen Fällen
noch etwas näher zu erläutern und Ihnen insbesondere klar zu
machen, welche Tragweite das rechtzeitige Erkennen von psycho-
pathischen Minderwertigkeiten und deren Wertung in der ge-
samten Jugendfürsorge für Gesellschaft und Individuum hat. Ich
wähle dafür zunächst einige Fälle, wo es sich um ein Vergehen gegen
das Leben handelte.
1. Ihnen allen wird noch der Fall Behnert und Genossen be-
kannt sein. Drei Raubgesellen verübten am hellen Vormittage in
offenem Laden an belebter Straße in Jena einen Raubmord. Von
dem einen dieser Raubmörder namens Goldschmidt ist nachgewiesen,
daß er, der aus trunksüchtiger Familie stammte, schon als Knabe
sich als geborener psychopathischer Verbrecher gefährlicher Art ent-
puppte. Man ließ ihn dennoch frei umherziehen. Die Gesellschaft
hat den nötigen Schutz gegen ihn erst erhalten, nachdem die
Trödlerfrau ihm zum Opfer gefallen.
2. Ich erinnere sodann an den Fall stud. jur. Fischer-Eisenach,
den Brautmörder. Fischer war erblich belastet, als Kind hydrocephal,
in der Schule ein Sonderling, ward geistig und ethisch noch ab-
normer durch ungesunde Lektüre, wie z. B. der Schriften des patho-
logischen Frienrich NIETZSCHE, die die Lieblingsspeise des Tertianers
bildeten. Dann folgten alkoholistische und sexuelle Verderbnisse, die
ebenfalls die Psyche pathologisch schädigten, usw. Der Brautmord
war nur das Endglied in der psychopathischen Herabminderung.
Hätte, rechtzeitig das Pathologische erkannt und pädagogisch ge-
102 A. Abhandlungen.
wertet, die Entwicklung nicht eine andere Richtung nehmen können,
ja müssen? Helmholtz war z. B. auch als Kind hydrocephal, wie Herr
Sanitätsrat BERKHAN?!) nachgewiesen.
3. Als dritten Fall nenne ich Hüssener, den jungen Fähnrich, der
in der Nacht vor dem Östersonntag den einjährig-freiwilligen Kanonier
Hartmann hinterrücks mit dem geschliffenen Marinedolche nieder-
stach, als jener glaubte, dieser wolle auf dem Wege zur Wache ent-
fliehen, wohin er ihn bringen wollte, weil er ihn in betrunkenem
Zustande nicht vorschriftsmäßig grüße, ja >plump vertrauliche sich
benahm, d. h. den Hüssener »bier«-gemütlich in den Arm nehmen
wollte. |
Nicht bloß die ganze Stadt, wo die Tat geschah, sondern auch
die gesamte Presse von der sozialdemokratischen Linken bis zur
ultrakonservativen Rechten, der ganze Reichstag, ja das ganze deutsche
Volk sind über den Vorfall und dessen gerichtliche Behandlung in
Aufregung geraten und bis heute noch nicht darüber zur Ruhe ge-
kommen. Als vor kurzem, also ein halbes Jahr später, das Kriegs-
gericht in Heidelberg sehr schwere Strafen über einige Soldaten ver-
hängte, die im Alkoholrausche und aus Liebesneid sich an ihrem
vorgesetzten Unteroffizier vergriffen hatten, geriet bei dem Bekannt-
werden des Urteils nach den Schilderungen der »Neuen Bad. Landes-
zeitung« die Menge fast außer Rand und Band, sie wich nicht von
der Stelle und als die Militärrichter bald darnach erschienen, dröhnte
hundertfältiges Pfeifen, Gejohl und »Hoch Hüssener!« ihnen entgegen.
Und selbst die »Hamburger Nachrichten« meinten, daß die gelinde
Bestrafung Hüssener aufregend gewirkt habe. Bis in konservative
Kreise hinein wurde das ganze System der militärischen Erziehung
angeklagt und verdammt; sie trage die Schuld, daß derartige An-
schauungen und überspannte Ehrbegriffe sich in den Köpfen unserer
Burschen entwickeln und festsetzen. Die Richter wurden der Partei-
lichkeit beschuldigt und gegen den Fähnrich entlud sich eine Über-
fülle von Haß und Abscheu.?)
1) Sanitätsrat Dr. BerkHan, Zeitschrift für Kinderforschung. 1902. S. 49 ff.
2) Nur eine einzige entgegengesetzt lautende Stimme kam mir zu Gesicht.
Nach meinem Vortrage in Halle sandte mir Herr Dr. Orro JuULIUSBERGER Nr. 5 des
»Korrespondent für die abstinenten Arbeiter und Arbeiterinnen
Deutschlands« mit einem Artikel »Alkohol vor Gericht«. Verfasser und Zeitschrift
waren mir bis dahin auch dem Namen nach unbekannt. Seine Ausführungen decken
sich auffallenderweise zum Teil wörtlich mit dem, was ich in Halle sagte. »Meiner
Ansicht nach ist der Fall ganz und gar nicht geeignet, in der üblichen Weise und
nach bevorzugter Richtung an dem Militarismus Kritik zu üben. ... Verurteilen
Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 103
Ich muß auch anklagen, aber meine Anklage liegt in einer
andern, der eingangs erwähnten Richtung. Der Fall ist so lehrreich
und so typisch, daß es sich wohl verlohnt, ihn psychologisch genauer
zu betrachten, als es bisher geschehen ist.
Was haben die Gerichtsverhandlungen und die Mitteilungen der
Presse offenbart? Zunächst eine auffallende Urteilsschwäche, einen
gewissen Grad von Schwachsinn.
Aus Pflichtgefühl oder wegen jenes Benehmens des Hartmann
solche Tat zu begehen und nach begangener Tat über Achselklappen
und andere eitle Dinge sprechen, Cigaretten rauchen und sie andern
anbieten, und so über das Geschebene urteilen, wie Hüssener es getan,
das bringt doch nur ein geistig Geschwächter fertig. Er spricht im
Briefe an Hartmanns Eltern von einer »harten, harten Soldatenpflicht«
wir nicht, sondern lernen wir begreifen und richtig beurteilen.«< Das steht in dem
Blatte, dessen sozialdemokratisches Eingangsgedicht »Zur Wahl« beginnt:
»Der Tag glüht auf, es kommt die Stunde,
Das Volksgericht bricht endlich an.«
Der Fall Hüssener ist zwar abgetan. Freunde sagten mir in Halle schon,
ich hätte ihn aus allerlei Rücksichten, u. a. auf das Heer, besser nicht erwähnt.
Aber ich meine, daß gerade an einem Falle, der so sehr die Öffentlichkeit erregt
hat, exemplifiziert werden muß, was die Öffentlichkeit daraus hätte lernen sollen,
aber nicht gelernt hat, eben weil man unsere Frage von keiner Seite stellte.
Meine dortigen Ausführungen hatten zudem verschiedene Zusendungen, Zu-
schriften und Besprechungen in der Presse zur Folge, die teilweise von großen Miß-
verständnissen zeugten. Ein anonymer Brief aus Berlin dürfte z. B. Auffassungen
wiedergeben, die auch in gebildeten Kreisen weit verbreitet sind, auch wenn sie
sich nicht frei ans Tageslicht wagen. Er lautet:
»Sehr geehrter Herr Direktor!
Zu dem im Verein für Kinderforschung in Halle a/S. durch Herrn Anstalts-
direktor Trürer -Jena gehaltenen Vortrage: ‚Psychopathologische Minderwertigkeit‘,
den ich in einer wissenschaftlichen Vereinszeitschrift gelesen, möchte ich nach
meinen Ansichten zu dem angeführten Falle »Hüssener« bemerken: es mögen wohl
psychopathologische Minderwertigkeiten nach wissenschaftlichem Systeme vor-
kommen; allein seine psychopathologische Minderwertigkeit hätte ihm vielleicht
noch vor einigen Jahren ausgetrieben werden können vermitteis der Zuchtrute
(recht derbe angewandt) seitens seiner Eltern oder Vorgesetzten; sein Ehrenstolz
hätte sich dann etwas gedämpft!
Kein Freund der neuen Pädagogik, die mit Theorie und lauter Wissenschaft
erziehen will.
Einer in angesehener Stellung, dank seiner streng gehaltenen Erziehung in
Jugendjahren! Hochachtend
Prof. Dr. N.«
Ich erörtere den Fall hier darum eingehender als die bemessene Zeit für
meinen mündlichen Vortrag in Halle es mir gestattete, und flechte hie und da
noch eine treffliche Ergänzung JULIUSBERGERS ein.
104 A. Abhandlungen.
der er sich unterziehen mufste und kommt sich als musterhaftes
Opfer von Soldatentugenden und als großer Held vor, der in der
Kollision der Pflichten untergeht. Wie kann eine derartige Ver-
kennung der Wirklichkeit, eine solche vollständige Verwechselung
von Recht und Unrecht entstehen? Auf welchem Boden ist sie er-
wachsen ? fragt die »Rhein.-Westf. Zeitung« mit Recht. Aberihre und
alle Antworten der Presse treffen den Kern der Ursache nicht. Ge-
sellschaft und Offizierserziehung werden schwerer belastet, als sie es
verdienen. Mag in den Köpfen der Fähnriche und Unterleutnants
das im Alkoholrausche und im Jugendtraum sich bildende exaltierte,
aller Ethik widersprechende, an Größenwahn grenzende Standesehr-
gefühl epidemisch wirken, bei einem Menschen mit gesundem Urteil
setzt es sich doch nicht dermaßen als fixe Idee fest, daß er auf
Urlaub nach Begrüßtwerden späht — 20 Soldaten soll Hüssener
gestellt und notiert haben, die er wegen Nichtgrüßen nach den Oster-
tagen anzeigen wollte — und es mit Strafen und Dolchstichen zu
erzwingen sucht. Die Vernunft unterlag eben dem gleichfalls patho-
logischen Gefühl und dem daraus hervorgehenden blinden Tatendrange.
Bei debilen Jugendlichen ist ja so oft gerade das ethische Urteil
geschwächt. Ein gedächtnismäßiges Wortwissen, eine Fähigkeit im
verbalen Ausdruck, ein oft von der Eitelkeit dressiertes korrektes
Auftreten verdecken dem oberflächlichen Beobachter diese patho-
logische Minderwertigkeit. Aber eine genauere Beobachtung lehrt,
daß neben der Abnormität des Gefühlslebens auch die sittlichen Be-
griffe, also gerade die edelsten und zartesten geistigen Gebilde, außer-
ordentlich zurückgeblieben und nicht selten obendrein entartet sind,
auch beim Überlegen und Handeln oft gar nicht als Leitmotive in
Wirksamkeit treten. »Ich habe, so schreibt Hüssener an seine
Mutter den Trost und das Bewußtsein, meine Ehre unverletzt er-
halten zu haben.« Dieser ohne Frage aus voller Überzeugung ge-
schriebene Satz Hüsseners ist typisch.
Neben der Urteilsschwäche litt Hüssener an Ideenflucht.
Gottvertrauen, das Sprossen seines blonden Schnurrbärtchens, die
Hoffnung, bald wieder für seinen Kaiser ins Feld ziehen zu können,
sein blühendes Aussehen usw., das sind unmittelbare Gedankenfolgen
in einem durch die Presse gegangenen Briefe an die Mutter. Und
dabei spricht er mit großer Kälte von seiner Tat und mit demselben
Atemzuge ruft er die Liebe Gottes an und hofft auf die Gnade Jesu
Christi. Da fehlt jede Gedankenzucht, jeder logische Zusammenhang
und obendrein jedem Gedanken die reale äußere wie innere Grundlage.
Aus diesem Briefe wie aus dem an Hartmanns Eltern leuchtet
Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 105
wie aus seinem ganzen Auftreten zugleich eine große Gefühlsarmut,
aber auch zugleich eine entsetzliche Gefühlsentartung hervor, und
beides in Verbindung mit der oberflächlichen religiösen Schwärmerei,
dieich keineswegs für Heuchelei halte, kennzeichnet einen andern krank-
haften Zustand, den man moralischen Schwachsinn nennen könnte.
Sein exaltiertes Gefühlsleben haben die Richter und seine
Vorgesetzten hervorgehoben. Der Staatssekretär der Marine von
Tırrirz nannte ihn im Reichstage eine »aggressive Natur«, der nur
noch »versuchsweise in der Marine« geduldet würde, und seine Tat
eine »ungeheuerlichee. Nach dem Urteil seiner ausbildenden Offiziere
war er »leicht erregbar, schroff gegen Untergebene und bei Kameraden
wenig beliebt gewesen. Strenge Selbstzucht kannte er nicht und
seine Entlassung war ernstlich erwogen worden.« Mit dieser Charakte-
ristik stimmte überein, was nach der Tat über den Charakter und
das Vorleben des Angeklagten bekannt und festgestellt wurde, so daß
der Abgeordnete Lexzmaxv ihn unter dem Beifall des Reichstags »ein
Konglomerat von Dummheit, Gefühlsroheit und protziger Überhebung«
nannte. Man erklärte ihn für unfähig, minderwertig, offenbar unreif,
aufgeblasen und maßlos eitel. Sein Wesen sei affektiert, aufgeregt
jähzornig, sein Charakter unberechenbar. Daß aber alle diese Charakter-
fehler pathologischer Art waren, das haben alle übersehen. Die
#issener »Rhein.-Westf. Zeitung« beklagte zwar an dem Urteil, daß
es auf die psychologische Seite überhaupt nicht eingehe, daß man
sie bei Abmessung der Strafe gar nicht berücksichtigt habe. Aber
an das Psychopathologische dachte auch sie nicht. Auch die Ver-
teidigung hat nach den Zeitungsberichten nicht den Milderungsgrund
geltend gemacht, daß Hüssener zwar nicht unzurechnungsfähig
schlechthin, nicht geistesgestört, wohl aber von Haus aus mit psycho-
pathischen Herabminderungen schwer belastet war.
Die Gerichtsverhandlungen haben nach den Zeitungsberichten
nicht festgestellt, ob, bezw. inwieweit erbliche Belastung vorlag.
Aber die Geschichte seines Schullebens verrät dem Kenner schon
gewisse kindliche Nervosität mit seelischen Herabminderungen. Die
öffentliche Schule mußte er zeitweise aufgeben und mit wieviel
außergewöhnlichem Aufwande hat er es schließlich bis zum Sekundaner
gebracht! Nur günstige Vermögensverhältnisse und ähnliche Umstände
konnten ihn anscheinend zum Fähnrich befördern, und als solcher
wurde er auch nur versuchsweise geduldet. Schon als zwölfjähriger
Knabe warf er auf ein Mädchen, das hinter der Mauer seines elter-
lichen Grundstückes stand, einen Stock und zerstörte so das Auge
des Mädchens. Und etwa ein Jahr vor der denkwürdigen Osternacht
106 A. Abhandlungen.
bei der silbernen Hochzeit seiner Eltern hatte er nach dem Genuß
»schwerer Weine« mit dem Hotelier Streit angefangen, weil er sich
von ihm beleidigt glaubte. Als Hüssener von dem Leiter des
Kruppschen Hotels wegen ungebührlichen Benehmens zurechtgewiesen
war, ging er hinaus und schnallte seine Dolchkoppel um. Er betrat
dann wieder das Zimmer, sich an den Hotelier wendend mit den
dreisten Worten: »Bremer, kommen Sie einmal her«. Hätte dieser
nicht seine Ruhe vollkommen gewahrt, wer weiß ob nicht damals
schon Bremer das Schicksal Hartmanns zu teil wurde. Die darauf-
folgenden Vorgänge in Hüsseners Wohnung beweisen genug. Denn
von seinem verstorbenen Vater alsdann nach Hause geschickt, hat
er in einem Anfall sinnloser Wut dermaßen im Hause getobt und
das Mobiliar zerschlagen, daß die allein zu Hause verbliebenen Dienst-
mädchen durch die Fenster flüchten mußten. Er hatte sogar nach
der Pistole gegriffen, wenngleich er sie auch nur gegen die Wand
abgefeuert haben will. Diese doch wohl noch frische Erinnerung an
seine eigene Haltung hielt den Fähnrich aber nicht ab, sich moralisch
zu entrüsten, als der Zweijährige Hartmann in augenscheinlich
stark angeheiterter Stimmung eine Wirtschaft betreten wollte. In
einer dünkelhaften Wichtigtuerei verhaftete er den Soldaten und
schwindelte nun in wenigen Minuten in einem unangenehmen Ge-
misch von Unreife, Jähzorn und Instruktionswut die Situation jäh
zu einer dramatischen Höhe herauf, die mit dem Tode eines jungen
Menschen endete.
Das alles sind entschieden keine Zeichen von Charaktergesund-
heit. Gewiß können bei einem Nervengesunden auch schwere Ver-
gehen vorkommen, aber sie sind wesentlich anderer Art und ent-
springen andern Impulsen und andern Überlegungen.
Hüssener litt also wahrscheinlich schon von klein auf
an psychopathischen Herabminderungen, die mindestens
eine Mitursache, wenn nicht die treibende Ursache seiner
Handlungen waren.
Aber alle diese pathologischen Herabminderungen hätten nicht
zu solchen Taten geführt, wenn man sie zeitig genug gewertet
hätte. Ich bin sogar der Überzeugung, daß Hüssener dann noch ein
durchaus brauchbarer Offizier hätte werden können, ja daß die Mög-
lichkeit auch jetzt noch nicht ausgeschlossen wäre, wenn das Gericht
ihn anstatt auf Festung hinreichend lange in eine Heilanstalt ge-
schickt hätte. 1) Aber jetzt — so sagt die »Rhein.-Westf. Ztg.«e — »ver-
_——
1) Vergl. Dr. JULIUSBERGER a. a. O.
Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 107
gnügte Festungshaft, die weiter nicht viel Unannehmlichkeiten mit
sich bringt, als daß sie — ein ziemlich teurer Spaß ist.«e — Nichts
steht ihm formal im Wege, um weiter zu drillen, nichts steht ihm
formal im Wege, Offizier zu werden.<e Und wenn er es wird, dann
braucht man gerade kein psychiatrischer Prophet zu sein, um zu
weissagen, daß Schlimmeres noch folgen wird auf verantwortungs-
vollerem Posten. 1)
Im Hinblick auf die Gesellschaft erkannte auch der »Hamburger
Korrespondent« das Folgenschwere, das ja zum Teil schon eingetroffen
ist: »Der ganze erzieherische Wert des strafrechtlichen Einschreitens
gegen die Essener Bluttat ist jetzt vernichtet und die Rechtsprechung
der Marine befindet sich in schroffem Gegensatz zu dem Rechts-
bewußtsein der weitesten Kreise des deutschen Volkes. Fänden die
Reichstagswahlen morgen statt, so möchte es wohl sein, daß die Sozial-
demokratie noch eine halbe Million Stimmen mehr erhalten würde.«
Das ist jedoch nur die eine Seite Die andere ist die, daß
nach 1 Jahr und 6 Monaten Hüssener wieder auf die Gesellschaft
losgelassen wird, die ein Anrecht auf Schutz gegen ihn haben sollte.
Sein unverändertes Gebahren trägt er ja schon in Magdeburg nach
den Berichten der Tagespresse auf den Straßen und in Restaurants
öffentlich zur Schau. Die Strafe ist aber bloß Strafe und an sich
noch kein Heilmittel. Im Hinblick auf die Gesellschaft wie auf das
Individuum sollte aber das Endziel die Besserung sein und diesem
Ziel sollte man die Mittel anpassen.
Was hat dem nun aber das Verderbenbringende bei den Knaben
Hüssener und Fischer wie bei vielen andern jugendlichen Gesetzes-
übertretern ähnlicher Art zur Entfaltung gebracht?
Das war der Alkohol und wohl nur der Alkohol.
Ja, an den wissenschaftlich genau festgestellten Folgen der Alko-
holwirkungen können wir die ganze Skala von pathologischen Herab-
minderungen studieren, welche zum Gesetzesbruch durch Jugendliche
und namentlich zu Roheitsdelikten und zu Vergehen gegen Leib
und Leben führen und die wir auch bei Hüssener und Fischer
schon feststellten, während sie bei Goldberg bereits ein väterliches
Erbteil mit konstitutioneller Entartung bildeten.
Der Alkohol verschafft uns zunächst jene viel besungenen eupho-
rischen Gefühle; aber nur dadurch, daß er vorübergehend be-
schleunigend auf die Herztätigkeit und die gesamte Muskelfunktion
1) Erfreulicherweise ist Hüssener später (im November) dauernd aus der
Marine entlassen worden,
108 A. Abhandlungen.
wirkt, aber zugleich andauernd die Funktion der Gehirnzellen lähmt
und die Bewußtseinsvorgänge schwächt und hemmt. U. a. werden
nach dem Genuß von Alkohol die Sinnesorgane abgestumpft und es
wird die Auffassung und das Behalten erschwert. Das Denken wird
verlangsamt und die Denkleistungen werden quantitativ herabge-
mindert und qualitativ verschlechtert. Die willkürliche Perzeption,
die willkürliche Assoziation und die willkürliche Reproduktion
werden gelähmt und damit wird die Überlegung gehemmt. Infolge-
dessen nimmt die Fehlerhaftigkeit der seelischen Arbeitsleistung zu
und die Zuverlässigkeit ab. Die Verknüpfung der Vorstellungen er-
folgt nach Alkoholgenuß zudem mehr mechanisch nach rein äußeren
Zufälligkeiten und dem Klange der Worte und weniger nach innerem,
logischem Zusammenhange der Sachen und Tatsachen; darum nimmt
die Geschwätzigkeit zu und die Denkfähigkeit ab.
Der Gefühlszustand bleibt mehr von Zufälligkeiten abhängig.
Die feineren Gebilde des Gemütslebens werden allmählich zerstört.
Namentlich schwindet das sittliche Taktgefühl, die Freude an allem
Edlen und Hohen; dagegen wächst in der Regel das Interesse für
das Gemeine und Verwerfliche. Die sittlichen Begriffe werden kon-
fuser. Recht und Unrecht wird schwerer unterschieden. Die Wahl
des Guten wird erschwert. Die Grundsätze für ein sittliches Handeln
werden schwankender. Das ernste Wollen erschlaff. Der Mensch
demoralisiert.
Dagegen wird der Bewegungsdrang gesteigert, während die
Wahl der Bewegungen nach Zweckmäßigkeit große Einbuße
erleidet. Die Neigung zum unüberlegten und zwecklosen, impulsiven
und gewalttätigen Handeln macht so den veranlagten Alkoholisten
verbrecherfähig, den Gelegenheitstrinker gelegentlich, den Gewohn-
heitstrinker chronisch.!) Und das alles ist um so stärker der Fall, je
pathologischer, je abnormer der Betreffende veranlagt oder je unent-
wickelter sein Nervensystem, je jünger er ist.
Das sind feststehende, durch die Kraepelinsche Schule insbe-
sondere experimentell erwiesene Tatsachen. Der Trinker selbst hat
aber stets das gegenteilige, oft bis an Größenwahn grenzende Gefühl.
Und so erklären sich die oft rätselhaften Vorgänge in dem Gehirne
mancher jugendlichen Fähnriche und Studenten, ja die meisten Ge-
setzesübertretungen Jugendlicher schlechthin.
1) Bei pathologischen Naturen kann schon eine geringe Alkoholdosis zu Sinnes-
täuschungen und Wahnvorstellungen führen. Hüssener glaubte, Hartmann wie
Bremer hätte ihn angegriffen. Infolge dieser alkoholistischen Täuschung handelte er.
Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 109
Auch Hüssener wie Fischer litten neben den vielleicht schon
angeborenen nervösen Anlagen an diesen alkoholistischen Herab-
minderungen ihres Seelenlebens. Zudem waren sie bereits chronisch
geworden. Ihr Vorleben beweist das. Hüssener soll als Schüler —
was ja leider allgemein eher Regel als Ausnahme ist — schon Trinker
und Raucher gewesen sein. Bei der pathologischen Konstitution
brauchte er das natürlich nicht im landläufigen Sinne zu sein. Neu-
ropathen sind oft außergewöhnlich intolerant gegen den Alkohol, auch
wenn sie ihn sehr lieben. Ja es ist geradezu beachtenswert, daß Hüssener
auf der silbernen Hochzeit nicht für betrunken gehalten wurde. Auch
hörten wir nicht, daß er einer Begleitung vom Hotel nach Hause
bedurfte. Jeder Sachkenner wird jenes Benehmen aber nur als Folge
von Alkoholwirkungen bei Neuropathen erklären.
Bei den Gerichtsverhandlungen wurde Hüssener gefragt: » Waren
Sie an dem fraglichen Abend ganz nüchtern?« Hüssener antwortete:
»Jawohl. Ich war bei einem Bekannten und hatte dort nur sehr
wenig getrunken.« Was Hüssener unter »sehr wenige versteht,
wissen wir nicht. Wieviel das in jenen Kreisen aber zu sein pflegt,
offenbarte ein Zeuge.
Hartmann war von einer Kneipe in die andere gezogen. Sein
studentischer Begleiter, der Student L., hatte nach eigener Aussage
30 Glas Bier getrunken, Hartmann wohl nicht weniger. Daß er dabei
noch vollständig »Herr seiner Sinne« war, behauptete L., der sich
selbst nach dem Genusse dieses Alkoholquantums unter Zeugenaussage
noch für »>ganz nüchtern« hält. Auch mancher bereits im Rinnstein
Liegende hält nach dem bekannten Liede höchstens die Straße für
berauscht. Der Alkohol täuscht eben allerlei fehlende Kraftgefühle
vor, während hinreichend wissenschaftlich erwiesen ist, daß er auf
Leib und Seele stets Jähmend wirkt, schon beim Genuß kleiner Dosen,
wie sie etwa 2—3 Glas Bier enthalten. Bei pathologischen Naturen
genügen solche kleinen Mengen, um Affekte auszulösen, die Hand-
lungen mit ungewolltem und unvorhergesehenem Ausgange zur Folge
haben.
Der Alkoholgenuß erklärt auch völlig den Widerspruch in der
Aussage. Hartmann hatte ihn angegriffen — wie früher der Hotelier
— glaubte Hüssener. Der Student L. behauptet das Gegenteil. Beide
werden subjektiv ihre Überzeugung ausgesprochen haben; der Alkohol
vermehrt eben die Fehlerhaftigkeit der Erinnerungen, so daß man
jemand, der 20, ja auch nur etliche Glas Bier getrunken, überhaupt
nicht als Zeugen zulassen, wenigstens nicht vereidigen sollte.
Pathologisch Belastete geraten zudem nach Alkoholgenuß oft in
110 A. Abhandlungen.
eine Art von Verfolgungswahn. Aber auch Gesunde fühlen sich von
wahrnelimbaren Personen gereizt und bedroht und lassen sich dann
zu unerwarteten, impulsiven und verhängnisvollen Handlungen fort-
reißen, wovon das zahlreiche Ankontrahieren der Studenten ja Bei-
spiele in Fülle sind, und das tragische Duell Thieme-Held in Jena
samt den Vorgängen in den Offizierskreisen in Insterburg, Mörchingen
und Forbach lieferten ja der Öffentlichkeit solche Gegenstücke zu
dem Falle Hüssener.
So wenig Hüssener auch von Reue gepackt war, in einer Hinsicht
ist er in der Haft doch ernüchtert worden: er klagt sich an und
verspricht Besserung, indem er der Mutter schreibt: »Ich werde,
wenn ich erst entlassen bin, Nichtraucherund Abstinenzler
werden.«e Als er die Tat beging, da war er um Mitternacht »nicht
mehr beim ersten Glas« und dachte und fühlte darum anders. Sonst
wäre der geschliffene Dolch trotz der vorerwähnten pathologischen
Ursachen ohne Frage in der Scheide geblieben.
Viel wichtiger ist es darum in der Instruktion, die
Fähnriche vor dem Mißbrauch des Alkohols als vor dem
des Dolches zu warnen, so wichtig dieses selbstverständlich auch
sein mag.
Abstinenz in Alkohol und Nikotin sollte die Jugend
von vornherein und grundsätzlich üben, nicht erst wenn sie
aus dem Gefängnisse entlassen wird. Hier übe man Fürsorge, dann
gibt es keine Nachsorge. Leider ist aber der Alkoholmißbrauch auch
in gebildeten Kreisen, erst recht für Einjährige und Fähnriche, noch
immer ein Zwang. Jemand zur Selbstschädigung, zur Selbstvergiftung
zu zwingen, ist aber doch genau besehen etwas, was weit eher vor
den Strafrichter gehört, als das Aufheben von ein paar Äpfeln seitens
12 jähriger Knaben.
Hüssener wie Fischer waren also nicht unzurechnungsfähig
schlechthin, nicht geistesgestört, wohl aber mit psychopathischen
Minderwertigkeiten behaftet, und diesen Zustand steigerten die Trink-
sitten zum pathologischen Verbrechen.
Keineswegs soll aber damit für Milderung des Urteils plädiert
oder besser gesagt: das einmütig angefochtene milde Urteil gerecht-
fertigt werden. Auch der Abnorme darf keinen Freibrief für
das Verbrechertum erhalten; im Gegenteil muß die Gesellschaft
gegen ihn doppelt geschützt werden. Aber das milde Urteil so be-
gründet, hätte nicht den Sturm der Entrüstung im deutschen Volke
hervorgerufen.
Wir haben den Fall auch nicht zergliedert, um das Urteil zu
BernHart: Medizin und Pädagogik. 111
kritisieren, sondern nur um die Notwendigkeit des Studiums des
Pathologischen bei den Gesetzesverletzungen der Jugendlichen und
um die Notwendigkeit einer größeren Vorsorge darzutun. Würde
man z. B. auf Grund besserer und rechtzeitiger Einsicht dieselbe
Sorgfalt auf die Gesundung und Kräftigung reizbar-schwacher Nerven
einerseits und auf die Entfaltung des Ethos andrerseits legen, wie
man sie auf die Aneignung des examinierbaren Scheinwissens allerlei
Art verwendet, dann hätte vielleicht auch noch aus einem Hüssener
ein relativ brauchbarer Seeoffizier werden können. Das Verbrechen
würde er dann wenigstens nicht begangen haben und die Erbitterung
von Millionen gegen Heer und Marine wie gegen die Rechtspflege
hätte nicht Platz gegriffen. (Schluß folgt.)
2. Medizin und Pädagogik
u.
Wir geben zunächst Herrn Dr. med. BeryHart in Frankenthal
Raum für eine durchaus sachlich gehaltene Entgegnung auf unsern
letzten Artikel,!) wozu ich meine Gegenäußerungen am Schlusse in
Anmerkungen folgen lasse.
Auf die Angriffe anderer Art von Herrn Dr. phil. et med.
Weyseaxpr in der »Psychiatrischen Wochenschrift« wie von Herrn
Sanitätsrat Dr. med. L. Jenz in der »Krankenpflege« kann ich wegen
Raummangel leider erst in nächster Nummer antworten.
1. Medizin und Pädagogik in der Idiotenanstalt.
Von Dr. med. Bernhart in Frankenthal.
Unter dem angeführten Titel veröffentlichte ich im vorjährigen Mai-
hefte des »Vereinsblattes der Pfälzischen Ärzte« einen kurzen Aufsatz, den
Herr Institutsdirektor Trüper kürzlich an dieser Stelle in seiner Abhand-
lung »Medizin und Pädagogik« zum Abdrucke brachte und mit kritischen
Bemerkungen versah. Bevor ich zu dem letzteren meinerseits das Wort
ergreife, möchte ich hervorheben, daß ich es durchaus nicht »unter meiner
Standeswürde« finde, mich mit Pädagogen in eine Disputation einzulassen,
und daß ich auch nicht aus Sucht nach materiellen Vorteilen mich der
Idioten- und Epileptikerpflege zuwandte, sondern weil ich als Pyschiater
besonders in foro es als großen Mangel empfand, über die genannten
Kranken nicht die gleichen Erfahrungen zu besitzen, wie über andere
Neuro- und Psychopathische. Noch mehr aber liegt es mir ferne die
Pädagogik der Botmäßigkeit des Mediziners zu unterwerfen, wenn ich auch
leider im Gegensatze zu meinem Herrn Kritiker dabei stehen bleiben muß,
1) Jahrg. 1903. S. 271 ff.
112 A. Abhandlungen.
daß nur ein psychiatrisch ausgebildeter Arzt in der Lage ist, die Leitung
einer Idioten- oder Epileptikeranstalt zu übernehmen. (1) Es geschieht dies
aus folgender Erwägung:
Idioten und Epileptiker sind Kranke und bedürfen als solche in
erster Linie des Arztes. (2) Wenn auch tatsächlich, wie Pellmann meint, bei
vielen von ihnen »die heilende Tätigkeit des Arztes keinen Boden mehr
findet«, so hat jener doch an ihnen das vorzüglichste Gebot der Medizin
zu erfüllen, den Kranken vor jeder Schädigung zu schützen und seine
Lebenslage so zu gestalten, daß er sein Übel möglıchst wenig empfindet. (3)
Wollte man allen unheilbar Kranken den Arzt entziehen, dann würde wohl
die Daseinsberechtigung der gesamten Medizin aufs Spiel gesetzt. (4) So
aber geben gerade die als unheilbar geltenden Krankheiten den Sporn ab
zu immer neuen Forschungen und es ist sehr wenig im Interesse der
Wissenschaft gelegen, von praktischen Gesichtspunkten abhängig zu machen,
was sie in den Kreis ihrer Untersuchungen mit einbeziehen soll. (5) Die
verschiedenen Formen von Idiotie und Epilepsie haben mit gewissen
anderen psychopathischen Zuständen die Ätiologie gemeinsam und unter-
scheiden sich von diesen nur durch die Entwicklungsstufe, auf der der
Organismus von einer krankmachenden Ursache befallen wird bezw. durch
die Intensität und Extensität, mit der die Schädigung im Zentralnerven-
systeme um sich greift.!) Wollte es nun die Psychiatrie noch länger
verschmähen, sich den beiden Gebieten im gleichen Maße und unter den
gleichen äußeren Bedingungen zu widmen, wie den übrigen, so würde sie un-
fehlbar einer sehr verhängnisvollen Einseitigkeit verfallen. (6) Nach meiner
Meinung ist es daher höchste Zeit, daß mit der Gepflogenheit, Epileptiker
und Idioten nicht in Irrenanstalten aufzunehmen, endlich einmal gebrochen
wird, um so mehr diese Anstalten schon seit geraumer Frist den Charakter
reiner Heilanstalten verloren haben und der Ausschluß genannter Kranken
nicht einmal mehr aus praktischen Gründen gerechtfertigt ist. Ich glaube
auch nicht, daß durch eine derartige Maßnahme die Pädagogen zu kurz
kommen, da es ihnen nur erwünscht sein kann, an nach der Pubertät
geistig Erkrankten die intakt gebliebenen Überbleibsel des Seelenlebens
kennen und beeinflussen zu lernen, um dann mit den gewonnenen heilpäda-
gogischen Erfahrungen ihren in mancher Irrenanstalt bis jetzt ein recht über-
flüssiges Dasein führenden Kollegen unter die Arme greifen zu können.
Die Idioten und Epileptiker aber würden durch ihre Aufnahme in psy-
chiatrisch geleitete Anstalten einer ausgesprochen spezialistischen Behand-
lung teilhaftig werden, wie sie Nichtärzte, und seien sie die gewiegtesten
Pädagogen, nie und nimmer zu bieten vermögen. (7)
Durchaus muß ich der Aufstellung Trüpers widersprechen, als hätte
an dem Schiffbruche, den Mariaberg in der Irrenpflege erlitt, der Umstand
schuld, daß die Leitung der Anstalt in den Händen gerade eines katho-
lischen Ordens gelegen war. Die Alexianer haben einfach die Regel
außer acht gelassen: »Schuster bleib’ bei deinem Leisten, « und würden Philo-
1) Vorgl. meinen Aufsatz: »Zur Klassifikation der Idiotie und Psychoneurosen«,
Zeitschrift für Psychiatrie usw. Bd. 58.
BeErnHArT: Medizin und Pädagogik 113
sophen, für die Kant die Psychiatrie in Anspruch nahm, sich an deren
Stelle befunden haben, sie wären zu keinen anderen Resultaten gekommen. (8)
Der rettende Gedanke, der die Psychopathischen in ihre Menschenrechte
einsetzte, entsprang der Erkenntnis, daß die Geistesgestörten insgesamt
körperlich Kranke sind. Bannerträger dieser Erkenntnis sind von jeher und
können nur Ärzte sein. (9) Ärzte werden auch fürderhin die Ausnahme-
stellung geistig Abnormer in den mythisch-religiösen, wie in den rechtlich-
sittlichen Gemeinschaften den Theologen und Juristen gegenüber zu wahren
haben, nicht minder aber auch den Erziehern und Lehrern die gesicherten
Ergebnisse physiologischer und hygienischer Forschung vor Augen halten
und dafür Sorge tragen müssen, daß keine pädagogische Einwirkung an
ein erkranktes Nervensystem herantritt, die für dasselbe einen Nachteil
befürchten läßt. (10)
Das Ideal wäre ja wohl, wenn im Vorstande einer Idiotenanstalt der
Arzt und Pädagoge zu vereinigen wäre, allein die Kunst ist lang, das
Leben kurz, und wenn nicht irgend ein Genie auftritt, das »lebendig
empfindet, was die Wissenschaft bei den Toten sucht«, so wird es mit
einer exakten Heilpädagogik noch gute Wege haben. (11) Vielleicht gelingt
es zuvor eine geeignete Prophylaxe der Idiotie zur Durchführung zu bringen
und deren Therapie in fruchtbarere Bahnen zu lenken, was alles andere
überflüssig machen würde; hierzu muß es um so eher kommen, je eher
sich die Psychiatrie dazu bequemt, sich in einer der Wichtigkeit der
Sache entsprechenden Weise mit der Idiotie zu beschäftigen und je früher
aus den Idiotenanstalten das durchaus unzulängiiche Institut der Hausärzte
verschwindet, die ihren Namen sehr oft davon führen, daß sie ihren eigent-
lichen Wirkungskreis gar nicht »im Hause« haben.
Hierauf erwidere ich: |
Zu 1. Alles im ersten Absatz Gesagte steht in keinem Gegen-
satze zu meinen Ausführungen. Eingehend dargelegt habe ich aber,
daß es nicht im Interesse der Abnormen aller Art liegt, namentlich
solange die Erziehung im Vordergrunde der Fürsorge steht, zu sagen:
»nur« ein Arzt ist in der Lage. Statt dessen wolle man lieber vor
allen Beteiligten feststellen, was läßt sich in Wirklichkeit für die
Unglücklichen noch tun und was muß man als Mindestmaß davon
für jede öffentliche Anstalt fordern. Dann mag doch die Erfahrung
entscheiden und es mögen die nächsten Interessenten bestimmen,
wem sie die Leitung einer Anstalt anvertrauen wollen; denn sie ist
weder für den Arzt noch für den Lehrer, sondern für die Unglück-
lichen da.
Zu 2. Wersaxor behauptet mit demselben Recht, auch die Kurz-
sichtigen sind Kranke. Mithin müßten Schulen mit Kurzsichtigen,
desgleichen mit Taubstummen, Blinden usw. vom Arzte nicht bloß
beraten, sondern geleitet werden.
Dio Kinderfchler. IX. Jahrgang. S
114 A. Abhandlungen.
Zu 3. Wer hätte dieses Gebot den Unglücklichen gegenüber
nicht zu erfüllen?
Zu 4. Wer will das?
Zu 5. Fürsorgeanstalten haben zunächst nicht die Aufgabe zu
forschen, sondern zu versorgen, zu erziehen, zu bilden und, wo es
geht, zu heilen. Die Forschung ist zunächst Sache der Wissenschaft,
in erster Linie der Universitäten unter den Anstalten, wobei es selbst-
verständlich ein Verdienst bleibt, wenn nach wie vor die Leiter wie
die Hausärzte, Lehrer und Seelsorger an Fürsorgeanstalten mit
forschen. Aber jene Frage kann unmöglich von diesem Gesichts-
punkte aus entschieden werden.
Zu 6. Das habe ich vor Jahren schon nachdrücklich betont und
sogar eine Abteilung für psychopathische Kinder in der psychiatri-
schen Klinik gefordert, wogegen mir ein namhafter Psychiater wohl
beachtenswerte humanitäre Bedenken geltend machte. Auch den
Verein für Kinderforschung haben wir aus gleichem Wunsche ins
Leben gerufen.
Zu 7. Wo es sich um Fälle handelt, bei denen die Heilbehand-
lung oder die ausgesprochene Krankenpflege wichtiger als die Er-
ziehung ist, bin ich durchaus damit einverstanden und habe Eltern
stets in diesem Sinne Rat erteilt.
Zu 8. Das letzte ist entschieden zu viel behauptet. Ich habe
auch nur für die Pädagogik, nicht für die Philologie, gefordert, was
ihr naturgemäß gehört, und habe nachdrücklich dagegen Verwahrung
einlegen wollen, daß man, wie es von ärztlicher Seite wiederholt ge-
schehen, Mariaberg der nachreformatorischen Pädagogik zur Last lege.
Man wollte mit diesen und ähnlichen Vorfällen beweisen, die Päda-
gogen seien unfähig für die Leitung. Dann kann ich auch mit
NARDENKÖTTER und Genossen, die als Apotheker und Ärzte »appro-
biert«, also keine »Kurpfuscher« waren, viel eher die Unfähigkeit der
Medizin beweisen. Aber es wäre Blödsinn, diese den Ärzten an-
hängen zu wollen. Zudem war ja auch in Mariaberg ein verantwort-
licher Hausarzt. Überhaupt sollte man mit solchen abnormen Bei-
spielen keine prinzipielle Frage lösen wollen.
Zu 9. Das »nur« ist auch hier nicht am Platze. Es war nicht
die Medizin, sondern genau besehen die Naturforschung, welche diese
Erkenntnis schuf, die aber in demselben Maße Grundlage der Päda-
gogik sein sollte, wie sie es bei der Medizin längst ist. Sie würde
es auch längst sein, wenn die Staatsverwaltung dasselbe für die Päda-
gogik wie für die Medizin täte. Zudem steckte der »rettende Gedanke«
seit 1900 Jahren ganz wo anders als in dieser Hypothese.
Herder und die Kindesseele. 115
Zu 10. Auch das ist ebenso einseitig geurteilt. Mein vorstehen-
der Vortrag liefert dafür einen Gegenbeweis.
Zu 1. Wir sind damit eben soweit vorgeschritten wie mit der
eigentlichen »Medizin«. So wechselnd wie hier dieselben Heilmittel
bald angepriesen und bald verdammt werden, sind dort die Methoden
nie gewesen, noch ist die Reklame für die angeblichen Heilmittel auf
heilpädagogischem Gebiete jemals eine so schwindelhafte gewesen.
Es liegt also absolut kein Grund vor, hier absprechend zu urteilen.
In Summa: Wenn Herr Dr. BeryHuArt der Pädagogik und dem
Lehrer das zubilligen will, was wir der Medizin und dem Arzte gerne
zuerkennen, dann sind wir uns einig. Sein Ideal wird dann hier in
dem Arzt und dort in dem Lehrer sich bald mehr, bald weniger ver-
wirklichen. Das erstreben wir hier mit unserer ganzen Arbeit.
mnnmunte
B. Mitteilungen.
1. Herder und die Kindesseele.
(Zum hundertsten Todestage des Dichters.)
Von Prof. Dr. Leo Langer in Villach (Kärnten).
Wie Klopstock, der durch die Macht seiner dichterischen Persönlich-
keit und den originellen Schwung seines »Messias« am Beginne des acht-
zehnten Jahrhunderts selbst zu einem Messias wurde, zu einem Wecker
des deutschen Geistes, der in den sklavischen Banden der Nachahmuns
schmachtete, und wie dieser Befreier in der raschen Entwicklung der er-
lösten Dichtung vergessen wurde, so war Herder, dem man heutzutage
nicht mehr die gebührende Wertschätzung zuteil werden läßt, ein Pfad-
finder auf mannigfachen Gebieten. Wenn er mit seinem Zauberstabe auf
harten Fels schlug, es strömte ein reicher Quell hervor, aus dem ein
mächtiger Strom wurde, befruchtend und die Landschaft belebend. Mächtige
Städte und reicher Gewerbfleiß erblühten an diesen Strömen, den Zauberer
aber, der den Quell aus totem Steine lockte, hat man vergessen. Herder
hat die literarische Ästhetik gefördert, er hat der vergleichenden Sprach-
forschung ihre Bahnen gewiesen, er schritt vor Hegel auf dem Gebiete
der Geschichtsphilosophie, er war Naturphilosoph vor Schelling, er hat
vor R. Ritter die wissenschaftliche Erdkunde angeregt, Bibelforschung und
Homerkritik, Shakespeare- und Homerübersetzung, Germanistik und orien-
talische Philologie, selbst der Darwinismus fanden in ihm einen genialen
Erwecker. Die größte Bedeutung hat aber Herder auf pädagogischem
Gebiete, denn hier konnte er seine reiche Begabung auf einem lebendigen
Übungsfelde erproben. Jedoch nicht das gesamte pädagogische System
Herders, das sich auf die Volksschule und das Gymnasium erstreckt
und eine Realschule zu schaffen versucht, soll dieses Gedenkblatt be-
8*
116 B. Mitteilungen.
handeln, es soll nur des edlen Menschenfreundes und Humanitätsapostels
Vertiefung in das Geheimnis der Kindesseele gewürdigt werden. Denn
einmal ist diese Seelenkunde die Grundlage jedes wissenschaftlichen päda-
gogischen Systems und dann zeigt sie uns den Dichter von seiner ge-
mütvollen Seite, denn seine reizbare Natur, die vielfachen Lebenstäuschungen,
die Unzufriedenheit mit seinen Stellungen, der Zwiespalt seiner theologischen
und philosophischen Anschauungen und nicht zum mindesten sein Ver-
hältnis zu den Weimarer Größen haben sein Charakterbild getrübt. Seine
Liebe zu den Kindern, sein Verständnis für deren Freuden und Leiden
sollen all die Schattenseiten seines Wesens überstrahlen.
Unserem Dichter war es sein ganzes Leben lang beschieden, zu
lehren, in Möhrungen, wo er bisweilen seinen Vater vertrat, in Königs-
berg, wo man in den Anfänger volles Vertrauen setzte, in Riga, Bücke-
burg und Weimar, auf keiner Stufe seiner Lehrerlaufbahn wandelte er auf
ausgefahrenen Geleisen weiter, er blieb immer, was er schon als Stürmer
und Dränger gewesen — originell, er hat auch hier mit ahnungsvollem
Geiste uns einen Ausblick in die künftige Gestaltung des Unterrichts-
betriebes geboten, er hat vieles angedeutet, was die Pädagogik der Gegen-
wart besitzt oder doch erstrebt. Und er fand Befriedigung in dem Ver-
kehre mit der Jugend, schreibt er doch am 26. April 1784 an Gleim:
»Täglich komme ich mehr darauf zurück, daß die Wissenschaft und tät-
licbe Bildung anderer, insonderheit der Jugend, das reellste Geschäft meines
Standes sei, worin man, wenn man das Glück echter Unterstützung ge-
nießt, allein Befriedigung hoffen und finden mag.« Wie sehr er aber
selbst durch die Macht seiner wertvollen Persönlichkeit trotz aller Launen
und Schrullen auf junge Gemüter zu wirken vermochte, beweist wohl am
besten Goethes Beispiel, beweisen Zeugnisse seiner Schüler. »Herders
Nähe«, schreibt Fr. Peucer, der in Weimar Herders Schüler gewesen
und nachmals daselbst sein Nachfolger wurde, »war wohltuend wie die
Frühlingssonne. Mit unbeschreiblicher Liebe und Ehrfurcht hingen sämt-
liche Schüler an ihm und jedes Wort, das er sprach, war ein Orakel-
spruch.« (»Weimarische Blätter« S. 624). — Und wer hätte auch mehr
in sich den Beruf gefühlt, als Anwalt der verkannten, mißhandelten, ge-
quälten, durch falsche Methoden verbildeten Kindesseele aufzutreten und
mit heiligem Eifer gegen jene sein Wort zu erheben, die sich dieser
größten Sünde an der Menschheit schuldig machten? Trug er doch selbst
eine solche gequälte Seele in der Brust, die unter Grims und besonders
Treschos unbeiliger Hand gelitten hatte. Und den Fluch einer lichtlosen,
freudearmen Jugend nahm er mit in das Leben, das ihm nie mehr völlige
Seelenruhe zu bieten vermochte. Mit Blut möchte er die Erinnerung an
die Knechtschaft seiner Jugend abwaschen und an eine Stelle in einem
Briefe Treschos knüpft er das erbitterte Epigramm: ...
»Ja Dank! Du warst der Stock, der starr das Bäumchen bog,
Der Rosenstrauch, der sie, die Rose, auferzog,
Das Marterkreuz, an dem der Engel aufwärts flogl«
So lernte Herder aus eigenem Leide den Wert der Kindesseele
schätzen. Selbsterlebtes scheint er den Weimarer Lehrern ans Herz zu
Herder und die Kindesseele. 117
legen, wenn er sie in seiner Rede von der Grazie in der Schule warnt,
die wertvollen Seelen der ihnen anvertrauten Jugend zu verderben, indem
sie selbst die Grazie der Selbstbeherrschung verlieren. (H.!) 16, 18.)
»Maxima debetur puero reverentia — et cura«, ruft er in einer anderen An-
sprache aus (»Von der Scheu und Achtung der Lehrer...« H. 16, 91)
und er begründet es damit, daß die Jugend der größte Schatz des Staates
sei, in ihr weiches Gemüt drücke sich alles Gute und Schlechte ein,
schon in den Schuljahren könnte ihre Seele verderben. »Nun aber haben
Eltern nichts Werteres als ihre Kinder, der Mensch hat nichts Schöneres
als seine Jugend. Ist diese verloren, so hat er sein Bestes verloren; ist
zu dieser Zeit seine Seele gekränkt oder vernachlässigt, gekrümmt, er-
mattet und schlaff geworden, so ermuntert und erholt er sich kaum wieder.
Brich du diesem jungen Gewächs sein Herzblatt ab, zerknicke seinen jungen
aufstrebenden Wuchs: Du wirst es bald verwelkt, oder, so lange es da
ist, wirst du vielleicht eine armselige Pflanze an ihm bedauern.«< Den-
selben Vergleich mit einer Blume finden wir auch in der Abhandlung
»über den Wert morgenländischer Erzählungen zur Bildung der Jugend«
(H. 6, 178.) Wie eine Knospe breche die Kindheit hervor, um später zu
reifen. Sie ahne viel, denn sie kenne noch wenig, sie hoffe viel, denn
sie habe noch keine Schranken gefunden. Dank gebühre dem Schöpfer
für diesen Morgen voll schöner Bilder, für dies Paradies unschuldiger
Hoffnungen und Wünsche. Das Jünglingsalter — ist »Das Alter der
Graziee und zu dessen Schutze beruft er sich auf Christi Wort: »Heilig
ist eine jugendliche Seele, die obersten Engel des Himmels sind ihre
Diener und Schutzgeister auf Erden; in dem reinen jugendlichen Antlitz
einer Kindesseele schauen sie Gott!« (»Von der Heiligkeit der Schulen«
H. 16, 217.) Und so bat er denn auch seiner bekannten Legende »Der
gerettete Jüngling« das denkwürdige Wahrwort vorgesetzt:
»Eine schöne Menschenseele finden,
Ist Gewinn, ein schönerer Gewinn ist
Sie erhalten, und der schönst’ und schwerste,
Sie, die schon verloren war, zu retten.«
Seine Liebe für das Kind gibt sich auch darin kund, daß er nicht
müde wird, das Erhabene der Muttertreue zu schildern, daß er die Jugend
immer und immer zu belebenden Vergleichen heranzieht oder mit warmer
Anteilnahme einzelne Kindergestalten und liebliche Kindergruppen be-
trachtet. Er war ja selbst ein liebevoller Vater, seine Karoline eine
wackere Mutter und so sagt er mit innerster Überzeugung: »Das Verlangen
der Mutter nach Kindern ist die schönste Sehnsucht« (»Liebe und Selbst-
heit« in den »Zerstr. Bl.« H. 15, 44) und
»O Lust! sein Kind ans Herz zu drücken,
Von süßen Regungen sanft beseelt«
(»An R. Erstgebornen«).
Und mit Freude übersetzt er Filicajas 156. Sonett »Die Vorsehung«,
1) Nach der volkstümlichen Hempelschen Ausg.
118 B. Mitteilungen.
das einen lieblichen Vergleich enthält, der in dem Herzen des Kinder-
freundes wärmsten Nachhall fand.
» Wie die Mutter, wenn sie ihre Kinder
Um sich siehet, liebevoll sie anblickt,
Diesem einen Kuß auf Stirn und Wange,
Jenes sich ans Herz drückt und ein andres,
Auf den Schoß hebt, auf den Knieen wieget,
Und indem sie ihrer aller Wünsche
In den Blicken, in Geberden lieset
Gibt sie jedem etwas, dem ein Lächeln,
Dem ein süßes Wort, dem dritten zürnt sie,
Scheint zu zürnen und hat ihn am liebsten:
So ist uns die mütterliche Vorsicht.«
Bald läßt er das Kind zu seinem eigenen Glücke sterben, von
Himmelsträumen umschwebt (»Die Geschwister«), bald zaubert er das
Bild eines frisch und wissensfreudig antwortenden Knaben vor unsere
Blicke. »O, wenn Jünglinge wüßten, wie schön, wie reizend es sei, wenn
sie sich in ihrer licbenswürdigsten Gestalt zeigen! Wenn auf eine Frage,
ja nur auf den leichten Wink einer Frage die Antwort leicht, jugendlich,
klar, wohlgebildet in Gedanken und Worten, als ein schöner Abdruck
ihrer Seele ohne Mühe hervortritt und wie eine bescheidene Minerva da-
steht!« (»Von den förderlichen Schulübungen« H. 16, 47.) Auch in der
antiken Kunst und Dichtung (»Humanitätsbriefe« 6. Samml.) sucht er
nach rührenden Kindergestalten und ähnlichen Motiven. Herkules an der
Brust der Juno und die schönen spielenden Kinder, welche die griechische
Kunst schuf, erscheinen ihm als ein rührender Vorwurf. »Diese Vor-
stellung setzt uns jedesmal in das Leben der Kinder, in die unschuldigen
Vergnügungen der Kirdesjahre. Ihre Natur atmet die volle Gesundheit,
die offne Fröhlichkeit, die uns Kinder so lieb macht.« Und so haben
auch die Griechen in ihrer künstlerischen Naivität trefflich die Jünglings-
gestalt, »die Blüte der Menschheit«, gedacht und gebildet. Ebenso schufen
die Dichter rührende Kindergestalten an Niobes und Medeas Seite, Ana-
kreon verdanken wir die reizenden Amoretten, spielend und schlummernd,
Blumen brechend, Schmetterlinge verfolgend, mit Tauben tändelnd — und
eine Psyche küssend. —
Aber dieser moderne Geist ging noch einen Schritt weiter. Schul-
dramen, wie sie im 16. und 17. Jahrhunderte blühten, wollte er nicht das
Wort reden, wohl aber wollte er die Kindesseele mit ihren Freuden, Leiden
und Taten auf der Bühne sehen und er wies auf Teren und Diderot und
Lessings »Philotas. »O ihr Kunstrichter und kritischen Köpfe, ruft er
eifernd aus, »wollet immer keinen kindischen Jüngling, keinen Helden-
knaben, wollet lieber einen altklugen Blödsinnigen, kurz keinen Philotas!...
Und gäbe es also kein Jünglingsdrama, wo eine jugendliche Situation, deren
es so viele gibt, die Anlage, ein Jünglingscharakter die vornehniste Trieb-
feder und also vielleicht mıt andern Eingeflochtnen Hauptakteur wäre?«
(»Über Abbts Schriften« H. 24, 246.) Daß man in der Gegenwart die
Kindesseele oft genug zum Gegenstande der Dichtung gemacht hat, brauche
Herder und die Kindesseele. 119
u m e
ich nicht zu erwähnen;!) auch hier hat Herder ahnungsvoll in die Zu-
kunft gewiesen.
Herder war aber auch ein nachempfindendes Talent. Er hat mit
Meisterschaft den Volkston getroffen, ihm war die blumige Sprache des
Orients geläufig, Ossians herbe, nebelhafte Gebilde vertraut, er sang mit
den spanischen Romanzen um die Wette, er hatte aber auch die schwierige
Gabe, mit den Kindern kindlich zu sprechen, ihr Seelenleben also nicht
bloß von der Höhe psychologischer Forschung zu ergründen, sondern auch
sich zu ihnen herabzulassen und ihrer Gefühls- und Gedankenwelt zu
folgen. Herzig ist sein Kinderlield »Der erste Nachtigallen-Ausflug«, in
dem er die gemütvolle Anteilnahme der Kleinen für das Geschick der in
ein Netz verstrickten jungen Nachtigall verwertet, eine Verbindung von
Kindesseele und Tierseele, wie wir sie heute bei Kipling, Thompson und
unserer Eschenbach wiederfinden, wahre Perlen aber sind die Briefe, die
Herder aus Rom an seine Kinder schrieb. Trefflich weiß er sich ihrer
Individualität anzupassen, Gottfried erhält einen Bericht über römische
Altertümer, August über schöne Götter und Göttinnen, dem braven Wilhelm
erzählt er von Gebäuden, dem naturfreundlichen Adelbert von italienischen
Ochsen, Kühen, Bäumchen, dem lieben Luischen von Gärten und Bildern,
dem kleinen Emil endlich von Weintrauben und ähnlichen schönen Sachen.
Und immer ist der Stil dem Gegenstande und dem Kinde angepaßt, durch
kindliche Fragen und Einwürfe belebt, voll behaglicher Breite, wie es die
Kinder lieben und ohne aufdringliche Lehrhaftigkeit.
So liebte Herder die Kinder und ihre reine, bildsame Seele. Doch
er ging an seine Aufgabe nicht bloß mit gemütvoller Anteilnahme,
sondern näherte sich ihr mit dem gauzen Rüstzeug psychologischer Be-
gründung. Er wußte ja auch in der Volksseele zu lesen, seine geschichts-
philosophischen Ideen allein zeugen für seine Seelenkunde, er vertiefte sich
aber auch sonst in ästhetische Fragen mannigfacher Art, schrieb über
»Erkennen und Empfinden der menschlichen Secle«, erklärte in den »Frag-
menten« die Psychologie für die »Deutsche Hauptwissenschaft«, der Plato,
Baco und Locke die ersten Materialien geliefert hätten (»Fragm.« III, 213),
arbeitete an einer Abhandlung über Verjüngung und Veraltung der mensch-
lichen Seele, wandte immer die Gesetze der Verstandes- und Gefühls-
entwicklung an, so z. B. auch in meisterhafter Weise bei seinen Unter-
weisungen in der Stillehre (»Über die Prosa des guten Verstandes«), kurz
er war mit Recht und mit Stolz »ein Biograph der Sceles. (»Über Abbts
Schriften«.)
Seine Fürsorge für die Kindesseele und deren Heil beginnt bei dem
Säuglinge, dessen Unbeholfenheit er bedauert, dessen drückende Bande er
als ein Sinnbild der ewigen menschlichen Kneclıtschaft betrachtet.
»Wer ist der kleine Sklave, der in Banden
Aus diesem frühen Sarge Klagen weint?
—,— —- —_ D- 1
1) Vergl. meinen Aufsatz »Marie Ebner von Eschenbach und die Kindesseele«
in der 125. Beilage zur Allg. Ztg.
120 B. Mitteilungen.
Ein Mensch? O löset ihn, macht frei ihn von den Banden;
Wer Seufzer hemmet, ist ein Menschenfeind.
Der Wurm darf sich im Staube winden,
Das Lamm hüpft um die Mutter her;
Und ihn umhüllen Binden,
Zwangfesseln eng und schwer.« (»Der Säugling.«)
In den »Ideen« (1V, 4) verfolgt Herder kurz die Entwicklungs-
stufen des Kindes. Schwächer als das Tier kommt der Mensch zur Welt,
er bleibt lange schwach, »denn sein Gliederbau ist dem Haupte zu-
erschaffen worden.... Ehe das Kind gehen lernt, lernt es sehen, hören,
greifen und die feinste Mechanik und Meßkunst dieser Sinne üben....
Seine feinsten Sinne, Auge und Ohr, erwachen zuerst und werden durch
Gestalten und Töne geleitet. Allmählich entfaltet sich sein Gesicht und
hangt am Auge der Menschen um ihn her, wie sein Ohr an der Sprache
der Menschen hangt und durch ihre Hilfe die ersten Begriffe unterscheiden
lernet. Und so lernt seine Hand allmählich greifen; nun erst streben
seine Glieder nach eigner Übung...« Er spricht von der Entwicklung
des Gefühles in seiner Abhandlung »Vom Gefühl des Schönen in der
Plastik« (19. Abschn.), er bringt diese Beobachtungen, denen W. Preyer
in seiner »Seele des Kindes« wissenschaftliche Fassung verlieh (Leipzig
18811, 1884?, 1890), in poetische Form in dem Fragmente »Das Ich«.
Ohne den Selbstbegriff erblickt der Mensch die Welt, so saget man,
»Du erblicktest sie noch nicht; sie sahe dich,
Von Deiner Mutter lange noch ein Teil,
Der ihren Atem, ihre Küsse trank,
Und an dem Lebensquell, an ihrer Brust,
Empfindung lernete. Sie trennte dich
Allmählich von der Mutter, eignete
In tausend der Gestalten dir sich zu,
In tausend der Gefühle dich ihr zu,
Den immer Neuen, immer Wechselnden.
Wie wuchs das Kind? Es strebte Fuß und Hand
Und Ohr und Auge spähend immer neu
Zu formen sich. Und so gediehest du
Zum Knaben, Jünglinge, zum Mann und Greis...«
Wiederholt zieht er die Entwicklung im ersten Kindesalter zum
Vergleiche heran. So vergleicht er in seiner Gedankenskizze zur Plastik
(Lebensbild II, 393) Völker in ihrer Kindheit mit den fühlenden Kindern:
»sie sagen noch nichts, sie kennen noch nichts; sie fühlen, und. was sie
bewegt, was durch Bewegung auf sie wirkt, das personifizieren sie. Sie
werden alle Dinge, die sich bewegen, lebendig glauben...« Denselben
Parallelismus finden wir auch in jenem Abschnitte der »Fragmente«, der
von den Lebensaltern der Sprache nandelt. —
Und so entwickelt sich das Kind weiter. Es spricht. Und da die
Sprache auf Nachahmung beruht, so preist er das Kind glücklich, dem
von seinen ersten Jahren an verständliche, menschliche, liebliche Töne ins
Ohr kamen und seine Zunge unvermerkt bildeten. (»Von der Ausbildung
Herder und die Kindesseele. 121
der Schüler in Rede und Sprache H. 16, 158.) Traumhaft ist diese
Lebensstufe. »Sehen sie jenes Kind stille spielen und sich mit sich unter-
halten! Es spricht mit sich selbst; es ist in einem Traum lebhafter
Bilder.< Diese Bilder würden ihm einst wiederkommen, aber nicht als
Erinnerungen eines schon einmal genossenen Menschenlebens, sondern als
eine Palingenesie aus dem Paradiese der Kindheit. (Ȇber die Seelen-
wanderung« Zerstr. Bl. H. 15, 11.)
Die menschliche Seele hat ihre Lebensalter wie der Körper (»Reise-
Journal« im Lebensbild 314), für die Herder das Wachstum der Pflanze
als typisches Vorbild anführt. In besonders geistreicher Weise und schöner
bilderreichen Sprache hat er diesen Vergleich in den «Ideen« dureh-
geführt, wo er »das Pflanzenreich unserer Erde in Beziehung auf die
Menschengeschichtes behandelt (II, 2). Jede Entwicklung braucht aber
Zeit. Diese nennt Herder witzig einen mächtigen Mitarbeiter, freilich
sei sie ein unbesoldeter Kollaborator, aber dieser arbeite durch alle Klassen
und beginne seinen Unterricht beim Kinde in der Wiege. (»Von der
bolden Scham der Schule H. 16, 149.) Die Zeit aber hat auch ihre
Gesetze, die man nicht ungestraft übertreten darf. Daher ist die Früh-
reife nicht hart genug zu verdammen. Das Kind, der Knabe, der Jüngling
ist eine Knospe, in der der ganze Baum, die ganze Blume eingehüllt
blüht. Es ist ein unersetzlicher Schade, wenn man diese jungfräuliche
Blüte vorzeitig aufbricht, denn sie muß verwelken. Und er entrollt seiner
Zeit ein düsteres Bild, das doppelt in unseren Tagen beachtenswert sein
dürfte. »In unserer Zeit, da alles früh reif wird, kann man auch mit
der Auferziehung junger menschlicher Pflanzen nicht genug eilen. Da
stehen sie, die jungen Männer, die Kinder von hundert Jahren, daß man
sieht und schauert. Die verworrene Rührung, die sich, wie Winckelmann
sagt, zuerst durch einen fliegenden Reiz verrät, muß gleich bestimmt, Er-
fahrungen und Kenntnisse, die erst Früchte männlicher Jahre sein sollten,
mit Gewalt hineingezwungen werden, daß in weniger Zeit Jünglingen
selbst die Lust zu leben vergeht, die echten Freuden der jungen Jahre
immer seltener werden und Übermut, Vorwitz, Tollkübnheit, Ausschweifung
sich mit elender Schwäche und Mattigkeit abw echseln oder enden.« (»Vom
Erkennen und Empfinden« H. 17, 212). — Daher eifert Herder auch
gegen das Studium der Philosophie in den mittleren Schulen, indem er
seine Warnung vor der Frühreife der höheren Kräfte in der Forderung
gipfeln läßt: »Bilde nicht eher den Weltweisen, bis du den Menschen ge-
bildet hast.« («Daß und wie die Philosophie für das Volk nutzbar zu
machen ist« H. 24. 50.) Freilich spielt auf diesem Gebiete auch seine
Abneigung gegen Kants Philosophie mit.
Die Erziehung der Kindesseele beginnt mit dem Leben, denn Glieder
und Kräfte bringt der Mensch mit auf die Welt, doch deren Gebrauch
muß er lernen; ein Zustand der Gesellschaft aber, der die Erziehung ver-
nachlässigt, ist ein unmenschlicher Zustand (»Humanitätsbriefe« II, 25).
Freilich hängt alles von der Art der Erziehung ab. »Bildung der Denkart,
der Gesinnungen und Sitten ist die einzige Erziehung, die diesen Namen
verdient, nicht Unterricht, nicht Lehre.« Und er weist auf die treffliche
122 B. Mitteilungen.
Methode Fönälons hin, Prinzen zu erziehen (ebenda IV, 49). Wir sehen
aber, daß er mit diesem Gesinnungsunterrichte ein Vorgänger Herbarts
ist. Und er hat diese Anschauung auch in Wirklichkeit umgesetzt, heißt
es doch in einem seiner Gutachten über Weimarer Schulangelegenheiten
kurz und bündig: »Die Schule muß, zumal wie sie jetzt ist, ein Rüsthaus
guter Menschen und Bürger, nicht lateinischer Phrasesjünger werden.«
Auch fordert er in der pädagogischen Erörterung seines »Reisejournals«
eine von Jugend an gleichmäßige Erweiterung aller kindlichen Seelen-
kräfte (»Lebensbild« II, 218). Die Erziehung ınuß aber auch planmäßig
sein. Voll Begeisterung, aus der seine Liebe zur Jugend atmet, ruft er
in demselben Reisejournal (ebenda II, 325) aus: »O gebet mir eine un-
verdorbene, mit Abstraktionen und Worten unerstickte Jugendseele her,
so lebendig, als sie ist; und setzet mich dann in eine Welt, wo ich ihr
alle Eindrücke geben kann, die ich will, wie soll sie leben! Ein Buch
über die Erziehung sollte bestimmen, welche und in welcher Ordnung
und Macht diese Eindrücke sollten gegeben werden, daß ein Mann von
Genie daraus würde und dieses sich weckte!« Und so fährt er denn mit
dem ganzen Ingrimme seiner Satire gegen die geckenhafte Modeerziehung
los, die sich nur auf »die galantiora« gelegt hat; wo man nur von süßer
Speise lebe, müßten Ungeziefer und Würmer entstehen (»Nachteile der
neuen leichten Lehrmethode« H. 16, 41).
Das Kind ist des Mannes Vater. Von diesem Gedanken geht Herder
aus, wenn er den Erziehern die tiefsten Falten der Kindesseele erleuchtet
und ihnen wie ein weiser Arzt Winke gibt, wie sie diese zu behandeln,
die verderbte zu heilen hätten. »Wer das zarte Saitenspiel junger Kinder
und Knaben zu behorchen, wer nur in ihrem Gesichte zu lesen weiß:
welche Bemerkungen von Genie und Charakter, d. i. einzelner Menschenart
wird er machen! Es klingen leise Töne, die gleichsam aus einer andern
Welt zu kommen scheinen; hie und da regt sich ein Zug von Nachdenken,
Leidenschaft, Empfindung, der eine ganze Welt schlafender Kräfte, einen
ganzen lebendigen Menschen weissagt...« (»Vom Erkennen und Empfinden e
H. 17, 212.)
Ein Wurm, der an der Kindesseele nagt, ist die Lüge. Und doch
ist gerade der unverdorbenen Jugend die sittliche Grazie der Naivität
eigen, »das Kindlich-Erhabene« (»Kalligone« III, 4. H. 18, 718). Da sagt
die Seele alles, was sie denkt, so an Kindern, so an unschuldigen Mädchen,
es ist die echte deutsche Treuherzigkeit. (»Zur Plastik« Lebensbild II,
402.) Und diesen lieblichen Reiz kann der Erzieher selbst zerstören, wenn
er das Gift eigenen Zweifels und der Zerfahrenheit in das jugendliche
Herz einfließen läßt (» Vom Erkennen und Empfinden« H. 17, 202). Denn
groß ist die Macht des Vorbildes für das empfängliche Gemüt im Guten
wie im Bösen (Einfluß der Regierung auf die Wissenschaften« H. 17, 111).
— Leicht kann man der Kindesseele Ärgernis geben, denn das Gefühl
für Recht und Unrecht ist in dem jugendlichen Gemüte stark und leb-
haft gegründet. Dieses »fühlt inniger als es ein Mann fühlen wird, der
mit deinem falschen Urteil zugleich den Grund oder Ungrund desselben
sieht und übersieht.« Deshalb wird der Knabe im Unmut gegen den Druck
Herder und die Kindesseele. 123
sich aufbäumen und sich von diesem zu befreien suchen (»Von der Scheu
und Achtung der Lehrer gegen die Schüler...« H. 16, 91). Das Auge
des Jünglings bemerkt aber auch oft schärfer als das des Mannes und
unparteiischer als das durch Gewohnheit und den Schlendrian getrübte
(ebenda S. 92). Mit Sittensprüchen allein gegen die Verderbnis der Seele
anzukämpfen, ist eine fruchtlose Arbeit, denn sie haben nicht lebendige
Kraft, sondern bleiben »bloße Schattengestalten oder sind leere Töne«e.
(»Über den Wert morgenländischer Erzählungen« H. 6, 179). Frömmelei
oder dogmatische Sprüche lagen aber unserem Dichter völlig ferne, ihm,
dem Rationalisten, dem freisinnigen Theologen und Humanitätsprediger,
der an dem Zwiespalt in seiner Seele genug zu leiden hatte. —
Wenn das Kind in die Schule tritt, dann steht alles auf einem
Wurfe. »Es kommt auf den ersten allmächtigen Eindruck an; ist dieser
verfehlt, so ist alles verloren — verloren der erste unerklärliche Scharf-
sinn, der nie durch Geduld und Fleiß ersetzt wird, .... kurz verloren
das, was man Genie nennt.« Dieses läßt sich nicht mehr ersetzen (»Von
der neuern römischen Literatur« H. 19, 199). Deshalb hielt es auch der
Ephorus des Weimarer Gymnasiums nicht unter seiner Würde, dem ersten
Unterricht Katechismus und Fibeln zu bearbeiten, für den späteren morgen-
ländische Märchen, deren biblische Einfalt der kindlichen Phantasie be-
sonders entgegenkommt (»Über den Wert morgenl. Erzähl« H. 6, 179)
und die »Palmblätter« darzubieten. —
Anschauung, Mitbeschäftigung und Zucht sind die Grundpfeiler des
öffentlichen Unterrichts, denn pur auf diesen nimmt er Rücksicht, da dieser
allein den edlen Wetteifer unter den Kinderseelen erzeuge, »weil ein
öffentliches Gut besser ist als ein besonderes und ein Strom, aus welchem
Hunderte trinken können, besser ist als ein kleines stehendes Wasser, das
nur einer in Besitz nimmt (»Von den Vorwürfen, die man öffentlichen
Lehranstalten macht« H. 16, 113; 32). Da aber nach einem alten Er-
fahrungssatze die Masse demoralisiert — »die Jugend mißbildet sich selbst«
{(»Notwendigkeit der Schulzucht« H. 16, 32) — so bietet die Schwäche
eines Lehrers, der nicht Zucht zu wahren weiß, ein Bild der Qual, unter
der wieder die Kindesseele selbst am meisten leidet. »Der Harte z. B.,
der getrieben sein will, dessen Seele ein Kieselstein ist, was wird er
ohne Schulzucht sein?« (ebenda 31).
Das belebende Element aber, das die Kindesseele in der wohltätigen
Spannung erhält — noch heute eine der ersten Forderungen des Unter-
richte — ist die Mitbeschäftigung, die er zum seelischen Heile der Jugend
nicht oft genug verlangen kann. Der Lebrer muß der Mittelpunkt der
Klasse sein, denn »Flamme steckt Flamme an, Gegenwart des Geistes er-
weckt Gegenwart des Geistes.« Im gegenteiligen Falle ertötet der stupor
scholasticus alle Seelenkräfte, trockenes Wortgedächtnis muß der hinkende
Bote sein, der die Stelle der Einbildungskraft, des Urteils, der Neigungen
und eigener Bestrebsamkeit vertreten soll («Von den förderlichsten Schul-
übungen« H. 16, 47). In einer anderen Schulrede schildert Herder mit
lebhaften Farben die Qual in der ermatteten Kindessele, wenn sie des
Lehrers Feuer nicht entzünde («Von der Scheu und Achtung der Lehrer... .<
124 B. Mitteilungen.
H. 16, 94), es darf nicht »der eine Flügel im Todesschlaf liegen, indes
der andere exerziert« (H. 16, 114). — Durch mangelnde Mitbeschäftigung
geht auch ein wichtiges Förderungsmittel des Gesinnungsunterrichts ver-
loren, der Allgemeingeist, der Spiritus rector, ohne den das Ganze ver-
west («Von den Vorwürfen, die man Öffentlichen Lehranstalten macht«
H. 16, 115; 116), — Und er gibt auch das Mittel an, das diesen heil-
samen Lebenshauch der Jugend einflößen könne; »Methode, Methode ist’s,
meine Herren, das die Aufmerksamkeit fesselt: wenn ich lebhaft und nicht
für Greise rede, jedes auf seiner neuesten Seite zeige, die Mannigfaltigkeit
und Einfalt glücklich verbinde, jeden Augenblick ganz die Seele anfülle,
jede Saite der Aufmerksamkeit treffe, jedem Schlupfwinkel der Zerstreuung
zuvorkomme, wenn ich nicht in einer fieberhaften Methode walle, die bald
fliegt, bald kriecht, sondern stets mit einem gleichen Auge alle bemerke, so
kann ich die Blumen meiner Saat abbrechen« (»Von der Grazie in der
Schule« I. 16, 17). — Denn die edle Neugierde, jener edle Wissensdurst,
der z. B. der Pfarrer in Goethes «Hermann und Dorothea« das Wort
redet, darf nicht erlahmen, sie ist die Triebfeder seiner Betätigung (»Reise-
journal« Lebensbild II, 322; 314). Worte aber allein werden diesen gött-
lichen Funken nicht entzünden, da müssen Sachen mithelfen, der An-
schauungsunterricht ergibt sich von selbst als ein hervorragendes Erfordernis.
(»Die Schulen als Anstalten zur besten Übung« II. 16, 187; auch 16, 247),
— So wurde Herder ein Nachfolger des Comenius, der in seinem
»Orbis pietus« denselben Zweck verfolgt (vergl. H. 13, 246), und heute
beginnen wir auf diesem Gebiete sogar in das verderbliche Gegenteil zu
verfallen, die zerstreuende, abstumpfende Bildersucht. Er hat vor Pesta-
lozzi in seinem Plane einer Realschule Form, Zahl und Wort als die
Stufenleiter der kindlichen Seelenentwicklung betont, er hat Basedow über-
troffen, denn in dessen Philantropia lernten die Kinder, wenn ich ein
Wortspiel gebrauchen darf, was sie freute — wie die Erfahrung zeigte,
ein gefährliches Unternehmen — bei Herder freute die Kinder, was er
sie lehrte. — »Der Jüngling wollte durch Lustgefilde des Paradieses wandeln
und der Lehrer, mit Frost bedeckt, führt ihn über Schnee und Eis...
