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Full text of "Die Kinderfehler - Zeitschrift für Kinderforschung 8.1903-9.1904"

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Die Kinderiehler. 


Zeitschrift für Kinderforschung 


mit besonderer Berücksichtigung 


der pädagogischen Pathologie. 


Im Verein mit 
Medizinalrat Dr. J. L. A. Koch und Prof. Dr. theol. et phil. Zimmer 


herausgegeben 


von 


Institutsdirektor J. Trüper und Rektor Chr. Ufer. 


Achter Jahrgang. 





Langensalza 
Hermann Beyer & Söhne 
(Beyer & Mann) 


Herzogl. Sichs. Hofbuchhändler 
1903 


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Alle Rechte vorbehalten. 


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Inhalt. 


A. Abhandlungen: 


Koca, Dr. J. L. A., Die erbliche Belastung bei den Psychopathien 

Gızyck1, Dr. von, Wie urteilen Schulkinder über Funddiebstahll? . . . . . 
Könıs, A., Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei Kindern . . 49. 
ScHozz, Dr. L., Abnorme Kindesnaturen . x 2 2 2 2 220200... GL 
Ds Kari Über Schülerbefähigung 

Lossin, Marx, Einige NN über das Gedächtnis bei Sehwachle- 


fähigten Sur ’ >. Ioi 
BARBER, Karl, Ein Beitiär zu dem Kapitel ropade Mindeiwerbe- 
keiten 


HirscHrELD, Dr. Maxus, Das irase Kind 


B. Mitteilungen: 


Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. Von Aporr Rupe 26. 74. 123. 

Unsere jugendlichen Verbrecher. Von J. TrÜPER E S 

Unsere diesjährigen Neulinge in sprachlicher Hinsicht, Von Max Meuserr 

Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. Von J. 
Chr. HaGEN. . . 40. 81. 

An die Mitglieder und Freiane des Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands 

Tagesordnung für den 4. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands 

Zur Sprachentwicklung. Von Dr. WoLFERT u 

Neue Methode. Von O. DANGER 

Falsches Zeugnis . Be ren ee ae 6 

Über die Verwertung der Gchörreske bei abstimmen: Von Rup. BROHMER 

Ethische Anschauungen japanischer Mädchen. Von Anxa Bock 

Verein für Kinderforschung . 

Zur Nachricht. 


IV. Verbandstag der Filfsschulen Deutschlands Fe e A 0.168. 
Die Versammlung des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik. 
Probleme der Kindersprache. Von Dr. Paur Maus. . . . Be >21. 


Erziehungs- und Fürsorge-Verein für geistig-zurückgebliebene fsehwachkinnise) 
Kinder zu Berlin i 

IV. Schweizerische Konferenz für das onen 

Ein taubstummer Gelehrter . u 

Die ästhetischen Elementargefühle. von ie RMANN Gu Waa. ; a 

Innenleben der Stotterer und seine Berücksichtigung bci der Behandlung. Von 
Orto LEGEL 


IV Inh alt. 








Auswahl von Schülern für die Hilfsschulen. Von MICHAEL 
Medizin und Pädagogik. Von J. TRÜPER 


. . . . . . . . « . 


C. Literatur: 


O. Godtfring, für den Artikulations-, Stimmbildungs- und Sprechunter- 
richt. Von SIEMEN . . eu A 

H. Stelling, Die Erziehung der söhwnchberabten und En Taub- 
stummen und die Teilung nach Fähigkeiten überhaupt. Von Fr. FRENZEL 

Prof. Dr. G. Stanley Hall, Ausgewählte zur Kinderpsychologie und 
Pädagogik. Von UFER Be 

Dr. med. Doll, Ärztliche Unkörsichungen aus der Hiltsschule für ON 
sinnige Kinder zu Karlsruhe. Von H. SEIFART . 

Heinrich Schreiber, 1. Beiträge zur Theorie und Praxis des ian ilena 
tarunterrichts. 2. Die Tyrannei der Zahl. Von L. B. 

Prof. Dr. Krieg, Lehrbuch der Pädagogik. Von HERMANN GRÜNEWALD 

L. Veeb, Die Pädagogik des Pessimismus. Von HERMANN GRÜNEWALD 

Größ, Über Alkoholismus im Kindesalter. Von Dr. med. SPANIER 

Silberstein, Ein Fall von Suggestionsneurose. Von Dr. med. SPANIER 

Helene Keller, The Story of my Life. Von O. Daxter N a a 

Richard Fuhrmann, Herunter die Maske. Von HERMANN GRÜNEWALD. 

M. Braunschweig, Das dritte Geschlecht. Von HERMANN GRÜNEWALD. 

K. Ziegler, »Unsere schwachen Kinder«e. Von Trürer. 

Dr. med. Eichholz und Sonnenberger, Kalender für Frauen- mii Kia: Aie 

Prof. Dr. Sikorsky, Die Seele des Kindes nebst kurzem Grundriß der weiteren 
psychischen Evolution. Von HERMANN GRÜNWALH ; i 

Seminaroberlehrer L. Habrich, Pädagog. Psychologie. Von HERMANN er 

Prof. Dr. med. Georg Sticker, Gesundheit und Erziehung. Von Urer 

Franziskus Hähnel, Alkoholismus und Erziehung. Von Trürrr 

Zur Psychologie des ersten Leseunterrichts. Von Trürer En 

Dr. H. E. Piggott, Die sittliche Entwicklung und Erziehung des Kihder Von 
STUKENBERG 

Dr. W. A. Lay, Eimerimeitelle, Didaktik. Von ORtekt R 

Eingegangene Schriften 











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S Ci o, N LO, 4 = 
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A. Abhandlungen. 


1. Die erbliche Belastung bei den Psychopathien. 
. 2: Von 
Dr. J. L. A. Koch, Staatsirrenanstaltsdirektor a. D. 

Die erbliche Belastung und immer wieder die erbliche Belastung! 
Wie oft hört und liest man doch von der erblichen Belastung geistes- 
kranker oder psychopathisch minderwertiger Personen. Und Ärzte 
wie. Laien: wieviel und wie Richtiges und Wohlbewiesenes glauben 
sie doch beigebracht zu haben, wenn sie von einem Menschen, der 
an einer Psychose (einer Geisteskrankheit) oder an einer psycho- 
pathischen. Minderwertigkeit leidet, aussagen, dafs er erblich belastet sei. 
Und in Wahrheit: wie wenig und wie Falsches ist doch oft damit 


‚gesagt. Wie über die Mafsen gedankenlos wird der Begriff der erb- 
‚lichen Belastung so häufig verwertet! Ä Ä 


Ja, es ist gewils: die erbliche Belastung spielt bei den Psycho- 
pathien eine grofse, sie spielt in unserer Zeit eine unheimlich grolse 
Rolle. Aber nur um so mehr sollte man sich davor hüten, auch da 
von erblicher Belastung als von einer erwiesenen Tatsache zu reden, 
wo blofs die Möglichkeit besteht, dafs eine solche Belastung vor- 
liegt. Und noch viel mehr sollte man sich davor hüten, von erb- 
licher Belastung zu reden, wo es im voraus schlechterdings un- 
möglich ist, dafs eine erbliche Belastung entstehen konnte. Leider 
hütet man sich vor solchen Ungenauigkeiten und Unrichtigkeiten gar 
nicht. Auf diese Dinge machte ich schon vor langer Zeit aufmerk- 
sam, und ich wies auch seither immer wieder einmal aufs neue dar- 
auf hin, aber, soweit ich schen kann, mit wenig Erfolg. Es wird 
not tun, dafs wir zum Beginn dieser Untersuchungen noch einmal 
darauf zurückkommen. 

Dio Kinderfehler. VIII. Jahrgang. 1 


2 A. Abhandlungen. 


Wenn man über einen Menschen, der an einer Psychopathie 
(einer Psychose oder einer psychopathischen Minderwertigkeit) leidet, 
aussagt, dafs er erblich belastet sei, so meint man damit, dafs bei 
einem oder bei mehreren seiner Eltern und Voreltern oder auch 
bei Seitenverwandten von ihm ebenfalls nicht alles in Ordnung war, 
dafs vielmehr auch in seiner Blutsverwandtschaft eine Nervenkrank- 
heit oder mehrere Nervenkrankheiten (Geisteskrankheiten, psycho- 
pathische Minderwertigkeiten, andere breitere Nervenleiden) bestanden 
und beziehungsweise noch bestehen, und dafs die in seiner Ver- 
wandtschaft bestehenden Nervenleiden auf dem Wege der Vererbung 
zur Ursache wurden, dafs auch er selbst nervenleidend, speziell also 
psychopathisch geworden ist. 

Ein solcher Zusammenhang findet sich nun bei Personen, die in 
der geraden Linie verwandt sind, in der Tat oft genug. Da ist 
z. B. ein Mann, dessen Mutter zur Zeit der Konzeption und als sie 
mit dem Kinde schwanger ging, an einem konstitutionellen Nerven- 
leiden litt, etwa an einer (psychopathisch minderwertigen) Hysterie. 
Die konstitutionelle Schädigung des Nervensystems seiner Mutter 
hat sich auf diesen Mann vererbt und infolgedessen wird auch er 
hysterisch, vielleicht schon als Knabe, vielleicht auch erst später. Es 
kann sich zufolge der ererbten Schädigung seines Nervensystems!) 
auch ein anderer krankhafter Zustand bei ihm einstellen als die 
Hysterie, an der seine Mutter litt. Das wird sogar mit überwiegender 
Wahrscheinlichkeit der Fall sein. Er kann z. B. epileptisch werden. 
Er kann auch irrsinnig oder idiotisch werden oder eine psycho- 
pathische Minderwertigkeit davontragen, die nicht hysterischer Natur 
ist. Und solcher Dinge eines oder gar eine Verbindung solcher 
Dinge stellt sich ein, sei es, dafs das die ererbte Schädigung für sich 
allein bewirkte, sei es, dafs noch andere Schädlichkeiten als Gelegen- 
heitsursachen dazu mithalfen. 

Wenn man also von jemand, der nervenkranke Vorfahren hat 
und der nun selbst irgend einmal geisteskrank wird, sagt, er sei erb- 
lich belastet, so hat man alles Recht, so zu sagen, vorausgesetzt 
nur, dafs man den Nachweis geliefert hat, dafs die Schädigung des 
Nervensystems vom betreffenden Menschen in der Tat eine ererbte 
oder doch mit eine ererbte war. Leider nur pflegen sich mit einem 


1) Wir haben hier immer nur solche Fälle im Auge, wo ein krankhafter 
Schade besonderer Art, wo ein eigentliches Nervenleiden bei den Vorfahren besteht, 
und lassen andere Fälle aus dem Spiel, z. B. die Fälle, wo allgemein schwächliche 
Eltern ihre allgemeine Schwächlichkeit und damit auch eine gewisse Schwächlich- 
keit des Nervensystems auf Nachkommen vererben. 


Koch: Die erbliche Belastung bei den Psychopathien. 3 


solchen Nachweis nicht blofs die meisten Laien, sondern auch die 
meisten Ärzte gar nicht erst lange aufzuhalten. Oder vielmehr: der 
Nachweis ist ihnen in jedem solchen Falle eben damit schon ge- 
liefert, dafs ein Nervenleiden (speziell gar eine Psychopathie) in der 
Aszendenz und eine Geisteskrankheit bei dem Deszendenten kon- 
statiert ist. Sie sind erstaunt, wenn man noch mehr verlangt. In 
allen solchen Fällen ist ja doch die Sache, so meinen sie, ohne 
weiteres völlig klar: hier ist ein idiotischer Knabe, ein in konsti- 
tutionell rezidivierender Weise!) melancholisches Mädchen, ein para- 
lytischer Mann; die Mutter des Knaben war epileptisch, der Vater 
des Mädchens war paranöisch, der Grofsvater des Mannes litt einmal 
an Delirium tremens: also sind jene beiden Kinder und ist dieser 
Mann erblich belastet. Ja, wenn das nur gewils wäre, wenn das 
nur notwendig immer so sein mülste! Aber nicht in jedem Falle, 
wo der Vater oder die Mutter eines Kindes, um nur von diesen zu 
reden, zur Zeit der Zeugung desselben, und beziehungsweise zur 
Zeit der Schwangerschaft, nervenleidend war, — nicht in jedem 
solchen Falle wird ein Nervenschade nun auch auf dieses Kind und 
etwa auch auf Geschwister von ihm oder auf alle seine Geschwister 
vererbt. Wenn aber auf ein Kind, das nervenleidende Eltern hat, 
nichts überging, keine Schädigung der Nerven überging, und es 
erwirbt im Laufe seines Lebens aus ganz andern Gründen eine 
Geisteskrankheit, z. B. durch eine Vergiftung, so kann man in 
einem solchen Falle doch nicht sagen, diese Geisteskrankheit sei 
die Folge einer erblichen Belastung.?) Man sollte wenigstens 
meinen, dafs man das nicht sagen könne. Allein, manchen guten 
Leuten, denen die bei der Aszendenz vorhandenen Nervenleiden 
und die Psychopathien bei der Deszendenz immer ganz selbst- 
verständlich durch die eiserne Klammer der erblichen Belastung ver- 
bunden sind, manche gehen so weit, jene Klammer verknüpft ihnen 
die betreffenden Vorkommnisse so ohne alle Wahl, dafs sie erbliche 
Belastung nicht nur bei Fällen wie der letztgedachte, sondern selbst 
da noch behaupten, wo jemand erst nach der Geburt seines »erb- 
lich belasteten« Deszendenten nervenkrank, speziell geisteskrank oder 

1) Vergl. hieızu die im Jahre 1889 erschienene 2. Aufl. meines Leitfadens 
der Psychiatrie und meine 1890 erschienene Spezielle Diagnostik der Psychosen. 

?) Selbst eine angeborene Disposition zu Psychopathien oder etwa auch 
eine angeborene Idiotie mufs in hergehörigen Fällen nicht immer notwendig auf 
einer vererbten Schädigung beruhen, der Fötus kann sich vielmehr krankhaft ent- 
wickeln, ohne dafs der Zustand der nervenkranken Mutter oder des nervenkranken 
Vaters irgend eine Schuld daran trägt. Das kann da ebensogut geschehen wie bei 


den Kindern gesunder Eltern. 
1* 


4 A. Abhandlungen. 
psychopathisch minderwertig wurde! Wenn aber ein Mensch, der 
in seinem Nervensystem vordem völlig gesund war, etwa durch 
einen Fall auf den Kopf oder durch Alkoholmißsbrauch eine Geistes- 
krankheit oder ein anderes Nervenleiden erwirbt: wie soll er es’ denn 
angreifen, um die Schädigung scines Nervensystems auf Kinder zu 
vererben, die auf die Welt kamen, ehe er auf den Kopf stürzte und 
che er sich dem Trinken ergab? 
Es kommt aber noch dicker. — Wenn man von diesem oder 
jenem Menschen, der von einem konstitutionell nervenleidenden Vater 
gezeugt wurde und sich später als psychopathisch erwies, ` ohne 
weiteres sagt, er sei erblich belastet, so liegt doch wenigstens die 
Möglichkeit vor, dals dem so ist; ja, wenn das Nervenleiden des »be- 
lastenden« Vaters wirklich ein konstitutionelles Leiden war, so ist 
im voraus ein gewisser Grad von Wahrscheinlichkeit vorhanden, ist die 
Vermutung gerechtfertigt, dafs der Betreffende erblich belastet sei. Aber 
wie verhält es sich z. B. dann, wenn man einen psychopathischen 
Menschen als erblich belastet bezeichnet lediglich nur deshalb, weil 
ein Onkel von ihm auch nervenleidend war, und vielleicht auch gar 
erst nach der Geburt des Neffen nervenleidend wurde? Lediglich 
nur deshalb! Es kommt oft genug vor, dafs man derartiges aus- 
spricht. Blofs das kommt nicht vor, dafs es je einmal wahr wäre. 
Und es wird auch dadurch nicht zu etwas Möglichem gemacht, dafs 
sich sogar die »Wissenschaft« der Sache angenommen hat und ganz 
unbefangen die erbliche Belastung durch Seitenverwandte aufgestellt, 
der betreffenden Vererbung auch einen schönen Namen gegeben hat, 
nämlich den Namen: Kollaterale Vererbung, beziehungsweise Be- 
lastung. Aber vom Blute, so wollen wir einmal sagen, vom Blute 
des Onkels oder der Tante oder ihrer Kinder, meiner Vettern und 
Basen, ist nichts in mir und kann nichts auf mich übergehen aufser 
durch Transfusion. Wenn also der Onkel eines psychopathischen 
Mannes ebenfalls an ciner Psychopathie oder wenn er sonst an 
einem Nervenübel leidet: was tut man dann, wenn man lediglich 
nur deshalb den Neffen erblich belastet nennt? Nun, man tut damit 
mindestens etwas recht Unnötiges, Schiefes und Mifsverständliches. 
Entweder behauptet man damit — und das ist geradezu töricht —, 
es sei eine körperliche Beschaffenheit von dem Onkel auf den Neffen 
übergegangen, was doch ganz unmöglich ist — man denke doch nur 
cin wenig nach — oder man will einfach die Tatsache feststellen, 
dafs der Herr Onkel auch nervenleidend war. Das könnte man aber 
auf einem einfacheren, weniger mifsverständlichen und im tiefsten 
Grunde weniger unrichtigen Wege tun als mit einer solehen Um- 





Koch: Die erbliche Belastung bei den Psychopathien. 5 


biegung und Neuverwendung eines an anderen Orte passenden tech- 
nischen Ausdrucks. Warum nennt man denn die psychopathischen 
Bekannten jenes Onkels, die nicht mit ihm verwandt sind, oder 
einen ihm nicht verwandten psychopathischen Soldaten, der in seiner 
Kompagnie dient, nicht auch erblich belastet, von ihm erblich be- 
lastet? Man hätte das gleiche Recht dazu. 

Wenn es nun aber auch keine kollaterale Vererbung gibt und 
geben kann, so kann doch wenigstens ein Zusammenhang bestehen 
zwischen dem Nervenleiden des Onkels und dem Nervenleiden seines 
Neffen. Dabei bleibt aber alles stehen, was ich oben sagte; denn 
dieser Zusammenhang ist niemals ein ursächlicher Zusammen- 
hang. 

Der Vater des mit dem Neffen blutsverwandten Onkels ist der 
Grolsvater des Neffen; die Mutter des Onkels ist des Neffen Grols- 
mutter. Vom Grofsvater aber und von der Grofsmutter kann ich 
durch meine Eltern hindurch eine Nervenschädigung ererben, und 
mein Onkel kann sie auch von ihnen ererben. In einem solchen 
Falle hat also nicht der Onkel etwas auf den Neffen übertragen, 
aber der gleiche Vorfahre oder mehrere Vorfahren haben auf den 
Onkel wie auf den Neffen eine Schädigung des Nervensystems ver- 
erbt, die Quelle ihres Leidens ist ein und dieselbe. Wo sich aber 
die Sache in dieser Weise verhält, da kann es wohl auch vorkommen, 
dafs nur die bei dem Onkel und die bei dem Neffen auftretenden 
Störungen deutlich genug sind, um von der Umgebung derselben be- 
merkt zu werden, beziehungsweise dafs ihre Umgebung nur das 
Leiden dieser beiden, nicht aber auch das des Grofsvaters oder der 
Grofsmutter zu erkennen befähigt war oder in Erfahrung zu bringen 
vermochte. So wird denn immerhin in jedem Falle, wo der (bluts- 
verwandte) Onkel wie der Neffe nervenleidend ist, ein Anlals vor- 
liegen, zwar nicht ohne weiteres anzunehmen, dafs beim Neffen eine 
erbliche Belastung vorhanden sei, aber nachzuschen, ob sie nicht vor- 
handen sein möchte, nämlich eine erbliche Belastung nicht vom 
Onkel her, aber eine Belastung von dem Vorfahren her, der auch 
den Onkel belastet hat. Und wenn nun gar auch noch Geschwister 
des Onkels und Kinder von ihm nervenkrank sind und etwa auch 
Geschwister des Neffen, so steigt natürlich schon dadurch, noch ganz 
abgesehen von weiteren Anhaltspunkten, die Wahrscheinlichkeit 
sehr, dals die in der betreffenden Familie verbreitete Nervenschädigung 
eine Schädigung ist, die sich vererbt hat, und dafs an ihr auch der 
Neffe teilnahm. 


6 A. Abhandlungen. 


Wir halten uns nun des weiteren ausschliefslich an das, was 
auf unserem Gebiet in der Tat erbliche Belastung ist, und fragen 
zunächst, worin denn nun diese erbliche Belastung besteht und ob 
und wie sie sich zu erkennen gibt. 

Die Vorstellungen, die man über diesen Gegenstand hat, sind 
zum Teil recht unklare Vorstellungen. Man hegt vielfach den mehr 
oder weniger dunkeln Gedanken, es sei eben die Psychopathie, 
z. B. der Iırsinn, der bei einem von nervenkranken Vorfahren ab- 
stammenden Menschen im Verlaufe seines Lebens auftritt, es sei 
eben sie und nur sie die erbliche Belastung. Dann wäre die Be- 
lastung ein Nichts bis dahin, wo der Iırsinn auftritt. Dringt man 
aber mit seinem Nachdenken tiefer ein, so meint man doch oft, die 
Belastung sei zwar von frühauf vorhanden, aber sie sei nicht merk- 
bar, sie könne nicht festgestellt werden bis dahin, wo der Irısinn 
ausbricht. Diese beiderlei Vorstellungen sind nicht richtig. Ich 
werde dies im Zusammenhang mit andern Dingen sofort nachweisen. 

Wer belastet ist, ‘auf dem liegt eine Last, und wenn er erb- 
lich belastet ist, so ist die Last notwendig eme angeborene; im 
späteren Leben kann sie nicht mehr über ihn kommen. Und diese 
Last ist kein blofser Gedanke, sondern etwas Wirkliches auch aufser- 
halb der Vorstellung. Es fragt sich also nur, ob dieses Wirkliche 
von der Umgebung des erblich Belasteten, speziell ob es vom Arzte 
bemerkt und aufgezeigt werden kann, oder ob es zwar vorhanden 
ist, aber an sich selbst und in seiner Wirkung verborgen bleibt bis 
dahin, wo sich in den späteren Lebensjahren des Belasteten eine 
Psychopathie bei ihm einstellt. 

Wenn man überlegt, worin dieses Wirkliche wohl bestehen möge, 
so steht natürlich das im voraus fest, dafs es eine Schädigung des 
Nervensystems sein müsse. Aber das Nervensystem kann auf 
zweierlei Weise geschädigt sein. Entweder ist sein grob-anato- 
mischer Aufbau, bezichungsweise seine mikro-anatomische 
Struktur fehlerhaft, und es sind zufolge des pathologischen Baues 
des Gehirns auch seine Leistungen abnorm, oder der makro-ana- 
tomische wie der mikro-anatomische Aufbau des Gehirns ist von der 
richtigen Art, aber es fehlt an der richtigen mikro-chemischen 
Beschaffenheit des Gehirns (was schliefslich natürlich wohl nicht 
ohne irgend welche mikro-physikalische Rückwirkung bleiben kann), 
und es sind infolgedessen die Funktionen des Gehirns fehlerhaft. 

Man sollte nun vermuten, dafs ein erblich belasteter Mensch, 
der die bekannten anatomischen Degenerationszeichen in mehr oder 
weniger grofser Anzahl an seinem Leibe mit sich herumträgt, solche 


Dife 0 


Kocu: Die erbliche Belastung bei den Psychopathien. 7 








Degenerationszeichen auch an seinem Gehirn aufweisen werde, und 
dafs sie die Ursache seiner psychischen Anomalien seien. Nun kann 
er möglicherweise anatomische Degenerationszeichen an seinem Ge- 
hirn in der Tat haben. Aber von hier aus kommen wir nicht weiter. 
Diese Degenerationszeichen sind nicht das, worauf es hier ankommt. 
Und grob anatomische und mikro-anatomische Abänderungen, welche 
hier in Betracht kämen, findet man — abgesehen von der Idiotie 
aus erblicher Belastung — bei den Sektionen erblich belasteter 
Menschen nicht, soweit eben ihre crerbte Belastung in Betracht 
kommt. Man findet sie wenigstens bis jetzt nicht. — So bleibt denn 
vorerst nichts übriWals die Annahme. dafs die fehlerhaften Funktionen 
der belasteten (nichtidiotischen) Gehirne auf mikro-chemischen Ab- 
weichungen vom Noaten beruhen (die dann des weiteren auch bei 
der Idiotie vorhanden sein können), beziehungsweise auf den Stoff- 
wechselanomalien und der Selbstvergiftung, welche die Folge dieser 
mikro-chemischen Anomalien der Zellen sind. 

Man hätte also wohl immer in einer ererbten mikro-chemischen 
Fehlerhaftigkeit des Gehirns dessen cerbliche Belastung zu erblicken? 
Diese Frage kann nicht schlechthin bejaht werden. Es kann allerdings 
am letzten Ende lediglich nur eine Fehlerhaftigkeit im Stoffwechsel 
des Gehirns selbst sein, was die Anomalien in den psychischen 
Leistungen eines Menschen bewirkt, aber der abnorme Stoffwechsel 
im Gehirn kann unter Umständen auch anderswo herstammen als 
aus der Anlage des Gehims selbst. Es ist als möglich denkbar, dafs 
die ursprüngliche Last nicht auf die Nerven, sondern auf andere 
Organe des Körpers gelegt ist, und dafs die Alteration des Gehirn- 
stoffwechsels auf einer Vergiftung beruht, die von andern, ursprüng- 
lich mikro-chemisch geschädigten Organen herkommt, also beruht 
auf einer sekundären Änderung in der Mikrochemie des Gehirns. 
In Wahrheit wird wohl beides vorkommen: ursprüngliche chemische 
Anomalien im Nervensystem selbst (oder auch im Nervensystem) 
und ursprüngliche chemische Anomalien in andern Organen und 
dann erst von hier aus eine Schädigung des Gehirns. 

Dem Leser ist nicht entgangen, dafs der letzte Absatz etwas 
hypothetisch gehalten ist. Dieser hypothetische Charakter des vor- 
hergehenden Absatzes entspricht aber der tatsächlichen Lage der 
Dinge. Wir vermögen diese abnormen chemischen Konstitutionen 
und die aus ihnen entspringenden Ernährungs- und Stoffwechsel- 
anomalien,. deren Vorhandensein in dieser oder jener Gestalt wir nach 
dem derzeitigen Stande unseres Wissens gleichwohl auf das be- 
stimmteste annehmen müssen, vorerst nicht aufzuzeigen und jeweils 






8 A. Abhandungen. 


nach ihrer Eigenart zu bestimmen. Wir können dies weder durch 
chemische Reaktionen, noch durch sonst etwas bewerkstelligen. , 

So könnte man nun meinen, dafs das Wirkliche, worin die erb- 
liche Belastung sich ausdrückt, in der Tat cben doch niemals als 
vorhanden nachgewiesen werden könne, so lange nicht im 
späteren Leben eines Belasteten eine Psychopathie auftrete. Aber 
dem ist nicht so. Diese Annahme ginge zu weit. Die hier in Be- 
tracht kommenden Produkte eines abnormen Stoffwechsels und was 
diesen Stoffwechsel bedingt, das alles können wir allerdings nicht 
vorzeigen: aber wir können schon frühe, schon schr frühe im Leben 
der Belasteten die Folgen der Belastung zeigen, die uns für sich 
allein oder in ihrem Zusammenhang mit anderen gestatten, auf die 
erbliche Belastung zurückzuschliefsen; wir können also wenigstens 
das Vorhandensein der Belastung nachweisen. 

Zwei Reihen von Erscheinungen sind es, die jenen Rückschlufs 
ermöglichen und beziehungsweise ermöglichen helfen: erstens eine 
Reihe von sogenannten funktionellen Degenerationszeichen auf dem 
körperlichen Gebiet, zweitens eine Reihe von abnormen psychi- 
schen Erscheinungen. — Diese Erscheinungen treten zu bestimmten, 
verschiedenartigen Krankheitsbildern zusammen. | 

Zufolge der erblichen Belastung, die schon während des Fötal- 
lebens eines Kindes irgendwie auf den Nerven des Kindes liegt, kommt 
dasselbe entweder geisteskrank und zwar speziell mit einer angeborenen 
Idiotie zur Welt (ein Iırsinn kann es nicht sein), mit einer Idiotic, 
die sich bei der Entwicklung des Kindes sehr bald und desto früher 
bemerkbar macht, je höher ihr Grad ist, oder spricht sich die ererbte 
Schädigung der Nerven in einer psychopathischen Minder- 
wertigkeit aus, die ebenfalls meist schon frühe, schon beim Säug- 
ling, erkannt werden kann. 

Wir verfolgen die Idiotie, diejenige Idiotie, in der sich ein cr- 
erbter Schade des Nervensystems ausdrückt, nicht weiter, halten uns 
vielmehr im nachfolgenden ausschliefslich an die psychopathischen 
Minderwertigkeiten, die zufolge ererbt-angeborener Schädigungen des 
Nervensystems als der Ausdruck solcher Schädigungen des Nerven- 
systems auftreten. !) 

Von der ererbt-angeborenen Idiotie also abgesehen, spricht sich 
die erbliche Belastung in einer psychopathischen Minderwertigkeit aus. 
Sie spricht sich nahezu in jedem Falle merkbar darin aus. Man 


1) Wir reden also auch nicht von Schädigungen, die zwar angeboren, aber 
nicht im engern und engsten Sinne ererbt sind. 





Koc#: Die erbliche Belastung bei den Psychopathien. 9 


mufs zwar nach dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft unter 
den psychopathischen Minderwertigkciten immer noch die latente 
psychopathische Disposition zulassen, denn in vereinzelten Fällen ver- 
mag man bei erblich belasteten Menschen eine ‘psychopathische 
Minderwertigkeit nicht mit Sicherheit zu erkennen, und kann nur 
später, wenn eine Psychopathie bei ihnen ausbricht, aus den ein- 
zelnen (somatischen und psychischen) Erscheinungen und dem Verlaufe 
der Krankheit den Rückschlufs machen, dafs eine erbliche Belastung 
bestanden habe. Ich vermute aber, dafs die kleine Zahl der Belasteten 
mit angeborener latenter psychopathischer Minderwertigkeit durch den 
Fortschritt der Wissenschaft immer kleiner werden wird. Man wird 
lernen, manches, was sich jetzt noch verbirgt, ans Licht zu bringen. 
Doch mag es immerhin sein, dafs ein Rest von latenter psychopathi- 
scher Disposition auch später noch übrig bleiben wird. Wirkliche 
Latenz wäre da z. B. möglich — um nur eines anzuführen —, wenn 
schädigende Stoffwechselprodukte irgendwo im Körper zunächst nur 
in kleiner, noch nicht vergiftender Menge, und erst mit der Zeit 
(durch eigene Weiterentwicklung der Sache oder mehr unter der 
Mitwirkung von Gelegenheitsursachen) in gröfserer, vergiftender 
Menge produziert würden. Dann bliebe die erbliche Belastung bis 
dahin, wo: das Gift wirklich als Gift auftritt, ohne merkbare Folgen 
für das Nervensystem, also auch ohne Ausdruck im psychischen 
Leben. Um sich derartige Dinge klar zu machen, darf man z. B. nur 
an eine ererbt-angeborene Gicht denken, deren spezifischen Stoff- 
wechselprodukte zunächst keine sichtbaren Folgen auf den Körper 
haben, mit der Zeit aber — wenn diese Produkte im weitern Ver- 
laufe der Krankheit in immer gröfserer Menge auftreten — zunehmend 
mehr schädigen. 

Lassen wir nun des weitern, wie die ererbt-angeborene Idiotie, 
so auch die ererbt-angeborene latente psychopathische Disposition aus 
dem Spiel, so können wir des übrigen zunächst einmal sagen: die 
uns hier interessierende ererbte Schädigung cines belasteten Menschen 
findet ihren Ausdruck in dem Bestehen einer angeborenen psycho- 
pathischen Minderwertigkeit dieser oder jener Art; in dieser Minder- 
wertigkeit gibt sie sich zu erkennen. Wo also in der Aszen- 
denz!) für die entscheidenden Zeiten (der Zeugung und Schwanger- 


1) Für die gewöhnlichen praktischen Zwecke halte ich es nicht für nötig, dafs 
man bei seinen diesbezüglichen Nachforschungen die gerade aufsteigenden Linien 
(die väterliche wie die mütterliche) weiter verfolgt als bis zu den Grolseltern des 
zu Untersuchenden. Noch weiter binauf stehen ohnehin in der Regel keine oder 
doch keine zuverlässigen und brauchbaren Nachrichten mehr zu Gebot. 


10 A. Abhandlungen. 


schaft) konstitutionelle Nervenleiden nachzuweisen sind, ein Deszendent. 
aber anatomische Degenerationszeichen an sich trägt, jedenfalls aber 
frühe eine angeborene psychopathische Minderwertigkeit mit körper- 
lichen funktionellen Degenerationszeichen und mit den charakte- 
ristischen psychischen Anomalien zu erkennen gibt, da ist man auch 
berechtigt, diese psychopathische Minderwertigkeit als das Produkt 
einer ererbten Schädigung, den Betreffenden also für erblich belastet 
zu erklären. — 

Die psychopathische Minderwertigkeit, in der sich die ererbte 
Belastung eines Nervensystems ausdrückt, wird nun ihre weitern 
Schicksale haben. Entweder bleibt sie in ihrer Stärke im wesent- 
lichen stationär, wobei sie aber selbstverständlich mit ihrem Träger 
einen Gang der Entwicklung (in ihrer Linie) durchmacht, oder 
nimmt sie unter günstigen Verhältnissen und heilsamen medizinisch- 
pädagogischen Einwirkungen mit der Zeit ab, oder auch kann sie 
sich steigern (eventuell bis zur Psychose). Das letztere, die Steige- 
rung, kann eintreten aus Ursachen, die unausweichlich in der spe- 
ziellen Natur der Schädigung selbst liegen, oder zufolge einer Be- 
schaffenheit der Schädigung, bei der schon die gewöhnlichen Rei- 
bungen des Lebens genügen, eine Steigerung der Schädigung hervor- 
zubringen, oder zufolge des Hinzutretens noch besonderer Gelegenheits- 
ursachen. Dies leitet hinüber zu folgendem Gegenstand: 

Die erbliche Belastung, durch die eine angeborene psychopathische 
Minderwertigkeit hervorgerufen wird, ist nun nicht blofs eben das, was 
die angeborene, früh erkennbare psychopathische Minderwertigkeit her- 
vorruft, sondern sie bildet auch, sei es für sich allein, sei es in Ver- 
bindung mit der ihrerseits wieder zurückwirkenden primären psycho- 
pathischen Minderwertigkeit, sehr oft eine Prädisposition für das 
Eintreten noch weiterer Dinge, noch weiterer Psychopathien und 
psvchopathischen Erscheinungen. Und diese Prädisposition ist es, 
die man unter Aufserachtlassung der angeborenen Minderwertigkeit 
häufig allein im Auge hat, wenn man von erblicher Belastung spricht. 
Sie hängt aber in der Luft, wenn man die angeborene, mehr oder 
weniger früh merkbare psychopathische Minderwertigkeit übersieht. 

Selbstverständlich ist diese angeborene Prädisposition nicht das 
einzige prädisponierende Moment, das sich bei einem erblich be- 
lasteten Menschen finden kann. Über einen solchen Belasteten können 
vielmehr im Laufe seines Lebens — mit oder olıne seine Schuld und 
mit oder ohne Schuld seiner ererbt-angeborenen psychopathischen 
Minderwertigkeit — noch weitere prädisponierende Dinge kommen. 
Und selbstverständlich trägt nicht an jedem Eintreten einer Psycho- 


Koch: Die erbliche Belastung bei den Psychopathien. 11 


pathie bei einem älteren Belasteten nun eben diese angeborene Prä- 
disposition die Schuld oder auch nur die Mitschuld. Ein erblich be- 
lasteter Mensch kann auch ganz unabhängig von seiner Belastung, 
kann ohne jede Mitwirkung derselben eine Psychopathie (eine Psy- 
chose oder eine psychopathische Minderwertigkeit) erwerben, wie sie 
auch das »rüstigste« Nervensystem unter gleichen Umständen er- 
werben würde, z. B. einmal bei einer Vergiftung durch Influenzagift. 
In vielen Fällen, wo bei erblich belasteten Menschen im Laufe ihres 
späteren Lebens Psychopathien auftreten, trägt nun aber jeweils doch 
nur die vorhandene Prädisposition die Schuld oder andere Male wenig- 
stens die Mitschuld, dafs Dinge, die unter Umständen ungünstig auf 
das Nervensystem einzuwirken vermögen, eine Psychopathie hervor- 
rufen, die ohne die angeborene Prädisposition nicht eingetreten wäre 
oder sich weniger stark ausgebildet (auch wohl ihre besondere Fär- 
bung nicht angenommen) hätte. Interessant ist es aber, jedoch wohl 
verständlich und nebenbei tröstlich, dafs den zuletzt gedachten Fällen 
andere gegenüberstehen, wo kräftige Menschen trotz ihrer erblichen 
Belastung und ihrer angeborenen psychopathischen Minderwertigkeit 
widerstandsfähiger sind als manche gesunde Menschen, und infolge 
ihrer gröfseren Widerstandsfähigkeit!) manchen Gelegenheitsursachen 
nicht erliegen, denen dieser oder jener weniger widerstandsfähige 
gesunde Mensch nicht zu widerstehen vermöchte.?) 


* * 
* 


Noch möchte ich einige Bemerkungen über das machen, was 
man auf unserem Gebiete als atavistische Vererbung zu bezeichnen 
gewohnt ist. 


Wenn in einer Familie bei einem der Grofseltern — um nur 


von diesen zu reden — oder bei beiden Grolseltern ein Nervenleiden 
vorhanden ist, das bei der Deszendenz erbliche Belastung zu begründen 
vermag, so kommt es vor, dafs bei den Kindern der Grolseltern, also bei 
den Eltern der Enkel, keinerlei psychopathische (oder sonst nervöse) 
Erscheinungen gefunden werden, dagegen bei einem oder mehreren der 
Enkel wieder psychopathische Erscheinungen auftreten und bemerkt 


1) Manchmal sogar auch noch zufolge von Rückwirkungen ihrer angeborenen 
Minderwertigkeit selbst. Vielleicht auch einmal zufolge eines spezifischen Schutzes, 
den ihre chemisch abgeänderten Nervenzellen gegen Angriffe von aulsen her ge- 
währen mögen; wer weils es? 

?) Vergl. zu diesem ganzen Gegenstand auch die Lehre von den gemischten 
psychopathischen Minderwertigkeiten in meinem Lehrbuch über die psychopathischen 
Minderwertigkeiten und in anderen meiner Schriften. 


12 A. Abhandlungen. 


werden, und zwar Erscheinungen, die sich als durch erbliche Be- 
lastung bedingt dokumentieren. In solchen Fällen redet man von 
atavistischer erblicher Belastung. 

Gibt es nun wirklich solchen Atavismus? 

Unbedingt wahr und gültig wäre der obige Satz für alle die- 
jenigen Fälle, wo man die Worte »gefunden werden« in der Be- 
deutung zu nehmen das Recht hätte: Anomalien bei den Eltern seien 
zwar vorhanden, aber man bemerke sie nicht. So meint man jedoch 
die Sache nicht. Nehmen wir sie nun aber einmal in diesem Sinne, 
so gibt es zwei Ursachen solchen Nicht-Findens. Entweder hält sich 
das, was man sucht, an sich selbst so sehr und in einer solchen Art 
versteckt (bezw. es wird absichtlich so geschickt verborgen gehalten), 
dafs man es wirklich’ nicht zu Gesicht bekommen kann, oder es liegt 
gar nicht so tief verborgen, es liegt vielleicht sogar recht offen auf 
dem Tisch, und man sieht es nur nicht, so leicht man es sehen 
könnte, man sieht es nicht, weil man den Blick und das Verständnis 
dafür nicht hat. | 

Das weifs ich aus vielfacher Erfahrung, dafs mancher Bce- 
obachter zwar im stande war, z. B. den Irrsinn bei einem Grofsvater 
als eine Psychopathie zu erkennen, und dals er auch die Psychose 
des Enkels als eine solche erkannte, dafs er aber die dick aufgetragene 
psychopathische Minderwertigkeit des Vaters durchaus nicht als etwas 
Psychopathisches zu erkennen oder auch nur anzuerkennen vermochte, 
sondern den Vater für ganz normal hielt und hält, und darum 
nun von atavistischer Vererbung, beziehungsweise von cinem Rück- 
schlag (auf den Grofsvater) redet. Und derartige Erfahrungen macht 
man immer wieder aufs neue. | 

Aber vielleicht, so wird man fragen, bleiben trotzdem immer 
noch Fälle übrig, wo in der Tat beim Vater lediglich nichts Ab- 
normes vorhanden und crst der Enkel wieder belastet ist, wo es 
sich also beim Enkel wirklich um einen Rückschlag, beziehungs- 
weise um eine Ererbung vom Grofsvater her handelt? 

Ich glaube nicht, dafs es solche Fälle gibt. Aber ich halte es 
immerhin für denkbar, dafs es in seltenen Fällen auch unter den 
günstigsten Umständen unmöglich ist, beim Vater etwas Abnormes 
aufzufinden, nämlich nicht, weil keine erbliche Schädigung bei ihm 
vorhanden wäre. sondern weil die vorhandene Schädigung auch für 
den geübten und pünktlichen Beobachter latent bleibt, dieweil sie 
keine psychopathischen (oder sonst nervösen) Erscheinungen hervor- 
ruft. In solchen Fällen hat dann also der Enkel seine ererbte 
Schädigung gleichwohl nicht (unmittelbar) vom Grofsvater, sondern 





Kocu: Die erbliche Belastung bei den Psychopathien. 13 


vom Vater her, denn der Schade. beim Vater, der latent ist. ist eben 
nichtsdestoweniger doch da. | 

Ich wülste mir auch gar nicht zu denken, wie es der Grofsvater 
sollte angreifen können, um den Schaden, den er hat. durch den 
ganz gesund gebliebenen Vater hindurch auf den Enkel zu bringen. 
— Wenn eine Taubenvarietät nach wenig Generationen der Verwil- 
derung auf die Felstaube zurückschlägt, oder eine künstlich herbei- 
geführte Erdbeerenvarietät, sich selbst überlassen, auf die betreffende 
Walderdbeere, so sind das doch ganz andere Dinge. In der ganzen An- 
lage und dem ganzen Bildungstrieb des Enkels liegt oder ruht doch 
nicht irgend etwas, das ihn nötigte, das pathologische Leiden des 
Grofsvaters wieder aufzunehmen und hervorzubringen, in eine Krank- 
heit hineinzuwachsen, nicht weil sein Vater die Anlage dazu auch 
gehabt hätte, sondern lediglich nur deshalb; weil die Krankheit den 
‚Grofsvater, den Vater des ganz gesund gebliebenen Vaters, heim- 
gesucht hatte. 

Also: ich, weils, dafs der Grofsvater die hier in Betracht kom- 
menden Dinge durch den (selbst geschädigten) Vater hindurch auf 
den Enkel vererben kann, und ich halte es für möglich, dafs dabei 
der Schade im Nervensystem (oder überhaupt im Körper) des Vaters 
latent, verborgen bleiben kann; aber ieh halte es nicht für möglich, 
dafs der Grolsvater etwas auf.den Enkel zu übertragen vermag, wenn 
der Vater wirklich ganz normal geblieben ist. Dann gibt es aber 
auch nicht das, was man als eine atavistische Vererbung 
von Nervenleiden bezeichnet. | | | 

- Wie sehr man bei solchen Dingen auf der Hut sein muls, kann 
ich durch ein Beispiel illustrieren, das ich an. mir selbst erlebte. 
Mein Vater war im wesentlichen rechtshändig; manche Dinge aber, 
die man sonst mit der rechten Hand vollbringt, konnte er mit der 
linken Hand ebenso gut, manche derselben sogar besser mit, der 
linken als mit der rechten Hand ausrichten. Bei mir selbst bemerkte 
ich keinerlei .Linkshändigkeit, ich suchte auch nicht danach, denn ich 
konnte ja blofs mit der rechten Hand schreiben u. s w. Dagegen 
waren diejenigen meiner Kinder, die mehr nach mir als nach meiner 
rechtshändigen Frau geartet sind, wesentlich linkshändig, und dabei 
in Dingen, wo sie amphidexter sind (z. B. beim Schreiben und 
Zeichnen), mit ihrer Neigung und Geschicklichkeit doch mehr links- 
händig als rechtshändig. Ich selbst bin also rechtshändig und gab 
mich früher auch immer dafür aus. Folglich hatte man bei meinen 
Kindern den schönsten Atavismus vor sich. Ja, wenn es nur wahr 
wäre! Aber, als ich schon ziemlich alt geworden war, »Tande ich (s. 


14 A. Abhandlungen. 


oben), dafs ich einige Dinge nur mit der linken Hand ausführe und 
richtig ausführen könne, die andere Leute mit derrechten Hand besorgen. 
Ich hatte blofs nie bemerkt, dafs man sonst die betreffenden Dinge 
mit der rechten Hand tut. Und es scheint mir nun auch, dafs ich 
mich bei manchem, was meine rechte Hand besorgt, wenn ich es ein- 
mal mit der linken versuche, doch etwas geschickter anstelle als die 
völlig und zweifellos Rechtshändigen. 


2. Wie urteilen Schulkinder über Funddiebstahl?!) 
.Von 
Dr. P. v. Gizycki, Stadtschulinspektor, Berlin. 


Unter den wertvollen Veröffentlichungen des Musöe pédagogique 
in Paris befindet sich eine Schrift von M. F. LicHTEnBERGER über den 
Moralunterricht in den französischen Volksschulen. Das interessante 
Werkchen bildet einen Extrakt aus den anläßlich der Pariser Welt- 
ausstellung von 1889 erstatteten Berichten der Schulinspektoren über 
diesen Unterrichtsgegenstand und gibt im wesentlichen wortgetreue 
Auszüge aus den amtlichen Schriftstücken. 

Im ersten Jahrzehnt nach Einführung der neuen Lehrpläne hatte 
die weltliche Volksschule in Frankreich und besonders der Moral- 
unterricht die hartnäckigsten Widerstände in den durch die Geistlich- 
keit beherrschten Volkskreisen zu überwinden, Widerstände, deren 
Kraft und zähe Ausdauer wir aus der Heftigkeit des noch heute in 
Frankreich tobenden Kulturkampfes ermessen können. Vor 1889 
galt es zunächst, die Existenzberechtigung der weltlichen Schule als 
Erzieherin und die Gleichwertigkeit ihrer Leistungen mit den Unter- 
richtserfolgen der von geistlichen Orden geleiteten Anstalten nach- 
zuweisen. Die Abschlufsprüfungen zur Erlangung des Certificat 
d’études boten dem Publikum vielfach Gelegenheit, die Erziehungs- 
resultate beider Arten von Schulen gegen einander abzuwägen, und 
so wählten die staatlichen Prüfungskommissionen nicht selten Auf- 
gaben, welche den Grad der sittlichen Reife der Kandidaten deutlich 
erkennen lassen mufsten. In Angoulême wurde bei einer solchen 
Gelegenheit den Schülerinnen folgendes Thema für den französischen 
Aufsatz gestellt: »Du gehst mit einer Freundin auf dem Jahrmarkt 


1) Man vergleiche hierzu die Arbeit von Anrosso »Das Ehrbarkeitsgefühl bei 
Kindern« im I. Jahrgange dieser Zeitschrift. U. 











v. Gizyrckı: Wie urteilen Schulkinder über Funddiebstahl? 1 


RD | 


spazieren. Du hast nicht einen Sou in der Tasche, denn deine Eltern 
sind arm. Plötzlich findest du ein Portemonnaie mit einem schönen 
Fünffrankstück. Gib an, was du damit tun wirst.< Der Bericht 
teilt mit, dafs an der Prüfung 111 Schülerinnen teilnahmen: 81 aus 
Kongreganistenschulen (von geistlichen Orden geleiteten Anstalten), 
30 aus Laienschulen. Von den 30 letzteren Mädchen waren sich 
23 bewulst, dafs sie einen Diebstahl begehen würden, wenn sie das 
Geld behielten, die 7 andern wollten sich Spielzeug oder Bonbons 
kaufen. Von den Schülerinnen der Kongreganistenschulen wulsten 
nur 30, dafs man gefundene Gegenstände dem Verlierer zurück- 
erstatten müsse, die andern 51 amüsierten sich in voller Gewissens- 
ruhe für das Geld auf dem Jahrmarkt, machten Einkäufe, fuhren 
Karussell u. s. w. Ein kleines Mädchen wollte das Geld seinen 
Eltern geben, »welche sich dafür mehrere gute Mahlzeiten bereiten 
würden, während es derjenige, dem es gehörte, möglicherweise ver- 
geudet haben würde, hätte man es ihm zurückgegeben.« !) 

Dieser Bericht brachte mich auf den Gedanken, ein ähnliches 
Thema in einer Berliner Gemeindeschule von Schülerinnen der 
obersten Klassen bearbeiten zu lassen, Kindern, welche allerdings im 
Durchschnitt ein Jahr älter sein dürften als die Kandidatinnen für 
das Certificat d’études in Frankreich. Ich wählte dazu die Zeit vor 
den Weihnachtsferien, wann die öffentlichen Plätze in Berlin mit 
Weihnachtsbäumen und Buden aller Art bedeckt sind, und stellte in 
einer gut organisierten und gut geleiteten Gemeindeschule für Mäd- 
chen das Thema: 

»Du gehst mit einer Freundin auf den Weihnachtsmarkt. Ihr 
habt nicht einen Pfennig in der Tasche, da die Eltern arm sind. Der 
Vater hat keine Arbeit. Da findest du cin Portemonnaie mit einem 
schönen, blanken Fünfmarkstück. Was wirst du tun ?« 

Dem Aufsatz war folgende kurze Disposition beigegeben: 

»1. Kurze Beschreibung des Weihnachtsmarktes. 

2. Was empfindest du beim Anblick der ausgestellten Waren? 

3. Du findest das Portemonnaie. 

4. Was tust du damit?« 

Aufserdem wurden keinerlei Angaben gemacht und keinerlei 
Hilfsmittel zugelassen. Die Aufgabe war in keiner Weise vorbe- 
reitet und kam Lehrern und Kindern völlig unerwartet. 


1) M. F. Lichtengercer. L’education moralo dans les écoles primaires. 
Mémoires et documents scolaires publiés par le Musce pédagogique. 26 série, 
Fascicule No. 28. p. 113. 


16 A. Abhandlungen. 


= as tler es — ~ — 








‚An der Bearbeitung beteiligten sich zwei Erste Klassen im da- 
maligen scchsklassigen Schulsystem, nämlich eine sog. Oberklasse 
(Selekta) und eine andere Erste Klasse, 23 + 41 = 69 Mädchen, 
die sich im Alter zwischen 11 Jahren und S Monaten und 14 Jahren 
und 6 Alonaten befanden. Von ihnen waren unter 12 Jahren 4, 
zwischen 12 und 13 Jahren 15, zwischen 13 und 14 Jahren 47, 
älter als. 14 Jahre 3 Kinder. Töchter von Witwen, bezw. ehever- 
lassenen Frauen waren 9, die übrigen lebten in Haushaltungen, 
denen der Vater vorstand. Dem Berufe nach waren die Väter von 
9 Kindern Beamte, von 6 selbständige Gewerbetreibende, von den 
übrigen Arbeiter, Handwerksgehilfen und dergl. Vollwaisen befanden 
sich unter den Kindern nicht. 

Die Bearbeitung des Themas fand unter sorgfältiger Aufsicht in 
zwei gesonderten Klassenräumen statt. 

Das Ergebnis, auf welches es hier ankommt, war in Kürze 
folgendes: In der Oberklasse des Rektors, in welcher ich seibst die 
Aufsicht führte, entschieden sich 27 von 28 Mädehen für Rückgabe 
des Geldes, also, wenn ich so sagen daif, im positiven Sinne, ein 
Kind wollte den Fund: für sich behalten. In der andern Klasse, in 
welcher der Rektor die Aufsicht führte, fielen von 41 Entscheidungen 
13 positiv, 27. negativ aus. Ein Kind hatte das Thema insoweit 
verfehlt, dafs es schilderte, wie es das Geld nicht auf dem Weih- 
nachtsmarkte sondern in der Kleidertasche cines alten Rockes seiner 
Mutter »gefunden« und dann auf dem Weihnachtsmarkt vergeudet 
habe. Von den 69 an dem Thema beteiligten Mädchen hatten also 
40 für Rückgabe dos Geldes, 29 für Nichtrückgabe gestimmt. 

Man würde gewifs irren, wenn man dieses Votum als einen 
zuverlässigen Maflsstab dafür ansehen wollte, was diese Kinder in 
cinem konkreten Falle gleicher oder ähnlicher Art wirklich getan 
hätten. Wahrscheinlich würde ihnen die Wirklichkeit mancherlei 
Motive der verschiedensten Art suggeriert haben, die bei der 
blofsen Vorstellung von einer nicht wirklich erlebten Situation 
ausfallen oder minder wirksam auftreten mufsten. Möglicherweise 
wären der wirklichen Versuchung im Bewulfstsein des Kindes 
schlummernde sittliche Motive, als hemmende Suggestionen in den 
Weg getreten, deren sich die Kinder bei der kühlen Darstellung 
cines fingierten Falles nicht bewufst wurden; viel wahrscheinlicher 
freilich erschemt mir das Gegenteil, nämlich, dafs die wirkliche Ver- 
suchung ein in sittlicher Hinsicht ungünstigeres Resultat zur Folge 
gehabt hätte, als es die Kinder selbst voraussahen. Die schriftlich 
niedergelegten Antworten beweisen uns also nicht, was die Kinder 


Y 


x 


Gızrckı: Wie urteilen Schulkinder über Funddiebstahl? 17 


wirklich getan haben würden, sondern was sie, unbeeinflufst und 
nach reiflicher Überlegung, für richtig hielten. 

Nächst dieser grundsätzlichen Entscheidung des sittlichen Pro- 
blems werden uns die Motive interessieren, welche für die einzelnen 
Kinder bei ihrer Stellungnahme malsgebend waren, und deren sie 
sich soweit bewufst wurden, um sie darzustellen. Werfen wir zu- 
nächst einen Blick auf die Äufserungen der 40 Kinder, welche im 
positiven Sinne entschieden haben. 

Eine ganze Anzahl spricht sich ohne Zögern für Rückgabe des 
Fundes aus, unterläfst es jedoch, ein Motiv für diese Stellungnahme 
anzudeuten. Das sind zunächst solche‘ Schülerinnen, denen die 
stilistische Darstellung überhaupt erhebliche Schwierigkeiten bereitet. 
Ihr Schweigen über die malsgebenden Triebfedern für ihre Entschei- 
dung kann daher wohl nicht selten durch die Unfähigkeit erklärt 
werden, abstrakte Ideen in klaren Worten darzustellen: andrerseits 
ist es aber auch möglich, dafs ihre Entscheidung wirklich instinktiv 
ohne viel Nachdenken erfolgte, und dafs klare Ideen über ihre Gründe 
ihnen nicht zum Bewulstsein kamen. Zuweilen sind auch bei ihnen 
die Keime einer sittlichen Reflexion bemerkbar wie in einem Aufsatz, 
wo es heifst: »Wir dachten: Sollen wir uns für das Geld etwas 
kaufen, oder sollen wir es der Polizei übcrliefern? Gedacht, getan! 
Wir trugen die Geldtasche zur Polizei«, oder in einer andern Arbeit, 
in der die Verfasserin schreibt: »Da trat die Versuchung an uns 
heran. Wir schwankten hin und her. Da erklärten wir, es der 
Polizei zu überliefern.« t) 

Hier sind sich die Mädchen wohl eines innern Kampfes 
aber nicht der durchschlagenden Motive für ihre eigene Entschei- 
dung bewufst geworden, oder sie scheiterten an der Schwierigkeit 
dieselben darzulegen. Auf diese Weise erfahren wir über die Trieb- 
federn von 8 Kindern nichts bestimmtes, die übrigen 32 lassen uns 
mehr oder minder klare Einblicke in den Mechanismus ihres sitt- 
lichen Empfindens tun. 

Von Interesse dürfte es dabei sein, zu prüfen, in welchem Mafse 
die anerkannten Hauptsanktionen der Moral als Triebfedern bei der 
Entscheidung derjenigen Schülerinnen beteiligt waren, welche den 
Fund zurückgeben wollten. 

Da die Kinder an dem Religionsunterricht der Schule teilge- 


1) Satzbau und Darstellungsweise der Kinder wurden hier wie im folgenden 
bei allen wörtlichen Anführungen unverändert beibehalten, doch sind Fehler gegen 
die Rechtschreibung und Interpunktionslehre richtig gestellt worden. 

Die Kinderfehler. VIH. Jahrgang. 2 


1S A. Abhandlungen. 





nommen hatten und ihrem Alter entsprechend zu der Zeit meistens 
den Konfirmandenunterricht besuchten, so durfte man wohl zunächst 
auf die Wirksamkeit der theologischen Sanktion rechnen und etwa 
einen Hinweis auf die Allgegenwart Gottes und seinen Zorn über 
die Verletzung des siebenten Gebotes erwarten. Auffallenderweise 
findet sich jedoch von religiösen Motiven in keinem der 40 Aufsätze 
cine bestimmte Erwähnung. Der spezielle Fall des Funddiebstahls 
hatte sich den Kindern wohl niemals unter der Kategorie einer Ver- 
letzung des siebenten Gebotes dargestellt. Die Ideenverbindungen, 
welche bei andern Fällen von Verletzung fremden Eigentums zweifel- 
los funktioniert hätten, waren für dieses Gebiet noch nicht geknüpft 
worden. 

Ebenso gering erwies sich auch der Einflufs der strafrechtlichen 
Sanktion auf die Kinder. Nur ein einziges Mal wird auf die rechtliche 
Seite der Frage etwas bestimmter eingegangen, indem das betreffende 
Kind sich fragt: »War es nicht strafbar, sich fremdes Geld anzu- 
eignen ?« 

In allen andern Fällen sind sich die Kinder augenscheinlich 
weder der zivilrechtlichen Tragweite eines Fundes noch der straf- 
rechtlichen Konsequenzen des Funddiebstahls klar bewufst und handeln, 
wenn sie das Richtige treffen, lediglich unter dem Einflusse anderer 
Instinkte oder Erwägungen. In den meisten Fällen, 15 von 40, er- 
scheinen die Eltern, besonders die Mütter, als Träger der sittlichen 
Idee. Der Gedanke: »Was werden die Eltern dazu sagen, wenn ich 
das Geld nach Hause bringe ?« ist offenbar für viele Kinder der ent- 
scheidende Gesichtspunkt, der freilich zum Teil in ideeller Konkurrenz 
mit andern sittlichen Motiven auftritt. 

An zweiter Stelle kommt die in dem Sprichwort »Ehrlich währt 
am längsten« ausgeprägte Sanktion der öffentlichen Meinung zur 
Geltung. Auf dieses in der Schule gelernte Sprichwort wird in 13 
von 40 Fällen direkt Bezug genommen. Auf das Urteil der Menschen 
als ein Element des Gewissens wird in einem in mancher Hinsicht 
bemerkenswerten Aufsatz ausdrücklich hingewiesen. Die Verfasserin 
ist jene Einzige, welche sich auch bewulst ist, dals sie eine strafbare 
Handlung begehen würde, wenn sie sich das gefundene Geld aneignete, 
und schliefst ihre Ausführungen folgendermafsen: »Notgedrungen 
taten wir es« (sie gaben das Portemonnaie der Verliererin zurück), 
»erhielten aber als Ersatz dafür eine Kleinigkeit zum Geschenk. So 
konnten wir doch mit reinem Gewissen jedem Menschen unsere 
Sachen zeigen und brauchten nichts zu verheimlichen.« 

In zwei Fällen wird das Mitleid mit der Verliererin des Porte- 





Gızyrckı: Wie urteilen Schulkinder über Funddiebstahl ? 19 








monnaies als sittliches Motiv zur Rückgabe des Fundes angedeutet. 
Die Verliererin ist eine arme Frau, und das verlorene Geld bildete 
ihren Wochenlohn, den sie nun mit Schmerzen vermifst. Das eine 
der beiden Kinder schildert den Verlauf der Dinge, nachdem das 
Portemonnaie gefunden war, folgendermafsen: »Verlegen sahen wir 
uns an. Was sollten wir tun? Wem konnte es gehören? Sollte ich 
es behalten? Vielleicht gehörte es einer armen Frau, die es 
sich durch ihrer Hände Arbeit verdient hatte. Wie schön 
konnte ich mir jetzt einen vergnügten Abend bereiten. Aber nein, 
| es gehörte mir ja nicht. Da sahen wir, wie eine blasse Frau mit 
verweinten ‘Augen ängstlich suchend umherlief. Wir befragten sie 
ob der Ursache ihres Kummers und erfuhren nun, dafs sie die Be- 
sitzerin des Portemonnaies sei. Freudig gaben wir es zurück. Sie 
bedankte sich mit herzlichen Worten. Fröhlich gingen wir nach 
Hause und dachten noch viel an unser Erlebnis.« 

Das Motiv der Pflicht wird einigemal mit Bestimmtheit erwähnt, 
besonders in zwei Fällen, wo die ehrliche Finderin die angebotene 
Belohnung ablehnt, da sie nur ihre Pflicht getan habe. 

Gesondert dürften jene Aufsätze zu beurteilen sein, in denen 
der Finderin für ihre Ehrlichkeit irgend ein materieller Lohn zu teil 
wird. Das sind zunächst jene Darstellungen, 4 an der Zahl, in denen 
sich der Verlierer nicht ermitteln läfst und das Geld daher der 
Verliererin als Eigentum zufällt, ferner jene 8 Fälle, in denen ein 
Geldbetrag als Finderlohn gezahlt wird, und jene vereinzelte Schilde- 
rung, welche beschreibt, wie der beschäftigungslose Vater infolge 
| der Rückgabe des Fundes wegen seiner Ehrlichkeit von dem Ver- 
| lierer Arbeit erhält. 

- Zweifellos spielt auch die Erwartung eines Finderlohns als Motiv 
zur Rückgabe des Geldes eine Rolle. Es entspricht mindestens dem 
Gefühl für poetische Gerechtigkeit der betreffenden Kinder, dafs die 
Tugend sich auch materiell belohnt machen müsse. In Bezug auf 
die Höhe dieses Finderlohns gibt sich vielfach ein naiver Optimis- 
mus zu erkennen. 

Bescheiden sind jene Mädchen, welche sich mit »einer Kleinig- 
keit« begnügen oder mit 10 Pfennigen für jede Finderin, anspruchs- 
voller jene, welche auf 3 Mark oder den vollen Betrag des Fundes 
als Lohn für ihre Ehrlichkeit rechnen. Am besten macht sich die 
Tugend in folgender Darstellung bezahlt: »Man kann sich wohl 
unsere Freude denken. Was nun tun? Käthchen schlug vor, es 
den Eltern zu bringen. Mein kleiner Bruder hüpfte vor Freude um- 
her. Er dachte, wir könnten es behalten. Doch Vater sprach ernst: 

IE 





20 A. Abhandlungen. 


Pr oce o 70 ee 


‚Ich werde es auf das Fundbureau bringen‘ Nach drei Tagen 
klopft cs bei uns. Ich öffne Ein Herr steht mir gegenüber und 
wünscht unsern Vater zu sprechen. Er stellte sich vor und erzählte 
uns, dafs er das Fünfmarkstück verloren habe, welches ein teures 
Andenken von seiner verstorbenen Mutter sei. Er bedankte sich 
vielmals und schenkte mir für meine Ehrlichkeit, wie er sagte, ein 
Zehnmarkstück, welches ich mir mit Käthchen teilte. Am Weihnachts- 
abend kommt der Postbote und bringt ein grolses Paket. Wir öffnen 
es. Es enthält lauter schöne Gaben von dem fremden Herrn. Wir 
freuten uns sehr. Zu unterst lag ein Brief, in welchem er uns noch 
einmal dankte und mit den schönen Worten schlols: ‚Ehrlichkeit 
währt am längsten !'« 

Vielleicht verdient bei dieser Gelegenheit auch der Umstand 
Erwähnung, dafs die Kinder den wertvollen Fund vielfach ohne jede 
ernste Prüfung dem ersten Besten, der sich meldet, oder der nach 
einem verlorenen Gegenstand sucht, anbieten. Eine Schülerin schreibt: 
»Meine Freundin redet mir zu, es doch zu behalten. Ich nehme es 
und frage einer jeden (sic!) Person, ob es ihr gehört. Da seh’ ich 
eine Frau, die irrt umher und sucht. Ich gehe zu ihr und frage 
sie, ob ihr das Portemonnaie gehört.« 

28 Kinder schlagen entweder selbständig oder im Auftrage der 
Eltern den richtigen Weg ein, den Fund der Polizei (dem Schutz- 
mann, dem Fundbureau) anzuzeigen bezw. auszuliefern.!) 

Für Nichtrückgabe des Fundes entscheiden sich, wie oben an- 
gedeutet, 28 Kinder. Ihre Motive sind nicht weniger verschieden- 
artig, ihre Reflexionen nicht weniger interessant als die der zuerst 
besprochenen Gruppe. Wie unter den positiv antwortenden Schüle- 
rinnen hinsichtlich der angedeuteten sittlichen Triebfedern deutlich 
eine Skala zu bemerken ist, die etwa von jenem Kinde anhebt, das 
»notgedrungen« das Geld zurückgibt, weil es sich keiner strafbaren 
Handlung schuldig machen und vor den Menschen ehrlich bleiben 
will, und jenen andern, welche beträchtlichen materiellen Vorteil von 
ihrer Ehrlichkeit erwarten, und bis zu den unbewulsten Schülerinnen 


!) Der bezügliche $ 965 des bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich 
lautet: »Wer eine verlorene Sache findet und an sich nimmt, hat dem Verlierer 
oder dem Eigentümer oder einem ‘sonstigen Empfangsberechtigten unverzüglich An- 
zeige zu machen. 

Kennt der Finder die Empfangsberechtigten nicht oder ist ihm ihr Aufenthalt 
unbekannt, so hat er den Fund und die Umstände, welche für die Ermittlung des 
Empfangsberechtigten erheblich sein können, unverzüglich der Polizeibehörde anzu- 
zeigen. Ist die Sache nicht mehr als 3 Mark wert, so bedarf es der Anzeige nicht. « 
Vergl. auch die folgenden $8. 


m 


Gızyckı: Wie urteilen Schulkinder über Funddiebstahl? 21 


des grofsen Kant emporsteigt, die, dem kategorischen Imperativ gc- 
horchend, aus Pflichtgefühl jede Belohnung zurückweisen, so 
müssen wir auch im Urteil derjenigen Kinder, welche die Rückgabe 
des Geldes ablehnen, in sittlicher Hinsicht wichtige Wertunterschiede 
konstatieren. 
Eine eigene, durch viele Grade von den Anschauungen der übrigen 
getrennte Stellung nehmen die fast anormalen Äufserungen jenes 
Kindes ein, welches das Geld in der Tasche der Mutter »findet« und 
dasselbe ohne Bedenken auf dem Weihnachtsmarkt vergeudet, ob- 
gleich es selbst von der Voraussetzung ausgcht, dafs zu Hause Not 
herrscht und der Vater keine Arbeit hat. 

Für die Beurteilung der übrigen negativen Entscheidungen ist 
in erster Linie die Verwendung des Geldes mafsgebend. Ein Fall, 
in dem ein Kind das gefundene Geld leichtsinnig vernaschte, ohne 
daran zu denken, andern eine Freude zu bereiten, müfste natürlich 
ganz anders beurteilt werden als cin anderer, in dem der Fund etwa 
zur Linderung häuslicher Not diente. Erfreulicherweise läfst sich 
konstatieren, dafs abgesehen, von dem bereits erwähnten anormalen 
Falle, eine rein selbstsüchtige Verwendung des gefundenen Geldes in 
keinem Aufsatz geschildert wird. Wenn auch die Kinder mehrfach 
für sich Geschenke einkaufen, so denken sie doch immer auch an die 
Wünsche und Bedürfnisse ihrer Licben. 

Was das Begehren der Kinder selbst erregt, was sie Eltern und 
Geschwistern vom Weihnachtsmarkte mitbringen, ist vielfach charakte- 
ristisch für das Urteil und die Geschmacksrichtung unserer Volks- 
schulkinder. Im ganzen sind ihre Wünsche bescheiden und meist 
auf nützliche Dinge gerichtet. Die Schilderung des Weihnachts- 
marktes mit seinen reich gefüllten Buden gibt ihnen die rechte Ge- 
legenheit, auf die Herrlichkeiten einzugehen, welche sie besonders 
reizen, trotzdem aber werden Süfsigkeiten und Näschereien fast niemals 
eingekauft; dagegen beschert man dem Vater Pantoffeln, eine Unter- 
jacke und eine lange Pfeife, der Mutter Tassen, Nippsachen, warme 
Schuhe, eine Deckc, dem Brüderchen ein kleines Pferd, dem Schwester- 
chen Schürzen, ein Püppchen und Pfefferkuchen. An sich selbst 
denken die Finderinnen gewöhnlich zuletzt, aber cs bleibt nach den 
übrigen Einkäufen wohl noch soviel übrig, um eine Schürze und Material 
für eine Handarbeit zu kaufen oder »für den Rest von 1,50 M« ein 
Weihnachtsbäumchen und cin paar Lichte zu erstehen. 

Die meisten Kinder, 17 von 28, wollen den Fund oder die dafür 
gekauften Geschenke den Eltern mitbringen, rechnen darauf, dafs sie 
sich aufrichtig freuen, und dafs sie selbst eventuell die erforderlichen 











292 A. Abhandlungen. 


Einkäufe besorgen werden. Ihnen fehlt jede mala fides. Sie schil- 
dern im guten Glauben, was sie für recht halten, und sind sich der 
Zustimmung der höchsten weltlichen und göttlichen Autoritäten sicher. 
Es ist bemerkenswert, dafs gerade bei dieser Gelegenheit mehrmals 
das religiöse Empfinden der Kinder deutlich hervorbricht, indem sie 
Gott für die gnädige Fügung ihren Dank aussprechen. So schliefst 
eine Schülerin ihren Aufsatz mit den Worten: »Fröhlich und glück- 
lich ging ich nach Hause. Ich erzählte den Vorfall mit dem Porte- 
monnaie meinen Eltern, zeigte ihnen meine Schürze und gab ihnen 
das übriggebliebene Geld. Als ich am Abend schlafen ging, dankte 
ich dem lieben Gott für alles, was er heute an mir getan hatte.« 
Eine andere erzählt: »Wir teilten uns das (Geld) beide, und jeder 
(sic!) kaufte eine Kleinigkeit für ihre Mutter. Ich kaufte meiner 
Mutter kleine Nippsachen und noch anderes. Als ich es meiner 
Mutter mit nach Hause brachte, fragte sie, wo ich das Geld her habe. 
Da erzählte ich ihr den Vorgang. Sie freute sich aber sehr darüber 
und sprach: ‚Dafür müssen wir Gott danken, was er uns heut ge- 
tan hat'.« 

Aber doch nicht alle Kinder, welche den Fund behalten, fühlen 
sich in ihrem Gewissen so ganz beruhigt. Wie unter der ersten 
Gruppe der sich für Rückgabe des Fundes entscheidenden Kinder 
eine Anzahl war, welche in der Ablieferung auf der Polizei gewisser- 
malsen nur einen ersten Schritt zur definitiven Besitzergreifung des 
Fundes erblickte, da sich der Verlierer nicht ermitteln hiefs, so findet 
sich auch hier ein Kind, welches sich bewufst ist, dafs der Fund von 
rechtswegen dem Verlierer zurückgegeben werden müfste; es be- 
gnügt sich aber im Einverständnis mit seiner Mutter mit einigen 
oberflächlichen privaten Erkundigungen und wartet ein wenig, ob 
sich der Verlierer nicht von selbst melden wird, dann erklärt es 
aber: »Als sich jedoch niemand zeigte, teilten wir uns das Geld.« 

Auch in andern Fällen dienen die Recherchen nach dem Ver- 
lierer bei ihrer ganz ungenügenden Gründlichkeit offenbar nur dazu, 
um das Gewissen der Finderin zu beruhigen. Wie jene Kinder der 
positiven Gruppe das Geld ohne Vorsicht leichtsinnig der ersten besten 
Person aushändigsen, die Anspruch auf den Fund erhebt, so stecken 
diese Kinder nach ebenso oberflächlicher Nachfrage das Geld in die 
eigene Tasche, da sich der Verlierer nicht sogleich meldet. 

Selbst das Motiv des Mitleids läfst sich, wenn auch schwach an- 
gedeutet. bei den negativ entscheidenden Kindern, allerdings hier als 
erschwerender Umstand, nachweisen. Mitleid ist in einem Falle vor- 
handen, wird aber, wie die andern sittlichen Impulse, von der Selbst- 





si 


Gızyrckı: Wie urteilen Schulkinder über Funddiebstahl? 253 





sucht überwunden. Es heifst in dem betreffenden Aufsatz: »Voller 
Freude ging ich nach Hause und erzählte es meiner Mutter. Diese 
war darüber auch sehr erfreut, aber sie sagte doch: ‚Wenn es man 
nur kein Armer verloren hat!‘ Am andern Tage gab mir meine 
Mutter 10 Pfennig. Dafür konnte ich mir etwas kaufen.« 

Komplizierter ist ein letzter Fall dieser Art. Es heifst dort. 
»Meine Freundin redete mich (sie!) zu, es doch zu unnützen Sachen 
zu gebrauchen, aber ich wollte etliche Personen fragen, ob es ihnen 
gehöre. Meine Freundin sagte aber, dann könnten ja alle sagen, es 
gehöre ihnen. Schliefslich sagte ich es auch selber. Ich denke an 
unser eignes Elend, an die Mutter und die kleinen Geschwister. Wir 
machen uns auf den Heimweg, wo ich, zu Hause angelangt, meiner 
Mutter das Geld abgab.«< Die Momente, welche hier in Betracht 
kommen, sind: das tatsächlich vorhandene Gefühl des Unrechtes, das 
die Finderin begehen will — die Freundin als erfolgreiche Verführerin, 
wodurch die Erzählerin gewissermafsen ihre Schuld mildert — der 
an sich richtige Einwand gegen die wahllose, leichtfertige Abgabe des 
Fundes, welcher die Abgabe überhaupt verhindert (da sich der rechte 
Verlierer augenblicklich nicht ermitteln läfst, so bleibt nichts übrig, 
als das Geld zu behalten) — der Gedanke an die eigene Not, an 
Mutter und kleine Geschwister — die Selbstverleugnung des Kindes, 
welches das Geld nicht zu unnützen Ausgaben für sich verwendet, 
sondern es der Mutter ausliefert. Wer erkennt in diesen kindlichen 
Gedankengängen nicht jenes Gewebe von Trugschlüssen und »stich- 
haltigen Gründen«. wieder, das uns Erwachsene so oft umgarnt und 
auf dem rechten Wege zurückhält. Wie oft schieben nicht auch wir 
die Schuld auf den bösen Ratgeber, wie oft, wenn es gilt, eine 
schwere Pflicht zu erfüllen, sprechen nicht auch wir: »Erstens ist cs 
überhaupt unmöglich, zweitens würde ja der Unrechte davon Vorteil 
haben, drittens mufs ich zunächst an mich und die Meinen denken, 
viertens handle ich doch wenigstens selbstlos und überlasse «die end- 
gültige Entscheidung einer höheren Instanz.< 


Es wäre jedenfalls sehr vorcilig, wenn man aus der unter solchen 
Umständen gefällten Entscheidung eines einzelnen Casus conscientiae 
einen Schlufs auf die sittliche Qualität der einzelnen Kinder, auf 
ihre Erziehung und auf das Milieu ziehen wollte, aus welchem sie 
hervorgegangen sind. | 

Die Beurteilung cines einzelnen Falles kann uns gewifs man- 
cherlei Anregungen zum Nachdenken bieten, aber sie wird niemals 
die Basis zu so weitreichenden Schlußsfolgerungen abgeben dürfen. 





A. Abhandlungen. 


| W 
NG 





Gerade über das Fundrecht herrschen, wie wir uns durch Rücksprache 
mit Männern und Frauen besonders der ungebildeten Gesellschafts- 
klassen unseres Volkes täglich ohne Mühe überzeugen können, in 
vielen Kreisen zum Teil recht verworrene und irrige Anschauungen. 

Gleichwohl können die einfachen hier mitgeteilten Tatsachen zum 
Ausgangspunkt von Reflexionen auf verschiedenen praktischen und 
wissenschaftlichen Gebieten gemacht werden. — Den Ethiker ver- 
anlassen sie vielleicht zu Betrachtungen über die verschiedene Kraft 
und Wirksamkeit der einzelnen moralischen Sanktionen. Dem Straf- 
rechtslehrer, dem Pädagogen, dem Verwaltungsbeamten wird die Tat- 
sache zu denken geben, dafs sich unter 69 Mädchen, die in Kürze 
die Schule verlassen sollten, eine so grofse Anzahl über ein einfaches 
Rechtsproblem, das jeder von ihnen täglich praktisch entgegentreten 
und vielleicht ihre ganze Zukunft entscheiden konnte, in Unkenntnis 
war. Wer die ernste Tatsache des Anwachsens des jugendlichen 
Verbrechertums in Erwägung zieht, dem wird sich hierbei vielleicht 
die Frage aufdrängen: Liefse sich dieser traurigen Erscheinung nicht 
bis zu einem gewissen Grade dadurch begegnen, dafs man, ähnlich 
wie es bei andern Nationen z. B. in Frankreich geschieht, den not- 
wendigsten Rechtsbelehrungen in dem Lehrplane der Volksschule 
eine Stelle einräumte, damit die ins Leben tretenden jungen Menschen 
wenigstens vor dem unverdienten schrecklichen Schicksal bewahrt 
bleiben, sich aus bloßser Unkenntnis in den eisernen Maschen des 
Strafrechts zu verfangen? Wissen wir doch alle, dafs, wer einmal 
dem Strafrichter verfallen ist, sich nur selten von seinem Falle völlig 
erhebt und häufig genug früher oder später unter der Schar der 
Rückfälligen von neuem auf der Anklagebank erscheint. 

Einen wesentlich andern Standpunkt nimmt den angeführten 
Tatsachen gegenüber der wissenschaftliche Psychologe ein. Ihn 
interessieren möglicherweise weniger die aus dem geschilderten Ver- 
such zu gewinnenden ethischen Resultate oder volkswirtschaftlichen 
Schlulsfolgerungen als die Methode der Untersuchung selbst. Seine 
Frage lautet vielleicht: »Inwieweit und unter welchen Voraussetzungen 
ist der Schüleraufsatz ein Mittel zur Erforschung des kindlichen 
Seelenlebens?« 

Wenn auch diese immerhin schwierige Frage hier nicht be- 
antwortet werden kann, so will ich doch versuchen, einige Momente 
hervorzuheben, welche im vorliegenden Falle die Lösung der Auf- 
gabe begünstigten und die Erzielung eines zuverlässigen Resultates 
ermöglichten. 

Zunächst wurde, soweit ich es beurteilen kann, die wichtigste 











Gızrck1: Wie urteilen Schulkinder über Funddiebstahl ? 95 


Vorbedingung für jede exakte psychologische Beobachtung dieser Art 
erfüllt. Die völlige Unbefangenheit und Selbständigkeit der befragten 
Personen wurde durch geeignete Vorsichtsmafsregeln in hohem Grade 
gewahrt. Keins der Kinder war auf das Thema vorbereitet, keins 
konnte mit einem andern verkehren, keins erhielt irgend welche, auf 
die Lösung des Problems bezügliche Andeutungen. Die auf diese 
Weise erzielte aufsergewöhnliche Selbständigkeit der Bearbeitung ver- 
riet sich denn auch nicht blofs in der Behandlung des ethischen 
Problems sondern auch in der durchaus individuellen Gestaltung 
des Satzbaues, der Orthographie und der Interpunktion. Nicht zwei 
Aufsätze unter 69 boten einen gleichlautenden Abschnitt dar, obgleich 
die Entwicklung des Themas durch die Disposition ziemlich genau 
vorgezeichnet wurde. 

Ein einziges Wort des Lehrers, die kleinste Andeutung einer 
Parteinahme für die eine oder die andere Lösung würde das Ergeb- 
nis der ganzen Arbeit jedes wissenschaftlichen Wertes beraubt haben. 
Eine Untersuchung derart kann daher mit Nutzen nur von solchen 
Personen ausgeführt werden, welche kein anderes Interesse als das 
der lauteren Wahrheit haben. Eine solche Untersuchung läfst sich 
aber auch nicht zweimal in einem engumgrenzten Zeitraum und Be- 
zirke wiederholen. Jeder Versuch dieser Art hat eine Anzahl von 
privaten Versuchen und Unterweisungen ad hoc zur Folge, welche 
die Unbefangenheit aller Beteiligten beeinträchtigen. 

Eine grofse Schwierigkeit bietet die Auswahl des rechten Themas. 
Es ist nicht leicht, cine so klar umrissene, leichtverständliche Situation 
ausfindig zu machen, wie sie der französische Prüfungsaufsatz darbot. 
Es dürfte selten vorkommen, dafs ein gestelltes Thema ohne jede 
Vorbereitung von 69 Kindern (mit nur einer Ausnahme) völlig 
richtig aufgefalst und dargestellt wird. Unsere Aufgabe hatte den 
Vorzug grolser Anschaulichkeit und einer klaren Fixierung cines 
sittlichen Problems, das einerseits dem Verständnis der Kinder nahe- 
liegt, andrerseits doch nicht in den herkömmlichen Lesebuchstoffen 
und Religionslcktionen allzuoft abgehandelt wird. 

Besondere Vorzüge des Themas sind ferner die Reichhaltigkeit 
der sich darbietenden möglichen Lösungen und die Einführung der 
Person der Freundin, welche teils als gute oder böse Ratgeberin auf- 
treten, teils auch blofs als dramatische Person Verwendung finden 
konnte, um der sittlichen Reflexion die anschaulichere und stilistisch 
leichter zu handhabende Form der Wechselrede darzubieten. 

Als Aufgabe der schriftlichen Darstellung durfte das Thema nicht 
zu schwierig sein und mufste der Leistungsfähigkeit der Kinder völlig 


26 B. Mitteilungen. 


entsprechen. Hätte der Aufsatz rein äufserlich durch Umfang oder 
Verwicklung der Situation an die Arbeitskraft der Kinder zu hohe 
Anforderungen gestellt, so würde sich jedenfalls am Schlusse in Er- 
matten bemerkbar gemacht haben, was vielleicht in der Tat bei 
einigen schon jetzt der Fall gewesen ist, vor allen Dingen würde 
aber wahrscheinlich gerade die Ausführlichkeit der sittlichen Re- 
flexionen, das schwierigste Gebiet des Aufsatzes, dadurch verkümmert 
worden sein. 

Zum Schlufs möge noch auf den Umstand hingewiesen werden, 
dafs die Kinder, welche sich für Rückgabe des Fundes aussprachen, 
also im ganzen ein reiferes sittliches Urteil bekundeten, meistens 
auch die grammatisch und stilistisch wertvolleren Arbeiten lieferten, 
während die andern gröfsere Unbeholfenheit im Ausdruck verrieten, 
eine grölscre Anzahl von groben Sprachfehlern machten und auch in 
der praktischen Beurteilung der Situation geringere Lebenserfahrung 
und Umsicht an den Tag legten. 


EANNA N II NINI men? 


B. Mitteilungen. 


1. Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. 
Von Adolf Rude in Nakel a. d. Netze. 


Die hier verzeichneten Beobachtungen habe ich an meiner Tochter 
Lucie vom Beginn ihres dritten bis zum Schlusse des sechsten Lebens- 
jahres gemacht. Durch äufsere Umstände war ich verhindert, die Be- 
obachtungen bald nach Lucies Geburt zu beginnen. Auch beschränken sich 
meine Beobcehtungen im ganzen auf das Vorstellungsleben. Diese Mängel 
erzeugten in mir das jahrelange Bedenken, das gesammelte Material zu 
veröffentlichen. Schlielslich kam ich aber doch zu der Ansicht, dafs es 
immerhin des Interessanten genug bietet, was die Veröffentlichung zu 
rechtfertigen geeignet sein dürfte. 


3. Lebensjahr: 


Erster Monat: Sprachliches: Lucie bemüht sich nachzusprechen, was 
ihr vorgesprochen wird. Die Endsilbe »en« spricht sie »e« aus: Küche 
(e kurz), schlaf, ess@, habd, kommč, schreibe Statt Kragen sagt sie: 


Kach@. -— Das »f« kann sie nicht aussprechen; statt Fisch sagt sie: Hifs. 
Statt ja sagt sie öfters la. Chokolade kürzt sie in Lade, Musik in Siek 
ab. — Sie sagt: Mama ihr Kleid (so sagen in unserer Gegend auch un- 


gebildete Erwachsene), ferner: meine ihr Kleid (statt mein Kleid). Das 
Mein ist ihr noch nicht pronomen possessivum. 














Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. 27 


Der Nachahmungs- und der Tätigkeitstrieb offenbaren sich. 
L. geht mit einem Staublappen an die Möbel heran und tut, als ob sie 
dieselben abstaube. Sie geht fast an jedem Abende sehr ungern zu Bette. 
Doch kann man sie leichter dazu bewegen, wenn man sie versuchen läfst, 
sich selbst zu entkleiden. Hilfe gestattet sie dabei nicht; sie sagt: »Kann 
L. selbst Jacke ausziehe.« Sie spielt gern (auch noch in späteren Jahren) 
mit den Münzen meiner Sammlung, legt sie in annähernd geraden Reihen, 
im Bogen hin. Sie breitet mit Vorliebe Decken aus, legt sie auf den 
Teppich, das Bett, den Stuhl etc. Wenn sie mir die bequemen Haus- 
schuhe zum Anziehen bringen darf, dann unterbricht sie sich gern in jedem 
Spiele. Sie hilft mir die Gamaschen ausziehen, glaubt, es allein getan 
zu haben und freut sich darüber. Dann trägt sie dieselben ohne jede 
Aufforderung zu dem Dienstmädchen und sagt: »Minna, putlse!« — Sie 
geht an die Tür. Ich frage: »Wohin willst du gehen?« Antwort: »Adä, 
[sule!« (das heifst: Weg, in die Schule). Dann geht sie wieder an die 
Tür und sagt: »Schiep, schiep kaufe« (Hühnchen kaufen), kommt wieder 
und grülst: »’n Tach!« Dieses tut sie sehr oft hintereinander, ohne 
dessen müde zu werden. Wir haben es hier mit einem durch die 
Phantasie gelenkten und gedeuteten Handeln zu tun. Auch 
sehen wir, dals Tätigkeit das geistige Lebenselement des Kindes ist. 

Überlegung. Verbot und Verbietender. L. ifst sehr gern Obst, 
darf aber nicht viel davon essen. In der Küche sind Äpfel geschält 
worden. L. möchte nun gern die Schalen essen, weils aber, dafs die 
Grolsmutter es ihr nicht erlauben würde. Deshalb sucht sie dieselbe zu 
überreden: »Omama, tube gehn!« (Grofsmama, geh’ in die Stube!). L. spielt 
sehr gern mit Büchern, am liebsten mit Bilderbüchern; diese nimmt sie 
sogar ins Bett mit. Sie weils eine Anzahl abgebildeter Tiere richtig zu 
benennen, auch die Maus. Als sie aber zum erstenmal eine lebende Mans 
(und zwar in der Falle) sieht, sagt sie: »Vogel«. Vielleicht hat sie die 
Drahtfalle an den Drahtkäfig des Kanarienvogels erinnert. Für ein im 
Unterscheiden ungeübtes Kinderauge mag auch die Maus Ähnlichkeit mit 
einem Vogel haben, wie auch die Grölse nicht sehr verschieden war. 
Bilderkenntnisse sind auch bei grölseren Kindern noch keine Sachkenntnisse. 

Reproduktion. L. kommt in mein Zimmer, um mir gute Nacht 
zu wünschen. Sie sagt: »Lunt’n Ude (später Lutlsi Ude) kommt an.« 
Als sie weggeht, laufe ich ihr nach, um sie im Scherze zu haschen. 
Beim Fliehen stölst sie sich. An den nächsten Abenden sieht sie sich 
nach dem Abschiede beim Weggehen fortwährend um und sagt: »Papa, 
nich geife (greifen), nein?« Das sagt sie nur abends. 

Scharfe Auffassung. Gedächtnis. Auf dem Bücherregal meines 
Schreibtisches stehen die Büsten von Herbart und Comenius. Einmal hat 
L. von mir den Namen Herbart unter Hinweis auf die Büste gehört. 
Seitdem vergilst sie ihn nicht, weils die Büste Herbarts auch sehr wohl 
von der des Comenius zu unterscheiden. Ich vertausche einmal absichtlich 
den gewöhnlichen Standpunkt beider. L. zeigt aber, als ich den Namen 
Herbart ausspreche, richtig auf dessen Büste. 

Apperzeption. Auf einem Stich der Rafaelschen Sixtinischen 





38 B. Mitteilungen. 


Madonna bezeichnet L. auf meine Fragen: »Wer ist das?« die Personen 
folgendermalsen: Engel, Engel (sie erkennt sie an den Flügeln), Tante 
(h. Barbara), Onkel (h. Sixtus), Tante (Maria), Erwin (so heifst ihr kleines 
Brüderchen — Jesusknabe). Früher bezeichnete sie jede Frau als Tante, 
jeden Mann als Onkel. 

Gefühlsäufserungen. Anufser den Eltern hat sie das Dienst- 
mädchen sehr lieb, möchte stets bei ihm bleiben. Ebenso hat sie ihr 
2—3 Wochen altes Brüderchen sehr lieb, külst ihm die Hände. Am 
liebsten möchte sie es wie ihre Puppe herumtragen. Als ihr sein Name 
Erwin nur einmal genannt wird, vergifst sie ihn nie mehr. Sie spricht 
ihn »&win« aus. L. hört gern Musik. Sie bittet, die Mama möchte die 
Spieldose spielen lassen: »Siek!« 

Reproduktion und Apperzeption. L. sieht einen Chausseestein 
mit Ziffern und sagt: »Omama I[seibe« (Grolsmama schreiben). Sie hat 
schon einen Begriff des Eigentums. Sie sagt: Mein Buch, meine 
Omama, mein Erwin etc. Ich sage einmal darauf: »Nein, mein Erwin!« 
Da überlegt sie ein wenig und erkennt dann mich grofsmütig als Mit- 
besitzer an mit den Worten: »Beide mein Erwin, ja?« Als Evastochter 
putzt sie sich gern und sieht sich gern schön angezogen. Dann kommt 
sie gleich an und zeigt mir das neue Kleidchen, die neue Schürze, wenn 
diese Sachen auch gar nicht mehr neu, aber doch schön sind. Das Neue 
ist kleinen Kindern zumeist schön. 

Empfindungswort. L. ist sehr empfindlich. Wenn sie sich stölst, 
dann sagt sie: Aua (früher awa). 

Apperzeption. Sie sieht Seiltänzer sich produzieren und sagt: 
»Puppe tanze!« — L. fragt oft: »Wie spät ist es?« und beantwortet sich 
selbst immer die Frage mit: »9 Uhr.« Doch ist dies wohl nur der be- 
scheidene Anfang der Bildung einer Zeitvorstellung. 

Verwechselung der Zeitbestimmungen. Sie wird gefragt, wie 
alt sie sei, und antwortet: »6 Uhr.« Sie versteht die Frage nach dem 
Alter nicht, will unverstanden nachsprechen, was ihr vorgesprochen worden 
ist (2 Jahre), 2 und 6 kennt sie als Zahlen, Uhr und Jahr klingt ähnlich, 
daher wohl die Antwort: »6 Uhr.« 

Sinnliches Begehren. L. möchte gern Butter essen, soll es aber 
nicht. Sie verlangt sie jedoch andauernd. Da verbiete ich auch dieses. 
Nun flüstert sie die Bitte der Mutter ins Ohr. Sie weils, dafs ich es 


dann nicht höre. Regung von Ungehorsam. 
(Forsetzung folgt.) 


2. Zur Frage des jugendlichen Verbrechertums. 
Von J. Trüper. 
Ich habe wiederholt, in unserer Zeitschrift sowie in dem Beitrage 
»Zur Erziehung unserer sitttlich gefährdeten Jugend«!) und in 


') Beiträge zur Kinderforschung. Heft V. Langensalza, Hermann Beyer & 
Söhne (Beyer & Mann), 1900. 





Zur Frage des jugendlichen Verbrechertums. 29 


dem Vortrage: »Die Anfänge der abnormen Erscheinungen im 
kindlichen Seelenleben « !), darauf hingewiesen, dafs das Problem des 
jugendlichen Verbrechertums im Interesse der Zukunft unserer Volks-, 
Arbeits- und Wehrkraft, unserer sittlichen und geistigen Kultur immer 
dringender eine Lösung erheischt. 

In einer unlängst erschienenen Schrift (»Die Jugendlichen in der- 
Sozial- und Kriminalpolitik« bei Gustav Fischer, Jena) behandelt der Sozial- 
politiker Arthur Dix auf Grund eines reichen einschlägigen Materials die 
Kriminalität der Jugendlichen und kommt dabei ebenfalls zu Ergebnissen, 
die uns die ganze Furchtbarkeit des augenblicklichen Zustandes erkennen lassen. 

In einem Jahre werden jetzt ungefähr 50000 Personen im Alter 
zwischen 12 und 18 Jahren gerichtlich bestraft. Während im Jahre 1882 
auf 100000 der jugendlichen Zivilbevölkerung erst 568 Verurteilungen 
entfielen, waren es im Jahre 1899 über 700. Der gröfste Teil davon ent- 
fällt auf Diebstahl und Unterschlagung. Aber Hand in Hand mit der 
Zunahme der Bestrafung wegen Eigentumsvergehen geht auch cine Zu- 
nahme der Bestrafungen wegen Körperverletzung. Auf 1000 Verurteilungen 
Jugendlicher im Jahre 1882 kommen 110 wegen Körperverletzung, im 
Jahre 1899 bereits 191. Noch schlimmer ist die Zunahme der rück- 
fälligen Jugendlichen. Es erfüllt mit Schrecken, dals cs im Jahre 1899 
bereits rund 9000 Personen zwischen 12 und 18 Jahren gab, die 
mindestens zum zweiten Male bestraft wurden. Es gab unter ihnen 5485 
einmal Vorbestrafte, 1870 zweimal Vorbestrafte, während der Rest dreimal 
und öfter vorbestraft war, 1899 also schon mindestens die vierte Strafe 
erlitt. Und es wächst nicht blols die Zahl der Vorbestraften, sondern 
auch die Zahl ihrer Vorstrafen: im Jahre 1899, seit welcher Zeit diese Er- 
mittlungen betrieben werden, gab es 64 Jugendliche, die mindestens zum 
siebenten Male bestraft wurden, 1899 schon 177. 

Auffällig mag es auf den ersten Blick erscheinen, dafs die Jugend 
der Grolsstädte, speziell auch die der Reichshanptstadt, bei den Roheits- 
delikten einen wesentlich geringeren Prozentsatz stellt, als die Landjugend. 
Dafür ist sie um so mehr bei den Vergehen gegen das Eigentum beteiligt, 
und gerade aus dieser Kategorie von Verbrechern rekrutiert sich das ge- 
werbsmälsige Verbrechertum. Von diesen berufsmälsigen Verbrechern hat 
nahezu ein Drittel diese Laufbahn vor dem 18., der überwiegende Teil 
des Restes in den unmittelbar folgenden Lebensjahren begonnen. Eme 
Hauptrolle spielt dabei ohne Zweifel die Störung des Familienlebens, das 
starke Fluktuieren der jugendlichen Bevölkerung und die ausgedehnte 
Fabrikarbeit der Frauen, unter der die Erziehung von Anfang an wesent- 
lich leiden muls. Am besten erkennt man die Wirkung der mangelnden 
Familienbande daran, dafs von den gewerbsmälsigen Verbrechern ein Neuntel 
unehelich geboren, ein Drittel vor dem 14. Lebensjahre Waise geworden ist. 

Aus diesen Tatsachen erwächst auch uns die Pflicht, ım neuen 
Jahrgange unserer Zeitschrift uns aufs neuc mit der Psychologie wie mit 
der Behandlung des jugendlichen Verbrechertums zu beschäftigen und ins- 








1) Verlag von Oskar Bonde in Altenburg. 1902. 


30 B. Mitteilungen. 





besondere die auch für Haus und Schule so bedeutungsvollen Anfänge 
und Ursachen aufzudecken. 

Für diese Nummer, die bereits eine lehrreiche Abhandlung über den 
Funddiebstahl bringt, möchte ich zunächst auf ein paar entwicklungs- 
geschichtliche Umstände im Leben von Mördern hinweisen, 
welche im letzten Jahre unser Thüringen in grofse Aufregung versetzten. 

Am 3. Juli wurde von Behnert, Fousse und Goldschmidt am hellen 
Tage um 11 Uhr vormittags in Jena in einer belebten Stralse in einem 
offenen Laden ein Raubmord begangen. Eine Althändlerin wurde mit 
einem Maurerhammer zu Boden geschlagen und beraubt. Und in zahlreichen 
andern Städten sollte das, was sie hier vollbrachten und was ihnen bereits 
zuvor in Leipzig gelungen war, wiederholt werden. Die Entwicklungs- 
geschichte der beiden ersten wurde nach den Berichten der Tagespresse 
nicht weiter festgestellt. Bedeutsam aber ist es, dafs Behnert, der Führer, 
der uneheliche Sohn einer Kelinerin, das Produkt des Kneipen- 
lebens war. 

Über Goldschmidts Entwicklung, deren Zurechnungsfähigkeit an- 
gezweifelt wurde, offenbarte die Gerichtsverhandlung folgende psycho- 
pathologisch interessante und heilpädagogisch lehrreiche Tatsachen : 

Die Eltern des Angeklagten trieben erst einen Obst-, später Holz- 
handel. Sie hatten 10 Kinder, von denen 4 am Leben sind. Der Vater 
Goldschmidts war ein Trinker. Die Kinder haben meist die englische 
Krankheit gehabt und litten an Epilepsie. Der Angeklagte lernte erst nach 
dem dritten Jahre gehen. Geistig blieb er zurück, lernte sehr schwer, 
war leicht erregbar, jähzornig und grausam, dabei aber frech und faul. 
Er ist also alkoholistisch erblich belastet und von Geburt debil. 
Deshalb kam er in das Pestalozzistift, wo er drei Jahre bis zur Konfirmation 
verblieb. Als er sechs Wochen bei einem Bäcker in der Lehre war, jagte 
dieser ihn fort wegen Faulheit, Frechheit und Dummheit. Dann arbeitete 
er kurze Zeit in einer Glasfabrik und kam hierauf zu einem Schornstein- 
feger in die Lehre. Hier blieb er 21/, Jahre, ohne die Lehrzeit zu voll- 
enden, und ist dann auf Wanderschaft gegangen. Das Jahr darauf (1894) 
fiel er der Dresdener Polizei in die Hände Mit einer schweren Kopf- 
wunde kam er ins Krankenhaus. Er soll mehrmals Kopfverletzungen ge- 
habt haben, auch mit Krämpfen behaftet gewesen sein. Hierfür hat sich 
bei seinem spätern Aufenthalt in der Irrenanstalt nichts erweisen lassen, 
Nur einmal ist er einem ÖOhnmachtsanfall erlegen, was vielleicht auf epi- 
leptische Veranlagung schlielsen lassen könnte. Dagegen haben Scharlach, 
Blattern, Masern und Diphtherie nebst den Kopfverletzungen das geistige 
Nivean des Angeklagten noch mehr herabgedrückt. An Wahnideen hat er 
aber nie gelitten. Seine bösen Eigenschaften entwickelten sich immer mehr. 
Er war streitsüchtig und prahlerisch, spielte aber, trotzdem er schon ein 
grolser Mensch war, gern mit kleinen Kindern. Gegen die Aufseher der 
Anstalt war er unbotmälsig, so dafs ihn keiner mehr zur Arbeit haben wollte. 
Bei den Ärzten zeigte er sich unterwürfig, um seine Stellung zu verbessern. 
Die Charakteranlagen erkennt man aus einzelnen Vorgängen ganz genau. 
Eine Katze sperrte er mehrere Stunden lang in einen Tischkasten. Seine 

















Zur Frage des jugendlichen Verbrechertums. 31 


Mitkranken und Stralsenpassanten bewarf er mit Steinen, einem andern 
Kranken versuchte er einen Nagel in den Kopf zu treiben. Den Ermah- 
nungen setzte er die ständige Redensart entgegen: er sei im Irrenhause, 
da könnte man ihm nichts tun. Gern las er Zeitungen. Schliefslich kam 
er in die Abteilung der Unruhigen. Im Februar 1899 konnte er jedoch 
als gebessert entlassen werden, d. h. seine Reizbarkeit hatte nachgelassen 
und es genügte nunmehr die Unterbringung in eine Arbeitsanstalt. Geheilt 
war er nicht, kann’s auch nie werden, denn Schwachsinn ist unheilbar, 
sagte der psychiatrische Sachverständige Dr. Näcke. Der Freiheit, auch 
zur Ausübung verbrecherischer Handlungen, wurde der Psychopath aber 
dennoch übergeben. 

In dieser Vererbung des Vaters und der Entwicklung des Sohnes 
Goldschmidt offenbaren sich alle Hauptprobleme des jugendlichen Ver- 
brechertums wie die Unzulänglichkeit, mit den bisherigen Malsnahmen die 
Entwicklung der verbrecherischen Neigungen zu hemmen und die Gesell- 
schaft vor ihren gefährlichsten Gliedern auch nur entfernt zu schützen. 

Wir bedürfen in dieser Frage weitgehender und tiefgreifender 
sozial- und individual-erzieherischer Maflsnahmen. 

Doch noch an einem dritten Beispiel aus »gebildeten«, akademischen 
Kreisen sei das veranschaulicht. 

Ein Jahr früher stand vor demselben Schwurgericht in Gotha. der 
stud. jur. Fischer wegen Brantmord. 

Auch seine Entwicklung enthüllt uns das ganze Problem des jugend- 
lichen Verbrechertums und wirft zugleich ein grelles Licht auf die Duld- 
samkeit der Regierungs- und Gelehrtenkreise, die an unsern deutschen Uni- 
versitäten noch immer sehr zart behandeln, was Giordano Bruno schon 
mit folgenden Worten charakterisierfe: »An den deutschen Universitäten 
wird das Schwein der Schweine als Fürst der Toren bejubelt.« Man sagt: 
»Die Jugend muls sich austoben.« Was das heifst, lehrt eben dieser Fall Fischer. 

Der stud. jur. Fischer aus Eisenach ist zwar erblich belastet — die 
Mutter litt an Epilepsie, über den Vater verweigert der Hausarzt die Aus- 
sage — aber erblich belastet sind auch andere Menschen, die trotzdem mälsig 
und keusch leben und für ihre Mitmenschen selbstlose Opfer bringen. 
Fischer hatte auch einen angebornen, aber später etwas zurückgegangenen 
Wasserkopf, doch ein Helmholtz hatte das auch und leistete Grolses. Eine 
grölsere Fähigkeit zum Verbrechertum verleihen vielleicht diese beiden 
Momente einem Menschen, aber vielfach nur dann, wenn das Verbreche- 
rische zugleich erworben wird. 

Was trug dazu bei? 

Die Mitschüler verspotteten ihn wegen seiner abnormen Kopfgestalt. 
Das machte, dafs er sich vom Verkehr zurückzog und für sich lebte, also 
ein Sonderling wurde. Ein Postsekretär machte den Tertianer auf die 
Schriften des pathologisch belasteten Schopenhaner und des Geisteskranken 
Nietzsche aufmerksam. Sie wurden verschlungen. Die religiös-sittliche 
Bildung schöpfte. er aus David Straufs’ und Renans Leben Jesu. So 
wurde sein Denkeu und Empfinden abnorm. Als Student in Jena trank er, 
wie es andere Verbindungsbrüder ja ebenfalls tun, viel Bier und dazu nicht 


——— ee IT 





32 B. Mitteilungen. 


ganz wenig Schnaps. Aufserdem hat er sehr stark geraucht. Beides ver- 
ändert schon bei erblich nicht belasteten Jünglingen das Nerven- und Seelen- 
leben und macht sie laster- und verbrecherfähig; wieviel mehr einen be- 
lasteten, auch wenn der Psychiater noch keine Zeichen eines Gewohn- 
heitstrinkers finden kann. Gelegenheitstrinker sind eben Gelegenheitsüber- 
treter göttlicher und menschlicher Gesetze, während die Gewohnheitstrinker 
chronische Entarfungen in Gesinnung und Tat bekunden. Im Grunde ist 
jedoch jeder Verbindungsbruder zwangsmälsiger Gewohnheitstrinker. Sogar 
der Paukarzt, der noch im 17. Semester ein normaler stud. med. sein will, 
bezeichnete vor Gericht Fischer als »nicht normal«. Dafs das Kneipen- 
leben aber die Hauptursache des Abnormsten im Seelenleben dieses Un- 
glücklichen bildete, begreift ein so altes Semester natürlich nicht. 

Die Unfähigkeit, das Triebleben zu beherrschen, war die nächste Folge 
des Alkoholgenusses. Er war in Jena als »Schürzenjäger« bekannt, und 
er belästigte die Exkneipwirtin dermalsen, dafs der Präses der Verbin- 
dung, welcher er angehörte, ihm das in ernstester Weise untersagte. 

Der Alkoholmilsbrauch hemmt eben das sittliche Urteil und drängt 
zum unüberlegten Handeln. wie das »Liebesmahl« in Mörchingen, die 
Offiziere auf den Stralsen Insterburgs, der Duellmord Thieme-Held in 
Jena und die Arbeiter in Löbtau bewiesen. Auch Fischer forderte darum 
das Präsidium auf — Pistolen. 

Selbstverständlich machte er auch Schulden. Der tägliche Alkohol- 
genuls lähmt das Gewissen: der »freie« Bursche denkt nicht mehr daran 
und wenn er noch daran denken kann, so treibt es ihm nicht mehr die 
Schamröte in die Wangen darüber, dafs er leichtfertig so wie seine besten 
Kräfte auch die Hundertmarkscheine verpralst, die der Vater sich oft ab- 
gedarbt hat, damit er den Sohn studieren lassen kann. 

Dann ging Fischer nach Berlin, wo ein solcher Jüngling noch günstigeren 
Boden findet für seine Sittenentfaltung. Zwar will er hier ordentlich ge- 
lernt und gearbeitet haben. Namentlich habe er sich mit dem — Straf- 
recht befalst. Er hat also gelernt, welche Verbrechen man begehen kann 
und damit waren für den willensschwachen Alkoholisten zahllose, Ziele des 
Handelns klarer ıns Bewulstsein gerückt. Die sittliche Abneigung dagegen 
hemmt aber der Alkohol. Schlecht, ja mangelhaft will er sich dabei be- 
köstigt haben — für ein Glas Bier muls man ja z. B. auf 2—3.Eier oder 
2 Glas nahrhaftere Milch verzichten —, so dafs er körperlich abfiel. Aber 
der Abfall in Berlin hat für einen »Schürzenjäger« noch wohl andere Ur- 
sachen, wobei die Neigung zum weiblichen Geschlecht ihm zeitweilig ganz 
zurückgehen konnte, wie es nach seiner Aussage der Fall gewesen sein 
soll. Die Händel blieben auch hier nicht aus. In Jena hatte er die Men- 
sur glücklich bestanden, in Berlin hatte ihm dieselbe Kopfhieb mit Ver- 
letzungen eingetragen, die dumpfe Schmerzen im Kopfe mit sich brachten. 
Im Hinblick auf den Beruf konnte er zeitweilig wohl mutlos werden. Be- 
rufsstreben mundet unter solchen Umständen nicht. Aber anstatt auf die 
alkoholistische Schwächung wird es auf die vermutlich falsche Wahl ge- 
schoben. Man möchte umsatteln und das Recht mit Philosophie vertauschen. 

Martha Amberg ist »schr schöne. Das zu hören, und ohne sie je 





[2 


Zur Frage des jugendlichen Verbrechertums. 33 





gesehen zu haben, genügte, um sie brieflich zu einem Stelldichein einzu- 
laden. Sie geht mit ihm spazieren. Er erklärt ihr seine Liebe und külst 
sie. Die Zusammenkünfte wiederholen sich, namentlich auch in — Restau- 
rationen. Er war fest überzeugt, dafs sie ihn wieder liebe. Er kennt 
die Familienverhältnisse des Mädchens und weifs, dafs die Mutter eine 
Totenfrau ist. Er hört, dafs sie ein intimes Verhältnis mit einem — Gym- 
nasiasten habe, also sittlich dem »Schürzenjäger« ebenbürtig ist. Auch 
die Obduktion der Leiche hat nach Aussagen des Gerichtsarztes ergeben, 
dafs sie keineswegs unschuldig gewesen sei, sondern »kranks war. Er 
wird ermahnt, die Verhältnisse mit dem Mädchen aufzugeben. Er schlägt 
es in den Wind; denn sie weist ja die Beschuldigung mit — Entrüstung 
zurück. Er hört, dafs sie auch noch andere Liebhaber hat, Forsteleven 
und Einjährig-Freiwillige Er führt das Verhältnis weiter, denn sie habe 
sich für ihn allein entschieden. In Berlin, wo er die Schöne nicht mehr 
vor Augen hat und umarmen kann, veranlassen anonyme Warnbriefe ihn 
zu dem Entschlusse, dals es für alle Ewigkeit aus sein soll und er sich 
selbst erschielsen will. Die Wirtin gibt ihm aber ihren Revolver nicht. 
Am 20. Mai reist er nach Eisenach. Es kommt zu Auseinandersetzungen. 
Sie bittet, ihr das doch zu verzeihen. Photographien werden zurückgegeben. 
Er zerreilst die seine vor ihren Augen. Nach schlafloser Nacht schrieb 
er an »seine liebe gute Martha« einen geradezu rührenden Brief, in dem 
er sie unter Tränen anflehte, ihm doch zu vergeben; alles was er unrecht 
getan, sei nur seiner grolsen Liebe entsprungen. Er wiederholt die Bitte 
mündlich. Sie gehen am 25. Mai wieder zusammen nach »Bellevue«. In 
später Abendstunde, wo bei beiden der Alkohol wieder gewirkt hatte, folgt 
abermals grolse Entzweiung. Er will ins Wasser gehen. Sie schreit um 
Hilfe. Am 27. und 28. Mai wandeln sie wieder Arm in Arm. Alle diese 
Zusammenkünfte sollen nach Angabe Fischers nur keusch verlaufen sein, 
die andern mutmalslich nicht. Er hat eine ruhelose Nacht, wird » wahn- 
sinnig verzweifelt«. Gegen Morgen falst er den Gedanken, sie und sich 
selbst zu erschielsen. Um 9 Uhr kauft er Revolver und Patronen. Dann 
geht er in eine Kneipe und trinkt Bier. Durch eine Kellnerin lälst er die 
Amberg holen. Er:geht mit ihr ins Klosterholz. Hinter ihren Rücken 
lud er den Revolver. Sie will ihn in seiner Trauer trösten, ihn umarmen 
und küssen. Er wehrt ab. Sie weint. Er legt seinen linken Arm um 
ihre Taille und sie lehnt teilnehmend den Kopf an sein Herz und seine 
Schulter. Im nächsten Augenblick erhebt er den Revolver und schiefst 
drei, vier mal nach ihrem Kopfe. Mit dem Ausruf »Walter« stürzt sie 
blutig und still zu Boden. Er wirft den Revolver fort und külst sie 
wiederholt auf Mieder und Hand. Er läuft fort und kehrt wieder zurück 
und schmückt die Leiche mit Laub und Kirschblüten. Nachdem er mehrere 
Stunden bei ihr verweilt und wiederholt Mund und Hände gekülst, bedeckt 
er sie mit seinem Rock, wirft seinen Hut fort und läuft halb entkleidet 
dem Bahndamm entlang und meldet der Polizei das Geschehene: »Ich stelle 
mich hiermit, ich habe meine Braut totgeschossen.e Im Polizeigewalrsam 
zertrümmert er die Fenster, drückt die Splitter ins Brot, um sich so das 
Leben zu nehmen. Er kam aber mit Brust- und Leibschmerzen davon. 
Die Kinderfehler. VIII. Jahrgang. 3 





34 B. Mitteilungen. 








Bei der Leichenschau hat er in Gegenwart der Ärzte merkwürdige Ruhe 
und Gleichgültigkeit an den Tag gelegt. Das alles sind keine Zeichen 
von Irrsinn und Unzurechnungsfähigkeit, wohl aber von psychopathischer 
Minderwertigkeit und verminderter Zurechnungsfähigkeit, zumeist entstanden 
unter dem Einflusse des Alkohols wie der Dinge, welche so viele Gym- 
nasiasten und Studenten auf Abwege bringen. 

Mit der Verurteilung Fischers, die ja erfolgen mulste, ist nur dem 
Gefühl der Vergeltung Genüge geschehen. Dem jugendlichen Verbrecher- 
tum wird dadurch kaum Abbruch getan. Soll das geschehen, so müssen 
Zustände auf die Anklagebank, gegen die die Gebildeten fast noch blinder 
sind als die Ungebildeten. Oder sie besitzen doch nicht den Mut, sie zu 
beseitigen. 

Auffallend ist es auch, dals viele unserer malsgebenden Juristen auch 
angesichts solcher Fälle noch immer bei dem Begriff »zurechnungsfähig« 
oder »unzurechnungsfähig« beharren und die »verminderte Zurechnungs- 
fähigkeit« nicht anerkennen wollen, ein Begriff, der bei der Frage der 
jugendlichen Gesetzesübertretungen von ganz aulserordentlicher 
Tragweite ist. 

Erfreulicherweise bricht aber die deutsche und christlich- humane 
Auffassung sich immer mehr Bahn in den Kreisen der Gefängnisgeistlichen 
und der Psychiater. 

Ein Beispiel dafür sind die Verhandlungen der Konferenz von Ge- 
fängnisgeistlichen in Düsseldorf im September d. J., wo Pastor Müller in 
Öslebshausen bei Bremen über die psychopathisch Minderwertigen 
und ihre Behandlung in den Gefängnissen sprach und darüber 
folgende Thesen der Versammlung vorlegte. 

1. Es ist eine längst bekannte TatsAche, dafs unter den Insassen der 
Gefängnisse und Zuchthäuser sich eine grolse Anzahl psychopathisch Minder- 
wertiger befinden, für deren sachgemälse Unterbringung und Behandlung 
aber die Verhandlungen noch nicht über theoretische Erörterungen hinaus- 
gekommen sind. 

2. Alle Minderwertigkeiten, erworbene oder ererbte, beruhen auf Krank- 
heiten oder Schädigungen der Nerven und des Gehirns, daher die damit 
Behafteten als leiblich Kranke anzusehen und zu behandeln sind. 

3. Die bisherige gesetzliche Praxis, welche keine verminderte Zu- 
rechnungsfähigkeit kennt und diese Art Kranke als Gesunde behandelt, 
ist als eine Unbilligkeit anzuschen, die der Rektifikation bedarf; die erst- 
malige, durch das Gesetz begangene Unbilligkeit wiederholt sich in einer 
fortlaufenden, für die Kranken schädlichen, für den Strafvollzug peinlichen 
und lästigen Weise nach der Unterbringung dieser Leute in die Strafanstalten. 

4. Der den Strafanstalten gesetzlich anfgegebene Strafvollzug kann um 
dieser Kranken willen nicht wohl so von Grund aus geändert werden, wie 
es für sie nötig sein würde. Darum ist die Forderung berechtigt, dafs 
die Minderwertigen anderweitig, eventuell in besondere Anstalten über- 
wiesen werden. | 

5. So lange der Staat nicht in der Lage ist, für diese Kranken ge- 
nügend zu sorgen, ist die christliche Barmherzigkeit zum Werke aufzurufen, 





Zur Frage des jugendlichen Verbrechertuns. 35 


— zz nö öES,SE, a ea 


in deren Anstalten zudem bereits viele Minderwertige sich befinden und 
unter sachverständiger Behandlung und Leitung in gesegneter Arbeit stehen. 

Diese Thesen wurden einstimmig angenommen, ihr Inhalt in einer 
kürzer gefalsten Resolution an die Generalversammlung für Gefängniswesen 
gebracht und auch dort angenommen. Müller meinte, die psychopathisch 
Minderwertigen seien leiblich Kranke, über welche die Ärzte, nicht die 
Theologen, zunächst etwas zu sagen haben. Und diese sagen, dals die 
Minderwertigkeit auf Störungen oder Schwäche der Nerven und des Gehirns, 
speziell der Zentren in der Rinde, beruhen. Er wies sodann an 13 Bildern 
aus der Öslebshauser Strafanstalt nach, wie sich solche Erscheinungen im 
Leben darstellen. Müller meint, dafs die Theologen durch diese ärztlichen 
Darlegungen keineswegs bedroht oder gar die Bibel geschädigt, wohl aber 
ihre Gewissenhaftigkeit nach einer bisher nicht beachteten Richtung geweckt 
werde, dals sie diese Armen jetzt besser verstehen und beurteilen lernen 
können und müssen. Dabei wurde auf die Ungerechtigkeit in der Gesetz- 
gebung verwiesen, welche keine verminderte Zurechnung kennt und alle 
Kranke derart einfach als Gesunde ins Gefängnis verweist. Iliergegen 
müsse man Front machen, da der Strafvollzug sie schädigt und die Ge- 
wissen der Beamten belastet. Abgeschen von den Trinkern, die am besten 
dort immer blieben, gehören diese Leute nicht ohne weiteres ins Gefäng- 
nis, welches Gesunde voraussetzt und die »Ruhe für das kranke Gehirn« 
nicht gewähren kann. Man erkennt sie nicht als Kranke bei der Anf- 
nahme, hat keine Einzelzellen genug für sie, überliefert sie der schaurigen 
Gemeinschaftshaft, quält sie durch Arbeitspensa, Strafen, militärischen Ton 
(respektiv oft genug durch Barschheit), gewährt ihnen nicht die nötige Ruhe 
des Ausschlafens, den Aufenthalt in freundlicher Umgebung, in frischer 
Luft, passende Kost; man richtet sie (nach Baer) durch Dunkelarrest u. s. w. 
weiter zu Grunde. Inbetreff der Frage nach der Behandlung verlangte 
Müller Individualisierung, planmälsige Behandlung unter ständiger Verhand- 
lung mit dem Arzte, der überall psychiatrisch gebildet scin sollte, in grolser 
Ruhe im Verkehr, in absoluter Gerechtigkeit und mit evangelischem Takt. 
Da aber längere Erfahrung bewiesen, dals man damit dennoch nicht Ge- 
nügendes erreiche, so müssen diese Leute aus dem Strafvollzug ganz 
heraus und in besondere Anstalten, die eventuell von der christlichen 
Barmherzigkeit für den geldarmen Staat herzustellen sind, wie sie bereits 
an diesem Teile angefangen haben, zu wirken, 

Am folgenden Tage folgten noch 2 bedeutsame Referate von Prof. 
Pelman-Bonn und Direktor Finkelnburg-Derendorf. Ersterer þe- 
leuchtete in geradezu überzeugender Weise nochmals die Schwierigkeiten 
der Sache, das Unrecht des Gesetzes gegen solche Kranke; es war klassisch, 
wie er den Oberstaatsanwalt Hamm, einen Vertreter der alten Schule: »Strafe 
ist Vergeltung, daran darf nicht gerüttelt werden, der Mann ist entweder 
gesund, dann mufs er bestraft, oder krank, dann mufs cr freigesprochen 
werden, tatium non datur, und der Sachverständige muls das wissen«, 
damit abfertigte: »Sie als Vertreter der alten, ich der neuen Schule, kennen 
keine Vermittlung. Aber wir werden über die Leichen der Alten hin- 
weggehend zum Ziele kommen.« Als einzigen Satz ihres Referates hatten 

3t 


36 B. Mitteilungen. 


beide die Forderung gestellt: das Reichsstrafgesetzbuch bedarf einer Be- 
stimmung über verminderte Zurechnungsfähigkeit; diese These wurde an- 
genommen. 

Gewöhnlich erhebt man den Vorwurf der Orthodoxie gegen die Geist- 
lichen. Die Verhandlungen auf der Konferenz in Düsseldorf haben be- 
wiesen, dals sie im Verein mit den Ärzten die Fortschrittsleute und die 
Juristen die Rückständigen sind. 

In letzter Zeit sind oft harte Anklagen gegen die Richter und die 
Untersuchungs- wie Vollstreckungsbeamten durch die Tagespresse gegangen. 
Auch wir haben im Interesse unseres Volkes ein paar Fragen auf dem Herzen. 

1. Wie ist es möglich, dafs nach dem Erscheinen von Kochs Schriften 
über »Psychopathische Minderwertigkeitene und die ungeheure Literatur, 
welche sie im Gefolge hatte, sich noch ein Jurist sträuben kann gegen 
die Anerkennung einer verminderten Zurechnungsfähigkeit, zumal 
zahllose Gerichtsfälle immer wieder Gelegenheit zur handgreiflichen Be- 
obachtung dieser Tatsache bieten? 

2. Wie ist es möglich, dals wenn, wie man so oft in den Zeitungen 
liest, cin Verbrecher zum 49., ja zum 100. Male vor die Schranken des 
Gerichtes gestellt wird, die Juristen nichts anderes zu tun wissen, um ihn 
vor Wiederholungen und die Gesellschaft gegen seine Missetaten zu schützen, 
als ihn aufs neue eine kurze Zeit einkerkern zu lassen? 

3. Wie ist es möglich, dafs bei der Unzahl der jugendlichen Ver- 
brecher die Strafrichter so selten eine ernste Anklage gegen die Milsstände 
erheben, welche diese Gesetzesübertretungen verursachen? Wir nennen nur 
das Kneipen- und Tingeltangelunwesen und die menschenwidrige Wohnungs- 
not in den Grolsstädten wie auf den grofsen Landgütern ? 

4. Wie ist es möglich, dafs manche unserer Juristen nicht soviel 
psychologische und pädagogische Einsicht sich verschaffen, um zu erkennen, 
dals die Verurteilung von Kindern zu Gefängnisstrafen das Verbrechertum 
nicht vermindern, sondern vermehren hilft? 


3. Unsere diesjährigen Neulingein sprachlicher Hinsicht. 
Bericht über eine Zusammenstellung, erstattet von Max Mehnert-Löbtau. 


Schon die vorjährige Zusammenstellung der unter den Löbtauer Schul- 
kindern vorhandenen Sprachstörungen lieferte den Beweis, dafs eine be- 
trächtliche Zahl von Kindern sprachlich zurückgeblieben in die Schule ein- 
tritt; standen doch nach jener Zusammenstellung von 91 Stammlern 71 
(78,02 °/,) auf der Unterstufe, dagegen 17 (18,68°/,) auf der Mittelstufe, 
3 (3,30°/,) auf der Oberstufe. Anders war das Ergebnis hinsichtlich der 
Stotterer. Von den 41 Stotterern gehörten 17 (41,46°/,) der Unterstufe, 
20 (48,78°/,) der Mittelstufe und 4 (9,76°/,) der Oberstufe an. Diese 
letzten Zahlen berechtigten zu dem Schlusse, dals die Zahl der Stotterer 
während der Schulzeit zunehme. Bei den Stammlern ist das Gegenteil 
als sicher anzunehmen, beseitigt doch schon der erste Sprachunterricht, 
besonders der Leseunterricht, ein gut Teil derselben. 























Unsere diesjährigen Neulinge in sprachlicher Hinsicht. 37 


Die diesjährige Zusammenstellung bezweckte, die genaue Zahl der 
mit Sprachstörungen behafteten, in die Schule eintretenden Kinder zu ge- 
winnen. Das Ergebnis ist ein unerwartetes, wenig erfreuliches gewesen. 

Unter den 1008 in die Schule aufgenommenen Neulingen fanden sich 
133 Stammler (13,19°/,) und 8 Stotterer (0,79°;,). Dafs die Zahl der 
sprachlich zurückgebliebenen Knaben grölser ist als die ebensolcher Mädchen 
ist von neuem erwiesen, denn unter den 500 Knaben sind 86 Stammler 
(17,2°/,) und 6 Stotterer (1,2°,,), unter den 508 Mädchen aber nur 47 
Stammlerinnen (9,25°/,) und 2 Stotterinnen (0,39, ,). 

Am nngünstigsten steht die 2. Bez.-Sch. mit ihren Neulingen da, 
etwas besser die 3. Bez.-Sch., noch besser die Bürgerschule, am besten 
die 1. Bez.-Sch. Während nach der vorjährigen Zusammenstellung den 
Lehrkräften der Bürgerschule der erklärliche Vorteil zufiel, am wenigsten 
mit Sprachstörungen bei ihren Zöglingen zu tun zu haben, ist dies in 
diesem Jahre anders, wenigstens hinsichtlich des Stammelns. Stotterer hat 
die Bürgerschule auch dieses Jahr nicht unter den Elementaristen. 

Auf die 1. Bez.-Sch. mit 383 Neuaufgenommenen entfallen 41 
Stammler (10,74 °/,) und 3 Stotterer (0,78°,). Die Bürgerschule zählt 
unter 188 eingetretenen Kindern 23 Stammler (12,23 °,,), keine Stotterer. 

Unter den 240 Neulingen der 3. Bez.-Sch. finden sich 36 Stamniler 
(15°/,) und 2 Stotterer (0,83 °/,). Die 2.Bez.-Sch. hat unter den 197 Neu- 
lingen 33 Stammler (16,24°,,) und 3 Stotterer (1,52 ° „) aufzuweisen. 

Die Stammler und Stotterer verteilen sich — in Prozenten ausge- 
drückt — auf die Neulinge der einzelnen Schulen folgendermalsen: 

1. Bez.-Sch. 10°, Stammler, 0,78°/, Stotterer 
Bürger-Sch. 12°/, . 0%, x 
3. Bez.-Sch. 15°% M 0,33%, a 
2. Bez.-Sch. 16°,, er 1,929, ` 

Durchgängig an allen Schulen sind die Knaben sprachlich mehr zu- 
rück als das — demnach schon in der Jugend zungenfertigere weibliche 
Geschlecht. 

Die Bürgerschule zählt unter 

121 aufgen. Knab. 15 Sta. (12,39%) — 0°/% Sto. 
unter 67 „  Mdch. 8 „ (11,94%) — 0% » 

An der 1. Bez.-Sch. finden sich unter 

163 Kn. 21 Sta. (12,26°/,) u. 2 Sto. (1,22°/,) 
unter 220 Mdch. 20 „ (9,99%) » 1 „(0,45% 4). 
Die 2. Bez.-Sch. weist auf unter 

95 Kn. 20 Sta. (21,05°/,) u. 2 Sto. (2,10 °),) 

unt. 102 Mdch. 13 ,„ (12,75%) =~ 1. (0,98%). 