Der Reiz ist das Leitband, das die Jugend fesselt!« (Von der Grazie
in der Schule« H. 16, 15).
So kam er denn in folgerichtiger Fortentwicklung seiner Anschauungen
auf die Idee einer Realschule, die erst im 19. Jahrhunderte vollständige Ver-
wirklichung fand, wieder wurde er ein Prophet modernsten Geistes. Was
Bacon, Comenius und Pestalozzi ahnten, hat Herder im »Reisejournal«, als
er von Riga auf dem Seewege nach Frankreich fuhr, in den Entwurf eines
Lehrplanes gekleidet und damit begründet, daß der reale Unterricht der
psychologischen Entwicklung und dem modernen Zuge am meisten ent-
spreche. Dabei war aber Herder weder ein Feind der Antike — er hat
sich vielmehr um diese vielfach verdient gemacht — noch ein Verfechter
des nüchternen Nützlichkeitsgrundsatzes, sondern bloß ein erbitterter Gegner
des scholastischen Formalismus, des grammatischen Latinismus, der die
blühende Kindesseele ertöte. Der römische Geist, der auf dem Forum und
in der Schlacht lebte, er ist mit Cäsar und Cicero und seinen anderen
Herder und die Kindesseele. 125
m UL a
Trägern gestorben, er kann nicht wieder aufleben in der römischen Schul-
sprache, eine Sprache ohne den Geist des Volkes ist dem Verfasser der
»Ideen« ein Greuel (»Einfluß der Regierung auf die Wissenschaften«
H. 17, 81), eine solche Schule ist »ein Kerker, in welchen wie in eine
dunkle Höhle junges Vieh zusammengetrieben wird, damit es frohlockend
hinten ausschlage, wenn es dem Kerker entkommt« (H. 16, 114). Man
verliert seine Jugend, wenn man die Sinne nicht gebraucht, durch bloße
Abstraktionen wird der jugendliche Kopf wüst und dumpf. Für die Seele
des Kindes ist es die schrecklichste Qual, Schatten von Gedanken ohne
Sachen, Sprache ohne Sinn, eine Lehre ohne Vorbild sich aneignen zu
müssen. »Gehe in eine Schule der Grammatiker hinein: eine Welt
alternder Seelen unter einem veralteten Lehrer... Weg also Grammatiken
und Grammatiker! Mein Kind soll jede tote Sprache lebendig und jede
lebendige so lernen, als wenn es sie selbst erfände.« Und nun entwickelt
er das Frische, Lebendige jener Methode, die sich erst in unseren Tagen
im alt- und neuphilologischen Unterrichte Gelturg verschafft hat, die aus
dem belebten Lesestoffe das Gesetz, die Regel selbst finden lehrt (»Reise-
Journale). Der verkehrte Grammatismus hat aber auch gesellschaftliche
Nachteile, da er die erste frische Kraft der Jugend raubt, das Talent ver-
gräbt, das Genie aufhält. »Die Welt aber braucht hundert tüchtige Männer
und einen Philologen, hundert Stellen, wo Realwissenschaften unentbehrlich
sind, eine, wo eine gelehrte und grammatische Kenntnis des alten Roms
gefordert wird« (»Fragmente« UI. H. 19, 201).
Der ureigenste Boden, auf dem die Jugendseele am gedeihlichsten
wächst und blüht, bleibt die heilige Muttersprache, bleibt die Nation. Von
welch edlem Vaterlandsgefühle Herder durchglüht war, ist wohl bekannt,
er hat es auch in den Dienst der Erziehung gestellt. Darum ist auch in
allen seinen Vorschiägen und Entwürfen, die den Unterricht betreffen, die
Muttersprache die Grundlage als die Mutter jeder Gesinnung. Darum
sein Kampf gegen den Latinismus, gegen die französiche Erziehung. » Wenn
Sprache das Organ unsrer Seelenkräfte, das Mittel unsrer innersten Bildung
und Erziehung ist, so können wir nicht anders als in der Sprache unseres
Volks und Landes gut erzogen werden« (»Humanitätsbr.« IX, 111,
H. 13, 492.)
Schließlich sei noch einer Herderschen Forderung Erwähnung getan,
die wieder mit den modernsten Bestrebungen zusammenfällt: die Jugend
soll zum Schönen erzogen werden. Sie hat von der Natur den Drang
darnach erhalten, er soll befriedigt werden. »Die Jugend ist das schöne
Alter des menschlichen Lebens, sie liebt und übt also auch nichts so
gern, als was ihr schön dünkt. Schöne Wissenschaften, schöne Künste
sind die süßen Lockspeisen, die sie anziehen, die Früchte Hesperidischer
Gärten, die sie bezaubern.« (»Vom falschen Begriff der schönen Wissen-
schaften« H. 16, 55.) Und so entwickelt denn Herder die ganz modernen
Ideen, daß der Jugend das Beste gerade gut genug sei, daß man ihnen
nicht schlechte Kupferstiche zeigen, sondern sie nur schöne Formen sehen,
melodische Töne hören lassen solle. Sonst geschieht es eben, »daß unsere
Seelen veralten, statt daß sie, in den Begriffen der Schönheit erzogen, ihre
126 B. Mitteilungen.
—
erste Jugend wie im Paradiese der Schönheit genießen würden.« (»Reise-
journal« a. a. O. II. 326.)
So hat denn Herder eine harmonische Veredlung der Kindesseele
erstrebt und diese war ihm nicht bloß ein Gegenstand spekulativer Er-
forschung, sondern es war ihm Herzenssache, sich in ihre Geheimnisse zu
vertiefen, »die Entwicklung einer schönen jugendlichen Seele zu behorchen
und sie auf ihre ganze Lebenszeit weise, gründlich, von Vorurteilen frei
und glücklich zu machen.« (»Reisejournal« a. a. O. II. 200.) —
2. Der I. internationale Kongress für Schulhygiene
tagt unter dem Protektorat des Prinzen Dr. med. Ludwig Ferdinand von
Bayern am 4. bis 9. April 1904 in Nürnberg.
Das internationale Komitee, das sich aus namhaften Schulhygienikern
des In- und Auslandes zusammensetzt, erläßt in deutscher, frauzösischer
und englischer Sprache folgenden Aufruf:
»Auf dem Gebiete der hygienischen Forschung steht zurzeit in allen
zivilisierten Ländern die Schul- und Volkshygiene im Vordergrunde des
allgemeinen Interesses. Viele Hygieniker haben mit Wort und Schrift in
diesen Zweigen der Wissenschaft bahnbrechend gewirkt. Ärzte und Schul-
männer haben denselben gemeinsame Arbeit gewidmet, Regierungen und
Kommunalverwaltungen sind eifrig bemüht, solche Arbeit zu fördern. Bei
aller Anerkennung der Fortschritte, die in der öffentlichen Gesundheits-
pflege insbesondere durch die Mitwirkung der Kongresse für Hygiene und
Demographie bereits erzielt worden sind, kann man sich doch der Tat-
sache nicht verschließen, daß zur Heranbildung einer gesunden Jugend
gerade der Schulhygiene noch viel zu tun übrig bleibt, und daß ihr immer
neue Aufgaben erwachsen, um den jugendlichen Organismus zu kräftigen
sowie dem Umsichgreifen der Nervosität und einer frühzeitigen Erschöpfung
entgegenzutreten. Derartige Gesichtspunkte sind maßgebend gewesen für
die Gründung schulhygienischer Vertreter, so des Allgemeinen deutschen
Vereins für Schulgesundheitspflege, der französischen »Ligue des mödicins
et des familles pour l’amölivration de l’hygiene physique et intellectuelle
dans les &coles«, der schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheits-
pflege, der »Allgemeen pacdologisch Gezelschap in Antwerpen«, der »Ver-
eeniging tot Vereenvoudiging van examens en onderwijs in Arnheim«, der
englischen »Society of medical officers of schools« und des Fachkomitees
der ungarischen Schulärzte und Professoren der Hygiene in Budapest. In
der Erkenntnis, daß bezüglich einer hygienischen Erziehung bereits im
jugendlichen Alter methodisch vorgegangen werden muß, daß insbesondere
in der Schule durch vollendete Körperpflege geistige Überanstrengung und
Schwächung der Individualität verhindert werden können, — in der Er-
kenntnis, daß die gedeihliche Entwicklung eines Volkes in erster Linie
dadurch gesichert wird, daß es die Gesundheit seiner Jugend besonders
während der Schulzeit nach jeder Richtung hin stärkt, — in der Über-
zeugung endlich, daß durch gemeinsame Arbeit aller Nationen die Auf-
Der I. internationale Kongreß für Schulhygiene. 127
gaben und Bestrebungen der Schulhygiene wesentlich erleichtert und be-
fördert werden, sehen sich die Unterzeichneten veranlaßt, internationale
Kongresse für Schulkygiene ins Leben zu rufen, die alle drei Jahre tagen.
Der erste Kongreß soll an den sechs Tagen der Woche nach Ostern des
Jahres 1904 in Deutschland stattfinden. Für den Vorsitz sind der All-
gemeine deutsche Verein für Schulgesundheitspflege und ein Ortskomitee
in Aussicht genommen, als Kongreßort hat sich die Stadt Nürnberg bereit
erklärt. Vorträge und Beratungen, welche dem Gebiete der Schulhygiene
angehören müssen, können in irgend einer europäischen Sprache, insbe-
sondere in der deutschen, französischen oder englischen, abgehalten werden.
Nähere Bestimmungen.
Mitglied des Kongresses können alle diejenigen werden, welche an
der Förderung schulhygienischer Bestrebungen Interesse besitzen. Die Er-
werbung der Mitgliedschaft erfolgt durch genaue Angabe von Vor- und
Zunamen, Stand, Titel und Adresse bei dem Ortskomitee des Kongresses.
Jedes Mitglied hat einen Beitrag von 20 M zu entrichten. Hierfür
wird eine Mitgliedskarte ausgestellt, die zur Teilnahme an allen Sitzungen
und Veranstaltungen des Kongresses, zur Ausübung des Abstimmungs- und
Wahlrechtes, sowie zum Bezug des Kongreßtageblattes und des Kongreß-
berichtes berechtigt.
Für Deutschland wird der Allgemeine deutsche Verein für Schul-
gesundheitspflege nebst seinen Zweigvereinen sowie das Ortskomitee der
Kongreßstadt die Organisation des Kongresses übernehmen. Für Frank-
reich wird sich die Ligue des médecins et des familles, für die Schweiz
die Schweizerische Gesellschaft für Schulgesundheitspflege, für Belgien die
Paedologisch Gezelschap in Antwerpen, für Holland die Vereeniging tot
Vereenvoudiging van Examens en Onderwijs, für Ungarn das »Fachkomitee
der Schulärzte und Professoren der Hygiene« mit der Organisation be-
fassen; in England ist das Erziehungsdepartement darum ersucht worden.
In den übrigen Ländern werden sich namhafte Hygieniker, Ärzte und
Schulmärner mit den ÜUnterrichtsministerien und Medizinalkollegien zur
Einrichtung von Komitees in Verbindung setzen.
Die Verhandlungen verteilen sich auf allgemeine Sitzungen und Ab-
teilungssitzungen. Letztere finden vormittags und nachmittags statt. Für
die Plenarsitzungen bleibt der Montag, Dienstag und Freitag Vormittag
reserviert. In den Plenarsitzungen werden zusammenfassende Vorträge
allgemeinen Interesses ohne Diskussion, offizielle Ansprachen und die ge-
schäftlichen Angelegenheiten des Kongresses erledigt. Die Vortragszeit
ist auf 45 Minuten zu bemessen. Die Vorträge in den Abteilungssitzungen
sind in der Reihenfolge ihrer Anmeldung zu halten, bezw. ist ihre Reilien-
folge vom Abteilungsvorsitzenden zu bestimmen.
Die Dauer eines Abteilungsvortrages darf 20 Minuten nicht über-
schreiten. An diese Vorträge knüpft sich eine Diskussion, in welcher
jedem Redner in der Regel nicht mehr als 8 Minuten zur Verfügung
stehen. Die Abteilungssitzungen werden durch einen vom Örtskomitee
ernannten Einführenden eröffnet und von dem durch die Anwesenden er-
128 B. Mitteilungen.
wählten Präsidenten geleitet. Über jede Plenar- und Abteilungssitzung
ist von den Schriftführern Protokoll zu führen.
Vorträge für die Abteilungssitzungen werden bei dem Vorsitzenden
des Organisationskomitees des betreffenden Landes angemeldet, Vorträge
für die Plenarsitzungen mit dem Organisationskomitee des Landes und
Ortes, wo der Kongreß stattfindet, vereinbart. Für alle Vorträge, welche
auf dem Kongreß zur Verhandlung kommen, muß ein druckfertiges Manu-
skript in einer der genannten Sprachen mit einer deutschen, französischen
oder englischen Zusammenfassung vorgelegt werden. In der letzten Plenar-
sitzung wird von den Kongreßmitgliedern der Ort für den nächsten
Kongreß bestimmt. Nach Auflösung eines Kongresses werden die laufenden
Geschäfte dem ÖOrganisationskomitee des neuen Kongreßortes übermittelt.
Die internationalen Kongresse für Schulhygiene führen folgende Ab-
teilungen:
. Hygiene der Schulgebäude und ihrer Einrichtungen.
. Hygiene der Internate.
. Hygienische Untersuchungsmethoden.
. Hygiene des Unterrichts und der Unterrichtsmittel.
. Hygienische Unterweisungen der Lehrer und Schüler.
Körperliche Erziehung der Schuljugend.
. Krankheiten und Kränklichkeitszustände und ärztlicher Dienst in
den Schulen.
8. Hilfsschulen für Schwachsinnige, Parallel- und Wiederholungs-
klassen, Stottererkurse, Blinden- und Taubstummenschulen, Krüppelschulen.
9. Hygiene der Schuljugend außerhalb der Schule, Ferienkolonien
und Organisation von Elternabenden.
10. Hygiene des Lehrkörpers.«
Vorsitzender des I. Kongresses in Nürnberg ist Professor Dr. med.
et phil. Griesbach in Mülheim i/Els. und Generalsekretär, der An-
meldungen usw. entgegennimmt, ist Hofrat Dr. med. Schubert in
Nürnberg.
Für die Sitzungen der 10 Abteilungen des Kongresses sind
an erster Stelle Referate über wichtige Fragen in Aussicht genommen,
deren eingehende und möglichst erschöpfende Behandlung als besonders
wünschenswert und zeitgemäß empfunden wird. Als Referenten und Kor-
referenten sind je nach der Art des Themas Ärzte, Pädagogen, Techniker
und Verwaltungsbeamte aufzustellen. Um die Diskussion in die rechten
Bahnen zu lenken und möglichst fruchtbringend zu gestalten, sollen von
den Vortragenden kurze und klare Leitsätze aufgestellt und von der
Kongreßleitung rechtzeitig veröffentlicht werden.
Wir wollen hoffen, daß auch das Kinderpsychologische, also die
Hygiene des Seelenlebens in hinreichendem Maße vertreten sein wird.
Tr.
sıoPpPpvonm
Sechste Bundesversammlung deutscher Taubstummenlehrer. 129
3. Sechste Bundesversammlung deutscher Taub-
stummenlehrer.
28. September bis 1. Oktober 1903.
Weit über 300 deutsche Taubstummenlehrer und -Lehrerinnen hatten
sich am 29. September im großen Prunksaale der Loge Frankfurt in
Frankfurt a/M. zu ernster Beratung zusammengefunden. Es war kein
internationaler Kongreß, wie die früheren Versammlungen der Taub-
stummenlehrer in Paris, Mailand und Brüssel waren. Da aber die deutsche
Methode des Taubstummenunterrichtes in den letzten Jahrzehnten einen
Siegeszug durch alle zivilisierten Länder der Erde gemacht hat, war es
erklärlich, daß auch Rußland, Livland, Ungarn, Österreich, ja selbst
Amerika Vertreter gesandt hatten. In erster Reihe vor dem Vorstands-
tische saßen die Vertreter von höchsten und von hohen Behörden, der
Geheime Ober-Regierungsrat Professor Dr. Wätzoldt-Berlin, Provinzial-
Schulrat Dr. Otto-Kassel, Regierungsrat Dr. Wahl-Stuttgart und Ober-
schulrat Dr. Waag-Karlsruhe. Als Vertreter der Stadt Frankfurt war der
Stadtrat Grimm und als Vertreter des Pflegeamtes der Frankfurter Taub-
stummenanstalt der Justizrat Dr. Sieger erschienen.
Neun Uhr vormittags wurde die Bundesversammlung durch den
Direktor der Königl. Taubstummenanstalt in Berlin, Schulrat E. Walther,
eröffnet. Nach der Begrüßung der Versammlung durch die Vertreter der
Behörden und die Abgesandten aus dem Auslande wurde beschlossen, daß
der erste Tag der Praxis, der zweite der Theorie gewidmet sein sollte.
Es war ein schwieriges Unternelimen, in einem fremden Raum die
taubstummen Zöglinge der Frankfurter Taubstummenanstalt einer großen
Versammlung in Lehrproben vorzuführen; die Art und Weise aber, wie
es durch den Direktor der Anstalt, J. Vatter, geschah, legte Zeugnis
davon ab, daß diesem der ihm scherzweise beigelegte Titel eines »Ober-
meisters« wohl gebührt.
Sodann wurde dem Direktor der ostfriesischen Taubstummenanstalt,
Oberlehrer O. Danger, das Wort zu dem Vortrage »Die Erziehung der
Taubstummen für das Gemeinschaftsleben« gegeben.!) Das naturgemäße
Gemeinschaftsleben, auf das die Taubstummenanstalten ihre Zöglinge vor-
zubereiten haben, kann nicht für alle dasselbe sein. Einst zündete das
Buch des Schulrats Graser über die »dem Leben wiedergegebenen Taub-
t) Leitsätze: 1. Das Ziel der Erziehung für das Gemeinschaftsleben besteht
in den Taubstummenanstalten darin: a) die Taubstummen so weit zu fördern, daß
sie selbständige Mitglieder der Gemeinschaften dieser Welt werden können und
b) ihnen den Weg zu zeigen und sie auf diesem Wege zu geleiten, der zur himm-
lischen Heimat führt. — 2. In der kurzbemessenen Schulzeit ist dieses Ziel noch
nicht zu erreichen. Daraus erwiächst den Taubstummenanstalten die Pflicht, ihren
Zöglingen auch nach ihrer Entlassung noch zur Seite zu stehen. Dieses muß ge-
schehen a) durch Förderung der gewerblichen Fortbildung der Entlassenen, b) durch
Rat und Tat in allen Lebenslagen, c) durch Teilnahme der Taubstummenanstalten
an der Seelsorge der entlassenen Taubstummen.
Die Kinderfchler. IX. Jahrgang. 9
130 B. Mitteilungen.
stummen.«e Bei dem sehr verschiedenen geistigen Standpunkte der Taub-
stummen und den körperlichen Gebrechen, an denen manche außer der
Taubheit noch leiden, ist es aber ausgeschlossen, alle zu selbständigen
Gliedern des Gemeinschaftslebens der Vollsinnigen heranzuziehen. Nur
mit den geistig und (rel.) körperlich Normalen unter ihnen kann es
gelingen. Diese sind glücklicherweise in entschiedener Mehrheit, sie
gehören nicht in das Gemeinschaftsleben einer » Taubstummenwelte,
sondern in das der Welt, wie sie ist. Ihnen muß die Sprache dieser
Welt gegeben werden, in erster Linie aber die Verkehrssprache, nicht
die Büchersprache Die Büchersprache ist notwendig, um eine
höhere Stufe im Gemeinschaftsleben einzunehmen. Die Taubstummen ent-
stammen größtenteils den ärmeren Familien, und es liegt kein Grund vor,
sie, weil sie taub sind, auf eine höhere Stufe zu fördern, als sie im
Leben erreicht hätten, wenn sie hörend, also begabter wären. Mit seltenen
Ausnahmen würden die Tauben auf den höheren Stufen des Gemeinschafts-
lebens im Konkurrenzkampfe mit den Vollsinnigen stets unterliegen. In
der kurzbemessenen achtjährigen Schulzeit könne das Ziel, sie, die Gehör-
kranken, ausreichend zu befähigen, dereinst selbständig ihre Stellung im
Gemeinschaftsleben einzunehmen, nicht völlig gelingen. In Großstädten
möchten in für sie besonders eingerichtete Fortbildungsschulen die
vorhandenen Lücken nach der Entlassung noch mehr oder weniger aus-
gefüllt werden können, doch nur in diesen. Der Mehrzahl der Taub-
stummen könne aber nur durch Hinzulegung eines neunten (oder besser,
9. und 10.) Schuljahres geholfen werden, in dem nach dem Vorbilde der
holländischen Anstalten, der Anstalten in den vereinigten Staaten Amerikas
usw. die Lern- und Arbeitsschule sich gegenseitig ergänzten. Weil
die Anstalten in der Schulzeit ihr Ziel nicht völlig erreichen können,
hätten dieselben ihre Arbeit nach der Entlassung der Zöglinge noch fort-
zusetzen. Hierzu sei aber erforderlich, daß ihnen Fonds für die gewerb-
liche Fortbildung entlassener Taubstummen zur Verfügung ständen.
Da es unmöglich sei, alle Taubstummen ım Sprachverständnisse so weit
zu fördern, um in genügender Weise nach ihrer Entlassung aus der Anstalt
von ihren Pfarrgeistlichen pastoriert werden zu können, sei es erforderlich,
auch die geistliche Pflege der erwachsenen Taubstummen anstaltsseitig zu
fördern. In Großstädten, in denen Hunderte von erwachsenen Taubstummen
leben, sei es Pflicht der Kirche, besondere Taubstummenpastoren anzu-
stellen; diese müßten sich aber das Rüstzeug zu ihrem Berufe aus den
Taubstummenanstalten holen. Für die zerstreut wohnenden Taubstummen
könnten für die Predigt aber nur selten befähigte Geistliche gewonnen
werden. Da seien in verschiedenen, nicht zu weit auseinanderliegenden
Städten regelmäßig wiederkehrende Andachten für Taubstumme einzu-
richten, in denen die Taubstummenlehrer die Predigt übernehmen müßten,
während die weitere Pastorierung der Taubstummen ihren Ortspastoren
überlassen bleiben könnte. Eine derartige Einrichtung trete in der Provinz
Hannover 1904 ins Leben. i
Die körperlich und geistig unternormalen Taubstummen gehörten aber
in die »Taubstummenwelt« Sie seien frühzeitig abzusondern. Und da
Sechste Bundesversammlung deutscher Taubstummenlehrer. 131
in dieser Welt die gesprochene Sprache doch nicht die Verkehrssprache
werden könne, möchte man mit geistig unternormalen Kindern nur ruhig
die Schrift und die Gebärdensprache pflegen. Dann würde Zeit verbleiben,
diese Unglücklichen, mehr als bislang es möglich sei, an ein arbeits-
freudiges Leben zu gewöhnen. Und an die Anstalten für diese Kinder
möchte sich später das Asyl anschließen, in dem sie als Erwachsene unter
sachgemäßer Leitung je nach ihren Kräften ihr täglich Brot zum Teile
selbst verdienen könnten.
Die Ausführungen des Redners fanden die Zustimmung der Ver-
sammlung.
Am zweiten Versammlungstage referierte der Taubstummenlehrer Dr.
P. Schumann aus Leipzig über »Die wissenschaftliche Ausbildung
der Taubstummenlehrer«. Die von dem Referenten aufgestellten Leit-
sätze fanden allseitige Aufnahme und es wurde der Bundesvorstand auf-
gefordert, sie mit dem Vortrage den Unterrichtsministerien der deutschen
Staaten einzureichen.!)
Die Leitsätze lauten:
1. Die Höhe der erzieherischen Aufgabe und die Schwierigkeit des
unterrichtlichen Problems der Tanbstummenbildung rechtfertigt die Forde-
rung einer gründlichen wissenschaftlichen Vorbildung der Taubstummen-
lehrer neben ihrer praktischen Ausbildung.
2. Als Grundlage der Didaktik und speziellen Methodik des
Faches ist erforderlich die Kenntnis der allgemeinen Pädagogik in
wissenschaftlicher Form, die Kenntnis der Psychologie, vor allem
auch in ihren Abzweigungen der Kinderpsychologie, Psychopathologie und
Sprachpsychologie, die Kenntnis vom Bau und von der Funktion
der Sprachwerkzeuge und Sprachsinne und der darauf gegründeten
Phonetik. Aus allgemein methodischen Gründen und zur Förderung des
unumgänglich notwendigen Studiums der Fachliteratur und der Ge-
schichte des Taubstummen-Bildungswesens ist wünschenswert
die Kenntnis fremder Sprachen (Latein und Französisch oder Latein
und Englisch).
3. Die in den verschiedenen deutschen Ländern bestehenden Ein-
richtungen zur Ausbildung von Taubstummenlehrern genügen diesen Forde-
rungen nicht in vollkommener Weise und sind zeitgemäß umzugestalten.
Vor allem ist zu erstreben, die Ausbildung der Taubstummenlehrer mit
der Universität in Verbindung zu setzen.
4. Als Zentrale der Ausbildung und als Prüfungsstätte empfiehlt sich
deshalb die Gründung eines allgemeinen deutschen Taubstummenlehrer-
Seminars — verbunden mit einer Übungsschule — in einer Universitäts-
stadt. An dieser Anstalt hat jeder Taubstummenlehrer mindestens ein
Jahr der auf drei Jahre berechneten Ausbildungszeit zu verbringen und
dort die Prüfung abzulegen. |
5. Mit dieser Erweiterung der Ausbildung ist naturgemäß eine Um-
1) Nach der Drucklegung des Vortrages werden wir in den »Kinderfehlern«
auf denselben zurückkommen.
QF
132 B. Mitteilungen.
gestaltung der bestehenden Prüfungsordnungen verknüpft. Es sind obli-
gatorische Prüfungen mit gesteigerten Anforderungen einzurichten, deren
Bestehen die Berechtigung gewährt zum Taubstummenlehreramte und zur
Leitung einer Anstalt.!)
Bevor nach den arbeitsreichen Tagen das Fest in heiterem Kommerse
ausklang, wurde die neue Arbeitsstätte, die Frankfurter Anstalt besucht.
Die Anstalt ist nicht staatlich, nicht provinziell, sondern eine von einem
Pflegeamte verwaltete Vereinsanstalt.e. In der wohlhabenden Großstadt,
kommen die Gaben reichlich; so ist das Pflegeamt in der Lage gewesen
das neue Anstaltsgebäude so zu erbauen und auszustatten, daß es in
Deutschland seinesgleichen nicht hat. Für eine solche Stadt, wie Frank-
furt ist, paßt auch ein solches Gebäude. Die Zöglinge aber, die dieser
einen mehr privaten Charakter tragenden Anstalt zugewiesen werden,
dürfen voraussichtlich in späterem Leben sagen:
»Was ich als Ritter gepflegt und getan,
Nicht will ich's als Kaiser entbehren.«
E. O. D.
4. Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich
gefährdeten Jugend.
Ein Reisebericht von J. Chr. Hagen, Direktor des Schulheims zu Falstad bei Drontheim.
Schlußbemerkungen.
Wenn ich so ausführlich bei der psychiatrischen Behandlungsweise
mich aufgehalten habe, so hat dieses seinen Grund darin, daß ich in
meiner praktischen Betätigung als Pädagoge immer aufs neue den Eindruck
verstärkt erhalten habe, daß Schule und Haus in der Regel zu wenig ihre
Aufmerksamkeit auf die Eigentümlichkeiten des Seelenlebens des Kindes
und ihren Zusammenhang mit seiner physischen Konstitution richten. Man
hört so oft, daß das Kind nicht wie die andern sei, oder daß es als ein viel
versprechendes die Schulzeit begann, aber dann plötzlich unter die Nach-
zügler geriet oder daß es in andern Fällen nicht zu zügeln oder nicht
von schlechten verbrecherischen Handlungen abzuhalten war. In der Schule
wie im Hause folgen unablässig Moralpredigten wegen Gleichgültigkeit,
Faulheit, Schlaffheit, Ungehorsam usw. Es erhält Prügel, es wird gelieb-
kost, erhält Versprechungen auf Belohnung, es wird gelobt und getadelt.
Der eine Erzieher macht es bei seinem Kinde, wie er es beim andern sah,
oder es heißt: So tat mein Vater mir, so tue ich meinem Kinde. Und die
Früchte der Methode! Wie oft wird geklagt, daß sie ganz ausbleiben. Das
eine Mal nach dem andern heißt es: es wird viel schlechter. Wer gibt
sich Rechenschaft darüber, inwiefern die intellektuelle oder moralische
Minderwertigkeit des Kindes etwa auf pathologischen Ursachen, einer funktio-
1) Die Einrichtung besonderer Prüfungen für Vorsteher-Aspiranten wurde all-
seitig als ein Fehler anerkannt.
Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 133
nellen Abnormität usw. beruht? Und doch, wenn der Erzieher sich in die
pathologischen Verhältnisse gerade der Schuljugend vertiefen wollte, würde
ganz gewiß mancher verhängnisvolle Fehler im Unterrichte wie in der
sonstigen erzieherischen Behandlung vermieden werden.
Wenn eine Statistik über nervöse, sowie geistig und sittlich ge-
schwächte, zu stark gereizte, interesselose, unfähige oder sogar entartete
und schließlich moralisch verdorbene und verkommene Schmerzenskinder
in Familien und allen Gesellschaftsschichten möglich und vorhanden wäre,
so würde man gleich begreifen, welche Frage von außergewöhnlicher Be-
deutung das Studium der seelischen Fehler und der psychopathischen
Minderwertigkeiten in dem Kindesalter und ihrer Behandlung ist, sagt
Trüper. (Psychopathische Minderwertigkeiten im Kindesalter.)
Bezeichnend ist es, daß das Schulwesen, welches sich mit den Ab-
normen befaßt, abgesehen davon, daß es Tauben und Blinden zu helfen
sucht, dabei stehen geblieben ist, den »Geistesschwachen« und Idioten sein
Interesse zu widmen. Von psychopathischen Minderwertigkeiten außer
diesen Kategorien ist selten die Rede. Freilich ist es Tatsache, daß die
Schulen nun immer mehr mit Schulärzten ausgerüstet werden und daß
in einigen Städten besondere Klassen für „Abnorme“ sich vorfinden, in
der Tat ist aber das hier berührte Gebiet so ziemlich unbekannt, und es
steht fest, daß die Schule die Kinder nicht genau genug kennt. Es
kommen in der Kinderwelt in ziemlich großer Ausdehnung psychische Zu-
stände vor, wo teils angeborene, teils erworbene Anomalien ihren Einfluß
auf das innere Leben des Kindes gewinnen — und die, wenn sie auch
nicht alle als Charakter von Geistesschwäche sich charakterisieren, doch
Ursache eines größeren oder geringeren intellektuellen oder moralischen
Defektes sind.
Ist ein Kind leiblich schwach, richtet sich seine Behandlung in der
Regel nach dem Rate des Arztes, seine besondere Verpflegung wird fest-
gesetzt; zur Analyse und Begründung des psychischen Zustandes dagegen
kommt es selten. Die Fehler mögen wachsen, ohne daß Eltern, noch
weniger die Schule, auf diesen Zustand als etwas in strengem Sinne
Kränkliches achten.
Entweder wird das Kind rücksichtslos in die Schule getrieben; Exa-
men muß es machen, oder man gibt sowohl Unterricht als Erziehung auf
und weist ihm irgend eine Beschäftigung zu, sendet es an die See oder
bringt es auf dem Lande unter.
Für die breiten Schichten der Bevölkerung steht es in diesem Punkte
am kläglichsten. In den überzähligen Klassen der Volksschule steht der
Lehrer dem einzelnen zu fern. Seine psychische Konstitution wird nicht
erkannt. Die Kinder, die nicht mitfolgen können, werden zum Extra-
unterricht zusammengetan. Aber der Hauptzweck ihrer Übersiedelung ist
in der Tat, die Normalklasse von den hemmenden Individuen zu befreien,
— nicht die Unglücklichen zu heilen. Geht es auf keine andere Weise,
dann weg mit ihnen; sie werden in Zwangsschulen, Erziehungsanstalten usw.
untergebracht oder zur Pflege aufs Land gegeben.
Freilich ist es nicht mein Zweck, hier zu behaupten, daß jeder Fehler,
134 B. Mitteilungen.
den das Kind begeht, als etwas Krankhaftes betrachtet werden soll, an
dem es keine Schuld trägt. Mangel an Interesse, Unehrlichkeit, Trotz und
dergl. ist nicht absolut ein Zeichen seelischer Anomalie. Aber wenn diese
Erscheinung als eine unablässig begleitende Eigenschaft auftritt, dann gilt
es, daß der Erzieher jedenfalls ein offenes Auge und ein psychologisches
Verständnis hat, damit zweckmäßige Behandlung stattfinde. Ein Tatsache
ist es, daß man hier oft der Erscheinung eines verbreiteten Übels gegen-
über steht. Es wird einleuchtend sein, daß wir, was zu diesem Übel
führen kann, beobachten und studieren müssen.
Ich nenne zuerst das Gesetz der Vererbung. Sind die Eltern psycho-
pathisch belastet, so werden sich in der Regel auch bei den Kindern, und
zwar früh, psychopathische Minderwertigkeiten offenbaren.
Dann aber müssen die erworbenen Minderwertigkeiten mit ihren bald
somatischen, bald psychischen Ursachen genannt werden. Einige Kinder
haben schwerere Krankheiten durchgemacht — Gehirnentzündung, Rha-
chitis und dergl. — und tragen die Folgen davon. Bei anderen kommen
die Eigentümlichkeiten von äußeren Beschädigungen, z. B. des Hirn-
schädels, von Schlagen, Fallen, Genuß des Alkohols, Überanstrengung. Die
psychischen Ursachen sind freilich auch in der Ordnung der Schule, aber
zuerst und am meisten in der Behandlung des Elternhauses, und sonst
überhaupt in den sozialen Zuständen zu suchen.
Was die Schule betrifft, so illustriert sie noch allzu oft — trotz
ihrer Paläste und ihrer reichen Ausstattung — die alte Wahrheit, daß
»der Buchstabe tötet.« Noch wird in nicht geringem Grade mii einer
überwältigenden Menge Kenntnisstoff, mit Begriffen und Termini getummelt,
ohne daß das Kind zu Realitäten und zu einem organisch geordneten Ge-
ddankenkreise gelangt. Nicht wenig Pedanterie macht sich in den ver-
schiedenen Fächern geltend. Ich will nur die »Sloid« (kleine Handarbeit)
und den Sprachunterricht nennen. Unablässig wechselnde Lehrbücher und
Methoden, immer wechselnde Regeln mit ebenso variablen Ausnahmen
können auch nicht der Zerstreuung und Verwirrung entgegenwirken. Es
wird geklagt, daß der Zögling nicht nachkommen kann, zerstreut ist,
während die Faulheit, die Trägheit ebensogut die Folge davon sein kann,
daß man dem Kind Steine statt Brot geboten hat.
Hinzu kommen die großen Belege der Klassen. Die schwächeren
Elemente der Klassen von 40 Schülern!) sind in großer Gefahr, geistige
Krüppel zu werden. Sicher ist, daß der Lehrer bewußt oder unbewußt
hauptsächlich in seinem Unterricht die normal Begabten im Auge hat; ein
anderes und noch wesentlicheres ist, daß — besonders in den großen
Klassen — gewöhnlich keine Gelegenheit für den Pädagogen ist, die direkte
individuelle Wirkung auf das Gemüt des Kindes zu üben, trotz der großen
Bedeutung, die die Gemütsbewegungen für das Vorstellungs- und Willens-
leben halten. Es ist auch klar, daß nichts geschickter ist, den Mut
herunterzustimmen und die Willensenergie zu erschlaffen, als das unab-
1) In manchen Staaten des deutschen Reiches gibt es leider noch zahlreiche
Klassen von 80 bis 140 Schülern. Tr.
Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 135
lässige Gefühl von Unterlegenheit, von dem Nichterreichen der geseizten
Ziele; tritt dann Strafe, Vorwurf, Lächerlichmachen hinzu, so ist ungefähr
was zur Vernichtung getan werden kann, getan.
Obgleich aber die Schule ihren Teil der Schuld trägt, — die Haupt-
verantwortlichkeit fällt auf die Familie und auf das soziale Leben im
ganzen.
Zuvor will ich an die Häuser, aus denen die Kinder der Volksschule
und der Erziehungsanstalten kommen, erinnern. Wie oft dient da der-
selbe Raum als Küche, Schlafzimmer, Wohnstuba und Arbeitsraum; in
dieser verdorbenen Luft leben sie von Kind an und zwar von nahrungs-
armer Kost und Kaffee zunächst, und Kaffee oder gar Alkoholgetränk ferner-
hin schlechte Luft, schlechte E:nährung, Unsauberkeit, Unordnung und
Unregelmäßigkeit! — Was anders kann man erwarten als eine schlechte
körperliche Konstitution, schlechte Muskeln, schlechte Nerven und ein
schlechtes Gehirn, die günstigste Bedingung pathologischer Zustände.
Hinzu kommt die geistige Atmosphäre in vielen dieser Familien, die nicht
selten im Leichtsinn gestiftet wurden; die Wahl des Gatten geschieht ganz
oberflächlich ohne tiefere Gedanken über eintretende Elternpflichten.
Wird die Abstammung der in den Anstalten untergebrachten Kinder ge-
prüft, findet man häufig, daß Eltern oder Voreltern dem Trinken, Dieb-
stahl, der Unsittlichkeit ergeben oder doch geneigt sind, oder daß sie
krankhaft sind; bald sind es Nervenkrankheiten, bald Tuberkulose, Epi-
lepsie, Syphilis und dergl. Sind die Eltern, die Geschwister oder die
nächste Umgebung lasterhaft, so hat, wie es sich versteht, ihr Beispiel
neben der erblichen Belastung noch einen verhängnisvollen Einfluß.
Ganz natürlich müssen solche Verhältnisse psychopathische Zustände
hervorrufen und fördern — um so viel mehr, als die Nahrung, die ein
Familienleben unter solchen Verhältnissen in intellektueller Hinsicht bietet,
oft wertlos oder sogar schädlich ist. Was wird in der Gegenwart der
Kinder gesprochen und gelesen? Skandalöse Geschichten, schlüpfrige Lieder,
Agitationsschriften, die zum Klassenhaß reizen — ein Strom von Gift!
Man will etwas, das »reizt-!
In ursächlichem Zusammenhange mit den psychopathischen Zuständen
treten so auch die sittlichen Defekte auf, und diese bedingen die ganze
ethische Physiognomie des sozialen Lebens. Sollen die prädisponierenden
Ursachen getroffen werden, so muß die Aufmerksamkeit auch darauf ge-
richtet sein. Eine Illustration des Zustandes findet man in der Presse
und der Literatur. Die ruhige sachliche Abwägung ist außer Kurs; in
den Vordergrund treten Personen und Parteien; die Tagespresse fließt von
sensationellen Berichten und umständlichen Schilderungen bald des einen
bald des andern Verbrechens. Literatur und Bühne müssen das möglichst
Pikante und Nervenreizende bringen; sonst gefallen sie nicht dem Ge-
schmack. Nach dem geschäftiger Arbeitstag soll man sich in Wirts-
häusern, Schenken, Varieteen und dergl. erfrischen. Dice Folge des er-
wähnten ist kurz und gut ein Leben über unsere Kraft. Ja — ich wage
zu sagen: die Gesellschaft trägt ein starkes Gepräge psychopathischer
Eigenschaften!
136 B. Mitteilungen.
Wenn der Stier an den Hörnern ergriffen werden soll, muß es da-
durch geschehen, daß die humanitären Bestrebungen die psychopathische
Belastung und Degeneration als einen wesentlichen Faktor des Mißverhält-
nisses erkennen. Aus dieser Erkenntnis muß dann die Wirksamkeit der
Schule, der Familie und besonders der Erziehungsanstalten ihr Gepräge er-
halten. Es muß ein größerer Platz in der Bildung der Erzieher nicht
nur für elementare Psychologie, sondern auch physiologische Psychologie
und spezielle Kinderpsychologie gegeben werden. Besonders müssen die
Schulen und Erziehungsanstalten auf dieser Grundlage sich aufbauen. Die
letzten empfangen durchgehend ihre Kinder aus den ungünstigst gestellten
Gesellschaftsschichten. Ein Blick auf die Lebensgeschichte der Anstalts-
kinder zeigt — wie schon angedeutet — daß die meisten von ihnen in
einer vergifteten Atmosphäre aufgewachsen sind. Es lautet so oft in den
Personalien: »Die Eltern haben die Autorität über das Kind verloren —
in der Tat: sie haben niemals Autorität gehabt! — Oder: »Aus der
Schule ausgewiesen wegen Faulheit, Schwänzen« usw.; in der Tat ziemlich
oft, weil das Elternhaus die Schule niemals unterstützte, sondern es die
Schule als eine Plage anzusehen lehrte, oder weil das Kind vom ersten An-
fang an durch schlechte Ernährung und Verpflegung geschwächt ist; sehr
oft sind es ganz einfach das Beispiel und die Eigenschaften der Eltern,
die man im Kinde vor sich hat.
Da nun diese verschiedenen Minderwertigkeiten so häufig von neuro-
pathischer und psychopathischer Art sind, kommt es darauf ar, daß der
Pädagoge seinerseits die Voraussetzungen, um die einzelnen Fälle beur-
teilen zu können, besitzt; sonst werden wir aus der traditionellen Ungefähr-
behandlung nicht herauskommen. Arzt und Pädagoge müssen hier Hand
in Hand gehen, damit die Behandlung rationell werde. Es muß, soweit
geschehen kann, eine korrekte Prognose für die einzelnen Fälle gestellt
werden; soll die Ursache des Zustandes entfernt werden, muß sie gekannt
sein. Den Erzieliungsanstalten ist so ein in allgemeinen Worten gehaltener
ärztlicher Schein, daß das Kind nicht an ansteckender Krankheit leidet
usw. nicht ausreichend. Es muß Stoff genug zu einem So genauen
Individualitätsbild, wie möglich, gesammelt werden. Bei mehreren An-
stalten des Auslandes hatte man auch einen sogenannten Fragebogen.
Von der Prognose ist die Art der Behandlung abhängig. In der
Regel wird es zuerst gelten, leiblich das Kind aufzubauen: Muskel und
Nerven, die ganze leidliche Konstitution muß erneuert werden.
Wie die leibliche, so hat auch die seelische Hygiene in jedem ein-
zelnen Falle ein entsprechendes Ziel: es gilt Charaktere zu bauen, das
Gemütsleben zu stärken, d. h. das Willens- sowohl als das Gefühlsleben.
Bald ist das eine, bald das andere mangelhaft und verkehrt; bald kommen
perverse Willensäußerungen, bald vollkommener Mangel an Wille vor usw.
Abnorme Zustände in der Kindesnatur müssen von dem Erzieher als
solche erkannt werden und was ich hier besonders vor Augen habe —
die Erziehungsanstalten müssen ihre Behandlung darnach einrichten. Sowohl
Verpflegung und Aufsicht, als Erziehung und Unterricht müssen so indi-
viduell als möglich angelegt werden. Eine Hauptbedingung für das Ganze
Deutscher Kongreß für experimentelle Psychologie. 187
wird der offene Verkehr zwischen Kind und Erzieher und ein von dessen
Persönlichkeit beseeltes Zusammenleben in der Anstalt sein. Hieraus er-
gibt sich, daß gefordert werden muß 1. bei dem Erzieher gründliche
pädagogische Bildung und sittlich-religiöse Charakterfestigkeit; 2. die
Teilung der Zöglinge in Gruppen, welche sich um eine reife und ge-
schickte Kraft konzentrieren, 3. daß die Wirksamkeit der Anstalten ratio-
nell auf physiologischen und psychologischen Prinzipien angelegt wird. um
die korrekte individuelle Behandlung möglich zu machen und 4. daß die
Kinder nicht zu früh auf Probe entlassen werden, sondern in der Anstalt
verbleiben, bis man »dem Ideal« eines leiblich und seelisch gesunden Indi-
viduums so nahe wie möglich kommt, wenn man es nicht ganz erreichen
kann. Die Bestimmung unseres norwegischen Gesetzes betreffs »Entlas-
sung auf Probe« muß von dem hier entwickelten Gesichtspunkte aus nur
als eine in vielen Fällen gewagte Anweisung zum Experimentieren werden.
Die Erfahrung zeigt, daß die psychopathischen Kinder lange Zeit zu
ihrer Entwicklung bedürfen, und es scheint mir um soviel minder wahr-
scheinlich, daß man, wie unser Gesetz vom 6. Juni 1896 andeutet, in
einem oder zwei Jahren, was »ab ovo« verdorben oder vom 1. bis 12.
15. Jahre oder weiterhin sich von Tag zu Tag immer unheilvoller aus-
gebildet hat, wiederherstellen kann.
Nein! Es bedarf psychologischer Planmäßigkeit und ausdanernder
Arbeit, denn die Hauptsache ist, daß das Kind mit edlem Charakter und
sittlicher Widerstandskraft wider die vielen verhängnisvollen Eindrücke und
Einflüsse des Lebens ausgerüstet wird.
Kenntnisse können gewiß in den meisten Fällen einigermaßen be-
friedigend erlangt werden; das aber ist Nr. 2, Nr. 1 ist der Charakter,
die sittlich-religiöse Betätigung.
5. Deutscher Kongress für experimentelle Psychologie.
Neben den Internationalen Kongreß für Psychologie, der alle vier
Jahre tagt, tritt nunmehr auch ein deutscher Kongreß für experimentelle
Psychologie, der zum erstenmal in der Zeit vom 18.—20. April 1904 in
Gießen abgehalten werden soll. Die endgültige Tagesordnung ist noch
nicht festgestellt; doch sind in einem Rundschreiben des Ausschusses
(Prof. Dr. E. Müller-Göttingen und Prof. Dr. Sommer-Gießen) bereits
25 angemeldete Vorträge aus den verschiedensten Gebieten der experimen-
tellen Psychologie verzeichnet. Das Verzeichnis läßt darauf schließen, daß
man auch eine Abteilung für pädagogische Psychologie bilden wird.
Hierher gehörige Vorträge werden gehalten von Ament- Würzburg (Das
psychologische Experiment an Kindern), Lay-Karlsruhe (Das Wesen und
die Bedeutung der experimentellen Didaktik), Meumann-Zürich (Eine
Erweiterung der experimentellen Gedächtnismethoden) u. a. Damit ist
aber das, was für den Pädagogen Interesse hat, bei weitem nicht erschöpft.
Wir hoffen, daß der Kongreß auch aus dem Kreise unserer Mitarbeiter
und Leser zahlreich besucht wird. Ufer.
138 C. Literatur.
6. Schwachsinnige und Militärpflicht.
Aus Erfurt wird uns berichtet: Nach einer Vereinbarung der Teil-
nehmer am ersten Erfurter Hilfsschultage werden dieselben im Februar
1904 dem Zivil-Vorsitzenden der Ersatz-Kommission ein Verzeichnis der
schwachsinnigen Gestellungspflichtigen einreichen und den Antrag auf Be-
freiung der letzteren vom Militärdienste stellen.
C. Literatur.
Mönkemöller, Geistesstörung und Verbrechen im Kindesalter. Samm-
lung von Abhandlungen usw. von Ziegler und Ziehen. VI, 6. Berlin 1903.
108 S. Preis 2,80 M.
Die statistischen Zahlen über die Beteiligung der Jugend an der kriminalistischen
Bewegung reden eine derart »beredte Sprache, daß der Staat im allgemeinen, der
Richter, der Lehrer und der Verwaltungsbeamte im besonderen sich der Verpflich-
tung nicht entziehen können, den Ursachen dieses Übels auf den Grund zu gehen.
Ihnen hat sich in der neuesten Zeit noch der Arzt zugesellt, und ihm wird in der
Zukunft bei der Heilung dieses Krebsschadens eine weit größere Domäne zufallen,
als es bis jetzt im allgemeinen den Anschein hatte«.
Das gut und lebhaft geschriebene Büchlein Mönkemöllers rechtfertigt eine
ausführlichere Besprechung vor unseren Zeitschriftlesern. Ich wünsche ihm die
verdiente Beachtung in den weitesten Kreisen.
Mönkemöller bekämpft den Standpunkt Lombrosos, daß das Kind ein
des moralischen Sinnes ertbehrender Mensch sei. Treten die von Lombroso als
Gemeingut aller Kinder geschilderten Eigenschaften gehäuft bei einem jugendlichen
Individuum auf, so ist es pathologisch oder gar geisteskrank. Von den Gesetzgebern
aller Zeiten und Kulturländer ist das Kind in foro anders und milder beurteilt
worden als der Erwachsene. Mangelnde Einsicht und Erfahrung, unfertiges Urteil,
ungenügende psychische Hemmungen gegenüber plötzlich auftretenden Impulsen,
größere Lebhaftigkeit und Labilität der Affekte, stärker entwickelte Nachahmungs-
sucht, das alles sind Momente, die das Kind vor dem Strafgesetzbuch physiologisch
minderwertig je und je erscheinen ließen. Eine absolute Aufstellung der Alters-
grenze, an der sich die »Zurechnungsfähigkeit« einstellt, ist unmöglich.
Welche Psychosen des Kindesalters führen zum Verbrechen?
Von vornherein scheiden aus verständlichen Gründen bei der Betrachtung aus: der
chronische Alkoholismus und die anderen Intoxikationspsychosen (Morphinismus,
Cocainismus), die progressive Paralyse und die Gehirnsyphilis, und wegen ihrer rela-
tiven Seltenheit auch die periodischen und zirkulären Psychosen. Letzteres möchte
ich aus eigener Erfahrung bestreiten. Ich kenne eine Reihe von Fällen periodisch
upd zirkulär geisteskranker Kinder mit auffallend gehäuften und schweren Recidiven.
Allerdings glaube ich, daß sie weniger dem reinen manisch-depressiven Irresein zu-
gehören, sondern fürchte vielmehr, daß sie über kurz oder lang in den großen
Hafen der Dementia praecox einlaufen werden. Unter den akuten Psychosen nennt
Mönkemöller die maniakalischen Erregungszustände (Zerstörungstrieb
und Gewalttätigkeiten gegen die Umgebung in den schweren, überinütige Streiche
C. Literatur. 139
und Übertretung der Polizeivorschriften infolge des gesteigerten Lust- und Kraft-
gefühls in den leichteren Fällen), die Melancholie (Selbstmorde) und die Paranoia.
Bei der letzteren ist die systematisierende Form der Wahnbildung selten. Die
Kinder produzieren verworrene und unklare Wahnideen, auf Grund deren sie, nament-
lich wenn Sinnestäuschungen hinzutreten, Mord, Brandstiftung, Diebstahl usw. planen.
Diese Charakteristik scheint mir den Schluß zuzulassen, daß Mönkemöller manches
zur Paranoia rechnet, was ins Gebiet der Hebephrenie (Dementia praecox) ver-
wiesen zu werden verdient. Besonders wichtig ist es, die sogenannten Vorbereitungs-
stadien der Paranoiafälle richtig zu erkennen (Charaktereigentümlichkeiten, scheues,
verschlossenes Wesen, Mißtrauen, verbissener Groll usw.). Einen ıecht breiten
Raum unter den Geisteskranken der jugendlichen Verbrecherwelt nehmen die Epi-
leptiker ein (Charakterdegeneration, Dämmerzustände mit Gewaithandlungen, Brand-
stiftung, Wandertrieb). Weniger wichtig sind die Psychosen, die durch schwere
Kopfverletzungen hervorgerufen sind. Sie sind doch wohl nicht so häufig. Auf
dem Boden der Hysterie erwächst die pathologische Lüge (falsche Aussagen vor
Gericht, phantastische Anschuldigung Erwachsener wegen angeblicher Sittlichkeits-
delikte). Auch manche Zwangsvorstellungen führen das Kind zum Verbrechen
(Brandstiftung). Zutreffend ist der Hinweis darauf, daß die Pubertätsentwick-
lung zwar an sich keine Psychose ist, aber doch mit nicht zu unterscbätzenden
Störungen des psychischen Gleichgewichts einhergeht (Flegeljahre!), und vor allen
Dingen schlummernde Dispositionen zum Ausbruch bringt. In diesen Lebens-
abschnitt fällt auch das menstruale Irresein und der Hang zu exzessiver
Masturbation, mit der Neigung zu Delikten gegen Altersgenossen usw. Dem großen
Gebiete des angeborenen Schwachsinns und der psychopathischen Minder-
wertigkeit ist von Mönkemöller mit Recht eine eingehende Besprechung ge-
widmet. Auch das schwankende Bild der Moral insanity scheint mir richtig
gewürdigt und gezeichnet, wenn neben den ethischen Defekten gewisse, wenn auch
nicht so in die Augen springende, intellektuelle Schwächezustände und körperliche
nervöse Krankheitssymptome postuliert werden.
Die Feststellung des Krankheitsmomentes bei jugendlichen Verbrechern
ist nicht leicht. Vor Hinein-Suggerieren bei der Exploration ist dringend zu warnen.
Bewußte Simulation gehört zu den Seltenheiten.
Bei der Verwertung der sogenannten Degenerationszeichen als körper-
liche Dokumente für geistige Defekte ist größte Vorsicht geboten. Zeichen körper-
licher Entartung am Schädel, an den Ohren, den Zähnen, Genitalien usw. kommen
allerdings bei verbrecherischen Kindern nicht selten vor, finden sich aber auch bei
ethisch und intellektuell normalen. Die Verbrecherphysiognomien lassen ganz im
Stich. Von größerer Bedeutung bei der Beurteilung ist eine Reihe nervöser
Störungen, die den Rückschluß gestatten, daß wir kein normales Individuum vor
uns haben: Schielen, Augenzittern, Pupillen- und Facialisdifferenzeun, Tics, Stottern
u. a. m. Tätowierung fand Mönkemöller sehr häufig, kann aber darin nichts
Charakteristisches sehen. Das Motiv dazu ist meist kein tieferes als der Nach-
ahmungstrieb.
Unter den ätiologischen Faktoren ist neben der erblichen Belastung vor
allen Dingen hervorzuheben der Alkoholinißbrauch der Eltern mit seinen häuslichen
Konsequenzen (Mißhandlungen, unzureichende Ernährungs- und Wohnungsverhält-
nisse). Eine direkte Vererbung von verbrecherischer Neigung war nur in einem
geringen Prozentsatz zu ermitteln. Uncheliche Geburt, kümmerliche soziale Lage,
Tod der Eltern, schlechte Behandlung in der Pflege, die Prostitution der Umgebung,
140 C. Literatur.
m aa ne rn
Vagabondage und körperliche Gebrechen (entstellende Krankheiten) vervollständigen
die Summe derjenigen Umstände, die man Verbrechermilieu nennt.
Die Verbrechen des Kindesalters sind mannigfachster Art. Obenan steht
der Diebstahl, namentlich der sogenannte Bandendiebstahl, Sachbeschädigung, dann
Betrügereien und Unterschlagung, Schwindelei und Verleumdung, sowie Körper-
verletzung. Seltener ist Raub, Mord, Aufruhr und die Sittlichkeitsverbrechen. Die
Opfer der Päderasten, der Prostitution und der Vagabondage gehören hierher. Die
Brandstiftung beruht auf verschiedener Grundlage (Schwachsinn, Epilepsie, Hysterie,
Zwangsvorstellung) und ist kein spezifischer »Trieb«.
Von den Vorschlägen zur Verhütung der Geisteskrankheiten von
der Ascendez her ist nur der Kampf gegen den Alkoholismus der Erzeuger ernst
zu nehmen, alle sonstigen gesetzlichen Präventivmaßregeln werden Utopien bleiben.
Die prophylaktischen Aufgaben im Hause bestehen in ausreichender Ernährung,
Entfernung von den truuksüchtigen Eltern, Öffentlicher Fürsorge für die Kinder,
Verbot des Straßenhandels und der Teilnahme an zweideutigen Schaustellungen und
Gerichtsverhandlungen. Die Schule hat bereits segensreich eingegriffen durch die
Errichtung von Nebenklassen und Hilfsschulen. Weil sich das Institut der Schul-
ärzte — vor allem psychiatrisch gebildeter — nicht an allen Schulen schaffen lassen
wird, so ist die verständnisvolle Mitwirkung der Lehrer dringend erwünscht.
Die Unterbringung von geisteskranken Kindern ist recht schwer. Es bleibt
meist nur die Idiotenanstalt als ultimum refugium. In ihrer jetzigen Beschaffenbeit
ist sie nicht zweckmäßig wegen der zu großen intellektuellen Unterschiede der
Unterzubringenden, so daß sich die Errichtung von »Nebenabteilungen« in Anlehnung
an die Idiotenanstalten empfiehlt.
In strafrechtlicher Beziehung fordert Mönkemöller mit Recht, daß bei
Delikten Jugendlicher häufiger als es jetzt geschieht, nicht die Frage nach der Ein-
sicht für die Strafbarkeit der Handlung, sondern nach der Zurechnungsfähigkeit im
psychiatrischen Sinne aufgerollt werde. Die juristisch beliebten Verweise sind in
den meisten Fällen wirkungslos. Die Nachteile des Gefängnisaufenthaltes sind hin-
länglich bekannt. Die immer häufigere Anwendung der bedingten Strafaussetzung
bei jugendlichen Verbrechern ist vom psychiatrischen Standpunkte aus mit Freuden
zu begrüßen.
Soweit es sich nicht um akute Psychosen handelt, ist der Aufenthalt jugend-
licher geisteskranker Verbrecher in Irrenanstalten unzweckmäßig. Der Ort, wo das
Gros untergebracht wird, ist jetzt und für die absehbare Zukunft die Besserungs-
anstalt, gegen die Mönkemöller theoretische und praktische Bedenken vorbringt,
Die Behandlung und Einwirkung auf die Zöglinge wird sich dort vornehmlich dar-
nach richten müssen, ob es sich um geistig normale oder krankhaft veranlagte und
abnorm entwickelte Menschenkinder handelt. Sodann ist die Frage zu lösen, wie
die verschiedenen Krankheitskategorien sich zu den strengen Erziehungsgrundsätzen
stellen. Der einfache Schwachsinn wird andere Behandlung erheischen als der mit
ethischer Verkommenheit, gar nicht zu reden von den Epileptikern und Paranoikern
mit ihrer krankhaft gesteigerten Reizbarkeit und Zornmüdigkeit. Was Mönkemöller
über die körperliche Züchtigung, Isolierung, Bettbehandlung, ländliche Beschäfti-
gung usw. in der Fürsorgeerziehung, vorsichtig das Für und Gegen abwägend, vor-
bringt, wird den Beifall aller Psychiater und — so hoffe ich — auch der Pädagogen
finden. Daß er für den psychiatrisch gebildeten Arzt einen hervorragenden Platz
im Betriebe der Besserungsanstalten beansprucht, wird ihm selbst der enragierteste
Fürsorgeerzieher nicht verübeln.
Jena. Dr. Strohmayer.
C. Literatur. 141
Möbius, P. J, Ausgewählte Werke. Bd. I: J. J. Rousseau. Leipzig, Am-
brosius Barth, 1903. 8°. 312 S. Preis 3 M.
Ich möchte manchem einen Dienst erweisen, indem ich ihn auf die »Patho-
graphiens aufmerksam mache, die aus der Feder des bekannten Leipziger Neuro-
logen stammen. Was sind »Pathographien« und was will der Autor damit? Er will
der Biograph des »Pathologischen« sein, das bei den Geistesheroen so iunig mit der
Größe verwoben, ja sogar manchmal deren Grundlage ist. Der gewöhnliche Bio-
graph tappt an solchen Dingen verständnis-, wenn nicht taktlos herum, legt mehr
unter als aus und braucht. wenn er ehrlich sein will, in manchen Fällen wie der
Richter einen Sachverständigen. Der berufenste Sachverständige — wenn es sich
um psychische Abnormitäten handelt — ist der Psychiater. Da hilft keine Philo-
sophie, keine Psychologie, da bedarf es positiver Kenntnisse von den krankhaften
Seelenzuständen. Und dies um so mehr, je dünner die Wand ist, die den »Wahn-
sinn« vom großen Geiste trennt. Die Herren Biographen müssen sich die Mit-
wirkung des Psychiaters wohl oder übel gefallen lassen, wenn sie nicht vorzichen,
sie da mit Freuden zu begrüßen, wo sie das eigene Rüstzeug im Stiche läßt. Ver-
kehrt aber wäre es, wollte man die psychiatrische Betrachtungsweise als etwas
Despektierliches aus sentimentalen Rücksichten hindern. »On doit des égards aux
vivants; on ne doit, aux morts, que la vörite.«
Es ist ein Verdienst von Möbius, den gekennzeichneten, mühevollen Weg
beschritten zu haben. Möge ihn das Bewußtsein lohnen, daß etwas Brauchbares
dabei herauskommt! Das zeigt schon die erste Pathographie von J. J. Rousseau.
Gerade sie wird manchem Pädagogen die Gestalt Rousseaus in vollständig neuem
Lichte erscheinen lassen. Denn wie wenige wissen, daß er an Verfolgungswahnsinn
litt und daß seine »Bekenntnisse« die Verteidigungsschrift eines Paranoikers sind!
Vor kurzem ist als II. und III. Band die Pathographie unseres Dichterfürsten
Goethe erschienen; vorgesehen sind die von Schopenhauer und Nietzsche.
Und nun noch ein Wort an die Vertreterinnen des schönen Geschlechts!
Möchten doch recht viele an die Lektüre des Mannes herantreten, der zur Zeit
wohl der bestgehaßte unter den Männern ist, weil er den Weibern in einem kleinen
Büchlein mit einem herausfordernden Titel einige bittere Wahrheiten sagte. Dann
würden sie sehen, daß Möbius kein öder Stänker ist, der mit Kleinkram handelt,
sondern ein Mann, der turmhoch die weiblichen Kläffer überragt, der nicht witzelt
und nicht geistreichelt, sondern ernste Arbeit tut. Also lest Möbius getrost und
solltet Ihr auch keinen anderen Nutzen ziehen, als — objektive Betrachtungsweise
und gutes Deutsch kennen zu lernen.
Der Verlagsbuchhandlung gebührt ein Dank extra dafür, daß sie Möbius zu
so billigem Preise in so vornehmem Gewande dem gebildeten Publikum zugäng-
lich macht.
Jena. Dr. Strohmayer.
Verhandlungen der IV. schweizerischen Konferenz für das Idioten-
wesen zu Luzern am 11. und 12. Mai 1903. IJlerausgegeben vom Konferenz-
vorstande. Zu beziehen für die Schweiz vom Sekundarlehrer C. Auer in Schwan-
den (Kanton Glarus) zum Preise von 1,50 Fr., für Deutschland vom Oberlehrer
J. Thumm in Stetten i/Remstal (Württemberg) zum Preise von 1,20 M, mit
Porto 130 M.
Es ist erfreulich, zu vernehmen, daß die Schweiz, die Heimat- und Wirkungs-
stätte des großen Pestalozzi, im Sinne seiner Ideen auch den Schwachen am
Geiste wirksame Fürsorge angedeihen läßt und ihre Angelegenheiten auf diesem
142 C. Literatur.
Gebiete durch eine eigene Konferenz zu fördern sucht. Die Verhandlungen der
IV. schweizerischen Konferenz für das Idiotenwesen, deren Bericht jetzt vorliegt,
legen von den dortigen Bestrebungen beredtes Zeugnis ab. Wir beglückwünschen
die Konferenz zu ihren Erfolgen und versichern ihr, daß wir ihre Verhandlungen
stets mit lebhaften Interesse verfolgen werden.
Der Bericht bringt außer den Vorträgen der Konferenz noch eine Übersicht
über die schweizerischen Erziehungs- und Pflegeanstalten für Geistesschwache und
über die Spezial- und Nachhilfeklassen für schwachbegabte Kinder und im Anhange
die vorzüglichen Abbildungen der vorhin genannten Erziehungs- und Pflege-
anstalten. Der Gesamtinhalt des Berichts ist äußerst lehrreich; wir können aber
hier nur auf eine kurze Beleuchtung einzelner besonders wichtigen Angelegen-
heiten eingehen.
Der Vorsitzende der Konferenz, Sekundarlehrer C. Auer-Schwanden, be-
richtet über den gegenwärtigen Stand der Fürsorge für geistesschwache Kinder
in der Schweiz und liefert in seinen Ausführungen den Beweis, daß die Schweiz
mit ihren Bestrebungen auf dem Gebiete der Schwachsinnigenbildung tüchtig vor-
wärts gegangen ist. Es bestehen in der Schweiz 22 Erziehungs- und Pflegeanstalten
für Geistesschwache mit 958 Zöglingen, 53 Spezialklassen für schwachbefähigte Kinder
mit 1096 Schülern in 18 größern Orten und 36 Nachhilfeklassen mit 318 Kindern
an verschiedenen Schulen. Danach genießen in der Schweiz 2372 schwach-
begabte Kinder cine besondere Erziehung und Bildung, und das will bei einer
Bewohnerzahl von etwa 3 Millionen Seelen schon viel sagen. Möchten dem Bei-
spiele der Schweiz doch auch diejenigen Staaten bald folgen, die bisher wenig oder
gar nichts zum Wohle der geistig Schwachen getan haben.
Einen wertvollen Beitrag zur Symptomatologie, Ätiologie und Prophylaxe des
Schwachsinns bietet der Vortrag des Dr. A. Ulrich-Zürich, welcher den Schwach-
sinn bei Kindern, seine anatomischen Grundlagen, seine Ursachen und
seine Verhütung behandelt. Den Ausführungen des Referenten liegen folgende
Gedanken zu Grunde: »Schwachsinn ist der Sammelname für die mannigfaltigen
verschiedenen geistigen Schwächezustände. Der Schwachsinn gilt als die seelische
Äußerung einer körperlichen Erkrankung des Gehirns. Die Erkrankung ist an-
geboren oder erworben, sei es bei der Geburt, sei es in frühester Jugend. Die
anatomischen Grundlagen der Gehirnerkrankung sind verschiedener Art: Wachs-
tumshemmungen, Entwicklungsfehler, Mißbildungen, entzündliche und ähnliche Vor-
günge im Gehirn. (Zu kleines, zu großes Gehirn, Fehlen einzelner Teile, Erweite-
rung der Hirnhöhlen durch Flüssigkeitsansammlung usw.) Als Ursachen der dem
Schwachsinn zu Grunde liegenden Gehirnerkrankung kennen wir: Die erbliche Be-
lastung, die Vergiftung der Keimzellen mit Alkohol und andern Giften, Syphilis und
Tuberkulose der Eltern, Ausfall der Tätigkeit der Schilddrüse, Erkrankungen, Ver-
giftungen und Verletzungen des kindlichen Gehirns vor, während und nach der
Geburt. Die vorbeugenden Maßnahmen zur Verhütung des Schwachsinns be-
stehen theoretischerseits in der Erforschung der Ursachen, praktischerseits in der
Bekämpfung der bekannten Ursachen. Die Hauptaufgaben sind: Aufklärung des
Volkes über das Wesen und die Folgen der erblichen Belastung, die Bekämpfung
des Alkoholmißbrauchs, sowie anderer Gewohnheitsgifte, die Bekämpfung der Syphilis,
der Tuberkulose, des Kretinismus, der Krankheiten überhaupt und der Armut und
des Elends. Fernere Mittel zur Verhütung des Schwachsinns sind: Schonung und
richtige Pflege der Mutter während der Schwangerschaft und Schonung der Kinder
vor, bei und nach der Geburt.«
C. Literatur. 143
Das Korreferat des Direktors F. Kölle-Zürich verbreitet sich hauptsäch-
lich über die Ursachen des Schwachsinns. Redner unterscheidet folgende Gruppen
von Ursachen: »Ursachen, die wirklichem Verschulden der Menschen zur Last
fallen, wie Trunksucht, absichtliche Verletzungen der Mutter während der Schwanger-
schaft, Lues u. dergl. Ursachen, die durch Beobachtung einfacher Regeln etwa hätten
verhindert werden können, wie Verwandtschaftsheiraten oder Heiraten erblich be-
lasteter Familienglieder, Bewohnen ungesunder Häuser, Unachtsamkeit gegenüber
kleinen Kindern. Ursachen, denen gegenüber wir machtlos sind: Erkrankungen des
Kindes in den ersten Lebensjahren verschiedenster Art. Und Ursachen, die uns
bisher gänzlich unbekannt sind.«
Es erscheint in der Tat lohnend, das Nähere darüber in dem Berichte nach-
zulesen, der auch mehrere gute Abbildungen von Gehirnen verschiedener Schwarh-
sinnigen zur Verdeutlichung der Hirndefekte bringt. In der Diskussion weist
Dr. Ganguillet-Burgdorf auf die Erforschungen eines französischen Arztes hin,
der neue Gesichtspunkte auf die Art und Weise, wie Schwachsinn entsteht, be-
leuchtet. Der französische Arzt soll bei der Untersuchung der Gehirne toter Neu-
geborenen gefunden haben, daß oft schon vor der Geburt Blutergüsse ins Gehirn
stattfinden, deren Ursachen in Schädigungen der Mutter während der Schwanger-
schaft, in geschwächter Konstitution und in Vergiftungen zu vermuten sind. Des-
halb wäre es erwünscht, wenn die ärztliche Forschung in Zukunft mehr als bisher
die vorgeburtlichen Verhältnisse und Umstände berücksichtigen würde.
Die beiden folsenden Vorträge behandeln aus der Praxis heraus die Stellung
der Lehrkräfte und übrigen Angestellten in den Anstalten für Schwachsinnige
und die Stellung der Lehrkräfte an den Spezialklassen für Schwachbegabte. Die
Forderungen der Referenten, welche sich im allgemeinen noch in recht bescheidenen
Grenzen halten, sind durchaus zu billigen; unsere besser gestellten Anstalten er-
füllen diese in der Hauptsache schon seit längerer Zeit, freilich könnte manches
auch bei uns noch besser sein. Wunderlich jedoch mutet es uns an, wenn wir
erfahren, daß an den Schweizer Anstalten fast durchweg nur Lehrerinnen angestellt
sind, oft noch ohne Patent. Wir haben im allgemeinen gegen die Lehrerinnen
nichts einzuwenden, allein eine Erziehungsanstalt für Geistesschwache ohne eine
entsprechende Anzahl männlicher Lehrkräfte möchten wir nicht bestehen wissen;
denn wenn irgendwo männlicher Einfluß und männliche Einwirkung erforderlich
sind, so ist es bei diesen Anstalten der Fall, in denen ja der größte Teil der In-
sassen aus Knaben besteht, die zu ihrer Erziehung den Lehrer nicht gut entbehren
werden können.
Auch vermögen wir uns mit der Auffassung nicht einverstanden zu erklären,
daß die Spezialklasse für Schwachbegabte ein integrierender Bestandteil der Volks-
schule sein solle. Wir richten unsere Milfsschulen für schwachbegabte Kinder als
selbständige Schulanstalten ein und gebert ihnen im Interesse ihrer besseren Entwick-
lung und ersprießlicheren Wirksamkeit volle Selbständigkeit. Wir weisen deshalb die
Hilfsklassen oder Nachhilfeklassen vollständig ab, da diese Einrichtungen doch mehr
oder weniger nur etwas Halbes bedeuten. Unsere Erfahrungen mit der Begründung
selbständiger Hilfsschulen sprechen für Beibehaltung und weiteren Ausbau dieser
Anstalten; aus diesem Grunde empfehlen wir, auch dort Versuche mit der Er-
richtung selbständiger Schulen anzustellen, wir hegen dabei die feste Überzeugung,
daß unseren Hilfsschuleinrichtungen dann der Vorzug vor den Nachhilfeklassen ge-
geben werden wird. — Die Forderungen einer speziellen beruflichen Ausbildung der
IIılfsschullehrer billigen wir in jeder Beziehung und zollen den dortigen diesbezüg-
144 C. Literatur.
lichen Bestrebungen, den Veranstaltungen von Bildungskursen für Lehrer an Spezial-
klassen, unsere Anerkennung. Auch wünschen wir unseren Spezialkollegen Erfolg
in materieller Hinsicht, wie er uns schon vielfach zuerkannt worden ist. Die
Lehrer der Hilfsschule müssen manches Angenehme entbehren; der beständige Ver-
kehr mit geistig schwachen Kindern und die Arbeit an ihnen stellen hohe Anforde-
rungen an die Arbeitskraft der Erzieher, deshalb ist ihnen eine materielle Auf-
besserung und selbständige Stellung wohl zu gönnen.
Der letzte Vortrag befaßt sich mit der Sorge für die Schwachsinnigen
und Schwachbegabten nach ihrem Austritt aus den Anstalten bezw.
Spezialklassen. Man will in der Schweiz zur Erleichterung des Eintritts der
Geistesschwachen in das öffentliche Leben ähnliche Maßregeln treffen, wie sie bei
uns die Hilfsschulvereine (Leipzig, Königsberg i/Pr., Berlin) vorgesehen haben. Es
liegt auf der Iland, daß die Hilfsschulen und Erziehungsanstalten ihr Werk erst
dann ganz erfüllen werden, wenn sie ihren Zöglingen auch nach ihrer Entlassung
besondere Fürsorge angedeihen lassen wollten. Da der vorliegende Vortrag einen be-
achtenswerten Beitrag zur Lösung der Fürsorgeaufgaben nach dieser Seite hin bietet,
so lassen wir die Thesen desselben zur weiteren Beachtung und Prüfung hier folgen.
1. Erziehung und Unterricht in Anstalten und Spezialklassen für Schwach-
sinnige und Schwachbegabte sind so zu gestalten, daß auf ein möglichst selbständiges
Fortkommen der austretenden Zöglinge Bedacht genommen wird.
2, Zu diesem Zwecke ist neben den Schulfächern dem Handfertigkeitsunterricht
und den Handarbeiten alle Aufmerksamkeit zu schenken.
3. Es sollen nach dem Vorgehen der »Schweizerischen Gemeinnützigen Ge-
sellschaft«e in Orten, wo Anstalten und Spezialklassen für Schwachsinnige und
Schwachbegabte errichtet sind, Kommissionen ernannt werden, die Patrone für aus-
tretende Zöglinge bestellen.
4. Diese Patrone haben den erwerbsfähigen Schwachsinnigen geeignete Plätze
zu suchen und ihnen mit Rat und Tat an die Hand zu gehen.
5. Für die nur zum Teil erwerbsfähigen Schwachsinnigen sind Asyle mit land-
wirtschaftlichem Betrieb zu gründen. Der Staat leistet angemessene Beiträge und die
Gemeinden, deren Ortsangehörige hier versorgt werden, sorgen für genügende Kostgelder.
6. Damit für die unglücklichen Idioten allseitig gesorgt werde, sind Blödsinnige
und erwerbsunfähige Schwachsinunige in besonders zu gründenden Pflegeanstalten
unterzubringen. Die finanzielle Unterstützung geschieht wie bei These 5.
Jeder der Vorträge besteht aus einem Referat und einem Korreferat; diese
Art der Behandlung der Themen hat manches für sich. Es wird dadurch einer ein-
seitigen Auffassung der Aufgabe vorgebeugt und eine gründliche Beleuchtung des
Gegenstandes von verschiedenen Gesichtspunkten aus erzielt. Würde es sich nicht
empfehlen, bei unseren Konferenzen und Verhandlungen auch in dieser Art und
Weise die Themen zu behandeln? —
Der Schweizer Konferenz-Bericht erörtert die Beantwortung schwerwiegender
Fragen auf dem Gebiete des Schwachsinnigenbildungswesens und zeigt auch, wie
einzelne Aufgaben dieses Gegenstandes zu einer zweckmäßigen Lösung geführt
werden können. In anderer Beziehung aber gibt er Aufschluß über die anerkennens-
werten Fürsorgebestrebungen für Geistesschwache eines Staates, der mit seinen
humanen Einrichtungen an die Spitze der Völker gestellt zu werden verdient. Wir
empfehlen deshalb den Bericht zur Beachtung, wünschen ihm weite Verbreitung
und rufen unseren Schweizer Kollegen cin kräftiges: »En avant!« zu.
Stolp i;Pom. Fr. Frenzel.
Druck von Hormann Boyer & Söhno (Beyer & Mann) in Langensalza.
A. Abhandlungen.
l. Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache
von Gesetzesverletzungen Jugendlicher.!)
Von
J. Trüper.
(Fortsetzung.)
4. Während der Drucklegung dieser Fortsetzung erfolgte die
Freisprechung des Prinzen Prosper Arenberg vor dem Kriegs-
gericht. ‚Sie hat wieder einen Sturm gegen die Autorität der Regie-
rung und die Militärjustiz wie im Falle Hüssener hervorgerufen.
Selbst Blätter, wie die »Tägliche Rundschau«, der man wahrlich keine
Gegnerschaft gegen Regierung und Militär vorwerfen kann, bleibt
hinter der Affäre »zu viel Unbehagliches, ja geradezu Unheimliches
zurück«. Auch für uns ist das der Fall, und zwar noch in einer
andern Richtung, als die Tagespresse die Angelegenheit ausbeutet.
Wir können darum nicht umhin, ihn als ebenbürtiges ja über-
legenes Seitenstück zu Fischer, Hüssener und vor allem zu Dippold
1) Wegen der großen aktuellen Bedeutung dieser Frage für die geplante
Reform der Strafrechtspflege habe ich den in Halle gehaltenen Vortrag während
der Drucklegung noch durch Eınfügung mehrerer typischer Beispiele wesentlich er-
weiter. Der Schluß kann darum leider erst im nächsten Hefte erfolgen. Die
Sonderausgabe des »Berichtes über die Verhandlungen der V. Ver-
sammlung des Vereins für Kinderforschung am 11. und 12, Oktober
in Halle a. S.« erscheint aber schon jetzt und ist zum Preise von 1 M durch
den Vereinskassenwart, Herrn Lehrer STUKENBERG, Sophienhöhe bei Jena, wie durch
den Buchhandel zu beziehen. Mein Vortrag kommt dort auch in erweiterter Form
zum Abdruck.
Die Kinderfehler. IX. Jahrgang. j 10
146 A. Abhandlungen.
zu betrachten und auch an diesem Beispiel abermals zu zeigen, wie
teuer unser Volk die geringe Achtung der Jugendforschung und
Jugenderziehung als Wissenschaft und Kunst seitens der Macht-
habenden bezahlen muß und wie rückständig in dieser Hinsicht
unsere Justiz wie auch unsere Militärverwaltung ist. Denn Prinz
Prosper Arenberg gehörte zu den psychopathisch minder-
wertigen Gesetzesbrechern schon von Kind auf.
Die Zeugen bekundeten vor Gericht, ein Vetter des Prinzen von
väterlicher Seite sei geisteskrank. Die Mutter des Prinzen sei hoch-
gradig nervös. Von jenem her kann er zwar nicht direkt erblich
belastet sein, aber die Tatsache deutet doch an, daß auch in der
väterlichen Familie Psychopathien zu Hause sind, daß der Prinz also
mütterlicher- wie väterlicherseits die psychopathische Herabminderung
wahrscheinlich als Erbteil empfangen hat.
Mit dieser erblichen Belastung stimmt überein, daß der Prinz
nach Aussage der Zeugen schon als Knabe sich als Psychopath offen-
barte und an Verfolgungswahn litt; er sei schon als Knabe von
7 Jahren mit einem geladenen Revolver umhergegangen — nebenbei
bemerkt zugleich ein Zeichen von einer ganz unverantwortlichen
Erziehung, die das ermöglichte.
Der hervorstechenste Zug der Entartung seines Charakters war
die Grausamkeit. Schon als achtjähriger Knabe hat der Prinz
öfter Fische gefangen, den Tieren die Augen ausgestochen, den Bauch
aufgeschlitzt und sie dann fortgeworfen. Auch hat er in Fallen
Katzen gefangen und ihnen die Pfoten abgeschnitten, damit sie, wenn
er die Hunde auf sie hetzte, sich nicht wehren konnten. Die Herzogin
hatte dem Prinzen einen Seidenspitz geschenkt, er hetzte einen bös-
artigen Hund auf das Tierchen und während beide miteinander
kämpften, biß der jugendliche Prinz, der bald darauf bei den Kürassieren
eintrat, dem Seidenspitz den Schwanz ab. Als junger Offizier hat
der Angeklagte einen ausgegrabenen Dachs an den Hinterläufen auf-
gehangen und das Tier zwei Tage lang mit dem Kopf nach unten
hängen lassen. Der Prinz kam oft frühmorgens betrunken nach
Hause; er stach dann mit dem Degen nach seinem Hunde und das
Tier biß nach dem Herrn. Dann streichelte er das Tier und wusch
ihm das Blut ab. In Afrika ließ er störrigen Kamelen Feuer unter
dem Schwanz anzünden und wenn nun die Tiere wie von der Tarantel
gestochen aufsprangen, freute sich der Prinz kindisch darüber. Wenn
ein Ochse geschlachtet wurde, kam der Prinz schnell hinzu und
freute sich über die Todeszuckungen des Tieres. Eingeborene und
seine Hunde hat er in Afrika in der entsetzlichsten Weise gemißhandelt.
Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 147
Gegen Mitmenschen war der Prinz nicht viel anders. Er war
mitunter sehr grob und gebrauchte manchmal Ausdrücke, wie sie
ein gebildeter Mensch nicht benutzt, bezeugt der Stallmeister des Vaters.
Gegen seine Lehrer betrug er sich ungebärdig. Er prügelte sie, so
daß die meisten baldigst ihre Stellung aufgaben. Auf einem Ritt in
Südafrika schoß er plötzlich dem mitgenommenen Feldgeistlichen mit
dem Revolver unmittelbar an der Nase vorbei. Es ist darum wohl
kaum anzunehmen, daß er den Bastard Cain im Verfolgungswahn
getötet hat, sondern im Alkoholrausche aus purer Grausamkeit, und
die Behandlung des Halbtoten spottet ja auch jeder Beschreibung.
Der Prinz war dazu Alkoholist, vielleicht schon als Kind dazu
erzogen, den Sitten in solchen Kreisen entsprechend; denn wenn er
seine Lehrer prügeln und Tiere quälen durfte, dann wird man gewiß
auch nichts dagegen gehabt haben, daß er täglich sein Quantum
alkoholischer Getränke zu sich nahm, und der Alkohol hat natürlich
bei dem Psychopathen doppelt und dreifach anziehend und verderb-
lich gewirkt. Der Prinz trank in den Jahren 1896 bis 1898 Un-
mengen von Cognac, Steinhäger und Sekt. Er leerte in einer Viertel-
stunde eine ganze Flasche Cognac; eine Viertellitertasse trank er auf
einen Zug leer. In Münster, wo der Prinz in Garnison lag, trank
er mit dem Stallmeister von 10 Uhr abends bis 5 Uhr morgens
10 Flaschen Sekt, wovon dieser nur wenig getrunken haben will.
Dazu kamen Verderbnisse des Gehirns mit Nikotin. Er hat
in Afrika den schwersten einheimischen Tabak geraucht, der jedem
Europäer eine Zerrüttung seiner Nerven einträgt.
Die Buhle des Alkoholismus fehlte ebenfalls nicht, und sie stellte
sich ohne Frage weit mehr infolge des Alkoholmißbrauchs als infolge
der Grausamkeit ein, obgleich seine sexuellen Exzesse ja schon an
und für sich auch eine Grausamkeit waren. Die Aussagen über
diesen Punkt sind vor verschlossenen Türen gemacht, aber soviel
ist in die Öffentlichkeit durchgesickert, daß sie einfach unbeschreib-
licher Art gewesen sind, und ob nicht die schöne Yokbeth, die Frau
des Cain, wenn nicht die Triebfeder, so doch eine Triebfeder mit
gewesen ist für die grausame Ermordung des Cain, bleibt wohl da-
hingestellt. Jedenfalls steht er auch in dieser Beziehung dem Dippold
nicht nach, nur ist der Unterschied der, daß der Prinz auf alle mög-
liche Weise seinen Lüsten fröhnen konnte, eben weil er reicher Prinz
war, während die Mittellosigkeit dem Dippold manche Schranke auf-
erlegte.
Wie alle Alkoholiker war er in seinem Verhalten schwankend.
Gleich grausam gegen die Afrikaner wie gegen seine Hunde, war er
| 10*
u
148 A. Abhandlungen.
N
gegen die weißen Untergebenen oft seelensgut, bald aber auch jäh-
zornig, »gerade wie ihm die Mütze stande. Von seinem Kammer-
diener ließ er sich, wenn er nicht aus dem Bette zu bringen war,
mit dem Stiefelknecht bedrohen, mit Wasser begießen und die Bett-
decke fortreißen. Wenn er aufwachte, warf er mit Stiefeln und
andern Sachen nach seiner Umgebung.
Genau so pendelte er hin und her zwischen großer Furchtsam-
keit und Tollkühnheit. Ein Arzt beobachtete auf der Reise nach
Afrika, daß sich bei geringsten Aufregungen Zuckungen im Gesicht
zeigten und er oft sehr feige war. Bei einem kleinen Sturm ist er
mit Schwimmgürtel und im Hemde auf dem Verdeck unter den un-
besorgten Mitreisenden umhergelaufen und hat geschrien, das Schiff
geht unter. Er hat eine entsetzliche Furcht vor der Malaria ge-
zeigt und sich alle Augenblicke vom Arzte untersuchen lassen. In
Afrika sprang er nachts plötzlich auf, lief aus dem Zimmer mit der
Behauptung, die Schwarzen kämen und wollten ihn überfallen und
er vermutete auch am Tage hinter jedem Busch einen Schwarzen,
der ihn ermorden wolle. Andrerseits packte er eine giftige Schlange
beim Schwanze in der Art, wie es die eingeborenen Zauberer tun,
um sie zu töten, obgleich diese Tollkühnheit ihm das Leben kosten
konnte.
In ästhetischer wie in ethischer Beziehung war der Prinz auch
sonst ein eigenartiger Mensch. Er hat sich nie wie ein Offizier
betragen, er ist in einer alten schmutzigen Hose umhergelaufen und
hat Arbeiten, wie sie kein Weißer drüben getan, verrichtet.
Für ethische und ästhetische Dinge fehlte ihm eben jedes Wert-
urteil und jedes Schamgefühl, wenigstens trat es nicht in Aktion.
Er erzählte ungeniert über seine Mordtat, sein Geschlechtsleben und
seine Familie. Mit einem Ehebrecher und Giftmörder schwatzte er im
Gefängnis, wie dumme Jungen zusammen schwatzen. Wie Hüssener
war er der Ansicht, daß ihm das größte Unrecht geschehen sei durch
seine Verurteilung und er behauptet, daß er dem deutschen Reiche
einen Gefallen erwies, als er den »Verräter« Cain tötete. Der Kaiser
habe eine besondere Pike auf ihn, nur durch Gerichtsbeugung sei
er verurteilt worden.
So schwankt das ganze Charakterbild des Prinzen, der bald ein
Wüterich ist, dessen Wut sich im Zuchthaus zu Tobsuchtsanfällen
gesteigert haben soll, und bald ein unmündiges, gutmütiges Kind,
das durch korrekte Umgangsformen, die selbst manchem Hochgestellten
ja schon als Zeichen von Bildung gelten, über seine Minderwertigkeit
hinwegzutäuschen verstand.
Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 149
In Summa zeigt das ganze Bild des Prinzen, daß die juristischen
Begriffe »zurechnungsfähig« und »unzurechnungsfähig« durchaus nicht
auf ihn passen. Er war weder voll zurechnungsfähig noch voll un-
zurechnungsfähig, er war weder schwachsinnig, noch ausgesprochen
geisteskrank. Sein ganzer Ideenkreis war, wie auch der Sachverstän-
dige Herr Geh. Rat Prof. Dr. Lrprmann urteilt, trotz angelernten
Wissens und angeeigneter gesellschaftlicher Formen auf dem Stand-
punkte eines Unmündigen stehen geblieben. Er blieb auch als Mann
jungen- und flegelhaft.
Bei dem Prinzen haben wir es zwar von Haus aus mit einem
psychopathisch Degenerierten zu tun. Aber auch hier zeigt es sich
wieder, daß alle die erwähnten Eigenschaften durchaus nicht zur
Entwicklung zu kommen brauchten. Daß ein Prinz eine solche
Erziehung haben konnte, wie er sie nach den Zeugenaussagen gehabt
haben muß, ist schlechterdings nicht begreiflich. Eine gesunde,
schlichte Arbeiterfamilie würde niemals ein Kind erzieherisch so
verwahrlosen lassen, wie der Prinz verwahrlost worden ist. Wir sehen
ferner, wie wir auch an den voraufgegangenen Fällen dargelegt haben,
daß alle diese minderwertigen, degenerativen Eigenschaften durch
den Alkoholgenuß, der ja zum guten Ton gehört, zur Entfaltung
kommen mußten. Von unserm Standpunkte aus ist es auch ganz
unverständlich, wie man einen solchen Burschen Offizier werden lassen
kann. Wenn er dazu geeignet war, dann sind 80°/, der Rekruten
mit Volksschulbildung ohne weiteres weit fähiger zum Offiziersberuf.
Aber noch unverständlicher ist es, wie man ihn im Offizierkorps,
wo die einzelnen doch viel inniger miteinander verkehren als in jedem
andern Berufe, halten konnte und noch mehr, wie man cinen solchen
Menschen als Beschützer und Vorkämpfer christlicher Kultur nach
Afrika schicken konnte.
Und diesen grausamen Menschen hat die Justiz glattweg frei-
gesprochen. Die Freisprechung bedeutet doch eigentlich die Frei-
sprechung von Schuld und Strafe. Wenn hier keine Verschuldung
vorliegt, so gibt es überhaupt kaum Verschuldung. Dann hat
‚ Bebel recht, wenn er sagt: »Warum berücksichtigt man die Psy-
chiatrie nur im Falle Arenberg und nicht auch bei den vielen
Leuten, die geisteskrank sind, deshalb ihren Dienst nicht ordentlich
machen können und nun gemißhandelt werden?« Oder wie der
»Vorwärts« sich ausdrückt: »Arenberg war nicht verrückter als 90
von 100 derjenigen Mörder, die auf dem Schaffot oder im Zuchthaus
endeten.« Die Verurteilung sollte auch in einem solchen
Falle, wenn auch unter Berücksichtigung der verminderten Zu-
150 A. Abhandlungen.
rechnungsfähigkeit, unbedingt erfolgen, und zwar müßte sie im
Interesse der Individuen wie der Gesellschaft dahin lauten, daß der
Verbrecher solange in einer Heilanstalt, die zugleich Zwangsanstalt
ist, untergebracht werden muß, bis ein Sachverständigengericht das
Gutachten abgibt: er kann ohne Bedenken wieder mit der Gesell-
schaft in Berührung kommen, falls er nicht noch Strafe abzubüßen
hat. Unmöglich geht es, daß wir die große Mehrzahl unserer Ver-
brecher laufen lassen oder in das Irrenhaus schicken. Gegen die
psychopathischen Verbrecher — und sie sind wahrscheinlich
die Mehrheit — müssen wir doppelt geschützt werden. Es
sind und bleiben die rückfälligsten. Und die »Tägl. Rundschau«
sagt wohl kaum zu viel, »daß uns die erfreuliche Aussicht eröffnet
ist, dem Herrn, dessen gesellschaftliche Formen in der gerichtlichen
Aussage mehrfach von den Sachverständigen anerkannt worden sind,
nach einiger Zeit als eleganten Flaneur Unter den Linden zu be-
gegnen.«
So weist uns auch der Fall des Prinzen Arenberg hin auf die
folgenschwere Vernachlässigung der genetischen Psychologie und
Psychopathologie, auf die entsetzlichste Unwissenheit in diesen Dingen,
die die Frage erst aufwirft, nachdem der Prinz schon jahrelang in
Amt und Würde gestanden, eine lange Reihe von strafbaren Hand-
lungen begangen, dann von Urteil zu Urteil, von Begnadigung zu
Begnadigung geschleppt worden, bis schließlich Vorkommnisse im
Gefängnis eine irrenärztliche Untersuchung veranlaßte. Verstände
man soviel von dem Seelenleben des Kindes und des Jugendlichen
in allen gebildeten und herrschenden Kreisen wie von der Pferde-
und Hundezucht oder wie von den Feinheiten der Ausscheidungen
des Hefepilzes, durch welche man sich in Form von Wein und Bier
degeneriert, so wäre ein Fall Arenberg unmöglich.
5. Als fünften typischen Fall für psychopathische Vergehen gegen
Leib und Leben nenne ich den stud. jur. DiproLp, der seine Zög-
linge aus Grausamkeit und Wollust dermaßen mißhandelte, daß der
eine infolgedessen starb. Dieser Fall hat gleich dem Hüssenerschen
die Welt in Erstaunen und Erregung versetzt, wie auch eine Preß-
und Broschürenliteratur gezeitigt, die neben viel Beachtenswertem
für unsere Volkserziehung doch auch zu allerlei sehr bedenklichen
Forderungen kommt.
Das Verbrechen selbst ist hinreichend bekannt. Ich brauche
nur die psychopathischen Herabminderungen dieses rätselhaften
Charakters festzustellen.
Die Schule hat keine Defekte an ihm entdeckt. Er hat sie glatt
Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 151
bis zur Universität absolviert. Mutmaßlich galt er als begabt. Er
hat in kurzer Zeit erfaßt, wozu andere Jahre brauchen; der Kreis-
irrenanstaltsdirektor erklärte ihn darum für forensisch zurechnungsfähig;
er sei für seine Handlung voll und ganz verantwortlich. Hätte es
ihm somit nicht an Geld gefehlt, so wäre er gar bald Dr. jur. ge-
worden und hätte als Publizist, was er werden wollte, Tausende
unseres Volkes miterzogen, ihnen auch seinen Geistesstempel mit auf-
gedrückt, die große Zahl dekadenter Schriftsteller vermehrt, die
sich als Helden und Dichter vorkommen, wenn sie ihre wollüstig-
perverse Phantasie in Dramen und Romanen austoben können.
Und doch hatte selbst die Intelligenz Dippolds auffallende
Schäden. So teuflisch raffiniert und durchtrieben er war, an einer
bestimmten Stelle versagte sein Urteil vollständig und wurde oben-
drein von andern seelischen Faktoren krankhaft irregeleitet.
Der Irrenarzt stellte fest, daß er Wahrheit und Unwahrheit stets
zu vermischen pflege; seine ganze Rede sei hohle Schwätzerei und
Phrase, d. h. also, er vermochte gleich dem Schwachsinnigen ihren
Inhalt nicht zu beurteilen, zeigte also eine ähnliche Debilität wie
Hüssener. Er sei von größter Selbstüberhebung und von größtem
Größenwahn, d. h. sein Urteil über seinen eignen Personwert ver-
sagte.
Seine Phantasie war hoch entwickelt und sein Gedächtnis gut.
Daher einerseits die guten schulischen Leistungen und guten Empfeh-
lungen. Aber hohle Phrase, Größenwahn und die Gabe zu lügen,
zeugen andererseits von einer ungezügelten, abnormen, pathologischen
Phantasie.
Das sind in der Tat Intelligenzdefekte bedenklichster Art, und
sie machten ihn unfähig, sein eignes Wollen und Handeln richtig zu
bestimmen. Auf dem Gebiete des Ethischen, der Werturteile, waren
also auch Verstand und Vernunft pathologisch. Er war gleich Hüssener
und Arenberg schwachbefähigt, debil in ethischer Hinsicht.
Dazu war Dippold leicht reizbar bis zum Jähzorn, impulsiv,
leidenschaftlich und dabei roh, herzlos, schamlos, grausam und woll-
lüstig im höchsten Grade, und wiederum eitel bis zum Größenwahn,
egoistisch, herrschsüchtig, antisozial, alles weit über das Normale hin-
ausgehend ins ausgesprochen Pathologische, und endlich pervers
in seinen Sexualgefühlen. Und dies entartete Gefühlsleben bestimmte
seine Phantasie wie sein Wollen und Handeln, ohne die zuverlässige
Kontrolle des Verstandes. Auf den Vater seiner Braut hat er zudem
den Eindruck gemacht, als ob er geistesabwesend und »nicht recht
bei Troste« sei. Und als Dippold den Dr. Sever zu dem von ihm
-152 A. Abhandlungen.
totgeprügelten Heinz Koch kommen ließ, schimpfte er erst in un-
verschämtester Weise auf die Familie Koch, erzählte dann seine
Lebensgeschichte und erst nach zwei Stunden sagte er ihm, warum
er ihn habe rufen lassen! Kann so ein Gesunder handeln?
War Dippold darum zurechnungsfähig oder nicht? gesund oder
krank? oder vermindert zurechnungsfähig, weil psychopathisch minder-
wertig?!) Und wurde Prinz Arenberg freigesprochen, warum nicht
auch der Bauernsohn Dippold? Selbstverständlich ist das nicht unser
Wunsch.
Bei Dippold erhält man auf die Frage, wie der begabte Sohn ein-
facher, braver Bauersleute so pervers entarten konnte, auch bald eine
Antwort. Es mag ja sein, was die Tagespresse behauptete, daß die
sexuelle Verderbnis ursprünglich ausgegangen ist von einem flüchtig
gewordenen Pater, der 10 Jahre hindurch im Knabenseminar zu
Münnerstadt sein Unwesen getrieben haben sol. Und so viel
man aus allen Zeugenaussagen schließen darf, keimten alle jene
Charaktereigenschaften schon bei dem Schulknaben. Aber die hohe
Schule seiner Laster begann, wie ja der Student singt, »des morgens
bei dem Branntwein, des mittags bei dem Bier, des abends bei dem
Mädchen im Nachtquartier«, in der Kneipe und im Verkehr mit der
Kellnerin in Würzburg und dann in Berlin, wo er das Vermögen
des Vaters seiner Braut mit Dirnen in den Animirkneipen und wer
weiß wo verpraßte.
Hier holte Dippold die tatsächlich nachgewiesene sexuelle Ent-
artung nebst Syphilis. Denn wenn sein Gemüt und seine Phantasie
nicht vorher schon vergiftet gewesen, so mußten sie hier verderben,
wo er beim Bier und Wein saß, wo im Rauschzustande die ebenfalls
durch Alkoholismus verkommene Kellnerin ihn umarmte und wo man
nur im Rauschzustande seine Wonne findet in der Lektüre der
Sumpfblätter, die die Phantasie mit unkeuschen, wollüstigen Vorstel-
lungen schwängern, wo man kurz gesagt, ein kleiner oder großer
Dippold wird, über den seine noch nicht so weit fortgeschrittenen
Zöglinge ihrer Mutter entrüstet schrieben: »Dippold ist ein Schweine-
kerl, denn er frißt mit den Händen vom Teller herunter; er ist ein
Saukerl, denn er hat sich besoffen; er ist ein gemeiner Kerl, denn
er hat unsittlichen Verkehr mit vielen Frauenzimmern.«
1) Das »Recht, Rundschau für den deutschen Juristenstand, bringt einen Ar-
tikel: »Die kriminalistische Bedeutung des Falles Dippold«, worin der Verfasser der
Einführung einer »verminderten Zurechnungsfähigkeit«, doch ohne Annahme einer
»verminderten Schulds, nicht abgeneigt ist. Allenfalls könne man in solchem Falle
an mehr »edukatorische Strafvollzüge« denken. Wenigstens ein kleines Zugeständnis!
Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 153
6. Mit diesen Betrachtungen ist aber der Fall Dippold für unsere
Frage noch nicht erschöpft. Mehr als der Verbrecher verdienen unser
Interesse die Unschuldigen, die ihm zum Opfer fallen, in diesem Falle
die Gebrüder Heinz und Joachim Koch.
Der erste juristische Hauslehrer, stud. jur. Pexser-Berlin be-
zeugte, daß er bei den Knaben viel über Unaufmerksamkeit, Faul-
heit und Widerspenstigkeit zu klagen hatte und daß körperliche
Züchtigung nötig gewesen sei. Heinz war weichlicher und weniger
widerstandsfähig als Joachim. Im übrigen seien sie echte fröhliche
Jungen gewesen, die man lieb haben müsse.
Günstiger noch und zum Teil entgegengesetzt wie der Jurist
urteilen die Pädagogen.
Beide Brüder waren nach den Aussagen von Dr. Lierz in Hau-
binda und der Schulvorsteherin Fısk in Berlin sehr harmlose, leicht
lenksame Knaben von tadelloser Führung. Die geistigen Arbeiten,
ganz besonders die Erlernung fremder Sprachen, fielen Heinz schwer,
obgleich er den besten Willen zu lernen hatte. Er war sehr zart
veranlagt und etwas korpulent. Infolgedessen sei er etwas phleg-
matisch gewesen. Auch Heinz war von gutartigem Charakter, man
konnte ihm nicht böse sein. Sie seien milde und ohne Züchtigung
behandelt worden.
Von andern Zeugen wurde bekundet, daß die Jungen Nägel
kauten (ein nervöses Symptom!), daß sie ausgelassen wild sein konnten,
Schabernack liebten und in den Ausdrücken nicht wählerisch waren.
Entwendungen scheinen trotz Ableugnens der Angehörigen doch
eine Rolle gespielt zu haben; ein psychopathisches Symptom, auf das
wir noch später zurückkommen. Dabei sollten sie an Schlaflosigkeit
leiden, so daß Prof. Voert Schlafpulver verordnete; ein Mittel, ohne
das wir in 12 Jahren bei etwa 200 zumeist schwerer nervösen
Kindern, die ich in dieser Zeit behandelt, noch ausgekommen sind.
Diese Aussagen bedeuten für uns: wenigstens der Knabe Heinz
litt an anscheinend angeborener intellektueller Schwäche, namentlich
in der Sprachsphäre. Er war nervenzart und gehört zu der Gruppe der
reizbar Schwachen, die leicht interessiert und erregt sind, aber ebenso
leicht ermüden, im Charakter dabei gutherzig schwach, d. h. auch zu
Fehltritten allerlei Art fähig sind. Die Mutter redet sogar in einem
Briefe an Heinz, Dippold solle ihn »aus dem Sumpfe retten«. Hinzu
kam Fettsucht, die im Kindesalter meistens auch eine Begleiter-
scheinung von nervösen und seelischen Herabminderungen ist. An-
scheinend war auch das Herz nicht intakt. Darauf läßt der Ausgang
der Tragödie schließen. Und ob die Öhnmachtsanfälle, die ich bei
154 A. Abhandlungen.
meiner reichen Erfahrung, noch nie bei Kindern gesehen habe, nicht
epileptische Anfälle waren und ob der Knabe schließlich nicht in
einem solchen Anfalle, verschuldet durch die grausamste Mißhandlung,
starb, erscheint mir nicht unwahrscheinlich.
Und diese Knaben übergibt man nun nicht einem direkt erziehe-
risch, wenn auch in der Regel für solche Fälle noch ungenügend
akademisch oder seminaristisch vorgebildeten und erfahrenen Lehrer
oder einem der Erziehung im allgemeinen noch wohlgeneigten Kan-
didaten der Theologie oder Philologie, die an der Universität doch
so ganz nebenbei auch wohl ein Kolleg über Psychologie und Päda-
gogik hören, sondern einem verkommenen Studenten der Juris-
prudenz!
Wer wählte und konnte für sie wählen diesen moralisch ver-
kommenen stud. jur. als »erstklassigen« Erzieher? War er erstklassig,
weil er stud. jur. war oder weil er pervers war?
Sehr treffend schreibt Maxman Harpen in der »Zukunft«:
»Der Herr Kommerzienrat würde einem nicht jahrelang vorher er-
probten Manne für eine Viertelstunde den Kassenschlüssel nicht an-
vertrauen, würde in die Effektenabteilung der Bank selbst zu unter-
geordneter Arbeit keinen Menschen aufnehmen, der nicht klipp und
klar bewiesen hätte, daß er zuverlässig und in seinem Beruf tüchtig
ist. Wenn er seinen Kindern einen Erzieher sucht, begnügt er sich
mit einem Inserat. ... Die Wahl fällt auf den Studiosus Dippold,
»weil er die besten Empfehlungen hat« Woher? Darnach wird nicht
gefragt.«
Ich möchte fragen, woher kann er gute Empfehlungen als Er-
zieher haben? Etwa von den Dirnen, mit denen er das Geld des
Vaters seiner Braut verpraßte? Allerdings ist das Zeugnis- und Emp-
fehlungswesen vielfach ein großes Unwesen voll wissentlicher oder
leichtfertiger Unwahrheit, wobei auch der Vorsichtigste gründlich
hineinfallen kann.
Weiter. Vor Dippold waren diese Knaben schon zweimal in der
Pension von Frl. Fınk-Berlin und sodann im Landerziehungsheim
Haubinda gewesen, und mit Dippold waren sie erst in Berlin, dann im
Harz, dann in Bayern. Und Dippold war auch schon der zweite Student
der Rechte als Hauslehrer der Knaben, die Ärzte würden im gleichen
Falle sagen: der zweite »Kurpfuscher«. Ob man glaubte, daß jemand,
der die Strafgesetze studiert hat, am geeignetsten für solche Knaben
sei — das Strafen verstand ja Dippold — oder ob das Vorurteil
gegen Lehrer und Theologen und für Juristen und Offiziere in diesen
begütertsten Kreisen ausschlaggebend war, weiß ich nicht. Die Wahl
Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 155
dieses »erstklassigen, idealen Menschen« ist mir aber ganz unbegreif-
lich. Wie kann man als reicher Mann einen solchen versumpften
Studenten als Knabenerzieher wählen? Und das alles nach Aussage
des Vaters bloß wegen des leidigen, aber für uns ganz naturgemäßen
Zurückbleibens im Schulunterricht! Eine entsetzliche Strafe für eine
ohne Frage angeborene Schwäche!
Verstanden hat von allen Nahestehenden die Knaben keiner,
denn sonst hätte man ganz unmöglich die Dinge bei den vielen War-
nungen derer, in denen die ureigensten menschlichen Instinkte der
Teilnahme und Kinderliebe noch nicht erstorben waren, so laufen
lassen können, noch; dazu so lange. Der Knabe ist dem Unver-
stande geopfert worden. Auch nur ein Schimmer von psycho-
pathologischem, ja von einfach kinderpsychologischem Verständnis
hätte den Weg einschlagen können. Das rührende Herz einer Mutter
genügt nicht. Auch verstanden wollen Kinder sein.
Das ist die rächende Nemesis an den Hochgestellten, die die
Pädagogik dermaßen als Aschenbrödel behandeln und verachten, daß
sie glauben, das Studentenleben befähige jeden zum Erzieher, während
man z. B. auf medizinischem Gebiete sofort »Kurpfuscher« schreit
und nach dem Staatsanwalt ruft, wenn ein »Laie« nur den Körper
eines andern in Behandlung nimmt. Ist denn die Seele nicht min-
destens soviel wert wie der Körper und die Entwicklung der Jugend,
auch zur Verhütung der Verbrechen, nicht so wichtig wie die Be-
strafung der Verbrecher, so daß man neben die medizinische und
juristische Fakultät auch eine pädagogische stellen sollte?
Anstatt zu solchen Forderungen zu kommen, setzten sich hundert
berufene und unberufene Federn in Bewegung, um an der Hand
des Falles Dippold bald die Notwendigkeit der ärztlichen Aufsicht
: über die Erzieher darzutun — trotzdem der Neurologe Prof. Voert
den Dippold für einen »idealen« Erzieher auf Grund seiner ärzt-
lichen Kontrolle erklärte und dem im ganzen gesunden Jungen
Schlafpulver verschrieb! —, und bald die Frage nach der Berech-
tigung der körperlichen Züchtigung und der Unterweisung in der
Sexualität zu beantworten. Dabei behandelte man obendrein Dippold
als Typus eines Erziehers! Und man ging dabei so weit zu be-
haupten: »Der Fall Dippold ist geradezu typisch für die immer mehr
überhand nehmende Grausamkeit der modernen Menschheit.« Und es
wurde alles, was seit je die Menschheit an pathologisch grausamen
Wollüstlingen gezeitigt hat, aufgezählt, um zu beweisen, daß die Jugend
von Erziehern gezüchtigt wird aus Wollust! Dippold, so behauptet
derselbe Autor, wurde wahrscheinlich in der Jugend geprügelt und
156 A. Abhandlungen.
infolgedessen ein so perverser Wollüstling. Andere wiederum
zichen aus dem Fall Dippold die Lehre, daß weit mehr in der
Erziehung geprügelt werden müsse, .die Prügelstrafe auch in den Ge-
fängnissen wieder| einzuführen sei, damit keine Dippolds heranwachsen,
während jener folgert: »Wir müssen dahin kommen, daß die körper-
liche Züchtigung aus unserm Erziehungsleben völlig verschwindet und
daß auch dem Kinde bereits eine entsprechende Aufklärung über das
Geschlechtsleben geboten wird«, auch natürlich über das perverse,
damit der Teufel ja recht deutlich an die Wand gemalt werde.
Selbstverständlich ist die »freie Liebe« und die Prostitution für diese
modernste »Pädagogik« etwas Gutes, Empfehlenswertes. Sie war es
ja doch auch im Mittelalter und ist es noch im Morgenlande und,
fügen wir hinzu, in den Sümpfen unserer Großstädte.
Nein, umgekehrt ist es, gewisse »modernen« Schriftsteller und
Buchhändler, die für Millionen von Mark die Jugend über Sexualität
schamlos aufklären, die erbärmliche, im Sumpfe sich behaglich fühlende
pornographische Schandliteratur züchtet uns die Dippolds und die
»geheimen Jugendsünden«, auch der Kinder. Sie gehören als Be-
günstiger der Dippolds mit auf die Anklagebank!
Ich bedauere hier so abschweifen zu müssen, aber ich möchte
nicht gerne, daß unsere Wünsche von den Sadisten und Masochisten
verunreinigt werden. Ich erstrebe eine gesunde Erziehung, dem
gesunden Instinkt entsprechend auch als Norm für die Abnormen,
nicht aber eine pathologische Erziehung für die Gesunden. Der
Großstadtsumpf ist kein gangbarer Weg für uns. Wohl aber zwingt
er uns, mit psychiatrischem Blicke das Abnorme zu betrachten und
zu überlegen, wie man seiner Entfaltung vorbeugen könne Weil
an einem Laternenpfahl sich schon einmal jemand erhängt hat, soll
man doch die Laternenpfähle nicht beseitigen und die Stadt ver-
finstern lassen. Allenfalls verbiete man — das Erhängen! Die Frage
der körperlichen Züchtigung und der sexuellen Belehrung ist auch
für mich diskutabel, aber nicht im Anschluß an den Fall Dippold.
Dippold war kein Erzieher. Dippold war selber ein Objekt der
Heilerziehung! Der Fall Dippold mit seinen Opfern lehrt uns nur,
wie ein psychopathisches Seelenleben scheußliche Verbrechen im Ge-
folge und wie die Unkenntnis solcher Zustände strafwürdige Pflicht-
vergessenheit zeitigen kann, die auch die Verteidigungsrede eines
Staatsanwaltes nicht reinwäscht. (Schluß folgt.)
Kırrer: Hygienische und psychologische Bedenken usw. 157
2. Hygienische und psychologische Bedenken der
körperlichen Züchtigung bei Kindern.
Von
Dr. O. Kiefer, Stuttgart.
Es gibt auch aufgeklärte, freidenkende Menschen, welche da
meinen, ohne die Prügelstrafe gehe es run einmal nicht bei der Er-
ziehung von Kindern oder doch jedenfalls nicht bei der Knabener-
ziehung; die unbändige Wildheit vieler Knaben müsse durch mäßige
Prügel an die Schranken unserer Kultur gewöhnt werden; wer das
nicht einsehe, gehöre halt zu den »Humanitätsduslern«, welche die
Wirklichkeit nicht verständen. Ohne nun für diesmal die Unrichtig-
keit dieser Ansichten zu beweisen, will ich mich einfach darauf be-
schränken das hygienisch und psychologisch Bedenkliche jeder, auch
der leichtesten körperlichen Züchtigung zu erörtern; der verständige
Lehrer wird dann schon wissen, was er zu tun hat.
Noch ziemlich verschiedene Arten von körperlichen Strafen wen-
den die Kulturvölker unserer Zeit zur Bestrafung der Jugend an,
von der Ohrfeige und den »Tatzen« bis zu den mit cynischer Grau-
samkeit und kalter Berechnung erteilten abgezählten Stock- oder gar
Rutenhieben auf den in die dafür geeignete Lage gebrachten Sitzteil.
Wenn nun auch »offiziell« die Ohrfeigen als sehr gefährlich meist
verboten sind, so kommen sie doch, wie der Fall Deditius neulich
wieder einmal gezeigt hat, noch häufig genug vor und haben, wie
man aus diesem traurigen Fall und tausend andern ohne viel Über-
legen entnehmen kann, sehr oft die allerschlimmsten Folgen für die
im Kopf befindlichen Organe der Gezüchtigten. Weniger schlimm
scheinen beim ersten Anblick die sogenannten »Tatzen« zu wirken:
was können auch, meint man und meinen die meisten Schulordnungen,
so ein paar »leichte Streiche« mit einem »dünnen Stöckchen« oder einer
Rute auf die inneren Handflächen viel schaden? Und doch kennt
man Fälle, da durch so einen »leichten Streich« einem Kind die Hand
für immer gelähmt worden ist, und zum wenigsten pflegen diese
»Streiche« derart heftig erteilt zu werden, daß die an sich so zarte
Hand des Kindes anschwillt und längere Zeit arbeitsunfähig bleibt.
Wer das leugnet, befrage einmal einige Hundert von Durchschnitts-
volksschülern, und er wird es kaum für möglich halten, wie roh
und grausam noch viele unserer »Jugendbildner« sein können!
Doch wenn das alles wäre, wollte ich gar nichts sagen; aber da
kommt nun die Mehrzahl der Schulordnungen und gestattet auch
noch die im Volksmund mit dem Wort »Hosenspanner« recht trefiend
158 A. Abhandlungen.
bezeichnete Art der Prügelstrafe, und diese Art in allererster Linie
ist es, welcher unsere Betrachtung gilt. Ich brauche wohl kaum auf
die die Seele des Kindes und des Lehrers in gleicher Weise ent-
würdigende Art des äußeren Vorgangs bei der Erteilung dieser Strafe
hinzuweisen, ob sie nun unter vier Augen oder, was meistens
üblich und noch verderblicher, vor der ganzen Schulklasse, ob sie
an dem in der Bank stehenden vornübergebeugten, oder an dem über
das Knie des Strafenden gelegten oder an dem über einen Stuhl ge-
streckten Kinde vorgenommen wird. All das ist im Grunde genommen
einerlei, die Wirkungen auf Körper und Seele bleiben immer dieselben.
Und diese Wirkungen sind sehr schlimm. Zunächst ist auch bei der
leichtesten Strafe derart nie abzusehen, welche etwa in dem Kinde
bereits latent liegenden Leiden durch die enorme seelische und körper-
liche Erschütterung, welche diese Strafe darstellt, zum akuten Aus-
bruch gebracht werden; man lächelt, wenn der Arzt sagt, es Kann
eine Lungenentzündung u. dgl. durch eine Tracht Schläge hervorge-
rufen werden, und doch ist es so, man meint, außer ein paar Striemen
und Beulen am Sitzteil könne doch von »Folgen« derartiger Strafen
keine Rede sein, und doch nennt ein hervorragender Forscher u. a.
als Folgen: Quetschung, Entzündungen, Eiterungen bis unter die
Muskulatur, Brand, Entzündungen und Vereiterungen im Becken,
Lähmung der unteren Extremitäten, Reizung des Geschlechtstriebes,
tödliche Brustkrämpfe, Nervenfieber, Brustentzündung, Bluthusten und
Blutbrechen! Natürlich werden derartige schlimme Folgen selten auf-
treten, allein sie sind eben durchaus unvorhersehbar, was ja gerade
für den Gezüchtigten und den Züchtiger oft so furchtbar wird! Auf
eine der oben genannten Folgen aber will ich besonders hinweisen:
auf die Reizung des Geschlechtstriebs, diese Folge ist natürlich am
wenigsten leicht nachweisbar und kommt doch, wie der mit offenen
Augen Begabte weiß, so oft vor: da ist auf einmal der frische, ge-
sunde Junge der Onanie verfallen, kein Mensch kann begreifen, wie
das kam, verführt kann er nicht sein, denn er wird so gut beauf-
sichtigt, aus Büchern kann er’s nicht haben, denn man weiß genau,
was er liest! Und doch? Also kann’s nur die in ihm liegende Bosheit
sein — und die vertreibt man mit dem Stock! Aber merkwürdig: die
Sache wird immer schlimmer und die grausamsten Strafen helfen
nichts! Natürlich nicht, ihr törichten Leute, denn gerade eine Tracht
Hiebe hat ja in dem unglücklichen Kind, ihm selber kaum bewußt,
den ersten Anreiz zum Laster gegeben, und dieses entnimmt den
weiteren Hieben immer neue, immer stärkere Reize, ja es kann, wie
man in Rousseaus Bekenntnissen nachlesen kann, die Prügelstrafe
Kerer: Hygienische und psychologische Bedenken usw. 159
selbst schon als ein die Sexualsphäre in Tätigkeit setzender Reiz
wirken! Und dann gehts mit Schrecken dem Abgrund entgegen und
aus dem Geprügelten wird schließlich -— das ist das Merkwürdigste!
— ein sich an den Qualen anderer mit Wollust labender Mensch,
— ein Dippold! Und es gibt viele Subjekte dieser Art! Nur treiben
es die meisten derselben nicht so weit, nicht gar so bestienhaft, son-
dern wissen ihrer Prügellust das Mäntelchen der »Erzieherpflicht«
umzuhängen ....! Es sollte darum ein gewissenhafter Erzieher, wenn
er nur die geringsten Spuren von derartigen Trieben, die leider auch
vererblich sind, in seiner Seele entdeckt, es sich zur heiligen Pflicht
machen, niemals mehr zu einem Züchtigungsmittel zu greifen, so stark
auch die Versuchung dazu sein mag, denn es ist nachgewiesen, daß
derartige Triebe sich dadurch, daß man ihnen nachgibt, verstärken
und den Menschen immer weiter herabziehen und zum Sklaven der
widerlichsten Art Wollust machen. Aber auch in den Kindern, die
bei einem solchen Akte der Grausamkeit Zuschauer sein müssen,
entstehen verderbliche Wirkungen: ihr Grausamkeitstrieb wird rege,
sie werden in ihrem feinen Empfinden abgestumpft, die Schaden-
freude wird erweckt, ja selbst in ihnen kann solch ein Anblick schon
sexuelle Empfindungen auslösen, wofür ich selbst Beispiele erlebt habe.
Gerade diese bei allen Beteiligten, den Geprügelten, den Prüglern
und den Zuschauern mögliche sexuelle Wirkung der Strafe ist für
mich das stärkste Gegenargument gegen alle Verteidigungen der
Prügelstrafe, und ich meine, alle andere Schäden der Prügelstrafe
wären noch erträglich, wenn dieser eine absolut ausgeschlossen
wäre. Man entgegne nicht: diese Wirkung ist selten und kommt
wohl nur bei heftigen Schlägen vor; meine Erfahrung lehrte mich,
daß diese Wirkung öfter vorkommt als der Laie ahnt und daß sie
bei jeder Prügelstrafe, auch bei der auf die Waden erteilten — die
man im Hinblick auf die Gefahren der Züchtigung aufs Gesäß
empfohlen hat -— möglich ist und vorkommt! Ich verweise übrigens,
um zu zeigen, daß die Ärzte dies schon längst wissen, auf Bocks Buch
vom »Gesunden und kranken Menschen«, das besonders den Ruten-
hieben diese Wirkung zuschreibt, dann auf die bekannten Forschungen
von Mort und Krarrt-Ebing sowie auf Dünrens ausführliches Werk
»Das Geschlechtsleben in England« Bd. II, das von Beweisen gerade-
zu wimmelt. Es ist sehr bedauerlich, daß nicht schon in den weite-
sten Kreisen diese Dinge bekannt sind; wieviel Unglück wäre
durch ein Kennen dieser Dinge auf seiten der Eltern und Lehrer
schon verhütet worden! Besonders Kinder, die an sich schon mit
geistigen oder körperlichen Defekten behaftet sind, müßten in dieser
160 A. Abhandlungen.
Hinsicht mit aller Vorsicht behandelt werden, denn bei ihnen ist natür-
lich die Möglichkeit einer abnormen Erregung des Geschlechtslebens
noch viel größer als bei sonst gesunden und vernünftig erzogenen
Kindern.
Welche Folgerungen ergeben sich nun aus diesen Tatsachen?
Meines Erachtens mit zwingender Notwendigkeit die Forderung der
Abschaffung jeder Prügelstrafe in den Schulen, oder doch, wenn dies
nicht über Nacht geht, wenigstens die der weitgehendsten Einschrän-
kung: Absolutes Verbot aller Entblößungen natürlich, aber auch ab-
solutes Verbot aller Züchtigungen während des Unterrichtes oder in
Anwesenheit anderer, Aufsparen der Züchtigung für ganz seltene Fälle
von sittlicher Verkommenheit, niemals allerdings als Strafe gegen so-
genannte »Unsittlichkeiten«, d. h. gegen sexuelle Laster und niemals
bei Knaben, die notorisch der Onanie huldigen und die in besonderen
Anstalten mit strenger Körperarbeit im Freien u. dgl. untergebracht
werden müßten; dann aber auch viel energischeres Vorgehen der
Gerichte gegen jede auch nur geringe »Überschreitung des Züch-
tigungsrechts« und unwiderrufliche Absetzung derartiger Lehrer!
Aber auch die Eltern dürften sich diese Forderungen gesagt sein
lassen, denn sie legen oft am ersten durch törichtes Prügeln in
ihre noch ganz kleinen Kinder den Keim zum Verderben; mir ist
ein Fall bekannt, wo ein 4jähriger Knabe durch die vielen Schläge,
die er bekam, zur Onanie gebracht wurde, die sich. steigerte unter
den gegen dieselbe angewandten Rutenstreichen! Gegen solche Eltern
kann man staatlich nichts tun — leider! Aber gerade deswegen
sollten die Eltern ihre staatlich garantierte Freiheit zu prügeln oder
nicht, im guten Sinne nützen und einen Stolz darein setzen, ihre
kinder durch andere Mittel zu brauchbaren Menschen zu erziehen!
3. Medizin und Pädagogik.
Von
J. Trüper.
2. Zur Abwehr gegen Herrn Sanitätsrat Dr. Jenz.
Herr Prof. D. Dr. Zimxer veröffentlichte in der November-Nr.
1902 der Zeitschrift »die Krankenpflege« — herausgegeben von
Prof. Dr. med. MenpeLsonn, Verlag von Georg Reimer-Berlin — einen
Aufsatz mit der Überschrift »Eine Streitfrage zwischen Ärzten
und Pädagogen«. Hierauf antwortete Herr Sanitätsrat Dr. Jexz,
Direktor der Großh. Idiotenanstalt in Schwerin, in der Märznummer
1902/3 in einem längeren Artikel mit gleicher Überschrift.
TrÜPer: Medizin und Pädagogik. 161
Darauf folgte wieder in der Septembernummer desselben Jahres
eine gründliche Entgegnung von Orro Nienaus.
Wir hatten mit dem Zınmerschen Artikel absolut nichts zu schaffen.
Ich habe ihn ohne Frage später als Herr Dr. Jenz kennen gelernt.
Es liegt darum keine Veranlassung vor, uns in den sachlichen Streit
beider einzumischen. Herr Sanitätsrät Dr. Jenz hat aber in einer
eigenartigen Weise unsere Zeitschrift mit zum Objekt seiner An-
griffe gemacht, so daß wir diese Kampfesweise dem Urteile unserer
mitbetroffenen Leser wie Mitarbeiter unterbreiten müssen. So sagt
er gleich eingangs Seite 530:
»Es schließt sich dieser Aufsatz einer Reihe ähnlicher Artikel an, die in
den letzten Jahren, speziell in »heilpädagogischen« Zeitschriften und Berichten, er-
schienen sind und die Unterstellung von Idiotenanstalten unter ärztliche Leitung —
zum Teil in wenig vornehmer und objektiver Weise — vom Standpunkt der sich
in ihren Interessen bedroht fühlenden theologischen oder aus dem Lehrerstande
hervorgegangenen Leiter von privaten und sogenannten öffentlichen Wohltätigkeits-
anstalten für Idioten oder Epileptische bekämpfen.«
Ich weiß nicht, wer außer mir eine solche Artikelreihe in »heil-
pädagogischen« Zeitschriften veröffentlicht hat. Und Tatsache ist es,
daß in dem Zmmerschen Artikel viele meiner Gedanken wiederkehren,
womit ich aber keineswegs die Verantwortung für alles Gesagte über-
nehme. Wenn Herr Dr. Jexz das Angeführte aber in Bezug auf
meine Artikel behauptet haben sollte, so machte er sich einer argen
Entstellung und einer Unterschiebung falscher Motive schuldig, was
weder »vornehm« noch »objektiv« wäre. Unter andern bin ich weder
Leiter einer Anstalt für Idioten noch für Epileptische, noch habe ich
vom Standpunkte des Standesegoismus aus die ärztliche Leitung be-
kämpft, sondern nur Übergriffen abgewehrt. Das »heilpädagogisch«
in Anführungszeichen bedeutet zudem für Verständnisfähige ungefähr
dasselbe wie »Kurpfuschereie. Und die Art, wie er von Zmner als
»Laien« spricht, der sich auf ein Gebiet begebe, von dem er nichts
verstehe, und der Gefahr laufe, sich ebenso zu verirren, als wenn er
behaupte, »die Idiotie sei eine Gehirnkrankheit«, bestärkt nur diese
Auffassung. Aber sonderbar, was ich Dr. Weycanpr abstreite, das
streitet Dr. Jexz Prof. Zimmer ab. »Idiotie ist keine Gehirnkrank-
heit, sondern höchstens die Folge oder ein Symptom einer selchen«,
sagt Dr. Jexz in fast wörtlicher Übereinstimmung mit mir. Er mußte
ja nun eigentlich daraus folgern: dann hat der Mediziner nichts mit
ihr zu schaffen. Er folgert aber das Gegenteil. Doch will ich mich
in diesen Streit nicht weiter einmischen, sondern lediglich die
Kampfesweise damit kennzeichnen.
Auch später, Seite 533, stellt er wieder Behauptungen auf gegen
Die Kinderfchler. IX. Jahrgang. ll
169 A. Abhandlungen.
er te i a rn EHER
die »meisten der Aufsätze, die von pädagogischer Seite ausgehen«,
welches unbegründete Verdächtigungen sind, wenn sie sich auf unsere
Zeitschrift beziehen sollen. Sollen wir in beiden Fällen aber nicht
gemeint sein, warum nennt Herr Dr. Jexz dann nicht seinen Prügel-
jungen? »Vornehm« und »objektiv« ist das wiederum nicht.
Unmittelbar darauf nennt er zwar endlich in seiner »vornehmen«
Art einen Bösewicht. Es steht Seite 533:
»Beiläufig will ich nur bemerken, daß mir häufig die wenig objektive Art
und eine gewisse Überschwenglichkeit in den Aufsätzen von Pädagogen, die die
Fragen der Idiotenbehandlung erörtern, aufgefallen ist, so daß ich zuweilen unwill-
kürlich beim Lesen solcher Aufsätze denken mußte: wo die Begriffe fehlen, da stellt
zur rechten Zeit ein Wort sich eın. Schrieb mir doch einmal auch ein solcher
Pädagoge, der mir über ein Kind berichten wollte. »ihre Psyche flattert umher wie
ein Schmetterling, der keine Ruhe finden kann.« Das ist ja entschieden wunderschön
gesagt — ich hatte dieselbe Wendung übrigens nicht lange vorher, wennich nicht
irre, in einem Aufsatz der Zeitschrift für Kinderforschung gelesen und sie
hatte mir damals schon entschieden imponiert —, aber leider konnte ich mir wenig
Positives dabei vorstellen oder für die Beurteilung des Kindes daraus Nutzen ziehen.«
Es ist sein gutes Recht, in dem Streite die Schwächen der
Lehrer oder wie er an anderer Stelle wieder in Anführungszeichen
höhnt, der »Pädagogene, zu geißeln. Das kann ihm niemand verargen.
Aber wer geistig und moralisch so viel höher stehen will, der sollte
objektiver denken können und nicht mit so überkleinlichen Waffen
in einer so ernsten Sache kämpfen. Vornehmer, gescheiter, tapferer
und humaner wäre es z. B., die verantwortliche Mecklenburgische
Regierung anzufassen, wenn die Lehrerschaft dort wirklich beruflich
so ungenügend vorgebildet ist, als er wiederholt betont, also für die
Lehrer an Vorbildung mit Entschiedenheit zu fordern, was ihm als
Arzt ja zumeist auf Staatskosten (insofern Gymnasium und Universität
Staatsanstalten sind) zu teil geworden ist. Denn als typisch muß er das
Beispiel doch betrachten. Sonst hätte es ja keinen Zweck. Und im
andern Falle mag er doch den Mann nennen und nicht den ganzen
Stand damit belasten. Ob der Satz in unserer Zeitschrift gestanden,
weiß ich nicht. Ich würde aber keinen Artikel ablehnen, der ihn
enthielte, noch auch den Satz streichen. So kleinlich wird uns ja
wohl kein Leser halten. Und wenn Herr Dr. Jexz sich nichts dabei
denken konnte, dann wird der Lehrer entschieden gescheiter gewesen
sein, der sich etwas dabei gedacht hat. Auch bin ich überzeugt, daß
unsere Leser genau wissen, was der Lehrer damit meinte, der sich
zudem in der noch einigermaßen anständigen Gesellschaft von —
Herrder befindet, wie der vortreffliche Artikel über »Herder und die
Kindesseeles in voriger Nummer der Zeitschrift von Prof. Dr. Leo
Lascer bekundete. Wenn unsere logische Bildung so tief stände, daß
Trürer: Medizin und Pädagogik. 163
»eins« oder selbst »einige« für uns gleich »alle« bedeuten, daß wir
mit einzelnen Vorkommnissen eine allgemeine Forderung begründen
wollten, dann hätten wir es leicht, wenn wir, was uns übrigens nie
eingefallen ist, die Unfähigkeit oder nur Unzweckmäßigkeit der Ärzte
für die Leitung von Idiotenanstalten beweisen wollten. Ich würde
den von mir hochgeschätzten Stand beleidigen, wollte ich auch nur
die öffentlich bekannt gewordenen Vorkommnisse, geschweige denn
die mir persönlich bekannt gewordenen psychiatrischen Unkenntnisse
einzelner Ärzte ihm irgendwie zur Last legen. Ich wünsche nur, daß
die Kampfesweise von Jexz und WeryGannt nicht das Verhältnis unserer
pädagogischen Leser und Mitarbeiter zu den ärztlichen trüben möge.
Wie Jesz überhaupt den Lehrer einschätzt, dafür ein Beispiel.
Er sagt S. 536/7 vom Arzte:
»In gewissem weiteren Sinne ist nämlich jeder Arzt, besonders der Irren-
arzt stets mehr oder weniger Pädagog.«... »Der Arzt als Leiter einer Idioten-
anstalt oder einer Anstalt für Epileptische kommt vollständig mit seiner ihm ver-
möge seines Berufes innewohnenden Erziehungskunst aus.«
Würde ein Lehrer dasselbe in Hinblick auf die Heilbehandlung
sagen, sofort träfe ihn von Jexz und Genossen ohne Gnade der Bann-
strahl »Kurpfuscher«.
Herr Dr. Jexz sagt weiter Seite 537 vom Lehrer:
»Wir wollen und können absolut in diesen Anstalten nicht auf die Mitarbeit
des Lehrers verzichten, seine Tätigkeit und Hilfe bei der Behandlung von Idioten
und Schwachsinnigen wird in keiner Weise von uns unterschätzt, wir halten sie im
Gegenteil für unentbehrlich.<.... »Beide, der Lehrer an der Idiotenanstalt wie der
Masseur, sind Gehilfen des Arztes, die, selbst ohne volles Verständnis für die
Ursachen und Eigentümlichkeiten des einzelnen Erkrankungsfalles, doch im stande
sind, vermöge ihrer beruflichen Ausbildung dem Arzt bei der Behandlung der be-
treffenden Kranken wesentliche und oft unentbehrliche Dienste zu leisten — Dienste,
die, wenn der Arzt sie selber übernehmen müßte, seine Kraft und Zeit unnötig und
ungebührlich in Anspruch nehmen würden — und so oft die Behandlung erst zu
einer erfolgreichen zu machen.«
Das ist genau dasselbe wie das mittelalterliche Verhältnis des
Geistlichen zum »Organisten, Schulmeister und Küster«, wie es in
Mecklenburg ja wohl noch zu Recht besteht. Da ist es uns un-
möglich, über die Frage selbst mit Herrn Sanitätsrat Dr. JExz noch
zu streiten. Wir leben im 20. Jahrhundert.
Diese Behandlung eines ganzen Standes, dem in unserm Vater-
lande ca. 5 Millionen mindestens 8 Jahre und täglich mindestens 5 Stun-
den anvertraut sind, ist um so unerhörter, als die Frage der Standes-
ehre bei manchen Ärzten gegenwärtig eine so hervorragende Rolle
spielt und jeder, der nur irgendwie in ihre Berufswirksamkeit hin-
übergreift, sofort als »Kurpfuscher« hingestellt wird.
11*
164 A. Abhandlungen.
Wir wollen nicht Gleiches mit Gleichem vergelten und nun auch
bei jeder Gelegenheit von »Schulpfuschern« reden. Wir wollen viel-
mehr nach wie vor daran festhalten, daß Medizin und Pädagogik,
Arzt und Lehrer bei der körperlichen und geistigen Entfaltung nicht
bloß der »Idioties, nicht bloß der Abnormen schlechthin, sondern
der gesamten Jugend Hand in Hand arbeiten müssen und daß das
nur möglich ist, wenn jeder Stand den andern und jede Wissenschaft
die andere als ebenbürtig anerkennt. Beides sind notwendige orga-
nische Glieder am Volksorganismus. Je mehr eins dem andern Hand-
reichung zu leisten sucht, desto besser für beide Teile.
Keineswegs vertritt auch Herr Sanitätsrat Dr. JEexz, die Ansichten
des gesamten Ärztestandes. Mit Männern, wie BERKHAN, BINSWANGER,
Koch, KRUKENBERG, PELMAN, ZIEHEN u. a, wissen wir uns in der
schwebenden Frage durchaus zu verständigen.!) Jenen Anschauungen
und Angriffen gegenüber aber werden wir uns um des Zusammen-
arbeitens willen nach wie vor nur abwehrend, aber entschieden
abwehrend verhalten.
3. Zur Abwehr der Kampfesweise des Herrn Dr. phil. et med. Weygandt.
Der Angriff von Herrn Sanitätsrat Dr. Jenz ist harmlos gegen-
über einem längeren Artikel von Herrn Dr. phil. et med. WEYGAnDT
in Nr. 38 v. J. der von dem Oberarzt Herrn Dr. med. BRESLER in
Lublinitz herausgegebenen »Psych.-Neurol. Wochenschrift« (Verlag
von Carl Marhold-Halle) mit der Überschrift »Über die Leitung des
Idiotenwesens«, worin er gegen unsere Zeitschrift wie gegen die »Zeit-
schrift zur Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer«e den un-
geheuerlichen Vorwurf erhebt: »dafs in der Zeitschriftenliteratur des Idioten-
wesens die Ärzte nur geduldet sind, aber nicht einmal das Recht haben, sich
persönlichen Invektiven gegenüber ihrer Haut zu wehren.«< Das heißt für
uns: unser ganzes Programm und unsere neunjährige Zusammenarbeit
war unlauter und gründete sich auf den Mißbrauch des Vertrauens
der mitwirkenden Ärzte!
Was veranlaßte Herrn Dr. Weycanor dazu? Und ist das irgend-
wie begründet?
In Heft I (Januar) und III (Mai) des Jahrganges 1902 dieser Zeit-
schrift veröffentlichte ich, wie unsere älteren Leser sich erinnern,
ein paar Artikel mit der Überschrift: »Über das Zusammen-
1) Der Leser wolle z. B. den nachstehenden Artikel Kochs über die Schul-
arztfrage nach Ton und Inhalt mit den Ausführungen von Jenz und WEYGANDT
verglichen.
TRÜPER: Medizin und Pädagogik 165
wirken von Medizin und Pädagogik bei der Fürsorge ab-
normer Kinder.« In diesen Artikeln widmete ich u. a. auch der
Schrift Weveanpts »Die Behandlung idiotischer und imbe-
ziller Kinder in ärztlicher und pädagogischer Beziehung«
(Würzburg 1900) eine eingehende Besprechung. Der Gesantinhalt
meiner Ausführung ging dahin, daß Medizin und Pädagogik wie Ärzte
und Lehrer im Hinblick auf die gesamte Jugend zur gegenseitigen
Handreichung und Unterstützung immer wieder aufeinander ange-
wiesen sind und daß darum die Frage, wer in den einzelnen Fällen
die Leitung übernehmen soll, nicht so generell, wie Herr Dr. WEYGANDT
es versucht, entschieden werden kann, daß aber das moralische Recht
dort liegt, wo für den einzelnen Fall der »Löwenanteil« der Arbeit,
wie Herr Dr. Wevscasor sich ausdrückte, zu leisten ist. Und wo
Herr Dr. Wrycaxor diesen »Löwenanteil« für die Pädagogik unum-
wunden zugestand, da, so sagte ich im Gegensatz zu ihm, hat sie
auch das erste Anrecht auf Leitung der Veranstaltungen zur Für-
sorge. Alles aber, was an Rückständigkeit in der einen oder andern
Wissenschaft vorhanden ist, könne nicht mitsprechen, sondern hier
müsse man zuvor auf Beseitigung der Mißstände dringen und um
das zu ermöglichen, u. a. auch der Pädagogik das zubilligen, was
die Medizin längst hat.
Ich hatte lange zu der Schrift geschwiegen. Das ist richtig.
Aber als diese Schrift vielfach als normativ betrachtet wurde, da
durfte ich als Herausgeber d. Ztschr. nicht mehr schweigen. Kritiklos ein
Buch wie das Weveanprsche hinnehmen, hieße die gemißhandelte Päda-
gogik zum Sklaven nicht der Medizin, sondern eines Mediziners er-
niedrigen. Die Grenzfrage, die er gestellt, mußte freimütig erörtert
werden. Das habe ich versucht. Und in derselben Nummer steht
neben der Kritik der Weycanptschen Schrift cine andere, wo ich die
Angriffe eines einflußreichen Schulmannes auf die moderne Medizin
und ihre Bedeutung für die Erziehung Abnormer schärfer als die
Weycantsche Darstellung der Pädagogik zurückweise, ein Zeichen,
daß ich nicht für die Pädagogik um der Pädagogen willen und gegen
Medizin und Mediziner kämpfe, sondern lediglich für die Sache,
der alle zu dienen haben. Ich habe an der Weyvcaxprschen Schrift
gelobt, was ich loben konnte, und abgewiesen, was von unserm
Standpunkte aus abgewiesen werden mußte. Herr Dr. WEYGaANDT
nennt das zwar »an den Haaren herbeiziehen«. Ich darf aber doch
wohl meine abweichenden Ansichten für ebenso wichtig als er die
seinigen erachten und sie ebenfalls noch öffentlich zum Ausdruck
bringen, selbst wenn jene Pflicht es nicht geböte. Oder stehe ich
166 A. Abhandlungen.
zu dem Mediziner auch in demselben Verhältnis wie der Jexzsche
»Masseur«, der blind seine Ansicht sich anzueignen hat? Diese ein-
gehende Kritik auch in den Einzelheiten war notwendig wegen des
weittragenden Schlusses, der aus den gesamten Ausführungen gezogen
wurde und der für die Abnormenfürsorge ungemein folgenschwer
werden kann, wie ich das damals näher dargelegt habe. Um dieses
Schlusses willen war es wichtig, die gesamten Prämissen auf ihre
Richtigkeit und Tragweite hin zu prüfen, um so mehr, weil die
Schrift als maßgebend hingestellt wurde, obgleich ich damals nicht
wußte, daß sie cs auch sein sollte, daß sie im behördlichen
Auftrage bearbeitet war, wie ihr Verfasser jetzt bekennt.
Herr Dr. Wexycaxot hat zu meinem Aufsatze Jahr und Tag ge-
schwiegen. Dann schrieb er mir urplötzlich am 3. Juni 1903:
»Sic werden sich vielleicht schon gewundert haben, daß ich auf Ihre Angriffe
in den »Kinderfehlern« bisher nicht antwortete. Ehe!) ich die längst fertige
Antwort einer andern Zeitschrift übergebe oder sie als offenen Brief
erscheinen lasse, möchte ich Sie fragen, ob Sie die Antwort, die selbstverständ-
lich, wie bei den Angriffsartikeln nicht anders zu erwarten, polemisch gefärbt ist,
in den Kinderfehlern selbst erscheinen lassen würden, so daß sie also vor den-
selben Leserkreis käme, der die Augriffsartikel erhielt.
Ich antwortete darauf:
»Da ich mitsamt unserer Zeitschrift auf dem Standpunkte stehe, daß in der
Heilerziehung Pädagogik und Medizin zusammenzuwirken haber und ich soviel ich
kann auf das Zusammenwirken hinarbeite, so kann mir selbstverständlich
eine weitere Diskussion der umstrittenen Frage in unserer Zeit-
schrift nur willkommen sein, also auch eine Entgegnung auf meine
eignen Artikel. Wenn ich darum auch eine endgültige Zusage erst nach der
Lektüre ihrer Entgegnung geben kann, so bin ich doch grundsätzlich gerne
bereit, jeden weiteren fördernden Beitrag zu der Frage zum Abdrucke zu bringen.
Da ich dem sachlichen Grundgedanken Ihrer Schrift durchaus sympathisch gegen-
über stehe, so teile ich auch ganz Ihre Ansicht, daß die Differenzen
vor demselben Leserkreis klarzustellen sind. Haben Sie darum die Güte,
mir Ihre Arbeit einzusenden. Ich gebe Ihnen dann so bald als möglich endgültige
Antwort. In einem Punkte dürften Sie aber irren. Sie reden von »Angriffen«.
Mein Doppelartikel war eine Abwehr nach zwei Seiten. Darauf darf ich Sie wohl
im vorab schon aufmerksam machen.«
Ich erhielt dann später den Artikel, von der — Schriftleitungder
»ZJeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epi-
leptischer« zugesandt. Auf meine Anfrage hin erfuhr ich, daß auch
der pädagogische Mitherausgeber, Herr Direktor SCHRÖTER, sich zu
der Aufnahme bereit erklärt hatte, wenn Herr Dr. WEYGANDT
die persönlichen Angriffe (nicht: die Abwehr persönlicher In-
1) Die Sperrungen der Zitate sind von mir veranlaßt. Tr.
Trürer: Medizin und Pädagogik 167
vektiven!) fortließe und ich den Artikel ablehnen würde, da er doch
nur vor demselben Leserkreise Zweck habe.
Jene Drohung des Herrn Dr. phil. et med. Wersaxpr enthielt
also eine nackte, wissentliche Unwahrheit.
Daraufhin habe ich Herrn Dr. Weysaxpr am 30. Juni doch noch
folgendes geantwortet:
Ihren von der Redaktion der »Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger
und Epileptischer« abgelehnten Artikel habe ich mit Dank empfangen und nunmehr
gelesen. Es entspricht jedoch, um mit Ihren eignen Ausdrücken zu reden, »den
in wissenschaftlichen Kreisen üblichen Gepflogenheiten nicht«,, nach fast 2 Jahren
noch eine Entgegnung auf eine Buchbesprechung zu bringen, die ich Ihnen gleich
nach dem Erscheinen derselben zugesandt habe. Unsere Leser werden sich der
Einzelheiten meiner Artikel ja gar nicht mehr erinnern und den zahlreichen neuen
Abonnenten sind dieselben ja ganz und gar unbekannt geblieben. Hätten Sie jedoch,
wie ich Ihnen das letzte Mal schrieb, in einer streng sachlichen Entgegnung einen
wesentlichen Beitrag zur Lösung der schwebenden Frage geliefert, so wäre mir der-
selbe selbstverständlich auch jetzt noch willkommen gewesen und
auch dann, wenn Sie meinen Ansichten in allen Punkten entgegen-
getreten wären. Auch, wenn Sie Ihren Artikel dahin umarbeiten und durch
Streichung des für unsere Leser Selbstverständlicheu kürzen wollen, steht unsere
Zeitschrift Ihnen jederzeit zur Verfügung. Ich würde auch nach zwei
Jahren noch jede Berichtigung, die Sie nach dem Erscheinen des Artikels
ja ohnehin auf Grund des Preßgesetzes verlangen konnten, gern aufnehmen,
denn es hat mir schr fern gelegen, Ihnen in irgend einem Punkte unrecht zu tun,
sowohl in sachlicher wie in persönlicher Hinsicht. Aber eine Antikritik von 21 Seiten
können Sie nicht als eine derartige Berichtigung betrachten. Außerdem würde ein
solcher Artikel auch erst im Laufe des nächsten Jahres zum Abdruck kommen
können, weil noch auf lange hinaus der Raum für alle Hefte besetzt ist, und Ihren
Artikel, mit dessen Einsendung Sie selbst über 1'', Jahre Zeit hatten, jetzt als einen
dringlichen aufzufassen und zu bevorzugen, werden Sie einer Redaktion nicht zu-
muten. Das entspricht keinen Gepflogenheiten. Eine kurze, den Gepflogenheiten
entsprechende Berichtigung hätte ja selbstverständlich sofort in jedem Hefte Platz
gefunden. Im ubrigen aber liegt auch sonst noch Literatur vor, die mich als
Herausgeber der Zeitschrift zwingt, zu der Frage »Medizin und Pädagogık« aufs
neue Stellung zu nehmen und einzelne Punkte noch etwas deutlicher zu beleuchten.
Ich denke meine Kritik Ihrer Schrift wird dann vielleicht auch noch etwas ver-
ständlicher werden. Für die sachliche Weitererörterung werde ich also selbst Anlaß
geben. Unsere Zeitschrift steht dann nach wie vor auch abweichen-
den Ansichten offen.
Ich will selbstverständlich hier keine Antikritik liefern. Aber auf ein paar
Punkte möchte ich Sie doch hinweisen, ich denke in Ihrem Interesse. Zunächst
nennen Sie meinen Artikel »Angriffe. Ich schrieb Ihnen neulich schon, daß es sich
in demselben lediglich um eine Abwehr handelte; nicht um eine Abwehr persön-
licher Art, sondern um eine solche, die das öffentliche Interesse erheischt, das ich
als Herausgeber der Zeitschrift zu vertreten habe. Ich kann mir psychologisch
vielleicht erklären, wie Ihnen gar nicht zum Bewußtsein gekommen ist, daß Ihre
Schrift augreifend vorgegangen ist. Ich sollte aber meinen, aus meiner Antwort
hätte Ihnen das klar werden müssen.
168 A. Abhandlungen.
Wenn Sie Ihren Artikel genau prüfen, so werden Sie weiterhin finden, daß
Punkt für Punkt, was Sie mir darin vorhalten bis auf den Druck- oder Schreib-
fehler des fehlenden »h«,!) auf diesen Ihren Artikel selbst zutrifft, und wenn Sie
dann meinen Artikel nochmals genau lesen, dann werden Sie finden, daß vieles,
was Sie mir vorwerfen, von mir gar nicht behauptet wurde. Es kann nicht meine
Aufgabe sein, Ihnen das brieflich im einzelnen nachzuweisen. Die Mühe wird sich
erst lohnen, wenn Ihr Artikel irgendwo erscheinen sollte.
Aber nur einen Punkt Ihrer Antikritik möchte ich an dieser Stelle klarstellen,
weil er sagt, daß Sie eine persönliche Ehrenkränkung in meiner Abhandlung emp-
fanden. Da solche Absicht mir sehr fern gelegen hat, so halte ich es selbstver-
ständlich für eine Ehrenpflicht, Sie darüber aufzuklären. Mutmaßlich wird das
auch wohl der Punkt gewesen sein, der ein Gefühl schuf, das Ihnen den mir sonst
nicht begreiflichen Artikel diktiert hat. Sie schreiben Seite 21:
»Das Stärkste in seiner Polemik leistet sich Herr TrürErR, indem er mir
das Motiv des Suchens nach persönlichen Vorteil unterschieben will und von
‚Forderungen Dr. WiyGasprs und einiger anderer Ärzte, die so Beschäftigung
suchen,‘ zu reden wagt.«
Ich gestehe gerne zu, daß beim flüchtigen Lesen jemand zu Ihrer Auffassung
kommen und mir den von Ihnen vorgeworfenen Gedanken unterschieben kann,
aber nichts hat mir ferner gelegen, als bei diesem Satze an das Suchen nach
Ihrem eigenen persönlichen Vorteil zu denken. Es liegt ja auch ganz klar auf
der Hand, daß ich den Nebensatz nur »auf andere Ärzte« und nicht auf Sie
gemünzt haben kann, und meines Erachtens kann er sich bei genauer Prüfung
auch sprachlich und logisch nur auf die letzteren beziehen, was, wie gesagt,
aber beim flüchtigen Lesen übersehen werden kann. Doch für Flüchtigkeiten
anderer bin ich nicht verantwortlich. Ich habe an der Haud Ihrer Schrift gerade
deshalb die Punkte so scharf hervorheben können, weil dieser Gedanke, das
Suchen persönlicheu Vorteils, beiIhnenfürjeden Leserausgeschlossen
ist und weil genau dasselbe auch bei mir zutrifft, denn ich stehe in der Frage
persönlich ganz außer Schußweite. Wer mich persönlich oder meine Anstalt näher
kennt, dem brauche ich das nicht mehr zu sagen. Ich glaubte darum auch, diese
Frage besprechen zu dürfen, ohne in den Verdacht irgend welcher persönlichen
Interessen kommen zu können. Bei andern trifft das auf beiden Seiten eben nicht
immer zu, und darum ist die Diskussion der Frage auch auf beiden Seiten nicht
immer ganz objektiv geblieben. Daß ich Sie persönlich nicht gemeint baben kann,
geht doch schon daraus hervor, daß ich wußte und aus dem Titei des Buches, den
ich voll abdruckte, ersah, daß Sie Privatdozent seien und mithin eine ganz andere
Karriere einschlagen wollten, die bei jener Frage ja absolut nicht iu Betracht
kommeu kann. Ich wußte ja auch ferner und habe das auch in meiner Rezension
gesagt, daß Sie nach der einen Seite hin mit mir das redliche Bestreben haben, auf
eine Zusammenarbeit von Medizin und Pädagogik hinzuwirken. Sie haben das be-
wiesen durch Ihre Mitarbeit an unserer Zeitschrift, an der Zeitschrift für die Be-
handlung Schwachsinniger und Epileptischer usw. Aber daß es noch »andere Ärzte«
gibt, ich denke dabei namentlich an die vielen beschäftiguugslosen der Großstädte,
die hier auf Anstellung hoffen, das wissen Sie besser als ich, und daß dieselben
1) In »erethisch« hatte der Setzer das »hs fortgelassen, was ich bei der
Korrektur übersehen und Weycaxpt hervorhebt, während er den Namen des be-
kannten Pädagogen und Philosophen regelmäßig »Herbarth« schrieb.
Trürer: Medizin und Pädagogik. 169
einen starken Einfluß auf die Frage ausüben und ausgeübt haben, werden Sie gewiß
auch nicht leugnen wollen, auch wenn es nicht so handgreifiich und direkt nach-
gewiesen werden kann, und wenn es geschehen könnte, würde man es ja selbst-
verständlich unterlassen, eben weil diese Herren ja bedaueruswert genug sind, als
daß man sie deswegen noch direkt angreifen und verurteilen sollte.
Zum Überfluß will ich noch hinzufügen, daß es im Grunde doch für Sie
etwas Verdienstvolles ist, wenn Sie aus sozialer Fürsorge für Ihre Kollegen
in dieser Sache eintreten. Ich meine also, daß Sie hier wie auch an andern
Stellen gegen Gedanken kämpfen, die mir selbst im Traum nicht ein-
gefallen sind.
Wie gesagt, wenn jene falsche Auffassung Ihnen das übrige diktiert haben
sollte, so sind vielleicht auch andere Vorwürfe von diesem Gesichtspunkte aus ver-
ständlicher. Im andern Falle ist mir Ihre ganze Entgegnung einfach nicht begreif-
lich. Wenn ich irgend eine andere Absicht hätte, als für eine gute Sache zu
kämpfen, dann könnte mir nichts willkommener sein, als Ihren Artikel in unserer
Zeitschrift eiligst zum Abdruck zu bringen. Zur Abwehr brauchte ich nur die be-
treffenden Stellen aus meinen früheren Artikeln in Fußnoten dazu abzudrucken
und könnte dann das übrige Urteil ruhig den Lesern überlassen.
Aber ich habe und suche keine persönliche Gegnerschaft und erst
recht keine derartigen Genugtuungen. Wenn aber der alte Hohenzollerngrundsatz
verletzt wird: »Jedem das Seine«, dann werden Sie mich immer unerschrocken auf
dem Plane finden, gleichviel wer dann für oder wider mich ist.
So bitte ich meine Artikel verstehen zu wollen.