An der 3. Bez.-Sch. ist das Verhältnis folgendes: 

Auf 121 Kn. kommen 30 Sta. (24,79°/,), 2 Sto. (1,65 °/) 
„ 119 Mdch. „, 6 „n (5,04%) — 0 Sto. 

I. Über die Stotterer im besondern ergibt die Zusammenstellung 
noch folgendes: 

Von den 8 aufgen. Sto. ‘werden 4 (50°/,) als körp. gut, 4 (50%,) 
als körp. mittelm. entwickelt bezeichnet. 





38 B. Mitteilungen. 





Nach ihrer geistigen Beschaffenheit beurteilt, 
erhielten 4 Sto. (50°/,) die Bezeichng.: schwach 
3. ie IB R mittelm. 
1 „ (12,5°,) erhielt die Bezeichng.: gut. 

Als Ursachen des Sto. wurden in 2 Fällen Krankheit (1 mal 
Keuchhusten) angegeben, in den 6 and. Fällen ist die Ursache unbekannt. 
An 1 Stott. wurden Mitbewegungen des Kopfes bemerkt, an den 7 and. 
ist nichts von Mitbewegungen beobachtet worden. 

Als Laute, bei denen das Sto. besonders hervortritt, sind angegeben: 
aus dem 1. Artikulationsgebiete: 

bp f, m; 
aus dem 2. Artikulationsgebiete: 
d, t, s; 
aus dem 3. Artikulationsgebiete: 
g, k. 

In einem Falle wird fast bei allen Konsonanten und Konsonanten- 
häufungen gestottert. 

Ein Stotterer setzt dem Beginn seiner Rede das bei vielen Rednern 
beliebte Verlegenheits- »äh« voraus. 

Über die Verbreitung des Stotterns in den betreff. Familien, aus 
denen die Stotterer stammen, auch über den Wechsel des Stottergrades, 
z. B. bei Witterungsänderung, ist nichts angegeben. 

Über den Grad des Sto. beim Sprechen, Lesen und Singen finden 
sich folgende Angaben: 

5 (62,5 °/,) stottern beim Sprechen mälsig, 
2 (25°/,) A X 5 stark, 
1 (12,5°/,) stottert ,, E gering. 

Beim Lesen stottert 1 Kind stark (12,5°/,), 

7 Kinder mälsig (87,5 °/,). 

Beim Singen stottert 1 Kind (12,5°/,) gering, 

. 7 Kinder (87,5°/,) gar nicht. 

I. Über das Stammeln im besondern liefert die Zusammenstellung 

noch folgende Ergebnisse: 
Als körp. gut entwickelt werden 46°/, d. Sta. bezchnt. (ungef. d. Hälfte), 
nn»  mittelm. „ j 30a ah 
» u Schwach „ a 11°/, bezeichnet. 
Der grölste Teil der Sta. wäre demnach körp. gut entwickelt. 
Nach der geistigen Beschaffenheit beurteilt, 
erhalten 44°/, der Sta. die Bezchg. mittel, 
DU ie © a schwach, 
Joy a ie, n gut. 
Der gröfste Teil der Sta. wäre demnach mittelmälsig veranlagt. 
Die Ursachen des Stammelns sieht man 
bei 42°/, in mangelhafter Sprachentwicklg,, 
„ 28°, „ organ. Fehlern (Zähne), 
„1°, » geistiger Unreife, 
v 12%, ist sie unbekannt. 





Unsere diesjährigen Neulinge in sprachlicher Hinsicht. 39 








Die Aussprachefehler der Sta. erstrecken sich in 39 Fällen, d. s. 
nahezu 30°/,, auf die S-Laute und die Verbindungen mit S. 
Das S wird zu t (heils wird zu heit, Messer zu Metter). Auch der 
Laut Sch erfährt mannigfache Vertauschungen. 
Er wird zu t (Schule wird zu Tule, 
Schüssel zu Tüssel), 
oder er wird zu s (Schule wird zu Sule, 
schlecht „  ., slecht, 
schön ., „ SÖN, 
Schüssel „  ,„ süssel, 
oder zu z schön ., .„ zön.) 
Viel leiden mufs auch der ch-Laut. 
Er wird zu s (statt Brotchen hört man Brotsen, 


ich — is, 
Kirche — Kirse, 
oder ch wird zu d, ich — id, 
oder zu sch, Geruch — Gerusch). 


Sehr oft werden auch die Laute g, k vertauscht 
mit d, t oder umgekehrt 
d, t mit g, k. 
(gesagt wird zu desagt, 
ungezogen ,„ „ undezogen, 
Kind .„ „ Tind, 
König „  ,„ Tönid). 

Nicht minder übel ergeht es dem R-Laut. Er wird vertauscht mit h 
(Ring wird zu Hing) oder mit |. 

Sehr oft wird das R weggelassen ; z. B. schnurren — schnuen, 

Lehrer — Leher. 

Weggelassen werden auch folgende Laute: 

Das End-d in Kind (Kinn, Dinn), 
» » t, hat, sieht, ist (ha, sich, is). 
»» S, aus (an). 

Häufiger als die Weglassung oder Vertauschung einzelstehender Mit- 
laute sind die Weglassung und Vertauschung gewisser Mitlaute in Konso- 
nantenverbindungen: 

Kreide wird zu Dreide, 
Knopf „n  .» Nopf, 
schmeckt ,, „ meckt, 
schreibt „  „ reibt, 
zwei „ „fei, 
Blume ,„ „ Lume oder Ume, 
Star „ a Tar 
Stuhl „ —„ Tuhl, 
ist wird zu it, 
beilst ,, „ beit. 

Als Vertauschungen von Konsonantenverbindungen mit andern seien 

noch folgende angeführt: 


40 B. Mitteilungen. 


dr wird zu kr (drei — krei), 
gr 5 »„ dr (greife — dreife), 
kr 5» tr (Krug — Trug), 
bl „gl (blau — glau), 
» » „ fl (Blume — Flume), 


» s p» 8l( „ — — Glume), 
oder „ dl ( „ — Dlume), 
br 5. fr (bringt — fringt), 
oder „ gr ( „  — gringt), 
f wid „ gl (fleifsig — gleilsig), 
kn „n „ schn (Knabe — Schnabe), 
kl „n „ schl (klein — schlein), 
schn „ „ dn (Schnee — Dnee), 
schl „n „ gl (Schlange — Glange), 
ZW 4 n fr (zwei — frei), 


Aufser den Weglassungen und Vertauschungen kommen auch Ein- 
schiebungen und Anhängsel vor, z. B.: 


(zwei — zwrei, 
ja — jda, 
ich weils — icht heifst). 
Auch Entstellungen der Wörter sind angegeben: 
gesehen — dastänen, 
sieht — diest, 


Schlofs — Loch, Luls. 

Unter den Neulingen finden sich 2 Näsler und 1 Satzstammler. 

Leider ist es nicht möglich, zahlenmälsig genauer darzulegen, welche 
Laute und Lautverbindungen am meisten Veränderung erleiden müssen. 
Unzweifelhaft erhellt aber aus der vorstehenden Zusammenstellung, dafs 
der Elementarlehrer mit der Abstellung von Sprachstörungen, besonders 
des Stammelns, vertraut sein muls. Inwieweit der erste Sprachunterricht 
zur Beseitigung der Sprachstörungen beiträgt, soll vor Schluls dieses 
Schuljahres festgestellt werden. Freilich ist auch bei Sprachstörungen der 
Schwerpunkt auf die Verhütung, nicht auf die Heilung zu legen. Des- 
halb ist es unerlälsliche Pflicht der Lehrer, den Eltern immer und immer 
wieder einzuschärfen: 

»Habt acht auf eure Kinder, insbesondere während der Zeit ihrer sprach- 
lichen Entwicklung!« 


4, Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich 
gefährdeten Jugend. 


Ein Reisebericht von J. Chr. Hagen, Direktor des Schulheims, Falstad bei Drontheim. 


Vorbemerkung der Schriftleitung. Gegen 50000 Jugendliche 
im Alter von 12—1S Jahren werden alljährlich im Deutschen Reiche vom 
Strafrichter verurteilt. Wo bleiben sie? Was wird aus ihnen? Werden sie 
gebessert oder weiter verschlechtert? Das sind ernste Fragen, an denen 
nicht blols die Eltern, denen diese Kinder genommen werden, und die 





Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 41 





Lehrer, welche sie bisher unterrichtet und mit erzogen, und die Geist- 
lichen, welche an sie vergeblich Seelsorge geübt haben, interessieren, 
sondern es sind Fragen, die jeden angehen, der noch ein menschliches 
Mitgefühl in der Brust trägt und wie ich an andern Beispielen in dieser 
Nummer gezeigt habe, sind es Fragen, die zugleich bange Sorge um unser 
eignes Leben, das von der Verbrechergesellschaft bedroht wird, stellen 
muls — von den nationalen und volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten 
ganz abgesehen, obgleich diese Fragen auch in dieser Hinsicht nicht ge- 
ringwertig anzuschlagen sind und z. B. Professor Pelman in Bonn nach- 
gewiesen hat, dals eine einzige, durch Trunksucht moralisch verkommene 
Familie den öffentlichen Kassen 5 Millionen Mark gekostet hat. 

Herr Direktor Hagen, der nebenbei bemerkt Theologe ist, hat auf 
seiner Reise eingehende Beobachtungen gemacht und sie in dem seiner 
Behörde eingereichten und in norwegischer Sprache bereits veröffentlichten 
Reisebericht niedergelegt. Es mufs auch uns Deutsche interessieren, wie 
der Ausländer unsere Anstalten beurteilt. Der ganze Bericht ist aber für 
unsere Zeitschrift leider zu lang. Wir mulsten kürzen. Die Auswahl ist 
uns wie dem Verfasser schwer geworden. Wir hoffen aber doch, im Ein- 
vernehmen mit dem Verfasser die Kürzung so getroifen zu haben, dafs 
die verschiedenen Strömungen genügend zum Ausdruck kommen. 

Es könnte ja manche Bedenken erregen — und wir Deutschen sind 
in der Beziehung aulserordentlich ängstlich und überlassen leider auch die 
bessernde Kritik an unsern Öffentlichen Zuständen den negierenden Sozial- 
demokraten — dals wir die ungeschminkte Mitteilung über die Zustände in 
diesen Anstalten öffentlich mitteilen. Wir meinen aber, dafs die einzelnen 
Anstalten ihre prinzipiellen Gründe für ihre Behandlungsweise haben. Sollte 
aber dennoch die eine oder die andere Anstalt, die wir absichtlich nient 
mit Namen nennen, falsch beurteilt scin, so stellen wir gern unser Blatt 
zur Richtigstellnng zur Verfügung. Die Richtigstellung würde dann ja 
zugleich auch im Interesse unseres Nationalgefühls gegenüber den Be- 
richten an ausländische Behörden liegen. 

Die Übersetzung ist von Herrn Hagen selbst. Er bittet, dem Aus- 
“länder einige stilistische Unbeholfenheiten wie vielleicht auch einige 
Mifsverständnisse dentscher Art und Sitten zu gute zu halten. Tr. 

Der nachstehende Bericht wurde dem Departement der königlich 
norwegischen Regierung für Kultus und Unterricht erstattet. Durch Stor- 
thingsbeschluls ward mir nämlich ein Öffentliches Stipendium bewilligt, 
damit ich durch eine Reise nach Schweden, Deutschland und Belgien, 
wenn möglich auch noch England, mit Erziehung, Unterricht, Ordnung 
und Arbeitsweise an den bemerkenswerteren Anstalten dieser Länder mich 
bekannt machen könnte. 

Meine Reise, von welcher der Umstände wegen die nach England wegfiel, 
erweiterte ich dahin, dafs ich auch Holland und die Schweiz mitnahm. 

Die Reise dauerte 4 Monate, in deren Verlauf ich gegen 40 Anstalten 
besuchte. 

Am längsten hielt ich mich in Düsselthal, Bächtelen und in dem 








42 B. Mitteilungen. 


num — M om u mon En mn 





Trüperschen Erziehungsheim auf der Sophienhöhe bei Jena auf, etwa 14 Tage 
an jeder Stelle, und nahm von morgens bis abends an der Wirksamkeit 
teil. In Bächtelen war ich so glücklich in der Anstalt selbst wohnen zu 
können. Ich erlaube mir, es auch zu erwähnen, dafs ich die Ehre hatte 
zu einem Kongrels von Anstaltsdirektoren aus der ganzen Schweiz in 
Schaffhausen am 15. und 16. Mai geladen zu werden. Die Haupt- 
verhandlungen (Vorträge mit Diskussion) drehten sich um folgende Fragen: 
Am 1. Tage: »Wie bewahrt der Erzieher verwahrloster Kinder die Freude 
an seinem Beruf?« und am zweiten Tage: »Darf nicht der Name Rettungs- 
anstalt durch die mildere Form ‚Erziehungsanstalt‘ ersetzt werden%« Es 
erweckte Interesse, als ich gelegentlich erklärte, dafs man in Norwegen 
auch nicht durch den Namen »Erziehungsanstalt« sich zufrieden gefühlt, 
sondern durch Gesetz den Namen »Schulheim« eingeführt habe. 

Wasich besonders zum Gegenstand meiner Untersuchungen machte, war: 

1. Wie werden die Zöglinge in den Anstalten erzogen, und welche 
Mittel werden angewandt? 

2. Inwiefern wird Rücksicht auf psychische und somatische Anomalien 
als Ursache ethischer Minderwertigkeiten genommen’? 

3. Welche Erfahrungen sind in Hinsicht auf widerrufliche Entlassungen, 
sofern sie stattfinden, gemacht? 

Zur Beantwortung dieser Fragen erlaube ich mir im folgenden das 
alltägliche Leben und die Behandlungsweise in Anstalten von grölserer 
Bedeutung zu schildern, dabei feststellend, welche Ordnung durch öffent- 
liches Gesetz oder private Initiative bei der Unterbringung der betreffenden 
Kinder, nachdem sie die Anstalten verlassen, getroffen werden und endlich 
lasse ich noch Mitteilungen über die Trüpersche Anstalt folgen, um auf 
Grund der Beobachtungen daselbst einige Bemerkungen über die An- 
wendung der Psychiatrie in Erziehungsanstalten zu begründen. 

Die Reise ist zwar schon vor 3 Jahren gemacht worden und hier 
und da dürften einige Verhältnisse andere geworden sein. Von deutscher 
Seite bin ich aber ersucht worden, trotzdem den Bericht in deutscher 
Übersetzung zu veröffentlichen. Man sagte mir, dafs hier für so ein- 
gehende Informationsreisen keine Stipendien zur Verfügung stehen und 
dals diejenigen, welche dennoch kürzere Reisen machen, selten von ihren 
Beobachtungen zum gemeinen Nutzen und zur Förderung der wichtigen 
Sache der Öffentlichkeit Mitteilungen gemacht werden. 

Ich habe versucht, das, was ich gesehen, so objektiv als möglich dar- 
zustellen, auch wo ich abweichender Meinung bin. Da ich der Über- 
zeugung bin, dafs Regierungen und Anstaltsleiter die angewandten Methoden 
als die zweckmälsiesten betrachten, so wird denselben die Bekanntgabe 
hoffentlich nur erwünscht sein. Sollten mir aber wider Willen als Aus- 
länder irrtümliche Eindrücke unterlaufen sein, so mögen meine Veröffent- 
lichungen Anlafs zur öffentlichen Berichtigung bieten. Man sagte mir, in 
Deutschland seien bereits gegen 11000 Zöglinge in Zwangserziehungs- 
anstalten untergebracht und deren Zahl wächst noch alljährlich. Da hätte 
die Öffentlichkeit das allergröfste Interesse daran, zu wissen, wie diese 
Mitbürger behandelt werden und was später aus ihnen werden könne. Ich 





Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 43 


leiste in Erwägung dieses humanen Interesses darum der Aufforderung 
gerne Folge und hege nur den Wunsch, dals mein Beobachtungsmaterial 
zur Besserung der Erziehungsmethode und damit auch zur Verminderung 
des sittlichen Elends unter der heranwachsenden Jugend beitragen möge. 
Diejenigen Anstalten, mit deren Erziehungsmethode ich mehr oder 
weniger übereinstimme, habe ich namentlich angeführt. 


1. Deutschland. 


Wie bekannt, gibt es in Deutschland zwei Kategorien für Zwangs- 
erziehung. 

1. Zwangserziehung nach $ 55 des Strafgesetzbuches, die Strafwürdigen 
d. h. diejenigen, die vor dem vollendeten 12. Jahre eine dem Strafgesetz 
zufolge mit Strafe belegte Handlung begangen, umfassen. 

2. Zwangserziehung nach $ 56 des Strafgesetzbuches: diejenigen um- 
fassend, die weil sie unter dem Verbrechen die Bedeutung des Verbrechens 
verstanden zu haben nicht angenommen werden können. 

Zwangserziehung erster Kategorie ist durch das Gesetz vom 13. März 
1878 näher bestimmt. Nach diesem liegt die Fürsorge für die ganzen 
Verbrecher den verschiedenen Provinzialverbänden ob. Der Landes- 
hauptmann bestimmt die Art, Weise und Dauer der Erziehung und unter- 
scheidet die Entlassungsfrage. Die Aufsicht über diese Verfügungen führt 
der Oberpräsident, in letzter Instanz der Minister für das Innere. Das 
Reglement für die von der Provinzialverwaltung errichteten Erzichungs- 
anstalten wird vom Ministerium für das Innere und dem Kultusminister be- 
stätigt. An den Kosten der Provinzial-Zwangserziehung ist der Staat mit 
einer Hälfte beteiligt. 

Die Zahl der Zwangszöglinge nach dem Strafgesetzbuch $ 55 be- 
trugen in 1898 10687; davon waren in Familien 5145, in Privatanstalten 
4180, in öffentlichen Anstalten 1362 untergebracht. Der Zuwachs solcher 
Kinder betrug 1892—98 1618 = 6°/,. 

Die Kosten der Zwangserziehung betrugen 1495824,27 M, wovon 
der Staat 749219 M refundierte. 

Die Zwangserziehung der zweiten Kategorie liegt dem Staate ob, der 
zu diesem Zwecke 5 Anstalten errichtet hat. In diese Anstalten können in 
allem 640 Knaben und 110 Mädchen untergebracht werden. Daneben 
werden auch Privatanstalten benutzt, um Kinder unter 14 Jahren unter- 
zubringen. Gewöhnlich dauert der Aufenthalt in der Anstalt zwei Jahre, 
wonach die Betreffenden entlassen und entweder in die Lehre oder als 
Gesinde untergebracht werden. Die aus der Anstalt Entlassenen sind bis 
zum 20. Jahre widerruflich unter der Aufsicht der Anstalt zu betrachten 
— und können zu jeder Zeit in die Anstalt zurückgeholt werden. 

Im Jahre 1898 waren in den königlichen Erziehungsanstalten 530 
Kinder untergebracht. Die nach ihrer Erziehung verbundenen Kosten be- 
trugen 219488 M. 


1) Vergl. »Die Kinderfehler«, Zeitschr. für Kinderforschung, V. Jahrgang, 
Nr. 1. Linz, Beiträge zur Kinderforschung. I. u. IL. Heft. 








44 B. Mitteilungen. 


Unter den Ursachen der Unterbringung sind Verbrechen oder Ver- 
gehen gegen Personen und Eigentum die häufigsten, dann kommt Über- 
treten verschiedener Gesetze und endlich Vergehen wider die öffentliche 
Ordnung und Religion. 

Vom 1. Januar 1900 an trat eine neue Ordnung der Zwangserziehung 
ein, da $ 1666 des Strafgesetzes auch solche sittlich verwahrloste 
Kinder, die noch nicht mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommen, um- 
zufassen erweitert wird. Denn nunmehr hat nämlich das Vormundschafts- 
gericht Kindern gegenüber, deren geistigem oder körperlichem Wohle da- 
durch gefährdet wird, dals der Vater die Fürsorgepflicht gegen die Person 
des Kindes milsbraucht, das Kind vernachlässigt oder ehrlosen oder un- 
sittlichen Betragens sich schuldig macht. Das Vormundschaftsgericht 
kann die Unterbringung des Kindes in eine geeignete Familie oder Er- 
ziehungsanstalt bestimmen oder anordnen. 

Je nachdem die verschiedenen Bundesstaaten die Reform durchgeführt, 
tritt auch eine Tendenz hervor, die Altersgrenze der Strafbarkeit vom ein- 
getretenen 12. zum eingetretenen 14. Jahre zu verschieben. Es konnte 
auch vernommen werden, dafs ein steigendes Interesse die Anstaltbehand- 
lung in eine mehr als bisher pädagogisch -rationelle Richtung überzu- 
führen, besonders hinsichtlich der Staatsanstalten sich geltend machte. 

Ein grolser Teil der deutschen Bundesstaaten hat — an das Reichs- 
strafgesetzbuch — anknüpfend seine eigenen Zwangserziehungsgesetze, eo 
auch der Freistaat Hamburg. (Fortsetzung folgt.) 


5. An die Mitglieder und Freunde des Verbandes 
der Hilfsschulen Deutschlands 


richtet der unterzeichnete Vorstand die höfliche und ergebene Bitte, ihm 
mitteilen zu wollen, ob und wo aulser den unten angeführten Hilfs- 
schulen noch derartige Anstalten bestehen oder bis Ostern 1903 ein- 
gerichtet werden. 
Der Vorstand 
des Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands 
Stadtschulrat Dr. Wehrhahn, 
1. Vorsitzender. 


Verzeichnis der uns bekannten Hilfsschulen. 


Altenburg. Karlsruhe. München. 
Altenburg. Mannheim. Nürnberg. 
Anhalt Pforzheim. | Pirmasens. 
Bernburg. Bayern. Braunschweig. 
Dessau. Augsburg. À Braunschweig. 
Baden. Fürth. Bremen. 
Durlach bei Karlsruhe. Kaiserslautern. Bremen. 


Frankenthal. Ludwigshafen. l Bremerhafen. 

















Elsafs-Lothringen. Provinz Hannover. 


Mülhausen i/E. Emden. 
Strafsburg. Göttingen. 
Hameln. 
Hamburg. Hannover I. 
Hamburg I, Rothenbgsort 95. = JL 
„ II, Eilbeckerweg58. Harburg. 
„ IH, Markusstr. 40. | Hildesheim. 
„ IV, St. Georg, Hobe- | Linden. 
stralse 31. Lüneburg. 
Hamburg V, St. Pauli, Osnabrück. 
Kielerstralse 7. Peine. 


Hamburg - Eimsbüttel VI, 
Osterstralse 66. Cassel. 

Hamburg- Uhlenhorst VII, | Frankfurt a/M. 
Humboldstralse. 





| Hanau. 
Hessen. Provinz Pommern. 
Darmstadt. Oöslin. 
Gielsen (Nachhilfeklassen). | Stettin. 
Mainz. Stolp. 
Offenbach. Provinz Posen, 
Worms, 
Bromberg. 
Koburg-Gotha. Posen. 
Gotha. Provinz Ost-Preulsen. 
Lübeck. Königsberg I. 
Lübeck. „ H. 
Meiningen. Dil, 
Meiningen. Prov. West-Preulsen. 
Pössneck. Danzig. 
Saalfeld. ı Graudenz. 
Preulsen. Rheinprovinz. 


Provinz Brandenburg. | Aachen. 
Berlin (einf. und kombinierte | Altenessen. 


Nachhilfeklassen). Barmen. 
Brandenburg. Bonn. 
Charlottenburg I. ‚ Duisburg. 

A II. :Cöln I. 
Cottbus. he ag. I: 
Friedenau. | Düsseldorf. 
Pankow. Elberfeld. 
Potsdam. Essen I. 
Rathenow. son «Ele 
Rummelsburg. Essen-West I. 
Schöneberg I. m II. 

er II. | Krefeld. 
Steglitz. | Mühlheim ajd. R. 
Dt. Wilmersdorf (Hilfskl.). | Saarbrücken. 
Zehlendorf. Trier, 





An die Mitglieder u. Freunde d. Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands. 


Prov. Hessen-Nassau. 


———— [1L U IIIa ee ee ee I o m aaa 
BEER a FERNE 


45 


Provinz Sachsen. 
Aschersleben. 
Eisleben. 

Erfurt. 
Halberstadt. 
Halle. 
Magdeburg. 
Mühlhausen i/Th. 
Nordhausen, 
Zeitz. 
Provinz Schlesien. 
Beuthen. 
Breslau I. 

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„ II. 

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„ VIIL 

„vll. 

we. SEX; 
Bunzlau. 

Görlitz. 
Hirschberg. 
Grünberg. 
Königshütte. 
Ratıbor. 
Schweidnitz. 
Provinz 
Schleswig-Holstein 

Altona. 
Elmshoan. 
Flensburg. 
Itzehoe. 

Kil. 
Neumünster. 
Wandsbeck. 

Provinz Westfalen. 
Bielefeld. 
Bochum. 
Dortmund I. 
u JI. 

Gelsenkirchen 
i Hagen. 
| Herford. 
"Lüdenscheid. 

Schwelm. 

Ückendorf. 
| Witten. 


46 B. Mitteilungen. 





Reufs j. L. ' Kamenz m Reichenbach (Nachhilfe- 
Gera. | Kirchberg. klassen). 
Seeds ' Kirsa. Zittau. 
Borni | Müstein. Zwickau, 
Chemnitz (Hilfsklassen). | Leipzig-Plagwitz. | Weimar. 
Dresden-Altstadt. „  -Gohlis. Apolda 
„ Neustadt. Meilsen. Eisenach 
Dresden-Lóbtau. m (Nachhilfe- W. Jena 
“Cotta. schule. ee 
Freiberg, To i/V. (Nachhilfe- o 
Gersdorf. klassen). | 
Glauchau (Nachhilfekl.). Oschatz. Württemberg. 
Grimma Mi Plauen i/V. Stuttgart (Hayersche Schule), 


7. Tagesordnung für den 4. Verbandstag der Hilfs- 
schulen Deutschlands. 


Auf Grund einer Einladung des Magistrates von Mainz wurde diese 
Stadt zum Versammlungsorte für den 4. Verbandstag bestimmt. Derselbe 
wird am 14., 15. und 16. April 1903 abgehalten werden. Am Dienstag, den 
14. April, abends 7!/, Uhr findet die Vorversammlung und am Mittwoch, 
den 15. April morgens 9 Uhr die Hauptversammlung statt. 

Nach längeren eingehenden Verhandlungen hat der Vorstand des 
Hilfsschulverbandes in einer am 10. September d. J. in Braunschweig ab- 
gehaltenen Sitzung folgende Tagesordnung festgesetzt: 

I. Vorversammlung. 

a) Das Rechnen auf der Unterstufe der Hiltsschule. 
Referent: Hauptlehrer Giese-Magdeburg. 
b) Können die Kinder der Hilfsschule zwangsweise zugeführt 
werden? 
Referent: Rektor Grote-Hannover. 
c) Rechnungsablage und Revision der Kasse. 
d) Vorstandswahl. 
II. Hauptversammlung. 
a) Das schwachbegabte Kind im Hause und in der Schule. 
Referent: Hilfsschulleiter Delitsch-Plauen i. V. 
b) Die Berücksichtigung der Schwachsinnigen im bürgerlichen und 
öffentlichen Recht des deutschen Reiches. 
Referent: Oberamtsrichter Nolte-Braunschweig. 
c) Beratung über die, dem 2. Verbandstage vom Hauptlehrer Kiel- 
horn-Braunschweig vorgelegten Leitsätze. g) Der Unterricht. 
I. Allgemeine Gesichtspunkte. III. Der Stundenplan (s. Bericht 
über den 2. Verbandstag S. 25 ff). Dieselben sind nach ein- 
gchender Beratung im Vorstande vom Referenten umgearbeitet 
und haben nunmchr folgende Fassung erhalten: 











C. Literatur. 47 


g) Der Unterricht. 
I. Allgemeine Gesichtspunkte. 


1. Der Unterricht trage erziehlichen Charakter; er suche die Kinder 
für das Leben tüchtig zu machen und ihre Erwerbsfähigkeit anzubahnen. 

2. Nicht auf die Stoffmenge kommt es an, sondern auf zweck- 
entsprechende, sorgfältige Verarbeitung und Aneignung des Stoffes. Über- 
bürdung ist zu vermeiden. 

3. Die Darbietung des Stoffes sei einfach, knapp, anschaulich und 
möglichst lückenlos aufbauend. 

4. Lehr- und Lernmittel müssen ausreichend vorhanden sein; denn 
der Unterricht mufs von der Anschauung ausgehen und durch die An- 
schauung unterstützt werden. 

5. Häusliche Arbeiten sivd auf das Mindestmafs zu beschränken. 

6. Schulspaziergänge sind oft zu unternehmen. Sie dieneu unter- 
richtlichen Zwecken und können in die Unterrichtszeit fallen. 


III. Der Stundenplan. 


1. Die Unterrichtsstunden für Lehrer betragen im Durchschnitt 
wöchentlich etwa 24; daneben ist letzteren die Verpflichtung aufzu- 
erlegen, Wohlfahrtsbestrebungen für die Hilfsschulkinder zu fördern. 

2. Die Unterrichtsstunden für die Kinder betragen in der Regel 
wöchentlich 20—26, einschlieflslich Handarbeit (freies Spiel sowie Be- 
schäftigung nicht eingerechnet). 

3. Die Verteilung auf die einzelnen Tage ist derart vorzunehmen, 
dafs ein Wechsel zwischen mehr und minder ermüdenden Fächern stattfindet. 

4. Jede Unterrichtsstunde werde durch eine Pause von 10—15 Minuten 
gekürzt; während dieser Zeit sind die Kinder auf den Spielplatz zu ent- 
lassen und die Unterrichtsräume zu lüften. 

5. Soweit als möglich finde der Unterricht des Vormittags statt. 

6. In der mehrklassigen Schule ist darauf Bedacht zu nehmen, dafs 
einzelne Kinder in einzelnen Fächern ausgewechselt werden können. 

III. Am 16. April Besichtigung der Sehenswürdigkeiten der Stadt 
Mainz u. s. w., eventuell Besuch einer Idiotenanstalt. 

Hannover. Dr. Wehrhahn, Stadtschulrat, 1. Vorsitzender. 

K. Basedow, Rektor. z. Zt. stellvertret. 2. Schriftführer, 


C. Literatur. 


I. Godtfring, 0., Rektor, Tabelle für den Artikulations-, Stimmbildungs- 
und Sprechunterricht. Kiel, H. Fienke. Press IM. 

Es ist Thatsache, dals viele Eltern ratlos dastehen, wo es sich um die Be- 
seitigung eines einfachen Fehlers handelt; Beweise haben wir genug dafür in den 
Vorkursen. Den Eltern werden Bücher in der Regel zu teuer, obgleich zu bedenken 
ist, dafs Sprachgebrechen die Kinder im Unterricht weit zurücksetzen. Da ist es 
denn eine verdienstliche That des Verfassers, auf einem Bogen in gedrängtestei 


48 C. Literatur. 


Kürze zusammengefafst die wichtigsten Regeln zur Beseitigung des Stammelns, 
Winke für die Stimmbildung und Artikulation, für die Einübung der Einsätze u. s. w. 
nebst dem einschlägigen Stoff darzubieten. Bewährten pädagogischen Grundsätzen 
folgend, fixiert der Verfasser in der ersten Rubrik die Laute nach der Schwierig- 
keit in der Bildung. In phonetischer Beziehung mulste ein Unterschied gemacht 
werden in der Behandlung der Stammler und Stotterer; die andere Reihenfolge 
deuten eingedruckte Ziffern an. Die Aufstellung derselben zeugt von der lang- 
jährigen Erfahrung des in der Sprachhygiene unermüdlich thätigen Verfassers. Die 
Winke für Stimmbildung und Artikulation wenden sich zunächst an den Lehrer, 
sind jedoch bei den Konsonanten und den schwierigen Zusammiensetzungen so ge- 
halten, dafs ein jeder Vater sie verstehen und danach handeln kann. Der betreffende 
Stoff ist allen Wortarten entnommen und kann in jeder Beziehung als in lautlicher 
Hinsicht gut ausgewähltes Material betrachtet werden. Für die Behandlung der 
Stotterer ist auf die verschiedenen Einsätze gebührende Rücksicht genommen. Der 
geringe Preis des Bogens ermöglicht es jedem Vater, sich dieses hervorragenden 
Hilfsmittels bei seinem sprachkranken Kinde bedienen zu können. Dem Lehrer ist 
die Tabelle erst recht ein praktischer und sicherer Auskunftgeber. 
Kiel. Siemen, 


2. Stelling, H., Die Erziehungder schwachbegabten und schwachsinnigen 
Taubstummen und die Teilung nach Fähigkeiten überhaupt. Dar- 
gestellt an der Hand eines Reiseberichtes über dänische und norwegische Taub- 
stummenanstalten. Leipzig, Carl Merseburger, 1902. Preis 1,80 M. 

Der Verfasser vorliegender Schrift, der bereits in einer andern anregenden 
Arbeit sich mit der Fürsorge für die schwachbegabten Kinder beschäftigt hat, be- 
handelt hauptsächlich die Frage nach einer zweckmäfsigen Trennung der Taubstummen 
nach Fähigkeiten. um ihnen eine ihrer Veranlagung entsprechende Ausbildung bieten 
zu können. Er beschreibt zunächst in kritischer Darstellung die Malsnahmen, welche 
in Dinemark und Norwegen auf dem Gebiete der Taubstummenbildung zur Trennung 
nach Fähigkeiten getroffen sind und tritt dann mit seinen Forderungen zwecks einer 
bessern Deschulung der Taubstummen für Deutschland, speziell für die Provinz 
Hannover hervor. Deshalb scheint die Schrift in erster Linie für Fachleute ge- 
schrieben zu sein, besonders auch aus dem Grunde, weil in ihr einzelne methodische 
Fragen erörtert werden, über deren zweckmälsige Beantwortung nur erfahrene Taub- 
stummenlchrer zu entscheiden vermögen. Allein die psychologischen Erörterungen 
und pädagogischen Darlegungen, welche die Grundlage der Erwägungen der Arbeit 
bilden, bieten geradezu eine Fülle der anregendsten Gedanken für jeden Pädagogen, 
und dadurch gewinnt die Schrift auch eine weitergehende, allgemeine Bedeutung 
und verdient die vollste Beachtung in allen pädagogischen Kreisen, namentlich auch 
in unserm Leserkreise. Die Ausführungen des Verfassers legen nicht nur beredtes 
Zeugnis von Seinem tiefen Verständnisse über anormale Erscheinungen in der 
geistigen Entwicklung des Kindes ab, sondern sie bieten auch wertvolle Fingerzeige 
für die Erziehung und Unterweisung anormaler Kinder in methodischer und schul- 
technischer Beziehung. Die neuste pädagogische Literatur findet in der Arbeit 
kritische Würdigung; was hierbei zum Ausdrucke gebracht wird, um das Los der 
Gebrechlichen und wirtschaftlich Schwachen zu mildern uud zu bessern, mufs jeder 
Heilpädagoze ausdrücklich anerkennen und beachten. Wir können die Schrift als eine 
aulserst schätzenswerte Arbeit auf heilpädagogischem Gebiete recht warm empfehlen. 

Stolp i. Pom. Fr. Frenzel. 





Druck von Hermann Boyer & Söhno (Boyer & Mann) in Langonsalza. 














A. Abhandlungen. 


1. Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei 
| Kindern. 
Von 
A. König, Seminarlenrer in Altdorf. 

In weite, blühende Gefilde der psychologischen Forschung schaut 
mein Blick, doch schreitet der Fufs zaghaft vorwärts, denn vor mir 
liegt ein wenig betretenes Land. »Für die höchst auffällige Tatsache 
— schrieb 1901 der Kunstwart — dafs auf der -Berliner Ausstellung 
»Die Kunst im Leben des Kindes« die Musik so gut wie gänzlich 
unberücksichtigt geblieben war, läfst sich schlechterdings kein zu- 
reichender Grund finden.e Wenn ich vorab des Umstandes ge- 
schweige, dafs hauptsächlich die Malerwelt für die Inszenierung jener 
Ausstellung ein, zugestandenermalsen nicht einmal ganz ideelles, 
Interesse bekundete, so weifs ich trotzdem noch einen zureichenden 
Grund, warum auch die Psychologen so ganz das Musikalische ver- 


galsen. Die praktischen Lebensbedürfnisse lehren uns dem — meist 
mit klaren Gesichtsvorstellungen verbundenen — Worte den Vorzug 


geben gegenüber den dunklen, höchstens von einem Gefühlston 
begleiteten musikalischen Klängen. Darum bringt die Mehrzahl der 
Menschen den bildenden Künsten und der Poesie mehr Verständnis 
entgegen als der Musik, dieser ohne natürliches Vorbild dem mensch- 
lichen Geiste entsprungnen Kunst. Ein Gemälde, ein neues Drama 
will jeder »Gebildete« beurteilen können, über cine Symphonie ge- 
trauen sich wenige Ernstgesinnte etwas zu sagen. Der Psychologe, 
dem die speziell technische Bildung zur Beurteilung musikalischer 
Dinge abgeht, verdient natürlich so wenig einen Vorwurf als der 
Die Kinderfehler. VIII. Jahrgang. 4 





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50 A. Abhandlungen. 


Musiker, der in den Mühsalen seiner Kunstausübung nicht auch noch 
das schwere Rüstzeug des Gelehrten herumschleppen mag. Wenn 
aber der richtige deutsche Professor mit souveräner Verachtung auf 
den »ungebildeten« Musiker hinabschaut, so wird dem Praktiker auf 
künstlerischem Gebiet die stille Arbeit des Gelehrten vielfach als un- 
fruchtbares Zeug erscheinen. Und so kommt es, dafs die musikali- 
schen Fachzeitschriften und die psychologischen Werke zumeist in 
der Nichterforschung der musikalischen Entwicklung unserer Kinder 
löblich miteinander wetteifern. Ohne Umschweif gesagt: den meisten 
Gelehrten geht das Interesse an musikalischen Dingen ab, weil ihnen 
die technische Ausbildung und ein auf so feine musikalische Unter- 
schiede geeichtes Ohr fehlt, wie es freilich auch durchaus nicht alle 
Musiker besitzen. Meine eigne Berechtigung, an die gestellte Aufgabe 
heranzutreten, daf ich wohl gleichermafsen aus konservatorischen 
Studien und aus alter Vorliebe für das Gebiet der Psychologie herleiten. 
Man wird also erwarten dürfen, die Erfahrungstatsachen aus dem 
Gebiete der Musik zuverlässig mitgeteilt und kritisch geprüft zu sehen. 

Im Interesse einer scharfen Abgrenzung unserer Aufgabe muls 
zunächst der Begriff des Musikalischen nach seinen verschiedenen 
Seiten festgestellt werden. Worin offenbaren Naturmensch und Kind 
zuerst musikalischen Sinn? Wenn die Weisen der Militärkapelle und 
der Tanzmusik in die Glieder fahren, das Kind hinter den Trommeln 
seiner »Kriegskamceräden« herläuft, der Wilde an Rasseln und Klappern 
sich ergötzt, dann offenbart sich die erste und unterste Stufe musi- 
kalischen Sinnes, das Gefühl für Rhythmus Rhythmus ist die 
Ordnung in der Bewegung, mithin nicht etwas spezifisch Musika- 
lisches; wie die Verse einer Dichtung, so beherrscht er die Linien 
eines Ornaments. — Je rauschender das Spiel, je mehr Trompetenton, 
um so lebhafter gerät der Naturmensch in Bewegung: die Freude 
am musikalischen Klang bekundet also fernerhin den musikalischen 
Sinn. Demnächst kommt das Melodische als ein Hauptstück 
der Musik in Betracht. Die melodische Folge ist es zunächst, die 
in uns Stimmungen hervorruft. Auch das Rezitativ, die im gewöhn- 
lichen Sinne vom Rhythmus losgelöste Melodie, vermag cine tief- 
gehende musikalische Wirkung zu erreichen. — Wer einmal den 
wunderbaren Klängen alter Kirchenmusik mit ihrem Geranke von 
Stimmen gelauscht, wird gerne den Sinn für Harmonie und Poly- 
phonie als ein wichtiges Stück musikalischer Befähigung erkennen. 
Im musikalischen Menschen zeigen sich aber auch noch andere, mehr 
geistige Seiten der Befähigung: Formenverständnis, Gedächtnis, 
musikalisches Urteil, schöpferische Phantasie. Führen wir 








Köne: Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei Kindern. 51 


schliefslich noch an, dafs die Mehrzahl liebender Tanten von dem 
musikalischen Talent entzückt ist, sobald ein bischen Fingerfertigkeit, 
ein wenig gute Stimme sich zeigen, so sehen wir, dafs eine gewisse 
organische Veranlagung häufig schon für Musikalischsein gc- 
nommen wird. Wie viele dieser Fähigkeiten müssen vereinigt sein, 
um vom Vorhandensein musikalischen Sinnes reden zu dürfen? Der 
tapfere Krieger auf dem Schlachtfeld und der geniale Schlachtenlenker 
— beide sind gute Soldaten, trotz verschiedener Fähigkeiten. Nicht 
anders in der Musik: Wer ein instinktives Urteil über die Schönheit 
einer Melodie ohne die Fähigkeit des Verfolgens ins einzelne besitzt; 
wer Melodien gut hört, ohne im harmonischen Labyrinth sich zurecht- 
zufinden; wer Gehör besitzt, aber nicht auswendig zu merken ver- 
mag: ihrer keinem darf der musikalische Sinn abgesprochen werden. 
Wo sind die Glücklichen, die alles vereinigen? Ein Mozart, ein Bacu 
sind Erscheinungen, deren jedes Jahrhundert ihrer wenige gebiert. 
Also: den musikalischen Sinn unserer Kleinen nicht mit dem Mafs- 
stab des Genies oder nur des Erwachsenen messen wollen! 

Am besten betrachten wir die einzelnen Richtungen in der Ent- 
wicklung des musikalischen Sinnes und beginnen mit der Emp- 
findung des musikalischen Klanges. Bekanntlich reagiert das Ohr 
des Neugebornen noch nicht auf äufsere Eindrücke, und es wird 
kaum mit Sicherheit bestimmt werden können, wann das Kind zu 
hören beginnt. Nach Prevers Beobachtungen (Leben der Seele) wurde 
ein Kind bereits in der 6. Woche durch Gesang beruhigt; in der 
T. Woche stellte sich bei leise gesungenen Wiegenliedern der Aus- 
druck höchster Befriedigung ein, während in der 8. Woche bei jedem 
forte des Klavierspiels sich ungewöhnliche Spannung im Auge ver- 
bunden mit lebhaften Bewegungen der Arme und Beine zeigte. 
Höhere und leisere Töne brachten geringere Eindrücke hervor. Von 
einem 12 wöchentlichen Kind berichtet SrrümpeLL, dafs es auf das 
Klavierspiel merkte und allein sang. Die Freude am musikalischen 
Klang wächst im 2. und 3. Vierteljahr. Das häufig bemerkte freudige 
Schlagen auf die Klaviertasten verzeichnet Preyer nach dem ersten 
Jahr; ich konnte es an meinem Knaben noch früher beobachten. 
SULLEY konstatiert das kindliche Vergnügen am Laut. Wir alle wissen 
ja, mit welcher Vorliebe so ein kleiner Schlingel mit dem Efslöffel 
Teller und Stühle bearbeitet. Im allgemeinen scheinen aber neu- 
geborene Tiere dem kleinen Menschenkind im Hören überlegen zı 
sein. Verhältnismälsig bald zeigt sich bei Kindern gegenüber ver- 
schieden gearteten Tönen auch cin verschiedenes Verhalten. Wenn 
bei Metalltönen, Gesang und Klavierklängen im allgemeinen Befriedi- 

4* 


t 
ID 


A. Abhandlungen. 





gung auf den Gesichtern sich spiegelt, so zeigt sich gegen manche 
andere Töne eine Empfindlichkeit, die nur in der Regel weniger be- 
achtet zu werden pflegt als die gleichgeartete Erscheinung in der 
Tierwelt. Den Hund, der bei einer für uns himmlischen Musik heult, 
bemerken wir eben sehr leicht, während wir kindliches Geschrei nur 
allzugerne andern Umständen zuschreiben. Preyer konstatiert zu- 
nächst, dafs höhere Töne geringern Eindruck machten. Sollten viel- 
leicht die kleinern Fasern des Cortischen Organs erst später zur Ent- 
wicklung gelangen und gebrauchsfähig werden, um dann allerdings 
um so empfindlicher und um so länger gebrauchsfähig zu bleiben? 
Schwerhörige können hohe Töne verhältnismäßsig gut wahrnehmen, 
und gerade die höchsten Töne. der Geige sind es, die das mensch- 
liche Ohr schmerzen und jenes steinerweichende Hundegeheul ver- 
ursachen. Gurzkow erzählt, dafs er die Geige nicht hören mochte; 
mein eigner Knabe weinte im ersten Halbjahr bei Violinspiel. Ob- 
wohl ein Trupp fröhlicher Kinder mit Trompeten, Pfeifen und 
Trommeln aufserordentlich viel Lärm vertragen kann, möchte ich 
doch bezweifeln, ob so ein zartes Geschöpf an dem forte einer wirk- 
lichen Trompete ein Vergnügen empfände Der kleine Mozart 
wenigstens konnte den Trompetenton nicht vertragen. Der Jahrgang 
1535 der Eutonia berichtet von einem 1820 geborenen Kinde, das 
mit 3/, Jahren bei Moll und bei kreischenden Flötentönen geweint 
habe. Diese Beispiele scheinen dafür zu sprechen, dafs Kinder be- 
sonders gegen die hohen und aufdringlichen Obertöne der Geigen 
und Trompeten empfindlich sind. Im ganzen herrscht bei gesunden 
Kindern die Freude an den voleren Tönen der Blasinstrumente 
(natürlich nicht grell gespielt) vor; Sinn für zartere Klangfarben ent- 
wickelt sich erst später. Ich entsinne mich noch aus den vorge- 
schritteneren KRnabenjahren, dafs mir der Klang der Saiteninstrumente 
einer wahrscheinlich freilich recht divftigen Theaterkapelle ziemliches 
Mifsbehagen verursachte Allgemeine Abneigung gegen den musi- 
kalischen Klang, die ich übrigens bei Kindern nicht beobachtet habe, 
ist oft auf gar wunderliche Ursachen zurückzuführen. So erzählt 
z. B. Dr. Häser (Euterpe 1575) von einem Mann, der infolge ver- 
schieden langer Gehörgänge widerliche Eindrücke von Musik hatte. 
— Übrigens ist die Freude am rauschenden musikalischen Klang, am 
blofen »Stoffe der Musik, wohl die tiefste Stufe in der Entwicklung 
des musikalischen Sinnes, eine Stufe, die dem Menschen wie dem 
Tiere gleichermafsen eigen ist. Habe ich doch wiederholt beobachtet, 
wie Singvögel, wenn man Ihnen vorpfeift, in Unruhe und wiegende 
Bewegung geraten. 





Könıs: Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei Kindern. 523 


Neben der Empfänglichkeit für den musikalischen Ton regt sich 
sehr bald der Sinn für Rhythmus. Die Entwicklung des Kindes 
zeigt hier völlige Übereinstimmung mit jener der Völker: im Anfang 
waren Trommel, Klapper und Händeklatschen. Frühzeitig erweckt 
das Ticken der Uhr und der Pendelschlag die Aufmerksamkeit des 
Kindes. Meines Bruders Hansel geriet mit 3/, Jahr bei lebhaft rhyth- 
mischer Musik — Meyerhceers Prophetenmarsch und Gounods Soldaten- 
chor — in ausgelassene Bewegung: »Ich sah, erzählt Sıaısvunn (Kind 
und Welt), 3/,jährige Kinder beim Klange einer rauschenden Blas- 
musik lebhaft im Mantel hüpfen, als wollten sie den Takt durch 
thythmische Bewegungen nachahmen.« PrEYER konstatiert im 7. Viertel- 
jahre taktmäfsige Bewegungen nach der Musik und berichtet von 
einem 19 Monate alten Kind, das vorgesungene Lieder rhythmisch 
korrekt mit den Händen begleitete.!) Übrigens kann ich aus viel- 
facher Erfahrung versichern. dafs es durchaus nur die allerelemen- 
tarsten rhythmischen Formen sind, welche dem Menschen sozusagen 
im Blute liegen — hauptsächlich die Form zweier zusammengehöriger, 
gleich langer, aber ungleich betonter Zeiten, wie sie gewöhnlich im 
Marsch sich darbietet. Das eigentliche Kinderlied ist auf diesen zwei- 
teiligen Rhythmus (Trochäen) eingerichtet: 5 DEN DD ZN 
Dreiteiliger Rhythmus findet sich erst bei Kinderliedern, die deutlich 
den Stempel der Einwirkung Erwachsener an sich tragen. Aufser 
diesem sozusagen eingeborenen zweiteiligen Rhythmus erwarte man 
übrigens nicht viel Sinn für rhythmische Gestaltungen. Haben doch 
selbst die meisten gebildeten Musiker nicht allzuviel Verständnis für 
scharfe, exakte Rhythmen. Dem Musiklehrer verursacht daher gerade 
der rhythmische Teil der Tonstücke meist schweren Ärger. So wird 
von Schülern insbesondere der Rhythmus M | meist so = | aus- 
geführt. Es scheint also der menschlichen Nani das Grundbestreben 
innezuwohnen, dem accentuierten Teil auch cine längere Quantität 
zuzuerkennen. Selbst an ältern Schülern noch kann man das geringe 
Verständnis für komplizierte Rhythmen beobachten, wenn z. B. das 
gefürchtete Bild eines Haypxschen Adagios im Unterricht erscheint. 
Offenbar findet hier eine Kreuzung und Hemmung zweier Vor- 
stellungsreihen statt. Die starre, mechanische, in der körperlichen 
Empfindung wurzelnde Reihe (- v, bezw. — vu) soll in sich ein ver- 
wickeltes rhythmisches Bild in der Weise aufnehmen, dafs auf die ver- 


1!) Einen kleinen Capresen von 7 Monaten sah ich auf dem Arme seiner Mutter 
die Tarantella durch rhythmische Finger- und Handbewegungen, Rumpfbewegungen 
und Gesichtsausdruck tanzen beim Anhören der Musik. Die Lustempfindungen und 
Tanzbewegungen erwachsener Tänzer offenbarten sich hier schon keimartig. 





54 A. Abhandlungen. 
schiedenen Accentteile (Taktteile) verschieden viele Noten kommen, bei- 
spielsweise auf das erste Viertel 1, auf das 2. Viertel 16. Der natür- 
liche Mensch aber, der nichts vom Geiste Gottes vernimmt, pardon, 
der die verwickelten Gebilde eines Haypxschen Adagios nicht zu er- 
fassen vermag, lebt in der ersten mechanischen Rhythmusreihe mecha- 
nisch weiter, und es macht sich bei ihm sozusagen ein musikalischer 
horror vacui geltend — in die Praxis umgesetzt: er möchte gerne 
das eine Viertel ebenso schnell spielen als jedes der einzelnen Sechs- 
zchntel. Besonders das weibliche Geschlecht ist in dieser Beziehung 
grofis. Summa: der Rhythmus, den man die Seele der Musik zu 
nennen liebt, ist bei Kindern durchaus nur in der elementarsten 
Form dem Gefühl eingeprägt. 

Wie sich das ganz natürliche, von unserer Kulturmusik noch 
nicht wesentlich beeinflufste Kind zur Melodie stellt, darüber werden 
wir am besten die Kinderlieder befragen. Selbstverständlich nicht 
jene, die auf dem Giftboden städtischer Tingeltangel- und Couplet- 
musik erwachsen, sondern die noch von der reinen, rauhen Landluft 
durchweht sind. Kinder in Städten sind ja vielfach keine Kinder, 
sind Zwitter, frühreife, unreife oder angefaulte Früchte (»Früchterl« 
im Süddeutschen). Natürlich ist die Melodie echter Kinderlieder sehr 
einfach. Das umfängliche Werk von Bönue über deutsches Kinder- 
lied und Kinderspiel wird wohl die gröfste Sammlung hierhergehöriger 
Melodien enthalten. Von diesen scheide ich vorweg die meist 
hübschen Wiegenlieder, als nur von Müttern gesungen, aus. In 
Betracht kommen hauptsächlich Ringelreihen, Maikäferlieder, Aus- 
zählreime, Ansingelieder, Tanzreime. Die Melodie des Kinderliedes 
zeigt deutlich, wie in gehobener Stimmung der Sprechton zum musi- 
kalischen Klang sich verdichtet, das Sprechen zur Melodie wird. Und 
wie in der Sprache eines Volkes im ganzen der gleiche Tonfall 
wiederkehrt, so zeigt sich in den Melodien der Kinderlieder immer 
wieder eine stereotype Weise. Böune verzeichnet drei Grundformeln 
mit je mehreren Varianten. Nach meinen Erinnerungen und Beob- 
achtungen ist die eigentliche Melodie fast aller Kinderlieder diese 








= SEFEIFSZE Mit Böhme möchte ich übereinstimmen, 
ED-e-e-e 7-0 )]- wenn er als Eigenschaften der Kindermelo- 


dien anführt, dafs sie in kleinen Tonschritten sich ergehen, aus- 
schliefslich in Dur stehen, einstimmig und frei von Modulationen 
sind, dafs auf jede Silbe nur eine Note kommt und dafs der Text 
zumeist in Trochäen abgefafst ist. Dazu bemerke ich noch folgendes. 


Die Intervallenschritte in obiger stereotyper Kindermelodie sind der - 


Gianzton (grofse Sekunde) nach oben und die kleine Terz nach unten 








Köme: Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei Kindern. 55 


(Kuckucksterz!). Ein gröfserer Sprung kommt noch vielfach in 
andern Melodien vor, der überhaupt bei allem Gesang cine grofse 
Rolle spielt und der die meisten Lieder mit jambischem Versmafs 
eröffnet, das ist die Quarte unterhalb des Grundtones. Der geneigte 
Leser gebe sich die Mühe, ca. 100 Lieder mit Auftakt auf diesen 
Quartenschritt hin zu prüfen. Der ganze Umfang obiger Kinder- 
melodie beträgt ebenfalls eine Quart. Gröfsere Intervalle singt das 
Kind und der Naturmensch aus eignem Antrieb nicht wohl. Die 
leidenschaftslose Rede, der Rezitationston ist meist auf diesen Quar- 
tenschritt eingerichtet. Die griechische Tonreihe bestand bekanntlich 
aus Tetrachorden, auch unsere Durtonleiter läfst sich in zwei gleich- 
geartete Tetrachorde zerlegen. Der gregorianische Choralgesang, ob- 
wohl im ganzen zunächst den Umfang ciner Sexte festhaltend, be- 
schränkt sich doch in den einzelnen Motiven vielfach ebenfalls auf 
das Tetrachord. All das beweist die Wichtigkeit der Viertonreihe. 
Auffällig ist an obiger Melodie, dafs ein Ton innerhalb des Tetra- 
chordumfanges fehlt, sowie, dafs kein Halbton vorkommt. Wollte 
man den fehlenden Ton ergänzen, so könnte die Reihe nach unserm 


ZR NN nl 
T r — -NNN N : 
musikalischen Gefühl nur heifsen : aR e a y So gibt 
n nn nn e- 


sie auch Lewarter (BönneE Nr. 227) wieder. Tonartlich würden wir 
moderne Musikmenschen mit unserm eingefleischten Dùrbewufstsein 
obige Melodie freilich als ein C-dur auffassen, mit der Quinte bc- 
ginnend, mit der Terz schliefsend. Werkwürdigerweise ist aber 
nirgends der Grundton zu hören. Nach antiker Auffassung dagegen 
ergäbe die Reihe ein Tetrachord, das im Sinne der sogenannten 
Kirchentonarten mixolydisch, im Sinne der griechischen Musik dorisch 
wäre. Also dürfte für diese »Urmelodie« die Behauptung, dafs sie 
in Dur stehe, anfechtbar sein. Ein Volk mit vorherrschenden Moll- 
tonarten könnte sie ebensogut als Moll empfinden. Erinnern wir 
uns, dals nicht nur die meisten altdeutschen Volkslieder, sondern 
auch die der meisten Naturvölker in Moll stehen, so läfst sich aus 
obiger Melodie schwerlich nachweisen, ob dem kindlich musikalischen 
Sinn Dur oder Moll näher liegt. Darin hat freilich Bömme unbe- 
stritten recht, dafs andere Kinderlieder (welche nämlich über diesen 
Quartenumfang hinausreichen und bereits ausgesprochene Liedform 
besitzen) durchweg Durcharakter haben; sie sind eben unter der 
Herrschaft unseres Dursystems entstanden und von Kindern den Er- 
wachsenen nachgesungen. Um Schlüsse ziehen zu können, mülste 
man Kinderlieder aus Ländern mit vorherrschendem Moll zur Hand 
haben — aber meine grolse Sammlung von Notizen über Volkslieder 


56 A. Abhandlungen. 


lehrt mich, dafs den meisten Berichterstattern Sinn oder Fähigkeit 
für Aufzeichnung der Melodien abgeht. — An weiteren Kinderliedern, 
die im Umfang über jene Urmelodie hinausgehen, fällt mir auf, dafs 
sie nur den Halbton von der 3. zur 4 Stufe der Tonleiter (e fin 
C-dur), fast nie aber von der 7. zur 8. (Leiteton = h c) enthalten; 
man vergleiche z. B. das allbekannte »Fuchs, du hast die Gans gc- 
stohlen.« Auch nach meinen sonstigen Erfahrungen ist das Treffen 
des Leitetones nicht etwas Leichtes und Selbstverständliches. Bei 
ciner ganzen Reihe meiner Schüler hatte ich im Klavier- und Orgel- 
unterricht den Eindruck, dafs sie im mehrstimmigen Satze die kleine 
Scpte an Stelle der grofsen (des Leitetones) durchaus nicht als falsch 
zu empfinden scheinen, was den harmonisch geschulten Musiker 
ziemlich aufser Fassung bringen kann. Sollte unser wissenschaftlich 
so fest begründetes Tonsystem für »natürliche< Ohren doch nicht so 
natürlich und selbstverständlich sem? Im übrigen weifs jeder Ge- 
sanglehrer, dafs die in der sogenannten Naturharmonie begründeten 
Intervalle am leichtesten ‘zu treffen sind: reine Quinte, Oktave, grolse 
Terz, kleine Septe. Merkwürdigerweise wird die Oktav für sich allein 
nicht immer am leichtesten ausgeführt; dagegen prägt sich der Dur- 
dreiklang bald den Ohren ein und verhältnismälsig rasch erlernt sich 
auch die Durtonleiter. Damit steht keineswegs die Behauptung 
R. Laxees in Widerspruch, dafs die Gesangskünstler ihren letzten 
Triumph darin fänden, eine Tonleiter in langandauernden Tönen rem 
zu singen. Das langsame Singen eines kunstmäfsig gebildeten Tones 
ist eben etwas anderes, als die Tonleiter eines Volksschülers; zudem 
handelt es sich bei dem Künstler um den Unterschied von reiner und 
temperierter Stimmung, der das Bewußstsein des Kindes noch nicht 
beunruhigt. — Die kleine Sekunde widerstrebt länger dem Eingang 
ins musikalische Gedächtnis; auch sind die widerhaarigen über- 
mäfsigen und verminderten Intervalle nur dem eigentlich Musika- 
lischen bei längerem Studium zugänglich. Übrigens kann das Treffen 
einzelner Intervalle durch Assoziationshilfen erleichtet werden. So 
berichtet Streuner (das Lied als Gefühlsausdruck) dafs in den Unter- 
klassen auch von Schülern, die eine vorgesungene Quarte nicht trafen, 
dieses Intervall ganz rein zu erhalten war durch Anknüpfen an das 
den Rindern bekannte Feuerwehrsignal (d g mit Text: Es brennt) 
u. derel. mehr. — Das Hinaufschleifen und Sinkenlassen des Tones, 
zwei bei Kindern vielfach anzutreffende Fehler, deuten auf ein noch 
unvollkommen ausgebildetes Gehör, lassen aber keineswegs auf Mangel 
an musikalischem Sinn schliefsen. Vielmehr verursacht meist die 
Ungeübtheit des ausführenden Organes (des Kehlkopfes) jene Er- 


~l 


Köxre: Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei Kindern. 5 








scheinungen. Im erstern Falle setzt das Kind in der gewohnten 
Sprechlage ein, um bis zu dem vom Gehör als richtig erkannten Ton 
heraufzuschleifen. Auch das so milsliche und gerade im Schulgesange 
so viel beobachtete allmähliche Heruntersinken ist m der ungenügen- 
den Übung (oder auch in unnatürlicher Anstrengung) des Kehlkopfes 
und der dadurch hervorgerufenen raschen Ermüdung der Gesangs- 
werkzeuge begründet. 

Erfahrungsgemäls stellt sich die Fähigkeit der Auffassung von 
Harmonien ganz zuletzt ein. Hat doch die gesamte Menschheit 
bis etwa ins 15. Jahrhundert herein gebraucht, um zu einer wirklich 
mehrstimmigen Musik und zur Ausbildung einer Lehre von den 
Harmonien zu kommen, die wiederum erst ein paar hundert Jahre 
später ihre wissenschaftliche Begründung erfahren hat. Die Musik 
der Naturvölker ist einstimmig: Kinder folgen hierin so genau der 
allgemein menschheitlichen Entwicklung, dafs es ihnen anfangs sogar 
schwer wird, die von Männerstimmen in der tiefern Oktave in- 
tonierte Melodie in der höhern Oktave mitzusingen. Späterhin zeigt 
sich Sinn für Harmonie im Sckundieren. Manche Kinder mögen 
dies schon vor der Schulzeit fertig bringen, einen gröfsern Teil kann 
man bekanntlich auch später nicht dazu gebrauchen. Kinder der 
letztern Art müssen nicht absolut unmusikalisch sein. Eine mir be- 
kannte sehr musikalische Dame kann ich doch nicht dazu bringen, 
ctwas anderes als Melodie im Chore mitzusingen. Warum soll ein 
Mensch, der statt einer richtigen Bafsstimme die Melodie in der 
tiefern Oktave mitsingt — eine in ländlichen Männerchören sehr bce- 
kannte Erscheinung — keinen Sinn für Musik besitzen? Hat er ja 
doch nur statt der an sich nicht notwendigen und für den Sänger 
nicht gleich fafsbaren Stimme die Melodie ganz richtig im Ohr. — 
Nach der Fähigkeit des Sekundierens pflegt sich der Sinn für Har- 
monie zunächst in der Form einzustellen, dafs ein verschwommener 
Allgemeineindruck eines Akkordes vorhanden ist, z. B. »das ist C-dure. 
Erst später, meist nach vielen Übungen, können die einzelnen Töne 
(Stimmen) erfafst werden. Wie weit die Fähigkeit von Kindern hierin 
geht, lälst sich schwer sagen, da unser gesamter Musikunterricht in 
dieser Hinsicht mit jüngern Schülern keine Versuche anzustellen 
pflegt. Das vermaledeite Klavierspiel, das dem Schüler die Möglich- 
keit aller Tonkombinationen fortwährend an die Hand gibt und ihn 
der Mühe musikalischen Denkens enthebt, ist gewifs im ganzen kein 
Segen für die Pflege des Gehörs und für die Entwicklung des eigent- 
lich musikalischen Sinnes gewesen. Wir mülsten ja sonst wahre 
Musikheilige sein. 


58 A. Abhandlungen. 








Die Fähigkeit richtiger Auffassung und Wiedergabe einer Melodie, 
späterhin auch «das Erfassen des harmonischen Gehaltes einer Kom- 
position, pflegen wir als musikalisches Gehör zu bezeichnen. Ist es 
hei Kindern vorhanden, und in welchem Grade? Wenn auch ziem- 
lieh frühzeitig der Versuch des Nachsingens gemacht wird, halte ich 
doch den von Preyer erwähnten Fall, dafs ein Kind mit 9 Monaten 
jeden auf dem Klavier angegebenen Ton richtig nachgesungen habe, 
für eine aufserordentliche Seltenheit. Da Prever daneben auch von 
einem andern Kinde berichtet, das zu Ende des 3. Jahres trotz feinen 
Gehörs für Geräusche die Töne e d e nicht zu merken vermochte, 
so ergibt sich aus beiden Fällen für das musikalische Gehör eine 
großse individuelle Verschiedenheit, meines Erachtens eine gröfsere 


als im Bereich des Rhythmus, für den — wie Kinderspiel, Marsch 
und Tanz uns lehren — die Empfänglichkeit von Anfang an eine 


gleichmäßsigere ist. Das Gehör entwickelt sich oft sozusagen nur 
stückweise. So konnte einer meiner ältern Schüler zwar nach einem 
vorgespielten Ton auf der Violine rein nachspielen, für sich aber 
nichts Reines zusammenbringen. Hier war offenbar das leibliche Ohr 
in Ordnung, aber das geistige Ohr und Tongedächtnis nicht genügend 
entwickelt. Absolutes Gehör — darin bestehend, dafs man einen be- 
liebigen Ton ohne Hilfsmittel nach seiner Höhe bestimmen oder einen 
verlangten aus dem Gedächtnis angeben kann — darf man natürlich 
von Kindern nicht verlangen: besitzen es «doch nur wenige Er- 
wachsene. Hat aber ein Schüler, der nach Tagen ein gelerntes Lied 


in richtiger Tonhöhe anstimmen kann — und deren gibt es doch 
wohl — nicht ein Stück absoluten Gehörs? Aus Versuchen mit aller- 
dings 15—20jährigen Schülern möchte ich «ie Behauptung wagen, 
dafs musikalisches Gehör — gewöhnlich für ein Geschenk von Gottes 
Gnaden gehalten, das ohn alles Zutun einzelnen Beglückten in den 
Schoß fält — der Ausbildung fähig, und zwar einer viel gröfsern 


Ausbildung fähig ist, als man gewöhnlich annimmt. Ich möchte mir 
selbst mit Versuchen an jüngern Schülern ganz gute Erfolge ver- 
sprechen. Unsere ganze Musiziererei ist eben leider in den Sumpf 
der Fingerfertigkeitspflege hineingeraten, statt auf Gehörbildung von 
Anfang an auszugehen. Als ob das Musikalische in den Händen 
statt in den Ohren stäke! Mit meinen Erfahrungen und Ansichten 
stimmen beispielsweise überein: mein Freund Horzısger in Erlangen, 
ein tüchtiger Musikpädagoge (»Das Gehör ist äufserst selten zu gering 
und wird bei verständiger Übung immer besser«); Stumer in der 
Euterpe 1573 (>Absoluter Mangel an Gehör ist selten, in Marschen 
häufiger als in Gebirgene); A. B. Marx (>»Ein gänzlicher Mangel an 











Könie: Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei Kindern. 50 


mn ann al a mo mm mn Be a a Da hei di be —— i 


Musiksinn scheint zu den höchst seltnen Fällen zu gehören.« Er 
habe unter Tausenden, die er beobachtet, nur zweimal sänzlichen 
Mangel an Musiksinn gefunden): L. Lonse (»Mir ist in 40 Jahren nicht 
ein gesundes Kind vorgekommen, das bei gutem Willen im 7. Lebens- 
jahre nicht den Dreiklang hätte singen lernen«). Ähnliche Meinungen 
sprechen die meisten guten Musikpädagogen aus: nur schlechte 
pflegen sich mit dem Mangel an Gehör zu trösten und zu ent- 
schuldigen. Irrungen im Hören haben hie und da ihren Grund in 
der Wahrnehmung starker Obertöne. So wird es z. B. oftmals schwer 
die Töne grofser Glocken zu bestimmen. Aus cigner Jugendzeit er- 
innere ich mich, über die Höhe der Tenorstimmen, die ja bekanntlich 
sehr starke Obertöne hören lassen. lange im Unklaren gewesen zu 
sein. Das Kind merkt hier, seinem natürlichen Empfinden folgend, 
auf die Obertöne, die der Erwachsene infolge lang gewohnter Ab- 
straktionen nicht mehr beachtet. 

In der Entwicklung des musikalischen Sinnes gesellt sieh zur 
Auffassung des musikalischen Tones bald «das musikalische Gedächt- 
nis. Nach Preyer können Kinder mit ausgebildetem Tonsinn schon 
im 1. Jahr Melodien behalten. Obwohl graduell sehr verschieden, 
ist das musikalische Gedächtnis doch immer vorhanden. , ToLzisser 
fand es bei allen Schülern, ist aber der Meinung, dafs es einer 
methodischen Pflege bedürfe.. Der große Gedächtniskünstler BëLow 
vertrat ebenfalls die Ansicht, Gedächtnis sei nur eine Sache der 
Übung. Bei systematischer Ausbildung vermögen selbst Kinder im 
Behalten von Kompositionen Grofses zu leisten. Der aufmerksame 
Klavierlehrer ertappt oft genug seine Schüler darüber, dafs sie von 
den Noten wegschen und aus dem Gedächtnis spielen. 

-Die Entwicklung des musikalischen Sinnes wird nur allzuoft 
durch die natürliche Befähigung der ausführenden Organe 
in bestimmte Bahnen geleitet. Ein Kind mit Wolfsrachen kann kein 
Sänger werden, aber, wie ein mir bekannter Fall zeigt, ein guter 
Geiger, und ein Schüler mit fehlerhaft gebauter Hand zeigt keine 
»Begabung« fürs Klavierspiel. Bei Kindern sind vielfach die Gre- 
sangwerkzeuge noch nicht genügend entwickelt. Einzelne Töne 
werden getroffen, andere nicht festgehalten, wieder andere zitterig 
angegeben; oft fehlt das Metall der Stimme. Infolge fehlerhaften 
Zun genbaues stellt sich der Nasenton ein. Bexxart berichtet in der 
Euterpe 1873 von einem Chemiker, der lange Musikstücke behielt 
und die Reinheit des Gesanges zu beurteilen vermochte, jedoch selbst 
beständig grundfalsch sang. Verschwinden derartige organische Fehler 
mit der Zeit nicht von selbst, so beeinträchtigen sie natürlich die 


60 A. Abhandlungen. 











Entwicklung des musikalischen Sinnes wenigstens nach einer Seite 
bedeutend. Übrigens sind die angeführten Fälle wiederum eine 
Mahnung, in der Beurteilung der musikalischen Befähigung eines 
Kindes vorsichtig zu sein. 

Nun noch die Frage, ob die musikalische Entwicklung des Kindes 
sich auch in der höchsten Form, als schöpferischer Trieb, be- 
tätiet. Wer vermag dem kleinen Neelchen nachzugehen, wenn es 
aus dem Eigenen zu schöpfen sucht? Ich halte es für eine der 
schwierigsten psychologischen Arbeiten. Nur das möchte ich be- 
haupten: So gut das Kind zeichnet und aus Sand Häuser baut, so 
gut probiert es auch, Föne zusammenzufügen. Es würde sich ver- 
lohnen, daraufhin Kinder zu beobachten: bislang liegt meines Wissens 
cin Versuch in dieser Richtung nicht vor. Warnen möchte ich vor 
dem Gedanken, dafs die Melodie der Kinderlieder eigne Schöpfungen 
unserer Kleinen seien. Nur die oben erwähnte typische Kinder- 
melodie geht so sehr aus dem Sprechton hervor, dafs auch Kinder 
auf ihre Erfindung verfallen sein konnten. Allen im Rhythmus 
irgendwie gekünstelten und im Umfang wesentlich über eine Quart 
hinausgehenden Liedern möchte ich die Erfindung «dureh Kinder ab- 
sprechen, wenn sie auch noch so gerne in Schule und Haus ge- 
sungen werden. Mit vermehrtem Musikunterricht pflegt sich auch 
da und dort der Drang zum »Komponieren« einzustellen. Soweit 
ich an allerdings ältern Schülern (14—15 Jahre) beobachten konnte, 
würden gar viele Musikbeflissene zur Erfindung cines anständigen 
Motivs oder einer ganz brauchbaren Melodie erzogen werden können, 
so wie man ja auch viele Menschen zu einem brauchbaren, manche 
sogar zu einem guten Aufsatz heranbilden kann, ohne deswegen den ein- 
zelnen zum Schriftsteller machen zu wollen. Durch Versuche der obigen 
Art könnte die Entwicklung des musikalischen Sinnes nur gewinnen. 

Eine ganz eigentümliche Erscheinung im geistigen Leben sind 
die sogenannten Musikphantome (Photismen). Das Anhören von Musik 
erzeugt bei einzelnen Menschen Farbenempfindungen oder sogar voll- 
ständige Bilder (vergl. 2. B. Rurns, Musikphantome). Hann - Stimpri,, 
Der Inhalt des Geistes der Kinder bei ihrem Eintritte in die Schule 
(Baver. Lehrerz. 1900) scheint das Vorhandensein solcher Musik- 
phantome bei Kindern zu bestätigen: von 53 Kindern haben 21 die 
Töne gewisser Instrumente als farbig bezeichnet. Ich habe bei Kindern 
nach dieser Seite hin keine Untersuchungen angestellt, dagegen bei 
Erwachsenen (vom 14. Jahr an bis zum reifen Mannesalter) viel Um- 
trage gehalten, ohne irgend welches Resultat zu erzielen. Sollte nicht 
in vielen der oben angeführten Fälle eine Täuschung vorliegen, was 








ScHoLz: Abnorme Kindesnaturen. 61 


ja bei der Schwierigkeit psychologischer Untersuchungen an Kindern 
leicht möglich wäre, so mülste man zu dem Schlusse gelangen, dafs 
Musikphantome in der Jugend häufiger als in spätern Jahren vor- 
kommen, dafs also mit dem zunehmenden Alter gewisse Assozlations- 


bahnen verschwinden oder nicht mehr benutzt werden. ? — 
(Schluls folgt.) 


2. Abnorme Kindesnaturen. 
Vortrag, gehalten am 6. Dez. 1902 im Waldbröler Lehrerverein. 


Von 


Dr. L. Scholz, dirig. Arzt der Irrenanstalt in Waldbröl. 


M. H. Das Thema, über das ich heute zu sprechen die Ehre 
habe, bedarf in Ihrem Kreise keiner Rechtfertigung. Die Kenntnis 
abnormer Kindesnaturen und ihre richtige Beurteilung beansprucht 
eine praktische Bedeutung, die für den Erzieher nicht weniger grofs 
ist als für den Įrrenarzt. Denn wir begegnen den unglücklichen 
Kindern in Schule und Haus häufiger, als Lehrer und Eltern selbst 
es wissen. Und darin eben liegt das Traurige: die Verkennung der 
abnormen Zustände bildet die Regel, die Erkennung die Ausnahme. 
Wie kommt das? Die Erklärung ist nicht so schwer zu finden: es 
gibt der Berührungs- und Übergangspunkte zwischen dem Normalen 
und Abnormen so viele, dafs im gewöhnlichen Leben sehr oft über- 
haupt nicht an die Möglichkeit einer pathologischen Abweichung ge- 
dacht wird. Man spricht von Charakterfehlern oder, nichtssagend 
genug, von Charaktereigentümlichkeiten, wo der Ausdruck Psycho- 
pathien eher am Platze wäre Und doch, wie manches Elend, wie 
manche Ungerechtigkeit und Härte liefse sich vermeiden, wenn der 
Lehrer versuchte, gewisse kindliche Eigenarten und Ausschreitungen 
unter dem Gesichtspunkte zu erfassen, der uns heute Führer sein soll. 

Nicht also bedarf mein Vortrag einer Rechtfertigung, wohl aber 
zunächst einer Erläuterung. Was heifst abnorm? Schon hier 
gerate ich in Verlegenheit. Umschreibe ich das Wort und sage: 
von der Norm, der Regel abweichend, so ist damit nieht viel ge- 
wonnen. Versteht man unter Regel soviel wie Richtschnur, Vor- 
schrift und stellt als Forderung etwa die vollkommene Harmonie der 
seelischen Funktionen hin, so ist kein Mensch normal. Besser ist 
es deshalb, von der Regel im Sinne der Regelmäfsigkeit, des dureh- 
schnittlichen Verhaltens zu sprechen. Diese Bedeutung palst sieh 
ja auch im allgemeinen dem populären Sprachgebrauch an. Normal 


62 A. Abhandlungen. 


wäre dann der sogenannte Durchschnittsmensch, abnorm der, der 
vom Durchschnitt abweicht. Im normalen Seelenleben sollen sich 
die Gefühls-, Verstandes- und Willenselemente wenigstens einiger- 
malsen die Wage halten, trotz aller sonstigen Verschiedenheiten in 
der Gestaltung, wie sie durch die Eigenart der Geschlechter, der 
Altersstufen, der Rassen u. s. w. hervorgerufen werden. Schlägt das 
Zünglein nach der einen oder andern Seite zu lebhaft aus, über- 
wuchert ein Teil der Seelenkräfte gar zu einseitig oder ist ein andrer 
direkt verkümmert, so sprechen wir von Disharmonie. Und Dis- 
harmonie ist das Wesen der Abnormität. 

Aber geistige Disharmonie und Abnormität ist nicht ohne 
weiteres dasselbe. Die Disharmonie mufs vielmehr den Menschen 
dauernd besitzen, sie muls organisch, d. h. anatomisch und physio- 
logisch bestimmt, und vor allem sie mufs vererbbar sein. Die Ein- 
reihung vorübergehender Scelensehwankungen, z. B. der »Nervosität« 
nach Gemütserregungen, würde dem Begriff Abnormität eine un- 
zweckmäfsige Ausdehnung geben. Dabei braucht die Abweichung 
vom Durchschnittstypus keineswegs angeboren zu sein: sie kommt 
auch als erworbene Eigenschaft vor, z. B. bei Trinkern, bei Epilep- 
tikern, bei Morphinisten, bei unvollkommen geheilten Geisteskranken. 
Abnormität in diesem Sinne der andauernden, vererbbaren Ab- 
weichung vom Durehschnittstypus bezeichnen manche Autoren, 
z. B. Mösgtes!) auch mit Emtartung, einem Ausdruck, der recht gut 
ist, sobald man ihn ganz wörtlich: von der Art abweichend, nimmt 
und die populäre Nebenbedeutung des moralisch Verkommenen bei- 
seite läft. Für weniger glücklich halte ich die von Koch?) einge- 
führte Bezeichnung »Psychopathische Minderwertigkeitene. Denn 
erstens ist das Wort Minderwertiekeit sehr häfslich und zweitens 
auch nicht immer richtig. Denn wir werden gleich sehen, dafs der 
Wert abnormer Menschen durchaus nicht immer gemindert, sondern 
bisweilen sogar »gemehrt« ist. Das Attribut psvchopathisch aber 
kann das falsche Hauptwort nicht korrigieren. 

Dals abnorm und krankhaft nicht jedesmal dasselbe bedeuten, 
ergibt eine Betrachtung des genialen Greisteszustandes. Recht viele, 
wenn auch nicht alle, Genies sind zwar geistig abnorm, «disharmonisch 
veranlagt, aber keineswegs krank. Krankheit ist Leben unter andern 
Bedingungen, jedoch unter Bedingungen, die das Individuum und 
häufig auch seme Nachkommen schädigen. Ohne diesen einschränken- 


') Mösıvs, P. J., Über Entartung. 1900. 
?) Kocen, J. I. A., Die psychopathischen Minderwertigkeiten. 1891. 








€ 


ScHoLz: Abnorme Kindesnaturen. 63 


den Zusatz wäre sonst jede ärztliche Einwirkung, jede Operation, 
jedes Verabreichen eines Medikaments, jede hydropathische Ein- 
packung ein krankmachender Eingriff. Auch müfste man eine ah- 
norme Muskelkraft oder eine auffallende Lungenkapazität für krank- 
haft halten. Richtig ist ja, dafs geniale Menschen mehr als andere 
zum Irrsinn veranlagt sind, indes ist damit die Identität von Genie 
und Wahnsinn keineswegs gegeben. Geisteskranke haben mit den 
Genies wohl die lebhafte Reizempfänglichkeit. die Leidenschaft und 
die Phantasie gemein, was sie aber von diesen unterscheidet, das 
ist der Mangel an Urteilskraft. Kühnes Denken und Reichtum an 
Einbildungsvermögen allein stempelt noch niemanden zum Genie. 

Abnorm ist also nicht dasselbe wie krank. Aber die Begriffe 
normal, abnorm und krank berühren sich so eng, dafs wir doch ver- 
suchen müssen, uns über ihr gegenseitiges Verhältnis klar zu werden. 
Von der Auffassung eines Geisteszustandes hängt seine Beurteilung 
und seine Behandlung ab. Der Geisteskranke ist unzurechnungsfähig, 
der Gesunde zurechnungsfähig. Die »normale« Dummheit cines 
Kindes fällt in das Gebiet des Pädagogen, die krankhafte Geistes- 
schwäche in das des Arztes. Ebenso können die Charaktereigen- 
tümlichkeiten und sittlichen Verfehlungen auf gesunder oder kranker 
Basis erwachsen. Sünde und Schuld auf der einen, Krankheit und 
Unschuld auf der andern, — wo liegt die Wahrheit? 

Die Natur macht keine Sprünge. Wie wir im Farbenspektrum 
vergeblich nach einer scharfen Grenze zwischen dem Rot und Gelb, 
dem Gelb und Grün suchen, so fliefsen auch Gesundheit und Krank- 
heit ohne feste Scheidewand ineinander über. Gesund und krank 
sind nicht zwei Begriffe, die sich diametral gegenüberstehen wie 
positiv und negativ, sondern sie bezeichnen relative Größsen, wie 
gut und schlecht, grofs und klein, schön und häßlieh. Lediglich aus 
Zweckmälsigkeitsgründen sind wir genötigt, willkürlich eine Grenze 
festzusetzen, wo es in Wirklichkeit keine gibt. Um jedoch dem 
mählichen Übergang von einem geistigen Zustand in den andern 
wenigstens einigermafsen Rechnung zu tragen, hat man sich gewöhnt, 
von einem Grenz- oder Zwischengebiet zu sprechen und zählt 
hierher die Abnormen, Entarteten, Psychopathen und Neuropathen, 
die Minderwertigen oder welcherlei Ausdrücke noch sonst im Gic- 
brauche sind. Vielleicht könnte man auch die Bezeichnung geistes- 
kränklich, entsprechend dem körperlich-kränklieh, anwenden; doch 
ist sie bisher nicht Mode geworden. Dieses Zwischengebiet bevölkern 
nun alle jene zahllosen geistig nicht vollwertigen, an Verstand zurück- 
gebliebenen und an Charakter vom Durchschnittsmenschen abweichenden 





64 A. Abhandlungen. 


Naturen, jene excentrischen. problematischen Wesen, überspannten 
Phantasten, Träumer und widerspruchsvollen Geister, jene Trieb- 
menschen, denen es an Ebenmafs und Harmonie gebricht. Viele von 
ihnen werden im Laufe der Jahre geisteskrank, ihre Mehrzahl indes 
bleibt davon verschont. Wohl aber herrscht die Psychose vielfach 
unter ihren Vorfahren oder Nachkonmnen. Sie selbst sind gleichsam 
auf der Vorstufe stehen geblieben. Was grade diesen Halbkranken 
cine hohe, praktische Bedeutung verleiht, das ist der Umstand, dafs 
sie, eben infolge ihrer abnormen Geistesbeschaffenheit, leichter als 
ihre normal gearteten Mitmenschen mit den Strafgesetzen in Konflikt 
geraten. Nun kennt aber das Gesetz nur Gesunde und Kranke, und 
der ärztliche Sachverständige mufs sich in seinem Gutachten an diese 
wissenschaftlich ungenügende Voraussetzung halten. Der Begriff der 
„verminderten Zureehnungsfähigkeit«, der auf die Abnormen 
am ersten angewendet werden könnte, existiert juristisch nicht und 
die »mildernden Umstände« sind grade für eine Reihe der schwersten 
Verbrechen wie Mord, Meineid, Raub ausgeschlossen. Was soll der 
Arzt tun? Er muls sich für ein entweder — oder, gesund — krank 
entscheiden. So erklären sich die Widersprüche in der Endbeur- 
teilung des Geisteszustandes eines Angeklagten, wie sie mitunter bei 
verschiedenen Begutachtern vorkommen, einfach dadurch, dafs der 
eine den Begriff Gesundheit enger oder weiter fast als der andere. 
Das Publikum aber, das diese Schwierigkeiten gar nicht ahnt, ent- 
rüstet sich bafs über die irrenärztliche Unwissenheit: »da sieht man 
mal wieder, wie es mit den Psychiatern bestellt ist, — der eine er- 
klärt den Menschen für gesund und der andere für verrückt!« 

Unser Seelenleben ist eine Einheit. Es gibt keinen Zustand, 
der reines Erkennen, reines Fühlen und reines Wollen wäre. Aber, 
praktisch betrachtet, läfst sich immerhin ein Unterschied zwischen 
den beiden Grundfunktionen, des Erkennens einerseits und des 
Fühlens und Wollens andrerseits, machen. So sprechen wir auch 
in der Psychiatrie von intellektuellen Störungen und Krankheiten 
der Gemüts- und Willenssphäre. | | 

Auf die intellektuell abnormen Kinder, die Geistesschwachen 
im engem Sinne, gche ich nur der Vollständigkeit wegen mit kurzen 
Worten ein, da ihre Beurteilung in pädagogischen Kreisen auf mehr 
Kenntnis und Verständnis stößst als die der abnorm gearteten 
Charaktere. Wie dem Lehrer bekannt, kommen alle nur erdenk- 
lichen Stufen von Idiotte vor. Die tiefstehenden Idioten bleiben 
geistig unter dem Niveau der Tiere. Von Bildungsfähigkeit kann 
hier gar nicht oder nur in beschränktestem Sinne gesprochen werden 


ScHoLz: Abnorme Kindesnaturen. 65 


und für die Schule kommen sie überhaupt nicht in Betracht. Unter 
den bildungsfähigen Idioten sondert der Arzt wieder eine besondere, 
höher stehende Gruppe, die der Imbecillen, ab. Die geistige Leistungs- 
unfähigkeit erstreckt sich durchaus nicht über alle Gebiete gleich- 
mälsig, ja wir finden mitunter bei Idioten einseitige Talente, die 
uns in Erstaunen setzen, z. B. cin enormes Zahlen- oder Namen- 
gedächtnis oder hervorragende künstlerische Fähigkeiten. So war 
der als Katzenraffael berühmte Maler Mrsp ein kaum bildungsfähiger 
Idiot. Nun ist es sehr wichtig zu wissen, dafs allerhand körperliche 
Störungen leicht einen gröfsern Intelligenzdefekt vortäuschen, als er 
in Wirklichkeit besteht. Man könnte hier von einer scheinbaren oder 
Pseudo-Idiotie sprechen. Da finden wir zunächst Erkrankungen der 
äulsern Sinnesorgane. Unter den im Jahre 1901 zur Aufnahme in 
die Hilfsschulen für Schwachbegabte in Berlin vorgeschlagenen 248 
Kindern litten an Schwerhörigkeit 15°/,, an Sehstörungen 170%., an 
Wucherungen im Nascenrachenraum, die das geistige Auffassungs- 
vermögen stark beeinträchtigen können, ebenfalls 17°%,. Dazu ge- 
sellten sich Sprachstörungen, Stottern und Stammeln bei 24°/,. Es 
liegt auf der Hand, wieviel Nutzen hier dureh richtiges Erkennen 
und frühzeitiges Behandeln gestiftet werden und wie segensreich ein 
tüchtiger Schularzt wirken kann. Und selbst bei ertolgloser ärztlicher 
Behandlung, — wie manche ungerechte Bestrafung wegen Unaufmerk- 
samkeit und Faulheit liefse sich bei diesen Kindern vermeiden! 
Ohne alle Frage gibt es keine feste Grenze zwischen der nor- 
malen und krankhaften Beschränktheit. Mit einer ein- oder mehr- 
maligen Untersuchung des Geisteszustandes wird man auch zu 
keinem Resultat kommen. Hier kann nur das Ergebnis eines ge- 
nügend lange fortgesetzten und, fügen wir gleich hinzu, verständnis- 
vollen Unterrichts, verbunden mit sachverständiger ärztlicher Prüfung, 
Aufklärung geben. Es gibt Kinder, die sich nur schwer in das Ge- 
triebe und die Anforderungen der Schule hineinfinden und dennoch 
ganz normal entwickelt sind. Ihre Neigungen und Fähigkeiten 
wenden sich andern Aufgaben zu: künstlerisch veranlagten Schülern 
kann z. B. der mathematische Unterricht eine Qual sein. Auch 
stehen nicht alle Lehrer (Sie verzeihen mir) auf der Höhe päda- 
gogischen Geschickes. Ein Schüler. dem die Schule nicht behagt, 
ist darum noch Jange kein Dummkopf oder Faulpelz; er kann sogar 
auf seinem Leistungsgebiet recht klug und ebenso fleifsig sein. Dazu 
mufs man berücksichtigen, dafs sich manche Kinder anfangs langsam 
entwickeln, um erst später im gewünschten Tempo weiter zu marschieren. 
Auch treten gelegentliche Hemmungen in der geistigen Entwicklung 


- 


Die Kinderfchler. VII. Jahrgang. D 


66 A. Abhandlungen. 


ein, die aber nur vorübergehender Natur sind. Direktor TRÜPER 
schreibt:!) »Der Chemiker Justus Liesis, der Mathemathiker Gauss, 
der Naturforscher Darwis, der Hofprediger Froxuurı, der Naturforscher 
Hewvnorız, sie alle wurden in ihrer Jugend von ihren Lehrern für 
dermafsen minderwertig gehalten, dafs diese Ihnen prophezeiten, es 
würde nichts Gescheites aus ihnen werden, dafs sie also an der 
Grenze des Schwachsinns ständen.s Auch von ALEXANDER v. Hux- 
BOLDT wird dasselbe erzählt. Erst wenn ein Kind ein oder zwei Jahre 
ohne allen Erfolg einem guten Schulunterricht beigewohnt hat, dann 
(von cklatanten Fällen natürlich abgesehen) darf man wohl den Be- 
weis seiner geistigen Schwäche als geführt ansehen. 

Hilfsschulen für schwachbegabte Volksschüler sind zwar schon 
vor 35 Jahren, zuerst 1567 in Dresden, gegründet worden, aber erst 
seit etwa zwölf bis fünfzehn Jahren recht in Aufschwung gekommen. 
Im Jahre 1900 gab cs in Deutschland 95 Hilfsschulen mit 326 
Klassen, über 300 Lehrkräften und 7013 Schülern. Den Vorteil 
dieser Einrichtung genielsen beide, die vollsinnigen und die schwach- 
sinnigen Kinder, erstere, weil sie in ihren Fortschritten nicht mehr 
durch die Schwachbegabten gehemmt werden, und letztere, weil man 
ihrer mangelhaften Befähigung besser Rechnung tragen kann. Auch 
für die Lehrer an den Normalschulen bedeutet das System eine 
wesentliche Erleichterung. Über die Unterriehtsmethode und ihre 
Erfolge zu sprechen, Hegt nicht im Bereich meiner Aufgabe. 

Der zweite Teil meines Vortrages, der von den abnormen 
Charakteren der Kinder handelt, wird eine ausführlichere Be- 
sprechung nötig machen, denn er liegt dem Gesichtskreis des Laien 
(und ich darf Sie wohl auch in «diesem Fall als Laien bezeichnen) 
ferner. 

Unter Kindern mit abnormen Charakteren versteht man solche, 
deren Abartung sich wesentlich auf die Gemüts- und Willenssphäre 
erstreckt. Die Intelligenz kann dabei defekt sein, ja sie ist es zu- 
meist. Ein heifser Streit aber wogt um die Frage, ob gerade jene 
praktisch bedeutsanste Gruppe der Abnormen, die nämlich, deren 
Abweichung sich vor allem in sittlichen Mängeln dartut, auch in 
jedem Falle eine Verstandessehwäche aufweise, — mit andern Worten, 
ob mit dem moralischen Schwachsinn stets ein intellektueller ver- 
bunden sei. Ich bin dieser Meinung nicht, sondern glaube, dafs 
psychopathische sittliche Defekte recht wohl bei normal und gut ent- 


H) TrürerR, J., Die Anfänge der abnormen Erscheinungen im kindlichen 
Seelenleben. 1902. 








ScHoLz: Abnorme Kindesnaturen. 67 


ae mei ren nr a nn En ee 





wickeltem Verstande vorkommen können. Wie man den Geistes- 
zustand solcher abnormen Persönlichkeiten auffassen und bezeichnen 
wil, ob man auf die etwas in Mifskredit geratene Lehre von der 
moral insanity, dem moralischen Irrsinn oder Schwachsinn, oder aber 
auf die vielleicht noch mehr angefochtene Loxgroso’sche Theorie 
vom »geborenen Verbrecher« schwört, mag zunächst gleichgültig sein. 
Wir wollen hier nicht einen Wortstreit bringen, sondern Tatsachen 
schildern. 

Die hohe Bedeutung des Gegenstandes zwingt mich, einige 
psychologische Erörterungen vorauszuschicken. 

Das, was unserm innersten Wesen den Stempel aufdrückt, sind 
nicht die Erkenntnis-, sondern die Gefühls- und Willenselemente. 
Zwar wirkt die Aufsenwelt ununterbrochen auf uns ein: was aber 
von den zahllosen Reizen aufgenommen und wie es aufgenommen 
und verarbeitet wird, ist Gefühls- und Willenssache Hinge unser 
Wesen allein oder auch nur vorzugsweise von unsrer Erkenntnis ab, 
so mülsten z. B. Kinder, die in gleicher Umgebung aufwachsen, alle 
einander nicht nur an Wissen, sondern auch an Charakter gleichen. 
Die Seele des Neugeborenen ist kein weilßses Blatt Papier, das rein 
passiv mit Zeichen ausgefüllt wird, sondern sie ist eine wohlpräparierte 
und individuell bestimmte Platte, ein Gebilde, das sich von Anfang 
an höchst aktiv verhält, das aufnimmt, ablehnt, formt und sichtet. 
freilich ohne sich dieser seiner Tätiekeit bewufst zu werden. Die 
Form, die Organisation ist vor aller Erfahrung und drückt jedem 
menschlichen Seelenleben ein eigenes Gepräge auf. Erst auf späterer 
Entwicklungsstufe tritt eine Wechselwirkung der Erkenntnis auf das 
Gefühl und des Gefühls auf die Erkenntnis ein. Zu dem angeborenen 
Charakter gesellt sich der erworbene. 

Wir unterscheiden einfache und höhere Gefühle. Die einfachen 
oder sinnlichen sind an die Organ- und Sinnesempfindungen gc- 
knüpft und dienen zur Selbsterhaltung des Körpers und zur Fort- 
pflanzung. Es gehören zu ihnen die mit den Empfindungen der 
innern Organe und der Sinnesapparate verbundenen Gefühle Sie 
lösen ganz unmittelbar und ohne Vermittlung der Erkenntnis 
Strebungen und Triebe aus. Der Wille ist nichts anderes als 
die aktive Seite des Gefühls und auf primitiver Stufe untrennbar 
mit ihm verknüpft. Das Neugeborene macht Saugbewegungen, ohne 
sich des Zweckes bewußt zu sein, das aus dem Ei gesehlüpfte 
Hühnchen pickt Körner auf, ohne zu wissen warum u. s. w. Das 
Hauptfundament, das gewaltigste aller Gefühle, das uns trotz seiner 
Bedeutung nur unklar zum Bewufstsein kommt, ist das von den 


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(9) 


65 A. Abhandlungen. 


Organempfindungen abhängige Gemein- oder Lebensgefühl. In der 
Grundstimmung und ihrer Reaktion nach aufsen, dem Temperament, 
tritt es m Erscheinung. Wie sehr das Temperament nicht nur unsere 
Gefühls-, sondern sekundär auch unsre Gedankenrichtung beherrscht, 
ist bekannt genug. Die auf seiner Basis beruhende vorherrschende 
Richtung unseres Willens bezeichnet den angeborenen Charakter. 

Wie sich auf den Organ- und Sinnesempfindungen die höhern 
Erkenntniselemente, Gedächtnis, Verstand, Urteil Phantasie erheben, 
so bauen sich auf den niederen, sinnlichen Gefühlen die höheren. 
vor allem die ethischen und ästhetischen auf. Und nun tritt 
jene vorhin erwähnte Wechselwirkung ein: die durch Erfahrung ge- 
wonnene Erkenntnis beeinflulst das Gefühlsleben und umgekehrt. 
Immer aber gibt die angeborene oder in frühester Jugend vor der 
eigentlichen Verstandesentwicklung «durch Gewöhnung und Nach- 
ahmung entstandene Gefühls- und Willensrichtung den Grundton 
an und verleiht den seelischen Klängen Charakter und Färbung. 
Nur selten bleiben unsere innersten Neigungen ganz unberührt. Wenn 
es sich um Lösung irgend einer wissenschaftlichen Frage handelt, 
die mit unsern Interessen nicht verknüpft ist, so spricht unser Ge- 
fühl allerdings nicht mit und räumt der Verstandestätigkeit allein 
das Feld: ob z. B. die Summe der Winkel im Dreieck zwei Rechte 
beträgt oder ob eine französische Vokabel männlichen oder weiblichen 
Geschlechts ist, erschüttert uns nicht. Wie sehr aber grade die an- 
geblich unparteiische und voraussetzungslose Wissenschaft von unsern 
Sympathien und Antipathien getragen wird, «davon gibt selbst die 
»exakte« Naturforschung, mit der sich alles Mögliche »beweisen« 
lälst, ein Beispiel — von historischen und philosophischen Streitig- 
keiten gar nicht zu reden! Unparteiisch zu sein ist eben ganz un- 
möglich. Wer überzeugen will, mufs deshalb auch an die Neigungen 
und Leidenschaften appellieren, und wo er nicht auf gleichgeartete 
Gefühle stölst, da bedarf es einer unermüdlichen, immer wiederholten, 
zähen Kleinarbeit, um den Seelenacker bis auf die Tiefe zu durch- 
wühlen und neue Erde hinaufzutragen, in der die Saat Wurzel fassen 
kann. Reformen, und mögen sie die herrlichsten und erhabendsten 
sein, erfüllen sich erst, wenn ihre Zeit gekommen, d. h. die Seele 
des Einzelnen, der Gesellschaftsklasse, des Volkes umgestimmt und 
präpariert ist. Jede neue Lehre erregt einen Zwiespalt: bei dem 
Gleichgültigen nur im Kopf und darum ist er bald zu gewinnen, bei 
dem Interessierten aber gleichzeitig auch im Herzen, und diesen 
Gegenstrom zu überwinden, erfordert Zeit und Arbeit. »Wenn Lır’s 
nieht fühlt, Ihr werdet's nicht erjagen!« Warum vermag der Gläubige 











Scholz: Abnorme Kindesnaturen. 09 


nicht den Ungläubigen zu überzeugen, warum der Liberale nicht den 
Konservativen, der Schutzzöllner nicht den Freisinnigen? Besitzt der 
eine wirklich mehr Verstand als der andere? Warum findet eine 
so gute Sache wie der Kampf gegen den Alkoholismus so reichlichen 
passiven und aktiven Widerstand? Die schwere Masse der durch 
Temperament und althergebrachte Gewohnheit festgewurzelten Gefühle 
bewegt sich nur träge und will sich nicht aus ihrer Ruhe bringen 
lassen. Des Menschen Augenblickslaune wechselt leicht, aber seine 
Grundstimmung bildet das beharrende Element in der seelischen 
Erscheinungen Flucht. Die menschliche Natur ist konservativ und 
widerstrebt allen Neuerungen. Aber sie begreift sich selber nicht 
und redet sich deshalb vor, die Vernunft sei es, die sich auflehne, 
ohne zu merken, wie sehr eben diese Vernunft in den Banden des 
Herzens liegt. 

So unterschätzen wir die Bedeutung des angeborenen Charakters 
und überschätzen die des erworbenen. Wir vergessen, dafs dieser 
letztere schliefslich doch auf unsere leiblich-geistige Konstitution 
zurückweist, die nicht unser eigenes Werk ist. Und weil uns unser 
innerstes Wesen mit seinen Gefühlen und Trieben ein Buch mit 
sieben Siegeln bleibt, so beurteilen wir uns (und unsere Mitmenschen) 
so häufig ganz falsch. Wir verwechseln die Scheinmotive mit den 
wahren und suchen an der Oberfläche, wo wir in die Tiefe hinab- 
steigen sollten. Grade bei den geistig noch unentwickelten Kindern 
und grade bei den geistig verkümmerten, wie bei abnormen und 
kranken Naturen überhaupt, wird uns mancher sonst rätselhafte Ge- 
dankengang und Entschlufs erst begreiflich, wenn wir an die Rolle 
des unbewulfsten oder unklar bewufsten Seelenlebens denken. Und 
lassen wir uns darin nicht täuschen: das Kind versucht ebenso wie 
der Erwachsene sein Handeln vernunftmäfsig zu begründen, — sein 
Handeln, das ihm selbst nur zu oft unverständlich bleibt, und gibt 
Beweggründe an, die gar nicht die eigentlich treibenden gewesen 
sind. Ohne Absicht betrügt cs uns und — sich selbst. 

M. H. Halten wir also fest: das Gefühl und seine äufßsere 
Reaktion, der Wille, bilden unseres Wesens Kern, nicht der ent- 
wicklungsgeschichtlich erst später erscheinende Intellekt. Beide be- 
haupten in ihrer weitern Ausbildung, trotz der Weehselwirkung, eine 
relative Selbständigkeit. Talentierte Menschen sind nicht immer sitt- 
lich tadellos und unbegabte, zeichnen sich oft durch ihre Sittenrein- 
heit aus. Die Ausbildung des Charakters kann auf niedriger Stufe 
stehen bleiben, so dafs die niederen, sinnlichen Triebe das Übergewicht 
behalten. Auch beim Gesunden kommen tausenderlei Variationen 


70 A. Abhandlungen. 








vor: hoch differenziertes ästhetisches Gefühl bei moralischer Ver- 
kommenheit und umgekehrt, isolierte sittliche Defekte wie Mangel 
an Ehrgefühl (manchmal nur ganz bestimmten Beleidigungen gegen- 
über) oder an moralischem Mut oder an Taktgefühl u. s. w. Niemand 
macht von dieser psychologischen Erscheinung ein Aufhebens, ge- 
schweige denn, dafs er diese Tatsachen leugnete, und um so wunder- 
barer berührt es deshalb, wenn sogar von mancher wissenschaftlichen 
Seite bestritten wird, dafs auch größere Gruppen ethischer Gefühle 
infolge abnormer geistiger Organisation fehlen können. Es geht nicht 
an, diese Verkümmerung einzig und allein mangelhafter Erziehung 
in die Schuhe zu schieben. Die einfache Beobachtung, dafs wir alle, 
auch trotz bester äufserer Einflüsse und ehrlicher Selbstzucht, gewisse 
Temperamentsfebler und Mängel haben, sollte doch darüber belehren, 
dafs es sich um angeborene Eigenheiten handelt, die mit unserm 
seelischen Leben ebenso verwachsen sind wie die Atmung oder Ver- 
dauung mit unserm körperlichen. 

Nach diesen Vorbemerkungen gehe ich nun zur eigentlichen 
Schilderung der abnormen Kindesnaturen über. Die Kürze 
der Zeit verlangt, dafs ich mich mit wenigen Typen begnüge. 

Ein normales Kind soll sich weder zu langsam noch zu rasch 
entwickeln, d. h. an Verstand, Gemüt und Willen das besitzen, was 
auf der Leiter menschlicher Entwicklung die Sprosse des Kindesalters 
von ihm verlangt. Es soll, mit einem Worte, kindlich sein. Gleicht 
es an Wissen und Wollen dem Erwachsenen, so wird die überreife 
Frucht bald faulen. Frühreife, falls nicht anerzogen oder durch 
ernste Lebenserfahrungen erworben, trägt immer den Keim des Un- 
gesunden in sich. Wunderkimder halten im Alter selten, was sie in 
der Jugend versprochen. Verdorben — gestorben steht auf manchem 
ihrer Grabsteine. Wohl ihnen, wenn sie sich in späteren Lebens- 
jahren wenigstens auf der goldenen Alittelstralse halten! Die Zahl 
derer, die wie Goxtu® oder Mozart Wunderkinder waren und W under- 
männer wurden, ist nicht grofs. 

Schon das gesunde Kind besitzt eine lebhaftere Reizempfäng- 
lichkeit als der Erwachsene. Aber die Nervenerregbarkeit kann 
die Grenze des Normalen überschreiten, das Kind ist »nervös«. Ein 
Nadelstich oder ein unbedeutender chirurgischer Eingriff (Impfen), 
eine unangenehme Nachricht oder ein häfslicher Anblick ruft hier 
nicht nur Tränen und Wehegeschrei, sondern selbst Muskelzuckungen, 
Krämpfe und wildes Umsichschlagen hervor. Weniger Bedenkliches hat 
das andere Extrem, die wilde Ausgelassenheit bei gehobener Stim- 
mung, denn das kindliche Wesen ist von Natur heiter und lebhaft. 





ScHoLz: Abnorme Kindesnaturen. 71 





Wie die Eindrucksfähigkeit, so ist beim normalen Kind auch die 
Phantasie, d. h. das Vermögen, neue Vorstellungen ohne Mitwirkung 
der Sinne zu bilden, reich entwickelt und kann das Scelenleben bis- 
weilen förmlich überwuchern. Überstarke Reizempfänglichkeit und 
Phantasie offenbart sich dann in recht verschiedenen Zuständen, je 
nachdem die kindliche Grundstimmung gedrückt und scheu oder 
selbstbewufst und tatkräftig ist. In ersterem Fall haben wir die 
traurigen und ängstlichen Kinder. Die Angst tritt hier auf, auch 
ohne dafs sie äufserlich motiviert wäre. Hierher gehört z. B. die 
Furcht vor dem Alleinsein, vor der Dunkelheit, die Angst vor dem 
Kommenden, Ungewissen, die Angst vor der Angst. Zweifellos können 
diese Zustände auch künstlich erzeugt oder genährt werden durch 
eine unvernünftige Erziehung, die sich in Bangemachen und Er- 
zählungen von Gruselgeschichten gefällt. Aber immerhin trägt das 
ungewöhnlich häufige und heftige Auftreten solcher Angstanfälle, 
namentlich auch des Nachts in Gestalt von schreckhaften Träumen, 
den Charakter des Abnormen an sich. 

Bei schwer veranlagten, weichgestimmten Kindern entwickelt sich 
öfters ein gewisses träumerisch-sentimentales Wesen, das sich 
in einem unklaren Sehnen und energielosen Schwärmen nach un- 
bekannten Zielen kundgibt. In der Zeit der Reifeentwicklung pflegt 
sich auch bei Normalen eine ähnliche weltschmerzliche Stimmung 
herauszubilden, die aber bald wieder gesundem Empfinden Platz 
macht. Was die Kinder wollen, wissen sie eigentlich selbst nicht. 
Sie fühlen sich unverstanden, verkannt, gekränkt und träumen von 
besseren Welten. Solche Regungen sind nicht ganz unbedenklich. 
Sie können zum Selbstmord Veranlassung geben, oft nach ganz 
geringfügigen Vorkommnissen. Einem Kinde wird ein Wunsch ver- 
sagt oder eine leichte Bestrafung zuteil, — »wenn ich erst mal tot 
bin«, so reflektiert der kleine Bursch, »dann werden meine Eltern 
ihr Unrecht einsehen«, und nun spinnt er mit wollüstigem Behagen 
den Gedanken weiter aus, wie die Eltern angstvoll nach ihrem Kinde 
suchen. wie sie zur Polizei schicken, wie die kleine Leiche gefunden 
wird und Vater und Mutter weinend um Verzeihung flehen, nun 
wo es zu spät ist u. s. w. Jeder Mensch ist gern gekränkt, auch 
für das Kind hat die Rolle des Märtyrers etwas Anziehendes und der 
Tod schreckt es nicht wie den Erwachsenen, weil ihm seine Be- 
deutung unklarer zum Bewulstsein kommt. 

Auch in Fällen mit weniger tragischem Ausgang ziehen sich die 
Kinder in die Einsamkeit zurück, meiden den Umgang mit den Spicl- 
gefährten und werden menschenscheu. Einige Verwandtschaft zeigt 


72 A. Abhandlungen. 


der Typus der krankhaften Gewissensmenschen, die über Zweifeln 
und Selbstquälereien nie zu wahrer Lebensfreude gelangen, immer 
fürchten, ihre Pflicht nicht genügend getan zu haben, die von einem 
Bedenken ins andere verfallen, alles peinlich erwägen und überlegen 
und nur für des Lebens Mühsale Empfänglichkeit besitzen. Solche 
Kinder sind in höchstem Grade bedauernswert. Denn von ihren 
Schulkameraden werden sie als Kopfhänger verlacht und verachtet 
und von den Lehrern wohl ihres Eifers wegen gelobt, nicht aber, 
wie es sein sollte, bemitleidet und auf andere Bahnen gelenkt. 
Neben diesen Kindern mit ängstlicher und depressiver Gemüts- 
stimmung trifft man solche, bei denen mehr das Reizbare, Ver- 
bitterte in den Vordergrund tritt. Es ergibt sich dann eine höchst 
seltsame Mischung kontrastierender Eigenschaften: die Kinder sind 
selbstsüchtig, empfindlich, anspruchsvoll, eigensinnig und recht- 
haberisch und doch wieder leicht verzagt, ängstlich, zerknirscht und 
selbstquälerisch. Immerhin pflegt die reizbare Stimmung die Ober- 
hand zu behalten und macht diese Naturen im Umgang ganz un- 
leidlich, besonders dann, wenn, wie so häufig, sich ein Zug des Mifs- 
trauens hinzugesellt, so dafs sich geradezu Ideen der Beeinträchtigung 
wie bei Geisteskranken entwickeln. Bisweilen treten auch leiden- 
schaftliche Erregungszustände und sinnlose Wutausbrüche mit nach- 
folgender tiefer Erschöpfung auf. Die Kinder werden im gewöhn- 
lichen Leben kurzweg launenhaft gescholten und mit diesem be- 
quemen Schlagwort gibt man sich zufrieden. Aber das Abnorme tut 
sich hier vor allem darin kund, dafs die Stimmungsschwankungen 
von innen heraus, ohne oder wenigstens ohne genügenden äufseren 
Anlafs geboren werden, ferner darin, dafs die Erregungs- und 
Depressionszustände bisweilen in deutlichem periodischem Wechsel 
eintreten und dafs der »Launenhaftes sich trotz aller Willensan- 
strengung nicht zusammennchmen kann. Versucht er es, so be- 
kommt sein Wesen etwas Unnatürliches und Gezwungenes. Nicht 
er hat den Willen, sondern der Wille hat ihn. Von ihm gilt das 
Wort des bekannten Seelenarztes FEUCHTERSLEBEX: »Stimmungen nicht 
zu haben, ist nicht in unsere Gewalt gegeben.« Zu der im Kindes- 
alter keineswegs seltenen Hysterie führen unmerkliche Übergänge. 
Reges Spiel der Einbildungskraft läfst die Kinder nicht selten 
als Lügner erscheinen. Die Phantasie tritt mit soleher Plastizität 
auf, dafs das Kind ihre Gebilde mit der Wirklichkeit verwechselt. 
Wo die Auffassung des Gesehenen oder Gehörten mangelhaft war 
und die Erinnerung im Stich läfst, werden die Gedächtnislücken un- 
willkürlich dureh Vorstellungskombinationen ausgefüllt. Auch prägt 











ScHnoLz: Abnorme Kindesnaturen. 


mm uaaa aaa nn mem m mn nn 


sich Selbstgedachtes mitunter in so scharf umrissenen Bildern aus, 
dafs das Kind nicht mehr zwischen Wahrheit und Dichtung unter- 
scheiden kann. Überdies spielt die dem jugendlichen Alter eigene 
Lust am Fabulieren mit hinein. Geschickte Lügner glauben schliels- 
lich an ihre eigenen Erzählungen. GoTtrrısp Kerer hat in seinem 
»Grünen Heinrich« ein solches klassisches Beispiel kindlicher »patho- 
logischer Lüge« geschildert. Mitunter spinnen sich die Kinder ganze 
Romane aus: sie seien nicht die echten Sprößlinge ihrer Eltern, sondern 
von hoher Abkunft, Prinzen oder Prinzessinnen, in frühester Kindheit 
von Räubern entführt, aber die Zeit der Entdeckung werde schon 
kommen u. s. w. Es ist interessant, dafs sich der Gedankengang 
mancher Geisteskranker, zumal jugendlicher, gern in solchen Sphären 
bewegt. Der Irrenarzt nennt diese Krankheitsformen originäre Ver- 
rücktheit. Entschlossene Naturen treibt der Hang zur Romantik 
hinaus in die Welt. Sie wollen Abenteuer und Gefahren suchen 
und der schnöden Alltagswelt mitsamt der verhafsten Schule Lebe- 
wohl sagen. Hin und wieder lesen wir in den Zeitungen von diesen 
kleinen Helden, die Indianer oder Räuber werden oder den Buren 
zu Hilfe eilen wollen, des Vaters Kasse angreifen und aus dem Eltern- 
hause verschwinden, um bald darauf von der nüchterner denkenden 
Polizei in irgend einem Hafenorte aufgegriffen zu werden. 

Übergrofse Erregbarkeit bringt die von allen Lehrem so gc- 
fürchtete Zerstreutheit und Zerfahrenheit mit sich. Alle Kinder 
sind leicht ablenkbar und ihre Gedanken bleiben nicht bei der Stange. 
Das ist durchaus normal. Aber die Sprunghaftigkeit kann so lebhaft 
werden, dafs sich der Gedankengang förmlich überstürzt und — im 
Verein mit körperlicher Unruhe und Beweglichkeit an das «dem 
Irrenarzt als Manie bekannte Bild erinnert.  "Temperamentvolle 
Naturen zeichnen sich auch durch rasche und heftige Gefühls- 
schwankungen aus: sie entflammen und erkalten rasch, über- 
schwängliche Zärtlichkeit wechselt mit jähem Hals, Begeisterung mit 
Verachtung, Lerneifer mit Faulheit. Das Gemütsleben entbehrt der 
Nachhaltigkeit, es wird exzentrisch und widerspruchsvoll. 

Im Gegensatz zu der abnormen leichten steht die abnorm 
schwere Erregbarkeit. Die gleichgültigen, stumpfen, indolenten 
Naturen gehören hierher. Das gesunde Kind ist heiter und lebendig, 
Indolenz daher verdächtig. Selbstverständlich steht die Gleichgültige- 
keit durchaus nicht immer auf krankhaftem Boden, mangelndes 
Interesse an der Schule, auf gut Deutsch Faulheit, ist sogar nichts 
weniger als abnorm. Wichtig aber erscheint das Verhalten eines 
Kindes in den Stunden, wo es über seine Zeit frei verfügen kann. 





TA B. Mitteilung. n. 


nmi a l M a 


ganz besonders beim Spielen. Es ist eine alte Erfahrung, dafs sich 
der Charakter der Kinder beim Spiel offenbart. Ähnlich geht es bei 
den Erwachsenen: womit und wie sie sich in Ihren Mulfsestunden 
beschäftigen, das kennzeichnet sie fast unfehlbar. Gesunde Kinder 
besitzen einen lebhaften Spieltricb, denn das Spiel ist im Grunde 
nichts weiter als die m "Tätigkeit versetzte Phantasie. Mangel an 
diesem Triebe darf man ohne weiteres als Abnormität bezeichnen. 
Oft kündigt er den Ausbruch einer schweren körperlichen oder 
geistigen Krankheit an. (Schluls folgt.) 


B. Mitteilungen. 


1. Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. 
Von Adolf Rude in Nakcel a. d. Netze. 
(Fortsetzung.) 


1!/, Monate; Sprachliches. Wortfolge: Komm mit ich, Mama. — 
L. sucht mit mir zu schäkern: Ich heifs’ Olga (nicht wahr). Heils’ ich 
Oiga. Olga heifs’ ich. Ich heifs’ ich Olga. Ich heifs’ Nucie Olga. — 
Sie hat von anderen Kindern die Betonung: Mäma gehört, ist aber darauf 
aufmerksam gemacht worden, dafs das falsch ist. Trotzdem spricht sie oft 
so, verbessert sich aber dann. — L. hat für einige Zeit besondere Lieblings- 
ausdrücke, so jetzt: »Komm bald wieder.« Meistens wendet sie diese 
Ausdrücke bei passender Gelegenheit an, manchmal aber auch ohne ge- 
gebene Veranlassung, — »Da is er!« sagt sie auch bei feminina und 
neutra. 

Erweist sich praktisch. Sie nimmt die Schuhe aus dem Schränk- 
chen. Da auf denselben andere liegen, hält sie diese mit der einen Hand 
fest {einmal mit der rechten, ein andermal mit der linken), während sie 
das gewünschte Paar mit der anderen hervorholt. Von den Schranktüren 
schlielst sie immer richtig die mit der Deckleiste zuletzt. 

2 Monate: Zur Zeitauffassung. Für »später« sagt sie »morgen« 
(ihre jüngeren Geschwister ebenso). 

Apperzeption. In einer illustrierten Zeitschrift sieht sie einen 
Koch in der kaiserlichen Küche abgebildet. Sofort zeigt sie darauf und 
sagt: »Onkel Herbart.« Beide waren bartlos. Der Koch ist weils ge- 
kleidet; Herbarts Büste ist auch weils. Von Herbart hat sie übrigens nie 
ein Bild, sondern nur die Büste gesehen. Bild und Büste erzeugen aber 
die Vorstellung eines Menschen. 

Reproduktion. Wenn der kleine Erwin mit den Fingern spielt, 
dann sagt L.: »Erwin macht Siek« (Musik). — Wenn sie sich setzen will, 
sagt sie: »Sitzen bleiben.« Sie versteht wohl »sitzen«, aber nicht »bleiben«. 
— Sie versucht, alles, was sie hört, nachzusprechen. — Wenn sie getadelt 


Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. 75 








wird, sagt sie: »Lucie artige Tochter« oder: »Lucie schönes Kind« Sie 
meint, sie wolle artig sein. Artig und schön sind für sie identische 
Begriffe. 

3 Monate: Phantasiethätigkeit. L. thut, als ergreife sie eine 
(in Wirklichkeit nicht vorhandene) Katze, hält darauf dis Arme so, als 
hielte sie die Katze darin, und sagt: »Hab’ ich Kila« (Katze). — Sie 
nimmt einen Stuhl, stellt ein Buch wie Noten aufrecht und bewegt dann 
die Finger wie auf Tasten, wobei sie auf die angeblichen Noten sieht. — 

Handeln, das aus Phantasievorstellungen entspringt. An 
der Thür des Bratofens befindet sich ein Hebel, der zum Öffnen und 
Schlie[sen dient. L. stellt ein Töpfchen darunter, bewegt den Hebel hin 
und her und sagt: »Wasser pumpe!« — L. bittet: »Mama, Schiche (Geschichte) 
erzähle!« Wenn die Mutter dann vom Rotkäppchen oder von Hänsel und 
Grethel erzählt, dann sitzt sie ganz ruhig und hört zu. — Sie beantwortet 
einige Fragen folgendermalsen (die beiden ersten richtig, die letzte un- 
richtig): Wie heifst du? »Lucie Rude.« Wo wohnst du? »In Schulitz.« Wie 
alt bist du? »Neun Jahr.« — Ein anderes Kind hat sie besucht und will 
später weggehen. Da hält L. die Tür zu und sagt: »Hier bleibe! Draufse 
dunkel!« Es ist aber gar nicht dunkel. So verleitet sie ein Wunsch, ein 
Behinderungsmotiv zu erfinden. Dafs sie die Unwahrheit sagt, ist ihr wohl 
nicht recht bewufst. Auf einer tiefen sittlichen Entwickelungsstufe heiligt 
überhaupt der Zweck die Mittel. 

31/, Monate: Identifizierende Apperzeption. L. sieht zum 
erstenmal ein Bild Herbarts und erkennt ihn sofort (nach der Büste). 

Ein Eingreifen in ihre vermeintlichen Rechte vermerkt sie 
übel. Sie hat von der Mutter ein ganz kurzes Weihnachtsgedicht gelernt, 
das sie nun als ausschlielslich ihr gehörig betrachtet. Als ich es spreche, 
wird sie ärgerlich. — Auch sicht sie cs als ihr Privilegium an, mich zu 
Tische zu rufen. Wenn mich ein anderer ruft, ist sie ungehalten. (Das 
habe ich später auch an ihren jüngeren Geschwistern beobachtet.) 

Sprachliches. Sılbenvertauschung: Statt Pantoffel sagt sie: Toffel- 
pan. — Wortfolge: 1. Ich schlaf mit Puppen. 2, Schlaf ich mit Puppen. 
3. Mit Puppen schlaf ich. — Das Märchen vom Rotkäppchen erzählt sie 
folgendermalsen: »Sind Blumen. Rotkäppchen pflückt. Korb ist Kuche, 
Fleisch, Wein. Korb hintragen. Kann Wolf kommen. Kommt der Wolf. 
Wolf lauft Grofsmutter. Wolf kommt in Stube. Wolf hauen. Dann ist 
er tof.« — Das Märchen von Frau Holle will sie nicht erzählen, da es 
ihr zu schwer ist. Sie sagt: »Ich kann nicht.« 

Verwechselung von Begriffen. Eine bittere Nuls speit sie aus 
und sagt: »Madig.« Sie hat madiges Obst und auch bittere Sachen nicht 
gegessen; madig und bitter gilt ihr als ungenielsbar. — L. hat ein Stück 
Wurst. Die Grofsmutter tut, als ob sie gern etwas davon haben wolle. 
L. mag aber nichts abgeben und sagt: »Wurst ist hart.« 

4 Monate: Ein psychischer Begriff vom Menschen hat sich heraus- 
gebildet. Sie zeigt einen solchen auf einem Bilde und sagt: »Mensch.« 
Ihr jetziges Lieblingswort ist: »Na, so ’was!« 

Verwechselung infolge ähnlichen Klanges. Statt »Tablette« 





76 B. Mitteilungen. 


sagt sie »Ballett«. Natürlich hat sie keine Ahnung von der Bedeutung 
des letzteren. — Sie schreibt auf der Tafel Auf- und Abstriche in Ver- 
bindung. 


5 Monate: L. schlägt ihrer Puppe beim Spielen die Augen in den 
Kopf hinein und fürchtet sich nun sehr vor ihr. Sie sagt: »Puppe hat 
keine Augen. Ich hab’ Angst.< Sie will sie gar nicht mehr sehen und 
anfassen (ähnlich ihr Bruder in demselben Alter). Das Auge verleiht dem 
Gesichte den lebensvollen Ausdruck. Durch sein Fehlen gewinnt das Ge- 
sicht ein unheimliches Ausschen. —- Ein Knabe, Namens Heske, sieht sie 
an und verzieht im Scherze das Gesicht. Da fürchtet sie sich und sagt: 
»Hefte macht dummes Zeug. So 'was ist dummes Zeug. Ich bring’ 
gleich Stock. Abscheulich'« 

Richtiger Schluls. L. hat Hunger und verlangt Semmel. Sie 
erhält zur Antwort: »Minna (das Dienstmädchen) soll erst Semmeln holen.« 
Während später L. im Zimmer ist, hört sie, dafs die Tür vom Flur nach 
der Küche geöffnet wird. Sie schliefst sofort richtig: »Minna hat Sem- 
meln gebrachi.« 

Der Geschmackssinn beeinflulst das Urteil. Die Mutter hat 
ihr gesagt, wenn sie zu viel esse, dann bekomme sie Magenschmerzen, 
der Magen tue weh. Das hat sich L. gemerkt. Wenn ihr jetzt etwas 
nicht schmeckt, dann sagt sie: »Ich will nicht mehr haben; ich bekomm’ 
Magel!« Wenn sie dagegen Chokolade oder etwas anderes bekommt, was 
ihr gut schmeckt, dann sagt sie: »Davon bekomm’ ich nicht Magel!« — 
Essen und trinken unterscheidet sie noch nicht in allen Fällen. So sagt 


sie: »Bier essen.« — Vor dem Stocke hat sie grolse Angst, obgleich sie 
damit noch nie Prügel damit bekommen hat. Eine Drohung mit dem 
Stocke fruchtet stets, wenn sie unartig ist. — Sie ruft mich; da ich nicht 


darauf achte, sagt sie: »Papa, bist du taub?« Was taub bedentet, versteht 
sie aber wohl noch nicht. Sie hat diese zurechtweisende Frage gehött, 
als sie nicht aufmerkte. 

Falsch subsumierende Apperzeption. Jede Art von Kompott 
nennt sie »Gulken« (Gurken). — Ihr jetziges Lieblingswort ist: »Ich denk’« 
(ich glaube, meine). 

6 Monate: Notapperzeption. Bei der Überschwemmung des Schu- 
litzer Weichseltales sieht L. am Rande des Hochwassers Kähne. Sie sagt 
zur Mutter: »Mama, Badewanne. Mama, baden! 

Gewohnheit erzeugt Ordnungssinn. Ich gebe L. ein Bilder- 
buch in die Hand, doch so, dals nicht der Deckel, sondern ein Blatt nach 
aufsen gekehrt ist. L. bringt das Buch gleich in Ordnung und sagt: 
»Das ist nicht so, Papa; das ist so!« -— Ich kaufe mir ein Paar Hand- 
schuhe, und L. kombiniert: »Sonntag tragen!« 

Identifizierende Apperzeption. L. ist im Zimmer, hört aber 
im Hausflur das Kind einer nebenan wohnenden Familie weinen. Sie er- 
kennt des Kindes Stimme und sagt: »Richard weint.« 

Fruchtlose Suggestion. L. lälst sich eine sichere Geschmacks- 
empfindung nicht ansreden. Sie ifst Früchte, Kompott u. dergl. sehr gern. 








Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. rar 








Die Mutter sagt: »Fleisch schmeckt besser als Pflaumen.« L. bleibt aber. 
trotz der Suggestion dabei: »Pflaumen schmecken besser.« 

Notapperzeption. Sie hört von Erwachsenen das Wort »himmel- 
angst«e. Sie wiederholt »Klingel Angst. Wenn nämlich der Klingelzug 
gezogen wird, so dafs die Glocke ertönt, dann erschrickt L. jedesmal und 
fängt oft laut an zu weinen. 

Vorstellung des Teilens. Sie möchte meine beiden Manschetten- 
knöpfe haben. Auf meinen Hinweis, dafs ich sie selbst gebrauche, macht 
L. mir den Vorschlag zu teilen: »Mir einen, Papa einen! 

Phantasiethätigkeit. Ihre Puppe nennt sie ihr Kind. Ein ander- 
mal meint sie: »Die Puppe hat Hochzeit.« 

Schauspielern und Phantasieren. Denkt sich weg. L. bedeckt 
ihr Gesicht mit einem Tuche und fragt: »Papa, wo ist die Lucie? Ich bin 
nicht hier. Ich bin in Anenau« (Argenan). Dann nimmt sie das Tuch 
weg und sagt: »Jetzt bin ich wieder da. 