Endlich darf ich Sie wohl noch darauf aufmerksam machen, daß Sie sich mit
Ihrem Briefe vom 3. dieses Monats eine arge Blöße gegeben haben. Kommt Ihr
beiliegender Artikel zum Abdruck, so bedauere ich, dieselbe zur Charakterisierung
Ihrer Kampfweise öffentlich aufdecken zu müssen, worauf ich Sie im vorab auf-
merksam machen möchte,
Nun kann ich es Ihrem eignen Ermessen ganz überlassen, mit dem Artikel zu
machen, was Sie wollen.«
Wiederum verging ein halbes Jahr, bis am heiligen Abend mir
der Postbote »einen offenen Brief« von Herrn Dr. phil. et. med. Wer-
GANDT übergab, enthaltend einen Sonderabdruck aus Nr. 38 vorigen
Jahres der »Psychiatr.-Neurol. Wochenschrift«. Ich sah, daß es der
bekannte Aufsatz war und ließ ihn bis gegen Ende Januar liegen,
wo mir Freunde mitteilten, daß er auch sie mit dem Sonderabdruck
beschenkt habe!) und sie mich nach Dingen fragten, die mir nicht
bekannt waren und die mich nötigten, den Artikel doch noch einmal
zu lesen und mich nun auch veranlaßten zu einem Wort ent-
schiedenster Abwehr an eben demselben Orte.
Das gab aber allerlei Hindernisse in der »Psychiatr. Wochen-
schrift«e. Der mir persönlich bekannte Schriftleiter gewährte mir 2
I!) Nach einer Briefkastennotiz ist er auch an den Herausgeber wie an Leser
der mitbeschuldigten Schröter - Wildermuthschen Zeitschrift gesandt, also für größt-
möglichste Verbreitung gesorgt worden.
170 | A. Abhandlungen.
Spalten, während er uns auf 20 Spalten angreifen ließ. Weil ich
den Raum überschritten hatte, erhielt ich den Artikel mit dem Er-
suchen um Kürzung auf 2 Spalten zurück. Ich kürzte. Aber wieder-
um kam er zurück.
Herr Dr. BresLer wünschte »Beschränkung des Inhaltes auf die
bloße Angabe des Tatsächlichen«e. Mehrere Urteile, trotzdem ich sie
hinreichend begründet hatte, wies er zurück.
In der »Psychiatr.-Neur. Wochenschrift« hatte ich doch kein
Wörtlein gegen Herrn Dr. Wryeaxor gesagt. Man läßt uns dort aber
vor den Lesern unerhört angreifen.
Auch Herr Sanitätsrat Dr. WiLpermur# hat nach Weysannrs Be-
hauptung den Artikel in der »Zeitschr. f. d. Behandl. Schwachs.
und Epil.« ohne weiteres aufnehmen wollen.
Da frage ich nun, gegen wen Herr Dr. Weycaxpt die eingangs
erwähnte Anschuldigsung erheben mußte. Ich tue es nicht, weil ich
gar nicht anders kann, als annehmen, beide Herren haben in dem
guten Glauben gehandelt, daß jene Anschuldigungen auf Wahrheit
beruhten.
Zu dem Artikel selbst aber sei noch folgendes zur Abwehr be-
merkt.
In manchen Punkten stimme ich nach wie vor mit Herrn Dr. Wer-
GAXDT überein. In andern muß ich aber nach wie vor entschieden
widersprechen. Soweit die Sache selbst in Frage kommt, genügt es
darum vorläufig, den Leser einfach auf meine Artikel zu verweisen.
Dort ist, wie gesagt, das Meiste schon widerlegt. Selbst »die derbe
Bezeichnung« »Kauderwelsch« — um nur ein Beispiel zu nennen —
hat dort ein wesentlich anderes Gesicht und ist gar nicht gegen WEY-
GAxDT gerichtet, auch ist sie nicht gegen Ärzte und Medizin, sondern
im Interesse beider mir entschlüpft, wenngleich ich die sachlichen Ein-
wände des Herrn Dr. Weycaxor, die schon vor Jahr und Tag Herr
Dr. STROHNEYER hier an diesem Orte bei Besprechung meiner Schrift
über »Abnorne Erscheinungen im kindlichen Seelenleben« erhoben, auch
gcrne als die Kehrseite meiner Wünsche anerkenne. Und diese STROH-
MEYERSChe Bemerkung veranlaßt mich, hier zu erklären, daß das, was
ich wünsche, sich deckt, sogar völlig deckt — und mehr kann man
von mir doch nicht verlangen — mit den Thesen, die Herr Dr. med.
Reıssıs-Hamburg als Ergebnis seines Vortrages: »Über die sogenannte
Naturheilkunde« auf der »1. Jahresversammlung der deutschen
Gesellschaft zur Bekämpfung des Kurpfuschertums« nach
dom Berichte in Nr. 3 d. J. der »Ärztlichen Mitteilungen « auf-
stellte:
Trürer: Medızin und Pädagogik 171
1. »Aufklärung über die mannigfachen Gebiete der Heilkunde ist notwendig;
sie entspricht dem Verlangen des Volkes.
2. Wahre Aufklärung durch Schrift und Wort ist zur Zeit die erfolgreichste
Waffe im Kampf gegen die Ausbreitung der Kurpfuscherei.
3. Die Mehrzahl der Ärzte hat im Gegensatz zu früher nichts mehr gegen
eine einwandfreie populär medizinische Literatur einzuwenden, befürwortet
letztere vielmehr, da sie in gleicher Weise den Laien wie den Ärzten nützt.«
Herr Dr. Reıssıs fügt aber hinzu: »Selbst die Ärzte, die vordem
zu den entschiedensten Gegnern zählten, finden sich mit diesem
Wandel der Anschauungen ab«. Und wenn meine Worte sich in
einer drastischen Wendung, begründet durch unwiderlegte Beispiele,
gegen die Rückständigen wenden und für diesen Wandel eintreten,
so sollte man doch auch mir daraus keinen Vorwurf machen wollen.
Ja, ich kann, um damit eine für eine humane Sache schwerwiegende
Anschuldigung des Herrn Dr. Wrvaasor abzuweisen, noch hinzufügen,
daß ähnliche Gedanken, wie sie der Vortrag von Herrn Dr. Reıssıc
bietet, bereits vor Jahren in der von mir mit herausgegebenen »Zeit-
schrift für Kinderforschung«e zum Ausdruck kamen und der Artikel
auf meine Veranlassung von Herrn Dr. med. Wiwpegera, jetzt Leiter
des Sanatoriums Schwarzeck in Blankenburg i. Thür., verfaßt worden ist.
Wenn wir aber fragen, warum Herr Dr. Weycaspr sich denn
eigentlich in einer so vorwurfsvollen Polemik ergeht und in der Tat
alles »bei den Haaren herbeizicht«, so wird diese Frage für einen
psychologisch Tieferblickenden schon durch die Drohung beantwortet,
seine Polemik in einem »offenen Briefe« erscheinen zu lassen. Dazu
greift doch kein Gelehrter, der sachlich etwas will, zumal ihm unsere
Zeitschrift ja dafür offen stand. Wer der Sache dienen will, wendet
sich bei einer Entgegnung auch nicht zuerst an einen andern Leser-
kreis, der seine Aussagen auf die Richtigkeit hin nicht zu prüfen
vermag. Herr Dr. WeyGaxpr macht auch keinen Hehl aus seinen
Absichten, obgleich er eingangs betont:
»Für meine Person hätte ich selbst den grundlosen Verdacht des qui tacet,
consentire videtur auf mich genommen, aber da es sich schließlich nur um eine
Sache von prinzipieller Wichtigkeit handelt, fühle ich mich doch zu dem Versuche
getrieben zu entkräften und meine Stelluugnahme nochmals zu begründen, vor allem,
da die Frage der Leitung der Idiotenanstalten neuerdings auch von anderer Seite!)
in den Vordergrund des Interesses gerückt ist.«
Denn aus dem ganzen Artikel von Anfang bis zu Ende blickt
immer wieder cin Anderes hervor.
Gleich anfangs stellt er dem ceben angeführten Satze folgenden
voran:
1) Dr. Jexz, »Zur Streitfrage zwischen Ärzten und Pädagogen« in »Die Kranken-
pflege«, Il. S. 530.
12 A. Abhandlungen.
»Ursprünglich fehlte mir die Neigung, auf die Polemik einzugehen, die von
den in wissenschaftlichen Kreisen üblichen Gopflogenheiten vielfach nicht unerheb-
lich abweicht.«
Ich will über diese »Gepflogenheiten« nicht weiter streiten.
Wir haben vorhin aktenmäßig dargelegt, daß Herr Dr. Weyeanpr
eine den wissenschaftlichen Gepflogenheiten in unsern Kreisen ent-
sprechende Entgegnung weder bei uns noch bei Schröter und Wilder-
muth veröffentlichen wollte.
Er wagt die Sache dagegen so darzustellen:
»Das Sprichwort von dem fata libellorum bewährt sich diesmal auch bei einem
bloßen Zeitschriftenartikel. Alsbald nach dem Empfang des zweiten Trüperschen Auf-
satzes gegen mich, der über 1!/, Jahr nach meinem Buch erschien, entwarf ich eine
Abwehr. Nach einer Herbstreise reichte ich diese dem ärztlichen Heraus-
geber der »Zeitschrift zur Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer« ein, der
zur Aufrahme freundlichst bereit war. Indes erhob der pädagogische
Herausgeber dieser Zeitschrift allerlei Einwände!) und legte mir nahe, den Aufsatz
in der Zeitschrift »Kinderfehler«, herausgegeben von Herrn Institutsdirektor TRÜPER,
einzureichen. So wünschenswert es mir?) erschien, daß die Leser des Angriffs und
die der Abwehr identisch wären, versprach ich mir doch keinen Erfolg von der
Befolgung dieses Rates. Trotzdem machte ich den Versuch, um nach einiger Zeit
meinen Aufsatz von Herrn Institutsdirektor TrÜrer zurückzuerhalten, in Begleitung
eines Schriftstückes von diesem Herrn. Darin heißt es unterm 30. VI. 1903, es
erscheine nicht angängig, »nach fast 2 Jahren noch eine Entgegnung auf eine Buch-
besprechung zu bringen.«®) Wo die 2 Jahre stecken, ist mir rätselhaft. Mein
Antwortsatz, sofort geschrieben hatte sich wohl etwas verzögert durch die »Zeit-
schrift zur Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer«, doch war er 11 Monate
nach dem Empfang des 2. Kinderfehlerartikels in Herrn Trürers Händen, der sich
seinerseits zum Erscheinen seines ersten Kinderfehlerartikels doch über ein Jahr
Zeit gelassen hatte. Klar jedoch leuchtet mir aus diesen Erfahrungen
ein, daß in der Zeitschriftenliteratur des Idiotenwesens die Ärzte
nur geduldet sind, aber nicht einmal das Recht haben, sich persön-
lichen Invektiven gegenüber ihrer Haut zu wehren. Ich mache daher
von der Gastfreundschaft der psychiatrisch-neurologischen Wochenschrift Gebrauch,
in der Überzeugung, daß für ihre Leser auch Fragen des Idiotenwesens nicht ohne
Interesse sind.«
Wenn diese Angaben des Herrn Dr. Weysanpr richtig wären,
dann könnte er nach aller Logik und Moral doch nur sagen: »Ich,
Dr. phil. et med. Weycaxpt, wurde nicht geduldet«, und zwar nicht
in der oder der Zeitschrift. Nun beschuldigt er die ganze Zeit-
schriftenliteratur des Idiotenwesens, obgleich die unsere streng ge-
nommen gar nicht unter jene Gruppe gehört, und er identifiziert sich
1) Warum nennt er keinen und verschleiert alle?
?) Scırröter hatte ihm bei der Ablehnung geraten, »ihn dort zu veröffentlichen,
wo er sich für angegriffen hielt«e, wie er in Nr. 1 seiner Zeitschrift erklärt.
3) So wagt die »wissenschaftlichee — Gewissenhaftigkeit mit meinen Erklä-
rungen umzuspringen!
Trürrr: Medizin und Pädagogik. 173
mit »den Ärzten« schlechthin, während das Inhaltsverzeichnis sämt-
licher Jahrgänge beider von ihm gemeinten Zeitschriften genau das
Gegenteil des Behaupteten jedem bekundet, der nicht auf beiden Augen
blind sein will. In welcher Wissenschaft ist aber diese Logik und
diese Moral »üblich?« Nun wimmeln obendrein die Angaben in seiner
Begründung von mehr als »Entstellungen« und »direkt falschen
Wiedergaben von Äußerungen« — wie er von meinen Artikeln be-
hauptet und mit diesen selben Mitteln zu beweisen sucht —, so daß
die Logik Wersaxors: »Eins = Alle« lauten muß: »Auch die falsche,
negative Eins = Alle. Und dem Doktor zweier Fakultäten leuchtet
diese Logik »klar cine!
Für uns dagegen enthält die Behauptung: »daß in der Zeit-
schriftenliteratur des Idiotenwesens die Ärzte nur geduldet sind, aber
nicht einmal das Recht haben sich persönlichen Invektiven gegenüber
ihrer Haut zu wehren« eine falsche und obendrein verallgemeinerte,
anscheinend zielbewußte Verdächtigung anerkannt verdienstvoller Be-
strebungen um die Fürsorge unglücklicher Mitmenschen. Hier liegt
ohne Frage keine »Tendenz im gewöhnlichen Sinne« zu Grunde,
wie er für seine Schrift bestreitet. Nein, es ist eine solche in einem
ganz außergewöhnlichen Sinne hiermit wohl erwiesen.
Dieselben Mittel sind ihm auch recht, wenn er den vermeintlichen
Gegner persönlich bloß stellen will. Nur zwei Beispiele dafür zur Abwehr.
1. Auf dem Titelblatte cines früheren Prospektes meiner An-
stalt steht: »für Kinder mit geschwächter oder fehlerhafter
Veranlagung«. Ich wollte damit andeuten, was im Prospekt dann
weiter ausgeführt ist, daß ich keineswegs bloß Schwachbegabte, son-
dern auch überbürdete und willensschwache Kinder aufnehme, die
dann später auf das Gymnasium oder die Realschule zurückgehen.
Herr Dr. Weycaxor schreibt nun zur Abwehr meines Wunsches, daß
die medizinische Literatur möglichst die zum Teil sinnwidrigen Fremd-
wörter vermeiden möge: »Um so erstaunlicher erscheint mir Herrn
Trüpers Vorwurf, als er doch in seinem Erziehungsheim für schwach-
sinnige Kinder laut Prospekt selbst für Unterricht im Lateinischen
Sorge trägt.« »Mit geschwächter und fehlerhafter Veranlagung« hatte
er im Manuskript durchgestrichen und dafür »schwachsinnig« gesetzt,
ein Ausdruck, der für unsere Zöglinge in ihrer Gesamtheit durchaus
nicht paßt und den ich auch sonst tunlichst vermeide. Gefissentlich
redet er auch von meiner »Idiotenanstalt«. Wie nennt man nun
solche »Gepflogenheit«<?
2. Herr Dr. Wivyaaxot klagt mich an:
»Das Stärkste in seiner Polemik leistet sich Herr Trürer, indem er mir das
174 B. Mitteilungen.
Motiv des Suchens nach persönlichem Vorteil unterschieben will und von Fordernugen
Dr. W.'s und einiger anderer Arzte, die so Beschäftigung suchen, zu reden wagt.«
Zu dem Punkte hatte ich ihm brieflich die oben angeführte Er-
klärung gegeben.
Wenn nun Herr Dr. Wevysaxor seine Auffassung dennoch auf-
recht erhalten wollte — und ich kann und will ihm das absolut
nicht wehren —, so hätte man doch von einem Manne seiner Lebens-
stellung auf alle Fälle erwarten dürfen, daß er wenigstens bekenne,
ich hätte ihm brieflich diese Ehrenerklärung gegeben und seine Auf-
fassung widerlegt.
So geht es nun weiter vom »Stärksten« zum Schwächsten, auf
dessen Widerlegung ich aus begreiflichen Gründen verzichten kann.
Und wohl kein Leser wird es mir wie der Schriftleitung der »Zeit-
schrift für Schwachsinnige und Epileptische« verargen, wenn wir
davon 21 Seiten nicht bedingungslos »nach 11 Monaten« oder richtiger
»nach fast zwei Jahren« abdrucken, zumal die Aufnahme noch durch
unwahre Drohungen erzwungen — oder verhindert werden sollte.
Diese Kampfesweise des Herrn Dr. Weysaxor ist um so mehr
zu bedauern, als er mit meinen Schlußbemerkungen auf S. 164,
Zeile 2—10 v. o., einverstanden sein dürfte.
S DE Zar SEE DV a NANANA
B. Mitteilungen.
1. Der Schularzt im Oberamt Cannstatt.
Von Medizinalrat Dr. J. L. A. Koch.
Längst hätte ich gerne über einen Gegenstand referiert, an dem
unsere Zeitschrift nicht achtlos vorübergehen darf, nämlich über das
Schularztwesen im Oberamt Cannstatt in Württemberg. Leider
hat mich ein längeres Unwohlsein und haben mich auch allerlei andere
Dinge bisher verhindert, meine Absicht auszuführen. Um so mehr freut
es mich, daß ich nun endlich doch Raum finde, einige Worte über diesen
Gegenstand niederzuschreiben.
Ja, es ist eine wahre Freude, über die Gestalt zu berichten, in
welcher das Schularztwesen im Oberamt Cannstatt ins Leben getreten ist.
Die Sache regt sich ja überhaupt immer mehr (vergl. auch unsere Zeit-
schrift. Wer damit zu tun hat, kann sich für manches ein Muster in
Cannstatt holen. —
In Württemberg gibt es oberamtsärztliche (physikatsamtliche) Gemeinde-
Medizinalvisitationen, die alle sechs Jahre wiederkehren. Diese Revisionen
erstrecken sich auch auf die Schulen. Die Beobachtungen, die der Physikus
des Oberamts Cannstatt, Medizinalrat Dr. Blezinger, bei seinen Schul-
visitationen machte, und die Überlegungen, die er daran anknüpfte, be-
D1
Der Schularzt im Oberamt Cannstatt. 17
fähigten ihn in besonderem Maße richtige Wege als Schularzt, der er
selbst wurde, und für den Schularzt überhaupt zu finden.
Oberamtsarzt Blezinger hat bei seinen Nledizinalvisitationen nicht
nur der Anlage und Einrichtung der Schulen, sondern stets auch dem
Gesundheitsstand der Schüler sein Augenmerk zugewandt. Dabei hat er
immer eine Anzahl von Schülern herausgefunden, die körperliche oder
geistige Defekte an sich hatten. Aber eine amtliche Fürsorge konnte
dann eigentlich nur armen Schülern mit besonders auffallenden
Schäden zu teil werden. Und wenn auch außerdem noch die Eltern und
Pfleger der andern schadhaften Schüler durch Vermittlung des Schul-
inspektors oder des Lehrers auf die Schäden aufmerksam gemacht werden
konnten, so entzog es sich doch zunächst der Kenntnis des Physikats,
welche Wirkung das hatte, das Physikat erfuhr nicht, ob etwas und was
jeweils zur Abhilfe der Schäden geschah, und nach sechs Jahren erst
wiederholte sich die Visitation in der einzelnen Gemeinde. Das empfand
Dr. Blezinger als einen Mangel. Mit um so freudigerem Entgegen-
kommen beantwortete er die Anfragen über seine Stellung zur Einführung
regelmäßiger schulärztlicher Visitationen, welche das Kgl. Oberamt und
das Stadtschultheißenamt Cannstatt im Frühjahr 1899 an ihn richteten.
Bei der Darlegung seines Standpunktes ging Dr. Blezinger davon
aus, daß an den oben gedachten württembergischen Medizinalvisitationen
nicht gerüttelt werden dürfe. Es war.ihm klar, daß diesen Visitationen
die hygienische Fürsorge für die Schulen mit Rücksicht auf die baulichen
Einrichtungen usw. vorbehalten bleiben müsse. Aber auch noch abgesehen
davon erschien ihm die Aufgabe des Schularztes, wie sie da und dort ge-
stellt wurde, als zu groß und zu umständlich. Manche zeitraubenden und
mühsamen Untersuchungen, so interessant sie für den Anthropologen sind,
kommen für den Arzt doch erst in zweiter Linie in Betracht. Ihre Durch-
führung belastet aber nicht nur den Arzt, sondern auch den Lehrer; und
das war für Dr. Blezinger ein wichtiger Punkt, denn er war lebhaft
davon überzeugt, daß überhaupt jede wesentliche Belastung der Lehrer `
vermieden werden müsse, wenn nicht die ganze Einrichtung von Anfang
an in Frage gestellt werden solle. So bedingten äußere und innere
Gründe die Anschauung, daß man sich auf das Notwendigste beschränken
müsse. Diese Forderung sollte ganz besonders für den Anfang gelten.
Das Notwendigste konnte aber für Dr. Blezinger nichts anderes sein, als
das Heraussuchen der körperlich oder geistig »Schadhaften« unter den
Schülern und sodann die Beseitigung der Schäden, soweit dies nur irgend
möglich. Wie weit ist dies aber möglich? Es ist, abgesehen von der
Heilbarkeit oder Unheilbarkeit eines Falles, jedenfalls nur soweit möglich,
als die Mittel dazu vorhanden sind. Ohne das Vorhandensein oder die
Schaffung von Mitteln, so sagte sich Dr. Blezinger, werde die schul-
ärztliche Tätigkeit fruchtlos bleiben, sie könne und werde aber segensreich
wirken, wenn die pekuniäre Frage für die Angehörigen der schadhaften
Kinder eine wesentliche Rolle nicht spiele. Darum war er dafür, dab
in allen Fällen, wo die Eltern nicht im stande sind, zu sorgen, daß aber
auch nur in diesen Fällen öffentliche Kassen eintreten.
176 B. Mitteilungen.
Die Anschauungen und Vorschläge Dr. Blezingers fanden die Zu-
stimmung der genannten Behörden.
Nun wurden durch den Oberamtmann (Regierungsrat) des Bezirks
und den ÖOberamtsarzt die Bezirks- und Ortsschulinspektoren, ganz be-
sonders aber auch die Lehrer über ihre Auffassung der Sache befragt.
Anfänglich fand der Gedanke, schulärztliche Untersuchungen einzu-
führen, in diesen Kreisen nur eine sehr geteilte Aufnahme; schließlich
aber wurde demselben allgemein zugestimmt. Dazu trug viel die von den
beiden Beamten im Verlauf der Besprechungen wiederholt gegebene be-
stimmte Versicherung bei, daß mit der Aufstellung eines Schularztes durch-
aus nicht eine neue Aufsichtsbehörde geplant sei. Das ist aber ein durch-
aus richtiger Grundsatz. Eine bureaukratische Beaufsichtigung und Be-
vormundurg der Lehrer oder auch irgend ein Zurückdrängen derselben
wäre bei diesem Stück jedenfalls ganz verkehrt, denn nur bei einer freudigen
Mitarbeit der Lehrer, bei einem wirklichen Zusammenwirken von Päda-
gogik und Medizin kann hier etwas Ersprießliches herauskommen, eine
Erkenntnis, die unsere Zeitschrift von Anfang an in ihr Programm auf-
genommen hat. Bei manchem einzelnen Stück fällt der Pädagogik sogar
der wichtigere und größere Teil der Arbeit zu. Man denke nur an die
Behandlung mancher, an einer psychopathischen Minderwertigkeit leiden-
den Kinder. Ja oft schon da, wo es sich darum handelt, ein solches
Leiden zu erkennen oder doch zu vermuten, kann der Lehrer, der das
Kind fortlaufend unter Augen hat, das Beste tun. — Auch die Kgl Ober-
schulbehörde gab ihre Zustimmung zur Einführung der geplanten ärzt-
lichen Untersuchungen. Und da sich weiterhin die Amtskörperschaft in
richtiger Würdigung der Sache zur Bestreitung des erwachsenden Auf-
wandes sehr entgegenkommend. bereit erklärt hatte, so konnte der Plan
zur Ausführung gelangen.
Die Untersuchungen sollten sich nun auf sämtliche Volks- und Mittel-
schulen und auch auf die öffentlichen Kleinkinderschulen der Stadt und
des Bezirks erstrecken. Die Geschäfte wurden so verteilt, daß der Ober-
amtmann die Besorgung des ökonomischen Teils derselben, die Korrespondenz,
die Verteilung einzelner Kinder auf die Soolbäder usw., der Oberamtsarzt
aber die ärztlichen Geschäfte übernahm. Die Vermittlung zwischen dem
Schularzt und den Eltern der Kinder sollten die Ortsschulinspektoren und
die Lehrer besorgen. Daß aber der Physikus zum alleinigen Schularzt
für Stadt und Bezirk bestellt wurde, hatte seinen guten Grund darin, daß
man von der Ansicht ausging, es sei eine einheitliche Regelung der schul-
ärztlichen Untersuchungen mindestens für so lange nötig und wünschens-
wert, als sich die Sache noch im Stadium des Versuchs befinde.
Gegen Ende des Jahres 1899 konnte mit den Untersuchungen be-
gonnen werden. Vom Oktober dieses bis zum Oktober des darauffolgenden
Jahres wurden 6783 Schüler untersucht. Davon wurden im ganzen als
schadhaft befunden 605 = 8,9°/,; in der Stadt erheblich mehr als auf
dem Lande. Die zunehmende Übung aber hat in den nächsten Jahren die
Zahl der herausgefundenen Schadhaften merklich erhöht. — Die Art, wie
Dr. Blezinger bei seinen Untersuchungen im einzelnen zu Werke ging,
Der Schularzt im Oberamt Cannstatt. 177
scheint mir sehr zweckmäßig erdacht zu sein, und man versteht es wohl,
daß er, indem er richtig Gedachtes richtig ausführte, nicht nur die willige
und freundliche Unterstützung der Lehrer fand, sondern auch die Kinder
selbst für sich und die Sache einzunehmen wußte, und sofort und um so
leichter seine schönen Erfolge erreichen konnte, als die ganze Einrichtung
auch vielen Eltern der Schüler willkommen war. Ich muß aber wegen
des Details auf den Bericht verweisen, den er im Jahr 1901 im Medizinischen
Korrespondenz-Blatt des Württembergischen ärztlichen Landesvereins er-
stattet hat.
Auch die Fürsorge für die Schadhaften wurde in trefflicher Weise
eingeleitet und durchgeführt. Mancher Schaden konnte seine Heilung oder
doch Besserung finden. Auch das kam vor, daß Schüler dem Turnunter-
richt zurückgegeben werden konnten, weil die bezeugten Schäden, wegen
deren sie Dispensation gefunden hatten, nicht mehr oder gar nie vorhanden
waren. Dr. Blezinger spricht besonderen Dank den Spezialärzten aus,
die sich in uneigennütziger Weise um einen Teil der schadhaften Schüler
bemühten. Auch die Hausärzte stellten sich fast ausnahmslos freundlich
zu der Sache, was auch gar nicht anders sein konnte bei dem konzilianten
Vorgehen des Schularztes, der den Hausärzten die Fälle zuwies und in
den Schulen, Sprechstunden usw. immer wieder erklärte, daß er nicht
der Schülerarzt sein wolle und könne, sondern der Schularzt, ein Schul-
arzt aber, der im Interesse der Sache Hand in Hand arbeitet mit dem
Hausarzt.
Auf einige Punkte möchte ich noch hinweisen. Zunächst darauf, daß
Dr. Blezinger zwar auch die psychisch Schadhaften (pathologischer-
weise psychisch Schadhaften) grundsätzlich in seine Untersuchungen und
Erhebungen einbezieht, daß er aber bezüglich derjenigen Schulkinder,
deren Leiden dlen psychopathischen Minderwertigkeiten beizuzählen ist,
überall zunächst nur soweit ging, als er sicheren Boden unter den Füßen
hatte. Auf diesem Gebiet handelt es sich für Ärzte und Lehrer jetzt noch
vielfach vor allem um ein gründliches Lernen. Die erste Grundlage aber
für die einzelnen schulärztlichen Untersuchungen wird auf diesem Gebiet
noch mehr als auf manchem anderen im allgemeinen der Lehrer schaffen
müssen. — Speziell hebt Dr. Blezinger hervor, daß die Sorge für die
»Schwachen am Greist« wohl der Staat werde in die Hand nehmen müssen,
zum Heil für die Schule und für die schwachen Kinder. Unter diesen
Schwachen am Geist werden wohl wesentlich die au psychopathischen
Degenerationen, also an bestimmten psychopathischen Minderwertigkeiten
leidenden Kinder subsumiert sein. Bei solchen Kindern ist eine patho-
logische psychische Schwäche dieser oder jener Art, immer aber eine
Schwäche psychopathisch minderwertigen Maßes und Charakters vorhanden.
Man muß sich aber nur überall von dem Irrtum frei halten, in dem zur
Zeit noch manche Ärzte befangen sind, als ob die psychopathische Minder-
wertigkeit bei den Schülern lediglich nur als schwache Begabung patho-
logischer Art, als ein leichter Schwachsinn auftrete. Die Lehrer, die den
psychopathischen Minderwertigkeiten ihre Aufmerksamkeit schenken, haben
da aus ihrer Erfahrung heraus viel richtigere Vorstellungen als manche
Die Kinderfehlor. IX. Jahrgang. 12
178 B. Mitteilungen.
Ärzte. Sie wissen es wohl, daß unter den an psychopathischer Minder-
wertigkeit leidenden Schülern weit mehr solche Kinder sind, die nicht
geistig schwach, beziehungsweise geschwächt, als Kinder, die an geistiger
Schwäche leiden. Viele psychopathisch minderwertige Kinder sind hoch-
begabt und können später etwas Rechtes, ja Hervorragendes werden. Die
haben keinen Schwachsinn, wenn sie auch psychisch geschädigt sind.
Des weiteren möchte ich nicht unerwähnt lassen, daß Dr. Blezinger
seine Schulbesuche gerne auch dazu benutzt, daß er den Kindern populär-
medizinische Belehrungen erteilt, namentlich solche aus dem hygienischen,
speziell dem prophylaktischen Gebiet (Reinlichkeit und manches andere).
Das ist etwas, was einem ganz besonders gefällt, denn Dr. Blezinger
hält nicht zusammenhängende, systematische Vorträge, sondern er ergreift
zu rechter Zeit den rechten Anlaß und beschränkt sich auch hier weise
auf das unmittelbar Praktische. Das ist die wahre populäre Medizin für
das Volk, die in dieser Weise unmittelbar aus dem Bedürfnis heraus-
wächst, ihm sich anschmiegt und auf das jeweils wirklich Erreichbare
sich beschränkt. Übrigens will Dr. Blezinger zufrieden sein, wenn nur
dann und wann etwas in den jungen Köpfen hängen bleibt.
Soviel in Kürze über das Cannstatter Schularztwesen. Man kann nur
wünschen, daß diesem mit so viel Liebe und Selbstlosigkeit, so viel Um-
sicht und Besonnenheit und mit so erfreulicher opferwilliger Unterstützung
durch die berufenen Mitarbeiter unternommenen und betriebenen Werk ein
fröhlicher Fortgang und eine immer größere Vervollkommnung beschieden
sei, die notwendig dem Schularztwesen überhaupt zu gute kommen wird.
2. a) Einige Bemerkungen
zu der Abhandlung »Der erste Schreib- und Leseunterricht« usw. im
1. Heft des 9. Jahrganges dieser Zeitschrift.
Für die in diesem Aufsatze gegebenen Anregungen bin ich Herrn
E. Schulze sehr dankbar; zweierlei nur will mir vorerst nicht zusagen:
a) der Beginn mit großen Druckbuchstaben, b) die Trennung von Lesen
und Schreiben. Ich habe das Folgende einzuwenden.
Zu a. Wie Herr Schulze selbst sagt, weisen die großen und kleinen
lateinischen Druckbuchstaben durchaus ähnliche Formen auf. Es kann
daher, wenn diese nur in genügender Größe dargestellt werden, ebenso-
gut mit den kleinen als, wie Herr Schulze will, mit den großen Druck-
buchstaben begonnen werden. Für die kleinen bezw. gegen die großen
Druckbuchstaben scheint mir zu sprechen:
1. Eine an und für sich so formale Tätigkeit wie das Lesen verlangt
nach Anwendung, die zunächst in Wörtern (von bekannten Eigenschaften)
erfolgt. Werden diese aus Großbuchstaben gebildet, so erhält das Kind
zunächst kein Gefühl für die Unzulässigkeit eines Großbuchstabens mitten
im Worte; bei dem späteren Schreiben muß der Unterricht sich also
hüten, an das bereits Erworbene anzuknüpfen!
2. Mit vielen sehe ich den häufigen Gebrauch von Großbuchstaben
Einige Bemerkungen. 179
Des,
als einen Zopf an, der zumal unserem Volke eignet; auch für den Unter-
richt muß ich daher wünschen, daß die Großbuchstaben möglichst zurück-
treten und die die Basis unserer Schrift bildenden Kleinbuchstaben die
erste Stelle zugewiesen bekommen.
3. Für das Wortlesen ist von Wichtigkeit, daß die zu einem Worte
gehörenden Buchstaben vom Kinde auch als zusammengehörig erkannt
werden können. So gewiß jedes einzelne Zeichen klar hervortreten muß,
so gewiß müssen alle auch miteinander verbunden sein. Ich fürchte,
daß andernfalls das leidige »heimliche Buchstabieren« wieder einsetzt.
Das Kind wird die Laute einzeln lesen, nach jedem absetzen und sie erst
nachher aneinanderreihen. Das ist ja ein Umstand, der bei der Beur-
teilung von »Lesemaschinen« Bedeutung hat. -- Wird mir das bei 3 Ge-
sagte zugegeben, so folgt die Frage, ob die kleinen Druckbuchstaben
eine enge Verbindung eingehen können. Sie ist zu verneinen; denn auch
die kleinen Druckbuchstaben bleiben für das Auge unverbunden. Wer
dieser Tatsache Bedeutung beimißt, wird wieder die »Schreibschrift« an
die erste Stelle setzen. Damit kommen wir
zu b. Ist das Schreiben vom Lesen zu trennen? Mir erscheint die
Trennung nicht rätlich. Wenn, wie Herr Schulze ausführt, die Nerven-
bahn vom Auge zur Hand »biologisch ganz neu« ist, so folgt daraus, daß
dieser »Gehirnpfad« ganz besonders häufig durchlaufen werden muß. Zu
der gewiß sehr zweckmäßigen Darstellung der Buchstaben, die Herr
Schulze empfiehlt, gesellt sich das Schreiben als gleichwertig. Die
»Schreibbewegungsvorstellung«e ist doch auch eine der mit Recht als
wichtig betonten Bewegungsvorstellungen; auch das Schreiben ist Ein-
prägungsmittel, ist eine Tätigkeitsform des Kindes, ist eine Anwendung.
Halte ich hiernach und noch aus anderen Gründen die Trennung
von Schreiben und Lesen nicht für angebracht, so bin ich doch weit da-
von entfernt, Herrn Schulze seine gegenteilige Anschauung zum Vorwurf
zu machen. Denn Herr Schulze läßt uns nicht im Zweifel darüber, daß
er bei mehr Bewegungsfreiheit ganz anders verfahren würde. Jetzt aber
befindet er sich in einer Notlage; behördliche Vorschriften hemmen
die Betätigung seirer besseren pädagogischen Einsicht. Hier
hat die Reform einzusetzen. Es darf die Forderung nie verstummen:
1. Weg mit dem Schreib- und Leseunterricht aus dem 1. Schul-
jahr! Das ist auch für »Normalschulen« unbedingt zu fordern. Ist die
Forderung erfüllt, so ist das bei b Gesagte von selbst erledigt. Die
»Fibelfrage« aber müssen wir einstweilen noch zu andern Lasten tragen,
bis auch folgende Forderungen erfüllt sind: 2. Weg mit den groß-
geschriebenen Dingwörtern, der Bezeichnung der Vokallänge
durch die Schrift usw. (Mit einer Gesundung unserer Orthographie
verlieren die formalistischen Fibeln naturgemäß jeden Kredit!) Endlich
3. Weg mit der sogenannten »deutschen« Schrift, die nur ein
verunstaltetes Latein ist! Wenigstens lege man auf die Lateinschrift, die
sich aus vielen Gründen empfiehlt, das Hauptgewicht und fasse die
»deutsche« Schrift als einen Luxus auf, den sich leisten mag, wer Lust
und Zeit dazu hat. Dann erst kann die »Fibelfrage« reinlich gelöst
12?
Big
180 B. Mitteilungen.
—
werden. Bis dahin bleiben alle diesbezüglichen methodischen Maßnahmen
Kompromisse, bleibt »der erste Kindesunterricht die erste Kindesqual«,
Wickrath. A. Paulmann.
2. b)
Die Gefahr, die Herr Paulmann in den vorstehenden anregenden Be-
merkungen unter a) 1. durch den alleinigen Gebrauch der Großbuchstaben
befürchtet, ist wohl nicht vorhanden, denn die Kinder kennen doch vor-
läufig nur das eine Alphabet, sie wissen doch vorläufig nichts anderes,
als daß alle Wörter so geschrieben werden, sie hören von »großen« und
»kleinen« Buchstaben doch nichts, solange eben nur die großen im Ge-
brauch sind. Sobald nun aus den großen Buchstaben die kleinen ent-
wickelt sind — das geschieht in ganz kurzer Zeit —, werden die Schüler
natürlich darauf aufmerksam gemacht, daß die meisten Wörter »klein« ge-
druckt werden, daß wir bei andern Wörtern nur den ersten Buchstaben
»groß« drucken, daß ein Großbuchstabe mitten im Worte unzulässig ist.
Dies Gefühl wird von nun an durch den Lesestoff anerzogen. Die Er-
fahrung lehrt, daß die Schüler den richtigen Gebrauch von Groß- und
Kleinbuchstaben jetzt, bei größerer Reife und längerer Vorbildung, viel
schneller und sicherer erlernen. Das Einprägen der Laute und ihrer
Zeichen mittels der großen lateinischen Druckbuchstaben möchte ich als
Vorkursus des Schreib-Lese-Unterrichts aufgefaßt wissen; derselbe wird
infolge der in der Arbeit angeführten Vorzüge um so kürzere Zeit
währen, je intelligenter die Kinder sind.
Dem unter a) 2. Gesagten stimme ich selbstverständlich bei, aber so-
lange wir diesen »Zopf« tragen, müssen wir doch im Unterrichte damit
arbeiten, auch wenn er uns an einem vorteilhafteren Arbeiten hindern
sollte. Der vorgeschlagene Lehrgang bietet den Vorzug, daß sofort nach
Bewältigung der großen Buchstaben durch Einführung aller Kleinbuch-
staben zur selben Zeit orthographisch richtig geschriebene Sätze, Lese-
stücke, kurz alles lateinisch Gedruckte gelesen werden kann. Bei dem
umgekehrten Gange ist das nicht möglich. Alle Fibeln zeigen, daß bei
Einführung der großen Buchstaben nach den kleinen (bis jetzt natürlich
»deutsche«) nur ein beschränkter Lesestoff vorhanden ist. Bei »D« liest
man eben: Der Dom ist hoch. Das Dach ist schräg. Der Dolch ist
scharf. Der Dorn sticht. Die Dame spricht. Der Drache steigt. Die
Droschke eılt. Andere großgeschriebene Wörter können nicht gelesen
werden, weil die andern Großbuchstaben noch nicht bekannt sind. Und
wo bleibt bei solchem Kunterbunt eine gesunde Lehrplantheorie? Anschluß
des Lesestoffes an die sachunterrichtlichen Stoffe, die eben jetzt behandelt
werden, das ist mir die Hauptsache!
Das zu a) 3. Gesagte ist scheinbar berechtigt, aber nur scheinbar,
denn wann sind unsere Kinder wohl soweit, daß sie nicht mehr die
einzelnen Buchstaben ansehen und beim Lesen der Reihe nach lautieren,
sondern das Wort als etwas Ganzes auffassen! Manches Kind kommt in
Einige Bemerkungen. 181
der ganzen Schulzeit nicht vom Lautieren weg! Drei- und vierlautige
Wörter kann der Mensch wohl auf einmal auffassen, Wörter mit mehr
Lauten muß jeder, auch der erwachsene, zerlegen. Uns Erwachsenen
kommt das natürlich nicht mehr zum Bewußtsein, weil wir schon durch
das Überblicken der Konsonanten das Wort durch Hinzufügung der Vokale
gewissermaßen erraten. Weiter dürfte Herr Paulmann bei Aufrecht-
erhaltung seiner Behauptung und bei konsequenter Durchführung derselben
niemals nach der Bedeutung eines einzelnen Lautzeichens fragen, niemals
ein Wort buchstabieren lassen, niemals einen einzelnen Buchstaben
schreiben lassen, er müßte auch die einzelnen Buchstaben durch ganze
Normalwörter einführen, denn sonst würden die Kinder vielleicht erkennen,
daß die Worte aus einzelnen Buchstaben bestehen. Die Schüler lernen
anfangs — wenn nicht ganze Normalwörter geschrieben werden — nur
einzelne Buchstaben, und der nun folgende Schritt zum Wortschreiben,
die Einsicht, daß man die gelernten Buchstaben durch Striche verbinden
kann, daß dann ein »Wort« entsteht, dieser Schritt vorwärts ist unendlich
schwer für das Kind. Das sehen wir auch daran, daß es beim Ab-
schreiben Buchstaben für Buchstaben von der Vorschrift absieht und in
seiner Abschrift Buchstaben an Buchstaben reiht, auch wenn der Lehrer
täglich und stündlich dagegen eifert. Durch die von mir vorgeschlagene
Einführung der Schreibschriftformen aus den Druckschriftformen läßt sich
das Wesen des »Wortschreibens« auch eigentlich erst recht nachweisen:
durch Bogen und Striche werden die einzeln stehenden Buchstaben ver-
bunden, in einem Zuge, ohne abzusetzen, geschrieben; wir müssen sie
eben verbinden, um zu »schreiben«e. Hat sich nicht auch die Schreib-
schrift aus der Druckschrift auf diese Weise historisch entwickelt? Warum
soll das Kind nicht auf demselben Wege lernen wie die Menschheit? Zum
Erkennen der Zusammengehörigkeit der Buchstaben zu einem Worte ge-
nügt doch wohl der größere Abstand zwischen je zwei Worten.
Zu b): Die Trennung von Lesen und Schreiben halte auch ich für
einen Übelstand. Doch nur der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe,
habe ich bei Einführung der kleinen Druckschrift von dieser Trennung
gesprochen. Bei der praktischen Ausführung hat sich nun die Sache
etwas anders gestaltet. Die Kinder lernten infolge der Gleichheit und
Ähnlichkeit der Formen das kleine lateinische Druckalphabet so über-
raschend schnell, daß ich schon nach einer Woche mit der Einführung
der kleinen lateinischen Schreibschrift beginnen konnte. (Einen aus-
führlichen Bericht über das zweite Jahr meines Versuches werde ich am
Ende des Schuljahres in dieser Zeitschrift bringen.)
Daß die im letzten Abschnitte erhobenen Forderungen ganz nach
meinem Sinne sind, brauche ich dem geschätzten Herrn Kollegen Paul-
mann wohl nicht erst zu sagen.
Halle a/S. Eduard Schulze.
182 B. Mitteilungen.
3. Über Bettnässen.
Das K. K. österr. Ministerium des Innern hat folgenden Erlaß an die
Besserungsanstalten für jugendliche K ortigengen herausgegeben :
K. K. Ministerium des Innern.
Z. 31086. Wien; am 1. August 1903.
Dem Ministerium des Innern ist zur Kenntnis gelangt, daß in einer
Besserungsanstalt Disziplinarstrafen wegen Bettnässens verhängt wurden.
Die K. K. Landesregierung wird nun angewiesen, sämtliche im dorti-
gen Amtsbereiche befindlichen Besserungsanstalten für jugendliche Korri-
genden darauf aufmerksam machen zu lassen, daß das Bettnässen in der
Regel auf einem krankhaften Zustand beruht, der auf eine funktionelle
Störung des Blasenmuskels zurückzuführen ist und daß ein solcher Zu-
stand nicht durch Strafen, sondern durch entsprechende ärztliche medi-
kamentöse und insbesondere elektrische Behandlung beseitigt werden kann.
Für den Minister des Innern:
Auersperg m. p.
Der Zweck dieses Erlasses ist ohne Zweifel ein sehr humaner, man
will eine ungerechte Bestrafung verhüten, man will verhindern, daß Un-
schuldige bestraft werden, ein Zweck, der ohne weiteres gebilligt werden
kann. Wenn jedoch verlangt wird, daß wegen Bettnässens überhaupt keine
Disziplinarstrafen verhängt werden sollen, so zeigt dies von einer mangel-
haften Kenntnis der Ursachen des Bettnässens. Dürfte man »in der
Regel« keine der erlaubten Disziplinarstrafen (Rüge, Verweis, Entziehung
eines Vertrauens- oder Ehrenamtes, eines Vergnügens, Einschränkung oder
Entziehung einer Mahlzeit, körperliche Züchtigung) anwenden, dann würde
es beim besten Willen und bei der strengsten Disziplin nicht möglich sein,
die notwendige Ordnung und Reinlichkeit in den Schlafsälen — ganz mit
Recht der Stolz einer jeden Anstalt — zu erzielen und merken die Zög-
linge, namentlich die sittlich verwahrlosten, daß sie ob dieser garstigen
Eigenschaft, dieser Unreinlichkeit keine Strafe erhalten, dann wird es gar
nicht lange währen, daß die Mehrheit der Angehaltenen Bettnässer sind.
Will man dieses Übel mit Erfolg bekämpfen, so muß man vor allem
die Ursachen zu ermitteln trachten und wenn diese als zweifellos gefunden
sind, sie zu beseitigen suchen. Und welches sind die häufigsten Ursachen
des Bettnässens?
Obenan ist zu nennen die schlechte Gewohnheit von Jugend
auf. Das Kind muß mit dem 7. Monate gewöhnt werden, die Notdurft
regelmäßig zu verrichten. Faulheit und Bequemlichkeit und nicht selten Dumm-
heit der Mutter und der sonstigen Erzieher sind schuld daran, wenn das
Kind mit einem Jahre nicht schon »zimmerrein« erzogen is. Auch die
ärmsten und unbemittelsten Eltern können in dieser Richtung ihre Auf-
gabe erfüllen. Wie sieht es aber oft in Wirklichkeit aus? Das Kind macht
wo es steht, geht und liegt unter sich; es liegt im Stalle, auf dem Boden
in einem Verschlag oder in einer Kiste mit Stroh und Heu. Ist dieses
durchnäßt, schmutzig, stinkend oder gar schon faulig, so wird frisches
Stroh oder Heu daraufgegeben oder vorher »ausgemistet«. So geschieht’s
Über Bettnässen. 183
bei armen Leuten. Das Kind reicher Leute hat zwar sein Bett, das aber
bei faulen Müttern nichtsdestoweniger als rein gehalten wird, das Kind
bleibt Dienstboten überlassen und wird von diesen hauptsächlich erzogen
und den vornehmen Eltern nur dann präsentiert, wenn es sauber ist, die
Untugenden kommen oft gar nicht zu den Ohren der Eltern. Nun kom-
men solche Kinder in eine Erziehungsanstalt! Hier muß doch vor allem
diese schlimme Gewohnheit des Bettnässens ausgetrieben werden und das
ist vielfach nur möglich durch Anwendung von Disziplinarstrafen.
Bei vielen Kindern ist der plötzliche Wechsel in der Kost Ur-
sache des Bettnässens. Daraus erklärt sich u. a. die überraschende Tat-
sache, daß manche Zöglinge, die vor ihrer Einlieferung — also zu Hause
— nicht eingenäßt haben, Bettnässer werden. Solche Zöglinge müssen
nach und nach an den Nahrungswechsel gewöhnt werden, insbesondere
vermeide man abends die Verabreichung von flüssigen Nahrungsstoffen
(Suppen, Milch usw.), man gebe vielmehr feste, derbe und wenig Wasser
enthaltende Speisen. Ebenso verbiete man solchen Kindern, noch spät
abends vor dem Schlafengehen Wasser zu trinken.
Der Wechsel der Temperatur ist ebenfalls häufig die Ursache
des Bettnässens. Der Übergang aus dem Warmen ins Kalte oder um-
gekehrt hat erfahrungsgemäß eine erhöhte Harnabsonderung zur Folge.
Namentlich im Winter wird sich diese Ursache des Bettnässens öfter un-
angenehm bemerkbar machen. Die Bettwärme spielt dabei natürlich eine
Rolle. Ist der Zögling recht erwärmt und im ersten Schlaf, dann näßt
er ein und daraus erklärt sich auch die Tatsache, daß die Gewohnheits-
nässer in der Zeit von 9—12 Uhr in der Regel »ihr Werk« vollbracht
haben.
Kalte Füße oder eine Verkühlung des Körpers überhaupt
kann Bettnässen zur Folge haben, eine Beobachtung, die die Vorsteher
von Erziehungsanstalten häufig genug gemacht haben werden und welche
z. B. folgendes Beispiel bestätigt: Bei einem Stande von 32 Zöglingen
waren während der Haupfferien, d. i. vom 1. August bis zum 16. Sep-
tember fast gar keine Bettnässer verzeichnet. Bei Beginn des Schuljahres
stellten sich sofort wieder einige ein. Das ist doch gewiß eine ganz un-
erklärliche Erscheinung, wenn man bedenkt, daß die Lebensweise, die
Kost, die Arbeit usw. gegen früher sich gar nicht geändert hat und nur
der Schulurterricht entfiel. Und gerade dieser letztere Umstand führte
zur Lösung des Rätsels. Durch Versuche wurde nachgewiesen, daß sich
die Zöglinge während des direkten Schulunterrichtes sowohl (8—12 Uhr
vormittags) als auch während der Arbeitsstunde (6—7 Uhr abends) kalte
Füße holen und infolgedessen einnässen. Das Schulzimmer befindet sich
nämlich über einem gewölbten Keller, so daß sich der Fußboden des
Schulzimmers selbst im Sommer nicht gehörig erwärmt. Die Zöglinge
haben daher bei längerem Aufenthalte in diesem Zimmer nicht nur kalte
Füße, sondern auch im ganzen Körper ein frostiges, unbehagliches Gefühl
und schen ganz »erfroren« aus. Die Schwächlichen und Disponierten
werden daher leicht ein Opfer der Verhältnisse werden und — einnässen.
Die ärgsten Bettnässer sind jene, bei denen eine krankhafte orga-
184 B. Mitteilungen.
nische Veranlagung vorhanden ist und das ist in der Regel eine
Blasenschwäche in der Muskulatur. Solche Zöglinge zeigen schon äußer-
lich ein krankhbaftes Aussehen, sind gelb, fahl, farblos; sie sehen aus, als
ob es ihnen immer kalt wäre und sind sehr empfindlich gegen Kälte und
Nässe. Für solche Bettnässer ist allerdings ein ärztlicher Eingriff, eine
elektrische Behandlung unbedingt notwendig. Eine Bestrafung ist ganz
selbstverständlich ausgeschlossen. Um das Leiden und deren Folgen halb-
wegs erträglich zu machen, empfiehlt es sich, den Zögling in der Nacht
öfters zu wecken und zu verhalten, die Notdurft zu verrichten. Manche
dieser Zöglinge haben einen derart festen und tiefen Schlaf, daß sie den
Drang, auf die Seite zu gehen, gar nicht spüren oder sie sind so schlaf-
trunken, daß sie zwar aufstehen, bis zur Tür gehen, dann aber umkehren
und sich um so fester in die Decke einhüllen; mancher geht bis zur
Muschel, verrichtet aber seine Notdurft nicht, sondern kehrt in den Schlaf-
saal zurück, ein anderer geht zum Bette eines Kameraden uud macht ihm,
in der Meinung, er stehe vor der Muschel, ins Bett; am andern Morgen
weiß sich keiner an seine »Taten« zu erinnern. Gegenwärtig befinden
sich unter 32 Zöglingen meiner Anstalt zwei, bei welchen das Bettnässen
auf einen krankhaften Zustand zurückzuführen wäre Gewiß ein ziem-
lich hoher Prozentsatz — dazu kommen noch die Wochen- oder Monats-
nässer, das sind solche, welche aus Unvorsichtigkeit, Übermut, frevent-
lichem Vertrauen oder Mangel an festem Willen zuviel Wasser trinken,
zu viel wasserhaltiges Gemüse abends essen oder überhaupt zu viel essen
(ohne Wissen der Leitung) und dann ihre »böse Tat« durch spontanes
Einnässen verraten.
Ganz ähnliche Beobachtungen und Erfahrungen machen die Lehr-
herren mit den Lehrlingen, welche ehemals Zöglinge der Anstalt waren
und zu den periodischen Einnässern gehörten. Die Anstaltsleitung macht
die Lehrherren jedesmal auf die Schwächen der Entlassenen aufmerksam
und gibt auch Ratschläge für die Behandlung derselben. Bei leichtsinnigen,
gleichgültigen Burschen wird strenge Bestrafung, auch körperliche Züchti-
gung empfohlen und siehe da! das Bettnässen verschwindet augenblicklich.
Der angezogene Erlaß ist gut gemeint und verfolgt einen löblichen
Zweck, trägt aber ganz entschieden den Stempel der Einseitigkeit, er
wurde am »grünen Tisch« gemacht, ohne die Erfahrungen der im prak-
tischen Dienste stehenden Männer zu Rate zu ziehen. In solchen Fragen
muß dem erziehlichen Faktor zum mindestens ebensoviel Anspruch auf
ein Urteil eingeräumt werden, wie der Medizin und der grauen Theorie,
Die Belehrung in dem Erlasse wäre gewiß ganz anders ausgefallen, hätte
man die praktische, erfalırene Erziehung auch zu Worte kommen lassen,
besonders wäre dann sicher festgestellt worden, daß die krankhafte Ver-
anlagung, d. i. ein organischer Fehler, nicht die Regel, sondern die Aus-
nahme unter den Bettnässern ist.
Und welche ist die entsprechende medikamentöse Behandlung? Warum
wird diese nicht gleich angeführt? Sind es Geheimmittel, die angewendet
werden sollen? In welcher Weise ist die empfohlene elektrische Behand-
lung vorzunehmen. Lauter offen gelassene Fragen! Was soll z. B. der
Neunter Blindenlehrerkongreß. 185
Leiter einer Erziehungsanstalt tun, welche weit entlegen ist von einer
größeren Stadt, wenn eine elektrische Behandlung notwendig ist. Der
Anstaltsarzt, so tüchtig er sonst ist, weiß sich mit solchen Krankheiten
nichts anzufangen. Er empfiehlt zwar Hochliegen der Beine, Sitzbäder,
Tuschen, hartes Lager, öfteres Wecken usw. aber mit medikamentöser Be-
handlung hat er es noch nicht versucht und für elektrische Behandlung
fehlen ihm die Apparate.
Vielleicht bieten diese wenigen schlichten Zeilen Anlaß zum Meinungs-
austausch; die Erfahrungen, die Tatsachen haben das erste Wort in dieser
Angelegenheit, dann erst mag der Arzt sprechen. Es ist wohl sicher an-
zunehmen, daß man diesem Thema ein Interesse entgegenbringt, weil in
der Tat mancher treue und gewissenhafte Erzieher ungeduldig wird darüber,
daß es ihm durchaus nicht gelingen will, diese Untugend, welche so viele
Unannehmlickeiten im Gefolge hat, zu beseitigen. Institutsvorsteher, Leiter
von Erziehungsanstalten, von Pensionaten männlichen und weiblichen Ge-
schlechtes und nicht minder auch Privatfamilien werden der richtigen Be-
urteilung dieser Frage das lebhafteste Interesse entgegenbringen.
Olbersdorf, österr. Schlesien. Alois Hajek, Anstaltsleiter.
4. Neunter Blindenlehrerkongress.
In der Zeit vom 1.—5. August d. J. wird in Halle a/S. der XI. All-
gemeine Blindenlehrer-Kongreß abgehalten werden. Wenn man die Fort-
schritte in Bezug auf Blindenbildung und Blindenfürsorge während der
letzten Jahrzehnte als erheblich bezeichnen muß, so ist ein großer, viel-
leicht der größte Teil dieser Errungenschaft der segensreichen Arbeit der
Kongresse zu verdanken, deren erster im Jahre 1873 in Wien tagte, und
die seitdem alle 3 Jahre an Orten, in denen sich eine Blindenanstalt be-
findet, abgehalten worden sind.
Den größten Raum hat auf den Kongressen die Erörterung der Frage
über geistige und körperliche Ausbildung der Blinden für Beruf und
Leben eingenommen. Auf den letzten Kongressen hat die Frage der Für-
sorge für die ausgebildeten entlassenen Blinden mehr im Vordergrunde
gestanden. — Von größter Bedeutung sind die Kongresse für Ausgestaltung
der Blindenschrift. Die Braillesche Punktschrift ist durch dieselben all-
gemein zur Einführung gekommen, und seit einigen Jahren hat man, um
Raum und damit Geld zu sparen, ein Kurzschriftsystem aufgestellt, dessen
Ausbau allerdings noch nicht ganz abgeschlossen ist. — Gleichzeitig hält
mit dem Kongreß der »Verein zur Förderung der Blindenbildung«,
der sich die Aufgabe gestellt hat, Blinde und Blindenanstalten mit Lehr-
mitteln, in erster Reihe mit Druckschriften und geographischen Karten
zu versehen, seine Generalversammlung ab. — Von den Regierungen, den
Provinzial- Verwaltungen und städtischen Behörden sind die Kongresse
stets in wohlwollender Weise unterstützt und gefördert worden.
Möge durch reiche Beteiligung von Fachleuten, Freunden und Gönnern
186 B. Mitteilungen.
der Blindenbildung die Arbeit des bevorstehenden Kongresses eine gesegnete
für die Blinden werden!
5. Jugendgerichte.
Gegen meine Forderung auf der Versammlung in Halle, die jugend-
lichen Gesetzesübertreter vor besondere Gerichte zu stellen, ist ın der
Presse von juristischer Seite Einspruch erhoben worden. Ich werde in
einer späteren Nummer mich mit den Gegengründen auseinandersetzen.
Inzwischen ist in dem »staatswissenschaftlichen Praktikum« der
»Gehestiftung« in Dresden wie in dem großen, 1600 Mitglieder zählenden
Dresdner Lehrerverein von Oberlehrer Ernst Hahn ein Vortrag gehalten
worden über »Die Strafrechtsreform und die jugendlichen Ver-
brecher«, der in jener Frage zu ähnlichen Ergebnissen wie der meine
führte, wie aus folgenden Leitsätzen zu ersehen ist.
1. Die Klagen wider das Strafrecht hinsichtlich der jugendlichen
Verbrecher gründen sich zumeist auf die Kriminalstatistik, die dabei oft
in unkritischer oder tendenziöser Weise verwendet wird.
2. Die Kriminalstatistik ist nicht der deckende Ausdruck für Stand
und Bewegung der Kriminalität der Jugendlichen, noch weniger der ihrer
Moralität.,
3. Trotz aller kritischen Einschränkung muß sie als bedeutsamster
Rechenschaftsbericht der gegenwärtigen Strafjustiz kinsichtlich der Jugend-
lichen angesehen werden. Ihre wichtigsten Erscheinungen sind: Häufig-
keit und Steigerung des Eingreifens der staatlichen Strafgewalt, ununter-
brochenes Wachstum der Rückfallsziffern, zunehmende Milde in der Straf-
rechtspraxis trotz Zuwachses der schweren Delikte.
4. Die Entwicklung des Jugendverbrechertums findet zwar zu einem
Teile ihre Erklärung in sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen ; es
muß aber der bestehenden Strafjustiz eine wesentliche Schuld an derselben
zugemessen werden.
5. Wenn auch von der Handhabung der bedingten Begnadigung, von
den Zwangs- und Fürsorgeerziehungsgesetzen, dem Kinderschutzgesetz eine
heilbringende Wirkung auf die Jugendkriminalität erwartet werden kann,
so muß die Forderung der Strafrechtsform hinsichtlich der Jugendlichen
trotzdem als eine unaufschiebbare aufrecht erhalten werden.
6. Der folgenschwere Fehler des bestehenden Strafrechts liegt in dem
Dominieren des logisch-formalen Elementes. Seine Reform kann nur ge-
schehen auf dem Grundprinzip der psychologisch - pädagogischen Erfassung
des jugendlichen Verbrechers. Die zuverlässigen Ergebnisse der modernen
Kriminal- Anthropologie und -Soziologie sind dabei möglichst zu verwerten;
die Richtlinier aber sind zu ziehen auf Grund einer voluntaristischen
Psychologie.
7. Bei der bevorstehenden Strafrechtsreform sind hinsichtlich der jugend-
lichen Verbrecher folgende Forderungen als dringliche geltend zu machen:
I. Aufhebung des Legalitätsprinzips,
C. Literatur. 187
T rt e e I nn e
I. Wegfall der Einsichtsfrage, Erfassung des jugendlichen Ver-
brechers in seiner Ganzheit,
III. Heraufsetzung der unteren Altersgrenze der relativen Strafmündig-
keit auf das vollendete 14. Lebensjahr,
IV. Ausschluß von Öffertlichkeit und Presse,
V. Möglichste Vermeidung der kurzzeitigen Freiheitsstrafen, Ver-
schärfung derselben,
VI. Vermehrte, aber weise Anwendung der Zwangserzichung.
8. Als Zukunftsideal muß hingestellt werden: Schaffung eines einheit-
lichen Reichsgesetzes, betreffend a) die verwahrlosten, b) die verbrecherischen
Jugendlichen. Durch dasselbe ist in erster Linie der Strafvollzug zu
regeln und sind »Jugendgerichte« einzusetzen. Trüper.
PL ED EP ED ER
C. Literatur.
Schiner und Bösbauer, Fibel für abnorme Kinder (Hilfsschulenfibel). I, Teil.
Leipzig. Verlag von B. G, Teubner. Preis kart. 0,50 M.
Die Verfasser, die sich durch ihre unterrichtliche Tätigkeit an Stotterkursen,
Schwachsinnigen- und Taubstummenschulen zur Abfassung der Arbeit besonders
befähigt glaubten, haben das 56 Seiten starke Büchlein herausgegeben, weil »schon
lange der Mangel eines direkt dem schwachsinnigen Unterrichte angepaßten ersten
Lesebuches bemerkbar wurdes. Und wahrlich, bei einer Unterweisung nach diesem
Buche kann man mit Recht von einem »schwachsinnigen Unterrichtes reden, kann
man die armen Kinder bedauern, die durch dieses Buch ihren schwachen Geist
stärken und bereichern sollen! Denn nachden auf den Seiten 3—5 die Vokale
durch Sprachbilder der Mundstellungen, die nebenbei gesagt die Stellung der Sprech-
werkzeuge bei o, e, i nicht einmal korrekt darstellen, den Kindern beigebracht
werden sollen, beginnt auf S. 6 das Sammelsurium, das sich fortsetzt bis zum Ende
des Buches: heute redet man von der Maus, morgen von der Nuß, übermorgen
vom Ei, dann vom Säbel, vom Fisch, vom Auge, vom Hut usw.; sogar in ein und
derselben Stunde folgen die sinulosesten Wörter hintereinander, z. B. S5. 27: ist,
fest, steif, fasten, stehen, rasten, finster oder S. 46: bei, bar, bin, aber, oben, eben,
beten, leben, loben, baden, bauen, reiben. Werden die Kinder nicht bei jedem
neuen Normalworte, ja bei jedem folgenden Übungsworte in einen ganz neuen Ge-
dankenkreis versetzt, wird nicht durch einen solchen Unterricht die Ideeuflucht
systematisch anerzogen ?!
Auf S. 8 sprechen die Verfasser vom Ei, S. 17 von der Eule, S. 20 von
Vögeln und S. 32 von einem Vogel —, S. 11 vom Wagen, 8. 19 vom Rad —,
S. 13 vom Auge, S. 35 vom Fuß des Menschen —, S. 22 vom Baum, S. 33 von
Bäumen usw. Warum werden diese inhaltlich verwandten Stoffe nicht auch zu-
sammenhängend behandelt? Mit dieser Planlosigkeit in der Anordnung der Ent-
wicklungswörter zeigen die Verfasser, daß sie von einer Theorie des Lehrplans noch
nicht viel gehört haben.
Weiter: Aus dem Normalwort »Vögel« wird das »ö«, aus »Vogele das »v« —,
aus »Baum« das »b«, aus »Bäume« das »äu« entwickelt usw. Ist das konsequente
Durchführung eines Prinzips?
188 C. Literatur.
Bei Abfassung des Buches waren »die Gesetze der modernen Phonetik maß-
gebend«, und dann lesen wir schon S. 6 kurze Vokale (am, im, um) —, schon S. 8
und 9 zwei verschiedene e-Laute (eine, einen, seine, seinem) —, S. 10 zwei ver-
schiedene s-Laute mit zwei verschiedenen Schreibweisen (seines) —, S. 15 zwei
verschiedene ch-Laute (ach, ich) usw. usw. Sonderbare phonetische Gesetze!
Die Fibel beobachtet weiter valle für den Unterricht schwachsinniger Schüler
maßgebenden heilpädagogischen Grundsätze«. Doch Formen wie Seinem, eines,
seines, feines, feinem, jenem, beim, hohe, rasch, rascher, am raschesten usw., sowie
Übungswörter wie lese einmal, lösen, bar, empor, mürbe, seit, steif, fasten, rasten,
reizen, aichen, laichen, maischen usw. lassen diese »Grundsätze« in einem eigen.
artigen Lichte erscheinen. Wir fordern Wörter, die wirklich einen Sinn haben
und dem Fassungsvermögen der Kinder entsprechen, Wörter, die inhaltliche Ver-
bindung untereinander haben.
Die Zahl der nach Schema F bearbeiteten Fibeln ist zwar wieder um eine
vermehrt, aber ein Fortschritt in der Frage des ersten Leseunterrichts ist dadurch
nicht erreicht. Wir verlangen eine Fibel, die ein denkendes Lesen verbürgt, die
nicht dummer, sondern gescheiter macht, kann sie das nicht, so gehört sie unter
die Makulatur!
Halle as. Eduard Schulze.
Brohmer und Kühling, Taubstummenlehrer, Übungsbuch zum Gebrauche
beim Rechenunterricht in Taubstummenanstalten, Hilfsschulen und ver-
wandten Schulgattungen. Halle, Pädagogischer Verlag von Schroedel. 96 S.
Aus der Erfahrung heraus betonen die Verfasser in der Einleitung die
Schwierigkeit, welche der Rechenunterricht den taubstummen Schülern bereitet.
Die Bearbeitung des Rechenbuchs zeigt, daß sie — wir können dies nur für Hilfs-
schulen bestätigen — mit Erfolg bestrebt gewesen sind den nicht voll- oder schwach-
sinnigen Kindern die Arbeit zu erleichtern und den Rechenstoff zum geistigen
Eigentum derselben zu machen.
Dies beweist zunächst die Einteilung der Zahlenreihe von 1—10 in 2 Gruppen
1—5 und 6—10. Die Erfahrung hat uns nun schon durch mehrere Jahre hindurch
gezeigt, daß cs schwachsinnigen Kindern sehr schwer fällt von 1—10 durch Zählen
die Zahlen so zu erfassen, daß sie mit dem Zahlwort auch die richtige Menge der
Gegenstände verbinden. Wenn dies aber am Anfang der 1. Rechenstufe nicht zu
erreichen ist, so wird es besser sein, man quält die Kinder nicht zu lange und
manche gar umsonst damit, sondern begnügt sich zunächst mit der kleineren Reihe
von 1—5. Dadurch erstarkt das Rechenvermögen der Kinder und sie sind dann
später leichter im stande die Fortsetzung der Reihe von 6—10 zu erfassen. Die
Verfasser zeigen gleich am Anfang des Buches — also auch hier beim Erfassen
der Zahlen von 1—5 — wie vielseitig sie die Rechenaufgaben zu gestalten ver-
mögen.
Als ein weiterer Vorzug des Rechenbuches muß es gelten, daß jede Rechen-
operation — und zwar zunächst Addition und Subtraktion — getrennt auftreten.
Wie Trocelltsch, der Erfinder des Nürnberger Rechenbrettes, fangen die beiden
Verfasser nicht mit dem Zuzählen sondern mit dem Zerlegen der Zahlen an. Uns
hat es immer erscheinen wollen, daß es Schwachsinnigen leichter fällt, wenn sie
mit der ersten Übung beginnen, wobei auf keinen Fall dio zweite Übung vernach-
lässigt werden soll und darf, denn die Kenntnis von der Zusammensetzung der
Zahlen ist unbedingt notwendig, wenn der Zehner überschritten werden soll.
C. Literatur. 189
Nicht einverstanden erklären können wir uns, daß die Verfasser nach der
Behandlung der Addition und Subtraktion von 1—10 gleich die Multiplikation und
Division eingefügt haben. Die ersten Jahre an der Hilfsschule haben wir dies auch
getan, aber der Erfolg stand nicht im richtigen Verhältnis zu der angewandten
Mühe. Es macht den Kindern auf dieser Stufe noch ungemein große Schwierig-
keiten die Begriffe mal, in, geteilt durch zu erfassen und damit zu arbeiten, auch
wenn diese ganz anschaulich zum Verständnis gebracht wurden. Dazu kommt noch,
daß sich in der Zahlenreihe von 1—10 doch wenig Übungen anstellen lassen. Der-
selben Ansicht ist auch Haase in seinem vortrefflichen Buche über die Methodik
des ersten Rechenunterrichts (Verlag von Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann]
in Langensalza), wenn er schreibt: »Wir haben oben die bedeutenden Schwierig-
keiten des Multiplizierens und Dividierens erkannt, haben gesehen, daß hier nur
unter ziemlich bedeutenden Voraussetzungen auf einigen Erfolg gerechnet werden
kann. Überlegt man nun, daß diese Voraussetzungen nur bei einem kleinen Teile
unserer Schüler jetzt schon erfüllt sein werden und hält man damit die geringe
Zahl von Multiplikations- und Divisionsaufgaben in diesem Zahlenraum zusammen,
so muß es zweifelhaft erscheinen, ob es angebracht ist diese Rechnungsarten schon
hier zu behandeln, da das, was erreicht werden kann, offenbar in keinem Verhält-
nisse steht zur aufgewandten Zeit und Mühe. Dazu kommen die weiteren Be-
denken, daß wir es beim Multiplizieren und Dividieren im Zahlenraum von 1—10
nur mit Bruchstücken von später auftretenden größeren Übungsgruppen (Einmaleins)
zu tun haben, während uns im Addieren und Subtrahieren bis 10 eine ganz selb-
ständige, abgeschlossene Übungsgruppe vorliegt, und zwar eine Gruppe von grund-
legender Bedeutung, und daß hernach beim Übergehen in den Zahlenraum bis 100
eine ziemlich lange Zeit addiert und subtrahiert wird, wobei jenes Multiplizieren
und Dividieren nur mühsam frisch erhalten werden kann. Es dürfte daher näher
liegen diese Rechnungsarten aus dem Zahlenraum bis 10 zu verweisen und sie erst
im Zahlenraum bis 100 einzuführen.« Dies sagt Haase vom Rechenunterricht mit
normalen Kindern. Wieviel mehr gilt dies von schwachsinnigen Kindern. Auf
dem 4. Hilfsschultag in Mainz ist auch dafür gesprochen worden, daß die beiden
Operationen erst im Zablenraum bis 100 behandelt werden sollen. Für unsere Ansicht
spricht auch die Einrichtung des Rechenbuchs der beiden Verfasser, da sie auf
Seite 78 besondere Aufgaben aus der Addition und Subtraktion unter der Überschrift
Reihenaufgaben auftreten lassen. Solche Aufgaben bilden doch eine gute Vorübung
für Multiplikation und Division.
Als ein weiterer Vorzug des Buches muß die große und mannigfaltige Reich-
haltigkeit und Verschiedenheit der Aufgaben angesehen werden. Uns sind wenig
Rechenbücher bekannt, in denen die Zahlenreihe von 1—20 eine so reiche Behand-
lung erfahren hat. Dies muß für die schwachsinnigen Kinder ganz entschieden von
großem Vorteil sein; denn diese können sich nicht genug mit der Reihe beschäftigen,
wenn sie in derselben fest werden sollen. Dazu kommt noch die Vielseitigkeit der
Aufgaben, so daß das Interesse nicht erlahmen kann.
Als ein weiterer Vorzug des Buches mag noch hervorgehoben werden, daß ın
dasselbe angewandte Aufgaben aufgenommen worden sind. Die Lehrer an der Hilfs-
schule werden wohl oft genug die Erfahrung gemacht haben, daß die Kinder wohl
mit Fingern, Kugeln und andern Anschauungsmitteln zu rechnen vermögen, daß sie
aber nicht im stande sind angewandte Aufgaben zu lösen; denn dazu genügt nicht
bloß die Rechenfertigkeit, sondern hier kommt noch das Hineindenken und Erfassen
der Aufgaben hinzu. Es ist daher mit großem Danke anzuerkennen, daß die Ver-
190 C. Literatur.
fasser eine so große Zahl von angewandten Aufgaben aufgenommen haben. Auch
entsprechen dieselben dem Anschauungs- und Interessenkreis der Kinder. Wünschens-
wert wäre es vielleicht gewesen, wenu noch mehr das Spiel und die Beschäftigung
der Kinder in Schule und Haus herangezogen worden wäre.
Mit den Verfassern möchten wir am Schluß den Wunsch aussprechen, daß
das Buch in den entsprechenden Anstalten eine bescheidene Dienerstellung erwerben,
durch seinen Dienst an den Armen Segen stiften möge.
Altenburg. Hugo Seifart.
Keller, Helen, Optimism. An Essay. New York, T. P. Crowell & Cp., 1903.
Die den Lesern der »Kinderfebler« bekannte Taubblinde Helene Keller in
Boston wirft in der diesjährigen Novembernummer von »The ladies home journal«
die Frage auf: »Was soll ich dann tun, wenn ich Radcliffe verlasse? Mein Leben,
meinen Bildungsgang habe ich beschrieben. Was bleibt mir also noch zu tun?«
Um Antworten ist sie nicht verlegen. Eine Antwort ist mir besonders sympathisch:
»Ich will dahin streben, mehr Bücher für die armen Blinden zu schaffen und für
die Blinden cine allgemeine, gleiche Schrift!«
Nun, es würde segensreich sein, auf dieses Ziel immer weiter hinzuarbeiten.
Zunächst hat Helene Keller aber den Rat ihres alten Freundes, des Super-
intendenten J. Hitz vom Volta Bureau, befolgt, hat sich der Philosophie zugewandt,
die sie ja auch studiert hat. Vor mir liegt ein Werk von ihr: »Optimismus.«
Der Titel gefiel mir nicht: Eine taubblinde Philosophin! Mag sein, daß auch
das Titelbild mir nicht gefiel. Eine Dame im Talare und mit dem Doktorhut ist
uns eine recht fremde Erscheinung. Aber als ich zu lesen begonnen hatte, hörte
ich damit nicht auf, bis ich zu Ende war. Die Sprache ist flüssig, wie in »The
Story of my life«. Jeder wissenschaftliche Ausputz ist unterlassen.
Das Werk zerfällt in 3 Teile: Optimismus im Innern. Optimismus nach außen,
Die Ausführung des Optimismus.
Optimismus im Innern. »Der Wunsch, glücklich zu sein, ist allen
Menschen gemeinsam, dem Philosophen, dem Fürsten und dem Kaminkehrer.« So
sagt Helene Keller zu Anfang dieses Abschnittes. Uud ich bin glücklich,
führt sie weiter aus. Einst lebte ich als Taubblinde in der Dunkelheit und im
Schweigen, und ich hätte gegen die Wände anrennen mögen, die mich einschlossen,
Jetzt aber kenne ich die Hoffnung und die Freude. Mein Leben war ohne Ver-
gangenheit und ohne Zukunft, tot; der Pessimist würde sagen hoffnungslos. Die
Nacht entfloh vor dem Tage des Denkens; und Liebe und Freude und Hoffnung
kehrten bei mir ein. Wie könnte ich da Pessimistin sein? Man muß mit dem
Unglücke und mit Sorgen bekannt sein, um ein Optimist zu werden. »Schaffe!«
mahnt Carlyle. Ich habe Wirken gelernt, ich bin glücklich. Ein Krüppel kann
der glücklichste Arbeiter im Weinberge sein. Sagen die Philosophen, daß wir nur
Schatten sehen können, nur einen Teil des Universums, so können wir uns doch
mit dem Geiste zu dem Höchsten erheben. Im Geiste verwandeln sich die Schatten
zu Wesen, die Teile zum Ganzen. So sind denn alle großen Philosophen in Wahr-
heit Verehrer Gottes und dadurch Optimisten gewesen.
Optimismus nach außen. Ich verstehe es, daß Spinoza sich auch dann
glücklich fühlte, als er von Juden und Christen ausgestoßen war. Ich war in
meiner Kindheit, wie er damals war. Aber ich bin es nicht mehr. Und blicke ich,
die Taubblinde, hinein in die Geschichte der Menschheit, so sagt mir diese, daß die
Welt besser geworden ist, langsam, aber stetig. Jesus wurde gekreuzigt, seine
C. Literatur. 191
Nachfolger wurden gemartert, Juden und Albigenser wurden verfolgt ..... Und
jetzt? ..... Selbst dann, wenn ich von den Greueln auf den Philippinen lese, so
tröstet mich der Gedanke: werden diese Greuel auch von Amerikanern vollbracht;
so haben die Herzen der wahren Amerikaner doch nichts damit zu tun. ... Der
Pessimist sagt, der Mammon sei der Gott der Amerikaner. Er sieht nur den
Schatten, übersieht aber die Lichtseiten, die Werke der Humanität. Nur der
Optimist erkennt die Zeichen der Zeit.