Die Phantasie belebt leblose Gegenstände. L. zerreifst Apfel- 
sinenschalen und legt die Stückchen in eine (gebogene) Reihe. Dann sagt 
sie: »Das sind Leute. Eine Leute, zwei Leute, elf Leute.« 

Sprachliches. Statt »Knopf« sagt sie: »Zopf«e. — Den Familien- 
namen »Knitter« spricht sie »Schitter«, zuweilen auch »Kitter« aus. Die 
kKonsonantenverbindung »kn« kann sie überhaupt nicht aussprechen. — 
Die Diphthonge verwechselt sie nicht selten, z. B. »Mag der Papa leifen« 
(laufen)! — Verwechselung von Präpositionen: Statt »in, auf, über« sagt 
sie oft: »bei«e, z. B. »Papa geht bei Schule« (in die Schule). Ein ander- 
mal sagt sie dagegen: »Auf Grolsmama fahren!« 

7 Monate: Notapperzeption. Sie sagt: »In der Rosine ist ein 
Knochen« (Kern). 

Phantasietätigkeit. Sie klebt] Papierstückchen an die Fenster- 
scheibe und sagt: »Das sind Vögel.« 

Sprachliches. Sie liebt es, Abbreviaturen zu bilden. Statt Mama 
sagt sie: Ma, statt Papa: Pa. 

9 Monate: Reproduktion. L. hat vor drei Wochen bei der Grofs- 
mama Spinat gegessen. Als er später zu Hause auf den Tisch kommt, 
erinnert sie sofort daran. 

Apperzeption. Auf einer Wiese harkt cin Mann Gras zusammen. 
L. sieht zu und sagt: »Der Mann fegt die Blumen aus.« | 

Beobachtung. Am Abende sagt sie: »Der Mond nimmt die Sonne 
weg«, am Morgen: »Die Sonne nimmt den Mond weg.« 

Sinnestäuschung. L. läuft mir im Freien entgegen; dabei blickt 
sie auf den Mond und sagt: »Der Mond kommt mit zum Tapa.« 

Einwand. Auf dem gegenüber dem unserigen liegenden Hause ist 
die Figur eines Löwen angebracht. L. möchte vor uie Tür gehen. Ich 
sage: »Nein, es regnet!« Da wendet sie ein: ‚Der Löwe ist aber auch 
draulsen !« 

Belebung lebloser Gegenstände durch die Phantasie L. 
nimmt einen Blumenstraufs in den Arm und sagt: »Llier hab’ ich Tochter. 
Alle Tochterns. Ich hops’ (hüpfe) mit Tochterns. Jetzt leg’ ich sie hin.« 


78 B. Mitteilungen. 


Gedächtnis. Wir waren spazieren. Sie weils, welche Stralse sie 
gehen muls, um nach Hause zu kommen. An der Stralsenecke sagt sie: 
»Da in dem roten Haus wohnen wir.« 

Gewohnheit. Ich habe in dem untersten Fache eines Bücher- 
spindes die Bücher, die sonst aufrecht standen, hingelegt. L. sagt: »Das 
ist nicht gut. So sollen sie nicht sein!« Sie stellt sie aufrecht hin. — 
Sie verwechselt die Bezeichnung der blanen und der weilsen Farbe. 

Gemütsäuflserungen. L. freut sich immer sehr, wenn sie spazieren 
gehen kann. Gegen ihr Brüderchen, das zwei Jahre jünger ist, ist sie 
sehr zärtlich. Sie sagt oft kosend: »Mein Brüderchen.«c Wenn sie auf 
Spaziergängen Blumen findet, fragt sie meistens: »Soll ich sie Erwin mit- 
nehmen? — Ich drohe ihr einmal Strafe an. Da meint sie: »Dann sag’ 
ich’s Erwin nach.« 

Freude an Körperbewegungen. Ich spiele mit L. turnen, was 
ihr viel Vergnügen macht. Sic lernt sehr leicht Freiübungen nach dem 
Kommando ausführen, z. B. Hüften fest! Kniee beugt, streckt! Kopf vor- 
wärts beugt, streckt! Rückwärts beugt, streckt! Kopf rechtsseitwärts beugt, 
streckt! Linksseitwärts beugt, streckt! Kopf rechts dreht, vorwärts dreht! 
Hüften los! Rührt euch! 

Vorsatz. L. sagt sehr oft: »Wenn ich grols sein werd’, dann geh’ 
ich in die Schule. Da schreiben die Kinder und lesen und singen und 
sehen Bilder an.« 

10 Monate: Phantasicetätigkeit. Scherben nennt sie Geld und 
will dafür einkaufen. Sand ist ihr Salz, Reis u. s. w. — Sie ist am 
liebsten im Freien und spielt mit Sand und Steinchen. 

Mittel zum Zweck. I. ist mit der Mama in meinem Arbeits- 
zimmer, das eine Treppe höher liegt als die übrigen Wohnräume. Ich 
arbeite. Da L. sehr laut ist, sagt die Mama zu ihr: »Papa sagt, wenn 
du unartig bist, mulst du nach unten gehen.« Sie ist darauf ruhig. Nach 
einiger Zeit sagt sie aber: »Mama, jetzt bin ich unartig; jetzt will ich 
nach unten gehen.«e — Die Mutter gibt L. ein Geldstück. Dafür soll sie 
aus einem nahen Kaufladen etwas einkaufen. Sie trifft aber unterweg- 
einen Bettler und schenkt ihm die Münze. Wenn sonst Bettler ins Haus 
gekommen sind, dann hat sie ihnen öfters das von den Eltern gespendets 
Geldstück gereicht. Obiger Fall ist also wohl mehr die Folge einer Re- 
produktion als ciner Gemütsäufserung. (Schlufs folgt.) 


2. Zur Sprachentwicklung. 


Schon die Jlüchtigste Beobachtung des Säuglings läfst erkennen, dafs 
nach Ablauf des ersten Lebensvierteljahres die Intelligenz des Kindes sich 
regt und Verständnis für die Umgebung beginnt. Nicht allein das cha- 
rakteristische Beobachten der Augen des Pflegers, auch das der Mund- 
bewegungen desselben ist deutlich zu erkennen, und überraschend bald 
zeigt sich, daľs das Kind auch die öfter genannten Personen, Gegenstände 
und Verrichtungen erkennt, verlangtes versteht und nicht allein Unbehagen 








= 


Zur Sprachentwicklung. 7 


sondern auch Freude durch unartikulierte Laute zu erkennen gibt. Dies 
sind die Vorläufer und -ersten Anfänge des spätern Sprechens. Wenn 
letzteres selbst nun so beginnt, dafs das Kind versucht, die oft genannten 
Gegenstände durch Wortversuche zu bezeichnen, so ist als der dem nächste 
Fortschritt das Zusammenstellen der Worte, zunächst Hauptwort und 
Verbum im Infinitiv, zu betrachten, was ja leicht begreiflich ist. Schwerer 
aber ist zu ergründen, wie das Kind in meist so sehr überraschender 
Weise zur Verwendung von Phrasen gelangt ist, deren Herkunft nicht 
nachweisbar ist; und dazu noch sogar werden diese Phrasen, man möchte 
behaupten, immer, an richtiger Stelle und in richtigem Sinne verwendet. 
Vermittler kaun ja doch selbstredend nur das Gehör gewesen sein, und 
sicher oft zu solchen Zeiten und so durchaus beiläufig, dals garnicht an- 
zunehmen ist, dafs das Kind zur Zeit der Aufnahme solcher Sätze be- 
sonders gespannt aufmerksam gewesen sein sollte. Es hat also der flüch- 
tigste Eindruck auf das junge Gehirn genügt, ihm dieselben so fest ein- 
zuprägen, selbst wo nur ein einmaliges Hören angenommen werden kann, 
dafs er später, man möchte meinen, automatisch, wieder gegeben wird. Es 
ist ja eine charakteristische Tatsache für das junge Gehirn, dals alle, selbst 
die geringsten Eindrücke, leicht sich festsetzen und bis ins Alter sich 
dauernd erhalten, im Gegensatz zum alternden Gehirn, wo diese Eindrücke 
oft so oberflächlich und wenig dauerhaft sind, dals selbst ein Erinnern 
von fremder Seite sie nicht wieder zu wecken vermag. 

Einschalten möchte ich hier in Rücksicht auf die Sprachentwicklung 
die eigentümlich merkwürdige Tatsache, dafs das Kind, sobald es sich 
über die einfache Anwendung des Infinitivs fortgesetzt hat, mit über- 
raschender Genauigkeit das Verbum flektiert, und selbst da, wo es dem 
Sprachgebrauch entgegen falsche Formen anwendet, sie doch dem Paradigma 
entsprechend, richtig bildet, wie etwa »geganken« statt »gegangen« Doch 
dies nur beiläufig! Ich komme wieder auf den Gehöreindruck zurück. 
Hierfür möchte ich die vortrefflich sich bewährende Methode der Berlitz 
school of language in erster Linie anführen. Nach derselben wird der 
Schüler gezwungen, ohne ein Wort seiner Muttersprache zu hören oder zu 
gebrauchen, nur die fremde zu erlernende Sprache zu hören, und mit 
dem Material des gehörten sich zu behelfen, um sich auszudrücken. Der 
Erfolg ist glänzend und die Methode wohl dem Umstande entnommen, 
dafs man eine fremde Sprache auffallend rasch durch den ausschliefslichen 
Gebrauch und besonders das ausschliefsliche Hören im fremden Lande er- 
lernt. Es ist eine Tatsache, die jeder an sich erfahren kann oder cr- 
fahren hat, dafs er das einmal in der fremden Sprache gehörte Wort fast 
immer sofort behält, während er dasselbe Wort zehnmal im Diktionär auf- 
schlagen kann und dennoch immer wieder vergilst; ebenso, wie niemand 
eine fremde Sprache sprechen lernen würde, dadurch, dafs er Jahre lang 
keine andere Lektüre als die in der fremden Sprache gehabt hätte; hört 
er sie aber sprechen, dann spricht er sie auch bald selbst. -— Ja, die 
Sache geht noch weiter: Man kann beispielsweise vor Jahren eine fremde 
Sprache geläufig gesprochen, sic aber im Laufe vieler Jahre so schr ver- 
gessen haben, dafs man nicht wehr imstande ist, die einfachsten Sätze 


80 B. Mitteilungen. 





oder Gedanken in derselben wiederzugeben, zum Teil schon, weil eine 
Anzahl von Worten und Ausdrücken verloren gegangen sind. Da ergibt 
sich plötzlich die Veranlassung oder Gelegenheit, sich in dieser vergessenen 
Sprache ausdrücken zu müssen, und in kaum einer Stunde tauchen die 
Erinnerungen wieder auf, nicht etwa allein durch das von der andern 
Seite gehörte, sondern die Lücken füllen sich sofort auch da wieder, wo 
keine Erinnerung an diese Lücken durch die Konversation gegeben worden 
ist. — Kann es ja doch vorkommen, dals uns in der eignen Mutter- 
sprache plötzlich ein Wort durch den Kopf schielst, scheinbar sogar ohne 
äulsere Veranlassung, wo man sich sagt: dies Wort hast du wohl seit 
+0 Jahren nicht gebrancht oder auch nur gehört. 

Vielleicht, aber eben auch nur vielleicht verwandt hiermit dürfte die 
Erscheinung sein, dals ein entfallenes Wort, dessen man sich durch keine 
mnemotechnischen Kunststücke wieder erinnern kann, uns plötzlich, wie 
vom Himmel gefallen, wieder einfällt, da, wo nicht der geringste Um- 
stand nachweisbar ist, der einem Erinnern gleich geachtet werden 
könnte. 

Eine andere Erscheinung aber, die ich auf die unwillkürliche An- 
regung alter Eindrücke auf das Gehirn zurückführen möchte, ist das 
auch beim geistig gesundesten Menschen, man kann wohl sagen, bei allen 
Menschen ab und zu einmal vorkommende Hören eines ganzen Satzes, 
auch mit einer nicht zu verkennenden bestimmten und bekannten Stimme; 
eine Erscheinung, die durchaus nicht etwa mit Hallucinationen Geistes- 
kranker zu verwechseln ist. 

Aus alle dem Vorstehenden möchte ich den Schluls ziehen, dafs die 
Sprache sich durch das Gehör einprägt hauptsächlich in der Weise, dafs 
das Gehirn vergleichsweise etwa — sit venia verbo! — die Rolle einer 
pbonographischen Walze spielt, indem es, dieser ähnlich, die Eindrücke 
in sich so aufnimmt, dafs sie durch irgend einen bis jetzt noch nicht zu 
definierenden Einfluls zum Klingen gebracht werden. 

Es dürfte sich verlohnen, einem solchen Gedanken weiter nachzu- 
gehen, um zu schen, welche greifbaren Resultate etwa dadurch zu er- 
langen wären. 


Berlin. Dr. Wolfert. 


3. »Neue Methode.« 


In Band IH Nr. 5 der Association Review, die den deutschen Taub- 
stummenanstalten recht warm empfohlen werden kann, ist ein Aufsatz 
von W. Wade, Oakmont, Pa. unter der Überschrift »Revolutionary 
Methods«, der zeigt, dals man auch jenseits des Ozeans eine allein selig- 
nachende Methode nicht anerkennen will. »Methoden nehmen immer 
eine untergeordnete Stelle beim Unterrichte ein; der beste Lehrer 
macht sich selbst seine Methode. 

Als die hervorragende Geistes- und Sprachbildung der taubblinden 
Helene Keller nicht mehr gelcugnet werden konnte, protestierte ihre 








Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 81 


Lehrerin Fräulein Sullivan bekanntlich ganz energisch dagegen, sie als 
ein Wunderkind zu bezeichnen und behauptete, dafs ein jedes taubblinde 
Kind auf eine gleiche Höhe geführt werden könne, wenn es nach der- 
selben Methode unterrichtet würde, wie H. K. Ein hervorragender Ver- 
treter unserer Sache in Amerika fügte aber hinzu: »Jawohl, wenn es ein 
Fräulein Sullivan zur Lehrerin hat.« Damit ist in gewisser Weise auch 
schon gesagt, dals an erste Stelle nicht die Methode, sondern der Lehrer 
zu stellen ist. Aber auch in anderer Weise muls der Ausspruch von 
Frl. Sullivan noch eingeschränkt werden. Sie sagt, jedes taubblinde 
Kind. Würde sie, statt Lehrerin eines Kindes Klassenlehrerin 
gewesen sein, so würde sie jenen Ausdruck sicher nicht gebraucht 
haben. 

In den amerikanischen Taubstummenanstalten wird jetzt schon eine 
Reihe von Taubblinden unterrichtet. Fräulein A. Lyon (Ohio Inst) sagt 
ausdrücklich, dals sie beim Unterrichte des taubblinden Leslie Oren den- 
selben Weg einschlage, den Frl. Suliivan mit Erfolg gegangen sei. 
Bei der bekannten Agitation ist wohl anzunehmen, dafs auch von andern 
Lehrerinnen, von Taubblinden unausgesprochen in gleicher oder ähnlicher 
Weise verfahren wird. Und doch findet sich in den vereinigten Staaten 
noch kein Taubblinder, der verspricht, aucn nur annähernd so weit ge- 
fordert werden zu können, wie H. K. ist. »Was tue ich mit einer 
Methode, die bei 99,9 °/, von Schülern nicht zum Ziele führt?« Übrigens 
wird in Wades Aufsatze die »Neuheit« von Frl. Sullivans »Methode« 
bezweifelt. 

Die Hochschätzung von Frl. Sullivans Leistungen als Lehrerin 
wird hierdurch nicht abgeschwächt. 


Emden. O. Danger. 


4. Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich 
gefährdeten Jugend. 
Ein Reisebericht von J. Chr. Hagen, Direktor des Schulheims zu Falstad bei Drontheim. 


(Fortsetzung.) 
Hamburg. 


Das Zwangserziehungsgesetz Ilamburgs trat den 1. Septbr. 1887 in 
Wirksamkeit. Die Untersuchung und Entscheidung, sofern gesetzmälsige 
Voraussetzungen für Zwangserziehung vorliegen, verweist es an eine rein 
bürgerliche Institution, an die Behörde für Zwangserziehung. Diese Kom- 
mission besteht aus neun Mitgliedern: zwei Repräsentanten für den Senat, 
einem für die höchste Autorität des Schulwesens, einem für die Armen- 
verwaltung nebst vier Mitgliedern von der Bürgerschaft Hamburgs ge- 
wählt. Die Kommission kann indessen nur über Zwangserziehung bc- 
Stimmen. wenn die Eltern damit cinverstanden sind. Im andern Falle 
hat das Vormundschaftsgericht zu bestimmen. 


Dio Kinderfehler. VIH. Jahrzanr. 0 


2 B. Mitteilungen. 





Nach $ 1 des Hamburgischen Zwangserziehungsgesetzes kann in 
3 Fällen die Zwangserziehung angewendet werden. 1. auf Kinder unter 
12 Jahren, 2. auf verurteilte Jugendliche, 3. auf Kinder unter 16 Jahren, 
welchen gegenüber die Erziehungsmittel der Schule und des Elternhanses, 
sie vor sittlichen Verderbungen zu bewahren, sich ungenügend erwiesen. 
In den beiden ersten Fällen ist aufser begangenem Verbrechen sittliche 
Verwahrlosung die Voraussetzung für Anstaltsüberweisung. 

$ 9 des Gesetzes bestimmt, dafs die Kommission wie oben erwähnt, 
beschlielst, ob das Kind in Anstalt oder Familie untergebracht werden soll. 
Als Anstalt wird dann beinahe ausschliefslich die 1884 errichtete Er- 
zichungs- und Verbessernngsanstalt Ohlsdorf angewendet. Fbenso kann 
die Kommission zu jeder Zeit das Kind aus der Anstalt herausnehmen 
und es in Familienpflege unterbringen und umgekehrt. Sie fungiert immer 
als gesetzlicher Vormund der untergebrachten Kinder. $ 11 des Gesetzes 
schreibt Regeln für die Entlassung aus der Anstalt vor. Diese findet 
für die Kategorie Nr. 1 beim erreichten 15. Jahr, für Nr. 2 und 3 beim 
18. statt. Doch können in besondern Fällen die Betreffenden auch 
früher entlassen werden, so wie der Aufenthalt in der Anstalt aufs 
20. Jahr erstreckt werden kann. $ 12 bestimmt, dafs die Kommision 
auch die Unterbringung von Kindern beschliefsen kann, die nach $ 56 
des Strafgesetzbuches verurteilt sind. Dies sind die wesentlichen Be- 
stimmungen im Damburgischen Gesetz über Zwangserziehung. 

Die Erziehungs- und Verbesserungsanstalt Ohlsdorf bietet 
äufserlich günstige Verhältnisse. Es liegt das Bestreben des Hamburger 
Freistaates vor, etwas Gutes bieten zu wollen und er hat es geboten. Der 
Raum versagt es uns, dies näher darzulegen, wie es in meinem in 
norwegischer Sprache gedruckten Bericht S. S—11 geschehen ist. 1) 

Besonderes Gewicht ward auf praktische körperliche Arbeit ge- 
lest. Man bezweckt damit 1. die Jungen zum Bewulstsein vom sittlichen 
Wert der Arbeit dadurch zu bringen, dafs sie zu anstrenrender Wirksam- 
keit gewöhnt wurden; 2. Hand und Geist zur Selbsthilfe zu entwickeln 
und 3. dals der Junge selbst zu den mit seiner Erziehung verbundenen 
Kosten etwas beitragen sollte. 


Die Arbeitszeit betrug für die noch schulpflichtigen Zöglinge 2 Stunden 
täglich, für die nicht schulpflichtigen 5 Stunden täglich. 

Die Arbeit bestand in 1. Landwirtschaft, 2. Gärtnerei, 3. Tischlerei, 
4. Schuhmacherei, 5. Schneiderei, 6. Sattlerei, 7. Buchbinderei, 8 Bürsten- 
binderei, 9. Korbflechten, 10. Küchenarbeit und verschiedenen andern vor- 
tallenden Arbeiten. 

Die Jungen waren in bestimmte Gruppen eingeteilt; die einzelne 
Gruppe ward immer mit derselben Arbeit beschäftigt. Dadurch wollte 
man Stätigkeit und Gründlichkeit fördern und daraus erfolgte auch, dafs 
es der Anstalt möglich wurde, die wesentlichen ihrer Bedürfnisse (Mo- 


') Beretning om en i 1899 med off. stip. foretaget rise til udenlandske an- 
stalter af J. Chr. Hagen. 





Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. g3 





bilien, Bekleidung, Einrichtung u. s. w.) insofern es auf handwerksmälsige 
Ausführung ankam, selbst zu bestreiten. Die kleinen und diejenigen, die 
sich am schlechtesten betrugen, wurden zu :Kartoffelschälen und dergl. 
gesetzt. Zeigte es sich, dafs ein Knabe in einer gewissen Zeit in dem 
betreffenden Fache nicht Genügendes zu leisten vermochte, so ward er zu 
einer andern Gruppe versetzt; solche Versetzung aber wurde in der Regel 
nur einmal gestattet. 

In der Arbeit wurde gefordert, dafs der Junge sich ernstlich an- 
strengen sollte; denn, wie der Direktor sich aussprach, das Leben gibt 
die Arbeit nicht als Spiel, sondern als Anstrengung; also sollen 
sie die Arbeit nicht als Spiel, sondern als wirkliche Anstrengung zu 
fühlen sich gewöhnen. 

In der Erziehungsarbeit der Anstalt betonte der Direktor vor allem 
den persönlichen Verkehr der Kinder mit dem Personal. Dies 
allein ermöglicht eine direkte persönliche Einwirkung auf das Kind. Ohne 
ein solches Verhalten sah man die Arbeit der Anstalt für ganz nutz- 
los an. Es ist eben die kundige verständnisvolile Behandlung des Kindes, 
die vor allem den in einem sittlich verkommenen Milieu herangewachsenen 
und vergifteten Kinderseelen als eine neue Atmosphäre dienen soll. 

Bei der Aufnahme wird jedem Kinde absolutes Schweigen hinsichtlich 
seines früheren Lebens und Treibens auferlegt und es wird streng be- 
straft, wenn dies Gebot nicht befolgt wird. 

Als Erstes wird angestrebt, die Gemüts- und Charakterbildung zu 
fördern. Nebst regelmälsiger Schul- und körperlicher Arbeit und einem 
unabweislichen Anspruch auf Ordnung, Sauberkeit, Fleils und Ehrlichkeit 
dienen zu diesem Zwecke auch planmälsig geordnete Zerstreuungen. Es 
werden Spaziergänge, Ausflüge und Festlichkeiten arrangiert; den älteren 
Knaben steht eine Kegelbahn offen. Die Anstalt hat auch eine Bibliothek 
von ca. 800 Bänden; Gesang und Musik werden mit Sorgfalt betrieben. 
Der Direktor erwies mir die Ehre, die Jungen eine Aufführung in Musik 
und Gesang geben zu lassen, wo in mustergültiger Weise mehrstimmiger 
Gesang (teils von Knaben allein, teils von Knaben und Mädchen) wie auch 
ÖOrchestralmusik mit Solos und ÖOrgelbegleitung vorgetragen wurde. Zu- 
folge der persönlichen Erfahrung, die ich da machte, bin ich noch mehr 
in der Überzeugung bestärkt worden, dals es gradzu ein Fehler bei 
unsern Erziehungs-Anstalten ist, dafs der Musik und dem Gesange nicht 
ein ganz anders hervortretender Platz zugeteilt wird, als es für gewöhn- 
lich der Fall ist. 

Im überaus geschmackvollen Andachtssaal (von den Knaben ein- 
gerichtet) ward an jedem Feiertage für die gesamten Anstaltsbewohner 
Gottesdienst gehalten. 

Wie angedeutet, wird die Forderung auf geziemendes Betragen, Ord- 
nung, Sauberkeit u. s. w. streng betont. Vernachlässigungen sind mit 
disziplinaren Strafen belegt. Als solche sind im speziellen Strafreglement 
aufgestellt: 1. Verweise, körperliche Strafe, Nachsitzen, 2. Verlust von 
Mahlzeit, 3. Isolation in einer Zelle. Nach dem Strafjournal zu schlielsen, 
kamen verhältnismälsig selten gröbere Übertretungen vor. 

6” 


S4 B. Mitteilungen. 





Von Hamburg fuhr ich zu einer 


Königl. preufsischen Erziehungsanstalt in N. 


Die Anstalt befindet sich in einem alten Schlosse, das einst 
einem depossidierten Fürsten gehörte. Unwillkürlich macht es einen 
etwas gefängnisartigen Eindruck. Beinahe alle Fenster waren mit Eisen- 
gittern versehen, zudem waren sie auch verriegelt. Der Hof, der Spiel- 
platz und der Park — kurzum die ganze Anstalt war mit hohen Eisen- 
staketen, zum Teil mit Mauern umgeben. Überall war geschlossen. 
Die Zimmer waren grofs und geräumig, ebenso die Korridore, die Licht- 
verhältnisse aber entsprachen kaum den Forderungen der jetzigen Zeit. 
(In den Korridoren waren Spritzenschlangen in gläsernen Schränken auf- 
geschraubt.) Unbequem schien es mir, dafs die Küche im Erdgeschofs, 
die Speisesäle im zweiten lagen. Das Essen ward darum in grofsen 
blechernen Eimern hinauftransportiert. Die Schulzimmer und Kontore 
des Direktors und des Sekretärs lagen im Erdgeschols. Im zweiten lagen 
die Speisezimmer, die auch als Wohnstuben dienten. Hier hatten die 
Knaben ihre numerierten Schränke, in welchen sie in besondern Räumen 
ihre Bücher, ihr Eflszeug und ihre Putzsachen und auf einem Brette 
unter dem Schrank ihre Stiefel hatten. Diese kleinen Schränke (ohne 
Schlols), waren an den Wänden herum in passender Höhe angebracht. 
Im dritten Geschosse lagen die Schlafzimmer. Sie waren mit eisernen 
Betten versehen und übrigens sehr einfach eingerichtet. Die Aborte 
waren im Erdgeschofs. Auch im dritten und vierten Stock waren Fenster 
und Glastüren vergittert. Das Dachzimmergeschols hatte die Kranken- 
zimmer, 2 Kerker und 6 Isolationsräume, daneben auch die Schneider- 
und Schusterwerkstätten der Anstalt. In besondern Gebäuden waren 
Schmiede und Tischlerei, wie in diesen auch die Schul- und Handwerks- 
lehrer, der Ökonom und die Aufseher ihre Wohnungen hatten. Zwischen 
den Hauptgebäuden und den übrigen lag ein hübscher Park. Sonst war 
die Anstalt von ihren Gärten — Frucht-, Gemüsegarten nebst dem Garten 
der Funktionäre — umgeben. Es waren nämlich einem jeden der Funktionäre 
cine bestimmte Fläche Land als Garten angewiesen, den Lehrern 7, den 
Aufsehern 5 Ar, jedoch gegen eine kleine Abgabe. 

Die Arbeit der Funktionäre. Der Direktor führt die Oberaufsicht 
der Anstalt. Er unterrichtet 6 Stunden wöchentlich und besorgt an den 
Feiertagen die Predigt im Andachtssaal der Anstalt, ist aber nicht mit 
irgend welcher speziellen Inspektion betraut. Zum Gehilfen in den 
laufenden Kontorgeschäften hat er einen Sekretär, der die Bücher und 
Journale u. s. w. führt. 

Die Lehrer haben wesentlich nur mit dem Unterricht, nicht mit der 
körperlichen Arbeit zu tun. Sie liefern dem Direktor monatlichen Rapport 
über das Benehmen jedes cinzelneu Zöglings ihrer besondern Abteilungen 
und überreichen ein Strafenverzeichnis. Im nötigen Falle trifft jener 
gegen besondere Versehen seine Verfügung. Dann hat jeder von den 
3 Lehrern 2 Tage ədu jour« in der Woche. Er findet sich da pünktlich 
um 6 Uhr ein und führt die Oberaufsicht in den Gängen; die besondere 








Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. S5 


Aufsicht in jeder Abteilung wird von 6 bis 81/, Uhr morgens und von 
12—9 Uhr nachmittags von den Aufsehern geführt. Diese inspizierten 
also bei allen Mahlzeiten und bei dem Lektionslesen. Um 9 Uhr abends 
traf der Nachtwächter ein. Er war, aus Rücksicht auf seine persönliche 
Sicherheit den Knaben gegenüber von zwei Hunden begleitet. Diese 
hatte er im Korridore liegen, von wo er die Schlafsäle wiederholt in- 
spizierte.e Morgens 5 Uhr schickte er sie nach Hause, damit die Knaben 
keine Gelegenheit haben sollten, sie sich vertraut zu machen, und um 
6 Uhr übergab er die Anstalt dem Jourhabenden. 

Tagesordnung. Um 6 Uhr wird mit der Glocke geläutet. Alle 
stehen auf, die Aufseher treten in die Schlafsäle ein und kontrollieren 
streng das Bettmachen. Die Matratzen werden gewandt; die zwei wollenen 
Decken aus ihren baumwollenen gewürfelten Überzügen herausgenommen, 
sorgsam zusammengelegt, der Überzug herumgestülpt, dann werden sie 
an das Fulsende der lakengedeckten Betten gelegt. Dieses wird von 
zwei Abteilungen (Schlafsälen) gleich nach dem Aufstehen getan, die 
dritte dagegen steigt erst in den Toilettenraum hinunter und wäscht sich, 
worauf sie, indem sie um ihrerseits ihre Betten zu machen hinaufsteigen, 
von den zwei übrigen abgelöst werden, nachdem diese mit ihren Sälen 
fertig sind. Das Waschzimmer ist mit 2 grolsen freistehenden Tischen 
versehen, in deren schiefersteinernen Platten zwei Reihen emaillierte 
Waschgefälse auf Zapfen angebracht sind, die von beiden Seiten des 
obern Randes der Gefälse in die Tischplatte hineingehen, so dafs das 
Wasser, womit die Gefälse aus kleinen Wasserkränen versehen werden, 
in eine unter den Tischen stehende, zu einer Kloake führende Metall- 
rinne mit Leichtigkeit entleert werden kann. Die Knaben stellen sich, ihr 
Handtuch und Seifenstück mitbringend, vor ihren Gefälsen auf. Das 
Hemd wird über die Schultern hinuntergezogen und aufser Gesicht und 
Händen werden Kopf, Ohren, Hals und Brust gewaschen. Je nachdem 
die Knaben das Wasser abgewischt, gehen sie rasch zu dem Aufseher 
hin, zeigen die Hände hervorgestreckt, drehen den Kopf, dafs an dem Halse 
nachgesehen werden kann, zeigen Brust und Rücken, und wenn der Bce- 
treffende vollkommen rein ist, wird das Ankleiden fortgesetzt. Wenn die 
Abteilung fertig ist, wird sie vor den Gefälsen aufgestellt, jeder Knabe 
mit seinem Handtuch und seiner Seife, die Gefälse werden geleert, cs 
wird kommandiert: rechts um, der Aufseher nimmt in der Tür Platz, und 
auf »Marsch« gehen die Knaben, Handtuch und Seife dem Aufseher 
präsentierend, nach dem Speisesaal hinauf. Hier wird sogleich an das Ab- 
wischen des Staubes von den Schränkchen die Hand angelegt, ihr Inhalt 
nachgesehen und im nötigen Falle in ihnen geordnet. Sobald der Lehrer 
ədu jour« hereintritt, stellt sich der Aufseher stramm und meldet an, 
wieviel Knaben die Abteilung heute zählt. Diese Meldung empfängt der 
»du jour« in allen drei Sälen, da er dem Direktor gegenüber verant- 
wortlich ist und Meldung soll abstatten können, wenn dieser sich ein- 
findet. Nun kommen die für jeden Tag auserschenen Knaben mit dem 
Frühstückskessel, entweder Weizen- oder Roggenmehlsuppe oder Kaffee 
enthaltend, stellen ihn auf ein Holzbrett mitten auf den Boden und 


S6 B. Mitteilungen. 





daneben auch zwei Eimer Wasser (einen mit kaltem, den andern mit 
warmem W.) Dann begeben sich alle zur Abteilung des Jourhabenden, 
in einen von den drei Speisesälen. Es soll Andacht gehalten werden. Der 
ədu joure gibt einen Psalmenvers auf, zum Auswendigsingen, worauf 
ein Schriftstück, ein Dankgebet für Beschirmung während dieser Nacht 
und ein Vaterunser vorgelesen wird; dann wünscht er sämtlichen »ge- 
segnetes Frühstücke. Die Knaben antworten mit denselben Worten, worauf 
das Frühstück in den einzelnen Speisesälen eingenommen wird. Nach dem 
Frühstück gehen die ältesten Abteilungen sogleich zur Arbeit; die jüngsten 
(12 bis 14 Jahre) zur Lektionsvorbereitung, die eine Stunde dauert. Wenn 
diese vorbei ist, treten die Aufseher ab, und die Lehrer beginnen den 
Unterricht, der mit Unterbrechung einer halben Stunde (91/,—10) bis 
12 Uhr fortgesetzt wird. Jetzt wird das Mittagsmahl eingenommen; die 
angestellten Knaben bringen die Eimer mit dem Essen hinauf. Jeder 
Knabe holt sein Efszeug hervor aus dem Schränkchen und nimmt seinen 
Platz ein. An jedem Tisch ist ein Tischältester da, der für gutes Be- 
tragen dem Aufseher verantwortlich ist, welcher nun wieder sich für den 
Rest des Tages eingefunden. Sämtliche Tischältesten stellen sich mit 
ihrem 6-Mannsgefälse vor dem Schöpfer auf und begeben sich nach dem 
Einschöpfen zu ihren Tischen, wo sie wieder jedem Knaben in dessen 
eigene Schale schöpfen. Auf die Frage des Aufsehers: »Sind alle beim 
ersten Tische zugegen?« meldet der betreffende Tischälteste, ob jemand 
fchlt oder nicht. So der Reihe nach bei jedem Tische. Dann hält der 
Aufseher Bediente Tischgebet: 
Komm, Ilerr Jesu, sei unser Gast — 
Und segne, was du uns bescheeret hast. Amen. 

»Gesegnete Mahlzeit.< Die Knaben antworten: »Gesegnete Mahlzeit.« 

Der Anfscher nimmt auch seine Mahlzeit ein. Nach der Mahlzeit 
gchen die Knaben, um ihre Schüssel, Messer u. s. w. im Wasser der 
obenerwähnten 2 Eimer zu waschen. Ich bemerkte, dals Fleisch, Speck 
und Hering nicht von cinem Teller, sondern von einem lolzbrettchen ge- 
gessen wurde. Von da an bis 1 Uhr (d. h. 15 bis 20 Minuten) sind die 
Kinder frei. Da nachmittags keine Schule ist, so wird darauf die Arbeit 
wieder in vollen Gang gesetzt bis 5 Uhr, wenn die Glocke zum Vesper 
läutet: nun versammeln die verschiedenen Aufseher ihre Knaben, treten 
mit ihnen in den Hof, zählen ihre einzelnen Arbeitsgruppen mit dem Zu- 
wachs, den sie aus den Werkstätten nun erhalten, rapportieren dem 
ədu jour« ob alle zugegen, rücken auf die Kompagnielinie ein und 
marschieren zum Küchenfenster, von wo eine Schnitte Brot mit entweder 
einem Stück Käse, Schmalz oder Apfelbrei ausgeliefert wird. Dies wird 
auf dem lofplatze gegessen. Sollte etwa jemand es nicht verspeisen 
wollen, darf er es in seinem Schränkchen aufbewahren. — Nach dem 
Vesper nimmt jeder Knabe seine Bürsten und seine Schmierschachtel, 
und sie treten aufs neue auf die Linie, wo sie ihr Schuhzeug unter der 
schärfsten Aufsicht der Aufseher putzen. Wenn es nicht absolut tadellos 
getan wird, muls es gleich wiederholt werden. Wenn alle fertig sind, 
wird mit den Putzsachen in die Speisesäle abmarschiert, wonach die zwei 





Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. S7 





ältesten Abteilungen sich wieder an die Arbeit begeben, während die 
jüngeren, die C-Zöglinge da bleiben und an die Lektionsvorbereitung gehen 
bis acht Uhr, wo das Abendessen serviert wird. Um 9 Uhr ist Bettzeit. 

Der Unterricht erzielt die Kenntnisstufe, die erreicht werden soll, 
wenn ein Kind die oberste Klasse der Volksschule auf dem Lande ver- 
läfst. Die Unterrichtszeit war so verteilt, dafs auf die Knaben von 12 
bis 14 Jahren 3 Stunden täglich aufser dem Lektionslesen, das auch 
3 Stunden betrug, fielen. Die nächste Gruppe (14—16 Jahre) hat 4 Stunden 
wöchentlich Unterricht, und die älteste (16—18) 2 Stunden wöchentlich. 
Diese zwei letzten bilde die Fortbildungsschnle und haben als Fächer: 
Rechnen, Weltgeschichte und Religion. Die jüngste war wieder in 3 auf- 
steigende Klassen geteilt und hatte sämtliche Fächer der Volksschule. 
Die übrigen Stunden der Arbeitstage der Woche waren mit körperlicher 
Arbeit ausgefüllt. Gymnastik und pädagogische Slöid (Handfertigkeit) kam 
nicht vor. Man hatte dazu keine Lokale und empfand auch nicht die 
Notwendigkeit dieser Disziplinen. Die Klassenzimmer waren mit alt- 
modischen Bänken eingerichtet und die Sammlung von Karten, Plänen 
und anderm Material war recht dürftig. 

Die körperlicne Arbeit der Knaben. Die Anstalt besals nur 
soviel Wiese, dafs sie 6 Kühe ernähren konnte, sie hatte keine Pferde 
und Schweine. Die Landbauarbeit war also schr beschränkt. Alle Acker- 
und auch Transportarbeit ward durch die Handkraft der Knaben aus- 
geführt. Statt den Acker zu pflügen, durcharbeitete man ihn mit Spaten 
und Hacke. Die Knaben zogen den Dünger auf die Äcker. Zum Trans- 
portfahren wurden 6 Knaben mit Hilfe von Schulterzugriemen dem 
4räderigen Wagen vorgespannt und 4 stielsen nach. Kamen z. B. Güter 
mit der Eisenbahn zur Anstalt, sah man gleich cinen Knabenwagen an- 
fahren. So erschienen die Knaben mit ihrem Wagen auf der Eisenbahn- 
station um Brot zu holen. Es schien schwer zu sein, und dieses Schleppen 
der vornübergebogenen, in den Ricmen anliegenden Knaben, die ihren 
Brotwagen durch die Stralsen der Stadt fuhren, machte einen nicht ganz 
angenehmen Eindruck. 

Ein paar Knaben leisteten dem Viehlnecht Beihilfe. Sonst wurden 
sie im Garten, Park, dem Obst- und ziemlich grofsen Gemüsegarten be- 
schäftigt. Während meines Aufenthaltes waren einige mit der Aufführung 
einer hohen Mauer um den Garten herum wirksam. 

Es fanden sich auch wohleingerichtete Werkstätten: Schmicde-, 
Tischler- und Schlosser-Werkstätten. An jeder dieser hing eine Tafel, 
das Pensum, was jeder zur Werkstatt hingewiesene Knabe zu durchgehen 
hatte, und die als notwendig angeschene Zeit angebend, um in jedem 
Teil der Arbeit Fertigkeit zu erreichen. 

Die Pensumliste z. B. für die Schmiedewerkstatt war ungefähr wie 
nach folgendem Schema abgefalst: 


(Siehe Scite 88.) 


Die Werkstätten befriedigten in der Regel das gesamte Bedürfnis 
von Reparaturen an Inventar, Einrichtung und Gerätschaften. Die Werk- 


SS B. Mitteilungen. 


Abteilung Pensum Lernzeit Probestücke 
I. 1. Gebrauch verschiedener Feilen 
2. Bedienung des Balges Eine eigen- 
3. Kenntnis der verschiedenen angewandten händig ge- 
Wärmegrade 6 Monate ?_ arbeitete 
4. Einzelne Arbeiten: Schrauben, Mutter, Schraube 
Zinnlötung mit Mutter 
5. Teilnehmung an gröfseren Stückarbeiten 
II. 1. Lötungsarbeit mit Kupfer und Messing Selbständig 
2 m: verschiedenes 
2. Eisen auf dem Ambols zu bearbeiten, in der 
zu biegen u. s. w. Schmiede vor- 
l i 6 Monate { ~% 
3. Eisen in der Esse zu bearbeiten kommendes 
4. Selbständig Ofenrohre, Stäbe und Tür- Handwerks- 
chläo ie zeug zu repa- 
beschläge auszuführen rieren 
Ill. Selbständige Ausführung allerlei kleinerer 
l ay l Ein 
Hufschmiedearbeiten; einige Anleitung g 6 Monate 5 
= j Türschlofs 
des Meisters erlaubt 


Ausbildung in obenerwähnter Arbeit erfordert im ganzen 1!/⁄, Jahr. 
Der Direktor. 


meister führten genau Buch über ein- und ausgehendes Material. Die 
Rechnung des Materiallieferanten wird in die Rechnungsschemas um- 
geschrieben, wo auf dem Fufse des Blanketts ein Schemata gedruckt sind 
für Anweisung des Direktors, Kontoanweisung, endlich für Quittung des 
Lieferanten. 

Das Verhalten der Knaben. Zur Zeit waren ca. 150 Knaben 
wegen Diebstahls, Sittlichkeitsvergehen, Störung des Strafsenfriedens u. s. w. 
zur Unterbringung verurteilt. Obgleich der Haupteindruck der Disziplin 
der Knaben günstig war, ist es doch selbstverständlich, dals öfters zum 
Teil sehr grobe Verbrechen vorkamen, z. B. Einbruchsversuche, Aus- 
reilsen, Gewalt gegen Funktionäre, Verweigerung zu arbeiten. Jedes Ver- 
gehen ward streng und genau untersucht, und Vermahnungen, Verweise 
oder Strafe erfolgten sogleich. Der Funktionär, der das Versehen ent- 
deckte, oder auch gegen den es gerichtet war, notierte dasselbe augen- 
blicklich, um es später in seinem Monatsrapport einzufügen; in gra- 
vierenderen Fällen ward eine Meldung sogleich zum Direktor gebracht. 
Die härteren Strafen, wie körperliche (mit spanischem Rohre, das dem 
Reglement zufolge nicht über 0,5 cm Durchschnitt haben durfte), Kerker 
und Isolation durften nur vom Direktor zuerkannt werden. In Fällen 
von Entweichung wurden die Knaben von der Polizei eingeholt und zur 
Deckung der Einholungskosten ward der Betreflenden Spargeld verwandt. 
Als Strafe für solche Vergehen bekam der Ausreifser Prügel und ward 
im Isolationsraum eingesperrt, mit einem Kittel und Beinkleidern von 
lichtblauem baumwollenen Zeuge angetan. Die Tracht war aufserdem 
mit weilsen Streifen an den Schultern und längs den Säumen der Bein- 
kleider versehen. Auf den Fall, dafs der Knabe wieder ausreilsen möchte, 
wäre er leicht kennbar, jedenfalls bis er Gelegenheit fand, andere Kleider 


Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. g9 





anzuschaffen. Diese Tracht trägt der Betreffende, bis man einigermafsen 
versichert ist, dafs er die Ausreifsungsgedanken aufgegeben; sie war auch 
ziemlich gefürchtet. 

Wenn ein übergeordneter Funktionär oder ein Fremder in die Klasse, 
den Speisesaal oder irgendwo dergleichen hereinkam, wo die Knaben sich 
aufhielten, erhoben sich diese rasch auf das Kommandowort: Achtung! 
und blieben stehen, bis sie sich zu setzen Zeichen oder Wort bekamen. 

Die Knaben grüfsten in militärischer Weise, aber hatten sie, wenn 
von einem Vorgesetzten angeredet, die Mütze auf dem Kopf, so nahmen 
sie diese, während sie angeredet wurden, in die Hand. 

Sie machten übrigens den Eindruck, etwas träge zu sein und hatten 
gar kein keckes, rasches Wesen. Stumpfheit und Indolenz war ziemlich 
häufig. Der Direktor erklärte, dafs Onanie sehr gewöhnlich, Sodomiterei 
auch entdeckt sei; beide Laster gingen nachts in dem Schlafsal vor. 
Einzelnen hatte man sogar die Hände binden müssen, wenn sie zu Bett 
gingen. Selbstmord war ein paar Wochen vor meiner Ankunft vor- 
gekommen. Der Knabe hatte einem Kameraden ein Paar Hosenträger 
gestohlen. Dieses war entdeckt und aus Furcht vor der drohenden Strafe 
(Prügel) ging er auf den Heuboden und erhängte sich. Es ist überflüssig, 
zu bemerken, dafs Faulenzerei und Arbeitsscheu gewöhnlich war. Die 
Aufseher mufsten immer ein Auge auf die Knaben haben und antreiben. 
Die Gerätschaften behandelten sie sehr fahrlässig. Fin Aufseher sagte, 
man dürfte ihnen nicht eher den Rücken wenden, als bis sie mit der 
Arbeit ganz aufhörten. 

Die Bekleidung der Knaben. Jeder Knabe hatte eine Mütze 
(deutsche Schulmützenforn.) mit rotem, blauem oder weilsem Bande, die 
Abteilung, zu der er gehörte, bezeichnend. Weiter war er mit einknöpfiger 
Jacke aus blauem Düffel, schwarzgrauen Beinkleidern aus Fries, Leder- 
stiefeln, weilsem wollenen Unterzeug und wollenen Strümpfen bekleidet. Die 
Sonntagstracht war von demselben Stoffe. Es war den Knaben streng 
geboten, ihre Kleider sorgfältig zu behandeln. In der Stopfenstube 
besserten die Knaben ihre Strümpfe aus. Zu den gröberen schmutzigen 
Arbeiten gebrauchten sie Schutzhemden und Schutzhosen oder Schurzfell. 
Die sämtlichen Bekleidungssachen wie überhaupt alles, was dem Knaben 
zu beständigem Gebrauch überlassen, war mit dem Namen der Anstalt 
gestempelt, so z. B. Bücher, Löffel und Gabeln ete. 

Die Speisung der Knaben. Die Kost wird monatlich für jeden 
Tag mit der Genehmigung des Direktors von dem Ökonomen festgesetzt 
und dieses Monatsreglement in der Küche aufgeschlagen. Als Köche 
fungierten zwei ältere, vom Ökonomen unterrichtete Knaben; sie waren voll- 
ständig facheskundig. Ich fand sie immer allein mit der Zubereitung 
des Essens beschäftigt. Das Essen ward in zwei grolsen, mit Druck- 
messern versehenen Dampfkesseln gekocht. Der in den Kesseln über- 
flüssige Dampf wird in einen Zylinder geleitet, wo er kondensiert wurde 
und für das Aufwaschen hinlängliches Wassar lieferte. 

Zum Frühstück wechselte man, wie früher erwähnt, mit 1. Weizen- 
melılsuppe, wozu 2 Teile frischer Milch, 1 Teil Wasser und cin passendes 





90 B. Mitteilungen. 





Quantum Weizenmehl; dazu kommen 75 g Brot. 2. Roggenmehlsuppe 
nach demselben Verhältnisse zubereitet und ebenso Brod. 3. Kaffee mit 
Brot. Zum Mittag war für die erste Woche meines Aufenthaltes auf der 
kKüchenliste angeführt ungefähr wie folgt: 

‚3.99. Bohnen (auf weilsen Bohnen gekochte mit Fett und ein 
wenig Essig zugesetzten Suppe) und Hering. 

2./3. 99.  Reissuppe. 

3./3. „ Linsen mit Talg. 

4.3. „ Fleisch mit Reissuppe. 

5.3.» Speck und Sauerkraut. 

5.3. „ Fisch. 

7.3.» Bohnen mit Talg. 

8./3. „ Fleisch und Brot. 

Dies waren die Gerichte, die den Monat hindurch gewechselt wurden. 
Gewichtsteile waren nicht auf der Kostliste angeführt; die Portionen 
waren nach unsern Verhältnissen klein. 

Das Vesperbrot ist früher erwähnt und das Abendessen war wie das 
Frühstück, den Kaffee ausgenommen. Geschah es, dafs ein Knabe seine 
Portion nicht meistern konnte, mulste er es dem Angestellten melden, 
der es dann dem Knaben, der es am meisten zu bedürfen schien, über- 
lassen konnte. Wenn die Knaben sich zu Tisch setzten, wurde darauf 
geachtet, dafs alle Stühle in genau gerader Linie standen, und dafs die 
Knaben die linke Hand fach auf dem Tische liegend hatten, während sie 
alsen ; selbst bei Fisch- und Heringsmahlzeiten wurden nicht Tischmesser 
gebraucht. Im ganzen genommen, herrscht keine besondere Sauberkeit 


am Tische, wo man mit den Fingern als und den man —- sonderbar 
genug — mit ziemlich grolser Unordnung verlels. 


Schlufsbemerkungen. Wie auf den Gebäuden so ruhte auch auf 
dem Leben der Anstalt ein gelängnisartiges Gepräge. Den sorgsamen 
Vergitterungen und den immer zugeriegelten Pforten und Türschlössern, 
die überall dem Auge der Knaben begegneten und ihn an Absperrung er- 
innerten, entsprach die Kälte und Leblosigkeit, das Distanzverhältnis, das 
zwischen Zöglingen und Funktionären herrschte. Ich erinnere mich, dafs, 
als ein Lehrer mir die verschiedenen Sachen in einem Knabenschrank, 
wie sie geputzt, geordnet u. s. w. waren, zeigte, ich dem Knaben, der 
cben da stand, und der seine Sachen im ausgezeichnetsten Stande hatte, 
zunickte und bemerkte, dals es gut war, Das war gewils nicht »korrekt« 
gehandelt, denn der Lehrer wandte sich mir sehr bedenklich zu und sprach 
— offenbar so, dals der Knabe cs hören sollte —: Na, es ist nur, wozu er 
unterrichtet und verpflichtet ist. Auf meine Frage, ob es aus Prinzip ge- 
schehe, dafs man die Knaben nicht gern lobte, war die Antwort: ja. Ich 
konnte überhaupt nicht viel von Aufmunterungen hören, auch hörte ich, 
während ich da war, keinen Knaben je loben. Dies Prinzip ist gewils 
richtig, insofern das Lob nicht zu leicht und wohlfeil erteilt werden darf. 
Aber ebenso gewils ist es, dals ein verständiges Lob einfach erforderlich 
ist. Die Aufmunterung stärkt den Glauben an sich selbst, fördert den 
Mut und die Lust, sich aus der Schlaffheit, Gleichgültigkeit u. s. w. zu 





Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 91 





erheben. Der Knabe empfängt das Gefühl, dals er die Möglichkeit be- 
sitzt, etwas auszurichten. Das Bewulstsein, dafs das Arbeiten und Streben, 
seine Pflicht zu erfüllen, Beifall gewinnt und ein freundliches Wort her- 
vorruft, wie auch das Empfinden, dafs das Herz meines Nächsten mir 
gegenüber verständnisvoll gestimmt ist — wie spricht das zu meinem 
Herzen und weckt die guten Gedanken, die Hoffnung nnd Lebenslust! 
Merkt der bisher verwahrloste und verbrecherische Knabe, der plötzlich 
von seinen Irrwegen geholt ist und sich bisher wie geächtet in der Goc- 
sellschaft gefühlt, dafs es doch, wenn er sich, wie es sich gebührt, be- 
trägt, und was ihm aufliegt erfüllt, anerkannt wird, so baut diese Sympathie, 
die er in der Aufmunterung merkt, zwischen ihm und der Gesellschaft, 
gegen die er sich verbrach, die Brücke über jenen Abgrund der Selbst- 
verachtung und Selbstaufgebung, woraus es immer vorher so trostlos 
lautete: Es hilft dir alles doch nichts, lebenslänglicher Sklave! Fahre 
drum getrost fort auf der Balın des Verbrechens! 

Die Knaben waren, wie früher erwähnt, in 3 Abteilungen geteilt. 
Jede Abteilung wird von einem Lehrer mit ein paar Aufschcern als 
Assistenten geleitet; aber fürs erste hatten die Lehrer, ausgenommen zwel- 
mal in der Woche »du jour«, anfser ihren Unterrichtsstunden nichts mit 
den Knaben zu tun, und fürs zweite — diese Aufseher, die schweigsam 
und ernst in ihrer Polizeimütze als Wächter umherwandelten, lielsen 
sich, so viel ich sehen konnte, aufser dem absolut Notwendigen, irgend 
einem Wink, Zurechtweisung u. dergl. unter der Arbeit, nicht mit den 
Kindern ein. Sie waren überhaupt polizeimäfsig in all ihrem Tun und 
Lassen. Ich konnte in diesen Formen keinen Platz finden für die not- 
wendige individuelle Einwirkung, aufser wenn ein Knabe nach einem 
grölseren Versehen in das Kontor des Direktors hereingerufen wurde. 

Auf meine Frage, ob man nicht bezügl. stark hervortretender 
Degenerationszeichen, maniakalischer Eigentümlichkeiten und 
überhaupt anomalischer Symptome irgend eine psychiatrische 
Behandlung aufgenommen hatte, wurde die Antwort verneint. 
Es schien als ob dieses Feld gar nicht in Betracht käme Wenn Zu- 
sprache nicht half, mufste man die Rute oder den Karzer benutzen. 

Wenn ich kurz die Beobachtungen resumiere, werde ich sic so 
pointieren können: 1. Die Knaben blieben während ihres ganzen Aulent- 
haltes, Sonntagsausflüge und Materialliolen ausgenommen, innerhalb der 
vergitterten Fenster, geschlossenen Tore und hohen Mauern der Anstalt. 
Es konnten Wochen hingehen, ohne dafs die meisten von ihnen nicht 
weiter sahen als bis zu den Mauern, ausgenommen, wenn sie zu den 
Mahlzeiten und zur Bettzeit in den oberen Etagen sich befanden und 
einen Blick aus den Fenstern über die nächste Umgebung werfen 
konnten. Die ganze Zeit aulser den Sonntagen und einer halben Stunde 
der Werktage war mit Schule und Arbeit vom Morgen bis Abend aus- 
gefüllt. Es hiefs, dafs sie von 7—8 nachmittags frei wären, aber auch 
in dieser Zeit mufsten sie die Putzarbeiten besorgen. Auf diese Weise 
war keine Zeit für körperliche Übungen, Spielen und andern Zerstreuungen 
übrig. Überhaupt sah ich, so lange ich da war, selten die Knaben spielen; 


92 B. Mitteilungen 


auch hörte ich kein einziges Mal ein frisches, herzliches Lachen. Es kam 
mir vor, als wenn der kindliche Frohsinn in allen abgestorben sei. Trotz 
der vielen Aufseher, wie sie genannt wurden — schon der Name schien 
mir unglücklich —, die immer unter ihnen umhergingen, wenn nicht 
Schule gehalten wurde, konnte kein Zusammenleben verspürt werden. 
Niemals erlaubte sich ein Aufseher einen heiteren Spals; kalt und offiziell 
ging das Ganze vor sich. Wie man unter solchen Umständen das Herz 
der Kinder gewinnen uud da einem neuen Menschen den Weg bahnen 
kann, ist nicht leicht zu verstehen. Lob nnd Ermunterung fielen sehr 
spärlich; ganz selten ward jedoch eine Geldprämie erteilt. 2. Weibliche 
Angestellte gab es nicht. Das mütterliche Element in Gestalt einer Haus- 
mutter war nicht vorhanden. Man sollte glauben, dafs eine Hausmutter 
mit einer geschickten weiblichen Gehilfin in der Haushaltung, beim Nähen 
der Kleidung und bei der Krankenpflege — überhaupt als Repräsentantin 
des Familiären — vorzugsweise auf ihrem Platze wäre. In solcher Be- 
ziehung füllt ein Weib durch ihre praktische Einsicht und selbst durch 
ihr Wesen den Platz besser als der gewissenhafteste Aufseher aus. Es 
mufs erinnert werden, dafs die Knaben von ihrem 11. Jahre aufgenommen 
werden, und es dürfte wohl nicht ungereimt sein, wenn sie unter dem 
täglichen Zusammensein dem älteren gebildeten Weibe begegneten und in 
ein gewisses kindliches Verhältnis zu ihm kämen. Es kam mir vor, dals 
die königliche Instruktion den Direktor, der persönlich ein sehr liebens- 
würdiger Mann zu sein mir den Eindruck machte, den Knaben nahe 
genug zu kommen hinderte.!) Man bemerkte kein herzliches und ver- 
trauensvolles Verhältnis. 3. Ansprechend und nachahmungswürdig 
war doch die Ordnung durch seine Einfachheit, durch die Prä- 
zision der Beamten und ihre absolute Befolgung des Reglements. 
Im ganzen war die Anstalt von Ordnung und Korrektheit ge- 
prägt. Was man vermilste, war der Hauch der Liebe. 
(Fortsetzung folgt.) 


5. »Falsches Zeugnis.« 


In Bezug auf die Zeugenaussagen vor Gericht hat Professor 
von Liszt vor längerer Zeit auf die Tatsache hingewiesen, dafs selbst 
bei ganz unbefangenen, intelligenten Menschen zwischen der Wahrnehmung 
und der darüber abgegebenen Aussage sich Vorstellungen geltend machen, 
die das Bild trüben und den Aussagen ihre Zuverlässigkeit rauben. Bei 
befangenen, ungebildeten Zeugen sei dies noch in höherem Malse der Fall. 
Auch wies cr auf den Einfluls von Massensuggestion hin und forderte 
eine Umgestaltung des ganzen Voruntersuchungsverfahrens, begründet auf 
einer bessern psychologischen Wertung der Zeugenaussagen. Bei Kindern 


1) Mit Recht befürchtet Trüper 'in seiner Schrift »Zur Frage der Er- 
ziehung unserer sittlich gefährdeten Jugends, dafs das preufsische Für- 
sorgegesetz, das Psychiatrie und Pädagogik ignoriert, zu einer eigenartigen juristisch- 
polizistischen Erziehung führen würde. 


Der Verein für Kinderforschung. 93 


sind diese Gefahren selbstverständlich noch grölser. Um den Wert der 
Zeugenaussagen von schulpflichtigen Kindern festzustellen, hat 
unser Mitarbeiter K. Agahd in Rixdorf dies an einem Beispiele fest- 
gestellt, das er in der »Pädagog. Zeitunge mitteilt. Ein körperlich zu 
bestrafendes Kind erhielt vor dem Lehrpulte drei Rutenhiebe in Gegen- 
wart der ganzen aus 52 Knaben bestehenden Klasse. Nach fünf Tagen 
stellte er nun folgende Fragen: »Wer hat gesehen, dafs ich F. gezüchtigt 
habe?< 40 Kinder meldeten sich, mithin scheiden die andern als Zeugen 
aus. »Wann habe ich ihn gezüchtigt?« 31 Kinder sagen den richtigen 
Tag. »In welcher Stunde?« 26 sagen richtig aus. »Wieviel Hiebe hat 
er bekommen?« Nur 24 richtige Antworten. »Hat sich F. bücken müssen, 
ehe er bestraft wurde? 12 Kinder behaupten es fälschlich, und zwar 
4 von den in den beiden vordern Bänken sitzenden Kindern. Über den 
Grund der Strafe erfolgten seitens 35 Kinder — acht verschiedene 
Angaben. Auch der Breslauer Privatdozent Dr. Stern hat durch aus- 
gedehnte Versuche an Erwachsenen festgestellt, dals selbst bei normalen 
Menschen eine psychologische Täuschung des Gedächtnisses eintreten kann, 
so dals in der Erinnerung aus einem Hasen eine Katze, aus einem Stocke 
ein Schirm, aus rechts links u. s. w. wurde, Diese Ergebnisse hatte er 
durch Versuche mit 30 Studenten bezw. Studentinnen gewonnen. Das 
sind jedoch alles normale Erscheinungen, die sich bei vielen noch patho- 
logisch steigern. Und jene normale Erinnerungstäuschung wie diese patho- 
logische Lüge wird bei Kindern noch um so krasser, als hier die logische 
Kontrolle des Geschauten oder Gehörten noch auf unsichereren Fülsen 
steht als bei geistig normalen Erwachsenen. Mädchen neigen in noch 
viel grölserm Malse zur pathologischen Lüge als Knaben. Alle dise Um- 
stände können von den schwerwiegendsten Folgen im Strafprozesse sein. 
Aber auch für die pädagogische Beurteilung von Handlungen ist dies 
nicht minder wichtig, wie wir schon wiederholt darlegten und noch der 
Artikel in der letzten Nummer von Danger: »Ich hielt meine Lügen 
für Wahrheit<e in drastischer Weise bekundete. Dr. Stern hat sich nun 
die Sonderaufgabe gestellt, umfassende Beobachtungen und Experimente 
über diese Frage anzustellen. Wir werden nicht verfehlen, unsere Leser 
von seinen weiteren Ergebnissen zu unterrichten. 


6. Der Verein für Kinderforschung 


tagt nach dem vorjährigen Beschlusse in Jena dieses Jahr in Halle a. d. S. 
Es hat sich daselbst ein Orts-Komitee gebildet, bestehend aus den Herren 
Professor Dr. med. Aschaffenburg, Stadtschulrat Brendel, Rektor 
Dr. Maennel, Dr. med. Schmid-Monnard, den Ililfsschullehrern 
Kläbe und Schultze wie den beiden Vorsitzenden des Lehrerinnen- 
und Lehrer-Vereivs Fräulein Schubrink und Lehrer Lauche. 

Damit die Versammlung auf keinen Schultag fällt, und andrerseits 
so nahe an das Ende der Ferien gerückt wird, dals jeder zurückkehrende 


94 C. Literatur. 


daran teilnehmen kann, ist die Versammlung auf Sonntag den 2. August 
nachmittags und Montag den 3. August vormittags festgesetzt. 

Die Tagesordnung wird im nächsten Heft bekannt gegeben. 

Nähere Auskunft erteilen die Herren Dr. med. Schmid-Monnard 
in Halle, Dr. med. Strohmayer in Jena und Lehrer Stukenberg, 
Jena-Sophienhöhe. Anmeldungen von Vorträgen nimmt der Unter- 
zeichnete entgegen. Trüper. 


C. Literatur. 


í. Stanley Hall, Prof. Dr. G., Ausgewählte Beiträge zur Kinderpsychologie 
“und Pädagogik, Aus dem Englischen übersetzt von Dr. J. Stimpfl. (Inter- 
nationale Pädagogische Bibliothek, Pd. IV.) Altenburg, Oskar Bonde, 1902. gr. S®. 
454 N. Preis S M, in Halbleder geb 9,50 M. 

Kein Laud ist gegenwärtig von der deutschen Pädagogik so stark beeinflulst 
wie Nordamerika, und niemand hat in dieser linsicht gröfsere Verdienste als 
G. Stanley Hall. Aber Hall ist nicht blols ein Vermittler deutscher Gedanken, 
sondern auch ein unermüdlicher selbständiger Forscher, dessen Arbeit wiederum die 
deutsche Pädagogik beeinflalst. Das bei uns gegenwärtig so stark im Vordergrunde 
stehende Bemühen, in der Psychologie des Kindes eine wissenschaftliche Grundlage 
für die Pädagogik zu schaffen und in diesem Sinne die Pädagogik auszubauen, hat 
in ihm seinen wichtigsten Ausgangspunkt. Die Kinderpsychologie, die auf deutschem 
Boden begründet wurde, ist von ihm gleichsam wieder entdeckt worden, und die 
pädagogische Kinderpsychologie hat er sozusagen neu begründet. 

Hall ist bei uns längst kein Fremder mehr. Zustimmung und auch Wider- 
spruch hat er bereits in reichem Mafse erfahren, ohne dals er bis jetzt überhaupt 
ein pädagvgisches oder psychologisches Buch geschrieben hätte. Seine Lebensarbeit 
besteht aulser seiner fruchtbaren Tätigkeit als akademischer Lehrer und Herausgeber 
von Zeitschriften einstweilen nur in einer grolsen Zahl von Abhandlungen, die an 
verschiedenen Stellen erschienen sind. Dr. Stimpf£l, der sich bereits durch mehrere 
srölsere Übersetzungsarbeiten bekannt gemacht hat, verdanken wir die vorliegende, 
unter Beihilfe des Verfassers veranstaltete Sammlung in deutschem Gewande. 

Das Buch ist natürlich kein zusammenhängendes, einheitliches Werk, aber 
dieser Nachteil wird aufgewogen durch die grolse Mannigfaltigkeit des Inhalts, die 
es wesentlich auch als Anregung zu Vorträgen wertvoll macht. Eingeleitet wird 
der Band durch eine ziemlich eingehende Arbeit des Übersetzers über Halls Leben 
und über seine Bedeutung für die Psychologie und die Pädagogik. Die Abband- 
lungen haben folgende Überschriften. I. Die Kinderforschung und ihr Verhältnis 
zur Erzielung; 11. Ein Beitrag zur Beobachtung kleiner Kinder; DI. Der Inhalt 
des Geistes der Kinder beim Eintritt in die Schule (54 Seiten); IV. Das Lügen der 
Kinder; V. Die Geschichte eines Sandhaufens, eine pädagogische Idylle; VI. Kinder- 
forschung als Grundlage der exakten Pädagogik; VII. Die Liebe zur Natur und das 
Studium derselben als Teil der Erziehung; VNI. Forschen — der Lebensgeist des 
Lehrers; IX. Die neue Psychologie als ein Hauptbestandteil der allgemeinen Bil- 
dung; X, Die ideale Schule, gegründet auf Kinderforschung; ATI. Elf Fragebogen 
zur Kinderforschung; XI. Einige Seiten des ersten Ich-Gefühls; X1IL Eine Unter- 


C. Literatur. 95 





suchung über die Furcht (108 Seiten). Aufserdem enthält das Buch wertvolle An- 
merkungen und Zusätze des UÜbersetzers. Ufer. 


2. Doll, Dr. med., Ärztliche Untersuchungen aus der Milfsschule für 
schwachsinnige Kinder zu Karlsruhe. Karlsruhe, Macklot, 1902. 

Es liegen schon mehrere Schriften vor, in denen Ärzte, welche an Iilfsschulen 
tätig sind, ihre Beobachtungen und Erfahrungen gesammelt und zum Wohl der 
schwachsinnigen Kinder veröffentlicht haben. Das vorliegende Heft ist das Er- 
gebnis einer sorgfältigen, allseitigen und gewissenhaften Untersuchung der Karls- 
ruber Hilfsschüler, die der Verfasser im Auftrag der städtischen Schulkommission 
vorgenommen hat. Die gemachten Beobachtungen erscheinen dadurch noch besonders 
zuverlässig, dals nicht allein die Erfahrungen und Aufzeichnungen der Lehrer benutzt, 
sondern dafs zu der Untersuchung auch die Angehörigen hinzugezugen worden sind. 

Die Untersuchungen sind nach folgendem Schema vorgenommen worden: Ehe- 
lich oder unehelich, Familiengeschichte und Vorgeschichte des Kindes, allgemeiner 
Eindruck, Charakter, Leistungen, Grad des Schwachsinns, Messung des Körpers nach 
Gewicht und Länge, der Brust und des Schädels, Kopf und Hals, Thorax und Bauch, 
Extremitäten, Augen, Ohren, Sprache, Gang, Bewegungen. Wir greifen bei unserer 
Besprechung nur einige Punkte heraus. Auffallend ist, dals unter den Schülern 
der Karlsruheı Hilfsschule so wenig unehelich geborene Kinder sind. Dies kommt 
daher, dals der Verfasser diejenigen ausgeschlossen hat, denen durch spätere Ver- 
heiratung der Eltern eine geregelte Erziehung zu teil geworden ist. Von welch 
grofsem und segensreichem Erfolg die letztere ist, wird ebenfalls dureh die ge- 
machten Erfahrungen bewiesen. Unter den 72 Kindern waren nicht weniger als 
14, also 19,40/ die den Vater durch den Tod verloren hatten. Die Untersuchungen 
Dolls liefern, wie die Demoors, Schmid-Monnards, Laquers den traurigen Beweis, 
dafs die Trunksucht einen grofsen Prozentsatz Schwachsinniger liefert. Schr cin- 
dripglich reden in dieser Ilinsicht die Zahlen Schmid -Monnards, welche dieser in 
seinem Aufsatz »Die Ursachen der Minderbegabunge (Sonderabdruck der Zeitschrift 
für Schulgesundheitspflege) anführt, Von 6 Trinkern waren in ihren Leistungen 
0°’, Kinder gut, 16°/, mittelmäßsig, und 849%, schlecht. Sehr schädlich in ihrem 
Einflufs auf die geistige Entwicklung des Kindes hält Do!l in Übereinstimmung mit 
Demoor die Rhachitis. Es wäre daher wünschenswert, wenn auf dieselbe von 
seiten der Eltern mehr Gewicht gelegt würde. Mit Recht tadelt bei dieser Ge- 
legenheit Doll den Unfug, dals deu geschwächten Kindern ohne, aber auch mit 
Übereinstimmung des Arztes Alkohol (Tokayer Wein) als Arznei gereicht würde. 
Geistig belastet sind auch solche Kinder, welche die letzten Glieder einer sehr zahl- 
reichen Familie bilden; denn bei multiparen Frauen tritt nicht allein bei dem 5. 
oder 6. Kind cine Erschöpfung ein, sondern es kommt noch erschwerend hinzu, 
dafs bei jedem neu hinzugebornen Kind die Lebenshäaltung eine schlechtere wird. 
Daraus erklären sich dann die nachteiligen Folgen, welche der Verfasser bei schwach- 
sinnigen Kindern gefunden hat. Alle vorgenommenen Untersuchungen liefern den 
Beweis, dals die Knaben in Bezug auf ihre körperliche Entwicklung ungünstiger 
gestellt sind als die Mädchen. Dies wird auch nicht wundernehmen, da sich die- 
selbe Erscheinung bei normalen Kindern zeigt. Während aber nach der vor- 


genommenen Wicgung von den Volksschülern — Knaben und Mädchen zusammen- 
genommen — nur 18,3%, untergewichtig sind, blieben bei den Ililfsschülern 27,7 o 


hinter dem Durchschnittsgewicht zurück. Auf das Verhältnis zwischen Körperlänge 
und Körpergewicht geht Dr. Schmid-Monnard in seinem sehr interessanten Aufsatz 
»UÜber den Wert von Körpermalsen zur Beurteilung des Körperzustandes von Kindern . 


96 C. Literatur. 


ein. Er hat gefunden, dafs die schwachsinnigen Mädchen hinter ihren gleichaltrigen 
Genossinnen der Volksschule nach Gewicht und Gröfse mehr zurückbleiben als die 
Knaben. Dafs die Hilfsschüler im Längenwachstum mehr zurückbleiben als in der 
Gewichtszunahme sieht Doll als eine Folge der Rhachitis an. Der Verfasser vermilst, 
dafs in gröfserem Umfang Messungen des Brustumfanges und der inspiratorischen 
Erweiterungen vorgenommen und veröffentlicht worden sind. Wir möchten bei 
diesem Punkt nochmals auf die oben erwähnte Arbeit von Dr. Schmid-Monnard 
hinweisen. Die Untersuchungen von Auge und Ohr sind von Spezialärzten vor- 
gcnommen worden. Daher sind die Ergebnisse derselben sehr beachtenswert. Aber 
auch nach diesen heiden Seiten hat es sich herausgestellt, dafs die Hilfsschüler mehr 
belastet sind als die Volksschüler. Die Arbeit schlielst mit einer kurzen Zusammen- 
stellung der besonders bemerkenswerten Erscheinungen. Zum Schluls möchten wir 
noch einen Wunsch aussprechen. Da der Verfasser auch wohl auf Leser aus 
Lehrerkreisen. rechnet, wäre es gut gewesen, wenn neben den technischen Aus- 
drücken auch die deutsche Bezeichnung stünde; denn man findet nicht alle Be- 
zeichnungen im Lexikon oder Fremdwörterbuch. 
Altenburg. H. Seifart. 


3. Heinrich Schreiber, Lehrer in Würzburg, 1. Beiträge zur Theorie und 
Praxis des gesamten Elementarunterrichts. 84 S. Preis 1,50 M. 
2, Die Tyrannei der Zahl. Altenburg, H. A. Pierer. 36 S. Preis 60 M. 

Die erstgenannte dieser zwei Schriften ist insbesondere eine Antwort auf die 
von dem evangelischen Diakonieverein gestellte Preisfrage: Wie lälst der erste 

Sprachunterricht (einschliefslich des Anschauungs-, Schreib- und Leseunterrichts) 

durch das Verfahren des Selbstfindens sich weiterbilden?!) Der Verfasser löst die 

Frage vom Standpunkt des erziehenden Unterrichts aus. Hierüber giebt er darum 

— nachdem er auf das Verfahren des Selbstfindens im Laufe der Geschichte hin- 

gewiesen — entsprechende allgemeine Ausführungen und behandelt dann im An- 

schlusse hieran den eigentlichen Sprachunterricht, Die zweite Schrift ist iusofern 
eine Ergänzung zur ersten, als sie von den gleichen Grundgedanken getragen wird, 
die, wie dort insbesondere auf den Sprachunterricht, so hier auf den Rechenunter- 
richt angewandt werden. Während sich jedoch in dieser Anwendung die erst- 
aufgeführte Schrift mehr im Gebiet des ersten Schuljahres hält, geht die zweite 
darüber hinaus, erstreckt sich in einzelnen Ausführungen bis auf Fortbildungsschule 
und Mittelschule. — Beide Schriften üben eine scharfe, jedoch völlig berechtigte 

Kritik an den geltenden Lehrplänen und den damit zusammenhängenden Lehrweisen. 

Es wird da unter anderem gezeigt, wie gerade durch letztere viele der Fehler bei 

den Kindern erst begründet werden, über welche dann so viel geklagt wird. Be- 

sonders wertvoll sind jedoch die zwei Abhandlungen noch durch die Besserungs- 
vorschläge, deren Ausführung der Verfasser in vielen Beispielen zeigt. Die neuen 

Wege, welche er dabei geht, weichen von der fast ausnahmslos üblichen Weise 

völlig ab. Viele werden aber gerade aus diesen Unterrichtsbeispielen besser als aus 

theoretischen Auseinandersetzungen erkennen, wie die Kinder in rechter Weise zum 

Ziele zu führen sind. 

W, L. B. 


') Der Arbeit wurde mit noch 4 anderen der Preis zuerkannt. 





Druck von Hermann Beyer & Söhno (Beyer & Mann) in Langensalza. 








A. Abhandlungen. 


1. Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei 
Kindern. 
Von 
A. König, Seminarlehrer in Altdorf. 


(Schluls.) 


Der Gelegenheiten, bei denen uxsere Kinder musikalischen 
Sinn bekunden, sind viele: das kindliche Spiel, insonderheit der 
Reigen, erweckt die Gesangeslust: in der Kinderstube wird, in Nach- 

) > 
ahmung väterlicher Tätigkeit, mit der aus Brett und Schnur fabri- 
zierten Geige, mit Trichter und Blechstürze ein Konzert aufgeführt. 
v i as mehr in der Welt herumstreun tönt z 
Wenn der Bube etwas mehi ler Welt he treunt, ertönt auf 
den Gassen sein Pfiff (das Mädchen ist dazu wohl zu sittsam), und 
kommt das Frühjahr, so wird vom saftigen Weidenaste die Bastpfeife 
geschnitten. Es wäre hochinteressant, die Kinder verschiedener 
Nationen auf die Betätigung und Entwicklung musikalischen Sinnes 
beobachten zu können. Ich konnte hierüber, wie schon oben ange- 
deutet, nur wenige Mitteilungen finden. Im ganzen zeigt wohl auch 
die Kinderwelt verschiedener Nationen mancherlei Unterschiede. Man 

ie italienische Sangeslust und weils, dafs auch unsere deutschen 
kennt die italienische Sangeslust und weils, dal | e deutschen 
Kinder gerne singen. Srrenwer erzählt in seinem Buch -Das Lied 
als Gefühlsausdruck-, dafs im Erzgebirge von seinen Kameraden dic 
zweite Stimme blofs nach dem Gehör, und zwar meist richtig, aus- 
geführt wurde, und dafs dieses Scekundieren eine allgemeine Er- 
scheinung im Erzgebirge sei: später sei er erstaunt gewesen, Wie 
wenig und so wenig gut er am Elbstrom singen hörte (wieder ein 

Die Kinderfehler. VIII. Jahrgang. 7 


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95 A. Abhandlungen. 





Beweis, dafs in den Niederungen die Sangeslust abnimmt). Ein Buch 
über Kinderlieder und Kinderspiele im Kanton Bern von G. ZÜRICHER 
(enthaltend 1096 Einzelnummern) darf wohl an sich schon als ein 
Beweis von der Sangesfreudigkeit der dortigen Jugend gelten. Von 
englischen Kindern las ich einmal, dafs sie wenig sängen, und von 
Nordamerika berichtet eine Erzählung »Die Auswanderer von Talvj 
(einer bekannten Forscherin auf dem Gebiete des Volksliedes), dafs 
selbst die Kinderwärfterinnen nicht immer sängen, sondern oft die 
Kinder summend und schaukelnd in den Schlaf lullen, weil ein ab- 
solutes Unvermögen des Gesanges vorhanden sei. Freilich — Amerika 
ist grofs, und manches mag inzwischen (seit 1852) anders geworden 
sein. Wenigstens lese ich in einem Bericht über ein Konzert der 
amerikanischen Fisk- Sänger (von der Fisk- University Nashville) in 
München (1875) dafs das zum gröfsten Teil aus Negermelodien der 
südlichen Provinzen bestehende Programm von Kindern ehemaliger 
Sklaven ausgeführt wurde, »und es würde für andere Künstler un- 
möglich sein, derartig in den tiefen Sinn dieser eigenartigen Volks- 
lieder emzudringen und diese mit solchem Gefühl und soleher Hin- 
gabe zu Gehör zu bringen<e. ZEtlichen Überschwang des Bericht- 
erstatters abgezogen, beweist die Mitteilung doch wenigstens das Vor- 
handensem musikalischen Sinnes und die Bildbarkeit jener Kinder 
(bezw. der schwarzen Rasse). Russische bausbäckige Jungen hörte 
ich im Chore der Napia SLAvIaxskyY mit grofser Sicherheit und Rein- 
heit singen. Wenn in Böhmen viel musikalische Begabung vor- 
handen ist, so darf man es zum Teil auf Rechnung des von M. M. 
v. Weser (C. M. v. Weeer, ein Lebensbild) erwähnten Umstandes 
setzen, dafs im 17. u. 18. Jahrhundert der Unterricht in Gesang und 
Musik selbst in der untergeordnetsten Dorfschule einen Hauptgegen- 
stand der Unterweisung bildete. An den ägyptischen Gassenjungen 
gröfserer Städte fiel es Pasie (Beil. z. Alle. Zte. 1592) auf, dafs sie 
nicht pfeifen. Über spanische Kinderlieder beriehtet Disrexs (Gorr- 
SCHALL, Unsere Zeit 1885), dals Rundtänze mit Gesang begleitet 
werden. »Die Melodien dieser Lieder sollen sehr alt sein, jedenfalls 
sind sie überaus monoton, und dies ist bei dem Reichtum an 
hübschen, leichten Tondichtungen und bei dem Reichtum der Volks- 
musik an anziehenden Airs schon befremdend.« Es kann mir natür- 
lieh nicht beifallen, aus diesen dürftigen Notizen irgendwelche Schlüsse 
zichen zu wollen, zumal die Beobachter meist keine Melodien ver- 
zeichnen. Hier liegt noch ein reiches Arbeitsfeld brach. Wer 
heackert mit? 

Im kurzen Rückblick möchte ich zusammenfassen, wie und was 


Köxıc: Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei Kindern. 99 


die Musik im Kinde wirkt. »Wer weils, was ein Kind hören mag 
in deinen göttlichen Seufzern, geboren aus der Luft, die es atmet!« 
Dem überschwenglichen Ausruf des Dichters Musser möchte der 
prüfende Psychologe etwas kühl gegenüberstehen. Das normale Kind 
hört in der Musik zunächst nichts oder recht herzlich wenig von 
göttlichen Seufzern, und von Gemüt enthält die stereotype Formel 
des Kinderliedes meines Erachtens gar nichts. Was ists doch, das 
dem Kinde zuerst Freude an der Musik verursacht? Nur der Klang, 
nur das Stoffliche, das Sinnliche. Je heller die Obertöne klingen, 
je harmonischer die einzelnen Elemente verschmelzen, um so mehr 
strahlt das Gesicht, um so mehr zappeln Hände und Füfse. Glocken, 
Stahlplatten, Gläser sind im ersten Stadium willkommene Dinge. 
Darnach entwickelt sich die immer noch sehr rohe Freude an einem 
ganz elementaren Rhythmus. Kinder reifen auch in musikalischen 
Dingen normalerweise vom Einfachen zum Höheren, vom Sinn- 
lichen zum Geistigen. Meiner eigenen Entwicklung gedenkend, würde 
ich es keinem gesunden Schüler verargen, wenn er zunächst an den 
weichen Weisen der italienischen Opernschule, an der formalen Musik 
eines Kustav u. s. w. Gefallen findet, auf die der Erwachsene oft 
mit einem überlegenen Lächeln herabsicht. Ohne Bedenken ver- 
werfe ich deshalb die Bestrebungen jener Pädagogen, die in falscher 
Anwendung des Spruches von dem Besten, das für unsere Kinder 
gerade gut genug sein soll, möglichst rasch zu ein paar wenn auch 
noch so amıseligen Stücken von Bacu greifen. Will man nicht viel- 
leicht im Leseunterricht Ausschnitte aus Kant bieten? — Auch das 
Formenverständnis erwacht normalerweise zuerst nur für die cin- 
fachen Gebilde des Liedes, des Marsches, der Sonatine, sehr spät 
erst für den polyphonen Satz. Nicht, als ob einem geweckten 9- bis 
1Ojährigen Kinde das Charakteristische der Stimmenführung unzu- 
gänglich wäre, aber innerlich fühlen wird das Kind dabei nichts. 
Sehr allmählich erst entwickelt sich Geschmack und Urteil — genau 
wie bei Werken der Dichtung und der bildenden Kunst. Im allge- 
meinen wird Musik von Kindern, wenn überhaupt erfalst, nur von der 
Seite des Gefühls, nicht von der eines ästhetisch gebildeten Urteils 
verstanden werden. Darum versteht auch das Kind die Schönheit 
der musikalischen Form in der Regel so wenig wie den Aufbau 
eines Gedichtes. Dem Polyphonen insbesondere bringt der Schüler 
fast kein Interesse entgegen. Es ist ja ganz natürlich, dafs dem so 
sehr in der sinnlichen Anschauung befangenen, von allem Sinnen- 
fälligen angezogenen und beherrschten Kinde derartige Abstraktionen 
ferne liegen. Und doch mufs der Mensch aus den Niederungen des 
qF 


100 A. Abhandlungen. 


Materiellen in die hiehteren Höhen des Geistigen emporsteigen, der 
musikalische Sinn mufs sich zuletzt auch zum Verständnis der Form 
und des «rehaltes einer Komposition emporschwingen. HoLZINGER 
schreibt mir: Sinn für das geistig Musikalische? Er ist mir fast nie 
begegnet. In einer Zeit, wo man ihn hätte suchen, wecken und 
pflegen können, hatte ich gewöhnlich nicht mehr «lie Ehre, der Lehrer 
des Betreffenden zu sein. Ein Spiel mit Empfindung, mit ver- 
ständiger Phrasierung, ein Singenlassen des Instrumentes, ein Vor- 
trag mit Hören auf die Stimmführung u. s. w. — angestrebt habe 
ich dies allezeit, erreicht fast nie.« Trotzdem darf man Kindern den 
musikalischen Sinn noch nicht absprechen, wenn das sogenannte 
musikalische Urteil noch nicht vorhanden oder reif ist; würden 
doch auch Empfänglichere die formalen Schönheiten z. B. von 
Schillers Glocke schwerlich verstehen. Fast möchte man glauben, 
dafs die Geschlechtsreife, die so mancherlei Gefühle auslöst, auch 
das musikalische Gefühl erstarken und erblühen Jäfst. Schliefslich 
darf nieht vergessen werden, dafs zu jeder gedeihlichen Kunst- 
ausübung eine allgemeine Verstandesreife gchört, die erst in späteren 
Jahren erworben wird. So kommt es denn, dafs manche Kinder mit 
ganz gutem Sinn für das Klangliche und für Rhythmus bei aller 
Übung es in der Musik späterhin nie zu etwas Bedeutendem bringen, 
weil ihnen der Geist fehlt, um cine künstlerische Stufe zu erklimmen. 
»Gehör allein tuts nicht. Einer meiner Schiler hatte ganz gutes 
Ohr, war aber im übrigen geistig minimal begabt; mit ihm mulste 
ich aufhören« (Horzixser). — Wenn ich nun noch die Frage streife, 
wie weit die Entwicklung des musikalischen Sinnes von ererbten 
Anlagen abhängig sei, so geschieht dies mit einigem Zagen. Weils 
ich doch zu gut, wie gerade in diesem Punkt bei Laienurteil Un- 
wissenheit und kecke Behauptung in geradem Verhältnis zu stehen 
pilegen. Man vergleiche damit, wie vorsichtig z. B. NÄsELı in seiner 
Abstammungslchre sich über die Vererbung von Anlagen ausspricht. 
— Den Anteil des Gehirns an der musikalischen Anlage und Ent- 
wicklungsfähigkeit mögen Anatomen und Physiologen zum Gegen- 
stand ihrer Untersuchungen machen. Bei dem gegenwärtigen Stand 
der Gcehirnforschung sind wohl auf lange Zeit Aufschlüsse in dieser 
Beziehung nicht zu erwarten. Man sagt, Singvögel hätten das 
günstigste Hirngewicht (Scuuutzz, vergl. Seelenkunde). Auch soll der 
normale Bau der Gehör- und besonders der Stimmorgane, mithin 
auch die Befähigung zum Kunstgesang, in dem Grade zunehmen, in 
dem die menschliche Schädelbildung sich von der animalischen ent- 
fernt (Dr. Häiser, Euterpe 1873). Defekte in der musikalischen Be- 


Könis: Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei Kindern. 101 





gabung scheinen manchmal Zeichen von Degencration infolge Ver- 
mischung verwandten Blutes zu sein. So berichtet Euterpe 1875, 
dafs bei den Mennoniten in den Werdern durch Tneinanderheiraten 
körperliche Gebrechen, auch Taubheit, Schwerhörigkeit u. s. w. ver- 
ursacht werde. Ein Lehrer jener Gegend mufste wegen der geringen 
Begabung der Knaben, die obiger Berichterstatter ebenfalls auf das 
Ineinanderheiraten zurückführt, Mädchen zum Leichensingen ver- 
wenden. Bei Juden, wo dieselben geringer Verbreitung halber eben- 
falls ineinander heiraten, sollen die meisten Taubstummen vorkommen. 
SCHMID - NMoxxarps Untersuchungen (72. deutscher Naturforschertag) 
ergaben, dafs geistig beschränkte Kinder meist auch körperlich minder- 
wertig waren und in schlechten Verhältnissen lebten, vielfach aus 
Trinkerfamilien hervorgingen. Das Hörvermögen war nur bei tio 
normal, 1/, verstand die Flüstersprache nur unter 4 m Entfernung, 
4/, hatten Nasenwucherungen. Nach Trürzr, Kinderfehler, hört fast 
1/, der Schulkinder nicht normal; auch Moxror (Studium defekter 
Kinder in Amerika) kommt zu ähnlichen Resultaten. Von einem 
‚geistig schwachen, aber sittlich begabten Knaben berichtet Trürer 
(Kinderfehler 1896), dafs scine Tonvorstellungen etwas herabgemindert 
waren, dafs er im Chor richtig mitsang, allein aber keinen Ton hielt. 
Gerade Trürers Anstalt mülste reichliche Gelegenheit zu Beob- 
achtungen bieten. Geistig nicht normale Kinder können immerhin für 
das eigentlich Materielle in der Musik, Klang und Rhythmus, emp- 
fänglich sein, für das Geistige natürlich so wenig wie auf andern 
Gebieten. Früher beobachtete ich ein solches Kind, das insbe- 
sondere am Trompetenton seine lebhafte Freude äufserte. 

Von grolsem Interesse — beispielsweise für eine Lehrplantheorie 
— wäre die auf Versuche zu gründende Darstellung der Durch- 
schnittsbegabung für Gesicht und Gehör. Die bisher zur Ermittelung 
des kindlichen Gedankenkreises angewandten Fragentabellen bieten 
für einen Vergleich der Gehörs- und Gesichtsvorstellungen zu wenig 
Anhaltspunkte, indem z. B. von 100 Fragen 98 das Auge, nur 2 das 
Ohr berücksichtigen. Ich habe mir die Mühe gemacht, aus einer 
dieser Tabellen einen rechnerischen Durchschnitt zu suchen und 
habe für cine Gesichts- und eine Gehörsvorstellung ungefähr gleich 
viel Prozente ermittelt. Freilich lege ich dieser Berechnung nicht 
den geringsten Wert bei, da mir ja nur 2 Angaben über das Gehör 
zur Verfügung standen. Zudem wiegt in der Beurteilung das genaue 
Nachsingen eines Tones oder gar das richtige Singen eines Liedes 
viel schwerer, als etwa die Feststellung, das Kind habe schon cine 
Gans, eine Lokomotive u. s. w. gesehen. Im letzteren Falle handelt 


102 A. Abhandlungen. 





es sich um die Erinnerung an eine meist noch dazu unklare Vor- 
stellung, im ersteren um das viel schwierigere Nachmachen — ein 
wichtiger Unterschied, den meines Wissens die Fragetabellen bisher 
überhaupt aufser acht gelassen haben. Dieses so verlockend und 
wissenschaftlich ausschauende Rechnen nach Prozenten wird sich 
überhaupt manchen Zweifel an seiner Richtigkeit gefallen lassen 
MÜSSEN. 

Dem normalen Kinde steht das frühreife, das scheinbar oder 
wirklich aufserordentlich begabte, gegenüber. Wer kennt sie nicht, 
die musikalischen Wunderkinder, die aufblitzenden und rasch ver- 
löschenden Meteore am Himmel der Kunst? »Man halte ja im all- 
gemeinen nicht viel von Wunderkindern«, liest man bei jedem ein- 
zelnen Falle in den stets offenen Spalten der Zeitungen, »aber dies- 
mal — — —.c Nun, die Zukunft hat es noch fast immer gelehrt, 
dafs es auch diesmal weiter nichts war, als eine früh gereifte, aber 
durchaus nicht anders geartete Frucht. Im 15.—20. Jahr pflegen 
die Knaben. im 14.—17. Jahr «die Mädchen nachzulassen, und zu- 
meist fordert mit beginnender Geschlechtsreife der Tod seine Opfer.. 
Unsere grofsen Heroen sind ja, allerdings nicht ganz im landläufigen 
Sinne, zumeist Wunderkinder gewesen. Das gröfste unter ihnen, 
Mozart, hat es an seiner geistigen Entwicklung und an seinem 
Leben schwer büfsen müssen. Einer meiner jüngeren Freunde war 
soleh ein Wunderkind auf einem Saiteninstrumente Er ist später 
auch kein gröfserer Musiker geworden als scine Kameraden, aber 
der Reiz des Lebens — auch des musikalischen — war für ihn 
schon abgestreift zu der Zeit, da gewöhnliche Leute das Leben noch 
gar nicht recht zu schen pflegen; »des Lebens Mai blüht nur ein- 
mal, meiner ist verblühte, pflegte er resigniert zu sagen. Danken 
wir Gott, dafs es auch auf musikalischem Gebiete wenige Wunder- 
kinder gibt. Übrigens hatten die meisten grofsen Musiker und die 
meisten Wunderkinder in ihrer Jugend sich eines vorzüglichen 
Unterrichts zu erfreuen. 

Auch das Geschlecht spielt eine Rolle hinsichtlich der musika- 
lischen Begabung; kaum auf dem Gebiete der Wissenschaften ist der 
Unterschied der Begabung gröfser als in der Musik. Zum Entsetzen 
meiner Leser, «die wahrscheinlich die Musik eine weibliche oder gar 
weibische Kunst nennen, wage ich die Behauptung: der innerste 
Kern der Musik ist nur Männern zugänglich, das Weib verhält sich 
im ganzen empfangend und das Empfangene wiedergebend; das 
Klavier ist sein Schlachtfeld, und immer mehr verstehe ich das 
Scherzwort unseres originellen Professors H. von den vierhändigen 


Köne: Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei Kindern. 103 





Frauenzimmern. Das Mädchen hat von Haus aus vor dem Knaben 
mehrere Vorzüge, die es in der musikalischen Entwicklung fördern. 
In der Regel ist die Stimme des Mädchens geschmeidiger und wird 
bekanntlich durch die Mutation nicht in dem Mafse verändert wie 
die Knabenstimme. Die zarteren Hände, die bei Spiel und Arbeit 
nicht so derb zuzulangen pflegen. die gröfsere Ausdauer begünstigt 
das Erlernen eines Instrumentes. Doch will es mich nach meinen 
Erfahrungen bedünken, dafs die Mädchen sehr bald allem kompliziert 
Rhythmischen hilfloser gegenüberstehen als die Knaben. 

Das Verhältnis von allgemeiner und musikalischer Begabung ist 
in der Lehrerwelt Gegenstand vieler, manchmal sogar bewegter Er- 
örterungen. Oft genug hört man die Klage, gute Musiker seien im 
übrigen schlechte Schüler (oder wie der Volkswitz drastischer sagt: 
Gute Musikanten, schlechte Christen). Ich leugne nicht, dafs in 
manchen Fällen bei einer verhältnismäfsig guten musikalischen Be- 
gabung wenig Sinn fürs Wissenschaftliche zu finden ist, bitte aber 
auch nicht aufser acht zu lassen, dafs ein Teil dieser Fälle von vorn- 
herein auszuscheiden ist, wenn nämlich bei sonst fähigen Schülern 
die Sirenenklänge der Musik die Lust an der scheinbar oder wirk- 
lich trockenen Lernarbeit ertöten. Die gegenteilige Behauptung, dafs 
die wissenschaftlich tüchtigsten Schüler in der Regel schlechte Musiker 
seien, mufs ich bestreiten. Gute Schüler sind nach meiner Erfahrung 
in vielen Fällen auch vorzügliche Musiker gewesen, mindestens gc- 
hörten sie zum guten Mittelschlag, und wo die musikalisch - tech- 
nische Befähigung unzureichend war, mochte in vielen Fällen Mangel 
an frühzeitiger Ausbildung die Schuld tragen. Es wäre doch zu 
sonderbar, wenn bei dem normalen Menschen, der von Jugend auf 
in wissenschaftlicher Richtung erzogen wird, aber keinen Musik- 
unterricht genicefst, nicht die sogenannte wissenschaftliche Beanlagung 
die musikalische überwöge. Zum Schlusse noch eines: man wird 
nicht nachweisen können, dafs wirkliche Künstler auf musikalischem 
Gebiet im übrigen Dummköpfe waren; aus ihren Biographien erhellt 
das Gegenteil — und richtige Dummköpfe waren noch nie wirkliche 
Künstler. 

Als Beispiel für die Vererbung musikalischer Fähigkeiten pflegt 
man die bekannte Familie Baca anzuführen. Selbst wenn man aber 
die Fortpflanzung der Anlage annimmt, darf man doch die Vorteile 
der Söhne gegenüber den Vätern nicht aus dem Auge lassen, darin 
bestehend, dafs des Vaters methodische Geschicklichkeit vermöge der 
erworbenen musikalischen Fähigkeiten bei dem Sohne bereits an 
einem höheren Punkte einzusetzen vermochte, als der Ahn an dem 


104 A. Abhandlungen. 








Vater es gekonnt. Sehwierigkeiten für die Deutung bereitet auch 
der bekannte Umstand, dafs der musikalische Sinn bei verschiedenen 
Kindern einer Familie verschieden sein kann. Auch das kommt 
nicht allzuselten vor, dafs aus recht musikalischen Familien gänzlich 
unmusikaliseche Kinder hervorgehen. Im ganzen ist die Frage der 
Vererbung eine so ungeklärte und heikle, «dafs ich nicht leicht eine 
pädagogische Mafsregel auf sie gründen möchte. Ich spreche, wenn 
ich auch hierin raschem Widerspruch begegnen sollte, auf Grund 
vielfacher Erfahrungen die Meinung aus, dafs die Durchschnitts- 
begabung für Musik im ganzen nicht größser und nicht geringer sel, 
als für andere Fächer. 

Darf man aus der Entwicklung des musikalischen Sinnes bei 
Kindern weitergehende Schlüsse ziehen? Die schon von Preyer nach- 
rückhlieh betonte Tatsache steht unzweifelhaft fest, dafs musikalische 
Klänge bereits ein volles Jahr vor den eigentlichen Sprechversuchen 
perzipiert und unterschieden werden. Das allerdings ganz primitive 
Singen gehört nach Prevers Beobachtungen, die ich aus eigenen Be- 
obachtungen an meinem Knaben bestätigen kann, zu den frühesten 
nachahmenden Tätigkeiten der Kinder. Die Bedeutung dieser Tat- 
sachen sucht freilich Sıuuen im 13. Bd. der Zeitschrift für Völker- 
psychologie von Lazarcs und Sreixtnar abzuschwächen, indem er be- 
hauptet, ¿Kinder sängen nicht aus eigenem Antrieb nach: das wort- 
lose Vorsichhinsingen werde nur bei Erwachsenen, nie bei kleinen 
Kindern beobachtet, die immer Worte sängen.«  Indessen ist doch 
auch nicht zu übersehen, dafs Kinder in der Regel cher Töne 
nachsingen, als sie Worte nachsprechen. Darf man aus den er- 
wähnfen Tatsachen einen Schlufs auf den Urzustand der mensch- 
lichen Sprache wagen? Sollte das musikalische Element in den An- 
fangsstadien der Sprache eine größere Rolle gespielt haben, als wir 
annehmen? Die Sprachen sind ja in ihrer Kindheit musikalisch klang- 
voller als später, und Berichterstatter wissen vielfach zu erzählen, 
dafs die Sprache der Naturvölker etwas Ningendes hat. Etwas Ahn- 
liches ist ja der richtige, von der Kulturmusik noch unbeeinflufste 
Kindergesang: kein Singen im künstlerischen Sinne, nicht eine 
Melodie nach unsern musikalischen Begriffen, sondern mehr ein 
singendes Rezitieren, das den Wortaccent markiert, etwas sozusagen 
noch Indifferenziertes -- Ursprache. — Wie ich diesen Punkt nur 
flüchtig berühren kann, so auch einen andern, nämlich Darwıns Be- 
hauptung, der Gesang sei ursprünglich sexuelles Reizmittel gewesen. 
Es hat diese Ansicht viel Bestechendes, sofern man die Tierwelt mit 
ihren gefiederten Sängern ins Auge falst. Indessen bestreitet schon 


Köxıc: Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei Kindern. 105 





SIMMEL in der erwähnten Abhandlung die Richtigkeit der Darwisschen 
Behauptung unter Hinweis auf das Jodeln der Gebirgsbewohner, das 
in gar keinem strengen Zusammenhang mit der Geschlechtssphäre 
stehe. Auch die Entwicklung des musikalischen Sinnes vermag zu- 
nächst nichts zu beweisen. Kinder singen sehr gerne: was sollte 
aber ihr Gesang mit dem geschlechtlichen Leben zu tun haben? Um 
Darwıss Anschauung zu stützen, mülste der Nachweis erbracht 
werden, dafs die beginnende Geschlechtsreife den Sangestrieb in auf- 
fallender Weise hervortreten lasse oder ändere. Nun bringt aller- 
dings die körperliche Entwicklung eine unter dem Namen Mutation 
bekannte und besonders bei dem männlichen Geschecht auffällige Ver- 
änderung der Stimme mit sich; ob aber mit der erwachenden Gc- 
schlechtsliebe wesentliche Umwälzungen auf gesanglichen Gebiet ein- 
treten, dieser Frage möchte ich heute aus Mangel an hinreichendem 
Material nicht näher treten, möchte sie aber aus meiner bisherigen 
Erfahrung heraus keineswegs unbedingt bejahen. Nach Grosse (Die 
Anfänge der Kunst) soll die primitive Musik in einem gewissen Zu- 
sammenhange mit dem Kriege stehen; auch in dieser Beziehung gibt 
die musikalische Entwicklung des Kindes nicht wohl einen Anhalts- 
punkt. — Vielleicht liefsen sich im Anschlufs an das gewonnene 
Material noch manche derartige interessante Fragen aufwerfen; der 
Beobachtungen sind aber noch viel zu wenige, als dafs man nicht 
in Schlüssen die äulserste Vorsicht zu beobachten hätte. 

Und nun, da wir es nicht wohl ohne eine »Awendunge tun, 
noch ein paar pädagogische Ergebnisse. — Sprache und Musik 
geben dem Gehör erst seine Bedeutung, erheben den Menschen in die 
Sphäre des Geistigen. Dem Tiere ist das Gehör kaum etwas Höheres, 
als der Geruch: ein Instrument, das ihm zu seines Leibes Nahrung 
und Notdurft dienlich ist. Wer jeglichen musikalischen Sinnes er- 
mangelt, dem geht cin Stück allgemein menschlicher Bildung ab so 
gut wie dem, der beim Anblick eines künstlerischen Bildes oder beim 
Hören einer vorzüglichen Dichtung nichts empfindet. Die Musik ist 
etwas Eigenes, was sich mit keinem andern Erzeugnis des menseh- 
lichen Geistes vergleichen läfst; sie ist ohne natürliches Vorbild. 
Hervorragende musikalische Begabung ist ebenso selten wie Mangel 
an jeglicher Begabung — genau wie in andern Fächern. Die Welt 
ist weit und hat viel Platz für die goldene Mittelmälsigkeit; über 
geringe Anlagen klagen, ist töricht. Der Engländer Iriran wurde 
seinerzeit ausgesandt, um den Gesang auf dem Festlande zu studieren. 
»In Deutschland sind die Resultate des Unterrichts die denkbar 
ärmsten, während sie in der Schweiz, in Holland und in Belgien in 


106 A. Abhandlungen. 





hohem Grade zufriedenstellend sind. Besonders die Schulen von 
Holland und Belgien bieten zahllose Beispiele, dafs Kinder aus den 
niedrigsten Klassen im Alter von 9 und 10 Jahren nicht nur das, 
was sie cingeübt haben, geschmackvoll und fein vortragen, sondern 
dafs sie auch sehr schwierige Sachen a vista mit soviel Leichtigkeit 
und Verständnis singen, wie man von ihnen beim Lesen neuer, aber 
innerhalb ihres Verständnisses liegender literarischer Sätze verlangen 
kann.« Merkwürdie, dafs gerade in Deutschland so wenige musika- 
lische Anlagen vorhanden sind, in dem Land, das seit 100 Jahren 
die klassische Periode der Tonkunst erlebt hat, das noch heute an 
der Spitze des europäischen Musiktreibens steht! Oder sollte der alt- 
beliebte Schlendrian unseres sogenannten Gesangunterrichts an jenen 
Milserfolgen schuld sein? In den Münchener Singschulen hörte ich 
unter GreLLs Leitung recht bedeutende Leistungen. Merkwürdig auch, 
dafs sich gerade durch Huruans und anderer Bestrebungen die Anlagen 
der englischen Jugend so erfreulich gebessert haben! Denn früher be- 
trug (Päd. Jahresber. v. Gottschalg 1890) in den Elementarschulen 
die Zahl der nach Noten singenden Kinder 20 %,, 6 Jahre später 
630%. — Aus meinen auf Erfahrung gegründeten Anschauungen 
über musikalische Anlagen ergeben sich, wenigstens für mich, folgende 
Konsequenzen: wo Musik in den Lehr plan einer Schule Sienno 
ist, haben Dispense genau dieselbe Berechtigung wie z. B. in 
Mathematik, für welche die Durchschnittsbegabung keine höhere ist 
als in Musik (vergl. auch Herm über Gesangunterricht im letzten 
Jahrb. d. Ver. f. wissensch. Päd.); Anlagennoten in Musik (wie bei 
uns in Baycın an Lehrer oe eingeführt) setzten eigent- 
lich auch Anlagennoten für einzelne andere Unterrichtsfächer voraus. 
— Die natürliche Anlage wird sich ohne äufßserlichen Anstofs nicht 
wohl entfalten; das Talent kann schlafen. Es mag sem, dals einzelne 
(Genies E und trotz aller Erziehung eigene Wege finden und 
dafs, nach Ror, der Einflußs der Erziehung nur für die Mittel- 
mäfsigkeit ancrkannt werden kann; diese Mittelmäfsigkeit ist aber 
die gröfsere Menge, und die Erziehung ist im allgemeinen dafür ver- 
antwortlich zu machen, ob die musikalische Durchschnittsbildung 
eines Volkes gut oder schlecht sci. Im Urteil über die Anlage sei 
man vorsichtig, doppelt, wenn es sich um die Berufswahl handelt. 
Rasche Entwicklung berechtigt nicht immer zu grofsen Hoffnungen, 
langsame nicht unbedingt zu Schwarzscherei. Man bedenke nur, was 
2. B. im Klavierunterricht so eine kleine Seele alles auf einmal an 
soll: Noten, Zeilen, Takt, Rhythmus, schöne Hand- und Körperhaltung, 
verschiedenes Spiel beider Hände. Talentvolle Schüler, die durch 


Köxre: Die Entwicklung des musikalischen Sinnes bei Kindern. 107 


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Pedanterie oder Nachlässigkeit gewaltsam zurückgehalten werden, ver- 
lieren oft die Lust und werden nicht selten für unbegabt erklärt. — 
Hauptmittel für die Entwicklung des musikalischen Sinnes ist die 
Gehörbildung, also in erster Linie der Gesang. Glücklicherweise 
bringt dazu fast jeder das nötige Instrument mit. Die Fähigkeit des 
Treffens ist bei der Aufnahme in die Schule nicht grofs. Sie cr- 
erstreckt sich hauptsächlich auf die Töne der Mittellage. Die soge- 
nannten Brummer sind durchaus nicht immer unmusikalisch und 
lassen sich durch gewisse pädagogische Mafsnahmen meist bald zum 
richtigen Singen erzichen. Aus verschiedenen Gründen mufs der 
Gesangunterricht nicht nur von der Mittellage ausgehen, sondern 
auch lange dabei verweilen. Der Rhythmus ist nach meinen obigen 
Darlegungen nicht Sache des Denkens, sondern mehr des körper- 
lichen Empfindens. Deshalb verwerfe ich lautes Mitzählen des 
Schülers während des Klavierspiels, nach meiner Erfahrung regelt 
nicht der Schüler sein Spiel durch das Zählen, sondern er läfst sein 
Zählen durch das Spiel beeinflussen, was bemerkbar wird, sobald 
sich rhythmische Fehler einstellen. Gutheifsen möchte ich es da- 
gegen, wenn der Lehrer mit Konsequenz sich so lange der Mühe des 
Mitzählens unterzieht, bis der Takt dem Schüler in Fleisch und Blut 
übergeht. — Das musikalische Gedächtnis wird im allgemeinen zu 
wenig geübt. Phantasieren soll man dem Kinde nicht wehren, sofern 
das Kind ein Bedürfnis dazu empfindet. — Da für eine höhere Ent- 
wicklung des musikalischen Sinnes eine gewisse allgemeine Geistes- 
reife erforderlich ist, soll ein eigentlicher Musikunterricht nicht vor 
dem 9. oder 10. Jahre beginnen, dann aber auch mit klarem Be- 
wufstsein auf die Entwicklung des musikalischen Verständnisses hin- 
zuarbeiten suchen. Wenn ich eben darauf hingewiesen habe, wie 
sehr allmählich die Entwicklung des musikalischen Sinnes vor sich 
geht, wie insbesondere das eigentlich Geistig-\Musikalische von Kindern 
nicht erfalst wird, wie das Verständnis für Harmonien, Formen u. s. w. 
sehr spät sich entwickelt, so mag der geneigte Leser selbst ein Urteil 
fällen über die durch die Hamburger Lehrerschaft aufgekommenen, 
recht gut gemeinten Bestrebungen, den Kunstsinn der Kinder durch 
Besuch klassischer Konzerte zu wecken. 

Meine Arbeit suchte «die Entwicklung des musikalischen Sinnes 
bei Kindern im einzelnen darzustellen und daraus etliche pädagogische 
Hauptgesichtspunkte zu gewinnen. Die spezielle Anwendung der 
letzteren auf den Unterricht kann hier nicht meine Sache sein. 
Gerne gestehe ich zu, dafs in diesen Zeilen nur ein Fragment vor- 
liegt, das noch gar schr der Ergänzung bedarf. Man benötigte noch 


108 


A. Abhandlungen. 








eines reichen Beobachtungsmaterials, zu dessen Beibringung sich Arzt, 
Naturforscher, Psychologe, Lehrer und Musiker vereinigen mülsten. 
Um dieses zu gewinnen, lade ich Freunde der Sache ein, auf folgende 
Punkte ihr Augenmerk zu richten. 

I. Personalien. 


1. 


Name, Geschlecht, Geburtszeit, Geburtsort (Konfession), 
Stamm, Nation des Kindes. 

Die Eltern, bezw. Vorfahren. Haben sie Sinn für Musik? 
Etwaige Verwandtschaft der Eltern. 


. Die Geschwister. Wie verhält sich deren Allgemeinbegabung 


zu der des zu beobachtenden Kindes? 


ll. Allgemeinbelinden. 
Das körperlich normale Kind. 


4. 


Ist das Kind körperlich, besonders in Bezug auf Gehör, 
normal? In welcher Entfernung versteht es Flüstersprache? 


Körperliche Anormalitäten. 


rn 
3. 


6. 


Vorhandene Sprachfehler und deren Ursachen. 
Nervosität. 


Geistige normales Kind. 


T. 


S. 


Wie verhalten sich die Anlagen für Sprachliches, Mathe- 
matik, Musik, Zeichnen? 

Temperament. Hat es auf die Erlernung der Musik einen 
Einflufs geübt? Nimmt der Schüler leicht auf, ist er auf- 
merksam, wann tritt Ermüdung ein? 


Geistig Anormalen. 


9, 


Stumpfsinn, Blödsinn. Ursachen. Ist irgend welche Emp- 
fünglichkeit für Musik vorhanden, nach welcher Richtung? 


III. Einwirkungen auf das Kind. 


10. 


11 


Hat die Mutter Wiegenlieder u. s. w. gesungen? 
Ist die Heimat sangesfreudig? 

Einflufs des Kindergartens. 

Gesellschaft, mit der das Kind verkehrt. 


IV. Die einzelnen Richtungen des musikalischen Sinnes. 
Empfänglicheit für musikalische Klänge. 


14. 
15. 
16. 
17. 


Wann und wie ist sie an Tieren zu bemerken? 

Wann reagiert das Kind auf musikalische Klänge? 

Welche Klänge verursachen Befriedigung, welche Mifsbehagen ? 
Wie verhält sich das Kind zu hohen und tiefen Tönen, zu 
starken und schwachen Tönen (des gleichen Instrumentes), 
zu Tönen verschiedener Instrumente? 


. Zeigt sich Interesse an Naturlauten (Vogelstimmen)? 


Köwie: Die Entwicklung des musikalisches Sinnes bei Kindern. 109 


Melodie. 

19. Wann beginnt das Nachsingen ? 

20. Welche Töne werden nachgesungen ? 

21. Nach welchen Instrumenten wird leichter gesungen? 

22. Wann gelingt das Nachsingen eines Liedes? (Zu empfchlen 
wäre, nur das erste Stückchen eines ganz leichten Kinder- 
liedes vorzusingen. Alles neu macht der Mai, oder Fuchs, 
du hast die Gans gestohlen.) Wievielmaliges Vorsingen ist nötig? 

23. Wann werden Melodien ohne Text behalten? 

24. Welche Intervalle werden leicht, welche schwer getroffen? 
Ist ein bestimmter Zeitpunkt festzustellen ? 

25. Die beliebtesten, von den Kindern aus freiem Antrieb ge- 
sungenen Kinderlieder. 

Rhythmus. 

26. Wann treten Bewegungen bei lebhaften Rhythmus ein? 
(Angabe der gehörten Musikstücke.) Erfolgt die Reaktion 
auch bei blofsem Rhythmus? (Trommelschlag, Klopfen mit 
Hölzern) Wann erfolgen die Bewegungen dem Takt der 
Musik entsprechend? 

27. Bemerkenswerte Fehler gegen den Rhythmus. 

28. Werden irgend welche Rhythmen bevorzugt? 


Harmonie. 


29. 
30. 
31. 
32. 


Wann versucht sich das Kind im Sekundieren? 
Wann zeigt sich Sinn für Konsonanz und Dissonanz? 
Wann für eigenartige Harmonien? 

Wie verhält sich das Kind zu Dur und Moll? 


Gehör. 


33. 


31 


38. 


Ist ein Unterschied zwischen klavierspielenden und gewöhn- 
lichen Schülern zu merken ? 

Können angegebene Töne nach ihrer Höhe bestimmt werden? 
Wann zeigt sich Formensinn? (Verständnis für Phrasierung.) 
Zeigt sich schöpferischer Trieb? Wie? 

Eintritt der Mutation? 

Treten Musikphantome auf? Wann? Welche? 


Im allgemeinen wäre noch zu bemerken, dafs zweckmäfsig jeder 
Beobachtung das Datum beizusetzen wäre. Über die Schwierigkeiten 
des Beobachtens brauche ich mich nicht zu äufsern, sie sind bereits 
in Hartyaxys Analyse des kindlichen Gedankenkreises ins rechte 
Licht gerückt. Liefsen sich derartige Beobachtungen in ganzen 
Schulen durchführen, so könnten bezüglich einiger Punkte auch Be- 
rechnungen nach Prozenten angestellt werden. Man würde finden, 


110 A. Abhandlungen. 





was gemeinsam und was individuell ist; man wird erkennen, welche 
Gesetzmälsigkeiten in der Entwicklung des musikalischen Sinnes zu 
verzeichnen sind. Wer geneigt ist, meine Ausführungen zu ergänzen, 
zu berichtigen oder zu widerlegen, von dem verabschiede ich mich 
mit SHAKESPEARES Worten: Sehn wir uns wieder, freun wir uns gewils. 1) 


2. Abnorme Kindesnaturen. 
Vortrag, gehalten am 6. Dez. 1902 im Waldbröler Lehrerverein. 
Von 
Dr. L. Scholz, dirig. Arzt der Irrenanstalt in Waldbröl. 


(Schluls.) 
Auf die Häufigkeit von Unebenheiten und Widersprüchen 
im Charakter der Abnormen ist schon hingewiesen worden. Auch 


hier handelt cs sich im Grunde nur um eine Steigerung von Eigen- 
tümlichkeiten, die den meisten gesunden Menschen anhaften. Ab- 


solute Konsequenz im Urteilen und Handeln finden wir — vielleicht 
glücklicherweise — auch bei normalen Naturen nicht. Besonders 


hei komplizierter veranlagten Charakteren stoßsen wir bisweilen auf 
die ungleichartigsten Eigenschaften, die m mehr oder minder fried- 
lichem Verein zusammenwohnen. Bei den Abnormen fällt das Wider- 
spruchsvolle noch stärker auf: Herzensgüte und Gefühlsroheit, Sanft- 
mut und Jähzom, Geiz und Verschwendung, Feigheit und Mut, 
Krittelsucht und mildes Verzeihen liegen oft in derselben Brust. 
Denken wir an solche Naturen wie VortamE und Heise; ihre Lob- 
redner und Tadler haben beide recht und unrecht. Über ein und 
dieselbe Person oder Sache ergiefsen sie die Schale des Spottes, um 
sie zu anderer Zeit wieder in überschwänglichen Worten zu preisen. 
Das sicht natürlich nach Charakterlosigkeit und Heuchelei aus. Indes 
beide Male kann (es kann, nicht es mufs) ihr Urteil völlig ihrer Über- 
zeugung entsprechen. Auch unser Urteil wechselt ja: einen Menschen, 
ein Kunstwerk, eine Landschaft lieben wir heute und morgen lassen 
sie uns gleichgültig. Und beide Male sind wir aufrichtig. Der Unter- 
schied zwischen unsern Gefühlsäufserungen und denen der »Charakter- 
losen« ist nur quantitativ: wir erwärmen uns, wo jene begeistert 
sind, wir tadeln, wo jene verabscheuen. Hermer preist das eine Mal 
unser Vaterland mit Enthusiasmus, das andere Mal zieht er es in 


') Unsere Zeitschrift ist geru bereit, diese Freude des Wiedersehen zu er- 
möglichen. Tr. 


ScHoLz: Abnorme Kindesnaturen. 111 


Ma a zz e 


den Kot. Auch unsere Ansicht bleibt nicht konstant, nur schwankt 
sie in geringeren Grenzen. Aber wenn wir für die Ehrlichkeit unserer 
Überzeugung eintreten, haben wir da cin Recht, sie bei jenem zu 
leugnen, allein deshalb, weil scine Empfindung nach der guten und 
bösen Seite hin heftiger lodert? 

Abnormität ist der Krankheit verwandt, und so treffen wir bei 
zahlreichen Psychopathen auf Zustände, in denen sieh der Charakter 
des Krankhaften deutlicher ausspricht. Hierher gehören die Zwangs- 
vorstellungen oder, besser ausgedrückt. die Zwangsgefühle. Es sind 
das mit lebhaften Vorstellungen verknüpfte Gefühle, die sich zwangs- 
mäfsig und unwiderstehlich dem Bewulstsein aufdrängen, obwohl sie 
als etwas Fremdes, Unnatürliches empfunden werden. Auch em 
normal empfindender Mensch kann im Zweifel sein. ob er z. B. das 
Licht ausgelöscht, die Haustüre verschlossen. Briefe nicht in ein 
falsches Couvert gesteckt habe. Aber er beruhigt sich doch, wenn 
er sich von der Grundlosigkeit seines Zweifels überzeugt hat. Der 
an Zwangsgefühlen Leidende tut das nicht: der Zweifel stellt sich 
immer wieder ein, quält und peinigt ihn, läfst ihm keine Ruhe und 
treibt ihn, ihm selbst zur Qual. sich abermals, zum dritten, zum 
zehnten, zum zwanzigsten Male von dem zu überzeugen, was er 
längst weils. Die Zweifel können auch ernstere Dinge betreffen: ob 
man nicht schuld sei an dem Tode seines Kindes. indem man cs 
nicht genügend gepflegt, ob man nicht den Mord begangen. der 
gestern in der Stadt passiert, ob der im.Flusse liegende Körper nicht 
ein Mensch gewesen sci, den man hätte retten müssen. Bei andern 
wieder drängen sich sinnlose oder zwecklose Fragen unaufhörlich 
zwischen das Denken: warum ist 2? X 2 = 4 und nicht = 5? 
Warum sieht der Buchstabe a nicht wie b aus? Warum ist die 
Birne kein Apfel? Wieviel Strafsen gibt es in Berlin, wieviel 
Pflastersteine, wie viele Taschenmesser? Kinder fragen bekanntlich 
mehr, als zehn Weise beantworten können. Das ist durchaus natür- 
lich. Aber sie beruhigen sich, sobald sie irgend cine Antwort er- 
halten haben. Kinder mit Zwangsdenken dagegen können sich, ob- 
wohl sie sich des Unnatürlichen bewufst sind und «darunter leiden, 
dieser Fragen und Grübeleien nicht erwehren. 

Verbreitet, auch bei Kindern, ist die Furcht, sich zu beschmutzen. 
Solche Kinder waschen sich am Tage zwanzig-, vierzigmal die Hände. 
Auch die Ansteckungs- und Bazillenfurcht gehört zum Teil hierher: 
sie kommt, aller Willensanstrengung zum Trotz. immer wieder. 
Zimperlichkeit und Pedanterie sind vielfach auf Zwangsgefühle zurück- 
zuführen: die Schulbücher müssen genau nach der Größe geordnet, 





112 A. Abhandlungen. 


Federhalter und Bleistift parallel liegen, das Löschblatt ganz sauber 
vchalten werden, der Schulranzen gerade am Nagel hängen, — eher 
findet «das Kind keine Ruhe. Bei Erwachsenen ist die Platzangst, 
die Unfähigkeit, allein über emen freien Platz zu gehen, bekannt. 
Dann haben wir die Angst vor dem Eingeschlossensein, vor Dieben 
und Mördern (die Kinder schen nicht einmal unter das Bett wie 
einfach ängstliche, sondern immer und immer wieder), vor Feuer, 
die Angst vor dem Steckenbleiben im Vortrag, die als Lampenfieber 
bekannt ist, die Examensangst u. s. w. Die Befürchtung, es könnte 
etwas Übles passieren, drängt sich, auch ohne dafs sie durch die 
Umstände, z. B. beim Examinanden durch mangelhafte Vorbereitung, 
gerechtfertigt ist, so energisch in den Vordergrund, dafs es nicht ge- 
lingen will, sie zu überwinden. 

Erwachsene haben sich im allgemeinen so weit in der Gewalt, 
dafs die Zwangsgefühle nicht gerade zu gefährlichen oder bedenk- 
lichen Handlungen führen. Bei Kindern ist das anders. Der 
Zwangsgedanke: du mufst dich aus dem Fenster stürzen oder du 
mufst das Haus anzünden oder du mufst mitten im Unterricht dem 
Lehrer ein Schimpfwort zurufen oder ın der Stille des Gottesdienstes 
plötzlich laut schreien oder du mufst den wertvollen Spiegel zer- 
trümmern, kann schr wohl von der Tat gefolgt sein. Freilich spielt 
hier auch das ausgeprägte Triebleben der abnormen Kinder, von dem 
gleich die Rede sein wird, mit hinein. Auch manche der sabnormen 
Gewohnheitens beruhen auf Zwangshandlungen: allerhand Selt- 
samkeiten beim Essen, beim Gehen, beim Sprechen, das Grimassieren 
und Fratzenschneiden, das Nägelkauen, das gezierte und geschraubte 
Wesen, das Sammeln von auch für Kinder gänzlich wertlosen Dingen 
(Papierschnitzeln) u. s. w. 

Bei weitem das gröfste praktische Interesse unter der grofsen 
Zahl der Abnormen beansprucht jene Gruppe, die man als die der 
moralisch Schwachsinnigen bezeichnet hat. Diesen Individuen 
gcht das Vermögen ab, in ihrem Tun und Lassen durch sittliche Ge- 
fühle bestimmt zu werden, und zwar erweist sich diese Unfähigkeit 
nicht als eine Wirkung mangelhafter Erziehung, sondern als die einer 
unvollkommenen Gcehimorganisation. Kinder kommen weder als 
moralische noch als unmoralische Wesen zur Welt, gute und böse 
Keime liegen schlummernd in ihrer Seele. Nun ist es Aufgabe der 
Erziehung, die guten Anlagen zu fördern, die bösen zu hemmen. 
cim kleinen Kinde walten, ähnlich wie beim Tier, anfangs die 
niederen, sinnlichen Gefühle und Strebungen vor und der Selbst- 
erhaltungstrieb, der Egoismus, dominiert über alle andern Regungen. 





ScHoLz: Abnorme Kindesnaturen. 113 


Allmählich jedoch lernt das Kind, belehrt durch eigene Erfahrung 
und fremde Anleitung, die niederen Triebe auf Kosten der höheren, 
ethischen in Schranken zu halten. Das erwachende Mitgefühl zügelt 
die Selbsucht und den Eigenwillen. Jedes gesunde Individuum ist 
in dieser Weise erziehungsfähig. 

Vollzieht sich der Entwicklungsgang trotz günstiger äÄufserer 
Lebensumstände nicht in dieser Weise, so bleibt das Kind, manchmal 
bei guten Verstandesgaben, auf sittlich niedriger Stufe stehen. Es 
unterscheidet recht wohl zwischen Gut und Böse, es weils, was es 
darf und nicht darf, es sagt die zehn Gebote am Schnürchen her, 
aber die Moralregeln durchsetzen sein Gefühlsleben nicht, sie 
sind ihm, was dem Schüler die Genusregeln oder Vokabeln, sie 
werden ihm zu keiner treibenden geistigen Kraft, nicht zum inte- 
grierenden Bestandteil seines innersten Wesens und damit nicht zur 
Richtschnur seines Handelns. Deshalb kennt es auch keine Reue, 
kein Schamgefühl, keine Gewissensbisse. Um ein Schuldbewulstsein 
hervorzurufen, genügt nicht die leere Kenntnis des Unreceht-Getan- 
habens, das blofse Wortwissen, sondern die Erkenntnis mufs mit dem 
Fühlen, der Kopf mit dem Herzen ein Bündnis eingegangen sein. 
Auf schwerer Versündigung ertappt, ärgert sich das Kind wohl über 
seinen Mifserfolg, etwa wie ein Reisender, der ein Dutzend Cigarren 
über .die Grenze hat schmuggeln wollen und nun erwischt worden 
ist, aber von innerer Zerknirschung ist bei ihm ebensowenig zu 
spüren wie bei diesem. 

Bisweilen freilich liegt die Sache noch anders. Das moralische 
Gefühl, Scham und Reue, fehlen nicht ganz. aber sie sind viel zu 
schwach entwickelt, um dem weit mächtigeren und oft überstark 
ausgebildeten Triebleben das nötige Gegengewicht zu leisten. 
Moralisch Schwachsinnige neigen, wie die Mehrzahl der Abnormen 
überhaupt, zu impulsiven Handlungen: der Trieb setzt sich sofort in 
die Tat um, ohne dafs wie beim Gesunden die Überlegung warnend 
dazwischentritt. Manche dieser Handlungen erweisen sich schon 
durch ihre Zweck- und Sinnlosigkeit, sowie durch den Umstand, dafs 
der Täter absolut sicher die Strafe oder die sonstigen bösen Folgen im 
voraus erkennen mufste, als krankhaft, so z. B. die wilden Wutaus- 
brüche nach geringfürigsten Anlässen mit blinder Zerstörungssucht oder 
Diebstähle, Brandstiftungen, selbst Totschlägereien ohne jedes sichtbare 
Motiv. In früheren Zeiten spielte auch bei den Irrenärzten die Lehre 
von den Monomanien eine gewisse Rolle: die Kleptomanie oder der 
Stehltrieb, die Pyromanie oder der Brandstiftungstrieb u. s. w. Man 
glaubte, derartige Triebe könnten bei sonst ganz gesunden Personen 

Dio Kinderfehler. VIH. Jahrgang. S 


114 A. Abhandlungen. 


auftreten. Das war ein Irrtum. Die Täter sind entweder Psycho- 
pathen, wie sie hier geschildert werden, oder Epileptiker oder Idioten 
oder auch Geisteskranke im engeren Sinne. , Bemerkenswert, auch für 
die Beurteilung schwachsinniger Kinder, ist der sogenannte Wander- 
trieb, das impulsive Fortlaufen und Sich-Umhertreiben.!) Selbst 
Personen, die in äufseren guten Verhältnissen leben, haben einen un- 
widerstehlichen Hang zur Vagabundage und sind zu keinem bestän- 
digen Leben zu zwingen. Auch manche Desertionen beim Militär 
müssen in dieser Weise aufgefafst werden. Ich kenne einen jungen 
Menschen aus angesehener Familie, der während seiner Einjährigen- 
Dienstzeit nicht weniger als dreimal desertierte, obwohl er gern Soldat 
war und gar keinen Grund zum Davonlaufen hatte Er pflegte sich 
nach S—14 Tagen selbst wieder zu stellen, nachdem er sich irgend- 
wo herumgetrieben hatte, und gab dann an, er wisse eigentlich 
selbst nicht recht, warum er fortgelaufen sei: es sei so über ihn 
gckommen. Auch hier handelte es sich um einen von Geburt an Ab- 
normen, der — im Gegensatz zu seinen gut gearteten Geschwistern 
— den Eltern von jeher unendlichen Kummer bereitet hatte. Übrigens 
schen wir aus diesem Beispiel wieder die bereits oben erwähnte 
Erscheinung der Periodicität des Handelns und erkennen daraus 
abermals die auch schon besprochene Tatsache, dafs solche Entschlüsse 
aus dem Innersten der Seele entspringen, dem Kranken selbst unklar 
und unverständlich. Sein bewußstes Empfinden hat an ihnen keinen 
Anteil. Aber eben weil die eigene Tat ihm unbegreiflich bleibt, so 
versucht er, Gründe zu finden, d. h. sie sich und andern begreiflich 
zu machen, — Gründe, die selten die wahren sind und doch von Un- 
kundigen leider geglaubt werden, wenn sie nur halbwegs annehmbar 
klingen und andere, sichtbare, nicht zu entdecken sind. 