Die Ausführung des Optimismus. Schopenhauer ist ein Feind der
Menschheit. Der Pessimismus erviedrigt. nur der Optimismus erhebt. Pessimistisch
gesinnte Juristen erklärten, Taubblinde seien den Idioten gleich zu rechnen. Der
Optimist Dr. Howe aber fand den Weg zum Geiste der taubblinden Laura
Bridgman. Alles Große in der Welt ist durch Optimisten vollbracht. Der
Pessimist kann nur verneinen.
Es sind nur wenige Sätze, die ich der Arbeit der Helene Keller entnommen
habe. Ich wünsche ja nur zum Lesen ihres Büchleins anzuregen. Dabei aber wird
man finden, daß wir in Helene Keller keineswegs eine »Prophetine, die neue
Gedanken verkündigt, zu sehen haben. Sie ist auch kein »Wundere, nur das, wofür
sie die »Kinderfehler« immer erklärt haben: ein außerordentlich begabtes taubblindes
Mädchen, dessen Lebensweg von opferfreudigen Freunden in vorzüglichster Weise
geebnet ist. Es ist so, wie ihre Lehrerin Fräulein Sullivan bereits vor Jahren
geschrieben hat: Gott will durch sie zeigen, daß man auch im tiefsten Schatten
glücklich sein kann.
Die Ausstattung des 76 Seiten umfassenden Buches ist vorzüglich.
Emden. O. Danger.
Karth, Max, Über abnorme Erscheinungen in der geistigen Entwick-
lung des Kindes. Osnabrück 1903. 60 S.
Die Arbeit ist ein Teil des vierten Programms der Provinzial-Taubstummen-
Anstalt zu Osnabrück. Programme pflegen nur einen kleinen Leserkreis zu haben;
es würde aber schade sein, wenn die Arbeit von Karth nicht über denselben
hinaus kommen sollte. Sie beansprucht nicht, dem Fachmann Neues zu bringen.
Das möchte schon für sie sprechen. Ein zweiter Vorzug der Arbeit ist die genaue
Angabe der benutzten Schriften und Abhandlungen auf Seite 60. Der dritte aber
ist, daß diese Quellen nicht allein benutzt sind, sondern daß das aus ihnen Erlesene
mit Eigenem klar zusammengestellt ist und zwar in einer Form, daß die Arbeit
auch von denen gern gelesen werden wird, die vor dem Studium größerer Werke
zurückschrecken. — Die Ausführung zerfällt in 3 Teile: 1. In welcher Weise treten
abnorme Erscheinungen und Zustände im Seelenleben des Kindes auf? 2. Ursachen
dieser Erscheinungen. 3. Kurzer Überblick über die Bestrebungen, auf diesem Ge-
biete helfend einzugreifen.
Für den Zweck, für welchen die Arbeit geschrieben ist, genügt die Schluß-
zusammenstellung der Qucllen. Sollte aber, was zu wünschen ist, die Programm-
arbeit aucb noch als ein selbständiges Werk im Buchhandel erscheinen, so wäre
es zu wünschen, daß an den betreffenden Stellen unter dem Striche noch genauere
Hinweise auf die Quellen mit Angabe der Seitenzahl hinzugefügt würden. Dem
Leser, dem nach mehr verlangt — und cs ist ein Vorzug der Arbeit, daß sie das
Streben hiernach weckt — würde es hierdurch leichter gemacht werden, sich weiter
mit der Sache zu beschäftigen.
Emden. O. Danger.
=
192 C. Literatur.
Berniger, Johannes, Ziele und Aufgaben der modernen Schul- und
Volkshygiene. Winke und Ratschläge für Lehrer, Schulärzte und Eltern
Wiesbaden, Verlag von Otto Nemnich, 1903. 90 S. Preis 2 M, in ganz Leinen
2,80 M.
Den Ausführungen liegt ein in zweckentsprechender Form erweiterter Vortrag
zu Grunde. Sie wollen einen neuen Beitrag dazu liefern, »daß sich die sämtlichen
in Frage kommenden Faktoren immer mehr zu einer kampfbereiten Phalanx gegen-
über allen Gefährdungen des gesundheitlichen Wohlbefindens unserer nächsten Gene-
ration zusammenfinden.« Tr.
Oppenheim, Prof. Dr. H., Die ersten Zeichen der Nervosität des Kindes-
alters. Nach einem im Verein für Kinderforschung gehaltenen Vortrage. Ber-
lin, S. Karger, 1904. Preis 0,50 M.
Es ist erfreulich, daß Ierr Professor Oppenheim den unsern Lesern be-
kannten Vortrag in erweiterter Form noch weiteren Kreisen zugänglich gemacht
hat. Ich kann nur wünschen, daß alle unsere Leser im Interesse der zahllosen
nervösen Kinder für möglichste Verbreitung sorgen. Tr.
Baur, Dr., Seminararzt, Hygienischer Taschenatlas für Haus und Schule,
Wiesbaden, Verlag von Otto Nemnich. Preis 1,50 M.
Das Schriftchen bringt auf 26 Tafeln zahllose Abbildungen, während auf der
gegenüberstehenden Seite in größter Kürze die Beschreibung dazu geboten wird.
»Wie der einzelne sein eigenes Wohl und damit der Gesellschaft Gedeihen fördern
kaun«, das soll hier beleuchtet werden. Die Überschriften der einzelnen Tafeln
mögen von der Reichhaltigkeit des Büchleins Kenntnis geben: Blutstillung (Taf. 1),
Hilfeleistung bei Unglücksfällen (2 und 3), Giftpflanzen (4), Krankenpflege (5—8),
Rückgratsverkrümmung in der Schule und zu Hause (9—11), richtiges Sitzen in
Schulbänken (12), ansteckende Haut- sowie andere Krankheiten im Kindesalter (13),
ansteckende Kinderkrankbeiten (14), Krankheiten und körperliche Defekte im Schul-
alter, welche besonderer Rücksichtnahme zu empfehlen sind (15), Heilpflanzen (16),
Ernährungstafel (17), Wohnung, Kleidung, Heizung, Desiufektion und Impfschutz (18),
Zimmergymnastik (19, 20), Zimmergymnastik und Turnen (21), Turnen und Leibes-
übungen (22, 23), gesunde Spiele für Knaben und Mädchen (24—26).
Mehr kann man in einem kleinen Büchlein in Oktavformat nicht bieten. Daß
man dabei an die einzelnen kleinen Zeichnungen nicht zu hohe Anforderungen
stellen darf, liegt auf der Hand. Sie sind aber durchweg sehr instruktiv und wir
können den Taschenatlas für Haus und Schule nur empfehlen. Tr.
Hahn, Ernst, Die Strafrechtsreform und die jugendlichen Verbrecher.
Neue Zeit- und Streitfragen. Herausgegeben von der Gehestiftung zu Dresden.
5. u. 6. Heft. Februar und März 1904. Dresden, Zahn & Jaensch, 1904. 46 S.
u. 4 statistische Tafeln.
Der oben unter den »Mitteilungen« erwähnte Vortrag ist inzwischen im Druck
erschienen. Ich möchte iha als bedeutsame Ergänzung zu meinem Vortrag auf
das angelegentlichste empfehlen. Ir.
TUT INN UN NT UN
Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyor & Mann) in Langensalza.
A, Abhandlungen.
1. Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache
von Gesetzesverletzungen Jugendlicher.
Von
J. Trüper.
(Schluß.)
Eine andere Gruppe jugendlicher psychopathischer Missetaten
sind die Eigentumsvergehen.
Von jenen 49675 Abgeurteilten unter 18 Jahren waren 36 608,
die wegen Vergehen gegen das Eigentum verurteilt, d. h. für den
Kinderfreund, die in öffentlicher Verhandlung für alle Zeit als mit
einem Makel behaftet gebrandmarkt wurden. Von hier aus öffnet
sich darum auch das weiteste und allgemeinste Eingangstor für das
Studium der Psychologie der jugendlichen Verirrungen.
Nichts reizt die Jugend mit ihrem gesunden Appetit, ihrem Taten-
drange und ihrem Erwerbs- und Sammelsinn mehr, als in den Besitz
fremden Eigentums zu gelangen. Jene Ziffer bezeichnet auch nur
einen Bruchteil dieser Art Vergehen. Zahllose Fälle kommen über-
haupt nicht vor den Strafrichter und andere endeten wegen Mangel
an Einsicht mit Freisprechung.
Überdies reizt nicht selten auch die Art der Strafe manchen derben,
nach Tatendrang durstenden Jungen obendrein noch zur Geringachtung
der etwaigen Folgen. Welchen Eindruck sollen auch die ganzen
Verhandlungen von der Untersuchung bis zum Richterspruch auf
Die Kinderfehler. IX. Jahrgang. 13
194 A. Abhandlungen.
einen verwilderten Jungen machen, wenn sie zu einem Ergebnis wie
dem folgenden führen?
»Der 14jährige Schulknabe Karl S. aus Nerkewitz hat dem Landwirt Emil Fl,
dortselbst Geldbeträge im Gesamtbetrage von 1,80 Mark ausgeführt; einmal stahl
er 1,20 Mark, den Rest ließ er bei einem zweiten Besuche in seinen Taschen ver-
schwinden. Dann ging das Bürschehen bin und verjubelte seine Beute auf der
Neuengönnaer Kirmse. Der Junge ist ohne weiteres geständig und kommt mit einem
Verweis davon.«
Oft lautet das Urteil auch entgegengesetzt und wegen gering-
fügiger Entwendungen folgte früher nicht selten Gefängnisstrafe.
Nicht selten werden unter der Jugend wahre Diebesbanden organi-
siert. Unlängst hatte sich unter der gymnasialen Jugend in der
rheinländischen Stadt M. nach Art studentischer Verbindungen ein
Verein gebildet, der Außergewöhnliches leistete. Die Söhne hoch-
gestellter Familien waren daran beteiligt.
In solchen Fällen haben wir es sicher nicht mit psycho-
pathischen Burschen zu tun. Sie schalten darum für unsere weitere
Betrachtung aus. Nur darauf will ich hinweisen, daß das Ethos
dieser Helden doch auf einer sehr niederen Entwicklungsstufe ge-
blieben ist, deren Ursachen nachzuforschen ebenfalls nicht uninter-
essant wäre.
Die Eigentumsvergehen unter pathologischem Einflusse sehen
anders aus.
Unlängst erhielt ich von einem höheren westdeutschen Beamten
folgenden Brief:
Ba ne Darf ich Sie um Ihren gütigen Rat bitten ? Der Fall betrifft nun frei-
lich nicht ein Kind, sondern einen Jüngling von 19 Jahren, der heuer das huma-
nistische Gymnasium gut absolvierte, aber trotzdem ein so schwaches moralisches
Gefühl, insbesondere ein so schwaches sittliches Willensleben hat, daß er sich zu
strafbarer Entwendung fremden Geldes hinreißen ließ.
Gibt es Anstalten, wo ein Mensch von dem Alter unter pädagogischer Aufsicht
und Leitung gehalten, aber doch auch seiner geistigen Vorbildung entsprechend und
mit Rücksicht auf einen künftigen Lebensberuf beschäftigt wird und wenn, wo be-
finden sich solche Anstalten ?«
Ich habe den Fall nur oberflächlich kennen gelernt, wußte leider
auch nicht eine solche Anstalt zu nennen. Ich erwähne ihn aber,
weil er insofern typisch ist, als hier jede Spur von intellektuellem
Schwachsinn, also von juristischer Unzurechnungsfähigkeit, ausge-
schlossen ist und der Bursche bereits die Schule hinter sich hatte
und unter der Fahne stand. Der Nervenarzt hat den Offiziersaspi-
ranten aber aus triftigen Gründen doch vor dem Strafrichter ge-
schützt, im Einverständnis mit den militärischen Vorgesetzten.
Ich leınte im Laufe der Jahre auf jene oder ähnliche Weise
Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 195
Dutzende von derartigen Fällen kennen, zum Teil sehr genau. Da
drängt sich uns die Frage auf: Wie kommen Knaben und Jünglinge
wie Mädchen — wenn auch seltener —, die nach juristischer Defini-
tion nicht unzurechnungsfähig und nach psychiatrischem Urteil nicht
geistesschwach sind und die aus Familien stammen, wo gute Er-
ziehung, Bildung und Wohlstand zu Hause sind, so daß keine äußere
Not sie zwingt, von der der wirtschaftliche Materialismus behauptet,
daß sie alle Verbrechen gegen das Eigentum verschulde, wie kommen
sie zu solchen Handlungen’?
Wenn man genau nachforscht, so sind viele von ihnen erblich
belastet, d. h. von ihren Vorfahren ist ihnen neben andern Eigen-
schaften und Anlagen auch die zur Nervosität, zum Krank- und
Schwachwerden des Nervensystems, vererbt, wobei die alkoholistischen
und sexuellen Jugendsünden der Väter eine nicht seltene Rolle
spielen. In vielen Fällen läßt sich aber absolut keinerlei erbliche
Belastung nachweisen.
In gar manchen Fällen berichten Eltern Ähnliches. Das Kind sei
von Geburt an schwächlich gewesen. Schon in der Wiege hatte sich
bei den geringsten körperlichen Störungen ein krankhafter Zustand ge-
zeigt, den man in der einen Gegend »Gichter« in der andern »Fraisen«
nennt. Die Zähne, welche bei einem nervengesunden Kinde ohne
Beschwerden durchbrechen, verursachten Geschrei, Unruhe, Schlaf-
losigkeit oder Krämpfe. Später zeigte sich Rhachitis oder englische
Krankheit. Noch später war es behaftet mit anhaltenden Kopf-
schmerzen oder eigenartigen Zuckungen, mit Schielen, schlechter
Haltung und dergl. Es zeigte Angst vor Hunden, Katzen, Fröschen,
vor Dunkelheit und Gespenstern, es hatte Angstanfälle bei Tag wie
in der Nacht, wo es plötzlich heftig auffahrend im Schlaf aufschrie.
Es zeigte sich bis in das Knabenalter noch Bettnässen und dergl. Als
die Schullast getragen werden mußte, verschlimmerte sich manches,
namentlich die Kopfschmerzen und die Angstzustände Es folgten
auf Zeiten geistiger und körperlicher Stumpfheit, Zeiten nervöser
Überreiztheit: »himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt«. Dabei
immer blasse Farbe und welke Muskeln und fehlende Körperkraft,
trotzdem die Mutter alles mögliche versuchte, das Kind kräftig zu
ernähren. »Stärkende Weine« und reichliche Fleischkost führten
aber eher zum Gegenteil. So ein schlaffer Junge wird als Gym-
nasiast selbstverständlich vom Turnen dispensiert und erhält keinen
Ersatz. Traten Halsentzündungen oder andere Kinderkrankheiten
auf, so litt dieses Kind viel stärker darunter als andere.
Oder es handelte sich um von Haus aus ganz gesunde Kinder,
13*
196 A. Abhandlungen.
die erst durch Überforderung in der Schule und nicht minder in der
Familie wie durch Genußsucht und durch Trinkunsitte entarteten.
Die Intelligenz bleibt in beiden Fällen vielfach intakt. Wenigstens
merkt der oberflächliche Beobachter die Defekte nicht. Das Kind war
seit je ja so leicht erregbar und interessiert. Es war im Grunde auch
trotz alledem ein gutes Kind. Aber die Lehrer klagten je länger je
mehr, straften auch wohl wegen häufiger Unaufmerksamkeit und
Schläfrigkeit und Trägheit und nachlässigem Arbeiten. Es hatte doch
zeitweise bewiesen, daß es Erfreuliches leisten könne. Zwar war es
schon seit je leicht übellaunisch, es wurde nun allmählich eigensinnig
und auch wohl trotzig, warf sich auf den Boden, strampelte mit den
Füßen, usw. Später verwandelte sich das allmählich in eine Art
Hinterlist und Verschlagenheit. Nach und nach begann es sich aus
allem herauszulügen. Die ursprüngliche Begabung führte Ent-
täuschungen herbei. Es blieb in einzelnen Fächern, besonders im
Rechnen, in der Mathematik zurück, schließlich mußte es eine Klasse
repitieren. Und dann — ja dann machte es eine große Dummheit,
es entwendete Geld.
So, oder meistens nur teilweise so, oder in ähnlicher Weise ver-
läuft die Lebensgeschichte so vieler jugendlicher Missetäter, und alle
diese Keime schießen wie Pilze aus der Erde empor zu strafbaren
Handlungen, sobald noch die oben gekennzeichneten alkoholischen,
Nikotin- und sexuellen wie pornographischen Einflüsse sich geltend
machen.
In dem einen Falle macht nun das Kind Gütergemeinschaft mit
der Portokasse des Vaters, im andern mit den Ersparnissen der
Schwestern, ein dritter findet Geld bei den Großeltern, ein vierter in
der Tasche des Mitschülers beim Baden, usw. Der eine nahm bloß
Geld, der andere auch noch beim Onkel, der Bahnhofsvorsteher ist,
Fahrkarten I. Klasse, der dritte beliebige Gegenstände.
Der eine entwendete nur einmal, der andere bekam Wohlgefühle
nach dem Gelingen und wiederholte die Tat. Der dritte wird ernst-
lich ermahnt, es nie wieder zu tun. Es dauert nur wenige Tage, da
ist die Familie aufs neue blamiert. Er wird nun auf das Entsetz-
lichste durchgehauen und er fleht und bittet um Verzeihung und
gelobt, es nie, nie wieder zu tun, und schon nach einer Stunde geht
der Tertianer striemenbedeckt in ein Geschäft und macht unter
falscher Angabe heimlich Einkäufe für sich. Aber sonderbarerweise:
das eine dieser Kinder kaufte sich für das entwendete Geld gedruckte
Gratulationskarten zu Verlobungen, das andere wollte durchaus ein-
mal I. Klasse auf den breiten Sitzen mit dem roten Plüsche fahren
Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 197
und das dritte warf alles, was er an fremdem Gute entwendete, direkt
in den Abort oder verschenkte es wieder.
Wir fragen nun: sind nun diese Kinder, die wir nicht bloß in
Volksschulen, sondern auch in der Sexta bis zur Prima der Gym-
nasien finden, zurechnungsfähig oder nicht und wenn nicht, sind sie
geisteskrank oder schwachsinnig oder in welche Schablone juristischer
oder anderer dogmatischer Begriffe passen sie hinein? Verdienen sie,
daß man sie öffentlich vor den Strafrichter stellt und so ihnen den
Stempel des Bestraftseins für ihr ganzes Leben aufdrückt und sie
jenen 50000 einreiht, und wenn es geschieht, was ist damit ge-
wonnen? Werden sie dadurch gebessert? Wird der Schaden dadurch
wieder gut gemacht? Wird ihre Ehre und die der Familie wieder
hergestellt? Ich antworte: Nein und abermals nein. Höchstens mag
die Gesellschaft Befriedigung der Rache haben, ein Bedürfnis, das
man früher ja sogar den Göttern zuschrieb.
Sind solche Kinder aus ärmeren Kreisen, so verfallen sie leider
von selber dem Strafrichter. Sind sie aus wohlsituierten Kreisen, so
deckt man gerne manches mit dem Mantel der Liebe, des Einflusses
und des Geldes zu, und in der Regel verfallen die Angehörigen dann
auch auf den klugen Gedanken, daß es zweckmäßiger sei, den Nerven-
arzt oder den Erzieher zu Rate zu ziehen als den Strafrichter. Und
ganz auffallend ist es, daß selbst solche rückfällig gewordenen Ge-
setzesbrecher meistens nicht wieder rückfällig werden, wenn sie in
eine andere Umgebung verpflanzt werden, wo sie mehr frische Luft
umweht und ihnen mehr Sonnenschein auf die Haut wie ins Herz
fällt und wo vor allem die Überbürdung der Schule mit geisttötenden,
rein verbalen Exerzitien einem geisterfrischenderen Unterrichte Platz
macht. Denn alle jene Handlungen hatten als Ursache Ner-
vosität und andere Dinge, welche psychopathische Herab-
minderungen schufen, die die relative Willensfreiheit be-
einträchtigen, ja die zu einer Art von Trieb-, Zwangs- oder
Reflexhandlungen drängen.
Suchen wir uns den psychologischen Vorgang noch etwas ge-
nauer zu erklären.
Angenommen mehrere Tertianer oder mehrere Brüder wissen,
daß an einem bestimmten Orte Geld liegt. Die Vorstellung des
Geldes kann in ihnen allen allerlei andere Vorstellungen und Wünsche
wecken. Sie werden sich an dem Besitz von Geld erfreuen. Sie
können für das Geld sich Näschereien, Obst, Bier, Cigarren kaufen.
Sie können dafür eine Bootfahrt machen, oder auf der Eisenbahn stolz
I. Klasse fahren. Sie können es in die Sparkasse tun und ihr Be-
198 A. Abhandlungen.
sitztum so bereichern, usw. Bei den nicht reizbar schwachen
Kindern werden manche dieser Vorstellungen gar nicht auftreten und
die auftreten, werden nicht so lebhaft auftreten, weil gesunde Kinder
auf Eindrücke nicht gesteigert reagieren.
Nun entsteht eine Zielvorstellung. Man möchte das Geld be-
sitzen. Bei einem Kinde mit überreizten Nerven löst sofort oder
ohne viel Überlegung diese Zielvorstellung eine Handlung aus. Man
nimmt das Geld und befriedigt damit jene Wünsche.
Bei einem Kinde mit nicht überreizten Nerven oder mit reg-
sameren Gewissen wirken andere Vorstellungen dem entgegen, wie
z. B.: das Geld ist fremdes Gut, es ist verboten, dasselbe sich anzu-
eignen; wenn man es nimmt, betrügt man damit Eltern und Lehrer;
man verstößt gegen Gottes Gebot; würden die Eltern es nicht
sehen, der Allwissende sieht es immer; auf die Sünde folgt Strafe
und sei es auch nur die Qual des Gewissens; es ist eine Sünde, so
etwas zu tun, usw.
Bei einem nervenfesten, aber zielbewußten Diebe tauchen wiederum
Vorstellungen anderer Art auf: es würde nicht entdeckt werden;
der Eigentümer hat Geld genug, was schadet es, wenn man ihn ärmer
macht; früher habe er schon wiederholt dergleichen getan und es
sei ihm stets gelungen, usw.
Je nach dem Überwiegen der einen oder der andern Vor-
stellungsreihe wird nun die Handlung ausgeführt. Man nimmt das
Geld, vernascht es, versteckt es, legt es in die Sparkasse, usw., oder
man läßt die Angelegenheit auf sich beruhen und widersteht der
Versuchung.
Es ist klar, daß auch im Falle eines vollständig normalen Seelen-
lebens das Kind, dem die Grenze zwischen mein und dein, die Be-
deutung eines Vergehens gegen das Strafgesetzbuch noch nicht so
klar zum Bewußtsein gekommen ist, anders handeln wird als der Er-
wachsene. Bei dem Armen werden andere Vorstellungen auftreten
als bei dem Reichen. Sind fremde Personen anwesend, so wird die
Sache anders ausfallen, als wenn man sich unbeobachtet glaubt. Ist
das Geld eingeschlossen, wird man anders handeln, als wenn es offen
auf dem Tische liegt. Der Intelligente wird selbstverständlich auch
anders handeln als der Schwachbefähigte, weil bei jenem viel eher
Überlegungen Platz greifen, bei diesem viel weniger hemmende
Vorstellungen auftreten, und wiederum nähert sich der Schwach-
sinnige dem Intelligenten, der nervös überreizt oder nervös abge-
stumpft ist.
Aber dieses Erwägen und Überlegen gibt oft nicht den Aus-
TrÜürEr: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 199
schlag; für unser Handeln ist ein anderes ausschlaggebender. Die-
selbe Vorstellung führt z. B. bei Liebe oder bei Haß zu ganz ent-
gegengesetzten Handlungen. Es kommt darauf an, von welchen Ge-
fühlsstönen unsere Vorstellungen begleitet werden und zwar, ob die
Gefühlsstöne Lust oder Unlust, \Wohlgefühl oder Abscheu bedeuten,
ob sie lebhaft oder schwach oder indifferent sind. Denn diese Gefühls-
töne, die jede Vorstellung begleiten, sind bei ein und derselben Per-
son zeitweilig für ein und dieselbe Wahrnehmung, und für ein und
dieselbe Vorstellung bei verschiedenen Individuen sowohl quantitativ
als qualitativ verschieden. So erhalten die gleichen Vorstellungen bei
verschiedenen Menschen wie auch bei verschiedenen Zeiten und bei
verschiedenartigen Umständen einen durchaus verschiedenen Gefühls-
wert. Der eine bleibt darum indifferent, wo der andere freudig er-
regt wird und den dritten ein Unlustgefühl überkommt.
Nun werden im Kampfe der Vorstellungen die mit starken Ge-
fühlstönen begleiteten im allgemeinen über die schwach betonten,
die von Lust begleiteten über die Unlust erweckenden beim Streben
nach Ausführung der Handlung den Sieg davon tragen.
Hinzu kommt aber noch eins. Die Nerven fraglicher Individuen
sind leicht erregbar, reflexartig führen die Reize von außen zu Hand-
lungen; daher z. B. die motorische Unruhe der Nervösen. Das Ge-
fühlsleben ist zudem abnorm. Die starken Gefühlstöne sind im
Stadium der Erregung übermäßig gesteigert, im Stadium der Ermü-
dung sehr herabgemindert und im allgemeinen herabgemindert bei
Vorstellungen abstrakter Art, also z. B. bei den ethischen Begriffen
über Recht und Unrecht, können es wenigstens sein. Oder die
Lustgefühle können dermaßen stark auftreten, daß sie mit unwider-
stehlicher Macht wie Hunger und Durst zur Verwirklichung drängen.
Jener Knabe hat im Eisenbahnwagen II. Klasse seinen Vater dringend
gebeten, doch einmal mit ihm erster Klasse zu fahren, und die ver-
nünftige Abweisung des Vaters steigerte nur noch den Gefühlston,
bis er bei der Großmutter sich das Geld dafür entwendete. Hinzu
kommt noch, daß die Gefühle nicht bloß Begleiterscheinungen der
Vorstellungen, der Intelligenz sind, sondern auch alle unbewußten
Vorgänge begleiten.
Solche Zustände können sich steigern bis zur direkten Zwangs-
handlung, die jede entgegengesctzte Vorstellung und jedes ernste
Wollen einfach niederringt. »Das Gute, das ich will, das tue ich
nicht, aber das Böse, das ich nicht will, das tue ich. — Ein anderes
Gesetz ist in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz in
meinem Gemüt und nimmt mich gefangen in der Sünde Gesetz,
200 A. Abhandlungen.
welches ist in meinen Gliedern.«e So schildert der Apostel Paulus!)
aus eigener schwerer Erfahrung mit treffenden Worten diesen Zustand.
Und jener Knabe, der nach der Züchtigung die Handlung vollzog,
handelte entschieden in einem solchen blinden, zwangsartigen Drange.
Nebenbei bemerkt, waren seine Gefühlstöne außerordentlich matt und
nicht ohne die Schuld der Angehörigen unentwickelt geblieben. Und
ein auch geistig geschwächtes gutherziges Mädchen, das in gewissen
Zeiten, namentlich während der Mensis, beliebige Sachen entwendete
und sie direkt in den Abort warf, bittet die Mutter: »Bleibe bei
mir und laß mich nicht allein, denn dann kommt eine Angst über
mich, daß ich Böses tun muß.«
Nun frage ich: Kann unser landläufiges Strafsystem hier etwas
ausrichten? Ja, ist der Jurist vermöge seiner Vorbildung befähigt,
hier zu urteilen? Daß bisher der Jurisprudenz jedes Verständnis für
diese Fragen fehlte, beweisen die von mir besprochenen Fälle wie
die vorhandenen Strafgesetze.
Man bestraft den Gesetzesbrecher, weil er eine sittlich recht-
liche Schuld auf sich geladen hat, eben die Schuld des Gesetzes-
bruches. Zweck der Strafe ist die Vergeltung, die Wiederherstellung
der gebrochenen Rechtsordnung durch eine dem Maße der Verschul-
dung angemessene Strafe. So sagt die klassische Strafrechtsschule.
Die moderne Schule, die den Menschen als willensunfrei, im wesent-
lichen als das Produkt der umgebenden sozialen Verhältnisse darstellt,
hält ebenfalls ein Strafrecht für notwendig. Rechtsgrund und Zweck
verschieben sich aber. Rechtsgrund ist für sie nicht die Tatsache
des Verbrechens, sondern die Person des Verbrechers. Er ist ver-
antwortlich nicht, weil er schuldig ist, sondern weil seine antisoziale
Gesinnung die Gesellschaft gefährdet. Zweck der Strafe ist daher der
Schutz der Gesellschaft, die Sicherheit der Gesellschaft gegen anti-
soziale Existenzen. Die Strafe ist nicht Vergeltungsstrafe, sondern
Sicherungsstrafe.
Über diesen Standpunkt ist man eigentlich auch ideell nicht hin-
ausgekommen, und wenn der Centrumsabgeordnete Dr. Schaumz im
Preußischen Abgeordnetenhause urplötzlich der Vorlage eines Zwangs-
erziehungsgesetzes den Namen eines »Fürsorgegesetzes« aufgedrückt
hat, so ist das eigentlich ein Unikum, wenn auch ein so erfreuliches,
daß weitere Kreise zunächst den Namen und damit auch je länger
je mehr von dem Inhalte desselben sich angeeignet haben.
Die psychopathologische Betrachtung des jugendlichen Verbrecher-
1) Röm. 7, 19. 23.
Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 201
tums zwingt uns zu dem Standpunkte überzugehen, daß wir neben
oder vor der Strafe aus Vergeltung oder zum Zwecke des Schutzes
der Gesellschaft die Verhütung der Gesetzesübertretungen und bei
Gesetzesübertretungen die leibliche und seelische Besserung und
Rettung ins Auge fassen. Damit stellen wir uns auf den Standpunkt,
den die neuzeitliche Psychologie und Psychiatrie uns anweist, auf den
aber schon einer vor 1900 Jahren hingewiesen hat, als er durch
Wort und Tat ausrief: »Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig
und beladen seid, ich will euch (nicht verstoßen und verfluchen,
sondern euch bessern und) erquicken.« (Matth. 11, 28.)
Sind nun meine vorstehenden Darlegungen, und wenn auch nur
im allgemeinen, stichhaltig, so ergeben sich daraus folgende, im Inter-
esse der heranwachsenden Jugend zu erhebende Forderungen:
1. Es gibt abnorme Erscheinungen im Seelenleben der
Jugend, die nicht unter die Rechtsbegriffe »Unzurechnungs-
fähigkeit« und »Geistesschwäche« fallen, die aber doch
pathologischer Natur sind und bei manchen zu Gesetzes-
verletzungen führen, ja unbewußt drängen.
2. Diese Zustände entwickeln sich in vielen Fällen
erst allmählich aus kleinen Anfängen. Werden dieselben
rechtzeitig erkannt und zweckentsprechend in der Er-
ziehung berücksichtigt, so können dadurch viele jugend-
liche Gesetzesübertretungen verhütet werden.
3. Es ist darum im Öffentlichen Interesse dringend
erwünscht, daß Lehrer, Schulärzte, Seelsorger und Straf-
richter sich mehr als bisher dem Studium der Entwick-
lung der Kindesseele und ihrer Eigenarten widmen.
Namentlich ist es notwendig, daß an den Universitäten
in Verbindung mit pädagogischen Seminarien Vorlesungen
über Psychologie und Psychiatrie des Jugendalters ge-
halten werden und daß in den Volksschullehrerseminarien
die künftigen Lehrer Anleitung zum Beobachten des
kindlichen Seelenlebens erhalten.
4. In allen Schulen ist mehr als bisher der Erziehung
des Gefühls- und Willenslebens Rechnung zu tragen und
der einseitigen intellektuellen Überlastung vorzubeugen.
5. Bevor jugendliche Individuen wegen Gesetzesver-
letzung öffentlich vor den Strafrichter gestellt werden,
sollten sie zunächst einem Jugendgericht, bestehend aus
902 A. Abhandlungen.
dem Lehrer des betreffenden Kindes, dem Leiter der be-
treffenden Schule, dem Schularzte, dem Geistlichen und
dem Vormundschaftsrichter überwiesen werden. Erst auf
Beschluß dieses Jugendgerichtes sollte gegen Jugendliche
cin öffentliches Verfahren eingeleitet werden.!)
6. Statt oder neben der Strafe als Sühne oder der
bloßen Einsperrung zum Schutze der Gesellschaft gegen
die Übeltäter sollte in besonderen Anstalten von be-
sonders vorgebildeten Pädagogen unter medizinisch-psy-
chiatrischem Beirate geleitet, eine für Leib und Seele
sorgfältig erwogene Heilerziehung Platz greifen. Die Für-
sorgegescetze tragen bisher diesen Anforderungen nicht
genügend Rechnung.
2. Eine merkwürdige Entdeckung über die Bedeutung
der Schilddrüse.
Vortrag, gehalten gelegentlich der 13. Jahresversammlung des holländischen Vereins
für die Fürsorge für Idioten und zurückgebliebene Kinder.
Von
Dr. med. A. Dupont-Ermelo (Holland).
Die Fortschritte der Wissenschaft sind nur langsame.
Auch auf dem biologischen Gebiete ist noch gar vieles ein
Rätsel. Auf welche Weise Seele und Leib zusammen wirken, ist
uns noch ganz und gar unbekannt.
Unbekannt ist noch, wie das Protoplasma der Zelle sich nährt
mit den von dem Blute zugeführten nahrhaften Bestandteilen, warum
das Protaplasma einzelner Zellen andere Wirkung hat als das anderer
Zellen, obschon durch das Mikroskop wenig Unterschied im Bau
wahrzunehmen ist.
Unbekannt ist z. B. auch noch die Wirkung der Nebennieren.
Wir wissen nur, daß bei Krankheit der Nebennieren sehr wichtige
Störungen eintreten. Es ist nicht lange her, als wir erfuhren, die
Milz spiele eine Rolle bei der Blutbereitung.
t) Die gauze bisherige Strafpraxis hat sich für die Jugendlichen als durchaus
nutzlos erwiesen und kostet nur dem Staate unnütz viel Geld. Hier muß ein
Üborgang von der elterlichen und Schulzucht zur strafrechtlichen geschaffen werden.
Die Hinausschiebnng der Altersgrenze für die Strafbarkeit ist ein unwirksames Mittel.
Es wird nur die Ziffer herabdrücken, aber die Sünden nicht mindern. Das Einzelne
meiner Forderung bleibt vorläufig auch für mich diskutabel. Ich bin zufrieden,
wenn ich damit nur die edukatorische Erörterung der Frage in Fluß bringe.
Dvpoxt: Eine merkwürdige Entdeckung über die Bedeutung der Schilddrüse. 203
Unbekannt ist noch die Verrichtung verschiedener Hirnteile,
unbekannt die Wirkung der Thymus-Drüse usw.
Dankbar erkennen wir den Fortschritt der Wissenschaft als eine
Gottesoffenbarung an. Jedoch müssen wir, mit dem großen Physio-
logen CLAUDE BERNARD äusrufen: »Nous sommes entourés de phéno-
mönes que nous ne voyons pas,« wir sind umgeben von Phänomenen,
welche wir nicht schen. Zu den Organen, wovon man bis vor kurzer
Zeit gar nichts wußte, gehört die Schilddrüse.
Sie besteht aus zwei seitlichen, von einem schmalern Mittel-
läppchen verbundenen Teilen, welche sich am obern Teile der Luft-
röhre befinden. Das Mittelstück bedeckt die oberen Knorpelringe
der Luftröhre.
Der innere Bau gleicht dem Baue jener Organe, welche eine
gewisse Flüssigkeit abscheiden, und Drüsen genannt werden, dasjenige
aber, was sie davon unterscheidet, ist der absolute Mangel cines
Ausführganges, durch welche die abgeschiedene Flüssigkeit weggeführt
wird. Welchen Zweck hat diese Flüssigkeit der Schilddrüse und wohin
nimmt sie ihren Weg? Das sind Fragen, worauf vergebens eine
Antwort gesucht ward, bis die Entdeckung einer bestimmten Krank-
heit darauf mehr Licht warf.
Bei dieser Krankheit wollen wir zunächst einige Augenblicke
verweilen.
Vor dreißig Jahren stellten der englische Arzt Witam GULL
und einige Jahre später auch sein Kollege Orp einer der gelehrten
Gesellschaften einzelne Patienten vor, bei denen Abweichungen von der
Normalität der Haut und dem Nervensystem vorlagen. Es handelte
sich um Frauen, und wie beide Ärzte glaubten, um eine selbständig
auftretende Krankheit.
In einem der Fälle war Orp im stande, eine Untersuchung nach
dem Tode zu erreichen, wobei er bestimmen konnte: 1. cinen starken
Rückgang der Schilddrüse, 2. ein Durchziehen der Haut und des
Unterhautzellgewebes mit einem schleimigen Stoffe. Durch den
schleimigen Stoff sah die Haut bleich und wachsig aus, und erschien
dick beim Betasten.
Beim ersten Anblicke glich sie der Haut der Wassersüchtigen;
das bekannte Grübchen beim Drücken blieb aber nicht darin stehen.
Orp gab deshalb der Krankheit den Namen Myxoedem, d. h.
schleimige Anschwellung.
Von französischer Seite, von Cuarcor und seinen Schülern, kamen
ungefähr gleichzeitig, und unabhängig von ihren englischen Kollegen,
Nachrichten über ähnliche Fälle, jetzt auch in Bezug auf Männer,
204 A. Abhandlungen.
und die erneute Untersuchung fand, daß die Krankheit schon im
jugendlichen Alter eintreten kann und auch angeboren vorkommt.
In allen Fällen wurde konstatiert großer Rückgang, resp. Fehlen
der Schilddrüse.
Es kamen nun die Erfahrungen der Schweizer Chirurgen R£vErDIN
und Kocer dazu, wonach nach gänzlicher Entfernung (durch operieren)
der in der Schweiz vielfach vorkommenden Kröpfe (kränkliches
Wuchern der Schilddrüse) ein Zustand eintrat, dem die Krankheit
ungemein ähnlich war, welche von obengenannten Ärzten beschrieben
wurde. Im einen Falle: Rückgang, also Fehlen der Schilddrüse, im
andern operatives Entfernen jenes Organes.
Nun lag es auf der Hand, die Krankheit in Verbindung zu
bringen mit der fehlenden Wirkung der Schilddrüse, und zu meinen,
die abgeschiedene Flüssigkeit jener Drüse habe ohne Zweifel ein be-
deutendes Werk zu verrichten.
Im Jahre 1884 lieferte Schirr den Beweis, daß ein Hund, dem
die Schilddrüse genommen wird, nicht leben kann. Er wird apa-
thisch, schläfrig, sein Bewußtsein wird gestört, er bekommt Krämpfe,
usw. Bei einem andern Hunde, dem ScHiFF zuvor die Schilddrüse
eines andern Hundes im Unterleibe festgenäht hatte, wurde erkannt,
daß das Fortnehmen der Schilddrüse jetzt nicht tödlich war. Die
genannten Phänomene blieben aus. Schirrs Schlußfolgerung war,
daß der Schilddrüse eine wichtige Funktion für die normale Wirkung
des Organismus anvertraut sein müsse, und daß das Fehlen des Ab-
scheideproduktes ernstliche Störungen anrichten könne.
Was nun die Ursache des Rückschrittes oder Fehlens der Drüse
ist, ist bis jetzt noch unbekannt.
BourNEVILLE, der viel Erfahrung hat in Bezug auf diese Krank-
heit, sagt, daß Alkoholvergiftung wiederholt vorkomme in der Familie
seiner Patienten. Auch in der Familie eines unserer Patienten hat
sich dies gezeigt.
Genannter BoursEVvILLE fand wiederholt Tuberkulose in der Familie,
wir bei einem unserer Patienten auch.
Man hat wahrgenommen, daß die Krankheit mehr bei Frauen
als bei Männern auftritt (6 Frauen stehen einem Manne gegenüber),
besonders mehr bei verheirateten Frauen. Auch kommt die Krank-
heit in einzelnen Ländern, z. B. in England, häufiger vor als in andern.
Das Alter, in welchem die Krankheit am häufigsten auftritt, liegt
zwischen dem 30. bis 50 Jahre. Doch auch bei Kindern und an-
geboren kommt die Krankheit nicht selten vor. Bei jüngern Kin-
dern war die Krankheit schon früher bekannt unter dem Namen:
Dveoxt: Eine merkwürdige Entdeckung über die Bedeutung der Schilddrüse. 205
sporadischer, d. h. zerstreuter, Cretinismus, so genannt dem ende-
mischen oder einheimischen Cretinismus gegenüber, wie er vorkommt
in den Berggegenden Europas (Schweiz, Tyrol und Nord-Italien).
Die an jenem örtlichen Cretinismus Leidenden zeigen öfters
einen Kropf, der meistens nichts anders ist als eine kränkliche Ent-
artung der Schilddrüse. Auf welche Weise dieser Kropf entsteht, ist
bisher unbekannt geblieben. Die Entstehung hängt jedoch unzweifel-
haft zusammen mit dem Trinken von Wasser aus bestimmten Quellen
und wahrscheinlich auch damit, daß die Lufterfrischung in den Tälern
viel zu wünschen übrig läßt. Bekannt ist, wie das Erblicken eines
ähnlichen unglücklichen Cretinen Dr. GucsEngünn schon 1840 be-
wegte, eine Cretinen-Anstalt zu bauen auf dem Abendberge, weil er
wußte, daß seit langem wohlhabende Talbewohner ihre Wohnung ver-
legten nach der Höhe der Berge, um also den Tälern zu entfliehen.
Jene Übereinstimmung zwischen dem örtlichen Cretinismus und dem
kindlichen Myxoedem ist leicht zu erklären. Es liegen vor: beim
kindlichen Myxoedem ein Rückgang im jugendlichen Alter; bei dem
Cretin eine kränkliche Verwandlung der Schilddrüse im jugendlichen
Alter. Und weil der Mangel der Schilddrüsenwirkung bei den Er-
wachsenen den Seelenzustand rückwärts gehen läßt, sie träge, stumpf-
sinnig und fast teilnahmlos werden, so sieht man leicht ein, daß
beim Fehlen der Schilddrüsenwirkung die Gehirne der Kinder in
ihrer Entwicklung gestört werden.
Das Myxoedem der Kinder wollen wir jetzt behandeln. Diese
zurückgebliebenen Kinder kommen nicht oft in unsere Anstalten,
weil die Notwendigkeit der Aufnahme nicht drängt; sie sind stumpf-
sinnig, träge, plump, können oft nicht gehen, bleiben da sitzen, wo
man sie hinsetzt, haben keine bösen Launen, sind im Gegenteil
gutmütig; und so wird es möglich, daß eine Patientin, von der ich
drei Photographien beigebe, bis an ihr 23. Jahr zu Hause blieb.
Häusliche Umstände zwangen dann die Familie des Mädchens, in
unsrer Anstalt Aufnahme zu suchen.
Indem ich jetzt übergehe zu den Phänomenen der Krankheit,
glaube ich dies am besten tun zu können, indem ich zwei Patienten
von S’HEEREN Loo im Geiste vorstelle.
Den 14. Mai 1901 ward mir in meine Studierstube eine neue
Patientin (G. M....y) gebracht von ihren Eltern und ihrem Bruder.
Letzterer schwitzte unter der schweren Bürde, die er den langen
Weg vom Bahnhofe bis zu s’HEErREN Loo getragen hatte. Es war
ein kleines Mädchen, das wie eine formlose Masse auf seinem Arme
saß. Als man es auf einen Stuhl hinsetzte, kam der mißgebildete
206 A. Abhandlungen.
Kopf nicht höher wie die Lehne. Es saß und guckte still und teil-
nahmlos für sich hin. Durch nichts gab es kund, es sei ihm fremd
in meinem Zimmer.
Es zeigte sich bei dem Mädchen Zwergwuchs. Der Kopf war
stark verlängert in der Richtung von der Stirn bis zum Hinterkopfe.
Die Haut des Antlitzes hatte eine gelbweiße Farbe und war dick.
Man würde sagen, das Mädchen sei wassersüchtig, wenn bei der
Untersuchung das bekannte Grübchen in der Haut stehen geblieben
wäre. Die Stirn war nicht hoch und gerunzelt; daher der finstere,
schwermütige Ausdruck, der all diesen Kranken eigen ist. Die Augen-
spalten waren eng durch die geschwollenen Augenlieder, und da-
zwischen befand sich ein breiter, tiefliegender Nasenrücken. Das
Ende der Nase war breit mit weitaufstehenden Nüstern. Eine dicke
Zunge war durch den geöffneten Mund sichtbar. Der Haarwuchs
war sparsam. Das Kind geiferte nicht. Dies Äußere war so typisch,
daß ich schon vor dem Entkleiden des Kindes fragte, ob es vielleicht
auch einen dicken Bauch habe, worauf der Bruder antwortete: »Herr
Doktor, wie cine schwangere Frau.« Nachdem das Mädchen ent-
kleidet war, fiel der kurze, breite Hals auf, so kurz, als stände der
Kopf direkt auf den Schultern. Die Gruben oberhalb der Schlüssel-
beine waren ausgefüllt mit dicken Fettkissen; auch die Unterschlüssel-
beinsgrube stand mehr als gewöhnlich hervor. Die Haut zeigte
keinen Haarwuchs; keine Achsel-, keine Schamhaare. Die Brüste waren
unentwickelt. Die Haut war über Brust, Bauch und Beinen mar-
moriert, hier mehr, dort weniger gefüllt. Die Haut selber war dick,
doch ohne Fettlage.e Der Bauch war ein echter Fröschebauch, sehr
hervorstehend und darauf befand sich noch ein hervorstehender Nabel.
Die Bauchform und das Hervorstehen des Nabels war besonders
typisch. Ich will nicht leugnen, daß dann und wann Nabelbruch
vorkommt; bei unserer Patientin aber entstand das Hervorstehen durch
Infiltration der Haut um den Nabel.
Die Beine waren plump, die formlos kleinen Füße zeigten dicke
Fettpolster und waren mit den innern Kanten einwärts gebogen. Die
Hände waren ebenfalls kurz und dick, die Finger breit. Von hinten
geschen, war eine starke Höhlung im Rücken wahrzunehmen, deren
Bildung zu erklären ist durch die Schwere des Bauches. Die Photo-
graphie von damals gebe ich hier wieder. Patientin sagt nur ja und
nein, nimmt keine Notiz von der Umgebung und ist auch noch unrein,
wenn man nicht darauf achtet. Beim Anreden lächelt sie uns freund-
lich zu, gibt aber gar kein Anzeichen dafür, daß sie etwas verstehe.
Patientin beschäftigt sich gar nicht. Wenn man bedenkt, daß Patientin
Dvront: Eine merkwürdige Entdeckung über die Bedeutung der Schilddrüse. 207
22 Jahre zählt, 87 cm lang ist und 19 kg wiegt, daß von der Schild-
drüse keine Spur zu finden ist, dann dürfte es klar sein, daß wir es
mit einem Falle von Myxoedem zu tun haben. Aus der Vorgeschichte
dieses Mädchens lernen wir, daß es sich in den ersten Monaten gut
entwickelte, daß aber der Rückgang anfing nach dem vierten Monat,
in welchem es eine schwere Form von Masern überstand. Die Zähne
kamen zu bestimmter Zeit; der erste Wechsel der Zähne geschah
aber erst im Alter von 14 Jahren und war bei der Aufnahme in die
Anstalt noch nicht ganz vollendet. Das Mädchen konnte nicht gehen;
sehr auffallend war das Mißverhältnis zwischen Ober- und Unterleib.
Der Monatsfluß war noch nicht eingetreten.
Die ganze Familie war außerordentlich nervös und hastig in
ihren Bewegungen.
Großmutter und Onkel sind am Wahnsinn gestorben. —
Unsrer zweite Patient ist 11 Jahre alt und 104 cm groß, hat
also ungefähr die Länge eines normalen sechsjährigen Kindes. Hier-
mit kontrastiert die Größe des Kopfes, dessen Umfang 52!/, cm ist.
Der Vater ist nervös. Die beiden Eltern des Vaters sind tuberkulös,
eins der beiden auch epileptisch. Der Neffe des Vaters ist tuberkulös,
zwei Neffen der Mutter sind idiot gestorben, und die Großtante des
Patienten ist taub.
Nach der Geburt, welche lange dauerte, wollte das Kind nicht
saugen. — Wahrscheinlich war die große Zunge davon die Ursache,
wiewohl das Nichtsaugenkönnen ein bekanntes Merkzeichen ist für
idiot geborene Kinder. Danach entwickelte es sich gut, bis nach 9
Monaten Stillstand eintrat. Die Zähne kamen spät. Das Gesicht
wurde gedunsen, erhielt bleiche Farbe mit breiten, dicken Hänge-
backen, dazwischen eine breite, platte Nase. Die Haare wuchsen hart
und sparsam, der Mund blieb meistens geschlossen. Heute noch ist
das Milchgebiß vorhanden. Dazu ein kurzer breiter Hals. Oberhalb
und unterhalb des Schlüsselbeines treten starke Drüsenanschwellungen
hervor. Von einer Schilddrüse ist nichts zu fühlen. Der Bauch
steht hervor und ist breit, der Nabel besonders hervorstehend. Die
obersten und untersten Glieder sind kurz und plump. Die Beine
sind einigermaßen krumm. Arme und Beine, vorzüglich aber die
Hände sind kalt und blaurot, die Finger breit und plump. Das Kind
leidet an Verstopfung. Wo es hingesetzt wird, bleibt es sitzen und
regt sich wenig. Patient spricht noch nicht, kann nicht allein
gehen und wenn er steht, muß er sich festhalten. Trägheit in all
seinem Tun ist charakteristisch.
Von einer dritten Patientin will ich nur weniges anführen. Sie
208 A. Abhandlungen.
ward zu uns gebracht im 14. Jahre auf Anraten von Dr. ABBINK
SPAINK aus Apeldoorn, welcher dieses Kind schon 3 Jahre behandelte,
und jetzt meinte, die Zeit wäre da für Schulunterricht. Damals,
11 Jahre alt, war es gleich einem zweijährigen Kinde 87 cm groß.
Auch bei diesem Mädchen sieht man den Bauch mit hervorstehendem
Nabel. Die Franzosen sprechen von ventre de bactracien (buchstäb-
lich Fröschebauch).
Noch etwas Merkwürdiges an diesem Kinde ist, daß es onaniert.
Ich fand einen solchen Fall noch erwähnt in einer Bekanntmachung
von Bourneville im Jahre 1901; sonst kommt Selbstbefleckung nicht
vor bei Myxoedemleidenden. Man erzählt, der Vater dieses Kindes
sei Alkoholiker. Wir sehen also, daß bei dieser Krankheit 4 Gruppen
von Phänomenen auftreten.
1. Infiltration der Haut durch schleimige Absetzung.
2. Das Fehlen der Schilddrüsenwirkung.
3. Stillstand in der geistigen Entwicklung.
4. Zwergwuchs.
Bei dem letzten Phänomen wollen wir noch einen Augenblick
stille verweilen.
Bei jedem jüngern Kinde ist ein Mißverhältnis da zwischen den
Längen des Ober- und des Unterleibes; ein Mißverhältnis, das all-
mählich verschwindet durch den schnelleren Wuchs der unteren
Glieder. Die Länge der Glieder wird bedingt durch die Röhren-
knochen, welche das Skelett der Extremitäten bilden. In dem
Wuchse der Röhrenknochen ist nun eine merkwürdige Störung wahr-
zunehmen.
Ein solcher Knochen, der umgeben ist von einem Beinhäutchen,
besteht aus drei Stücken; einem Mittelstück und zwei Enden. Diese
Enden bestehen in den ersten Lebensjahren noch aus Knorpel. Vor
der Geburt, oder auch wohl kurz nach derselben, entsteht in der
Mitte dieser Enden ein Verknöcherungszentrum, welches je länger je
mehr um sich greift, bis zum Schlusse das ganze Ende verknöchert
ist. Es bleibt dann von dem ursprünglichen Knorpel eine dünne
Schicht an der Oberfläche, Gelenkknorpel genannt, und eine Knorpel-
scheibe zwischen dem Ende und dem Mittelstücke. In dieser Knorpel-
scheibe findet nun fortwährend Zunahme des Knorpels statt, welcher
sowohl nach der Seite des Endes, als nach der Seite des Mittel-
stückes übergeht in Verknöcherung, und dadurch wird der ganze
Knochen länger. Solange der Knochen wachsen muß, bleibt die
Knorpelplatte bestehen. Ist der Wuchs vollendet, so verknöchert
auch die Platte, und jetzt erst ist der Röhrenknochen ein Ganzes.
Duvpoxt: Eine merkwürdige Entdeckung über die Bedeutung der Schilddrüse. 209
ud
Vom Beinhäutchen aus, welches den ganzen Knochen umgibt, werden
Zellen gebildet, welche das Verdicken verursachen.
Wir sehen nunmehr beim kindlichen Myxoedem, daß die Enden
der Röhrenknochen knorpelig bleiben, daß es demzufolge keine eigent-
liche Knorpelplatte gibt zwischen Ende und Mittelstück, und daß
also keine Absetzung für das Knochenwachstum stattfindet und
der Wuchs des Beines nicht weiter geht; das Bein behält die Länge
des Alters, in welchem das Myxoedem eintritt. Deshalb bleibt auch
das Mißverhältnis bestehen zwischen Ober- und Unterleib. Dies ist
eine Entdeckung der letzten Zeit durch die Röntgenphotographie,
wodurch wir im stande sind, das Skelett eines lebendigen Menschen
zu photographieren, und jetzt auch jene Formen von Myxoedem
kennen zu lernen, wobei die Schilddrüsenfunktion nur zum Teil auf-
gehoben ist, und wobei das typische Äußere nicht völlig eintritt.
Wir sehen bei diesen Formen dann auch zum Teil eine Störung
im Knochenwuchse.
Sodann können wir dadurch bestimmen, in welchem Alter das
Myxoedem eingetreten ist, weil wir wissen in welchem Alter ver-
schiedene Knochen formiert werden.
Indem wir jetzt zurückkehren zu unsern Patienten, gebe ich
einiges aus den Notizen über das erste Mädchen, welches am 14. Mai
aufgenommen wurde.
31. August. Patientin fängt an, allein zu essen und auch zu
stehen, wird aber noch festgehalten.
7. September. Zustand bessert sich, die häßliche Dicke ist
sichtbar vermindert, und die wachsbleiche Farbe weicht je länger je
mehr gesundem Aussehen.
5. Oktober (das ist 41/, Monat nach der Aufnahme). Eine neue
Photographie zeigt ganz besondere Besserung. Die Länge hat einige
Centimeter zugenommen. Patientin steht, indem sie sich festhält, an
einem Sessel; der dieke Bauch ist verschwunden; die Gesichtsfarbe
ist gesund; der Blick ist hell, und das Kind schaut mit Bewußtsein
um sich. Besonders merkwürdig ist, daß die dicke Zunge, welche
meistens zwischen den Lippen sichtbar war, jetzt dermaßen abge-
nommen hat, daß der Mund geschlossen werden kann.
12. Oktober. Patientin fängt an zu gehen.
Mai 1902 (also ein Jahr nach der Aufnahme). Patientin kann
jetzt niedlich gehen an der Hand der Schwester, fürchtet aber, sie
los zu lassen; sie ist 16 em gewachsen und hat sich schr gebessert.
Sie kennt die ganze Umgebung; das Reden geht aber noch nicht viel
besser.
Die Kinderfehler. IX. Jahrgang. 14
210 A. Abhandlungen.
Juni. Patientin fängt an zu reden, aber ohne Klänge; antwortet
auf einfache Fragen.
Mai 1903. Patientin geht dem Tische entlang und setzt sich ohne
Hilfe, kann allein und niedlich mit einem Löffel essen. Dann und
wann ist sie noch unrein. Sie ist in den zwei Jahren der Anstalts-
behandlung 17,5 cm gewachsen, was im Alter von 24 Jahren merk-
würdig ist. Vielleicht wäre das Wachstum noch stärker, würden die
Beine nicht krumm sein. Diese sind jetzt wie ein Reif gebogen,
während bei der Aufnahme die Kniee einwärts standen. Patientin hilft
schon einem andern beim Essen, und füttert ihn mit dem Löffel.
Einen so großen Fortschritt bemerkten wir bei dem Simon nicht;
von ihm haben wir aufgezeichnet:
Aufnahme 2. Mai 1901.
4. September. Es kommt uns vor, daß Patient viel lebhafter
blickt. Er geht jetzt ohne Stütze.
20. Oktober. Eine neue Photographie zeigt, mit der von vor
4 Monaten verglichen, große Besserungen im körperlichen Baue. Die
plumpe Gestalt, die dicke Haut, der große Bauch mit hervorstehen-
dem Nabel sind alle verschwunden. Der Blick des Patienten ist
heller, und er schaut mit mehr Aufmerksamkeit um sich. Die geistige
Entwicklung ist ebenfalls merkbar vorwärts gegangen, obschon nicht
so schnell wie die körperliche.
April 1902. Die Länge ist jetzt 120 cm, sie war 110 cm 1902
und 104 cm 1901. |
Er hat sich körperlich viel gebessert; in geringerem Maße aber
auch geistig. Er versteht, was man zu ihm sagt, kann aber nicht
reden. |
Zum Schlusse die Patientin, welche uns schon bedeutend besser
von Dr. Spayk zugesandt ward.
Sie war im Juli 1897 elf Jahre alt, maß 87 cm, anderthalb Jahre
später 1041/, cm, wieder anderthalb Jahr später 122 cm und heute
mißt sie 139 cm. Sie geht in die Schule, und nach der Aussage
unseres Lehrers (Herr Pecmax) hat sie schon ziemlich gut lesen ge-
lernt, und fängt an zu schreiben; im Rechnen ist sie aber noch schwach.
Durch welches Mittel nun hat man die bedeutende Besserung
erreicht?
Der Physiolog Scurr bemerkte, wie wir schon sagten, daß die
ungünstige Phänomene bei Probetieren nach dem Wegnehmen der
Schilddrüse ausblieben, wenn er zuvor die Schilddrüse von derselben
Tierart in den Bauch des Probetieres angeheftet hatte. Die abge-
schiedene Flüssigkeit kam also doch in den Blutstrom.
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kwürdige Entdeckung über die Bedeutung der Schilddrüse.
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212 A. Abhandlungen.
Herca BircHEr, praktizierender Arzt zu Aarau bei Bern, war
es, der 1889 zum ersten Male diese Entdeckung von SchHirr, auf den
Menschen anwandte Er nähte einer Frau, welche operiert war am
Kropf, die Schilddrüse einer andern Frau in den Bauch ein, und
erlangte unverkennbares, aber vorübergehendes Resultat. Unabhängig
von diesem Versuche strebte HorsLeyY nach Verbesserung des Ver-
fahrens und nähte im Anschluß an Scarrrs Tierversuche eine Schaf-
schilddrüse im Bauche ein. Auch hier wurde wenn auch nur eine
vorübergehende Veränderung erzielt. Beide eingenähten Organe ver-
schmolzen zu keinem Ganzen mit dem Organismus, starben vielmehr
nach gewisser Zeit ab.
Bessere Resultate erhielt man durch Einspritzungen in die Blut-
ader von dem Safte der Schilddrüse. Murray zog die Schilddrüse
des Schafes aus mit Glycerin und machte damit Unterhauteinspritzungen.
Jetzt wurden die Resultate erstaunlich. Da aber, sobald die
Einspritzungen aufhörten, auch eben so schnell Rückgang eintrat, sah
man ein, daß die vielen Einspritzungen, welche außerdem nicht ohne
Gefahr waren, nicht regelmäßig dauernd fortgesetzt werden konnten.
Man förderte die Sache erst recht durch den ersten Versuch 1892,
indem man die Schilddrüse des Schafes und Rindes arzeneilich an-
wandte. Man gab jeden Tag !/, bis !/, Drüse frisch und roh auf
Brot. Man sah auch hier stetige und jetzt auch bleibende Resultate.
Man ging bald noch weiter, denn die Schwierigkeit, alle Tage frische
Schilddrüsen zu bekommen, wurde groß. Wmme verfertigte Tabletten
von der getrockneten und gepuderten Drüse und auch hierin blieb
der wirksame Bestandteil bewahrt. Diese Tabletten hielten sich
einige Zeit.
Auch die Holländer stellten Versuche an. Professor van HAREN
Noman bereitete die getrocknete Drüse in Pulverform zu, Dr. Küras
stellte den getrockneten Extrakt der Drüse her, und mit dem
letzten sind unsere zwei Kinder behandelt worden. Indem wir mit
kleinen Dosen anfangen und sorgfältig die Wirkung kontrollieren,
schreiten wir zu größeren Dosen fort. Ich sage, man muß gewissen-
haft kontrollieren, denn zuviel von der Drüse wird sehr schlecht ver-
tragen: die Patienten fiebern leicht unter Pulsbeschleunigung, sie
werden nervös, schlafen unruhig und schreien im Schlafe oft auf.
Dann muß man mit dem Mittel vorzeitig aufhören.
Von den verschiedenen Präparaten, welche jetzt im Gebrauch
sind, möchte ich erwähnen: a) die frische Drüse, b) die pulverisierte
Drüse (Van Haren Noman) fabriziert von Apotheker Cocx zu Amster-
dam, c) der getrocknete Extrakt der Drüse (Militärarzt Küthe) fabri-
Dvroxt: Eine merkwürdige Entdeckung über die Bedeutung der Schilddrüse. 213
ziert von Apotheker Verwey zu Tiel, d) das Thyreoidin (Merck in
Darmstadt), e) das Thyraden (Haaf), f) die Tabletten von White, be-
kannt unter den Namen Wellcome Burrough & Co., g) das Aiodinum,
Extrakt der Drüse von Schweinen, h) das Jodothyrin (Bayer & Co.,
Elberfeld), ein Jodium enthaltender Bestandteil der Schilddrüse.
Diese Präparate sind alle verschieden stark.
Folgende Tabelle!) mag eine Übersicht geben:
frisch Sul Er Haren) Merck |Wellcome
Zum Vergleich Verwey | N. Cocx Burrough
= g 8 8 g
Frisch 4 Läppchen . . . ==: 10 | =o = 12 |= 2 Tab-
letten
Große tägliche Dosis 2 a = 1 Tab-
chen : 5 = 09 = h20 | = 0,6 lette
Kleine tägliche Dosis Be 0,5—1 = 0,1 | = 0,25 | = 0,12 |= !/, Tabl.
Unsere Patienten nahmen im Anfange zu sich 150 mg Extrakt
Küthe-Verwey und sind allmählich gekommen zu einer täglichen
Dosis von 250 mg.
Leider konnte ich keine vollkommene Genesung konstatieren bei
den geistig Spätreifen, wohl aber große Besserung. Man bedenke
jedoch drei wichtige Dinge: 1. daß es bis jetzt nicht möglich war,
dem Kranken die normale Wirkung der Schilddrüse zurückzugeben.
Die Schilddrüse eines andern Menschen steht nicht zu unserer Ver-
fügung; bis auf heute mußte man sich der Schilddrüsen von Tieren
bedienen, und diese werden natürlich nicht vollständig Gleiches leisten
können;
2. war das eine Mädchen zu alt, um auf intellektuellem Gebiete
andern Mädchen ihres Alters gleich zu kommen;
3. kann man nicht erwarten, daß die Nervenzentren des Hirnes,
die sich einmal infolge des Mangels von Schilddrüsenstoffen im Blute
unvollkommen ausgebildet haben, in völlig normalen Zustand über-
geführt werden.
Tritt das Myxoedem auf, nachdem die Bildung der Nerven-
zentra vollendet ist, so erhalten wir sogar völlige Heilungen mittest
Schilddrüsenpräparate.
Heute steht soviel fest, die Schilddrüse hat im Organismus
eine wichtige Funktion zu verrichten. Sie scheidet einen Stoff ab,
1) Aus »Geneeskundig Jaarboekje voor Nederland«.
214 A. Abhandlungen. |
welcher unentbehrlich ist für die Ernährung und das richtige Wirken
des zentralen Nervensystems. Wenn dieser Stoff fehlt, geschieht die
Entwicklung der Nervenzentren im jugendlichen Alter unvollkommen.
3. Medizin und Pädagogik.
Von
J. Trüper.
4. Der Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift,
herausgegeben von Oberarzt Dr. Jon. BreEsLer in Lublinitz, sandte
ich zur Abwehr gegen abermalige falsche Darstellungen des Herrn
Dr. Werscaxor!) eine Richtigstellung im Umfange von etwa 1/, Druck-
seite. Nach etwa 14 Tagen erhielt ich dieselbe zurück mit folgendem
Schreiben:
Lublinitz, den 2. Mai.
»IIerrn J. Trürer, Jena.
Anbei folgt Ihr Manuskript zurück mit dem Bemerken, daß der Abdruck des-
selben abgelehnt wird.
Dr. BRESLER.«
Auf meine Anfrage nach dem Warum erhielt ich meinen Brief
»an die Redaktion der Psych.-Neurol. Wochenschrift z. H. des Herrn
Oberarzt Dr. med. Breser in Lublinitz« uneröffnet zurück mit dem
Vermerk »Annahme verweigerte.
Dieser vortrefflichen Beleuchtung der Weysanprschen Behaup-
tung über die »Zeitschriftenliteratur des Idiotenwesens«
brauche ich vorläufig kein Wort weiter hinzuzufügen. Ich überlasse
das Urteil über diese Behandlung unsern Mitarbeitern und Lesern
wie denen der — »Psych.-Neur. Wochenschrifte.
4. »Schutz für Geistesschwache«.
Der Vorstand der Vereinigung deutscher Anstalten
für Idioten und Epileptische ersucht uns um Aufnahme einer
Erwiderung auf einen Artikel der »Frankfurter Zeitung« vom
8. April d. Js., »Schutz für Geistesschwache« betitelt, mit dem Be-
merken, daß dieselbe von der Redaktion der »Frkf. Ztg.« nicht auf-
genommen wurde.
') Vergl. Heft IV. S. 164 ff.
»Schutz für Geistesschwache«. 215
Sie lautet:
»Schutz für Geistesschwache«.
Ein unter dem vorstehenden Titel in Nr. 98 der »Fıankfurter Zeitung« vom
8. d. Mts. erschienener Artikel, der in der Hauptsache auf einen Aufsatz des Privat-
dozenten Dr. Weycaxpt- Würzburg in der »Psychiatrisch - Neurologischen Wochen-
schrift« zurückging, kann nicht unwidersprochen bleiben, sofern er im Interesse
der Humanität die Einführung ärztlicher Leitung für alle Schwachsinnigenanstalten
glaubt fordern zu müssen.
Diese Anstalten sind in Deutschland von den 30er und 40er Jahren des
vorigen Jahrhunderts an ins Leben gerufen, und zwar in erster Linie als Er-
ziehungs- und Unterrichtsanstalten in der Erkenntnis, daß die den Geistes-
schwachen (Idioten) zu bringende Hilfe vorwiegend auf pädagogischem Gebiete
liegt. Diese Erkenntnis, welche inzwischen das pädagogische Spezialfach der
Schwachsinnigenbildung zu einer achtunggebietenden Entwicklung und Blüte ge-
bracht hat, steht noch heute in der psychiatrischen Wissenschaft in Geltung, wie
die einschlägigen Werke zeigen. Anstatt vieler Belege, die mit Leichtigkeit bei-
zubringen wären, sei nur das Zeugnis des sächsischen Irrenanstaltsdirektors Geh.
Med.-Rats Dr. Weser-Sonnenstein angeführt (aus dessen Referat über die reichs-
gesetzliche Regelung des Irrenwesens in der Hauptversammlung des Deutschen
Medizinalbeamten- Vereins zu Leipzig 1903. Offizieller Bericht S. 48): »Die bei
Idioten vorliegende Form geistigen Defekts unterscheidet sich so sehr von den
psychischen Störungen bei den erworbenen Geisteskrankheiten, es ist bei ihnen
nicht die Heilung eines Krankheitszustandes in Frage, sondern im wesentlichen nur
die erzieherische Ausnutzung der vorhandenen Fragmeute psychischer Leistungs-
fähigkeit, oft nur die Abrichtung zu gewissen Betätigungen, so daß für sie ein
ganz anderes Anstaltsregime bedingt ist, als für Geisteskranke.«
Auch ein namhafter Frankfurter Psychiater hat sich dahin geäußert, daß
in einer Anstalt für Geistesschwache wie z. B. in Idstein die pädagogische Leitung
ganz am Platze ist — eine Anschauung, mit der er unter den Frankfurter Ärzten
wie den Ärzten überhaupt keineswegs allein steht. Überhaupt findet die in Deutsch-
land bestehende Idiotenpflege von seiten maßgebender Beurteiler, und gerade auch
in den Reihen der Psychiater, große Anerkennung, obwohl die ärztliche Ober-
leitung der Anstalten die Ausnahme bildet, während die Notwendigkeit ärztlicher
Mitwirkung und Beratung von jedem Einsichtigen anerkannt wird. Die grund-
sätzliche Einführung der ärztlichen Leitung kann also nicht als aus sachlichen
Interessen geboten bezeichnet werden.
Auf den ferneren Wunsch des besagten Artikels hetreffs Verstaatlichung
der Anstalten — der übrigens gleichfalls nachweislich keineswegs von allen Arzten,
auch amtlich maßgebenden, geteilt wird — wollen wir nicht weiter eingehen, nur
bemerken, daß nach der Berechnung des Geh. San.-Rats Professor Dr. Larım m
Zehlendorf über 45000000 M nötig sein würden, um die vorhandenen Privat-
anstalten zu verstaatlichen, und daß von anderer Seite diese Summe als ganz cer-
heblich unterschätzt bezeichnet worden ist (Bericht über die zitierte Medizinal-
beamten-Versammlung S. 24 f.).
Trotz dieser bedeutenden Höhe der Kosten, zu deren alsbaldiger Bewilligung
die Bereitwilligkeit der in Frage kommenden Körperschaften nicht allzugroß sein
dürfte, müßten die Opfer natürlich doch gebracht werden — wenn in der Tat die
bestehenden Zustände derartig wären, wie die Ausführungen jenes Artikels den
Anschein zu erwecken geeignet sind, und wenn nur die Verstaaatlichung diesen
216 A. Abhandlungen.
hypothetischen Zuständen ein Ende machen könnte. Wer den Artikel liest, bekommt
den Eindruck, daß in der z. Z. üblichen Behandlung der Geistesschwachen —
natürlich nur da, wo nicht ein ärztlicher Direktor angestellt ist! — Prügel und
ITungernlassen die wichtigsten Inventarstücke bildeten, wogegen wir wohl nicht
ernstlich zu polemisieren nötig haben. Wenn der Artikel, um die größere Garantie
für eine humane Behandlung bei ärztlicher Anstaltsleitung zu beweisen, betont, daß
jedem Irrenpfleger sofort beim Diensteintritt die gänzliche Vermeidung körper-
lichen Zwanges und körperlicher Züchtigung zur Pflicht gemacht wird, so ist zu
bemerken, daß dies in pädagogisch geleiteten Anstalten für Schwachsinnige und
verwandte Kategorien nicht minder der Fall ist. Beispielsweise wird in Idstein
jeder Pfleger und Erziehungsgehilfe durch schriftlichen Vertrag verpflichtet, sich
jeder körperlichen Züchtigung zu enthalten, dagegen die anvertrauten Zöglinge
jederzeit mit Liebe, Geduld und Schonung zu pflegen, und schon bei wiederholtem
Gebrauch von Schimpfworten in Gegenwart der Zöglinge erfolgt nach der Haus-
ordnung Entlassung des Betreffenden. Daß bei ärztlicher Oberleitung die Pflicht-
erfüllung der Angestellten in dieser Hinsicht notwendig eine bessere sei als bei
pädagogischer, wird man schwerlich behaupten wollen.
Wenn es da weiter heißt, daß »der Vortrag eines angesehenen Idiotenanstalts-
direktors auf der 8. Konferenz für das Idiotenwesen (Heidelberg 1895) zu dem
Resultat kam: »Wer nicht hören will, muß fühlen, usw.« — so kann sich jeder,
der den Vortrag liest (Schwenk, die Zuchtmittel in unseren Anstalten, Idstein 1899,
Druck von E. Ohlenmacher), davon überzeugen, daß er mit diesen Worten mehr
als einseitig, direkt falsch charakterisiert wird. Inwieweit der erfahrene und
gewissenhafte Pädagoge in besonderen, gewiß seltenen Fällen zu disziplinellen
Maßnahmen greifen wird, ist eine Frage, die unmöglich durch einseitig ärztliches
Dekretieren generell entschieden werden kann. Nichts ist doch selbstverständlicher,
als daß in Erziehungsfragen den Erfahrungen angesehener Pädagogen das
meiste Gewicht beizulegen ist. Der Lehrer und Erzieher, der mit Liebe und Ernst
an der sittlichen Bildung seiner Zöglinge arbeitet, um sie den Versuchungen des
Lebens gegenüber zu festigen, und der sich dabei von seinen Erfahrungen leiten
läßt, verdient sich gewiß besseren Dank von dem Zögling wie von dessen An-
gehörigen, als etwa ein Arzt, der als solcher pädagogische Kenntnisse und Erfahrungen
nicht besitzt, trotzdem aber durch einseitige Überspannung eines an sich guten und
richtigen Prinzips die Erziehungsarbeit einzuschnüren unternimmt.
Das Prinzip der möglichsten Vermeidung körperlicher Züchtigungen wird wohl
von keinem Pädagogen bekämpft, am allerwenigsten von denjenigen, die sich der
Erziehung der Schwachbefähigten oder Schwachsinnigen widmen. Jeder bemüht
sich um die Durchführung desselben und verschließt sich dabei durchaus nicht den
Forderungen und Lehren von ärztlicher Seite. Auch in der von jenem Artikel
als abschreckendes Beispiel angeführten »Strafliste« der bayrischen Anstalt Ursberg
wird ja die Zulässigkeit emer körperlichen Züchtigung, die übrigens auf Schüler
beschränkt ist, ausdrücklich davon abhängig gemacht, daß »hiegegen nicht ein
ärztliches Bedenken bestehte«!
Man konstruiere doch nicht künstlich einen Gegensatz zwischen
ärztlich == human« und »pädagogisch = barbarisch«. sondern fördere
lieber die DBestrebuugen gegenseitiger praktischer Anregung und Befruchtung
zwischen Medizinern und Jädagogen, wie sie dem Idiotenwesen von jeher von
großem Nutzen gewesen sind, und wie sie unseres Wissens gerade auch in Frankfurt
in erfreulicher Weise bestehen!
munter oe Lo
Vom Kongreß für experimentelle Psychologie zu Gießen. 217
B. Mitteilungen.
l. Vom Kongress für experimentelle Psychologie zu
Giessen.
18.—21. April 1904.
Wenn ich meine Mitteilungen und Betrachtungen mit der Erwähnung
des Festessens beginne, so wolle man (deshalb weder von dem Kongresse
noch von mir etwas Übles denken. Zunächst war die Tafelrunde eine
gute Gelegenheit, zahlreiche und namhafte Vertreter der psychologischen
Wissenschaft in Muße von Angesicht zu sehen, was zwar für die Psycho-
logie nicht von Bedeutung, menschlich aber nicht ohne Interesse ist.
Von den angesehensten Teilnehmern (die Mitgliederliste weist im ganzen
97 Namen auf) seien nur wenige genannt: Ebbinghaus-Breslau, Külpe-
Würzburg, G. E. Müller-Göttinger, Sommer-Gießen, Groos-Gießen,
Jodl-Wien, S. Exner-Wien, Heymans-Groningen, Siebeck-Gießen,
Pilzecker-Heidelberg, Martius-Kiel, Stern Breslau, Henri-Paris und
Claparede-Genf. Für die Kinderpsychologen und die Vertreter der päda-
gogischen Psychologie hatte Professor Sommer, dessen Verdienste um
das Zustandekommen und den vorzüglichen Verlauf des Kongresses nicht
warm genug anerkannt werden können, in liebenswürdiger und vorsorg-
licher Weise einen Teil der Tatel freigehalten. Hier fanden sich zusammen
die Herren Ament-Würzburg, Felsch-Magdeburg, Wendt-Troppau,
Habrich-Xanten, Lay-Karlsruhe, Netschajeff-St. Petersburg, der Unter-
zeichnete u. a., und es wurde nicht nur gegessen und getrunken, sondern
auch wissenschaftlich verhandelt, als hätte man mit der Tagesarbeit noch
nicht genug gehabt.
Und doch war die Arbeitsleistung des Kongresses eine gewaltige, ein
Anzeichen dafür, daß sich das Gebiet der experimentellen Psychologie mit
der Zeit gewaltig erweitert hat. In einer Tischrede erzählte Professor
Ebbinghaus, wie er vor vielen Jahren dem alten Fechner in Leipzig
seine experimentelle Erstlingsarbeit überreicht und wie dieser etwas
verwundert die Ansicht geäußert habe, es werde nach seinen eigenen
Arbeiten doch wohl nicht viel mehr zu tun übrig bleiben. Was würde
Fechner, so meinte der Tischredner, jetzt wohl sagen, wenn er gesehen hätte,
wie in drei Tagen nicht weniger als 48 Vorträge gehalten wurden, die
fast alle dem Gebiete der experimentellen Gebiete angehörten!
Die angemeldeten Vorträge hatte der Ausschuß auf folgende 9 Gruppen
verteilt: 1. Individualpsychologie, 2. Psychophysiologie der Sinne, 3. Gc-
dächtnis, 4. Verstandestätigkeit, 5. Bewußtsein, 6. Ausdrucksbewegungen,
7. Gefühle und Ästhetik, 8. Kinderpsychologie und Pädagogik, 9. Kriminal-
psychologie. Verhältnismäßig am stärksten war die Psychologie der Sinne
vertreten; das ließ sich erwarten, denn sie ist für das experimentelle Verfahren
noch immer das dankbarste Gebiet, wenn auch die Zeiten vorbei sind, wo
sie so ziemlich das einzige war. Wenn viele Pädagogen zur experimentellen
218 B. Mitteilungen.
mm I nn nn mL ne
Psychologie kein rechtes Verhältnis zu gewinnen vermögen, so liegt dies
daran, daß sie sich lange Zeit fast nur mit den Untersuchungen über die
Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane beschäftigt hat, und daß ihre
Ergebnisse für die Pädagogik nicht von besonderem Belang waren, oder daß
die Verwertbarkeit dieser Ergebnisse doch nicht immer unmittelbar ein-
leuchtete; ja diese Einzeluntersuchungen boten vielfach nicht einmal ein
allgemein menschliches Interesse. Ein großer Teil der Arbeiten des
Gießener Kongresses erweckte denselben Eindruck; ich hatte sogar auch
in rein psychologischer Hinsicht die Empfindung, als liege in mancher
Beziehung ein Übermaß der Lust am Experimentieren vor, als studiere
man in -vielen Fällen mit großem Fleiß und Scharfsinn einzelne Stücke
und Stückchen der psychischen Tätigkeit, ohne den Zusammenhang mit
dem Ganzen gebührend im Auge zu behalten. Doch das mag ein Irrtum
gewesen sein; ich überlasse das Urteil in dieser Beziehung gern den
Psychologen von Fach und bin dankbar für alles, was ich in Gießen habe
hören und verstehen können. Unsere Leser werden es aber gerechtfertigt
finden, wenn ich in meimem Berichte nur diejenigen Arbeiten erwälne,
die für die Mehrzahl Interesse haben dürften.
Hierher gehört zunächst ein Vortrag von Henri-Paris, der erste
in der laugen Reihe. Henri sprach über die Methoden der Individual-
psychologie. Die Bezeichnung Individualpsychologie ist mißverständlich,
da sie auch als Gegensatz zu Völkerpsychologie gebraucht wird, während
sie sich in Henris Vortrage auf die Unterschiede der Individuen bezog.
Um festzustellen, wie sich bestimmte psychische Vorgänge bei Einzel-
individuen unterscheiden, nahmen Binet, Henri u. a. Untersuchungen an
Schülern der Normalschulen vor, deren Lebensbedingungen annähernd die
gleichen waren. Sie untersuchten anatomische, physiologische und psycho-
logische Dinge, Körpergröße, Gewicht, Brustumfang, Schädel, Puls usw., sowie
Suggestibilität, Gedächtnis und Aufmerksamkeit nach bestimmten Methoden.
Henri findet, daß dieser Weg nicht der einzige und vicht der beste sei.
Er hat daher zunächst eine Reihe hervorragender Schriftsteller zur psycho-
logischen Selbstanalyse veranlaßt und glaubt in dieser Weise mit der Zeit
zu einer wirklichen Individnalpsyhologie zu gelangen. Auch zwei andere
Vorträge gaben, obwohl sie anderwärts untergebracht waren, Beiträge zur
Individualspychologie oder dürfen doch wenigstens im Anschluß an sie
erwähnt werden. Professor Marbe- Würzburg wies auf Grund statistischer
Untersuchungen nach, daß der Rhythmus der Goetheschen Prosa ein wesent-
lich anderer sei als der Heines. Nach seiner Ansicht ist der Rhythmus
eines Prosatextes von wesentlichem Einfluß auf den ästhetischen Eindruck,
den der Text hervorruft, und es müßte bei den Untersuchungen über den
Prosastil eines Schriftstellers auch der Rhythmus geprüft werden. Viel-
leicht könnten derartige Untersuchungen gelegentlich auch bei der Ent-
scheidung von Echtheitsfragen Verwertung finden. Wir möchten glauben,
daß hier auch ein Untersuchungsgebiet für die Kinderforschung vorliegt,
sei es nun, daß es sich um die Prüfung des Rhythmus in den freien
Schüleraufsätzen handelt oder um die Feststellung des Rhythmus beim
mündlichen Gebrauch der Sprache (vergleiche die Anzeige des ÖOttoschen
Vom Kongreß für experimentelle Psychologie zu Gießen. 219
»Archivs« in dem vorliegenden Hefte dieser Zeitschrift). Prof. Müller-
Göttingen führte einen Herrn Dr. R. aus Kassel vor, der über ein un-
geheures Gedächtnis verfügt und in seinem Zahlengedächtnis die Leistungen
der bekannten Gedächtniskünstler Diamandi und Inaudi in mancher Be-
ziehung noch übertrifft. R. reproduziert nicht mittelst mmemotechnischer
Hilfsmittel, sondern lediglich auf Grund des Erinnerungsvermögens. So
prägte er sich im Nebenzimmer unter Anwesenheit eines »Aufsehers« in
13 Minuten 204 Ziffern ein und sagte sie vorwärts, rückwärts, in Gruppen
zu je 6 usw. her, Er multiplizierte ferner eine 4stellige Zahl mit sich
selbst und wiederholte dann noch 30 ihm nebenher vorgesprochene Zahlen.
Er iernte in wenigen Minuten 102 einzelne Ziffern, am Vorstandstische
sitzend auswendig, und faßte gleichzeitig die Ausführungen Müllers über
die Art seines Ziffernlernens auf. Leider erfuhr man über die Kinder-
und Jugendzeit des Dr. R. schr wenig; auch sonst hätte man über die
gesamte psychische Verfassung des Wundermenschen gern noch mehr gehört.
Mit dem Erlernen, Behalten und Reproduzieren beschäftigte sich auch
Dr. Ranschburg-Budapest. Das Ergebnis seiner Versuche, die sich auf
das Erlernen von Sprachmaterial bezogen, war sehr auffällig und verdient
in ebenso hohem Grade Beachtung, wie es eine sorgfältige Nachprüfung
wünschenswert macht. Es besteht darin, daß das Erlernen ähnlicher
Inhalte schwieriger ist, daß dieselben schneller vergessen, langsamer repro-
duziert und mit größerer Mühe wiedererlernt werden, als gänzlich hete-
rogene Inhalte. Die Schwierigkeit des Erlernens einander ähnlicher Vor-
stellungen kann nur mit logischen Hilfsmitteln (Nebenassoziationen) be-
wältigt werden. Sobald letztere verblassen, tritt schnelles Vergessen cin.
Nach Ranschburgs Untersuchungen würden nicht die entgegengesctzten,
sondern die einander ähnlichen Vorstellungen sich am meisten hemmen.
Dr. Ranschburg, der medizinischer Leiter des Königlichen Heilpäda-
gogischen Instituts in Budapest ist und auch über schwachsinnige Kinder
mannigfache interessante Versuche angestellt hat, ist von mir um Mitarbeit
an unserer Zeitschrift gebeten worden und hat in entgegenkommender
Weise zugesagt, ebenso, wie im Zusammenhang damit erwähnt werden
mag, der Direktor des Pädagogisch - psychologischen Laboratoriums in
St. Petersburg, Professor Dr. Netschajeff. Wir hoffen die Herren bald
in unserer Zeitschrift begrüßen zu können.
Die Gruppe »Kinderpsychologie und Pädagogik« wies drei Vorträge
auf. Einleitend sprach Ament- Würzburg über das psychologische Experi-
ment an Kindern und hob mit Recht hervor, daß das Experiment zwar
notwendig sei, aber die einfache Beobachtung nicht allenthalben ersetzen
könne, daß vielmehr beide zusaminengehen müßten. Im übrigen bot der
Vortrag eine Übersicht über die Geschichte der experimentellen Kinder-
psychologie. Dabei wurde, wie später auch in dem Vortrage von Lay,
ein sehr wichtiger Punkt berührt, auf den ich schon wiederholt hin-
gewiesen habe, und der in letzter Zeit auch von Stern betont worden ist,
nämlich daß man einen Unterschied machen müsse zwischen der soge-
nannten reinen und der angewandten Kinderpsychologie, also der päda-
gogischen. Hier haben wir nicht nur berechtigte und notwendige Unter-
2920 B. Mitteilungen.
schiede in den Methoden, sondern es kann sich auch um Ergebnisse
handeln, die für die Psychologie an sich wenig oder gar keine Bedeutung
haben, für die pädagogische Psychologie aber von größtem Werte sein
können. Nach meiner Ansicht wird ein großer Teil der Einwände, die
Münsterberg in sehr temperamentvoller Weise gegen die neuere Kinder-
psychologie erhoben hat,!) hinfällig, wenn man den erwähnten Unterschied
nicht außer acht läßt.
An zweiter Stelle sprach Stern- Breslau über die gegenwärtig von
so vielen Seiten behandelte Sprachentwicklung des Kindes auf Grund von
Beobachtungen, die er in Gemeinschaft mit seiner Gattin am eigenen
Kinde, und zwar bis zum ZEinde des vierten Lebensjahres, angestellt
hatte. Stern legte großes Gewicht darauf, daß man die eigenen
Kinder beobachten und daß die Mutter dabei helfen müsse. Es geschah
das nicht ohne eive humoristische Spitze gegen Ament, der als Onkel
oder so etwas Aufzeichnungen über die Kindersprache gemacht hat. Stern
hat nun gewiß nicht unrecht; es darf aber doch hervorgehoben werden,
daß wir auch Personen, die andrer Leute Kinder beobachtet haben, überaus
wertvolle Beiträge zur Kinderpsychologie verdanken; ich nenne nur die
Namen Perez, Shinn und Paolo Lombroso. Aus Sterns Beobachtungen,
die veröffentlicht werden und dann eingehender zu würdigen sind, sei
kurz folgendes hervorgehoben.
Bei der Entwicklung des Wortschatzes spielt nicht nur die Nachahmung,
sondern auch die Spontaneität eine Rolle. Sie durchdringen und ergänzen sich
gegenseitig, Neubildung von Wörtern tritt nur ganz vereinzelt auf, doch
bekundet das Kind in der Verwertung des Angeeigneten eine schöpferische
Tätigkeit. Es kombiniert das Gelernte zu eigenartigen Nenbildungen. Im
Lernen zeigt es einen gewissen Eklektizismus, wählt unbewußt aus und
merkt sich nur soviel, wie es gewissermaßen fassen kann. Abstrakte
nimmt es spät in seinen Wortschatz auf. Es strebt in gewissem Sinne
stets der Zukunft zu, wertet sie höher als Gegenwart und Vergangenheit.
Stern beleuchtet die Genesis des Wortes »Nein« beim Kinde. Zuerst
wird es allein zur Unterstützung einer Abwehrhandlung gebraucht, das
sogenannte »praktische« Nein. Als Negation, also in bestreitendem Sinne,
tritt es erst viel später auf, das »theoretischee Nein. Aus interessanten
Tabellen Sterns entnehmen wir, daß die ersten Adjektive erst nach
20 Monaten, die Numeralia nach 22 Monaten im Wortschatz auftraten,
Präpositionen erst im dritten Jahre, Verba schon nach 14 Monaten. Ein
Ich-Begriff besteht erst gegen Ende des zweiten Jahres, Farbenbenennungen
treten erst Anfang des dritten Jahres auf.
Der Vortrag von Lay-Karlsruhe über »experimentelle Didaktik« hot
denen, die seine Schriften kennen, kaum etwas Neues und war in der
Hauptsache wohl als eine Anregung zu verstehen. Daß Lay die Ver-
gangenheit etwas stark herabsetzte und von der Zukunft etwas viel er-
wartet, nach meiner Meinung entschieden zuviel, will ich gern dem Eifer
1) Siche Jahrgang IV dieser Zeitschrift, wo ich eine Übersetzung des be-
treffenden Münsterbergschen Artikels veröffentlicht habe.
[. Internationaler Kongreß für Schulhygiene zu Nürnberg. 39]
für die von ihm vertretene nützliche und notwendige Sache zu gute
halten.
Gegen den Schluß der Verhandlungen traten fast sämtliche Teilnehmer
des Kongresses zu einer »Gesellschaft für experimentelle Psychologie« zu-
sammen. Mitglied kann jeder werden, der eine wissenschaftliche Arbeit
aus der Psychologie oder deren Grenzgebieten veröffentlicht hat. Über
die Aufnahme entscheidet der Vorstand. Vorsitzender ist Professor G.
A. Müller-Göttingen. Die nächste Versammlung findet 1906 in Würz-
burg statt. Ufer.
2. I. Internationaler Kongress für Schulhygiene zu
Nürnberg vom 4.—9. April 1904.
Bericht von Franz Frenzel-Stolp i/Pom.
In einer großen Anzahl von Tagesblättern und Zeitschriften sind mehr
oder weniger ausführliche Berichte über die Verhandlungen des Kongresses
veröffentlicht worden, so daß wir uns bei der Fülle der gehaltenen Refe-
rate und Vorträge hier nur auf einzelne Mitteilungen, die unser spezielles
Interesse verdienen, beschränken wollen.
Die Beteiligung am Kongreß übertraf die gehegten Erwartungen,
denn nicht weniger als 1400 Teilnehmer wohnten den Verhandlungen bei.
Fast alle Kulturstaaten der Erde waren vertreten, natürlich stellte Deutsch-
land die meisten Teilnehmer und die meisten Referenten. Die Verhand-
lungen verteilten sich auf Plenarsitzungen und Abteilungssitzungen.
Die Kongreßleitung hatte zur bessern Übersicht und Abwicklung der Ver-
handlungen die ursprüngliche Gliederung der Arbeit in 11 Abteilungen zu
folgenden 7 Gruppen vereinigt: A. Hygiene der Schulgebäude, B. Hygiene
der Internate, schulhygienische Untersuchungsmethoden, Hygiene des Unter-
richts und der Unterrichtsmittel, C. Hygienische Unterweisung der Lehrer
und Schüler, D. Körperliche Erziehung der Schuljugend, E. Krankheiten
und ärztlicher Dienst in den Schulen, F. Sonderschulen und G. Hygiene
der Schuljugend außerhalb der Schule, Hygiene der Lehrpersonen und
Allgemeines. — Die Plenarsitzungen fanden an 3 Vormittagen (Dienstag,
Donnerstag und Samstag) im Apollotheater statt; die Gruppen tagten in
den Räumen der Königl. Industrieschule. Die Plenarsitzungen wurden von
dem Kongreßvorsitzenden, Professor Dr. Griesbach-Mülhausen i/Els., ge-
leitet, die Gruppensitzungen von einführenden Vorsitzenden, welche ın der
Regel Nürnberger Ärzte waren. Sowohl für die Plenar-, als auch für die
Gruppensitzungen hatte die Kongreßleitung einzelne Ehrenpräsidenten er-
nannt, die ihren Sitz an den Präsidententischen nahmen und teilweise die
Verhandlungen selbst leiteten. In den. Gruppen kamen offizielle Refe-
rate und frei angemeldete Vorträge zur Verhandlung; die Leitsätze
der offiziellen Referate lagen gedruckt vor.
Uns interessiert insbesondere die Gruppe F. (Sonderschulen), ın
welcher über annormale Kinder, ihre Erziehung und Bildung usw. ver-
handelt wurde. Angemeldet waren für diese Gruppe 3 Referate und
2399 B. Mitteilungen.
15 Vorträge; gehalten wurden in 6 Sitzungen 3 Referate und 14 Vor-
träge. Das 1. Referat hielt der Berichterstatter über »Die Hilfsschulen
für Schwachbegabte«. Er forderte selbständige Hilfsschulen und hielt
die Einführung des Schulzwanges für diese Erziehungsanstalten als uner-
läßlich. Für die Lehrer der Hilfsschule verlangte er eine besondere Vor-
bildung, die in der Ablegung einer eigenen Prüfung ihren Abschluß zu
finden habe. In der Hilfsschule trete die erziehliche Einwirkung des
Lehrers auf die Charakterbildung seiner Schüler stärker hervor als in der
Volksschule. Es sei besonders anzustreben, die Schüler für eine gewisse
Selbständigkeit und bürgerliche Brauchbarkeit vorzubereiten. Es sei durch-
aus nötig, auch nach der Schulzeit für die aus der Hilfsschule entlassenen
Schüler zu sorgen. Dazu sei die Hilfe und Mitwirkung der Ärzte, Geist-
lichen und Juristen nicht zu entbehren. Den letzteren liege es besonders
ob, in der Beurteilung der Schwachbefähigten durch Gerichte und andere
Behörden einen Wandel herbeizuführen. Nach einer 1901 aufgenommenen
Statistik seien durch die Hilfsschulen 83°/, aller Schüler erwerbsfähig
gemacht worden. Diese Anstalten gehörten daher zu den segensreichsten
Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft. —- Die Leitsätze wurden
einstimmig angenommen. Die Debatte eröffnete keine nennenswerten Aus-
sichten und keine neuen Gesichtspunkte, sie erstreckte sich auf allgemein
bekannte Erhebungen.
Das 2. Referat hatte Dr. Rosenfeld-Nürnberg; er verbreitete sich
über »Krüppelschulen«e. Die Ausführungen waren sehr interessant und
wurden durch statistische Tabellen übersichtlich erläutert. Redner wies
an der Hand von Statistiken nach, daß die Zahl der Krüppel eine sehr
große ist; sie wacht etwa 5,6°/,, der Bevölkerung aus. In Deutschland
sind zur Zeit ungefähr 320000 Krüppel — 253000 Erwachsene und
67 000 Krüppelkinder — vorhanden. Von den Erwachsenen haben etwa 40000
keinen Unterricht genossen und über 100000 sind nicht in der Lage,
sich auch nur in der notdürftigsten Weise zu ernähren. Von den schul-
pflichtigen Krüppelkindern erhalten nahezu 7000 keinen entsprechenden
Unterricht. Die Gründe, weshalb die Normalschule für Krüppel nicht aus-
reicht, liegen einerseits in der (febrechlichkeit selbst, andrerseits darin,
daß der Schulunterricht der Elementarschule allein für einen Krüppel nicht
genügt, um ihn soweit zu fördern, daß er späterhin im sozialen Leben
mit den Gesunden konkurrieren kann. Deshalb muß der Krüppel schon
in der Schule einen seinen körperlichen Fähigkeiten angepaßten technischen
Ausbildungsunterricht erhalten. Die bestehenden Krüppelschulen, deren
Zahl allerdings zur Zeit noch eine sehr geringe ist, haben durch ihre
Wirksamkeit erwiesen, daß 93°/, ihrer Zöglinge eine vollkommen soziale
Selbständigkeit erreichen, eine soziale Errungenschaft, die einen Gewinn
von Millionen für das Nationalvermögen bedeutet. Angesichts der Wichtig-
keit und der großen Vorteile einer zweckmäßigen Beschulung der Krüppel-
kinder muß die allgemeine Durchführung von Sonderschulen für Krüppel-
kinder verlangt werden. Der Lehrplan dieser Anstalten hätte neben dem
Elementarunterricht eine sorgfältige technische Ausbildung zu geben. Turn-
unterricht und orthopädische Übungen müßten besondere Pflege finden.
I. Internationaler Kongreß für Schulhygiene zu Nürnberg. 293
Die Angliederung der Krüppelschulen an bestehende Heilanstalten und
Polikliniken oder die Anstellung von Spezialärzten wäre empfehlenswert.
— Redner schloß seine Ausführungen mit einem warmen Appell, allent-
halben für die Förderung der Krüppelschulen einzutreten, da auf diese
Weise Tausende, welche jetzt als Bettler verkümmern, zu vollwichtigen,
selbständigen Menschen gemacht werden könnten.
Das 3. Referat, das Professor Dr. Sickinger-Mannheim über das
»Sonderklassensystem der Mannheimer Volksschulen« hielt, ver-
dient die ernsteste Beachtung pädagogischer und medizinischer Kreise.
Bereits in der 2. Plenarsitzung hatte der Referent die allgemeinen Ge-
sichtspunkte, welche die Organisation großer Volksschulkörper
nach der natürlichen Leistungsfähigkeit der Schüler wünschens-
wert erscheinen lassen, bekannt gegeben. Wir heben aus seinen Dar-
legungen kurz folgerdes hervor. — Unsere Jugenderziehung bedeutet für
jedes Kind eine gewisse Betätigung seiner Kıäfte Es ist darum eine
richtige Bemessung der geistigen Arbeitsleistung in der Schule nach indi-
viduellen Gesichtspunkten durchzuführen. Während beim Einzelunterricht
sich diese Angelegenheit von selbst erledigt, liegt die Sache beim Massen-
unterricht sehr viel schwieriger, namentlich soweit die Volksschule in Be-
tracht kommt; denn hier handelt es sich um ein Kollektivwesen, dessen
Glieder die auseinandergehendsten Befähigungsgrade aufweisen. Darum
wäre eine auf Differenzierung gerichtete Reform namentlich für große
Volksschulkörper durchzuführen. Bisher hat man bei der Klassengliederung
die Unterschiede in der Bildungsfähigkeit gleichalteriger Kinder nicht, be-
rücksichtigt. Die Verschiedenheiten in der Veranlagung sind aber ganz
bedentende; sie könnten von großen Volksschulsystemen ohne weiteres be-
rücksichtigt werden, wenn die zahlreich vorhandenen Parallelklassenreihen
dazu benutzt würden, ähnlich leistungsfähige Kinder gleichen Alters zu
homogenen Unterrichtsgemeinschaften zusammenzufassen. Unter dieser Vor-
aussetzung könnten innerhalb eines großen Volksschulkörpers drei ver-
schiedene Bildungswege vorgesehen werden: 1. für die mittel- und besser-
befähigten Schüler, 2. für die mäßig schwachen Schüler, 3. für die krank-
haft schwachen Schüler. Den letztgenannten Bildungsweg haben bereits
200 «deutsche Städte eingeschlagen in den sogenannten Hilfsschulen
für geistig zurückgebliebene Kinder. In die zweite Bildungsklasse sind
die eigentlichen Sorgenkinder der Schule, die alljährlich zurückversetzten
Schiller, einzuweisen. Diese neue Gruppierung der Schwachen hätte gegen-
über dem Modus der Rückversetzung den großen Vorteil, daß auch diese
Elemente einen ihrer individuellen Leistungsfähigkeit entsprechenden Bil-
dungsweg durchlaufen und den geisttötenden, unsittlichen Folgen des
Repetententums entzogen würden. Die Unterrichtsbedingungen wären in
den Sonderklassen der Schwachen besonders günstig zu gestalten (geringere
Schiillerzal, erfahrene Lehrer, bevorzugte Teilnahme an den human-sanitären
Einrichtungen der Schule usw.). Durch ökonomische Ausmutzung der im
Gesamtschnlkörper vorhandenen Parallelklassen könnte die bezeichnete
Durchgliederung ohne Mehraufwand durchgeführt werden, wie das Beispiel
von Mannheim zeigt. Dort ist die Volksschule bereits in der angegebenen
224 B. Mitteilungen.
Weise organisiert und zwar zur völligen Zufriedenheit aller beteiligten
Faktoren. Zwei Momente sind der Forderung nach Differenzierung und
Arbeitsteilung innerhalb der großstädtischen Volksschulen günstig: Die
Anstellung von Schulärzten, die aus Gründen der Hygiene für die er-
hobenen Forderungen eintreten, und die wachsende Einsicht der Lehrer-
schaft, daß der heutige ausgleichende und schablonisierende Unterrichts-
betrieb den Gesetzen der Psychologie nicht mehr standzuhalten vermag,
vielmehr nur auf dem Wege der Differenzierung die Massenerziehung zur
wirksamen Individualisierung gesteigert werden kaun. Nur unter dem Ge-
sichtspunkte: Suum cuique! können die goßen Volksschulkörper aus ihrer
Erstarrung befreit werden.
Diesen hier kurz skizzierten allgemeinen Grundsätzen ließ der Referent
die näheren Mitteilungen über die Organisation der Mannheimer
Volksschulen in der Gruppensitzung folgen. Die Schilderung der Mann-
heimer Verhältnisse geschah an der Hand übersichtlicher Tabellen, welche
auch die Bildungsgänge einzelner Schüler nach der Nenorganisation dar-
stellten. Die Ausführungen des Redners überzeugten durch sachgemäße
Darlegungen und klare Beweisführungen. Der Mannheimer Arzt Dr. Moses
beleuchtete die Sicekingerschen Erhebungen vom hygienischen Stand-
punkte aus in treffender, ergänzender Weise. Nach einer lebhaften Debatte,
in welcher die Pläne und Vorschläge der Referenten gehörig erörtert
wurden, gelangten folgende Leitsätze zur Annahme:
1. Die Befähigung der Kinder für die Unterrichtsarbeit ist infolge
physiologischer, psychologischer, pathologischer und sozialer Bedingtheiten
derart verschieden, daß es, wie die Promotionsstatistik lehrt, unmöglich
ist, die die obligatorische Volksschule besuchenden Kinder innerhalb der
gesetzlichen Schulpflicht nach einem Plane, durch den gleichen Unter-
richtsgang nach dem gleichen Lehrziel hinzuführen.
2. Damit vielmehr auch die große Zahl der Kinder mit dauernd
oder vorübergehend geringerer Arbeitsfähigkeit während des gesetzlichen
Schulbesuchs ohne unhygienische Belastung die ihrer natürlichen Leistungs-
fähigkeit entsprechende Ausbildung erlangt, bedarf es für sie besonderer
pädagogischer und hygienischer Maßnahmen, die eine sorgfältige Berück-
sichtigung des Einzelindividuums verbürgen.
3. Die Schüler eines größeren Volksschulganzen sind iu mindestens
drei Kategorien nach ihrer Leistungsfähigkeit zu gruppieren:
1. in besser befähigte,
2. in minder befähigte (unter mittelleistungsfähige),
3. in sehr schwach befähigte (schwachsinnige).
Die Bildung besonderer Klassengemeinschaften für die drei Kategorien
darf aus pädagogischen, ethischen und sozialen Gründen nicht nach außen
hervortreten, sondern kommt nur in der innern Gliederung des Schul-
organısmus zur Durchführung.
Von den 14 in Gruppe F. gehaltenen Vorträgen können wir hier
nur über einzelne kurz referieren. — Dr. Gutzmann-Berlin sprach über
den »Einfluß der Schule auf die Sprachstörungen«e. Zwei große
Gruppen von Sprachstörungen, Stottern und Stammeln, sind es, die
I. Internationaler Kongreß für Schulhygiene zu Nürnberg. 39
Or
der Schule viel zu schaffen machen. Zur Bekämpfung dieser Übel haben
fast sämtliche größere Städte Deutschlands besondere Sprachheilkurse für
sprachgebrechliche Kinder eingerichtet, in denen Ärzte und Lehrer in ge-
meinschaftlicher Arbeit die Sprachstörungen bekämpfen. Zu diesen Maß-
nahmen hat besonders die auffallende Erscheinung beigetragen, daß das
Stottern während der Schulzeit unter den Schülern bedeutend zunimmt.
Statistische Erhebungen haben gezeigt, daß von je 100 Stotterern auf das
Alter von 6—7 Jahren nur 6°/,, auf das von 7—8 Jahren schon 10%,
und auf das von 11—12 Jahren bereits 15°/, entfallen. Die Ursachen
dieser auffallenden Zunahme sind verschiedener Art. Da es sich bei den
Stotterern vorwiegend um neuropathisch belastete Individuen handelt, so
sind die durch den Schulunterricht selbst bewirkten Reize und Hemmungen
als Ursachen anzusehen. Zur Abhilfe der Sprachstöruugen genügen die
Heilkurse allein nicht. Den Lehrern muß allgemein schon während ihrer
Ausbildung ein größeres Verständnis für die an dem Übel leidenden Kinder
erschlossen werden. Auch sollen die Eltern auf die Sprachentwicklung
ihrer Kinder im vorschulpflichtigen Alter mit größerem Eifer achten. Das
Verständnis der Eltern für diese Aufgabe zu wecken, ist Sache der ge-
meinschaftlichen Arbeit der Lehrer und Schulärztee — Das Stammeln er-
weist sich in der Regel weniger hartnäckig als das Stottern. In manchen
Fällen von Stammeln wirkt bereits der erste Leseunterricht hygienisch so
wohltätig, daß dieses Übel bald vollständig verschwindet. Würde der
erste Leseunterricht und der Anschauungsunterricht nicht nur auf exaktes
und lautreines, sondern auch auf langsames und mit richtiger Atem-
verteilung bewirktes Sprechen hinzielen, und würde ein solches Sprechen
auch auf den weitern Schulstufen zielbewußt gepflegt werden, so könnte
auch die Zunahme des Stotterübels sehr wirksam vermieden werden. —
Ähnliche Gedanken brachte auch Dr. Schleißner-Prag in seinem Vor-
trage: Ȇber die Sprachgebrechen der Schuljugend an den
deutschen Schulen zu Prag«, zum Ausdruck. Er wies an der Hand
statistischer Erhebungen und Übersichten die Zunahme der Sprachstörungen
(Stottern) in der Schule nach und stellte fast die gleichen Forderungen
zur Bekämpfung der Sprachgebrechen unter der Schuljugend, wie sie von
Dr. Gutzmann in seinem Vortrage aufgeworfen wurden.
»Nervosität und Schwachsinn beim Kinde in ihren Be-
ziehungen« behandelte der Vortrag des Dr. Feser-München. Redner
führte aus, daß bei Kindern nervöse Erscheinungen und Zeichen von
Geistesschwäche nicht selten zusammentreffen; es liege deshalb die Frage
nach der gegenseitigen Beziehung beider nahe. Im allgemeinen seien
folgende Gesichtspunkte hervorzuheben: 1. Schwache Begabung bei red-
lichem Willen oder falscher Erziehung führt durch Überanstrengung oder
Überarbeitung leicht zur Nervosität. 2. Schwacher und beschränkter Geist
leistet hypochondrischen Vorstellungen, wie sie in uns allen gehemmt
liegen, geringen oder gar keinen Widerstand. Diese Art der Beziehung
findet sich mehr bei Erwachsenen als bei Kindern, vor allem aber in
höherem Alter. 3. Nervosität, besonders wenn sie sich in der Form patho-
logischer Schüchternheit äußert, kann Dummheit und Schwachsinn vor-
Die Kinderfchlor. IX. Jahrgang. 15
296 B. Mitteilungen.
täuschen. 4. Nervosität und Schwachsinn gedeihen nebeneinander, zwei
Triebe aus einem Stamm, auf dem gemeinsamen Boden der erblich degene-
rativen neuro-psychopathischen Konstitution. — Diese enge Verbindung
zwischen Nervosität und Schwachsinn erfordert bei der Beurteilung und
Behandlung schwachsinniger Kinder entsprechende Berücksichtigung. Es
wäre besonders erwünscht, wenn mit den Hilfsschulen Internate verbunden
würden, in welchen schwachsinnige Kinder der ärmern Volksklassen, die
nervöse Symptome aufweisen, einer zeitweiligen, zweckentsprechenden Be-
handlung unterworfen werden könnten. Nur so würden wir der Nerven-
degeneration innerhalb der Jugend der Generation der Zukunft erfolgreich
begegnen.
Des weiteren hielt Dr. Cron-Heidelberg einen Vortrag über »Die
moralisch Schwachsinnigen in den Öffentlichen Schulen«. Er
betonte zunächst die Notwendigkeit der Ausdehnung psychologischer und
psychopathologischer Vorstudien der pädagogischen Instanzen und verlangte
darauf die Umgestaltung der Schulsysteme zu besser organisierten Ein-
richtungen, bessere Instruktion der Eltern und ein einheitlich angelegtes
Zusammenarbeiten von Schule, Schularzt und Elternhaus. Von der Er-
füllung dieser Voraussetzungen stehe zu erwarten, daß die sonst leistungs-
fähigen moralisch Schwachsinnigen ihre Erziehung innerhalb des Systems
der öffentlichen Schulen finden werden, daß also für diese Schwachen
kein Ausstoßen aus dem Rahmen des normalen Schulwesens zu erfolgen
habe, sondern daß durch Vertiefung der pädagogischen Arbeit, die zugleich
dem ganzen Schulorganismus zu gute käme, der Weg zur Rettung der
erziehungsfähigen moralisch Schwachsinnigen gefunden werden könnte.
Über epileptische Schulkinder, Schulen für Epileptische,
Erziehung und Bildung epileptischer Kinder usw. wurden mehrere
Vorträge gehalten, die sich teilweise in ihren Forderungen schroff gegen-
überstanden. Während auf der einen Seite Schulen für Epileptische dringend
befürwortet wurden, war auf der andern Seite keine Stimmung dafür.
Neue Ausblicke über die Epileptikerbehandlung bot keiner der Referenten;
immerhin aber verdienen ihre Ausführungen eine gewisse Beachtung, be-
sonders deshalb, weil die Frage der Epileptikerbehandlung wieder von
neuem aufgerollt wurde. — Dr. Weygandt- Würzburg sprach über »epi-
leptische Schulkindere. Er verbreitete sich über seine Erfahrungen
an einem größern Material von epileptischen Kindern im schulpflichtigen
Alter und bemerkte, daß das Bild der Krankheit sich als ein ungemein
mannigfaltiges erweise. Direkte Störungen des Unterrrichts durch epilep-
tische Symptome, insbesondere durch Anfälle, wären verhältnismäßig recht
selten vorgekommen. Des weitern sprach sich der Vortragende gegen
eine generalisierende Behandlung der epileptischen Kinder aus, also auch
gegen die Einrichtung von Epileptikerklassen und Epileptikerschulen. Die
epileptischen Kinder müssen streng individuell behandelt werden; die tief
Blödsinnigen gehören in Idiotenanstalten, leicht Schwachsinnige in die
Hilfsschulen und sozial Bedenkliche in Fürsorge-Erziehungsanstalten. Kinder
mit gehäuften Anfällen und status epilepticus sind rein ärztlich (mög-
lichst im Bett) zu behandeln, während Kinder mit vereinzelten Anfällen
I. Internationaler Kongreß für Schulhygiene zu Nürnberg. 297
oder leichtern Symptomen sehr wohl in der Normalschule, freilich unter
einem entsprechend informierten Lehrer und in Fühlung mit dem Schul-
arzt, verbleiben können.
Sanitätsrat Dr. Berkhan-Braunschweig forderte in seinem Vortrag:
»Schulen für epileptische Kinders, die Einrichtung selbständiger
Schulen für Epileptiker, namentlich für alle diejenigen, deren Anfälle
störend für den Unterrichtsbetrieb werden oder nachteilig auf die andern
Schüler einwirken. Seine Forderungen verdienen um so mehr Beachtung,
als sie der Vortragende aus einer reichen Erfahrung und aus augenschein-
lichen Beobachtungen und Wahrnehmungen erhob.
Dr. Gelpke-Karlsruhe erörterte in seinem Vortrage »Die Be-
ziehungen des Sehorgans zum angeborenen und erworbenen
Schwachsinn«. Er hatte 578 psychisch-minderwertige Kinder der Karls-
ruher Volksschulen und der Idiotenanstalt zu Mosbach untersucht. Die
Untersuchung bestätigte zunächst die bekannte Tatsache, daß man es bei
den schwachsinnigen Kindern nicht allein mit psychisch - minderwertigen,
sondern auch mit körperlich-defekten Individuen zu tun hat. Dr. Gelpke
gab die Zahl der Kinder mit körperlich-mangelhafter Verfassung auf 52°,
an. Bei der Untersuchung fand er gleichzeitig, daß die körperlichen Ab-
normitäten zu dem Grad des Schwachsinns in direktem Verhältnis standen.
Besonders groß war die Zahl der Sehdefekte; nur 30°/, der Kinder waren
im Besitze eines nach jeder Richtung hin tadellosen Sehorgans, die übrigen
70°/, wiesen teils Sehstörungen, teils akute oder chronische Entzündungen
15,8°/,, teils Mißbildungen 12,6°/, auf. Die Zahl der schwachsichtigen
Augen stand in umgekehrt proportionalem Verhältnis zum Grad des
Schwachsinns derart, daß unter den Schwachbegabten die relativ größte
Zahl schwachsichtiger Augen —= 54,4 °/, und unter den Idioten die ge-
ringste = 12,8 °/, gefunden wurde. Auf Grund seiner Beobachtungen
zog der Vortragende den Schluß, daß die Sehdefekte bei den Schwach-
begabten als ursächliches Moment eine große Rolle spielen, und daß es
daher vom hygienischen Standpunkte aus absolut erforderlich wäre, für eine
frühzeitige Korrektion etwaiger Sehstörungen bei diesen Kindern zu sorgen.
Von 54,4°/, konnte der Prozentsatz der Abnormalsichtigen durch geeignete
Behandlung resp. optische Korrektion auf 16°/, reduziert werden — ein
sehr erfreuliches Resultat.
sÜber funktionelle Prüfungen der Gehörorgane in den
Hilfsschulen für Schwachbegabte zu Münchene sprach Dr. Wanner-
München. Er kam unabhängig von Dr. Gelpke zu der Feststellung, daß
die schwache Begabung mancher Schüler aus einem Gehörsdefekt resul-
tiere; sobald der bestehende Mangel behoben oder ausgeglichen werde,
könnten solche Schüler gemeinschaftlich mit den normal veranlagten Kindern
unterrichtet werden. Der Vortragende erging sich des weitern auch in
Angriffen auf einzelne Örganisationsangelegenheiten der Hilfsschulen, be-
zweifelte die Hingehörigkeit mancher Schüler in die Hilfsschule, stellte
die Erfolge der Hilfsschulen in Frage usw. Eine Widerlegung seiner
Meinungen und Behauptungen erfuhr er in der sich an seinen Vortrag
anschließenden Debatte durch Dr. Wehrhahn-Hannover, Kielhorn-Braun-
15*
228 B. Mitteilungen.
schweig, Dr. Berkhan-Braunschweig, durch den Berichterstatter usw. —
Wir können Dr. Wanner für seine Anregungen dankbar sein, aber für
spruchreif halten wir seine Behauptungen denn doch noch nicht. Es
haben schon andere Größen Versuche nach dieser Seite hin angestellt, die
vielfach gänzlich belanglos ausfielen und gewöhnlich im Sande verliefen.
— In Berlin sind zur Zeit zwei Klassen mit schwerhörigen Kindern
eingerichiet, welche von eigens zu diesem Zwecke ausgebildeten Lehrern
unterrichtet werden. Die Schüler sind zum größten Teil normal veranlagt
und weisen in der Tat infolge der eigenartigen Behandlung, wie ich mich
selbst überzeugt habe, gebessertes Auffassungsvermögen auf. Trotzdem
wäre die ganze Angelegenheit noch mit einer großen Vorsicht zu be-
handeln, weil keine abgeschlossenen Erfahrungen vorliegen. Auch wäre
es verfehlt, aus einzelnen gelungenen Versuchen Kapital zu schlagen; das
würde offenbar eine verfrühte Reklamemacherei bedeuten. —
Recht lehrreich und beachtenswert war der Vortrag des Hilfsschul-
leiters Kielhorn-Braunschweig, welcher »die Gesundheitspflege in
der Hilfsschule« behandelte. Redner sprach über die äußern und
innern Bedingungen, die vom hygienischem Standpunkte aus an die Hilfs-
schuleinrichtungen gestellt werden müssen, damit die Hilfsschulen auch
in gesundheitlicher Beziehung ihre Aufgaben voll und ganz zu erfüllen
vermöchten. Seine Anregungen waren in vielen Stücken sehr zeitgemäß
und verdienen darum praktische Verwirklichung. Die Leitsätze des Vor-
trages fanden einstimmige Annahme.
Es war während der gesamten Verhandlungen ia Gruppe F zu be-
merken, daß das Gebiet der Schwachsinnigenbildung, insbesondere
die Hilfsschulfrage, immer wieder von neuem in die Besprechungen hinein-
gezogen wurde. Die Erörterungen darüber füllten oft ganze Diskussionen
aus und waren sehr fruchtbar. Sehr viel zur Belebung der Debatten
trugen die beiden Vorsitzenden des Verbandes deutscher Hilfsschulen —
Stadtschulrat Dr. Wehrhahn-Hannover und Hilfschulleiter Kielhorn-
Braunschweig — bei, welche sehr oft das Wort ergriffen und belehrend
und anregend zur Sache sprachen.
Einen interessanten Vortrag von weittragender Bedeutung hielt in
der Gruppe F. Hauptlehrer Baldrian- Wien über die »Gesundheits-
pflege taubstummer Kinder«. Er sprach zunächst über die krank-
haften Erscheinungen, welche mit der Taubstummheit auftreten und er-
örterte darauf die Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Ursachen des
Gebrechens der Taubheit geeignet erscheinen. Er forderte allgemeine
Verbesserung der Lebensbedingungen der großen Massen. Solange diese
Ursachen nicht beseitigt sind, sollen die nachteiligen Folgen der Taub-
stummheit durch Gründung von Pflegeanstalten für noch nicht schul-
pflichtige taubstumme Kinder armer Eltern zu mildern gesucht werden.
In diesen Pflegeanstalten soll vorwiegend Wartung und Körperpflege aus-
geübt werden. Für den Unterricht Taubstummer wäre am besten das
Internat in den ersten Jahren zu empfehlen. Bei der Pflege taubstummer
Kinder sind hauptsächlich Stärkung der Lunge und Schonung der Augen
I. Internationaler Kongreß für Schulhygiene zu Nürnberg. 229
zu beobachten. — Der Vortragende erntete reichen Beifall für seine Aus-
führungen.!)
Von den in den Plenarsitzungen gehaltenen Vorträgen verdient
derjenige des Professor Dr. Liebermann-Budapest über die »Aufgaben
und die Ausbildung von Schulärzten« besonders erwähnt zu werden.
Nach den Darlegungen des Redners haben sich die Aufgaben der Schul-
ärzte nach den Zielen zu richten, die man mit der schulärztlichen Insti-
tution verfolgt. Das Hauptgewicht darf nicht allein auf die spezifisch
ärztliche Tätigkeit des Schularztes gelegt werden, vielmehr müsse dieser
auch in der Lage sein, seinen Pflichten als hygienischer Sachverständiger
und als Ratgeber der Schulleitung und des Lehrkörpers nachkommen zu
können. Diesen Aufgaben entsprechend muß sich die Ausbildung der
Schulärzte nächst der speziell ärztlichen auf die wissenschaftliche
Hygiene und die Pädagogik erstrecken. Der Schularzt soll auch
Lehrer, und zwar Lehrer der Gesundheitspflege, sein. Inbesondere wäre
eine wissenschaftlich-hygienische und pädagogische Ausbildung, für welche
ein besonderer Nachweis beigebracht werden müßte, von den Schulärzten
zu fordern. — Wir wünschen den Forderungen des Vortragenden auch
bei uns baldige Verwirklichung!
Die auswärtigen Teilnehmer des Kongresses erhielten als Festgabe
eine vom Nürnberger Ortsausschuß gestiftete Festschrift, welche einen
187 Seiten starken, prächtigen Folioband bildet. Der Inhalt betrifft das
Schulwesen Nürnbergs und die Schulgesundheitspflege in den Nürnberger
Schulen. Überhaupt wurden die Teilnehmer mit Drucksachen, Prospekten,
Flugschriften usw. in reichstem Maße bedacht, so daß mancher Tage lang
mit Lektüre versehen sein dürfte.
Mit dem Kongreß war eine reichbeschickte schulhygienische
Ausstellung verbunden, die in den Räumen der Königl. Industrieschule
zweckmäßig untergebracht worden war. »International« allerdings.
konnte sie kaum bezeichnet werden, denn es hatten außer Deutschland
nur vereinzelte auswärtige Staaten sie beschickt. Die Räume der Aus-
stellung waren fast fortwährend von einer lernlustigen Menge belebt, denn
es gab im ganzen genommen recht viel zu sehen und zu betrachten. Viel
Bewunderung fanden die Schülerarbeiten und ausgestellten Sachen des
Trüperschen Erziehungsheims auf Sophienhöhe bei Jena. Uns inter-
essierten auch die photographischen Aufnahmen der Hilfsschuleinrichtungen
zu Mülhausen i/Els. und zu Braunschweig; besonders bot eine Photo-
graphie aus Mülhausen, die eine Lehrerin im Kreise ihrer Schutzbefohlenen
darstellte, ein sehr niedliches Bild. Salve Caritas! —
Für Vergnügungen, Unterhaltung, Bequemlichkeit usw.
hatte die Kongreßleitung, insbesondere aber der Nürnberger Ortsausschuß,
in reichstem Maße gesorgt. In der Industrieschule waren ein Postamt,
eine Restauration, ein Lesezimmer und verschiedene Toiletten eingerichtet.
Drei große Konzerte, ein Festspiel und verschiedene andere Veranstaltungen,
1) Über die Verhandlungen in andern Abteilungssitzungen zu berichten, be-
halten wir uns für später vor.
230 B. Mitteilungen.
Besuche, Führungen usw. wurden den Teilnehmern geboten. Die Stadt
selbst, die entschieden zu den schönsten Städten Deutschlands gerechnet
werden muß, gewährte den Besuchern auf Schritt und Tritt immer neue
fesselnde Reize; es ist kaum möglich, alle die eigenartigen Schönheiten
der Kongreßstadt würdigend hervorzuheben. Außerordentlich befriedigt
haben sämtliche Eindrücke und Veranstaltungen, so daß wir den Nürn-
bergern zu großem Danke verpflichtet sind.
Es muß mit Befriedigung konstatiert werden, daß die sonst leider
so selten in die Erscheinung tretende Einheit der Schule — von der
Universität bis zur Dorfschule — ein erfreuliches Kennzeichen des Kongresses
war, und daß auch die Arbeit der Volksschule und ihrer Lehrer überall
die gebührende Beachtung fand. Volksschullehrer hielten Referate und
Vorträge neben den gelehrtesten und berühmtesten Professoren und fanden
dieselbe Würdigung wie diese. Selbst zu Ehrenpräsidenten wurden einzelne
in manchen Gruppen ernannt. Dadurch wich der Nürnberger Kongreß
vorteilhaft ab von der ähnlichen vorjährigen Bonner Versammlung, auf
welcher kaum ein einfacher Elementarlehrer beachtet wurde. Dieser
Kongreß bot außerdem eine ausgezeichnete Gelegenheit, die hervorragendsten
‘Gelehrten und Forscher der Welt kenner zu lernen und reihte sich würdig
den bedeutungsvollsten Kundgebungen auf dem Gebiete der Jugend-
erziehung und Jugendfürsorge an.
Der nächste Kongreß (II. Internationaler Kongreß für Schulhygiene)
soll in der ersten Augustwoche des Jahres 1907 zu London tagen. Sir
Brunton-London, Delegierter des Royal College of Physicians, wurde
zum 1. Vorsitzenden des II. Kongresses ernannt. Dr. Mathieu-Paris
richtete an den Kongreß die Bitte, den II. Internationalen Kongreß 1910
in Frankreich, und zwar in Paris, abzuhalten. Frankreich und Paris
würden dem Kongreß brüderlich ihre Tore öffnen. Die internationalen
Kongresse seien geeignet, die Bande der Freundschaft zwischen den
Lehrern aller Länder zu festigen und unter den Gesichtspunkten der
Humanität dem Elend in den Schulen abzuhelfen.
Allen Teilnehmern wird das Gefühl unauslöschlicher Dankbarkeit gegen
Nürnberg gemein sein; ebenso gebührt großer Dank der gesamten
Kongreßleitung und allen Referenten, die ihre Aufgaben mit großer Ge-
schicklichkeit und wissenschaftlicher Durchführung lösten. Man kann
sicher behaupten, daß die Verhandlungen durchweg auf der Höhe der Zeit
standen; jedermann hat gewiß neue Anregungen erhalten und neues
Wissen erworben. Möchten nun die Errungenschaften der Ver-
handlungen zum Heil und Segen der gesamten Schuljugend
baldige Verwirklichung finden!
3. Hörstummheit.
Von G. Mayor, Jena, Sophienhöhe.
Wir haben in unserer Anstalt dann und wann einen Zögling, der aus
‚dem Rahmen der einfachen körperlichen und seelischen Herabminderung
Hörstummheit. 231
herausfällt und darum bis auf weiteres in Einzelbehandlung kommt.
Dahin gehört auch folgender Fall von Hörstummheit.
K., ein 8jähriger Knabe, stammt von gesunden Eltern. Auch die
Grofseltern waren gesund. Keine neuropathische Belastung, keine Sprach-
störungen in der Familie. Die Geburt war normal. Während der Gravität
traf die Mutter im Keller eine Ratte und fiel vor Schreck in Ohnmacht.
K. hatte keine Kinderkrankheiten durchzumachen. Eine Kehlkopfswucherung
wurde operativ beseitigt. K. ist von Geburt an abnorm; seine Entwicklung
war eine sehr langsame; er lernte im 3. und 4. Jahre laufen; die Sprache
entwickelte sich im 6. Jahre und Sprachverständnis war erst vom 7. Jahre
an bemerkbar. Er hat nur einige Wörter, wie »Papa«, »Tisch«, »Hut«,
»Stuhl« gesprochen, sonst stiels er fortgesetzt unartikulierte Laute aus.
Von den Wörtern war nur Papa deutlich; von den andern sprach er nur
den ersten Konsonanten, wenn er ihn konnte, und den folgenden Vokal
z. B. hu (Hut), tu (Stuhl), ti (Tisch). Die Eltern haben sich vergeblich
bemüht, ihn zum Sprechen zu bringen.
Als ich den Knaben zuerst kennen lernte, war er körperlich gut
entwickelt und hatte gesunde, frische Farbe. Die körperliche Untersuchung
ergab nichts Abnormes. Seine Sprachwerkzeuge zeigten jedoch grofse
Defekte. Er hat einen stark prognaten Oberkiefer. Die unteren mittleren
Schneidezähne stehen stumpfwinklig zueinander und springen nach hinten
zurück. Die unteren Augenzähne sind übermälsig grofs. Alles dieses
verhindert das Zustandekommen eines Verschlussess. Der Gaumen ist un-
verhältnismälsig hoch. Keine Vegetationen. Die Zunge konnte zwar her-
ausgestreckt, aber nicht ruhig gehalten werden; Bewegungen konnte er
mit ihr nicht ausführen. Gehör gut. Der Knabe machte einen verhältnis-
mäßig intelligenten Eindruck; er schien alles zu beobachten, zu hören
und zu sehen. Einfache, leichte Aufträge führte er meist richtig aus.
Auf Wunsch zeigte er Kopf, Nase, Hände usw. auch Tür und Fenster;
Hut und Mütze, Stuhl und Tisch verwechselte er. Er kannte Gegenstände
im Einzelbilde, in zusammenhängenden Darstellungen fand er fast nichts
herans. Zu gleichfarbigen Dreiecken, Sternen, Kreuzen, Kreisen usw. konnte
er nicht immer das zweite finden. Die Farben kannte er auch nicht
sicher, er irrte auch oft in der Benennung derselben. Unter gleichen
Geldstücken, Karten, Photographien usw. fand er nicht immer die zu-
sammengehörigen, gleichen heraus. Die Raumbegriffe vor, unter, hinter,
auf usw. fehlten ganz; ebenso die Grölsenverhältnisse lang, kurz, dick,
dünn usw. Das Tastgefühl war unentwickelt; er konnte bei verbundenen
Augen betastete Gegenstände nach Abnahme der Binde nicht wieder zeigen.
Akustisch hatte er auch Defekte, er unterschied bei verbundenen Augen
den Ton einer Geige nicht immer sicher von dem eines Klaviers, eines
Glases, einer Trompete usw. Die Töne vermochte er nicht zu lokalisieren.
Dabei ist K. aber musikalisch. Er singt oder besser summt eine nur ein-
oder zweimal gehörte Melodie ziemlich richtig nach.
Der Gang war schwankend und ungeschickt, dagegen Hand- und
Fingermuskulatur leidlich entwickelt; er konnte Faustmachen, Fingerspreizen,
vermochte seine Jacke zuzuknöpfen, wenn auch noch nicht geschickt.
232 B. Mitteilungen.
Punktierte Figuren konnte er nicht nachstehen, nicht einmal eine gerade
Linie. Das Schneiden mit der Schere ging ganz gut, vermutlich ist dies
zu Hause geübt. Er konnte nicht auf einem Bein stehen. Er als sehr
unpeholfen.
Das Gedächtnis hatte also in der optischen und taktischen Sphäre
starke, in der akustischen schwächere Defekte.
K. litt an angeborener Aphasie, an Hörstummheit. Hörstummheit
ist die bei ausreichend hörenden, nicht idiotischen Kindern
vorkommende, meist angeborene Aphasie.
Wie ist das Ausbleiben der Sprache zu erklären? Zur normalen
Sprachentwicklung sind notwendig normale Sprachorgane, ausreichendes
Gehör und ausreichende Intelligenz. Ungemein wichtig ist das letzte:
nötige Intelligenz. Kann ein Kind die einzelnen Laute nicht unterscheiden
und festhalten, so kommt es niemals über das erste Stadium der normalen
Sprachentwicklung, über die Urlaute hinaus. K. ist nicht etwa, weil er
»Papa« sprechen konnte, durch das 2. Stadium der Nachahmungen zum
Sprechen von »Wörtern, mit denen er einen Sinn verbunden hatte« ge-
kommen, denn er schwatzte den ganzen Tag Papa, Papa, und fragte man
ihn etwas, so antwortete er meist Papa, oder er brachte Lautzusammen-
stellungen hervor, die kein Mensch verstehen konnte. Um sprechen zu
lernen, genügt es nicht, die Laute mit dem Ohr aufzunehmen und zu be-
halten — akustische Aufmerksamkeit und akustisches Gedächtnis —,
sondern das Auge muls die Sprachbewegungen sehen. Die motorische
Aufmerksamkeit mufs die Wiedergabe derselben kontrollieren und das
motorische Gedächtnis mufs die betreffenden Muskelempfindungen auf-
speichern. »Man muls sich hüten, Aufmerksamkeit und Gedächtnis als
Fähigkeiten zu betrachten, die in gleicher Weise für alle ihre Ausführungen
und bei allen Inhalten funktionieren. Aufmerksamkeit und Gedächtnis
sind nicht Fähigkeiten, die den Inhalt ergreifen resp. ihn in die Er-
innerung zurückrufen; sie sind vielmehr Funktionen des Inhaltes, d. h. wir
besitzen nicht cine einzige Aufmerksamkeit und ein einziges Gedächtnis,
sondern viele, nämlich optische, akustile, taktische, motorische usw.«
(Liebmann, Vorlesungen über Sprachstörungen.)!) Ein normales Kind sieht
dem Sprechenden auf den Mund, beobachtet und verfolgt jede Bewegung
und versucht, dieselben nachzuahmen. Was es nun gelernt, hält es mit
dem Gedächtnis fest. Alles, was in der Aulsenwelt vorgeht, nötigt dem
Kinde Jüteresse ab; es sieht und hört viel; es entgeht ihm wenig. Es
ist erstaunlich, wie aufmerksam das Kind alles beobachtet und wie fest
und sicher es die Eindrücke in seinem Gedächtnis aufspeichert.
Ganz anders verhält sich das hörstumme Kind der Aulsenwelt gegen-
über. Es beobachtet, es sieht und hört wenig oder nichts. Es ist nicht
fähig, die Bewegungen unseres Mundes, der Zunge usw. zu unterscheiden
und zu erfassen, hat also keine bewulsten Reizempfindungen, mithin
keine Erinnerungsbilder, kann daher nicht reproduzieren, nicht sprechen.
Betrachten wir uns nun nach diesen Erwägungen unsern Knaben ge-
1) Vergl. auch Baldwin, Die Entwicklung des Geistes beim Kinde.
Hörstummheit. 233
nauer. K. hatte die 2. Sprachentwicklungsstufe, die Nachahmungen, er-
reicht; er konnte Laute und Verbindungen derselben sprechen, sprach so-
gar Papa, für jedermann verständlich. Weiter ist er nicht gekommen. Er
verstand meistens, was man ihm sagte, kannte auch viele Dinge seiner
Umgebung, — von oben genannten Verwechselungen abgesehen —, und
führte auch viele gegebene Befehle sicher aus. Dies setzt voraus, dals er
den ganzen Satz erfalst hat. Warum spricht er nun nicht, da er doch
einiges Sprachverständnis hat? Seine Augen verfolgten die Sprach-
bewegungen nicht, mithin konnte er sie nicht nachahmen und auch nicht
die betreffenden Muskelempfindungen aufspeichern.
Es fehlte ihm an der motorischen Aufmerksamkeit und dem Ge-
dächtnis. Die motorische Aufmerksamkeit ist so minimal, dafs sie die
Urlaute nicht in richtige Sprechlaute umwandelt, trotzdem unser Knabe
durch das Gehör deutliche Klangbilder hat. Seine Sinnestätigkeit liegt
infolge der schwachen Aufmerksamkeit sehr darnieder, somit sind die
Wahrnehmungen unklar, und dem Gedächtnis werden unbestimmte, ver-
schwommene Eindrücke übermittelt. Es kann daher nie zu einem regen
Vorstellungsleben, zu einer lebhaften Gedankenbewegung kommen, es fehlen
also auch von dieser Seite die Anregungen, die gehörten Laute und Wörter
nachzubilden. Diese Form der Hörstummheit, die ihren Grund in mangel-
hafter motorischer Aufmerksamkeit und mangelhaftem motorischem Ge-
dächtnis hat, nennt man motorische Hörstummheit.
Behandlung: Ich versuchte zunächst den Knaben für die Sprache
zu interessieren. Wie das geschieht, ist ganz gleichgültig, nur eins ist
dringend geboten, dafs man sich von vornherein das Vertrauen des Kindes
erwirbt; das Kind mufs gern in die Sprechstunde koınmen. Dazu ist
notwendig, dals man sich von der liebevollsten, geduldigsten Seite zeigt.
Man wird am ehesten sein Ziel erreichen, wenn man sich ganz auf
den geistigen Standpunkt des Kindes herabläfst und mit ihm treibt, was
es interessiert, wenn man mit ihm spielt. Man beobachte die Mutter
im Umgange mit ihrem Kinde und alıme dies Verfahren nach. Ich fing
an, mit Bauklötzen zu bauen, sie fielen um, mit trauriger Miene sagte ich
»0, ox. Es fiel mir einer auf den Fufs, ich sagte »au, aue. Dann
packte ich die Klötze ein, schob den Kasten zu und sagte »zu«, machte
ihn auf, und sagte »auf«e. Man kann auch ein Kegelspiel benutzen; die
Kugel rollt, es fallen Kegel um, dann heifst's »bums«. Man spielt Pferd
und sagt: »hü«, »hotte hü«. Es soll stehen »brrr«e. Man versteckt Sol-
daten oder Puppen und sucht sie mit dem Kinde; findet man eins, so ruft
man erfreut »da, da«. Oder man spielt mit einer Eisenbahn und ahmt
das Puffen des Dampfes nach. Geht man draulsen spazieren und findet
Blumen, so ruft man mit fröhlicher Miene »ei, ei«, »da, da«. Man fängt
Ball oder was es sonst sein mag. Es dauert gar nicht lange, so ist das
Kind ganz bei der Sache, springt mit herum, stellt Kegel auf usw. Und
man wird das um so eher erreichen, wenn man Dinge nimmt, die das
Kind noch nicht kennt oder die es noch nicht in dieser Form gesehen
hat. Immer hat man darauf zu achten, dals diese ersten Demonstrationen
möglichst lebendig und drastisch sind, denn sonst reilsen sie die Kinder
234 B. Mitteilungen.
nicht aus ihrer Trägheit heraus. Auch darf man in keiner Weise das
Kind zur Betätigung oder gar zum Sprechen heranziehen. Dies ist der
srölste Fehler, der gemacht werden kann. Das Kind muls sich vor allem
frei fühlen. Alles muls man so machen, als ob es aus eigenstem Inter-
esse geschähe, nur um sich selbst zu unterhalten. Die Worte, die man
dazu sagt, müssen leicht zu sprechen sein. Ist einem dies Theaterspielen
gut gelungen, so kann es vorkommen, dafs die Kinder in der ersten Stunde
Laute nachahmen. So unser Knabe. Nicht selten hat man es, dafs die
Kinder die Nachahmungen versuchen, wenn sie allein sind. K. war leb-
haft bei der Sache, er hörte nicht nur auf die Worte, sondern achtete
auch auf die Mundstellungen, Nun gingen wir ins Freie und ich
nannte die Namen der Gegenstände, die wir sahen, 8—10 hintereinander,
forderte aber niemals zum Sprechen auf. Wieder zeigte ich Gegenstände
im Zimmer und grofse Einzelabbildungen der Dinge. K. versuchte oft, die
Worte nachzubilden. Jetzt nahm ich an, dafs das ideagene Zentrum ge-
nügend mit optischen Bildern ausgestattet sei, und dafs sich im sensorischen
Zentrum genug Lautbilder eingeprägt hatten, und begann, Laute zu üben.
Zunächst kommen die einfachen Vokale a u o ei und die Diphthonge
au, ei, eu; denn dies sind Naturlaute und die können die Kinder leicht
sprechen. Von den Verschlufslauten — die ersten Konsonantenübungen —
nimmt man b p d t g k zunächst; diese sind die leichtesten, die Kinder
sehen die Mundstellungen gut. Hieran schliefsen sich die Lautverbindungen
ba bu bo be bi
ab ub ob eb ib usw.
Nun stellt man Wörter zusammen. Selbstverständlich dürfen es nur
zweisilbige sein und je 2 Laute in einer Silbe haben. Zwischen beiden
Silben läfst man eine Pause eintreten. Sehr gut und empfehlenswert sind
die Ubungstafeln von Liebmann. 5. Heft der Vorlesungen über Sprach-
störungen.
Bei den ersten Wortübungen zeigt sich meistens, dafs die Kinder
wohl an ein und derselben Stelle innerhalb eines Wortes artikulieren, nicht
aber, oder doch schwer mit den Artikulationstönen wechseln können. Sie
können papa sprechen, nicht aber pate und tappe, kappe und packe. Sie
assimilieren d und g, t und k. K. sprach stets für t und d, g und K.
Jetzt war es notwendig, durch Nähern und Entfernen der Artikulations-
stellen das Sprechen zu erleichtern. Ich habe damit gute Erfolge er-
zielt. Andere Therapeuten greifen zum Spatel. Ich halte dies nicht
für gut aus einem doppelten Grunde, zum ersten, weil wohl nicht
nach jedem Gebrauch der Spatel desinfiziert wird und zweitens, weil
es grolse Nachteile für die Behandlung in sich schliefst, besonders, für
ängstliche Kinder oder für solche, die das Messer und andere Instrumente
des Mediziners kennen. Fährt man ihnen mit dem Spatel in den Mund,
so sind sie ängstlich und unruhig, ja sie zittern nicht selten, weil sie
abermals einen operativen Eingriff befürchten, und den richtigen Laut
erreicht man keineswegs besser und schneller als ohne Spatel. Mir ist
es schon vorgekommen, dafs ein Kind garnicht mehr sprach, nachdem
ich den Spatel benutzt hatte; es hatte alles Vertrauen verloren, weil es
Hörstummheit. 235
dachte, ich wollte ihm wehe tun. Wie lange kann man dann arbeiten
und sich Mühe geben, um das alte Verhältnis wieder herzustellen. Es
scheint mir daher viel einfacher zu sein, man benutzt, wie es auch Lieb-
mann vorschlägt, den Finger des Kindes und hält die Zunge damit nieder,
dann muls ein »k« ertönen, oder man drückt vom Mundboden her die
Zungenmitte an den Oberkiefer, es kann dann kein »t« gesprochen werden,
es muls ein »k« ertönen. So gibt es viele Kunstgriffe. Durch ihre An-
wendung kann man sowohl den Spatel, als auch den Handobdurator ent-
behren.
Können die Kinder einen Konsonanten nicht mit dem folgenden Vokal
verbinden — K. konnte nicht ta und da usw. sprechen —, so schiebt
man das physiologische »h« dazwischen und lälst es allmählich wieder weg.
Nach den Verschlufslauten nahm ich die Nasalen »m« und »n«.
Auch hier konnte K. nicht mit Vokalen verbinden, ich öffnete, während
er m oder n sprach, den Mund und es kam ma oder na hervor.
Nunmehr wurden die Reibungslaute geübt. Besonders schwierig ist
das »h«. Man hilft sich am besten, indem man die Kinder gegen einen
Spiegel ausatmen läfst. Die Kinder sehen den Belag und freuen sich und
üben fleifsig. K. konnte es nach ein paar Malen. Ist wieder die Ver-
bindung mit Vokalen schwierig, so lälst man in der Vokalstellung stark
expirieren. Schwierig waren für K. s fs z sch infolge seiner Defekte, er
hatte einen starken Sigmatismus simplex und lateralis. Er mulste das
Summen der Biene, das Zischen des Dampfes nachahmen; bald ging es
leidlich, jedoch wird er niemals diese Laute gut sprechen lernen. Dies ist
auch nicht notwendig, man begnüge sich mit nur annähernd wohllautenden
Klängen. Viele Erwachsene sprechen diese Laute schlecht ohne merklich
aufzufallen.
Nach den zweilautigen Silben nehme ich dreilautige. Recht viel
Zeit erforderten platte, breite, schwab usw. Diese Konsonantenhäufungen
sind sehr schwierig; man übe pe—latte, sch— wabe, sch—tak usw.
Als er diese Wörter konnte, übten wir Substantive mit dem Artikel
und legten den Ton auf den Artikel, benutzten ihn also als hinweisendes
Fürwort. Nun kamen leichte Sätze. Um aber von einem Dinge etwas
aussagen oder 2 Dinge in Beziehung setzen zu können, müssen auch die
geistigen Fähigkeiten soweit entwickelt sein, dafs das Kind weils, wie die
Dinge sind, was sie tun usw. Neben den sprachlichen Übungen muls
die Ausbildung der geistigen Fähigkeiten hergehen. Sind die geistigen
Fähigkeiten nicht genügend entwickelt, so wird das Kind keine Sätze
sprechen können, es spricht agrammatisch, läfst Präpositionen, Adverben,
Artikel, Kopula weg, weil sie für dasselbe keinen Sinn haben. Man muls
ganz einfache Sätze z. B. »das ist der Schrank«, demonstrieren und jedes
Wort mit einer entsprechenden Handbewegung !) begleiten.
Bei der Untersuchung der zentralen Fähigkeiten hatten wir alle
Defekte des Knaben festgestellt und wissen daher, was zu üben ist:
Unterscheidung von Geräuschen und von Formen, Farben, Grölsen-, Raum-
1) Vergl. Liebmann, Über geistig zurückgebliebene Kinder.
236 B. Mitteilungen.
und Lagerverhältnisse, Verständnis von Sätzen, das Erkennen von (Gegen-
ständen in grofsen, zusammenhängenden Darstellungen. Um die Mängel
der taktischen Sphäre zu beseitigen, übte ich die Hand-, Arm- und die
gesamte Körpermuskulatur. Gymnastik der Rumpf- und Gliedermuskulatur
soll den Körper kräftigen und beleben. Viel Bewegung in frischer Luft
z. B. Gartenarbeit ist angezeigt. Karreschieben im Sommer und Berg-
schlittenfahren im Winter sind wohl die gesündesten Bewegungen, weil
bei beiden Betätigungen Ruhe mit körperlicher Arbeit abwechselt.e Nur
mufs man sich sowohl bei den körperlichen Übungen als auch bei den
sprachlichen Betätigungen hüten, die Kinder zu überbürden, und dies ge-
schieht sehr leicht, weil man meistens nicht bedenkt, dafs ein hörstummes
Kind auch in sonstiger Beziehung auf einer viel niedrigeren Stufe der
geistigen Entwicklung steht.
In der oben geschilderten Weise haben wir bei unsern Knaben be-
friedigende Erfolge erzielt.
4. Kurse in Theorie und Praxis der Fröbel-Erziehungs-
lehre für Kindergärtnerinnen, Elementarlehrer und
Lehrerinnen
veranstaltet das Kasseler Fröbelseminar, vom 19. Juli bis 2. August 1904.
Als Muster dienten die Fortbildungskurse in Jena, wie denn auch zur
Fortsetzung jenes Kursus die Teilnahme an dem »Ferienkursus in
Jena« vom 4. bis 19. August 1904 empfohlen wird.
Das Programm ist ein reichhaltiges. Es kündigt folgende Vorlesungen
und praktische Übungen an:
1. Grundsätze der Fröbelschen Erziehungslehre. Diskussion. Fräulein
Mecke 2. Psychologie des Kindes. 3. Die Methode der Gaben und
Beschäftigungen in Kindergarten,- Schule und Kinderhort. Probelektionen
(Anschauungs- und Darstellungsübungen inkl. Turnspiele und Bewegungs-
spiele). Fräulein Mecke. 4. Die Fröbelsche Pädagogik in der Elementar-
klasse nach dem Prinzip der Selbsttätigkeit. Lehrproben und Diskussion.
Rektor Henck. 5. Anleitung zur Anfertigung von Fröbel- Arbeiten in
Famile, Kindergarten und Schule. Fräulein Gabriele Müller. 6. Er-
ziehung und Unterricht nicht normal beanlagter Kinder nach Fröbelschen
Grundsätzen. Besuch in einer Idioten-Anstalt. Pfarrer Schuchardt und
Hauptlehrer Hagen. 7. Bedeutung und Pflege der Musik. General-
superintendent Pfeiffer. 8. Jugendliteratur. Schriftsteller Traut. 9. Auf-
gaben und Organisation des Kindergartens und des Kinderhorts. Fräulein
Mecke. 10. Grundsätzliches der Volks- und Schulhygiene. Dr. W.
Krause und Dr. Adolf Alsberg. — Volkspflege. Frau Pastor Gruß.
11. Die soziale Arbeit der Kindergärtnerinnen: Anleitung zur
praktischen Einführung der Mutter im Volk in hygienische und pädago-
gische Aufgaben. Arbeit in Volksunterhaltungs-, Elternabend und Jugend-
verein. 12. Besuch der Wohlfahrtseinrichtungen der Stadt Kassel. Ge-
meinsame Ausflüge in die Umgegend Kassels (Wilhelmshöhe, Annatal,
Münden), Führung in Museen und Galerien. Eisenach (Fröbelmuseum).
Ferienkurse in Jena. 237
Es werden also nicht bloß Kindergärtnerinnen, sondern auch Lehrer
und Lehrerinnen reichliche Anregung finden. Die Seele des Ganzen,
Fräulein Hanna Mecke, hat seit Jahren gern besuchte Vorlesungen im
Jenaer Kursus gehalten. Sie steht auch unsern Bestrebungen für Kinder-
forschung nahe. Das beweist das verständnisvolle Programm für diese
Frage. So haben wir allen Grund, dem jungen Unternelimen ein Glückauf
zuzurufen.
Anmeldungen sind an das Fröbelseminar in Kassel zu richten.
Außer 3 M Einschreibegebühren belaufen die Kosten des ganzen
Kursus sich auf 60 M und zwar für
Wohnung für 14 Tage. . . . . . 15 M
Beköstigung für 14 Tage. . . . . 30
Honorar für die Vorlesungen insgesamt 15 „
Anmeldungen für Wohnungen sind bis zum 15. Juli an die Leiterin
der Kindergärtnerinnen - Bildungsanstalt (Fröbelseminar) Fräulein Hanna
Mecke, Kassel, Parkstraße 22, oder an Herrn Rektor Henck, Kassel-
Rothenditmold, zu richten.
5. Ferienkurse in Jena.
Unter den zahlreichen Vorlesungen, welche in der Zeit vom 4. bis
17. August stattfinden, werden unsern Lesern insbesondere folgende inter-
essieren:
Physiologie des Gehirns mit Demonstrationen: Privatdozent
Dr. Noll.
Ausgewählte Kapitel der menschlichen Anatomie: Privat-
dozent Dr. W. Lubosch.
Geschichte der Pädagogik: Privatdozent Dr. Leser-Erlangen.
Allgemeine Didaktik: Professor Dr. Rein.
Hodegetik oder die Lehre von der Bildung des sittlichen
Charakters: Professor Dr. Just-Altenburg.
Spezielle Didaktik mit praktischen Übungen: die Seminar-
Oberlehrer Fr. Lehmensick und H. Landmann.
Frauenfrage und Mädchenerziehung: Professor Dr. D. Zimmer-
Zehlendorf.
Die höhere Mädchenschule in Deutschland: Kgl. Oberlehrerin
M. Martin.
Friedrich Fröbels Erziehungslehre und der Kindergarten:
Fr. von Portugall-Neapel.
Einleitung in die Philosophie der Gegenwart: Privatdozent
Dr. Scheler.
Herbarts Psychologie und ihre Gegner: O. Flügel- Wansleben.
Das Hilfsschulwesen: Rektor Dr. Maennel-Halle.
Demonstration geistig schwacher und defekter Kinder:
Öberstabsarzt Dr. Fiebig, Schularzt in Jena.
Die Sprachstörungen des Kindesalters: Dr. Herm. Gutz-
mann - Berlin.
238 B. Mitteilungen.
Psychologie des Kindes: Dr. A. Spitzner-Leipzig.
Die Charakterfehler im Kindes- und Jugendalter: Direktor
J. Trüper.
Über die Psychologie und Psychopathologie finden im Anschluß an
obige Vorträge Diskussionsabende statt.
Auch ist der Besuch von Hilfsschulen und Erziehungsanstalten für
Abnorme in Aussicht genommen.
Außerdem finden während der Zeit der Ferienkurse folgende öffent-
liche Versammlungen statt:
1. Comenius-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft und der Volks-
erziehung. Haupt-Versammlung am 14. August im Volkshaus zu Jena.
Es werden folgende öffentliche Vorträge gehälten werden, zu denen
die Teilnehmer der Ferienkurse freundlichst eingeladen sind:
1. Mittags 12 Uhr. Geheimrat Dr. Keller-Berlin: Ȇber die
Idee der Humanität und ihre Geschichte«.
2. Abends von S Uhr ab:
1. Herr Ober-Studiendirektor Dr. Ziehen-Berlin: Ȇber die staat-
liche Fürsorge für die Volkserziehung«.
2. Herr Adolf Damaschke-Berlin: »Die Förderung der Volks-
erziehung als Aufgabe der Gemeindepolitike«.
3. Herr Professor D. Dr. Zimmer-Berlin: Ȇber die genossen-
schaftliche Fürsorge der Volkserziehung«e.
2. Pädagogische Gesellschaft. Haupt - Versammlung Montag, den
15. August abends 81/, Uhr im Volkshaus.
Im Anschluß an die Versammlung findet ein öffentlicher Vortrag von:
Pfarrer O. Flügel- Wansleben statt. (Thema vorbehalten.)
Nähere Auskunft erteilt das Sekretariat: Frau Dr. Schnetger-Jena,
Gartenstraße 2.
6. Die diesjährige Versammlung des Vereins für
Kinderforschung
findet am 14.—16. Oktober in Leipzig statt, also am Schlusse der Herbst-
ferien.
Die Tagesordnung wird im nächsten Hefte bekannt gegeben.
Anmeldungen von Vorträgen wie Anfragen um nähere Auskunft sind
zu richten an die Schriftführer Dr. med. Strohmayer-Jena und Anstalts-
Ichrer Stukenberg-Sophienhöhe bei Jena.
7. Zur Beantwortung mehrerer Briefe.
Schon seit längerer Zeit gehen uns aus verschiedenen Landesteilen
von Lehrern, die sich auf eine höhere Prüfung vorbereiten, Anfragen über
Literatur zur pädagogischen Psychologie, Pathologie und Kinderpsychologie
zu. So gern wir auch in dieser Hinsicht gefällig sind, so können wir
uns doch nicht zur Beantwortung verstehen, wenn wir es mit Persönlich-
C. Literatur. 239
keiten zu tun haben, die binnen wenigen Wochen eine wissenschaftliche
Arbeit an die Prüfungskommission abliefern wollen und in ihren Briefen
deutlich erkennen lassen, daß sie des Gegenstandes, über den sie schreiben
sollen, völlig unkundig sind. Auch sind wir, von Ausnahmefällen ab-
gesehen, nicht in der Lage, Bestandteile unserer Bibliothek nach auswärts
leihweise zu versenden.
Zu derartigen Briefen würde aber auch keine Veranlassung vorliegen,
wenn die Betreffenden aufmerksam unsere Zeitschrift läsen und sich bei
den ihnen zugänglichen Lehrer-, Seminar- und öffentlichen Bibliotheken
um Anschaffung der wichtigsten Schriften bemühten. Ufer.
mm nr run
C. Literatur.
Archiv für Altersmundarten und Sprechsprache. Herausgegeben von
Berthold Otto. Vierteljahrsschrift. Heft I. Oktober 1903. Leipzig, Th. Scheffer.