So hoffe ich nun, meine Herren, Ihnen Eines klar vor Augen 
eeführt zu haben: unmoralischer Lebenswandel ist nicht immer die 
Folge von mangelhafter Erziehung, von schlechten Beispiel und Ver- 
führung. Natürlich kann der üble Einfufs der Umgebung, in der 
das Kind aufwächst, gleichzeitig das junge Seelenleben vergiften, ja 
es wird sich sehr häufig um diese Doppelwirkung handeln. Aber 
wir finden bisweilen Familien, m denen sich neben gut gearteten 
Kindern ein milsratenes findet. Hier können doch die äufseren 
Lebensverhältnisse, die auf alle Zöglinge gleichmälsig einwirkten, 
nicht die Schuld an dem Mifswuchs des einen tragen. Der Schaden 
muls vielmehr im Keime selbst liegen, etwa wie bei einer wurzel- 


') Vielfach deutet diese Erscheinung übrigens auf begleitende Epilepsie hin. 





ScHoLZ: Abnorme Kindesnaturen. . 115 


kranken Pflanze, die trotz aller Pflege keine wohlgebildeten Blätter 
und Blüten hervorbringen will. Und umgekehrt erleben wir mitunter 
das rührende Schauspiel, dafs Kinder in der Umgebung gemeiner 
Verbrecher aufwachsen und doch Seelenregungen an den Tag legen, 
die uns sonst nur als die edelsten Blüten sorgfältiger Erziehung ent- 
gegentreten. Zucht und Belehrung allein können nichts ausrichten, 
so wenig der verständnisvollste Zeichen- oder Musikunterricht bei 
einem talentlosen Kinde Früchte zeitigt. Des Erfolges erste Be- 
dingung liegt in der Beschaffenheit des Fundaments, auf dem 
gebaut werden soll. 

Der Lebensgang der sittlich Abnormen gleicht sich in seinen 
Grundzügen ganz auffallend. Schon in früher Jugend fallen sie durch 
ihre Boshaftigkeit und Durchtriebenheit auf. Sie sind jähzornig, zer- 
störungssüchtig, tierquälerisch, hinterlistig und schadenfroh, dabei ver- 
logen, faul und oberflächlich. Zur Onanie neigen sie schon in jungen 
Jahren. Durch geistige Frühreife, altkluges Reden und gewandte 
Formen verstehen sie zu imponieren. Aber ihre Kenntnisse gehen 
nicht in die Tiefe und ihr Denken ist sprunghaft; ihr Interesse wird 
nur erregt, wo der eigene Vorteil ins Spiel kommt. Dann können 
selbst intellektuell wenig begabte Kinder aufserordentlich schlau und 
raffiniert sein, weshalb die Eltern von dem Schwachsinn ihrer 
Kinder gewöhnlich nichts wissen wollen; sie bedenken nicht, dafs 
auch der Fuchs und die Katze in der Verfolgung ihrer Interessen 
sehr listig sind und doch, im Vergleich zum Menschen, auf niederem 
geistigen Niveau stehen. Prügel, Belohnungen oder moralische Be- 
lehrungen helfen höchstens vorübergehend. Älter geworden machen 
sie sich eine Art Privatmoral zurecht, etwa in dem Sinne, dafs die 
andern Menschen auch nicht besser, nur dümmer seien als sie. Die 
Gebildeten unter ihnen drapieren sich wohl auch mit einem philo- 
sophischen Mäntelchen, etwa im Sinne der Nırrzscneschen »Herren- 
moral« mit ihrer »Umwertung aller Werte« und sind sehr stolz 
darauf, ihre Neigung zum »Sich-Ausleben« mit den Lehren eines so 
angesehenen Philosophen rechtfertigen zu können. Selbst rücksichts- 
los, verlangen sie Rücksicht von jedermann. Dafs Rechte auch 
Pflichten begründen, gilt nicht für sie, sondern nur für die Anhänger 
der »Sklavenmorale. Erlaubt ist, was gefällt. Die üblen Lebens- 
erfahrungen, die sie im Laufe der Zeit machen, beunruligen sie nur 
wenig. Nicht sie sind an ihrem Unglück schuld, sondern immer die 
andern! Überhaupt fehlt es ihnen an Mut und Selbstvertrauen keines- 
wegs und um ihre Zukunft sind sie gar nicht bange. — das findet 
sich alles! Alkoholexzesse und geschlechtliche Ausschweifungen, auch 

8* 


116 A. Abhandlungen. 


Perversitäten, werden früh geübt. Wegen irgend eines Vergehens 
aus der Schule gejagt, versuchen sie es in einer zweiten und dritten, 
schliefslich in einer Presse; nirgends halten sie aus. Die Familie ist 
in Not und Verzweiflung. Glücklich in einer Stellung untergebracht, 
z. B. auf einem Kontor, greifen sie die Kasse an. Man schickt sie 
nach Amerika. Dort gehen sie entweder zu Grunde oder arbeiten 
sich, bald mittellos geworden, als .Kohlenzieher herüber. Von Zeit 
zu Zeit nehmen sie einen kräftigen Anlauf zum Besseren, es geht 
eine Weile gut, die gequälten Eltern atmen auf. Vergebliche Hoff- 
nung, — nach kurzer Frist beginnt das alte Elend von neuem! Die 
Kinder Unbemittelter geraten frühzeitig ans Betteln und Vagabundieren 
und machen bald mit dem Gefängnis Bekanntschaft, die Mädchen 
verfallen der Prostitution. Das Ende vom Liede ist das Arbeitshaus, 
das Gefängnis oder die Irrenanstalt. Das Leben Tausender von Un- 
glücklichen verläuft in diesen Bahnen! 

Besitzen wir nun, so werden Sie fragen, gar keine bestimmteren, 
praktisch verwertbaren Anhaltspunkte, die Gesunden von den 
Kranken und namentlich die sittlich Schlechten von den sittlich 
Schwachsinnigen zu unterscheiden? 

Nein, sichere Anhaltspunkte besitzen wir leider nicht. Der 
Mensch, nicht die Natur hat die Begriffe gesund und krank geschaffen 
und willkürlich Gegensätze gebildet, die in Wirklichkeit nicht exi- 
stieren. Und doch sind wir auf der schwierigen Suche nach einem 
Ausweg nicht ganz führerlos. Einen Wink geben uns, wenigstens 
bei den angeborenen Abnormitfäten (und um sie handelt es sich 
bei den Kindern ja meist) die anatomischen und physiologischen Ent- 
artungs- oder Degenerationszeichen, auch Stigmata genannt. 
Man hat ihre Bedeutung manchmal überschätzt und sie dadurch 
neuerdings etwas in Mifskredit gebracht. Vereinzelt kommen sie 
nämlich auch bei völlig normalen Persönlichkeiten vor und haben 
deshalb diagnostischen Wert nur dann, wenn sie bei einem Indi- 
viduum in größerer Zahl und deutlicher Ausprägung wahrgenommen 
werden. So findet sich z. B. eine unsymmetrische Schädelbildung 
auch bei geistig ganz Gesunden, aber in Verbindung mit stark vor- 
springenden Kiefern, einem hohen, engen Gaumen, unregelmäfsiger 
Zahnbildung und anderem weist sie fast immer auf eine geistige Ab- 
normität hin. Von andern Degenerationszeichen seien genannt die 
Hiehende Stirn. steil abfallondes Tinterhaupt, zusammengewachsene 
Augenbrauen, allerlei Verbildungen an der Ohrmuschel, Hasenscharte 
und Wolfsrachen, abnorme Körperbehaarung, Klumpfufs, überzählige 
Finger, milsbildete Geschleehtsteile. Dazu gesellen sich allerhand 








ScHuoLz: Abnorme Kindesnaturen. 117 





physiologische Abweichungen, wie Muskelzittern, Krämpfe (Epilepsie), 
Konvulsionen, Lähmungen, Neuralgien, nervöses Herzklopfen, bei 
Kindern ferner häufiges nächtliches Einnässen, Delirien schon bei 
leichtem Fieber, Verzögerung des Gehen- und Sprechenlernens, sowie 
Sprachfehler allerlei Art. Auch die praktisch sehr wichtige soge- 
nannte Intoleranz gegen alkoholische Getränke sei hier erwähnt. 
Nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene besitzen mitunter eine 
so geringe Widerstandskraft gegen die Schädlichkeiten des Alkohol- 
genusses, dafs sie schon nach wenigen Glas leichten Bieres einen 
schweren Rauschzustand mit starker Bewufstseinsumneblung. Gewalt- 
tätigkeit und nachträglicher völliger oder fast völliger Erinnerungs- 
losigkeit davontragen. Derartige »pathologische« Trunkenheit kann 
kriminell sehr wichtig werden. Noch einmal indes betone ich, dafs 
die Degenerationszeichen die Diagnose auf geistige Abnormität oder 
Schwachsinn nur wahrscheinlich machen, nicht sie sichern. Der 
anatomisch - physiologischen Untersuchung mus in jedem Falle die 
psychologische folgen. 

Und deshalb wird auch der Lehrer um die Erwerbung einiger 
psychologischer und psychopathologischer Kenntnisse nicht herum 
können. Er mufs wenigstens wissen, welche Probleme es in der 
praktischen Seelenkunde gibt und wo sie beginnen; die Entscheidung 
im Einzelfall bleibt dem Arzt überlassen. Mag er sich noch so schr 
dagegen sträuben und erklären, solche Wissenschaft zu treiben, sei 
nicht seines Amtes: die Verhältnisse zwingen ihn einfach dazu. Er 
kann ihnen gar nicht ausweichen. wenn er sich nicht der Gefahr 
aussetzen will, gegebenenfalls unvernünftig und ungerecht zu ver- 
fahren. Kein Vernünftiger wird leugnen wollen. dafs die Haupt- 
quelle jugendlicher Verderbtheit in verfehlter Erziehung 
und schlechtem Beispiel liegt und ich betone hier, um Mils- 
verständnissen zu begegnen, diesen Satz mit aller Fntschieden- 
heit. Aber es ist bedauerlich zu schen, wie selbst ein so wichtiges 
und an sich erfreuliches Gesetz wie das Preufsische Fürsorge- 
gesetz die abnorm veranlagten Naturen überhaupt nicht berück- 
sichtigt und die Schuld an der kindlichen Verwahrlosung ganz aus- 
schliefslich mifslichen äufseren Umständen in die Schuhe schiebt. 
Das ist einseitig und ungerecht, und man merkt. dafs an dem Gesetz- 
entwurf kein psychiatrisch Geschulter mitgearbeitet hat. 

Auf den ersten Blick die sittlich verkommenen von den sittlich 
schwachsinnigen Kindern zu unterscheiden, wird häufig ein ver- 
gebliches Bemühen sein, besonders dann, wenn, wie so oft, die 
inneren und äufseren Ursachen der Verwahrlosung zusammentreffen. 


11S A. Abhandlungen. 





Leichter wird das Erkennen schon bei gleichzeitiger Intelligenz- 
schwäche. Stutzig muls es auch machen, wenn wir hören, dafs das 
Kind erblich belastet ist (obwohl dies an sich natürlich gar nichts 
beweist!) Wichtig sind ferner die Beobachtungen, die an den Kindern 
schon im frühesten Kindesalter gemacht werden. Abnormes Ver- 
halten findet sich bereits bei Säuglingen t); hieraus erkennen wir 
deutlich das Psychopathische der ganzen geistigen Anlage. Im übrigen 
müssen wir uns an zweierlei halten. Erstens an die auffallenden 
Charaktereigenschaften der Entarteten: das Widerspruchsvolle 
ihres Benehmens, die mangelnde äufsere Motivierung ihrer Handlungs- 
weise, die Unbedachtsamkeit, mit der die Vergehen trotz der in Aus- 
sicht stehenden Strafe begangen werden, die Triebartigkeit, die 
Periodizität der Erscheinungen, die mannigfachen Absonderlichkeiten 
und Zwangsimpulse. Dazu gesellen sich die anatomischen und funk- 
tionellen Entartungszeichen. Und als zweites diagnostisches Hilfs- 
mittel kommt die Unverbesserlichkeit in Betracht. Ein gesundes 
Kind, und sei es noch so verwahrlost, läfst sich immer erziehen, wenn 
es in die richtigen Hände kommt. Marw v. Epxer-EschHexBach hat 
in ihrem »Gemeindekind« in ganz prächtiger Weise einen bis zum 
Aufsersten verkommenen, von aller Welt verkannten Knaben ge- 
schildert, der durch seinen Lehrer schliefslich auf den rechten Weg 
geführt wird. Ein abnorm geartetes Kind aber trotzt dem erziehe- 
rischen Einflufs oder ist ihm doch nur in geringem Umfange zugänglich. 

Über Ursachen und Behandlung der geistig Abnormen will 
ich mich kurz fassen. Die übergrofse Mehrzahl ist erblich belastet. 
Sie sind Abkönmmlinge von Psyehopathen und Neuropathen, von 
Geisteskranken, von Epileptikern. von Trinkern. Andere erkennbare 
Ursachen fehlen oft ganz. Besonders gefährdet sind die Kinder von 
Trinkern. »Dexoor fand, wie er auf dem 6. internationalen Kongrefs 
1597 mitteilte, bei Kindern von Trinkern unter 44 Mädchen nur 6, 
unter 33 Knaben nur 3 Normale; von den 77 Kindern waren also 
08 == 88,3%/, zurückgeblieben, schwachsinnig u. s. w.«?) Selbst 
nachsichtige Beurteiler der Schädlichkeit des Alkohols geben zu, dafs 
die kindlichen Psychopathen zu mindestens ein Viertel bis ein Drittel 
Opfer der elterlichen Liebe zum Alkohol sind. Hier bewahrheitet. 
sich in furehtbarer Weise das Bibelwort, dafs die Sünden der Väter 
heimgesucht werden an den Kindern bis in das dritte und vierte 
Glied. 


‚  ))_ Röuer, A., Die psychopathischen Minderwertigkeiten im Säuglingsalter. 1892. 
2) Citiert aus Horre, Die Tatsachen über den Alkohol. 2. Aufl. 1901. 





ScHoLz: Abnorme Kindesnaturen. 119 





Ein etwas geringerer Anteil am Schuldkonto der kindlichen Ent- 
artung fällt der Erbsyphilis zu. Nicht, weil sie an sieh ungelähr- 
licher wäre. Aber die Kinder syphilitischer Eltern kommen meist 
tot zur Welt oder sterben bald nach der Geburt. Immerhin sind 
die 10°/,, die Zıenex!) als sicher, die sicbzehn, die er als wahrschein- 
lich annimmt, doch ein ernstes Memento für die Bedeutung der Ge- 
schlechtskrankheiten auch für die Nachkommenschaft. 

Der angeborenen Degeneration steht die in frühester Kindheit 
erworbene nahe, an Häufigkeit aber kann sie sich mit jener nicht 
messen. Schädelverletzungen, schwere entzündliche Gehirnkrankheiten, 
auch dauernde Ernährungsstörungen wie die Englische Krankheit 
(Rhachitis) kommen hier als Ursachen in Betracht. Die ominöse Rolle 
der Frühgeburt wird gewöhnlich weit überschätzt. Dagegen mufs 
abermals und wieder in erster Linie der Alkohol Erwähnung finden. 
Kinder, besonders schwächliche und nervöse, sollen weder Wein noch 
Bier erhalten; man kräftigt sie nicht damit, sondern vergiftet sie. 
Alkohol ist zu gar nichts nütze, am wenigsten bei jugendlichen 
Personen. Und doch wissen wir, wie viel grade hier gesündigt wird, 
in bestem Glauben, und gesündigt — leider — sogar von Ärzten. 

Die in späteren Lebensjahren durch mangelhafte oder verkehrte 
Erziehung und andere widrige Lebenseinflüsse, durch geistige und 
gemütliche Überanstrengung erworbenen Abnormitäten sollen uns 
hier nicht weiter interessieren. Der schädliche Einflufs der Sehul- 
überbürdung pflegt oft übertrieben zu werden. Gresctzt auch, es 
würden von der Schule unangemessene Forderungen an das jugend- 
liche Gehirn gestellt, so handelt es sich doch um ausgleichbare 
Störungen, die des Seelenwesens innersten Kern nicht dauernd treffen. 
Wenn die Ursache wegfällt, schwindet auch die Wirkung. Wo cs 
sich freilich um bereits geistig schwächliche Kinder handelt, da geht 
der Schaden tiefer. Ernster zu beurteilen ist die unmittelbar auf 
den Charakter wirkende schlechte häusliche Erziehung, und gerade 
an dieser pflegt es den Psychopathen nicht zu fehlen, weil die Eltern 
so häufig selbst abnorm geartet sind und mit der geistigen Atmo- 
sphäre im Hause auch die zarte Seele des Kindes vergiften. 

Der Behandlung bester Teil ist die Vorbeugung, sofern sie 
das Übel an der Wurzel packt. Dieser Wurzeln aber sind vornehm- 
lich drei: erbliche Übertragung, Alkoholismus und Syphilis. Geistig 
und körperlich Invalide sollten nicht heiraten, dann wären mit einem 
Schlage ?/, der Geisteskranken und -siechen aus der Welt geschafft. 


1) Zænex, Tag., Die Geisteskrankheiten des Kindesalters. 1902, 


120 A. Abhandlungen. 





Freilich bis jetzt ein frommer Wunsch! Solange ganz andere Motive 
die Wahl des Gatten und der Gattin bestimmen als die Rücksicht 
auf die Gesundheit des Nachwuchses, solange wird ein Appell an die 
Vernunft «der Heiratslustigen nicht viel helfen. Die meisten denken 
über diesen Punkt überhaupt nicht nach und, die es tun, trösten 
sich mit dem Gedanken, dafs ja schliefslich nicht aus allen belasteten 
Familien kranke Kinder hervorgehen. Aber wer weils, ob nicht ein- 
mal eine Zeit kommen wird, wo man diese bequeme Moral unerträg- 
lich finden und es für eine Sünde halten wird, Kinder in die Welt 
zu setzen, die mit grofser Wahrscheinlichkeit sich selbst und der 
Familie zum Unglück und dem Gemeinwesen zur Last geboren 
sind. Wie die Dinge heute liegen, wird mit gesetzlichen Eingriffen 
nicht viel anzufangen sein, obwohl es in einzelnen amerikanischen 
Staaten, z. B. Texas und Minnesota, bereits staatliche Eheverbote für 
gewisse Kranke und schwer Belastete gibt. Die Erfahrungen daselbst 
sind noch zu gering, um bestimmte Schlüsse über das Für und Wider 
zuzulassen. Bei Gewohnheitsverbrechern hat man übrigens allen 
Ernstes die Kastration vorgeschlagen. Aber den Arzt möchte ich 
kennen lernen, der sich zu solcher Exekution bereit erklärte! 

Angriffsfähiger sind die durch den Alkoholismus hervorgerufenen 
Schäden. Die Alkoholfrage erfreut sich jetzt, nachdem man sie lange 
genug bespöttelt, einer ernsthaften Diskussion, und das ist sicherlich 
mit Genugtuung zu begrüfsen. Auch zur Verhütung der Geschlechts- 
krankheiten und zur Hebung der Sittliehkeit sind neuerdings Vereine 
in Tätigkeit getreten. Der Rest der Entartungsursachen tritt den 
drei Hauptübeln gegenüber an Bedeutung so zurück, dafs wir ihn 
hier füglich übergehen können. 

Nun aber die Sorge für die Entarteten selbst, vor allem 
für die moralisch Defekten. Schutz für sie und Schutz vor ihnen! 
lautet hier die Aufgabe. Wer meinen Ausführungen über die Natur 
der seelisch Abnormen gefolgt ist, wird von einer Heilung nichts und 
von einer Besserung nicht zu viel erwarten. Unter den Erziehungs- 
mitteln steht auch für die gesunden Kinder leider noch immer obenan 
die moralische Einwirkung in Form der Belehrung. Ihr Wert ist 
reichlich problematisch. ScuopEnnauEer sagt in seiner Ethik: » Weiter 
als auf die Berichtigung der Erkenntnis erstreckt sich keine mora- 
lische Einwirkung, und das Unternehmen, die Charakterfehler eines 
Menschen durch Reden und Moralisieren aufheben und so seinen 
Charakter selbst, seine eigentliche Moralität umschaffen zu wollen, 
ist ganz gleich dem Vorhaben, Blei dureh äufsere Einwirkung in 
Gold zu verwandeln oder eine Eiche durch sorgfältige Pflege dahin 





ScuoLz: Abnorme Kindesnaturen. 121 


zu bringen, dafs sie Aprikosen trüge.< Und wer von dem ScHoPEN- 
HAUERScChen Pessimismus von vornherein nichts hält, dem kann ich 
mit ScHILLER aufwarten. In dessen »Briefen über die ästhetische Er- 
ziehung des Menschen« heifst es: »Die Aufklärung des Verstandes 
zeigt im ganzen so wenig einen veredelnden Einflufs auf die Gc- 
sinnung, dafs sie vielmehr die Verderbnis durch Maximen bc- 
festigt.< 

Nun, trotz alledem, ganz so trostlos liegt die Sache wohl nicht. 
Zunächst entspringen eine ganze Reihe unserer Sünden und Mängel, 
freilich der geringeren, lediglich der Gedankenlosigkeit und sind durch 
»Berichtigung der Erkenntnis« wohl korrigierbar. Und zweitens darf 
man unsern angeborenen Charakter auch nicht für absolut unwandel- 
bar erklären. Freilich die Erziehungsarbeit ist mühsam und der Weg 
zum Erfolge weit. Ihr Segen beruht nicht in jenem blofsen Mitteilen 
des Wissenswerten, von dem oben die Rede war, sondern in der 
dauernden Einwirkung auf die Grundstimmung, auf das Gemütsleben 
des Kindes. Denkgewohnheiten setzen (Grefühlsgewohnheiten voraus 
und diese wiederum Einübung. Weder intellektuelle noch moralische 
Fertigkeiten lassen sich wie ein Kleid übergeben, das man nur an- 
zuziehen braucht. Ferner sollte man bedenken, dafs der Salbader- 
ton moralischer Belehrung im Stile des seligen Campe schon für 
ein gesund empfindendes Kind unerträglich ist, deni es klingt 
eitel Selbstgefälligkeit und Dünkel heraus, und im abnorm gc- 
arteten Burschen erregt er nur zu leicht heimliches Gelächter, im 
günstigeren Falle Aufmucken und Trotz. Und wenn doch eine gute 
Wirkung erzielt wird, so liegt das nicht an den schönen Worten 
des Erziehers, sondern an seiner Persönlichkeit, vor der das Kind 
Respekt hat. 

Als bestes Erziehungsmittel wirkt das gute Beispiel, das still und 
ohne Wesens von sich zu machen, gegeben wird. Freilich hat es 
Autoritätsgefühl zur Vorbedingung seiner Wirksamkeit, und so kommt 
doch schliefslich alles auf die Persönlichkeit des Lehrers heraus. Das 
Kind muls, auch ohne dafs es ihm gesagt wird, merken, wieviel 
besser es sich bei Folgsamkeit und gutem Betragen steht. Dann geht 
langsam und ohne grolse Erschütterung, etwa wie man bei einem 
wankenden Gebäude, die morschen Stützen eine nach der andern 
entzieht und allmählich durch neue ersetzt, die Umwandlung, die Er- 
neuerung des Scelenlebens vor sich. So wird man weiter kommen 
als mit Moralisieren und weiter auch als mit Belohnungen und Strafen. 
Gewifs, ein Musterkind wird sich nie aus der alten Schale entpuppen 
und in den schlimmsten Fällen, da besonders, wo das Triebleben 


122 A. Abhandlungen. 


übermächtig herrscht, wird aller Liebe Müh umsonst sein. Hier 
mufs sich der Erzieher eben bescheiden und seinen Lohn in dem 
Bewufstsein erfüllter Pflicht suchen. 

Freilich, eines ist zu solcher Erziehung nötig: sie mufs in einer 
Hand ruhen. Und hier liegt eben der Haas im Pfeffer. Für den 
Lehrer, insbesondere den Volksschullehrer mit seiner oft übergrolsen 
Schülerzahl ist die Forderung der sogenannten Individualisierung 
nicht viel mehr als ein Schlagwort, und wenn gar ein trunksüchtiger 
Vater oder eine nervöse Mutter daheim alles wieder verdirbt, was 
er Gutes geschaffen, so wird sein Einflufs ziemlich illusorisch sein. 
Schon aus diesem Grunde gehören, noch weniger als die geistes- 
schwachen Kinder, die sittlich schwachen in die gewöhnlichen Schulen. 
Für den Lehrer, für die gesunden Kinder und nicht zum wenigsten 
für die Psychopathen selbst ist die Entfernung in andere Um- 
geebung notwendig. Auch im Elternhause können sie meist nicht 
bleiben, weil sie die Angehörigen tyrannisieren und ihre Geschwister 
sittlich gefährden. Wohin nun mit den Sorgenkindern? Für Be- 
mittelte eröffnet sich der Ausweg, sie einer Privatpflege, etwa bei 
einem Geistlichen, einem Lehrer, einem Arzte auf dem Lande anzu- 
vertrauen. Freilich dürfen hier ebenfalls keine Kinder im Haushalt 
sein, die durch böses Beispiel verdorben werden könnten. Anstalten 
für schwer erziehbare und sittlich schwache Kinder gibt es kaum; 
mir ist nur als einzige das Erziehungsheim des Direktors TRÜPER in 
Jena bekannt. Die Rettungs- und Korrektionshäuser eignen 
sich zur Aufnahme nicht recht, denn sie bekümmern sich im wesent- 
lichen nur um die Erziehung Verwahrloster, nicht Abnormer und 
es fehlt deshalb oft an dem wünschenswerten Verständnis für die 
psycho-pathologischen Erscheinungen. Auch leidet die Erziehung bis- 
weilen unter der zu grolsen Anzahl von Zöglingen, denn von 
Individualsierung kann natürlich nicht viel die Rede sein. Auch 
in die Idiotenanstalten passen die Kinder nicht, wenn sie nicht 
gleichzeitig intellektuel! verkümmert sind. Kurz und gut, für die 
dégénérés supérieurs, wie sie der Franzose nennt, mangelt es noch 
sehr an geeigneter Fürsorge. Und das mufs lebhaft beklagt werden, 
Denn einmal erwachsen, bilden diese Entarteten eine entsetzliche 
Plage für die menschliche Gesellschaft, da sie mit dem Sitten- und 
dem Strafgesctz auf sehr gespanntem Fufse leben. Sie sind nicht 
krank, sie sind nicht gesund, sie gehören nicht in die Irrenanstalten, 
sic gehören nicht in die Gefängnisse, und doch mufs die Menschheit 
sich ihrer erwehren. Es ist ein vielunstrittenes und in den Fach- 
blättern bis zur Ermüdung diskutiertes Problem, was man mit ihnen 








Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. 123 


beginnen sol. Denn dafs das Strafgesetz von heute, wonach diese 
Individuen wegen Diebstahls und Vagabundage zwanzig-, dreifsig-, 
fünfzig-, hundertmal bestraft und nach kurzer Zeit wieder losgelassen 
werden, nachdem sie sich im Gefängnis in der Kunst, ihre Mit- 
menschen zu schädigen, vervollkommnet haben, — dafs dieses Gesetz 
nicht von übermälsiger Weisheit zeugt, liegt auf der Hand. Es 
gleicht der Methode, nach der man einem bissigen Hunde den Maul- 
korb erst anlegen wollte, wenn er gebissen, und auch dann nur 
für einige Stunden, um ihm erst nach abermaligem Beifsen wiederum 
das Maul zu sperren. Es wird eine verantwortungsvolle und schwierige 
Frage für die Zukunft sein, wie man jene beiden Forderungen ver- 
einigen soll: Schutz des Publikums vor den Entarteten und Schutz 
der Entarteten vor ungerechter Beurteilung und Behandlung durch 
das Publikum! 

Damit, meine Herren, wäre ich zum Schlufs meines Vortrages 
gelangt, und ich hoffe, Sie zum Nachdenken über einen der inter- 
essantesten und bedeutsamsten Wissenszweige angeregt zu haben. 
Je tiefer wir in das Gebiet der normalen und pathologischen Psy- 
chologie hineintauchen, um so mehr Rätsel treten uns entgegen. Und 
wir möchten darüber verzagt werden. Aber einen Gewinn nehmen 
wir dennoch mit. Wir schen, wie tief die Beweggründe unseres 
Handelns aus dem Innersten der Scele, die nur zum kleinsten Teil 
unsere eigene Schöpfung ist, entspringen, und das macht uns be- 
scheidener gegen unsere Verdienste und milder gegen fremde Fehler. 
Wir lernen verzeihen, weil wir begreifen. 


NSA OL L m a E E a 


B. Mitteilungen. 


l1. Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. 
Von Adolf Rude in Nakel a. d. Netze. 
(Schlufs.) 


4. Lebensjahr: 


Anfang desselben. Sprachliches. L. sagt oft: Badawanna (weils 
das Wort Badewanne aber auch richtig auszusprechen), Karahell (Karussell), 
Rosakranz (Rosenkranz), Trombase (Trompete). 

Beobachtung. Einwand. Sie möchte barfufs laufen. Da es ihr 
wegen des schlechten Wetters nicht erlaubt wird, sagt sie: »Der Löwe« 
(auf dem gegenüberliegenden Hause) »ist auch barfufs.« — Im Spiele und 


124 B. Mitteilungen. 











mn m LLILLLLLLLL l a 


dann auch leichthin Littend sagt sie oftmals: »Ich fahr’ nach Bromberg.« 
Da mache ich einmal anscheinend Ernst und sage: »Jetzt zieh’ dich an, 
geh’ auf den Bahnhof und fahr’ los!« Nun mag sie durchaus nicht fahren, 
Die Reise erscheint ihr, allein ausgeführt, als etwas höchst Gewagtes. — In 
der Schlimbachschen Fibel, die sie sich oft zum Anschauen der Normal- 
wortbilder ausbittet, kann sie die meisten richtig benennen, z. B. Dach, 
Haus, Esel, Leiter, Gans, Feder, Mond, Baum, Kreuz, Vögel, Rübe, Jäger, 
Mäuse, Wagen, Schwein, Raupe, Pudel, Pferd u. s. w., dagegen nicht Ast, 
Uhu, Bär, Igel. 

Fertigkeit. Eine Nuls malt sie nach einmaligem Vorzeichnen ganz 
auffallend richtig nach. 

1!/, Monate: Findet die Ursache. L. sieht, dafs ein kleiner, mit 
Luft angefüllter Ballon aus dünner laut in dem Zimmer täglich kleiner 
wird und sagt: »Der Ballon wird immer kleiner. Die Luft geht heraus.« 
Vorher hat sie gehört, dafs Luft darin sei. 

Interesse erzeugt Aufmerksamkeit. Das Interesse für Märchen 
entwickelt sich immer mehr. Lucie sitzt beim Zuhören vollständig still 
und rührt sich nicht. Das Märchen vom Rotkäppchen hört sie besonders 
gern. Als sie einmal eine rote Schürze trägt, nenne ich sie Rotschürzchen. 
Ein andermal trägt sie eine weilse (aber schmutzige) Schürze und sagt zu 
mir: »detzt bin ich kein Rotschürzchen; jetzt bin ich ein Weilsschürzchen.« 
Ich erwidere: »Nein, ein Schmutzigschürzchen.«< Das gefällt ihr aber 
nicht. 

Interessierte Wahrnehmungen erzeugen klare Vorstellungen 
und feste Überzeugungen. L. war im Puppentheater. Nach der 
Rückkehr weißs sie ihrer Freude gar nicht genug Ausdruck zu geben, 
Sie redet fortwährend vom Könige, von Tanten und von einer grolsen 
Puppe. Sie erzählt: »Eine Puppe ist totgeschossen. Die Puppen haben 
geprochen« (gesprochen). Ich erinnere sie daran, dafs ihre eigene Puppe 
doch nicht sprechen könne. L. stutzt und weils es sich offenbar nicht 
zu erklären, dals die Theaterpuppen gesprochen haben (weil sie die 
sprechenden Menschen hinter den Coulissen nicht gesehen hat). Sie bleibt 
aber dabei: »Die Puppen haben doch geprochen.« 

Gleichzeitig gehörte Worte reproduzieren einander. L. hat 
vergessen, wen die Büsten auf dem Schreibtische (Herbart und Comenius) 
darstellen. Sie wird an Herbart erinnert. Da fällt ihr sofort der Name 
Comenius ein. 

Reproduktion. Schlielsen. Die Mutter schreibt einen Brief an 
eine Freundin. Ich bitte, dieselbe von mir zu grülsen. Darauf fragt L.: 
»Fährt denn die Mama weg?« Sie hat öfters vor einer Abreise Gruls- 
aufträge gehört. 

Nichtgelingen erzeugt Unlustgefühl, Gelingen Lustgefühl, 
Interesse. L. hält der Mutter Wolle beim Abwickeln. Anfangs ge- 
liugt es gut und bereitet ihr Vergnügen. Als aber die Wolle verworren 
wird und das Abwickeln Schwierigkeiten bereitet, wird es L. langweilig. 
Sie sagt, sie sei müde. Weiterhin geht dann das Abwickeln wieder ohne 
Schwierigkeit von statten. Die Mutter zeigt ihr auch, wie sie beim Ab- 








Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. 125 


an 


wickeln mit den Armen wiegen könne. Da verliert L. die Langeweile; 
die Müdigkeit ist vergessen, und als das Abwickeln der Wolle beendet 
ist, bittet sie so lange, bis die Mutter eine neue Wolllage zum Abwickeln 
vornimmt. 

Erwin ist unruhig. Um ihn zu beruhigen, verspricht ihm L. alle 
-Lieder, die sie kann, vorzusingen. Sie zählt sie auf. 

2 Monate: Apperzeptionen. L. hat von den roten Hosen der 
Franzosen gehört. In dem Hintergebäude auf unserm Grundstücke wohnt 
eine Frau Zudse. Da sagt L.: »Frau Zosen hat rote Hosen.« Sie hört 
das Weihnachtslied: Am Weihnachtsbaum die Lichter trennen. Wie glänzt 
er festlich, lieb und mild!« Sie sagt: »Wie glänzt der Pfennig lieb und 
mild!« 

Sie sieht auf einem Bilde Hopfenstangen und nennt sie Bäume. 

Sie sieht die beiden Bilder: Märchen und Lied von Bodenhausen 
und sagt: »Dieses Fräulein und dieses ziehen sich an.« 

Wissenstrieb. Sie fragt mich: »Papa, macht der liebe Gott noch 
Sterne?« 

Psychischer Begriff. Die Mama ist verreist. Da sagt L. zu 
mir: »Wenn die Mama nicht wiederkommt, das ist Sünde.« Sie legt sich 
Sünde als etwas aus, das man nicht tun dürfe. 

31/, Monate: L. lälst jetzt das »Du« aus den Sätzen oft weg, z. B.: 
»Dann kommst mit.« »Gibst mir das?« 

4 Monate: Lucie hofmeistert an ihren Spielgenossen viel herum, 
namentlich auch bei Sprech- und Sprachfchlern, die sie als solche kennt. 
Sie sagt z. B.: »Es heifst nicht: schont; es heifst: schon.«e — Sie gibt 
Kindern etwas, und als der Dank ausbleibt, fordert sie sich ihn ener- 
gisch ein. 

Fehlerhafte Apperzeption. Ich singe ihr das Lied: » Winter 
ade!« vor. Sie wiederholt: Winter a, b, c. 

Vorstellung der Gefahr und des Verlustes. Phantasiertes 
Schmerzge[lühl. Ich hatte mit meiner Frau einen Spaziergang über 
die zugefrorene Weichsel verabredet. L. kommt in mein Arbeitszimmer, 
weint und sagt: »Mama soll nicht mit auf die Weichsel gehen!« Ich 
frage: »Warum?« Antwort: »Dann ist sie bald tot, und dann hab’ ich 
keine Mama.« Ich suche L. zu belehren: »Die Weichsel ist jetzt zu- 
gefroren, und man kann jetzt so darüber gehen wie hier in der Stube. 
Es gehen da viele Leute.« L. scheint aber wenig überzeugt zu sein, da 
sie den Strom noch nicht zugefroren geschen hat, und bittet fortwährend: 
»Bitte, Papa, die Mama soll nicht hinüber gehen!« Ich entscheide: »Wenn 
sie nicht will, dann braucht sie nicht.« Da ruft L. voller Frende: »Ja, 
ja, ich werde es der Mama sagen.« Als sie dieses tut nnd die Mama 
lacht, sagt L. ärgerlich: »Aber lach’ doch nicht so viel!« 

Reproduktion. Abgewöhnung durch Einsicht. Wenn L. in 
mein Arbeitszimmer kommt, klopft sie vorher an und ruft dabei selbst: 
‚„Herein!« Ich mache sie darauf aufmerksam, dafs und weshalb ich das 
tun müsse. Hinfort macht sie den Fehler nur noch selten, bald gar 
nicht ınehr. 


126 B. Mitteilungen. 





Unbedingter Gehorsam, der sogar die Sinneslust besiegt. — Es 
sind Gäste bei uns. L. ilst Marzipan und bittet mich um noch ein Stück. 
Ich verweigere es, weil sie genug gegessen hat. Da sagt sie nichts mehr. 
Später bietet ihr einer der Gäste ein Stück Marzipan an. Sie nimmt es 
aber nicht. Der Gast will es ihr in den Mund stecken. Da hält sie 
den Mund zu und wehrt sich nach Kräften. Ich sage kein Wort dazu. 
Nach längerer Zeit erlaube ich ihr, noch ein kleines Stück zu essen. Sie 
nimmt es nun mit freudestrahlendem Gesichte und läfst es sich wohl 
schmecken. 

Apperzeption erzeugt Interesse. Von allen Bildern gefallen 
ihr die bunten zu den Märchen: Dornröschen, Rotkäppchen, Hänsel und 
Gretel, Schneewittchen am besten. — Eins der grolsen Stralsburger An- 
schauungsbilder steht in meinem Arbeitszimmer zugerollt. L. lälst es 
sich etwa vierzehn Tage lang täglich auf den Fulsboden legen und besieht 
es sich genau. Am besten gefällt ihr darauf die Puppe. Solche Bilder, 
die sie nicht versteht, überblättert sie im Buche nach flüchtigem Ansehen. 

Sie schwatzt jetzt ungemein viel. 

5 Monate: Lebhalte Phantasietätigkeit. L. spricht viel zu 
lingierten Personen. Wenn ich sage: »Da ist ja niemand!« dann antwortet 
sie lebhaft: »Ja, da sitzt er.« 

Religiöses und spekulatives Interesse L. redet viel vom 
lieben Gott. Sie stellt sich in die Zimmerecke und sagt: »Ich bin der 
liebe Gott.« Sie schüttelt an der Gardine und meint: »Der liebe Gott 
lälst regnen.« 

Teilnahme. Vorsatz. L. hat schon gefrühstückt, ich dagegen 
noch nicht. Sie fragt mich: »Warum trinkst du keinen Kaffee?« Ich 
antworte scherzend: »Die Mama gibt mir ja keinen.« Da bittet L. diese 
gar schr, sie möge mir doch auch Kaffee geben. Die Mama stellt sich 
so an, als wolle sie es nicht tun. Da tröstet mich L.: »Wenn ich grofs 
bin, dann koch’ ich dir Kaffee !« 

6 Monate: L. hört, dals die Kinder (bei der Konfirmation) eingesegnet 
werden. Sie fragt: »Wo werden sie eingesegnet? Hier? Hier?« Sie 
zeigt dabei auf verschicdene Körperteile. Später fragte sie: »Wird der 
Pastor auch eingesegnet?« 

Warum soll ich gröfser wachsen? Weil ich in der Schule und in 
die Kirche gehen soll? 

Sie spielt andauernd gern mit Münzen, legt damit einen Kreis, eine 
Stralse, kauft und verkauft damit. 

9 Monate: Vorstellung vom Titel. Die Mama sagt ihr, der Papa 
sei jetzt Rektor geworden. Da antwortet sie: »Ich werde doch immer 
zu ihm ‚Papa‘ sagen.« 

Statt wozu sagt sic! zuwo? 


5. Lebensjahr. 


4 Jahre: Falsche Wortfolge. Bei ihrem Abendgebete sagt sie 
fast jedesmal statt: 
» Hab’ ich Unrecht heut‘ getan« ... »Unrecht hab’ ich heut’ getan«... 


Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. 127 


Sie kann einiges rechnen, ohne dals es mit ihr geübt worden wäre: 
1+1,2+1,3-+1;2—1, 3— 1,4 — 1, dagegen kann sie nicht 
4 — 2,4 —3. 

1 Monat: Zuneigung. Gegen ihr zweijähriges Brüderchen ist sie 
überaus zärtlich, meistert aber germ an ihm herum. 

Freude am Zerstörer. Spekulieren: Erwin spielt mit dem 
Baukasten. L. möchte gern das von ihm Aufgebaute umwerfen; er 
will es aber nicht leiden. Da sagt sie: »Sieh doch einmal zum Papa 
hin, aber lange!« Augenscheinlich hat sie die Absicht, in dieser Zeit 
ihr Zerstörungswerk auszuführen. 

2 Monate: Notapperzeption. Sie kommt wieder auf die Ein- 
segnung zurück (vergl. 4. Lebensjahr, 6. Monat; vergl. auch Grabs, 
Psychologische Beobachtungen, Jahrbuch des Vereins für wissenschaftliche 
Pädagogik). Sie fragt: »Mama, was ist einsegnen? Macht der Pastor 
dann so?« (Sie sägt dabei anscheinend ihren Körper ein.) 

Zunahme der Kenntnisse und Fertigkeiten: Sie hat an ihrer 
kleinen russischen Rechenmaschine, die ihr von der Grolsmutter geschenkt 
worden ist‘, bis 8 zuzählen und abziehen gelernt. — Sie singt Töne der 
mittleren Lage, die ihr vorgesungen werden, richtig nach. Hohe Töne 
dagegen singt sie falsch. 

5 Monate: Aufmerksamkeit. - Sie hört sehr lange gespannt zu, 
wenn Kinder biblische Geschichten erzählen. Doch kommt sie von selbst 
nicht darauf zurück, stellt auch keine darauf bezüglichen Fragen. Sie 
sieht auch lange genau zu, als einige Knaben in meiner Wohnung Schach 
spielen. 

Interesse erheischt Wiederholung. Sie sieht immer wieder 
dieselben Bilder an, hört immer wieder dieselben Märchen gern erzählen: 
Frau Holle; Rotkäppchen; Schneewittchen; Strohhalm, Kohle und Bohne. 

Kinder wiederholen gern sonderbar klingende Worte. 
Es macht L. Vergnügen, schwierige Wörter, die ihr vorgesprochen 
werden, nachzusprechen. Sie macht es auch ohne viele Übung richtig: 
Horribilikribrifax von Donnerkeil auf Wusthausen. — Das Zungenspitzen- 
R kann sie noch nicht richtig aussprechen. 

Sie kommt zu mir mit der Bitte, mit »Onkel« Fuchs (einem Kollegen 
von mir) Hochzeit machen zu dürfen. Sie bittet mich um Geld, damit 
sie eine Torte bestellen könne. 

Vorsatz durch Sinneslust besiegt: Es wird ihr erzählt, dals 
man vom Essen vieler Bonbons Zahnschmerzen bekomme. Da nimmt sie 
sich vor, keine mehr zu essen. Vorsichtigerweise fragt sie mich aber, ob 
man sie lutschen dürfe. Ihren Vorsatz hält sie dann nicht. 

Erinnerung. Reproduktion nach langer Zeit. Sie spricht 
plötzlich von Personen und Ereignissen, von denen sie ein bis zwei Jahre 
geschwiegen hat. 

Reproduktion wird verhindert, wenn Vorstellung und 
Wahrnehmung nicht übereinstimmen. In meinem Arbeitszimmer 
hängen die Bilder des Kaisers und der Kaiserin. L. kennt sie ganz genau. 
Zu einer patriotischen Schulfeier wird das Bild der Kaiserin in die Schule 


128 B. Mitteilungen. 


genommen und bekränzt. L. sieht es, erkennt es aber nicht, weils nicht, 
wen ces darstellt. — Als sie von der Schulfeier nach Hause kommt, 
wiederholt sie fortwährend das dort gehörte Lied: »Deutschland, Deutsch- 
land über alles« (nur diese Zeile). 

Kein andauerndes Gefühl. Von dem Dienstmädchen ist sie fast 
unzertrennlich.. Als dasselbe aber den Dienst verläfst und ein neues 
Mädchen eintritt, spricht sie nicht mehr viel von dem ersteren. 

Ideenflucht. Vorstellungen und Wünsche wechseln schnell. 
Innerhalb 35 Minuten bringt sie eine ganze Zahl von Wünschen vor, die 
aber samt und sonders nicht befriedigt werden. Zuerst möchte sie 
hinausgehen. Ich sage, es sei zu kalt. Dann möchte sie Geld haben, 
um Wurmkuchen zu kaufen. Als auch dies abgelehnt ‘wird, bittet 
sie mich: »Ich möchte so gern Holzpantoffel tragen«, wie sie solche 
bei andern Kindern gesehen hat. Ich antworte, ich hätte gerade 
genug von dem in der Schule verursachten Holzpantoffel-Geklapper. Da 
verspricht sie, wenn sie in die Schule gehen werde, dann wolle sie die 
Pantoffel ausziehen. Endlich bittet sie mich, ihr einen Stuhlschlitten za 
kaufen. 

Erwartung. Sie spricht täglich, ja zuweilen ohne Unterlals davon, 
wie schön es sein werde, wenn sie in die Schule gehen werde. 

6 Monate: Notapperzeption. - Sie hat einmal das Lied gehört: 

»Fünfmalhunderttausend Teufel 
Kamen einstmals in die Welt; 
Aber ach, die armen Teufel 
llatten keinen Heller Geld.« 

Da bittet sie später: »Sing’ doch einmal das Lied vom »hellen Geld!« 

8 Monate: Spekulatives Interesse (an der Funktion der Organe). 
Sie fragt die Mama: »Wo geht das alles hinein, was ich esse?« Ant- 
wort: »In den Magen.« L.: »Ich dachte schon, in das Herz.« 

Psychischer Begriff (der König kann etwas besser als andere): 
Wer von den Kindern zuerst den Teller leergegessen hat, prahlt sehr 
oft, eine Zeitlang regelmälsig, dem andern gegenüber: »Ich bin König« 
(zuweilen auch Kaiser). Dann sagt das andere sicher: »Ja, König von 
Kabot.« (Kabot ist ein Dorf, eine Art Schilda in der Nähe von Schulitz.) 
Darauf entgegnet das erste dann wieder: »König von Berlin.« 

Ich sage zu ihr: »Deine Haare auf der Stirn sind schon viel zu 
lang.« L. antwortet: »Dann kaufe ich mir eine Haarspanne.« Ich: »Es 
heifst: Spange« Dieser Ausdruck kommt ihr sonderbar vor. Sie meint: 
»Das hört sich fast wie ‚Bonbon‘ an.« 

Unteibrechung des Denkens erzeugt Unlinstgefühl. Sie 
vermag nicht weiter zu sprechen, wenn man in ihre Rede hinein ein 
Lied singt. Sie versucht mehrmals vergeblich weiterzusprechen und weint 
schlielslich ärgerlich. 

9 Monate: Die Sinne lenken die Gedanken ab. Sie betet vor 
dem Zubettgchen ihr Abendgebet: »Müde bin ich« ... Die letzten Worte 
der Strophe spricht sie sehneller, und gleich im Anschlusse daran fragt 
sic: »Papa, warum hast du einen Schnurrbart?« Ich stellte die Gegen- 





Über die Verwertung der Gehörreste bei Taubstummen. 129 


frage: »Warum hast du keinen %« Antwort: »Weil mir keiner gewachsen 
ist.« Ich: »Und ich habe einen, weil mir einer gewachsen ist.« 

Ähnliches reproduziert sich. Gleich darauf sieht sie einen 
Band von Shakespeares Werken und fragt (einige Tage später auch ihr 
Brüderchen im Alter von 2?/, Jahren): »Papa, ist das ein Kochbuch ?« 
Beide Bücher haben dasselbe Format und dieselbe Farbe. 

Lucie bekommt eine Ahnung vom Geldverdienen. Sie hat 
im Garten des Hausbesitzers beim Heuharken geholfen. Fräulein B. sagt 
ihr, sie müsse Bezahlung dafür erhalten. Lucie läuft nun schnell zur 
Mama und erzählt es ihr. Diese sagt im Scherz: »Wenn du nicht einen 
Taler bekommst, dann nimm gar nichts!« L. eilt wieder in den 
Garten und bestellt es dem Fräulein. Dieses gibt ihr im Scherz einen 
Taler. Lucie glaubt aber, denselben redlich verdient zu haben, zeigt ihn 
überall herum und erzählt, wofür sie ihn bekommen habe. Als sie ihn 
abgeben soll, ist sie traurig und sagt: »Dann kann ich mir ja nicht kaufen, 
was ich brauche!« Schlielslich gibt sie sich aber gern zufrieden, als sie 
an Stelle des Talers ein Stück Kuchen erhält. 

11 Monate: L. hat den sehnlichen Wunsch, dem sic oft Ausdruck 
gibt, sich als Kindermädchen bei ihrer 1'/,jährigen Cousine Erika zu 
vermieten. 

Es wird ihr, mehr im Spiele als im Ernste, einigemal je ein Buch- 
stabe vorgeschrieben. Sie schreibt ohne besondere Mühe nach: e, i, ei. 
Einmal schreibt sie das i von rechts nach links. Sie findet diese Buch- 
staben auch in der Fibel anf. 

Vorstellungen reproduzieren einander in derselben Reihen- 
folge, wie sie entstanden sind. Zwei ihr verwandte Schwestern, 
Emma und Sophie, nennt sie fast nie einzeln, sondern fast immer zu- 
sammen und zwar in der angegebenen Reihenfolge. (Schlufs folgt.) 


2. Über die Verwertung der Gehörreste bei Taub- 


stummen. 
Von Rud. Brohmer, Taubstummenlehrer, Weilsenfels a./S. 


Wenn wir an die Insassen einer Taubstummenanstalt denken, so 
dürfen wir durchaus nicht annehmen, dafs die gesamte Zahl derselben 
vollständig taub sei. Durchaus nicht! Manche von ihnen sind nur in 
solchem Grade taub, dafs es ihnen unmöglich war, die Sprache auf dem 
gewöhnlichen Wege zu erlernen. Diese Tatsache hat man schon längst 
erkannt und die Taubstuminen nach dem Grade ihrer restlichen Hörfähig- 
keit in verschiedene Gruppen geordnet. 

So unterscheidet der französische Arzt Itard in seinem Werke »Die 
Krankheiten des Ohres und des Gehöres«, das im Jahre 1822 erschien, 
folgende Grade der Taubheit: 

1. Hören der Rede mit Modulationen, ausdrückend Verwunderung, 
Schmerz, Mitleid, Freude cte. und rechnet, dals etwa der 40. Teil (2,5 0/9) 
aller Taubstummen dieser Gruppe angehören. 

Die Kinderfehler. VII. Jahrgang. 9 


e 


130 B. Mitteilungen. 





2. Hören der Stimme. Darunter versteht er hauptsächlich die 
Perzeption der Vokale und weniger Konsonanten. Er gibt an, dafs etwa 
der 30. Teil (3,3°/) der Taubstummen in diesem Grade mit Gehör be- 
gabt sind. 

3. Hören der Töne. Dabei versteht er die Perzeption der mit be- 
sonderer Stärke und Dauer hervorgebrachten Vokale Dieser Gruppe teilt 
er ungefähr den 24. Teil der Taubstummen zu (4,2 0/9). 

4. Hören des Lärmes, Donners, Gewehrfeuers, Pochens. Die Zahl 
solcher Taubstummen schätzt er auf ?/, aller Taubstummen (40 °/,). 

5. Vollkommene Taubneit. Diese Gruppe umfafst etwas mehr 
als die llälfte aller Taubstummen (50%). 

Schmalz falst die drei ersten Grade, wie sie Itard angegeben, zu- 
sammen und nimmt drei Grade der Taubheit an: 1. Hören der Stimme 
(10°). 2. Hören des Lärmes (50°). 3. Gänzliche Taubheit (40°/,). 

Hartmann, ein Berliner Öhrenarzt, unterscheidet: 1. Vollständige 
Taubheit. 2. Schailgehör. 3. Vokalgebör. 4. Wortgehör. 

Gemeinhin hat man in Taubstummenlehrerkreisen schon seit langer 
Zeit von eigentlichen (völlig tauben) und uneigentlichen (mit Gehörresten 
begabten) Taubstummen gesprochen. 

Was die Klassifikation der Taubstummen durch die erwähnten Ärzte 
angeht, so mufs man ihr nach dem heutigen Stande der Wissenschaft 
Ungenauigkeit nachreden, die aber darin begründet ist, dals jenen Männern 
die rechte wissenschaftliche Grundlage, sowie auch die rechten Mittel bei 
ihren Untersuchungen fehlten. Ferner ermangeln die obigen Einteilungen 
der Allgemeingültigkeit, weil immer nur eine beschränkte Zahl Taub- 
stummer denjenigen Untersuchungen unterlag, von welchen sie abgeleitet 
wurden. 

In unsern Tagen ist nicht nur cine genügende wissenschaftliche 
Grundlage vorhanden, sondern man verfügt auch über die zu Untersuchungen 
der Gehörsorgane nötigen Hilfsmittel. 

Das Verdienst, uns das eigentliche Gehörsorgan kennen gelehrt zu 
haben, gebührt bekanntlich dem berühmten Forscher Hermann von 
Helmholtz. Er hat durch exakte Forschung gezeigt, dals das eigent- 
liche Organ des Hörens, die Endausbreitungen des Gehörnerven, im 
Schneckengange zu finden sind. Anfänglich sah er die sogen. Cortischen 
Fasern als das eigentliche Gehörsorgan an. Der Umstand aber, dafs bei 
Vögeln und Amphibien diese Gebilde fehlen, machte seine Annahme hin- 
fällig. Nunmehr schrieb er den Fasern der Grundmembran diese Funktion 
zu. Die Grundmembran bildet nach der Paukentreppe der Schnecke hin 
den Abschluls für den Schneckengang und ist eine aus starken Querfasern, 
die nur lose verbunden sind, bestehende Haut, die nach ihrem Ende zu 
immer breiter wird und zuletzt die zwölffache Breite hat als zu Anfang. 
Die einzelnen Fasern dieser Membran werden durch entsprechende 
Schwingungen, die von akustischen Erscheinungen aufserhalb des Ohres 
herrühren und die durch Trommelfell, Gehörknöchelchen, ovales Fensterchen 
dem Hörwasser im Innern der Schnecke zugeleitet werden, in Erregung, 
in Schwingungen versetzt. Die Fasern der Grundmembran sind also ein 


Über die Verwertung der Gehörreste bei Taubstummen. 131 


Apparat zum Mitschwingen, ja Mittönen, und wir können sie getrost mit 
den Saiten eines Klaviers vergleichen, von denen auch die entsprechende 
Saite mittönt, wenn wir einen bestimmten Ton z. B. hinein singen. Und 
um den Vergleich weiter zu spinnen, sei erwähnt, dals man die Cortischen 
Fasern als Dämpfer ansieht, welche ein Nachschwingen verhindern. — 
Wenn man sich nun vergegenwärtigt, dafs die Fasern am Grunde der 
Schnecke am kürzesten und am Gipfel derselben am längsten sind. so ge- 
langt man — nach der Analogie der in der Akustik vorkommenden Er- 
scheinungen — zu der Annahme, dals hohe Töne am Grunde der Schnecke, 
dagegen tiefe Töne am Gipfel derselben Erregung verursachen. Eben 
dieses hat auch die Wissenschaft durch Sektionen und notwendigerweise 
denselben vorangegangene Beobachtungen als zutreffend erwiesen und 
gleichzeitig dadurch eine Stütze für die Helmholtzsche Theorie geboten. 

Wenn nun ein menschliches Hörorgan eine unverietzte Grundmembran 
besitzt — und natürlich auch der Nerven-Apparat normal ist —, so ist 
es im stande, die gesamte kontinuierliche Tonreihe, zu deren Perzeption das 
menschliche Organ überhaupt fähig ist, zu vernehmen. Ist der Gipfel 
der Grundmembran durch Eiterungen zerstört, so können tiefe Töne nicht 
perzipiert werden; ist der Anfang der Grundimembran nicht mehr vor- 
handen, so werden hohe Töne nicht mehr wahrgenommen. Es ist über- 
haupt klar, dafs gewisse Töne nnd Tonreihen nur dann perzipiert werden, 
wenn die entsprechenden Stellen bei völligem Intaktsein der übrigen Teile 
der akustischen Nervenleitung erhalten geblieben sind. Die Frage, ob 
nicht in erster Linie Defekte des Zuleitungsapparates (äufseres und mitt- 
leres Ohr) den Verlust des Gehörs bedingen, ist von untergeordneter Be- 
deutung. In den meisten dieser Fälle wird das Hören nur beeinträchtigt, 
aber nicht vollständig gehemmt. Die Fälle, bei denen der Zuleitungs- 
apparat derart zerstört ist, dals trotz des Intaktseins der Schnecke und 
abgesehen von der Zuleitung der Schallschwingungen durch die Knochen 
des Kopfes absolut nichts gehört wird, sind äulserst vereinzelt. — 

Eingangs wurde gesagt, dafs früher die Mittel gefehlt haben, deren 
man zu gründlicher Untersuchung von Gehörsorganen benötigt ist. Jetzt 
besitzt man sie. Professor Bezold-München hat eine kontinuierliche 
Tonreihe hergestellt, die derjenigen entspricht, welche das normale mensch- 
liche Ohr zu perzipieren überhaupt im stande ist. Er bedient sich mehrerer 
Stimmgabeln mit Laufgewichten, zweier kleinen Orgelpfeifen und des 
sogenannten Galtonpfeifchens. Das Instrumentarium setzt sich in folgender 
Weise zusammen: 

Für die Strecke C, — a? sind Stimmgabeln vorhanden; jede der- 
selben dient zur Erzeugung von Tönen im Bereiche von einer Quinte bis 
Sexte. 

Die Tonreihe von a? bis zur unteren Grenze des Galtonpfeifchens 
wird mittels zweier gedackten Orgelpfeifen von verschiedener Grölse und 
mit verschiebbarem Stempel erzeugt. 

Zur Hervorbringung der übrigen Töne — im ganzen kann eine Ton- 
reihe von 11 Oktaven zur Darstellung gebracht werden — wird das 
Galtonpfeifehen benutzt. 

N) * 


132 B. Mitteilungen. 





Diese Vorrichtung ermöglicht es dem Öhrenarzte, die einzelnen Ge- 
hörsorgane auf ihre Hörfähigkeit hin gründlich zu untersuchen. 

Solche Untersuchungen sind an Taubstummen zuerst von Bezold im 
Jahre 1893, in jüngerer Zeit auch noch von anderen Ötologen vor- 
genommen worden. 

Professor Bezold untersuchte 79 Kinder der Münchener Taubstummen- 
Anstalt oder 158 Gehörsorgane. Von diesen waren 


1. unbestimmbar . . 2.2. 2 Organe = 1,30), 
2. total taub . 20202020. 48 n = 30,4 
3. mit Gehörresten behaftet . . 108  „ = 68,4” 


Bei den unter 3 angeführten Organen waren natürlich die Reste sehr 
verschieden. Bezold bildete hierbei 6 Gruppen. 

1. Er fand Organe, welche mehrere vereinzelt liegende Stellen der 
Skala perzipierten. Bei diesen Organen waren also einige Stellen der 
Grundmembran erhalten geblicben. Diese Stellen nennt er Inseln, Hör- 
inseln, die er in folgender Weise darstellt. 














2, Es gab Organe, die vom Anfang der Skala an perzipierten, dann 
aber mehrere Töne nicht vernahmen; hierauf wurde wieder ein Teil der 
Skala gehört, darnach wieder ein Stück ausgelassen. Es fanden sich 
Lücken, Hörlücken vor. Darstellung: 

| 








ENS —— | 
3. An gewissen Organen war nur ein Defekt am oberen Ende der 


Skala. 








=] 
4. An andern Oiganen zeigte sich ein Defekt sowohl am oberen, als 
auch am unteren Ende der Skala. 











=A | 
5. Andere Organe zeigten einen Defekt am unteren Ende der Skala 
und zwar 





a) über 4 Oktaven hinaus, 
b) unter 4 Oktaven. 

Auf diese Weise ist es möglich, ein getreues Abbild von der rest- 
lichen Hörfähigkeit der Gehörsorgane taubstummer Kinder zu erlangen. 

Die Ergebnisse dieser genauen Prüfungen haben nun nicht nur für 
den Ohrenarzt, sondern auch besonders für denjenigen weittragendes 
Interesse, der die restliche Hörfähigkeit zur Perzeption unserer Lautsprache 
verwenden will. Um recht zu erkennen, wie die Gehörreste in beregter 
Hinsicht benutzt werden können, müssen wir noch einmal auf Ergebnissen 
der Forschung des genialen Helmholtz fufsen. 

Wir wissen, dafs ein Gebiet seiner Forschung die Zerlegung von 
Klängen in ihre Teiltöne war und dafs er sich bei jener Zerlegung der 
von ihm erfundenen Resonatoren bediente, von denen jeder einzelne auf 
einen ganz bestimmten Ton abgestimmt war. — Unsere Vokale sind eben- 
falls Klänge, die er ın den Bereich seiner Untersuchungen zog, deren Teil- 
töne er ermittelte. Den Eigenton der einzelnen Vokale, d. i. den eigent- 
lich charakteristischen Ton setzte er in folgender Weise fest: 





Über die Verwertung der Gehörreste bei Taubstummen. 133 


Dez m mm 








| 
u (0) a | e Ä 1l | 
f b! b? bft | di&f 
| 


Von den Konsonanten hat man gleicherweise die Eigentöne fest- 
gestellt. Zwar sind die Angaben der einzelnen Forscher schwankend, doch 
darf uns das bei vorliegendem Gegenstande nicht beirren. 

Die Wissenschaft sagt nun, dafs ein Ohr einen gewissen Laut perzi- 
pieren muls, wenn es den Eigenton des betreffenden Lantes perzipiert. 
Ferner hat die Wissenschaft festgestellt, dals zur Perzeption der Sprache 
im äufsersten Falle nur die Peızeption der Stelle in der Skala vom bt 
bis inkl. g? nötig ist. 

Stellt nun die ohrenärztliche Untersuchung fest, dafs jene Stelle der 
Skala perzipiert wird, so erweist sich vorderhand das betr. Individuum 
zum Hören der Sprache, zur Vornahme von systematischen Hörübungen 
als geeignet. 

Man könnte fragen: Wozu ist denn diese umständliche Untersuchung 
nötig? und sagen: Man spreche doch einfach ins Ohr der Kinder, so wird 
man durch den Erfolg schon erkennen, wie grols die Gehörreste sind. 
Gewifs ist es angängig, von einer Untersuchung mittels der kontinuierlichen 
Tonreihe abzusehen und blind darauf los zu experimentieren, indem man 
durch längere Versuche und Übungen, bei denen man sich der Lautsprache 
bedient, schlielslich fesstellen kann, was die betreffenden mit Gehörresten 
behafteten Taubstummen noch hören und was sie nicht vernehmen. Diese 
Art wäre aber doch der andern gegenüber, welcher die ohrenärztliche 
Untersuchung vorangeht, entschieden als ein Umweg zu bezeichnen, auf 
dem man sich unnützer Mühen unterzicht und später zum Ziele kommt. 

Noch näher als jene Frage liegt diese: Warum hat denn jedes taub- 
stumme Kind, welches die zum Hören der Sprache notwendigen Gehör- 
reste besitzt, nicht wenigstens annähernd wie normale Kinder in der 
Familie die Lautsprache erlernt? Das kommt daher, dafs sein Gehör eben 
nicht normal war und dafs die Umgebung des Kindes diesem Umstande 
nicht Rechnung getragen hat und auch nicht tragen konnte, nachdem sie 
den Mangel des Gehörs nach ihrem Laienurteil erkannt hatte. Zudem 
war durch die Zerstörung des eigentlichen Gehörsorganes durch Ver- 
kalkungen etc. auch die Empfindlichkeit desselben beeinträchtigt worden, 
so dals die Sprache der Umgebung, wenn sie überhaupt sein Ohr traf ın 
der Seele des Kindes nicht derart klare Lautbilder schuf, dafs sich ein 
sensorisches, viel weniger ein motorisches Lautbildzentrum hätte bilden 
können. So konnnte das betreffende Kind also die Lautsprache nicht erlernen. 

Es wäre auch ein grofser Irrtum, wollte man annehmen, dafs mit 
den nötigen Gehörresten begabte Taubstumme sogleich unsere Sprache 
verstehen und reden könnten, wenn man ihrem Gebrechen nur insofern 
Rechnung trägt, dafs man mit krältigerer Stimme und in grölserer Nähe 
des Ohres als gewöhnlich zu ihnen spricht. Solch einem Taubstummen 


154 B. Mitteilungen. 





ergeht es etwa wie es Kaspar Hauser erging, der — aus der Dunkel- 
heit, in welcher er von Lebensanfang gewesen war, hervorgezogen und 
ans Licht gebracht — eine schöne blumige Wiese als buntbekleckste 
Fläche bezeichnete Wie dieser nicht die optischen Eindrücke analysieren 
konnte, so gelingt auch jenem Taubstummen die Analyse der akustischen 
Eindrücke nicht. Das Ohr ist in diesem Falle gar nicht perzeptionsbereit, 
wenngleich es schon als perzeptionsfähig bezeichnet werden konnte. Der 
Betreffende muls es erst lernen, seine Aufmerksamkeit anf die akustischen 
Eindrücke zu richten, da ihm dieses Sinnesorgan bisher gar nicht oder 


doch nur in sehr geringem Mafse dienstbar war. Er kann auch — un- 
geübt — gar nicht angeben, welchen Laut, welche Silbe, welches Wort 


er gehört hat: hat sich doch bei ihm noch nicht einmal ein akustisches Sen- 
sorium gebildet. Ein akustisches Motorium hat sich gleichfalls noch nicht 
gebildet, und noch ferner liegt die Möglichkeit, dafs sich mit den emp- 
fangenen akustischen Eindrücken ein Sinn, ein Begriff verbinde, da die’ 
Nervenbalınen zum Direktorium hin noch nicht wegbar gemacht worden 
sind. Hierin liegt die Notwendigkeit begründet für die Vornahme von 
systematischen Hörübungen. Der Zweck derselben ist eben, jene Laut-, 
Silben- und Wortbildzentren zu bilden, nicht nur die sensorischen, sondern 
auch die motorischen, kurzum die akustische Nervenbahn gangbar zu 
machen. — Bei diesem Beginnen steht uns zum Glück eine Hilfe bereit. 
Durch den Taubstummen-Sprachunterricht, der sich bekanntlich auf das 
Gesicht (und auf das Gefühl) gründet, sind schon Laut-, Silben- und 
Wortbildzentren, natürlich innerhalb der optischen Nervenbahn gebildet 
worden. Mit denselben müssen die innerhalb der akustischen Nervenbahn 
neu zu bildenden Zentren durch Wegbarmachen der sie verbindenden 
Nervenbahnen verknüpft werden. Das geschieht dadurch, dals man an- 
fänglich die auf optischem Wege erlangten Vorstellungen durch Vorsprechen 
seitens des Lehrers und Absehen seitens des Kindes ins Bewulstsein ruft 
und nun die akustischen zum Bewulstsein bringt. 

Auf Grund der Errungenschaften der medizinischen und physikalischen 
Wissenschaften und auf Grund physiologisch- psychologischer Erwägungen 
hat man nun besonders in deutschen Taubstummen- Anstalten Versuche 
gemacht, noch vorhandene Gehörreste der Schüler zu verwerten. Dies 
geschah teils nach vorangegangener ohrenärztlicher Untersuchung mittels 
der kontinuierlichen Tonreilie, teils ohne diese Grundlage. Was die Theorie 
aufgestellt hat, das haben die praktischen Versuche voll und ganz bestätigt. 
Aus eigener Erfahrung kann ich bezeugen, dafs entsprechende Übungen, 
vorgenommen mit solchen Kindern, welche mutmafslich noch (iehörreste 
besalsen, je nach dem Grade jener Reste Resultate gezeitigt haben, welche 
den Voraussetzungen, die man auf Grund der Theorie hegte, voll und ganz 
entsprachen. 

Ein Knabe A, welcher einzelne ihm bekannte Worte hörte, ist durch 
die Übungen dahin gebracht worden, dals er sämtliche Laute (Vokale und 
und Konsonanten) unserer Sprache hört und die Sprache soweit durchs 
Ohr vernimmt, dafs man mit ihm ohne viele Stockungen ein Unterrichts- 
gespräch führen kann und zwar in einer Entfernung des sprechenden 





Über die Verwertung der Gehörreste bei Taubstummen. 135 





t 


Mundes vom Ohr von !/, bis 1, m. Nur selten braucht ihm ein Wort 
silbenweise, noch seltener lautweise zu Gehör gebracht zu werden. — 
Ein Mädchen B hatte Vokalgehör und wurde durch Übung dahin ge- 
fördert, dafs es in seiner Hörfähigkeit dem eben erwähnten Knaben sa 
nahe kommt, dafs es mit ihm gemeinsame Übung erfährt. — Zwei Knaben 
C und D hörten bei Beginn der Übungen a und u; jetzt hören sie — 
nahe am Ohr oder ins Hörrohr gesprochen — alle Vokale und die Kon- 
sonanten p (b) t (d) k (g) schsfchjlr (m) z. — Sind nun Wörter aus 
solchen Lauten gebildet, welche sie hören können, so werden diese von 
den Kindern meistens ohne weiteres gehört; enthalten aber gewisse Wörter 
Laute, welche die Kinder nicht wahrnehmen können, so kombinieren sie. 
Das ist leicht, wenn die Wörter ihrem Sprachschatze angehören, schwer, 
wenn sie ihnen völlig fremd sind; im letzeren Falle ist es ihnen zuweilen 
unmöglich, das betreffende Wort zu verstehen. Ein fünftes Kind, ein 
Knabe E, der bereits drei Jahre lang unterrichtet und für völlig taub ge- 
halten worden war, wurde auf Veranlassung und Kosten seiner Eltern 
vom Öhrenarzte untersucht und als ein solcher Taubstummer bezeichnet, 
der mit Gehörresten begabt sei und infolgedessen mit Erfolg an Hör- 
übungen teilnehmen könne, wenn auch seine Gehörreste gering seien. 
In der Tat erwies sich bald die Behauptung des Otologen als wahr, uud 
heute hört der Knabe alle Vokale und die Konsonanten I r sch k. In 
Bezug auf das Hören von Wörtern steht er den beiden letzterwähnten 
Knaben begreiflicherweise nach. Bemerkt sei noch, dafs die 4 zuerst be- 
zeichneten Kinder alles von ihnen selbst Gesprochene hören, natürlich 
durch das Hörrohr. — Diese 5 Hörschüler gehören einer Klasse an, 
welche 10 Insassen besitzt. Um Irrtümer zu vermeiden, sei nach diesem 
Bericht noch bemerkt, dafs in physischer Hinsicht das G>hör dieser Kinder 
keine Erweiterung erfahren hat. Die Fähigkeit, das alles zu hören, be- 
salsen sie schon, ehe jene Übungen angestellt wurden. Es ist nur die 
Fertigkeit zu hören gesteigert worden. Zu den crlangten Resultaten hat 
auch der übrige Unterricht zu einem grofsen Teile mit verholfen; macht 
man doch überhaupt die Erfahrung, dafs die betreffenden taubstummen 
Kinder nach Verlauf einiger Schuljahre auch ohne entsprechende Übungen 
mehr hören als zu Anfang der Schulzeit, weil ja durch den Sprachunter- 
richt ihnen ein Sprachschatz verschafft wird, der ihnen durch seine apper- 
zipierende Kraft das Kombinieren wesentlich erleichtert. -— 

Auf den ersten Blick erscheinen die gekennzeichneten Jrgebnisse 
dieser Übungen als ein bedeutender Erfolg; man muls sie auch als solchen 
bezeichnen, wenn man die Hörlähigkeit der Kinder vor und nach den 
Übungen in Vergleich stellt. Wer dagegen seine Erwartungen hinsichtlich 
der Erfolge jener Übungen zu hoch spannt und annimmt, Tanbstumme 
sollten durch dieselben normal llörende werden und die Taubstummheit 
könnte nunmehr gehoben werden, der befindet sich natürlich im Irrtume, 
der findet sich natürlich auch in seinen Erwartungen getäuscht, wenn cr 
die oben näher bezeichneten Erfolge betrachtet. Er wird vielleicht fragen: 
Welchen praktischen Wert hat es denn, dafs Kinder in nur so geringer 
Entfernung etwas durchs Ohr vernehmen? Ist es denn wirkliches Hören, 








136 B. Mitteilungen. 





wenn nur einige Laute gehört und die andern erraten werden? Stehen 
die aufgewandten Mühen und Anstrengungen mit den Erfolgen in einem 
Verhältnisse, welches die Vornahme solcher Übungen ratsam erscheinen 
läfst ? 

Beantworten wir diese Fragen in umgekehrter Folge! 

Anstrengungen sind mit den Übungen verbunden; denn wenn anch 
eine Stimme mittlerer Stärke genügt, so verlangt doch das Sprechen bei 
den Übungen grölseren Kraftaufwand als das Sprechen im gewöhnlichen 
Unterrichte. Jedoch sind die Anstrengungen nicht derart, dals sie einem 
gesunden Körper schaden könnten. Dazu kommt, dafs auch die Stimmen 
der Hörschüler verwandt werden. Wer ein Herz für die Unglücklichen 
bat, wer ein Verständnis für den grolsen Wert solcher Übungen für Taub- 
stummen hat, wer dazn — das soll nicht aufser acht gelassen werden 
angemessener Entschädigung entgegensieht, der wird sich gern diesen 
Bemühungen unterwerfen. 

Wenn die mit teilweisen Gehör behafteten Taubstummen nur einige 
Laute eines Wortes hören, die übrigen nicht vernehmen aber durch Kom- 
bination zu cınem Verstehen des Wortes gelangen, so befinden sie sich 
in ähnlichen Verhältnissen wie Normalhörende, die aus gröfserer Ent- 
fernung etwas zu hören sich bemühen oder auch wje die Schwerbörigen. 
Tun sie etwas anderes als hören? 

Sollten diese auf die Funktion ihres Gehörs verzichten? Sollte es der 
Taubstumme, dessen Gehör noch in gewissem Grade funktioniert? Gewils 
nicht! Und darum hat der Taubstummen- Unterricht die Aufgabe, die Ge- 
hörteste in gebührender Weise zu berücksichtigen. Wird man bei dem 
Blinden-Unterrichte nicht auch vorhandene Reste von Selhkraft gern be- 
nutzen, vorausgesetzt, dafs dadurch den Gesichtsorganen nicht grölserer 
Schaden droht? Wird jemand auf den Gebrauch seiner verkrüppelten 
Hand, wenn sie auch nur einen ganz geringen Fingerstumpf besälse, ohne 
weiteres Verzicht leisten? 

Der mit Gehörresten begabte Taubstumme steht wahrlich mit dem 
Schwerhörigen auf einer Stufe; nur ist der letztere insofern glücklicher 
daran, als er schon geübt ist, akustische Eindrücke zu deuten und als 
ihm ein auf normalem Wege erlangter grölserer Sprachschatz eigen ist, 
der ihm das Kombinieren bedeutend erleichtert. 

Es ist die Aufgabe der Hörübungen oder, wie man sich in neuester 
Zeit besser ausdrückt, des »Sprachergänzungsunterrichtes durchs Ohre, 
den Taubstummen mehr und mehr in den Stand zu setzen, akustische 
Eindrücke deuten zu können und dabei seinen durch die optische Bahn 
erlangten Sprachschatz dienstbar zu machen. Die auf letzterem Wege er- 
langte Sprache soll, soweit es möglich ist, auch durchs Ohr aufgenommen 
werden. Die optischen und akustischen Wahrnehmungen sollen sich er- 
gänzen. Beide — an sich nicht ganz vollkommen und deutlich — 
gleichen zwei verwischten Urkunden über eine und dieselbe Sache, welche, 
wie man hofft, sich ergänzen sollen. Letzteres ist natürlich um so mehr 
möglich, je weniger die akustischen Wahrnehmungen lückenhaft sind, je 
mehr der betreffende Taubstumme von der Sprache noch hört. — 





Ethische Anschauungen japanischer Mädchen. 137 





Wenn selbst der Sprachschatz des betreffenden Schülers nicht er- 
weitert werden könnte, so würde er doch befestigt werden; denn es 
würden eben seine Assoziationen vermehrt werden. Eine entschiedene 
Erweiterung erfährt aber die Sprache derjenigen Schüler, welche zu den 
»am besten hörenden Taubstummen« gezählt werden können; denn, da sie 
in Bezug auf ihre Hörfähigkeit dem Normalhörenden am nächsten stehen, 
nähert sich auch die Sprache nicht nur nach ihrem mechanischen, sondern 
besonders auch nach ihrem geistigen Teile infolge der Übungen derjenigen 
des Vollsinnigen. Mit solcnen Schülern kann man sich anf dem Gebiete 
der Sprache viel freier bewegen und braucht man sich nicht nach der be- 
schränkten »Taubstummensprache« zu richten. Im Sprachergänzungsunter- 
` richte hört und lernt er viele Wörter und Wendungen, die ein Unterricht, 
der durchs Auge vermittelt wird, seinen ganzen Wesen entsprechend, 
unberücksichtigt lassen muls. Ist das nicht in praktischer Hinsicht 
wertvoll? 

Denken wir aber auch an Schüler, welche nur geringe Gehörreste 
besitzen, welche nur die Vokale hören lernen. Auch dieser Erfolg ist 
schon wertvoll, weil dann die Sprache volltönend, wonlklingend, natürlich 
werden mufs. Das ist um so mehr der Fall, wenn ein Schüler, sei es 
auch nur durchs Hörrohr, seine eignen Vokale hören lernt, weil dann 
erst die sensorisch-motorische akustische Nervenbahn in ihm geschlossen 
ist, und weil so das Ohr der Regulator für sein Sprechen sein kann, wie 
es dem natürlichen Verhältnisse entspricht. Wer wollte auch hiernach 
den praktischen Nutzen der Hörübungen in Zweifel ziehen? 

Es sei noch bemerkt, dafs mit Gehörresten begabte Tanbstumme 
durch Übung auch lernen auf andere akustische Erscheinungen als die 
Lautsprache ihre Aufmerksamkeit zu richten und sie zu vernehmen. Als 
Beispiel sei angeführt, dafs ein Knabe zu Beginn der Übungen das Länten 
der Schulglocke nicht vernahm, es aber nach 4 Wochen 5 m weit hörte. 

Die geschilderte Art der Verwertung der Gehörreste bei Taubstummen 
wird in den Taubstummen - Anstalten immer mehr Platz greifen. Schon 
fragt man sich in beteiligten Kreisen: Soll man für solch »hörende Taub- 
stumme« besondere Klassen in den jetzigen Anstalten oder besondere An- 
stalten errichten? — Jedenfalls haben wir es mit einer ganz natürlichen 
Ergänzung des Taubstummen-Unterrichtes zu tun, welche jenen Unglück- 
lichen nur zum Segen gereichen und der bisher geübten Methode nur 
dienen kann. 


3. Ethische Anschauungen japanischer Mädchen.') 


Interessante Untersuchungen aus Osaka (den japanischen »Times« entnommen). 


Herr Shimizutani, der Leiter der höheren Märdchenschule zu 
Osaka, hat interessante Zusammenstellungen gemacht über die ethischen 
Anschauungen 12— 16 jähriger Schulmädchen. Es wurden eine Reihe von 


1) Aus dem »Open Court« (Chicago) übersetzt von Anna Bock in Altenburg. 











138 B. Mitteilungen. 
Fragen — im ganzen elf — aufgestellt, welche die Mädchen zu beant- 


worten hatten und die etwa folgende Punkte betrafen: 1. die weiblichste 
Tugend und ihr Gegenteil, 2. das gröfste Verdienst der Frau und das 
Gegenteil, 3. die glücklichste und die unglücklichste Lage für eine Frau, 
4. ie für die Frau lobenswerteste nnd tadelnswerteste Tat u. dergl. mehr. 

Auf die Erage, worin die weiblichste Tugend besteht, gaben die 
Mädchen des ersten Jahres und die des vierten, d. h. der abgehenden 
Klasse, folgende, in Prozenten angegebene Antworten: 


1. Jahr 4: Fahr Durchschnitt 

von 4 Klassen 
Keuschheit . . 2.2.2.0... .[180 63,8 36,5 
Lebensart 20 R2 16,7 21,0 
Gehorsam . . Be He ia RE 1,6 17,0 
W itschaftlichlkeit: gon e e o a 4,5 13,0 
Güte. . . Fu 1,6 1,4 2,9 
Verschiedenes ie inbekannt Fe 9,4 6,0 9,6 

Als unweiblichste Tugenden wurden die nachstehenden bezeichnet: 

í; Ihr 4. Jahr Durchschnitt 

von 4 Klassen 
Unkeuschheit . . 2. 2 2020.20..155 48,5 25,2 
Eifersucht . . e wo 2020202... TR 23,5 24,6 
unzienliches an ee BDA 10,3 15,2 
Dünkel . . . ee 10,3 10,0 
Schwatzhaftigkeit . ee, 00 4.7 8,5 
Verschiedenes oder unbekannt . . 37,2 23,7 16,5 

Das grölste Verdienst für das Wesen der Frau ergab folgende Zahlen: 

1. Jahr 4. Jahr Durchschnitt 

von 4 Klassen 
True . . 02 2 20 20202020. 42,6 51,5 41,0 
DOPE a ne e 7,5 31,2 22,5 
Glen At 12,1 11,5 
Anmut A. a d. a a ee a 1,5 6,6 
Haushalten. . . er 9,8 3,0 6,8 
Verschiedenes und unbekannt. v oca B2 31,2 31,1 


Über den gröfsten Fehler einer Frau wurde folgendermafsen abge- 
stimmt: 


1. Jahr 4. Jahr Durchschnitt 

von 4 Klassen 
Eifersucht . . 2 2 2 202020..164 28,8 22,1 
Engherziekeitt . . 2. 2 2 202. 6.5 21,2 21,0 
körperliche Schwäche . . ......156 19,7 15,2 
Schwatzhaftigkeit. . . . . . 10,4 9,1 7,6 
Verschiedenes und abet | 31,2 31,1 


Die Frage, welcher Beruf der für die Frau geeignetste sei, ergab die 
nachstehenden Antworten: 





Ethische Anschauungen japanischer Mädchen. 139 


1. Jahr 4. Jahr ae 
Nähen . . 2. 2 2020202020. 50,0 12,2 36,6 
Haushalten. . . . 20 . . . . 189 40,9 34,8 
Krankenpflege. . . 2 2 220.0 41 24,2 11,4 
Kinderpflege . . . a a ; 10,6 5,3 
Verschiedenes und unbekannt 41,3 14,1 12,1 


Nach der Meinung der De Mädchen bedingen folgende Um- 
stände das Glück der Frau: 


1. Jahr ee 
Glückliches Familienleben . . . . 13,9 45,5 29,7 
wissenschaftliche Bildung . . . . 25,4 15,7 18,0 
elückliche Ehe . . . . . 2.. 189 4,5 11,0 
gute Kinder . . ee ee 18,2 9,0 
hohes Alter der Eltern u S 9.8 1,5 E 
Verschiedenes . . . . 21 14,6 27,4 
Die Frage nach der CE ertesten Tat ergab folgende Resultate: 
Dim a Sn 
Liebe zum Herrscher und den Eltern 32,8 36,4 36,6 
Vaterlandsliebe . . 2. 2020.20. [B1 21,2 15,7 
Güte. . . Be ee A 1,6 10,0 
Bescheilienlieik, sg z 4123 3,0 8,0 
Wirken für allgemeine Wohlfahrt . 0,8 4,5 4,0 
Verschiedenes . . 2 220 2020....25,3 28,3 25,7 


Endlich kommen wir auf religiöse Ideen, und in dieser Hinsicht geben 
die Mädchen interessante Antworten, zunächst in Bezug auf ihren Glauben: 


1. Jahr ijala Sl 

von 4 Klassen 
Buddhismus . . 2 20202020..96,0 25,0 . 44,0 
SINtoISMUSs 22 2,6 3159 ‚4 
Christentum 2020. 2,6 9,4 6,5 
keine Religion . . 2 2 2020...23,6 11,0 8,0 
unbekannt . . . 2. 2 202020...86,2 Sal 33,06 


Die Frage, was aus uns nach unserem Tode wird, führte folgende 
Antworten herbei: 


1. Jahr 4. Jahr Durchschnitt 
von + Klassen 
Wir sterben mit dem Körper. . . 16,4 31,30 24,9 
wir kommen in den Himmel. . . 81,0 20,30 23,2 
wir machen cine Seelenwanderung 
durch . .. a u ma s Las 9,41 3,8 
wir bleiben irgendwo Bo 16,4 21,90 19,8 
wir bleiben zu Hause oder auf de 
Kirchhof. . . . 2.2... D21 1,60 6,7 


Verschiedenes . . 2. 2.2... . 10,3 34,49 9,6 


140 C. Literatur. 





Die letzte Frage war die: ist die Gottheit allmächtig? Die Antworten 
erfolgten in nachstehender Weise: 


1. Jahr 4. Jahr me 
Allmächtig . . 2:2 2 20 2000...098 73,4 74,0 
nicht allmächtig . . . .. . . 160,4 25,0 20,8 
unbekannt . 22 nn 2. 7,8 1,6 5,2 


Aus Vorstehendem kann man ersehen, wie fest die alte Idee von 
Liebe und Gehorsam noch in der Seele der japanischen Mädchen haftet. 


4. Verein für Kinderforschung. 


Einem dringenden Wunsche des Ortskomites in Halle wie auch ver- 
schiedener anderer Mitglieder des Vereins folgend, wird die diesjährige 
Versammlung nicht im August, sondern erst im Oktober gegen 
den Schlufs der Herbstferien in Halle abgehalten werden. 

Die Tagesordnung wird später bekannt gegeben werden. 

Nähere Auskunft erteilen die Herren Dr. med. Schmid-Monnard 
in Halle, Dr. med. Strohmayer in Jena und Lehrer Stukenberg 
in Jena-Sophienhöhe. Anmeldungen von Vorträgen nimmt der Unter- 
zeichnete entgegen. Trüper. 


5. Zur Nachricht. 


Mit dem 1. Mai dieses Jahres wird der Unterzeichnete nach Elber- 
feld übersiedeln (Kurfürstenstralse 26). 

Die Fortsetzung des Hagenschen Reiseberichtes erfolgt in der 
nächsten Nummer. Ufer. 


C. Literatur. 


I. Krieg, Prof. Dr, Lebrbuch der Pädagogik. Paderborn, Druck und Verlag 
von Ferdinand Schönineh, 1900. 489 S. | 

In diesem Lehrbuch erörtert Umiversitätsprofessor Dr. Krieg u. a. auch in 
eingehender Weise die auf das Seelenleben der Kinder sich beziehenden Fragen. 
Der Herr Verfasser Äulsert im Vorwort: »Die psychologischen Gesetze sind 
eingehender als manchem nötig scheinen mag, zur Erörterung gekommen, während 
zuweilen das Pädagogische und Praktische zurücktritt. Allein der Verfasser ist der 
Meinung, dals derjenige, welcher die Gesetze des menschlichen Innenlebens, 
die Tätigkeiten in und zwischen den scelischen Kräften kennt, die praktischen Folge- 
rungen oder die pädagogische Regel leichter abzuleiten versteht. Überhaupt war 
er bestrebt, von der Heerstraßse pädagogischer Gemeinpläfze und Regeln, wie sie 
in vielen pädagogischen Werken sich breit machen, abzulenken und dafür den Ge- 
setzen des Geistes nachzugehen, um einen festen, psychologischen 
Grund zu legen.« Krieg weist ferner mit Recht darauf hin, dafs man in der 
Theorie oft eine Unsumme von Regeln und Vorschriften aufstelle, statt dem Grund- 
gesetze alles Erziehens nachzugehen. Dies treffe insbesondere auch dort häufig zu, 
wo es sich um die Besserung eines verkehrt erzogenen Kindes oder um die Ab- 





C. Literatur. 141 


schaffung von Fehlern und Unarten, um »Erkrankungen« oder sittliche Störungen 
handele. Der Erzieher müsse es hier verstehen, des Zöglings innerstes Wesen, 
das Gemüt zu berühren und zu bewegen. 

Krieg zeichnet in $ 96 seines Werkes die Gesetze und den Verlauf der 
natürlichen Entwicklung. Er unterscheidet nach dem Vorgange von Aristoteles ein 
Kindes-, Knaben- und Jünglingsalter. Diese drei Perioden werden nach ihren phy- 
sischen und psychischen Bestimmtheiten genau beschrieben. Darauf wendet sich 
Krieg zur Darstellung der jedem Kinde eigentümlichen Bestimmtheit, der 
Individualität, sowie der mitbestimmenden Faktoren derselben, des Ge- 
schlechts, Temperaments, der leiblichen Konstitution, der ethischen 
Veranlagung und der Volksindividualität. Es verdient hervorgehoben zu 
werden, dals Krieg auch die Einflüsse auf Leib und Seele vor der Geburt und ım 
Kindesalter im einzelnen beleuchtet ($ 120). Überhaupt ist der Verfasser bemüht 
gewesen, die Bedeutung des leiblichen Lebens für das Seelenleben gebührend 
hervorzuheben. Er weist nachdrucksvoll darauf hin, dafs nur falsche spiritualistische 
und asketische Anschauungen die enge Wechselbeziehung zwischen Leib und Seele 
verkennen. Der Leib sei nicht nur die Wohnung der Seele, sondern kraft der 
engen Verbindung Organ und Träger derselben im vollsten Sinne. Die Erziehung 
habe demgemäfs dahin zu wirken, dafs der Leib nicht nur gesund, kräftig und ge- 
wandt werde, sondern sie habe ihm vielmehr auch Eigenschaften anzuerziehen, 
welche in das Gebiet des Sittlichen hinübergreifen: Anstand und Reinheit. 
Folgende Ansicht des Verfassers dürfte besonders in ernstliche Erwägung zu ziehen 
sein: »Die oft angepriesene, einseitige Turnerei ist von Schaden. Das übliche 
Turnen bietet sittliche Gefahren. Die jugendliche Unbefangenheit wird beeinträchtigt, 
Eitelkeit, Roheit, Frechheit, Überwuchern der Sinnlichkeit treten nicht selten zu 
Tage, so dafs die Spiele im Freien, namentlich auch Jugendspiele, wie sie in 
der Gegenwart vielfach gepflegt werden, für Geist und Körper vorzuziehen sind. 
Ganz zu verwerfen bei Kindern ist das Tanzen. das durch Spiele ersetzt werden 
muls; vollends Kinderbälle sind eine feine Unzucht, ein Blofsstellen (Prostitution) 
von Leib und Seele. Das Mädchenturnen, wie es vielfach angepriesen und be- 
trieben wird, ist erst recht eine Art feiner Prostitution: (S. 358). 

In dem letzten Teil seines Werkes verbreitet sich Krieg sodann eingehend 
über die Erziehung der Seele (S. 364—476). Als scholastischer Aristoteliker 
gibt er — wie Gutberlet,') Hagemann,?’) Stöckl, ”) Schneid?) -— eine Analyse 
der Seelenkräfte, eine Beschreibung ihrer Wirkungsweise und im Anschlufs 
daran die Regeln für die Erziehung der Einzelkraft. Bei der Lektüre dieses 
Teiles dürfte es zu empfehlen sein, wenn man die psychologische Terminologie 
Kriegs im Lichte von Prof. Dr. Joh. Rehmkes neuestem Werk »Die Seele des 
Mlenschen«°) kritisch betrachtete. Für die scholastische Terminologie, die uns 
nicht sonderlich anmutet, werden wir reichlich entschädigt durch die Fülle fein- 
sinniger Beobachtungen über das Seelenleben des Kindes und die praktischen An- 
weisungen, welche damit verknüpft werden. 

Herborn. Hermann Grünewald. 


1) Lehrbuch der Philosophie. III. Bd. Die Psychologie. 2. Aufl. Münster, 1890. 
?) Psychologie. 4. Aufl. Freiburg i. D.. 1889. 

3) Lehrbuch dor Philosophie. 6. Aufl. I. Bd. Mainz, 1887. 

1) Psychologie im Geiste des heil. Thomas von Aquin. Paderborn, 1892, 

°) Aus Natur u. Geisteswelt. 36. Bändchen. Leipzig, 1902, 





142 C. Literatur. 





2. Veeh, L., Die Pädagogik des Pessimismus. Leipzig, Verlag von Hermann 
Ilaacke, 1900. 46 8. 

L. Veeh vesucht in diesem Schriftchen die Resultate der Spekulation Ed. v. 
Hartmanns auf die Pädagogik anzuwenden. Der 1. Teil handelt von der pessi- 
mistischen Weltauschauung, der 2. von der Pädagogik des Pessimismus. Allen Er- 
scheinungen liegt hiernach das »All-Eine Unbewulste« zu Grunde, das als unpersön- 
licher Geist zu denken ist. Wille und Vorstellung sind in demselben in un- 
trennbarer Einheit vorhanden. Der Mensch ist eine Erscheinung des Absoluten. 
Den beiden Attributen des Absoluten entsprechen die beiden Grundfunktionen des 
menschlichen Geistes: Wollen und Vorstellen. Lust ist erfüllter, Unlust nicht er- 
füllter Wille. Der Angriffspunkt der Erziehung im Individuum liegt im Bewufst- 
sein, welches unter dem Zusammenwirken der Materie und des unbewulsten Geistes 
entsteht. Die treibenden Momente in dem Menschen sind das in der Entwicklung 
begriffene Weltwesen, wovon er ein Tell ist, die Vererbung und Zuchtwahl; 
als äulserer Faktor wirkt der Kampf ums Dasein. Dies sind die Faktoren der 
Bewulstseinssteigerung, in welcher Veeh auch das Ziel der Erziehung er- 
blickt. Mit der Steigerung des Bewulstseins wächst nämlich die Ein- 
sicht in die Aussichtslosigkeit alles Strebens, wodurch es möglich ist, 
dals die universelle Erlösung zu stande kommt. Dem Strahlenbündel von Kräften, 
die dem Unbewulsten entstammen und auf einen Komplex von Atomen ge- 
richtet sind, füllt die Hauptrolle in der Erziehung des Menschengeschlechts zu, und 
es wäre cine Überhebung der Pädagogik, wenn sie sich anmalste, durch bewulste 
Einwirkung auf den Zögling diesen Faktor ersetzen zu wollen (Rationalismus). Auf 
der andern Seite muls freilich daran festgehalten werden, dafs die Erziehung nicht 
alles vop dem immanenten Entwicklungsprinzip erwarten darf (Pietismus), sondern 
dafs sie selbst auch mit Hand anlegen mufs, dals immer mehr Reize ihren Weg 
ins Bewulfstsein finden, damit die Reaktionen des Unbewulsten sich vermehren und 
der Geist immer mehr zu sich selber komme. Veeh macht darauf auf- 
merksam, dafs der Begriff der Erziehung, blofs unter dem Gesichtspunkt der be- 
wulsten Einwirkung gereifter Persönlichkeiten auf unreife betrachtet, zu eng gefalst 
sei. Die Macht der sogenannten unkontrollierbaren Miterzieher, der äufseren Ein- 
flüsse, Verhältnisse, Klimata, Konstitution, Gesundheit, Schicksal, Lebensführungen 
stellen gewils wichtige Faktoren in der Erziehung des Einzelnen dar; ja sie machen 
oft das planmälsige Einwirken der Erzieher erfolglos.) Veeh vertritt den Deter- 
minismus. Die Willensentscheidungen kommen auch im Kinde in der Weise zu 
stande, dafs sie von dem »All-Einen Unbewulsten« determiniert werden und dals 
sie auf der andern Seite durch die Motive, welche von aufsen herantreten, zwar 
nicht determiniert, aber modifiziert werden können, indem sie von dem Bewulstsein 
erfalst, verarbeitet, ungebeugt werden und dann in der Resultante der gleichzeitigen 
Begehrungen, d. h. dem Wollen nach aulsen zurückstrahlen. Dem Erzieher fällt 
die Aufgabe zu, die geeigneten Motive an den Zögling heranzubringen, damit seine 
Begehrungen, aus denen sein Wollen resultiert, dem Sinne der sittlichen Welt- 
ordnung gemäls seien und sein Charakter eine Bereicherung und Vertiefung erhalte. 
Auch soll sie ihm u. a. noch den Sinn für den Zusammenhang der Welt 
mit seinem Urgrunde öffnen. 

Vorstehender kurzer Auszug dürfte genügen, um über die Anschauungen des 


t) cfr. hierzu: Dexexe, Erziehungs- und Unterrichtslehre. Berlin, 1835. $ +. 
Die drei Erzieher des Menschen. 





C. Literatur. 143 


moderren Pessimismus, soweit sie sich auf die psychologische Pädagogik bezichen, 
genügend zu orientieren. Ob aber die pessimistische Weltanschauung »mit dem 
Schwerte des Geistes, das durch die unerbittliche Logik der Tatsachen geschärft 
wird«e — wie der Verfasser optimistisch im Vorwort äulsert — »die Welt er- 
obern wirde, will mir doch sehr fraglich erscheinen. Wer das Leben unter dem 
Gesichtspunkte einer Verwirklichung von Werten zu betrachten gelernt hat, 
wird der pessimistischen Anschauung nur ablehnend gegenüber stehen. Goethe 
sagte einmal bezeichnend: 

»Mir will das kranke Zeug nicht munden; 

Autoren sollten erst gesunden'« 


Herborn. Hermann Grünewald. 


3. Grösz, Über Alkoholismus im Kindesalter. Archiv für Kinderheilkunde, 
34. Band, 1. u. 2. Heft. 

Verfasser, Direktor des Adele Brödy-Kinderhospitals in Budapest, be- 
spricht zuerst die akute Alkoholvergiftung bei Kindern, die sich bei der grölseren 
Reizbarkeit des kindlichen Nervensystems in einer viel intensiveren Weise als bei 
Erwachsenen, oftmals unter Krämpfen, zu erkennen gibt, und behandelt danach die 
krankhaften Veränderungen, die durch den längere Zeit fortgesotzten Genuls von 
Spirituosen im kindlichen Organismus hervorgerufen werden. Die Verabreichung 
von Alkohol in kleinen Dosen wirkt belebend auf das Nervensystem des Kindes, 
doch ist diese Wirkung nur eine scheinbare, denn auf die Reizung folet alsbald das 
Stadium der Lähmung. Sehr häufig sind die Fälle, in welchen die Eltern, von der 
falschen Ansicht ausgehend , dafs »der Alkohol den Organismus stärkt«e, ihren 
Kindern, und zwar vom Säuglingsalter angefangen bis hinauf zur Pubertät, täglich 
2 bis 5 g und auch mehr Cognac, Tokaver u. s. w. in konzentrierter oder auch in 
verdünnter Form verabreichen. In solchen Fällen ist durch die Reizung der Magen- 
schleimhaut eine Dyspepsie (Verdauungsstörung) meist beständig, und dieselbe kann 
zum Ausgangspunkt cines schweren Magendarmkatarıhs werden. Auch der durch 
längere Zeit geübte regelmälsige Genuls von Bier und leichten Weinen, selbst in 
verdünnter Form, kann ähnliche Zustände hervorrufen. Dieser Milsbrauch findet 
sich bei Armen und Reichen, und selbst Mütter, die zu den gebildetsten Kreisen 
gehören, geben ihren Kindern bei den geringsten Verdauungsstörungen Cognac oder 
schweren alten Wein, oft mehrmals des Tages, Wochen, ja Monate lang. Sehr 
häufig trifft man blutarme Kinder, die fortwährend an Verdauungsstörungen leiden 
und dabei regelmälsig geistige Getränke in relativ grolsen Mengen erhalten. Es ist 
offenkundig, dafs die in diesen Fällen vorhandenen Verdauungsstörungen infolge des 
Genusses der Alkoholica noch gesteigert werden. — Von schwereren Störungen konnte 
der Verfasser eine Anzahl von Erkrankungen an Leberverhärtung, Epilepsie und 
Chorea (Veitstanz) bei Kindern im Alter von 6 bis 13 Jahren auf Alkoholmilsbrauch 
zurückführen. Auch als Ursache für die Nervosität spielt der Alkohol eine grolse 
Rolle. 

Die Trunksucht der Eltern wird den Kindern nicht nur gefährlich durch die 
höhere Sterblichkeit und die häufig konstatierte physische und psychische Entartung 
der Kinder, sondern auch dadurch verhängnisvoll, dafs der Alkoholismus als solcher 
erblich sein kann, auch wenn die Kinder schon frühzeitig der vernachlässigten Er- 
ziehung und dem schlechten Beispiele der Eltern entzogen werden. 

Als Medikament verwendet der Verfasser den Alkohol im Kindesalter nur 
noch bei Fälleu von raschem Kräfteverfall und plötzlich auftretender ITerzschwäche, 


144 C. Literatur. 





z. B. bei akuten Infektionskrankheiten (Diphtherie, Scharlach, Masern, Typhus), 
grölseren Blutverlusten u. s. w., wo der Alkohol von lebensrettender Wirkung sein 
kann; doch dürfen die Spirituosen bei diesen Fällen nur in ganz genau vom Arzte 
bemessenen Dosen verabreicht und muss der Gebrauch des Alkohols mit der Wieder- 
herstellung des Kindes auch sofort eingestellt werden. 

Hannover. Dr. med. Spanier. 


4. Silberstein, Ein Fall von Suggestionsneurose. Wiener klinische Rund- 
schau, 1902, No. 38. 

In dem interessanten Falle des Verfassers war ein 7 jähriger, willensschwacher, 
mit leichter Chorea behafteter, aber sonst geistig normaler Knabe durch ein wahr- 
scheinlich mit »moral insanity« behaftetes Dienstmädchen suggestiv beeinflufst worden, 
die Schuld für alle Handlungen des letzteren auf sich zu nehmen. Er ertrug alle 
über ihn als den vermemtlich Schuldigen verhängten Strafen. Nach Entfernung 
des Mädchens aus dem Hause hörte der Spuk auf; der Junge erschien vollständig 
gesund und geistig normal; vermutlich ist auch die Chorea auf die psychische Ein- 
wirkung zurückzuführen. 

Hannover. Dr. med. Spanier. 


5. Keller, Helen, The Story of my Life. Ladies’ Home Journal. Philadelphia, 
1902. ') 

»In der Geschichte meines Lebens, die ich hier den Lesern des Ladies’ home 
journal darbiete, habe ich zu zeigen versucht, dals man über Widerwärtigkeiten so 
weit hinwegkommen kann, dafs sie Wohltaten werden. Mit diesen Worten beginnt 
die taubblinde Helene Keller ihre Lebensgeschichte, zu deren Aufzeichnung sie 
von ihren Freunden gedrängt wurde, Seitens des Verlegers ist diese in der vor- 
nehmsten Weise ausgestattet, und alle die prachtvollen Cliches, die auf seine Kosten 
angefertigt sind, werden Eigentum von Helene Keller, damit die noch in diesem 
Jahre in Buchform gleichzeitig in deutscher, englischer, französischer und italienischer 
Sprache erscheinenden Ausgaben gleichfalls ein Feierkleid tragen. Jch möchte hier 
nur zum Lesen des Werkes anregen und beschränke mich deshalb darauf, die 
Überschriften einiger Teile zu geben: »Die lange Nacht.« »Licht! Gib mir Licht! 
war der wortlose Ruf meiner Seele.« »Der Morgen naht.« »Ich bin ebenso glück- 
lich, wie ihr cs seid«. 

Und das Schlufswort: »Ich durchlebe dasselbe Leben, wie ihr, und ich bin 
ebenso glücklich, wie ihr es seid. Die äufseren Umstände unsers Lebens sind nur 
die Schale. Mein Leben ist von Liebe durchdrungen, wie die Wolke vom Licht. 
Taubheit ist ein Schutz vor Zudringlichkeiten und die Blindheit läfst uns ver- 
gessen, was in der Welt häfslich und aufregend ist. Inmitten des Unangenehmen 
bewege ich mich wie jemand, der eine unsichtbarmachende Kappe trägt... Ich 
versuche das Licht in den Augen anderer Menschen zu meiner Sonne zu machen, 
die Musik, die in anderer Ohren klingt, zu meiner Symphonie, das Lächeln anderer 
Lippen zu meinem Glücke.« 

Emden. O. Danger. 


1) Wertvoll sind auch die folgenden Nummern von »The Ladies’ Home Jour- 
nal.« Sie enthalten einen Aufsatz von dem früheren Lehrer der Harvard Univer- 
sität, Jobn Albert Maoy, »Helen Keller as she really is.s 





Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 


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A. Abhandlungen. i 


— 


l. Über Schülerbefähigung. 
Von 
Karl Baldrian, Nauptlehrer a'd. n. ©. Landes-Taubstummenanstalt in Wien (XIX). 


Vorbemerkung der Schriftleitung. 


Der nachstehende Aufsatz behandelt eine weitgreifende Frage. 
Für die landläufige Schulpraxis an höheren wie niederen Schulen, 
die immer wieder zum Schema F drängt. und für das davon abhängige 
didaktische Denken werden es neue Gedanken sein. Aber es dürfte 
nicht überflüssig sein, darauf hinzuweisen, dafs DörrrEnLD, dessen 
Denkmal Ende Juli in Barmen eingeweiht werden soll, bis zum letzten 
Atemzuge gekämpft hat gegen diese oberflächliche didaktische An- 
sicht, die das gedächtnismäfßsige Wortwissen für geistige Befähigung 
ausgibt. Ich verweise u. a. auf seine Schriften: -Denken und 
Gedächtnis» und »Wider den didaktischen Materialismus“.!) 
Auch für die Behandlung der „Schwachen hat er eine vortreffliche 
aber trotz meiner früheren Hinweise an diesem Orte wenig beachtete 
Anweisung gegeben. ?) 

Auch ich habe wiederholt und bei jeder Gelegenheit auf die em- 
seitiee Beurteilung der Schüler und auf deren Folgen hingewiesen, 
sowohl an diesem Orte wie in meinen ‚Psyehologischen Minder- 
wertigkeiten im Kindesalter (1593 vergriffen) wie in den «Ai 
fängen abnormer Erscheinungen im kindlichen Seelen- 


1) Gesammelte Schriften. Gütersloh, C. Bertelsmann. Pd. I u. H. 
?) Vergl. Anxa Carsap, Friedrieh Wilhehn Dorpfeld. Aus seinem Leben und 
Wirken. Gütersloh, C. Bertelsmann, 1903. 2. Aufl, N. 1485— 152. 
Die Kinderfehler. VIT. Jahrgang. 10 


Mımıtı>nn Ih 
DI UNLIZCU Vy 


146 A. Abbandlungen. 





leben« (Altenburg, Oskar Bonde, 1902) und in den drei Abhand- 
lungen über »Die Schule und die sozialen Fragen unserer 
Jeit« (Gütersloh, 1900). 

Aber ehe der Bann der Zeugnisdidaktik durchbrochen ist, wird 
noch wohl viel Wasser bergab fliefsen müssen. Es tut demnach 
immer aufs neue not, diese falsche Beurteilung der Kinder aufzu- 
decken. | i 

Herr Barprias hat nun die Konsequenzen für die Taubstummen- 
anstalt gezogen. Es wäre schr zu wünschen, dafs die Kollegen an 
niederen wie an höheren Schulen ähnliche Nutzanwendungen vom 
ABC der Psychologie des Kindes machten. Der heranwachsenden 
Jugend würde dadurch eine aufserordentliche Wohltat erwiesen. Ich 
sage das aus Erfahrung. Unser Erziehungsheim ist eine einfache 
Anwendung dieser Überlegung. Eine Reihe von Knaben, die durch 
jene Praxis mit und ohne »Repetieren« auf den höheren Schulen 
leiblich wie seelisch zu Grunde zu gehen drohten, erholten sich bei 
unserer Methode derart, dafs sie ihre Bildungsziele, voll und vor 
allem auch mit der nötigen Lernfreude bei der Rückkehr auf die 
öffentliche Schule erreichten. 

Ein Beispiel entgegengesctzter Art ist die Praxis der Hilfsschul- 
organisatoren, ein Kind erst zwei Jahre in der untersten Volksschul- 
klasse sitzen und seelisch verkommen zu lassen, ehe man zu er- 
kennen vermag oder erkennen will, dafs es geistesschwach ist und 
einer besonderen Fürsorge bedarf durch Aufnahme in die Hilfsschule. 
Beim Erscheinen des Schriftehens von Dr. Braxpexgure (Zur Für- 
sorge für die Schwachsinnigen. Bielefeld, R. Helmich, 1890) 
habe ich bereits zum ersten Male auf diese Unbegreiflichkeit hinge- 
wiesen. Seitdem haben aber manche Regierungen ein Schema F 
daraus gemacht und einfach verordnet: nachdem ein Kind zwei Jahre 
die unterste Klasse einer Volksschule besucht hat und noch nicht ver- 
setzungsreif geworden ist, darf es in der Hilfsschule Aufnahme finden. 
Das ist keine Fürsorge für «das Kind: das ist eine Nachsorge. In 
den zwei Jahren hätte manches Kind schulreif werden können. Es 
wchört doch wahrhaftig keine grofse Kunst dazu, im ersten Monate, 
um nicht zu sagen in der ersten Stunde, zu erkennen, ob ein Kind 
wesentlich zurückgeblieben und fürsorgebedürftig ist oder nicht. Ver- 
waltungsbehörden ist leider in der Regel nur mit der Geldfrage bei- 
zukommen. Der Beweis ist aber nicht schwer zu erbringen, dafs 
diese Fürsorge den Kommunen in vielen Fällen 20 mal weniger Geld 
kostet als jene Nachsorge. Wir treiben jedoch hier keine Finanz- 
politik, sondern Kinderpsvchologie. Und da drängt es mich, nach- 











Barprıax: Über Schülerbefähigung. 147 








drücklich zu betonen, wie ich in jenen Schriften näher ausgeführt 
habe, dafs in der Elementarklasse aller Schulen zahllose Kinder- 
seelen elend und dauernd zu Grunde gerichtet worden. Mögen darum 
die nachstehenden Ausführungen eines erfahrenen Kinderpsychologen 
volle Beachtung finden! Trüper. 


Das Wort »minderbefähigt« oder »schwachbefähigt«, das man bei 
Urteilen über die Geistesfähigkeiten der Schüler leider nicht zu selten 
zu hören bekommt, scheint in manchen Fällen nicht mit der nötigen 
Besonnenheit ausgesprochen zu werden und nicht immer der Aus- 
druck eines völlig klaren Beurteilens zu sein. 

Um in diesem Punkte zur Klarheit zu kommen, müssen wir uns 
fragen, welche Eigenschaften des Geistes es sind, die einem Indivi- 
duum eigen sein müssen, «dafs es vor dieser »Kennzeichnung« ver- 
schont werde. 

In der Regel wird schon derjenige Schüler als gut oder normal 
befähigt bezeichnet, der ein »gutes« Gedächtnis besitzt. 

Zeigt sich ein rasches „gedächtnismäßigese (mechanisches) An- 
eignen, die Fähigkeit unveränderten Behaltens des zu Merkenden und 
die weitere, das Gelernte jederzeit ohne Schwierigkeit wiederzugeben, 
also das, was man mit den Ausdrücken »Leichtigkeit der Auffassung«, 
»Treue« und »Dienstbarkeit- des Gedächtnisses bezeichnet. so wird 
ein solches Kind ohne weiteres in der Regel als »recht gute, wenn 
nicht »sehr gute befähigt gehalten und auch dafür andern Personen 
gegenüber hingestellt. 

Verbindet ein Kind mit diesen an sich gewißs schätzenswerfen 
Eigenschaften eines guten Gedächtnisses, die für sich allein bekannt- 
lich noch lange nicht der Beweis für gute Befähigung sind, noch 
die Fähigkeit, etwas, das seinem geistigen Auge anschaulich und klar 
vorgeführt wurde, richtig, vielleicht auch schon bei der ersten Zer- 
gliederung, aufzufassen, d. h. nach seinem geistigen Inhalte zu cer- 
fassen, bringt es also dem Unterrichtsgegenstande »Verständnis- 
entgegen, so hören wir — darauf ist fast zu schwören! — gewils 
von »talentiert«, »besonderes Talent« und Ähnlichem reden. 

Und doch ist dieses Urteil keineswegs richtig. Es gibt Menschen- 
kinder, die sich weder eines besonders guten Gedächtnisses erfreuen 
noch über eine hervorragende Auffassungsgabe verfügen und doch 
solchen geistig unbestreitbar überlegen sind, welehe die beiden gc- 
nannten Qualitäten ihr eigen nennen können. 

Worin liegt aber dann der Vorzug mancher nicht mit glänzen- 

107 


148 A. Abhandlungen. 


dem Gedächtnisse und bewunderungswürdiger Auffassungskrafit aus- 
gestatteter Wesen vor andern, die damit von Mutter Natur beglückt 
wurden? 

Einfach darin etwas selbständig geistig verarbeiten zu 
können, allein einen eigenen Denkprozefs abwickeln, nicht 
blo »Vorgedachtese snachdenken zu können« (»nachdenken« 
natürlich nicht im Sinne von »Suchen im Geistes, sondern von 
mechanischem Nachbilden der durch andere vorher entwickelten Urteile). 

Erst derjenige, der aufser den Eigenschaften eines vorzüglichen 
Gedächtnisses und großsen Verständnisses auch noch die Urkraft 
des Schaffens, d. i. selbständiger Geistesbetätigung besitzt, 
kann als besonders talentiert gelten. 

So wie nach dieser Richtung durch nicht genug gründliches Be- 
obachten leicht ein oberflächliches und falsches Urteil gefällt werden 
kann, geschieht es auch nach der entgegengesetzten Seite. 

Äufserungen, oft unscheinbar aber von hohem Werte für 
die »Schätzung« der Geisteskraft, die ein selbständiges Ar- 
beiten der jungen Psyche verraten, bleiben nicht selten 
unbeachtet oder doch unbewertet, weil die geringen 
Leistungen, die Gedächtnis und Auffassung aufweisen, den Blick des 
pädagogischen Beobachters seiner Freiheit und Unbefangenheit be- 
rauben. Und so lautet dann das ungerechte Urteil »minder befähigt«. 

Nun können wir die oben gestellte Frage beantworten und sagen, 
dafs gerade der Besitz der relativ gewifs minderen Geistesgaben, 
eines guten Gredächtnisses und einer leichten Auffassungsfähigkeit 
nämlich, vor der ominösen »Kennzeichnung« gewöhnlich verschonen 
wird. 

Es ist deshalb auch nicht jenes Individuum, das bei keineswegs 
vorzüglichem Gedächtnisse und nicht besonderer Fähigkeit des »Ver- 
stehens« noch eine gewisse Selbständigkeit im Denken bekundet, ohne 
längeres Prüfen unter die »minder befähigten« Schüler einzureihen. 

Daraus ist wohl zu ersehen, mit welch grofser Vorsicht bei Be- 
urteillung der Schüler unter Umständen vorzugehen ist. Auch das 
gcecht aus dem Gesagten hervor, dafs der Ausdruck »minder- oder 
schwachbefähigt« nicht gerade glücklich zu nennen ist, da ja öfters 
nicht die Gesamtheit der geistigen Fähigkeiten, sondern ge- 
rade nur die mehr äufserlichen, die einer leichteren Beobach- 
tung zugänglich sind, beurteilt wurden. In dem eimen oder 
andern Falle wird der als »minderbefähigt« geltende blofs »gedächtnis- 
schwache oder, was häufiger vorkommen wird, »langsam oder 
schwer auffassend« sein. Damit soll aber keineswegs zu bestreiten 


Barorıax: Über Schülerbefähigung. 149 


gesucht werden, dafs in vielen Fällen sämtliche geistigen Fähigkeiten 
geschwächt erscheinen. 

Man wird vielleicht einwenden, dafs ein Beurteilen der Be- 
fähigung nach dem Grade selbständiger Geistesarbeit schon deshalb 
schwer möglich ist, weil ja von Kindern überhaupt ein » Produzieren« 
nur in geringem Mafse zu erwarten ist. Darauf müfste man er- 
widern: Gewifs! Grofses Bedeutendes werden wir nicht erhoffen 
dürfen, aber Freude und Lust am Selbstfinden-Wollen 
geistiger Beziehungen (Grund und Folge) sowie der Erklärung 
natürlicher Erscheinungen einfachster Art (Ursache und 
Wirkung) werden dem scharfen Auge des geschulten praktischen 
Psychologen schon untrügliche Kennzeichen für die Höhe und den 
Wert der Geisteskraft und für ihre zu erwartende Entwicklungs- 
fähigkeit sein und liefern. 

Sollte dem Angeführten etwa noch entgegengehalten werden, dafs 
wir ja gerade in der Schule vor allem Gedächtnis und Auffassungs- 
kraft zum »Lernen« benötigen, so müfste darauf geantwortet werden, 
dafs es nicht darauf ankommt »viel« und »schnell« zu lernen, sondern 
dafs neben dem »was« von gröfster Richtigkeit das »wie< zu stehen 
kommt. Wenn wir weiter nichts als »Denken« gelernt hätten, wäre 
es genug. Denn Sprache nach Inhalt und Form, die beim wahren 
Denken gebraucht ist und geübt wird, bleibt ohnehin mit dem bil- 
denden Denkstoffe so innig verknüpft, dafs beide zum unverler- 
baren Besitze werden; alles andere ist tote, beschwerende Last, die 
die Entfaltung des Geistes nur behindert. Darum sollte in der Schule 
das Denken hauptsächlich an praktischem, fürs ganze Leben und für 
alle Lagen wichtigem Stoffe geübt werden, der durch die Übung die 
Denkkraft stärkt und selbst unverlierbarer Besitz bliebe. Wie oft 
aber wird nicht die Denkübung an zweite Stelle gerückt oder an 
einer Materie vorgenommen, deren sich das vollgepfropfte Gehirn 
förmlich mit Lust zu entlasten sucht, um frei von jedem gewaltsamen 
Drucke funktionieren zu können. Leider sind die meisten unserer 
Schulen trotz aller schönen theoretischen Prinzipien der »Anschau- 
lichkeit« und »Erziehung zur Selbständigkeit in der Praxis noch 
ziemlich weit von dem wünschenswerten Zustande entfernt. 

Früher begnügte man sich mit dem blofßsen gedächtnismälsigen 
Aneignen des Lehrstoffes; heutzutage fordert man hierzu als voraus- 
gehendes Element volles Verständnis, doch selten auch geschieht dies 
in voller Übereinstimmung des realen und formalen Bil- 
dungszweckes, um den, Schüler an brauchbarem, Geist, Herz 
und Willen bildendem Stoffe zu einem seiner Eigenart ent- 


150 A. Abhandlungen. 


sprechenden kräftigen, selbständigen Denken, Fühlen und 
Wollen zu führen. 

Damit kommen wir wieder auf die Art der Schülerbefähigung, 
deren Beurteilung und Berücksichtigung, also auf das Individuali- 
sieren, zu sprechen. 

Werden nicht oft Kinder wegen eines nicht besonders guten Ge- 
dächtnisses oder mangels intensiveren Interesses an dem einen oder 
andern Fache des Lernens (wofür der Grund nicht selten aufser dem 
Schüler liegt!) und wegen daraus sich ergebender Unaufmerksan- 
keit und dadurch begründeten, zu geringen Verständnisses für den 
Unterrichtsstoff für schwachbefähigt erklärt? 

In Mittelschulen besonders werden solche Schüler zu einem sehr 
häufig unseligen »Repetieren« der Klasse verurteilt. Wäre es da 
nicht besser, den Schüler einer seiner Geistesrichtung mehr angepalsten 
Schulgattung zu übergeben oder ihn mit dem »Studieren« ganz zu 
verschonen? Freilich ist mancher Vater, der nicht über die nötigen 
materiellen Mittel verfügt, um durch gerechtes Entgegenkommen der 
Eigenart semes Sohnes zu entsprechen, trotz besserer Erkenntnis ge- 
zwungen, seinen Spröfsling unnatürlicher geistiger Behandlung preis- 
zugeben! Warum? Weil der Staat Passierscheine, Zeugnisse genannt, 
fordert, die allein den Zutritt zu bestimmten Lebenswegen ermöglichen, 
die allein nur aus sozialen Gründen von dem einen oder andern betreten 
werden können. Ob die durch die verlangten Zeugnisse nachzuweisenden 
Fähigkeiten auch wirklich dafür Zeugenschaft geben, dafs der Besitzer 
in dem bestimmten Wirkungskreise ausreichende Leistungen hervor- 
bringen wird, ist ohnehin eine Frage! Seltsamerweise findet sich auch 
der gegenteilige Fall fast allerwärts. Wird nicht noch in den meisten 
Staaten dem Juristen, vertrauend auf seinen formal geschulten Geist, 
die Fähigkeit, alles »verstehen« und leiten zu können, dadurch zu- 
gesprochen, dafs man ihn öffentlich in alle höchsten Ämter beruft, 
vielleicht nicht zu selten zum Unsegen industrieller, volkswirtschaft- 
licher, handels- und gewerbepolitischer Staats - Einrichtungen und 
wahrer Volkswohlfahrt?! — 

Nach dieser kurzen Abschweifung, die sich ungesucht auf- 
drängt, kehren wir wieder zu unserem Gegenstande näher zurück. 
Jedenfalls ist aus den wenigen, oben angeführten Worten zu er- 
sehen, dafs ein Urteil über Befähigung eines Individuums 
nicht nur Gedächtnisgüte und Auffassungsgrad, sondern 
vorzugsweise dessen freie Verarbeitungsfähigkeit — so schwer 
dies unter Umständen auch sein mag —szu berücksichtigen und zu 
prüfen hat. 





Baroriax: Über Schülerbefähigung. 151 

Daraus ergibt sich wohl von selbst, dafs jenes Einzelwesen, das 
ein Manco im selbständigen Denken nebst schwachem Gedächtnisse 
und geringer Fähigkeit, einem geistigen Prozesse folgen zu können, 
aufweist, zu den geringst befähigten zu zählen sein wird. 

Leicht erklärt sich auch das scheinbar überraschende Vorkommnis, 
dafs aus Kindern, die als geradezu schlechte Schüler galten, Männer 
hervorgingen, die, hoch erhaben über das Mittelmaßs, die Schärfe 
ihres Urteilsvermögens zu Nutz und Frommen ihrer Mitmenschen 
und der Nachwelt als Denker, Dichter, Forscher und Erfinder in 
strahlender Weise bekundeten. Freilich kommt da noch beim wahren 
Poeten die Tiefe des (refühles, beim Forscher die Zähigkeit des 
Wollens und bei manchem Erfinder die. Laune des Zufalles in Be- 
tracht. Die alte Erfahrung kann nicht angezweifelt werden, dafs bc- 
deutende Kraft im Schaffen, d. i. im selbständigen Urteilen und auch 
Handeln, mit phänomenalem Gedächtnisse und leichter, rascher und 
sicherer Auffassungsfähigkeit geistiger Vorgänge gepaart erscheint und 
durch letztere beiden — aber nicht immer — angedeutet wird. Aus 
einer Reihe besonderer Denkakte würde man daher bei scharfer 
psychologischer Beobachtung den künftigen Denker viel leichter mit 
einiger Wahrscheinlichkeit voraus bestimmen können, als aus den 
sich jedem schon bei flüchtiger Beobachtung fast aufdrängenden 
Eigenschaften des »staunenerregenden« Gedächtnisses und leichter 
Auffassungsfähigkeit. 

Damit im Zusammenhange erklärt sich auch, wieso es kommt, 
dafs mancher Erzieher oder Vater, der, auf die besonderen Quali- 
täten der niedrigeren Geistesfunktionen allzuviel bauend, von seinem 
Zöglinge Hohes erwartete, doch durch die Durchschnittsleistungen 
oder gar noch geringere sich nicht befriedigt oder wohl gar ent- 
täuscht fühlt. Wären besonders die vielleicht spärlichen Äußerungen 
des Intellektes ciner sorgfältigeren Beobachtung unterzogen 


worden, hätte es höchstwahrscheinliceh — ja gewifs — keine Ent- 
täuschung gegeben — natürlich abgesehen von der späteren Betätigung 


des Gefühles, Begehrens und Wollens, also von der Handlungsweise 
und dem Charakter, die ja durch vieles andere aufser durch den Grad 
der Intelligenz bedingt werden — und daher noch viel unsicherer 
vorherbestimmt werden können. 

Im nachfolgenden soll eine praktische Anwendung obiger Ge- 
danken darzustellen versucht werden. Es soll ausgeführt werden, wie 
beispielsweise taubstummen Schülern verschiedenen Intelli- 
genzgrades durch Berücksichtigung ihrer individuellen 
Geistes - Veranlagung Gerechtigkeit hinsichtlich ihrer 


152 A. Abhandlungen. 





geistigen Entwicklung widerfahren könnte, wobei infolge er- 
höhter Schwierigkeiten bei Fällung eines zutreffenden Urteiles über 
die Befähigung Gehörloser eine Prüfung um so mehr Sorgfalt und 
Zeit erfordern muß. Würde jemand der Meinung sein, daß für den 
taubstummen Schüler eine gewisse Gedächtniskraft und Auf- 
fassungsfähigkeit genügen werde, um sein Schul- und Unter- 
richtspensum bewältigen zu können, so würde er gewifs keine Ahnung 
davon haben, auf welch kompliziertem Wege — für Schüler noch 
mehr wie für Lehrer — der Gehörlose durch die künstliche 
Sprachaneignung — nach der lautlichen, formellen und inhalt- 
lichen Seite der Sprache kompliziert! — in den Besitz der mensch- 
lichen Sprache gebracht wird. 