Jahrespreis 6 M.
Die Zeiten, in denen man die Sprechsprache entweder gänzlich unbeachtet ließ
oder doch sehr geringschätzig behandelte, sind längst vorbei. Welcher Wert ihr
überhaupt beigelegt wird oder zukommt, kann hier nicht erörtert werden. Dagegen
ist im besonderen der Zusammenhang mit der Kinderpsychologie hervorzuheben.
Die bisherigen Untersuchungen, namentlich ganz kürzlich die von Stern, haben
dargetan, daß man in der Entwicklung der Kindessprache von besonderen Alters-
mundarten reden kann, und der Zweck der vorliegenden Zeitschrift besteht zum Teil
in deren genauer Erforschung. Damit jedoch über die Ansicht des Herausgebers
kein Mißverständnis entsteht, lassen wir ihn selbst reden. »Der Begriff der Alters-
mundart ist sicherlich nicht so zu fassen, daß sich für jedes Lebensjahr mit untrüg-
licher Sicherheit Formenlehre, Syntax, Wortschatz und Stilistik aufstellen ließe.
Das Kind macht keine Sprünge in der Entwicklung; es gleitet geistig wie körper-
ich aus einem in das andere Lebensalter hinüber. Wann das Kind aufhört, die
Altersmundart der Elfjährigen zu sprechen, und anfängt, sich der der Zwölfjährigen
zu bedienen, läßt sich natürlich ebensowenig mit Sicherheit bestimmen, wie der
Arzt den Tag angeben kann, an dem der Körper des Kindes aus dem Habitus des
Elfjährigen in den des Zwölfjährigen übergeht. Dennoch wird jeder Arzt auf den
ersten Blick sagen, ob er ein zehnjähriges oder ein zwölfjähriges Kind vor sich hat,
und mit derselben Sicherheit können wir die Sprache des Zehnjährigen von der des
Zwölfjährigen unterscheiden, so unendlich zahlreich auch die Zwischenstufen sind.«
Der pädagogische Wert der Altersmundarten liegt nach der Ansicht des
Herausgebers in der Nachbildung von Seiten des Lehrers und der Verwendung im
Unterricht. Otto will also sicherer gehen als beispielsweise Wiedemann, der in
seinem Buche »Wie ich meinen Kleinen die biblischen Geschichten erzähle« die
Kindessprache in Bausch und Bogen und mehr aufs Geratewohl nachalmt.
Das erste Ileft der Zeitschrift enthält zunächst eine Anzahl biblischer Ge-
schichten des alten Testaments, wie sie ein zchnjähriges Mädchen wiedererzählt
bat. Die Wiedererzählungen sind stenographisch aufgenommen worden. Der Wort-
laut ist nicht allenthalben gleichmäßig, so daß man oft mit Sicherheit den Vorerzähler
vernimmt; immerhin enthalten die Nacherzählungen so viel echt Kindliches, wie
240 C. Literatur.
man in dem Buche Wiedemanns Plattes und Läppisches findet, und wenn wir
auch nicht glauben, daß alle Blütenträume des Herausgebers reifen werden, so
können wir doch empfehlend auf sein Unternehmen hinweisen und ihn zur Fort-
setzung ermuntern. Einstweilen steckt die Sache noch in etwas rohen Anfängen
und wird sich mit den Hilfsmitteln, die die Wissenschaft bietet, noch vervoll-
kommnen lassen. Ansätze zur wissenschaftlichen Bearbeitung des Gegenstandes
finden sich bereits in den Anmerkungen des Herausgebers. Ufer.
Berkhan, Dr. O., Sanitätsrat in Braunschweig, Über den angeborenen und
früh erworbenen Schwachsinn (Geistesschwäche im Sinne des Bürgerlichen
Gesetzbuches) für Psychiater, Kreis- und Schulärzte dargestellt. Zweite durch
Nachträge ergänzte Auflage. Mit Abbildungen. Braunschweig, Druck und Verlag
von Friedr. Vieweg & Sohn, 1904. Ladenpreis geheftet 2,40 M.
Im Jahrgang V No. 4 haben wir die erste Auflage eingehend besprochen und
unsern Lesern angelegentlichst empfohlen. Unser Urteil findet sich auch in der
Schrift mit vorgedruckt. Wir verweisen darum für die zweite Auflage auf dasselbe.
Die zweite Auflage ist noch mit Nachträgen versehen, in denen Gruppen von
Schwachsinn beschrieben sind, welche gegenwärtig ein besonderes Interesse bieten
und bei denen teilweise ärztliche Behandlung in den Vordergrund tritt. Es sind
das die mit Wasserkopf behafteten Schwachsinnigen, über die wir früher: schon
einen besonderen Artikel von dem Verfasser brachten, die mikrocephalen Schwach-
sivnigen, die kretinoiden Schwachsinnigen, der Mongolen-Typus der Schwachsinnigen.
Diese Nachträge machen die zweite Auflage noch besonders wertvoll.
Auszusetzen habe ich an derselben nur eins: Der Titel ist unvollständig, in-
sofern die Schrift nicht bloß Psychiatern, Kreis- und Schulärzten, sondern in erster
Linie Lehrern und auch nicht bloß Lehrern an Hilfsschulen, sondern den Lehrern
schlechthin zu empfehlen ist. Soviel wie Berkhan hier mitteilt, sollte jeder Lehrer
über den Schwachsinn oder wie man sonst die Intelligenz-, Willens- und Körper-
defekte bezeichnen will, wissen. Allerdings bedarf Berkhan in Lehrerkreisen
kaum einer Empfehlung. Er gehört zu denjenigen Medizinern, die ein Herz voll
Liebe zu den Ärmsten und Schwächsten unter den Kindern haben und darum selbst-
lose Freunde der Lehrer und der Schule sind. Als Sohn eines Lehrers zieht ihn
trotz hohen Alters auch immer wieder die schwierigste Arbeit in der schwierigsten
Schule, in der sogenannten Ililfsschule, an, und wo Versammlungen zur Beratung
über solche Fürsorge tagen, da findet man auch immer wieder den Verfasser der
vorliegenden Schnift. Diese ist somit eine erfreuliche Frucht der von uns seit je
erstrebten Art des Zusammenwirkens von Medizin und Pädagogik, von Ärzten und
Lehrern, und ihr Verfasser personifiziert als Mediziner gewissermaßen diese unsere
Bestrebungen. Das fühlt man aus jedem Kapitel der Schrift heraus. Neben oder
vor den Ärzten werden die Lehrer ihm darum auch für die 2. Auflage der Schrift
mit ihren Erweiterungen dankbar sein. Trüper.
Druck von Hermann Boyor & Suhno (Boyor & Mann) in Langonsalza.
A, Abhandlungen.
l. Vererbung und erbliche Belastung in ihrer Be-
deutung für Jugend- und Volkserziehung.
Von
D. Hieronymus, Rektor in Leer.
Mit Recht wird man denjenigen beneidenswert, vielleicht glück-
lich nennen, der einen begüterten Vater hat, welcher seinem
Sprößling eine reiche Erbschaft zu hinterlassen im stande ist.
Hab und Gut sind im Leben Mächte, an deren Bedeutung man
nicht zweifeln kann, und das elterliche Vermögen bildet einen
Fonds, von dem während und nach Lebzeiten der Eltern das Schick-
sal der Kinder beeinflußt, wenn nicht abhängig ist. Die in dieser
Hinsicht vom Schicksal nicht so Begünstigten bleiben zwar nach Hab
und Gut ohne Erbschaft, eins aber erbt jedes Geschöpf von seinen
Eltern — sein eigenes Ich nach Leib und Seele. Wahrhaft beneidens-
wert und glücklich derjenige, der in dieser Hinsicht von seinen
Eltern ein Vermögen erbt, dessen Größe, Bedeutung und Qualität
durch Hab und Gut nicht aufgewogen oder gar ersetzt werden kann!
Nichts ist natürlicher, als daß ein Geschöpf wesensgleich ist dem-
jenigen, aus dem es hervorgegangen — ein Leib demjenigen, der
ihn gebildet hat. Wenn das von dem Leibe gilt, so ist gleichfalls
natürlich, daß auch das innere, geistige Wesen des Erzeugers auf
das Erzeugte sich vererbt, denn psychische Individualität und
physische sind untrennbar. Wie der von den Eltern über-
kommene Leib für unsere körperliche Gestaltung und Zustände, so
Die Kinderfehler. IX. Jahrgang. 16
242 A. Abhandlungen.
sind auch die geistigen Eigenschaften derselben, in und mit den
körperlichen verwebt, für unser körperliches und geistiges Ich in
hohem Grade bedingend, wenn nicht ausschlaggebend. Das Kind ist
nach seiner körperlichen und geistigen Individualität das Produkt
der seelisch-leiblichen Qualität seiner Eltern. Die Erziehung hat nun
an diesen Tatsachen der Vererbung insofern ein hohes Interesse, als
sie mit dem vererbten Fonds sowohl nach Quantität als Qualität
rechnen muß. Namentlich die Qualität ist hier von Bedeutung.
Doppelt angenehm ist die Erbschaft, welche nur mit Aktiva zu
rechnen hat; aber bei der Vererbung spielen auch die Passiva eine
bedeutende Rolle. Gerade ihnen wenden in der Neuzeit die Psychiater,
Psychologen und Pädagogen ihre Untersuchungen zu. An der Hand
dieser Arbeit wollen wir gleichfalls einen Blick werfen auf die Ver-
erbung im allgemeinen und die erbliche Belastung im besonderen.
I. Die Vererbung im allgemeinen. Wenn ein einzelliges
Urtier (die Amöbe) seinen Körper durch Einschnürung in zwei Stücke
teilt, so sind beide Teile naturgemäß vollständig wesensgleich. Das
Resultat der Zeugung durch Teilung ist die Vermehrung. Wesent-
lich verschieden hiervon und komplizierter ist die geschlechtliche
Vermehrung. Um das Wesen der Vererbung zu begründen, müssen
wir kurz auf die anatomischen und pathologischen Grundlagen der
Entstehung cines Geschöpfes, nämlich die Zeugung, eingehen. Wir
verfolgen sie nur insoweit, als die Vererbung dabei in Frage kommt.
Über das Wesen der Zeugung gibt es dreihundert verschiedene
Zeugungs- bezw. Vererbungstheorien. Die Ovisten sehen in dem
weiblichen Ei das neue Geschöpf en miniature, die Spermatisten da-
gegen im männlichen Samen. Das Wachstum des Embryo schreibt
Darw der Wellenzeugung, d. i. der Befruchtung der Nachbarzellen
durch die vorbergehend befruchtete zu. GaLrox gibt dem Keimchen
die Fähigkeit der Selbstvermehrung. Nach HäckeL ist die Zeugung
ein Bewegungsvorgang, der die Vereinigung der Moleküle zu Lebens-
gemeinschaften einleitet; nach HERBERT SPENXCER geschieht die Fort-
pflanzung und Vererbung durch Strukturänderung der sogenannten
»psychologischen Einheiten«.
In neuerer Zeit hat sich die Theorie Weısuanss!) allgemeinere
Geltung verschafft. Er stellt die Vorgänge etwa folgendermaßen dar:
Bei der Zeugung wird durch die Vereinigung des Spermas mit dem
1) Seine bedeutendsten Schriften über Vererbung sind: Die Kontinuität des
Keimplasmas. 1885. Das Keimplasma, eine Theorie der Vererbung. 1892. Be-
deutung der sexuellen Fortpflanzung. 1886.
Hieronymus: Vererbung und erbliche Belastung in ihrer Bedeutung usw. 243
Ovum ein chemischer Vorgang eingeleitet, welcher eine scheinbar
innige Verschmelzung des Protoplasmas beider bewirkt. In diesem
letzteren sind nun aber neben den körperbildenden auch die Ver-
erbungssubstanzen enthalten. Als Träger der Vererbung werden die
in dem Protoplasma vorkommenden farbigen Stäbchen angesehen.
Diese sogenannten Chromatinstäbchen sind aber jedes für sich
von außergewöhnlich komplizierter Zusammensetzung und enthalten
in den Vererbungstendenzen des Ausgangskörpers zugleich die über-
kommenen seiner Vorfahren, seines Geschlechts, seiner Rasse. Sie
können in ihrem Innern soviel Molekulargruppen bilden, daß auf
1/1000 Kubikmillimeter 400 Millionen kommen. Die Art der Zu-
sammensetzung des Keimplasmas ergibt die körperliche und geistige
Organisation; denn die letztere beruht auf der Organisation des Ge-
hirns und ist danach auch vererbungsfähig. Die verschiedene An-
ordnung der Chromatinstäbchen führt zu der ungeheuren Verschieden-
heit der Individuen. Wenn schon aus 24 Buchstaben die gesamte
Sprache und aus 12 Tönen unendliche Harmonien sich ergeben, so
ist aus der Möglichkeit der Keimgruppierung ersichtlich, daß identische
Geschöpfe noch nie angetroffen worden sind. — Die Frage über den
Ursprung des Zeugungsplasmas müssen wir mit Weısmann da-
hin beantworten, daß es ein Extrakt aus dem ganzen Körper ist, daß
also auch die Vererbungstendenzen aus jedem kleinsten Teil des
Körpers in Form von Molekülen in ihm enthalten sind, denn nur auf
diese Weise ist es zu erklären, daß selbst die kleinsten Eigenheiten,
wie z. B. ein Muttermal, ein Hautfleckchen des elterlichen Körpers
sich an dem kindlichen wiederfinden. Schwierig ist die Frage, wie
einerseits die die Vererbungseigenschaften enthaltenden Moleküle
ihren Weg von der Peripherie des Körpers in den Zeugungskeim,
andrerseits wie sie nach der Befruchtung von hier aus wieder die
Stelle des neuen Körpers erlangen, zu der sie gehören. Die
Ansicht Häckeıs, welcher den Molekülen ein »Bewußtsein« oder ein
»Gedächtnis«,!) in dieser Beziehung zuspricht, gilt mit Recht als un-
haltbar. — Wahrscheinlicher, wenn auch nicht zu beweisen, ist die
Annahme, daß die Struktur des einzelnen Moleküls hier ausschlag-
gebend sei. Danach geht die Vereinigung der Vererbungs-Idanten,
(Chromatinstäbchen) durch ganz bestimmte Zellfolgen auf festliegenden
»Keimbahnen« vor sich. Vermöge seiner Struktur nimmt das Stäb-
chen seinen ganz bestimmten Platz sowohl innerhalb des Keims als
auch später im Körper ein. — Der Hauptunterschied zwischen der
1) „Erblichkeit ist Gedächtnis, Variation ist Fassungskraft des Plastiduls.«
16*
244 A. Abhandlungen.
ungeschlechtlichen (Teilung, Knospung, Sporenbildung) und geschlecht-
lichen Zeugung ist die Vereinigung der Vererbungstendenzen
zweier verschiedener Körper, des männlichen und weiblichen.
Die Art und Weise dieser Vereinigung geschieht folgendermaßen:
Die Chromatinstäbchen des Ovums und Spermas legen sich anein-
ander, verschmelzen nicht etwa ineinander, sondern spalten sich bei
ihrer Berührung der Länge nach in zwei Teile; je zwei von diesen
Teilen vereinigen sich durch Anlagerung; jeder aber bleibt für sich,
behält seine Individualität. In dem Neukeim sind also die männ-
lichen und weiblichen Vererbungstendenzen in genau gleichen Hälften
vorhanden. Für das spätere Überwiegen der väterlichen oder mütter-
lichen Eigenschaften eines Individuums soll nach einer wohl erklär-
lichen, aber nicht zu beweisenden Annahme die größere oder ge-
ringere Reife und Zeugungskraft des Ovums ausschlaggebend sein,
so daß im ersteren Falle ein Knabe mit überwiegend mütterlichen
Eigenschaften, im letzteren ein Mädchen mit überwiegend väterlichen
Eigenschaften sich bilde. »Vom Vater erbt ich die Statur, des
Lebens ernstes Führen; vom Mütterchen die Frohnatur und Lust zu
fabulieren!« Goethe. In dem Neukeim findet nun durch die Ver-
einigung zweier Keime eine Vermehrung der Chromatinstäbchen nicht
statt, da immer die zwei Hälften derselben von dem Keimplasma
absorbiert werden, also verschwinden. Es ist danach aus zwei ver-
schiedenen Hälften ein neues Ganzes entstanden. Nimmt man nun
— genau ist die Zahl nicht festgestellt — je 32 Keimstäbchen-Hälften
für Sperma wie Ovum an, so ergibt das eine rechnerische Kombi-
nationsmöglichkeit der männlichen und weiblichen Vererbungstendenzen
von 337 Millionen. Dabei ist sehr wohl anzunehmen, daß gewisse
für die Rasse typische Kombinationen ähnlicher Art ständig wieder-
kehren, woraus sich andrerseits ergibt, daß diese Kombinationsähnlich-
keit bei verwandten Personen größer sein wird als bei solchen, die
zueinander fremd sind. — Es bleibt noch die Frage zu erledigen, ob
und inwieweit erworbene Eigenschaften eines Individuums ver-
erbbar sind. Die Erfahrung lehrt z. B., daß trotz der Jahrtausende
langen Anwendung der jüdischen Vorhautbeschneidung eine Ver-
kürzung derselben nicht stattgefunden hat, ferner daß von Generationen
Mäusen, denen man die Schwänze abgeschnitten hat, niemals schwanz-
lose Nachkommen entstanden sind — so darf man folgern, daß er-
worbene Eigenschaften nicht erblich sind, wie man überhaupt bei
der Vererbung eine gewisse Zielstrebigkeit, eine innere Notwendig-
keit dahin wahrnehmen kann, daß die Natur nicht gerne von der
gewiesenen Bahn abweicht. Damit ist aber nicht gesagt, daß diese
Hirroxyamus: Vererbung und erbliche Belastung in ihrer Bedeutung usw. 945
erworbenen Eigenschaften ohne Einfluß auf den Organismus über-
haupt wären. Letzterer wird wieder die Keimzellen beeinflussen, so
daß auch zufällig erworbene Eigenschaften, namentlich wenn sie in
langandauernden Reizen bestehen, zunächst eine latente Anlage
und durch Änderungen der molekularen Keimstruktur eine er-
höhte Disposition für diese Erwerbungen schaffen, so daß sie unter
Einfluß von Klima, Lebensweise, veränderten Lebensbedingungen nach
und nach erblich werden. Auf diesem höchst wichtigen Vorgange
beruht das Variieren innerhalb der Art, wofür nicht nur, wie nach
Larmark und Darwıs, Übung und Anpassung, sondern auch die Keim-
anlage maßgebend ist. Die große Bedeutung der geschlecht-
lichen Fortpflanzung und Vererbung liegt darin, daß sie nicht nur,
wie die ungeschlechtliche, die Erhaltung der Art bewirkt, sondern
durch Verschmelzung verschiedenartiger Vererbungstendenzen etwas
Neues schaift. Jede neue Vererbung bietet die Möglichkeit der
Weiter- und Höherführung der Art, und wenn auch Neubildungen
in unmerklich kleinen Schritten erfolgen, so ist doch der Mensch von
heute, namentlich in Bezug auf seine geistige Qualität, nicht mit dem
Naturmenschen identisch, und die Möglichkeit ist vorhanden, daß die
der Rasse nicht vorteilhaften Vererbungstendenzen in ihrer Wirksam-
keit schwinden, während die vorteilhaften sich vermehren. Das
Hauptprinzip der geschlechtlichen Vermehrung ist Ent-
wicklung und Vervollkommnung.
U. Die erbliche Belastung. Es kommt nicht selten vor, daß
ein Mensch mit dem überkommenen Gut, welches er als Erbe über-
nehmen mußte, nicht nur keine Aktiva, sondern im Gegenteil Passiva
(Schulden) auf sich bringt. Daran kann er dann unter Umständen
sein Leben lang arbeiten, um sie durch seine Kraft abzutragen —
es gelingt ihm nicht! Ebenso ist es auf geistigem Gebiet. Auch hier
ist ein großer Teil der Menschen verurteilt, neben den ererbten Aktiva
von Geburt an Lasten zu tragen und sie mit durchs Leben zu schleppen:
Das nennt man erbliche Belastung. »Krank in kranker Hülle lebt
meine Seele« schreibt der periodisch irrsinnige Dichter des »Befreiten
Jerusalem«, Tasso, an den Herzog von Urbino. »Fliehend vor mir selbst,
bin ich mir selbst stets gegenwärtig« Man braucht die Möglichkeit
der erblichen Belastung nicht zu übertreiben. auch nicht alle Mängel
und Gebrechen auf die erbliche Belastung zurückzuführen — man
braucht mit Lougroso sie nicht bis zu Seitenrerwandten — Vettern
und Oheimen — auszudehnen: dennoch reden all die Jammerrufe der
Beraubten und Entblößten, der Krüppel, Blinden, Tauben, der Kreti-
nisten und Idioten, der entstellten Skrophulösen, der hohlwangigen
246 A. Abhandlungen.
Schwindsüchtigen eine so deutliche Sprache, daß man nicht einsehen
kann, worauf der Mensch in seiner eitlen Nichtigkeit und hartnäckigen
Selbsttäuschung oft so stolz ist. Wohl überkommen uns, Gott sei
Dank, von unsern Eltern auch diejenigen körperlichen und geistigen
Güter, auf welche wir uns mit Recht etwas einbilden können, aber
mit viel größerer Kraft und stetigerer Steigerung stellen sich er-
fahrungsgemäß ebenfalls diejenigen Erbtümer ein, die den Menschen
vielleicht lebenslang belasten.
Schon nach diesem werden wir die Frage, ob eine erbliche Be-
lastung möglich ist, unbedingt bejahen. Es bleibt nur zu unter-
suchen, inwieweit und unter welchen Voraussetzungen die erbliche
Belastung zu stande kommt. Die belastenden Momente zeigen sich
einerseits in dem anatomischen Auf- und Ausbau des Körpers, andrer-
seits in der anormalen chemischen und physikalischen Beschaffenheit
des Gehirns und der Nerven. Während die ersteren äußerlich sicht-
bar erscheinen, sind die letzteren nur in ihren Folgeerscheinungen
nachweisbar. Soviel ist sicher, daß die konstitutionellen Krank-
heiten der Eltern auch in der Konstruktion oder der chemischen
Beschaffenheit der Molekulargruppen der Zeugungskeime zum Aus-
druck kommen, so daß bereits der Keim der Träger erblicher Be-
lastungsmomente ist. Als konstitutionelle Blutkrankheiten gelten
Syphilis, Rhachitis, Skrophulose; erblich sind auch besonders Gehirn-
und Nervenkrankheiten. Die traurigen Folgen treten um so sicherer
und verstärkter ein, wenn beide Erzeuger anormale Zustände auf-
weisen. Lonsroso hat z. B. berechnet, daß aus der Zeugung unter
Wahnsinnigen das Produkt in 89°, mit Wahnsinn belastet ist.
Hier tritt auch die unheimliche Zunahme der belastenden Eigen-
schaften deutlich hervor, insofern oft Menschen, deren krankhafte
Zustände in Exzentrizität und Hypochondrie bestehen, die Eltern von
Idioten und Irrsinnigen werden. Latent liegende Perversitäten des
Vaters treten nicht selten bei Sohn oder Tochter aktiv zu Tage.
Lehrt doch die tägliche Beobachtung, wie einzelne Eigenheiten eines
Menschen, z. B. Linkshändigkeit, Gebärden, die der Vater nicht auf-
weist, sich bei dem Sohne zeigen. Physiologisch ist diese Erschei-
nung dahin zu erklären, daß in dem Vater die hier bedingenden
Vererbungstendenzen zwar vorhanden sind, jedoch in latentem Zu-
stande sich befinden, ohne damit die Fähigkeit zu verlieren, fort-
erbend im nächsten Glied wieder in die Erscheinung zu treten. Wir
müssen hier noch auf die Verwandtenehe zurückkommen. Sie war
bei den Persern, Phöniziern und Arabern gesetzlich gefordert, bei
den Athenern und Spartanern erlaubt, bei den Muhamedanern, Juden,
Hiırroxyauus; Vererbung und erbliche Belastung in ihrer Bedeutung usw. 9247
De
Römern und Germanen jedoch von Anfang her verboten. Abgesehen
von der moralischen Begründung dieses Verbotes, liegt die Gefahr
der Verwandtenehe auf physiologischem Gebiet hauptsächlich in der
schon vorher erwähnten großen Ähnlichkeit der Molekulargruppen
des Keims. Durch diese Ähnlichkeit wächst naturgemäß auch die
Gleichheit der Vererbungstendenzen und damit gleicherweise die
größere Wahrscheinlichkeit der Belastungserscheinungen, welche er-
fahrungsgemäß sich zeigen als Taubstummheit, Schwachsinn, Früh-
geburten und Unfruchtbarkeit.
Für die erbliche Belastung spielt die vorhin schon angeschnittene
Frage der Erblichkeit erworbener Eigenschaften eine große
Rolle. Lange hat man gemeint, daß auch Herzkrankheiten, Tuber-
kulose, Krebs, Diphtheritis usw. direkt erblich seien. Um hier zur
Klarheit zu gelangen, muß man die drei vorgeburtlichen Stadien aus-
einanderhalten: den Keim, den Embryo (1.—3. Monat) und den Fötus
(4.—9. Monat). Nur diejenigen Belastungserscheinungen kann man
mit Recht erblich nennen, die schen in dem Keim begründet ge-
wesen sind, und das sind diejenigen, welche bereits in das Eigentum
der Rasse bezw. in die organische Konstitution des Erzeugers über-
gegangen sind. Nun steht aber fest, daß dazu die oben genannten
Krankheiten nicht gehören. Der Grund ist hier anderswo zu suchen,
nämlich in dem Embryonal- und Fötalzustande des Menschen. Embryo
und Fötus sind nämlich im Mutterleibe großen Gefahren und krank-
haften Beeinflussungen ausgesetzt, und der dem Keim nach gesunde
Mensch kann als Embryo zum Idioten werden. Hier kommt die Er-
zeugerin in erster Linie in Betracht. Weit umfangreicher als direkte
Keimesübertragung ist die Möglichkeit und Gefahr, daß auf Grund
widriger Einwirkungen der Embryo und Fötus, und demgemäß der
Körper eine größere Disposition für bestimmte krankhafte
Zustände erhält. Die Krankheiten können schon bei dem Embryo
und Fötus selbst ihren Anfang nehmen und sind dann wohl an-
geboren, aber nicht angeerbt. Diese Prädisposition äußert sich in
einer verminderten Widerstandsfähigkeit gegen die oben genannten
Krankheitserscheinungen. Auf dem Gebiete des Seelenlebens zeigt
sie sich in verschicdenen Stufen von leichter Erschöpfbarkeit, reiz-
barer Schwäche an bis hin zum Schwachsinn und Idiotismus. Gründe
für den Schwachsinn oder für die in Form der Disposition beginnende
Degenerenz bis hin zum Idiotismus sind besonders die Schwindsucht
der Eltern, Trunksucht und verbrecherische Neigungen, uneheliche Ge-
burten, elende Lebensverhältnisse, großer Kinderreichtum (37 /, Kinder-
sterblichkeit) zu frühe und zu späte Heiraten. Wie weit die Degene-
248 A. Abhandlungen.
renz des menschlichen Geschlechts, namentlich in Beziehung auf
Alkoholismus und Tuberkulose fortschreiten kann, zeigen die neusten
auf dem letzten Ärztekongreß (1903) bekannt gegebenen Forschungen
des Professors BEurıns, wonach die Tuberkuloseinfektion vom 1. bis
5. Lebensjahr 17°/,, bis zum 14. = 33%,, bis zum 18. = 50°,
bis zum 30. = 96°/, der Menschheit ergriffen hat. Welch sichere
Gefahr steht also für denjenigen vor der Tür, der für die verderb-
lichen Wirkungen dieses Menschheitsfeindes besonders disponiert ist!
Namentlich in dicht bevölkerten Volkszentren kann man von einer
allgemeinen Tuberkulosedurchseuchung reden. — Sollen wir nun
fatalistisch dem Zugrundegehen des menschlichen Geschlechts ent-
gegensehen? Nein! Für alle Krankheitsdispositionen und -Infektionen
gibt es ein Allheilmittel. nämlich die gesunde Zeugung und Geburt
und für viele derselben vorbeugende bezw. heilende Mittel,
die in der kulturellen sozialen Lage begründet sind und sich nach
der Art der Erkrankung zu richten haben. Nicht alle Krankheits-
infektionen führen zum Tode, nicht alle Mängel der Eltern zum
Atavrismus der Kinder. Endlich übt die geschlechtliche
Kreuzung mit gesunden Individuen die Hauptwirkung aus
für das Verschwinden oder die Abnahme der Konsti-
tutionsfehler. Nicht an letzter Stelle tritt auch die Erziehung als
Präservativ und Heilmittel auf den Plan.
III. Bedeutung der Vererbung für Jugend- und Volks-
erziehung. Der vorige Abschnitt hat gezeigt, daß viele Kinder
vom Schicksal dazu verurteilt sind, von ihrer Jugend an eine größere
oder geringere, sei es körperliche oder geistige Last durchs Leben zu
schleppen. Nicht immer tragen die Eltern die Schuld dieser Be-
lastung, wenngleich man oft sagen muß: Der Sohn trägt die Missetat
seines Vaters. »Es geht bergab mit mir«, sagt mit bittrer Ironie
Dr. Raxx in Ipsexns »Nora«, »es ist nichts dagegen zu machen. So
eines andern Schuld zu büßen. Wo bleibt da die Gerechtigkeit!
Mein armes unschuldiges Rückgrat muß für meines Vaters Leutnants-
tage büßen. Es ist traurig, daß all der Portwein und Champagner
auf so ein unglückseliges Glied schlagen, das nicht den geringsten
Vorteil davon gehabt hat.« — Der Erzieher beobachtet, das durch-
schnittlich 41/,°/, der Kinder der Großstadt an Skrophulose, 3,7%, an
Nervosität, 7,3°/, an Drüsen, 3,2%, an Rhachitis leiden. Die Wir-
kungen dieser körperlichen Belastung zeigen sich bald im geistigen
Zurückbleiben. Schwachbefähigung und Schwachsinn sind die am
öftesten jedem Lehrer entgegentretenden Eigenschaften, die in den
wenigsten Fällen durch äußere Degenerenzerscheinungen begründet
Hırroxvaus: Vererbung und erbliche Belastung in ihrer Bedeutung usw. 249
oder erklärbar sind. Solche Armen sind dann ein Bleigewicht für
Schule und Lehrer. Man könnte sich ja auf den Standpunkt des
Herrenmenschen stellen und der natürlichen Auslese oder der hart-
herzigen Regel des »Leidenlassens« das Wort reden, aber ein rechter
Jugend- und Volkserzieher kann nicht die große Zahl minderwertiger
Menschen verkümmern lassen nur um des Prinzips der Hebung der
Rasse willen, wie es der Herrenmensch will. Wir müssen den
Menschen so nehmen, wie er ist. Dazu ist vor allen Dingen für
den Erzieher nötig, daß er das Kind nach seinen physischen und
psychischen Anlagen zu erkennen sucht, welches nur auf Grund
immanenter Beobachtungen geschehen kann. Für den Jugend-
erzieher sollte schon bei dem Schuleintritt das Kind weder körper-
lich noch geistig eine tabula rasa sein. Er muß sich mit dem
Kinde, besonders mit dem scheinbar belasteten Kinde!) als Indi-
viduum, dann auch mit dem Typus, dem es entstammt, nämlich den
Eltern bekannt machen. Diese psychopathische Beobachtung wird
ihm manchen Wink für die Behandlungsweise des Kindes
an die Hand geben. Insonderheit wird er bei nervösen und reizbaren
Erscheinungen umsichtig und milde zu Werke gehen, bedenkend,
daß in ihnen manchmal die beobachtbaren Anfänge anormaler Zu-
stände sich zeigen, die bei unrichtiger Behandlung zu Krankheiten
sich entwickeln können. In psychischer Beziehung muß der Erzieher
sich eine Geschicklichkeit in der Analyse des kindlichen Gedanken-
kreises, der gerade bei solchen Kindern von der körperlichen Be-
lastung beeinflußt wird, erwerben. Die Vererbungslinien, welche sich
dem kindlichen "Geiste aufgeprägt haben, muß er je nach ihrer Art
entweder nachzuzeichnen und zu vervollständigen oder aber möglichst
zu verwischen suchen. Man kann zwar ein unbegabtes Kind
nieht zu einem begabten machen; man kann die überkommene
Erbschaft nicht neu schaffen, aber wohl korrigieren, indem man
durch planmäßige Übungen die Kraft steigert. Dies darf
namentlich bei belasteten und gering begabten Kindern nur nach
psychologisch berechneter Methode geschehen — mit Strenge und
Tadel wird bei diesen Bedauernswerten nichts ausgerichtet. Belastete
Kinder müssen durch freundliches Wesen des Lehrers, durch auf-
munterndes Lob fügsam gemacht werden. Der Lehrer hat sie vor
Hänseleien ihrer Mitschüler zu schützen und muß selbst seine Be-
obachtungen unauffällig machen. Schlimmsten Falles hat er aber
auch den Schutz der Gesunden in die Hand zu nehmen, indem er
1) Siehe Broschüre » Jenseits von Gut u. Böse« v. Verf. dies. (Bielefeld, Helmich).
250 A. Abhandlungen.
mitwirkt, daß die geistig oder körperlich unheilbar oder ansteckend
Belasteten aus der Gemeinschaft derer, die durch sie gefährdet sind,
entfernt und zu besonderen Heilstätten gebracht werden. Eine prak-
tische Folgerung dieser Forderungen ist, daß der Erzieher möglichst
lange mit dem ihm anvertrauten Kinde zusammenbleibt.
In Bezug auf das Volks- und Staatsleben bilden Vererbung
und erbliche Belastung einen wesentlichen Teil der sozialen Frage,
welcher der Volkserzieher und Gesetzgeber seine ernsteste Aufmerk-
samkeit zuwenden muß. Auch der Staat muß den Menschen nehmen,
wie er ist, und sein sozialer Bestand ist davon abhängig, daß er ge-
sunde Generationen erzeugt. Die Vorbedingung einer guten Volks-
erziehung ist die gute Erzeugung. Wir müssen hier nochmal auf
die große Bedeutung des Weibes in diesem Punkte zurückkommen.
Mit der Rassenverschlechterung des Weibes geht die des
Volkes Hand in Hand; gesunde Mütter können gesunde Kinder
gebären, denn wie schon oben gezeigt, ist der menschliche Embryo
und Fötus von dem Zustand der Mutter außerordentlich beeinfußt.
Gesund erhalten kann sich das Weib durch eine vernünftige plan-
mäßige Selbsterziehung: regelmäßige Lebensweise, Turnen, Baden,
Abhärtung. Bei einem gesunden Weib ergibt sich ein normaler Ge-
burtsverlauf; es kann das Kind mit eigener Milch nähren und bietet
dadurch das beste Gegenmittel gegen die große Sterblichkeit der
Säuglinge, welch letztere nach den neusten Untersuchungen ihre
Hauptquelle in der Säuglingsmilch haben soll (Professor Bearna). Der
Staat hat im eigenen Interesse die Aufgabe, besonders in der Zeit
der Schwangerschaft für den Schutz des Weibes mit allen ihm zu
Gebote stehenden Mitteln einzutreten. — Von außerordentlicher Be-
deutung ist die Sorge für eine gute Volksernährung. Alle Lei-
stungen des Organismus sind an die Ernährung gebunden. Bei den
Kindern und jugendlichen Personen kommen zu dem gewöhnlichen
Stoffverbrauch, den Wärmeentwicklung, Verdunstung und mechanische
Arbeit der Organzellen beanspruchen, noch diejenigen Erfordernisse
hinzu, welche durch das Wachstum des Körpers bedingt sind. Durch
die Nahrung muß für den rechtzeitigen und genügenden Ersatz der
verbrauchten Stoffe gesorgt werden. Da nämlich der Verbrauch auch
ohne unsern Willen unaufhörlich fortschreitet, so werden bei un-
gcnügender Ernährung die Säfte dem Muskelbestande des Körpers
entzogen, und die Folge ist Abmagerung, Schwächung, größere Dis-
position für Krankheitszustände. Andrerseits ist die Wohlgenährtheit
und Gesundheit des Körpers die beste Schutzwehr gegen Krankheits-
infektionen und in Krankheitsfällen die sicherste Hilfe zur Überwin-
Hirroxvuus: Vererbung und erbliche Belastung in ihrer Bedeutung usw. 951
dung, Darum ist namentlich für alle körperlichen Schwächlinge,
unter Kindern also für die skrophulösen und rhachitischen, eine reich-
liche und passende Ernährung die grundlegende Forderung für alle
weiteren Maßnahmen. Nun sind in Bezug auf den Aufbau der körper-
lichen Organbestandteile die stickstoff- und eiweißreichen Nahrungs-
mittel Milch und Fleisch durch keinen andern Nahrungsstoff zu er-
setzen, woraus wir hier nur folgern möchten, daß namentlich das
erstere, als das billigere, auch von Staats- oder Gemeinde wegen noch
weit genereller in dem Kampfe gegen Schwächezustände besonders
des werdenden Menschengeschlechts herangezogen werden müßte.
Wenn z. B. 10°% aller deutschen Volksschulkinder (rhachitische,
skrophulöse, sonst schwächliche) tagtäglich in der großen Vormittags-
pause je !/, 1 gekochte Milch in der Schule gereicht erhielten, so
würde manche Million, die jetzt für Lungenheilstätten, Siechenhäuser,
Kinderheime usw. ausgegeben werden muß, auf diese Weise zins-
tragender für das deutsche Volk angelegt sein. — Aus dem allen er-
gibt sich: wie im Leben des einzelnen die wichtigste Frage die
Magenfrage ist, so ist auch im Staat neben der Wehrfrage die wich-
tigste die Nährfrage. — Ein weiteres volkserziehliches Mittel ist der
Kampf gegen Alkohol und Unzucht. Wahrhaft grauenvoll
sind die gelegentlich ausgeführten Statistiken über die Folgen des
Alkoholismus. So hat Lomgsroso die Nachkommen eines Trunkenboldes
in einem Verlaufe von 75 Jahren verfolgt und ausgerechnet, daß
280 derselben blind, blödsinnig, schwindsüchtig usw. waren, daß 300
im zartesten Kindesalter dem Tode wieder anheim fielen. Unter den
Wahnsinnigen stammen 12°/, von Trinkern ab. Die bekanntesten
Degenereurerscheinungen an den Nachkommen von Trinkern sind die
Neigung zu Unzucht und Verbrechen, Kleptomanie und Diebstahl,
bei Frauen Unfähigkeit zum Stillen der Kinder, Disposition zu Skro-
phulose und Schwindsucht. Die nach dieser Hinsicht beiderseitig
belasteten Heiraten führen zum baldigen sicheren Untergange der
Familie und des Geschlechts. Der sicherste Eingriff in diese Wunden
am Volkskörper ist die Erziehung von selbständigen Persön-
lichkeiten, und solche zu erziehen, dafür ist die ganze soziale
Gesellschaft mit verantwortlich. Hier durch Eheverbote eingreifen
zu wollen, wäre nutzlos, da die nicht zu verhindernde außer-
eheliche Zeugung die Mißstände nicht beseitigen, sondern verschlim-
mern würde. Zudem arbeitet ja schon die heutige christliche Kultur
mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln daran, die Mißstände auch
auf dem Gebiete der Vererbung möglichst auszugleichen. In Bezug
auf das Einzelleben in der Familie lehrt die Vererbungstheorie, daß
252 A. Abhandlungen.
es hinsichtlich der Keimesanlagen weder Rasse noch Geschlecht gibt,
daß danach also weder die Rasse bestimmend ist für die Erziehung,
noch das Geschlecht. In dem Individuum sind die wesensgleichen
männlichen und weiblichen Keime in gleicher Zahl vorhanden, die
dem bestimmten Geschlecht zugehörenden Eigenschaften und Kräfte
treten nur besonders zu Tage. In der sozialen Gesellschaft
müssen also auch Mann und Weib nicht gegeneinander
sondern nebeneinander arbeiten — jedes auf der für seine
Art von Natur her besonders gegebenen und gewiesenen
Bahn.
Einsichtsvolle Forscher erkennen an, daß auch auf dem Gebiete
der Vererbung noch manches unklar und für weitere Forschung übrig
ist. Sollen wir das Forschen auf diesem Gebiete begrüßen oder be-
fürchten? Lougroso sagt in der Einleitung seiner Schrift »Genie und
Irrsinn«, daß das Seziermesser der Analyse ein Verhängnis sei, das
über Religion und Wahrheit schwebe, bei dem der Forscher jedoch
das eisige Lächeln eines Cynikers bewahren müsse. Er scheint
also der Meinung zu sein, daß die Forschungen über Zeugung und
Vererbung einen der Bausteine zur materialistischen und mechani-
schen Welt- und Menschenerklärung darzustellen geeignet sind. Diese
Annahme ist eine durchaus irrtümliche: Je eingehender und tief-
gründiger die Zeugungs - und Vererbungsvorgänge untersucht
werden, desto wunderbarer und unbegreiflicher erscheinen sie dem
denkenden Geist. Ist das ganze Leben, Wirken und Streben, in
welches wir hineinblickten, nicht der deutlichste Beweis dafür, daß
eine Macht leitend, überschauend, Leben gebend über dem allen steht,
die — unsichtbar, aber doch waltend — göttlich ist! Wir begrüßen
aber um deswillen diese neuzeitlichen Bestrebungen, weil sie in Be-
zug auf Jugend- und Volkserziehung mancherlei neue Wege weisen
und Mittel an die Hand geben.
Insonderheit wird der Jugenderzieher aufs neue an den innigen
Zusammenhang der psychischen und physischen Prozesse erinnert,
und so muß die Lehre von der Vererbung dazu beitragen, das Bürger-
recht der Physiologie in der Pädagogik zu betonen. Wir sind nicht
der Meinung, als ob eine dieser beiden Wissenschaften den Vorrang
vor der andern hätte Körper und Geist sind zwei gleich-
berechtigte, nebeneinander stehende Faktoren. Aufgabe der
Jugenderziehung ist, beide in gleicher Weise zu pflegen und zu
fördern. — Auf dem Gebiete des Volkslebens haben die Unter-
suchungen der letzten Jahre schon manches Resultat gezeitigt, wovon
ExcELHORN: Welche Bedeutung für die Schulhygiene hat die Psychologie usw. 253
einerseits die Gesetze zum Schutze des keimenden Lebens und der
Schwangerschaft, andrerseits die staatlichen Bestrebungen zur Be-
kämpfung der Unsittlichkeit und Trunksucht ein beredtes Zeugnis ab-
legen. Die Anzeichen mehren sich, wonach auch innerhalb der
Volksgemeinschaft selbst der Kampf gegen diese degenerierenden, das
Volk durchseuchenden Mächte in vielen Lagern aufgenommen wird.
Der schöne Lohn dieser volkserziehlichen Bestrebungen wird nicht
ausbleiben, denn durch die Hebung des Volkskörpers wird sicherlich
auch die Hebung des Volksgeistes herbeigeführt.
2. Welche Bedeutung für die Schulhygiene hat die
Psychologie und Psychopathologie der Entwicklungs-
jahre?
Vortrag, gehalten auf dem I. internationalen Kongreß für Schulhygiene zu Nürnberg.
Von
Medizinalrat Dr. Engelhorn in Göppingen (Württemberg).
Mit der Frage: »Welche Bedeutung für die Schulhygiene hat
die Psychologie und Psychopathologie der Entwicklungsjahre?« be-
trete ich ein Grenzgebiet der medizinischen und pädagogischen
Forschung, das bis jetzt noch recht wenig Bearbeitung gefunden hat.
Die Forschungen über die Seele des Kindes, welche wir den Psycho-
logen und Pädagogen verdanken, schließen meist mit den eigent-
lichen Kinderjahren ab und werfen nur noch kurze Streiflichter auf
das für uns in Betracht kommende Jugendalter, wie uns ein Blick
auf die vorzüglichen Arbeiten von PREYER, STRÜMPELL, SPITZNER, COM-
PAYRÉ, TRÜPER u. a. klar macht. Ähnlich verhält es sich mit den
Seelenstörungen des Kindesalters und ihren Bearbeitungen durch
MorEL, EsquIroL, EmMmiscHAus, Koch, ZIEHEN und viele andere.
Sollen wir vielleicht aus der Tatsache, daß zusammenhängende
Schilderungen unseres Gegenstandes fehlen, den Schluß ziehen, daß
den Entwicklungsjahren eine schulhygienische Bedeutung gar nicht
zukommt? Nichts wäre unrichtiger als das und ehe wir zu einem
solchen Schlusse kommen, müssen wir nach den Gründen fragen,
warum die Entwicklungsjahre schulhygienisch noch so wenig beachtet
sind. Einer der wichtigsten Gründe hiefür ist die Schwierigkeit der
Forschung und zwar liegt die Schwierigkeit einmal darin, daß der
Gegenstand auf dem Grenzgebiete zwischen pädagogischem und natur-
wissenschaftlichem Erkennen liegt. Die Pädagogen sind nur zu gerne
geneigt, in den Entwicklungsjahren eine gefährliche Zeit zu erblicken,
254 A. Abhandlungen.
welche vornehmlich das Auftreten geschlechtlicher Unarten und
Sünden begünstigt, die naturwissenschaftliche Forschung beschäftigt
sich mit der großen, körperlichen und seelischen Umwälzung, welche
mit der Entfaltung zur Geschlechtsreife einhergeht und fragt nicht
danach, ob die Bahnen, in welchen sich diese bewegt, erzieherische
Bedeutung haben oder nicht. Und so fehlt nur allzuleicht zwischen
beiden Richtungen das verknüpfende geistige Band. Dieses Bandes
aber bedürfen wir bei der Lösung aller schulhygienischen Fragen
und es fester zu knüpfen, sollte das ernsteste Bestreben von beiden
Seiten sein.
Eine weitere Schwierigkeit, die Bedeutung der Entwicklungsjahre
für die Schulhygiene im einzelnen zu präzisieren, liegt in den zeit-
lichen Schwankungen, mit welchen diese Periode im Leben des ein-
zelnen sich einzustellen pflegt. Die geschlechtliche Entwicklung,
welche bei Knaben etwas später eintritt, als bei Mädchen, fällt in
das 12.—16. Lebensjahr. Bei diesem beträchtlichen Spielraum ist es
von vornherein klar, welchen Schwierigkeiten wir begegnen, wollen
wir allgemeingültige schulhygienische Forderungen für diesen Zeit-
raum aufstellen. Es sind dieselben Schwierigkeiten, auf welche
Euwinsuaus!) bei der Begrenzung der Kinderpsychosen aufmerksam
gemacht hat, indem er keine bestimmten Jahre für die Störungen
des Kindesalters in Anspruch nimmt, sondern den kindlichen Habitus
der Seele unabhängig von der Zahl der Jahre seiner Einteilung zu
Grunde legt. Ebenso müssen wir für die Zeit der geschlechtlichen
Entwicklung darauf verzichten, ein bestimmtes Lebensjahr für ihren
Beginn und ihr Aufhören zu bezeichnen, sind vielmehr darauf an-
gewiesen, in verhältnismäßig weiten Grenzen und in strenger Indi-
vidualisierung nach den körperlichen und geistigen Zeichen zu suchen,
welche den Eintritt der geschlechtlichen Entwicklung bekunden.
Eine weitere Schwierigkeit, die schulhygienische Bedeutung der
Entwicklungsjahre zu erkennen, liegt in der Methode der Erforschung,
welche eine andere für den Arzt ist und wieder eine andere für
den Pädagogen. Dem ersteren sind untrügliche naturwissenschaftliche
Zeichen und Mittel, sie zu erforschen, an die Hand gegeben, die dem
andern naturgemäß versagt sind. Die körperliche Untersuchung nach
ärztlichen Methoden muß seitens des Lehrers ersetzt werden durch
eine Reihe von Beobachtungen und Kombinationen, so daß er sich
in einer ungleich schwereren Lage befindet als der erstere. Zweifel-
los ist dies mit ein Grund, warum die Schulhygiene den Ent-
!) Esımiscumaus, Die psychischen Störungen des Kindesalters. Tübingen 1887.
EsgeLHorn: Welche Bedeutung für die Schulhygiene hat die Psychologie usw. 255
wicklungsjahren gegenüber noch keine bestimmte Stellung einge-
nommen hat.
Unüberwindlich sind aber alle diese Schwierigkeiten nicht und
wenn ich heute den Versuch mache, der Bedeutung der Entwicklungs-
jahre für die Schulhygiene näher zu treten, so kann es im Rahmen
dieses kurzen Vortrages nicht meine Aufgabe sein, das in Rede
stehende Gebiet erschöpfend zu behandeln, sondern ich beschränke
mich darauf eine Anregung zu bieten, von der ich hoffe, daß sie zu
weiterer Bearbeitung unseres Stoffes den Anstoß gibt.
Wenn wir die Psychologie der Entwicklungsjahre ins Auge
fassen, so können wir dies nur auf Grund der physiologischen Vor-
gänge, welche sich in diesem Lebensalter abspielen. Da ich diese
in unserem Kreise als bekannt voraussetzen darf, genügt es, kurz
daran zu erinnern, daß die in dem oben erwähnten Zeitraum ein-
tretende Geschlechtsentwicklung zunächst eine rein örtliche ist, in
dem die vorher kindlichen Geschlechtsteile anfangen zu wachsen, sich
zu vergrößern und unter saftreicher Schwellung beginnen ihre spezi-
fischen Funktionen auszuüben, die Samenbereitung beim Jüngling,
die Reifung des Eies und seine Loßstoßung in 4 wöchentlichen, von
Blutungen aus den Geschlechtsteilen begleiteten Zwischenräumen
beim Mädchen. Mit diesen Vorgängen, welche in ihren Anfängen
ziemlich plötzlich eintreten, zu ihrer Vollendung aber eine verschieden
lange, auf 1, 2 und mehrere Jahre sich erstreckende Zeit gebrauchen,
ist ein intensives allgemeines körperliches Wachstum verbunden,
während dessen sich der Geschlechtstypus deutlicher ausbildet. Der
Knabe entfaltet sich zum Jüngling, das Gesicht zeigt die ersten Spuren
der Behaarung, der Kehlkopf nimmt größere Dimensionen an und
die unter allerlei Mißtönen sich vollziehende Mutierung der Stimme
endet damit, daß die Stimme durchschnittlich ungefähr eine Oktave
tiefer wird. Der Brustkorb weitet sich, die Schultern werden breiter,
die Muskeln derber und fester. Beim Mädchen entwickeln sich die
Brüste, die Hüften werden breiter und neben dem Längenwachstum
macht sich jene Zunahme des Fettpolsters bemerklich, welche der
jungfräulichen Gestalt ihre runden und weichen Formen und zarten
Linien verleiht.
Wie gestaltet sich nun in dieser Periode das Seelenleben?
An die Spitze der Beantwortung dieser Frage stelle ich den
Satz, welchen Coxrayr&!) in seiner Entwicklung der Kindesseele aus-
1) Coxpayrii, GaprieL, Die Entwicklung der Kindesscele, übersetzt von User.
Altenburg 1900. S. 459.
256 A. Abhandlungen.
gesprochen hat: »Abgesehen von den neuen Elementen, welche die
Leidenschaften der Pubertät im Herzen des jungen Menschen er-
zeugen, kann die Zukunft die einzelnen (nämlich: psychischen) Fähig-
keiten nur erweitern, ohne ihre Zahl zu vermehren.«< Man kann die
Richtigkeit dieses Satzes vollkommen anerkennen und trotzdem von
einer Umwälzung des Seelenlebens der Entwicklungsjahre reden. Um
von den Leidenschaften der Pubertät gleich eine herauszugreifen, er-
wähne ich das Auftreten des Geschlechtstriebs und seine vorzeitige
Befriedigung, nicht etwa, weil ich sie schulhygienisch für besonders
wichtig halte, sondern weil ich mir eine Unterlassung zu schulden
kommen lassen würde, wenn ich sie hier nicht besprechen würde.
Die vorzeitige Befriedigung des Geschlechtstriebs ist vielmehr gerade
diejenige Seite der Pubertätserscheinungen, zu welcher Ärzte und
Pädagogen am meisten Stellung genommen haben und wenn es sich
nur um die Verirrungen handeln würde, welche in dieser Richtung
beobachtet werden, würde es nicht der Mühe gelohnt haben, die Ent-
wicklungsjahre näher zu besprechen. Noch ist zwar eine vollkommene
Einigung in der Wertschätzung der Masturbation nach ihrer erziehe-
rischen Seite nicht festzustellen, aber es darf doch freudig anerkannt
werden, daß man sich im ganzen daran gewöhnt hat, eine extreme
Stellung nach der einen Seite sowohl, welche in der Masturbation
nur eine »geschlechtliche Unart« erblickt, als nach der andern, welche
den einmal ertappten Sünder und Sünderin nun schonungslos zu den
Verdammten wirft, aufzugeben. Überdies fallen die gefährlichsten
Masturbanten bekanntlich gar nicht in das Pubertätsalter, sondern
beginnen ihre Gewohnheiten schon viel früher, so daß sie schon des-
halb nicht in den Bereich unseres Gegenstandes gehören. Auch bei
andern kann vor allzueifriger Beeinflussung nur gewarnt werden,
denn es ist eine Erfahrung, daß man in der Regel mit seinen
Warnungen zu spät kommt, da aber, wo man unnötigerweise diesen
heikeln Punkt berührt und Unschuldige verdächtigt, nur allzuleicht
ein nicht wieder gut zu machendes Unheil anrichtet.
Nachdem wir diesen Punkt vorweggenommen, ist es uns, als
hätten wir einen unschönen Flecken aus einem lichtvollen Bilde weg-
gewischt und wir haben den Blick frei gemacht zur Betrachtung des
Schönen und Erhebenden, was während der Entwicklungsjahre in der
Kindesseele vorgeht. Worin bestehen nun diese Vorgänge? Zweierlei
Dinge sind es, die wir beobachten: das Wachsen und Sichentfalten
der schon vorhandenen Fähigkeiten der Seele und das Auftreten
neuer Leidenschaften und Gärungen, neuer Strebungen und Wünsche,
mit denen der mächtige, auf die Erhaltung der Gattung gerichtete
ENGELHORN: Welche Bedeutung für die Schulhygiene hat die Psychologie usw. 257
Trieb teilweise bewußt, mehr noch unbewußt die junge Seele erfüllt.
Es ist nicht leicht, das Wachstum der schon entwickelten Fähigkeiten
und das Auftreten neuer Elemente im einzelnen voneinander zu
trennen, da beide wechselseitig aufeinander wirken: der freiere geistige
Blick, die wachsende Vernunft zügelt den triebartigen Impuls einer
mächtigen Strebung, das gewaltige Vorwärtsdrängen eines starken
Gefühls gibt den Anstoß zur Erweiterung des geistigen Gesichts-
kreises, und gibt dem Willen eine neue Richtung und verstärkte Kraft.
Dies gibt uns Veranlassung, die mit der Pubertät eintretende Um-
wälzung des Seelenlebens im Zusammenhang zu betrachten, ohne
nach den formalen Unterschieden zu fragen, die durch die Aus-
bildung vorhandener Eigenschaften und das Auftreten neuer ele-
mentarer Vorgänge entstehen.
Dabei sehen wir, daß die Pubertät, wie G. von Rnopex!) sich
ausdrückt, »die Zeit besonderer geistiger Erhebung ist, die Zeit des
Idealismus und der Begeisterung für alles Schöne und Hohe, die Zeit
vielseitiger und lebhafter Gefühlsentwicklung«
Wäre dieses geistige Wachstum ein gleichmäßiges, wäre die Ent-
faltung der intellektuellen und gemütlichen Eigenschaften eine stetige
und die Harmonie zwischen geistigem Erfassen und der Expansion
des Gemütes eine vollkommene, so könnten wir diese Zeit nicht als
eine gefährliche bezeichnen und nicht als eine solche, welche der
Erziehung besondere Schwierigkeiten bereitet. Statt dessen sehen
wir aber die allergrößten Schwankungen in der Schnelligkeit des
geistigen Wachstums, wir sehen bald ein Überwiegen des scharf
abwägenden Verstandes und der Sicherheit des Urteils, bald eine
einseitige Gefühlsentwicklung und ein bedenkliches Überwuchern
himmelsstürmenden Strebens, mit welchem die Zunahme der
Vernunft nicht gleichen Schritt hält. Wir begegnen dem ge-
hobenen Selbstgefühl, das das eine Mal zum mutigen Erfassen neuer
Ziele führt, das andere Mal in der eigenen Kraft zu unberechtigter
Überhebung und krankhaftem Dünkel. Wir schen das Auflodern
einer kräftigen Phantasie, die die Seele mit reinen Bildern künstle-
rischer Anschauung erfüllt, ein anderes Mal mit Truggebilden einer
inhaltslosen Träumerei. In stillen Stunden der gerne gesuchten Einsam-
keit entfaltet sich eine Innerlichkeit der Empfindung, die einmal zur
Vertiefung eines gesunden religiösen Lebens führt, ein anderes Mal
zu bangen Zweifeln und zynischem Atheismus oder zu einer Weich-
lichkeit des Empfindens mit religiöser Schwärmerei, zu der sich be-
1) Reis, Handbuch der Pädagogik. S. 856.
Dio Kindorfchler. IX. Jahrgang. 17
258 A. Abhandlungen.
kanntlich nur zu gern der sinnliche Zug eines blühenden Sexualismus
gesellt. Weltschmerzliche Anwandlungen bestehen neben ausgelassener
Fröhlichkeit, deren rascher Wechsel nur zu oft die innere Kausalität
vermissen läßt: das Mißverhältnis zwischen der eigenen Wertschätzung
des titanenhaften Strebens und der geringen Anerkennung, die ihm
von außen zu teil wird, führt zu einer schwächlichen Empfindsamkeit
und das Gefühl des Verkanntwerdens bereitet lange Stunden dem,
der sich für etwas Höheres geboren fühlt. Nehmen wir hinzu, daß
von den Kinderfehlern, welche STrüMPELL!) in seiner pädagogischen
Pathologie alphabetisch zusammengestellt hat, einzelne ganz besonders
den Entwicklungsjahren angehören wie z. B. Ängstlichkeit, Aus-
gelassenheit, Abulie, Abspannung mit Unlust zur Arbeit, bei Knaben
gerne beobachtet nach Alkoholgenuß, Affektieren, ein häufiger Fehler
der Mädchen, Augendienerei, Apperzeptionsfehler, Blasierheit, Koketterie,
eine häßliche Eigenschaft der Mädchen namentlich auch ihren Lehrern
gegenüber beobachtet, Eigensinn, Empfindlichkeit, Eitelkeit, exaltiertes
Wesen, Flatterhaftigkeit, Feigheit, Freiheitsdrang, Frühreife, Grillen
und Launenhaftigkeit, Jähzorn, Klatschsucht, Mißtrauen, Naseweisheit,
Pennalismus, der sich nach STRÜMPELL zusammensetzt aus: »sinnloser
Gottlosigkeit, Übungen der Falschheit, systematischer Grausamkeit,
tätigem Ungehorsam, Arbeitsscheu und dem Geist der Genossenschaft
im Bösen, — Putzsucht, rührselige Stimmungen, Reizbarkeit, Schüchtern-
heit, Schamlosigkeit, Scheinheiligkeit, Unkeuschheit, Unbeständigkeit,
Vielwisserei und Altklugheit, Verführbarkeit und Zerstreutheit, — so
wird das Bild der aufkeimenden Seele immer vielgestaltiger und wenn
wir beobachten, wie die einzelnen Fehler sich gruppieren, wie oft
häßliche Eigenschaften bei Kindern sich zeigen, die wir stets für die
besten hielten, so bestätigt sich für uns der Ausspruch Gorkıs, der
in seinem »Nachtasyl« den Pilger sagen läßt: »Der Mensch ist nicht
gut oder böse, sondern er ist manchmal gut und manchmal böse.«
Eine wichtige Rolle in der Beurteilung der seelischen Eigen-
schaften des Pubertätsalters spieit auch die Abhängigkeit des geistigen
Wachstums vom körperlichen, welches durchaus nicht immer gleichen
Schritt hält und namentlich die Tatsache, daß die geistige Entwick-
lung bei gesteigertem Körperwachstum oft geradezu stillsteht oder
zum mindesten stillzustehen scheint, bedarf der größern Beachtung
seitens der Schulhygiene So sehen wir denn in der Entwicklung
der Seele im Pubertätsalter ein ziemlich buntes Gewirr und wir haben
—
') STRÜMPELL, Die pädagogische Pathologie oder die Lehre von den Fehlern
der Kinder. 3. Aufl., herausg. von Dr. ALFRED Spitzxer. S. 30 ff. Leipzig 1899.
EnGeLHoRn: Welche Bedeutung für die Schulhygiene hat die Psychologie usw. 259
recht, wenn wir diese Zeit eine Zeit des Gärens nennen, und an das
Goethesche Wort denken:
»Wenn sich der Most auch ganz absonderlich gebärdet,
Am Ende gibt es doch n’en Wein.«
Wenn ich nun noch einen Blick auf die psychischen Störungen
der Entwicklungsjahre werfe, so möchte ich von vornherein hervor-
heben, daß ich eine Begünstigung des Ausbruchs von Psychosen
durch die Schule und ihre Einrichtungen nicht annehme, daß ich
vielmehr die Schule und ihren wohltätigen erzieherischen Einfluß
für eines der hauptsächlichsten Mittel halte, die Schädigungen zu
paralysieren, welche der jugendlichen Seele von anderer Seite drohen.
Aber gerade dadurch sind die Psychosen des Jugendalters von her-
vorragender schulhygienischer Bedeutung und wir dürfen die traurige
Erscheinung, daß dem eben sich entfaltenden Geistesleben die Zer-
störung droht wie die Frühlingsblüte der Maifrost, nicht unbeachtet
lassen.
Die Ursachen der geistigen Erkrankung im jugendlichen Alter
sind wie wir gesehen haben, nicht in der Schule zu suchen, wie
denn geistige Anstrengung an sich bekanntlich nicht leicht zu
Geistesstörungen führt, da das abstrakte, affektlose Denken an die
Nerventätigkeit keine übermäßigen Anforderungen stellt. Die Störungen,
die wir im Seelenleben des Jugendalters beobachten, verdanken ihre
Entstehung ganz andern Einflüssen, von denen wir die Vererbung
nervöser Störungen und Geisteskrankheiten der Eltern und Voreltern,
den vererbten und den erworbenen Alkoholismus, die vererbte und
erworbene Syphilis in erster Linie zu berücksichtigen haben. Erst in
zweiter Linie kommen eine Reihe von Ernährungsstörungen bei
Rhachitis, Skrophulose und Infektionskrankheiten in Betracht. Als
begünstigend wirken nun noch eine Reihe von Verkehrtheiten des
Familienlebens, vorzeitige Genüsse in gesellschaftlicher Hinsicht, un-
passende Lektüre, frühzeitiger Theaterbesuch u. dgl.
Die Formen, unter welchen die Seelenstörungen des Jugend-
alters vorkommen sind vor allem die Imbecillität und Debilität, die
Hebephrenie, die epileptischen und hysterischen Irreseinsformen und
die psychischen und psychopathischen Minderwertigkeiten Kocas, eine
Bezeichnung, ohne die wir, trotzdem sie ZıEBEN !) ein unklares Schlag-
wort nennt, kaum mehr auskommen können, seit sie in der pädago-
gischen Pathologie sich eingebürgert und man sich gewöhnt hat, bei
ihr bestimmte hereditäre Einflüsse besonders zu berücksichtigen, deren
1) Zunes, Die Geisteskrankheiten des Kindesalters. Berlin 1902.
17*
a a a a nn e a a a e a a ae no on
260 A. Abhandlungen.
Würdigung für die Erziehung wir außer Koch selbst namentlich
STRÜMPELL und Trürrr!) verdanken. Gerade die primären Störungen
in den Affekten, im ethischen Verhalten und die ersten Defekte der
Intelligenz sind es, welche die Beachtung der Pädagogen besonders
verdienen. |
Was die Häufigkeit der Psychosen im Jugendalter betrifft, so
ist dieselbe verschieden zu bewerten, je nachdem wir die im ganzen
selteneren vollkommen zum Ausbruch gelangten Krankheitsformen oder
nur kleinere Gruppen von Störungen und Fehlerhaftigkeiten, Anfänge
von Minderwertigkeiten in Betracht ziehen. Letztere können wir
‚aber gerade im Interesse der Entwicklung der pathologischen Päda-
gogik gar nicht weit genug ausdehnen und erst wenn die gründliche
Kenntnis derselben ein Gemeingut der Ärzte und Pädagogen ist,
werden wir im stande sein, sie schulhygienisch ausreichend zu
verwerten.
Wenn ich es versucht habe, in kurzen Zügen die seelische Ent-
wicklung und ihre Störung in den Pubertätsjahren zu schildern, so
dürfte daraus hervorgehen, daß wir es mit einem besonderen, schul-
hygienisch bedeutungsvollen Lebensabschnitt zu tun haben.
Die schulhygienischen Forderungen, welche sich aus dem psychi-
schen Verhalten in den Entwicklungsjahren ableiten lassen, sind zu-
nächst die einer streng individualisierenden Behandlung in der Er-
ziehung und im Unterricht. Diese Forderung, welche schließlich für
alle Lebensalter gilt, ist besonders wichtig in einem Alter, das so
hervorragende psychische Eigentümlichkeiten hat wie das in Rede
stehende. Der aufstrebende Jüngling und das geistig reifende Mädchen
hat ein Anrecht darauf, in seinem seelischen Entwicklungsgang ver-
standen und unterstützt zu werden. Denn wo ein solches Ver-
ständnis fehlt, ist der Quälerei, des Verkanntwerdens und der Ver-
kümmerung der schönsten Blüten kein Ende. Wer sich von den
Seelenschmerzen eines solchen Jünglings überzeugen will, dessen
edelsten Absichten nicht verstanden wurden, der lese einmal den
»Joggelic des beliebten Schweizer Schriftstellers Heer, der uns ein
ergreifendes Bild seiner eigenen Entwicklung und ihrer Hemmung
durch unvernünftige erzieherische Einflüsse entwirft.
Neben der allgemeinen Forderung einer individualisierenden Be-
handlung möchte ich noch auf Grund meiner Ausführungen gegen
zwei bestehende Einrichtungen zu Felde ziehen und zwar gegen jede
1) Trürer, Die Anfänge der abnormen Erscheinungen im kindlichen Seelen-
leben. Altenburg 1902.
Enerınorv: Welche Bedeutung für die Schulhygiene hat die Psychologie usw. 9261
Prüfung in den Jahren der Entwicklung und zweitens gegen jede
Einrichtung, welche dieser Altersklasse ein religiöses Bekenntnis ab-
nötigt.
Die Abschaffung der Prüfungen in der geschilderten Periode be-
gründe ich einerseits mit dem Seelenzustande, den ich zu beschreiben
mich bemüht und der durch seine Besonderheiten von selbst ge-
bieterisch verlangt, den Schülern in dieser Zeit alle unnütze Quälerei
und namentlich die unnötige Belastung des Gedächtnisses zu ersparen.
Das was durch diese Prüfungen erreicht werden soll, die Entscheidung,
ob der Schüler für die nächste Altersklasse, für den einjährigen
Dienst, für ein bestimmtes Fachstudium die nötige Reife besitzt, ob-
die Schülerin zum Lehrberuf, zur Telephonistin oder zur gelehrten
Karriere die nötigen Vorkenntnisse besitzt, — diese Entscheidung
kann wohl ohne Schwierigkeit auf Grund des Durchschnitts dessen
getroffen werden, was während des ganzen Schuljahres geleistet wurde..
Ich begründe aber die Abschaffung aller Prüfungen im fraglichen
Alter noch durch die spezielle Erfahrung, die ich früher als Arzt an
einem sogenannten niederen Seminar gemacht habe und die darin
bestand, daß die aus einem besonders schwierigen Examen hervor-
gegangenen Zöglinge desselben mindestens ein Semester lang, oft länger
alle möglichen Formen geistiger Erschöpfung gezeigt haben und daß
ihre höchst schwankenden Leistungen erst lange nachher in ein ge-
wisses Gleichgewicht gebracht werden konnten nicht ohne die be-
trübende Erscheinung, daß hochbegabte Zöglinge, die unter den Ersten
bei der Prüfung waren, einen bedenklichen Stillstand ihres geistigen
Fortschreitens an den Tag legten.
Auch die Forderung, einen religiösen Bekenntniszwang nicht vor
Abschluß der Entwicklungsjahre zu verlangen, begründe ich mit den
seelischen Eigentümlichkeiten dieser Zeit. Entweder haben wir es.
mit unreifen und gleichgültigen Naturen zu tun, dann wird das reli-
giöse Bekenntnis an sich wertlos oder aber es betrifft nachdenklichere
und ernstere Naturen, die ohnehin von religiösen Zweifeln gequält
sind, so vermehren wir ihre Angst, erschweren den natürlichen Ent-
wicklungsgang zu einer selbständigen Weltanschauung und stören so
das Gleichgewicht der unter Sturm und Drang sich entfaltenden Seele.
nero ru ANANASA
262 B. Mitteilungen.
B. Mitteilungen.
1. Der gegenwärtige Stand der Heilpädagogik in Ungarn.
Von Dr. Paul Ranschburg, Nervenarzt, Chef des psychologischen Laboratoriums
an den ung. königl. heilpädagogischen Anstalten zu Budapest.
Es war das allerletzte Jahrzehnt, das nach langem Stillstand neues
Leben in die Organisation der Institutionen für die Blinden, Taubstummen,
Schwachbefähigten und Schwachsinnigen in Ungarn brachte.
Wie es so oft geschieht, begnügte man sich bis dahin mit dem
Heilen der allerärgsten Wunden, mit dem Verdecken der schreiendsten
Defekte. Der allseitig in Anspruch genommene Staat sah in diesen In-
stitutionen nur die humanitäre Seite und begnügte sich sozusagen mit der
Überwachung derselben; die einzelnen Munizipien sorgten je nach ihrer
Einsicht und ihren Geldmitteln für Blinde und Taubstumme, deren Defekte
allzusehr in die Augen springend waren; auch die einzelnen Konfessionen,
sowie hie und da großmütige Stifter, taten je nach ihrem Gutdünken das
Allernötigste.
Zu Ende der 90er Jahre begann es sich dann auch auf diesem Ge-
biete zu regen, besonders als sich entsprechend vorgebildete Kräfte für
die Heilpädagogik zu interessieren begannen. Dieselbe war im Unterrichts-
ministerium unter dem Titel »Humanitäre Institutionen« administrativ der
Sektion für Kunst untergeordnet gewesen, wurde jedoch unter dem Minister
von Wlassich im Jahre 1898 als »Sektion für Heilpädagogik«
reorganisiert und als selbständige Abteilung unter die Leitung des
Sektionsrates Dr. Alexander v. Näray-Szabö gestellt.
Von diesem Zeitpunkt an beginnt eine neue Ära für die Heilpäda-
gogik in Ungarı.
Der Staat, obwohl mit Mitteln für derartige Zwecke selber noch un-
genügend versehen, greift mit starken Händen den verschiedenen, vonein-
ander sozusagen isolierten Institutionen unter die Arme, fördert die Heran-
bildung von entsprechend vorgebildeten Lehrkräften, schafft, wo es an
Initiative durchaus mangelt, wie auf dem Gebiete der Hilfsschulen für
Schwachsinnige, einige Musteranstalten, sorgt für Aufklärung des Publikums
durch gemeinverständliche Vorlesungen und aufklärende, populäre Flug-
schriften, fördert das wissenschaftliche Studium der geistigen Abnormitäten,
lenkt die Aufmerksamkeit der Pädagogen und Ärzte auf die Notwendigkeit
genauer statistischer Erhebungen bezüglich der Ursachen der Sinnesdefekte
und geistiger Abnormitäten, und unterstützt nach Kräften auch materiell
all diese Institutionen.
Wie so oft, wenn der richtige Mann an die richtige Stelle gestellt
wird, zieht ein neuer Geist in scheinbar altersschwache, morsche Insti-
tutionen ein. Vor allem wird dahin gestrebt, das Niveau der Lehrkräfte
zu heben. Von den Pädagogen, die sich mit Taubstummen, Blinden und
Schwachsinnigen, sowie mit Sprachfehlern Behafteten befassen, wird eine,
Der gegenwärtige Stand der Heilpädagogik in Ungarn. 263
die gewöhnliche Volksschullehrerbildung bedeutend überragende Vor-
bildung verlangt, deren Erlangung das Selbstbewußtsein dieser Garde be-
deutend und begründeterweise erhöht, sie mit dem Bewußtsein ihrer
schweren, dabei aber so interessanten und erhebenden Aufgabe erfüllt. Den
Pädagogen werden überall, wo dies angeht, psychiatrisch geschulte Ärzte
an die Seite gegeben, und es wird Sorge getragen, daß hiedurch keine
Rivalitäten betreffs der Führung, sondern richtig koordiniertes, segensreiches
Zusammenwirken der verschiedenartigen Kräfte ermöglicht werde.
Um einigermaßen in die notwendigsten Details einzugehen, wollen
wir bier folgendes anführen.
Die materielle Unterstützung und Förderung heilpädagogischer Insti-
tutionen seitens der Staaten geschieht nach dem Prinzipe, daß — von den
ganz staatlichen Anstalten abgesehen — die Besoldung der Lehrkräfte der
in der Provinz von den Munizipien errichteten und zu errichtenden Blinden-
und Taubstummenanstalten durch den Staat erfolgt. Dank der Anwendung
dieses Prinzipes stieg die Zahl der Taubstummen-Anstalten von 5
auf 14, die der Blinden-Anstalten von 1 auf 4, die Idiotenanstalt
wurde überhaupt verstaatlicht, für schwachbefähigte und für schwach-
sinnige Kinder wurden in der Hauptstadt 2 Schulen errichtet, und es
wird für dieselben soeben in der Provinz eine geeignete Beschäftigungs-
kolonie gegründet. Während die bürgerlichen Kreise zu Beginn den Hilfs-
schulen fast feindlich gegenüberstanden, hat sich die staatliche Initiative
auf diesem Gebiet im Laufe einiger Jahre glänzend bewährt; die beiden
Hilfsschulen können nicht ein Drittel der Bewerber fassen, und nun richtet
auch die hauptstädtische Kommune an mehreren ihrer Volksschulen Hilfs-
klassen (bisher an 12 Schulen) für Schwachbefähigte ein. Für die Be-
handlung der Sprachfehler wurde ein ständiger Kursus eröffnet und
ein staatlicher Ferienkurs für Lehrer, die sich in der Behandlung der
Sprachfehler auszubilden wünschen, unter Leitung des Herrn Univ.-Dozenten
Dr. v. Sarbö errichtet.
Für die eine Taubstummenschule, die Hilfsschule für Schwachbefähigte
und für den Sprachfehler- Kurs wurde in der Hauptstadt ein stattliches
gemeinsames Gebäude, »Heilpädagogische Institute« benannt, aufgeführt,
welches nunmehr auch das an dieselben angeschlossene, von Dr. Ransch-
burg gegründete und geleitete psychologische Laboratorium be-
herbergt. Dasselbe ist mit Apparaten zu allgemein-, sowie pädagogisch
psychologischen Untersuchungen entsprechend reichlich ausgestattet und
dient ständig mehreren Pädagogen, Ärzten, Hörern der Philosophie und
Medizin als Heimstätte wissenschaftlicher Arbeiten. Daselbst werden die
Schüler der Hilfsschule ärztlich und mit Hilfe psychologischer Methoden
auch auf ihre einzelnen Fähigkeiten in intensiver Weise untersucht und
demgemäß den pädagogischen Leitern der Schule mit Aufklärung, eventuell
den Eltern mit ärztlichen Vorschriften gedient. Das Laboratorium genießt
eine angemessene staatliche Subvention.e Vom Herbst an soll daselbst
auch eine öffentliche Ordination für abnorme Kinder eröffnet
werden. Gegenwärtig führt daselbst Schreiber dieser Zeilen 12 haupt-
städtische Lehrer in die Untersuchungs-Methoden der Kinderforschung ein.
294 B. Mitteilungen.
Veranstalter des Kursus ist die ungarische Kommission für Kinder-
forschung, an deren Spitze die beiden Präsidenten: Graf Alexander
v. Telelli und Sektionsrat Dr. v. Näray-Szabö, sowie Vize-Präsident
Präparandenanstalts-Direktor Ladislaus Nazy stehen.
Den Schwerpunkt der von Sektionsrat Dr. v. Näray-Szabö in An-
griff genommenen Reformtätigkeit auf dem Gebiete der heilpädagogischen
Institutionen bildet die einheitliche Ausbildung der Lehrkräfte
für sämtliche heilpädagogische Lehrzweige.
Es wurde ein einheitlicher Lehrerbildungskurs für heilpädagogische
Fachkräfte ins Leben gerufen. Die Speziallehrerbildung, welcher früher
für die Schulen für Blinde, Taubstumme usw. gesondert erfolgte, wurde
vereinigt und ein gemeinsamer Lehrplan, für sämtliche Kandidaten obligat,
geschaffen.
Die Grundlage dieser Ausbildung ist die allgemeine Pädagogik. Die
Aufnahme erfolgt auf Grund eines Volksschul - (Elementarschul -) Lehrer-
diploms. Der Lelhrkurs dauert 2 Jahre, wobei das erste Jahr mehr für
die theoretische, das zweite für die praktische Ausbildung in Anspruch
genommen wird.
Der erste Jahrgang wird in Budapest absolviert. Spezialgegenstände
sind: Anatomie und Physiologie der Sinnesorgane und des Zentralnerven-
systems; Psychologie mit Berücksichtigung der Kinderpsychologie und
Psychopathologie; Physiologie und Pathologie der Sprache; spezielle
Methodik; Erziehungslehre und Geschichte der verschiedenen Zweige des
Bildungswesens für Abnorme.
Während des ersten Jahrganges werden die Kandidaten in den ver-
schiedenen hauptstädtischen Anstalten für abnorme Kinder abwechselnd
untergebracht und erhalten nebst freier Wohnung und voller Pension ein
Jahres - Stipendium von 480 Kronen (400 Mark). Zum Schluß des ersten
Jahres bestehen sie eine Prüfung in der Anatomie und Physiologie der
Sinnesorgane und des Zentralnervensystems, in der Psychologie, der
Phonetik und in der Behandlung der Sprachfehler.
Im zweiten Jahre werden die Kandidaten in verschiedene Taub-
stummenanstalten als provisorisch ernannte staatliche Elementarschullehrer
eingeteilt, haben zu Ende des Jahres schriftliche und mündliche Prüfung
in der speziellen Methodik, in Erziehungslehre und der Geschichte und
Literatur des allgemeinen Abnormenbildungswesens, usw. zu bestehen und
erhalten sodann ihr einheitlich gültiges Diplom für den Unterricht abnormer
Kinder.
Soviel bezüglich der Ausbildung der Lehrkräfte.
Was die Fürsorge für die abnormen Kinder nach Absolvierung der
Schule anbelangt, so ist vorläufig am meisten für die Blinden gesorgt.
Der Landes-Unterstützungsverein für Blinde sorgt für Errichtung besonderer
Beschäftigungsheime, vermittelt auch Beschäftigungen für Blinde, Indu-
strielle und Musikanten, und sorgt für den Verkauf der von den Blinden
erzeugten Artikel, sowie für die Unterstützung der Notleidenden.
Behufs weiterer Ausbildung, Unterstützung, resp. zeitweiliger Be-
schäftigung der die Schule verlassenden bildungsfähigen Idioten und
Erziehung und Krankheit. 265
Schwachsinnigen wird soeben in der Provinz eine geeignete Beschäftigungs-
Kolonie errichtet.
Es mag noch bemerkt werden, daß für die bildungsfähigen Idioten
2 private Anstalten, für die nicht bildungsfähigen Idioten eine Privat-
Anstalt, für die nicht zahlungsfähigen eine besondere Abteilung auf der
Landesirrenanstalt Leopoldifeld zu Budapest, für epileptische Kinder in der
Provinz eine staatlich beaufsichtigte Privatanstalt bestehen.
Wie ersichtlich, sind bei uns in Ungarn die heilpädagogischen In-
stitutionen, wenn auch noch bei weitem nicht im Blühen, so doch wenigstens
in reger Entwicklung begriffen. Die staatliche Fürsorge zeigt schon nach
vielen Richtungen ihre segensreichen Wirkungen; leider ist der Hang, jede
Anregung und alle Durchführung, besonders aber die Lösung der materi-
ellen Schwierigkeiten, vom Staate zu verlangen, noch viel zu verbreitet.
Ein wahres Glück, daß wenigstens seitens unseres Unterrichtsministers
Albert v. Berzeviczy diesen Institutionen reges Interesse und ein
warmes Herz entgegengebracht wird.
2. Erziehung und Krankheit.
Von Dr. med. Hermann, Kinderarzt in Heidelberg.
Kranke Kinder erziehen — was anders sollen und zum Teil wollen
unsere Spezialanstalten für schwachsinnige, nervöse, für moralisch minder-
wertige, degenerierte Kinder? Wie ein Sonnenstrahl dringt die Erkenntnis
durch das Land, daß man diese unglücklichen Kranken erkennen und aus
ihrer unkundigen Umgebung entfernen muß. Von den bahnbrechenden Ideen
dieser neuen wissenschaftlichen Forschung will ich nicht reden. Ich möchte
eine weitere Frage berühren, vor die jeder Vater, jede Mutter einmal, die
meisten mehrmals gestellt werden: »Wie habe ich als Erzieher mich
dem kranken Kinde gegenüber zu verhalten?«
Es wird wohl niemand geben, der in solchen beängstigenden Zeiten
sich gewissenhafte Vorstellungen macht, ob dieses oder jenes Vorgehen
erzieherisch richtig oder unrichtig ist — ein jeder lebt nur dem Gedanken,
dem Kinde die besten Heilungsmöglichkeiten zu verschaffen und ihm sein
Leiden um jeden Preis zu erleichtern. Die Sorge um den kranken Lieb-
ling verzehnfacht die Zuneigung zu ihm, das manderige Kind hat alle
möglichen Aussetzungen und Nörgeleien, Gelüste und Unarten. Zu keiner
anderen Zeit sieht sich die verzweifelnde Elternliebe gezwungen, auf der
einen Seite in so vielem nachzugeben und Fehler ungeahndet zu lassen,
auf der andern Seite das Kind zum Ertragen so vieler Unannehmlichkeiten
zu drängen, wie Bettruhe, strenge Kost, Arzneieinnehmen. Daraus ent-
wickelt sich in vielen Fällen über kurz oder lang eine düstere Atmosphäre,
in der sich die Eltern als unglückliche Sklaven der Launen ihres Kindes
fühlen, dieses sich als Tyrann aufspielt und oft mit wahrer Grausamkeit
seine absurden Ideen durchsetzt. Auch nach längst erfolgter Genesung
benutzen bekanntlich viele Kinder ihre Erfahrungen vom Krankenlager, um
ihre Lieblingswünsche zu verwirklichen. Sie überwinden jeden Widerstand
266 B. Mitteilungen.
der Mutter, wenn sie nur durch Simulation die Erinnerung an das über-
standene Leiden wachrufen. Mit der zusagenden Antwort verschwinden
die beunruhigenden Symptome rasch.
Mit dem Kummer der Eltern und der zum Schluß grenzenlosen Ver-
wöhnung des Patienten ist leider die Sache nicht erledigt. Zunächst wird
der Arzt in den Kreis der Unannehmlichkeiten einbezogen. Sein Verkehr
mit dem Kinde wird immer mehr erschwert und er eröffnet über kurz
oder lang, daß es sich um ein »ungezogenes« Kind handelt. Wird ihm
daraufhin das Haus nicht verboten, so muß er die Behandlung weiter
führen, und nun fängt ein undankbares Tun für ihn an. Mehr als irgend-
wo sonst werden seine Ordinationen kritisiert und willkürlich abgeändert.
Man führt unbequeme Waschungen nicht aus, will lieber Tropfen oder
schüttet selbst diese zum Fenster hinaus, gibt zu essen und zu trinken
nach dem nie auszurottenden Hauptsatz: »Es will aber.«
Wie mit einem Schlage sah ich solche dem sicheren Tod entgegen-
eilenden Kinder aufblühen von der Woche an, wo sie bei gleichbleibenden
Verordnungen in die erzieherische Luft eines guten Kinderkrankenhauses
übergeführt wurden. In andern Fällen war es bereits zu spät. So ist es
dem Kinderarzt eine geläufige Tatsache, daß Kinder an ihrer Ungezogen-
heit, auch an der im Lauf der Krankheit erst entstandenen, sterben können.
Es handelt sich dabei um chronische Darmkatarrhe, Bauchentzündungen,
die Ruhe verlangen, Herzerkrankungen, Lungenleiden, Blutungen, oder be-
trifft zuweilen Kinder, die in der Luftröhre eine Kanüle tragen müssen
wegen Kehlkopfverschluß durch Diphtherie.
Ich lege Wert darauf, diese Dinge so scharf auszudrücken, weil der
Laie, der in seinem Leben nur wenig kranke Kinder sieht, sich über die
schwerwiegende Bedeutung der Ungezogenheit in der Krankenstube nur
harmlose Vorstellungen macht. Man ist auf Grund ärztlicher Erfahrungen
verpflichtet, auch für vorerst leichte Erkrankungsfälle bedingungslos den
pädagogischen Leitsatz aufzustellen:
Das erkrankte Kind darf nicht eine Sekunde glauben, sein Zustand
gebe ihm ein Anrecht auf eigensinnige Pläne oder Handlungen. Was
alles wir unter Erzichung einbegreifen, das muß nicht lockerer
werden, sondern fester zusammengeschlossen sein am Bett des
kranken Kindes. Der Erwachsene hat eine äußere Stütze nie nötiger
als in kranken Tagen, vicl mehr noch das Kind. Des Kindes Stützen sind
allein Liebe und Erziehung. Beides gibt ihm die Umgebung. Wohl, wenn
die Liebe auf der Erziehung und die Erziehung auf Liebe beruht!
Kranke haben viele Launen und wenig Energie. Ich rate Ihnen, dem
kranken Kinde grundsätzlich nichts als Ungezogenheit anzurechnen, sondern
als Laune ihm alles Ungeeignete auszureden, ihm in sachlicher ruhiger
Weise, wie Sie es bei jeder Erziehungsklippe tun, entgegenzutreten, und
Sie werden stets recht haben. Ich fand kranke Kinder doppelt empfäng-
lich für kurze klare Worte im Sinne Rousseaus und ebenso unempfäng-
lich als Gesunde für lange Reden. »Man spricht vergebens viel, um zu
versagen: Der andere hört von allem nur das Nein.«
Nur ein Beispiel. Ich werde zuweilen zu brüllenden, tobenden
Erziehung und Krankheit. 267
Kindern gerufen, die den Suppenteller zu zertrümmern oder die Wärterin
zu zerkratzen suchen und auf keine Drohung, keine guten Worte reagieren
und trotz meines Erscheinens die Scene fortsetzen. Sobald die Umgebung
und eine halbe Minute drauf das Kind sich beruhigt hat, sage ich mit
ruhiger fester Stimme: »Du wirst jetzt deine Suppe essen oder sie kommt
hinaus.« Macht das Kind nicht bald Anstalten zum essen, wird vor seinen
erstaunten Augen der volle Suppenteller in der Tat hinausgetragen und
erscheint trotz erneuten Gebrülls nicht wieder, auch hat niemand aus
der Umgebung mehr einen Blick für den kleinen Schreier. Diese Scene
sieht man nur einmal, und die wenigen Tränen haben solche von Monaten
erspart. Das Kind fühlt einen festen Willen über sich. Bei echter
Appetitlosigkeit empfindet der Kranke diese Behandlung als größte Wohl-
tat. Ob man gesundheitlich mit solchem Vorgehen schaden kann, darauf
komme ich nachher noch im Zusammenhang zu sprechen.
Daß der Arzt als Erzieher kranker Kinder ganz Vortreffliches leisten
kann, lehrt ein Einblick in jedes gute Kinderkrankenhaus. Da er die
Tragweite der Krankheitserscheinungen so wie seine Maßnahmen über-
schaut, ist ihm im Gegensatz zu den unkundigen Eltern die Aufgabe er-
leichtert. Darum sollten die Eltern dem Arzt das volle Recht geben, auch
erzieherische Vorschriften für das kranke Kind zu machen.
Die Mehrzahl der Eltern, auch in den gebildeten Kreisen, hat ganz
falsche Vorstellungen von dem, was einem kranken Kinde schadet und
was ihm gut ist. »Aufregung vermeiden!« Daran klammert man sich bis
zur Lächerlichkeit, man hört die Stimme des Arztes nicht mehr, nicht die
Stimme der Vernunft — wir Ärzte wissen, daß es nur wenige kindliche
Kranke gibt, denen Aufregung wirklich schadet, und daß unsere glänzend-
sten Heilerfolge alle durch eine mehr oder minder große Summe von Auf-
regungen erkämpft werden.
Ein anderes Vorurteil, von dem noch schwerer gelassen wird, ver-
eitelt uns tagtäglich wichtige Kuren: »Das Kind muß doch etwas nehmen.«
Die sachlichste Darlegung, daß ein kranker Darm Ruhe braucht und sich
rein naturgemäß durch Erbrechen und Appetitlosigkeit jeglicher Zumutung
solange erwehrt, bis ein neu einsetzender kaum zu stillender Recon-
valescentenhunger alles wieder gut macht — meist fruchtet sie nichts.
»Das Kind schreit nicht, weil es Hunger hat, sondern weil es
Bauchweh hat« halten viele Mütter für eine böswillige Verdrehung der
tatsächlichen Verhältnisse, wenn der Arzt es von ihrem Säugling sagt. Es
kann nicht jede Mutter lernen, wie lange ein kleiner Mensch von seinem
Körpervorrat zehren kann, aber dem Arzt sollte das Publikum ein gutes
Urteil darüber zutrauen, da er darauf oft die Behandlung aufbauen muß.
Wir wissen, daß der Erwachsene, wenn er nur Wasser bekommt, 40 Tage,
das Kind in individueller Abstufung entsprechend weniger lang hungern
kann. Andrerseits erkennen wir ohne Mühe die Fälle, in denen eine so-
fortige Nahrungszufuhr dringend ist. Sie sind selten und meist dem
Tode nah.
Dann das »Schreien«! Das kranke Kind schreit aus den verschiedensten
Ursachen, u. a. vor Schmerz, aus Laune, aus Langeweile, aus kleinlichem
268 B. Mitteilungen.
Zorn und Eigensinn. Weit entfernt, daß ihm das Schreien etwas schaden
würde — diese seltenen Fälle sind zu erkennen und werden mit dies-
bezüglichen Anordnungen versehen — für die meisten Kinderkrankheiten,
speziell alle beginnenden und ausgebildeten Lungenkrankheiten, ist Schreien
durch die dabei erfolgenden tiefen Atemzüge, die Ventilation der Lunge
und die Anregung zum Aushusten ein Heilmittel sowie ein vorbeugender
Schutz gegen Lungenentzündung bei allen Bettlägerigen. Man darf ein
klagendes Kind durch Trost oder Umhertragen beruhigen, die Langeweile
ibm durch Spiel vertreiben — aber ihm die unsinnigsten Wünsche er-
füllen, die gefährlichsten Dinge (Trüffelwurst, Gurkensalat bei angeordneter
Schleimdiät sind mir schon vorgekommen!) in den Magen stopfen, bloß
»damit es nicht schreit«, ist ein unverzeihliches Verbrechen am kranken
Kind. Und sollte — äußerst selten — ein ungezogenes Kind sich heiser
oder »einen Bruch« schreien, so ist es wirklich, allen Ernstes, lange nicht
so schlimm, als wenn es seinen Eigensinn auf die Spitze treibt, immer
schwieriger zu behandeln und immer elender wird, und schließlich »an
der Großmutter« stirbt.
Mit diesen herausgegriffenen Vorurteilen des Publikums sei es genug.
Wir haben auch sonst nichts finden können, was in Tagen der Krankheit
eine planmäßige Erziehung verbieten würde Wir sehen in der un-
veränderten Erziehungsstrenge die mächtigste Stütze für die Behandlung
und Genesung, ja wir sehen, daß ungezogene Kinder bei geschickter Be-
nutzung ihres Krankenlagers im besten Sinne erzieherisch beeinflußt werden
können. Wie weit die Krankheit als solche einen erzieherischen Einfluß
ausübt, davon kann ich heute nicht mehr sprechen. Jedenfalls ist die oft
gehörte »Entschuldigung« für die Ungezogenheit eines Kindes: »Es ist
lange krank gewesen« eine völlige Verdrehung und Ungerechtigkeit.
3. Vom Kinde in der Kunst.)
Von Mittelschullehrer Friedrich Kerst in Elberfeld.
In der Eremitage zu St. Petersburg befindet sich unter den vierzig
Rembrandts, die eine Vereinigung der besten Werke des großen Holländers
bedeuten, eine »heilige Familie«, die den Beschauer in hohem Grade
fesselt. Rembrandt bekundet sich hier als Kinderfreund. Kinder hat er
selten gemalt, sogar dem Kinderporträt scheint er aus dem Wege ge-
gangen zu sein. Aber als er Vater des kleinen prächtigen Titus ge-
worden ist, geht ihm die Schönheit des Kindes auf. Allerdings hat er
schon früher eine Himmelfahrt gemalt (München), darin einen Engel-
reigen, der einem Murillo Ehre gemacht hätte. Dennoch tritt das Kind
als solches eigentlich erst in seine Kunst ein, als das Mutterglück seiner
Saskia ihn an die Gottesmutter erinnert und damit zu einem der an-
ziehendsten Vorwürfe der Malerei aller Zeiten führt. Das Körperchen des
1) Zugleich Besprechung von Stratz, Der Körper des Kindes. Stuttgart,
Ferdinand Enke, 1904. i
Vom Kinde in der Kunst. 269
eigenen Sohnes studiert er mit Künstleraugen, und so ist er im stande,
auf dem Petersburger Bilde eine Engelgestalt zu schaffen, die zu den ent-
zückendsten aller ihrer Art gehört, vielleicht die schönste überhaupt ist.
Das Christuskind liegt in der Korbwiege, ein echter kleiner vollwangiger
Holländer, dessen tiefes, behagliches Atmen man zu hören glaubt. Von
oben schwebt ein Engelsreigen herab, voran das schönste Himmelsbüblein.
Das Bild in seinem Farbenreiz zu beschreiben, ist unmöglich. Soweit eine
Reproduktion eine Vorstellung von diesem Bilde geben kann, geschieht
dies in dem Bande »Rembrandt« (Klassiker der Kunst), der als einziges
billiges Sammelwerk der Rembrandt’schen Gemälde jedem Leser leicht zu-
gänglich sein wird. Betont sei nur noch, daß Rembrandt seinen bekannten
Lichtstrahl in voller Leuchtkraft auf den kleinen Engel und erst in breiterer,
etwas geschwächter Lichtfülle auf die Wiege fallen läßt; damit deutet der
Künstler selbst an, wie wert ihm das Englein war.
Vielleicht wird der bilderkundige Leser, als oben die Schönheit des
Engels gepriesen wurde, achselzuckend an die berühmten, reizenden Köpf-
chen am untern Rande der sixtinischen Madonna gedacht haben. In der
Tat sind sie nach landläufiger Auffassung von Kinderschönheit noch
hübscher als der Engel Rembrandts, und ich gestehe gern ein, daß ich
selbst sie für idealschöne Engelkinder gehalten habe, bis ein Buch mich
eines Bessern belehrt hat; ich halte es nicht für beschämend, dies einzu-
gestehen, denn es ergibt sich aus der Lektüre, daß man selbst in ärzt-
lichen Kreisen bis jetzt über die Phasen der Entwicklung gewisser Organe
beim Kinde nicht orientiert war, und daß überhaupt das gesunde Kind
verhältnismäßig wenig Beachtung vom ärztlichen wie vom künstlerischen
Standpunkt gefunden hat. Das Buch ist betitelt: »Der Körper des
Kindes, für Eltern, Erzieher, Ärzte und Künstler von C. H. Stratz.«
Andere ähnliche Bücher desselben Verfassers sind weit verbreitet, sie be-
fassen sich mit der Schönheit des weiblichen Körpers und mögen in vielen
Fällen wegen der zahlreichen Illustrationen gekauft worden sein, da in
jenen Büchern der Text wissenschaftlich ist und besonders in seinen
statistischen Teilen bei den meisten Lesern kaum Beachtung finden wird.
Auch in vorliegendem Buche haben wir ein wissenschaftliches Werk vor
uns, das die Entwicklung des Kindeskörpers gleichsam von der Keim-
zelle an bis zum Eintritt ins Jünglings-, resp. Jungfrauenalter genau und
lückenlos verfolgt. Besonders der eine Abschnitt daraus interessierte mich,
der vom Kinde in der Kunst handelt und speziell von den Irrtümern der
Künstler, die das Kind als Engel oder Christuskind gemalt haben. Daß
solche Irrtümer vorhanden sind selbst bei großen Meistern, ist nun keine
neue Entdeckung. Wie ein Morelli-Lermolieff auf gewisse Nachlässigkeiten
bestimmter Meister in der Darstellung von nebensächlich behandelten Teilen,
z. B. Ohren, Augenwinkeln, Fingernägeln, eine neue Theorie der Erkenn-
barkeit der alten Meister gründete, die bedeutende Umwälzungen in ver-
schiedenen Gallerien zur Folge hatte, — so könnte man auch ähnlich die
Eigenart verschiedener Maler an der Weise erkennen, wie sie das Kind
gemalt haben. Sein Körper wurde recht nachlässig aufgefaßt, so daß sich
bei dem einzelnen Künstler eine Manier, ein Schema bilden mußte, wonach
270 B. Mitteilungen.
er die Kinderfiguren schuf.1) Es braucht hier nicht ausgeführt, sondern
nur daran erinnert zu werden, wie man auf den ersten Blick einen Rubens-
schen Kinderengel von einem des Tizian, Murillo oder Raffael unterscheiden
kann; ebenso wird jeder Kunstfreund einen Kinderengel von Hans Thoma
sofort als solchen erkennen, da er auch einen bestimmten Typus bevorzugt.
Stratz deutet nun an — eine Ausführung liegt dem Zwecke des
Buches fern, wäre aber gewiß keine undankbare Aufgabe für eine Sonder-
untersuchung — wieso die einzelnen Meister gegen die Wahrheit vom
Kindeskörper gesündigt haben, vergißt aber auch nicht zuzugeben, daß be-
stimmte Absicht im Ausdruck von der realen Wahrheit abweichen ließ.
Beim Christuskind, dessen Anblick die Gläubigen erbauen und trösten
sollte, war es nötig, mehr als den wahren Ausdruck im Gesicht des
kleinen Kindes zu geben. Es mußte schon in zartester Jugend von der
Wichtigkeit seiner Sendung überzeugt und von der Liebe zu der sündigen
Menschheit durchglüht sein.
So erhält das Christuskind das geistige Gepräge eines Erwachsenen,
wozu der kindliche Körper seltsam in Gegensatz steht. Ähnlich verhält
es sich mit dem Johannesknaben, der dem Kinde als Gesellschafter ge-
geben wird, oder mit den Engelchen, die auch mitfühlende Wesen sein
müssen. Sehr richtig ist nun, daß Stratz darauf aufmerksam macht, nach
dem Volksglauben würden schöne Kinder später nicht schöne Erwachsene.
Es kann nicht ausbleiben, daß Verhältnisse (namentlich der Gesichtspartien)
wohlgefälliger Art im Laufe der Entwicklung Verschiebungen erleiden,
daß der Eindruck dann nicht so angenehm ist. Sogenannte schöne Kinder
verfügen meist über eine charakteristische Nase, die aber später weniger
angenehme Dimensionen anzunehmen pflegt. Als Grundsatz kann in der
Tat gelten, daß gewöhnlich ein Kind schön genannt wird, wenn wir in ihm
Schönheiten Erwachsener zu erkennen glauben. »Aber solche Kinder
waren eben nur scheinbar schön und galten für schön, weil an sie ein
Maßstab angelegt wurde, der nicht für das Kind berechnet war.« Solche
Kinder schen altklug aus, und von ihnen wird gesagt, daß sie nicht alt
werden. Vom kindlichen zum greisenhaften Aussehen ist kein großer
Schritt. Wenn nämlich bis jetzt von solchen Künstlern gesprochen wurde, die
ihren Kindergestalten ein unnatürliches, sogenanntes schönes Aussehen geben
— Stratz weist z. B. nach, daß die beiden berühmten Engelchen von
der sixtinischen Madonna unnatürlich sind, da sie die Körper von 4- bis
5jährigen, aber die Gesichter von 8- bis 10jährigen Kindern haben —, so
dürfen auch nicht die realistischen niederdeutschen Meister des 15. bis
16. Jahrhunderts vergessen werden, die die Christkinder geradezu greisen-
haft malten. Und siehe da, Stratz zeigt uns in Photographien von
Embryos und Neugeborenen, daß sie genau solch ein grämliches altes
Aussehen haben, «das durch den zahnlosen Mund und die Faltigkeit der
Haut verstärkt wird.
1) Im Hofmuseum zu Wien, wo ich gerade die Korrektur dieses Artikels lese,
fiel mir die berühmte Raffaelsche »Madonna im Grünen« auf, wo das Jesus- und
das Johanneskind einander »wie aus dem Gesicht« sind.
Ein Fall von motorischer Aphasie. 271
Eine besondere Art der Abweichung von den natürlichen Körper-
verhältnissen findet dort statt, wo der Künstler einem Christ- oder Engel-
kinde eine Tätigkeit (z. B. stehen, gehen, Stab tragen, segnen) zuweist, die
es noch nicht verrichten könnte aus rein physischen Ursachen. Deshalb
wird die Körperbildung um Jahre weiter gedacht in ihrer Entwicklung,
so daß jene Handlungen möglich und glaubhaft werden. Wir aber haben
uns durch unsere klassischen Meister verleiten lassen, ein Idealbild von
kindlicher Schönheit uns zu schaffen, das unnatürlich ist und alle wahr-
haft kindliche, naive Schönheit in Mißkredit bringt. Und wenn wir durch
Stratz uns in das Wesen des kindlichen Körpers und seiner Schönheit
haben einführen lassen, dann erkennen wir, daß neben dem Kinderfreunde
Murillo (wieviel Kinder hat er ja gemalt!) Rembrandt ein echter Kenner
kindlicher Schönheit, besonders in dem Petersburger Engelbuben, ist. Wie
ernst es ihm dort um die strenge Wahrheit zu tun ist, geht auch daraus
hervor, daß er nicht ein paar durchaus leistungsunfähige Flügelchen auf
dem Rücken ansetzt, sondern recht breite, die wie Fledermausflügel breit
an der Seite haften und zunächst deshalb fremd anmuten. Aber ihm
glaubt man, daß er schweben kann. (Wieviele unter den tausenden ge-
malten Engelkindern aber können diesen Glauben erzeugen?) — Wir müssen
wieder einmal eine gewohnte Vorstellung, nämlich die von der Schönheit
des Kindes, korrigieren.
4. Ein Fall von motorischer Aphasie.
Von H. Dörreich, Taubstummenlehrer in Frankenthal.
_Diejenige Sprachstörung, welche man als motorische Aphasie be-
zeichnet, ist dadurch charakterisiert, daß »die innere Wortbildung zwar
nicht nennenswert gestört ist und der Kranke sich somit schriftlich ver-
ständigen kann, wobei er jedoch die ihm geläufigen Wortklänge nicht
durch die Sprachmuskulatur zum Ausdruck zu bringen vermag.<« 1)
An einer solchen aphasischen Störung litt die am 29. Juli 1892 ge-
borene K. U., welche am 14. Oktober 1903 in die hiesige Taubstummen-
Anstalt aufgenommen wurde. Aus den Aufnahmeakten sei folgendes hier
angeführt: »K. U. ist im Winter (März) 1902 an Meningitis erkrankt.
Die Krankheit dauerte über vier Monate, war mit heftigem Kopfschmerz,
Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Abmagerung bis zum Skelett, sehr starker
Albuminurie und fortwährendem Jammern verkunden. Als letzteres auf-
hörte, konnte sie nicht mehr sprechen (motorische Aphasie). Gesicht und
Gehör sind gut. Sie wurde mit Arzneien, Eis und Bädern behandelt.
Seit einem Jahre besucht sie wieder die Schule, sieht gut aus und zeigt
sonst keine Krankheitserscheinungen als die erwähnte Aphasie. Die Eltern
haben sich bisher trotz mehrfacher Aufforderung nicht zur Unterbringung
in die Anstalt bewegen lassen, bis sie selbst die Erfolglosigkeit des Zu-
wartens eingesehen haben. Die Heilung ist nur in der Anstalt möglich.«
1) Dr. Wetterwald, Sprachstörungen. Kinderfehler. VL. Jahrg.
272 B. Mitteilungen.
Soweit das ärztliche Gutachten. Die Diagnose war gestellt; der Arzt
hatte das Seinige getan. Dem Pädagogen oblag es jetzt, durch planvolle
Unterrichtsarbeit dem Kinde zurückzuerobern, was ihm die tückische
Krankheit entrissen hatte. Das Kind selbst wußte recht wohl, warum es
zu uns gekommen war; denn auf eine diesbezügliche Frage antwortete es
schriftlich: »daß ich plaudern lerne«. Der Glaube an die Möglichkeit des
Gelingens erwuchs uns aus folgenden Überlegungen:
Da das Kind auf alles von seiner Umgebung Gesprochene durch
Nicken, Kopfschütteln oder auch auf schriftlichkem Wege richtig reagiert,
so liegen keine Perzeptionsstörungen vor. Es handelt sich auch nicht um
Lähmungserscheinungen innerhalb des Sprechapparates; das beweist u. a.
der Umstand, daß das Mädchen in der Periode seiner Sprachlosigkeit mit
lauter Stimme lachen konnte. Demnach ist die vorliegende Sprachstörung
nur dadurch zu erklären, daß durch die Gehirnhautentzündung jene Region
der Großhirnrinde in Mitleidenschaft gezogen wurde, von welcher die
Muskeln des Sprechapparates die Impulse erhalten zur Erzeugung der
Sprachlaute Damit sind wir an das sprachmotorische Zentrum verwiesen,
das in der dritten Stirnwindung seinen Sitz hat. Nun zeigt aber die
klinische Erfahrung, »daß bei den Rechtshändern nur die linke dritte
Stirnwindung zum Sprachzentrum ausgebildet wird, bei den Linkshändern
dagegen die rechte dritte Stirmwindung.«!) Daraus ergibt sich die Mög-
lichkeit einer Verlegung des sprachmotorischen Zentrums von der linken
auf die rechte Seite oder umgekehrt — für den Fall nämlich, daß das
bisher tätige Zentrum infolge irgend einer Störung den Dienst verweigert.
Voraussetzung für die Ausbildung eines neuen Zentrums ist allerdings,
daß die Störung in der Region der dritten Stirnwindung nur eine ein-
seitige ist. Um nun in unserem Falle ein neues Sprechbewegungszentrum
zu schaffen, waren wir offenbar an eine lange Reihe plan- und stufen-
mäßig fortschreitender Übungen verwiesen. Daß diese Arbeit umständlich
ist, aber immerhin Erfolg haben wird, sagt Kußmaul mit den Worten:
»die durch Läsion der einen Hemispbäre verlorene Sprache kann wieder-
kehren, wenn das Individuum die bisher nicht gebrauchte andere mit Er-
folg einübt .... die ersten Sprachversuche sind sehr unvollkommen.«
Ist bei dem normalen Menschen die Auffassung der artikulierten Sprache
fast ausschließlich von der akustischen Bahn abhängig, so erschien es im
vorliegenden Falle geboten, auch andere, bisher unbenutzte Bahnen für die
Perzeption der Lautsprache gangbar zu machen, d. h. auch optische und
taktile Empfindungen in den Dienst der Laut- und Wortauffassung zu
stellen. Daß damit zugleich für die Bildung eines neuen sprachmotorischen
Zentrums etwas gewonnen, also die Wiedererwerbung der Lautsprache ge-
fördert werden könne, glaubten wir auf Grund neuerer Hypothesen der
Lokalisationstheorie hoffen zu dürfen.
Nach einem entsprechenden Übungsgang brauchten wir nicht zu
suchen; derselbe bot sich uns in dem planmäßigen Sprachentwicklungs-
gang, wie er dem deutschen Taubstummen-Unterricht eigen ist.
1) Wetterwald, Sprachstörungen.
Ein Fall von motorischer Aphasie. 273
So zuversichtlich wir nun an das Werk gingen, so verhehlten wir
uns doch nicht, daß es jahrelanger Arbeit bedürfen könne, um zu dem
gewünschten Ziele zu kommen. Dazu gesellte sich der Zweifel, ob denn
auch die bisher unbenutzte Region der Großhirnrinde, auf die wir es nun
abgesehen hatten, von den Folgen der Gehirnhautentzündung unberührt
geblieben sei. Aber es kam anders, als wir befürchtet, auch anders, als
wir zu hoffen gewagt hatten.
Es sei nunmehr eingehend berichtet, wie die beiden ersten Unter-
richtsstunden verliefen. Mein ganzes Interesse war natürlich der normal
begabten, normal hörenden und dennoch stummen Schülerin gewidmet.
Ich begann mit einfachen Wörtern, die dem Kinde vor seiner Erkrankung
geläufig waren. Sie konnten nicht nachgesprochen werden. Gleich trostlos
verlief der Versuch mit den Sprachelementen. Auch der leisest vor-
gesprochene Vokal wurde gehört, aber nicht nachgebildet.
Es galt mir nun zunächst, eine günstigere psychische Disposition zu
schaffen, den Mut des Kindes zu heben, das längst aufgegebene Vertrauen
wieder wachzurufen, daß ja alles zum Sprechen Notwendige vorhanden
sei: gesundes Ohr, gesunde Sprechwerkzeuge. Nicht als ob ich auf dem
Wege der Suggestion etwas zu erreichen gehofft hätte; nein ich wollte
alle Vorstellungen hinwegräumen, die niederdrückend, hemmend wirken
mußten. Tatsächlich war durch die lange Sprachlosigkeit die psychische
Grundstimmung derart beeinflußt, daß die jetzige Gemütsverfassung viel-
leicht am treffendsten mit dem Ausdruck »stumme Resignation« bezeichnet
werden kann.
Die Aufmerksamkeit des Kindes versuchte ich auf die wesentlichen
Funktionen des Sprechapparates und seiner Teile zu lenken, um in dem
Kinde eine Vorstellung davon zu bilden, wie das Sprechen vor sich geht.
Das erste waren Atemübungen. Beim Sprechen brauchen wir zunächst
einen Luftstrom. Den haben wir, sobald wir ausatmen. Tue das mit
geöffnetem Mund! das Kind führt diesen Befehl richtig aus. Jetzt haben
wir schon einen Sprachlaut gesprochen. Auf meine Aufforderung, den
entsprechenden Buchstaben zu schreiben, schreibt das Mädchen ein h.
Ich atme wieder aus, schließe aber den Mund so, daß die obere
Zahnreihe auf der leicht vorgeschobenen Unterlippe aufsitzt. Schaue das
Mundbild an! Mache es auch so! Das ist auch ein Sprachlaut. Schreibe
dafür den Buchstaben! Das Kind schreibt richtig f.
In gleicher Weise — immer unter Beachtung des Mundbildes —
werden die übrigen Sprachlaute gebildet, zu deren Hervorbringung die
Stimme nicht nötig ist: b, d, g, s, z. Die aufmerksame Sprachschülerin
erkennt sie als alte Bekannte und bildet sie richtig nach.
Probieren wir auch die andern Laute, zu deren Erzeugung wir die
Stimme brauchen, Ich spreche den Halbvokal w vor. Die Mundstellung
wird nachgeahmt, aber — die Stimme bleibt aus. Es erfolgt die kurze
Belehrung, daß wir die Stimme nicht vorn im Munde bilden, sondern daß
sie hinten im Halse, im Kehlkopf entsteht. Das kann man fühlen, wenn
man die Hand an den Hals des Sprechenden legt. Das Kind fühlt an
meinem Hals die Vibration, versucht dann bei sich selbst die gleiche
Dio Kinderfchler. IX, Jahrgang. 18
274 B. Mitteilungen.
Wirkung hervorzurufen, bald erscheinen leichte Ansätze des Stimmtones,
und nach einigen Minuten kommt ein schönes, stimmhaftes w zum Vor-
schein.
Sieh, jetzt ist alles gewonnen! Wie leuchten bei diesem Wort die
Augen des Kindes vor Staunen über das Vollbrachte, vor Befriedigung
und innerem Glück! An das w reihen sich andere Halbvokale: m, n, 1, r.
Alle werden ohne Schwierigkeiten gebildet.
Nun können wir ja bald alle Laute sprechen; es bleiben uns nur
noch die ganz lauten übrig. Ich spreche sie vor: a, e, i, 0, u. Neues
haben wir daran nicht mehr zu lernen. Die Stimme wird im Kehlkopf
hervorgebracht, alles andere sagt uns das Mundbild. Absehen und Ab-
fühlen sind auch jetzt wieder das erste, die eigenen Versuche der
Schülerin das zweite. Und auch diese Versuche gelingen ungemein rasch.
Anfangs ein unsicheres Suchen und Tasten, dann ein schwacher, gehauchter
Stimmansatz, bald ein kräftiger Stimmton und zuletzt ein klares, klang-
volles a. Ebenso ist es bei den übrigen Vokalen.
Das Verschmelzen der Selbstlauter und der Mitlauter zu einfachen
Lautverbindungen und bekannten einsilbigen Wörtern geht rasch und leicht
von statten. So ist das Kind nach kaum zweistündiger Arbeit im Besitz
des lange und schmerzlich vermißten Gutes seiner Muttersprache. Auf
meine Aufforderung: »Sage mir jetzt auch, wie du heißt!« antwortet
die freudigst Überraschte in unbeschreiblicher Erregung: »Ka — tha- —
ri —- na«,
Dieses silben- und stoßweise Sprechen verlor sich nach wenig Tagen.
Das Kind kann wieder fließend sprechen und lesen und wird nunmehr
seinem Elternhause und der Volksschule zurückgegeben.
Angesichts des unerwartet raschen Verlaufs der neuerlichen Sprach-
aneignung und im Hinblick auf die eingangs ausgesprochenen Hoffnungen
und Befürchtungen sehe ich mich zu folgenden Schlußbemerkungen ver-
anlaßt: Das Wesen der vorerwähnten Sprachstörung war wohl als »moto-
rische Aphasie« richtig gedeutet. Das sprachmotorische Zentrum war aber
nicht in dem Grade schädlich beeinflußt, daß eine Wiederaufnahme seiner
Funktion ausgeschlossen war; denn von der Entwicklung eines neuen
Zentrums kann wegen der kurzen Übungszeit gar keine Rede sein. Da
die Periode der Sprachlosigkeit aber 16 Monate gewährt hatte, ist anzu-
nehmen, daß die betreffende Region der Großhirnrinde im Verlauf der
Krankheit einen nicht unbedeutenden Druck erfahren hatte. Welcher Art
diese Hemmung war, kann nur der Arzt bestimmen; und eine Aufklärung
von dieser Seite wäre sicher auch dem Pädagogen interessant genug. Ob
ein unterrichtlicher Eingriff, wie er vorstehend geschildert ist, nicht schon
bedeutend früher Erfolg gehabt hätte, oder ob nicht auch ohne denselben
nach kürzerer oder längerer Zeit die Sprache zurückgekehrt wäre, darüber
lassen sich ja nur Vermutungen hegen. Jedenfalls ist es aber nicht un-
wesentlich, daß der durch die Krankheit furchtbar geschwächte Organismus
genügende Zeit zu seiner Erholung und Kräftigung hatte.
Kinderlaunen. 275
5. Kinderlaunen.
Von Frau Henny Bock-Neumann in Berlin.
Pauline Lombroso, die Tochter des berühmten Turiner Psycho-
logen, schrieb im September-Heft der italienischen Monatsschrift »Nuova
Antologia« über Kinderlaunen.
Nach ihrer Meinung müssen die Erzieher sehr sorgsam auf die
Ursachen der sogenannten Launen und Grillen bei Kindern achten. Wenn
dieselben nur der Wut oder Herrschsucht entspringen, so sind sie durch
die Energie und Kraft älterer Personen und sogar durch strenge Strafen
zu unterdrücken; wenn sie aber andrerseits aus geistiger Unreife, krank-
hafter Nervosität oder dem Gefühl der Schwäche entstehen, so sind die
größte Sorgsamkeit, die Kräftigung und Heilung die einzigen Mittel, um
die Unruhe zu bannen und das schwankende Gleichgewicht wieder herzu-
stellen.
Die Schriftstellerin führt als Beispiele eine Reihe von Fakten aus dem
Leben allgemein bekannter Persönlichkeiten und aus ihrer eigenen Er-
fahrung an.
Z. B. der geniale Alfred de Musset war ein anormales Kind und
hatte in seiner Kindheit zuweilen sonderbare Gelüste. Sein Bruder Paul
erzählt, daß er eines Tages mit einer Billardkugel den großen Salouspiegel
zerschlug, mit einer Schere die neuen Gardinen zerschnitt und die Karte
von Europa mit roten Lacksiegeln bedeckte. Seine Mutter wagte aber
nicht, ihn dafür zu bestrafen, weil sie fühlte, daß er willenlos gehandelt
hatte, schon damals ein Opfer der Nervosität, die sich später immer stärker:
bei ihm bemerkbar machte.
Georges Sand erzählt in »Histoire de ma vie« unerklärliche Grillen
ihres Kindes. »Oft, wenn sie mit mir spazieren ging — schreibt sie —
blieb sie plötzlich stehen und wollte nicht weiter gehen oder sich in den
Wagen setzen. Sie war 6—7 Jahre alt, als sie mir noch solche Scenen
machte, daß ich sie trotz widerspenstigen Sträubens alle paar Schritte bis
zur Wohnung tragen mußte. Das Schlimmste war, daß diese Launen
niemals eine Ursache hatten, und daß das Kind sich gar nicht darüber
Rechenschaft geben konnte. Es fühlte sich nur absolut unfähig sich dem
Willen oder dem Zureden älterer Personen zu fügen.«
Ein anderes Beispiel unfreiwilliger Launen, die au hysterische Zu-
fälle erinnern, gab das fünfjährige Kind einer Deutschen. Das Mädelchen
verweigerte beständig seine Suppe zu essen und wenn man sie mit Gewalt
dazu zwang, so brach sie sofort die verschluckte Suppe aus. Eines Tages
bemerkte sie in einem Ladenfenster ein Schüsselchen von origineller Form
und erklärte, daß sie ibre Suppe ohne Widerwillen aus solch einem
Schüsselchen, wenn es ihr eigen wäre, essen könnte. Man erfüllte diesen
sonderbaren Wunsch, und das Kind aß seine Suppe gutwillig aus diesem
Schüsselchen und verdaute sie vortrefflich. Das ist ein schlagender Beweis,,
welche Art von Launen nicht durch Strafe zu bekämpfen ist.
Ein mir bekanntes Mädelchen — erzählte Pauline Lombroso — hatte
auch Gelüste, die unsere Überredungskunst nicht zu unterdrücken vermochte.
18*
276 B. Mitteilungen.
p—s
Sie fühlte sich z. B. gekränkt, weil sie Stiefelchen bekam, die für
sie bestimmt waren und nicht die Stiefelchen ihres Bruders. Nach ihrer
Meinung, »ermüdeten die Stiefel ihres Bruders niemalse, während »ihre
Stiefel schnell ermüdeten«.
Es ist die Gewohnheit mancher Erwachsenen und vieler Kinder, die
eigene Schwäche auf andere Personen oder Sachen zu schieben. In diesem
Falle schob das Kind seine eigene Ermüdung und Schwäche auf die Stiefel.
Ich war auch Zeugin — schreibt die italienische Schriftstellerin —
wirklicher Anfälle bei einem fünfjährigen Mädchen, das gewöhnlich artig,
normal entwickelt und gehorsam war. Als wir sie einmal zur gewohnten
tunde daran erinnerten, daß es für sie Zeit sei, schlafen zu gehen, bekam
sie einen Wutanfall und rief:
»— Ich gehe in die Küche, nehme ein Messer und ermorde Euch alle:
Vater, Mutter, Brüder und Schwestern, dann schneide ich die Köpfe ab,
lasse das Blut ab und stelle alle mit den Füßen nach oben! Und dann
gehe ich in den Wald, und wenn Ihr mich suchen kommt, werdet Ihr
mich nicht finden, weil ich mich verirre. Und Ihr werdet weinen, und
ich verstecke mich erst recht! Unterdessen ziehe ich mich zum Possen
an und werfe Euch meine Stiefel an den Kopf, um Euch tot zu schlagen,
Ihr dummen, Ihr bösen, bösen Menschen! Ich will Euch nicht länger vor
Augen sehen, ich gehe nach Hause zu meiner Mama, und sage ihr, wie
schlecht und böse Ihr seid!«
Alle diese Drohungen stieß sie ohne Weinen aus, mit flammenden
Augen und geballten Fäusten; nach zehn Minuten beruhigte sie sich und
bat von selbst um Verzeihung.
Diese Art von Anfall ist kein Beweis von schlechtem Charakter,
sondern das Resultat chronischen oder akuten Leidens.
Wieviel Geduld, Sanftmut und Seelenkunde des Kindes müssen Er-
zieher und Eltern besitzen, um dem Kinde nicht unfreiwillig unrecht zu
tun, um es nicht dann zu strafen, wenn es Schutz und Heilung statt der
Strafe braucht!
6. Über Bettnässen.
In dem Artikel über Bettnässen in voriger Nummer dieses Blattes
ist eine Ursache des Übels unerwähnt geblieben, die zu besonderer Vor-
sicht in der Behandlung von Bettnässen mahnt — die Epilepsie,
Diese uuheimliche Krankheit entzieht sich in ihren Anfängen zu-
weilen selbst dem aufmerksamen Auge des verständigen Erziehers und
Arztes. Der Patient wird dann nur während des Schlafes von leichten
Krämpfen befallen. Die unwillkürliche Blasenentleerung ist vielfach das
einzige zu Tage tretende Krankheitssymptom. Doch erkennt der aufmerk-
same Beobachter am Morgen nach dem Bettnässen an bald wieder ver-
schwindenden roten Flecken im Gesichte wie am Halse, noch sicherer an
leichten Bißwunden in der Zunge des Patienten, daß die unwillkürliche
nächtliche Harnausscheidung Folge eines epileptischen Anfalles war. Manch-
mal verrät auch periodisches Augapfelzittern (Nystaymus) eine versteckte
Das urnische Kind. 277
Epilepsie. — Allein selbst beim Fehlen dieser Symptome ist Epilepsie
nicht ausgeschlossen. Sie mag auch dann vermutet werden, wenn Patient
am folgenden Tage über Mattigkeit, Eingenommenheit des Kopfes klagt,
wenn seine geistige Leistungsfähigkeit für diesen Tag unverkennbar herab-
gesetzt ist. Das Sicherste bleibt natürlich Beobachtung der Gesichtszüge
des Schlafenden während des Bettnässens. — Körperliche Züchtigung aber
ist Epileptikern, die vor jeder Aufregung bewahrt werden sollten, sicher
schädlich. Sie mag häufig genug vorkommen. Einer meiner Schüler
wurde im 13. Jahre von seinen Eltern wegen neuerdings auftretenden
Bettnässens wiederholt streng gezüchtigt. Auf meine Bitte verwarnte der
Schularzt die Eitern — mit Recht. Ein Jahr darauf trat die Epilepsie
in großen Anfällen unverkennbar zu Tage. — Andrerseits kenne ich auch
einen Fall hartnäckigen Bettnässens, in dem dieses Übel, weder durch
liebevolle Gewöhnung, noch elektrische ärztliche Behandlung, sondern allein
durch eine verständige, strenge Anstaltserziehung geheilt wurde.
Delitsch, Hilfsschul-Leiter in Plauen.
7. Das urnische Kind.
Man schreibt uns zu dieser Frage von geschätzter Seite:
Den Aufsatz von Dr. Hirschfeld in Nr. 6 des VIII. Jahrg. der
Kinderfehler las ich leider erst heute, bin Ihnen herzlich dankbar für Ihr
besonnenes und kräftiges Nachwort und kann es nicht lassen, Ihnen meine
Erfahrungen zur Verfügung zu stellen, wie ich sie untenstehend gebe.
Hoffentlich sind nicht viele Leute geneigt, den Gedanken des Dr. H. zu folgen.
Die Anschauungen des Dr. M. Hirschfeld, die er in einem Aufsatz
»Das urnische Kind« in den Kinderfehlern VIII. Jahrg. 6. Heft äußert,
dürften wohl kaum die allgemeine Zustimmung finden, die er erwartet.
Vielleicht ist es zur Aufklärung dienlich, wenn ich den von ihm vor-
geführten Lebensbildern das meinige an die Seite setze.
Ich war ein Knabe von kleiner Gestalt und zartem Wuchs; mein
Haar war lockig und ich mußte es zu meinem Leidwesen lang tragen.
So bekam ich oft zu hören: »Er sieht ganz wie ein Mädchen ause. Meine
Stimme war zart und entwickelte sich zu einem schönen Sopran, der bis
zu Anfang des 17. Jahres vorhielt und bis zum hohen As reichte. Der
Stimmbruch dauerte eigentlich die ganze Studentenzeit hindurch und wohl
erst mit 22 Jahren war die jetzige Barytonstimme fertig. Bei Auf-
führungen der Schüler bekam ich Mädchenrollen, was mir insofern Spaß
machte, als ich dann mehr gefeiert wurde, als die andern. Der Flaum
auf der Öberlippe wollte sich durchaus nicht zeigen, während andere
Kameraden schon auf ihren Bartwuchs stolz waren. Ich war nun etwa
in den Jahren 10—19 für viele Knaben und Jünglinge ein Gegenstand
der Vorliebe, wobei zärtliche Annäherungen versucht wurden; man gab
mir weibliche Namen und lobte mein dementsprechendes Wesen und Be-
nehmen. Ich habe also die Art eines urnischen Knaben sehr stark be-
sessen und wenn ich noch einmal jene Schilderungen aus dem Leben
278 B. Mitteilungen.
—
(Septemberheft S. 247—56) durchsehe, so finde ich in den Erinnerungen
aus meiner Jugend vieles genau Entsprechende.
Aber — ich war trotz meiner Kleinheit ein tüchtiger Turner, erhielt
bei einem Schulfest als Zweitbester unter allen Arndts Gedichte als Turn-
preis, kletterte leidenschaftlich gern auf hohe Bäume oder Felsen im
Riesengebirge und war bei wilden Spielen, zu denen mich meine Ge-
schwindigkeit und Sprungkraft befähigte, besonders gern dabei. Mein
liebstes Spiel daheim waren Bleisoldaten, von denen ich nie genug kriegen
konnte. Puppen und alle Mädchensachen waren mir ein Gräuel. Die Vor-
liebe meiner Kameraden für mich war mir unbegreiflich, oft sogar unan-
genehm und widerwärtig. Daß »der Hirt Corydon für den schönen Alexis
entbranntee, war mir unfaßbar und lächerlich. In der Schule war ich im
guten Fortschreiten, wurde immer versetzt, bekam auch Prämien, war aber
wegen meiner Wildheit und ziemlichen Leichtsinnes nie ein Musterschüler.
Etwaige Liebesgedanken richteten sich ausschließlich auf das Mädchen-
publikum.
Also ein urnischer Knabe ganz ohne urnische Art; wenn die Merk-
male, die sich äußerlich offenbaren, ganz unbedingt ein angeborenes Wesen
beweisen sollen, so ist das bei mir nicht eingetroffen und ich erlaube mir
zu behaupten, daß die Schlußfolgerungen des Herrn Dr. M. H. unrichtig
sind. Ich deute jene Jugendbekenntnisse anders und schließe mich dem
Schlußwort des Herrn Dir. Tr. von ganzer Seele an.
T. R. K., Pastor.
n
8. An die Vereinigungen für Kinderpsychologie und
Heilpädagogik und Freunde dieser Wissenschaften.
Infolge der erfreulichen Entwicklung der Fürsorge für die gesamte
abnorme Jugend wie der Bestrebungen für das Studium des kindlichen
Seelenlebens und einer darauf sich gründenden besseren Gestaltung der
Unterrichts- und Erziehungsmethoden hat sich je länger desto mehr ein
dringendes Bedürfnis geltend gemacht nach einem Zusammenschluß aller
kinderpsychologischen und heilpädagogischen Bestrebungen zu einer ge-
meinsamen und einheitlichen Vertretung bei vollständiger Wahrung der
bisherigen Selbständigkeit der einzeluen bereits bestehenden Vereinigungen.
Die Unterzeichneten halten es darum für erwünscht, daß alle Vereine
und Konferenzen für Kinderforschung, für Rettungshauswesen, für Fürsorge-
und Zwangserziehungsanstalten, für Hilfsschulwesen wie für Behandlung
und Erziehung von Schwachsinnigen und Epileptischen, Taubstummen und
Blinden sowie überhaupt alle Vertreter, Leiter, Lehrer, Ärzte und Freunde
heilerzieherischer Anstalten und Bestrebungen sich zu einem alle drei Jahre
tagenden Kongresse zusammenschließen, wobei es den schon bestehenden
Vereinigungen unbenommen bleibt, daneben in der bisherigen Weise weiter
zu bestehen und zu tagen.
Der allgemeine Kongreß würde einige Vorträge und Beratungen von
C. Literatur. 279
gemeinsamen Interessen in Plenarsitzungen veranstalten, während Spezial-
fragen in besonderen Sektionen erörtert werden könnten.
Diese Gesamtvereinigung ist notwendig, weil alle jene Bestrebungen
besser gedeihen werden, wenn sie in engere Fühlung treten werden. Es
greifen die Spezialgebiete in Theorie und Praxis oft und mannigfaltig in-
einander über und bedürfen darum einer gegenseitigen Unterstützung und
Förderung. Weil außerdem nicht einmal die Normalpädagogik wie die
experimentelle Psychologie an allen Universitäten eigene Lehrstühle hat,
sondern vielfach noch auf autodidaktische Forschung angewiesen ist, so
empfindet die Heilerziehung mit ihren schwierigsten Problemen für Theorie
und Praxis dies doppelt schwer und ist darum doppelt genötigt, auf dem
Wege freier Vereinigungen und Versammlungen durch Wort und Schrift
die unerläßlichsten wissenschaftlichen Grundlagen zu schaffen und die
Praxis zu befruchten.
Außerdem gibt es für die Erziehung der abnormen Jugend und deren
Organisation, für die Eingliederung derselben in das gesamte Öffentliche
Erziehungs- und Schulwesen, für ihre Stellung zu der öffentlichen Gesund-
heitspflege sowie für die rechtliche wie berufliche Stellung der Leiter,
Lehrer und Ärzte der genannten Anstalten und Schulen soviel Notwendiges
zu erstreben, daß ein Zusammenschluß dringend geboten ist, da sich ohne
einen solchen weniger erreichen läßt.
In Erwägung dieser Sachlage richten die Unterzeichneten die er-
gebenste Anfrage an Sie, ob der von Ihnen vertretene Verein unserem Plane
sympathisch gegenüberstcht. Bejahendenfalls bitten wir zwei Mitglieder
Ihres Vereins zu nennen, mit welchen weitere Verhandlungen, insbesondere
auch über die Wahl des Ortes und der Zeit für den ersten Kongreß ge-
führt werden könnten. Es dürfte sich empfehlen den ersten Kongreß
frühestens Ostern oder Pfingsten 1905 abzuhalten, damit die einzelnen
Vereine Gelegenheit haben, vorher zu dem Plane Stellung zu nehmen.
Prof. Dr. Heubner-Berlin. H. Piper-Dalldorf. J. Trüper-Jena,
Sophienhöhe. Th. Ziehen-Berlin.
C. Literatur.
»Schutz für Geistesschwache.«
Der Schriftführer der Vereinigung deutscher Anstalten für Idioten
und Epileptische, Herr O. Niehaus, teilt uns mit, daß die Entgegnung, welche
wir in voriger Nummer unter obigem Titel abdruckten, schließlich doch auch noch
in der »Frkf. Ztg.« zum Abdruck gekommen ist. Der Angriff erfolgte in Nr. 98,
die Abwehr in — Nr. 190 vom 10. Juli!
Die Redaktion besänftigt die Angriffe: »Der Einsender faßt hier die Aus-
führungen, gegen die er sich wendet, schroffer auf, als sie gemeint waren. Es sind
nicht schlechthin die pädagogisch geleiteten Anstalten als inhuman gegenüber den
ärztlich geleiteten hingestellt worden.« Insbesondere wird dann der »Ruhm« der
280 C. Literatur.
Bm 700027 mn nm nn ll el mm ee en a
angegriffenen Idsteiner Anstalt hervorgehoben. Sie schließt aber, daß »der Stand-
punkt der modernen medizinischen Wissonschaft nur allein entscheidend sein kann«.
Wir können von der Redaktion einer politischen Zeitung nicht erwarten, daß
sie hier klar sieht, und nicht tadeln, daß sie die Sache harmloser betrachtet. Wir
haben hinlänglich bewiesen, daß bei einer gewissen Gruppe von Medizinern es sich
durchaus nicht um Wissenschaft, sondern um Standesinteressen handelt, und die
»humanen« Kampfesmittel sind von uns hinreichend gekennzeichnet. Die Tages-
presse hat sie ja auch inzwischen zu ihrem eigenen Erstaunen kennen gelernt.
Die Redaktion der »Frankf. Ztg.« irrt sich übrigens: es sind die pädagogisch
geleiteten Anstalten von jener Seite schlechthin als inhüman hingestellt worden,
es sei sogar »unter der Würdes eines Mediziners, daran mitzuwirken. Nachdem
das mit Entrüstung wiederholt zurückgewiesen worden war, las man doch noch an
dort maßgebenster Stelle: »Es liegt nicht im Interesse einer geordneten Idioten-
und Epileptikerfürsorge, wenn manche Ärzte die Gründung von Anstalten fördern
helfen, an denen der Arzt an zweiter Stelle steht.« Es widerspricht nach dieser
Auffassung »der Wissenschaft und der Humanität«, wenn ein schwachsinniger Un-
hold einmal gezüchtigt wird; human und wissenschaftlich aber ist, wenn nach deren
eigenem Bekenntnis Hunderten von diesen Unglücklichen der Schädel nutzlos auf-
gemeißelt wird, wovon gegen ein Fünftel direkt infolge der Operationen starb und
die übrigen wenigstens keine Besserung verspürten. Den grausamen Knaben Prinz
Arenberg zu züchtigen, wäre fast ein Verbrechen nach der Auffassung dieser
Humanitätspächter gewesen; seine Grausamkeit war ja »Krankheit«. Freilich hätten
sie ihn im Namen der Wissenschaft und der Humanität schon als Kind vom Leben
zum Tode befördert, dann hätte Deutschland den Skandal nicht erlebt. Ist das der
Sinn der »Humanität«, dann sage man es offen. Darüber ließe sich schon eher als
über jenen Vorwand diskutieren. Man weiß dann wenigstens, was gemeint ist. Das
wäre doch eine prinzipielle Frage. Aus einzelnen gesuchten Beispielen all-
gemeine Forderungen ableiten, worüber sogar der Reichstag beschließen soll, das
gehört dagegen in die Wissenschaft und die Humanität der Urteilsschwäche.
Für uns stehen weder Arzt noch Lehrer in erster Reihe, sondern die fürsorge-
bedürftigen Kinder. Und wer ihnen am selbstlosesten dient, der steht für uns oben
an. »Dünket sich aber einer — so mahnt schon der alte Claudius —, so laß ihn
und gehe seiner Kundschaft müßig.«
Im übrigen aber sei wider Mißverständnisse und Mißdeutungen nochmals be-
tont: wir kämpfen nicht gegen, sondern für den Einfluß der Medizin auf die
Pädagogik. Wir weisen nur die Pseudomedizin ab. Unser Programm ist heute
noch dasselbe wie vor 10 Jahren: einmütiges, verständnisvolles Zusammenwirken
von Medizin und Pädagogik, von Ärzten, Lehrern und Geistlichen in allen sich auf
die kindliche Entwicklung beziehenden Fragen, insbesondere bei der Erziehung Ab-
normer, und unseren Lesern brauchen wir von dem segensreichen Erfolge dieser
Bemühungen wohl kein Wort weiter zu sagen.
Wir wissen uns in unseren Bestrebungen wie in unseren Auffassungen auch
im besten Einvernehmen mit den angesehendsten Vertretern der medizinischen Wissen-
schaft, wie wohl auch mit der erdrückenden Mehrzahl der praktischen Ärzte. Unsere
Abwehr gilt immer nur den unerhörten Angriffen einer Pseudowissenschaft. Im
übrigen haben die zehnjährigen Angriffe, welche nach dem Schlusse jenes Artikels
der Frkf. Ztg. dazu dienen sollen, daß Deutschland »wieder mit an der Spitze
der Kulturstaaten vorwärtsschreite« indem nämlich die Fürsorge für alle
Abnormen verstaatlicht und vor allem »verärztlicht« werde, doch auch ihr Gutes
C. Literatur. 281
gehabt. Sie haben manche Anstalten und ihre Vertreter aus dem Schlafe gerüttelt,
so daß manche mit Recht getadelten Mißstände beseitigt, manche Reformen an-
gebahnt wurden. Die Ahwehr zwang zur Besinnung wie zur Vertiefung mancher
wichtigen Frage.
U. a. hat die Proskription der Pädagogik und der pädagogischen Fürsorge für
Geistesschwache und Epileptische seitens jener Pseudomedizin auch zwei wertwolle
literarische Beiträge gezeitigt.
Diejenigen Mediziner, welche die Pädagogen nur als ihre »Masseure- Gehilfen
gelten lassen wollten, haben wiederholt versucht, die Gesetzgebung im Sinne ihrer
Standesinteressen zu beeinflussen.
Das hat nun den Anlaß gegeben zu der
Denkschrift betreffend die besonderen Verhältnisse und Bedürfnisse der Anstalten
für Idioten und Epileptische im Rahmen der Irrengesetzgebung. Überreicht von
der Vereinigung deutscher Anstalten für Idioten und Epileptische.
Ich gehörte und gehöre der Vereinigung nicht an. Einmal habe ich keine
Anstalt für Idioten und Epileptische und zum andern habe ich anfangs nicht glauben
können, daß ein Abwehrverein eine Notwendigkeit sei, im Gegenteil stand ich in
den sachlichen Forderungen auf seiten der Mediziner gegenüber denen der Geist-
lichkeit. Mit dieser Begründung lehnte ich auch seinerzeit die Aufforderung zum
Beitritt ab.
Im Hinblick auf die erdrückende Mehrzahl der mir bekannten Mediziner ist das
noch meine Ansicht. Zwischen uns besteht keine Differenz. Jenen Medizinalpolitikern
gegenüber ist aber die Vereinigung im Interesse der Sache nach meiner heutigen
Auffassung leider eine dringende Notwendigkeit und ich möchte allen Lehrern den
Beitritt dringend empfehlen. Die Denkschrift beweist das. Sie ist sehr besonnen
abgefaßt und bekundet vor allem das Einvernehmen zwischen den hervorragendsten
Psychiatern und den an solchen Anstalten wirkenden Lehrern und Geistlichen. Sie
ist darum geeignet, versöhnend zu wirken. Wer über die Streitfrage sich unter-
richten will, dem empfehlen wir dieses 60 Seiten umfassende Schriftchen angelegentlich.
Verdienstvoller noch ist eine zweite Schrift:
Zur Geschichte und Literatur des Idiotenwesens in Deutschland. Von
J. P.Gerhardts, Oberlehrer an den Alsterdorfer Anstalten bei Hamburg. Selbst-
verlag, 1904. Zu beziehen durch die Alsterdorfer Anstalten bei Hamburg. 353 8.
Preis 5 M.
Daß sich für dieses Buch kein Verleger gefunden, ist ein trauriges Zeichen
für unseren Buchhandel, bei dem jeder Schmutz sogar seinen sicheren Unterschlupf
findet. Was leistet dagegen Nordamerika! Ich besitze z. B. ein dreibändiges,
mindestens sechsmal umfangreicheres Werk über die Geschichte des nordamerika-
nischen Taubstummenwesens.
Um so mehr bitten wir unsere Leser, das mit großem Fleiß und warmem Herzen
geschriebene Werk verbreiten zu helfen. Der Staat hat durch seine besoldeten
Vertreter der Wissenschaften noch keine Geschichte des Idiotenwesens schreiben
lassen. Er soll jetzt unter Nichtachtung des historisch Gewordenen einfach dekre-
tieren, daß das alles, was für diese Unglücklichen bisher geschaffen, nicht der
»Wissenschaft und der Humanität« entspricht. So mutet man es ihm zu. Und
diese Rufer nach Verstaatlichung und »Verärztlichung« derselben haben höchstens
einzelne Karrikaturen pädagogischer und geistlicher Fürsorge gezeichnet. Ein
schlichter Lehrer, der gleich vielen seiner Kollegen das Bedürfnis nach einem Ein-
blick in die Geschichte seines Spezialberufes empfand, hat nun mühsam in seinen
282 C. Literatur.
Mußestunden die Bausteine aus all den »vergriffenene und vergrabenen Schriften
zu einer solchen Geschichte, oder richtiger: zu einer Quellensammlung, zusammen-
getragen.
Wenn die Pseudomedizin höhnt auf die »christliche Liebe«, die für den Dienst
an den Ärmsten gefordert wird, so muß es für den Verfasser doch eine wahre Be-
friedigung gewesen sein, festzustellen, wie geistig hochbegabte Männer Vermögen
und angesehene Stellung solchem Dienste opfern, wie Männer von Charakter und
Geist ihre Befriedigung in solchem Berufe fanden, ohne nach Verstaatlichung und
staatlicher Versorgung zu rufen, obgleich wir selbstverständlich nur wünschen
können, daß der Staat mehr als bisher sich der Armen am Geiste annehme und diese
Fürsorge nicht länger fast ausschließlich der privaten Wohlfahrtspflege überlasse.
Die Lehre von der sogenannten Idiotie ist in den meisten Lehrbüchern der
Psychiatrie, wie auch von den Psycbiatern selbst zugestanden wird, eine derart
dürftige und unzulängliche, daß Ärzte, Lehrer und Leiter an Idiotenanstalten wenig
damit anzufangen wissen. Auch die Literaturangaben sind überall äußerst spärlich,
so daß auch darin ein Wegweiser fehlt. Auch hier füllt das Gerhardtsche Buch
eine tatsächliche Lücke aus. Und dadurch, daß Gerhardt die Geschichte mehr
in Form von Quellensammlung geschrieben hat, wird, ohne daß er es beabsichtigte,
sein Buch zugleich zu einem Lehrbuch über die Idiotie. Tr.
Gutberlet, Dr. C., Der Kampf um die Seele. Vorträge über die brennendsten
Fragen der modernen Psychologie. Bd. II. 2. Aufl. Mainz, Franz Kirchheim.
1903. 8°. 718 S. Preis ?
Ament, Dr. W., Fortschritte der Kinderseelenkunde 1895—1903. Leipzig,
Wilh. Engelmann, 1904, 8°. 180 8. Preis 1,50 M.
Das Buch Gutberlets ist uns wohl zugegangen wegen des Vortrages über
die Psychologie des Kindes (S. 634—718). Der Verfasser versucht eine Übersicht
über die neuere kinderpsychologische Literatur zu geben, allerdings 'nicht mit be-
sonderem Glück. Wie weit er mit dem Gebiete vertraut ist, mag die Bemerkung
auf S. 640 zeigen, wonach Mark Baldwin »noch mehr Berühmtheit« erlangt haben
soll als Preyer. Unsere Zeitschrift, deren Titel unrichtig angegeben wird, scheint
dem Verfasser kaum zu Gesicht gekommen zu sein. Auch sonst findet sich viel
Unzuverlässiges, von der Unvollständigkeit ganz abgesehen.
Wer eines guten kritischen Führers durch die neuere kinderpsychologische
Literatur bedarf, und das dürfte wohl bei jedem der Fall sein, der diesem Gebiete
sein Interesse zuwendet, dem sei die mit großer Sorgfalt und Sachkenntnis be-
arbeitete Schrift von Dr. Ament bestens empfohlen. Wenn ich sage, daß sie in
keiner Lehrerbibliothek fehlen dürfe, so ist das keine bloße Redensart. Es gibt
wenig psychologische Schriften, die dem Lehrer so unentbehrlich sind wie diese.
Durch die Empfehlung der Amentschen Arbeit möchte ich gleichzeitig eine
Reihe von Anfragen erledigen, die noch neuerdings wieder an mich gerichtet worden
sind. Ufer.
Ribot, Th., Psychologie der Gefühle. Aus dem Französischen übersetzt von
Chr. Ufer. Altenburg, Oskar Bonde, 1903. Preis 10 M.
Th. Ribot gehört zu den bekanntesten und hervorragendsten Psychologen
der Gegenwart. Seine Psychologie der Gefühle ist zwar kein Werk, dessen Schwer-
punkt in der pädagogischen Psychologie zu suchen wäre. Wenn ich es trotzdem
in die Internationale Pädagogische Bibliothek aufgenommen habe, so ist das ge-
C. Literatur. 283
schehen in der Hoffnung, man werde sich in pädagogischen Kreisen endlich einmal
ebenso ernstlich mit dem Gefühlsleben beschäftigen, wie man sich nun schon so
lange Zeit mit den intellektuellen Erscheinungen des Seelenlebens beschäftigt hat.
In seiner Grundanschauung nimmt Ribot einen ganz andern Standpunkt ein
als Herbart; nach seiner Ansicht ist das Gefühl nicht ein abgeleiteter, sondern
ursprünglicher Zustand; es wird nicht durch die Wechselwirkungen der Vorstellungen
erzeugt, sondern geht unmittelbar aus dem Triebleben hervor. Wie der Verfasser
das im Anschluß an James und Lange wahrscheinlich zu machen sucht, muß in
dem Werke selbst nachgelesen werden, wo man eine Fülle des interessantesten
Stoffes finden wird.
Es gibt, vielleicht mit Ausnahme von Feres Pathologie des émotions, die aber
nur für Ärzte geschrieben ist, keine Arbeit über das Gefühlsleben, die ein so
reiches, von den Theorien unabhängiges Material enthielte. Dieses muß das Buch
auch dem wertvoll machen, der die Grundanschauungen Ribots glaubt ablehnen
zu müssen.
Für die Leser unserer Zeitschrift hat das Werk noch ein besonderes Interesse,
einmal insofern es den Schwerpunkt auf die stufenweise Entwicklung des Gefühls-
lebens legt, und dann insofern bei der Behandlung der einzelnen Gefühle zum
Zwecke der Erklärung und Erläuterung auch das Pathologische herangezogen wird.
Ufer.
Kroiss, Karl, Zur Methodik des Hörunterrichts. Beiträge zur Psychologie
der Wortvorstellung. Vorträge, gehalten im Auftrage des bayerischen Kultus-
ministeriums bei dem Informationskurse für Ohrenärzte und Taubstummenlehrer
in München. Wiesbaden, Bergmann. Preis 2,40 M.
Die Frage nach dem Hörenlernen der Taubstummen soll hier unberücksichtigt
bleiben. Die Wiener Taubstummenanstalt, in der auf Anregung des Universitäts-
professors Dr. V. Urbantschitsch die ersten Versuche in weiterem Umfange ge-
macht sind, durch Übung bei Taubstummen das Gehör zu wecken, hat sie aufgegeben.
Unter der Führung des Universitätsprof. Dr. Bezold und des Taubstummenanstalts-
direktors Koller sind sie in der Königl. Taubstummenanstalt zu München in mehr
systematischer Weise wieder aufgenommen. Auf der Versammlung des deutschen
Taubstummenlehrerbundes in Hamburg fanden die von Süddeutschland kommenden
Anregungen jedoch nur einen geringen Anklang, und gar mancher Fachmann, der
nachher der Versammlung von Öhrenärzten und Taubstummenlehrern in München
beiwobnte und unbefangen die Resultate der Hörübungen von teilweis Tauben und
von Schwerhörigen dort beobachtete, hat ein keineswegs ermunterndes Urteil gefällt.
An dieser Stelle brauchen wir das Für und Wider nicht darzulegen: die Leser der
Kinderfehler werden nicht so töricht sein, im Hinblick auf das, was vielleicht
erreicht werden könnte, sich von dem Beschreiten des durch Erfahrung als richtig
erkannten Bildungsgange gehörkranker Kinder abhalten zu lassen,
Von den in sehr ansprechendem Tone gehaltenen wissenschaftlichen Dar-
legungen m Kroiss’ Buche sei hier aber einiges besprochen.
Sowohl beim Sprachunterrichte normaler als anormaler Kinder muß die Methode
des Sprachunterrichts auf Tatsachen aufgebaut sein, die als Ergebnis bei der Unter-
suchung der akustischen und mimischen Ausdrucksweise sich ergeben haben. Neben
den akustischen und motorischen Faktoren sind die Tast-, Muskel- und andere
Empfindungen sehr wichtig. Die anfäglich rein reflektorisch ausgelösten Bewegungen
des Kindes verursachen Bewegungsvorstellungen. Die akustischen und die Bewegungs-
Vorstellungen verbinden sich, wenn keine Hindernisse dazwischen treten, zunächst
284 C. Literatur.
unbewußt mit den Objekten. Das vollsinnige Kind beginnt infolgedessen selbst Laute
hervorzubringen, zunächst rein reflektorisch. Aber das eigene »Krakeln« der Kinder
erzeugt in ihnen Lustempfindungen, und das, was anfänglich unbewußt geschah,
wird nach und nach zu einem bewußten Handeln. Fehlen jedoch die akustischen
Vorstellungen, wie beim Tauben, oder sind sie, wie bei dem Schwerhörigen, zu
wenig kräftig, oder ist der sensorische Apparat geschwächt, so kann auf dem natür-
lichen Wege die erforderliche Assoziation nicht erfolgen. Liegen abnorme Muskel-
zustände vor, so gehorchen die Bewegungsorgane nicht. Hier wie dort bleibt die
Sprache aus, oder sie bleibt unzureichend, unter Umständen bis zu völliger sen-
sorischer oder motorischer Aphasie. Bei richtiger Arbeit der Organe schält sich
dagegen das Kind aus den einwirkenden wirren Klängen zunächst die am häufigsten
gebrauchten Worte heraus. Je kräftiger die zurückbleibenden Spuren der Wahr-
nehmungen sind, desto früher verdichten sie sich und die Wortvorstellungen ver-
schmelzen mit den Objekten. Eine sehr wichtige Rolle spielen hierbei die Ono-
matopöie als Wurzeln des Sprachverständnisses und des Sprachgebrauches. Ähnlich,
wie sich beim körperlich normalen Menschen die akustischen Eindrücke mit den
durch die übrigen Sinne wahrgenommenen Objekten assimilieren, so auch die
optischen Eindrücke beim Tauben und Schwerhörigen, sei es beim Ablesen der
Worte von den Sprachwerkzeugen des Sprechenden, sei es beim Lesen der ge-
schriebenen Schrift. Hier wie dort haftet das Auge bei genügender Übung nicht
auf den Elementen, auf den einzelnen Sprachzeichen: hier wie dort handelt es sich
besonders um ganze Wortbilder.
Wenn die Vertreter des Hörunterrichtes der Tauben in diesem eine Erleichte-
rung des Gesamtunterrichtes der Gehörkranken erblicken, so möchte von psycho-
logischem Standpunkte aus betrachtet manches dagegen gesagt werden können.
Unvollkommen und schwierig bleibt das Absehen der Tauben, auch wenn sich der
Lehrer bemüht, sie so früh wie möglich zu veranlassen, ganze Wortbilder und Satz-
bilder aufzunehmen. Das psychische Absehen läßt sie häufig im Stiche. Liegt
Durchbildeten eine undeutliche Handschrift vor, so müssen selbst diese sich beim
Lesen oft ernstlich bemühen, in schlecht geschriebenen Wörtern durch Entziffern
der einzelnen Buchstaben den Wortsinn zu fassen. So ist es auch beim Ab-
sehen des Tauben und Schwerhörigen von den Sprechwerkzeugen des Sprechenden.
Hier bereiten aber nicht nur undeutlich gesprochene Buchstaben beim Ablesen
Schwierigkeiten, sondern naturgemäß entziehen sich auch bei korrektem Sprechen
manche Sprechbewegungen völlig der optischen Auffassung, da sie durch die davor-
liegenden Teile der Sprechorgane verdeckt werden.
Wie sich dem Auge viele Bewegungen der Sprechorgane entziehen, so bleiben
auch dem Ohre des ungenügend Hörenden viele Sprachelemente unvernehmbar.
Das physische und psychische Hören ‘muß deshalb zum Verständnisse zu-
sammentreten. Wird nun akustischer und optischer Unterricht nebeneinander er-
teilt, tritt also eine Schwierigkeit zu der andern, so darf man sich nicht
wundern, wenn die Gesamtausbildung darunter leiden sollte, statt durch das Zu-
sammentreten gefördert zu werden.
Ich habe mir nicht die Aufgabe gestellt, hier einen genaueren Überblick über
das oben genannte Werk zu geben. Es möchte fördersamer sein, zum Lesen und
Studieren eines Buches aufzumuntern, sofern es solches verdient. Das Buch
von Kroiss verdient, gelesen und studiert zu werden, nicht nur von
Taubstummenlehrern.
Emden. O. Danger.
Druck von Hormann Boyor & Söhne (Boyer & Mann) in Langonsalza.
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