Hierzu gehört auch noch aufser den genannten Fähigkeiten ein 
ziemlich bedeutendes Mafs von Geisteskraft und Willensstärke, 
die, vom Lehrer nieht nur förmlich, sondern tatsächlich, physisch- 
psychisch überstrahlend auf und in den Schüler, im Sprechen-Lernenden 
die in diesem schlummernde Lebenskraft für Sprachfähigkeit erwecken 
müssen. Nur dann, wenn des kleinen Sprachschülers Intelligenz 
und Wille zur Betätigung gelangt, wird dessen Sprechen wirklich 
Sprache und nieht »leeres Plappern« sem und je nach der Inten- 
sität dieser Qualitäten wird des einen oder andern Schülers 


Sprache mehr oder weniger Spontaneität — Eigenleben der 
Sprache und Trieb, Lust und Liebe zur Sprache und deren 
Entwicklung — aufweisen. 


Nachdem im Vorausgehenden im allgemeinen und besondern auf 
die Notwendigkeit der Berücksichtigung des Intelligenzgrades zum 
Zwecke der Erziehung und des Unterrichtes, also auf ein Indivi- 
dualisieren der Schüler nach ihrer Urteilskraft, theoretisch 
hingewiesen wurde, soll im folgenden an dem Beispiele der Taub- 
stummenschule praktisch die Möglichkeit und Nützlichkeit der 
Durchführung dieses Prinzips besprochen werden. 

Die Ausführung dieses Prinzipes erfordert die Trennung der 
Schüler nach ihren Fähigkeiten. 

Fast ausnahmslos ist man der Überzeugung, dafs eine Trennung 
der Schüler nach ihren geistigen Fähigkeiten sowohl den befähigteren 
wie den schwächeren zum Segen gereichen müsse. Nur vereinzelt 
taucht mehr die keineswegs leicht zu begründende Ansicht auf, dafs 
die minderbefähigten durch die besseren Schüler besonders gefördert 
werden. Jedenfalls können die schwächeren Schüler, wenn sie allein, 
also nicht gemeinsam mit den besseren, unterrichtet werden, mehr 
lernen, als wenn sie dic talentiertsten Mitschüler in der Klasse haben; 





Baıpriax: Über Schülerbefähigung. 153 


ja je grölser eben der geistige Abstand der zwei — oder mehrerer 
— Schülergruppen in derselben Klasse ist, desto größer sind die 
Nachteile für beide. Und sicher ist auch, selbst wenn man eine ge- 
wisse günstige Beeinflussung der minderbefähigteren Schüler durch 
die befähigteren zugibt, die Hemmung dieser eine ungleich gröfsere 
als die Förderung jener bei gemeinsamem Unterrichte. Schon dieses 
arge Mifsverhältnis in der gegenseitigen Einwirkung der Schüler 
macht eine Trennung derselben wünschenswert. Dieser stehen aller- 
dings Schwierigkeiten im Wege, die nicht unberücksichtigt bleiben 
dürfen, so die mit der Durchführung der Trennung entstehende Zwei- 
teilung der Schülerzahl einer ganzen Anstalt, das Widerstreben 
mancher Lehrkraft, nur schwache Kinder unterrichten zu sollen u. s. w. 

Der folgende Vorschlag, wie eine Scheielung nach Fähigkeiten 
der Schüler zu geschehen hätte, will besonders diese Schwierigkeiten 
berücksichtigen. 

Die verschiedenen Punkte des Vorschlages mülsten natürlich der 
Einrichtung der einzelnen Schulen angepafst werden. Wie sollte 
also die Scheidung der Schüler durchgeführt werden? 

Ungefähr zwei bis drei Monate nach Eintritt der Neulinge wäre 
erst deren Trennung vorzunehmen. Am Ende des ersten Schuljahres 
oder auch schon früher sollten jene Schüler, die sich zu einem 
normalen Fortschreiten doch zu schwach erweisen, aus der Abteilung 
der Befähigteren der Abteilung der Schwächeren zugewiesen werden. 
Jener Lehrer, der die Abteilung der Schwachen führt, sollte diese 
durch drei Jahre behalten. Während dieser drei Jahre sollte der 
Lehrstoff der ersten zwei Schuljahre vermittelt werdem Es wäre 
bei unserer Methode, die ja stets gründlich bis in die Elemente, 
anschaulich bis zur Plastizität und klar bis zur Durchsichtigkeit 
vorgeht, eine Aufstellung eines besondern Lehrplanes nicht unbedingt 
erforderlich, sondern vielmehr eine Verteilung des Lehrstoffes in 
zweckentsprechender Weise nötig. Leitender Gedanke hierbei mülste 
sein, so langsam als möglich und erforderlich, besonders im 
ersten und zweiten Schuljahre, vorwärts zu schreiten, so dafs Übung, 
Wiederholung und Anwendung zu ihrem vollen Rechte kämen. 
Hierin läge der Schwerpunkt in der wunterrichtlichen Behandlung 
unserer schwachen Schüler. 

Also schon die Artikulation (die Entlockung der Sprachlaute 
und deren Verbindungen zu Silben und Wörtern, also die Ent- 
stummung der taubstummen Kinder) hätten einen weit gröfseren 
Zeitraum zur Bewältigung ihres schwierigen Pensums zu bean- 
spruchen. Man wende ja nicht ein, dafs wir froh sein mülsten. 


154 A. Abhandlungen. 





unsere Kinder über diese weniger geistbildende Periode der Schulzeit 
beizeiten hinauszubringen. Nichts rächt sich hekanntermafßsen bitterer: 
als eine Überstürzung in der Lautier-(Artikulations-) Arbeit. Nicht 
nur des Schülers Aussprache wird in Zukunft .schlecht bleiben, wenn 
nicht gar noch schlechter werden, nein, ‘auch in sprachlich - geistiger 
Beziehung wird, ja mufs der schlecht und schwerfällig artikulierende 
Schüler ungemein zurückbleiben; er mufs jede Sprachfreudigkeit ver- 
lieren, da er sich des Mittels der Sprachbetätigung nur unter gröfster 
Anstrengung und nach Überwindung mancherlei Hindernisse zu be- 
dienen in der Lage ist. Die nächste Lage unvollkommener Artiku- 
lation ist aber die zu geringe Übung in der Sprachanwendung in- 
folge der Sprachunlust. Dieses eben besprochene Moment ist von 
einschneidendster Bedeutung für die gesamte Sprach-Erlernung und 
cs erscheint nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, dafs die un- 
zureichende Sprachbeherrschung manches unserer nicht 
gerade schwachbefähigten Schüler darin seinen Haupt- 
erund hat. Wenn also die schrittweise Durcharbeitung der Arti- 
kulation Grundbedingung für ein günstiges Resultat schon bei normal 
veranlagten Taubstummen ist, so wird für schwachbefähigte Taub- 
stumme ein noch langsameres, allmählicheres Fortschreiten 
unbedingt gefordert werden müssen. Aber auch der gesamte 
Elementar-Sprachunterricht (zur Vermittlung der einfachsten 
Sprachstoffe in den leichtesten Sprachformen) wird dieses »Ritar- 
dando« stets im Auge behalten müssen und ein Erstarken der 
(reisteskraft seiner Schüler vor allem herbeizuführen haben. Aus 
diesem Grunde ist auch der Segen einer Vorschule für Taub- 
stumme, worin die kleinen Taubstummen körperliche Wartung, 
geistige Anregung und Vorbereitung für den eigentlichen Schuunter- 
richt erfahren, ein aufser allem Zweifel grofser. Der Übergang oder 
besser gesagt der Sprung aus fast völliger geistiger und körperlicher 
Untätigkeit so vieler Taubstummen im Elternhause zu den relativ 
hohen Anforderungen gleich bei Beginn des Taubstummenunter- 
richtes kann nicht besser ausgefüllt werden, als durch eine Vor- 
schule für Taubstumme. Vergleichen wir die Volksschule und 
Taubstummenschule eingehend miteinander, so finden wir, dafs wir 
von unseren Schülern, besonders zu Anfang des Lernens, beinahe 
unvermittelt viel, ja zuviel verlangen, freilich zum Teile auch ver- 
langen müssen. 
Deshalb ist die Frage jedenfalls begründet, ob nicht eine Ver- 
schiebung der Menge des Lehistoffes nach den höheren Schuljahren 
hin dem Taubstummen-Unterrichte dadurch dienlich würde, dafs dann 


Baupriax: Über Schülerbefähigung. 


das Wenige des Stoffes der unteren Schuljahre zum bleibenden, 
frei verfügbaren, geistigen Sprachbesitze der Schüler würde. 
Dann könnte die Selbständigkeit in sprachlicher Hinsicht, das 
Sprechenkönnen (hier besonders in geistiger Bezichung als Sprach- 
fertigkeit und Sprechbereitschaft gemeint) manchen Gewinn davon- 
tragen. 

Auch das eben Gesagte gilt für den Taubstummen - Unterricht 
überhaupt, hat aber für den Unterricht schwachbefähigter sprach- 
loser Kinder erhöhte Bedeutung. 

Hier seien nun noch die weiteren Mafsnahmen zur Durchführung 
des Planes der Trennung taubstummer Schüler nach Fähigkeiten in 
der Weise wiedergegeben, wie sie vom Verfasser dieser Zeilen der 
Anstalts - Lehrer- Konferenz vorgeschlagen und von dieser zur even- 
tuellen Verwirklichung (für den Fall, als eine Neu-Aufnahme dic 
Trennung der Schüler notwendig erscheinen lassen sollte) — ange- 
nommen wurden. 

Nach Verlauf der ersten «drei Unterrichtsjahre wären die Schüler 
der schwachen Abteilung derart aufzuteilen, dafs «die schwächeren 
davon in die zweite Klasse der Normalbefähigten versetzt 
würden, während die »Besseren< in die dritte Klasse der Normalen 
einzureihen wären. Es würde sich daher nach drei Jahren diese Ab- 
teilung ganz auflösen. 

Auf diese Weise kämen die Schwachbefähigten, auch wenn sie 
acht Jahre in der Anstalt blieben, also bei einem achtjährigen Orga- 
nismus, im günstigeren Falle bis in die siebente, im ungünstigeren 
Falle nur bis in die sechste Klasse, ja falls sie bei ihrem Eintritte das 
Durchschnittsalter für die Aufnahme, das siebente Lebensjahr, sehon 


überschritten hätten — das kommt leider infolge des Mangels emes 
Schul- oder Unterrichtszwanges nur zu häufig vor — auch nur in 


die fünfte Klasse. 

So würden dann auch die oberen Klassen nur von befähig- 
teren Schülern besucht sein, was von selbst einleuchtende, grofse 
Vorteile für deren geistige und sprachliche Ausbildung bringen 
mülste. 

Durch diese hiermit angeregte Form «der Durchführung der 
Scheidung der Schüler nach Fähigkeiten könnte ohne wesentliche 
Vermehrung des Lehrpersonals — besonders dort, wosohnchin Parallel- 
klassen bestehen — und ohne Überbürdung desselben (denn der 
einzelne Lehrer bliebe ja nur drei Jahre bei den Schwachen und 
jedes Jahr übernähme ein anderer der Reihe nach die neue Klasse 
der Schwachen) manchen Schüler, der sonst vor geistigem Unvermögen 


156 A. Abhandlungen. 


und Unmut erlahmen müßste, eine grofse Wohltat und Gerechtig- 
keit erwiesen werden. 

Das steht aber fest, dafs ein so zur Tat gewordenes Individuali- 
sieren — oder Spezialisieren zum Zwecke des Individualisieren- 
Könnens — weit zweckdienlicher genannt werden mufs, als das bis 
jetzt so übliche »Repetieren-Lassen«. 

Es ist ja nicht zu leugnen, dafs für einen normal veranlagten 
Schüler, der z. B. durch Krankheit viele Unterrichtsstunden versäumt 
oder wegen argen, andauernden Unfleifses nur geringe Fortschritte 
gemacht hat. ein Wiederholen der Klasse Nutzen bringen kann und 
daher notwendig sein wird. — Ganz anders steht die Sache aber für 
einen Schwachbegabten! Für diesen wird ein abermaliges Durch- 
arbeiten des Stoffes in dem gleichen »Tempo«, wie das erste 
Mal, nicht viel mehr Erfolg haben, wie eben zuerst. Er wird sich 
nach ganz kurzer Zeit überrumpelt fühlen und entmutigt zusammen- 
brechen. Sein Geist wird eben nur dann erstarken, wenn 
GGeistesarbeit von ihm in einer seinem Auffassungs- und 
Verarbeitungsvermögen völlig angepalsten Zeitdauer voll- 
bracht werden kann. Hierin ruht die psychologische Lösung der 
Frage, warum blofses Repetieren schwacher Schüler zu gar keinem, 
oder doch nur geringem Resultate führt, während individuelle Be- 
handlung in besonderen Abteilungen den verhältnismäfsig gröfsten 
Nutzen schaffen mufs. 

Hat der schwachbefähigte Schüler durch dreijährige Rücksicht- 
nahme auf seine geringen Kräfte diese selbst erstarken und wachsen 
gefühlt, wird er, ermutigt und geistig gestärkt, in die dritte, eventuell 
zweite Klasse der Normalen versetzt, mit diesen ferner so ziemlich 
gleichen Schritt zu halten im stande sein. 

Wird dies erreicht, hat die Trennung der Schüler nach Fähig- 
keiten ihren Zweck voll erfüllt! Möge die Mahnung an das päda- 
eogische »Eines schickt sich nicht für alle« und die hier daran 
gcknüpfte Ausführung für ein spezielles Unterrichtsgebiet, dem der 
Verfasser infolge fast zwanzigjähriger Praxis manche Erfahrung ver- 
dankt, auch Anregung auf verwandten Zweigen pädagogischer 
Betätigung sein und werden! 


Lossien: Einige Untersuchungen über das Gedächtnis bei Schwachbefähigten. 157 


masse N UI nn mn nn. 





2. Einige Untersuchungen über das Gedächtnis bei 
| Schwachbefähigten. 
Von 


, Marx Lobsien, Kiel. 


In der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnes- 
organe, herausgegeben von EspixcHavs und Könıs, Bd. 27, S. 54—18 
untersuchte ich auf Grund einer einfachen Metliode die Gedächtnis- 
entwicklung bei normal begabten Schulkindern. Hier möge der Ver- 
such gemacht werden, das Problem auch bei AMlinderbefähigten zu 
erforschen. Weiter allerdings. als um einen Versuch kann es sich 
nicht handeln und zwar aus dem Grunde, weil das Beobachtungs- 
material viel zu gering ist, um aus demselben sichere Ergebnisse 
herausziehen zu können. Es handelt sich um ein Schülermaterial von 
30 Knaben und Mädchen. Wenn ich trotzdem. allerdings unter er- 
neuter Betonung des cben erwähnten Vorbehalts, die Ergebnisse meiner 
Untersuchungen einem weiteren Leserkreise unterbreite, so geschieht 
es zu allermeist in der Hoffnung, zu ähnlichen experimentellen Unter- 
suchungen eine Anregung geben zu können, keineswegs aber m der 
bestimmten Erwartung, die gewonnenen Ergebnisse in allen ihren 
Teilen bestätigt oder gar frischweg zur Grundlage praktischer Konse- 
quenzen gemacht zu schen. Uber den Wert solcher Untersuchungen 
darf und brauche ich nichts zu bemerken: doch kann ich den Gedanken 
nicht zurückhalten, dafs auf dem Gebiete der Imbezill-P’sychologie das 
Experiment bei weitem nicht die Würdigung erfahren hat, die es 
verdient. Ich bin fest davon überzeugt, dafs es gerade hier sowohl 
für diese selbst und ihre praktische Ausführung, wie für die Psyeho- 
logie des normalen Kindes Großes zu leisten im stande ist. 

Zweifelsohne — das Experiment hat hier seine besondere 
Schwierigkeiten, aber wohin sollte es führen, wenn man sich durch 
drohende Schwierigkeiten abschrecken lassen wollte. Solange sie sich 
nicht in dem Mafse häufen, dafs sie zur Unmöglichkeit sich ver- 
dichten, bleiben sie nur ein Anreiz mehr, den Versuch zu wagen. 
Und wenn es wahr ist, dafs Beispiele ermutigen — man denke doch 
an die so aufserordentlich wertvollen »Psvchologischen Arbeiten: 
Krarpeuıss — das sind Untersuchungen, die ganz gewils oft unter 
noch viel schwierigeren Umständen angestellt wurden, wie wir sie 
in der Schwachbefähigten-Schule antreffen würden. Allerdings wird 
sich von vornherein sagen lassen, dafs es hier in erhöhtem Mafse 


158 A. Abhandlungen. 


mt Le uaaa aaia hä nö m — 


der Vorsicht, der Geduld, der Übung, des Talents für derartige 
Untersuchungen seitens des Experimentators bedarf, dafs ferner die 
Einzeluntersuchungen notwendig in ihren Ergebnissen eine Sub- 
traktion an Genauigkeit erfahren, die Beobachtungen also über ein 
in gleichem Mafse wachsendes statistisches Material verfügen 
müssen. 

Die vorliegenden Untersuchungen sind lediglich ein Versuch. 
Es steht gar nicht einmal fest, ob die angewandte Methode, die ohne 
weiteres von Experimenten mit Normalbegabten auf Imbezillen über- 
tragen wurde, auch zureichend ist, oder ob sie eine Kürzung oder 
eine andere Änderung erfahren müsse. Hier gilt es also, das In- 
strument erst zu erproben, mit dem Experimente selbst zu experi- 
mentieren, um das geeignete Rüstzeug zu finden. 


Methode. 


Es sei gestattet, mit einigen Strichen die Methode, wie ich sie 
in der oben genannten Zeitschrift beschrieben habe, zu zeichnen. 
Über die Untersuchungen A. Nerscuwerrs - St. Petersburg bezüglich 
der Gedächtnisentwicklung bei Schulkindern, äufsert Herr Professor 
Bexxo ErpMaxny (die Psychologie des Kindes und die Schule 1901 
S. 34), dafs sie an zu weit gchenden Verallgemeinerungen leide, be- 
sonders soweit das Verhältnis der beiden Geschlechter in Betracht 
kommt. Nach zwei Seiten hin ist dieser Vorwurf berechtigt. Zu- 
nächst vergilst Nerschwerrs, nachdrücklich zu betonen, dafs seine 
Untersuchungen sich nur auf die sogenannte mechanische Seite des 


Gedächtnisses beziehen, sodann aber — und das fällt schwerer ins 
Gewicht — haften seinen Experimenten versuchstechnische Mängel 


an, die unmöglich so gesicherte Ergebnisse bezüglich des Verhält- 
nisses der beiden Geschlechter gewährleisten, dafs ein sicheres Ver- 
gleichen unter ihnen möglich ist. Dieser Umstand zusamt andern, 
die näher auszuführen hier zu weit gehen würde, bestimmten mich 
an der Versuchstechnik Nerscuaserrs eine eingehendere Korrektur 
vorzunehmen. 

Das Experiment wurde in der Weise angestellt, dafs aus acht 
verschiedenen Gebieten je neun Eindrucke unmittelbar nacheinander 
den Schülern geboten, bezw. diktiert wurden mit der dann folgenden 
Weisung, sie auf eine bereitgehaltene Schreibfläche niederzuschreiben. 
Die acht Gebiete lassen sich in zwei Gruppen sondern. Die erste 
unmfalst reale Eindrücke und zwar: a) real-visuelle, b) real- 
akustische, die zweite Wörter verschiedenen Inhalts. Den Kindern 





Logsiex: Einige Untersuchungen über das Gedächtnis bei Schwachbefähigten. 159 


| gg nn m 0. 


wurden in Zeitabständen von je 10 Sekunden folgende Dinge ge- 
zeigt (a): 

Zeitung, Schlüssel, Taschentuch, Glas, Tafel, Kasten, Buch, Hand, 
Kreide, 

dann wurden ihnen reale Geräusche vorgemacht: 

Händeklatschen, Rlopfen, Zerreifsen von Papier, Stampfen, 
Pfeifen, Klingeln, Rollen einer Kugel, Klirren mit Schlüsseln, Brummen, 
jedoch so, dafs lediglich die Geräusche gehört, nicht aber die sie ver- 
anlassenden Organe und deren Bewegungen beobachtet werden 
konnten. 

Die folgende Gruppe enthält Wörter und zwar: 

Zahlwörter: 37, 68, 54, 27, 63, 96. 45, 28, 17. 

Visuelle Vorstellungen: Blitzstrahl, Wandkalender, Ziffer- 
blatt, Fensterbank, Mondscheibe, Sonnenstrahl, Feuerschein, Himmel- 
blau. 

Akustische Vorstellungen: Schuls, Gekreisch, Gebell, Donner, 
Gebraus, Krachen. Gebrüll, Pfeifen, Gekmall. 

Tast- und Empfindungsvorstellungen: kalt, weich, rund, 
glatt, heifs, rauh, spitz, kühl, scharf. 

Gefühlsvorstellungen: Sorge, Feigheit, Hoffnung, Zweifel, 
Hunger, Angst, Freude, Reue, Neid. 

Den Schülern gegenüber sinnlose Lauthäufungen: auditiv, 
simultan, subjektiv, Transaktion, Lyceun, Quantität, Integral, Diffusion, 
Attraktion. 

Die Hauptschwierigkeit bei der Auswahl dieser Wörter liegt 


offenbar darin, die Arbeitsforderung übereinstimmend zu gestalten. 


Diese Übereinstimmung beruht darauf, dafs jedes Wort im Vergleich 
zu den andern in gleichem Mafse den Versuchspersonen bekannt, in 
gleichem Malse «das Interesse derselben gefangen hält, in gleichen 
Mafse endlich sich einer schnellen Reproduktion zu Diensten stellt. 
Selbstverständlich kann es sich praktisch nur um Annäherungs- 
werte handeln, die Aufgabe: gleiche Arbeitsforderung wird sieh 
niemals reinlich lösen lassen, man bleibt immer darauf angewiesen, 
entsprechend dem Wesen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, eine mög- 
lichst grofse Anzahl von Einzelversuchen anzustellen in der Hoffnung, 
dafs sich die Wahrscheinlichkeitskreise um das imaginäre Zentrum 
immer enger ziehen werden. — Die Wörter wurden möghehst so 
ausgewählt, dafs die jeweiligen Reihen nur von dem mechanischen 
Gedächtnisse aufgenommen und dureh dessen Hilfe wiedergegeben 
werden mufßsten, dafs also nicht, sei es dureh Assonanzassozlafionen, 
sei es durch inhaltliche Verwandtschaft oder auch Gegensatz un- 


160 A. Abhandlungen. 


kontrollierbarer Gruppenbildungen vom Schüler vorgenommen werden 
konnten, wenigstens nicht zu erwarten waren. Wo eine solche Ge- 
fahr naheliegend schien, suchte ich ihr dadurch zu begegnen, dafs ich 
die fraglichen Wörter innerhalb der Reihe möglichst weit auseinander 
rückte. 

Die äufsere Gleichgestaltung der Wörter bezüglich der Zahl der 
Laute und Silben kommt hier keineswegs so schwerwiegend in Be- 
tracht, dafs man nicht je und je davon abweichen dürfte. 

Herrn Nerschaserrs Beobachtungen erstreckten sich auf sechs 
verschiedene Lehranstalten in St. Petersburg, Volksschulen für Knaben 
und für Mädchen, Realschule, Mädchenstift und Lyceum, und auf Schüler 
im Alter von 9—18 Jahren. Dem gegenüber beschränken sich meine 
Experimente auf Schüler und Schülerinnen hiesiger Volksschulen im 
Alter von 9—141/, Jahren. Diesem Mangel in der Anzahl steht aber 
eine wesentlich größere Anzahl innerhalb des angegebenen Zeitraums 
gegenüber. Ich stellte Versuche an mit 462 Schülern, 238 Knaben und 
24-4 Mädchen. Nerscnwerr beobachtete SS Volksschüler, 47 Knaben 
und 4+1 Mädchen im Alter von 9—11 Jahren. Die Versuche an 
Mädchenschulen hat er so sehr in der Minderzahl gehalten, dafs ich 
lebhaft Bedenken trage, zumal wo sie zum Vergleich mit solchen der 
Knabenklassen herangezogen werden, sie in allen Teilen zu unter- 
schreiben. Für das 9.—11. Schuljahr kommen insgesamt 41 Volks- 
schülerinnen in Betracht und zwar für das 9. neun, das 10. fünfzehn, 
das 11. dreizehn, für die Zeit vom 12.— 14. sechzig, bis zum 15. neun- 
undsiebenzig. Somit stehen 60 + 41 = 101 Versuche mit Mädchen 
solehen mit 343 Knaben gegenüber! Dazu kommt ferner: die Mäd- 
chen gehören wesentlich verschiedenen Bildungsanstalten an (41 der 
Volksschule, 60 dem Gymnasium). Die Versuchsergebnisse erfahren 
damit noch eine weitere Einbuße an ihrem Werte. Denn die ganze 
Unterrichts- und Erziehungsweise des Gymnasiums gegenüber der 
Volksschule bedingt notwendig Verschiedenheiten in der Entwicklung 
der Gedächtnisarten, schon quantitativ eine verschiedene Inanspruch- 
nahme dieser oder jener (redächtnisweise Unterschiede bleiben ge- 
wifs auch bestehen innerhalb der verschiedenen Klassen solcher Bil- 
dungsanstalten, die gleiche Ziele verfolgen. Wenn man aber in der 
Weise NETSCHAEFFS eine geringe Anzahl Versuche mit Mädchen ver- 
sehiedener Bildungsanstalten mit einer überwiegend grofsen Anzahl 
Knaben, die derselben Schule angehören, vergleicht, dann vergröfsert 
man den Fehler und gelangt zu Ergebnissen, die noch weit weniger 
einwandfrei sein können. Ich suchte dem Experiment und seinen 
Ergebnissen dadurch eine größere Gleichmäfsigkeit zu geben, dafs 





Losses: Einige Untersuchungen über das Gedächtnis bei Schwachbefähigten. 161 





ich die Versuche mit Knaben und Mädchen annähernd gleich- 
gestaltete und den Versuch beschränkte auf Unterrichtsanstalten. 
die in ihren Klassen- und Gesamtzielen theoretisch gleichge- 
stellt sind. 

Für die Wertung der Versuchsergebnisse kommen auch für die 
vorliegenden Untersuchungen nur die richtigen Aufzeichnungen 
in Betracht. Ich gebe die Vorsuchsergebnisse in Prozenten wieder. 
Zunächst aber ist notwendig, aus jenen Experimenten die Ergebnisse 
anzumerken, die hier zum Vergleiche dienen sollen. 


A. Die wichtigsten Versuchsergebnisse normaler Schüler. 


Ich suchte zunächst zu gewinnen die zu vergleichenden Gesamt- 
werte der verschiedenen Gedächtnisweisen auf allen Altersstufen. Ich 
fand folgende: 












Knaben Mädchen 


o 


Art des Gedächtnisses 





— 
m — 


Reale Dinge . . : 222 nn nn nn 82.2 91,4 

„» Geräusche. 2 ze a a‘ 59,0 52,2 
Zahlwörter. . 2 nen 64,8 71.8 
Wörter: visuelle Vorstellungen. . . . .. 50,6 71.0 
akustische Vorstellungen . . . 2 2 202. 59,4 60,2 
Tastvorstelungen . . 2 2 2 nn ne. 64,2 67.2 
Gefühlsvorsteliungen . . 2 2 2 2 20. 3.2 59.4 
Lautbäufungen . 2. 2.20 nn 24,0 23,8 


Schon diese Übersicht zeigt deutlich, dafs die Energie des mecha- 
nischen Gedächtnisses insgesamt bei den Mädchen höher liegt 
als bei den Knaben und zwar um 7.6°/ 

Die nachstehenden Übersichten sollen die Höhe der Gedächtnis- 
entwicklung auf den verschiedenen Altersstufen der Knaben und 
Mädchen offenbaren. Obwohl für die vorliegenden Untersuchungen 
nur zwei Altersstufen leider Verwertung finden konnten, so möchte 
ich doch im Interesse einer etwaigen Nachprüfung und auch der 
Vollständigkeit wegen. die Tabelen ganz herstellen. Die Altersstufen 
sind bezeichnet mit I = 9-10, I = 10—11, HI = I1-12, IV 
= 12—13, V = 15—111, Jahre. 

(Niehe Tabelle N. 162.) 


Die Kinderfehler. VII. Jahrgang. 11 


A. Abhandlungen. 








I. Knaben. 

















| Art des Gedächtnisses 
— a Pae ger | p 
E ap S =» e S 
Stufe £ z | NS 2, HEMET = 
= = | 2 | BEI En S 
A F SE ah Se, S = 
=: | fe = = u EE G | =... 3 = (ge) 
= ; z = n WS Q oa yz z | JS 03 2 
T & 87 & |5 
I. 92,56 o 71,89 | 8067 | 73,00 | 4,18 75,33 | 75,44 | 40,56 
II. 76,45 | 5733 | 7233 | 69,67 54.89 73,67 | 58,67 | 37,07 
IH. 89.78 | 57,13 | 70,22 | 59,67 | 63,00 | | 35,33 | 19,89 
IV. 87,12 | 55,33 | 49,33 | 55.11 | 4844 | 57.11 | 3832 | 12,44 
y. 6400 | 53,33 | 49,09 | 56,56 | 48,78 | 43,07 | 27,22 | 7.22 








Ich bitte, bis zur I. Stufe zu 


vergleichen. 


die Gesamtentwicklung von der V. 
Sie beträgt: 


42,56 74.78 

für Gegenstände: 64,00 akustische Vorstellungen +3,78 
28,56%, "31,00%, 

71,59 15,33 

für Geräusche: 53,33 Tastvorstellungen: 43,67 
18.1077, 31,66%, 

s 1544 

50.67 Gefühlsvorstellungen: 27,22 
für Zahlen: 49,09 \ Is9507 
EEA r E A 
durchschnitt für Wörter: 34,33%, 

für Wörter: 73,00 Laut- 40,56 

visuelle Vorstellungen: 46,56 häufungen ohne Inhalt: 7,22 


26,44%, 33,34%, 
Am weitesten wächst also das Gedächtnis für Gefühlsvorstellungen 
am geringsten das für Geräusche. Berechnet man nun 
aus der vorstehenden Tabelle die Differenzen der Gedächtnisentwick- 
lung auf den verschiedenen Altersstufen, so findet man für das drei- 
zehnte Lebensjahr eine bedeutende Zunahme für Gegenstände, Ge- 
räusche und Gefühlsvorstellungen besonders im Vergleich zu der 
Altersstufe, die sogar einen Rückgang aufweist. Da- 


und Zahlen, 


vorhergehenden 


rür zeist dieses Alter eine bedeutende Zunahme des Gedächtnisses 
für Wörter visuellen Inhalts und für Wortbilder. Um das zehnte 


Lebensjahr herum offenbart sich die grölste Zunahme überhaupt im 
Zahlengedächtnis, für akustische, Tast- und Gefühlsvorstellungen. 


Wir 


Lossen: Einige Untersuchungen über das Gedächtnis bei Schwachbefähigten. 163 


haben hier, abgesehen von den Differenzen im Gedächtnis für Gegen- 
stände und Geräusche zwischen Stufe I und II, überhaupt den relativ 
bedeutendsten Gedächtniszuwachs zu verzeichnen. In dem 
9.—10. Lebensjahre findet sich eine Steigerung des Gedächtnisses für 
reale Gegenstände und Wörter visuellen Inhalts. Es zeigt sich also, 
dafs auf verschiedenen Altersstufen die Energie in der Gc- 
dächtniszunahme sich je auf einzelne Seiten konzentriert 
und andere weniger berücksichtigt. 
Der Gesamtzuwachs im Gedächtnis betrug bei Knaben: 


Gedächtnis für reale Dinge . . ..... etwa 1), 
” s Geräusche =... 0 so o e Us 
5 s Zahle- = =. 0 a e oe a 4 
5 „ Wörter: visuelle Vorst. . a 15 
e : $ akustische Vorst. u 3/4 
D 5 ` Tastvorstellungen . m eh 


gegenüber der Energie um das 9. Lebensjahr herum. Dagegen stieg 
die Zunahme im Gedächtnis für 

Gefühlsvorstellungen um . . etwa 1%,, 

sinnlose Lautkompositionen . „47, 
der ursprünglichen Energie. 


II. Mädchen. 


c_i ser —— an Ben 


Art des @sdächtiisses 














| j A | AÀ i . en 
a | = u en g = 
z ` mon G OET 5 A O 
mr 23 10 8% E, 4% $8 Seles|s 
5 Jp ğ =z ı DEı mA, 28 et = 
2 7 T Seile T a eke 2 
=: O i fa zZz = =~ C Ben A e = 5 
= | = | =] a T I g 7 
œ T 33 © © es 
EEE RER 8 |’ ä | u 
| QC s kps | en | e [m Ic )Y 
I. 99,56 | 82,67 ' 87.22 . 96,76 | 71,44 | 72,00 | 70,22 : 41,33 
JI. 92,89 | 75,56 | 74,89 | 77,22 | 63,11 | 7467 | 67,33 34,89 
II. 94,00 | 56,00 | 73,56 | T278 | 72,11 70,89 | 7i 33 | 23,22 
IV. 75,78 | 46,22 | 62,44 5622, 5478 | 58 n 13,22 0H 
V. 89,23 | 46,22 ! 50,44 | 54,23 38.22 | 51,11 | 3250 6,80 
| i 


Die Differenz für die Gesanitentwicklung der ersten gegen die 
letzte Altersstufe beträgt also: 


99,56 82,67 
für reale Gegenstände: 89,33 für Geräusche: 46,22 
1 0,35 ur 36,9 


11* 





164 A. Abhandlungen. 


81,22 52,00 

für Zahlen: 50,47 Tastvorstellungen: 51,11 
36,18% 30,89 9/9 

70,22 

für Wörter: TL4 Gefühlsvorstellungen: 32,89 
visuelle Vorstellungen: 38,22 "373307 
399907 9 Jo 

ee 41,33 

14 Lautkompositionen: 6,89 
akustische Vorstellungen: BS22 O Gesamt- 34,149), 


33,220, durchschnitt für Wörter: 33,49 T 
Gedächtnisentwicklung überhaupt 30,28%, gegenüber 27,97 °/, bei 
den gleichalterigen Knaben. 
Es zeigt sich mithin bei Mädchen gegen den Anfangswert eine 
Zunahme: 


für Gegenstände . . 2. 22.2.2... um etwa Ih 
in erdusche.s a a a a ee es 
a Zahlen u & & 2 2.8 vum ae a y 
„ Wörter: visuelle Vorstellungen . . a o} 4h 
" n akustische i Jaa a a 
A] r © 3 
& 5 Tastvorstellungen . . . 2. 2009» 8 
s P Gefühlsvorstellungen x ahe 
„ Lauthäufangen . . . 2202020200, das 6fache 


der Anfangshöhe. 

Es offenbart sich einem Vergleich der einzelnen Altersstufen 
untereinander bei Mädchen für alle Seiten eine bedeutende Ge- 
dächtniszunahme um das 12. Lebensjahr herum. Über- 
troffen wird diese Zunahme nur im 14. Lebensjahre bezüg- 
lich des Gedächtnisses für visuelle Vorstellungen. Um das 

3. Lebensjahr zeigt sich die weitaus grölste Steigerung der Gedächt- 
nisenergie für Geräusche und sinnlose Lauthäufungen. Ein 
auffallender Rückgang im Gedächtnis für Gegenstände zeigt sich bei 
dem Übergang von der II. zur IV. Stufe. 


Vergleich. 


Ich will in aller Kürze einige Momente, die hier wesentlich sind, 
hervorkehren: 
l. Der Gesamtdurchschnitt der Gedächtniszunahme liegt bei den 
Mädchen etwas höher als bei den Knaben, nämlich: 
Mädchen . ......3028%, 
Knaben. ı e s a DIESEN, 
Diklerenz; «. = -a L01 





Lopsıen: Einige Untersuchungen über das Gedächtnis bei Schwachbefähigten. 165 


2. Für die einzelnen Seiten des Gedächtnisses ergeben sich fol- 
gende Worte: 


Mädchen . 10,33 
reale Gegenstände 


Knaben. . 28,56 
K. = + 1823, 
ten M. . . . 36,45 
N | K.e 2.2.3158 
K. — 487% 
M. . . . 368 
AAN | RK. 2... 03138 
K. — 5,20%, 
M. 4% 5.899 
visuelle Vorstellungen | K... . 2H 
K. — 075%, 
Me u w e 8 
akustische Vorstellungen ! K. . . . 3100 
Kea 2220 
M . . . 30.99 
stellung« J l 
Tastvorstellungen UK. . . . 3166 
K. F 0,7%, 
i Mo. o 3733 
Gefühlsvorstellungen | K... 4822 
K. + 10,99%% 
ri i Mo... 3349 
Wörter überhaupt Ko 3133 
K. + 0,54% 
F Mo.. 2A 
Lauthäufungen | K.. 3334 
K. — 110% 


Nur in der Gedächtnisentwicklung für reale Dinge, Tast-, Ge- 
fühlsvorstellungen und sinnvolle Wörter überhaupt zeigen sich die 
Knaben den Mädchen überlegen. dabei mufs man aber bedenken, dafs 
diese Werte ihren wahren Sinn nur gewinnen, wenn man die je- 
weiligen Anfangshöhen auf Stufe V beiderseits vergleicht. Hier zeigt 
sich, dafs die Knaben mit einer oft wesentlich geringeren Gedächtnis- 
energie begabt waren. Am schnellsten orientiert über diese Verhält- 
nisse eine Kurve; ein Vergleich der zwischen den Kurven liegenden 
Ordinatenstücke mit ihrer Gesamtlänge zeigt die zu vergleichenden 
Werte der Energichöhen. 


166 A. Abhandlungen. 

















| 
2 


N 
D 
=z 
u 
© 
5 


"JSIOAJSEL, 


JSIOA SIA 
'SIoA IE 


3sug30r) n 
ITISMEIOH 
'ISIOAS[UNFON 


3. Das Verhältnis der Durchschnittswerte auf den einzelnen 
Altersstufen zeigt folgendes Bild: 


Stufe Knaben | Mädchen | Durchschnitt 

















I: 7,81 8,69 8,25 
I: HI 253 3,08 2,30 
III: IV 10.60 16,75 13,67 
Iv:V 6,91 4,82 5,86 


Die relative Gedächtniszunahme ist also am gröfsten zwischen 
der IH. und IV. Altersstufe, wie auch nachstehende Zeichnung ver- 


anschaulicht: 





Losses: Einige Untersuchungen über das Gedächtnis bei Schwachbefähigten. 167 


ee re en ne I—III 





HI—IV 





Diese relative Zunahme berechtigt nur im Vergleich zu dem 
Gedächtnisumfang bei Beginn der Untersuchungen zu 
richtigen Schlüssen über die Verschiedenheit des Gedächtnisses 
zwischen Mädchen und Knaben. 

3. Das Übergewicht in der Gedächtniszunahme der Mädchen 
gegenüber den Knaben ist auf den verschiedenen Altersstufen: 

13—14!/, Jahre alt 5.91%: für Wörter überhaupt: 5,5 9% 


12—13 ee . 4.1701, 
11—12 r aSa a r 9,459), 
10—11 ooa = ODT yooo a 3,67%, 
9—10 m 1 1) . 3,9707, 


Zum Schlufs möchte ich noch einen Vergleich erwähnen, der ın 
das Bereich der vorliegenden Aufgabe fällt, ich meine zwischen den 
Versuchsergebnissen mit Wörtern akustischen und visuellen Inhalts 
einerseits und den entsprechenden realen Dingen und Geräuschen 
andrerseits. 

(Niche Tabelle S. 108.) 

Die Tabelle offenbart deutlich als eigentümliches Ergebnis, dafs 
zwar die unmittelbare Beobachtung gegenüber der durch das Wort 
veranlafsten Reproduktion einer visuellen Vorstellung für die Energie 
des Gedächtnisses von sehr großer Bedeutung ist, keineswegs aber 
auch immer das wirkliche Geräusch dem durch das Wort reprodu- 
zierten gegenüber. Die Tabelle weist für Knaben im Alter von 9 


168 B. Mitteilungen. 





























Knaben Mädchen 
Stufe O A RE ERIGUEEE, 
Gegen- Wort | Ge- © Wort Gegen- Wort Ge- Wort 
stand | räusch Ä stand į usch) č räusch 
1. 92,56 | 43, 00 71.89 | 74,78 | 99.56 | 96,67 96.67 | 8207! 82,67 71,44 
II. 76,45 ' 60.67 . 57,33 | 64,89 | 92.80 : 77,22 | 75,56 | 63,00 
IT. 89,78 59,67. 57,19 | 63,00 | 9400 , 72,78 | 56,00 | 72,4 
IV. 87,12 | 55,11 55,33 | 48,44 | 75.78 | 56,22 | 46,22 | 54,78 
V. 64.60 | 46,56 | 53,33 , 43,78 | 89,33 | 54,22 | 46,22 | 38,22 
i ' | | 





i 


his 11 Jahren für akustische Vorstellungen gegenüber den realen Ge- 
räuschen zwar einen Vorteil der ersteren nach; um das 12. Lebensjahr 
herum aber kreuzen sich die Werte und es überwiegt, wenn auch nicht 
sehr stark, das Wortgedächtnis. Auch bei den Mädchen zeigt sich 
um dieselbe Zeit em ähnlicher Umschwung. Hier aber überwiegt bei 
älteren Kindern das Gedächtnis für akustische Reize gegenüber dem 
entsprechenden Wortgedächtnis, während bei den kleineren der Um- 
fang des Gedächtnisses für Wörter mit akustischem Vorstellungsinhalt 
gegenüber wirklichen Geräuschen überwiegt. Nur für das Alter von 
9—10 Jahren findet sich ein kleines Übergewicht. Denken wir uns 
die Werte in Kurven veranschaulicht, dann finden wir durchgehends 
ein Überwiegen des Gredächtnisses für reale Dinge, doch ist der Ab- 
stand gegen «das Wortgedächtnis keineswegs konstant. Zwischen 
Knaben und Mädchen besteht der charakteristische Unterschied, dafs 
hei diesen die Differenz der Ordinatenlängen von unten nach oben 
konstant geringer wird, und zwar ist das zurückzuführen auf die be- 
deutende Zunahme des Wortgedächtnisses, zumal im 13.—14. Lebens- 
jahre. Bei den Knaben ist die Abnahme der Distanz weniger gleich- 
mälsig. Am bedeutendsten überragt das Gedächtnis für reale Dinge 
in der Zeit vom 10.—12. Jahre, am wenigsten um das 13. herum. 
(Schlufs folgt.) 


Day za N A e nem 


B. Mitteilungen. 





l. IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands. 


Am 14. und 15. April fand in Mainz der IV. Verbandstag der 
Hilfsschulen Deutschlands statt, der sich einer aulserordentlich regen 
Beteiligung aus allen Teilen Deutschlands und auch aus dem Auslande zu 
erfreuen hatte. Schon die Zahl der beim ÖOrtsausschusse eingelaufenen 











IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands. 169 





Anmeldungen zeigte eine Steigerung selbst gegenüber dem so glänzend 
verlaufenen 3. Verbandstage in Augsburg. Wieder waren neben den Ver- 
tretern der Hilfsschulen Schulauftsichtsbeamte, Vertreter von Ministerien, 
Regierungen und Magistraten, Professoren. Ärzte, Geistliche und die 
Lehrerschaft der verschiedensten Schulen sowie auch Privatpersonen in 
beträchtlicher Zahl anwesend. Am 14. April fand um 11 Uhr mittags eine 
Sitzung des Verbandsvorstandes und nachmittags 4 Uhr eine gemeinsame 
Sitzung des Vorstandes und Ortsausschusses zur Besprechung geschäft- 
licher Fragen statt. Abends 7 Uhr begann die 1. Versammlung im Heilig- 
geistrestaurant, an der 214 Personen teilnahmen. Der 1. Vorsitzende 
Stadtschulrat Dr. Wchrhahn-Hannover begrülste die Versammlung im 
Namen des Vorstandes und Ortsausschusses, dankte in beider Namen für 
das zahlreiche Erscheinen und gab dann einen kurzen Rückblick über die 
2 verflossenen Jahre und die während derselben vom Vorstande entfaltete 
Tätigkeit. Es sind in über Erwarten grolser Zahl neue Hilfsschulen ent- 
standen, ebenso ist die Zahl der Verbandsmitglieder ganz aulserordentlich 
gewachsen. Von den verschiedensten Seiten ergingen Anfragen an den 
Vorstand; die von demselben herausgegebenen Berichte wurden in so grofser 
Zahl verlangt, dafs die über den 1. und 2. Verbandstag jetzt völlig ver- 
griffen sind. In einigen Gegenden und Städten sind kleinere Vereine und 
Verbände zur Förderung des Hilfsschulwesens und zwecks sozialer Für- 
sorge für die Hilfsschulzöglinge entstanden. Der Verband kann das nur 
herzlichst begrülsen, mufs aber auch andrerseits den dringenden Wunsch 
hegen, dafs derartige Vereine sich dem Verbande anschlielsen und im 
Einvernehmen und Zusammenwirken mit ihm den für beide ja gemeinsamen 
Zielen zustreben. Auch im Auslande falst man die Gründung von Hilfs- 
schulrerbänden ins Auge. Nach unmittelbar vor dem Verbandstage aus 
England eingegangenen Nachrichten ist dort bereits aus 30 Städten die 
Bereitwilligkeit dazu erklärt worden, und es wird dort im nächsten Jahre 


— (dem deutschen Beispiel folgend, wie der betreffende Herr aus Liver- 


pool schreibt — der 1. Hilfsschulverbandstag stattfinden. — Vielfach ge- 
äufserten Wünschen entsprechend hat sich der Vorstand entschlossen, die 
Versammlung um die Ermächtigung zu bitten, Schritte bei den Behörden 
zu unternehmen, die auf die Einrichtung von Kursen zur Ausbildung und 
Fortbildung von Hilfsschullchrern hinzielen. — Zum Zweck der Klärung der 
vielfach erörterten Frage, ob zwangsweise Kinder der Hilfsschule zugeführt 
werden können, hat der Vorstand eine Rundfrage an die Schulverwaltungs- 
organe der Städte mit Hilfsschulen ergehen lassen und ein Vorstands- 
mitglied mit Verarbeitung des eingegangenen Materials beauftragt. — Der 
Vorstand bittet ferner die Versammlung um die Zustimmung zu einer 
Änderung des $ 1 der Satzungen in dem Sinne, dafs auch die soziale 
Fürsorge für die Hilfsschulzöglinge ausdrücklich als Aufgabe des Verbandes 
hingestellt wird. 

Hierauf hielt Hauptlehrer Giese-Magdeburg einen Vortrag über 
»Das Rechnen auf der Unterstufe der Lilfsschule.« Der Vor- 
tragende hob neben dem formalen Werte des Rechnens die praktische Bce- 
deutung für das spätere Leben hervor, die in vielen Fällen noch die des 


170 B. Mitteilungen. 


Lesens und Schreibens übersteige, betonte, dafs die Hilfsschule sich in 
ihrem Rechenstoff auf das Äulfserste zu beschränken habe und bezeichnete 
als Ziele für 6 Schuljahre in der Hilfsschule: Addition und Subtraktion 
von 1—10 im 1. Jahre, dasselbe bis 20 im 2., dasselbe bis 100 im 3., 
Multiplikation und Division bis 100 im 4., die 4 Spezies bis 1000, dezi- 
male Schreibung von M — Pf, m — cm, hl — l und die bekanntesten 
Fälle der Bruchrechnung im 5. und 6. Jahre, wobei noch nach dem Malse 
der Gliederung der einzelnen Schule zu modifizieren sei. Die Beschränkung 
auf Addition und Subtraktion in den ersten Jahren begründete der Vor- 
tragende damit, dafs man den Hilfsschulzöglingen nicht zuviel gleichzeitig 
bringen dürfe, dafs Multiplikation und Division als abgekürzte Addition 
und Subtraktion wesentlich schwieriger seien als diese Rechenspezies und 
erst nach erlangter voller Sicherheit im Addieren und Subtrahieren mit 
Erfolg behandelt werden könnten, vorher meist nur auf ein mechanisches 
Einprägen hinauslaufen würden, dals ferner im Zahlenraume von 1—10 
nicht geniigendes Übungsmaterial für Multiplikation und Division zur Ver- 
fügung stehe. Im 1. Jahre läfst Referent folgende Übungen treiben: 
Zählen vor- und rückwärts, zuerst an Dingen, dann an Zeichen, endlich 
ohne sinnliche Veranschaulichung: Bestimmung des Platzes einer Zahl in 
der Zahlenreihe; Zerlegen der Zahlen und die Umkehrung desselben, das 
Ergänzen; Adqdieren und Subtrahieren. Zerlegen und Ergänzen sind sehr 
wichtige Übungen, da sie erst den Inhalt der Zahl völlig erkennen lehren, 
das Überschreiten des 1. Zehners wirksam vorbereiten und weil, nachdem 
sie gründlich betrieben sind, Addieren und Subtrahieren im Wesen nichts 
Neues mehr bieten. Eine Zerlegung des Gebiets in die 2 Gruppen 
1—5 und 6—10 hält Referent für ungeeignet. Der Hilfsschulzögling 
vermag nicht mehrere Zahlvorstellungen kurz hintereinander aufzunehmen ; 
man muls also von Zahl zu Zahl fortschreiten und jede für sich er- 
schöpfend behandeln. Da man beim Eintritt des Kindes in die Hilfsschule 
absolut keine Zahlenvorstellungen voraussetzen darf, so müssen zunächste 
die Begriffe »cins« und »viele durch mannigfache Übung entwickelt und 
festgelegt werden. Stets werde zuerst mit benannten Zahlen gerechnet 
und zwar erst mit, dann ohne Veranschaulichungsmittel. Erst, wenn die 
Vorstellung klar und deutlich geworden ist, trete die ıunbenannte Zahl auf. 
Von vornherein müssen angewandte Aufgaben mit herangezogen werden. 
Neben der mündlichen Übung darf die schriftliche nicht fehlen. Vor der 
Kenntnis der Ziffern behilft man sich mit anderen Zeichen, die dann 
später allmählich zurücktreten. Im 2. Jahre bereitet nur das Überschreiten 
des 1. Zehners Schwierigkeit, weil hier jede Aufgabe cine 3fache Tätig- 
keit erfordert. Unbedingte Sicherheit im Ergänzen und Zerlegen sind dabei 
unerlälsliches Erfordernis. — Wegen der Schwierigkeit des Rechnens für 
die denkschwachen Zöglinge der Hilfsschule ist weitgehendste Veranschau- 
lichung nötig. Die Anschauung sci wahr (die Vorstellungen müssen an 
konkreten Dingen gewonnen, Münzen, Malse und Gewichte unmittelbar 
angeschaut werden), sie sei mannigfaltig (Münzen, Malse und Gewichte 
worden nicht blols gezeigt, sondern die Kinder operieren auch selbst 
damit), sie werde oft wiederholt, finde daher nicht blols bei der ersten 





IV. Verbandstag der Milfsschulen Deutschlands. 171 





Durchnahme, sondern auch bei der Einübung und Wiederholung statt. 
Neben Rechenfähigkeit ist soviel wie möglich auch auf Rechenfertigkeit 
hinzuwirken. Daher mufs stets reichliche Übung bis zur völligen Sicher- 
heit stattfinden. Als Rechenvorteile empfiehlt Redner: Vertauschen der 
Summanden (9 + 2 statt 2 + 9), Ausgehen von bequemen Aufgaben 
(7 + 8= 7 4+ 7 + 1), Zurückführen auf die Grundzahlen (bei 18 —3 
denke man an 8 —3), Heranzichen einer verwandten Rechnungsart 
(leichter als 87 —”9 ist die betreffende Ergänzung), Gegenüberstellen von 
Zuzählen und Abziehen. Vielfache Wiederholung ist durchaus nötig, doch 
sei sie planmäfsig geordnet. Als Anschauungsmittel sind cinfache Dinge 
aus der Umgebung des Kindes, Rechenapparate, graphische Darstellungen 
reichlich zu benutzen. Wechsel in denselben erhöht die Klarheit der Be- 
griffe. Besonders zu empfehlen sind solche, die cin selbsttätiges Darstellen 
der Kinder zulassen. Auch die Zahlenbilder sind als ein, aber nicht als 
das einzige Anschauungsmittel zu verwenden. — Redner empfiehlt den 
Gebrauch eines Rechenbuches in der Ililfsschule, da dasselbe Zeit erspart, 
wenn in weniger gegliederten Schulen Abteilungen schriftlich beschättigt 
werden müssen, weil es eine Mithilfe der Eltern ermöglicht und die Ein- 
heitlichkeit des Unterrichts in mehrklassigen Schulen und bei Lehrer- 
wechsel unterstützt. Der darin enthaltene Stoff ist auf das Notwenlligste 
zu beschränken, alles nebensächliche Beiwerk ist fernzuhalten, die Schwierig- 
keiten dürfen nur ganz allmählich gesteigert und es muls für alles ein 
reicher Übungsstoff geboten werden. 

An den Vortrag schlols sich eine schr ausgedehnte lebhafte Debatte, 
die sich zunächst mit dem dem 1. Schuljahre gesteckten Ziele befafste. 
Verschiedene Redner waren unter Betonung des individuellen Verfahrens 
als Grundlage des gesamten Hilfsschulunterrichts gegen jede Zielsetzung, 
indem sie auf die so sehr verschiedene Gliederung der Ililfsschulen und 
auf die aufserordentliche Verschiedenheit des Schülermaterials hinwiesen ; 
andere forderten Herabsetzung auf das Gebiet von 1—5, wieder andere 
waren gegen Ausschluls der Multiplikation und Division. Von anderer 
Seite wurde energisch betont, dafs die Versammlung zu positiven Fost- 
setzungen schon im Interesse der noch zu gründenden Hilfsschulen kommen 
müsse und dafs dazu völlig ausreichende Erfahrung vorliege!). Die grölsere 
Mehrheit stimmte schlielslich dem Referenten zu mit dem Vorbehalt, dafs 
das Gebiet von 1—10 nicht als Ziel des 1. Schuljahres, sondern der 


I) »Der Mensch sieht nur, was er weils«, sagt der Psychologe IIerbart. 
Auch hier geht es so, Die nicht psychologisch - kritische Erfahrung hat einen sehr 
zweifelhaften Wert. Ich habe bei anderen Fragen schon wiederholt dargctan, wie 
die landläufige Erfahrung papageienmälsiges Wortwissen für tatsächliche Sachkennt- 
nisse hält. Das Rechnen macht auch keine Ausnahme. Die Frage des ersten 
Rechenuuterrichts läfst sich darum erst beantworten, wenn cine genaue Unter- 
suchung über die Zahlvorstellungen bei normalen wie bei schwachsinnigen Kindern 
und über die natürliche Entwicklung der Zahlbegriffe vorliegt. Die fehlt uns m. W. 
noch immer. Und so lange schweben alle jene Fragen teilweise in der Luft. 

Trüper. 


112 B. Mitteilungen. 


untersten Rechenstnfe bezeichnet wurde. In Bezug auf Veranschaulichung 
im Rechenunterrichte wurde von verschiedenen Seiten der hervorragende 
Nutzen und die Notwendigkeit der selbsttätigen Darstellung von seiten der 
Kinder betont. Auch die Frage des Rechenbuchs rief eine lebhafte Aus- 
sprache für und wider hervor. Die vom Redner vorgelegten Thesen er- 
hielten durch die Debatte folgende Fassung: 

1. In der Hilfsschule kommen auf der untersten Stufe Addition und 
Subtraktion im Zahlenraume von 1—10 und auf der zweiten Stufe die- 
selben Grundrechnungsarten bis 20 zur Behandlung. 2. Durch mannig- 
faltige und häufige Anschaunng und Darstellung wird Rechenverständnis 
angebahnt. 3. Durch vielseitige Übung und wnermüdliche Wiederholung 
ist Rechenfertigkeit zu erzielen. 4. Für die Hilfsschule ist ein den Ver- 
hältnissen derselben angepalstes Rechenbuch wünschenswert. 

(Schlufs folgt.) 


2. Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. 
Von Adolf Rude in Nakel a. d. Netze. 
(Schlufs.) 


6. Lebensjahr. 


5 Jahre: Spekulation berichtigt Sinnestäuschung. Wir, die 
Eltern und die Kinder, wollen bei schönem Wetter in einem Wagen nach 
Bromberg fahren. Da es vor der Fahrt sehr windig wird, sagt Lucie: 
»Das ist vom lieben Gott doch gar nicht schön eingerichtet, dafs gerade 
heute so schlechtes Wetter ist.« Wir fahren trotzdem. Der dreijährige 
Erwin sagt: »Sieh, wie die Weichsel mitfährt und die Bäume!« Da be- 
lehrt ihn L.: »Nein, das sieht blofs so aus. Wir fahren, und die 
Bäume bleiben stehen.« 

1 Monat: Reproduktion nach dem Gesetze der Ähnlichheit, 
Beobachtung. Unterscheidung. L. hat bei der Grolsmutter einen 
sogenannten Hausscgen gesehen: eine Tafel mit einem Spruche und 
den beiden Engeln von der sixtinischen Madonna. Sie kennt ferner, wie 
schon oben angeführt ist, das ganze Bild selbst in einem grolsen Stich. 
Nun sieht sie auf einem Wäschebeutel die beideu Engel in Stickerei ab- 
gebildet. Diese reproduzieren sofort das Bild auf dem Haussegen, nicht 
aber das Gesamtbild. Sie wundert sich wiederholt über die sonderbare 
Haltung der Engel, namentlich über das Stützen des Kopfes. (Der drei- 
jährige Erwin findet auf meine Frage sofort heraus, dafs das Bild auf 
dem Haussegen, den er früher einmal gesehen hat, blau und rot sei, der 
Stich aber schwarz.) 

Unterscheidung. L. kennt ein Bild Bismarcks mit einem 
Hute. Erwin zeigt auf das Bild einer fremden Person und sagt un- 
richtig: »Das ist Bismarck.« L. meint: »Nein, er trägt ja einen Helm, 
und Bismarck trägt einen Hut.« 

Sie will mich belchren: »Papa, weifst du? Am heil’gen Abend ist 





ww 


Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. 17: 


Kaisers Geburtstag.« Die vielen Lichter an beiden Festen verursachen 
wohl diese Annahme. 

Ein andermal sagt sie: »Unsere Kaiserin heilst Auguste Viktoria. 
Unser Kaiser hat sich mit ihr verheiratet. Nicht wahr, Mama% Als 
Erwin falsch wiederholt »Eiguste«, lacht sie. 

Empirisches und spekulatives Interesse L. fragt nach 
allem, was sie sieht und nicht versteht, so auch, auf ein Thermometer 
deutend: »Wozu ist das?« Ich erkläre: »In der weilsen Kugel ist 
Quecksilber. Wenn es in der Stube warm wird, kriecht das Quecksilber 
nach oben; wenn es kalt ist, fällt es nach unten.« Das merkt sie sich 
und nimmt sich vor: »Wenn die Mama uns Schokolade gibt, dann machen 
wir von dem weilsen Silberpapier auch solche Kugeln und spielen 
Thbermometer.« Auf meine Frage, wo wir noch andere Thermometer 
haben, zeigt sie auf das aulsen am Fenster angebrachte Thermometer 
und auf das des Lamprechtschen Polymeters. Dann erinnert sie sich: »In 
der Wohnstube ist auch eins« [zusammen mit dem Barometer). 

Sie weils sicher zu unterscheiden, was rechts und was links ist. 

Sie freut sich immer sehr auf den Sonntag. 

2 Monate: Schlie[st: »Wenn Erwin dem Papa etwas zu Weihnachten 
schenken will, dann mufs er etwas machen. Wenn er nichts machen 
kann, dann muls er etwas kaufen. Wenn er auch kein Geld hat, dann 
kann er nichts schenken.« 

Sittliches Urteil: Ich trinke Limonade L. bittet die Mama 
auch darum, und diese verspricht sie ihr für später. Am Abende mahnt 
L. darum. Mama meint: »Ich hatte es vergessen. Hast Du denn 
noch Durst? Jetzt ist es schon so spät.« Da antwortet L.: »Du hast 
mir doch versprochen; dann darfst Du es auch nicht vergessen! Sie 
hat die Überzeugung, dals man ein Versprechen auch halten muls. Aufser- 
dem kommt ihr der Einfall recht gelegen. 

L. sieht Bilder in einer Zeitschrift und sagt: »Das ist ein Heider- 
dorf« (manchmal auch: Heidedorf). Ich frage: »Was ist ein Heidedorf% 
L. weils zunächst nichts anderes zu sagen als: »Wenn Ihr oder 
Hedwig etwas sagt, dann höre ich genau zu und spreche es nach.« Auf 
meine wiederholte Frage, was ein Heidedorf sei, antwortet sie: »Eine 
Heide und ein Dorf.« Ich: »Was ist eine Heide?« Antwort: »Wo gar 
nichts ist, auch kein Kirchhof. Mama hat eine Erika-Geschichte davon 
erzählt.. — Auf einem andern Bilde sieht sie Südsee-Insulaner. Sie 
sagt: »Diese sehen einmal ‚drollig‘ aus.« Dieses Wort scheint ihr zu ge- 
fallen; denn sie wiederholt cs mehrmals. 

Genaue Beobachtung. Auf einem andern Bilde sieht L. die 
weinenden Zwerge an dem Glassarge von Schneewittchen. Das Gesicht 
des einen Zwerges ist stark schattiert. Da meint L.: »Der hat sich 
wohl an der Laterne das Gesicht verbrannt?“ Jeh sche auf dem Bilde 
keine Laterne und frage: »An welcher Laterne?“ Da weist mich Lucie 
auf ein anderes Bild zu demselben Märchen. Dort wirft ein Zwerg mit 
einer Blendlaterne Licht auf das in dem Bette ruhende Schneewittchen. 

Spekulatives Interesse. Zweck menschlicher Organe. IL. fragt 


174 B. Mitteilungen. 


mich: »Warum hast Du da (Wimpern) und hier (Brauen) Haare? Wozu 
sind sie?%« Solche Fragen nach dem Zwecke oder dem Grunde stellt 
sie oft. 

Beobachtet Anffälliges und schliefst nun auf anderes. 
Es werden Kieler Sprotten gegessen. Da beobachtet Lucie: »Der Kopf 
ist so leer. Ist unser Kopf auch leer% 

Sie urteilt: »Rote Tücher sind moderner (sie meint: schöner) als 
gelbe« — Sie sieht ein gelbseidenes Tuch und vergleicht: »Das glänzt 
so schön wie Gold oder Silber.« — Ein anderer Vergleich: »Erwin 
hat so rote Backen, als ob sie der Herr Behnke (der im Hause wohnende 
Konditor) angestrichen hätte.« 

Bei einer Halskrankheit mufs sie mit einer Alaunlösung gurgeln. 
Beim erstenmal schreit und weint sie, später schon weniger. Als nur 
noch wenig in der Flasche ist, fragt sie jeden Augenblick, ob sie nicht 
wieder gurgeln solle. Ihrem Brüderchen muls mit einer scharfen Lösung 
die Mundhöhle ausgepinselt werden, da sich an derselben Bläschen ge- 
bildet haben. Erwin schreit jedesmal beim Einpinseln sehr. L. sucht 
ihm nun Mut zu machen: »Wenn gepinselt wird, wirst Du ja bald ge- 
sund. Das Gurgeln ist noch viel schlimmer. Das mufs man ganz hinten 
im Halse machen.« 

3 Monate: Veränderung lälst eine identifizierende Apper- 
zeption nicht zu. L. sieht ein Bild zu dem Märchen: »Der ge- 
stiefelte Kater.« Sie fragt später einmal die Mama: »Haben alle Kater 
gelbe Stiefel an?« Weil der Kater im Märchen aufrechtgehend und 
menschenähnlich abgebildet ist, hat sie anscheinend gar nicht begriffen, 
dafs der Kater eine (männliche) Katze ist. 

Sic versteckt ein Spielzeug in der Befürchtung: »Die Spitzen (Spitz- 
buben) könnten es stehlen.« 

Überlegung einer Ergänzung. Im vorigen Jahre ist ihr bald 
nach Weihnachten der Kopf ihrer grolsen, schönen Puppe zerbrochen. In 
diesem Jahre wünscht sie sich nicht eine neue Puppe, sondern einen 
Kopf zu dem kopflosen Puppenkörper. 

Beobachtung und Spekulation. Ihr 31/, Jahre alter Bruder 
fragt mich, ob er von einem gebrauchten Couvert die Briefmarke »ab- 
machen« dürfe. Ich frage ihn, wozu er sie haben wolle Er antwortet: 
‚Ich wyUl sie auf einen Brief kleben und ihn an die Grolsmama schicken.« 
Da belehrt ihn L.: »Das geht nicht! Es ist schon ein Stempel drauf.« 

4 Monate: Falsch identifizierende Apperzeption. Von Büsten 
hat Jvcie bisher nur die Herbarts und Comenius? gesehen. Bei der 
Feier des Geburtstages des Kaisers in der Schule, wozu sie mitkommen 
darf, sicht sie eine grolse Büste Kaiser Wilhelms J. Sie fragt: »Warum 
ist der Herbart so grofs?« 

Religiös-empirische Spekulation. Es ist ihr von dem Jesus- 
knaben erzählt worden, und sie, hat auch ein Bild von ihm gesehen. 
Nun stellt sie folgende Frage: sIst der Herr Jesus noch jetzt so klein?« 
— Auf dem katholischen Kirchhofe sicht sie ein grolses Kruzifix. Sie 
fragt: »Ist das auf dem katholischen Kirchhof der wirkliche Herr Jesus”?« 








Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. 175 





SympathetischesInteresse. Freiwilliges Versprechen. Speku- 
lation. Es ist ihr ein Schwesterchen geboren worden. Darüber ist sie 
ganz freudig erregt. Sie geht, ohne dafs sie dazu von jemandem an- 
geregt worden wäre, zur Mama und sagt, sie werde jetzt auch immer 
recht artig sein. Sie hat anscheinend das Gefühl, dals sie auf ihre kleine 
Schwester Rücksicht nehmen müsse. Zu mir sagt sie, jetzt müsse das 
Schwesterchen auch getauft werden. Ich frage: »Wozu?« Antwort:... 
»Dals sie einen Namen bekommt.« 

Spekulatives Interesse Ich sage: »Es sind im Zimmer nur 
S Grad. Es mufs geheizt werden.«e L. hört es und fragt: »S Grad 
kalt?« Ich: »Nein, warm.« Da wundert sie sich, dals es warm sein soll, 
während es ihr kalt vorkommt. 

5 Monate: Ihr 31/,jähriges Brüderchen erkennt auf einem Bilde ein 
Kalb nicht. L. äufsert ihr Erstaunen darüber, will Erwin aber cin- 
helfen. Sie kommt nun auf die Sprünge mancher Kunstkatecheten, indem 
sie fragt: »Von was macht man Kalbtleisch?- Wie es bei solchen Kunst- 
katechesen nicht gar selten geschehen soll, bleibt auch in diesem Falle 
die Antwort aus. Da sagt sie ihm vor: »Das ist ein Kalb.« — Ein 
anderes Mal erkennt Erwin auf einem gezeichneten Dache den Schornstein 
nicht sofort. Da fragt I.: »Was haben wir auf dem Dach? 

Empfindet Nichtwissen als einen Mangel, dessen man 
sich zu schämen habe. Auf einem andren Bilde sieht L. ein nicht 
gerade deutlich abgebildetes Schaf ohne Hörner. Sie weils nun nicht 
genau, ob es ein Schaf sei. Da sagt sie zur Mama: »Erwin weils nicht, 
was das ist.« Ich frage sie: »Na, was ist cs denn?« Da bleibt die Ant- 
wort aus, und L. macht ein sehr verlegenes Gesicht. Endlich bringt 
sie zögernd heraus: »Ein Schaf.«e Später stellt sie an die Mama die 
Frage: »Ein kleines Schaf hat keine Hörner; nicht wahr?« Sie hat richtig 
das Fehlen der Hörner beobachtet. und dieses liels zu Anfang nicht die 
Apperzeption zu stande kommen. 

6 Monate: Praktisch. In einer Ecke meines Arbeitszimmers stehen 
Meinholdsche Bilder für den Anschauungsunterricht. I. nimmt nach 
eingeholter Erlaubnis eins heraus und legt es auf den Fulsboden, um es 
mit Erwin zu besehen. Dieser legt auf einen Rand ein Buch hinauf, da- 
mit das Bild sich nicht wieder zusammenrolle. Er legt das Buch aber 
vollständig hinauf und zwar schräg. Da sagt L.: »So muls das nicht 
liegen!« Sie legt es parallel mit der Kante auf das Bild und zwar so, 
dafs möglichst wenig von der Bildfläche bedeckt wird. Das Bild stellt 
ein Getreidefeld und darüber ein Gewitter dar. Da meint L.: »Wo es 
weils ist, da ist der Himmel, und wo es schwarz ist, ist die Hölle 
(falscher Schluls). 

Dauerhaftes Gedächtnis. L. sieht ein rotbraunes Pferd und 
sagt: »Das ist ein Fuchs.< Ich frage darauf: >Wie heilst ein weilses 
Pferd?« Antwort: »Schimmel.« Ich: »Ein schwarzes Plerd?« Antwort: 
»Rappe.« Ich: »Ein rotes?« Antwort: »Fuchs« Ich: „Woher weilst 
du es?« Antwort: »Du hast cs uns früher einmal gesagt.‘ 

Kinder wenden unverstandene Bezeichnungen an. L. hat 


176 B. Mitteilungen. 


das Lied gehört: „Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh’? Sie versucht 
es pachzusingen, und das Lied summt ihr lange Zeit im Kopfe herum. 
Nun sieht L. auf einem Bilde eine Anzahl Kinder abgebildet. Sie zeigt 
dieselben und sagt: »Das bin ich, das ist der Erwin, das ist der Hans, das 
ist die ‘Seele.«c Da fragt Erwin: »Und wo ist die Ruh’?« L. sagt: 
‚Hier!« und zeigt auf ein abgebildetes Kind. Ich frage sie: »Was ist 
denn die Seele? Antwort: »Mit der Seele kommt man in den Himmel.« 

Einfall. Eines Tages äufsert sie: »Ich habe noch keinen Mann ge- 
heiratet.« 

Praktisch. Ich klebe eine Anzahl Bilder auf Blätter auf. Nach- 
dem jedes aufgeklebt ist, streiche ich es mit meinem Taschentuche fest 
und glatt. Danach stecke ich es ohne weitere Überlegung jedesmal wieder 
in die Tasche zurück. Nachdem ich es mehrmals getan habe, spricht 
L.: »Warum steckst du das Taschentuch immer wieder in die Tasche 
zurück? Leg’ es doch auf den Tisch! Dann brauchst du es nicht immer 
herauszunehmen. « 

Bemerkt sprachliche Unrichtigkeiten (Bildung des Sprach- 
gefühls). Erwin sagt: »Die Biberss haben gekommen.« L. ver- 
bessert... »sind gekommen.« Dals Bibers falsch ist, weils sie nicht. 

L. kann die ganze Schreibschrift lesen und schreiben. Sie hat das 
mehr spielend gelernt. Ich verspreche ihr nun: »Wenn du Gedrucktes 
gut lesen kannst, dann schenke ich dir das Märchenbuch mit den Bildern.« 
Darauf freut sie sich nun sehr; sie nimmt sich vor, dann dem Erwin 
Geschichten vorzulesen. 

6!/, Monate: Wahl nach Überlegung. L. redet tagelang davon, 
dals sie zu Arnemanns, einer befreundeten Familie, gehen möchte Als 
ihr aber die Wahl gestellt wird, ob sie lieber ins Marionettentheater zur 
Schneewittchen-Vorstellung oder zu Arnemanns gehen wolle, wählt sie das 
erstere und meint: »Zu Arnemanns kann ich noch ein andermal gehen.« 

Neugierde. Sie fragt fortwährend: »Was ist über dem Himmel?« 

7 Monate: Zweifel an der Existenz wunderbarer Zustände. 

L. hat vom Schlaraffenlande gehört und fragt mich: »Gibt es ein 
richtiges Schlaraffenland, so wie Schulitz ?« 

Reproduktion. Einsicht, dals man aus Büchern Belehrung 
schöpft. Sie hat in früheren Jahren geschen, wie ich nach Garckes Flora 
Pflanzen bestimmte. Jetzt bringe ich von einem Spaziergange auch eine 
Pflanze mit. Da fragt mich L. mehrmals: »Nicht wahr, wenn du etwas 
nicht weilst, dann suchst du im Buche?« 

Sucht Bedeutung von Namen. Ich gehe mit L. und Erwin 
spazieren. Wir schen blühendes Frühlingsfingerkraut (Potentilla verna). 
L. fragt, was das sei, und ich sage ihr den Namen. Sie fragt weiter: 
»Warum heifst das so% Ich erkläre ihr den Namen. L. meint darauf: 
»Wer das nicht weils, denkt, man kann Finger daraus machen.« Über 
den Namen »Stiefmütterchen«e wundert sie sich sehr und meint: »Das ist 
eine Mutter, die hat Stiefel ans (Notapperzeption). 

Empirisches und spekulatives Interesse Ich bringe von 
einem Spazierzauge einen kleinen Weidenzweig mit Kätzchen heim nnd 


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Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. 17 


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schenke ihn L. Es ist bereits ziemlich dunkel im Zimmer. Sie fragt 
»Was ist das?« Ich antwortete: »Das sind Weidenkätzchen.« L. fragt 
mit grolsem Erstaunen in der Stimme weiter: »Wirkliche Kätzchen % 
Antwort: »Ja, wirkliche Kätzchen.« Neue Frage: »Kätzchen mit Augen % 
Ich: »Nein, Augen haben sie nicht. Ich habe sie vom Baum abgebrochen.« 
Lucie freut sich trotzdem sehr über das Geschenk und redet lange Zeit 
wnaufhörlich davon. Schliefslich fragt sie mich: » Wenn man diese Kätzchen 
(sie zeigt auf den ganzen Zweig) in die Erde pflanzt, wächst dann ein 
Baum heraus, der auch solche Kätzchen trägt?« Nach einigen Wochen 
kommt sie wieder darauf zu sprechen und sagt: »Kätzchenweiden.« 

Einwand. Schon lange vor Ostern spricht L. mit ihrem Bruder 
vom Stiepen!) (auch Stiepern), vom Österhasen und den Ostereiern. Am 
ersten Österfeiertage darf sie nun mit Erwin Eier suchen. Sie findet auch 
ein ÖOsterhäschen aus Zucker. Als sie alles gefunden hat, was für sie 
versteckt worden war, sucht sie noch weiter nnd hört erst auf, als ich ihr 
sage: »Der Osterhase hat mir gesagt, dafs für dich nicht mehr Eier sind.« 
Da dreht sie ihr Osterhäschen um, das von unten aus hohl ist und sagt 
dann: »In dem Hasen sind ja keine Eier mehr. Wie kann er nur Eier 
legen ?« Sie fragt das mehrmals, so dals ich ihr schlielslich sage: »Frage 
doch den Hasen selbst!« Sie antwortet: »Er sagt mir nichts.« Ich: »Dann 
wird er mir auch nicht antworten.« L.: »Du hast mir ja aber gesagt, 
dafs der Hase zu dir gesprochen hat, er hat blols vier Eier für mich 
gelegt ?« 

Verwechselung des Stoffes mit dem (Gegenstande Die 
Mama hat ein Osterlämmchen aus Butter gekauft. Jetzt bitten D. und 
Erwin: »Mama, bitte um eine Stulle mit Osterlämmcehen'!« Das Interesse 
für das Osterlämmchen und seine Form hat die übliche Bezeichnung des 
Stoffes zurückgedrängt, aber nicht den Zweck desselben vergessen gemacht. 

Ein im Hause wohnender Konditorgehilfe hat sich eine Blutvergiftung 
zugezogen. L. erzählt mir: »Der Gehilfe hat ‚Giftung‘ gehabt.« Dieses 
Wort gefällt Erwin aulserordentlich und er wiederholt es mehrmals. 

Beobachtung eines Unterschiedes. Ich schneide von einem 
Brote eine Schnitte ab. Da ich es nicht gewohnt bin, fällt es ungeschickt 
aus. L. wundert sich und sagt: »Papa schneidet immer schräg.« 

§ Monate: Religiöse Spekulation. L. hört, dafs heute Himmel- 
fahrtsfest ist und sagt: »Heute vor vielen Jahren ist der Herr Jesus in 
den Himmel gefahren.« Das hat sie von der Mama gehört. Sie fragt 
mich: »Wo war er vorher?« Ich antwortete: »Anf der Erde« L.: 
»Aber er hat sich wohl nicht sehen lassen%« Ich: »Natürlich hat er sich 
sehen lassen.« Darüber wundert sie sich sehr. 

9 Monate: Empirisches Interesse. Bildung eines Vorsatzes. 
L. hat ohne Anregung von anderer Seite zwei Erbsen in die Erde 
gesät und freut sich aufserordentlich, als die beiden Pflänzchen aufgehen. 


t) Ostersitte: Schlagen mit Ruten oder Begielsen mit Wasser. Am 2. Oster- 
tage morgens schlagen die Knaben die Mädchen mit Ruten und bekommen dafür 
Eier; am nächsten Morgen ist es umgekehrt. 

Die Kinderfohler. VIII. Jahrgang. 12 





178 B. Mitteilungen. 


Sie begielst sie und sicht jeden Tag nach, wie sie gewachsen sind. Sie 
sagt zu mir: »Wenn Erbsen sein werden, braucht die Mama keine zu 
kaufen. Ich gebe sie ihr dann und sie kann sie kochen.« 

Freude am Gelingen. Formen- und Gröflsen-Beobachtung. 
L. ist auf ein Spiel gekommen, das ihr sehr viel Vergnügen macht: 
Sie steckt die Blüten der ÖOchsenzunge (Anchusa officinalis), auch der 
Ackerwinde (Convolvulus sepinm) einzeln auf einen steifen, dünnen Gras- 
halm, eine Blüte dicht über die andere. Das erfordert sehr viel Geduld 
(der 33/, Jahre alte Bruder macht es nach; es geht ihm aber schliefslich 
die Geduld aus). Wenn sie einen Halm so ausgeschmückt hat, dann freut 
sie sich über ihr Werk und verschenkt es der Mama oder mir. Sie glaubt 
dabei, etwas Wertvolles verschenkt zu haben. Einmal bringt sie mir zwei 
Halme, einen längeren und einen kürzeren. Ich lege diese zum Kreuze 
zusammen. Da sagt D.: »Ein Kreuz !« Das (der untere Teil) ist immer 
länger als das (der obere Teil). Über den Namen Ochsenzunge wundert 
sic sich schr. 

Auswendig Gelerntes sprechen macht Kindern Vergnügen. 

L. hat von einem die Schule besuchenden Knaben das erste Gebot 
gehört und gelernt. Sie sagt es nun gern auf und lernt auf ihren Wunsch 
von der Mama durch mehrmaliges Vor- und Nachsprechen auch das zweite 
und dritte Gebot. Dann kommt sie zu mir und spricht sie. Darauf er- 
klärt sie mir: »Die Gebote möchte man immerzu sprechen.« 

Nachdenken. Ich frage sie, was es heilse: Du sollst deinen Vater 
und deine Mutter ehren! L. antwortet: »Gehorchen.« Ich: »Woher weilst 
du denn das?» Antwort: »Weilst du, woher ich es weils? Von keinem, 
ganz von selbst.« 

Fertigkeiten. L. beherrscht die Schreibschrift vollständig (natür- 
lich nicht nach der Orthographic) lesend und schreibend. Sie rechnet 
in der Zahlenreihe 1—10 die Addition, Subtraktion uud Multiplikation ; 
die Division dagegen versteht sie noch nicht. Auch bei den drei ersten 
Rechnungsarten macht sie bei schwierigen Aufgaben noch Fehler. 

Begehren regt die Spekulation an. Wir haben mehrmals von 
einer Frau namens Dattel Birnen durch L. holen lassen. Sie möchte 
gern wieder Birnen holen und essen, sagt es aber nicht direkt heraus, 
sondern kommt auf Umwegen damit hervor: »Ich weils, wo die Frau Dattel 
wohnt.« Ich tuc, als ob mich das gar nichts anginge. Da geht L. 
schon näher auf das Ziel los: »Birnen schmecken gut.« Ich sage wieder 
nichts. Da fragt sie direkt: »Papa, soll ich Birnen holen? 

Unrichtige und richtige Zwecksetzung. Im Garten liegt eine 
Stange, mit der ich Obst von einem hohen Baume geschüttelt habe. Als 
dies geschehen ist, lasse ich die Stange von L. und Erwin hinter die 
Sträucher tragen. Sie liegt dort nicht im Wege und soll auch nicht von 
Dieben so leicht bemerkt werden. Die Kinder legen sich die Stange auf 
die Schulter und tragen sie mit vielem Vergnügen an den bezeichneten 
Ort. Erwin hat aber den Zweck des Wegtragens nicht erfalst. Er hielt 
es für ein Spiel. Nach einiger Zeit fragt er: »Papa, sollen wir wieder die 
Stange herumtragen?« Da belacht ihn L.: »Die muls doch da liegen bleiben !« 





Psychologische Beobachtungen an einem Kinde. 179 





Kombination. L. hat einen meiner Schüler namens Unruh, der 
vor einigen Monaten aus Berlin nach Schulitz gezogen war, einigemal in 
meiner Wohnung gesehen. Im Sommer komme ich von einem Besuche 
der Berliner Gewerbeausstellung zurück und erzähle meiner Fran, dafs ich 
dort einen bekannten Herrn namens Ortlieb aus Bromberg getroffen habe. 
L. hört das und sagt zu Erwin: »Der Unruh wohnt nicht mehr in 
Berlin. Er heifst Unruh Ortlieb.« Ich frage, wie sie darauf gekommen 
und erhalte zur Antwort: »Der Unruh aus Berlin war bei uns. Da hab’ 
ich seinen Namen gehört. Ein andermal habe ich gehört, dals du Ortlieb 
in Berlin getroffen hast. Dann habe ich das zusammen gedacht.« 


6 Jahre alt: 


Einfall und Kombination. L. kommt schnell in ein Zimmer 
zur Mama gelaufen und fragt: »Mama, wieviel Geld hast du bekommen, 
als du dich verheiratetest?« Die Mama weils zuerst vor Erstaunen über 
diese Frage nichts zu erwidern. Dann sagt sie: »Wie kommst du zu der 
Frage?« Antwort: »Ich möchte wissen, was ich einmal anschaffen soll, 
was ich kaufen kann: Tische, Spinde und anderes, wenn ich mich ver- 
heirate.« Das kommt nicht etwa altklug, sondern ganz kindlich - naiv heraus. 

Beurteilt etwas als unschicklich. Der vierjährige Erwin fragt 
mich: »Papa, kommt zu Weihnachten der Grolspapa?« Ich antworte: 
»Ich weils nicht; vielleicht.« Erwin: »Heilst nicht der Grolspapa Heinrich?« 
L. meint: »Nein.« Ich: »Natürlich heifst er so.« Da ruft Erwin mehrmals 
fröhlich aus: »Der Heinrich kommt !« L. belehrt ihn jedoch mit strafendem 
Tone: »Sag’ nur nicht so zum Grolspapa; sonst wird er böse!« 

Bei der Feier ihres sechsten Geburtstages sagt sie: »Ich bin so 
lustig, dals ich Geburtstag hab’« Sie erzählt es auch jedem, den sie 
trifft. Unter anderen Geschenken erhält sie ein Kinder-Elsbesteck, und 
sie darf von nun an mit den Eltern an demselben Tische essen. Darauf 
ist sie ganz stolz. Sie fragt jetzt fortwährend das Dienstmädchen nach 
ihrem Besteck: ob es schon geputzt sei ete. Sie sctzt sich auch lange 
vor der Mahlzeit voll Erwartung an den Efstischh — Sie hat ferner zu 
ihrem Geburtstage einen sogenannten Lichtteller bekommen: In einen Teller 
ist weilser Sand geschüttet worden, der dann festgedrückt wurde. Dann 
ist in die Mitte ein langes Licht, das Lebenslicht, gestellt worden. Rings 
im Kreise sind sechs kurze Lichte (nach der Zahl der bisherigen Lebens- 
jahre) eingepflanzt worden. Darüber freut sich L. sehr. Sie löscht 
die Lichte am Morgen bald aus, um das Vergnügen am Nachmittage 
wieder haben zu können. — Die Mama hat dem Erwin eine Tafel Schokolade 
gegeben, damit er sie der L. zum Geburtstage schenke. Diese schickt ihn 
aber bald zur Mama zurück, damit er sich dafür bedanke. Dann dankt 
sie ihm. 

Tätigkeitstricb. L. schneidet aus Papier nach eigenen Vor- 
stellungen Tische, Stühle, Spinde mit Konsolen etc. aus und stellt sie zu 
einer Zimmereinrichtung zusammen. Sie bringt damit viele Stunden zu, 
zuweilen ganze Nachmittage, beinahe ohne einmal anfzustchen. 

Vorstellung von cinem Honorarmalsstabe. Ich arbeite an 


]2* 


180 B. Mitteilungen. 


meiner Herbart-Bibliographie. L. sieht, dafs ich nun lange Zeit täglich 
viele Stunden schreibe. Da fragt sie: »Papa, wird das gedruckt, was du 
schreibst?« Ich antworte: »Ja.« L.: »In der Zeitung? Ich: »Nein, in 
einem Buche.« L.: »Ach so! Bekommst du das bezahlt%« Ich: »Ja.« 
L.: »Wieviel bekommst du für ein Pfund ?« 

Beobachtung und Spekulation. L. sieht durch das offen- 
stehende Fenster den Halbmond. Sie fragt: »Nicht wahr, Papa, jetzt sieht 
man »also« (in dieser Zeit ihr Lieblingswort) nur einen Fuls, den halben 
Bauch, den halben Kopf, den halben Mund, die halbe Nase und ein Auge 
vom Mann im Mond; aber sein Paket auf dem Rücken sieht man ganz; 
nicht wahr ?« 


3. Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich 
gefährdeten Jugend. 


Ein Reisebericht von J. Chr.H agen, Direktor des Schulheims zu Falstad bei Drontheim. 


(Fortsetzung.) 


3. Düsselthal, ein evangelisches Rettungshaus in der Rhein- 
provinz. 


Diese Anstalt liegt unweit Düsseldorf, sie ist für Knaben und Mädchen 
gemeinschaftlich und nach «dem Familiensystem eingerichtet. Sie zählte 
236 Kinder, 151 Knaben und 85 Mädchen. Sie wird zur Zeit von Pastor 
Karsch dirigiert, der zur Beihilfe 3 Lehrer, 9 sogenannte Brüder, 1 Vikar, 
1 Buchhalter und 1 Verwalter hatte. 

Die Mädchenabteilung, die unter der Oberaufsicht der Frau K. als 
Hausmutter steht, wird von 9 sogenannten Schwestern bedient. Von den 
Zöglingen der ganzen Anstalt waren !/, durch Verfügung des Landeshaupt- 
manns und 3/, durch Verfügung verschiedener Armenwesen und durch 
Private untergebracht. Die Kinder werden zuweilen schon im Alter von 
2 Jahren, in der Regel cıst vom schulpflichtigen Alter ab aufgenommen; 
die meisten sind jedoch im Alter von 5—6 Jahren eingetreten. Sie bleiben 
bis zu ihrem 14. Jahre und verlassen die Anstalt, nachdem sie konfirmiert 
worden. Sie werden alsdann in Lehre oder in Gesindestellungen unter- 
gebracht, und der Direktor hat Vormundschaftsrecht über einen Teil derselben 
bis zu dem 18. Jahr. Wenn sie sich bei ihrem Hausherrn oder Meister, 
der in fortwährendem Rapport mit der Anstalt steht, nicht gut betragen, 
bringt der Direktor sie bei einem andern unter; entweicht der Zögling, so 
wendet sich der Direktor an die Polizei mit dem Ersuchen ihn aufzusuchen, 
und diese vermittelt dann, dals der Betreffende geholt, und wieder beim 
Hausherrn untergebracht werde. Hilft das nicht, wird das Kind in eine 
Anstalt für Schulentlassene gebracht. 

Beschäftigung. Schule wird das ganze Jahr hindurch mit 4 Stun- 
den täglichem Unterricht gehalten; hier wie bei den übrigen Anstalten folgte 
dieser einem von der Regierung festgesetztem Unterrichtsplane und einem 
von dem städtischen Schulrat genehmigten Stundenplane. Die Schule war 
in zwei Klassen, jede mit 24 Stunden wöchentlich, geteilt. Die Nach- 


Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 1S1 











zügler erhalten an 2 Tagen der Woche 2 Stunden Hilfsunterricht. Zur 
Lektionsvorbereitung und Ausführung der schriftlichen Aufgaben werden 
täglich 2 Stunden (1/, morgens und 11/, abends) angewandt unter der Auf- 
sicht eines »Bruders«, der die Ordnung überwacht und dabei acht gibt, ob 
die Lektionen gelernt werden. Diese Arbeit geht in den betreffenden Fa- 
milienstuben vor sich. Das Ziel der Anstaltsschnle entspricht ungefähr 
dem der Stadtschule. Ich wohnte einem Examen der Knaben bei, die 
eben die Anstalt verlassen sollten. Es wurden schriftliche Aufgaben in der 
Muttersprache und im Rechnen gelöst, dieselben zeichneten sich alle da- 
durch aus, dafs sie beinahe fehlerfrei und von einer mustergültigen Prä- 
zision waren. Die Prüfung zeigte mir ein schönes Resultat korrekter 
Unterrichtsmethode. Das Lesen war ausdrucksvoll nnd zeugte von Be- 
herrschung des Stoffes; in der Grammatik zeigten sie solides Verständnis 
und gründliche Übung. Die übrigen Fächer Geschichte, Geographie und 
Naturkunde, hatten sie sehr gut inne. Erstaunlich waren ihre sicheren 
Begriffsdefinitionen und die reife seloständige Auffassung. Sie antworteten 
immer in geordneten Sätzen. Auch in dieser Anstalt zeichnete sich der 
Gesang durch Präzision und schönen Vortrag aus. Er ward nach Gehör 
dreistimmig eingeübt. 

Die Klassen beherbergten beide Geschlechter, und man fand, dafs 
diese Ordnung ihre grofsen Vorteile hatte. Es spornte in hohem Grade 
die Knaben an, mit den Mädchen in Fleils und Ordnung zu wetteifern, 
sowie das Wesen dieser gewissermalsen das Betragen jener dämpfte und 
milderte, während zur gleichen Zeit die Mädchen selbst etwas von dem 
keckeren, freieren und offneren Charakter der Knaben sich aneigneten. 

2. Körperliche Arbeit. Die Knaben werden im wesentlichen mit 
Gartenbau und in den leichteren Zweigen des Ackerbaues beschäftigt; 
doch schien es mir, dafs man sich allzuängstlich vor Überbürdung hütete. 
Sie wurden nicht im Kuh- oder Pferdestall und nicht zum Fahren ver- 
wendet; nur zum Teil zum Düngerstreuen, Kartoffelpflanzen und zum 
Ernten. Die übrige Gehöftsarbeit ward von den Knechten und den Brüderu 
verrichtet, die, während die Kinder zur Schule waren, als Arbeitsleute 
dienten. Die Aulsenarbeit war für die Kinder überhaupt ziemlich begrenzt 
und bestand wesentlich nur in den verschiedensten Gartenarbeiten. In der 
Anstalt befanden sich Schuster- und Schneiderwerkstätte wie eine Bäckerei 
und zum Gehöft gehörte eine Mühle. Mit dem Haushalt war eine Meierei 
verbunden, die an der Seite der Küche gelegen war. Die Knaben wurden 
nur in den Schuster- und Schneiderwerkstätten und zwar nur mit Flick- 
und Ausbesserungsarbeit beschäftigt. Alles Neuschaffen ward vom Schneider 
und Schuster getan. Jener wurde auch als Krankenwärter benutzt, weshalb 
je eins der Krankenzimmer an jeder Scite der Schneiderstube gelegen 
waren. Die Bäckerei und die Mühle wurden von einem Meister mit 
einem Lehrjungen bedient. 

Tagesordnung, 
Werktage: 
Uhr 51/, läutete die Anstaltsglocke zum Zeichen, dals der Tag beginnt. 
Sobald nun die Kinder angekleidet und die Betten in Ordnung 


152 B. Mitteilungen. 


gebracht hatten, wurde in jedem Abteilungsraum gemeinschaftliches 
Gebet gehalten. 

6-—7 (Lektionslesen) Lernstunde. 

T—7!/, Frühstück. 

71/,—S Gemeinschaftliche Andacht in der Kirche der Anstalt (Gesang, 
Bibellesen mit katechetischen Fragen und Gebet). 

8—12? Schule. 

12—1 Mittagsessen und Feiern. 

1—1!/, Schriftliche Arbeiten. 

11/,—4 Arbeit. 

4—4!/, Vesperkost. 

41/,—61/, Arbeit. 

61/,—7 Reinigungsarbeit. 

7 Abendessen. 

7!/, Gemeinschaftliche Andacht in der Kirche. 

8—S!/, Freizeit zum Spiel und dergl. 

S1/, Schlafen gehen. 


Sonntage: 


Uhr 6 stehen die Kinder auf; gemeinschaftliche Andacht im den Ab- 
teilungen. 

8—10. Die Zeit wird zum Lesen, Briefschreiben, Auswendiglernen 

eines Gesanges oder einer biblischen Geschichte angewandt. 

10 Gottesdienst. 

12 Mittagsessen. 

1!/,—2!/, Nachmittagskatechisation. (Den Kindern unter 9 Jahren 

hält während dieser Zeit eine »Schwester« Kindergottesdienst). 

21/, Kaffee. 

21/,—7 wird, wenn das Wetter schön ist, zum Spazieren (die einzelnen 

Gruppen unter Begleitung eines »Bruders«, resp. »Schwester«) 
oder längeren Ausflügen der gesamten Anstalt mit dem Knaben- 
musikkorps an der Spitze angewandt. Ist das Wetter nicht 
günstig, wird der Nachmittag mit Spielen, Vorlesen und sonstigen 
Lieblingsbeschäftigungen der Zöglinge verbracht. !) 

Die Behandlungsweise, das Verhalten der Kinder u. s. w. 
Unter genauer Befolgung obenstehender Tagesordnung ist das leitende 
Prinzip, soweit es möglich ist, die Familienerziehung nachzuahmen. Die 
Kinder sind darum in kleine Gruppen geteilt, Familien von 10 bis höch- 
stens 18 Kinder darstellend. Dieses Prinzip hatte schon der Gründer der 


1) Bei der Beschäftigung der Mädchen finde ich keinen Grund, mich länger 
aufzuhalten, da sie aufser in den gewöhnlichen häuslichen Geschäften (nach der 
Reihe Unterricht in Küchendienst, Waschen u. s. w.) nur in weiblichen Handarbeiten 
(Zuschneiden, Nähen, Stricken, Flicken, Stopfen u. s. w.) bestand. Schon vorher 
ist bemerkt, dafs sie den Schulunterricht mit den Knaben zusammen und ungefähr 
in demselben Umfange wie diese genossen. 


Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 183 





Anstalt, Graf v. d. Recke. als das Richtige erkannt; er begann seine 
Rettungsarbeit mit zwei Knabenakteilnngen, deren jede einen Lehrer und 
einen Aufseher hatte, während Schlaf- und Speisesaal gemeinschaftlich 
waren. Später ward das Prinzip in weiterem Malsstabe durchgeführt. 

Das altmodische Gebände, in welchem sowohl Knaben- als Mädchen- 
abteilung unter demselben Dache wohnen, erscheint mir doch nicht ganz 
zweckmäfsig. Im ganzen waren da 14 Familien, d. h. in Düsselthal 7 Knaben- 
und 4 Mädchenfamilien, in dem nahegelegenen Zoppenbrück 2 Knaben- 
und 1 Mädchenfamilie. Sowohl in der Knaben- als m der Mädchen- 
abteilung, die übrigens keineswegs streng geschieden waren, bilden die 
schulentlassenen Zöglinge eine besondere Familie. Die Knaben, die in der 
Anstalt unter der Aufsicht cines »Bruders« wohnen, sind in den nahe- 
liegenden Industrieanlagen, hanptsächlich Gielsereien und Maschinenwerk- 
stätten, als Lehrlinge beschäftigt. Die kleinen noch nicht schulpflichtigen 
Kinder machen eine Familie für sich aus. Jede Familie hat ihren be- 
sonderen Erzieher, der den Namen »Bruder« führt, der das beständige 
Überwachen hat und die Schulzeit (5—12 vorm.) ausgenommen, Tag und 
Nacht bei ihr sein muls. Anf diese Weise wird der Erzicher mehr mit 
den einzelnen Kindern vertraut. Auf den wöchentlichen Konferenzen 
(jeden Montag) haben »die Brüder« vor dem Direktor von besonderen Be- 
gebenheiten oder Beobachtungen in ihrer speziellen Familie Bericht zu er- 
statten. Im Besitz jedes »Bruders« ist darum eine »Gehilfen -Ordnung 
mit Anhang über Haus- und Anstandsregelne.!) Dieses Heft enthält aus- 
führliche Anleitung für seine Wirksamkeit samt Regeln über 1. körper- 
liche Haltung und Sauberkeit, 2. Ordnung in der Familienstube, 3. An- 
standslehre u. s. w. und ist zur Beifügung nener Vorschriften oder Regeln, 
Erklärungen oder Winke, die der Direktor bei den wöchentlichen Konfe- 
renzen gibt, interfoliiert. 

Es ist offenbar von grolser Bedeutung, zu diesen Diensten Leute zu 
bekommen, die durch Charakter und Lebensansicht Erzieher zu sein ge- 
schickt sind. Es können nur christliche Persönlichkeiten mit pädagogischen 
Anlagen und mit einem Herzen voll Liebe für die Kinder gebraucht werden. 
Sie müssen auch praktischen Sinn haben und wenigstens cine gute Ele- 
mentarschulbildung besitzen. Sie wurden meistens unter den christlichen 
Jünglingen des Bürgerstandes gefunden. Wegen des anstrengenden Dienstes 
der »Brüder« (sie waren ja nachts wie tags an ihre Wirksamkeit ge- 
bunden) sorgte der Direktor dafür, dals diese Stellungen so ökonomisch 
vorteilhaft wie irgend möglich seien, damit man die einmal Angestellten 
längere Zeit behalte. Leider hat auch diese Anstalt früher unter den Folgen 
zu geringer Besoldung leiden müssen. Die Erzieher (weibliche wie die 
männliche) erhielten zur Zeit 300 M nebst freiem Aufenthalt. Freie Zeit 
hatten sie nur einen Sonntagvormittag jeder sechsten Woche und einen 
Urlaub von acht Tagen im Sommer, doch nur, wenn cs die Verhältnisse 
erlaubten. Der Direktor arbeitete zur Zeit daran, eine durchgreifende 
Besserung dieser Verhältnisse durchzuführen. 


!) Herausgegeben vom Rauhen Hause. 


1854 | B. Mitteilungen. 


Das Düsselthaler Familiensystem schien mir grofse Vorzüge zu bieten. 
Es gibt zu grölserer Individualisierung, häufigerer und intensiverer Ein- 
wirkung auf den einzelnen Gelegenheit, erleichtert die Disziplin, verein- 
tacht auch die Übersicht über das Ganze und leistet grölsere Garantie 
gegen Ausreilserei. 

Es könnte jedoch scheinen, als ob der Begriff »Familie«, insofern die 
Anstalt als ein Ganzes mit dem Direktor an der Spitze als solche gelten 
sollte, nicht ganz zu ihrem vollen Rechte käme. Diese Zerstückelung des 
Beleges in Familien, jede unter ihrem »Bruder«, mulste wie mir schien, 
die innere Entfernung der Kinder von dem Haupt der Anstalt herbei- 
führen. Den Familien mangelt cs in der Tat am familiären Gepräge. Ihre 
Leiter waren verhältnismälsig Junge Menschen und zwar unverheiratet. Sie 
verblieben auch selten dauernd in dem Posten. Freilich nannten die 
Kinder den Direktor »Vater«e und seine Frau »Mutter«. Der wechsel- 
seitige Rapport aber, der dem Vater- und Mutternamen zu Grunde liegen 
sollte, kann doch unter dieser IJlausordnung und bei solch’ grolser 
Kinderzahl nur in etwas beschränkter Form stattfinden. Ich bekam 
darum auch hier das Gefühl, dals das Familiensystem dann erst seinem 
Zwecke ganz entsprechen würde, wenn man einen Schritt weiter ginge, 
d. h. statt einer grolsen Anstalt mit Bruderabteilungen kleinere Internate 
(mit ca. 15 Kinder) eimichtete, an deren Spitze ein verheirateter, päda- 
gogisch gebildeter, praktischer und fähiger Mann stünde, der Hausvater, 
und dessen Frau Hausmutter wäre Wenn diese Familienväter als Ge- 
hilfen einen jüngeren Mann nähmen, würde man der Idee des Familien- 
systems näher kommen. Fin grölseres Eigentum z. B. könnte auf eine 
Anzahl solcher Heime verteilt werden, deren jedes seinen kleinen Acker, 
u. s. w. hätte. Die gesamte Anlage mülste dann unter Oberleitung eines 
Direktors stehen. — Doch ziehe ich eine Ordnung wie die zu Düsselthal 
dem Massensvstem vor. 

Für die moralische Besserung konnte der Direktor keine Prozent- 
berechnung geben und wollte es auch nicht, da ihm solche Berechnung 
wertlos erschien. Er meinte, wenn ein Knabe einmal mit der Polizei 
in Kollision käme, wäre cs kaum immer korrekt, ihn zu dem nicht Ge- 
besserten zu zählen. und umgekehrt würde ein verschmitzter Bursche, der, 
ohne zuverlässig zu sein, besonderer Bestrafung auszuweichen wülste, 
nicht immer als gerettet zu betrachten sein. Man müsse, was immer man 
vermöge, an den Kindern tun; die Früchte uns zu zeigen, stünde dann in 
der Hand des Herrn. Durch Nachforschungen hatte er indes festgestellt, 
dals von den in den letzten 6 Jaluen entlassenen 292 Knaben 20 sich 
absolut schlecht betragen hatten. 3% hatten sich scheinbar recht gut be- 
währt, 83 gut, 60 einigermalsen gut, 35 befriedigend, 23 weniger be- 
friedigend; über 21 hätten gar keine Erkundigungen eingeholt werden 
können, 

Die am meisten hervortretenden Fehler und Laster waren 1. Unwahr- 
haftigkeit und Unchrlichkeit, 2. diebische Neigungen und 3. Unsittlichkeit. 
Am grölsten war die Anzahl der wegen grölserer oder kleinerer Unehr- 
lichkeiten Untergebrachten. Sie hatten oft nicht einmal das Gefühl des 


Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 185 





Sündhaften und Verkehrten dieses Lasters, ja sie waren sogar häufig direkt 
dazu in dem Elternhause angeleitet worden, Man hatte darum Vorsoige 
getroffen, dals die Kinder während sie frei und ungehindert innerhalb des 
Umkreises der Anstalt umhergingen, doch keine Gelegenheit hatten zu 
stehlen oder zu nehmen, was nicht genommen werden durfte. Nament- 
lich wachte man sorgsam darüber, dals sie nicht mit Geld in Berührung 
kamen. Dadurch wurde diesem Laster — der Neigung zum Stehlen — 
bei denjenigen, denen es zur Gewohnheit geworden, der Nahrıungsstoff ge- 
nommen, und in vielen Fällen wurde der Drang zum Stehlen auch unter- 
drückt. Allein wenn das Kind später wieder in andere Verhältnisse kommt 
und die Stimme des Gewfssens durch die vielen neuen Lockungen 
von draulsen übertäubt wird, kommt auch die alte Sünde wieder zum 
Leben. Es sei darum, meinte der Direktor, von der gröfsten Wichtigkeit, 
dafs das Kind so lange wie möglich in solchen Verhältnissen verbliebe, 
wo es wenig Gelegenheit zur Unredlichkeit habe. Dieses gilt besonders 
von solchen Kindern, welche mit erblicher Neigung zum Stehlen belastet 
sind. Es wird längere Zeit zur Ausrottung des angeerbten Lasters nötig 
sein. Direktor Karsch hatte gar keinen Zweifel, dafs erbliche Belastung 
ziemlich stark vertreten sei. Er erzählte von einem Knaben, der sowohl 
in als aulserhalb der Anstalt von dieser Schwachheit nicht los machen 
konnte, dals derselbe zu ihm gekommen sei und ihn gebeten habe, 
dals er in eine Stelle gebracht werden möchte, m der er so wenig wie 
möglich Versuchung zum stellen habe, da er so gern von dieser Sünde 
befreit werden möchte. Auch die Unsittlichkeit hatte tiefe und weit ver- 
breitete Wurzeln geschlagen; man kämpfte einen Kampf der Verzweiflung 
dawider. 

Der Direktor bezeichnete als Prinzip der Erziehungsmetliode der Anstalt 
folgendes: 1. die Kinder mit möglichst unverdorbener, christlicher Lutt 
zu umgeben, 2. sie zu täglichem einfachen Gebete aufzumnntern, 3. Gottes 
Wort nahe an ihr Herz zu bringen. Darum wurde grolses Gewicht darauf 
gelegt, dals alle Kinder der Anstalt, die das Alter von 8—9 Jahren 
erreicht, an der täglichen gemeinschaftlichen Morgen- und Abendandacht, 
an dem Gottesdienst und der jeden Sonntag regelmälsig stattfindenden 
Katechisation teilnahmen. Wie man sicht, wurde genau überwacht, dals das 
religiöse Leben zu jeder Zeit als Voraussetzung für jede moralische Ein- 
wirkung festgehalten werde. Allerdings wulste man sehr wohl, wie leicht 
Heuchelei bei den Kindern Eingang findet; das aber konnte nicht hindern, 
dals man nicht an den Erfolg dieses Systems glaubte. Es schien mir 
doch, als ob in dieser Bezichung hier und da etwas Schablonenmälsiges 
obwaltete, dessen Schädlichkeit glücklicherweise dadurch in allem wesent- 
lichen aufgehoben wurde, dafs die Anstalt in ihrem Direktor eine echte 
warm -Christlich und feingebildete Persönlichkeit hatte. Eine auf psychi- 
atrische Rücksichten begründete spezielle Behandlungsweise kam nicht vor, 
ebensowenig als in »N«. Es schien, dafs die Anschauungen Kochs noch 
keinen Eingang gefunden hatten, wenn man keineswegs blind dafür war, 
dafs anormale Zustände vorkamen. 

Hinsichtlich der Aufmunterungen soll bemerkt werden, dafs in dieser 


156 B. Mitteilungen. 


Anstalt Prämien und Belohnungen prinzipiell nicht ausgeteilt wurden, weil 
man glaubte, dafs das ungünstig wirke. Die Kinder sollten moralisch 
leben und ihre Pflichten erfüllen lernen, getrieben von der Freude und 
sefriedligung, die das vorbildliche Leben an und für sich verschafft. 
Es war, im Einklang mit diesem Prinzip, auch nicht die Rede von 
irgend einer Auszeichnung durch besondere Ehrenämter, Ehrenzeichen oder 
dergl., worüber ich aber wesentlich anders denke. Ein Ehrenamt vermehrt 
unwiderstellich das Interesse für die Arbeit und hebt die Selbstachtung. 
Die Knaben, die in den Schuster- und Schneiderwerkstätten arbeiteten, er- 
hielten indes 50 Pf. pro Monat. Dieses Geld wird vom Direktor aufbewahrt, 
bis sie die Anstalt verlassen. f 

Bekleidung. Jedes Kind hatte drei Hemden; Anzüge 4: einen 
zum Gebrauch beim Gottesdienst und bei Feierlichkeiten, einen zum 
Wechseln, wenn sie aus dem Gottesdienst kommen, einen in der Schule 
und einen bei schmutzigeren Arbeiten. Das Fufszeug war aus Leder. Die 
Kleider der Knaben waren nur mit einer Tasche versehen. 

Die Kinder aufserhalb der Anstalt, ihre Unterbringung 
in der Lehre u. s. w. Die Unterbringung der Kinder, sobald sie die 
Anstalt verlassen haben, besorgt die Anstalt, die Hilfe der oft in einem 
übeln Rufe stehenden Verwandten der Kinder ablehnend. 

Während die Mädchen am längsten, bis sie 16 Jahre alt geworden 
sind, in der Anstalt verbleiben, werden die Knaben in der Regel gleich 
nach der Konfirmation mit 14 Jahren hinausgesandt. Es geschah sogar, dals 
die Anstalt die weitere Ausbildung einzeluer selbst übernahm. Diese (etwa 
10—12 an der Zahl), die in naheligenden Fabriken Beschäftigung hatten, 
wohnten wie oben erwähnt, in der Anstalt unter der Aufsicht eines 
»Bruders«. Sie durften, soweit die Hausordnung der Anstalt es erlaubte, 
sich möglichst nach Wunsch einrichten, ihren Tabak rauchen, doch nicht 
innerhalb der Anstalt, auch durften sie allein ihre Spaziergänge zur 
Stadt machen, u. s. w. Diese freiere Behandlung der Knaben, wo sie das 
Anstaltsleben mit dem freien Treiben draufsecn in der Welt vertauschen 
lernen sollten, schien mir sehr richtig. Auf der andern Seite ist es von 
grolscr Bedeutung für diese schon älteren Knaben, dafs sie einige Jahre 
nach ihrer Konfirmation noch mit ihren Erziehern, zu denen sie vertrauens- 
voll aufschauen, verbunden bleiben; denn das Leben besonders unter 
Fabrikarbeitern bietet den Jungen eben nicht eine besonders gesunde mora- 
lische Luft. 

Die Verordnung des Landeshauptmanns über die Unterbringung der 
Zöglinge in der Rheinprovinz ist für die erörterte Frage malsgebend und 
wir verweisen darum auf dieselbe. (Fortsetzung folgt.) 


4. Die Versammlung des Vereins für Kinderforschung 


findet am 11. u. 12. Oktober d. J. zu Halle a. S. statt. Versammlungs- 
lokal: Grand Hotel Bode, Magdeburgerstr. 65 (Nähe des Bahnhofs). 
I. Eröffnungsversamnmlung: Sonntag, den 11. Oktober, 6 Uhr Abends: 


C. Literatur. 187 





1. Eröffnungsansprache durch den Vorsitzenden, Direktor Trüper, Jena. 
— 2. Begrülsung durch Stadtschulrat Brendel, Halle. — 3. Vortrag: 
Uber die Bedeutung der Stimmungsschwankungen bei Epileptikern, Univ. 
Prof. Dr. med. Aschaffenburg, Halle. 4. Das Kind und die Kunst, 
H. Landmann, Oberlehrer des Päd. Universitätsseminars in Jena. 

Nach Schluls der Verhandlungen geselliges Beisammensein im Ver- 
sammlungslokale. Dort sind auch Zimmer im Preise von 2 M an erhält- 
lich. In der Nähe des Bahnhofs befinden sich zu weiterer Auswahl zahl- 
reiche Hötels. 


U. Verhandlungen am Montag, den 12. Oktober, 81/, Uhr Morgens: 
1. Vortrag: Die ersten Zeichen der Nervosität des Kindesalters, Prof. 
Dr. Oppenheim, Berlin. 2. Vortrag: Das Werden der Zahl und des 
Rechnens im Kinde und in der Menschheit, Schnldircktor Dr. B. Wilk, 
Gotha. 3. Vortrag: Körperliche Ursachen geistig minderwertiger Leistungen, 
Kinderarzt Dr. Schmid-Monnard, Halle. — 4. Vortrag: Psychopathische 
Minderwertigkeiten als Ursachen der Gesetzesverletzungen Jugendlicher, 
Direktor Trüper, Jena. 


C. Literatur. 


Fuhrmann, Richard, IIerunter die Maske! Bamberg, Druck und Verlag der 
Handelsdruckerei. 96 8. 

Wie schon der Titel verrät, ist diese Schrift polemischer Natur. Sie ist »eine 
Anklageschrift gegen unsere unmoralische Moral und unser perverses Sexualleben«. 
Weil sie sich dabei auch über das Sexualleben der Jugend verbreitet, und angebliche 
Schäden in Erziehung und Unterricht berührt, dürfte ihre Besprechung in unserer 
Zeitschrift gerechtfertigt erscheinen. Für unsere Zwecke kommen vornehmlich 
folgende Kapitel in Betracht: Kap. II: ‚Wie wir an den Kindern sündigen« (S. 19 
bis 26), Kap. III: »Sexuelle Verirrungen der Knaben« (N. 27—32), Kap. IV: »Demi- 
Vierges« (S. 33—38), Kap. V: »Die Zeit der Geschlechtsreife und ihre Gefahren« 
S5. 39—48), Kap. IX: »Perversität in Literatur und Kunst« (S. 79—86). 

In Kapitel II rügt es Fuhrmann, dafs die Kleinen vielfach nicht von der 
Mutter ernährt, sondern mit Ammenmilch grofs gezogen werden. Das Kind werde 
hierdurch nicht so widerstands- und leistungsfähig und erhalte unter Umständen 
durch Vererbung die schlechten Eigenschaften der Amme. Ein weiterer Fehler 
werde in der ersten Erziehung dadurch begangen, dals man den sexuellen Trieb 
und damit eine ungesunde Frühreife hervorrufe. Dies geschehe zunächst durch 
Züchtigung der Kleinen in der Nähe des Afters. Auch hätten Dienstboten oft die 
rüde Angewohnheit, »um die Kinder einzuschläfern, an deren Genitalien Manipula- 
tionen vorzunehmen«. Von den Dienstboten würden sie dann später durch zweifel- 
hafte Gespräche verdorben; andrerseits ziehe man durch Verhätschelung den Eigen- 
sinn des Kindes grofs. Die Trennung der Geschlechter in der Erziehung 
des Knaben- und Mädchenalters sei ebenfalls nicht zu billigen. Dei geeignetor 
Überwachung sei das Zusammenleben von Knaben und Mädchen bis zum Beginn 
der Pubertät nur zu empfehlen. Uber die moderne Schulerziehung spricht Fuh- 


1SS C. Literatur. 


mann ein hartes Urteil. Der Verfasser scheint hierbei nicht dem Fehler der vor- 
schnellen Verallgemeinerung entgangen zu sein. Er nennt die Schule »ein immer 
mehr zur Maschine entartendes Institute. Es komme in derselben nicht darauf an, 
dafs das Erlernte ordentlich verdaut werde. Hastig betreibe man den Unterricht, 
welcher andererseits durch seine lange Dauer ermüdend wirke. Die Direktoren und 
Lehrer legten nicht Wert darauf, wirklich gebildete Menschen zu entlassen, welche 
gefeit seien gegen die Anfechtungen des Lebens, sondern sie sendeten nur »Speicher 
von Kenntnissen, geistige Wiederkäuer, voll von eingeimpfter Prüderie« in die Welt 
hinaus. Auch kümmere sich niemand um das physische Wohl der Schüler. Den 
Lehrern fehle gänzlich die so notwendige individuelle Behandlung ihrer Schüler. 
Manche hätten sogar schreckliche Launen, die sie ihre Schüler fühlen liefsen — 
sogenannte »Pikens auf diesen oder jenen, der sich dann ganz verraten oder ver- 
kauft fühle. 

Wir geben zu, dals die geschilderten Verhältnisse wohl hier und da anzutreffen 
sind; allgemein verbreitete Regelwidrigkeiten sind sie damit noch nicht. 

Ein weiterer Übelstand bei der Erziehung sei dann am schwerwiegendsten und 
folgenschwersten: Weder Eltern noch Erzieher belehrten die heranwachsende Jugend 
rechtzeitig in vernünftiger Weise über das Natürlich-Geschlechtliche. Das 
Mysterium reizte aber «die Wilsbegier, und die Phantasie führte die Knaben auf Ab- 
wege. Durch »erfahrenes Kameraden werde der Knabe, der nicht von berufener 
Seite belehrt worden sei, aufgeklärt; kein Wunder, wenn er dann der Versuchung 
unterliege und Onanie treibe. 

Es ist ja gewils, dafs allen Erziehern in Anbetracht dieser Tatsachen eine 
schwere Aufgabe erwächst. Nur charaktervolle ernste Persönlichkeiten 
können sie lösen.'!) 

Im 3. Kapitel verbreitet sich Fuhrmann über die sexuellen Verirrungen 
der Knaben. Die Hauptschuld an der zur Wollust entarteten Onanie trifft nach 
seiner Anschauung die Prüderie der Erzieher. Man müsse die Kinder recht- 
zeitig in vernünftiger Weise über das Wesen der Fortpflanzung aufklären. 
Hierdurch würde man dem Unheil vorbeugen. Für die an der Onanie erkrankten 
Zöglinge müsse man einen Blitzableiter suchen; d. h. »lafst sie ihren Lieblings- 
beschäftigungen recht viel nachgehen, vornehmlich, wenn diese mit körperlicher Be- 
wegung verbunden sind« (Turnen, Spielen, Spazierengehen). Daun würden sie abends 
ermüdet sein und nach dem Zubettgehen sofort einschlafen. Fuhrmann wamt 
besonders vor dem Genuls scharfer Gewürze, vor dem Alkohol und vor der Lektüre 
der berüchtigten »Kurpfuscherschriften«e. Gemüse und Obst, sowie Fleisch in mälsigen 
Portionen wird empfohlen. 

Die Leitung der weiblichen Jugend wird von Fuhrmann im 4. Kapitel nicht 
so eingehend besprochen als diejenige der männlichen Jugend im 3. Kapitel. Fuhr- 
mann meint, die Mädchen seien in ihren Kinder- und Pubertätsjahren dank ihrer 
natürlichen Veranlagung weit weniger der Versuchung ausgesetzt als Knaben und 
Jünglinge. Wie über den Unterricht der Knaben, so bricht er auch über den 


') Gelegenheit findet sich im Unterricht z. B. bei der Behandlung des Gebots: 
»Du sollst nicht chebrechen« und in der Naturkunde. Trotzdem gehen manche 
Lehrer stillschweigend mit Angstlichkeit an diesen »heiklen« Dinge vorüber. Allein 
sie täuschen sich, wenn sie annehmen, für die Jugend gelte »Ignoti nulla cupido« 
(d. i. das Unbekannte liebt man nicht); ja, wenn die ererbten Triebe nicht wären, 
dann würde dies Wort gelten. 


C. Literatur. 189 


»Töchterschulunterricht« den Stab.!) Doch auch hier scheint der Verfasser etwas 
vorschnell zu generalisieren. Die Gedankenarbeit ist nach seiner Ansicht in 
der Töchterschule eine »mechanische<«. Sinn für Hohes und Edles, für Einfachheit, 
für Ernst und Würde des Lebens werde nicht erweckt oder gehe, wenn er im Keim 
vorhanden, in der Seichtheit der modernen weiblichen Halbbildung 
unter. 

Fuhrmann geifselt in beredten Worten sodann die Sucht »unserer höheren 
Töchter<«, lüsterne Romane zu lesen, ja zu verschlingen und sich an der darin an- 
gedeuteten pikanten Sinnlichkeit zu berauschen. Die Moral werde hierdurch 
verdorben und die Seele nachts mit wüst-sinnlichen Träumen erfüllt, welche im 
Verein mit der mangelhaften Bildung und falschen Erziehung durch Eltern und 
Schule und unter dem Einflufs des laxen Pensions- und Grolsstadtlebens das Weib 
fin de siecle zeitigten. Fuhrmann zitiert als Belege seiner Behauptungen längere 
Stellen aus den Werken »Der Zeitgeist der modernen Literatur Europas« von 
Dr. Siegmar Schulze und »Also sprach Zarathustra« von Nietzsche (das Kapitel 
»Über die Keuschheit«). — Die Perversität in Literatur und Kunst beleuchtet er 
besonders im IX. Kapitel. Es ist traurig, dals die Worte dieses Kapitels so wahr 
sind. »Fast jeder Roman, fast jedes Drama unserer »Modernen« dreht sich um die 
sexuelle Frage, um sexuelle Raffiniertheiten. Den Stoff liefern stets gesucht schmutzige 
Gesellschaftszustände unserer Grofsstädte; im Vordergrunde das dekadente Weib, die 
personifizierte Lüsternheit. Alles hat nur den Zweck, die Phantasie zu reizen und 
sinnlich wollüstige Gefühle in dem Leser zu erwecken.« Dals diese Bücher (mit 
sinnlich obscönen Gestalten als TitelLildern) die Sinnlichkeit der Jugend erwecken, 
ist nur zu natürlich. Voll Heifshunger werden die darin in sinnlichem Gewande 
enthaltenen perversen Ideen und degenerierten Anschauungen aufgenommen. Eine 
vollständige Vergiftung des Herzens ist die Folge. 

Die Zeit der Geschlechtsreife und ihre Gefahren behandelt Fuhr- 
mann im 5. Kapitel. Er eifert hier besonders gegen den Milsbrauch, welcher mit 
dem Worte »Sinnlichkeit« getrieben werde. Er scheidet zwischen »Geilheite und 
»Sinnlichkeite. Geılbeit gilt ihm als raffinierte Wollust.?) Die Geilheit ist die 
Quelle alles Lasters, wie dies besonders Graf Leo Tolstoi betont. Fuhrmann 
weist auf die alten Germanen hin, welche sittenrein waren, aber mit dieser Sitten- 
reinheit naturgemäls eine grolse, echte Sinnlichkeit verbanden. »Geilheit« finden wir 
dagegen beim römischen Volke zur Zeit seines Verfalles. 

Im Gegensatz zu Paolo Mantegazza, welcher in seiner »Hygiene der Liebhe« 
die Onanie oder Masturbation als eine Erbärmlichkeit verdammt, äufsert Fuhr- 
mann von dem Jünglingsalter: »Besser ist wohl, vom Standpunkte kühler 
Vernunft die Masturbation, wenn sich der Geschlechtstrieb zwingend fühlbar 
macht, als sich der ausschweifenden Art der geschlechtlichen Befriedigung mit p1o- 
stituierten Dirnen hinzugeben, die im Grunde genommen nichts anderes 
ist als Onanie und überdies die Gefahr ansteckender Krankheiten in sich 
schlielst«e. (S. 44.) Unter Abwägung all dieser Verhältnisse wird Fuhrmann zu 
einem bereiten Anwalt der ‚frühen Ehe«, welche den im -Banne der Konvention 
stehenden Milieumeuschen« begreiflicherweise nicht zusage. Fuhrmann berührt 


1) An die Volksschule scheint der Verfasser nicht zu denken, ebenso auch 
nicht an die Jünglinge und Jungfrauen aus dem sog. »Vulke. 

2) In dieser Bedeutung wird das Wort auch Röm. 13, 14 gebraucht: >» Wartet 
des Leibes, doch also, dafs er nicht geil werde«. 


190 C. Literatur. 





hier eine Frage von der grölsten sittlichen und sozialen Tragweite. Ich wurde bet 
der Lektüre dieses Kapitels lebhaft an Augustin erinnert, welcher in seinen »Be- 
kenntnissen« seinen Eltern den Vorwurf macht, sie hätten durch die Veranlassung 
einer jugendlichen Ehe ihn vor dem Versinken in den Pfuhl der Wollust bewahren 
können. 

Herborn. Hermann Grünewald. 


Braunschweig. M., Das dritte Geschlecht. Beiträge zum homosexuellen Problem, 
Halle a. S., Verlag von Carl Marhold. 1902. 588. 

Der Verfasser beleuchtet in seiner Schrift (durch Beispiele belegt) die merk- 
würdige Erscheinung der »gleichgeschlechtlichen Liebes, eine Erscheinung, deren 
Kenntnis nicht nur für Sozialpolitiker, Richter, Anatomen und Pathologen, sondern 
auch für Pädagogen wichtig ist. »Nicht zum wenigsten werden Eltern und Er- 
zicher nur zu häufig sich bemülsigt sehen, Stellung zu dieser Erscheinung zu 
nehmen, die als homosexuelles Problem erst seit kurzer Zeit von wenigen in 
ihrer ganzen Eigentümlichkeit und Gröfse ernster Forschung gewürdigt ist«: Mit 
diesen Worten weist der Verfasser am Eingang seiner Schrift auf die pädagogische 
Bedeutung der homosexuellen Frage hin. Die näheren Ausführungen bietet er auf 
S. 40 ff. 

Zunächst entwirft Braunschweig eine geschichtliche Skizze über das Auf- 
treten der konträren Sexualempfindung. (S. 11-—-17.) Sodann charakterisiert er die 
verschiedenen mit dem geschlechtlichen Problem im Zusammenhang stehenden Er- 
scheinungen: Fetischismus, Sadismus, Masochismus, Onanie, Exhibitionismus, Nekro- 
manen und Koprolagnisten, illusionäre Kohabitation, lesbisches Laster u, a Für den 
Pädagogen kommt zunächst der Fetischismus in Betracht. Dieser tritt in ver- 
schiedenen Stufen auf: »Über die harmlose Verehrung des Schülers, der beim An- 
blick einer Mädchenlocke in unkontrollierbaren Sehnsüchten der unschuldigen Ange- 
beteten gedenkt, lächeln wir. Mit ihrer Intensität nimmt die Gefahr zu. Das 
Taschentuch, einen Handschuh des begehrten Individuums zu Götzen 
zu wählen, vor dem die Liebesfeuer angezündet werden, erscheint 
weniger harmlos, wenn daran Kleptomanie reifte. (S. 20.) Als Äulfserungen des 
Sadismus dürften im ‚Jugendalter besondere Mifshandlungen von Mädchen durch 
Knaben angesehen werden. Das Gegenstück zum Sadısmus ist der Masochismus. 
Ersterer ist aktiv; letzterer ist passiv. »Der Sadist bereitet Schmerzen, um sein 
Wollustgefühl zu schüren, der Masochist verlangt sie aus demselben Grunde für 
seine Person.«e (S. 21.) Die Bezeichnung Masochismus wurde von Krafft-Ebing 
geprägt. Letzterer zeichnete ein klares Bild eines Masochisten; wir finden es auf 
S. 23—25 der Schrift Braunschweigs. Ein neues Licht auf die verderbliche 
Wirkung der körperlichen Züchtigung werfen folgende Stellen aus dem 
von Krafft-Ebing mitgeteilten Bericht des betreffenden Masochisten: »Ich erinnere 
wich deutlich, als Kind mehrere wirkliche Züchtigungen, auch von weiblicher Hand, 
erhalten zu haben. Niemals war damit eine andere Empfindung als Schmerz und 
Scham verbunden; nic ist es mir eingefallen, solche Wirklichkeiten mit meiner 
Phantasie in Zusammenhang zu bringen. Die Absicht, mich zu strafen, erschütterte 
mich schmerzlich, während ich mit meinen Phantasiegobilden eine Ab- 
sicht voraussetzte, die mich entzückte. Auf einsamen Wegen im Waldo 
geilselto ich mich mit herabgefallenen Zweigen und liefs meine Ein- 
bildungskraft dabei im gewohnten Sinne spielen«e. (S. 23.) Eine andere sexuelle 
Erscheinung ist die »illusionäre Kohabitation«, welche an lüsternen Wor- 


C. Literatur. 191 


ten und unanständigen Bowegungen befriedigendes Genügen hat«. Sie wird 
gefährlich durch »das ansteckende Gift der Verführung«. (S. 27.) Schaufenster 
und Eisenbahn sind Pflegestätten dieses Übels. Man denke nur an die schlüpfrigen 
Schriften und Bilder, welche zum Kaufe ausliegen; man denke ferner an alle 
Obscöna, welche in der Eisenbahn, in öffentlichen Bedürfnisanstalten den Sinnen 
schriftlich und mündlich dargeboten werden! In Internaten und gemeinsamen Schüler- 
pissoirs kann der Exhibitionismus gezüchtet werden. Dieser besteht in dem 
Hang, die Geschlechtsteile entblölst zur Schau zu tragen. »Er besitzt die dämonische 
Kraft aus unschuldigen Menschen lasterhafte, aus armseligen Schwächlingen ver- 
derbte Gesellen zu machen«. (8. 27.) 

Auf S. 30—32 und S. 34 erörtert Braunschweig das Laster der Onanie 
beim männlichen und weiblichen Geschblechte. Ein »geradezu ungeheuerliches Dei- 
spiele von der Onanie eines fünfzehnjährigen Burschen finden wir auf S. 31. Die 
Onanie ist — wie Braunschweig S. 30 hervorhebt — »ein aulserordentliches 
Düngemittel zur Förderung urnischer Liebhabereiene (d. i. geschlechtlicher Verkehr 
nur zwischen männlichen Geschlecht). Dasselbe gilt auch von den weiblichen 
Onanisten. Diese werden vielfach zu Lesbierinnen und Tribaden (vgl. S. 34 ff.). 
Hinter der Onanie steht also immer das drohende Schreckgespenst der Homo- 
sexualität. 

Braunschweig ruft zum Schlusse (S. 49 ff.) die wahre Erzielung zur Hilfe 
an, während die Erziehung der Gegenwart von ihm hart verurteilt wird. Er äufsert 
u. a.: »Mit Ammenmärchen und verlogeuer Moral werden wir von Kindesbeinen an 
gefüttert, bis wir auf einmal sehen müssen, in welche Fährlichkeiten eine derartig 
vertuschende Pädagogik uns geworfen hat. — Bei einiger Sachkenutnis über das 
Wesen der konträren Sexualempfindung wird es Eltern und Erziehern nicht schwer 
fallen, sexuell pathologische Keime zu entdecken. Und jede mit ihnen in Verbin- 
dung stehende Regung im Kindesalter einzudämmen, zu leiten, abzuschwächen, um- 
zumodeln, heifst die verkehrte Geschlechtsempfindung an der Wurzel fassens. 
(S. 50.) »Verkehrte Triebrichtungen« sollen die Eltern nicht als »kindliche Harm- 
losigkeitene behandeln. Als Beispiel erwähnt Braunschweig den »Buben von 
zwei Jahren« einer ihm befreundeten Familie, dessen gröfste Freude ein nackter 
Arm oder ein entblöfstes Bein gewesen sei. Aus dem Knaben sei ein »ausgesprochener 
homosexueller Fetischist« geworden. 

Mädchen, welche eine offene Abneigung gegen Beschäftigungen, wie sie jungen 
Mädchen ziemen, an den Tag legen und Knaben, welche nur Sinn für Mädchen- 
spiele bekunden, sollen mit dem Erziehungsmittel der »wohlwollenden Ver- 
achtung« auf die rechte Bahn geführt werden. 

Weiterhin soll man die »unmoralische Moral des Storchmärchens« bekämpfen, 
jenes »Pharisäertum, welches das Feigenblatt für die vollendetste Schöpfung hält 
und binterdrein die heimliche Zote sich zum Nachtisch hinter Vorhängen servieren 

Herborn. Hermann Grünewald. 


Ziegler, K, -Unsere schwachen Kinder-. Acht Briefe für Väter und Mütter. 
Idstein, Verlag Erziehungsanstalt, 1903. 85 S. Preis 0,80 M. 

Der Verfasser will den vorzugweise Ichrhaften Charakter vermeiden und sieh 
mehr »intimeren, tiefere Gemütssaiten berührenden Reflexionen. hingeben. Zwar 
will er Vätern und Müttern auch mit heilpädagogischen Belehrungen und Rat- 
schlägen an die Hand gehen, ihnen daneben aber besonders noch Trost und Zu- 


192 C. Literatur, 


spruch in ihrem Unglück bieten. Er hat dafür die Briefform gewählt, die ja in dieser 
Beziehung vielleicht auch eher anspricht. Solchen Trost und Zuspruch gewähren, 
ist keine leichte Aufgabe. Die Sorge und der Gram um das von der Natur ver- 
stolsene, aber von den Eltern nicht selten überstark geliebte Schmerzenskind be- 
lasten das Elternherz aulserordentlich schwer, zumal wenn dann noch das Gewissen 
anklagt, dals durch das unglückliche Kind elterliche Sünden heimgesucht werden. 
Ziegler meint: wenn man unmittelbarer Augenzeuge solch schmerzlichen Ringens 
ist, dann kann die innige, aufrichtige Teilnahme mit seinen leidenden Mitmenschen 
nicht fern bleiben, da drängt es zu ein paar guten und freundlichen Worten des 
Trostes und der Aufmunterung. Und die hat er hier zu geben versucht. 

In dem Naturgeschehen, in der Kette von Ursachen und Folgen, kann hier 
allerdings wenig Trost gefunden werden. Man mus hineingreifen in eine andere 
Welt und in dem Glauben, dafs denen, die Gott lieben, alle Dinge zum besten 
dienen, sich in Ergeberheit dem Schicksal beugen lernen. Wo aber der Glaube 
anfängt, da hört die Wissenschaft und die äulsere Erfahrung auf. Die innere Er- 
fahrung ist subjektiver Art und schreibt deswegen auch der Kritik Glaubensfreiheit 
vor. Wer darum in seinem subjektiven Empfinden Herrn Ziegler auch nicht 
immer folgen kann, wird doch gern das Buch bedrückten Vätern und Müttern in 
der Hoffnung, dals dadurch die dunklen Stunden ihres stillen Kummers ein klein 
wenig erhellt werden, in die Hand geben. 

Das Buch will aber auch zeigen, wie fremde Liebe und fremde Hände sich 
sorgend bemühen, den Schmerzenslieblingen der Eltern ein möglichst angenehmes 
Dasein zu verschaffen und dwch anstaltliche Fürsorge ihnen mehr Förderung an- 
gedeihen zu lassen, als das Elternhaus es vermag. Bekanntlich schrecken viele 
Eltern zurück, ihr Schmerzenkind einer Anstalt anzuvertrauen, selbst dann, wenn 
die dringende Pflicht es gebietet, den sämtlichen Kindern noch lange eine nerven- 
gesunde Mutter zu erhalten und die übrigen Kinder nicht durch das Schmerzens- 
kind in ihrer Entwicklung nachteilig beeinflussen zu lassen. Da ist das Buch 
Zieglers wohl geeignet, den Eltern zu zeigen. dafs ein solches Kind in den guten 
Anstalten gut aufgehoben ist, dals auch hier Liebe und Fürsorge walten und dals 
es nur heilsam ist, wenn dieselben nicht wie bei mancher Mutter durch starke 
Affekte zum Ausdruck kommt. 

Hilfsschullehrer und Anstaltsleiter tun also gut, in ihrem eigenen wie der 
Eltern Interesse das Büchlein diesen angelegentlichst zu empfehlen. Unsere Leser 
aber finden in zwei Briefen der Schrift alte und gewils auch liebe Bekannte. 

Li; 


Eichholz, Dr. med. und Sonnenberger, Dr. med., Kalender für Frauen- und 
Kinder-Ärzte. Bad Kreuznach, Verlag von Ferd. Harrach. Elegant gebunden 
in Leder. Preis 2,50 M. 

Für Frauen- und Kinderärzte cin unentbehrliches Taschenbuch. Verschiedene 
wissenschaftliche Aufsätze beanspruchen auch das Interesse des Kinderpsychologen. 


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Druck von Hermann Beyer & Söhne (Boyer & Mann) in Langensalza. 

















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A. Abhandlungen. 


1. Einige Untersuchungen über das Gedächtnis bei 
Schwachbefähigten. 
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Marx Lobsien, Kicl. 


(Schluls.) 


B. Untersuchungen an Imbezillen. 


Ich stelle zunächst die Ergebnisse zusammen, geordnet nach den 
beiden Klassen. Die Werte sind Prozentangaben. Klasse III: Durch- 
schnittsalter 11—12 Jahre, Klasse IV: Durchsehnittsalter 10—11 Jahre. 


Knaben: 


Art des Gedächtnisses 














j | | P a | ; 
=i g Si eg Fo 
! 4 = m u: er 
Stufe u N EE E E AO a 
BE 5: A l © % © D 2 a T, kh R] 
5 i = E — S A zn A S == 77 — g: = 
at F = z2 7 7 Z æ 2 E = 
y Q, = e A E E E i 
2 = = ae 
© = = = | z 
et TE eE EEE NEBEN = 
In. ee BSımli aaa, % 
Iy: EE SS LE SE TE TE 5 


Die Stufen habe ich analog den Versuchsergebnissen an normalen 
Schülern bezeichnet. 
(Siehe Tabelle S. 194.) 


Die Kinderfchler. VII. Jahrgang. L3 








194 A. Abhandlungen. 


ne een Sn md mn nn 





Mädchen. 








Art des Gedächtnisses 


| 
| 


| | A 
< < 
P | e wi. S felg |g 
Stufe T ® N De. a ae 
= z | 8 gZ aa! 25 o D2 s 
2 E > El ES] EEJ DE = 
= 7 D zej z2 ErilEE er 
=: © E ie = Qu: D ' tt p & 
> ez En ne, R ı o? 
F > | © in: E- 
Tr T O a e ` | 
II, 93 öl | 3; 56 | 2 j 3 | 4 | 13 
IV. 58 38 | 1 | 22 | 21 | 29 | 15 — 


Vergleicht man die beiden Tabellen, so findet man im allgemeinen 
das früher gefundene Ergebnis bestätigt, dafs die Mädchen in der 
Energie des Gedächtnisses den Knaben überlegen sind, aber die 
Distanz ist merklich herabgedrückt und oft zeigen sich auch die 
Knaben den Mädchen überlegen. 

Von wesentlich grölserem Interesse ist ein 


Vergleich mit den Normalwerten. 


1. Es darf offenbar aus den Normalwerten auch das Vorherrschen 
dieser oder jener Gedächtnisseite sowie das Verhältnis der Werte 
untereinander als Norm angesprochen werden. Um einen Überblick 
zu gewinnen, stelle ich die (resamtergebnisse der Knaben und Mädchen 
für die Stufen UI und IV nur bei den Tabellengruppen zusammen.. 
Als Normalwerte fand ich Stufe: 


JII. 

92 57 2 65 67 64 21 
oder 

9 6 T 7 7 6 2 





ze, eo rs e 


Vergleicht man damit die zugehörigen nichtnormalen Werte: 


II. 





Lossien: Einige Untersuchungen über das Gedächtnis bei Schwachbefähigten. 195 





IV. 

6: He nz: ee ee 2 
Å | \ un | S — 

— 2 — 3 +1 +0 +1 —1 +0 
Dann gewahrt man, abgesehen von den Wertangaben über Ge- 
dächtnisenergie für reale Dinge und für sinnlose Lautkompositionen, 
bei den normalen Kindern in den Differenzwerten eine 
sehr grofse Stetigkeit, Übercinstimmung in der Ausbildung 
der verschiedenen Gedächtnisseiten. Dem entspricht bei 
den abnorm Begabten eine bedeutende Ungleichmälsigkeit. 
Neben relativ bedeutenden Gedächtnisleistungen auf diesem Gebiete 

finden wir auf anderen solche von ganz minimalem Werte. 








2. Die Differenz in der Gedächtnisleistung der Imbezillen gegen- 
über den Normalen in Zahlen anzugeben, hat bei den vorliegenden 
wenigen Untersuchungen!) gewils seine Bedenken. Unter dem Vor- 
behalt, dafs man sie vorsichtig aufnehme, will ich die Berechnung 
trotzdem anstellen, weil mir gerade diese Seite solcher Untersuchungen 
von besonderer Bedeutung scheint. Denn ich bin der festen Über- 
zeugung, dafs gerade experimentelle Gedächtnisuntersuchungen sch wach 
befähigter Schüler in hohem Mafse geeignet scheinen nicht nur 
wichtige pädagogische Fingerzeige zu bieten, sondern vor 
allem auch ein sicheres Urteil zulassen hei der Aufnahme 
Schwachbegabter in die für sie bestimmten Unterrichts- 
anstalten. Die Gedächtnisuntersuchungen geben den allgemeinen 
sicheren Rahmen ab, in den dann die weiteren Intelligenzprüfungen 
und ärztlichen Untersuchungen sich einfügen. Selbstverständlich darf 
man solche Leistungen von Untersuchungen vorliegender Art erst 
dann erwarten, wenn sie in möglichst grofser Anzahl an mög- 
lichst vielen Anstalten angestellt worden sind und so eine 
zuverlässige Norm abgeben können, an der dann einzelne Beob- 
achtungen wie etwa bei der Aufnahme oder bei den Prüfungen sich 
messen. Ich mufs dann weiter noch zu bedenken geben, dafs es sich 
hier um Klassenleistungen handelt, dafs natürlich die einzelnen Zög- 
linge in sehr verschiedenem Mafse minderbefähigt sind. Einwände. 
die man aus diesem Umstande etwa erheben wollte, kann man mit 
dem Hinweis darauf begegnen, dafs auch die Normalwerte der Aus- 
druck der Klassenleistungen sind. Übrigens will ich weiter unten auf 
diese Unterschiede kurz näher eingehen. 


1) Jene Untersuchungen erstrecken sich auf über 30000 Einzelbeobach- 
tungen. 
13* 


196 A. Abhandlungen. 








Differenzwerte der Knaben. 

Wie die schwache Befähigung sich in geringeren Gedächtnis- 
leistungen äußert, so hat man umgekehrt in dem Differenzwert gegen 
die Norm einen Ausdruck und ein Kennzeichen der Imbe- 
zıllität. 

Stufe III. 








Art des Gedächtnisses 


| 
| 
| 


| 
| 
| 











p) > | = | = x | S ] 5 | 
Kinder 05 D nn 332: 235 % zur 
S =: S oo 27 835 29 88! 5 
5 l =. Er Q, £ = e ep Ga w 
oa | p — — ge} 2” nn - E: | far 
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en ee Ba a a ar 
Normal 0, 5,0 | 60 — 63 , 73 | 55 | 20 
Imbezill oA, j 33 | 4 | 4 7 
z l č i ) 
Differenz W 15 |2 | 4 30 99 | l4 , 18 
j f t l 


Eine Differenz gegenüber dem normalen Gedächtnis weisen alle- 
Seiten auf. Während der Minuswert bei den visuellen Vorstellungen, 
die wörtlichen Ausdruck finden, auffallend gering ist, zeigt sich 
auf andern Gebieten ein erschreckend hoher Wert: auf dem der realen 
visucllen Reize ist «die Getdächtnisenergie fast um 1/ mehr als 1/, 
auf dem der realen Geräusche, fast 1/,, wo es sich um akustische 
und visuelle Wertinhalte, beträchtlich mehr als t, bei den sinnlosen 
Lauthäufungen minderwertiger. Diesen zuletzt genannten hohen 
Werten gegenüber ist der minimale von +4 allerdings nicht wenig 
auffällig, zumal dem Wert der ersten Kolonne von 20 gegenüber: 
doch, die zu geringe Anzahl von Beobachtungen bedenkend, halte ich 
eme Vermutung, die der Deutung dienen könnte, zurück. 

Die (esamtgedächtnishöhe der Normalen gegenüber den imbe- 
zillen Knaben verhielt sich auf dieser Stufe wie 488 : 342 oder 
rund wie 

Da 

Dabei gilt es wieder noch zu bedenken, dafs es sich um Klassen- 
werte handelt, noch nicht um den Vergleich der Gedächtnisleistungen 
von imbezillen Minuswerten innerhalb dieser Klassennorm. 

Insbesondere offenbart sich ein Unterschied in dem Gedächtnis 
für Wörter überhaupt wie 

N 64:1 46 

Das Gedächtnis für Lauthäufungen betrug N: Y,, I: aber nur 

14 des Gedächtnisses für sinnvolle Wörter. 





Lossen: Einige Untersuchungen über das Gedächtnis bei Schwachbefähigten. 197 





Die Gedächtnisenergie für reale Reize gegenüber den zugehörigen 
durch das Wort vermittelten Vorstellungen erwies sich bei den Minder- 
begabten zwar herabgesetzt, doch zeigte sich das Verhältnis beider- 
seits übereinstimmend. Ich fand: 

N:15:13 
I: 7:4. 


IV. Stufe (Knaben). 





Art des Gedächtnisses 











i | A l A A Pr 
(ep) 1 1 + 3 PN 
Kinder % De ee ah rs = 
= PR 2 D, 2 T2’ > o iE D 
=: 2 ®© ı E = Z u = Z z=, + 
zy 2 = ie z6 # k? ® 
=æ = J3 a 3 S I 
© | © © © © 
D | = | 2 = = | 
Normal 87 | 5 | 49 55 18 57 38 12 
Imbezill 62 ı 4 : 15 |? 23 18 31 20 5 
Differenz 25 l4 ' 34 ` 32 30 26:18 7 


(Siehe Zeichnung der Kurven S. 198.) 

Der für die III. Stufe entworfenen Tabelle gegenüber bedeuten 
diese Differenzen durchweg größsere Werte, Werte, die zu dem Er- 
gebnis führen möchten, dafs auf den jüngeren Altersstufen sich die 
Schwachbefähigung in zum Teil viel höherem Maße der Norm gegen- 
über bemerkbar macht, eine Erscheinung, die sich teilweise durch 
die Auslese, welche die Einteilung in verschiedene Klassen bedingt, 
erklären läfst, andrerseits aber auch aus dem Umistande, dafs, nach 
Ausweis der Normaltabelle von der V. zur IV. Altersstufe für manche 
Seiten der Gedächtnisentwicklung ein starker Aufschwung nachweis- 
bar ist. 

Die Gesamtenergie der Norm gegenüber I prägt sich aus: 

N 401 : J 215 = 4:2 
Der Unterschied im Wortgedächtnis stellte sich: 
N 48:1 20 

Das Gedächtnis für sinnlose Wortbilder gegenüber dem für 
Wörter normiert sich N = !/, und I = 1. 

Den Wert des Realgedächtnisses gegenüber dem Wortgedächtnis 
berechnete ich: 

N = 14:10 und I = 10:4 

Die Differenzen aus allen Knabenversuchen auf diesen Alters- 

stufen betrugen: 





98 A. Abhandlungen. 





te- 


J < N 2. > = = m 
z > = 2 A Q, = 
wa Ag: — mi er 
© © A < 
S 5 = 7. Z 2 
L © + = s S 
` u 
Er 
e T 
I. Gesamtenergie: N 4,5 : I 25 


~o 


IM. Wortgedächtnis: N 11: I 
IH. Wortgedächtnis: N = 14,5 : 11,5 
IV. Realgedächtnis: I = 8,5 : 40. 

Die Versuche zeigen deutlich ein bedeutendes Übergewicht in 
der normalen Gedächtnisenergie gegenüber der abnormen und dann 
im besonderen noch, wie ungleich fester Wort und Vorstellung 
bei dem normal begabten Kinde assoziiert sind, wieviel 
nachdrücklicher das unmittelbare Veranschaulichen bei den 
Imbezillen zu pflegen ist. 

Mädchen. 

Ich kann mich nun darauf beschränken, die Tabellen über die 

Mädchenversuche kurz unter sich und die Gesamtergebnisse mit den 


oben angedeuteten zu vergleichen. 





Lossen: Einige Untersuchungen über das Gedächtnis bei Schwachbefähigten. 199 


III. Stufe. 





Aıt des Gedächtnisses 

















| | Z Br 
S F| S |fe g To 
Kinder on D N 2n| 258 ar Aa — 
5 S: = o E 24 epg 2 S = 
(ra = et — o p< 57 — =. > S: Z 
S: © t 5515 S, goa 5 F S 
a | 8 |% Telg on 
| | f | B | - BE 
Normal 94 6 | 74 ; 73 | 72 | 71 | 73 | 28 
Imbezill 93 51 31: 56 522 36 | 49 13 
Differenz 1 5 43 | 17 | 50 35 | 24 | 15 
IV. Stufe. 
Art des Gedächtnisses 
| 4 | Ee < < 
2 | o | 8 la slá |a 
Knaben A N a Ż z Aal 26 & 
B ı & = o 2 Da ©, g E an = 
= | 2 S | B2|ER|ErT|ISE g 
= E = g ® a Z J ag l 
ce I e o € © © 
© = = = = 
_ | | | | | 
Normal 76 | 46 | 62 | 56 | 55 | 5s | a3 f 10 
Imbezill ie 38 11 2» 021 | 2 | 35 n 
Differenz 8 | 51 | 32 | 34 | 3 | 38 | 10 


(Siehe Zeichnung der Kurven S. 200.) 
Die dritte Stufe weist eine Gesamtdifferenz von 190 auf gegen- 
über 233 der vierten. Die Vergleichswerte gegenüber der Norm be- 
rechnete ich auf: 


I. Gesamtenergie: 


Stufe II: N = 541 : I = 951-5 :4 
P Se E APESE 
II. Wortgedächtnis: 
Stufe II: N = 4: I = 2 15:15 
„DW:N=-5:1- 15 i ? 
III. Real- : Wortgedächtnis: 
Stufe II: N =6:7 
I=5:2 |N = 65: 
w IVEN Tao I = 5,5 : 25 
I=6:3 


Rechnet man diese gefundenen Werte in Dezimalbrüche um, 


200 A. Abhandlungen. 




















I 


uəjqez 
JSTO A HE 
"ISIOAISUL, 


"ISLO SIA 


un 
.* ud 

D 
Ep, z 
D = 
IQ 7 
O aa 
> => 
A 5 





'JSIOAS[UNFOH 


dann hat man offenbar eine Form gefunden, in der sie unterein- 


ander vergleichbar sind: 


Mädchen: 


I. Stufe HI und IV = 0,66 
I. „UI, IV = 043 
I. „ MH ENTE | 
I: I = 0,45 
Knaben: 
I. Stufe HI und IV = 0,55 
IL. „ II „IV = 054 


IM. „ m„ MW N:N — 079 
I: I= 0,4 


0,79 : 


: 0,45 


0,47 


Logsien: Einige Untersuchungen über das Gedächtnis bei Schwachbefähigten. 201 


u 





~ 
1 
A 


In dieser Berechnung ist überall N —= 1 gesetzt. Die Mädchen 
zeigen sich in der Gesamtenergie den Knaben überlegen, denn während 
diese, der Norm gegenüber, gewertet werden konnten mit 0,55, kam 
auf jene 0,66. Im \Wortgedächtnis waren hingegen die Knaben den 
Mädchen voraus. Endlich ergab sich für den Vergleich der Ge- 
dächtnisenergie für sinnvolle Wörter gegenüber den Wortbildern. 
entsprechend der einfachen Formel: 

0,92 : 0,45 = 0,79: x 
x = 0,59 
nicht, wie oben für Knaben gefunden wurde 0,47, sondern dafs diese 
wenigstens relativ den Mädchen überlegen waren. 

So zeigen auch diese wenigen experimentellen Beobachtungen 
charakteristische Unterschiede in der Gedächtnisenergie normaler 
Knaben und Mädchen und schwachbefähigter untereinander. Dort 
fand man durchgehends ein Dominieren des weiblichen Ge- 
schlechts. — Ich möchte dem Leser überlassen, weitere Vergleiche 
nach den obigen Tabellen anzustellen und mich mit der Bemerkung 
begnügen, dafs mir neben sonstigen Intelligenzprüfungen gerade auch 
die Gedächtnisuntersuchungen an schwachbefähigten Schülern, wenn 
sie mit genügender Sorgfalt und in gehörigem Umfange angestellt 
werden, gar wohl geeignet scheinen, das Mafs der Minderbegabung, 
dessen Zu- oder Abnahme und manchen dankbaren Fingerzeig für 
die praktische Behandlung der Minderwertigen zu bieten. 


C. Vergleich nach den Minuswerten auf den verschiedenen 
Altersstufen. 


Trotzdem ich sehr wohl weils, dafs ich zum Schlußs mich auf 
ein durch die vorliegenden Untersuchungen noch weniger gesichertes 
(rebiet begebe, möchte ich das schon deshalb nicht unterlassen, um 
einigen Mifsdeutungen vorzubeugen. 

Schon in den Normalschulen ist der Prozentsatz derer nicht 
gering, die, ohne doch zu den Minderbefähigten gerechnet werden zu 
dürfen, »sitzen bleiben«e. So finden sich in jeder Klasse Alters- 
differenzen. Wo diese Altersunterschiede bedingt sind durch 
schwächere Befähigung, wird offenbar cin Vergleich zwischen zwei 
annähernd gleich fähigen Schülern zu Gunsten des Jüngeren ausfallen 
müssen. Diese Altersunterschiede sind naturgemäfs in den einzelnen 
Kursen der Hilfsschulen noch größer und für die relative Wertung 
‘der Imbezillität spielt das Alter eine ungleich wichtigere 
Rolle als in jenen Bildungsanstalten. 


902 A. Abhandlungen. 








Auch bei den vorliegenden Gedächtnisuntersuchungen ist uner- 
läfslich, die Altersstufe einzurechnen. Die voraufgegangenen Unter- 
suchungen bestimmten lediglich das Durchschnittsalter der 
klasse. Hier soll nun der Versuch gemacht werden, die gleich- 
alterigen in gleichem Sinne Minderbefähigten bezüglich 
der kedächtnisenergie zu vergleichen. Leider konnten sich 
meine Beobachtungen nur auf 10 bis 10 1/, jährige Schüler erstrecken. 
Ich hatte die Herren, die in licebenswürdigster Weise ihre Unter- 
stützung zusagten, gebeten, jeden Zögling gegenüber dem gleich- 
alterigen Normalschüler durch einen Bruch zu werten. So fand ich 
Schüler bezeichnet als 2/3, Ya, 4; und 1/, normal. Ich weils sehr 
wohl, dafs diese Art der Schätzung ihre Bedenken hat, sie setzt Er- 
fahrung, ruhiges Erwägen voraus und ist trotzdem oft nicht wohl 
ausführbar, weil eben die Begabung nicht einheitlich ist. sondern 
ihrem Wesen nach sich aus Komponenten zusammensetzt, von denen 
bald dieser, bald jener in den Vordergrund sich drängt. Die Werte 
sind nicht das, was sie scheinen, exakte Malsbestimmungen. 
Derartig sichere Mafse können wir auch hier nur gewinnen 
auf experimentellem Wege. Ich bitte die nachfolgenden Aus- 
führungen lediglich als ein Beispiel zu betrachten, in dem 
versucht wird, den umgekehrten Weg einzuschlagen, nicht vom Ex- 
periment aus zu festen Werten zu gelangen, sondern umgekehrt eine 
solche Schätzung hinterdrein durch den Versuch zu bestätigen. Ge- 
rade unter so unsicheren Verhältnissen wie den vorliegenden wird 
man zwar einerseits einen nicht zu scharfen Malsstab anlegen, audrer- 
seits aber wohl in einer Übereinstimmung zugleich die Bestätigung 
dafür erblicken, dafs der N. 201 gegen Ende ausgesprochene Gedanke 
wenigstens nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen ist. 


Ergebnis: Alter 10—10!/, Jahre. 





























laute . 2 2020200. 1 1 — 


Begabte z 3 i 2 hs e 4 
| | ElSsIElEeIE[5|5 
Gedächtnisart 2168 » | 5 > = > mw: 
© | A Č j =a © S © E 
Sr, m ee nun. st ehe koa 5 MES en ee | È = | 5 
Gegenstände 18 | 67 60 60 23 | — 29 | ee 
Geräusche . Be 45 | 56 33 32 10 | — 10 ; — 
Zahlen... a 88 | 4 j 10 | 10 | 10 | 20 | — 
vis. Vorstellung. . . | ,45 | 56 33 32 10 | sà zš = 
ak. Vorstellung . . . 25 | 32 33 32 2 | — un = 
Tastvorstellung . . . 45 32 >. | 32 22 — 10 | — 
Gefühlsvorstellung . . 20 $5 2 | 22 10 — 10 | — 


| 
| 
| 
| 








Barger: Ein Beitrag zu dem Kapitel »psychopathische Minderwertigkeiten«e. 203 





Zunächst mufs man sich vergegenwärtigen, dafs die Ziffern- 
angabe, die selbst nur durch Schätzung gewonnen wurde, nicht für 
alle Seiten des Gedächtnisses zutreffend sein werde Wäre dem so, 
dann brauchte man offenbar nur die einzelnen Werte zu verrechnen: 





Ca 1,3 
2 
I= Ix? 
MI = IH x 3 
vV_-IVx4 


und müfste dann auf den berechneten Normalwert kommen. Es 
hiefse selbstverständlich das Wesen des vorliegenden Experiments 
und des psychologischen überhaupt. vollkommen verkennen, wollte 
man derartige Anforderungen stellen. Zunächst beruht die Wert- 
angabe auf Schätzung, dann aber arbeitet das Experiment nirgends 
mit derartig exakten Mafsen, man darf niemals vergessen, dafs seine 
Mafsbestimmungen zu ganz überwiegendem Teile der Wahrscheinlich- 
keitsrechnung unterworfen sind. Es kann nicht dringend genug vor 
derartigen Hoffnungen und Anschauungen gewarnt werden. So auch 
kann die obige Tabelle höchstens den Nachweis erbringen, dafs im 
allgemeinen die Schätzungsziffern mit den Untersuchungsergebnissen 
übereinstimmen; auch dann, wenn sie sich lediglich auf die Ge- 
dächtnisenergie beschränkt hätten, dürfte man ein Mehreres nicht er- 
warten. 

Ich beschränke mich auf die Versuchsergebnisse mit Knaben, 
die nicht lückenhaft waren wie die andern und berechnete als Gie- 
samtenergiewerte: 

29232012 107% 72 
und finde, dafs sie tatsächlich, natürlich keineswegs ziffernmäfsig 
genau, aber im allgemeinen mit den Schätzungsdaten über- 
einstimmen. 


2. Ein Beitrag zu dem Kapitel »psychopathische Minder- 
wertigkeiten.«. 
Von 
Karl Barbier, Taubstummenlchrer in Frankenthal. 
Mit gütiger Erlaubnis der verehrlichen Redaktion der „Kinder- 


fehler« möchte ich hier einen Fall zur Darstellung bringen, der uns 
in deutlicher und interessanter Weise zeigt, welchen ungeheuern Ein- 


204 A. Abhandlungen. 





flufs eine dauernde Störung im physiologischen Mechanismus auf die 
geistige Entwicklung des Kindes ausübt, wenn dabei als zweites nicht 
zu unterschätzendes Moment die fast gänzliche Ausschaltung aller 
auf das normale Kind einstürmenden äufsern Reize hinzukommt. 
Die Tatsache, daß bei dem hier in Frage kommenden Kind auch ein 
(rehördefekt vorliegt, dürfte nicht allzustark in Rechnung zu ziehen 
sein, wenn man bedenkt, daß selbst ganz taube Kinder aus ihrem 
vorschulpflichtigen Alter einen gewissen geistigen Besitz mitbringen 
und dafs der mangelnde Sinn der weiteren Ausbildung keine un- 
überwindlichen Hindernisse in den Weg legt. 

Doch nun zu unserm Fall selbst. 

Das Kind, ein Mädchen, ist geboren am 22. April 1891 zu N. 
in der Rheinpfalz als Tochter eines Schiffers. Da der Vater ein 
starker Liebhaber von Alkohol, die Mutter aber eine kränkliche Frau 
war, so herrschte in der Familie mit ihren 5 Kindern das bitterste 
Elend. Dabei mußste das Kind verschiedene schwere Erkrankungen 
überstehen. So z. B. zeigt die rechte Backenseite noch jetzt 
gegen den Hals zu Narben aufgebrochener skrofulöser Geschwüre, 
und unter dem Kinn befindet sich ein Eitersack, der noch nicht ganz 
verheilt ist. Breite Narben auf dem Kopf erklärte der Arzt als von 
einer heftigen Entzündung der Kopfschwarte herrührend. Die Ur- 
sache des Giehördefekts konnte nicht festgestellt werden. Der Um- 
stand aber, dafs B., wie wir das Mädchen nennen wollen, heute noch an 
Ohrenflußs leidet und daß das Trommielfell des linken Ohres zerstört 
ist, lälst darauf schliefsen, dafs der Defekt auf eine Mittelohreiterung 
zurückzuführen ist.) Wir sehen, B. mufste mehrere, zum Teil lang- 
wierige Krankheitsprozesse und zwar unter den denkbar ungünstigsten 
Umständen überwinden. Die Ernährung war durchaus ungenügend 
und die Pflege mangelhaft, von einer sorgfältigen ärztlichen Behand- 
lung nicht zu reden. Ein allmähliches Gesunden konnte deshalb 
nicht emtreten, da Ja das Blut in seiner schlechten Zusammensetzung 
verblieb. Geistige Anregungen kamen von keiner Seite, und so vege- 
tierte B. während der ersten Jahre ihres Lebens in dumpfer Teil- 


') Die Perzeptionsfähigkeit des Ohres ist verhältnismälsig noch bedeutend. 
Nach genauer Prüfung vermittels der durch Professor Dr. BrzoLn in München zu- 
sammengestellten sogenannten kontinuierlichen Tonreihe hört B. rechts sämtliche Töne 
von G18,—c? (Stimmgabeln) und e’--Galton O (Pfeifen) links: von Gis, —c® (Stimm- 
gabeln) und e’—Galton 2 (Pfeifen), also fast in der ganzen Ausdehnung der Perzep- 
tionsfähigkeit des normalen Ohres. Nur die Hördauer ist auf ungefähr 50°, der 
des normalen Ohres beschränkt. Darin liegt der Defekt. Wörter und leichtere 
Sätze kann also B. noch auf eine Entfernung von 1 m auffassen. 


BarBER: Ein Beitrag zu dem Kapitel »psychopathische Minderwertigkeiten«e. 205 


nahmslosigkeit dahin. Sie afs und trank, was man ihr reichte, aber 
die übrige Zeit safs sie in irgend einer Ecke und starrte vor sich hin. 
Jedermann hielt sie für blödsinnig. 

In ihrem 8. Lebensjahr bekam ihr Dasein eine andere Wendung. 
Der Vater ging auf und davon, und die Mutter starb bald darauf im 
tiefsten Elend. Nun mufste die Gemeinde einschreiten. Die grofsen 
Kinder wurden in verschiedenen Familien untergebracht, die »blöd- 
sinnige« B. kam mit ihrer jüngern Schwester in das mit dem Dia- 
konissenhaus verbundene Waisenhaus in Sp. Dort blieb B. zwei Jahre. 
Aber von einem Erwachen aus ihrer Lethargie war nichts zu be- 
merken. Tag für Tag trug sie ihre Puppe umher, gab oft ihrem 
Unbehagen durch heftiges Weinen Ausdruck oder sals wieder stunden- 
lang vollständig teilnahmslos da. 

Da man schliefslich glaubte, ihren geistigen Tiefstand auf das 
mangelhafte Gehör zurückführen zu müssen, so kam sie von Sp. in 
die Kreistaubstummen-Anstalt Frankenthal. B. bildete den Gegen- 
stand des lebhaftesten Interesses sämtlicher Lehrer. Aber unser Ur- 
teil war kein günstiges. Denn der Eindruck, den B. machte, war 
geradezu entmutigend. Mit leerem Blick und geöffnetem Mund sals 
sie da. Versuche, sie durch Zeichen und Gebärden, welche die 
meisten Taubstummen schon mitbringen, an Heimat, Eltern und Ge- 
schwister zu erinnern, oder sie durch Bilder und Spielsachen zu einer 
Äufserung ihrer Freude oder ihres Mifsfallens zu bewegen, scheiterten 
an ihrer ablehnenden Gleichgültigkeit. Scheinbar ohne Ursache fing 
sie plötzlich an zu weinen, war übel gelaunt und ging auf keine An- 
regung ein. Das Essen schmeckte ihr, und in ihren Bewegungen 
zeigte sie keine Unbeholfenheit. Einigemale war sie leicht unpäßlich 
und befand sich namentlich wegen ihres Ohrenflusses in ständiger 
ärztlicher Behandlung. 

Nach mehreren Wochen und nach vielen vergeblichen Be- 
mühungen, einen artikulierten Laut aus ihr hervorzulocken, gelang 
es, sie zum Sprechen der Lautverbindung »ialala« zu bewegen. Da 
sie Wortgehör besitzt, geschah die Auffassung durch das Ohr. Nie 
reagierte aber nur dann auf den Ruf, wenn sie den Eindruck hatte, 
dafs das Ganze nur ein Spiel sei. Im Unterricht versagte sie fast immor. 

Manchmal indes fing sie selbst an zu rufen, — namentlich der 
Direktor unserer Anstalt wurde in dieser Hinsicht von ihr ausgezeich- 
net — und augenscheinlich bereitete es ihr riesiges Vergnügen, wenn 
der Betreffende auf ihren Ruf »iaia« sich zu ihr hinwandte und Ant- 
wort gab. Sie konnte dann in ein geradezu unheimliches Lachen 
ausbrechen. 


206 A. Abhandlungen. 


— Yin Am De 00 m m 11 Lt m mm nn nn aat 


Allein das waren nur einzelne lichte Momente, denen wieder 
Tage stumpfsinnigen Brütens folgten. Namentlich in der Schule 
zeigte sie sich derartig teilnahmslos und widerspenstig, dafs sie oft 
nicht einmal die Laute »ialas, die sie doch virtuos bilden konnte, 
auf Verlangen wiedergab. Von Konsonanten nicht zu reden. Trotz 
aller Mühe brachte sie es im ersten Jahr nur zum Nachmalen eines 
Tisches, einer Bank, eines Buchstabens ete., aber zu keinem begriff- 
lichen Erfassen, nicht einmal mit Hilfe der Gebärde. 

Auch im zweiten Jahr waren die Fortschritte B.s dermalsen be- 
scheidene, dafs man sich fragen mufte, ob die Taubstummenanstalt der 
richtige Ort für sie sei. Fortschritte waren übrigens doch zu ver- 
zeichnen, wenn auch, wie gesagt, recht geringe. B. fing an, sich für 
Bilder zu interessieren und die Stellungen der betreffenden Tiere 
und Menschen nachzuahmen. Ein weiterer Schritt war, dafs sie die 
auf Bildern dargestellten Objekte mit den entsprechenden Dingen 
ihrer Umgebung identisch fand. Auch konnte sie am Schlusse des 
Jahres ungefähr 10—15 Wörter schreiben und mit den betreffenden 
Dingen in Beziehung setzen. Zum Sprechen jedoch brachte man sie 
trotz ihres relativ guten (iehöres nicht. Überhaupt setzte sie jeder 
direkten Beeinflussung von seiten des Lehrers einen zwar passiven, 
aber energischen Widerstand entgegen. Dabei war B. äulserst reizbar 
und gegen Mitschüler wie Lehrer nichts weniger als liebenswürdig. 
Mit Hilfe einiger Gebärden ihre Klassengenossen verklagen und ihrem 
lehrer ihr Mifsfallen ausdrücken, war ihre Lieblingsbeschäftigung, 
und kein gröfseres Vergnügen hatte sie, als wenn einer ihrer Mit- 
schüler bestraft werden mulste. 

Das waren die Ergebnisse des zweiten Jahres. Niemand glaubte mehr 
an ein Erfassen der Lautsprache, oder nur an ein geistiges Wachsen 
mit Hilfe der Schriftsprache. Da endlich vollzog sich unmerklich, 
aber doch sicher ein Wandel. Während B. bisher im Unterricht nicht 
die geringste Teilnahme gezeigt hatte und nur etwas tätig war, wenn 
sie für sich schreiben, malen, oder Bilder betrachten durfte, fing sie 
nach und nach an, auch den Vorgängen um sie her einiges Interesse 
abzugewinnen. Da die Klasse, in der sich B. befand, Artikulations- 
klasse war, so hatte sie Gelegenheit, die Gewinnung der einzelnen 
Sprachlaute «deutlich zu verfolgen. Dabei ergab sich denn anfangs 
die merkwürdige Tatsache, dafs B. trotz ihres guten Gehörs die zur 
Erzeugung der betreffenden akustischen Effekte nötigen Artikulationen 
blofs als optische Erscheinungen auffafste und diese Bewegungsbilder 
ohne Stimme nachzuahmen suchte. Sie brachte es darin so weit, dafs 
sie das vom Lehrer vorgesprochene Wort nachsprach — immer durch 





Barger: Ein Beitrag zu dem Kapitel »psychopathische Minderwertigkeiten«. 207 








Lippen- und Zungenbewegungen und ohne Stimmton — und dann auf 
das wirkliche Ding zeigte. Ebenso sicher wurde allmählich die Ver- 
bindung des Schriftbildes mit dem entsprechenden Begriff. Weiter 
jedoch schien B. nicht gehen zu wollen. Jeder Versuch, sie zur be- 
wulsten, auch für das Ohr wahrnehmbaren Bildung einzelner Laute 
zu zwingen, scheiterte an dem passiven Widerstand, den sie jeder 
direkten Beeinflussung entgegensetzte. Ihr Gesicht nahm dann den 
allbekannten Ausdruck völliger Leere und Stumpfheit an, so dafs -man 
sie gehen lassen mußte. Im Laufe der Zeit vollzog sich auch hier 
ein Umschwung. Bei der intensiven Übung, die ein Entwickeln und 
Fixieren der Laute unbedingt erfordert, schlugen Tag für Tag die 
mächtigen Klänge der Vokale an ihr Ohr, forderten Einlafs und 
drängten zur Nachahmung. Und siche, eines Tages, als die Klasse 
wieder übte »bababa«, da schrie B. laut mit. Ebenso lernte sie auch 
die andern Vokale sprechen und ging endlich, da nun die Bahn für 
die bewufste Bildung der Sprachlaute geebnet war, an die Erlernung 
der Konsonanten. Und da ihr Ohr sie hier teilweise im Stich liels, 
so kam sie oft selbst zu ihrem Lehrer, um ihm den betreffenden Laut 
vorzusprechen und ihn zur Hilfeleistung und Korrektur aufzufordern. 
Ruhig liefs ‚sie sich jetzt die nötigen Eingriffe zur Herstellung der 
richtigen Artikulationsstellung gefallen und übte unermüdlich den zu 
bildenden Laut. Mit strahlendem Gesicht nahm sie dann das Lob 
ihres Lehrers in Empfang. Hicrmit war das Eis gebrochen. In kurzer 
Zeit beherrschte B. sämtliche Laute, sprach laut und verständlich 
einzelne Wörter und kleine Sätze, brachte dem Unterricht das gröfste 
Interesse entgegen und lernte mit grofßsem Fleifs ihre Aufgaben. Jetzt, 
also in ihrem 12. Jahr, befindet sich das Kind in der II. Klasse und 
macht sowohl im Sprach- und Sachunterricht wie im Rechnen und 
in der Technik des Sprechens derartige Fortschritte, dafs sie zu den 
besten Schülern gehört. Und ich glaube, man darf die Hoffnung 
hegen, daß so bald kein Rückfall eintreten wird. 

Wir kommen nun zur physiologisch-psychologischen Erklärung 
dieses eigenartigen Falles. Jou. Fror. Hersart und Prof. Dr. STRÜMPELL 
dürften uns hier die nötigen Fingerzeige geben. Nach Hersarr 
äulsert sich bekanntlich das rein animale Leben des Menschen in 
dreierlei Form. Er unterscheidet zunächst alle die Vorgänge, die zur 
Ernährung des Körpers beitragen, also Verdauung, Blutkreislauf, Stoff- 
wechsel und bezeichnet sie als Vegetation. Die zweite Form des 
animalen Lebens bilden alle Bewegungen, die willkürlich oder unwill- 
kürlich durch unsere Muskeln ausgeführt und in dem Begriff Irri- 
tabilität zusammengefaßt werden. Unter der dritten Form versteht 


205 A. Abhandlungen. 


Hersart die gesamte Nerventätigkeit, die von zwei Zentren, dem Ge- 
him und dem Rückenmark ausgeht, oder zu diesen hinleitet, und 
nennt sie Sensibilität. Je nachdem nun auf dem einen oder andern 
dieser drei Gebiete des animalen Lebens eine Störung eintritt, wird 
auch das geistige Leben des Kindes beeinflußt, entwickelt sich die 
Kindernatur. 

In unserm Falle lag offenbar eine Störung in der Vegetation 
vor. Die skrofulösen Geschwüre, die bis jetzt noch nicht ver- 
schwunden sind, der fortwährende Ohrenfluß und die von heftigen 
Entzündungen der Kopfschwarte herrührenden Narben reden deutlich 
davon. Ungenügende Nahrung und mangelnde Pflege halfen dazu, 
das Blut in seiner schlechten Zusammensetzung erhalten, und infolge- 
dessen litt die Ernährung des Gesamtorganismus. 

Aber nicht nur in der Vegetation, auch in der Sensibilität war 
em vollständig anormaler Zustand vorhanden. Offenbar war die spezi- 
fische Energie des Nervensystems nicht von Geburt aus so gering, 
wie sie sich später zeigte. Aber die Störung in der Vegetation und 
das damit verbundene ständig herrschende Gefühl des Unbehagens 
und vor allen Dingen die jahrelange Abgeschlossenheit des Kindes 
von der uns umgebenden Erfahrungswelt führten nach und nach ein 
fast gänzliches Erschlaffen der gesamten Nerventätigkeit herbei. Die 
Nerven hatten verlernt, auf cindringende Reize zu reagieren, und nur 
ungeheuer schwer löste der physische Reiz in der Zentrale ein psy- 
chisches Empfinden aus. Von einer höhern geistigen Tätigkeit, von 
den im Brennpunkte des Bewufstseins sich abspielenden Prozessen 
des Denkens, des Fühlens, des ästhetischen und ethischen Urteilens 
und des Wollens, oder, um mit STRÜNPELL zu reden, von dem » Wirken 
der freien Kausalitätens konnte unter solchen Umständen selbstver- 
ständlich nichts zu bemerken sein. 

Hergart bezeichnet den Typus ciner solchen Kindernatur als 
den des böotischen Cholerikus des tückischen Dummkopfs, der auf 
schr niedriger Stufe steht und der infolge des Überwiegens der Irri- 
tabilität eine große Lust am Zerstören hat, jeder Beeinflussung einen 
starren Widerstand entgegensetzt und schon frühe eine boshafte, 
häßsliche Gesinnung zeigt. Alles Erscheinungen, die bei unserm Falle 
zutrafen. 

Woher kam nun die Entwicklung zu einer verhältnismäßig nor- 
malen Kindesnatur? Offenbar setzte eine Besserung in der Ernährung 
schon mit der Verbringung B.s in das Waisenhaus in Sp. ein. Nur 
fehlte hier die intensive geistige Anregung. Deshalb waren neben 
den im Waisenhaus verbrachten 2 Jahren noch weitere 3 Jahre in 


IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands. 209 


unserer Anstalt nötig, bis durch eine kräftige Nahrung, eine peinliche 
Reinlichkeit und eine energische ärztliche Behandlung die Krankheits- 
prozesse zum Stillstand gebracht und vor allem das Blut derartig ver- 
bessert wurde, daß Verdauung, Blutkreislauf und Stoffwechsel in einer 
der gesunden Entwicklung des Organismus entsprechenden Weise vor 
sich gehen konnten und das Allgemeinbefinden ganz bedeutend ge- 
hoben wurde. Dadurch fiel auch der deprimierende Eindruck fort, 
den eine starke Störung in der Vegetation und das daraus resul- 
tierende vorherrschende Unlustgefühl auf das Nervenleben ausüben. 
Dazu kam die intensive Einwirkung der in unaufhörlichen Wellen- 
schlägen heranflutenden Reize, so daß die Nerven in ihrer Indifferenz 
auf die Dauer nicht mehr verharren konnten. So trat nach und nach 
die gesamte Sinnestätigkeit wieder in Aktion, der psychische Mecha- 
nismus funktionierte rasch und sicher und auch die Tätigkeit der 
freien Kausalitäten« konnte beginnen. Vielleicht kommen auch jetzt 
noch Zeiten, in denen ein Stillstehen oder gar eine rückläufige Be- 
wegung in dem geistigen Werden B.s zu bemerken sind, aber ein Zu- 
rücksinken in den alten Zustand der Lethargie glaube ich nicht mehr 
befürchten zu müssen. 

Damit wäre ich zu Ende. Sollte auch der eine oder der andere 
Leser der »Kinderfehler« in diesem oder jenem Punkte nicht gleicher 
Meinung mit mir sein, so werden mir doch alle darin zustimmen, 
dafs man in der Beurteilung von Kindern, bei denen deutlich eine 
Störung im physiologischen Mechanismus zu erkennen ist und bei 
denen infolgedessen auch der psychische Mechanismus gehemmt und 
das Hervortreten der »freien Kausalitäten« gehindert wird, nicht vor- 
sichtig genug sein kann und an einem endlichen Gelingen eigentlich 
nie verzweifeln darf. 


DV WW Ep Se u ZN ZU NINANA 


B. Mitteilungen. 


1. IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands. 
(Schlufs.) 


Alsdann sprach Rektor Grote-Hannover über die Frage: »Können 
die Kinder zwangsweise der Hilfsschule zugeführt werden?« 
und führte etwa folgendes aus: Als seinerzeit die ersten Hilfsschulen ein- 
gerichtet wurden, man nach einer zweckmälsigen Organisation erst noch 
suchte, des Erfolges noch nicht sicher war, da machte man in der Er- 
kenntnis von der Schwere des Schrittes und infolge des Umstandes, dals 

Die Kinderfehler. VIIT. Jahrgang. 14 


210 B. Mitteilungen. 





doch noch nicht alle schwach befähigten Kinder aufgenommen werden 
konnten, die Überweisung von Kindern in die Hilfsschule von der Ein- 
willigung der Eltern abhängig. Jetzt aber bestehen in vielen Orten völlig 
für den Bedarf ausreichende Hilfsschulen, die Frage ihrer Organisation ist 
im wesentlichen geklärt, sie haben den Nachweis ihrer Daseinsberechtigung 
völlig erbracht, grolse Opfer werden von den Kommunen für sie auf- 
gewandt. Da liegt die Forderung nahe, dafs nun auch wirklich alle in 
Frage kommenden Kinder der Hilfsschule zugeführt werden, erforderlichen- 
falls auch zwangsweise. Staat und Gemeinde haben ein hervorragendes 
Interesse daran, dals diese Rinder zu brauchbaren Gliedern der Gesellschaft 
erzogen werden, und nicht minder liegt die Überführung im Interesse der 
Kinder selbst und der Eltern. Schon um jener willen darf man sich nicht 
scheuen, (diesen nötigenfalls die ihnen durch die Hilfsschule erwiesene 
Wohltat aufzudrängen. Macht es doch der Staat an anderen Stellen, z. B. 
bei Fürsorge- oder Zwangserzichung ebenso. Die Überführung liegt endlich 
auch im Interesse der Volksschule, welche dadurch wesentlich entlastet 
wird. Gegenüber dem Einwande, dafs den betreffenden Kindern dadurch 
der Stempel der Minderwertigkeit aufgedrückt werde ist zu bemerken, dafs 
das Kind die Zeichen derselben schon in die Schule mitbringt. Schulzeugnisse, 
Klassenplatz, Nichtversetztwerden bestätigen die geistige Schwäche, das ganze 
Verhalten, Reden und Tun des Kindes offenbaren sie. Eine Konfirmation 
aus den untersten Volksschulklassen entlastet sicher nicht mehr als eine 
solche aus der 1. Hilfsschulklasse. Die Ililfsschule will nicht den Stempel 
der Minderwertigkeit aufdrücken, sie erstrebt im Gegenteil und erfahrungs- 
gemäls in schr vielen Fällen mit Erfolg die Zeichen derselben zu beseitigen. 
Der in der Hilfsschule über das Kind geführte Personalbogen kann oft für das- 
selbe im späteren Leben von Nutzen sein. Dals durch zwangsweise Überführung 
einer ersprielslichen Schularbeit Abbruch getan werden könnte, ist nicht 
zu befürchten; die Erfahrung hat sogar gelehrt, dals zuerst widerstrebende 
Eltern später oft warme Freunde der Hilfsschule werden. Der Einwurf, dals. 
gesetzliche Bestimmungen oder behördliche Verordnungen nicht nötig seien, 
wenn nur der rechte Geist die Schularbeit durchziehe, ist durch die Er- 
fahrung genugsam widerlegt. In den bei weitem meisten Antworten auf 
die oben erwähnte Rundfrage ist die Notwendigkeit von Bestimmungen 
anerkannt worden, welche eine Überführung in die Hilfsschule auch gegen 
den Willen der Eltern ermöglichen. Da, wo man sie verneint, fragt man 
meist die Eltern gar nicht und ist auch keinem Widerspruche von ihrer 
Seite begegnet. Überall aber, wo die Entscheidung den Eltern überlassen 
wird, sind auch Fälle von hartnäckiger Weigerung vorgekommen, und nur 
für diese kommt die zwangsweise Überführung in Frage. Es ist nun die 
Frage zu erörtern, ob neben der Notwendigkeit auch die Möglichkeit einer 
zwangsweisen Überführung gegeben ist. Im Königreich Sachsen und in 
Sachsen-Weimar ist das bestimmt der Fall infolge von Bestimmungen der 
betreffenden Volksschulgesetze (§ 4 Absatz 5 bezw. § 8). Aber auch in 
Staaten, die keine derartigen Bestimmungen besitzen, speziell in Preulsen ist 
cine zwangsweise Überführung nach Ansicht des Referenten möglich. Die 
Hilfsschule ist aus der Volksschule hervorgewachsen, wird durch dieselben 


IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands. 211 


nd 


Organe wie diese beaufsichtigt und verwaltet, untersteht denselben Be- 
stimmungen, sie dient wie diese der Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht, 
ihre Lehrer sind Volksschullehrer. Wie nun die Schulbehörde ein Kind 
einer bestimmten Schule und Klasse auch gegen den Willen der Eltern 
zuweisen kann, wie allein sie über Verzetzung in andere Klassen entscheidet, 
so kann sie auch die für das Leben in der Volksschule überhaupt nicht 
geeigneten Kinder der Hilfsschule überweisen. Diesen Standpunkt teilt 
man vielerorten, überweist die Kinder ohne weiteres und hält weitere Be- 
stimmungen für unnötig. Selbst preulsische Regierungen scheinen auf 
diesem Standpunkte zu stehen, indem sie Statuten genehmigten, welche eine 
zwangsweise Überführung vorsehen, oder indem sie Beschwerden der Eltern 
zurückwiesen. Letzteres ist auch vom preufsischen Unterrichtsministerium 
in 2 Fällen geschehen. Damit aber nicht in jedem Einzelfalle und an 
jedem einzelnen Orte eine behördliche Entscheidung nötig wird, ist es 
dringend wünschenswert, dafs durch allgemein gültige Verfügung der 
Ministerien die Frage geregelt wird, was ja nicht mehr bedenklich er- 
scheinen kann, nachdem die Hilfsschule den Nachweis erbracht hat, dafs 
sie ihren Zöglingen eine fruchtbringende Erziehung zu geben vermag. 
Natürlich mülste die Überführung von einer durchaus sorgsamen ärztlichen 
und pädagogischen Feststellung der Schwachbefähigung des Lketreffenden 
Kindes abhängig gemacht werden. Das geschieht übrigens bereits überall, 
wo zwangsweise Überführung erfolgt. Überall ist man sich bewulst, dals 
die Überführung ein Akt grolser Verantwortung ist, dafs die Kinder bis 
zur äufsersten noch möglichen Grenze in der Volksschule verbleiben müssen. 
Billige Rücksicht auf die Eltern wird auch fernerhin stets erfordern, mög- 
lichst gütliche Vereinbarung mit ihnen zu erzielen. Der Erlals von be- 
züglichen Bestimmungen kann erreicht werden durch Petition der in den 
einzelnen Staaten bestehenden Hilfsschulen bei den betreffenden Ministerien 
oder dadurch, dals der Verbandsvorstand vorstellig wird. Redner hält 
letzteres für den einfacheren Weg und bittet daher die Versammlung, den 
Vorstand mit einem dahingehenden Auftrage zu versehen. — In der 
Debatte wurde allgemein die Notwendigkeit von gesetzlichen Bestimmungen 
bezw. behördlichen Verordnungen, welche eine zwangsweise Überführung 
in die Hilfsschule ermöglichen, anerkannt, nur beschlols man, in die vom 
Referenten vorgelegten Thesen einen Passus aufzunehmen, nach dem die 
zwangsweise Überführung nicht einzutreten habe, wenn die Eltern den 
Nachweis bringen, dafs für ihr Kind anderweitig wunterrichtlich genügend 
gesorgt ist. Auch wurde darauf hingewiesen,. dals das Fürsorgegesetz eine 
gewisse Handhabe biete. Der Vorstand wurde schlielslich mit einen dem 
Antrage des Vortragenden entsprechenden Auftrage versehen. Es erfolgte 
alsdann die Rechnungsablage und Vorstandswahl. Der ausscheidende 2. Vor- 
sitzende Hauptlehrer Kielhorn-Braunschweig, der 1. Schriftführer 
Rektor Grote-Hannover und der 2. Rechnungsführer Schulvorsteher 
Wintermann-Bremen wurden wieder gewählt, Rektor Basedow- 
Hannover wurde als 3. Schriftführer neu gewählt. Die Satzungsänderung 
wurde dem Vorschlage des Vorstandes gemäls angenommen. Endlich 
wurde der Vorstand beauftragt, an malsgebender Stelle auf die Einrichtung 
14* 





212 B. Mitteilungen. 











von Ausbildungs- und Fortbildungskursen für Hilfsschullehrer hinzuwirken, 
wie solche schon 1889 vom 2. Vorsitzenden angeregt wurden, und be- 
züglich deren schon vor 2 Jahren der Vorstand anf Verlangen ein aus- 
führliches Gutachten an Herrn Geheimrat Brandi im preufsischen Kultus- 
ministerium eingereicht hat. 

Am 15. April begann vormittags 9 Uhr im Konzertsaal der »Lieder- 
tafel« die von 293 Personen besuchte Hauptversammlung. Der 1. Vor- 
sitzende entbot derselben herzlichen Willkommgrufs, hob hervor, dafs der 
so zahlreiche Besuch wohl als Beweis für das Interesse gelten dürfte, 
welches den Hilfsschulen und dem Verbande entgegengebracht würde, und 
gab durch einige Zahlen ein Bild von der Entwicklung des Hilfsschul- 
wesens. 1893 bestanden in 32 deutschen Städten 118 Klassen mit 
2290 Kindern, 1898 in 52 Städten 202 Klassen mit 4281 Kindern, 1901 
in 87 Städten 390 Klassen mit 7871 Kindern und nach einer vom Vor- 
stande ergangenen Anfrage jetzt in 147 Städten 174 Schulen mit circa 
16000 Kindern, so dafs sich seit der Gründung des Verbandes die Zahl 
der Hilfsschulzöglinge annähernd vervierfacht hat. Im besondern begrülste 
der Vorsitzende die anwcsenden Vertreter der hessischen Regierung sowie 
der Stadt Mainz und dankte der Mainzer Stadtverwaltung für die dem 
Verbandstage gewährte materielle Unterstützung sowie dem Ortsausschusse 
für die von ihm geleistete umfangreiche treue Arbeit. Die Versammlung 
wurde hierauf begrüfst im Namen und Auftrage der hessischen Regierung 
durch Oberschulrat Dr. Scheuermann-Darmstadt, im Namen der 
Stadt Mainz durch den 1. Beigeordneten Dr. Schmidt, im Namen 
des Ortsausschusses durch Kreisschulinspektor Dr. Zank. Hilfs- 
schulleiter Drews überbrachte den Grufs der Stadt Hamburg und teilte 
zugleich mit, dafs dort jetzt S Hilfsschulen mit 50 Lehrkräften bestehen 
und dafs letztere einen kleineren Verein gebildet haben, welcher dem 
Hilfsschulverbande beitreten wird. Der Vorsitzende dankte den Rednern 
für die dargebrachten Wünsche und die der Hilfsschularbeit und dem Ver- 
bande bekundete Anerkennung und teilte sodann eine Anzahl von schrift- 
lichen Begrülsungen des Verbandstages mit, unter anderen ein Schreiben 
desHerrn Geheimrats Brandi im Preulsischen Kultusministerium, welcher 
bedauert, durch Krankheit an der Teilnahme am Verbandstage gehindert 
zu sein. Die Versammlung beschlofs sodann, Begrülsungstelegramme zu 
entsenden an Se. Excellenz den preulsischen Kultusminister und an die 
Herren Geheimrat Brandi und Ministerialdirektor Geheimrat Dr. Eisen- 
huth-Darmstadt. Nachdem ferner noch der Vorsitzende gebeten hatte, jede 
Neugründung von Hilfsschulen dem Vorstande mitzuteilen und nachdem 
die Beschlüsse der Vorversammlung und die vom Vorstande für die Haupt- 
versammlung aufgestellte Tagesordnung von der Versammlung genehmigt 
worden waren, sprach Hilfsschulleiter Delitsch-Plauen über das Thema: 
»Das schwachbegabte Kind im Haus und in der Schule.« Der 
Gedankengang des Vortrags war, in Kürze wiedergegeben, folgender: 
Die relativ geringen geistigen Defekte bei schwachbegabten Kindern ver- 
raten sich meist später als bei völlig schwachsinnigen, werden vielfach 
erst in der Schulzeit erkannt. Bleibt daher jenen zuerst manche Zurück- 


IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands. 213 


setzung erspart, so fehlt es ihnen andrerseits auch an rechtzeitiger, ihrem 
Zustande entsprechender Pflege und Erziehung. Gerade die früheste Kind- 
heit ist aber von höchster Bedeutung für die Geistesentwicklung, indem 
während derselben eine so rapide Entwicklung des Gehirns stattfindet, dals 
dieses bereits mit dem vollendeten 3. Lebensjahre sein höchstes Gewicht er- 
reicht und von da an nur noch der feinere Ausbau desselben stattfindet. 
Nach klinischen und anatomischen Erfahrungen ist das eigentliche Geistes- 
organ die Grofshirnrinde. Entwicklungstörungen desselben verursachen je 
nach Art, Grad und Gehirngebiet die sehr verschiedenen Grade und Formen 
des Schwachsinns. Diese vollziehen sich meist in der Zeit vom Beginn 
embryonaler Entwicklung bis zum 3. Jahre. Bei schwacher Begabung 
handelt es sich weniger um makroskopische Hirndefekte; sie erklärt sich 
vielmehr aus der geringen Stärke der Rindenschicht und der geringeren 
Zahl und Grölse der Ganglienzellen in derselben (Redner demonstriert Zeich- 
nungen von Hirnrindenschnitten nach Hammerberg). In den ersten Jahren 
herrscht infolge des überaus raschen Stoffwechsels im Gehirn innigste Be- 
ziehung zwischen Gehirnentwicklung und Körperernährung. Jede die 
letztere schädigende Krankheit kann daher, ohne das Gehirn direkt zu 
berühren, für die geistige Entwicklung schlimme Folgen haben. Jede 
leibliche Vernachlässigung der Kinder im ersten Lebensjahre sollte mit der 
grölsten Sorgfalt verhütet werden. In der 2. Periode vom 4.— 6. Lebens- 
jahre äufsert sich die schwache Begabung deutlicher in auffallender Ver- 
spätung und Unvollkommenheit motorischer Äufserungen des allmählich 
erwachenden Bewulstseins.. Die Verzögerung der Befähigung, die Sinnes- 
organe einzustellen, die Sprachorgane zu gebrauchen, den Nachahmungs- 
trieb zu betätigen, muls notwendig die Geistesentwicklung hemmen, selten 
findet eine krankhafte Steigerung geistiger Funktionen statt. Von ihrer 
Umgebung, selbst von den Geschwistern werden diese Kinder wegen ihrer 
mangelhaften Sprache, ihres blöden Gebahrens, ihrer oft entstellten äufseren 
Erscheinung zurückgestolsen und gekränkt, und im Gegensatz zu idiotischen 
Kindern fühlen sie die Zurücksetzung sehr wohl. Selbst bei den Eltern 
finden sie oft weniger Liebe, Klagen und Tränen der besorgten Mutter 
verschüchtern und bedrücken sie. Aufgabe der letzteren wäre es, statt 
dessen den schwachen Nachahmungstrieb ihres Kindes zu beleben, die 
schlummernde Aufmerksamkeit zu wecken und zu leiten, verunglückte 
Sprachbemühungen zu fördern; das mangelhafte Gedächtnis durch sinn- 
volle Übungen zu stärken, ohne es zu überbürden. — Mit welchen Ge- 
fühlen bringt die Mutter wohl solch ein minderbegabtes Kind zur Schule! 
Sie weils, dals von nun an seine Schwäche der Öffentlichkeit preisgegeben 
ist. Bald wird es vom Spotte seiner Mitschüler verfolgt. Gar oft wird 
der noch unerfahrene Lehrer der Unterklasse die Schwäche als eine solche 
nicht gelten lassen und nicht zu behandeln wissen. Die Erfolge seiner 
Schüler sind seine Lust und sein Lohn, seine Ehre und sein Vorteil, 
Mifserfolge seine Sorge im Ilinblick auf Inspektionen und auf seine Zu- 
kunft. Leicht setzt er Milserfolge auf das Konto von unverzeihlichem 
Leichtsinn oder Faulheit seiner Schüler und eröffnet nun einen energischen 
Kampf gegen diese angenommenen Charakterfehler. Im grellen Gegen- 


214 B. Mitteilungen. 








satze zu dem Anspruch auf Schonung körperlich und geistig schwacher 
Kinder stehen die Zwangsmalsregeln des Lehrers: Strafarbeiten, Nach- 
sitzen, Nachhilfeunterricht. Ehrgeizige Eltern unterstützen vielfach noch 
das Bestreben, anormale Kinder zu normalen Leistungen zu zwingen. Er- 
lahmt endlich die Energie der Erzieher an der Erfolglosigkeit ihrer Be- 
mühungen, so überläfst man das zurückbleibende Kind sich selbst, obgleich 
es doch der geistigen Anregung ganz besonders bedürfte, und unbenutzt 
verstreichen so die für die geistige Entfaltung bedeutsamsten Jahre. So 
war es, so ist es vielfach noch, so darf es nicht bleiben. Es liegt im 
Interesse des Staates, es ist seine Pflicht, hier zu helfen. Zwingt er 
Schwachbegabte zur Schule, so bewahre er sie auch nach Möglichkeit 
vor Überbürdung und geistiger Verwahrlosung und gewähre allen den 
Kindern individuellen Unterricht, die schon in der Volksschule. im Kampfe 
ums Dasein unterliegen. Es ist wahrhaft human, christlich und verständig, 
dafs sich alle Erziehungsfaktoren vereinen, dem Schwachen schon dann 
beizustehen, wenn ihm noch zu helfen ist. Ihm hilft kein Nachhilfe- 
unterricht, der seine Last vermehrt, keine Nachhilfeklasse, welche die ver- 
schiedensten Bildungsgrade und Bildungsstufen vereint, sondern nur eine 
Spezialvolksschule für Schwachbegabte. Diese, die Hilfsschule, mufs fol- 
genden Forderungen genügen: Sie darf nur wirklich Schwachbegabte, 
andrerseits aber auch keine Schwachsinnigen aufnehmen. Bei der Aus- 
wahl stütze sich der Hilfsschulleiter auf das Urteil der bisherigen Lehrer, 
suche die Eltern zu gewinnen, mache sich Rat und Hilfe des Arztes 
nutzbar, damit Kinder mit schweren Sinnesdefekten und Kranke, die ihre 
Mitschüler gefährden könnten, von der Hilfsschule ausgeschlossen bleiben 
und ärztliche Hilfe und pädagogische Schonung leidender Schüler herbei- 
geführt werde. Die Hilfsschule muls hinreichend gegliedert, zweckmälsig 
mit Lehrkräften, Lehrmitteln und Lehrstunden bedacht sein. Der Hilfs- 
schullehrer mufs sich schon vor seinem Antritt damit abgefunden haben, 
dals er sehr vieles entbehren muls, was den Verkehr mit normalen Kindern 
anziehend macht, dals ihm die mannigfachsten Abnormitäten und Defekte 
in der gesamten Erscheinung seiner Zöglinge, speziell in der Kopf- und 
Gesichtsbildung, sowie im Triebleben, Gang, Haltung, Sprache, Benehmen, 
im gesamten Verhalten und der ganzen Denkweise entgegentreten. Und 
doch gehört keine besondere Aufopferungsfähigkeit dazu, sich der Hilfs- 
schularbeit zu widmen. Alle kleinen Bedenken müssen verschwinden 
gegenüber dem tiefgehenden Interesse der besonderen Aufgabe eines päda- 
gogischen Psychiaters, und vor dem Bewulstsein, mit ihrer Lösung hilfs- 
bedürftigen Kindern, dem Volkswohle und der Wissenschaft zu dienen. 
Der Hilfsschullehrer gewinne erst seine Schüler, erwecke erst ihr Selbst- 
vertrauen. — Er unterrichte individuell, sei Erzieher, verbünde sich dem- 
gemäls, soweit es dienlich ist, mit den Eltern seiner Zöglinge, treffe 
andrerseits Mafsregeln zur Verhütung falscher Behandlung oder im Eltern- 
hause drohender Verwahrlosung. -— Er leite seine Schüler von der Schule 
ins Leben, wenn nötig, bis zu geeigneter Berufsstätte, bleibe auch den 
aus der Hilfsschule Entlassenen auf Wunsch treuer Berater und Helfer. 
— Er wehre unverständiger Beurteilung und Behandlung Schwachbegabter, 





IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands. 215 





erwecke das allgemeine Mitgefühl für ihr unverschuldetes Elend und 
werbe diesen Stiefkindern der Natur hilfbereite Freunde. Zur Erfüllung 
solcher Pflichten bedarf er hinreichende Gelegenheit zur Selbstbildung, 
Freiheit der Bewegung im Amte und behördliche Unterstützung seiner 
Erziehungsmalsregeln, wie seiner sonstigen humanen Bestrebungen. In- 
sonderheit scheint es geboten, ihm die Möglichkeit zu geben, sich für den 
Handfertigkeitsunterricht vorzubereiten und weitergehende Studien in der 
Anatomie, Psychologie und Hygiene, in der Pathologie und Therapie des 
Kindesalters und in der genetischen Psychologie des normalen und anor- 
malen Kindes zu machen. Ausbildungskurse nach Muster der Schweizer 
sind in hohem Grade wünschenswert. Der Hilfsschule mu[s volle Selb- 
ständigkeit unter eigener fachkundiger Leitung eingeräumt werden. Unter 
all diesen Voraussetzungen werden sicher die Hilfsschulen den Schwach- 
begabten zu reichstem Segen gereichen. — Von einer Debatte wurde auf 
Antrag aus der Versammlung heraus abgesehen. 

Es erhielt daher sofort Oberamtsrichter Nolte-Braunschweig das 
Wort zu seinem Vortrage über das Thema: Die Berücksichtigung der 
Schwachsinnigen im bürgerlichen und öffentlichen Recht des 
deutschen Reiches, aus dem im nachstehenden die wesentlichsfen 
Punkte angeführt werden sollen. Der Vortrag soll einen Beitrag zu der 
Frage liefern, ob die Geistesschwachen auf dem Gebiete des bürgerlichen 
und öffentlichen Rechtes gebührende Berücksichtigung gefunden haben 
und ob bezw. in welcher Beziehung noch Weiteres zu erstreben ist. Red- 
ner betont, dals wie auf so vielen Gebieten des Rechtes so auch auf diesem 
seit der Einigung Deutschlands sehr viel geschehen, sehr viel aber auch 
noch zu tun sei. Bei der Umfänglichkeit des in Frage stehenden Mate- 
riales sah er sich gezwungen, seme Ausführungen auf das bürgerliche 
Recht und die diesem verwandten Gebiete zu beschränken. Das neue 
bürgerliche Gesetzbuch unterscheidet die Rechtsfähigkeit, die jeder besitzt, 
von der Geschäftsfähigkeit d. h. der Fähigkeit, mit rechtlicher Wirkung 
selbst zu handeln oder die Handlungen anderer entgegen zu nelımen. 
Geschäftsfähig ist ($ 104) 1. wer nicht das 7. Lebensjahr vollendet 
hat, 2. wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschliefsenden 
Zustande krankhafter Geistesstörung befindet, soweit nicht der Zustand 
seiner Natur nach ein vorübergehender ist und 3. wer wegen Geistes- 
krankheit entmündigt ist. Die Fassung von Passus 2 und 3 hat seiner 
Zeit viele Schwierigkeiten bereitet. Es sollen alle abnormen Greisteszustände 
darin eingeschlossen sein. Ob Ausschlufs der freien Willensbestimmung 
vorliegt, hat eine sorgfältige Prüfung jedes Einzelfalles zu entscheiden. 
Willenserklärungen Geschäftsunfähiger sind nichtig ($ 105). Willens- 
erklärungen anderer Personen ihnen gegenüber z. B. Kündigungen sind 
nur gültig, wenn sie dem gesetzlichen Vertreter zugehen. Letztere Be- 
stimmung gilt nicht für Personen, die sicb im Zustande der Bewulstlosig- 
keit oder vorübergehender Störung der Geistestätigkeit befinden, wohl aber 
gelten auch ihre in diesem Zustande abgegebenen Willenserklärungen als 
nichtig. Volljährige wegen Geisteskrankheit Entmündigte erhalten einen 
Vormund, vorübergehend von Bewulstlosigkeit oder geistiger Störung Be- 


216 B. Mitteilungen. 








troffene nötigenfalls einen Pfleger. Zwischen den Geschäftsfähigen und 
-unfähigen stehen die in der Geschäftsfähigkeit Beschränkten. Zu diesen 
gehören ($ 114) die wegen Geistesschwäche entmündigten und die nach 
S 1906 unter vorläufige Vormundschaft gestellten Personen. Entmündigt 
werden kann nach § 6, wer infolge Geisteskrankheit oder Geistesschwäche 
seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag. Wodurch unterscheiden 
sich aber im Sinne des Gesetzes Geisteskrankheit und Geistesschwäche? Diese 
Frage ist von grofser praktischer Bedeutung, weil jene Geschäftsunfähig- 
keit, diese nur Beschränkung in der Geschäftsfähigkeit zur Folge hat. 
Die Ursache dieser Zustände kann nicht Unterscheidungsgrund sein, denn 
beide können sowohl angeboren wie durch spätere Krankheit erworben 
sein. Zur Unterscheidung dürfen vielmehr nur der Grad der geistigen 
Anomalie und die damit verknüpften Folgen dienen und zwar muls der 
Grad der geistigen Abnormität bei »Geisteskrankheit« ein so hoher sein, 
dals er zur Verhängung der Geschäftsunfähigkeit berechtigt, während die 
Annahme von »Geistesschwäche« voraussetzt, dafs die betreffende Per- 
son, obwohl sie des gesetzlichen Schutzes bedürftig ist, doch noch in 
gewissem Malse Erwerbsgeschäfte betreiben und eine Dienststellung ver- 
sehen kann. Wichtig ist der Umstand, dafs Entmündigung nur dann ein- 
tritt, wenn der geistig Gestörte seine Angelegenheiten nicht selbst zu be- 
sorgen vermag. Es scheiden daher viele Fälle aus, wo die Angelegenheiten 
des Betreffenden sehr einfacher Art sind und Freunde und Verwandte 
ihm helfend zur Seite stehen. Es ist die Absicht des Gesetzes, dafs 
Entmündigung in den angegebenen Fällen nicht blols ausgesprochen 
werden darf, sondern im Interesse des Geistesgestörten ausgesprochen 
werden soll. Die Entmündigung erfolgt auf Antrag des Gatten, der 
Verwandten oder des gesetzlichen Vertreters des zu Entmündigenden 
durch Beschluls des zuständigen Amtsgerichts, jedoch ist ein vorher- 
gchendes genaues Ermittelungsverfahren, insonderheit eine Untersuchung 
durch Sachverständige vorgeschrieben. Fällt der Entmündigungsgrund 
weg, so ist auch die Entmündigung aufzuheben. Sowohl die Ent- 
mündigung als auch deren Aufhebung ist der Vormundschaftsbehörde mit- 
zuteilen. Eine vorläufige Vormundschaft wird vom Vormundschaftsgericht 
angeordnet für die Zeit zwischen Stellung des Antrags auf Entmündigurg 
und dem Entmündigungsheschlusse, wenn andernfalls eine wesentliche Ge- 
fährdung der Person oder des Vermögens des zu Entmündigenden zu be- 
fürchten ist. Auch die in der Geschältsfähigkeit beschränkte Person er- 
hält einen gesetzlichen Vertreter, jedoch gilt ein von ihr ohne Zustimmung 
des letzteren geschlossener Vertrag als wirksam, wenn für die durch den 
Vertrag auferlegte Leistung die Mittel von dem Vertreter und zwar zu 
diesem Zwecke zur Verfügung gestellt sind. Ermächtigt dieser den in 
seiner Geschäftsfähigkeit Beschränkten zum selbständigen Betriebe eines 
Erwerbsgeschäftes (wozu aber Einwilligung des Vormundschaftsgerichts 
erforderlich ist) oder zum Eintritt in ein Dienst- oder Arbeitsverhältnis, 
so gilt letzterer für alle hieraus erwachsenden Rechtsgeschäfte als un- 
beschränkt geschäftsfähig, abgeschen von Geschäften, für die auch der ge- 
gesetzliche Vertreter der Einwilligung des Vormundschaftsgerichtes bedarf. 





IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands. 21 


~J] 





Willenserklärungen, die in ihrer Geschäftsfähigkeit beschränkten Personen 
gegenüber abgegeben sind, werden erst dann wirksam, wenn sie dem ge- 
setzlichen Vertreter zugehen. Geschäftsunfähige und in der Geschäfts- 
fähigkeit Beschränkte können ihren Wohnsitz nur mit Genehmigung ihres 
Vertreters ändern. Eine Ehe eingehen können nur letztere und auch nur 
mit Einwilligung ihres Vertreters. Eine von einem Geschäftsunfähigen 
eingegangene Ehe ist nichtig, ebenso eine Ehe, bei deren Schlielsung sich 
einer der Gatten im Zustande der Bewulstlosigkeit oder vorübergehender 
Geistesstörung befand, wofern er nicht die Ehe vor Nichtigkeitserklärung 
derselben nach wieder erlangter Geschäftsfähigkeit bestätigt. Die Nichtigkeit 
einer Ehe kann nur infolge einer Nichtigkeitsklage durch Urteil aus- 
gesprochen werden. Ein in seiner Geschäftsfähigkeit beschränkter Ehe- 
gatte, der zur Zeit der Eheschlielsung im Zustande der Geschäftsunfähig- 
keit war, kann seine Ehe anfechten, aber nur durch seinen Vertreter, 
wenn dieselbe ohne Einwilligung des gesetzlichen Vertreters geschlossen 
ist. Der andere Ehegatte hat kein Anfechtungsrecht. Eine Eheschei- 
dung wegen Geistesschwäche wird man als ausgeschlossen ansehen 
müssen, denn wenn auch Geisteskrankheit zwar als Scheidungsgrund gel- 
ten kann, so ist das doch nur bei einem so hohen Grade der Fall, dals 
dadurch jede geistige Gemeinschaft zwischen den Ehegatten aufgehoben 
wird. Wegen Geistesschwäche Entmündigte und selbstverständlich auch die 
Geschäftsunfähigen können nicht selbständig ein Testament erreichen 
(S 2229). Bei nicht entmündigten Geistesschwachen mufs in jedem 
Einzelfalle festgestellt werden, ob wirklich freie Willensbestimmung an- 
genommen werden kann. Wie schon erwähnt wurde, stellt das Gesetz 
den Geschäftsunfähigen und den in der Geschäftsfähigkeit Beschränkten 
einen Vertreter zur Seite — entweder die Eltern oder einen Vormund, 
welcher für die Person und das Vermögen des Kindes bezw. Mündels und 
dessen Vertretung im Rechtsleben zu sorgen hat. Die Sorge für die Per- 
son umfalst alle persönlichen Verhältnisse nach der tatsächlichen Seite 
(Erziehung, Aufsicht, Fürsorge bei Krankheit etc.) und nach der recht- 
lichen (Wahl der Konfession, Antrag auf Volljährigkeit, Ermächtigung zu 
selbständigem Geschäftsbetriebe etc.) Die Sorge für das Vermögen er- 
streckt sich auf die Erhaltung, Verwertung und Vermehrung desselben in 
tatsächlicher und rechtlicher Beziehung. Die Tätigkeit der gesetzlichen 
Vertreter wird auf Grund zahlreicher Bestimmungen des Gesetzes genau 
durch das Vormundschaftsgericht überwacht, in vielen Fällen bedürfen 
ihre Malsnahmen der Zustimmung des letzteren. Das Vormundschalts- 
gericht wird hierbei unterstützt durch die Gemeindewaisenräte, welche die 
unmittelbare Aufsicht über die in Rede stehenden Personen führen. 

Als weiteren Fall der Fürsorge sieht das Gesetz in § 1910 die Ein- 
setzung eines Pflegers vor, wenn ein Volljähriger, der nicht unter Vor- 
mundschaft steht, wegen geistiger oder körperlicher Gebrechen einzelne 
seiner Angelegenheiten, insbesondere seine Vermögensangelegenheiten nicht 
zu besorgen vermag, jedoch ist die Pflegschaft nur mit Einwilligung des 
Gebrechlichen anzuordnen und auf seinen Antrag aufzuheben. Der Wir- 
kungskreis des Pflegers ist daher vom Umfange des Bedürfnisses und dem 


218 B. Mitteilungen. 


Willen des Gebrechlichen abhängig. Die Einsetzung der Pflegschaft hat 
auf die Geschäftsfähigkeit des Gebrechlichen keinen Einflufs, selbst be- 
züglich der in den Wirkungskreis des Pflegers fallenden Handlungen. 
Redner schlofs mit dem Wunsche, dafs die Kenntnis der zahlreichen zum 
Schutze der Geistesschwachen bestehenden gesetzlichen Bestimmungen bald 
weitere Verbreitungen finden möchte, damit wirklich die durch sie be- 
zweckten Mafsnahmen in möglichst allen einschlägigen Fällen zur Durch- 
führung kämen. 

Eine Debatte über den Vortrag wurde von der Versammlung nicht 
gewünscht. Der Vorsitzende wies darauf hin, dafs das vom Referenten 
gebotene Material gewils oft willkommene Handhaben zur Unterstützung 
der Hilfsschulzöglinge im späteren Leben biete und sprach die Hoffnung 
aus, dafs der Vortragende auf einem der nächsten Verbandstage auch die 
übrigen Rechtsgebiete ähnlich behandeln werde. 

Eine recht lebhafte Debatte entstand bei der von Hauptlehrer Kiel- 
horn-Braunschweig eingeleiteten Beratung von 2 Abschnitten der dem 
2. Verbandstage vorgelegten Leitsätze über die Organisation der Hilfs- 
schule (allgemeine Gesichtspunkte für den Unterricht und den Stundenplan 
betreffend). Jedoch fand schliefslich die vom Vorstande revidierte, in 
Beft 1 der »Kinderfehler« bei Mitteilung der Tagesordnung für den 4. Ver- 
bandstag bekannt gegebene Fassung Annahme Aus der Versammlung 
heraus wurde der Antrag gestellt, den Thesen die folgende hinzuzufügen: 
Öffentliche Prüfungen finden in der Hilfsschule nicht statt, doch ist es 
empfehlenswert, den Eltern alljährlich einmal zu gestatten, dem Unterrichte 
beizuwohnen. Die Versammlung entschied sich jedoch für Ablehnung. 

Auf Wunsch des grölseren Teils der Versammlung hielt dann noch 
Hauptlehrer Mayer-Mannheim einen von ihm erst nach Veröffentlichung 
der Tagesordnung angemeldeten Vortrag tiber das Thema: »Welche Be- 
sonderheiten ergeben sich für den Sachunterricht in der Hilfs- 
schule?« dessen Gedankengang etwa folgender war: Bej allen Schwach- 
sinnigen tritt ein auflfälliger Mangel an Aufmerksamkeit zu Tage und schon 
dieser macht ihre geringe geistige Entwicklung begreiflich. Betrachtete 
man früher die Aufmerksamkeit als ein angeborenes Seelenvermögen, so 
weist die neuere Psychologie nach, dafs dieselbe motorisch ist, dafs ihre 
Voraussetzungen mehr im körperlichen als im geistigen Organismus liegen. 
Die äulseren Symptome der Aufmerksamkeit betreffen in gleicher Weise 
die Atmungs- und Muskeltätigkeit. Jeder erfährt an sich, wie das Atmen 
und jede Körperbewegung zeitweilig völlig eingestellt wird, der ganze Or- 
ganısmus vorübergehend im Zustande des Gespanntseins ist. Diese Span- 
nung bedeutet ein Einstellen der Organe auf den zu erfassenden Reiz, den 
Vorgang, welchen die Aufmerksamkeit veranlalst. Sie rührt von den 
Muskelempfindungen her, die durch das auf den peripheren Reiz reagierende 
Inbereitschaftsetzen und Einstellen der Organe zur inneren Wahrnehmung 
gelangen. Richtig aufmerksam kann daher nur der sein, dessen musku- 
löse und nervöse Organe sich in normaler Beschaffenheit befinden. Die 
Schwachsinnigen aber stehen in der Regel an Gewicht, Gröfse, Kraft und 
Lebensenergie den Normalen nach, daher ihre Unfähigkeit, aufzumerken. 


IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands. 219 





Sie müssen deshalb durch Stärkung ihrer motorischen Apparate zur Auf- 
merksamkeit erst fähig gemacht werden. Voraussetzungslos von vorn be- 
ginnend muls man systematisch alles bei ihnen nachholen, was normale 
Kinder durch Spiel und Nachahmung schon vor der Schulzeit durchmachen. 
Man beginne daher mit dem Bewegungsspiel, welches zweckmälsig mit 
Rhytmus und Musik verbunden wird. Dann folgt spezielle Ausbildung der 
einzelnen Sinne Auch hier handelt es sich zunächst um motorische 
Funktionen. So falst z. B. der Gesichtssinn Formen, Gröfse und Entfer- 
nung nicht obne Bewegung der Augen und der tastenden Hand auf. Für 
die Ausbildung des Gesichtsorganes dürfen dem schwachsinnigen Kinde 
nicht gleich Dinge, Tiere, Modelle dargeboten werden, da es erfahrungs- 
gemäls nicht einmal einfache Flächenformen, geschweige denn komplizierte 
Körperformen auffasen kann. Ebenso mangelhaft ist die Leistungsfähigkeit 
der übrigen Sinnesorgane; sie müssen daher alle erst in systematischer 
Weise zu ihren elementaren Funktionen erzogen werden. Referent gibt 
Mittel hierfür an. Zur ersten Übung des Gesichts- und Tastsinnes emp- 
fiehlt er das Formenbrett. Zwecks richtigen Einsetzens der Scheiben 
mufs das Kind den Umrissen dieser und der Öffnungen mit Auge und 
Hand folgen; es entsteht so eine Reihe von Muskel- und Bewegungs- 
empfindungen, die in ihrer Gesamtheit die Darstellung der Form erzeugen. 
Wer die motorische Seite .der Sinnestätigkeit übersicht, die Ausbildung der 
motorischen Apparate vernachlässigt, wird es nie dahin bringen, dafs die 
einzelnen Eindrücke des Kindes sich nach Form und Gröfse voneinander 
abheben, dafs letzteres zu einer genauen Verzeption der Aulsenwelt ge- 
langt. Es wird wohl Worte sprechen lernen, aber die Begriffe werden 
verschwommen sein oder ganz fehlen. —- Gleichzeitig mit den elementaren 
Funktionen der Sinnesauffassung müssen die der Darstellung geübt werden. 
Es müssen daher von vornherein Dinge und Tätigkeiten bei allen Übungen 
genannt werden. Doch ist die Sprache nicht die einzige und nächst- 
liegende Darstellungsform ; sie hat in der Geste ihren Ursprung, manches 
läfst sich in ihr gar nicht ausdrücken. Die Ausbildung der übrigen Or- 
gane des Ausdruckes, insbesondere der Hand ist daher ebenso wichtig. An 
die Sinnesübungen schlielse sich deshalb ein systematischer Handarbeits- 
unterricht an. Durch denselben werden nicht blols die Vorstellungen 
körperlich dargestellt, die darstellenden Organe geübt und die Erwerbs- 
fähigkeit vorbereitet, sondern geradezu konstituierende Elemente des 
Geisteslebens geschaffen (Grundlagen des Kausalbewulstseins und des logi- 
schen Denkens, Selbst- und Persönlichkeitsbewulstsein). Auch die grolse 
Ausdehnung des motorischen Gehirnzentrums spricht für die Wichtigkeit 
der Arbeit. Die überall in den Hilfsschulen konstatierte Tatsache einer 
geringeren Anzahl von Mädchen erklärt sich vor allem daraus, dafs das 
Mädchen vor der Schulzeit mehr und bessere Spielgelegenheit hat schon 
dadurch, dafs es die Mutter in ihrer Arbeit und in ihrem Verkehr mit 
dem Kinde nachahmen darf, dann aber auch aus dem Umstande, dafs die 
Mutter ihre Tochter, selbst wenn diese noch so ungeschickt ist, doch mehr 
zu allerlei Dienstleistungen heranzieht. Wegen der vorgerückten Zeit 
konnte an den Vortrag eine längere Debatte sich nicht knüplen. Der 


Vorsitzende stellte nur noch einige geschäftliche Sachen zur Erledigung 
und schlofs dann die Versammlung mit nochmaligem Dank an die Teil- 
nchmer, den Ortsausschuls, die Referenten und die Vertreter der Presse. 
Unmittelbar darauf fand ein Festessen statt und an dieses schlofls sich 
eine Führung durch den Dom. Abends wurde in der Stadthalle von 
5 Mainzer Gesangvereinen ein Festabend veranstaltet. Während der Ver- 
bandstage war das römisch-germanische Museum den Teilnehmern unent- 
geltlich zugänglich. — Im Laufe des Tages liefen Danktelegramme aus 
dem Preufsischen Unterrichtsministerrium und von Geheimrat Brandi ein. 

Am 16. April begab sich ein Teil der Teilnehmer am Verbandstage nach 
Idstein, um die dortige Erziehungsanstalt zu besichtigen, ein anderer Teil 
fuhr nach Giefsen, wo unter Führung von Professor Dr. Sommer eine 
Besichtigung der neuen psychiatrischen Klinik stattfand. Im Anschlufs 
daran hielt Professor Sommer einen Vortrag über »Die verschiedenen 
Formen der Idiotie vom Standpunkt der Therapie und Prophylaxe«, er- 
läutert durch Photographien u. s. w., aus dem nachstehend nur einiges 
mitgeteilt sei. Die Idiotie bietet eine ungeheure Variation in ihren Er- 
scheinungen dar, die das Endresultat sehr verschiedener Krankheitsprozesse 
sind; eine Einteilung ist nur auf Grund der Entstehung möglich. Auch 
graduell besteht ein enormer Unterschied. Die Hilfsschule, die es mit den 
weniger in die Augen springenden Formen des Übergangs zur Normalität 
zu tun hat, arbeitet daher unter psychologisch schwierigen Verhältnissen. 
Sie bezeichnet eine ähnliche Entwicklung in der Pädagogik, wie sie auch 
in der Psychiatrie zu verzeichnen ist, in der man früher allein auf An- 
stalten sein Augenmerk richtete. Verschiedene Gruppen der Idiotie sind 
nach dem heutigen Standpunkte der Wissenschaft scharf differenzierbar. 
So die Hydrocephalie. Sie entsteht durch Wasseransammlung in den 
mittleren Gehirnhöhlen. Dadurch wird sekundär das Gehirn und damit 
auch der Schädel ausgedehnt, oft so gewaltig, dals letzterer wie maceriert 
erscheint, an vielen Stellen nur Bindegewebe besitzt und dafs infolgedessen 
leicht Gehirnverletzungen eintreten können. Die Hydrocephalie erzeugt 
Idiotie, Epilepsie, starke Reizbarkeit, oft aber auch nur Übergangsfälle. 
Bisweilen sind die Hydrocephalen intellektuell ganz leidlich gestellt, stets 
aber sind sie impulsive, sehr wechselnde Naturen. Die Prognose der Hydro- 
cephalie ist günstig; es kann namentlich im Beginn der Krankheit durch 
Medikamente günstig auf sie gewirkt werden, und die Wissenschaft wird 
jedenfalls schliefslich dahin gelangen, dic Hydrocephalie zu heilen. Im 
Gegensatz dazu ist die Prognose für die Mikrocephalie recht ungünstig, 
da letztere auf der gesamten Gchirnorganisation beruht. Die Mikrocephalie 
ist wenig beeinflulsbar; man wird daher bezüglich derselben stets auf 
Anstaltserzichung Bedacht zu nehmen haben. Dagegen bietet der Kreti- 
nismus oft wieder eine bessere Pragnose trotz der mancherlei körperlichen 
Abnormitäten z. B. schwamnige, runzlige Haut, eingesunkene Nasenwurzel, 
grolse Zunge. Die Ursache ist eine Erkrankung der Schilddrüse, es sei nun, 
dals diese ein Gift ausscheidet oder ein normalerweise im Körper entstehendes 
Gift nicht mehr abtötet. Die Krankheit wirkt vor allem auf Haut, Knochen 
und Gehirn, oft auf eins mehr als auf das andere. Behandlung mit Schild- 


Probleme der Kindersprache. 22] 








drüsenextrakt scheint guten Erfolg zu versprechen. Die Porencephalie 
hat als Ursache Spaltbildung im Schädel mit Ausfall gewisser Hirnteile, 
entstanden bei der Geburt, durch Platzen einer Ader oder durch Zer- 
trümmerung oder Entzündung des Schädels. Sie ist der Behandlung vor- 
züglich zugänglich, namentlich in motorischer Beziehung, indem man durch 
Muskelübung auf die betreffenden Nervenpartien einwirkt. — Zahlreiche 
sonstige Erscheinungen der Idiotie mit morphologischen Ercheinungen, be- 
sonders Schädelabnormitäten sind noch nicht näher differenziert. Für sie 
pflegt die Aneignung abstrakter Begriffe sehr schwer zu fallen; man sollte 
daher bei diesen Fällen von vornherein mehr die Hand zu mechanischer 
Tätigkeit bilden. Deformationen des Schädels hängen oft mit Verknöche- 
rung von Schädelnähten zusammen. — Nicht selten begegnet man Fällen, 
wo die Idiotie nicht angeboren, sondern erst durch Krankheit nach der 
Geburt erworben ist. Epileptische Zustände, die im ersten Lebens- 
alter entstehen, können oft wie angeboren erscheinen. Auch auf diesem 
Gebiete wird die Wissenschaft gewifs einmal therapeutisch besser gestellt 
sein, nachdem für Erforschung der Epilepsie gewisse Vorarbeiten geliefert 
sind. — Zusammenfassend ist zu sagen, dafs auf dem Gesamtgebiete der 
Idiotie zweifellos viel zu erreichen ist, wenn Pädagogen und Ärzte zu- 
sammen arbeiten, die pädagogische Behandlung eine medizinische Psycho- 
logie auf naturwissenschaftlichem Boden zur Grundlage hat. 
Hannover. A. Henze. 


2. Probleme der Kindersprache. 


Von Dr. Paul Maas, Spezialarzt für Sprachstörungen in Aachen. 


Die Kinderpsychologie erfreut sich in den letzten Jahren cines leb- 
haften Interesses seitens der Pädagogen, Ärzte und Psychologen. Die 
Pädagogen haben eingesehen, dafs die Gesetze des Geisteslevens Er- 
wachsener sich nicht ohne weiteres auf das Kind übertragen lassen und 
dafs daher eine rationelle Erziehung sich nur auf eine genaue Kenntnis 
des kindlichen Geisteslebens aufbauen könne. Die Psychiater haben er- 
kannt, dafs viele abnorme Erscheinungen beim Erwachsenen sich schon in 
der Kindheit vorbereiten, teilweise sogar auf angeborene Defekte zurück- 
zuführen sind und dafs eine genaue Erforschung der normalen sowie anor- 
malen psychischen Vorgänge beim Kinde von der grölsten Bedeutung für 
die Erkenntnis und event. Verhütung der Geisteskrankheiten ist. Den Psycho- 
logen endlich liefert das Studium der Kindesscele in vielen Fällen erst den 
Schlüssel für die komplizierten Erscheinungen beim Erwachsenen, ähnlich 
wie die Anatomen den verwickelten Bau des ausgebildeten menschlichen 
Gehirnes erst durch das Studium der einfacheren Verhältnisse beim Embryo 
und bei dem Kinde erschlossen haben. Eines der interessantesten Kapitel 
der Kinderpsychologie bildet nun die Entwicklung der Sprache. Aber auf 
keinem Gebiete sind die Meinungsverschiedenheiten der Autoren grölser als 
gerade auf diesem. Es beruht dies teilweise auf der Schwierigkeit der 
Beobachtung und noch mehr der Deutung des beobachteten, zum grolsen 


222 B. Mitteilungen. 


Teil aber auch auf einer Unklarheit der Begriffe, die in grundlegenden 
Fragen verwandt werden. Eine Klärung des »Begriffesder Kindersprachę< 
an sich sowie einiger wichtiger Begriffe der Kindersprache strebt Ament 
in seiner Arbeit über »Begriff und Begriffe der Kindersprache« !) an. Der 
Verfasser, auf dessen Ausführungen ich in folgendem näher eingehen werde, 
hat einzelne Fragen in befriedigender Weise gelöst, in manchen Punkten 
allerdings fordern seine Anschauungen zum Widerspruch heraus. 

Die Untersuchung beginnt mit der Darstellung der Streitfragen, die 
hinsichtlich der Ursache des Sprecheulernens beim Kinde existieren. Es 
haben sich zwei Anschauungen gebildet. Die eine suchte die Ursache des 
Sprechenlernens im Kinde und in der Umgebung, die andere vornehmlich 
in der Umgebung. Es dreht sich also der Streit um die Existenz von 
Erscheinungen, deren Ursachen im Kinde liegen sollen oder nicht. Da 
man eine solche Eigenschaft im allgemeinsten Sinne als Spontaneität be- 
zeichnet, so handelt es sich also um die Frage, ob und was beim Sprechen- 
lernen im Kinde spontan entsteht oder nicht entsteht. 

Zu der Frage, ob etwas beim Sprechenlernen im Kinde spontan ent- 
steht oder nicht, hat sich die erste Anschauung dahin ausgesprochen, dafs 
das Kind die Fähigkeit zu sprechen angeboren besälse und nur auf Grund 
dieser Fähigkeit später durch Nachahmung die Muttersprache erlerne. Die 
erste Anschauung vertritt also dic Spontaneität des Kindes neben der An- 
cignung der Muttersprache durch Erlernen. Hinsichtlich der Auffassung 
der Spontaneität gehen aber die Ansichten auseinander. Man kann eine 
willkürliche, absichtliche, bewulste, vernünftige oder eine unwillkürliche, 
unabsichtliche, unbewulste, instinktive Spontaneität unterscheiden, je nach- 
dem der Wille an ihrem Zustandekommen beteiligt ist oder nicht. Nur 
wenige der Autoren haben sich mit klaren Worten ausdrücklich zu einer 
dieser Formen bekannt. Die Mehrzahl hat sich hierüber gar nicht aus- 
gesprochen, sie gebraucht die Begriffe Erfindung, Schöpfung, Erzeugung 
bezüglich Hervorbringung ohne Stellung zum Problem der willkürlichen oder 
unwillkürlichen Spontaneität zu nehmen. 

Die Vertreter der zweiten Anschauung, welche die Ursache des 
Sprechenlernens nur in der Umgebung sucht, sind sich über die beiden 
Formen der Spontaneität zwar im Klaren. Bezüglich späterer Erscheinungen 
der Kindersprache z. B. der Wortumgestaltungen sagen viele hierher ge- 
hörige Autoren, dals sie im Kinde selbst entstehen, sie betrachten sie als 
unwillkürliche Spontaneitäten, andrerseits verbreiten sie sich aber auch ein- 
gehend über willkürliche Bildungen, diesen gleich setzen sie den Begriff 
der Erfindung. Erfindungen glauben sie aber dem Kinde beim Sprechen- 
lernen nicht zugestehen zu können. Da aber die eigentümlichen sprach- 
lichen Erscheinungen im Kindermund nicht wegzuleugnen waren, so mufsten 
sie auf eine ganz andere Ursache zurückgeführt und deshalb als eine Er- 
findung der Mütter und Ammen betrachtet werden. 

Aus diesen Ausführungen Aments ergibt sich nun, dals hinter den 
Gegensätzen gar nicht die gleichen Begriffe stecken. Die erste Anschauung, 


1) Berlin, Verlag von Reuther & Reichard, 1902. 


Probleme der Kindersprache. 993 


welche willkürliche und unwillkürliche Spontaneität nicht scheidet, kann die 
Begriffe Erfindung, Schöpfung u. s. w. überhaupt nicht eindeutig gebrauchen, 
sie verwendet sie in einem sehr weiten Sinne. Die zweite Anschauung 
gebraucht den Begriff der Erfindung nur im Sinne der willkürlichen Spon- 
taneität, sie verwendet ihn also in einem engern Sinne. Bei einer Dis- 
kussion über die Frage der Spracherfindung hätte also eine Definition des 
beiderseitigen Begriffes »Erfindung« allen polemischen Ausführungen voran- 
gehen müssen. Dies geschah aber nicht, und indem die zweite Anschauung 
vom Standpunkte ihres Begriffes »Erfindung« der erstern gegenübertrat, 
verwarf sie jene vollständig, auch das was an ihr richtig war. Sie über- 
sah dabei, dafs neben dem Begriff der Erfindung, der willkürlichen Spon- 
taneität, auch der der angeborenen Fähigkeit zu sprechen, die unwillkür- 
liche Spontaneität, möglich ist. Eine willkürliche Spontaneität besteht 
keineswegs in dem Umfange, wie dies z. B. von Romanes!) behauptet 
wird, der angibt, dafs Kinder sich eine vollständige Sprache ganz aus sich 
heraus gebildet hätten. Ob die seltenen Fälle unerklärbarer Wortbildungen, 
die in der Literatur angeführt sind als Erfindungen, willkürliche Sponta- 
neitäten anzusehen sind, möchte ich erst bei der Besprechung der Wort- 
bildungen erörtern. Eine unwillkürliche Spontaneität müssen wir dem 
Kinde zugestehen. Sie zeigt sich schon in der Art und Weise, wie das 
Kind seine wechselnden Gefühle durch verschiedene Nüancierungen des 
Schreiens ausdrückt, und weiter wie es seine Lalllaute gebraucht, um seine 
Wünsche kundzugeben. Und ebenso zeigen die Ausdrucksformen, welche 
taubstumme Kinder unabhängig vom Unterricht sich schaffen, um sich der 
Umgebung verständlich zu machen, eine Spontaneität der Sprachbildung. 
Wortbildungen wie papa, mama, wauwau, welche heute den Kindern von 
den Müttern und Ammen überliefert werden, und deren Erfindung man 
diesen überhaupt zugeschrieben hat, sind nur dadurch erklärlich, dafs sic 
von den Kindern ursprünglich gebildet, von der Umgebung fixiert über- 
liefert und in Analogiebildungen nachgeahmt worden sind. 

Hand und Hand mit dieser Unklarheit über den Begriff der Erfindung 
geht die Unsicherheit über den »Begriff der Kindersprache« an sich. Als 
sprachliche Erscheinungen im Munde des Kindes führt Amen t folgende an:?) 


I. Zu Beginn der Spracherlernung. 
1. Die Bildung der Wörter, ursprüngliche Wortbildung, 
a) spontane Stimmreaktionen (Lalllaute), 
b) Interjektionen, 


1) Die von Romanos mitgeteilten Worterfindungen eines amerikanischen Kindes 
sind wahrscheinlich französiche Worte, die dem Kinde wahrscheinlich von der 
Mutter, die des Französischen mächtig war, beigebracht wurden. i 

2? Ich habe diese Übersicht in derselben Form angeführt, wie sie Ament an- 
gegeben hat, möchte allerdings hier schon bemerken, dafs die ursprünglichen Wort- 
bedeutungen nicht als Assoziationen zwischen Sach- und Wortvorstellungen aufzu- 
fassen sind, aulserdem dafs die von Ament als Verallgemeinerungen bezeichneten 
Bildungen nur scheinbare Verallgemeinerungen sind, Ich werde bei der Besprechung 
der Wortbedeutungen näher darauf eingehen. 


B. Mitteilungen. 


c) Onomatopoetika, 
d) Worterfindungen (Neubildungen, Wortmedaillen, Wortschöpfungen). 
2. Die Bildung der Assoziation von Sach- und Wortvorstellungen, ur- 
sprüngliche Wortbedeutung. 
II. Zur Zeit der Nachahmung der Muttersprache. 
1. Die Umgestaltungen 
a) der Wörter bei der Wortbildung durch Nachahmung von Worten 
der Muttersprache, Wortumgestaltungen, 
b) der Bedeutungen, 
«) Wortbeschränkungen, 
P) Wortverallgemeinerungen. 
Analogiebildungen, Wortbildung durch Ableitung. 
Wortbildung durch Zusammensetzung. 
Wortbildung durch Kontamination. +) 
. Wortbildung durch Etymologie. ?) 

In dieser Spezialisierung sind die sprachlichen Erscheinungen beim 
Kinde von keinem der Autoren erörtert worden. Einige gehen überhaupt 
nicht auf Einzelheiten ein, und soweit dies bei andern geschieht, werden 
die Einzelheiten nicht erschöpfend behandelt. Infolgedessen mulste die 
Beantwortung der Frage, was beim Kinde spontan gebildet würde, ver- 
schieden ausfallen, je nachdem diese oder jene Erscheinung in den Kreis 
der Erörterung miteinbezogen wurde. Da also der Begriff der Kinder- 
sprache bei den einzelnen Autoren bezüglich seines Inhaltes und Umfanges 
keineswegs konstant ist, so versucht Ament eine neue Begriffsbestinnmung. 
Sie muls einerseits mit der Tatsache der Spontaneität rechnen, andrerseits 
das Verhältnis dieser zur Nachahmung der Muttersprache in Betracht 
ziehen. Die Spontaneität des Kindes, welche, wenn wir von den noch um- 
strittenen seltenen Fällen willkürlicher Spontaneität absehen, eine unwill- 
kürliche ist, ist die Grundlage für die spätere Nachahmung der Mutter- 
sprache. Die Nachahmung glückt aber anfänglich nicht getreu, sondern 
ist von mehreren Bedingungen abhängig, die wir hinsichtlich der Formen 
innerhalb des Kindes in Aufmerksamkeitszuständen und in der Entwicklung 
des Gehör- und Sprachorgans, ferner in der Unerfahrenheit hinsichtlich der 
Formen der Muttersprache erkennen. Demgegenüber stehen die zeitlich 
festbestimmten Formen und Bedeutungen der Muttersprache. Durch das 
Zusammentreffen dieser beiden Faktoren entsteht ein Konflikt, dessen Pro- 
dukt im Kindermunde eigenartige, in der Muttersprache ungebräuchliche 
Formen und Bedeutungen neben gebräuchlichen sind, deren Gesamtheit 
unter dem Begriff Kindersprache zusammengefalst wird. 

Ament definiert also den Begriff der Kindersprache als die Gesamt- 
"heit der aus dem Konflikt zwischen dem spontanen Sprachtrieb des 
Kindes und den zeitlich festbestimmten Formen der Muttersprache resul- 


rl 


') Kontamination = Verschmelzung synonymer oder verwandter Ausdrucks- 
formen, z. B. lauterlei aus lauter und allerlei. 

2) Dadurch dafs einem an sich unbekannten Worte durch Gestaltsveränderung 
ein bekannter Siun untergeschoben wird, z. B. Fuhrwerk für Furie. 





Probleme der Kindersprache. 225 


tierenden Erscheinungen. Der Umfang dieses Begriffes umspannt alle 
sprachlichen Erscheinungen des Kindes, wie sie in der vorhin gegebenen 
Übersicht zusammengestellt sind. 

Der Begriff der Erfindung soll für die willkürlichen Spontaneitäten 
reserviert bleiben. 

Derselbe Gegensatz, wie in den Anschauungen über den Anteil des 
Kindes und der Umgebung am Sprechenlernen überhaupt, zeigt sich auch 
in den Anschauungen über den Anteil dieser an einzelnen Erscheinungen 
des Sprechenlernens. Am schärfsten ist er zweifellos in der Benrteilung 
der Wortbildung des Kindes zu Tage getreten. Auch hier wird die Frage, 
ob Wortbildungen beim Sprechenlernen im Kinde spontan entstehen, von 
den einen bejaht, von den andern verneint. Aber auch hier wird der Be- 
griff der Erfindung in seiner besondern Form der Worterfindung von den 
einen in einer weiten, von den andern in einer engern Bedeutung gebraucht 
und die Vertreter der zweiten Anschauung übersehen, dafs die Verneinung 
der willkürlichen spontanen Wortbildung immer noch die Existenz der un- 
willkürlich spontanen offen lälst. 

Die andere Frage, welche Wortbildungen beim Sprechenlernen im 
Kinde spontan entstehen, ist wieder in verschiedener Weise beantwortet 
worden, je nachdem dieser und jener Autor diese und jene Formen unter 
dem Begriffe der Wortbildungen behandelte oder nicht behandelte. 

Zur Klärung der Streitfrage ist es also notwendig festzustellen, welche 
von den sprachlichen Erscheinungen des Kindes als Wortbildungen über- 
haupt in Betracht kommen und in welchem Verhältnis sie zu den Be- 
griffen der unwillkürlichen oder willkürlichen Spontaneität stehen. Diese 
Frage wird nun von Ament ausgehend von der oben gegebenen Definition 
der Erfindung näher geprüft. 

Die ersten sprachlichen Äufserungen des Kindes sind das Schreien 
und das Lallen, letzteres pflegt bekanntlich direkt in sprachliche Worte, 
Lallworte wie mama, papa überzugehen. Solche Silben entstehen, wenn 
der ausgeatmeten Luft durch die Lippen (p, b, f, r, m) oder die An- 
pressung der Zungenspitze an die Zähne oder den Alveolarrand (t, d, I, n) 
des Zungenrückens an den Gaumen (k, g) der Weg versperrt wird. Sie 
werden unwillkürlich, nicht willkürlich spontan hervorgebracht, weshalb von 
Worterfindung bei ihnen nicht. gesprochen werden kann. Ament bezeichnet 
sie als Stimmreaktionen und zwar dem Wesen ihrer Entstehung nach als 
impulsive. 

Daneben gibt es cine Gruppe von Erscheinungen, die zwar auch Stimm- 
reaktionen sind, aber keine impulsiven, sondern reflexartige. Sie sind der 
unwillkürliche spontane Ausdruck für plötzliche oder intensive Gefühls- 
zustände Auch bei ihnen kann deshalb von Worterfindung nicht ge- 
sprochen werden. 

Als eine weitere Gruppe erscheinen die Onomatopoctica. Sie sind 
durch den Mund des Kindes wiedergegebene Naturlaute und entstehen 
nicht anders, wie das Nachsprechen der Worte der Muttersprache. Auch 
sie sind keine Worterfindungen. Analogiebildungen und Wortumgestaltungen 
sind weder Wortbildungen überhaupt noch Worterfindungen. Es bleibt 


Die Kinderfchler. VIII. Jahrgang. 15 


296 B. Mitteilungen. 





noch eine Gruppe erst in neuerer Zeit und nur selten zur Beobachtung 
gelangter Billungen übrig, deren Charakteristikum ihre Unerklärlichkeit ist, 
weshalb man den Namen der Worterfindung auch den der Neubildung, der 
Wortmedaille, der Wortschöpfung ganz speziell für sie heranzog. Von allen 
derartigen Bildungen, welche in der Literatur mitgeteilt sind, lälst Ament 
nur zwei als beweiskräftig für die Existenz der Worterfindungen gelten. Es 
sind dies der von Strümpel mitgeteilte Laut »tibu«e, den sein Kind beim 
Anblick der Vögel im Alter von 10 Monaten äulserte und der Laut »adis, 
den das von Ament beobachtete Kind gebrauchte, um wie Ament angibt, 
»Kuchen« zu bezeichnen. Auf diese letztere Wortbildung möchte ich 
etwas näher eingehen, da Ament die Umstände, unter denen diese Laut- 
äulserung vor sich ging, genauer mitteilt. In seinem grölseren Werke 
über »Entwicklung vom Denken und Sprechen beim Kindes hat Ament 
die sprachlichen Erscheinungen des von ihm beobachteten Kindes Luise 
aufgezeichnet. Wir finden am 672. Tag »Kuchen nennt sie adie. In der 
vorliegenden Arbeit gibt Ament darüber Näheres an: »Es sah mir eines 
Tages zu, wie ich einen Kuchen zerteilte. Es ist verständlich, dafs hier 
in einem zuschauenden Kinde der Wunsch rege wird, ein Stückchen davon 
zu erhalten. Es hatte aber Kuchen weder mit dem gebräuchlichen noch 
mit einem ungebräuchlichen Ausdruck benennen gelernt. Wie drückte mir 
das Kind nun aus, dafs es Kuchen haben möchte? Es ruft, den Blick 
unverwandt auf den Kuchen gewendet, plötzlich adi. Ich wulste aus den 
Umständen heraus, was es wollte und mit seinem Stückchen Kuchen trollte 
es befriedigt davon.« Aus dieser Darstellung geht zunächst hervor, dafs 
das Kind mit dieser Wortbildung nur einen Wunsch ausdrücken wollte, 
dafs sie aber keineswegs als eine Benennung des Kuchens aufzufassen ist. 
Ament, der die Berechtigung dieses eventuellen Einwurfs anerkennt, nimmt 
nur an, dafs die Kinder meist mit der substantivischen Benennung des 
Gegenstandes zu verlangen pflegen. Was mich nun veranlafst, die will- 
kürliche Spontaneität der Wortbildung adi zu bezweifeln, ist folgendes: 
In dem oben erwähnten gröfsern Werke findet sich der Laut addi am 
679. Tage wieder und zwar in folgendem Zusammenhang: „Luise lernte 
das Kinderverschen aus dem Struwelpeter: „Wenn die Kinder artig sind, 
kommt zu ihnen das Christkind u. s. w.« in folgender Weise ergänzen: 
wenn die Kinder — addı, kommt zu ihnen tinni u. s. w. Wenn man 
jetzt vom Christkindchen spricht, sagt sie oft addi.« Ich halte es nun 
für sehr leicht möglich, dafs dem Kinde vor dem 672. Tag auch einmal 
gesagt worden ist, »wenn du artig bist, bekommst du Kuchen« und ebenso 
wie »Christkindchen« bei ihm den Laut addi reproduziert, kann auch der 
Anblick des Kuchens und der Wunsch, ein Stück davon zu bekommen, den 
Laut adi reproduzieren. Jedenfalls sind wir nicht ohne weiteres berechtigt, 
aus der Unerklärlichkeit einer Wortbildung auf Worterfindung zu schliefsen. 
Wir sind gar nicht in der Lage alle die Laute, die von dem Kinde ge- 
legentlich einmal aufgenommen werden, zu kontrollieren. Durch die bis- 
herigen Beobachtungen ist meines Erachtens die Existenz wirklicher Wort- 
erfindungen scitens des Kindes keineswegs einwandsfrei bewiesen. Ament 
begeht auch den Fehler, dals er irgendwelche Laute, die ein Kind beim 





Erziehungs- u. Fürsorge-Verein f. geistig-zurückgebliebene (schwachs.) Kinder. 227 


Zeigen eines. Gegenstandes produziert, ohne weiteres zu diesem Gegenstand. 
in Beziehung bringt oder gar als Benennung dieses Gegenstandes deutet. 
Er führt im Zusammenhang mit der Wortbildung adi einen Lallmonolog 
des Kindes an, der seiner Ansicht nach den Weg zeigt, wie derartige 
Worterfindungen entstehen können. Er berichtet darüber: »Ich führte sie 
in den Garten. Hier hielt sie einen Lallmonolog, der in mannigfachem 
Wechsel von baba, mamm, ruru, debüh, monné, mimi, d’boda« bestand.. 
Vieles was ich ihr zur Benennung bot, wie Blätter, Būcher bekam irgend 
einen dieser Namen. Nun scheint mir der Lallmonolog zu zeigen, wie 
ein ganz selbständiges Wort entstehen kann. Wir werden uns deren Ent- 
stehung so denken müssen, dafs sie aus dem Sprachtrieb und den. Sprach- 
gefühl gleichsam spontan herausflossen und nur die Absicht, etwas zu be- 
nennen, hierbei bewulst war. Dazu scheint der Lallmonolog noch ersicht- 
lich zu machen, wie leicht das Kind geneigt ist, bedeutungslose Silben, 
deren es im Lallen so viele zur Verfügung hat, auf ganz beliebige Gegen- 
stände zu übertragen.«e Nun hat Meumann!) schon darauf hingewiesen, 
dafs hier von einer Übertragung der Lalllaute auf die betreffenden Gegen- 
stände oder von einer Absicht etwas zu benennen, keine Rede sein kann, 
sondern dafs der Anblick der Objekte und die Anregung durch den Er- 
wachsenen dem Kinde Veranlassung geben, seinen Sprechapparat in voll- 
kommen willkürlicher Weise funktionieren zu lassen. Ich kann die Rich- 
tigkeit dieser Ansicht durch Beobachtung an einem 2!/, jährigen psychisch- 
tauben ?) Knaben bestätigen. Das Kind, welches ursprünglich stumm war, 
lernte bald einige Laute durch Nachahmung, dadurch dals ich ihm Bilder 
zeigte und die Namen der Bilder laut aussprach. In der Folge wurden 
nun beim Zeigen der Bilder auch spontan einige Laute (u, ä, pa, ua u. s. w.) 
produziert. Von einer Absicht, die Bilder mit diesen Lauten zu benennen, 
kann bei dem geistigen Zustande des Kindes gar keine Rede sein. Das 
Kind weils gar nicht, dals die beim Zeigen der Bilder gesprochenen 
Worte in irgend einer Beziehung zu den Gegenständen stehen. Das 
Zeigen der Tafeln ist für das Kind nur eine Anregung, scine Sprachwerk- 
zeuge, deren Gebrauch ihm jetzt anscheinend Vergnügen macht, in Be- 
wegung zu setzen. (Schlufs folgt.) 


38. Erziehungs- und Fürsorge-Verein für geistig-zurück- 
gebliebene (schwachsinnige) Kinder zu Berlin. 


Am 26. März dieses Jahres ist in Berlin ein Erziehungs- und Für- 
sorge- Verein für geistig zurückgebliebene (schwachsinnige) Kinder gegründet 
worden. Er verfolgt den Zweck, »Interesse und Verständnis für die Aus- 
bildung und Erziehung der geistig zurückgebliebenen (schwachsinnigen) 








!) Meumann, Die Entstehung dor ersten Wortbedeutung beim Kinde (1902) S. 36. 
2) Unter psychischer Taubheit versteht man Fehlen des Sprachbverstäudnisses 
bei normaler Hörfähigkeit. Kinder, bei denen die psychologische Taubheit angeboren 
ist, sind stumm oder sprechen nur einzelne Laute. 
15* 





228 B. Mitteilungen. 


Kinder zu wecken und zu beleben und an der geistigen, leiblichen, sitt- 
lichen und wirtschaftlichen Förderung dieser Minderjährigen mitzuwirken.« 
Die konstituierende Versammlung fand im Preulsischen Abgeordnetenhause statt 
und vereinigte Pädagogen, Mediziner, Volkswirtschaftler, Volkswohltäter und 
behördliche Personen. Die Ziele des Vereins wurden dargelegt von Herrn 
Kgl. Kreisschulinspektor Dr. von Gizycki, Herrn Rektor Henstorf und 
Herrn Rektor Pagel. Ersterer besprach die Entwicklung der Hilfsschul- 
einrichtungen; Herr Henstorf berichtete über die sozial- wirtschaftlichen 
Schwächen und moralischen Gefahren, denen schwachsinnige Kinder und 
Erwachsene ausgesetzt sind, und Herr Pagel endlich erläuterte die Orga- 
nisation des Vereins. Ein Statutenentwurf wurde von der Versammlung 
genehmigt, ebenso ein Aufruf, der sich an das grolse Publikum wenden 
sol. Zum Vorsitzenden wurde Herr Schulinspektor Dr. von Gizycki, 
zu seinen Stellvertretern wurden die Herren Schulinspektor Dr. Fischer 
und Sanitätsrat Prof. Dr. Hartmann gewählt. Das Amt des ersten Schrift- 
führers bekleidet Herr Schulinspektor Gäding. Aulser dem üblichen Vor- 
stand wurde noch eine Reihe von Beisitzern ernannt, darunter Herr General- 
superintendent D. Faber, Herr Probst Neuber, Herr Mosse, Heır 
Schulrat Dr. Zwick, Herr Erziehungsinspekter Piper u. a — Die 
ausführenden Organe des Vorstandes sind einzelne Kommissionen, von 
denen die Pädagogische Kommission sogleich gegründet wurde; die 
Begründung einer sozialen, hygienischen und juristischen Kommission ist 
in Aussicht genommen. —: Die Pädagogische Kommission hielt am 
S8. Mai ihre erste Sitzung ab. Dicselbe wurde von ca. 100 Personen be- 
sucht, unter denen sich auch Herr Geh. Ob.-Reg.-Rat Brandi befand. 
Nachdem der Vorsitzende, Herr Rektor Stodt, die Ziele der Kommission klar- 
gelegt hatte, sprach der Unterzeichnete Arno Fuchs über »die nächsten 
ZielederlHilfsschulpädagogik.« Referent schickte seinem Vertrage einen 
kurzen Bericht über den Mainzer Hilfsschultag voraus und betonte im An- 
schluls daran die Notwendigkeit eines Zusammenschlusses der Berliner 
Hilfsschulpädagogen und Hilfsschulfreunde. Dals es sich bei der Grün- 
dung des Berliner Vereins nur um ceine ideale Konkurrenz handeln könne, 
im übrigen aber das Bestreben herrsche, mit allen Gleichstrebenden in 
Deutschland einträchtig und eimnmütig zu arbeiten, gehe auch daraus hervor, 
dafs der Berliner Verein in Kürze dem Ililfsschultag als Mitglied beitreten 
werde. Als das nächste Ziel der Hilfsschulpädagogik betrachtete der Re- 
ferent die Ordnung und Zusammenfassung der gesammelten Erfahrungen und 
Beobachtungen auf dem Gebicte der Psychologie und Methodik nach päda- 
gogisch wissenschaftlichen Gesichtspunkten. Die hierdurch geschaffenen 
monographischen Abhandlungen, z. B. über die ungenaue Perzeption, die 
logische Denkschwäche, den Konkretismus im Denken, die ungünstige Dis- 
position bei schwachsinnigen Kindern, würden der wissenschaftlichen Psy- 
chologie, der Psychiatrie, der Hilfs- und Volksschulmethodik wertvolle 
Aufschlüsse geben. Auf diesem Wege sei auch am ersten eine pädago- 
gische wissenschaftliche Charakteristik des Schwachsinns zu erarbeiten, die 
grundlegende Bedeutung gewinnen werde für die äufsere Organisation der 
Hilfsschulen und Fürsorgeveranstaltungen. Mit einer Mahnung an die Hörer 


IV. Schweizerische Konferenz für das Idiotenwesen. 299 


zur regen Mitarbeit auf dem interessanten Gebiete, auf dem Neues und 
Wertvolles geschaffen werden könne, schlofs der Vortragende seine Aus- 
führungen. Aus der Debatte sind besonders die Bemerkungen des Herrn 
Geh. Ob.-Reg.-Rats Brandi hervorzuheben. Er sprach seine Freude aus 
über die Einmütigkeit, die auf dem Gebiete des Hilfsschulwesens in ganz 
Deutschland herrsche und die sich auch in dieser Versammlung gezeigt hate. 
Die preulsische Schulbehörde habe absichtlich keine Lehrpläne für Hilfs- 
schulen vorgeschrieben, da sie auf dem Standpunkte stehe, dafs die Vor- 
schläge aus den Kreisen derer kommen müssen, die praktisch in der Hilfs- 
schule arbeiten. Die preufsische Behörde habe die sogenannten Nachhilfe- 
klassen für verwahrloste und vernachlässigte, aber normale Kinder verboten. 
Die Behörde erkenne ferner das Ziel der Hilfsklassen, die schwachsinnigen 
Kinder für die Volksschule vorzubereiten, nicht an. Das Hauptgewicht bei 
der Erziehung schwachsinniger Kinder sei auf die Gemütsbildung zu legen. 

Der Berliner Verein zählt gegenwärtig ca. 150 Mitglieder. 

Berlin. A. Fuchs. 


4. IV. Schweizerische Konferenz für das Idiotenwesen. 


Seit 1899 versammelt sich die Schweizerische Konferenz für das Idioten- 
wesen regelmälsig alle 2 Jahre. An der diesjährigen Versammlung, die 
am 11. und 12. Mai in Luzern stattfand, waren etwa 230 Teilnehmer aus 
allen Teilen der Schweiz und 2 Gäste aus Stetten (Württemberg) anwesend. 
Der Vorsitzende, Sekundarlehrer Aner in Schwanden (Glarus), hielt das 
einleitende Referat über den »gegenwärtigen Staud der Sorge für 
geistesschwache Kinder in der Schweiz«e. Gegenwärtig bestehen 
22 schweizerische Erziehungs- und Pflegeanstalten für Geistes- 
schwache mit 958 Zöglingen; seit ihrer Gründung sind 3028 Kinder, 
1630 Knaben und 1398 Mädchen aufgenommen worden; in den letzten 
6 Jahren, also seit der ersten schweizerischen Zählung der anormalen 
Kinder, ist die Zahl der Anstaltszöglinge um 110°/, gestiegen. Spezial- 
klassen (Hilfsschulen) für Schwachbegabte gibt es 57 mit 1160 
Schülern; die Zahl der letzteren hat sich seit 1897 um 100°/, vermehrt. 
Nachhilfeklassen für Schwache bestehen in St. Gaben und Appenzell 
als Notbehelf in kleineren Gemeinden und leisten Gutes. Im Juli dieses 
Jahres erscheint in Zürich ein für die Schüler der Hilfsklassen und Er- 
ziehungsanstalten bestimmtes Lesebuch in 3 Teilen. Die Gründung ver- 
schiedener neuer Anstalten und Hilfsklassen steht in Aussicht; es geht in 
der Schweiz mit den Bestrebungen der Konferenz vorwärts; die im Laufe 
dieses Jahres in Kraft tretende eidgenössische Schulsubvention wird auch 
die Erziehung der geistesschwachen Kinder fördern. 

Das Hauptthema des 1. Tages bildete ein Vortrag von Dr. Ulrich, 
Arzt der Anstalt für Epileptische in Zürich: »Der Schwachsinn bei 
Kindern, seine anatomischen Grundlagen, seine Ursachen, 
seine Verhütung.« Die Ausführungen stützten sich auf vieljährige 
Untersuchungen und Beobachtungen und wurden durch Vorweisung von 


230 B. Mitteilungen. 


grofsen Abbildungen anormaler Gehirne illustriert. Aus dem überaus 
interessanten, reichen Material, das durch Direktor F. Kölle mit statistischen 
Angaben aus meist deutschen Anstalten ergänzt wurde, sei nur folgendes 
angeführt: Als Hauptaufgaben für die Gesunden zur Bekämpfung und Ver- 
hütung des Schwachsinns ergeben sich: Aufklärung des Volkes über Wesen 
und Folgen der erblichen Belastung, Bekämpfung des Alkoholmifsbrauches 
und anderer Gewohnheitsgifte, Bekämpfung der Syphilis, der Tuberkulose, 
des Kretinismus, der Armut und des Elendes überhaupt; Schonung der 
Mutter während der Schwangerschaft, Schonung der Kinder vor, bei und 
nach der Geburt. 

Det 2. Konferenztag bracht 3 Vorträge mehr praktischer Natur. Über 
das Thema »Steilung der Lehrkräfte und der übrigen Angestellten 
in den Anstalten für Schwachsinnige« referierten die Vorsteher 
Öberhänsli in Mauren-Thurgau und Heimgartner in Chur. Verschie- 
dene an manchen Anstalten bestehende Übelstände werden gerügt und fol- 
gende von der Versammlung gutgeheilsene Forderungen aufgestellt: Den 
Hauscltern in den Anstalten sollen von den Aufsichtsorganen keine be- 
engenden Schranken gesetzt werden; der Hausvater soll bei der Wahl des 
Lehr- und Dienstpersonals beratende Stimme haben; es ist darauf zu 
dringen, dafs die Lehrkräfte an den Anstalten finanziell mindestens so 
günstig gestellt werden wie ihre Kollegen an den öffentlichen Schulen, 
dals ihnen namentlich beim Übertritt in den öffentlichen Schuldienst die an 
Anstalten zugebrachten Dienstjahre bezüglich Alterszulagen angerechnet werden. 

In dem Vortrage »Stellung der Lehrkäfte an den Spezial- 
(Hilfs-)klassen für Schwachbegabte« (Lehrer Herzog in Luzern) 
wurde festgestellt: Die Spezialklasse für Schwachbegabte ist ein integrierender 
Teil der Volksschule. Kein Lehrer kann zur Übernahme einer solchen 
Klasse gezwungen werden. Durch seine spezielle berufliche Ausbildung 
erhält der Hilfsschullehrer eine gewisse selbständige Stellung. Die ver- 
mehrten Anforderungen an die Kräfte des Lehrers der Schwachen sollen 
durch eine Gehaltszulage cinigermalsen ausgeglichen werden. Baldmöglichst 
soll wicder einschweizerischer Bildungskurs für Lehrkräfte an Hilfs- 
klassen und Anstalten ins Leben treten. 

Der letzte Konferenzvortrag behandelte die »Sorge für die Schwach- 
sinnigen und Schwachbegabten nach ihrem Austritt aus der 
Anstalt beziehungsweise Spezialklasse« (Vorsteher Staumann in 
Biberstein-Aarau und Lehrer Graf in Zürich V.). Soll die Erziehungsarbeit 
nicht ohne bleibende Frucht bleiben, so mufs für diese Kinder auch nach 
dem Verlassen der Anstalt und Schule eine Fürsorge eintreten. Darum 
sind an den betreffenden Orten Patronate für diese Jugendlichen ins Leben 
zu rufen, welche den crwerbsfähigen Schwachsinnigen geeignete Stellen 
suchen und ihnen mit Rat und Tat beistehen. Für die nur teilweise Er- 
werbsfähigen sind Asyle mit landwirtschaftlichem Betrieb einzurichten; 
Blödsinnige und erwerbsunfähige Schwachsinnige sind in besonders zu grün- 
denden Pflegeanstalten unterzubringen. 

Der im Juli erscheinende gedruckte Bericht über die Verhandlungen 
der IV. Schweizerischen Konferenz wird eine wertvolle Publikation sein, 


Ein taubstummer Gelehrter. 231 


da er nicht nur sämtliche Vorträge und Debatten im Wortlaut, sondern 
auch eine grölsere Anzahl Illustrationen (aus dem Vortrag von Dr. Ulrich), 
sowie ein Verzeichnis sämtlicher schweizerischen Anstalten für Geistes- 
schwache enthalten wird. Er ist vom Vorsitzenden Herrn Auer in 
Schwanden-Glarus für fr. 1,20 ct. zu beziehen. 

Zürich. H. Graf. 


5. Ein taubstummer Gelehrter. 


Nach Einreichung einer Inaugural - Dissertation, betreffend: »Unter- 
suchungen über die Zusammensetzung des deutschen und amerikanischen 
Rotklees, der Zottelwicke und der Saatwicke während verschiedener Wachs- 
tumsstadien, sowie über den Einflufs bestimmter Düngemittel auf die Zu- 
sammensetzung der Wickes !) erwarb sich der Privatgelehrte Walther 
Kuntze in Leutzsch bei Leipzig im vorigen Semester vor der philosophischen 
Fakultät in Leipzig den akademischen Doktorgrad. Es ist dieses aus dem 
Grunde von Interesse, da Dr. Kuntze — fast taub geboren ist und legt Zeugnis 
davon ab, wie weit auch in wissenschaftlicher Hinsicht Taubstumme sich 
entwickeln können, wenn alle Verhältnisse günstig liegen. Dr. Kuntze 
ward 1869 in Halle a/S. geboren. Bald nach seiner Geburt zeigte sich 
sein Gehörleiden. Sein Vater, der über reiche Mittel verfügen konnte, 
konsultierte die bedeutendsten Öhrenärzte Deutschlands; sie erklärten das 
Gehörleiden für unheilbar und rieten ihm, seinen Sohn einer Taubstummen- 
anstalt zu übergeben. Dieses geschah allerdings nicht, doch wurde 
W. Kuntze bis zu seinem 9. Lebensjahre von einem Taubstummenlchrer 
in Halle privatim unterrichtet. Schon bei diesem Elementarunterrichte 
zeigte sich die hervorragende Begabung und die eiserne Willenskraft des 
Gebörkranken. Sein Vater entschlofs sich deshalb, ihm eine wissen- 
schaftliche Ausbildung geben zu lassen und übergab ihn als Privat- 
zögling dem damaligen Unterrichtsdirigenten der Tanbstummenanstalt zu 
Braunschweig. Hier wurde er von diesem und von einem Tanb- 
stummenlehrer privatim unterrichtet und zwar mit so gutem Erfolge, dals 
gar bald dem Unterrichte der Lehrplan der Gymnasialsexta zu Grunde 
gelegt werden konnte. Turnen, Zeichnen und andere technische Fächer 
hatte W. K. zusammen mit vollsinnigen Knaben in der Realschule von 
Dr. Günther. Der Umgang mit diesen, sowie das absolute Fernhalten von 
gebärdenden Taubstummen war sehr wichtig für seine Zukunft. — Als 
1882 sein Pensionsvater nach Ostfriesland berufen wurde, kam W. K. 
auf Rat desselben nach Hildesheim, wo von dem damaligen Direktor 
und von zwei Lehrern der dortigen Taubstummenanstalt das begonnene 
Werk fortgesetzt wurde. Aber schon nach einem Jahre wünschte der Vater 
von W. K. eine Änderung. Da ward ihm von Emden geschrieben: »Ihr 
Sohn bedarf keines Taubstummenlehrers mehr; lassen Sie ihn privatım 
von Gymnasiallehrern unterrichten.« Das geschah, und es zeigte sich 
bald, dafs W. K. von seinem früheren Lehrer nicht überschätzt war. Seine 


1) Lobend anerkannt im Lübecker Wochenblatte für Landwirtschaft u. Garten- 
bau, Nr. 29 vom 18. Juli dieses Jahres. 


232 B. Mitteilungen 


Absehfertigkeit war so vorzüglich, dafs er dem Unterrichte seiner neuen 
Lehrer vollständig folgen konnte. Bis hin zur Oberprima ward W. K. nach 
dem Lehrplane des Gymnasiums mit vorzüglichem Erfolge unterrichtet. 
Da aber streikten seine Nerven. Er gab das Studium zunächst auf und 
erlernte die Landwirtschaft. Sein Ziel war aber nicht, später die Güter 
seines Vaters zu übernehmen, sondern ein kleines Gut zu kaufen, das er 
ohne Hilfe von Inspektoren selbst verwalten konnte. Auch in diesem Be- 
rufe zeigte sich bald seine aulserordentliche Begabung; obgleich ihm die 
plattdeutsche Sprache bislang völlig unbekannt gewesen war, konnte er 
schon als Volontär auf einem Gute in Mecklenburg mit den plattdeutsch 
sprechenden Arbeitsleuten bald fertig werden. — Doch jeder kehrt zuletzt 
zu seiner ersten Liebe zurück. Wenngleich W. K. inzwischen ein glück- 
licher Familienvater geworden war, wandte er sich doch wieder dem 
Studium zu. Am 26. Februar dieses Jahres nalım der Procancellar der 
philosophisch-historischen Sektion der Universität Leipzig seine Inaugural- 
Dissertation an. Von der vorzüglichen Herzensbegabung des Taubstummen 
zeugen die Umstände, dafs er die Dissertation seinem Lehrer, der ihn auf 
seinem wissenschaftlichen Wege führte, dem Professor Dr. Emil Suchs- 
land in Halle a/S. dedizierte, seinem »lieben alten Lehrer« aber in dank- 
barer Erinnerung sein Bild nach Emden sandte, !) 
0. Danger. 


6. Die ästhetischen Elementargefühle. 


Beobachtungen und Reflexionen von Hermann Grünewald. 


Gegenwärtig hebt man die »Schulung des Geschmacks« oder »die 
Bildung der Fähigkeit, durch ästhetisch wahrhaft Wertvolles zu ästhetischen 
Gefühlen angeregt zu werder« (Höfler)?), als eine wichtige Aufgabe von 
Erziehung und Unterricht hervor. In der Regel denkt man hierbei an 
die höheren ästhetischen Gefühle, also an diejenigen, deren Vorstellungs- 
grundlage sich durch eine reichere Fülle und Gliederung auszeichnet. 
Unsere Betrachtung ist den sogenannten „ästhetischen Elementar- 
gelühlen«?°) gewidmet. 

Den Ausgangspunkt unserer Erörterungen bilden Beobachtungen im 
»Schönschreibunterricht«. Die Buchstabenformen des »Preufsischen Normal- 
Alphabets« (herausgegeben von Julius Neve) lagen diesem Unterricht zu 


H) Was in dem Menschen steckt, pflegt später sich zu offenbaren. Ein früherer 
Schüler der Emder Taubstummenanstalt, Siebelt Wilken, ging als einfacher Bauern- 
knecht nach Amerika und lebt dort jetzt als wohlhabender Farmer. Bei seinem 
ersten Besuche in der alten Heimat gab er Proben davon, dafs er sich auch eng- 
lisch verständigen konnte. Als er zum zweitenmale kam, und zwar um sich eine 
(taubstumme) Frau zu holen, fuhr er auf einem holländischen Schiffe und äulserte 
sich nachher: »Ich kann plattdeutsch pröten. Da verstanden mich die Holländer 
und ich habe sie auch verstanden.« 

2) Psychologie. Wien u. Prag 1897. S. 433. 434. 

») Jodl, Lehrbuch der Psychologie. Stuttgart 1896. S. 44 ff. 





Die ästhetischen Elementargefühle. 233 





Grunde. In drei Klassen der hiesigen kgl. Präparanden-Anstalt veranlafste 
ich die Schüler, jeden Buchstaben der deutschen und lateinischen Klein- 
und Grolsschrift, der am besten gefalle, der »am schönsten« sei, zu unter- 
streichen. In allen drei Klassen fiel die Mehrheit der Vorzugsurteile 
auf das grofse deutsche »H«. Die Einzelheiten der Versuchsergebnisse 
sind aus folgender Tabelle ersichtlich. (Die neben den Buchstaben 
stehenden arabischen Ziffern bezeichnen die Zahl der Vorzugsurteile.) 

















Klasse I Klasse II | Klasse III 
Ao | ao | Aa |. A, | ao | A, a A loa lA, 
B, bo B, bo B bo | Bo bo Ba b, Bo 
C, Co Co Co Co | co © Col c Co Co Co 
D, dd |D, do I. | da | Dal dao f D | |D, 
€, eo E, eo C, eo Eg | ei Ea : eo | Eo 
Fo fo Fo | fo Yo fo | Fo fo So 1 Fo 
©, 93 Go 82 Go Go | Go 80 &, 8o | Go 
He do H, h, Hı Do | Ho h, Ñ.. | bo | U, 
I l Io | io o j lb, L lo Se lo : Id 
5 PE kepi Ce | IK 
£o lo L, | lo Ni | lo | Lo | lo Lo | fao i Lo 
M, | m | M, | m |N j m Mim | M | m | M 
No no N, | no N, | no | N, No No ` no ;, No 
So Tlos bOr Top 15; | de a Og ae f a l a g O 
0 Pa Po | P4 34 Do | Po Po P. | dp, | Po 
Do qo Qo q- Don | Po — Qo Lo Do | qi | Qo 
R, Io Ro | T9 No | qlo R, ‚to R, | Üo R, 
S, 18, | So So So Yo ` o — So So foo | So 
To jt To | to To od: , To to Zo ; to To 
U, uo Uo | Up u, to i Uo ug Uo uo — Up 
Va Vo Vo | Yo Vo to © Vi Vo Bo Vo | Vo 
W w, W, | wo Bı | Vo | Wo Wo BW; Wo | Wi. 
X o Es Xo Xo X o wo : Xo Xo Xo £s | Xo 
Dı Ys Yo Yo do &: | Yo. Yo Dı Yo | Yo 
Bo ö Z, Zo Bo Vo | Z, Zi Bo dı | Zo 
K, | ck; ii ; Ka ck a 
ch, Bs | l ch, 





Das Ergebnis dieses nach Fechners »Methode der Wahl« aus- 
geführten Versuchs war also die durchgängige Bevorzugung des 
»grolsen deutschen H«. Es erhebt sich nun die Frage nach dem 
Grunde, warum sich gerade an diese elementare Formung eine solche 
ästhetische Gefühlswirkung knüpfte. 

Auf Befragen erhielt ich vielfach zur Antwort, das H erinnere an 
L und y und sei doch etwas Neues. Das ästhetische Gefühl stellte 
sich also in dem vorliegenden Falle als eine »Freude an dem Auf- 
fassen von Beziehungen«!) dar. Man könnte den Begriff »Proportion« 


1) cfr. Höfler, Psychologie a. a. O. S. 432. 


234 B. Mitteilungen 


als Bezeichnung für die in Rede stehende Kombination optischer Inhalte, 
welche den Gegenstand oder die Veranlassung des elementaren ästhetischen 
Gefallens bildet, wählen. Zwischen zwei ungleichen Grölsen L und y, 
welche sich in der Gröfse H zusammenfinden, waltet jetzt das Verhältnis 
des Ausgleichs oder der Einstimmigkeit. »Die Proportion ist ein ver- 
einheitlichendes Element.«!) Es ist ferner zu beachten, dafs y unter den 
Kleinbuchstaben in Klasse I und das ihm ähnliche x in Klasse II und 
III bevorzugt wurde. L allein wurde nicht ästhetisch bewertet. Aus 
unserem Beispiel ist so recht die ästhetische Wirkung der Kombination 
von Reizen ersichtlich. In der II. und III. Klasse wurden L und y nicht 
ästhetisch bewertet. (In der II. Klasse fiel auf L nur ein Versuchsurteil.) 
Das Lustgefühl, welches durch die passende Vereinigung der beiden 
Formen L und y ausgelöst wurde, ist demnach nicht als ein Totalgefühl 
aufzufassen, das sich aus den Gefühlswerten von L und y (als Komponenten) 
zusammensetzte.?) Sind diese doch fast indifferent. Die Gefühlswirkung, 
welche durch die Kombination erzeugt wird, »ist nicht die blofse Summe 
der Eindrücke der einzelnen kombinierten Elemente, sondern ein neues 
psychisches Produkt, welches man zum Unterschiede von dem sinnlich 
Angenehmen und Unangenehmen im engsten Sinne als das Wohlgefällige 
und Mifsfällige und mit Rücksicht auf die Funktion als den elementaren 
Geschmack bezeichnen kann.«°) 

Versuche betreffs der ästhetischen Bewertung der arabischen 
Ziffern ergaben in allen Klassen eine Bevorzugung von 5. Auch hier 
ist die Proportion die Veranlassung des ästhetischen Gefallens. Dazu ge- 
sellt sich die Verschiedenheit der Elemente (Punkt, Oval, Bogen und 
Gerade), welche zur Einheit verbunden sind. Die Gefählswirkung von 
Kombinationen ist um so stärker, je gröfser die Mannigfaltigkeit der Ein- 
drücke und je anschaulicher die sie zusammenhaltende Einheit ist. Mannig- 
faltigkeit und Einheit sind bedingende Momente ästhetischer 
Lust. Das Gesagte ergab sich auch aus einer Untersuchung betreffs der 
ästhetischen Bewertung geometrischer Gebilde. Die Prüfung erstreckte 
sich auf Dreiecke und Vierecke. Unter diesen wurden Rhombus und 
Rhomboid bevorzugt. Die Zahlen der auf beide Figuren entfallenden 
Vorzugsurteile stehen im Verhältnis von 1:2. (Bei Quadrat und Rechteck 
standen die Vorzugsurteile im Verhältnis von 3:4.) Auf Befragen, warum 
Rhombus und Rhomboid am schönsten seien, erhielt ich zur Antwort, weil 
sie an ein Quadrat bezw. an ein Rechteck erinnerten und doch 
durch ihre schiefen Linien »freier« erschienen. Man kann nach dem 
Sprachgebrauche von Ehrenfelst) und Meinong?) die durch die Linien 


- _— —_ 


1) cfr. Jodl a. a. O. S. 410. 

?) cfr. Wundt, Völkerpsychologie. I. 1. Leipzig 1900. S. 39. 

3) cfr. Jodl a. a. O. S. 407. 

4) cfr. Über Gestaltqualitäten. (Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philo- 
sophie 1890. S. 249—192.) 

5) cfr. Zur Theorie der Komplexionen und Relationen. (Zeitschr. f. Psychol. 
u. Physiol. d. Sinnesorgane. JI. Bd. S. 245—265.) 





Die ästhetischen Elementargefühle. 23 


QI 


markierten Örter als »fundierende Vorstellungen« und dio Quadrat- 
bezw. Rechtecksvorstellung, welche dazu auftritt, als »fundierten Inhalt« 
oder »Gestaltqualität« bezeichnen. Höfler ist nun der Anschauung, 
dafs die »Grenze zwischen vorästhetischen und ästhetischen Gefühlen da 
beginne, wo zu fundierenden Inhalten fundierte Inhalte kommen.!) Ästhe- 
tisch sei also nur die Lust bezw. Unlust an fundierten Inhalten. Unser 
Beispiel zeigt aber auch, dafs je nach der Eigenart der fundierten Inhalte 
sich das ästhetische Gefallen steigern kann. Im vorliegenden Falle werden 
Rhombus und Rhomboid ästhetisch höher bewertet als Quadrat und Rechteck, 
weil ihre Bildungselemente »freier« erscheinen. Ein ähnliches Ergebnis 
lieferte auch ein Versuch mit a) Schlangen-, b) Wellen-, c) Zickzack- 
und d) Mäanderlinien. 

Die Zahlen der Vorzugsurteile, welche auf diese Gebilde fielen, ver- 
hielten sich wie 10:13:0:3. Schlangen- und Wellenlinien erhielten 
den Vorzug, weil sie den Eindruck der »Freiheit« machten gegenüber 
der Zickzack- und Mäanderlinie, welche »steif« erschienen. Die grölste 
ästhetische Wirkung hatte jedoch die Wellenlinie. Es ist bemerkenswert, 
dafs auch schon Hogarth diese Linie als »Schönheitslinie« bezeichnete. 
Vielleicht ist auch die Leichtigkeit des Vollzuges der Augenmuskel- 
bewegungen bei der Betrachtung der Wellenlinie (im Vergleich zur 
Mäanderlinie) eine Teilursache der Bevorzugung der ersteren. 

Unter den Kombinationen qualitätsverwandter Reize, welche ästhetische 
Elementargefühle auslösen, verdient u. a. auch der Rhythmus hervor- 
gehoben zu werden. Versuche über den Wohlgefälligkeitswert der Vers- 
fülse (Trochäus, Jambus, Spondeus, Daktylus, Anagäst) ergab eine durch- 
gängige Bevorzugung des Daktylus. Hiermit steht auch die Beliebtheit 
des Walzertempos, des ?/, Taktes im Zusammenhang. 

Versuche über den Wohlgefälligkeitswert von Farben und Farben- 
zusammenstellungen, von Tönen und Tonverbindungen habe ich noch nicht 
ausgeführt. Von grölstem Interesse sind in ersterer Hinsicht auch heute 
noch Goethes Erörterungen über die »sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe« 
(Goethes sämtl. Werke. Stuttgart 1885. Bd. 10. S. 166—194.) Goethe 
sagt da u. a.: »Alle Naturen, die mit einer glücklichen Sinnlichkeit be- 
gabt sind, Frauen, Kinder, sind fähig, uns lebhafte und wohl- 
gefalste Bemerkungen mitzuteilen.« Die Betrachtung der Farben- 
zusammenstellungen in den verschiedenen Trachten wäre gewils auch eine 
dankbare Aufgabe Es ist gewils, dals vielfach Bevorzugung bezw. Ab- 
lehnung von einfachen Qualitäten auf Rechnung der sogenannten Idio- 
synkrasien, welche durch Vererbung, Gewöhnung und Assoziation be- 
festigt sind, kommt. 

Es ist ferner gewils, »dals die Grenzen dessen, was als elementar 
schön gilt, je nach Individualität und Zeitstimmung sehr wechselnd sein 
kann.«?2) (Jodl.) Der Satz »Schön ist, was allgemein gefällt, bezieht 








1) cfr. Höflera.a. O. S. 445. 
2) cfr. Schultze, Psychologie der Naturvölker. Leipzig 1900. S. 172 ff. 
S. 102 ff. 


236 C. Literatur. 


sich nur auf eine Mehrheit einer gemeinsamen Kultur- und 
Bildungsstufe angehörenden Menschen. In diesem Sinne mögen 
auch die vorstehenden Betrachtungen aufgefalst werden. 


C. Literatur. 





Sikorsky, Prof. Dr., Die Seele des Kindes nebt kurzem Grundrils der 
weiteren psychischen Evolution. Leipzig, Verlag von Johann Ambrosius 
Barth, 1902. 80 S. 

Der Herr Verfasser verfolgt in dieser Schrift den Zweck, »die Entwicklungs- 
geschichte der Kindesseele zu entwerfen und in kurzen Zügen die weitere psy- 
chische Evolution mit dem fortschreitenden Alter darzustellen.«e Er versucht es 
dabei, sich an eine präzise Feststellung und Beschreibung der Tatsachen zu halten 
und Abstraktionen zu vermeiden. Der Darstellung des Ganzen liegt folgende Ein- 
teilung zu Grunde: I. Die Seele im ersten Kindesalter, II. Die Seele im zweiten 
Kindesalter, IlI. Die Jugend, IV. Das reife Alter, V. Das Alter. Der gröfste Teil 
der Schrift ist jedoch der Beschreibung des ersten Kindesalters gewidmet (S. 5—67). 
Dem Gang der neuro-psychischen Entwicklung des Kindes folgend, teilt Professor 
Sikorsky das erste Kindesalter in folgende Perioden ein: 1. Die Seele des neu- 
geborenen Kindes, 2. Die ersten drei Monate nach der Geburt, 3. Vom vierten bis 
zehnten Lebensmonat, 4. Ende des ersten und Anfang des zweiten Lebensjahres, 
D. Vom zweiten bis sechsten Lebensjahr. Gestützt auf die Forschungsergebnisse 
von Flechsig und Goltz schildert er die Entwicklung des kindlichen Seelenlebens, 
welche der Entwicklung des Nervensystems parallel läuft. An einer Reihe von 
Beispielen zeigt er, dafs das neugeborene Kind nur Geschmacks- und Geruchs- 
erkenntnis besitzt. Aulserdem regen sich Unlustgefühle bei Hunger, Durst 
und Ermüdung, Lustgefühle bei der Nahrungsaufnahme und im Bade. In den 
ersten drei Monaten nach der Geburt entwickelt sich die taktile, optische und 
akustische Erkenntnis. Der Herr Verfasser stützt sich in seinen anschaulichen, 
übersichtlichen Darlegungen dieser Entwicklung auf eine Reihe von Beobachtungen, 
welche er von 1875—1884 an Neugeborenen der Petersburger Eutbindungsanstalt 
und an Kindern des Petersburger Findelhauses (Abteilung der ehelichen Kinder) im 
ersten Kindesalter zu machen Gelegenheit hatte. Seine Beobachtungen über die 
Entfaltung der optischen Erkenntnis, nämlich: 1. Starren, 2. Richten des Blicks, 
3. Betrachten des Objekts, 4. Sehen in die Nähe und in die Ferne, bestätigen aufs 
neue die Ergebnisse der Untersuchungen Preyers. Das erste spezielle Gefühl, 
welches sich in den ersten drei Monaten regt, ist das Gefühl der Überraschung, 
welches auf der Grenze zwischen Lust- und Unlustgefühlen steht. Der Herr Ver- 
fasser gibt sodann betreffs der neuro-psychischen Hygiene in den ersten drei 
Monaten treffliche Ratschläge, nämlich 1. sich jeder Mitwirkung an der psy- 
chischen Entwicklung des Kindes zu enthalten, 2. das Kind von starken 
und anhaltenden Eindrücken, die beide eine Ermüdung der Nervenapparate her- 
vorrufen, zu bewahren. Auch das uuausgesetzte Verweilen der Mutter oder der 
Wärterin beim Kinde wirkt ermüdend. »Wir haben uns davon überzeugt, dafs es 
für das Kind von gröfstem Nutzen ist, wenn man es im wachen Zustande etwas 
isoliert und sich selbst überlälst, um ihm Augenblicke der Ruhe und des völlig 


C. Literatur. 937 


selbständigen Verhaltens zur Aulsenwelt zu gewähren.« Dem Kinde ist 3. ge- 
nügender und ruhiger Schlaf zu verschaffen. 

Die Periode vom vierten bis zehnten Monat nach der Geburt betrachtet Prof. 
Sikorsky als die wichtigste im ganzen Leben des Kindes. An einer 
Reihe von Beobachtungen, die äufßserst instruktiv sind, zeigt er, wie der kindliche 
Geist die Eindrücke aufnimmt und verarbeitet (S. 33—49). Die psychische 
Tätigkeit des Kindes ist vom vierten Monat ab auf die Vereinheitlichung der Emp- 
findungen gerichtet; es bilden sich eine Reihe von Grundassoziationen. Das Kind 
sucht nicht allein nach Eindrücken, sondern es verweilt auch bei denselben mit 
Aufmerksamkeit; aufserdem strebt es nach Verbindung und Verknüpfung 
des empfangenen Eindrucks, z. B. nach Einpiägung der Töne der Glocke und 
ihres Aussehens, der Farbe des Zuckers und seines Geschmacks.!) Das auffallend 
übereinstimmende Schema der hauptsächlichsten Assoziationen beim Kinde in dieser 
Periode bestebt darin, »dals, wenn Kinder einen Eindruck durch ein Sinnesorgan 
empfangen, sie die erhaltenen Resultate mit den Wahrnehmungen eines anderen 
Sinnesorgans verbinden und sich zum Schlufs minutenlangem Vergnügen oder einer 
anderen Emotion hingeben, die sie meistenteils mit der Umgebung zu teilen be- 
müht sind.« 

In dem folgenden Lebensabschnitt (Ende des ersten und Anfang des zweiten 
Jahres) entwickelt sich die Sprache des Kindes. In der Entwicklung des 
Sprechens unterscheidet Prof. Sikorsky 3 Perioden: a) Periode der Erlernung der 
Laute (Vorbereitungsperiode), b) das Verstehen der Wörter, c) Aussprache der 
Wörter. ?) 

Die Periode des kindlichen Lebens vom zweiten bis zum sechsten Lebensjahr 
ist bis jetzt am wenigsten erforscht. In dieser Zeit entwickeln sich alle Seiten 
des kindlichen Seelenlebens gleichmälsig. »Das wesentliche Gepräge dieser Periode 
bildet die Vereinigung aller Gefühls-, Denk- und Willensprozesse zu einer ganzen 
einheitlichen menschlichen Persönlichkeit.: Die Gefühle im ersten Kındesalter 
werden von Prof. Sikorsky genau analysiert und auch physiologisch interpretiert. 
Zu dem Gefühl der Überraschung gesellt sich die Angst, die Wut und die 
Eifersucht; später erst entwickeln sich die Gefühle der Scham, der Schuld 
und der Ehrfurcht. Prof. Sikorsky weist nachdrücklich darauf hin, dafs in 
diesem Lebensabschnitt die Pflege der höheren Gefühle (Ehrfurcht, Geduld, 
Sanftmut, Milde, Grofsmut u. s. w.) eine der wichtigsten Aufgaben der Erziehung 
sei. Die einzig richtige Methode, diese Gefühle in den Kindern zu entwickeln, kann 
nur in dem Beispiel der Grofsen und nicht in Predigten und Morallehren 
bestehen. 

An zwei interessanten Beispielen erläutert Prof. Sikorsky die Entwicklung 
des kindlichen Verstandes (S. 59—61). Schr belehrend sind sodann auch seine Be- 
obachtungen und Reflexionen über die Entwicklung des Willens und der Persön- 
lichkeit des Kindes. Die Bedeutung des Spiels für die Entwicklung des kind- 
lichen Seelenlebens wird angemessen gewertet. 

Die Entwicklung des Seelenlebens im zweiten Kindesalter (7—14 J.) — unter- 
schieden a) in reifere Kindheit (7—12 J.), b) in Zwischenalter (12—15 J.) — 


') Die Assoziationszentren übertreffen nach Flechsig ihrem Umfange nach 
beim Menschen dreimal die sensorischen Zentren. 

?) Auf die Darstellung der kindlichen Sprache werden wir in einem andern 
Zusammenhang noch näher eingehen. 


238 C. Literatur, 


skizziert Prof. Sikorsky ziemlich kurz. Dasselbe gilt auch von der Jugend (16 
bis 25 J.), dem reifen Alter (26—45 J.) und dem Alter (45—X J.). 

Das Büchlein ist als ein gutes Mittel der \Wegleitung allen denjenigen, welche 
das Seelenleben des Kindes beobachten, bestens zu empfehlen, 

Herborn. Hermann Grünewald. 


Habrich, L., Seminar - Oberlehrer, Pädagogische Psychologie. II. Teil: Das 
Strebevermögen. Kempten, Verlag der Jos. Köselschen Buchhandlung, 1903. 
659 S. Preis broch. 4,50 M, geb. 5,50 M. 

Der 1901 erschienene 1. Teil des Werkes wurde von mir im 3. Heft des 
Jahrgangs 1902 unserer Zeitschrift angezeigt und beurteilt. Indem ich auf diese 
Beurteilung, welche sich insonderheit auf die aristotelisch-scholastische Tendenz des 
Werkes bezieht, verweise, kann ich nicht umhin, auch diesen 2. Teil trotz mancher 
anfechtbaren Behauptung, die er enthält, zu empfehlen. Diese Empfehlung ist durch 
den Hinweis auf die Fülle pädagogisch bedeutsamer Winke, welche das 
Werk im Anschluls an die psychologischen Erörterungen bietet, zu rechtfertigen. 
Der Herr Verfasser betrachtet als das oberste Ziel der Selbsterziehung und der Er- 
ziehung anderer die christliche Tugend. Er knüpft daran die Behauptung: 
»Darum mufs unsere Seelenlehre mit dem Wesen der Tugend, mit der christlichen 
Tugendlehre übereinstimmen. Mit der modernen Seelenlehre, die so wenig sich um 
christliche Tugend und Tugendlehre kümmert, oft mit ihr in Gegensatz tritt, ist da 
nicht auszukommen. Sie kann nicht helfen, zur christlichen Tugend, zur christlichen 
Charakterfestigkeit zu erziehen.« Der »physiologischen Psychologie« (wie etwa der- 
jenigen Prof. Ziehens) gegenüber ist — nach Habrich — eine christliche Tugend- 
erziehung ein Unsinn, ein Widerspruch. Ihr könne man in der Gesamtauf- 
fassung des seelischen Lebens nicht folgen. Die aristotelisch -scholastische 
Philosophie und Psychologie stehe dagegen mit der christlichen Tugendlehre in 
voller Übereinstimmung. 

Habrich unterscheidet in seinen Ausführungen nicht Psychologie, Ethik und 
Metaphysik. Er hat in dieser Beziehung nicht den lateinischen Spruch beachtet: 
Bene docet, qui bene distinguit. Es kann aber auch sein, dals Habrich absichtlich 
sich des dialektischen Kunstgriffs der Erweiterung bediente, um mit 
seinen Behauptungen recht zu behalten. 

Habrich behauptet: »Mit der modernen Seelenlehre, die so wenig sich um 
christliche Tugend und Tugendlehre kümmert, oft mit ihr in Gegensatz tritt, ist da 
nicht auszukommen. « 

Warum? 1. »Ihre meisten Vertreter lehren z. B. den sogenannten Deter- 
minismus, d. h. die notwendige Bestimmtheit des menschlichen Wollens.« 

2. »Die Seelenlehre lehrt mich, dafs nur ich selbst mir das Gesetz geben 
dürfe, welches mein Haudeln bestimme, dafs jede Annahme eines von aulsen 
kommenden Gesetzes (auch des von Gott kommenden) eine unwürdige Hetero- 
nomio (Fremdgesetzgebung) sei, wie soll ich da noch dem lieben Gott gehorchen, 
noch beten und handeln: »Dein Wille geschehe, wie im Himmel also auch auf 
Erden ?« 

Zu der ersten Begründung ist zu bemerken, dafs das Problem der Willens- 
freiheit vorwiegend ein metaphysisches ist. Die physiologische Psychologie hat 
mit diesem Problem zunächst nichts zu tun. Der Herr Verfasser verwirft den 
Determinismus; Herbart fordert denselben als notwendig, »weil sonst von 
einer geregelten Erziehung nicht die Rede sein könne, sondern alles in 


C. Literatur. 939 





Willkür und Zufall sich auflösen müsse.«!) Habrich erweitert den Begriff 
Determinismus in ungehöriger Weise, wenn er ihn in dem Imperativ ausdrückt: 
»Dein vermeintliches Tugendstreben ist Einbildung; lafs es sein, lafs dich treiben !« 
Wir finden auch hier wieder das Wort Preyers bestätigt: »Wenn die Wörter 
ausreichten, die klaren Begriffe klar auszudrücken, dann würde der grölste Teil der 
philosophischen und theologischen Literatur nicht existieren. Er ist entstanden, 
weil verschiedene Menschen mit demselben Worte nicht denselben Begriff ver- 
binden, also ein Wort zur Bezeichnung verschiedener Begriffe verwendet wird, wie 
vom Kinde.« Das Wort Determinismus ist eben auch eine dehnbare Hülse! 

Gegen die zweite Begründung wäre folgendes einzuwenden. Zunächst gibt 
die Psychologie überhaupt nicht »Gesetze, welche das Handeln bestimmen;« das 
ist vielmehr Sache der Ethik. Nur die Ethik erörtert auch den Gegensatz. 
zwischen autoritativen und autonomen Moralsystemen oder zwischen Hete- 
ronomie und Autonomie. Herr Habrich hat also auch dem Begriff »Seelen- 
lehre« eine ungebührliche Erweiterung gegeben, um seine Behauptung zu recht- 
fertigen. 

Ein Vertreter moderner Psychologie, den Herr Habrich zitiert, nämlich Prof. 
Dr. Ziehen, erklärt aber geradezu: »Absolute ethische Gesetze darf man 
von der Psychologie ebensowenig erwarten wie absolute ästhetische Gesetze. Was 
würden auch dem Ethiker etwaige vom Psychologen gefundene Gesetze helfen, da 
sie doch immer nur empirischen Charakter haben könnten. «°) 

Die Vorwürfe, welche also Habrich der physiologischen Psychologie 
macht, sind unbegründet; sie können sich höchstens auf metaphysische und 
ethische Theorien beziehen. 

Anzuerkennen ist es, dafs es Habrich im 2. Teil seines Werkes als eine 
»seiner Hauptsorgen« betrachtete, »die Erziehung zur christlichen Tugend 
psychologisch verstehen zu lehren und den Erzieher so in ihrer Hand- 
habung zu unterstützene. Dals die »Psychologie der Religion« bis Jetzt noch 
zu stiefmütterlich in Darstellungen der pädagogischen Psychologie behandelt wurde, 
mufs wohl jeder zugeben. 

Anhangsweise gibt Habrich auch noch einen kurzen Überblick über die 
Entwicklung des kindlichen Geistes (S. 571—598) und cine Skizze über die päda- 
gogische Pathologie. Leider ist dieser Anhang sehr oberflächlich; die Darstellung 
des kindlichen Spiels zeigt u. a. geradezu eine beschämende Dürftig- 
keit.°) Doch erklärt die mutmalsliche Eile bei der Abfassung die Mangelhaftig- 


keit der Darstellung. 
Herborn. Hermann Grünewald. 


Sticker, Georg, Prof. Dr. med, Gesundheit und Erziehung. Eine Vorschule 
der Ehe. 2. Aufl. Giefsen, Rickersche Buchhandlung (Alfred Töpelmann), 1903. 


80. 275 8, 


1) cfr. auch Drobisch, Die moralische Statistik u. s. w. 1867. 
Scholten, Der freie Wille. 1874. 
Hebler, Elemente einer philosophischen Freiheitslehre. 1887. 
Traeger, Wille, Determinismus, Strafe. 1895. 
2) cfr. Ziehen, Leitfaden der physiologischen Psychologie. Jena 1896. S. 224. 
3) cfr. dagegen. Vom Spiel des Kindes v. Ufer. (Kinderfehler VII. Jahrgang. 
2. Heft. S. 82 ff.) 


240 C. Literatur. 


Das vorliegende Buch hätte schon in seiner ersten Auflage vor zwei Jahren 
von uns angezeigt werden sollen. Da dies aus einem leidigen Zufall damals nicht ge- 
schehen konnte, so sei das Versäumte jetzt nachgeholt und zwar sei das Buch nicht 
blofs angezeigt, sondern nachdrücklich empfohlen. 

Den Inhalt der Schrift lälst der Titel einigermafsen verraten, Der Gegenstand 
wird in neun Abschnitten höchst feinsinnig und klar behandelt. Aus dem Anhang 
ersieht man, dafs hinter dem Wortlaute des Werkchens eine nicht unbedeutende 
Gelehrsamkeit verborgen ist, die, soweit es sich um pädagogische Dinge handelt, bei 
einem Mediziner wohl überraschen darf. 

Elberfeld. Ufer. 


Hähnel, Franziskus, Alkoholismus und Erziehung. Bibliothek für modernes 
Geistesleben, Jahrgang I, Heft 5. 30 S. Ausnahmepreis 50 Pf. 

Meine Stellung zu der Titelfrage ist den Lesern dieses Blattes hinreichend 
bekannt und ich hoffe. dals in kurzem meine angekündigte Schrift erscheinen wird. 
Anderweitige dringende Arbeiten und meine vorjährige Krankheit sind die Ursachen, 
dafs es bis jetzt nicht geschehen, was ich bei dieser Gelegenheit den Lesern zur 
Entschuldigung sagen möchte. Als ich meinen Vortrag über diese Frage auf dem 
Verbandstage der Hilfsschulen in Kassel hielt, begegneten meinen Ausführungen 
neben freudiger Zustimmung hie und da noch Kopfschütteln und leisen Spott. Der 
Ernst der Frage wurde damals noch nicht begriffen. In diesen Tagen hat der Kon- 
grefs gegen den Alkoholismus in Bremen, den die Tagespresse doch nicht ganz 
totschweigen konnte, die Antialkoholbewegung in weite Kreise getragen, und von 
Mälsiskeits- wie Enthaltsamkeitsfreunden ist das, was ich seinerzeit in Kassel sagte, 
nur bestätigt worden. 

lch habe damals das zum Ausdruck gebracht, worin Mäfsigkeits- und Enthalt- 
samkeitsfreunde sich einig sind, und habe das zurückgedrängt, was beide trennt, und 
ich halte das noch heute für das zweckmälsigste, 

Hähnel ist Guttempler und stellt sich auf den Standpunkt der entschiedenen 
Enthaltsamen. Als solcher vermeidet er anscheinend sorgfältig, seine Bundesgenossen, 
die auch noch Temperenzbestrebungen dulden, zu erwähnen. Er hätte sonst seine 
Leser auf bedeutsamere Literatur hinweisen können. Vielleicht wären ihm dann 
auch noch andere erzieherische Gesichtspunkte entgegengetreten. Nichtsdestoweniger 
bitton wir auch diejenigen von unseren Lesern, die nach klassischen Beispielen die 
Enthaltsamen noch immer nicht für ernst nehmen, doch die Schrift als eine ernste zu 
betrachten. Die Bedeutung der Enthaltsamkeit wird ihnen selbst klar werden, wenn 
sie einmal auch nur vorübergehend für ein Jahr oder wenigstens für etliche Monate 
versuchen, voll enthaltsam zu leben. Sie werden dann an Lebensfreude nichts ein-* 
büfsen, sondern nur gewinnen, und Gesundheit und Arbeitskraft wird sich wesent- 
lich steigern. Dals die Alkoholfrage eine ernste Erziehungsfrage ist, wird ihnen 
dann ebenfalls klar werden. Jeder Kinder- und Volksfreund kann in der Tat die 
Alkoholfrage nicht länger beiseite schieben. Für eine kurze Orientierung wie für 
Werbezwecke können wir darum das Schriftchen Eltern und Lehrern nur ange- 
legentlichst zur Beherzigung empfehlen. Tr. 


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Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beycı & Mann) in Langensalza. 














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A. Abhandlungen. 


Das urnische Kind. 
Von 
Dr. Magnus Hirschfeld, Arzt in Charlottenburg. 

Für das Angeborensein einer Eigenschaft ist es in hohem Maße 
bezeichnend. wenn dieselbe, soweit «die Erinnerung reicht, nach- 
weisbar ist. 

Bereits V. Macsas, der große französische Psychiater, welcher 
die konträre Sexualempfindung noch zu den freistesstörungen der 
Entarteten zählt, sagt:!) »Sie zeigt sieh oft schon in früher Jugend 
und gerade das ist charakteristisch; nichts spricht deutlicher für die 
ererbte Beschaffenheit der Anomalie als ihr frühzeitiges Auftreten.« 
Und zwei Jahre vorher bemerkt derselbe in einer andern Vorlesung: 
»Es handelt sich bei dem Zustand, den Wesrruan konträre Sexual- 
empfindung nannte und Cnarcor und ich als Verkehrung des ge- 
schlechtlichen Empfindens (inversion du sens genital) beschrieben, 
um ein ab ovo krankhaftes Gefühl, denn die Störung macht sich 
schon in frühester Jugend, zuweilen vom fünften Jahre an geltend, 
also bevor fehlerhafte Erziehung oder lasterhafte Gewohnheit den 
Menschen verderben können. 

Ganz vortrefflich meint auch Scrrexk-NorzisG:?) »Sehr wichtig 
für die originäre Anlage zur konträren Sexualempfindung ist der 


1) Psychiatrische Vorlesungen, TI./IlI. Heft, übersetzt von Möss, Leipzig, 
Thieme, 1892, in der II. aus dem Jahre 1887 stammenden Verlesung S. 26 und 
in der IJI. über geschlechtliche Abweichungen und Vorkehrungen im Jahre 1855. 

?) Hauptwerk S. 195. Aus dem Jahre 1892. 

Die Kinderfehler. VIII. Jahrgang. 16 


242 A. Abhandlungen. 


Nachweis, daß der weibliche Typus im männlichen Kinde schon vor 
der Zeit der ersten sexualen Regungen (nicht der Pubertät) 
charakterologisch sich entwickelte, und daß aus diesem weiblichen 
Charakter als cine folgerichtige Teilerscheinung weibliches Geschlechts- 
gefühl entstand ohne den »Zwang äußerer Verhältnisse«. 


SCHRENK hielt 1592, als er dies schrieb, diesen Nachweis nicht. 


erbracht, heute scheint es mir sicher zu stehen, daß der Uranier von 
vornherein den Stempel seiner körperlichen und geistigen Eigen- 
tümlichkeiten trägt. Seine Besonderheit ist von frühester Jugend 
vorhanden, während sie unter den Geschwistern trotz gleicher Er- 
ziehung und gleichen Milieus meist fehlt. Jeder Homosexuelle er- 
innert sich, daß er anders war als die gewöhnlichen Knaben. Sehr 
oft war ihm die Tatsache, wenn auch nicht die Ursache schon 
während der Schulzeit klar. Weniger von ihm selbst, um so mehr 
aber von den Angehörigen und Fernerstehenden wird in dieser 
Eigenart das Mädchenhafte erkannt. Wir geben einige Urteile der 
Umgebung wieder, die in größter Mannigfaltigkeit vorliegen. Ein 
homosexueller Schriftsteller schreibt: »Das Wort: ‚Du wärst besser 
ein Mädchen geworden‘, habe ich unendlich oft hören müssen. Als 
fünfjähriger Junge nahm ich oft ein Tuch und schlug es um, so daß 
es schleppte, und sagte: nun: bin ich ein Mädchen, das war mein 
größtes Vergnügen. Von Knaben zog ich mich zurück, ohne aber 
damals einzusehen, daß ich anders geartet war.« 

Ein urmischer Chemiker, der sich noch nie in seinem Leben 
betätigte, berichtet: »Ich war als Kind sehr artig und habe im Gegen- 
satz zu meinen Brüdern von meinen Eltern nie Prügel bekommen, 
Onanie ist mir unbekannt. Dice wilden Knabenspiele waren mir zu- 
wider, ich schloß mich mit Vorliebe an Mädchen an und hatte des- 
wegen viel Neckerei und Spott zu crdulden, das war mir sehr 
unangenehm, doch konnte ich nicht dagegen an. Ich liebte zu nähen, 
zu sticken, beim Kochen und Backen zu helfen und mich mit 
Bändern wie ein kleines Mädchen zu schmücken. Es ist mir jetzt 
immer schr peinlich, wenn diese Jugenderinnerungen von Angehörigen 
ausgekramt werden.« 

Andere Mitteilungen von Urningen lauten: »Im Kadettenkorps 
hieß ich die keusche Jungfrau.« »In der Schule nannte man mich 
allgemein Fräulein.«e »Als ich 13 Jahre alt war, sagte unser Haus- 
arzt, ich sei kein Kerl, sondern ein hysterisches Frauenzimmer.« 
»Mein Vater rief mich Wilhelmine.« »In der Tanzstunde nannten 
mich die Damen: Willy mit den Mädchenaugen.« »Schon zu Hause, 
wie später in der vornehmen Gesellschaft führte ich den Spitznamen: 





HirscHreLv: Das urnische Kind. 243 


die Baronesse.« »Wenn ich einen Stein in die Luft warf, sagten 
die Jugendgespielen: »De Widdigs Jong wirft grad wie ein Mädchen.« 
»Meine Mutter sagte oft von mir, er ist meine kleine Tochter.« 
»Von mir und meiner ältesten Schwester hieß es stets, wir seien 
verwechselt worden.«e »Mama meinte stets, meine Schwester hätte 
der Junge und ich das Mädel werden sollen.«c »Als Kind schon 
hieß ich Mademoiselle.« »Zu Hause nannten sie mich: der Träumer. 
»Als ich klein war, kämmte man mir die Haare ins Gesicht und 
freute sich: der Junge sieht wie ein kleines Mädchen aus.« »Es 
wurde oft gesagt: er ist kein Junge.« »Meine Stiefmutter meinte: er 
ersetzt mir mehr als eine Tochter.< Urnische Damen berichten: »So 
lange ich denken kann, wurde ich boy genannt.« Eine andere: 
»Schon als Kind trug ich mit Vorliebe Mütze und Stock meines 
Vaters, kletterte auf die höchsten Bäume und wurde immer Junge 
gerufen.« 

Oft nutzen die Angehörigen die Veranlagung urnischer Kinder 
in einem richtigen Gefühl aus. Die Väter fühlen sich zu wrnischen 
Töchtern besonders hingezogen — man denke an das der Wirklich- 
keit fein abgelauschte Verhältnis zwischen Bildhauer Kramer und 
seiner Tochter Michaelina in Geruarpr Hauprvanıs »Michacl Kramer« 
— die Mütter hingegen lieben besonders ihre wurnischen Söhne, 
welche sie gern zu allerlei häuslichen Beschäftigungen, wie Bce- 
aufsichtigung der Geschwister verwenden. Man glaube nur nicht, 
daß erst durch die Erziehung diese femininen oder virilen Eigen- 
schaften hervorgerufen werden, bei einem nicht urmischen Knaben 
würde die Mutter überhaupt nicht solche Verwendung versuchen. 
Auch hier noch zwei Beispiele: »Meine neue Mama — schreibt 
W. v. S. — ließ sich die Vorzüge meiner angeborenen Mädchen- 
natur wohl gefallen, ich verstand im Haushalt alles so gut, daß sie 
sich um nichts zu kümmern brauchte, ihre Toiletten lagen vollendet 
bereit zu jeder Gelegenheit des Tages, das Haar wurde frisiert, die 
Hüte auf das modernste garniert, die Wirtschaft besorgt, Menüs 
bestellt und überwacht, eigenhändig die Tafel dekoriert, und kam ich 
dann zu den Gästen in den Saal, hieß es zu nicht geringem Er- 
staunen der Anwesenden: »So, jetzt ist meine Tochter fertig, nun 
kann der Sohn uns etwas vorsingen.« Gute Alte, ich höre sie noch 
und habe sie so lich, wie ich ihr aber letztes Jahr die Augen öffnete 
über die Tochterschaft ihres vermeintlichen Sohnes, litt und kämpfte 
sie sehr, leider vergeblich.« 

Ein junger Leutnant erzählt: »Sobald ich dem Schulzimmer ent- 


flohen war, eilte ich zu meinen Freundinnen; ich galt überall bei 
16* 


2414 A. Abhandlungen. 


Bekannten und Lehrern als ein Musterknabe. Meine Mutter liebte 
es, mich zu ihren Geschäftsgängen mitzunehmen und fragte mich 
dann bei Finkäufen, wie mir dieses oder jenes gefiele Bei jedem 
neuen Hut, den sich meine Mutter kaufte, wurde ich als Modell ver- 
wandt, das heißt mir wurden die verschiedenen Damenhüte auf den 
Kopf gesetzt und der mich am besten kleidete, den erkor meine 
Mutter für sich. ‚Du siehst wie ein kleines Mädchen aus‘, sagte mir 
meine Mutter häufig bei der Hutprobe, ‚schade, daß du kein Mädel 
geworden bist“.« Dersclbe Gewährsmann gibt noch folgende sehr be- 
zeichnende Schilderung: »Mein Vater war Offizier und seinem Willen 
gemäß sollten seine drei Söhne auch Offiziere werden. Ich stand im 
13. Lebensjahre, als ich zum Kadettenkorps einberufen wurde. Von 
meinen Vorgesetzten habe ich nur Gutes erfahren, da ich selbst ein 
recht braver Schiler war und zum Tadeln wenig Veranlassung bot. 
An den wilden Jugendspielen beteiligte ich mich wenig und nur 
auf höheren Befehl, mein Liebstes waren Plauderstündchen mit gleich- 
gesinnten Kameraden, die wilden mied ich, eines Tages aber konnte 
ich die Erfahrung machen, daß ein solch’ wilder Bursche eine be- 
sondere Zuneigung zu mir faßte, mich öfters mit Kleinigkeiten be- 
schenkte und mir half, wo er helfen konnte, dabei bemerkte er, ich 
besäße ein so ‚ätherisches Wesen‘, das gefiele ihm so, er behauptete, 
ich duftete immer nach Vanille. Im Singen war ich die Säule des 
Soprans, wie der Lehrer sich ausdrückte und als in der Literatur- 
stunde Schillers Jungfrau von Orleans mit verteilten Rollen gelesen 
wurde, und es sich um die Besetzung der Jeanne d’Arc handelte, 
da war mein Lehrer keinen Augenblick im Zweifel und übertrug 
dieselbe mir unter allgemeiner Akklamation der Kameraden. Von da 
ab behielt ich im Korps den Titel: ‚Die Jungfrau von Orleans‘ oder 
auch ‚Fräulein Johanna‘.« 

Die Vorliebe der Normalsexuellen für den arnischen Mitschüler, 
dessen weibliche Grundnatur sie instinktiv herausfühlen, ist sehr 
charakteristisch, so berichtet cin anderer Offizier, der auf einer Ritter- 
akademie erzogen wurde, daß, als er 13 Jahre alt war, fast alle 
älteren Kameraden in ihn verliebt waren. 

Mit der Mädchenhaftigkeit hängt es auch zusammen, daß urnische 
Knaben oft eine sehr große Ähnlichkeit mit der Mutter haben, bei 
manchen wird auch dic auffallende Übereinstimmung mit der Groß- 
mutter hervorgehoben. Doch ist beides durchaus nicht durchgängig 
der Fall, vielmehr zeigt die Erfahrung, daß ebenso wie die männ- 
lichen und weiblichen auch die urnischen Kinder körperlich und 
geistig unter dem Einfluß der gemischten und latenten Vererbung 


HiırscHreLp: Das urnische Kind. 245 


stehen. Viele scheinen in der Jugend mehr der Mutter, später mehr 
dem Vater zu gleichen. 

Von manchen Seiten, besonders von Tarxowsky, ist vorgeschlagen, 
Knaben, welche zu weiblichen Beschäftigungen neigen, recht zu ver- 
spotten, um so der Entwicklung homosexueller Triebe vorzubeugen. 
Es heißt die Macht der Erziehung weit überschätzen, wenn man 
annımmt, daß eine so tief in der Persönlichkeit wurzelnde Triebkraft 
dadurch nennenswert beeinflußt werden könnte Wir halten diese 
prophylaktische Maßnahme nicht nur für wirkungslos, sondern auch 
für verhängnisvoll, weil sie geeignet ist, das ohnehin schüchterne, 
empfindsame, zum Weinen geneigte urnische Kind noch zaghafter 
und scheuer zu machen. Diese Kleinen spüren es instinktiv, daß 
sie eigentlich weder zu den Knaben noch unter die Mädchen ge- 
hören, ihr Selbstvertrauen leidet unter diesem Zwiespalt, sie nehmen 
alles tiefer und ernster wie die gleichaltrigen Kameraden. Unter den 
jugendlichen Selbstmördern befinden sich gewiß relativ viel umische 
Knaben. Eine wohlbedachte Erziehung sollte das psychologische Er- 
fassen des Kindes stets zur Grundlage haben, sie sollte individuali- 
sieren, indem sie die vorhandenen guten Keime in die rechten Bahnen 
leitet, die schlechten Anlagen liebevoll hemmt. Statt dessen wird in 
völliger Unkenntnis der Kindesnatur von Eltern und Lehrern nur 
zu oft generalisiert. Gerade die wrnische Kindesseele, welche sich 
schon deutlich von der Knabenscele durch eine größere Rezeptivität, 
von der Mädchenseele durch stärkere Produktivität unterscheidet, 
enthält viele Keime, deren sorgsame Pflege sich außerordentlich ver- 
lohnen würde. 

Die meist in hohem Maße vorhandene geistige Befähigung wird 
durch eine gewisse Unsicherheit und Verträumtheit, oft auch durch 
Zerstreutheit infolge allzu reger Phantasie wesentlich beemträchtigt, 
doch kommen die meisten recht gut in der Schule mit, cine be- 
sondere Vorliebe besteht für schöngeistige Fächer, namentlich Literatur, 
für Geschichte und Geographie, Musik und Zeichnen, etwas weniger 
für Sprachen, dagegen zeigen sich von 100 urmischen Kindern 90 
ungewöhnlich schwach für Mathematik veranlagt. Merkwürdig cr- 
scheint es demgegenüber, daß von den übrig bleibenden 10°/, jedoch 
4. eine weit über dem Durchschnitt stehende mathematische Be- 
fühigung aufweisen. So schreibt ein urnischer Ingenieur: feh habe 
auf dem Fragebogen meine geistigen Fähigkeiten als hervorragend’ 
bezeichnet, denn ich daf ohne Überhebung sagen, daß ich als Knabe 
das Durchschnittsmaß ganz erheblich überragte. Ich war vor allen 
Dingen als guter Rechner und Mathematiker bekannt und von den 


246 A. Abhandlungen. 


= ——— — -uaaa a Te a 


Kameraden war meine Hilfe bei ihren Arbeiten stark gesucht. Vo- 
kabeln lernte ich spielend leicht. Zu Hause zu arbeiten, hatte ich 
überhaupt nicht nötig, ich lernte alles bei der ersten Durchnahme 
in der Schule. Das sog. Präparieren und Repetieren kannte ich 
überhaupt nicht, ich extemporierte stets, ob es sich um lateinische, 
griechische, französische oder englische Klassiker handelte. In Mathe- 
matik überraschte ich meinen Lehrer häufig durch rasche, elegante 
Lösung der Konstruktionsaufgaben und fand ein großes Vergnügen 
daran, meinen Lehrer selbst gelegentlich ‚hincinzulegen‘. Den Primus- 
platz hatte ich bis in die oberen Klassen inne.« 

Um die Reifezeit herun besteht bei urnischen Knaben oft eine 
starke religiöse Schwärmerei, zum Turnen mangelt es oft an Muskel- 
kraft und Mut, doch wird dieser Ausfall oft durch Geschicklichkeit, 
ästhetisches Wohlgefallen an den körperlichen Übungen der Mit- 
wirkenden und Eifer, es ihnen nachzutun, ausgeglichen. 

Das Interesse für den Unterrichtsgegenstand steht bei vielen im 
engsten Zusammenhang mit der Person des Lehrers. Die Verehrung 
urnischer Knaben für manchen Lehrer, diejenige wmischer Mädchen 
für bestimmte Lehrerinnen und Erzieherinnen trägt oft den Charakter 
abgöttischer Schwärmerei. Daneben geht neben einer Zurückhaltung 
vor den übrigen Mitschülern meist eine heftige Zuneigung zu einem 
Kameraden, dessen Gesichtstypus besonders reizt; vielfach ist der- 
selbe aus einer andern Klasse oder Schule. Masturbiert der urnische 
Junge, was häufig der Fall ist, so geschieht es ohne oder unter Vor- 
stellungen männlicher Personen: manche haben Abneigung vor soli- 
tärer, dagegen Hang zu mutueller Onanie. Im Traume spielen lange 
vor dem Erwachen des eigentlichen Geschlechtstriebes hübsche 
Kameraden eine große Rolle. Ein Urning teilt uns mit: »Es be- 
standen schon sehr frühe schwärmerische, unbewußt gleichgeschlecht- 
liche Empfindungen, eine besondere Vorliebe hatte ich für schöne 
Ministranten, und das schon mit $, 9 Jahren. Ich konnte mich nicht 
satt an ihnen sehen, im Traume schwebten sie mir wieder und wieder 
vor.< Die leidenschaftliche Zuneigung urnischer Kinder zu Personen 
desselben Geschlechts ist von den kameradschaftlichen Verhältnissen 
normaler Knaben, die auch oft einen erotischen Beigeschmack haben, 
wesentlich verschieden, indem es sich bei letzteren oft nur um 
starken Freundschaftsenthusiasmus, oft um das instinktive Heraus- 
fühlen des Andersgeschlechtlichen, Mädchenhaften im Umingsknaben, 
oder auch um rein onanistische Manipulationen handelt. Ich halte 
dic, namentlich von Professor Dessorr vertretene Auffassung, daß der 
präpubische Geschleehtstrieb undifferenziert ist, nur insofern für 





HiırscureLD: Das urnische Kind. 947 


richtig, als er nach der Reife erst klarer ins Bewußtsein tritt. Wie 


‚ alle Geschlechtszeichen bereits vor ihrer Entfaltung latent einen be- 


stimmten Charakter tragen, so auch der Trieb. 

Nur so sind die vom heterosexuellen Rinde sichtlich abweichenden 
Ereignisse zu verstehen, die sich im Urmingskinde abspielen, von 
denen ich noch einige recht anschauliche Belege geben will; die 
ersten drei Schilderungen rühren von Fdelleuten, die vierte von 
einem Kaufmann her. 

»1. Als Kind lebte ich in Märchenphantasien und bekam häufig 
Schelte, weil ich mir mit den Spielsachen meiner Schwester lieber 
zu schaffen machte als mit Peitsche, Schaukelpferd und Zinnsoldaten. 
1870 — ich war S Jahr — kam ein Wirtschaftsinspektor zu uns, 
der mich völlig bezauberte. Ich starrte diesen Mann bei Tische so 
unablässig an, daß mein Vater mich fragte, was ich an ihm habe, 
worauf ich erwiderte, sein rötlicher Bart gefiele mir über alles. 
Verabschiedete sich dieser Herr am Abend von meinen Eltern, lief 
ich ihm auf den Korridor des Hauses nach und erbettelte einen Kub 
von ihm. Hatte ich einen solchen erlangt, drückte ich diesen Kuß 
in meine Linke, ballte diese zur Faust und nahm den Kuß so mit zu 
Bett, um in der Dunkelheit die Hand immer wieder zu küssen, bis 
ich einschlief. Sehr liebte ich es auch, den Inspektor Sonntags in 
seinem Zimmer zu besuchen und, wenn er auf dem Sopha lag, mich 
neben ihm hinzustrecken.” 

»2. Ich haßte Knaben und Knabenspiele, das größte Glück war 
mir und meiner um 1Y, Jahre jüngeren Schwester unser gegen- 
seitiges, überaus inniges Verhältnis. Wir waren beide überall die 
Lieblinge, sie brünett, graziös und energisch, ich blond, sinnend, 
träumerisch, am glücklichsten waren wir ohne andere Menschen. 
Meine Schwester war mein alter ego, während mein 13 Jahre älterer 
Bruder, ein schr schöner Mann, mein zehnjähriges, reines, unschuldiges 
Herz furchtbar verwirrte. Teh habe ihn weit mehr seiner Schönheit, 
als seiner guten Eigenschaften wegen angebetet. Dabei wurde ich 
äußerlich immer schroffer gegen ihn. Mit 10 Jahren weinte ich eime 
ganze Nacht, als ich mich in seiner, mir schaurig-süßen Gegenwart 
zur Ruhe habe begeben müssen. Ich empfand ein Schangefühl, wie 
ich es in Vaters, Mutters und Schwesters Gegenwart nicht kannte. 
Ich erinnere mich genau, daß mir im 6. oder 7. Jahr vorübergehend 
meines Bruders Schönheit wie ein geoffenbartes Mysterium durch 
Mark und Bein zitterte. Klar und bewußt, natürlich als tiefstes Ge- 
heinnis, zumal vor ihm, habe ich ihn vom 10.—15. Jahr angebetet, 
am höchsten stand «die Verehrung vom 10.—12. Jahr, als er sich 


248 A. Abhandlungen. 


verheiratete. Ich war todunglücklich, daß er uns dadurch ferner 
rückte, und empfand es als etwas Entsetzliches, daß er, wie ich 
glaubte, nun seine Jungfräulichkeit einbüßte.« 

>». Ich bin auf dem Lande unter denkbar günstigen Verhält- 
nissen aufgewachsen — als achtes Kind unter 9 Geschwistern, von 
denen eine Schwester früh an Scharlach starb; zwei erlagen der 
Schwindsucht während ihrer Brautzeit. Erwiesenermaßen ist die 
Krankheit vom Bräutigam erst auf die eine, dann auf die andere 
übertragen worden. Dies sind die einzigen Fälle von Lungen- 
schwindsucht, die überhaupt in unserer Familie vorgekommen. Meine 
Brüder und übrigen Geschwister sind das Bild der Gesundheit — wie 
ich selber. Von Kinderkrankheiten hatte ich nur Masern und Keuch- 
husten, neigte aber bei den geringsten Erkältungen sehr leicht zu 
Ficher, was sich aber scit meinem 10. oder 11. Jahr gänzlich ge- 
geben hat. 

Das Entzücken meiner Kindheit war das Puppenspiel. Mit aus- 
schweifender Phantasie begabt, zeichnete und schrieb ich, so gut ich 
es damals vermochte, Modejournale für meine Lieblinge. Ich erfand 
zum Entsetzen meiner jüngsten Schwester, meiner Spielgefährtin, die 
abnormsten Kostüme — meist Schleppgewänder aus zarten, durch- 
sichtigen Stoffen und Schleiern; ich flocht das flächserne Haar zu 
den abenteuerlichsten Frisuren. Ich inscenierte Tauf-, Sterbe- und 
Heiratsscenen; ich hielt Reden, bei denen ich mich selber zu Tränen 
rührte. Ich lernte sehr rasch und leicht, hatte aber cin schlechtes 
Gedächtnis für Zahlen, während ich frühzeitig Talent und Liebe für 
lebende Sprachen entwickelte, bei deren Erlernen sich mein Ge- 
dächtmis stets als treu und fest erwies. Mit ziemlichem Widerwillen 
dagegen betrieb ich Griechisch und Lateinisch. Mathematik ist stets 
meine größte Schwäche gewesen, und bin ich darin, obgleich ich 
seinerzeit die Abiturientenprüfung in allen Ehren bestanden, un- 
glaublich unwissend. 

Früh hatte ich cin Jeidenschaftliches Verlangen, selbst schrift- 
stellerisch tätig zu sein. Mit S Jahren verfaßte ich ein Lustspiel, 
das als Kuriosum noch bis heute in unserer Familie erhalten blieb. 
Ohne je einen Roman gelesen zu haben, schrieb ich etwa ein halbes 
Dutzend so betitelter Sachen in meinem 10. 11. und 12. Jahre. Ich 
habe einiges davon aufbewahrt und lese manchmal noch mit stiller 
Freude gewisse Stellen, die ich mir in absoluter Unkenntnis des 
sexucllen Lebens geleistet. So lasse ich denn unter anderem ein 
Paar Zwillinge über Nacht im Bett des Vaters zur Welt kommen. 
Am Morgen bemerkt der Entzückte die Überraschung und beeilt sich, 


HırscureLp: Das urnische Kind. 349 


der ahnungslosen Mutter die Freudenbotschaft zu überbringen. Da 
es mir verboten war, andere Sprachen, als die in der Schule ge- 
lehrten zu betreiben, so verfaßte ich heimlich eine eigens erfundene 
Sprache mit besonderen Buchstaben. Ich schrieb eine eigene Gram- 
matik, in der Regeln mit den ungeheuerlichsten Ausnahmen vor- 
herrschend waren; ich verfaßte Übungsbücher und Lexika. Ein 
Resultat der Stunden der physikalischen Geographie waren eigens 
gezeichnete, gemalte und geschriebene Karten von unseren Buchten 
und inselreichen Seen, zu einer Zeit, wo ich mir das Wasser als 
Land und das Land als Wasser dachte. Ja, ich schrieb sogar eine 
Geschichte der damals dort lebenden Völker und deren tragischen 
Untergang in Folge vulkanischer Eruptionen, welche dann die heutige 
Gestalt der Erdoberfläche zur Folge hatten. 

Die ersten, noch unbewußten Regungen des homosexuellen 
Lebens fallen etwa ins 10. und 11. Jahr. Wir hatten einen Kutscher, 
einen schönen und kräftig gebauten Menschen mit langem, dunkelen 
Schnurrbart. Es machte mir stets Vergnügen, um ihn zu sein und 
ihn in seinen hohen Stiefeln, Hosen und Livreerock, oder winters in 
seinem russischen Schafpelz zu bewundern. Ich hatte schließlich 
das unwiderstehliche Verlangen, ihn zu umarmen, da das aber schwer 
anging, so schlich ich mich öfters, wenn ich ihn bei der Arbeit 
wußte, in seine Wohnung, schlüpfte in seine riesigen Stiefel, hing 
scinen Rock oder Pelz um mich und hatte ein Gefühl des seligsten 
Wohlbehagens. Ich drückte die Kleidungsstücke fest und krampf- 
haft an mich, und der Geruch der Lederstiefel und der ledernen 
Hosen, welche ich auf meinem Schoß hielt und öfters an mich 
drückte, verbunden mit dem Gedanken an den schönen, groß ge- 
bauten Kutscher, den ich mir dachte, indem ich die Kleidungsstücke 
an meinem Körper befühlte, verursachten mir heftige Erektionen, über 
die ich jedesmal, ohne mir bewußt zu sein, infolge wovon sie ent- 
standen, entsetzt war, da ich sie für cine krankhafte Erscheinung 
hielt. — Eines Tages, nach reiflichem Hin- und Herdenken wußte 
ich mit Hilfe meiner Kameraden, Knaben, die mit mir erzogen 
wurden, eine Scene ins Werk zu setzen, bei welcher der Kutscher 
veranlaßt wurde, mich emporzuheben. Diese Gelegenheit benutzte 
ich nun, da meine Kameraden mich ihm entreißen wollten, meine 
Wange an scin bärtiges Gesicht zu legen, meinen Arm um seinen 
Nacken zu schlingen und meine Beine fest an seinen Körper zu 
pressen. Ich schloß die Augen und spürte ein Gefühl schwindelnder 
Wonne. — Im Sommer pflegten wir cin Haus am Strande zu be- 
ziehen. Dicht an der Veranda, zwischen Haus und Meer, führte 


250 A. Abhandlungen. 


eine Straße vorbei, auf welcher zu gewissen Stunden die Strand- 
gscnsdarmen vorbeipatrouillierten. — Ich fühlte. mich sofort zu den 
strammen Kerlen mit hohen Stiefeln, straffer Uniform und gebräunten 
Gesichtern mit flottem Schnurrbart hingezogen. Bald konzentrierte 
sich all’ mein Denken auf sie. Abends im Bett, vor dem Einschlafen, 
malte ich mir die ungeheuerlichsten Scenen aus: Es klopfte ans 
Fenster, ich öffne neugierig. da langt plötzlich eine braune Hand, 
cin Arm hinein, an dessen Ärmel ich die militärischen Aufschläge 
und Knöpfe wahrnehme Ehe ich mich versche, werde ich hinaus- 
gezogen. Unter dem Militärmantel geborgen, an der Brust eines 
Mannes liegend, den ich fest, fest umklammere, so daß ich mein nnd 
sein Herz zusammmenschlagen höre, werde ich cilenden Schrittes 
davongetragen. Dazu höre ich den Säbel klirren, empfinde den 
festen Tritt der derben Stiefel und den Ledergeruch, den sie aus- 
strömen. In eine Hütte tief im Walde bringt mich der Gensdarm, 
er legt mich in sein Bett, küßt mich und legt sich dann mir zur 


Scite, ich klammere mich fest an ihn — und bin endlos glücklich, 
selig. — Resultat dieser Phantasien waren die Träume, in denen 


sie fortgesponnen wurden, wobei ich zum erstenmal Pollutionen hatte, 
bei denen ich erwachte und entsetzt war über die merkwürdige Er- 
scheinung, die ich für eine Krankheit hielt. Schließlich verspürte 
ich ein riesiges Verlangen, diese Phantasie zu verwirklichen. — 
Abends, wenn es bereits dämmerte, ‚versteckte ich mich im Walde 
hinter einem Busch an der Straße, auf welcher der Gensdarm vorbei- 
kommen mußte. Wie klopfte mein Herz, wenn ich seine Schritte 
hörte. Oft ging er so nahe vorbei, daß ich nur meine Hand hätte 


auszustrecken brauchen, um seine Füße zu berühren, — aber ich 
tat nichts dergleichen — in einer Art Starrkrampf lag ich da, mit 
geschlossenen Augen, in der Hoffnung, er würde mich entdecken, 
unter seinen Mantel stecken und mit mir davongehen — wie im 


Traum. Da das zu meinem unendlichen Kummer nie geschah, gab 
ich den vergeblichen Versuch schließlich auf und tröstete mich in 


meinen Phantasien. — Meinen Angehörigen teilte ich nie etwas von 
meinen Gedanken und Gefühlen mit — nicht, weil ich etwas Un- 


rechtes zu tun glaubte, aber doch wohl, weil ich mir schon damals 
unwillkürlich werde bewußt gewesen sein, etwas 'zu empfinden, das 
nur mir selber verständlich war. — 

Ein anderes Erlebnis steht lebhaft in meiner Erinnerung. Es 
ist cin wolkenloser, sonnig klarer Herbsttag. Das Getreide ist ge- 
schnitten und liegt in schimmernden Garben auf dem Stoppelfelde, 
Das Laub der Bäume in den Alleen und Gärten schimmert gelblich, 





HirscureLp: Das urnische Kind. >51 


Tam nn nn _LLU M o M 








rötlich und in der Ferne, vom dunkelsten Grün bis in die hellsten 
Schattierungen des Blau, dem Himmel gleich sich verlierend, die end- 
losen Wälder meiner Heimat. Wir Jungens siud auf der Jagd nach 
Feldmäusen, die wir unter den Getreidehaufen hervorscheuchen. Da 


ein heller, schallender Ton, der mich aufhorchen macht — und in 
der Richtung, wo er hergekommen, da blitzt und glitzert es. Die 
Musik wird lauter — und das Blitzen und Funkeln, das auf der 


Landstraße näher und näher kommt, ist ein Trupp Soldaten mit 
blinkenden Säbeln und Flinten. Jetzt biegen sie von der Straße ab 
und marschieren über die Wiese, die sich längs dem Felde hinzieht, 
auf dem wir uns befinden. Den Soldaten voran marschiert cein 
Offizier, der erste, den ich in meinem Leben geschen. — Er ist groß 
und kräftig, mit blondem Schnurrbart und blauen, froh leuchtenden 
Augen. Jede Bewegung an ihm ist Kraft und Leben und Freude, 
als wäre er der klare, wolkenlose Himmel und die reine, köstliche 
Herbstluft, die mich umgab. Es überkommt mich ein Gefühl großer 
endloser Freude, ein Gefühl edler Taten- und Schaffensfreudigkeit 
und zugleich eines schrecklichen und evstickenden Schnens, so dab 
ich unwillkürllch die Hände cmporstrecke — und dann zu weinen 
beginne — mir selber nicht bewußt, warum. —- Die andern Knaben 
waren den davonmarschierenden Soldaten nachgelaufen, so war ich 
unbeobachtet geblieben. — Zu Hause angekommen, erfuhr ich, dab 
der Offizier unser Gast war. — Aus welcher Veranlassung sich der 
kleine Trupp Soldaten damals in unsere entlegene Waldeinsamkeit 
verirrt hatte, vermag ich heute nicht zu sagen. — Im Vorhause ent- 
deckte ich den Mantel und Säbel des Offiziers. Ich konnte der Ver- 
suchung nicht widerstehen, den Säbel zu befühlen und meinen Kopf 
in den Mantel zu stecken, wobei mir, mit den peinlichsten Erektionen 
verbunden, deutlich die Scene auf dem Felde vor Augen stand. — 
Bei Tisch, wo ich kaum meine Augen zu erheben wagte, fesselten 
die strammen Beine unseres Gastes meine Aufmerksamkeit. Ich hätte 
die Beine, in der kleidsamen Uniform sitzend, umarmen und drücken 
mögen. Beim Abschiede hängte mir der Offizier cin goldenes Kreuzchen, 
an einer braunseidenen Schnur, um «den Hals. Ich war damals, wie 
wenigstens meine älteren Geschwister behaupten, ein hübscher Junge. 
— Das Geschenk machte mich selig. Man stelle sich daher meinen 
Schmerz und meine Wut vor, wie meine streng orthodoxe, evangelisch- 
lutherische Mutter mir verbot, das Kreuz zu tragen, weil cs eins 
nach griechisch-katholischem Muster geformtes war, und es mir cin- 
fach fortnahm. Ich heulte aber was half es. Noch Jahre ist der 
Besitz dieses Kreuzes das höchste Ziel meiner Wünsche gewesen, ja 





A. Abhandlungen. 


nV 
‚Qi 
I IND 


ich ging sogar einmal mit dem Gedanken um, den Schreibtisch meiner 
Mutter zu erbrechen, um mich so in den Besitz des Heiligtums zu 
bringen. Aber die Jahre vergingen. und das Kreuz ist in Vergessen- 
heit geraten. 

>. Mein Vater las und studierte viel, zum Landwirt war er 
garnicht geeignet. Störungen liebte er garnicht. Wenn wir zu laut 
wurden, und dann sein Befehl »Ruhe«e bis in die Kinderstube drang, 
wurden wir vor Schreek mäuschenstill. Wir mieden die Zimmer, in 
welchen er sich aufhielt, tunlichst und waren ihm eigentlich stets 
merkwürdig fremd geblieben. Um mein Seclenleben hat er sich nie 
recht bekümmert. Mein weibisches Wesen, meine mädchenhaften 
“igenheiten entgingen selbstverständlich ihm ebensowenig wie den 
andern. ‚Der Junge ist das richtige Mädel‘, äußerte er sich zu 
meinem Arger oft Fremden gegenüber. Mit Zinnsoldaten spielte ich 
nur, weil ich als Junge doch eigentlich mußte; das war der Beginn 
meines Urningsschicksals: im Leben stets Komödie spielen zu müssen, 
beständig etwas anderes vorstellen zu müssen, als man in Wirklich- 
keit gern möchte. Am Hhiebsten stellten meine Schwester und ich 
erwachsene Herren und Damen dar. Meiner Schwester imponierten die 
schwarzen Husarenoffiziere der Garnison, die ständige Besucher 
unseres gastlichen Elternhauses waren und sich manchmal auf Bällen 
den Scherz machten, die kleine Dame zu einer Extratour zu enga- 
gieren. Sic umgürtete sich mit einer Elle als Säbel, stülpte einen 
ausrangierten, altmodischen, mütterlichen Muff auf den Kopf, machte 
sich aus Blumendraht ein Monokel und stellte den Herrn Leutnant 
vor. — leh entlehnte dem Wäschekasten eine gebrauchte Küchen- 
schürze, die ich verkehrt umband, um die Schleppe zu markieren, 
hing mir Mamas alte Mantille um und setzte den Gartenhut meiner 
Schwester, dem ich durch einen Fliederzweig oder eine dem Gärtner 
entwendete Rose mehr Chie zu geben suchte, kokett auf den Hinter- 
kopf, um vorn Raum genug für die ‚Stirmlöckchen‘ zu haben, und 
bildete mir ein, nun eine schr schöne und vornehme Dame zu sein. 
‚mädiges Fräulein haben heute wieder ganz wun—der—ba—re Toilette 
gemacht‘, näselte dann meine Schwester, die Hacken zusammen- 
nehmend. „Ach, Herr Leutnant, es ist ja nur ein ganz einfaches 
Kleid", flötete ich, meiner Meinung nach sehr distinguiert die Augen 
aufschlagend, indem ich die Kattunschleppe meiner imaginären 
Scidenrobe möglichst graziös aufraffte, und mir mit dem großen 
Klettenblatt, welches den Fächer vorzustellen hatte, Kühlung zu- 
wehte. Als ich in die Stadt zur Schule kam, fingen meine Leidens- 
jahre an. Ein nieht normal veranlagtes Kind sollte man nicht nach 


Hırscurkın: Das urnische Kind. 953 


der Schablone erziehen. Für mich hätte ein einsichtsvoller Privat- 
lehrer ein Segen sein können. Das Gymnasium, zu dessen Zierden 
ich fortan zählen sollte, war für mich — in den ersten Jahren 
wenigstens — einfach eine Marter. Wenn man ein kleines, schüchternes 
Mädchen in eine Klasse von 40—50 wilden Jungen steckt, wird es 
sich unter diesen sicher nicht behaglich fühlen, und cs hat doch 
wenigstens den Vorteil voraus, gleich äußerlich als andersartig ge- 
kennzeichnet zu sein. Ich arme, scheue, ländliche Mädchenseele im 
Knabenkörper befand mich nun plötzlich inmitten eines halben 
Hundert derber Großstadtjungen. Ich hatte große Hoffnungen auf 
die Schule, angenehme Lehrer und liebe Mitschüler gesetzt; ich sollte 
gräßlich enttäuscht werden. Von all’ den Jungen hätte ich nicht 
einen zum Freunde haben mögen, ebenso hätte sich wohl ein jeder 
von ihnen für meine Freundschaft bedankt. Wir waren gar zu ver- 
schieden geartet und erzogen. Mein Lehrer war ein Mensch, der 
gern durch unzarte Scherzchen über meine Zimperlichkeit den Hohn 
meiner Mitschüler, die ohnedies zu Hänselcien nur zu sehr geneigt 
waren, herausforderte Zimperlich war ich, das steht fest; heute muß 
ich selbst darüber lachen. Als ein Beweis meiner übergroßen Scham- 
haftigkeit, die vielleicht durch meine Veranlagung bedingt wurde, sei 
erwähnt, daß ich es Jahre lang nicht über mich gewinnen konnte, 
den gemeinsamen Abort zu benutzen. Mit einigen meiner Mit- 
scnüler wurde ich genauer bekannt. Für einen schönen Polen, ein 
Bild von einem Menschen, interessierte ich mich schr; er war, wenn 
ich es recht bedenke, meine erste Liebe. Küssen durfte ich ihn bei 
allen möglichen Anlässen ohne Auffälligkeit, da es ja bei den Polen 
sehr üblich ist. Ich machte ihm kleine Geschenke, erwies ihm, so 
oft es anging, Aufmerksamkeiten, um wieder geküßt zu werden; zu 
meinem Leidwesen tat er es ganz leidenschaftslos. Er war jünger 
als ich, und meine Klassenkollegen verdachten es mir sehr, daß ich 
mit dem Jungen umging und sie vernachlässigte. Meine Neigung 
war so groß, daß ich mir nichts daraus machte und die Unliebens- 
würdigkeiten, die das im Gefolge hatte, willig ertrug. Er besaß die 
den meisten Polen eigene obeiflächliche Liebenswürdigkeit, sehr tief 
war seine Neigung zu mir nicht, es schmeichelte ihm, von dem 
Schüler der oberen Klasse bevorzugt zu werden. Geschlechtliche 
Annäherungen haben — weder mit ihm, noch mit andern Schülern 
— stattgefunden, ich ergab mich stillen Ergüssen. Als ich meinen 
Adonis nach Jahren wiedersah, hatte er viel von seiner Schönheit 
eingebüßt, war ein großer Mädchenjäger geworden und litt an einer 
Greschlechtskrankheit. 


254 A. Abhandlungen. 


Bemerkenswert ist noch ein Traum, der ganz homosexueller 
Natur war, obgleich ich damals von gleichgeschlechtlicher Liebe nicht 
die geringste Ahnung hatte. Dieser Traum ist für mich der untrüg- 
lichste Beweis, daß mein Urningtum angeboren ist: Einer meiner 
Lehrer, ein hübscher, unverheirateter Herr, war mein Ideal. Bei 
ihm hatten wir Geographie und Geschichte, meine Lieblingsfächer. 
Um ihm zu gefallen, bereitete ich mich für scine Stunden mit der 
größten Sorgfalt vor und blieb selten eine Frage schuldig. Von ihm 
träumte mir nun, und zwar so lebhaft, daß ich noch beim Aufwachen 
das deutliche Gefühl davon hatte, er läge bei mir im Bett. Der 
Traum war ungeheuer wollüstig und bewirkte eine Ejakulation. Ich 
mußte schr oft und noch lange daran denken, sprach aber zu 
niemandem davon, weil ich mich schämte. — Als ich nach dem 
Abiturientenexamen bei ihm, der mir in der letzten Zeit keinen 
Unterricht erteilt hatte, meine pflichtschuldige Visite machte, küßte 
er mich glückwünschend und abschiednehmend auf die Stirn. Dieser 
Kuß erregte mich so stark, daß ich an mich halten mußte, ihm nicht 
um den Hals zu fallen. Heute bedaure ich, es nicht getan zu haben; 
ich glaube, er hätte mir meine Dreistigkeit verziehen. 

Die letzten Schuljahre waren besser als der unglückselige Be- 
ginn. Meine Zeugnisse waren befriedigend und die Lehrer lobten 
mein musterhaftes Betragen — ein Wildfang bin ich ja nie gewesen. 
Während der letzten drei Jahre war ich sogar Primus und meine 
Mitschüler gestanden mir aus eigenem Antrieb eine gewisse Autorität 
zu. Ich konnte also sagen: ‚Ende gut, alles gut‘ Diese Vergeltung 


war mir das Schicksal in Anbetracht der vielen vorherigen — ich 
kann wohl sagen — unverdienten Qualen, die mir die Kindheit ver- 


gifteten, schuldig. Der Eindruck, den die Leiden der Knabenzeit 
auf mich machten, war so gewaltig, daß ich selbst jetzt noch, ‚im 
Schwabenalter‘ bisweilen von bangen Schulträumen heimgesucht werde; 
ich erwache beängstigt, um dann aufzuatmen mit dem erhebenden 
Bewußtsein, daß diese Kümmernisse zum Glück längst nicht mehr 
der Wirklichkeit angehören.« 

Diese lebenswahren Schilderungen, herausgegriffen aus einer 
größeren Anzahl ähnlicher, gewähren einen höchst wertvollen Ein- 
blick in die Psychologie der urnischen Kindesseele. 

In der Reifezeit zeigen sich bei urnischen Knaben und Mädchen 
allerlei von der Norm abweichende Erscheinungen. Der Stimm- 
wechsel tritt oft überhaupt nicht ein, manchmal orstreckt er sich 
über eine lange Zeit, nicht selten macht er sich verhältnismäßig spät 
mit 19 oder 20 ‚Jahren bemerkbar; sehr viele haben nach der Mu- 


a. 


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HiırscureLD: Das urnische Kind. 


tation noch die Neigung, Sopran oder Fistelstimme zu singen, andere, 
die nicht mutiert haben, sind im stande, durch methodische Übungen 
ihr Organ wesentlich zu vertiefen. So berichtet W. v. S, ein ganz 
hervorragender Barytonsänger (mit Tenorqualitäten): »Meine Stimme 
hat nie einen merklichen Umschlag oder Übergang gehabt, mit 
23 Jahren konnte ich Sopran singen und kann es noch heute 
(30 Jahre). Tiefere Sprach- und Singtöne habe ich erst durch Schule 
und Übung erlangt« Während die Vergrößerung der Stimmbänder 
ausblieb, vergrößerten sich während der Reife um so mehr die Brüste, 
die noch jetzt, wie ich mich durch Inspektion und Palpation über- 
zeugte, einen vollkommen weiblichen Carakter tragen. Oft werden 
junge Urninge wegen ihrer hohen hellen Stimme geneckt, so schreibt 
ein urmischer Arbeiter: »Meine Stimme ist nicht gebrochen, man 
nannte mich in Arbeiterkreisen wegen meiner hohen Stimme: ‚Gret- 
chen‘.« Bei vielen bleibt die Stimme ohne männliche Kraft. 

Urmische Mädchen bekommen zur Zeit der Pubertät oft eine 
tiefere Stimmlage. Ich kenne cinen derartigen Fall, wo ein Spezial- 
arzt für Halskrankheiten, weil er Kehlkopfkatarrh annahm, mehrere 
Monate pinselte. Der Bartwuchs stellt sich bei urnischen Jünglingen 
oft sehr spät, oft auch recht spärlich und ungleich ein. Dagegen ist 
ein hie und da mit Schmerzhaftigkeit verknüpftes Anschwellen der 
Brüste zur Reifezeit eine bei umischen Knaben durchaus nicht sel- 
tenes Vorkommnis, während hingegen urnische Mädchen recht häufig 
sehr mangelhafte Brustentwicklung darbieten. Bei urnischen Knaben 
scheint mir endlich nicht selten ein besonders üppiger, an das Weib 
erinnernder Wuchs der Haupthaare vorzukommen, hingegen weist die 
Körperbehaarung urnischer Knaben oft feminine, die urnischer Mäd- 
chen oft virile Anklänge auf. Von pathologischen Störungen findet 
man bei urnischen Söhnen verhältnismäßig häufig Migräne und 
Chlorose, zwei Krankeiten, von denen sonst mit Vorlicbe das weib- 
liche Geschlecht heimgesucht wird. 

Sind diese Zeichen auch durchaus nicht in jedem Falle nach- 
weisbar und läßt sich aus ihnen auch nicht mit unbedingter Sicher- 
heit homosexuelles Empfinden schließen, so wird die Diagnose im 
Verein mit den vorher geschilderten Symptomen doch eine völlig 
sichere. 

Ich habe wiederholt bei 10- bis 14 jährigen Kindern die Diagnose 
Uranismus gestellt. So konsultierte mich cine Mutter mit cinem 
13jährigen Knaben, der an Migräne litt, sehr schreckhaft war und viel 
weinte. Er wurde von seinen Mitschülern, an deren Treiben er sich 
nicht beteiligte, viel gehänselt, war am liebsten mit einer Cousine zu- 


256 B. Mitteilungen. 


sammen und besaß einen Freund, den er in der Sommerfrische kennen 
eclernt hatte und mit welchem er täglich korrespondierte. Er liebte 
besonders Blumen und Musik, dagegen konnte er Mathematik »nicht 
kapieren«. Die Untersuchung der bei großer Liebenswürdigkeit außer- 
ordentlich schamhaften Knaben ergab einen noch völlig unentwickelten 
(ienitalapparat, der Penis glich dem eines 4jährigen Kindes, dagegen 
zeigte sich eine Beschaffenheit der mammae wie bei Mädchen im Be- 
ginn der Pubertät. Ich stellte die Diagnose auf Uranismus und 
klärte die Eltern entsprechend auf. In diesen und 2 ähnlichen 
Fällen ist die Zeit noch zu kurz, so daß eine postpubische Bestäti- 
gung ermangelt. Dagegen habe ich bei einem jetzt 1Sjährigen homo- 
sexuellen Photographen bereits vor + Jahren, che derselbe entwickelt 
war, Uranismus diagnostizieren können. Noch eine weitere Beob- 
achtung gehört hierher. Ich erinnerte mich aus meiner Gymnasial- 
zeit an einen Knaben, der von den Mitschülern »Alieze« genannt 
wurde. Neben andern femininen Eigenschaften besaß er eine be- 
sondere Kunstfertigkeit im Kochen und in der Verwendung von 
Flicken, die er Papierpuppen sehr geschickt aufnähte. Er war der 
vorjüngste von 7 Geschwistern, meistens Knaben, die alle dieselbe 
strenge Erziehung genossen. Der Vater wurde, als der Sohn in 
Quarta war, versetzt, und so war mir dieser Schüler entschwunden. 
Bei meinem Zwischenstufen-Studium fiel er mir ein, und ich forschte 
nach mehr als zwanzig Jahren, was aus ihm geworden sei. Ich eı- 
fuhr, daß er Damenhutmacher geworden sei, ledig geblieben war und 
seit Jahren ein anscheinend sehr ideales Verhältnis mit einem Freunde 
hatte, auch lagen andere Anzeichen vor, die über seine Geschlechts- 
zugchörigkeit keinen Zweifel ließen. Aus dem urnischen Kinde war 
ein homosexueller Mann geworden mit derselben Naturnotwendigkeit, 
mit der sich aus dem Normalkinde cin heterosexueller Mensch ent- 
wickelt. 

Nachschrift der Schriftleitung. »Der Mensch sieht nur, 
was er weiß«, behauptet Hersart. Ich möchte hinzufügen: und was 
er zu wissen glaubt, was er sich einbildet. Nun hat in dem letzten 
Jahrzehnt die sexuelle Frage eine außerordentliche Rolle in der Lite- 
ratur jeder Art gespielt. Es grübelt schon die Schuljugend über 


Dinge, die man früher allgemein — etwa mit Ausnahme entarteter 
(roßstädter — am liebsten mit Nacht und Grauen sorgsam verdeckte. 


Man huldigte damals dem Sprichwort, daß man den Teufel nicht an 
die Wand malen solle, sonst käme er. Jetzt ist man eher ins ent- 
gegengesctzte Extrem verfallen. Ob das eine oder andere besser, 
d. h. heilsamer für die Bewahrung der Jugend vor sexuellen Ab- 





Innenleben der Stotterer und seine Berücksichtigung bei der Behandlung 257 


wegen, ist, wage ich nicht durch eine einfache Behauptung zu ent- 
scheiden. Aus meiner Erfahrung heraus möchte ich aber namentlich 
jüngere Lehrer und Lehrerinnen wie übersorgsame Mütter warnen, 
keine sexuellen Gespenster zu schen. 

Ohne Frage sind die obigen Ausführungen des Herrn Dr. Hırsch- 
FELD psychologisch interessant und beachtenswert, und wir haben 
ihnen gerne Raum gegeben. Es frägt sich aber, ob alle die Er- 
scheinungen unbedingt homosexuell zu deuten sind und ob mancher 
haltlose Uming seine unverständigen, widernatürlichen Handlungen 
nicht durch solche Ausdeutungen zu beschönigen trachtet. Tr. 


DE a Ze ee Zu Zr ZW ee 


B. Mitteilungen. 


1. Innenleben der Stotterer und seine Berücksichtigung 
bei der Behandlung. 
Von Otto Legel, Uchtspringe (Altmark). 


Der griechische Redner Demosthenes war, so erzählt die Ge- 
schichte, bevor er vor die Öffentlichkeit trat, mit dem Stottern behaftet. 
Um sich von seinem Übel zu befreien, ging er in die Einsamkeit, an den 
Strand des Meeres und suchte das Toben der Brandung mit seiner Stimme 
zu übertönen. Mit Hilfe dieser seiner Methode gelang cs ihm, sich von 
seinem Sprachgebrechen zu befreien. So, wie cs der grolse Grieche mit 
sich selbst machte, so geschieht es noch heute von vielen Therapeuten, 
die stotternde Patienten behandeln. 

Was Demosthenes hinausschrie über das weite Meer, können nur 
langgedehnte Vokale gewesen sein, die er nach kurzem Einatmen mit 
langem Ausatmen in rythmischer Weise von sich gab, die er dann mit 
an- und auslautenden Konsonanten verband, zu Silben vereinigte, bis es 
ihm gelang, Wörter, Sätze und Satzverbindungen fehlerfrei zu sprechen. 
Hier in der Einsamkeit, wo ihn niemand sah und hörte, wo keiner über 
sein (rebrechen lächelte, verschaffte er sich das Gefühl der Sicherheit in 
seiner Rede, das es ihm dann ermöglichte, vor die Volksmenge zu treten 
und sie durch seine Reden zu begeistern. Dieser wichtige Umstand, erst 
aus der Umgebung herausgerissen und dort von der jedem Stotterer 
eigenen Sprachangst befreit zu werden, verdient bei Lehrern und Ärzten, 
„die sich mit der Heilung von Stotterern beschäftigen, noch mehr Bce- 
achtung als er bis jetzt besitzt. Er bildet die Grundlage, auf der sich 
die weitere Behandlungsmethode sicher aufbauen kann. 

Es ist eine bekannte Tatsache, dals fast alle Stotterer, wenn sie 
allein sind, ja manchmal auch im Verkehr mit Kameraden ohne Unter- 
brechung der Rede sprechen können, also nicht stottern. Treten sie aber 


Die Kinderfohler. VIII. Jahrgang. 17 


258 B. Mitteilungen. 


unter ibnen fremde Menschen oder in eine neue Umgebung, die be- 
stimmte Anforderungen stellen, so werden sie sofort von einer wahren 
Sprechangst befallen. Sie versuchen durch Bewegungen verschiedener 
Muskelpartien über dieses oder jenes ihnen schwierig erscheinende Wort 
hinwegzukommen; erwachsene Patienten haben es sogar zu einer ge- 
wissen Fertigkeit gebracht, durch Umschreibung bestimmter Wörter mit 
ihnen ungeläufigen Konsonanten ihr Ubel zu vertuschen oder mindestens 
abgeschwächt erscheinen zu lassen. Andere wieder schweigen eher, als 
ihrer Umgebung ihr Gebrechen zu entdecken. Hierdurch geraten sie oft 
in eigenartige Situationen und müssen es sich gefallen lassen, als »dumm« 
zu gelten. Und nun vergegenwärtige man sich das Innenleben der 
Stotterer! Ihre Sprechangst hat, von wenigen Ausnahmen abgesehen, 
ihren Grund im Verhalten der Umgebung, die meist dem Leidenden ver- 
ständnislos oder gar hartherzig gegenübersteht. Jeder Stotterer ist ein 
krankhafter, nervöser Mensch. Sobald sich bei einem Kinde die ersten 
Anfänge des Stotterns zeigen, wird es, im vorschulpflichtigen Alter, von 
den Eltern ermahnt, diese »Angewohnheit« zu lassen. Als gehorsames 
Kind bemüht es sich, beim nächsten Satze das Stottern zu unterdrücken. 
Es richtet seine ganze Aufmerksamkeit auf das Wort, das ihm als schwierig 
erscheint, strengt sich verzweifelt an, es möglichst gut herauszubringen 
und siehe da — es gelingt ihm vorbei. Die Eltern werden milsgestimmt 
ob dieser »Energielosigkeit«; ihre Ermahnungen werden strenger, ja sie 
verwandeln sich in unbarmherzige Schläge. In demselben Verhältnis, in 
dem die Erregtheit und Strenge der Eltern sich steigert, wächst die 
nervöse Angst des Kindes. Sehen die Eltern alle ihre Mittel erfolglos 
an ihrem »energielosen« Kinde abprallen, so instruieren sie die Spiel- 
kameraden des Kleinen, ihn zu verspotten oder gar vom fröhlichen Spiel 
auszuschlielsen, wenn er stottert. Und die Kinder tun es nicht mehr wie 
gern, tun sie doch den Eltern einen grolsen Gefallen, und diese ver- 
sprechen sich eine erfolgreiche Wirkung ihrer Mafsnahmen. So bemächtigt 
sich der armen Kranken eine grofse Scheu im Verkehr mit den Kame- 
raden. Furcht, Scham, Schreck, Angst und Zorn erhöhen ihre Übel. Und 
diese Menge psychischer Depressionen schadet der Charakterbildung der 
Kinder ungeheuer. Sie empfinden, dafs sie ungerecht getadelt und ge- 
straft werden und werden dadurch abstolsend gegen Eltern und Ge- 
schwister. Das Verhalten der Spielkameraden macht sie milstrauisch 
gegen jedermann, schüchtert sie ein und macht sie unentschlossen und 
wankelmütig. Während der Mund anderer Kinder nie vor der Fülle der 
Fragen nach ihnen neu entgegentretenden Dingen, Tätigkeiten usw. stille 
steht und so dem kindlichen Geiste, dem Denken, das gerade in diesem 
Alter die gröfsten Fortschritte macht, immer neue Stoffe und Anregungen 
zuführt, versagen sich stotternde Kinder das Fragen; sie unterdrücken ge- 
waltsam den inneren Drang nach Wissen und bleiben folgerichtig in ihrer 
geistigen Ausbildung zurück. Wie unendlich grofs ist diese Gefahr! Die 
Eltern ahnen nicht, wie sie ihrem unglücklichen Kinde schaden. 

Nun kommt dieses pathologische Kind zur Schule. Neue ungünstige 
Einwirkungen treten zu der Menge der alten hinzu. Die ganze Situation 


Innenleben der Stotterer und seine Berücksichtigung bei der Behandlung. 259 


erschwert dem Stotterer das Sprechen noch mehr, Die Schule stellt 
höhere Anforderungen an die spontane Sprache ihrer Zöglinge, wodurch 
die Koordination der Sprachbewegungen noch mehr gestört wird. Jetzt 
soll das Kind vor der ganzen Klasse, unter der Aufmerksamkeit des 
Lehrers und der Mitschüler sprechen. Es weils, dals es schon ım Kreise 
seiner Spielgefährten nur auf Hohn und Spott stiels, sobald es den Mund 
auftat, und was wird ihm nun hier widerfahren! Furcht und Scham 
hindern es zu sprechen. Bringt es endlich das gütige Zureden des 
Lehrers so weit, dafs das Kind einen Versuch macht, so merkt es, dafs 
seine Sprache, die sonst noch annehmbar war, bedeutend schlechter ist. 
Verzieht der Lehrer nur eine Miene, so tritt dem Kinde die Schamröte ins 
Gesicht. Es sieht sich von den übrigen Schülern mit höhnischem Lächeln 
beobachtet, und sein Seelenzustand wird noch verzweifelter. Leider be- 
teiligen sich oft die Lehrer am Gespött und Gelächter der Klasse oder 
sie dulden es doch, und dem Kinde wird die Schule zur Qual. Auf dem 
Nachhausewege, in den Pausen verstärkt sich die Neckerei. Bald ist das 
unglückliche Geschöpf unter der ganzen Schuljugend als »Stotterbock« be- 
kannt. Dieser oder jener Schüler ahmt ihm alle Mitbewegungen 
nach und erregt dadurch die Lachlust der übrigen, häufig zu seinem 
eigenen Schaden. Es ist ja eine bekannte Tatsache, die zahlenmälsig in 
statistischen Erhebungen festgelegt ist, dals sich die Zahl der Stotterer 
während der Schulzeit stark vermehrt, weil einmal viele ängstliche, 
schüchterne Naturen sich erst mit dem Beginn der Schulzeit zu Stotterern 
herausbilden, weil zum andern aber manche dieses Übel, das sie anfangs 
nur nachahmten, übernehmen. Angesichts dieser letzteren Tatsache wäre 
es ein billiges Verlangen, im Interesse der Schule und noch mehr im 
Hinblick auf die armen Stotterer, diese während der Dauer ihres Leidens 
vom Unterrichte fern zu balten und sie einem Lehrer zur Behandlung zu 
überweisen. !) 

Der Leidensweg wird mit dem Aufsteigen in höhere Klassen für den 
Stotterer immer dornenvoller. Zum Segen der Unglücklichen kommt es 
ja oft vor, dafs dieser oder jener Lehrer darüber wacht, dafs stotternde 
Kinder nicht gehänselt werden. In den höheren Klassen tritt die spontane 
Sprache der Schüler mehr und mehr in den Vordergrund. Da kann man 
häufig von den Lehrern die an sich ganz richtige Bemerkung hören, dals 
dies oder jenes Kind um so schlechter spricht, wenn es nicht ordentlich 
gelernt hat. Grundfalsch wäre es nun aber, diese Beobachtung zu ver- 
allgemeinern und das Stottern als einen Prüfstein ungenügender Präparation 
hinzustellen. Es gibt viele Stotterer, die durch die Bemerkung des Lehrers, 
dafs sie nur stottern, wenn sie nicht ordentlich gelernt haben, ein neues 
Moment der Angst zu ihrem Übel hinzubekommen und bei nächster Ge- 


1) Hierbei sind jedoch zwei Fragen ernstlich zu erwägen: 1. Dice Kosten für 
die private Erziehung; 2. Ob das andauernde Fernbleiben von der Schule nicht ein 
zu hoher Preis ist. Hier mülste ein Ausweg gesucht werden, der auch zum Ziele 
führt. (Nebenunterricht für Heilbehandlung, Fürsorge für größeren Schutz der Ge- 
brechlichen in der Schule usw.) Tr. 

Ä 17* 


260 B. Mitteilungen. 


legenheit, trotzdem sie gut antworten können und gut vorbereitet sind, 
mehr als sonst stottern, nur in der Angst, dals, wenn sie jetzt stottern, 
würden sie vom Lehrer als faul angesehen werden. Manche Stotterer 
haben vor diesem oder jenem Menschen eine gewisse Antipathie, in deren 
Folge es ihnen unmöglich wird, einen fliefsenden Satz herauszubringen. 
Oft ist aber das Sprechen zuzeiten ganz gut, zu andern Zeiten geht es 
wieder gar nicht, so dals mancher Lehrer ausruft: »Ja, vor ein paar 
Tagen hast du’s doch gekonnt, da hast du dir Mühe gegeben. Strenge 
dich nur heute auch etwas an!« Oder die Klasse verrät dem Lehrer: 
»Bei Herrn N. N. spricht er ganz gut!« Der Stotterer ist eben ein 
.nervöser Mensch, der in seinem Leiden unberechenbar ist. 

Zu einem harten, falschen Urteil über den Fleils des Kindes kommt 
der Lehrer auch häufig dadurch, dafs ein Stotterer ganz fliefsend lesen 
kann. Da das Lesen eine rein mechanische Tätigkeit ist, so gelingt sie 
dem Stotterer auch weit leichter als das spontane Sprechen, bei dem das 
Kind seine eigenen Gedanken in kurzer Zeit in eine annehmbare Form 
kleiden soll. Sie suchen in nervöser Hast nach Worten, kaum haben sie 
einen passenden Ausdruck gefunden, so merken sie, dals dieser gerade 
den Laut enthält, bei dem sie stottern. Sie versuchen, einen andern Aus- 
druck zu finden; auch dieser gefällt ihnen nicht, sie kehren nun zum 
ersten zurück und sprechen nun das Wort im sichern angstvollen Vor- 
‚gefühl, dafs sie dabei stottern. Während dieser Augenblicke haben sie 
alle die Sprachbewegungen mit den Sprechwerkzeugen durchprobiert, wie 
man bei vielen Stotterern beobachten kann. In den oberen Klassen der 
Schule werden nun auch Fragen gestellt, die an die Zöglinge eine höhere 
Anforderung an ihr Denken und Wissen stellen. Für den Stotterer wächst 
die Schwierigkeit des Sprecbens mit der Schwere der Frage. Kann er 
eine richtige Antwort geben, so gelingt ihm das Sprechen selbstverständlich 
besser, da ein hemmendes Moment beseitigt ist; zweifelt er auch nur 
leise an der Richtigkeit der Antwort, so lälst die Sicherheit im Sprechen 
bedentend nach, ja das Kind schweigt manchmal lieber, als den Unterrichts- 
gang durch das Warten des Lehrers auf seine Antwort, die am Ende 
doch falsch ist, aufzuhalten und sich einen Tadel zu verdienen. Man 
kann hier füglich nicht von einem Stottern »mit Willen« reden. 

Für den Schüler höherer Lehranstalten treten mit dem Beginn des 
fremdsprachlichen Unterrichts neue Schwierigkeiten auf; es kommt vor, dafs 
mit diesem Zeitpunkt manche Kinder mit dem Stottern beginnen. Der 
Stotterer sieht sich da vor eine unüberbrückbare Kluft gestellt und seine 
seelische Depression steigert sich unendlich. 

Um nun eine exakte Behandlung einzuleiten, müssen die oben aus- 
geführten störenden und hindernden Momente beseitigt, resp. wirkungslos 
gemacht werden. Der Patient mufs herausgenommen werden aus dem 
alltäglichen Kreise, er muls in die Einsamkeit, d. h. da hin, wo er un- 
geniert sprechen kann, wo ihn nichts stört und ängstigt. Ihm muls die 
Sprechangst genommen werden und damit alle die übrigen psychischen 
Symptome. Denn diese sekundären Ursachen des Übels müssen nach 
meiner Meinung erst beseitigt sein, um Hand an die primäre Wurzel des 


Innenleben der Stotterer und seine Berücksichtigung bei der Behandlung, 261 


Stotterns, der Übertreibung des konsonantischen Elementes der Sprache, 
zu legen und die Affektion des zentralen Sprechzentrums zu beseitigen. 

Dazu ist eine rationelle Behandlung nötig, die von einem mit der 
Methode des Stotterns betrauten Lehrer ausgeübt, nur mit geringen Aus- 
nahmen zum Ziele führt. Man mache dabei der Umgebung klar, dals die 
Befreiung vom Stottern keinen Unterricht vielleicht in der „autbildung 
erfordere, nein, dafs es eine Behandlung ist, dafs der Stotterer ein patho- 
logischer Mensch ist, der sich wie jeder andere Patient nach vollzogener 
Behandlung in einer Rekonvaleszenz befindet, natürlich auf das sprachliche 
Gebiet übertragen, die ein schonendes Verhalten des Behandelten selbst 
als noch mehr seiner Umgebung erfordert. Das ist meist eine ganz ver- 
kannte Tatsache. Man sieht die Heilung des Stotterns als einen Unter- 
richt an, der mit einer bestandenen Prüfung seinen Abschluls erreicht, 
bei dem man auch an der Hand eines Lehrplanes vorgeht und vielleicht 
nach dem ersten Monat der Behandlung schon ein bestimmtes Pensum 
erledigt hat. Hält man vielleicht mit einem von einer Magenkrankheit 
geheilten Patienten eine Prüfung ab, indem man ihm eine Portion Aal 
oder anderer schwerverdaulicher Speisen vorsetzt? Nie, im Gegenteil, 
man vermeidet jedes Schwerverdauliche, bis sich der Magen allmählich 
an die normale Kost gewöhnt hat. Und wie häufig bei diesen neuro- 
pathischen Menschen die Zeit der Rekonvaleszenz aufser acht gelassen 
wird, ja sofort nach Beendigung eines Heilkursus eine von seiten der 
Eltern oder Lehrer anberaumte Prüfung einsetzt, das lehrt die Tätigkeit 
auf diesem Gebiete leider zu oft. Der Knabe kommt zurück aus der An- 
stalt oder aus dem Kursus. Dem Vater hat die Heilung Geld gekostet; 
er will nun sehen, was er für sein Geld bekommen hat. »Nun wollen 
wir einmal hören, was du gelernt hast«, sagt er zu seinem Sohne, stellt 
ihn vor sich hin und spricht ihm nun anfangs leichtere, dann immer 
schwerere Worte vor, bis er endlich, halb froh, dafs er dem Lehrer nun 
einen Wischer geben kann, halb milsgestimmt, dafs das Geld fortgeworfen 
und das Übel geblieben sei, ein Wort oder einen Satz ergattert hat, bei 
dem der Knabe doch noch stottert. Nun schimpft und zetert er über 
den Jungen, der ihm soviel Kosten und Sorgen macht und bedenkt nicht, 


' dafs der Rückfall, der nun vielleicht infolge dieser Menge und der Un- 


verdaulichkeit der Kost eintritt, durch seine verkehrte, fahrlässige Handlungs- 
weise verschuldet is. Und der Knabe, der nach Hause kam mit dem 
felsenfesten Bewulstsein, dafs sein Übel beseitigt sei, ist niedergeschlagen 
und angstvoll vor der Zukunft, die ihm nun wieder eine Kette neuer 
Leiden bietet. Richtig! Er kommt am andern Tage zur Schule. »Na, 
da bist du ja, Schulze! Nun wollen wir doch mal schen, was du ge- 
lernt hast«, so empfängt ihn der Lehrer. Im Knaben hat die nervöse 
Angst die Oberhand bekommen. Er weils ja schon, dafs er wieder stottert. 
Der Lehrer fragt und fragt, und da, er schüttelt lächelnd mit dem Kopf, 
»Schulze, es ist die alte Geschichte, du wirst es wohl nicht verlernen.« 
Diese Worte aus dem Munde der andern Autorität brechen alle Brücken 
hinter dem Knaben ab. Er sagt sich selbst: Du bist und bleibst zeit- 
lebens ein Stotterer. Eine erneute Behandlung tritt in den meisten Fällen 


269 B. Mitteilungen. 


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nicht ein. Der Knabe mufs bei Ergreifung eines Berufes mit seinem 
Übel rechnen, er geht dem Fache, für das er vielleicht am geeignetesten war, 
verloren und wird zu einem Erwerbszweige gezwungen, der ihm nicht 
zusagt. Und unter dem Drucke seines Sprachfehlers bülst er sein Lebens- 
glück ein. Wie unendlich wichtig ist darum eine rechtzeitige, sach- 
gcemälse Behandlung! 

Tritt bei einem Kinde das Stottern ein, so bemühen sich zumeist die 
Eltern erst einmal selbst. um ihrem Kinde das Stottern »abzugewöhnen«. 
Das Wort. bei dem es gestottert hat, wird ihm vorgesprochen, damit es 
nun das Kind nachspricht. Die Eltern verfahren dabei sehr energisch. 
Die Angst des Kindes steigert sich, die Atmungstätigkeiten werden in 
ihrem regulären Verlaufe gestört, und dem Kinde wird es unmöglich, das 
Wort herauszubringen. Es kommt über den Anfangslaut nicht hinweg. 
Die Eltern ändern ihre Taktik; sie sagen sich: Nun, wenn das Kind den 
Laut nicht kann, so müssen wir Wörter mit demselben Anlaut üben. 
Das angstvolle Kind, das genau weils, welche Schwierigkeifen ihm der 
Laut macht, kann natürlich keins der Wörter gut nachsprechen und prägt 
sich nun ein, dals ihm der und der Laut schwer fällt, ja, von ihm gar- 
nicht gesprochen werden kann. Das ist der Anfang der »Lautfurchte«. 
Infolgedessen vermeidet es diese Laute und Worte mit ihren Verbindungen, 
wenn das Kind nicht gerade dazu gezwungen wird. In diesem Falle 
natürlich gelingt der Laut oder das Wort nie. Nun versuchen die Eltern, 
dem Kinde mit besonderen »Hilfen« an die Hand zu gehen. 

Sie empfehien dem Kinde, in der Meinung, dals es nicht genügend 
atme und infolge davon das Wort nicht herausbringe, erst ordentlich Luft 
zu holen, oder sie suggerieren ihm, dals, wenn es mit der Hand an die 
Seite. an die Hosennaht klopfe oder mit dem linken Fulse stampfe, das 
Wort richtig herauskäme. Der Patient hat damit die Gewilsheit, dafs es 
gehen wird, das Symptom der Angst schwindet, und oft, ja fast immer 
gelingt ihm die Aussprache. So entstehen die willkürlichen Bewegungen, 
die oft die Sprache Stotternder begleiten und die dem Hörer ein Lächeln 
abzwingen. Ist es dem Stotterer erst einmal gelungen, mit Hilfe solch 
einer Mitbewegung eine Schwierigkeit zu überwinden, so sucht er neue 
auf. Er wackelt, bevor er seine Rede beginnt mit dem Kopfe, zwinkert ` 
init den Augen, er tritt von einem auf den andern Fufs usw. Ich kannte 
einen Knaben, der vor jedem Satze energisch nach der rechten Schulter 
schnappte und dann den Satz flielsend sprach. Diese accessorischen Be- 
wegungen sind die UHilfsbrücken, anf denen die Sprechangst abgeleitet 
werder soll. Mit dem zunehmenden Alter der Kinder mehren sich selbst- 
verständlich diese Mittelchen, bis sich der Patient bald nicht mehr hindurch- 
findet. Sie erschweren ihm nur das Sprechen noch mehr und unter- 
brechen die Kontinuität der Rede in noch stärkerem Mafse. Zu unter- 
scheiden von diesen Mitbewegungen sind die eigentlichen Stotter-Be- 
wegungen, die sich beim Stotterer an den Lippen, der Zunge und am 
Gaumen beobachten lassen, je nach der Artikulationsstelle des zu bildenden 
Lautes. Dwch die oft empfohlenen Atmungsbewegungen, die der Patient 
dem Sprechen vorausgehen lassen soll, bekommt er nur noch ein Symptom 


Probleme der Kindersprache. 263 


mehr, das ihm Sorge bereitet. Der normalsprechende Mensch atmet un- 
bewufst beim Sprechen. Der Stotterer nun soll auch noch neben der 
Angst, mit der er jeden ihm schwierig erscheinenden Laut erwartet, seine 
Atmung kontrollieren. Das verschlechtert nur noch seine Sprache. Und 
wird er mit einer Rede, die vor jedem Satze durch ein tiefes Luft- 
schöpfen unterbrochen wird, nicht ebenso bei seinen Mitmenschen auf- 
fallen und nicht in gleicher Weise verspottet werden, als wenn er stottert! 
Auf die Beseitigung der Sprechangst und aller willkürlichen Bewegungen 
hat sich demnach die Therapie des Stotterns zuerst zu richten, dann wird 
es mit Hilfe einer exakten Methode gelingen, dem Patienten die Sprache 
seiner gesunden Mitmenschen zu schaffen. 


2. Probleme der Kindersprache. 
Von Dr. Paul Maas, Spezialarzt für Sprachstörungen in Aachen. 


(Schlufs.) 


Wenn nun auch die eigentlichen Worterfindungen nicht eınwandsfrei 
bewiesen sind, so müssen wir dem Kinde doch eine gewisse Willkürlich- 
keit in der Umformung der gegebenen Worte, in der Bevorzugung ein- 
zelner Ausdrücke und in der Verbindung zu zusammengesetzten Be- 
zeichnungen und zu Sätzen zugestehen, welche sogar in einzelnen Fällen 
zur Bildung einer eignen Sprache führen kann. Eine solche Beobachtung 
teilt C. Stumpf bezüglich seines eignen Sohnes mit, der sich durch 
Nachbildung der Worte der Umgebung eine eigne Sprache schuf und die- 
selbe bis zu seinem 4. Lebensjahre gebrauchte, um dann plötzlich die 
Sprache der Umgebung anzunehmen. 1) 

Hinsichtlich der Nachahmung der Worte der Muttersprache durch 
das Kind finden sich Gegensätze, insofern einzelne Autoren diese Ver 
änderungen aus einer bestimmten Gesetzmälsigkeit in der Reihenfolge 
dieser Laute erklären wollen, während die Mchrzalhl dies bestreitet. Es 
ist vor allem Schultze?) gewesen, der das Gesetz aufstellte, »dals die 
Sprachlaute im Kindermunde in einer Reihenfolge hervorgebracht werden, 
die von den mit der geringsten physiologischen Anstrengung zu stande 
kommenden Lauten allmählich übergeht zu den mit grölserer und endet 
bei den mit grölster physiologischer Anstrengung zu stande gebrachten 
Sprachlauten.<e Bezüglich der Wortumgestaltungen nimmt er folgendes 
Lautverschiebungsgesetz an: »Für den dem Kinde noch unaussprechbaren 
Laut setzt dasselbe den diesem schwierigen Laute nächst verwandten mit 
geringerer physiologischer Schwierigkeit sprechharen Laut und wenn es 
auch diesen noch nicht zu beobachten vermag, so lälst es ihn einfach 
ganz und gar weg.« Ament macht nun darauf aufmerksam, dafs die 
Anschauung, die leichten Laute entständen früher, die schwierigen dagegen 


1) Eigenartige sprachliche Entwicklung eines Kindes. Zeitschrift f. pädag. 
Psychologie II. S. 419 ff. 
?) Schultze, Die Sprache des Kindes. Kosmos IV. Jahrg. 1880. 





364 B. Mitteilungen. 


später, auf einer ungenauen Beobachtung beruhe. Als Kardinalbeispiel 
fungierte immer das bekannte auffällig späte Auftreten der k- und g-Laute 
lange nach der ersten Wortnachahmung, die oft bis ins 4. Lebensjahr 
durch die t- und d-Laute ersetzt zu werden pflegen. Nun beruht aber 
die Ersetzung der k- und g-Laute durch t und d zur Zeit der Nach- 
ahmung von Worten der Muttersprache nicht darauf, dafs das Kind die- 
selben noch nicht, sondern dafs es dieselben nicht mehr sprechen kann, 
weil sie im Lautbau der ersten erlernten Wörter Schwierigkeiten be- 
gegnen und deshalb bis zur Erreichung nötiger Übung geradezu wieder 
verlernt werden. Das Kind kann nämlich im Lallstadium die k- und g- 
Laute sehr gut sprechen, sie kommen sogar ziemlich häufig vor. Bei 
dem von mir behandelten psychisch-tauben Kinde traten die k- und g- 
Laute vor den t und d-Lauten spontan auf, nachdem t und d durch ent- 
sprechende Handgriffe erlernt waren, wurden die k- und g-Laute wieder 
vergessen und konnten eine Zeitlang in zusammengesetzten Silben nur 
durch Handgrifie hervorgerufen werden. Von einer grölseren oder ge- 
ringeren Schwierigkeit der einzelnen Laute kann man also nicht reden. 
Ebensowenig können wir vorläufig eine bestimmte Reihenfolge in dem 
Auftreten der Laute bestimmen. Die Beobachtung ergibt nun, dafs ein- 
zelne Laute häufiger auftreten als andere z. B. die Lipper- und Zahn- 
laute. Dies hat seinen Grund zunächst darin, dafs die Lippen durch das 
Saugen vorgeübt sind und ferner darin, dals Lippenlaute am besten vom 
Munde abzulesen sind, da sprechenlernende Kinder auf den Mund des 
Sprechenden schauen. »Die Anschauung, dals in den Wörtern die 
schwierigen Laute durch die leichtern ersetzt oder sonstwie umgangen 
würden, fällt mit der Widerlegung der vorigen, dies geht übrigens auch 
daraus hervor, dafs die Kinder zur gleichen Zeit einen Laut elidieren, 
den sie in einem andern Worte sprechen.« Ein Kind kann z. B. Laut, 
Leine usw. ganz gut sprechen, dagegen wird in klein das l durch r er- 
setzt (krein) Es ist also nicht die Schwierigkeit des Lautes l an und 
für sich, welche diese Wortumgestaltung hervorruft, sondern in diesem 
Falle die Unfähigkeit, die Artikulationsstellen schnell hintereinander zu 
wechseln. Läfst man mit einer kleinen Pause zwischen k und 1 
k-lein sprechen, so gelingt dies ganz gut. Ament macht noch darauf 
aufmerksam, dals die Ungeschicklichkeit der Sprachorgane allein nicht in 
allen Fällen ausreicht, um die Veränderungen im Lautbau des Wortes zu 
erklären, weitere Ursachen sind mangelhafte Entwicklung des Gehörorgans, 
Unaufmerksamkeit, sowie nachlässige Aussprache der hochdeutschen Sprache 
durch die Erwachsenen. 

Das häufigere Auftreten gewisser Laute im Lallstadium erklärt 
Ament aus dem Wesen des Baues der Artikulationswerkzeuge und der Art 
der Lauterzeugung. Das Lallen entsteht ohne Überwachung durch den 
Verstand und ohne gewollten Zweck einfach dadurch, dafs der Luftstrom 
beim Passieren des Kehlkopfes und Mundes durch die Beweglichkeit 
der Sprachorgane zum Tönen gebracht oder gehemmt wird. Da der Luft- 
strom den Gaumen zuerst passiert, so ist hierdurch eine gewisse Bevor- 
zugung der Gaumenlaute gegeben, was allerdings von den meisten Autoren 








Probleme der Kindersprache. 265 


übersehen wird. Die Vorübung der Lippen durch die Saugtätigkeit be- 
dingt, wie schon vorhin bemerkt wurde, eine Bevorzugung der Lippen- und 
Zahnlautee Dals bei der Beweglichkeit des kindlichen Artikulations- 
mechanismus eine plötzliche Schliefsung und Wiederöffung irgend einer 
Stelle desselben um vieles eher eintritt, als eine andauernde Verengerung, 
bevorzugt die Verschlufslaute vor den Reibelauten. 

Zum Schlusse wendet sich Ament gegen die Bezeichnung der Ver- 
änderungen, welchen die Worte der Muttersprache im Kindermunde er- 
liegen als Lautverstümmelungen, Lautverschiebungen und Verwandlungen, 
Reduktion, Physiologisches Stammeln, da diese Bezeichnungen auf einer 
ungenügenden Kenntnis der Detailerscheinungen beruhen. Er schlägt da- 
für die Bezeichnung Wortumgestaltungen vor. 

In dem folgenden Kapitel seiner Arbeit besprichtt Ament die 
Meinungsverschiedenheiten in den Anschauungen über die Entstehung der 
Wortbedeutungen des Kindes Man hat sich die Entstehung der Wort- 
bedeutungen auch beim Kinde in der Weise gedacht, dals das Kind zu- 
nächst Worte höre, die für es nur Worte ohne Bedeutung seien, andrerseits 
besitze es aber vor dem Beginn des Sprechenlernens eine Fülle von Sach- 
vorstellungen.. Durch Verknüpfung der Wort- und Sachvorstellungen 
werden letztere nun Bedeutungsvorstellungen.!) Der Streit drehte sich 
nur noch darum, wie jene Association zu stande komme, ob spontan 
und unter dem Einflufs der Umgebung wie die einen, oder nur unter 
dem Einfluls der Umgebung, wie die andern behaupten. Ament be- 
merkt hierzu, dafs in der Erscheinung der Association zwei gesonderte 
Momente enthalten sind: die Fähigkeit zur Association an sich und die 
Ursache des Entstehens der Association im einzelnen Fall. Dafs die 
Fähigkeit zur Association an sich im Kinde angeboren liege, vedarf 
keiner Erörterung. Es handelt sich also nur noch darum, die Ursache 
der Association im einzelnen Falle festzustellen. Ament ist der Ansicht, 
dafs das Kind spontan Vorstellungen associieren kann, ohne dafs die Um- 
gebung vermittels hinweisender Gebärde usw. deren Nebeneinander und 
Nacheinander vermittle. Auch in diesem Punkte wird man Ament 
recht geben können. Wenn das Kind z. B. seinem Unlustgefühl durch 
den Laut mammam Ausdruck verleiht und die Umgebung seine gute 
Laune durch Darreichen von irgendwelchen Gegenständen z. B. Brezel- 
stücken wiederherzustellen sucht, so kann sich die Vorstellung von einem 
befriedigten Bedürfnisse mit dem Lallworte mammanı spontan ohne be- 
sondern Hinweis der Umgebung associieren, so dafs später Unlustgefühle 
diesen Laut reproduzieren. Ament untersucht nun noch die Frage, ob 
die die Wortbedeutungen repräsentierenden Associationen als Begriffe auf- 
zufassen seien oder ob man unter Begriffen nur, wie dies B. Erdmann?) 
verlangt, die wissenschaftlich festgestellten Wortbedeutungen verstehen 


1) Vergl. Ament, Entwicklung von Sprechen und Denken beim Kinde S. 29 ff. 
und Meumann |]. c. S. 15 ff. 

2» B. Erdmann, Die psychologischen Grundlagen der Beziehung zwischen 
Denken und Sprechen. Archiv f. systemat. Philosophie II., IH. und VII. Bd. 


266 B. Mitteilungen. 


solle. Er glaubt die Frage zu Gunsten jeglicher Wortbedeutung, also auch 
der ersten Wortbedeutungen des Kindes beantworten zu müssen, weil 
zwischen den Denkprozessen des Kindes und den logischen des Gelehrten 
nur graduelle Unterschiede beständen. »Die Denkprozesse, die wir im 
Kinde wahrnehmen, sind wirklich die nämlichen, welche wir beim Er- 
wachsenen begriffliche nennen, die Umfangserweiterungen des Kindes die 
nämlichen, die wir auch in der Logik zu behandeln gewohnt 
sind.« Die ursprünglichen Wortbedeutungen des Kindes bezeichnet er als 
»Urbegriffe« und charakterisiert sie als die Bedeutung eines Wortes, 
welches mit einer undiflferenzierten Vorstellung verknüpft ist. Hiermit 
wäre also die Frage nach der Entstehung der ersten begrifflichen Wort- 
bedeutungen des Kindes gelöst. 

Dies ist aber keineswegs der Fall. Meumann hat nämlich in der 
schon mehrfach zitierten Arbeit nachgewiesen, dafs das Schema — Ent- 
stehung der Wortbedeutung durch Association von Sach- und Wortvor- 
stellung, welches zwar für die Wortbedeutungen des Erwachsenen passe, 
nicht ohne weiteres auf die ersten Wortbedeutungen des Kindes zu über- 
tiagen sei. Das Kind associiert bei den ersten Anfängen des Sprechens 
keineswegs Wort- und Sachvorstellungen, sondern die ersten Wortbedeutungen 
des Kindes sind Wunschwörter. »Sie bezeichnen Wünsche, Begeiirungen, 
etwas haben wollen, Abneigungen, Neigungen und gemütliche Erregungen 
jeder Art, aber nicht Gegenstände an und für sich. Aments eigne Be- 
obachtungen bestätigen die Richtigkeit dieser Ansicht, nur sind die Be- 
obachtungen von ihm falsch gedeutet worden. Er berichtet!) 206. Tg. 
Luise sprach das Lallwort mammamm (ohne Bedeutung). 354. Tg. Sie 
gebraucht es zum ersten Male für Objekte, nämlich Brot- und Bretzel- 
stückchen und rief es ihrer Schwester Daisy einmal entgegen, die ihr oft 
deren schenkte. 513. Tg. Alle Speisen und Getränke heilsen mammamm. 
517. Tg. Als ihr Spielzeug gefallen war und ihre Schwester Irma es 
aufheben wollte, rief sic unwillig mammamm. 528. Tg. Sie verlangte 
damit ıhr Abendessen. 537. Tg. Brot, Fleisch, Gemüse, Suppe, Milch 
bezeichnet sie mit diesem Wort. Personen seit dem 354. Tag nicht wieder. 

Ilieraus geht zur Genüge hervor, dafs das Lällwort nur Wünsche 
und Interesse an den Gegenständen ausdrückt. Durch diese Erklärung der 
ersten Wortbedeutungen als Wunsch- bezüg!l. Affektworte verschwindet 
auch »die logisch hegrilfliche Allgemeinheit«, »die echten Umfangs- 
erweiterungen« der ersten Worte des Kindes, worauf Ament die begriff- 
liche Auffassung stützt. Es werden nämlich nicht verschiedene Gegen- 
stände mit demselben Wort bezeichnet, sondern cs ist immer nur der Aus- 
druck des Wunsches oder des Interesses, der geäulsert wird. 

Meumann hat aber auch weiter nachgewiesen, dafs nicht nur den 
Wunschwörtern des Kindes, sondern auch den ersten Worten, welche schon 
eine gegenständliche Bedeutung zeigen, der begriffliche Charakter fehlt 
und dafs erst auf einer spätern Stufe der Sprachentwicklung aus den an- 
fangs associativ gebildeten Wortbedeutungen die eigentlichen Begriffe ent- 





1) Ament, Entwicklung von Denken und Sprechen beim Kinde. S. 77. 





Probleme der Kindersprache. 267 





stehen. Er erläutert den Vorgang, wie die associativen Wortbedautungen 
des Kindes sich bilden, an mehreren Beispielen, von denen ich eins an- 
führen möchte. »Ein Kind, welches zu sprechen anfing, sah und hörte 
eine Ente auf dem Wasser und sagte kuak. Darauf nannte cs einerseits 
alle Vögel und Insekten, andrerseits alle Flüssigkeiten kuak. Endlich 
nannte es auch alle Münzen kuak, nachdem es einen Adler auf einem 
Geldstück (Sous) gesehen hatte. Es bezeichnete also mit demselben Worte 
so verschiedenartige Gegenstände, wie die Münze, die Fliege und den 
Wein. Preyer, der dieses Beispiel nach Romanes zitieıt, hat dies 
ebenso wie Ament als eine allmähliche \Verallgemeinerung gedeutet. 
Meumann macht nun darauf aufmerksam, dals wir hier zwei Stadien 
der Wortbildung trennen müssen. »Zunächst die Ausdehnung des Wortes 
kuak von den Vögeln auf die Münze; diese ist nichts anderes als associa- 
tive Übertragung durch Simultaneität und zeigt die reine Wirksamkeit der 
Association. Sie folgt dem Schema, was bei Gelegenheit des Aktes der 
Benennung gleichzeitig in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit fällt, das 
associiert sich mit der Benennung und wird in die Wortbedeutung mit 
aufgenommen. Hier haben wir zugleich ein besonders deutliches Beispiel 
von dem völlig alogischen, rein associativen Charakter der kindlichen Be- 
deutungsbildung, denn die Münze wird wirklich als neuer Wortinhait auf- 
genommen, aber die Verschiedenartigkeit der bezeichneten Gegenstände 
(Münze und Vogel) lälst keinen Zweifel darüber aufkommen, dals das 
Kind sie in keiner Weise als eine gemeinsame Klasse von Dingen anf- 
falst.. Der Wortinhalt wird einfach in so naiver Weise bereichert, weil 
dem Kinde das Bewufstsein noch völlig fehlt, dafs ein Wortinhalt eine 
logische Einheit zusammengehöriger Merkmale sein soll, welche durch 
logische Synthese und nicht durch das Spiel der Association zu stande 
kommen muls. Es ist infolgedessen ganz unmöglich, diesen Prozels als 
ə Verallgemeinerung« eines Begriffes oder Wortes zu bezeichnen. Es 
handelt sich weder um Verallgemeinerung, noch um einen Begriff und 
ebenso nicht um eine Wortverallgemeinerung. Es ist associative Über- 
tragung eines Wortes auf einen ganz neuen Inhalt, die mit dem, was man 
gewöhnlich unter Verallgemeincrung versteht, nichts gemein hat. Der 
Anschein der Verallgemeinerung besteht nur für den Erwachsenen, der 
die ın Wahrheit wirksamen Prozesse nicht kennt. Etwas anders steht die 
Sache bei den zuerst genannten Objekten, den Insekten und den Flüssig- 
keiten. Der Prozels ist hier dieser, dafs das Kind sein Wort kuak erworben 
hat bei einer bestimmten Wahrnehmung, als es diese bestimmte Ente auf 
dem Wasser sah. Wenn überhaupt eine Analyse dieses Gesamteindruckes 
‚>Ente auf dem Wasser« stattgefunden hat, so enthält sie nur diese beiden 
»Merkmale« fliegendes oder geflügeltes Tier und Flüssigkeit. Diese sind 
ferner offenbar keine eigentlichen »Merkmale«. Das Kind verrät vielmehr 
durch die unbekümmerte Art und Weise, wie das Wort verwendet wird, 
überall, wo etwas der Ente und dem Wasser nur entfernt ähnliches wieder- 
kehrt, dals sie nichts von dem Charakter jener bestimmt begrenzten Merk- 
male der Begriffe des Erwachsenen an sich tragen. Sie sind als die beiden 
Seiten der Gesamtwahrnehmung aufzufassen, welche dem Kind besonders 


268 B. Mitteilungen. 


aufgefallen sind und welche sich mit dem Namen associiert haben. Überall 
nun, wo diese beiden Bestandteile eines Wahrnehmungsobjektes wieder- 
kehren, wirken sie reproduzierend auf die associierte Benennung. Es be- 
tätigt sich hierbei jenes Gesetz der Ähnlichkeitsassociation, nach welchem 
auf Grund der Association eines Eindrucks A mit einer Vorstellung B. 
auch jeder dem A ähnliche Eindruck die Vorstellung B reproduzieren 
kann. Dasjenige, was hierbei benannt wird, sind also gar nicht die ver- 
schiedenartigen Dinge (etwa die sämtlichen Insekten oder Wein, Wasser, 
Teich und Bach), sondern nur jene Seiten oder Bestandteile der Gesamt- 
wahrnehmung, mit welchen der Name kuak associiert ist. Man sieht nun 
leicht, wodurch der Schein jener Allgemeinheit des Wortes entsteht. Er 
entsteht dadurch, dafs der Erwachsene nicht weils, was von dem Kinde 
eigentlich benannt wird. Das Kind benennt die immer gleichen oder an- 
nähcınd gleichen Bestandteile des Eindrucks, welche die Wortreproduktion 
veranlassen. Der Erwachsene schiebt ihm unter, dafs es die ihm be- 
kannten Dinge mit der Fülle ihrer verschiedenen Eigenschaften benennt.« 

Die eigentliche Begrifisbildung kommt nach Meumann erst viel 
später teils unter dem Einflufs der zunehmenden Intelligenz, teils auf 
Grund des Unterrichts zu stande. Es würde zu weit führen, an dieser 
Stelle hierauf näher einzugehen. Im letzten Kapitel seiner Arbeit bespricht 
Ament noch das Verhältnis des biogenetischen Grundgesetzes zur Ent- 
wicklung der Sprache. lläckel hat bekanntlich das Gesetz aufgestellt, 
dals die ontogenetische Entwicklung eine kurze Wiederholung der phylo- 
genetischen sei und man hat nun dieses für die körperliche Entwicklung 
angenommene Gesetz auch auf die geistige Entwicklung zu übertragen ge- 
sucht. Tatsächlich zeigen sich zwischen der Sprache des Kindes und der 
einfacher ungebildeter Völker so viele Analogien, dafs wir vielleicht be- 
rechtigt sind, in der Sprachentwicklung des Kindes eine kurze Wieder- 
holung der Entwicklung der menschlichen Sprache überhaupt anzunehmen. 


3. Auswahl von Schülern für die Hilfsschulen. 


Von 1lilfsschullehrer Michael in Potsdam. 


Für die Auswahl von Hilfsschülern wurden den hiesigen sieben- 
stufigen Gemeindeschulen von mir folgende Gesichtspunkte empfohlen: 

In die llilfsschule gehören in erster Linie die schwachsinnigen 
Schüler. Dieselben sind leicht herauszufinden; denn sie zeigen 

1. anatomische Verbildungen; Näheres s. Dr. Koch, Psychopath. 

2. funktionelle Anomalien; Minderwertigkeiten 

3. eine blöde Physiognomie; 

4. bedeutende Willensschwäche; 

5. läppisch-kindisches Benehmen ; 

6. geistige Stumpfheit; 
aulserordentlich engen Gedankenkreis ; 
S. mangelndes Gedächtnis; 








Auswahl von Schülern für die Hilfsschulen. 209 








9. Leistungen, welche besonders im Rechnen ungenügende sind und 
nach 2jährigem Schulbesuch nur in seltenen Ausnahmefällen dem Zahlen- 
kreis 1—5 genügen. 

10. Ein Vergleich mit Idioten wird in dem einen oder andern Punkte 
sich aufdrängen. 


In zweiter Linie sind aufzunehmen die sogenannten »Schwach- 
begabten«, welche im günstigsten Falle immer noch unter der Linie 
normaler Leistungsfähigkeit stehen, deren Scheidung von den als schwach- 
begabte Gemeindeschüler in den Normalenklassen verbleibenden Kameraden 
Schwierigkeiten begegnen kann. 

Als normal sieht die Behörde (bei den örtlichen siebenstufigen 
Schulsystemen) noch diejenigen Schüler an, welche innerhalb acht Jahren 
das Pensum von vier Klassen bewältigen, zu jedem also % Jahre 
brauchen.!) Das Pensum der Hilfsschule ist im wesentlichen dem der 
drei untersten Gemeindeschulklassen entnommen; auf ein Jahrespensum 
von dort entfallen also hier rund 3 Jahre. Mithin wird nach 2 Schul- 
jahren die Scheidung in Gemeinde- und Hilfsschüler in der erfolgreichen 
Versetzungsprüfung auf der einen, in der erfolglosen Prüfung auf der 
andern Seite eine greifbare Gestalt gewinnen. 

Aber noch ein zweites, wichtigeres Moment. 

Die meisten Schüler haben zu genanntem Zeitpunkt das achte Lebens- 
jahr vollendet. Die voraufgegangenen Schuljahre haben Gelegenheit ge- 
geben, zu beobachten, ob und inwieweit rückständige Entwicklung aus der 
vorschulpflichtigen Zeit sich ausgeglichen hat. Diese Beobachtungen zu- 
sammen mit den Prüfungsergebnissen können zu einer verhältnismälsig 
sichern Schätzung der künftigen geistigen Arbeits-Mittel führen, 
und darin liegt der Kern alles Erfragens. — Die Schätzung der 
künftigen Mittel, das mufls das Ausschlaggebende sein, 
schlielslich auch einmal im Widerspruch mit den Versetzungsarbeiten am 
Ende des 2. Schuljahres. (Letztere kommen z. B. wenig oder garnicht in 
Betracht, wenn ein »noch« normaler Schüler die letzten 3 Monate vor 
der Prüfung fehlte.) 

Zuverlässig wird das Urteil des Klassenlehrers erst, wenn derselbe 
sich mit den Eltern der — ein oder zwei —- schwachen Zöglinge in Ver- 
bindung setzt, um ein umfassendes Bild der geistigen und 
körperlichen Entwicklung von der ersten Jugend an zu ge- 
winnen. Geforscht muls werden: 


1. nach etwa vererbter Geistesschwäche (Eltern machen gern Aus- 
flüchte; sagen »Zahnziehen« und »unglückliches Fallen« statt »Alkoho- 
lismus !«); 

2. nach vererbter Schwindsuchtsanlage; 

3. nach dem Verlauf von Krankheiten, die häufig eine Schwächung 
des Gehirns zur Folge haben (Typhus, Gehirnentzündung); 

') Dann sind alle, die in einem Jahre das Pensum regelmäßig erledigen, 
abnorme, ebenso auch die Lehrpläne der Schulen. Tr. 


B. Mitteilungen. 


[Y 
=~] 
© 


— 


4. nach solchen Krankheiten, wo dies auch leicht geschehen kann 
(Scharlach, Diphterie, Rachitis) ; 

5. nach Krankheitsrzuständen, welche oft auftreten oder länger an- 
dauernd das Lernen behindern (Schwindel, schmerzhafte Ohrenleiden, 
Schwerhörigkeit, ganz besonders aber Wucherungen im Nasen- 
rachenraum). 

Daneben fallen ins Gewicht als äu[sere Faktoren: 


1. ungeregelter Schulbesuch ; 

2, Überbürdung durch häusliche Inanspruchnahme ; 
Mangel an körperlicher Pflege, 

. an Beaufsichtigung, 

an Hilfe bei der Schularbeit, 

an anregendem Umgang. 

Eine zuletzt an der Hilfsschule vorzunehmende Prüfung der vor- 
geschlagenen Kinder ist notwendig, weil die Beurteilungsmalsstäbe an den 
verschiedenen Gemeindeschulen nicht die gleichen sind und weil auch 
eine vorgeschriebene Klassenfrequenz berücksichtigt werden muls. Die 
Hilfsschullehrer führen das methodische Examen aus, welches für die 
Aufnahme entscheidet und dem Schularzt liegt danach die 
körperliche Untersuchung ob. 


Wichtig ist alsdann die Führung der Personalbogen. 


Die Eintragungen in die Personalbogen erfolgen neuerdings nach 
folgender Gruppierung: | 


nm 





I. Kreis 
2. b. C. 
1. Krankheiten. E 1. Schulbesuch. 
2, körperl. Entwicklung.  ($es0nd. rnährung, 2. Pünktlichkeit 


| Beaufsicht., Hilfe). 








organ. u.funkt. 


en stungen stungen, 
Störungen). 5 5 


II. Kreis 
a. b. C. d. 
1; un Haltung. Betragen (besonders | Temiluse Sittl. a 
= Dr 2 gegen Lehrer, , 1. Interesse, Auf- dessen Reife en e), 
Sauberkeit Schüler, und auf merksamkeit. (? Inwiefern aia 
(besonders Kleider Schulweg) 9 Häusl. Fleifs. | Herrschaft des 
u. Bücher). a l | sittlichen Willens.) 
III. Kreis IV. Kreis 
a. b. c. d. a. b. C. 
| praca Münd- | Schrift- 
Apper- Go- Denk- | Sao Fort- liche liche 
| (? besonders schritte. Te: lei 
| 
| 


zeption. | dächtnis. | vermögen. 
l 
L 
I 


=] 
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Medizin und Pädagogik. 9 


Es sind vier Kreise, in deren Mittelpunkten stehen: I. das Eltern- 
haus, von dem für den Schüler gewünscht wird Pflege und Zucht; II. der 
Schüler selbst, der alle Anforderungen in der einen erfüllt: sittlicher 
Charakterstärke; III. die Natur, welche die Anlagen spendet; IV. die 
Schule (Lehrer) mit fördersamem Unterricht. 

Gegenüber den in den Schulen für normale Kinder üblichen Zensur- 
büchern markiert das Schema besonders in Nr. I und II dentlich: 

Die in den Vordergrund tretende hygienische Sorge der Hilfsschule, 
sowie ihr eigentliches Wesen als Erziehungsheim. 


4. Medizin und Pädagogik. 


Von J. Trüper. 


Unsere Zeitschrift wie unser Verein für Kinderforschung sind mit der 
nachdrücklich ausgesprochenen Einsicht ins Leben gerufen worden, dals 
die Lehrer allein — ebenso wie die Ärzte, die Geistlichen, die Juristen 
usw. allein — unfähig sind, die Kindheit und Jugend allseitig zu begreifen und 
in der bestmöglichen Weise alle ihre Kräfte und Anlagen harmonisch zu 
entfalten, dafs vielmehr verschiedene Wissenschaften und verschiedene Be- 
rufsstände hier gemeinsam zu raten wie zu taten haben. Koch, der Psy- 
chiater, Zimmer, der Theologe, Ufer als Leiter einer Schule für Nor- 
male, ich als solcher für Abnorme haben das in einem ausführlichen Pro- 
gramme entwickelt und wir sind bis heute in jeder Beziehung unsern 
Grundsätzen getreu geblieben. Diese Grundsätze hat auf meine Anregung 
hin dann auch Prof. Rein für sein »Encyklopädisches Handbuch 
der Pädagogik«, das bereits in 2. Auflage erscheint,!) übernommen. 
Es ist die erste pädagogische Encyklopädie, welche in umfangreicher 
Weise Mediziner als Mitarbeiter hat. Koch und ich haben in voller Har- 
monie daselbst das Zusammenwirken von Medizin und Pädagogik in einem 
Doppelartikel näher dargelegt. Unter andern hat Prof. Ziehen zahllose 
Artikel für diese Encyklopädie geschrieben und sie unter der Leitung 
eines Pädagogen veröffentlicht, ohne es »unter seiner Standeswürde zu 
findene. Ziehen folgte dann selbst diesem Beispiel und begründete mit 
Prof. Schiller die »Sammlung von Abhandlungen usw.«. 

Und wie auf theoretischem Gebiete so hat sich auch auf praktischem 
Gebiete überall das korporative Zusammenwirken als das segensreichste 
erwiesen, namentlich in der Fürsorge für Abnorme. Geistliche und Lehrer 
waren es vor allem und zuerst, welche aus freier Neigung und ohne Ge- 
schrei nach staatlichen Titeln, Besoldungen, Pensionen usw. durch Grün- 
dung von Schulen und Anstalten für Verwahrloste (ethisch Albnorme), 
Blöde, Schwachbefähigte, Epileptische usw. sich dieser Armen annahmen, 
und Ärzte übernahmen willig die für sie notwendigen Dienstleistungen. 

1) W. Rein, Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik. 10 Dände, à Band 
elegant gebunden Preis 17 M 50 Pf. 





— 





9792 B. Mitteilungen. 





Später folgten auch Ärzte jenen Beispielen und Geistliche und Lekrer 
traten helfend zur Seite. 

Dals in beiden Fällen es nicht überall so war, wie es nach dem 
Stande der Wissenschaft sein könnte, ist schon deswegen begreiflich, weil 
die Mittel fehlten. Aber auch mit denselben Mitteln lielse sich oft weit 
Besseres erreichen, wenn die Einsicht sich bessern wollte. Um hier 
nach Kräften zu helfen, gründeten wir unsere Zeitschrift. Pädagogik und 
Medizin sollten einander durchdringen und befruchten. 

Für die Erziehung der Epileptischen und Idioten war das ja schon 
längst vor uns als ein notwendiges Bedürfnis erkannt worden, wie die 
Konferenz für Idiotenwesen und die von Schröter und Wildermuth heraus- 
gegebene »Zeitschrift für die Behandlung Sch wachsinniger und 
Epileptischer« beweist. Aber wir wollten vorrücken mit dieser Frage 
bis an die Grenze voller Normalität, also auch hinein in die öffentlichen 
Schulen höherer wie niederer Art. 

Was wir hier erreicht haben, inwieweit unsere Bestrebungen ein 
Segen geworden sind, das wissen unscre Leser besser als wir. Wir 
könnten das ja durch manche anerkennende Zuschrift von gebildeten Eltern 
und — Medizinern dartun. Aber wir arbeiten nicht um der Anerkennung 
willen und weisen nur zur Abwehr auf diese Tatsachen hin. 

Inzwischen kam Mariaberg. Aber anstatt dafs man mutig den Sturm- 
lauf gegen Rom, das für solche Zustände verantwortlich ist, wagte, ver- 
suchten einige Mediziner, die deutsche Pädagogik mit solchen Zuständen 
zu belasten und die Frage des Dienens einer guten Sache zu einer Frage 
des Herrschens über einen andern Stand zu machen. 

Hiergegen habe ich mich wiederholt frei, öffentlich und namentlich 
gewandt. Zuletzt in den Artikeln: Ȇber das Zusammenwirken von 
Medizin und Pädagogik bei der Fürsorge für unsere abnormen 
Kinder« (Jahrg. 1902, Heft I u. II). 

Leider sehen wir uns veranlalst, aufs neue zur Abwehr, aber 
hoffentlich damit wohl auch zur Förderung weiteren Zusammenwirkens 
aller derer, denen die Sache und nicht das Standesinteresse in erster 
Linie steht, das Wort zu nchmen. 

Was sachlicher Art ist, werden wir sachlich widerlegen, was anderer 
Art ist, dieser Art entsprechend zurückweisen. 


I. 


»Im Vereinsblatt der Pfälzischen Ärzte« vom Mai 1903 ver- 
öffentlicht Dr. Bernhart, Arzt der Irrenabteilung der Kreis-Kranken- 
und Pflege-Anstalt der Pfalz, einen sachlich gehaltenen Artikel über 
»Medizin und Pädagogik in der Idioten-Anstalt«. 

Ich teile ihn, weil er sachlich ist, ganz im Wortlaut mit und werde 
dann meine Gegenbemerkungen in Fulsnoten direkt beifügen. Sollte das 
der »wissenschaftlichen Gepflogenheit« wieder nicht entsprechen, dann 
jedenfalls doch der sittlichen Forderung, mit Fleils sich zu bemühen, 
dals auch der Gegner unmilsverständlich zu Worte komme, damit man 
ihm gerecht werde. Im übrigen aber hoffe ich, dafs meine Gegen- 





Medizin und Pädagogik. 273 
bemerkungen zu einer Verständigung mit Herrn Dr. Bernhart führen 
werden, wie wir sie suchen. Der Artikel lautet: 

»Bis vor nicht allzulanger Zeit huldigte die deutsche Psychiatrie fast 
durchweg der Anschauung, dafs der Arzt in der Idiotenanstalt eigentlich 
recht wenig zu suchen hat!) und deren Leitung ohne ernstere Bedenken 
andern Berufen überlassen kann.?) Noch im Jahre 1891 sprach sich 
Pellmann, Professor der Psychiatrie zu Bonn, in seiner Vorrede zu der 
Übersetzung von Solliers Werk »Der Idiot und der Imbecille« folgender- 
malsen aus: »Darüber kann am Ende ein Zweifel nicht bestehen, dafs die 
heilende Tätigkeit des Arztes auf diesem Gebiete keinen Boden findet und 
in dieser Beziehung zwischen Idiotie und Geistesstörung ein durchgreifender 
Unterschied besteht. Was uns bei Idioten als die pathologische Grund- 
lage ihres Leidens entgegentritt, das sind die Residuen längst abge- 
laufener Krankheitsprozesse, und diese können wir durch keine ärztliche 
Kunst mehr beseitigen. Die geistige Schwäche, die ihren Grund in der 
angeborenen oder in den ersten Kinderjahren erworbenen Gehirnkrankheit 
hat, ist einer Heilung nicht mehr fähig und die Aufgabe des Arztes kann 
daher eine nur wenig lohnende sein. Etwas besser liegt es auf dem Ge- 
biete der Erziehung, und wenn sich der Schwerpunkt der Idiotenpflege 
bei uns mehr dieser Richtung zugewandt hat, und die Idiotenanstalten 
meist unter Leitung von Pädagogen oder Geistlichen stehen, so ist da- 
gegen nichts zu erwidern: als dafs die wissenschaftliche Erforschung der 
pathologischen Grundzustände und des Wesens der Erkrankung selbst 
darunter selbstverständlich zurückstehen mulste.« 

Dieser Standpunkt dürfte nach den Milsständen, die einige Jahre nach 
den Auslassungen Pellmanns in den rheinischen Landen der bekannte 
Alexianerprozefs zu Tage gefördert hat,?) schon nicht mehr für die er- 
wachsenen Idioten aufrecht zu erhalten sein, jedenfalls aber ist es ganz 
und gar zu verwerfen, für die jugendlichen,%) seit die Bedeutung der 
Schilddrüsenerkrankungen sowie der skrophulösen Prozesse an den Schleim- 
häuten uud Drüsen des Visceralschädels (vergl. meinen Aufsatz »Theo- 
retisches und Praktisches über die Entartung« Vereinsblatt der pfälzischen 
Ärzte April 1902) für die Pathogenese der Idiotie immer mehr erkannt 
wird. 5) Angesichts dieser Tatsachen muls sogar behauptet werden, dafs 
den Aufgaben, die die Idiotenanstalt an die ärztliche Kunst und Wissen- 


1) Unsere Meinung war seit je die gegenteilige. Es gibt dort viel, noch mehr 
als in den Familien, für den Arzt zu tun. 

2) Muß man denn jede Sache unbedingt leiten, der man dienen soll? Die 
Gründe Pellmanns sind bis heute meines Wissens noch von keinem stichhaltig 
widerlegt, und auch die Bernhartschen Einwände sind keine Widerlegung. 

®) Es ist ganz unbegreiflich, ja psychologisch rätselhaft, wie man immer 
wieder die nachreformatorische Pädagogik, ja auch nur die evangelische Geistlich- 
keit mit diesen römisch-mittelalterlichen Zuständen zu belasten wagen mag. 

4) Auch wegen Mariaberg? 

5) Aber was hat das mit der Leitung von Anstalten zu tun? Ich habe a. a. O. 
auch nachdrücklich darauf hingewiesen, daß die medizinische Forschung hier noch 
viel leisten kann, bin also darin mit dem Verfasser einverstanden. 

Die Kinderfehler. VIII. Jahrgang. 18 





274 B. Mitteilungen. 


schaft stellt, der in erster Linie dazu berufene Psychiater allein garnicht 
mehr gewachsen ist, sondern dafs er zur Beseitigung der an den ver- 
schiedenen Sinnesorganen vorbandenen Mängel, zur Orthopädie gelähmter 
Glieder, zur Bekämpfung der das Gehirn fortwährend gefährdenden chro- 
nischen eitrigen und nicht eitrigen Katarrhe im Nasenrachenraume und 
Mittelohre, sowie zu etwaigen chirurgischen Eingriffen in das Zentral- 
nervensystem selbst der Unterstützung seitens der verschiedensten medi- 
zinischen Spezialfächer benötigt. Unter keinen Umständen also dürfen die 
Idiotenanstalten den Pädagogen oder Geistlichen allein!) überlassen bleiben, 
sondern die Psychiatrie muls sich der Pädagogik gegenüber eine ähnliche 
Stellung zu erobern suchen, die der somatischen Medizin im turnerischen 
Training und ganz besonders in der Heilgymnastik allmählich ganz von 
selbst zugefallen ist. ?) 

Das Verhältnis des Psychiaters zum Pädagogen wird sich immer so 
gestalten müssen,®) dafs der erstere die geistigen und körperlichen De- 
fekte am Kranken genau feststellt, das die Idiotie bedingende körperliche 
Leiden nach Möglichkeit kausal behandelt und wenn dies nicht gelingt, 
den somatischen und psychischen Symptomen der Erkrankung nach den 
Regeln seiner Wissenschaft entgegentritt, während es dem Pädagogen ob- 
liegt, die Funktionsfähigkeit der intakt gebliebenen Organe und Organ- 
abschnitte durch Übung dahin zu fördern, dals ein möglichst weitgehen- 
der Ersatz für das durch die Krankheit unwiederbringlich Verlorene her- 
beigeführt werde; hierbei mufs der Entscheid, welche Kranke zum Unter- 
richte herangezogen werden und worauf sich derselbe zu erstrecken hat) 
dem Arzte vorbehalten bleiben. 

Was an wissenschaftlichem Rüstzeuge zur Verfügung steht, ist für 
beide Teile schr wenig,°) so dafs es für sie zunächst darauf ankommen 


') Wer wünscht das? Selbst die Mariaberger hatten ihren Arzt. Ob der seine 
Pflicht getan. mag Herr Dr. Bernhart entscheiden. 

”) Auch ganz und gar unsere Meinung. Aber »den Löwenanteil« fällt dennoch 
der Pädagogik zu, das bekennt selbst Dr. Weygandt unumwunden. 

3 Müssen? Warum müssen? Wenn sie beide, wie Dr. B. behauptet, gleich 
unwissend und ausschließlich auf die Empirie angewiesen sind, dann ist das Fest- 
stellen doch in erster Linie im Interesse der Sache eine Pflicht derer, die die 
längste Zeit sich mit den Zöglingen oder Pfleglingen beschäftigen und damit die 
meiste Gelegenheit haben, sich Erfahrung mit ihnen zu sammeln. Bei den Bildungs- 
fähigen wäre das der Lehrer, bei den kranken Pfleglingen der Arzt, falls es nicht 
möglich ist, daß sie das gemeinsam tun. 

1) Was würde der Arzt sagen, wenn der Lehrer bestimmen soll, worauf sich 
die Heiltätigkeit des Arztes zu erstrecken habe? Was dem einen recht ist, ist dem 
andern billig, diese ethische Forderung hat doch wohl Allgemeingültigkeit. 

5) Ich bezweifle das für beide Teile. Den Beweisjfür die Medizin zu führen, 
ist nicht meine Sache. Über die pädagogische Vorarbeit pflegen die Medıziner sich 
gewöhnlich Rat aus der Weygandtschen Schrift zu holen. Wer sich aber in päda- 
gogischen Dingen hinsichtlich der Literatur darauf verläßt, der ist verlassen geuug. 
Damit ist aber nicht gesagt, daß für beide Teile nicht noch sehr viel zu tun übrig 
bleibt. 


Medizin und Pädagogik. 275 


wird, ein solches erst zu schaffen heraus aus der Empirie, auf die sie vor- 
läufig fast ausschliefslich angewiesen sind. Als Vorbild wird sich die 
Psychopathologie der Erwachsenen, die die psychiatrischen Lehrbücher 
hauptsächlich zum Gegenstande haben, empfehlen. In demselben findet 
sich mitunter wohl auch anhangsweise die Idiotie abgehandelt, doch ge- 
schieht dies so einseitig und oberflächlich, dals das dort Gegebene wesent- 
licher Erweiterungen und Richtigstellungen bedarf, um praktisch in der 
Idiotenanstalt verwendbar zu sein.!) Schon die Einteilung der idiotischen 
Zustände ist eine höchst mangelhafte. Ätiologisch spricht man von er- 
erbter und erworbener Idiotie und erkennt höchstens noch den Kretinis- 
mus als einheitliche Gruppe an, im übrigen aber weils man nur von 
einer Einteilung dem Grade nach, nämlich in Idiotie, Imbecillität, Debi- 
lıtät.?2) Mit dieser Einteilung wird aber nicht einmal dem Pädagogen ge- 
dient sein, da es für ihn darauf ankommt zu wissen, welche Gebiete des 
Seelenlebens seiner Tätigkeit zugängig, d. h. von dem Krankheitsprozels 
verschont geblieben sind. Es muls deshalb vom Arzte verlangt werden, 
dafs er nicht allein über den Grad und die Ursache der Erkrankung, sondern 
auch über deren Ausdehnung auf Gehirn und Seelenleben Forschungen an- 
stellt. Dies kann geschehen in Anlehnung an das System der Psychiatrie, 
das Meynert in seinen Grundlinien festgelegt und Wernicke zum Ab- 
schlusse (Grundrifs der Psychiatrie, Leipzig 1900) gebracht hat. Wernicke 
unterscheidet mit Meinert im Gehirn zwei Arten von Fasersystemen, 
nämlich ein Associationsfasernsystem, das die Zellen der Grolshirnrinde 
untereinander und ein Projektionsfasernsystem, das sie mit den Sinnes- 
organen und mit der willkürlichen Muskulatur verbindet. Geisteskrankheiten 
im eigentlichen Sinne sind Erkrankungen des Associationsfasernsystems, 
während die Erkrankungen des Projektionsfasernsystems als Gehirn- 
krankheiten zu bezeichnen sind. Die motorischen wie die sensiblen Pro- 
jektionsfasern eines jeden Körperteiles treten je in eine ganz bestimmte 
Region der Hirnrinde, das zuständige Projektionsfeld ein. Zwischen den 
sensiblen und motorischen Elementen in der Hirnrinde spannen sich die 
aus Ganglienzellen und deren Fasern bestehenden psychischen Reflexhogen 
aus. Das Bewulstsein erstreckt sich auf drei Gebiete, die Persönlichkeit, 
die Aufsenwelt und die Körperlichkeit und zerfällt darnach in ein. auto- 
psychisches, allopsychisches und somatopsychisches Bewulstsein. Ersteres 
hat seinen Sitz in der oberflächlichen Zellschicht der Hirnrinde, letzteres 
in der untersten dem Marke zunächst gelegenen, während das allopsychische 
Bewulstsein die mittlere Schicht einnimmt. Je nachdem ein Abschnitt 
des psychischen Reflexbogens erkrankt, ist die Geistesstörung cine psycho- 
sensorische, eine psychomotorische oder eine intrapsychische, und je 
nachdem die Erregbarkeit bezw. Leitungsfähigkeit der Bahnen herabgesetzt, 
gesteigert ist oder sich pervers gestaltet, unterscheidet man eine 


1) Und aus dieser Einseitigkeit und Oberflächlichkeit will man so weittragende 
einseitige Forderungen ableiten?! 
2) Genau dasselbe habe auch ich wiederholt behauptet, zuletzt in der Schrift: 
»Die Anfänge abnormer Erscheinungen« (Altenburg 1902). 
18* 


276 B. Mitteilungen. 

Psychosensorische Psychomotorische Intrapsychische 
Anästhesie Akinesie Afunktion 
Hyperästhesie Hyperkinesie Hyperfunktion 
Parästhesie Parakinesie Parafunktion 


Aufserdem zerfallen die Geistesstörungen je nach der Verfälschung, die 
die Bewulstseinsinhalte infolge der vorbezeichneten Funktionsstörungen im 
psychischen Reflexbogen erleiden, in Auto-, Allo- und Somatopsychosen, 
die sich miteinander verschiedentlich kombinieren können.!) 

Gar manches an dem Wernickeschen System erscheint noch un- 
fertig und muls, um auch für die Idiotie brauchbar zu sein, sicher 
noch verschiedentlich modifiziert werden. 

Ist es aber einmal gelungen,?) die Psychopathologie der Idioten auf 
gleiche Höhe mit jener der Erwachsenen zu bringen, so wird dieselbe 
nicht allein bei der Erziehung der Idioten von grofsem Vorteil sein, son- 
dern der Pädagogik überhaupt zum Segen gereichen. Durch die Lücken, 
die bei den idiotischen Zuständen dauernd in der Psyche bestehen bleiben, 
wird der Pädagoge Gelegenheit haben, das Gefüge des normalen Seelen- 
lebens genauer wie bisher kennen zu lernen; er wird sich auf Grund 
seiner Ergebnisse eine von aller Pseudowissenschaft freie Seelenlehre auf- 
bauen und diese zur Erweiterung und Vervollkommnung seiner Erziehungs- 
und Unterrichtsmethode benutzen. Endlich wird der Pädagoge in der 
Idiotenanstalt sein Auge auch schärfen für die Erforschung und Be- 
urteilung der normalen Kinderseele und sich so in den Stand setzen, den 
vielen Unvollkommenheiten, die unserem ganzen Erziehungswesen noch 
anhaften, wirksamer entgegen zu treten. Unentbehrlich wird ihm hierbei 
die Unterstützung des Schularztes sein; doch wird dieser seinen Aufgaben 
erst dann voll gerecht werden können, wenn er zu seiner übrigen medi- 
zinischen Bildung sich auch mit der Neuro- und Psychopathologie des 
Kindes in der Idiotenanstalt genügend vertraut gemacht haben wird.«®) 

Soweit Dr. Bernhart. 


Wesentlich anderer Art ist ein Artikel von Sanitätsrat Dr. Jenz in 
der Zeitschrift: »Die Krankenpflege«, herausgegeben von Prof. Dr. med. 
Martin Mendelssohn in Berlin. Jahrg. 1902/03, Heft 6. Dementsprechend 
wird auch unsere Abwehr anderer Art sein müssen. Sie wird in Heft II 
n. J. folgen. 





a a a de u Zu 


') Das ist wissenschaftlich sehr interessant, aber für die Erziehung der 
Schwachen hat die Theorie noch wenig Bedeutung. Die Faserlehre ist vielfach doch 
noch reine Glaubenssache oder Hypothese. Was der sicheren Beobachtung zu- 
gänglich ist, das sind nicht erkrankte Nervenbahnen, Gehirnzellen usw,, sondern 
seelische und leibliche Betätigungen, mit welchen die Pädagogik, wenn auch viel- 
fach in unzulänglicher und irriger Weise, seit je gerechnet hat und welche auch 
die Medizin benutzt, um Schlüsse auf Erkrankung des Gehirns zu machen, die im 
günstigsten Falle doch erst nach dem Tode sichtbar nachgewiesen werden kann. 

?) Bis jetzt ist es also noch nicht der Fall. 

3) Diese Ausführungen decken sich ganz und gar mit unserem Programm. 
Wir hoffen darum, daß Herr Dr. B. die obigen Einwände als Zeichen dieser Zu- 
sammenarbeit und als Ergänzung seiner Ausführungen aufnehmen wird, 


C. Literatur. 97 


| eq 


C. Literatur. 


Zur Psychologie des ersten Schreibleseunterrichts. 

Meine kritischen Bemerkungen zu dieser Frage in Heft 5, Jahrg. 1900 und 
Heft 1, Jhrg. 1901 haben verschiedene Zusendungen und Zuschriften zur Folge 
gehabt, ein Zeichen, daß die Lösung oder wenigstens die Förderung dieser Frage 
ein Bedürfnis ist, namentlich im Hinblick auf Schwachbegabte. 

Ein guter Freund und Mitarbeiter, der übersehen hatte, daß ich selber die 
Bemerkungen geschrieben, meinte, der Verfasser einer der kritisierten Bücher sei 
ihm persönlich als ein sehr tüchtiger Lebrer bekannt; die Beurteilung schien ein 
Ubelwollender verfaßt zu haben. Mir waren aber die Personen gänzlich unbekannt. 
Von Übelwollen konnte also absolut keine Rede sein. Ich wollte an der Hand von 
neuen Beispielen nur die schwebende Frage kennzeichnen, und ich konnte ihm ant- 
worten, daß, wenn er seine eigenen vortrefflichen Gedanken über die Behandlung 
Sprachgebrechlicher Kinder zu Ende denken würde, er unbedingt zu meinem Urteil 
kommen müsse. Der Freund hatte also damals die Frage in ihrer grundsätzlichen 
Bedeutung noch nicht erkannt. — 

Im Gegensatz dazu schickte mir eine Lehrerin (Diakonisse), eine Fibel zur 
Prüfung, welche — wie sie schreibt — ein leider schon verstorbener »sehr treuer 
Elementarlehrer nach zwanzigjähriger Erfahrung zusammengestellt hat, allerdings 
zunächst für normalbegabte Kinder .. . Vielleicht kann sie auch ein wenig zur 
Förderung der guten Sache dienen ... Bei dem Unterrichte meiner schwachsinnigen 
Taubstummen leistet mir die Fibel gute Dienste, um die Kinder etwas langsamer 
in die Druckschrift einzuführen, da in der Taubstummenfibel, der Vatter'schen so- 
wohl als auch in der von Streich der Übergang von der Schreibschrift zur Druck- 
schrift für meine schwachen Schüler zu rasch ist. Ich hatte früher die Bertholdsche 
Fibel dazu zu benutzen versucht; aber da schwindelte es den Kindern und mir 
selbst auch.« 

Der Titel dieser Fibel lautet: 

Stichwort-Fibel von Joh. Sturzenbaum. Regensburg, Verlag von W. 
Wunderling. 

Es ist interessant zu lesen, wie der Verfasser in dem §8 Seiten langen Vorwort 
wiederholt ernste Befreiungsversuche macht, dem landläufigen Verbalismus zu ent- 
rinnen, aber doch in praxi immer aufs neuc in denselben zurückfällt. — 

Praktischer und darum auch vom Wortkram freier sind die Holländer. Sie 
sandten mir als Beweis dafür folgende beachtenswerte Bücher, meinend, daß darin 
unsere Wünsche erfüllt seien: 

1. Leesboekje voor het Aanvankelijk Leesonderwijs door W. J. Jon- 
gejan, Hoofd eener school to s’Gravenhage. Amsterdam, W. Versluys, 1890. 
Vierde druk. In 7 Heften. Preis 0,20 F. das left von je 48 8. 

2. Handleiding voor het Aanvankelijh Leesonderwijs. Tweede om- 
gewerkte druk von de Toelichting bij de Leesbockjes. Ten gebruike van de school 
en van inrichtingen tot opleiding van onderwijzers. Met Vragen en Opgaven door 
W. J. Jongejan. Amsterdam, W. Versluys. 1900. Prijs F 1, —. 

Der Text der Bücher ist ein nüchterner, vielleicht sehr nüchtemer; er ent- 
spricht dem Charakter der Holländer. Dafür bietet er aber auch Inhalt, während 
viele andere Fibeln und Leschücher dem Kinde, ich sage: dem Kinde, keinen oder 


275 C. Literatur. 


nur einen sehr abgeblabten, krankhaft ideenflüchtigen bieten. Der Lesestoff in den 
7 Büchern ist ein reichhaltiger. Gewöhnlich bieten die Fibeln trotz ihres Papageien- 
geschwätzes quantitativ ungenügenden Stoff, worüber jene Lehrerin ja auch klagt. 
Papier, Druck und Bildschmuck sind gegenüber den meisten deutschen Fibeln 
geradezu musterhaft, allerdings sind sie wieder ganz holländisch. Ich denke für den 
grundlegenden Gesamtsprachunterricht brauchten deutsche Verleger nicht so zu 
geizen, wie es leider allzuoft geschieht. Es wäre gut, wenn wir dann und wann 
auch von Ausländern etwas lernen wollten, wie diese es umgekehrt tun. Schaden 
könnte es nicht. 

Ein Anfang mit einer besseren Ausstattung ist gemacht in dem Büchlein: 

Im Sonnenschein. Erstes Lesebuch für die Kleinen, Von Otto 

Fritz. Mit vielen Orkginalzeichnungen von Karl Thoma. Karlsruhe, J. Langs 
Verlagsbuchhandlung. 
Etwas mehr Sonnenschein als die hergebrachten Fibeln bieten vor allem die 
inhaltreichen und zum Teil auch künstlerischen Anforderungen entsprechenden 
Bilder. Hier haben die Kinder wenigstens etwas zum Lesen. Doch auch der Wort- 
text zeigt eine Wendung zum Bessern, d. h. eine Abkehr vom öden, geisttötenden 
Verbalismus und mehr Verständnis für die Kindesseele der Fibelschützen. — 

Von Aneignung pädagogisch-psychologischer Gedanken für den ersten Sprach- 
unterricht zeugt: 

Das erste Schuljahr bei fremdsprachigen Kindern von Paul 
Schwarz, Rektor. Lissa i. P., Friedrich Ebbeckes Verlag. 1903. 1028. 1,20 M. 

Dieses kleine Buch für die Anwendung des ersten Unterrichts bei fremd- 
sprachigen, insbesondere polnischen Kindern gewinnt dadurch ein besonderes Inter- 
esse für die Leser dieser Zeitschrift für Kinderforschung, als unsere Be- 
strebungen hier eine praktische Anwendung fanden. Schou der eingangs gegebene, 
zwei eiten lange Literaturnachweis zeigt, daß der Verfasser in der Hauptsache 
sich mit den kinderpsychologischen Arbeiten über Sprache und Spracherlernung 
beschäftigt hat, und der erste Teil, Seite 7— 36, behandelt die »psychologische und 
sachliche Voraussetzungs und beweist, daß der Verfasser sich bemüht hat, den 
Papageienunterricht der landläufigen Fibeln sich nicht zum Muster zu nehmen, 
sondern sich Rats in der Kinderpsychologie zu erholen. 

Leider vermißt man aber im 2. Teile eine gesunde Lehrplantheorie, welche 
für einen psychologischen Unterricht ebenfalls unerläßlich ist. — 

Wiederholt habe ich auch mündlich die Frage des ersten Schulunterrichts mit 
Herrn Prof. Zimmer besprochen. Er hat dann meine Wünsche mit aufgenommen 
in Seinen Preisaufgaben des Evangelischen Diakonievereins. Die daraus hervor- 
gegangenen Schriften von Henke, Jetter, Lehmensiek, Schreiber und 
Wigge werden unsern Lesern hinreichend bekannt sein. Ich möchte aber noch- 
mals ausdrücklich darauf hinweisen, — 

Eingehender und unter besonderer Rücksicht auf den ersten Schreibleseunter- 
richt für Schwachsinnige hat sich mit den von mir hingeworfenen Gedanken Herr 
Ed. Schulz, Uilfsschullehrer in Halle a.,S., beschäftigt. Er sandte eine längere 
Abhandlung, worin er u. a. auch über cigene Versuche berichtet. Wir bringen sie 
im I. Defte des neuen Jahrganges zum Abdruck und eröffnen damit zugleich eine 
weitere psychologische Erörterung dieser Frage. 

Entgegnungen und Ergänzungen, psychologisch begründet, bis zur Länge von 
2 Druckseiten werden gern aufgenommen. Voraussetzung ist jedoch, daß sie ge- 
eignet sind, die Frage vorwärts zu bringen. Nur diesen Zweck verfolgen wir, 
und zwar ohne Ansehen von Personen wie Behörden und deren Vorschriften. Tr. 





C. Literatur. 279 








Piggott, Dr. H. E., Die sittliche Entwicklung und Erziehung des Kindes. 
Langensalza, Hermann Beyer & Söhne (Beyer & Mann), 1903. 778. Preis 1,25 M. 
Das Büchlein erscheint als VII. Heft der von Koch, Trüper und Ufer heraus- 
gegebenen »Beiträge zur Kinderforschung«. Der Verfasser hat sich die Aufgabe 
gestellt, »die Bedingungen, Tendenzen und den Gang der (sittlichen) Eutwicklung« 
beim Kinde nach Maßgabe der Forschungen von anerkannten Gelehrten darzulegen. 
Damit ist der Charakter des ganzen Buches bestimmt, es bietet eine Zusammen- 
fassung, besser eine tüchtig durchdachte Auswahl alles dessen, was in den letzten 
Jahren auf diesem Gebiete erschienen ist. Anerkannt muß werden, daß der Ver- 
fasser nur das Hervorragendste berücksichtigt hat. 

Nach einer verhältnismäßig kurzen Einleitung über den Begriff der sittlichen 
Entwicklung beim Kinde gliedert sich dio ganze Arbeit in drei große Abschnitte: 

1. Die Analyse der Natur des Kindes in moralischer Hinsicht. Es 
ist natürlich, daß sich der Verfasser zunächst in Erörterungen über die Instinkte 
ergeht. Es gelingt ihm auch, eine vortreffliche Übersicht über dieses heikle Gebiet 
zu geben. Wir betonen, cs ist eine Übersicht, aber eine zum Nachdenken an- 
regende, auch wo man nicht mit dem Verfasser stets einer Meinung ist. So ließe 
sich für den Nomadeninstinkt wohl noch ein tieferer Instinkt als Wurzel angeben, 
wenn man einerseits die philogenctische Eutwicklung der Menschheit, andrerseits 
die Tatsache im Auge behält, daß das Auftreten des genannten Instinktes fast stets 
im Alter der Pubertät oder im späteren Jünglingsalter zu beobachten ist. Doch das 
sind Nebenfragen. Wir möchten wünschen, daß gerade dieses Kapitel von den 
Instinkten von allen Erziehern gründlich studiert werde. Manche sonst hart be- 
urteilte Tat eines Kindes wird dann in ganz anderem Lichte erscheinen. Von dem, 
was sonst noch zur Analyse der Kindesnatur in sittlicher Hinsicht gesagt ist, 
möchten wir besonders den Abschnitt über die sittlichen Dispositionen 
empfehlen. Es ist dies aber ein wenig abgeklärtes Gebiet. Man mul darum die 
Augen offen halten. Besser wäre es gewesen, der Verfasser hätte dieses Thema 
ausführlicher behandelt, denn es leuchtet ein, daß unter den Bedingungen der sitt- 
lichen Entwicklung die Dispositionen eine große Bedeutung haben. Doch ist dem 
Verfasser kaum ein Vorwurf zu machen. Was uns hier fehlt, sind Monographien, 
ähnlich denen, die Dörpfeld schon vor langer Zeit anregte und selbst begann. 

2. Die Umgebung und ihre Einflüsse auf das Kind. In logischer 
Weise geht der Verfasser von dem im Kinde Vorhandenen weiter zu den Einflüssen, 
welche das Vorhandene anregen und Wirkungen in sittlicher Hinsicht hervorbringen. 
Es ist dabei im ganzen der Ilerbartsche Standpunkt vertreten. Die Statistiken, be- 
sonders die amerikanischen, werden bei den Darlegungen in Interessanter Weise 
verwertet. Ist es auch nicht viel Neues, was in diesem Abschnitte geboten wird, 
so ist es doch anerkennenswert, mit welchem Fleiße der Verfasser die Arbeiten der 
fremden und einheimischen Autoren dieses Gebietes sich zu eigen gemacht hat und 
wie er diese oft zu Weitschweifigkeiten führenden Tatsachen unter dem Gesichts- 
punkte der sittlichen Entwickung festzuhalten versteht. 

3. Die Kontrolle der Umgebung in Hinsicht auf die moralische 
Entwicklung. Damit begibt sich der Verfasser in das Gebiet der Erziehung zur 
Sittlichkeit. Er gibt eine Übersicht über die Methoden, die in einzelnen Ländern 
geübt werden. Die französische Art der steten Überwachung wird verworfen, denn 
Freiheit und Verantwortlichkeit hält er für notwendig zur moralischen Entwicklung. 
Darin geben wir dem Verfasser Recht, stimmen jedoch nicht in das Lob ein, das 
er der der französischen Methode gerade entgegengesetzten amerikanischen widmet. 


280 C. Literatur. 


—. 


Die Gefahren, die er selbst anführt — »Man klagt schon, daß sittlicher Zweifel und 
sittliches Zögern, welche aus einer übertriebenen Empfindlichkeit entstehen, die 
Spontaneität des Handelns bei jungen Leuten lähmt.« usw. — wollen wir doch ganz 
besonders hervorheben. Am vorteilhaftesten ist auch hier der Mittelweg. Gewiß 
sollen die Kinder in Freiheit aufwachsen, aber nicht iu der Freiheit der Erwachsenen. 
Das ist auch der Vorwurf, den man der amerikanischen Erziehung machen muß. 

Wir möchten dieses Buch trotz mancher übergroßen Knappheit allen Erziehern 
und nicht nur diesen, sondern auch denen, welchen die sittliche Verwahrlosung 
unserer Jugrnd mit Schrecken immer klarer wird, warm empfehlen. Es bietet viel 
Anregung und manchen Fingerzeig zu einer gründlichen und rationellen Erziehung. 
Vor allen Dingen aber wird diese Arbeit einen Ansporn geben, daß auch in deutschen 
Ländern die Erforschung der sittlichen Entwicklung beim Kinde energischer angefaßt 
werde. Man lese nur einmal das Verzeichnis der einschlägigen Arbeiten am Schluß 
des Buches. Sollen wir uns von den Amerikanern überall überholen lassen? 


Stukenberg. 


Lay, Dr. W. A, Experimentelle Didaktik. Ihre Grundlegung mit besonderer 
Rücksicht auf Muskelsinn, Wille und Tat. 1. Allgemeiner Teil. Wiesbaden, Otto 
Nemnich, 1903. Preis 9 M, in ganz Leinen gebunden 10 M. 

Der ganze Titel sagt schon, daß der Verfasser auf didaktischem Gebiet etwas 
Neues will. Er spricht sich selbst darüber im Vorwort folgendermaßen aus: 

»Ist eine experimentelle Didaktik möglich und notwendig? — Diese Frage ist 
bis jetzt noch von keinem Pädagogen erhoben worden; noch viel weniger liegt ein 
Versuch zur Begründung und Lösung dieses für die Pädagogik hochwichtigen Pro- 
blemes vor. Es scheint mir deshalb für die Beurteilung vorliegenden Versuches 
einer Grundlegung der experimentollen Didaktik notwendig, den Leser über die Ent- 
stehung des Buches an dieser Stelle zu orientieren. 

Die Überzeugung von der Möglichkeit und der Notwendigkeit einer experimen- 
tellen Didaktik ist im Verlaufe der letzten 15 Jahre in mir gereift. Ich begann 
damit, philosophische und physiologische und physiologisch-psychologische Erkennt- 
nisse in der Unterrichtspraxis zu verwerten, die ich im Verlaufe der Zeit auf alle 
Unterrichtsgegenstände ausdehnte, ersten Lese-, Schreib-, Rechen- und Anschauungs- 
unterricht, Religionsunterricht, Zeichen-, Gesang- und Turnunterricht eingeschlossen. 
In meiner ersten größeren Arbeit, der »Methodik des naturgeschichtlichen Unter- 
richts und Kritik der Reformbestrebungen« nahm ich mir dann — 1892 — vor, an 
der Methodik eines Unterrichtsgegenstandes zu zeigen, daß die physiologische Psycho- 
logie für die Pädagogik in hohem Grade fruchtbar ist und daß ihr die volle Auf- 
merksamkeit zugewendet werden muß.e — 1. Auflage, Vorwort S. IX. — Schon 
vorher hatte ich aber begonnen, das psychologische Experiment zum ersten Male 
für die Begründung des Lehrverfahrens eines Unterrichtsgegenstandes, des 
orthographischen Unterrichts, zu verwerten und brachte die Untersuchung nach 
mehrfacher Unterbrechung im Jahre 1896 zum Abschlusse. Um gewisse Ein- 
wendungen zu widerlegen, suchte ich durch meine Arbeit über die Psychologie der 
Zahl und den ersten Rechenunterricht an einem weiteren Beispiele nachzuweisen, 
daß es möglich und notwendig sei, didaktisch-methodische Fragen nach der experi- 
mentellen Forschungsmethode zu behandeln. In allen Arbeiten, auch in den 1894 
erschienenen Aufsätzen: Physiologische Psychologie und Schulpraxis in der »Deut- 
schen Schulpraxis«, habe ich stets mit Nachdruck die hohe didaktische Bedeutung 
der vollständig vernachlässigten Bewegungsvorstellungen hervorgehoben. 


C. Literatur. 281 





Der Beifall sowohl als der Widerspruch, die meine Arbeiten fanden, waren 
es nun, die mich veranlaßten, die Möglichkeit und Notwendigkeit einer experimen- 
tellen Didaktik überhaupt theoretisch und praktisch nachzuweisen und die Grund- 
legung derselben zu beginnen. Ich war mir der großen Schwierigkeit des Unter- 
nehmens völlig bewußt. Aber der passive Widerstand, den da und dort meine Be- 
strebungen fanden, die Art des Widerspruchs, der sich aber verhältnismäßig selten 
an die Öffentlichkeit wagte, insbesondere aber die sterile dogmatische, spekulative 
und dialektische Behandlungsweise methodischer Fragen, der ausgebreitete ruhe 
Empuismus und der Wirrwarr der Meinungen, der auf allen Gebieten des Unter- 
richts sich findet, drängten mich einerseits, die schwierige Arbeit in Angriff zu 
nehmen. Andererseits war der Beifall, den meine Arbeiten fanden, geeignet, mich 
zu ermutigen. Die ausführlichen Besprechungen in den bedeutendsten pädagogischen 
und psychologischen Zeitschriften, in vielen Konferenzen und größeren Lehrer- 
versammlungen besonders in Mittel- und Norddeutschland, die Kontrollversuche und 
die an die experimentellen Untersuchungen des »Rechtschreib- und Rechenführer« 
sich anschließende Literatur, Hunderte von Zuschriften aus allen Teilen Deutsch- 
lands, aus der Schweiz, aus Österreich und Ungarn, aus Holland, Frankreich und 
Nordamerika, die Aufnahme meiner Grundanschauungen über das didaktisch-psycho- 
logische Experiment in den Bericht des Internationalen Psychologenkongresses vom 
Jahre 1900, die über die Bedeutung des didaktischen Experiments für den fremd- 
sprachlichen Unterricht in den Bericht des Internationalen Kongresses für den 
Unterricht in den lebenden Sprachen in Paris — 1900 —, endlich die Anerkennung 
meiner Bestrebungen durch hervorragende Philosophen, Psychologen und Pädagogen: 
Riehl, v. Sallwürk, Wundt, Münsterberg, Sully, Forel, Zichen, 
Stanley Hall, Natorp — sie alle haben mich ermutigt und immer wieder von 
neuem angeregt. 

Der vorliegende erste, allgemeine Teil der experimentellen Didaktik möchte 
nun über die Voraussetzungen, das Wesen, die Bedeutung und die Durchführung 
der experimentellen Forschungsmethode auf dem Gebicte dor Didaktik theoretisch 
und praktisch orientieren, zur praktischen Anwendung derselben aufmuntern uud 
diese erleichtern. 

Zu diesem Zwecke bietet er zunächst kinderpsychologische, psychologische 
und erkenntnistheoretische, ethische, ästhetische und religiöse, pathologische und 
hygienische Tatsachen und Literaturangaben, soweit sic dem Unterrichte und seiner 
experimentellen Erforschung zur Zeit als allgemeine Grundlage dienen können. 
Weitere Ausführungen sollen in der Methodik der einzelnen Unterrichtsgegenstände 
folgen. Die Kinderpsychologie, Psychopathologie und viele hygienische Tatsachen 
mußten um so mehr Berücksichtigung finden, als sie auch von den größten Werken 
der Didaktik nicht beachtet wurden. Nicht bloß die deutsche, sondern auch die 
französische, englische und nordamerikanische Literatur mußte zu Rate gezogen 
werden, um — wohl zum ersten Male — eine innige Verknüpfung der modernen 
Psychologie mit der Didaktik herbeizuführen und einen fruchtbaren Boden für das 
didaktische Experiment zu gewinnen. Eine eingehende Behandlung war den 
motorischen Prozessen und insbesondere den Bewegungsvorstellungen zu widmen, 
da deren Gebiet in der pädagogischen Literatur und bei den Schulmännern im 
allgemeinen noch eine terra incognita darstellt und die Bewegungen für die ex- 
perimentelle Forschungsmethode als Reaktionen von größter Bedeutung sind. 


In unmittelbarem Anschluß an die grundlegenden Tatsachen sird die Resultate 
experimenteller Forschung mitgeteilt, didaktische Probleme gestellt, Mittel und Wege 


292 C. Literatur. 


zur Lösung durch Beobachtung und Experiment angegeben und eine Reihe von 
didaktischen Beobachtungen und Versuchen nach ihrer Entstehung, Durchführung 
und praktischen Verwertung als typische Beispiele bis ins einzelne dargestellt. Neu 
und in der vorliegenden Schrift zum erstenmal veröffentlicht, sind die didaktischen 
Beobachtungen und Experimente: 1. über die Sprechbewegungsvorstellungen im 
mündlichen Unterricht, 2. über die Sprechbewegungsvorstellungen im Gesangsunter- 
richt, 3. über die Auffassung von Formen, 4. über die Anschauungs- und Gedächtnis- 
typen, 5. über das psychische Tempo und die psychische Energie im Verlaufe der 
Tages- und Jahreszeiten. 

Zum Schlusse wird das Wesen und die Bedeutung der experimentellen 
Forschungsmethode, der didaktischen Beobachtung, Umfrage, Statistik und des 
didaktischen Experiments zur Darstellung gebracht und auf die Notwendigkeit der 
Errichtung pädagogischer Lehrstühle an unsern Hochschulen, der Pflege päda- 
gogischer Forschung an den Lehrerseminarien und pädagogischer Institute größerer 
städtischer Gemeinwesen hingewiesen. Für manchen Leser mag es sich empfehlen, 
mit deu Ausführungen des Schlußkapitels die Lektüre der Schrift zu beginnen. 


Unzählbar wie der Sand am Meere sind die didaktischen und methodischen 
Aufsätze in den pädagogischen Zeitungen und Zeitschriften; ungeheuer groß ist die 
Zahl der methodischen und didaktischen Broschüren und Bücher. Welch reges 
didaktisches Interesse tritt da zu Tage! Wieviel Kraft und Zeit wird aufgeboten! — 
Wie grol ist aber trotz alledem die Zerfahrenheit der Ansichten auf allen Gebieten 
des Unterrichts in den fundamentalsten Fragen eines jeden Unterrichtsgegenstandes! 
Die Lehrverfahren stehen oft in offenem Widerspruche und geradezu kläglich ist 
der eigentliche, nicht durch den Lehrstoff selbst bedingte Fortschritt in Theorie und 
Praxis. Es gilt daher, die Didaktik vom sterilen Flugsande, gebildet durch rohen 
Empirisinus, blindgläubige Dogmatik, müßige Spekulation, unbefugte Generalisation, 
rechthaberische Dialektik, auf den fruchtbaren Ackerboden der wissenschaftlichen, 
experimentellen Forschungsmethode zu verpflanzen, zu gleicher Zeit der über- 
wuchernden Oberflächlichkeit, der kritiklosen Kritik, den spitzfindigen Künsteleien, 
dem niedrigen Drill cin Ende zu bereiten und die Kräfte für die experimentelle 
Fuorschungsmetlode, wie sie im Schlußkapitel vorliegender Arbeit dargestellt ist, 
frei zu machen. Dort ist gezeigt, daß die experimentelle Didaktik in hohem Maße 
geeignet ist, die pädagogischen Kräfte auf neutralem Gebiete zu sammeln, sie vor 
Kraft und Zeitverschwendung zu bewahren und eine Organisation und Arbeitsteilung 
herbeizuführen, die bei dem heutigen Stande der Dinge sicherlich viele Vorteile 
bieten würde. 

Um das Studium des Buches auch dem Seminaristen und angehenden 
Lehrer zu ermöglichen und ihnen für die unendliche Fülle der Erscheinungen der 
Unterrichtspraxis zunächst die Augen zu öffnen, um auch für die ersten psycho- 
logischen, kinderpsychologischen und didaktischen Beobachtungen und Versuche an- 
zuleiten, habe ich mich einer möglichst einfachen Darstellung befleißigt und stets 
an konkrete Fälle angeschlossen. 

Der zweite, spezielle Teil soll auf experimenteller Grundlage die Methodik 
der einzelnen Unterrichtsgegenstände behandeln und im Verlaufe der nächsten Jahre 
in einzelnen Abteilungen erscheinen.« 

Über welche Frage Dr. Lay sich verbreitet, mag weiterhin das Inhalts- 
verzeichnis uns sagen: Muskelsinn und Bewegungen im allgemeinen. Ein 
Blick auf das Problem des Willens und der Tat in der Gegenwart, Entwicklungsgang der 
Auffassung des Muskelsinns und der Bewegungsvorstellungen, Charakteristik und 


C. Literatur. 283 


physio-psychologische Entstehung der Lage- und Bewegungsvorstellungen, physio- 
psychologische Entwicklung der Bewegungen im Kindesalter. — Triebbewegungen 
und Spiele des Kindes. a) Das Experimentieren mit den sensorischen Organen, 
didaktische Experimente über das Auffassen von Formen; b) Das Experimentieren 
mit den motorischen Organen, Kampfbetrieb, äußere Nachahmung, innere Nach- 
ahmung. — Empfindungs- und Vorstellungsbewegungen, Prinzip der An- 
schauungen, Ausdrucksbewegungen, Gefühle und Affekte, die Auf- 
merksamkeit und ihre Bewegungen, Association und Assimilation, 
Sach- und Sprachunterricht, Anschauungs- und Gedächtnistypen. 
Beobachtungstatsachen, Ergebnisse aus der experimentellen Untersuchung des Recht- 
schreibens, Klassenbeobachtungen über den sprechmotorischen Typus, didaktische 
Experimente über das sprechmotorische Element im Gesangsunterricht, didaktische 
Experimente über die Anschauungstypen a) im Sprach- und Rechenunterricht, b) 
im Sachunterricht, Didaktische Bedeutung der Anschauungstypen. — Phantasie- 
tätigkeit. Kinderpsychologische Tatsachen, didaktische Experimente über Auf- 
fassungstypen. — Denktätigkeit. Analyse und Synthese, Begriffsbildung, 
Urteilsbildung, Schlußbildung, Kausalität und Finalität, der Erkenntnisprozeß 
und die sogenannten formalen Stufen. — Suggestion. Das Wesen der Sug- 
gestion (auf Grund von Experimenten), Bedeutung der Suggestion, didaktische 
Verwertung der Suggestion. — Übung und Gedächtnis. Hemmung, Koordi- 
nation und Übung, das Lernen, das Gewöhnen, Didaktische Übung von Lernen 
und Gewöhnen, Wiederholung und Übungszuwachs (auf Grund von Experi- 
menten), Vorlage, Wiederholung und Willensimpuls (auf Grund von Experi- 
menten), Einheit und Vielheit: Raum und Zeit, Zahl und Größe (auf Grund 
von Experimenten), Aemorieren, Behalten und Vergessen (auf Grund von 
Experimenten). — Willenstätigkeit. I. Der Wille als biologische Erscheinung. 
IL Der Wille als physiologisch-psychologische Erscheinung, Organisation und 
Funktion, Das Prinzip der Vererbung, Disposition und Anlage, Kritik des soge- 
nannten psychogenetischen Grundgesetzes, das Prinzip der Funktion und Korrelation, 
der Lehrgang und seine Glieder, das Prinzip der Periodizität, Didaktische Experi- 
mente über psychische Energie, psychisches Tenıpo und ihre Wellenbewegung, die 
Entwicklungsperioden, das hygienische Prinzip. Stoffwechsel und geistige Leistungs- 
fähigkeit, Prüfungen und Zensuren, Schlaf-, Spiel- und Arbeitszeit, Individualitäten- 
liste. ILL. Der erkenntnistheoretische und ethische Wille. — Willensbildung. 
I. Intellektuelle Willensbildung. II. Ethische Wilfensbildung, Beeinflussung von 
Gefühlen nnd Trieben, das »Handeln in Gedanken,« Glaube und Vorbild, eine 
didaktische Umfrage und Statistik, die Klassengemeinde, Verantwortlichkeit und 
Strafe, das einheitliche Schulsystem. III. Ästhetische Willensbildung, das Kunst- 
schöne, das Naturschöne, didaktische Verwertung. IV. Religiöse Willensbildung, 
kinderpsychologische Tatsachen, über das Wesen der Religion, didaktische Folge- 
rungen. — Einheit und Sachlichkeit, Natur- und Kulturgemäßheit 
des Unterrichts. Die Einheit des Lehrstoffs, die gesetzlichen und normativen 
Hilfswissenschaften der Pädagogik, Übersicht über den natürlichen Zusammenhang 
der »Lehrfächer«. Wesen und Bedeutung derexperimentellen Didaktik.« — 

Iu einem der nächsten Hefte werden wir prüfen, ob und inwieweit die experi- 
mentelle Didaktik Lays einen Fortschritt zum Wohle der Jugend und zur Bereiche- 
rung der Pädagogik bedeutet. 


C. Literatur. 


Io 
% 
> 


Eingegangene Schriften. 

Dr. A. Wehrhahn, Stadtschulrat und Königl. Kreisschulinspektor, Das Volks- 
schulwesen der Königlichen Haupt- und Residenzstadt Hannover. 
Hannover, Verlag der Stadtschulinspektion, 1903. 119 S. 

58. Bericht über den Zustand der Taubstummenanstalt in Emden. Emden, 
Th. Hahns Wwe., 1903. 

Karl Baldrian, Die Mitwirkung der Ärzte bei der Taubstummen- 
bildung. Separatabdruck aus der Med.-päd. Monatsschrift für die gesamte Sprach- 
heilkunde von Gutzmann. 1903. Heft 3/4. 

Dr. A. Baer, Geh. Med.-Rat, Über jugendliche Mörder und Totschläger. 
Kriminalanthropologische Beobachtungen. Separatabdr. aus dem Archiv für Kriminal- 
anthropologie. XI. Band. Leipzig, F. C. W. Vogel, 1903. 

Über das Lügen der Kinder. Erörterungen aus der pädagogischen Lite- 
ratur von J. Trüper, Stanley Hall, Sully, Tracy, Jean Paul, Eugen Pappenheim u. a. 
Zusammengestellt von Gertrud Pappenheim. In der Zeitschrift: »Kindergarten, Be- 
wahranstalt und Elementarklasse.« Herausgegeben vom Deutschen Fröbelverband. 
1903. Heft 6. 

Verhandlungen der Teilnehmer an der vom 26.—29. Mai 1902 in Düssel- 
dorf stattgehabten Konferenz von Vorstehern an Rettungshäusern, Pro- 
vinzial-Erziehungs-, Besserungs- und Fürsorgeerziehungs-Anstalten. 

Rechenbuch in 4 Heften von J. Giese, Hauptlehrer in Magdeburg und 
F. Loeper, Rektor in Barmen. Zu beziehen durch Hauptlehrer Giese-Magdeburg. 

Die deutsche Schule. Monatsschrift. Herausgegeben im Auftrage des 
Deutschen Lehrervereins von Robert Rissmann. VI. Jahrgang. 1902. Leipzig und 
Berlin, Julius Klinkhard. 

Evangelisches Schulblatt, begründet von Fr. W. Dörpfeld. Herausgegeben 
von D. Horn, A. Hollenberg, Dr. G. von Rhoden. 1903. Heft 8. Festnummer 
zur Einweihung des Dörpfeld-Denkmals in Barmen. Mit drei Abbildungen. 
Gütersloh, Druck und Verlag von C. Bertelsmann. Preis 0,50 M. 

Anna Carnap, Friedrich Wilhelm Dörpfeld. Aus seinem Leben und Wirken. 
Gütersloh, 2 Aufl. 1903. Verlag von C. Bertelsmann, Gütersloh. 

Fr. Frenzel, Die Hilfsschule für schwachbegabte Kinder. Hamburg, Leopold 
Voß. 88 S. Preis 1 M. 

Paul Schwarz, Rektor, Das erste Schuljahr bei fremdsprachigen 
Kindern. Lissa i. P., Friedrich Ebbeckes Verlag, 1903. Preis 1,20 M. 

Hermann Lleinicke u. Richard Bretschneider, Beiträge zur Alkoholfrage 
zugleich eine Erläuterung der »Dresdner Bilder gegen den Alkohol«. Mit 
6 verkleinerten Abbildungen der farbigen Wandtafeln. 1. u. 2, Tausend. Kom- 
missionsverlag: A. Müller. Dresden, Fröbelhaus, 1903. 

Über Begriff und Bedeutung der Demenz. Referat, erstattet der 
Jahresversammlung des deutschen Vereins für Psychiatrie zu Jena am 21. April 1903. 
Von Prof. Dr. F. Tuexek in Marburg. Separatabdruck aus der »Monatsschrift für 
Psychiatrie u. Neurologies von C. Wernicke und Th. Ziehen. Berlin NW. 6, Ver- 
lag von S. Karger. 


a 


Druck von Hormann Beyor & Süöhno (Boyo & Mann) in Langensalza. 


Die Kinderfehler. 


Zeitschrift für Kinderforschung 


mit besonderer Berücksichtigung 


der pädagogischen Pathologie. 


Im Verein mit 


Medizinalrat Dr. J. L. A. Koch, 


Irrenanstaltsdirektor a. D. in Cannstatt 


herausgegeben von 


J. Trüper, und Chr. Ufer, 


Direktor des Erziehungsheimes und Kinder- Rektor der Mädchenmittelschule in 
sanatoriums auf der Sophienhöhe bei Jena 


Neunter Jahrgang. 





Langensalza 
Hermann Beyer & Söhne 
(Beyer & Mann) 
Herzogl. Sächs. Hofbuchhärdler 
1904 


Alle Rechte vorbehalten. 


Inhalt. 


A. Abhandlungen: 


SCHULZE, Epvarn, Der erste Lese- und Schreib- Unterricht in der Hilfsschule 

OPPENHEIN, Prof. Dr., Über die ersten Zeichen der Nervosität des Kindesalters 

ASCHAFFENBURG, Prof. Dr. Gustav, Über die nu der Stimmungsschwan- 
kungen bei Epileptikern . . 

TrRÜPER, J., Psychopathische Minderwertigkeiten "als Ursache von Gesetzes- 
verletzungen Jugendlicher . . . Be . 146. 

TrÜPER, J., Medizin und Pädagogik . a i 1 160. 

KıerER, Dr. O., Hygienische und psychologische Bedenken der körperlichen 
Züchtigung bei Kindern. . 

Dupoxt, Dr. med. A., Eine merkwürdige Entdeckung über die Bedeutung der 
Schilddrüse TEE Be ee er A 

»Schutz für Geistesschwache« . 

Hıeroxyaus, D., Vererbung und erbliche Belastung in ihrer Bedeutung für 
Jugend- und Volkserziehung . . 

EsoeLuorx, Medizinalrat Dr., Welche Bedeutung für die Schulhygiene hat die 
Psychologie und Psychopathologie der Entwicklungsjahre? . 


B. Mitteilungen: 


Die Liebe bei den Kindern. Von R. Server. . re 

Über einige abnorme Erscheinungen im kindlichen Seelenleben. Von Dr. 
A. Kümer . e e A 

Zur Vererbung der Taubheit. Von O. DANGER ; 

Zur diesjährigen Versammlung des Vereins für Kinderforschung am 11. und 
12. Oktober in Halle a. S. Von Dr. med. Scmap-Moxsarn . . 

Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. Von J. 
Cur. HAGEN . . 34T. 

Bericht über die V. Jahresversammlung des Vereins für Kinderforschung am 
11. u. 12. Oktober 1903 in Halle a. S. Von Dr. med. StromsmavEr und 
STUKENBERG . 

An die Mitglieder des Vereins für Kinderforschung. Von STUKENBERG ; 

Zulassung von Volksschullehrern zum akademischen Studium. Von J. TRÜPER 

Für geistig zurückgebliebene Jünglinge und Jungfrauen rn 

t Dr. med. Scınap-Moxsarv.. . . . 

Herder und die Kindesscele. Von Prof. Dr. Leo LANGER 

Der I. internationale Kongreß für Schulhygiene . ; 

Sechste Bundesversammlung deutscher Taubstummenlehrer 

Deutscher Kongreß für P Psychologie . 

Schwachsinn und Militärpflicht . . u 

Der Schularzt im Oberamt Cannstatt. Von Medizinalrat Dr. J. L. A. Koon . 

a) Einige Bemerkungen. Von A. PAULMANN ; m a a a 

b) Von EvvArn Schulze 

Über Bettnässen. Von Aroıs Hark . 

Neunter aan 

Jugendgerichte 5 


IV Inhalt. 


Vom Kongreß für experimentelle Psychologie zu Gießen. Von UFER . 

I. Internationaler Kongreß für ODVRNE zu DE vom 4.—9. April 
1904. Von Franz FRENZEL . 

Hörstummbeit. Von G. Mayor . . 

Kurse in Theorie und Praxis der Fröbel - Erziehungslehre für Kinder- 
gärtnerinnen, Elementarlehrer und Lehrerinnen ; 

Ferienkurse in Jena . . 

Die diesjährige Versammlung des Vereins für Kinderforschung 

Zur Beantwortung mehrerer Briefe i 

Der gegenwärtige” Stand der Heilpädagogik i in Ungam. Von Dr. PauL RANSCH- 
BURG . f 

Erziehung und Krankheit. Von Dr. med. HERMANN 

Vom Kinde in der Kunst. Von FRIEDRICH KERST 

Ein Fall von motorischer Aphasie. Von H. DörREICH . 

Kiuderlaunen. Von Frau Hexxy Bock-NEUMANN . 

Uber Bettnässen . 

Das urnisehe Kind . 

An die Vereinigungen für Kinderpsychologio ı und | Heilpädagogik u und Freunde 
dieser Wissenschaften . 


e 


3 


C. Literatur: 
Ziehen, Dr. Jul., Über den Gedanken der Gründung eines Reichsschulmuseums 


Von J. TRÜPER . a Bin A an a 
Stadelmann, Schulen für nervenkranke Kinder. Von Dr. STROHMAYER . . 
Ein nachahmenswertes Buch. Von Dr. Kocu . . 2 2 2 2 20202 .44 


Eingegangene Schriften 

Mönkemöller, Geistesstörung und Verbrechen im "Kindesalter. Von Dr. STROH- 
MAYER . . 

Möbius, P. J., Ausgewählte Werke. Von Dr. "STROHNAYER A 

Verhandlungen der IV. schweizerischen Konferenz für das Idiotenwesen zu 
Luzern am 11. und 12. Mai 1903. Von Fr. FRENZEL l 

Schiner und Bösbauer, Fibel für abnorme Kinder. Von EDUARD SCHULZE SU 

Brohmer und Kühling, Taubstummenlehrer, Übungsbuch zum Gebrauche beim 
Rechenunterricht. Von Huco SEIFART . E i 

Keller, Helen, Optimism. An Essay. Von O. DAsGER ; 

Karth, Max, Uber abnorme Erscheinungen in der geistigen Entwicklung des 
Kindes. Von O. DANGER . . 

Berninger, Johannes, Ziele und Aufgabe der modernen Schul- und Volkshygiene. 
Von Trkürkr . . 

Oppenheim, Prof. Dr. H., "Die ersten Zeichen der Nervosität des Kindesalters. 
Von Trürrr . 

Baur, P , Seminararzt, Hygienischer Taschenatlas für Haus und Schule. Von 
RËPER. . ; gois 

Hahn, T Dio Strafrechtsreform und die jugendlichen Verbrecher, Von 

ÜPER . 

Archiv für Altersmundarten und Sprechsprache. Von UFER . 

Berkhan, Dr. O., Über den angeborenen und früh erworbenen Schwachsinn. 
Von TRÜPER ; E e ; 

„Schutz für Geistesschwaches. Von TrüPER g 

Gutberlet, Dr. C., Der Kampf um die Seele. Von Urer. . be en Dr i 

Ament, Dr. W., Fortschritte der Kinderseelenkunde 1895—1903. Von UFER 

Ribot, Th., Psychologio der Gefühle. Von Urer . ken a Sr e 

Kroiss, Karl, Zur Methodik des Hörunterrichts. Von O. DANGER , 


NINA A ADLAN NA a Na 











\ ~y? A ” K 7 





A, Abhandlungen, 


1. Der erste Lese- und Schreib-Unterricht in der 
Hilfsschule. 


Ein praktischer Versuch 
Von 
Eduard Schulze, Lehrer an der Hilfsschule zu Halle a/S. 


»Die beste Bürgschaft für irgend eine neue Me- 
thode, mag sie sich auf das Lesen, Schreiben und 
Rechnen oder auf eine neue oder alte Sprache be- 
ziehen, besteht darin, daß sie auf eine genaue 
Kenntnis und Erklärung des Inhalts und der 
Verfahrungsweise des kindlichen Geistes ge- 
gründet ist.« G. Stauley Hall. 


Der Lehrer der Schwachbegabten empfindet in höherem Maße die 
Unvollkommenheiten der Unterrichtsmethodik als der Lehrer normal 
beanlagter Kinder; durch die Schüler selbst wird der Hilfsschullehrer 
getrieben, unausgesetzt nach neuen, besseren, psychologisch-richtigeren 
Wegen im Unterrichte zu suchen. »Das wahre Unterrichten kennt 
keine Unfehlbarkeit, sondern nur unausgesetztes Sinnen über 
stete Vervollkommnung« (Fick). 

Unter den Lehrfächern der Hilfsschule ist neben dem Rechen- 
unterrichte besonders der erste Lese- und Schreib-Unterricht ein 
schwerdrückendes Kreuz für Schüler und Lehrer. In der Hoffnung, 
beiden Teilen diesen Unterricht erleichtern zu helfen und in der An- 
nahme. daß jeder ernste Versuch, diesen Unterricht naturgemäß und 
erfolgreich zu gestalten, meinen Kollegen willkommen ist, will ich 

Die Kinderfehler. IX. Jahrgang. ] 


2 A. Abhandlungen. 


berichten über einen Lehrgang, den ich im verflossenen Schuljahre mit 
einer Vorstufenklasse der hiesigen Hilfsschule praktisch versucht habe. 

Veranlaßt wurde ich zu diesem Versuche durch die beiden be- 
kannten Preisausschreiben des Evangelischen Diakonievereins: 1. Wie 
läßt der erste Sprachunterricht durch das Verfahren des Selbstfinden- 
lassens sich weiterbilden? 2. Des Kindes erstes Schulbuch, verfaßt 
nach dem Grundsatze der Selbsttätigkeit, deren Bearbeitung von 
Rektor Hexer, Rektor Wicar, Oberlehrer Lenuensick, Lehrer JETTER, 
Lehrer Lemgke, Lehrer Scureiger, Lehrer Vocer und mir mit Erfolg 
versucht wurde. Selbstverständlich habe ich mich bei meinem Ver- 
suche von den Ausführungen dieser Männer beraten und leiten lassen. 

Der Unterricht wurde nach Ostern 1902 mit sogenannten Vor- 
übungen begonnen: die Kinder bildeten Reimrätsel (nach Wiese) und 
faßten Laute, Silben und Wörter auf unter stetiger Verwertung von 
Betätigungsübungen (Stäbchen- und Bogenlegen, Zeichnen in feuchten 
Sand, auf Wandtafel, Schiefertafel, Papier. Immer gab bei diesen 
Vorübungenn der Interessenkreis der Kinder die Anregung 
und Führung ab. 

Der eigentliche Leseunterricht begann erst in der Zeit nach den 
Sommerferien. Zu diesem Zwecke wurden die Großbuchstaben 
der lateinischen Druckschrift (A B C) einzeln vom Lehrer in 
Papier ausgeschnitten und auf Pappe geklebt. Nachdem der Buch- 
stabe von den Kindern erfaßt war, wurde er ihnen in etwas kleinerer 
Form (Alphabet erschienen bei Jul. Klinkhardt-Leipzig) nahegebracht 
und so bald es anging, mit «den schon erlernten Zeichen zu Silben 
und Wörtern zusammengestellt. Als sodann die Kinder allmählich 
über einen kleinen Wortschatz verfügten, lernten sie Lesetafeln 
kennen, welche 5—12 Worte enthielten, und zwar solche mit ein- 
heitlichem Gedankengange, dem ethischen und realistischen Stoffe 
oder den täglichen Erlebnissen der Kinder entnommen; weitere 
Übungswörter aus demselben Gedankenkreise entstanden unter Beihilfe 
der Kinder an der Wandtafel. 

Zu dieser Mannigfaltigkeit der Leseübung gesellte sich nun eine 
solche der Handtätigkeit. Diejenigen Buchstabenformen, welche von 
den Kindern erfaßt werden sollten, wurden mit Stäbchen und Bogen 
aus Draht (lange Stäbchen von 6 em Länge, kurze Stäbchen von 
3 em Länge, große und kleine halbe Bogen, deren Durchmesser den 
langen und kurzen Stäbehen entsprechen) gelegt, in feuchten Sand 
geschrieben, aus den Buchstaben der Klassen-Lesemaschine und den 
Hescrschen Buchstabentäfelehen, die sich in der Hand jedes Kindes 
befanden, herausgesucht; weiterhin wurden die Formen der Buch- 


ScHuLzE: Der erste Lese- und Schreib-Unterricht in der Hilfsschule. 3 


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staben verschiedentlich auf der Wandtafel und im Schreibhefte 
(Liniatur: einfache blaue Linien mit 6 mm Abstand) anfangs inner- 
halb drei, später zwischen zwei Linien »gemalt«. Diese Übungen 
ließen sich noch vermehren dadurch, daß die Buchstaben von den 
Kindern in Ton geformt und in Papier, Kartoffeln oder Rüben aus- 
geschnitten werden. Nicht bloß die Formen der einzelnen Buch- 
staben, sondern auch die dem Interessenkreise der Kinder ent- 
nommenen Übungswörter wurden durch die genannten mannig- 
fachen Übungen der Selbsttätigkeit den Schülern nahegebracht. Geübt 
und eingeprägt wurden auf diese Weise bis zum Ende des Schul- 
jahres sämtliche Laute unserer Sprache und deren Zeichen mit Aus- 
nahme von St, Sp, Pf im Anlaut, Ph, X, C, Y, Q. 

Die Reihenfolge der einzuübenden Laute und ihrer Zeichen er- 
gab sich an der Hand folgender ethischer und realistischer Gedanken- 
gänge: 

August: 1. Wie Gott auch dem Menschen Nahrung gibt. 
2. Was während des Sommers auf dem Felde getan wird. 


(Getreideernte.) 

September: 1. Wie Gott die Erde fruchtbar macht durch Regen und 
Sonnenschein — wie er uns auch im Unwetter be- 
hütet. 


2. Was wir essen.und trinken. 
Oktober: 1. Wie Gott die Früchte reifen läßt. 
2. Was der Herbst uns bringt in Garten und Feld. 
1. Wie Gott die Pflanzen, Tiere und Menschen absterben 
läßt. (Totenfest.) 


November: 


2. Was der Herbst uns nimmt. 
Dezember: 1. Wie das Jesuskind geboren wird. 
2. Welche Freuden der Winter den Kindern bringt. 
Januar: 1. Gott läßt Tag und Nacht werden; er läßt Sonne, Mond 
und Sterne scheinen. 
2. Wie die Zeit eingeteilt wird. Der Himmel. Kaisers 
Geburtstag. 
Februar: 1. Was Gott mir alles gegeben hat. 
2. Was das Kind von seinem Körper kennen lernt. 


März: 1. Wie das Kind Gott lieben lernt. 
. Wie das Kind auf seinen Körper achten lernen muß. 
Die aus den vorstehenden Unterrichtsstoffen sich ergebenden 
Übungswörter an dieser Stelle anzuführen, verbietet mir der zur Ver- 
fügung stehende Raum; ich verweise darum auf das weiter unten 
angegebene Beispiel vom Monat Dezember. 
J 


u 


4 A. Abhandlungen. 





Der weitere Fortgang des Unterrichts wird sich wie folgt ge- 
stalten: Nach Ostern werden die Kinder bekannt gemacht mit den 
Formen der kleinen lateinischen Druckbuchstaben, deren An- 
eignung wenig Schwierigkeiten bereiten wird, da diese Formen den 
groben Buchstaben gleichen oder ganz geringe Abweichungen 
von diesen aufweisen. Zum Vergleich stelle ich eine Übersichts- 
tabelle der vier lateinischen Alphabete hierher: 


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2 o Öö u ü İ $s w v j p z k CcC xXx y 


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Mit der Form der kleinen Druckbuchstaben zugleich kann man 
auch die Form der Schreibbuchstaben einführen und kommt so 
zum Schreiben der lateinischen kleinen und großen Schreibschrift. 
»Die ‚lateinische‘ Schreibschrift, die von der Kursivschrift abstammt, 
welche zu Anfang des 16. Jahrhunderts im Buchdruck eingeführt 
wurde, war leicht zu bilden: die langen Buchstaben erhielten Schleifen, 
die Buchstaben wurden miteinander verbunden und die Buchstaben 
und Wörter möglichst in einem Zuge geschrieben. Die eckige Fraktur- 
schrift des Buchdrucks hingegen bot viel mehr Schwierigkeiten dar, 
als man begann, eine flüchtige ‚deutsche‘ Schreibschrift aus ihr ab- 
zuleiten.« (Lay.) 

Der vorbezeichnete Gang wird sich empfehlen, wenn man un- 
bedingt jetzt schon »schreiben« will; da wir aber das eigentliche 
Schreiben aus mancherlei Gründen so weit als möglich hinausschieben 
wollen, werden wir erst sämtliche kleine Druckbuchstaben erledigen 
und nach genügender Übung im Lesen derselben zur kleinen und 


SCHULZE: Der erste Lese- und Schreib-Unterricht in der Hilfsschule. 5 





endlich zur großen lateinischen Schreibschrift übergehen. Dieser 
Gang hat den Vorteil, daß Schüler und Lehrer ihre ganze Kraft 
einer Schwierigkeit, zuerst dem Lesen, widmen können und später, 
bei Einübung der Schreibschrift, mehr Zeit dem Schreiben zu- 
erteilen können, weil das Lesen keine Schwierigkeiten mehr bieten 
wird. Wenn uns auch während der Behandlung der kleinen Druck- 
schrift das Schreiben fehlen wird, so erblicken wir darin keinen 
Nachteil; denn zur Betätigung der Hand haben wir immer noch die 
Hrsckschen Buchstabentäfelchen, deren mannigfache Verwendung wir 
jetzt in vollem Umfange aufnehmen können;!) außerdem bleibt uns 
ja das Legen mit Stäbchen und Bogen und das Malen der Begriffs- 
wörter in großen lateinischen Druckbuchstaben. 

So werden wir auf diesem interessanten Wege am Ende des 
zweiten Jahres sämtliche vier lateinische Alphabete bewältigt haben, 
und die Kinder können nun an die Erlernung der sogenannten 
deutschen Alphabete?) herangehen, die sie schnell sich aneignen 
werden, weil sie im Lesen an vier Alphabeten reichlich geübt sind. 
weil sie auch für das Schreiben die nötige geistige Reife und 
körperliche Geschicklichkeit erlangt haben, weil endlich die Ab- 
leitung der deutschen Schreib- und Druckschrift aus den schon be- 
kannten Alphabeten ungezwungen sich ergibt. 

Bei dem bezeichneten Lehrgange nehmen wir immer noch Rück- 
sicht auf die bestehenden behördlichen Verordnungen; wären diese 
nicht, so würden wir den Anfang für Lesen und Schreiben bis auf 
ein späteres Lebensjahr hinausschieben, weil wir und mit uns viele 
andere Erzieher und Eltern wie Pestalozzi, FRrÜöBEL, ZILLER, REN, 
ParpexnnEım, Karu RicHter , Trürer u. a. (ich erinnere ferner an 
die Bewegung, die durch Arrtuur Scuurz in seinen »Blättern für 
deutsche Erziehung« vertreten wird) der Überzeugung sind, daß 
in dem bezeichneten Alter die Erleinung dieser mechanischen 
Fertigkeiten, die Erlernung von 25 Lauten und deren Zeichen in 
einer erstaunlich kurzen Zeit und ohne geistige und körperliche 
Anstrengung, ohne Schaden an Leib und Scele von den Kindern cr- 
reicht werden kann. Es würden dann auch viele Kinder, die nach 
»zwei Jahren« das Ziel des 1. Schuljahres nicht erreicht haben und 
nun als »schwachbegabt« bezeichnet werden, der Hilfsschule fern- 


1) Zur Orientierung verweise ich auf das Schriftchen des Herausgebers der 
Täfelchen: Rektor Win. Hexck, Neue Bahnen im Elementarunterrichte. Selbst- 
verlag. Rothenditmold-Kassel. 0,40 M. 

2) Vergl. die Ausführungen Grımms über diese sogenannte »deutsche« Schrift 
im Vorwort zum Deutschen Wörterbuche. 


6 A. Abhandlungen. 


bleiben können. An Stelle des Schreibleseunterrichts mit seiner 
großen Anzahl von Lehrstunden, deren Erfolge in keinem rechten 
Verhältnis zu der aufgewandten Zeit und Mühe stehen, haben wir 
einen umfangreicheren Sachunterricht gesetzt, und zwar einen 
Unterricht in der freien Natur; mehr wert als das Schreiben ist uns 
die Bildung richtiger und reichlicher Sachvorstellungen. Diese sind 
jedem Menschen, erst recht dem schwachbegabten, im späteren Leben, 
für das wir ihn doch vorbereiten wollen, unentbehrlich, ja der Mangel 
derselben wäre ihm sogar schadenbringend, während das »Schön- 
schreiben« für ihn wohl ganz nützlich, aber doch entbehrlich ist. 
Wir sind mit Dissterweg der Meinung: »\Wenn du das Kind zum 
denkenden Sehen anleitest, so tust du viel mehr für dasselbe, als 
wenn du ihm das Lesen und Schreiben beibringst. Ein Lesen und 
Schreiben ohne Gedanken ist wertlos, aber ein wirklich sehendes 
Auge, ein wirklich hörendes Ohr und einen denkenden 
Geist hat jeder und in jedem Augenblicke nötig.« Aber wann 
wird diese Ansicht allgemein anerkannt werden! »Die Tradition, 
gleichviel ob sie berechtigt und verständig oder sinnlos und un- 
berechtigt ist, behauptet sich mit dem Bleigewichte des Beharrungs- 
vermögens, und der Kampf dagegen ist nicht gerade aussichtsvoll.« 
Warum wählen wir nun als Anfangsalphabet die lateinischen 
groen Druckbuchstaben? Wir sind nicht der Meinung, daß es »für 
das Erlernen des Lesens ganz gleichgültig ist, welches Alphabet zur 
Bezeichnung der Laute angewandt wird«. Uns Lehrern der Schwachen 
kann es nicht »ganz gleichgültig« sein, ob unsere Schüler die Laute 
durch sogenannte deutsche oder lateinische, durch Druck- oder Schreib- 
buchstaben bezeichnen lernen; bei der Aneignung der Lautzeichen 
spricht auch die Form derselben mit, und wir müssen uns fragen: 
welche Buchstabenform prägt sich dem schwachen Geiste am sicher- 
sten und leichtesten ein? Bei dem Nachdenken über diese Frage 
müssen wir, wenn wir die Eigenart unserer Schüler berücksichtigen, 
zu der Überzeugung kommen, daß von den acht Alphabeten, die 
unsere Schüler leider immer noch sich aneignen müssen, keines so 
einfache, klare und deutliche, dabei doch so charakteristische, 
untereinander so verschiedene (nicht zu verwechselnde) Fornen 
aufweist, als die großen lateinischen Druckbuchstaben. Wir fragen 
weiter: Aus welchem Alphabete, als dem ersten für die Erlernung 
des Lesens, lassen sich die übrigen, später noch zu erlernenden am 
leichtesten, deutlichsten und sichtbarsten ableiten? Schon die geschicht- 
liche Entwicklung der Schrift gibt uns die Antwort auf diese für die 
Methodik des ersten Lescunterrichts nicht unwichtige Frage: aus der 


Schutze: Der erste Lese- und Schreib-Unterricht in der Hilfsschule. 7 


Antiqua. Wir fragen noch weiter: Welche Buchstabenfornm bietet 
die meisten Apperzeptionshilfen, welche Buchstabenform gewährt 
die zur sicheren Einprägung unentbehrlichen, welche diemannig- 
faltigsten Übungen? Auch bei Beantwortung dieser wichtigen 
Fragen entscheiden wir uns für die Buchstaben des lateinischen 
Druckalphabets. Denn überall treten sie unsern Kindern in großen 
Lettern als Aufschriften an Häusern und Schildern, an Wagen, 
Karten und Bildern, in Büchern und Zeitungen entgegen. Ein 
charakteristisches Beispiel für unsere Behauptung erzählt uns Grass 
im 19. Jahrbuche des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik S. 233 
von seinem im 5. Lebensjahre stehenden Sohne, der mit Bauklötzen 


ein |— gelegt hat und fragt: »Papa, wie heißt der Buchstabe?« Auf 


die Frage des Vaters, woher er den Buchstaben kenne, antwortet der 
Knabe: »Ich habe ihn schon vielmal gesehen.« Als ich einst 
meinen Schülern in der Unterstufe der Hilfsschule (Klasse III) sagte, 
sie könnten jetzt malen, was sie am liebsten hätten, brachten mir 
mehrere ein Haus (»Kaufladen«) mit einem Schaufenster, worüber sie 
in richtiger Form lateinische große Druckbuchstaben gesetzt hatten, 
natürlich ohne das Wort aufgefaßt zu haben. Diese Beispiele von 
der leichteren Auffaßbarkeit der Form des genannten Alphabets 
könnte jeder Vater vermehren durch hierauf bezügliche Erlebnisse 
an seinen eigenen Kindern. Ferner möchte ich daran erinnern, daß 
die Blinden, wenn sie für schende Menschen etwas schriftlich dar- 
stellen wollen, sich ebenfalls dieses Alphabets bedienen. Warum 
wohl? Da wir die Formen auch »malen«, stellt der Schüler nicht 
etwa schriftlich andere Zeichen dar als er gelesen: ein Übersetzen 
dieser Formen in die Schreibschrift — das wäre cin komplizierterer 
physiologischer Prozeß — ist also nicht nötig. 

Und nun die mannigfaltigen Übungen zur Einprägung der 
Form: wir können die Buchstaben mit Stäbchen und Bogen legen, 
können sie in Ton formen, in Papier ausschneiden und aufkleben, in 
feuchten Sand schreiben, mit den Hexcxschen Buchstabentäfelchen 
vor uns auf den Tisch legen, an der Lesemaschine aufstellen, an die 
Wandtafel und in das Schreibheft »malen«. Mit welchem andern 
Alphabete lassen sich so verschiedenartige Übungen anstellen?! Sollten 
dieselben nicht beitragen zur festen und sicheren Einprägung der 
Form?! 

Der erste Schreihleseunterricht in seiner jetzigen Form stellt viel 
zu hohe Anforderungen 

1. an das mechanische Gedächtnis, 





S A. Abhandlungen. 
2. an das Formenauffassungsvermögen, 
>. an die manuelle Geschicklichkeit. 

Zu 1: Die heute so viel beklagte Überbürdung und die geistige 
Ermüdung mit allen ihren verderblichen Folgen für Leib und Seele 
der Kinder sind nur ein Ergebnis des in unsern Schulen noch 
mächtig herrschenden Intellektualismus: wir Schulleute berück- 
sichtigen bei der Erziehung der jetzigen Generation noch viel zu sehr 
die Bildung des Verstandes, des rein mechanischen Gedächt- 
nisses: wir glauben immer noch. die Vorstellungen, die wir über- 
mitteln wollen, kommen allein durch Worte zu stande; wir glauben 
genug zu tun, wenn wir Gehörs- und Gesichtssinn pflegen, wenn’ wir 
uns an sie wenden, wenn der Schüler mit diesen arbeitet. Und die- 
jenigen Erzieher, welche auf Grund ihrer gewonnenen Einsicht diesen 
Fehler vermeiden wollen, werden durch die Stofffülle der Lehrpläne 
und durch das Hinarbeitenmüssen auf äußerlich sichtbare Resultate 
für den Revisor zu einem solchen Unterrichte geradezu gedrängt. 
Diese einseitige Erziehung wird immer fühlbarer, darum erschallt 
immer lauter der Ruf: harmonische Ausbildung aller Kräfte! 

Durch den von uns beschrittenen Weg wollen wir nicht die 
ganze Arbeit von dem Gedächtnis und von dem schwachen Verstande 
des Schülers verlangen, sondern das, was der Verstand erwerben soll, 
soll er mit Hilfe von Sinnes- und Bewegungseindrücken erwerben. 
Es ist klar, daß die Aufnahme und Erwerbung, sowie das Fest- 
halten des Neuen ungenügend sein muß, wenn nur ein Sinn tätig 
ist, bei der Koordinierung mehrerer Sinne wird die Leistung 
schon besser sein, und das Höchste werden wir erreichen bei gleich- 
zeitiger Sinnesaufnahme und Bewegungsempfindung und 
-vorstellung. Die Welt unseres ganzen geistigen Lebens 
baut sich auf aus Sinnes- und Bewegungseindrücken. Der 
Schüler wird darum leichter, schneller und sicherer lernen, wenn er 
nicht bloß anschauend durch Auge und Ohr mit dem Gedächtnis 
aufnimmt, sondern wenn er selbsttätig nachbildet und darstellt, 
wenn er nicht nur »passiver Empfänger«, sondern »aktiver 
Produzent« ist, wenn seine Hände mitarbeiten zum Nutzen des 
Geistes, wenn zum Unterrichte des Lehrers die praktische 
Tätigkeit des Schülers kommt. Es entspricht diese Art und Weise 
des Unterrichts auch mehr der Eigenart des Kindes; denn dasselbe 
ist mehr noch als der Erwachsene ein tätiges, ein handelndes 
Wesen, weil es noch nicht, wie der Erwachsene, gelernt hat, seine 
Worte, Bewegungen und Handlungen zu unterdrücken. 

Erst durch die handelnde Darstellung findet die Anschauung 


SchuLzE: Der erste Lese- und Schreib-Unterricht in der Hilfsschule. a) 


ihre Vollendung. Man hat deshalb nicht mit Unrecht den Be- 
wegungs-, den Tastsinn als den Ursinn alles geistigen Lebens 
bezeichnet. »Die Gesichtsvorstellungen entwickeln sich bei Kindern 
unter dem deutlichen Einflusse der Tast- und Bewegungsempfindungen. 
Die Tastempfindungen sind die nachdrücklichsten und in praktischer 
Beziehung die wichtigsten Empfindungen: daher übersetzen wir den 
Inhalt des Gesichts- und Gehörsinnes in die Sprache des Tastsinnes: 
kalte, warme, glühende, weiche, zarte Farben: weicher, harter, scharfer, 
rauher, zarter, runder Ton.«1) Natürlich müssen wir bei der Aus- 
nutzung der angeführten Tatsachen für unseren Unterricht immer be- 
rücksichtigen, daß viele Gesichts-. Tast- und andere Vorstellungen, 
die uns Erwachsenen wohl sehr einfach erscheinen, vom Geiste des 
Kindes, besonders des schwachbegabten Kindes, erst allmählich er- 
worben werden. 

Aus dem Vorstehenden wird klar geworden sein, von welcher 
wichtigen Bedeutung für die geistige Entwicklung des Kindes der 
von der pädagogischen Psychologie bis jetzt so gut wie vergessene 
Bewegungssinn ist, von einer Bedeutung, die ein Erzieher nicht 
unterschätzen sollte! »Die Hand ist in einem gewissen Sinne dem 
Gehirn niemals so nahe wie jetzt; die Kenntnisse wollen sich in 
dieser Periode praktisch zeigen, und die Muskelentwicklung bildet 
zu keiner andern Zeit eine solch wichtige Bedingung für das 
Geistige.« 

In welchem Umfange nun neben den Gesichts- und Gehörs- 
vorstellungen auch der Tastsinn und die Bewegungsvorstellungen nach 
dem im 1. Teile geschilderten Lehrgange Anteil am Lesenlernen 
haben. wird man jetzt erkennen. 

Die von uns angewandte Methode wird sich im weiteren Fort- 
gange des Unterrichts zu dem entwickeln, was man gemeinhin jetzt 
als »Handarbeitsunterricht« versteht, natürlich nicht in dem Sinne 
als Fach, in dem die meisten Anhänger dieses Unterrichts das Wort 
verstehen, sondern als Unterrichtsprinzip,?) wie ich bei Beratung 
des Themas über »Handfertigkeitsunterrieht in der Hilfsschule« auf 
dem III. Verbandstage in Augsburg angedeutet habe. 

Zu 2: Haben wir uns bei dem heutigen Betriebe des ersten 
Schreiblescunterrichts schon einmal klar gemacht, welche gewaltigen 
Anforderungen wir an das Formenauffassungsvermögen des 


1) W. A. Lay, Führer durch den Rechenunterricht. 
?) Vergl. hierzu die ganz in meinem Sinne gehaltenen Ausführungen von 
Max EsperLix, »Erziehung durch Arbeit« in den Blättern für Knabenhandarbeit 1903. 


10 A. Abhandlungen. 


kleinen ABC-Schützen stellen? Haben wir Lehrer der Schwachen 
uns schon ernstlich die Frage zu beantworten gesucht, warum unsere 
Schüler die uns so einfach erscheinenden Formen der deutschen 
Schreibschrift während ihres zwei- und mehrjährigen Aufenthalts in 
der Volksschule nicht erlernen konnten? Was haben wir getan, um 
unseren Schülern die Sache einfacher und leichter zu gestalten? 
Was konnten wir dazu tun? Nichts weiter als üben, und stets nur 
dieselbe Übung: Schreibt die Tafel voll! Auslöschen! Noch ein- 
mal! Auslöschen! Immer noch einmal! So geht es fort einen Tag wie 
den andern, bis durch diese Quälerei auch das wenige noch vorhan- 
dene Interesse vollständig ertötet ist. Und nun vergleiche man 
damit die Anforderungen, die durch den vorgeschlagenen Lehrgang 
an das Formenauffassungsvermögen unserer Zöglinge gestellt werden: 
1. Die Leichtigkeit der Formen der großen lateinischen Druck- 
buchstaben z. B. V, H, K, A, Z, R, P, G, gegenüber den Schwierig- 
keiten der deutschen Schreibschriftformen 
s Jo > , 3 > Jo GE 

2. Die mannigfaltigen Übungen zur Aneignung der Formen der 
großen lateinischen Druckbuchstaben gegenüber den geisttötenden 
Übungen zur Befestigung der deutschen Schreibschriftformen: Durch 
das Legen der Buchstaben mit Stäbchen und Bogen, durch das Formen 
in Ton, durch das Ausschneiden usw. werden die Schüler geübt 
im richtigen Beobachten und Wahrnehmen; sie werden durch diese 
verschiedenartigen Tätigkeiten zu einer genauen Auffassung der Form 
geradezu gezwungen; denn dieselbe wird sich in der Vorstellung um 
so reiner, deutlicher und stärker bilden, je vielseitiger die An- 
schauung und je mannigfaltiger die Übung ist. ZILLER weist auf 
die große Bedeutung solcher vorbereitenden Tätigkeit für den Unter- 
richt hin, wenn er in seiner »Grundlegungs sagt: »Das ist auch 
nicht der geringste Vorzug des Ancinanderreihens aufgequollenener 
Erbsen, des Formens aus Ton, des Ausschneidens, Faltens, Flechtens, 
Bauens, Klebens, Durchstechens, Ausnähens und ähnlicher Frögenschen 
Arbeiten, die zu den ersten Übungen im Auffassen der Gestalt 
und im Augenmaße gehören und eine notwendige Vorstufe für 
scometrie, Zeichnen, Gcographie und Schreiben bilden, daß sie so 
leicht im übrigen Leben der Zöglinge fortwirken, daß sie sich so 
leicht in deren Spiele, m deren Unterhaltungen, in das die 
Kindheit Bewegende und Treibende verflechten und dadurch 
die Einheit des Bewußtseins begünstigen.« Um wieviel sicherer 
wird »das Auffassen der Gestalt« erfolgen, um wieviel mehr werden 


SCHULZE: Der erste Lese- und Schreib-Unterricht in der Hilfsschule. 11 


wir »die Einheit des Bewußtseins begünstigen«, wenn wir diese 
spielenden und unterhaltenden Tätigkeiten mit den Buchstaben selber 
vornehmen! Und dann wird es dem Schwachen auch nicht schwer 
fallen, die auf die mannigfachste Weise eingeprägte Form zu »schreiben«: 


|— \/ ( ) |, die wir alle, 
der natürlichen Richtung entsprechend, von oben nach unten ziehen, 
lassen sich sämtliche Buchstabenformen des vorgeschlagenen Alphabets 
schreiben. 

Zu 3: Die Schreibfertigkeit unserer Kinder ist zum großen Teile 
doch nur deshalb so mangelhaft, weil die Ausbildung der Hand- 
geschicklichkeit!) versäumt worden ist: sie sind für ihr ganzes 
Leben schlechte Schreiber, weil die bei den frühzeitigen Schreib- 
übungen gebrauchten, in der Ausbildung begriffenen, feineren Muskel- 
gruppen überanstrengt werden. Die Grundlagen der Schreib- 
fertigkeit und einer schönen Schrift sind der Zeichenunterricht 
und systematisch geordnete Bewegungsübungen. Auf die grund- 
legende Bedeutung des Zeichenunterrichts für das Schreiben hat 
Trürer im Evangelischen Schulblatt schon im Jahre 1884?) hingewiesen; 
ich kann deshalb von diesem Nachweise abschen, um mehr die 
Wichtigkeit der Bewegungsübungen und der Ausbildung der manuellen 
Geschicklichkeit zu betonen. Es ist unpsychologisch, wenn wir durch 
unseren Unterricht nur den Geist bilden und die Bildung des Kör- 
pers und seiner Glieder, besonders der Hände, vernachlässigen oder 
höchstens die Bildung der letzteren im Turn- und Handfertigkeits- 
unterrichte neben der Geistesbildung anstreben, wenn wir bei der 
Erziehung der jungen Menschenkinder die Tatsache unberücksichtigt 
lassen, daß Geist und Körper in ihrer Entwicklung sich gegenseitig 
bedingen, wenn wir die Ausbildung der motorischen Zentren des 
Gehirns versäumen. Diese Versäumnis muß der Erwachsene unter 
vielen Mühen nachholen, unter vielen Mühen, weil die günstigste 
Zeit für die Entwicklung und Ausbildung der Gehirmzentren, welche 
die Muskelbewegungen «der Hände dirigieren, ungefähr in das 3. bis 
15. Lebensjahr fällt. Während dieser Zeit können wir durch richtige 
Erziehung die motorischen Zentren des Gehirns zu ciner Voll- 
kommenheit entwickeln, die in einer späteren Lebensperivode nie zu 


mit sechs verschiedenen Linien 





t) Das Folgende ist inhaltlich verwandt und wird sich zum Teil decken mit 
den Ausführungen, die ich zu Absatz 1 über »Bewegungsvorsteilungen« gemacht 
habe; ich bitte die Leser, das dort Gesagte hierbei nochmals in Erwägung zu ziehen. 

2) In der Abhandlung: »Fundamentalsätze für den Zeichenuuterricht, vom 
Standpunkte des erziehenden Unterrichts« in Heft 4—9. 


m 


12 A. Abhandlungen. 


erreichen ist. Darum werden Erziehung und Unterricht am 
natürlichsten und damit auch am leichtesten und schnell- 
sten in enger Verbindung mit der Bewegungstätigkeit vor 
sich gehen. Aus diesem Grunde sollten Handtätigkeit und Bewegung 
für jedes Kind, besonders für das schwachbegabte, wichtige Erziehungs- 
mittel sein, ebenso wichtige, wie die Übung von Auge und Ohr, und 
eine ungeschickte Hand sollte als ein ebenso großes Gebrechen an- 
gesehen werden wie ein ungeübtes Auge und Ohr. 

‚Wenn wir erwägen, daß die Muskelerziehung größtenteils der 
geistigen Erziehung vorausgehen sollte, insbesondere seitdem man das 
Denken als eine unterdrückte Muskeltätigkeit aufzufassen beginnt, 
und wenn wir uns an das wichtige Gesetz erinnern, daß alle Kräfte 
entwickelt werden, che sich die Fähigkeit zu deren Beherrschung 
oder Hemmung entfaltet. 1) so müßten wir doch unbedingt eine Än- 
derung unserer bisherigen Methode, bei der wir diese Tatsachen un- 
berücksichtigt lassen, fordern. Wir können uns weiter der Erkennt- 
nis nicht verschließen, daß ein Unterschied besteht zwischen den 
fundamentalen Bewegungen und den feineren, späteren, äußerlichen, 
accessorischen, daß die motorische Tätigkeit sich zuerst in den 
größeren und später in den kleineren Muskeln entwickelt, daß die 
größeren Muskelgruppen leichter zu beherrschen sind als die kleineren. 
Auch nach diesen physiologischen Gesetzen sollten wir unsere Lehr- 
methoden berichtigen. Auf den ersten Schreibunterricht angewandt 
würde das bedeuten: zuerst vorbereitende Übungen wie Zeichnen 
(besonders an der Wandtafel) und verschiedene FrögeLsche Tätig- 
keiten. dann Buchstabenformen mit einer Länge innerhalb 
zweier Linien, senkrecht stehend, mit derselben Muskel- 
bewegung und mit derselben Muskelanstrengung zu »malen« — 


die lateinischen großen Druckbuchstaben — und endlich das eigent- 
liche Schreiben einer Schriftform, die den angeführten psychologischen 
und physiologischen Gesetzen entspräche — vollständige Neuform 


unserer jetzigen Schrift. Das wären Vorteile, die für das Schreiben 
unserer Schwachbegabten, welche noch dazu häufig an Bewegungs- 
schwächen oder Bewegungsstörungen leiden, nicht zu gering an- 
zuschlagen wären. 

Wohl hört man oft davon reden, daß die Schüler, besonders 
unsere schwachen Schüler, mehr zur Selbsttätigkeit angeregt 
werden sollen.?2) Aber haben wir mit diesem Grundsatze in unserer 


') G. STASLEY lIarı-Stınrrt, Ausgewählte Beiträge zur Kinderpsychologie und 
Pädagogik. 
2) Vergl. Kinderfehler Jahrgang II, S. 104. 


SchuzzE: Der erste Lese- und Schreib-Unterricht in der Hilfsschule. 13 


Methodik wirklich Ernst gemacht? Es ist das Verdienst TrÜrERs, des 
Vereins für Kinderforschung und des Evangelischen Diakonievereins, 
die Selbsttätigkeit als Unterrichtsprinzip nachdrücklich betont zu 
haben. Nur in der Schule werden die Kinder freudig arbeiten. in 
der ihnen zur Selbsttätigkeit reichlich Gelegenheit gegeben wird; 
denn erst durch das Selhsttätigsein erhält das Kind klare Vorstel- 
lungen und damit größeres Interesse und höhere Freude am Unter- 
richt. Die alte pädagogische Forderung: Unterrichte interessant! läßt 
sich am sichersten erfüllen, wenn der Lehrer in seinem Unterrichte 
den Kindern oft Anlaß zum Selbsttätigsein bietet, andrerseits wird 
sie eine allgemeine Redensart, ein pädagogisches Schlagwort bleiben. 
Besonders im ersten Sprech-, Schreib- und Leseunterricht sollte dieser 
Grundsatz Geltung haben; doch »wenn irgendwo, so fehlt gerade auf 
diesem Gebiete noch sehr die Durchführung des Grundsatzes der 
Selbsttätigkeit in irgend einer Form.« Diese Anklage wird hinfällig, 
wenn man den ersten Sprachunterricht und seine einzelnen Zweige 
nach dem im vorstehenden gekennzeichneten Lehrgange erteilt. 

Wir haben viel über Zerstreutheit, Unaufmerksankeit 
und Interesselosigkeit unserer Zöglinge im Schreibleseunterrichte 
zu klagen. Und doch sollten wir uns über diese Untugenden nicht 
wundern, so lange wir Ruhe, Stillesitzen und Händefalten als höchste 
Tugenden der Schüler preisen. Dazu kommt noch, daß das Ge- 
dächtnis unserer Schwachen für die Lautklangbilder, für die Sprech- 
bewegungsvorstellungen der Laute und für die Schreibbewegungs- 
vorstellungen der Lautzeichen oft nicht stark genug ist, um die Re- 
sultate festzuhalten, daß infolgedessen Interesselosigkeit, Abneigung 
und Widerwille unbedingt entstehen müssen. Warum schlagen wir 
nun nicht neue Wege ein, auf denen wir diese »Kinderfehler« ver- 
hüten können? Ich habe mich überzeugt, daß die Aufmerksamkeit der 
Schwachbegabten intensiver und die im Unterrichte empfangenen Ein- 
drücke bei ihnen tiefer und dauernder sind, wenn wir sie selbst- 
tätig, durch eigene Erfahrung, »handgreiflich« lernen lassen, 
wenn wir den ihnen innewohnenden Bewegungstrieb richtig benutzen. 
Da die Muskeltätigkeit von der Aufmerksamkeit begleitet wird, be- 
gleitet sein muß, so beugen wir durch die mehrfachen Betätigungs- 
übungen der Unaufmerksamkeit vor und erzielen Unterrichtsresultate, 
die wir auf dem bisher beschrittenen Wege nie erreichen konnten. 
Man muß erlebt haben, mit welcher Aufmerksamkeit jedes Kind, 
selbst das aufgeregte und zerstreute, den Buchstaben oder das Wort 
richtig legen und zuerst damit fertie werden will! In der Vorstulen- 
klasse sitzen vier Kinder, die bis dahin noch keine Schule besucht 


14 A. Abhandlungen. 


haben: mit welchem Interesse, mit welcher Lebendigkeit haben diese. 


vier gearbeitet! Und die andern Kinder, die mit dem Quark der Fibel 
und mit den langweiligen, uninteressanten Schreibübungen schon ein-, 
zwei- und mehrmal gequält wurden, sollten sie das Neue jetzt nicht 
interessant finden? Die Erfahrung hat es gezeigt. Auch das wäre ein 
Grund, den vorgeschlagenen, von dem Althergebrachten abweichenden 
Lehrgang an der Hilfsschule einzuführen. 

Durch diesen Lehrgang glauben wir auch der besonders in 
unseren Kreisen mit Recht so oft betonten Forderung gerecht zu 
werden: Berücksichtige die Individualität deiner Schüler! Durch 
dieses mehr spielende Lernen, durch das Selbsttätigsein der Kinder, 


durch das Hinausschieben des eigentlichen Schreibens glauben wir 


uns mehr der leiblichen und geistigen Eigenart unserer Schüler an- 
zupassen, als das durch den bisherigen Unterrichtsbetrieb möglich 
war. Durch die Tätigkeit wird auch die Begabung der Kinder, die 
man sonst für beschränkt hielt, ins rechte Licht gestellt; es gibt 
Kinder, die dem alten Gedächtniskram wenig Interesse entgegen- 
bringen, weil derselbe nicht ihrem Wesen entspricht, die aber scharfe 
Augen, große Geschicklichkeit und lebhaftes Interesse zeigen, sobald 
sie tätig sein können. Durch Tätigsein wird die Individuali- 
tät entwickelt, sie wird offenbar, und der Lehrer kann sie 
berücksichtigen. 

Bei unserem Lehrgange kann selbst der Schwächste mit, dadurch 
wächst ihm der verloren gegangene Mut; er ist mit »Lust und 
Liebe« bei der Sache, weil er fühlt, daß er den Anforderungen, die 
der Lehrer an ihn stellt, gewachsen ist. Es ist dies dieselbe Er- 
fahrung innerhalb der Hilfsschule, die wir jedes Jahr bei der Auf- 
nahme unserer Kinder von der Volksschule her machen: die dort 
aus mancherlei Ursachen verschüchterten, unbeachtet gebliebenen 
und zurückgestoßenen Kinder merken bei uns bald, daß sie doch 
nicht so »dumm« sind als man sic glauben machen wollte, sie »tauen 
auf«e. Diesen sittlichen Gewinn sollten wir nicht gering achten, 
Wie viele Schüler haben wir nicht, die durch Worte ihres früheren 
Lehrers, durch Spott der besser beanlagten Mitschüler und durch 
falsche Behandlung unverständiger Eltern Mut und Vertrauen zu 
sich selbst verloren haben! Sollten wir nicht jedes Mittel, das den 
hedauernswerten Geschöpfen diese Eigenschaften zurückgibt, mit 
Freuden begrüßen?! 

Kurz erwähnen möchte ich noch, daß durch das Tätigsein mit 
den Beschäftigungsmitteln auch der Sinn für Ordnung, die Acht- 
samkeit, das gegenseitige Helfen und Raten gefördert werden. 


SCHULZE: Der erste Lese- und Schreib-Unterricht in der Hilfsschule. 15 


Mit dem Lesen- und Schreibenlernen im engsten Zusamme.u- 
hange steht nun die Frage nach einem geeigneten ersten 
Schulbuche für die Hand unserer Kinder. Es sei mir daher 
gestattet, dies Thema zum Schluß zu berühren, zumal ich glaube, mit 
dem von mir eingeschlagenen Wege auch die Fibelfrage zufrieden- 
stellend gelöst zu haben. In den heute gebräuchlichen Leselehrmethoden 
herrscht noch unumschränkt der Verbalismus, »der nicht den Schwach- 
sinn und die Ideenflucht bei Schwachsinnigen bessert, sondern sie 
vermehren muß,« der den jeweiligen Standpunkt des kindlichen Geistes 
und Körpers mißachtet oder gar mißhandelt. Die meisten Stoffe der 
ersten Schulbücher gehen über den Anschauungskreis und über die 
Entwicklung des Verstandes, des Interesses und der Fassungskraft 
des Schülers hinaus, sie setzen bei ihm eine Kenntnis voraus, die er 
nicht besitzt, nicht besitzen kann und machen dadurch unseren 
Unterricht zu einem bloßen Wortkram. Besonders für die Kinder 
der Großstadt ist die Gefahr unzuverlässiger Voraussetzungen eine 
große, weil der Hauptinhalt ihrer Fibeln nach altem Herkommen aus 
dem Landleben entnommen ist. Beispiele zum Beweise unserer Be- 
hauptung finden sich in jeder Fibel. Das oberflächliche, gedanken- 
lose Lesen, das cin besonderes Zeichen unserer Zeit ist, ist die Folge 
des im 1. Schuljahre mit den Fibeln beginnenden Lesens nicht- 
verstandener Begriffe. Die Sprache der Fibel an sich betrachtet, ist 
auch nicht die Sprache der Kinder, sondern die Sprache der Er- 
wachsenen oder wohl gar die gezierte Phrasensprache der Buch- 
und Zeitungsschriftstellerei. Man findet sogar Fibeln und Sprach- 
bücher, welche die Sprache als solche zu lehren versuchen, losgelöst 
von Gegenständen, Handlungen und der konkreten Wirklichkeit und 
Wahrheit. Wie widersinnig! Sollte man nicht schon durch den Aus- 
druck »Sprachunterricht< darauf kommen, daß dieser Unterricht 
sich an das lebendige, »gesprochene« Wort wenden muß! Die 
mangelhaften Ergebnisse des Sprachunterrichts sind zum größten 
Teile die Folgen dieser papiernen Spracherlernung. 

Triper hat in seinen Schriften »Die psychopathischen Minder- 
wertigkeiten im Kindesalter und »Die Schule und die sozialen 
Fragen«, sowie an verschiedenen Stellen dieser Zeitschrift oft mit 
scharfen Worten auf diese Mängel im heutigen Sprachunterrichte hin- 
gewiesen, doch wie es scheint, bisher ohne Erfolg: jede neu erschie- 
nene Fibel liefert den Beweis. Warum leiden nun trotz der vielen 
Hinweise noch alle Fibeln mehr oder weniger an diesen Fehlern? 
Weil jede Fibel, sobald ihr Lehrgang abhängig gemacht wird von der 
Sprechschwierigkeit und leichteren Verbindbarkeit der Laute, von der 


16 A. Abhandlungen. 





Schreibschwierigkeit der Buchstaben, von der Schreibweise der Laut- 
entwicklungswörter u. s. w., nicht anders sein kann. Darum: Los 
von der Fibel! Wir brauchen keine Fibel für den ersten Lese- und 
Schreibunterricht! Wir wollen nicht schon den ABC-Schützen an ein 
Buch fesseln! Das lebendige Kind soll uns alles, das Buch soll 
uns nichts sein! Jeder Lehrer macht sich seinen Gang für den 
Schreibleseunterricht selber und zwar im Anschluß an den übrigen 
Unterricht und in engster Verbindung mit ihm. Nur auf diese Weise 
können wir die von einer psychologisch-richtigen Lehrplantheorie auf- 
gestellten Grundsätze, nach welchen für alle Uhnterrichtsfächer eine 
innige Verbindung zu einer organischen Gedankeneinheit 
verlangt wird, durchführen. Im Lehrplane jeder Schule sollte auf 
jeder Stufe das Sachliche, nach psychologischen Gesichtspunkten 
geordnet, die Grundlage bilden und das Systematische daran sich an- 
lehnen. Das letztere sollte niemals einen selbständigen Gang an- 
nehmen oder wohl gar das Sachliche beherrschen. Diese Wahrheit 
gilt auch für den ersten Lesc- und Schreibunterricht und für die 
Fibeln. Wir bieten darum unseren Kindern, unseren schwachen 
Kindern, nicht ein Sammelsurium von unverdaulichen Worten aus 
allen möglichen Sachgebieten, sondern wir bleiben in dem zur Zeit 
behandelten Sachgebiete und lesen Wörter, die im Anschauungskreise 
des Kindes wirklich liegen und eben jetzt im Vordergrunde des In- 
teresses stehen. Alles, was das Kind liest, ist ihm durch den Unter- 
richt bekannt, interessant und lieb geworden. Ich verstehe nicht, 
wie Kritiker von Fibeln jene Kollegen, die als Lesestoff nur Wörter 
aus dem Anschauungskreise der Kinder verlangen, als » Anschauungs- 
fanatiker« verurteilen können, Kritiker, die da behaupten, eine Fibel 
sei zum »Lesenlernen« da, sie sei nicht ein Leitfaden für den An- 
schauungsunterricht. Das ist's ja eben, was jene wollen, nur daß sie 


aus dem Prinzip einen richtigen Schluß ziehen, während diese Rezen-. 


senten den falschen Schluß tun: weil die Fibel ein Buch nur zum 
Lesenlernen ist, dürfen die unsinnigsten Wörter darin stehen; denn 
es kommt nur auf das Lesenlernen, auf das Zusammenziehen der 
Laute an. 1) Ein alter pädagogischer Grundsatz lautet: Immer nur eine 


1) Buchstaben zusammenzulesen, kann doch wohl höchstens Mittel zum Zweck 
sein. Das Kind soll lernen, mit Hilfe der Buchstaben Gedanken zusammenzu- 
lesen, den Inhalt zu sammeln, und zwar von vorneherein. Aus einem Papageien 
wird nie ein denkender Mensch. Wie zu den Zeiten des St. Paulus tötet noch 
immer der Buchstabe, und auch noch heute ist es nur der Geist, der Inhalt, der 
lebendig macht. Er muß darum auch überall im Unterrichte die Buchstaben be- 
herrschen, nie umgekehrt. Trüper. 


ScHhuLzE: Der erste Lese- und Schreib-Unterricht in der Hilfsschule. 17 





Schwierigkeit auf einmal! Sollte er nicht gelten für den ersten Lese- 
unterricht? Ist es nicht richtiger, dem Kinde, das lesen lernen soll, 
also Wortbilder neu in sich erzeugen soll, zuerst nur Bilder von 
solchen Wörtern zu geben, die ihm durchaus geläufig sind, die 
es selbst in seiner Sprache gebraucht?! Ist es nicht an- 
gemessener, wir sorgen dafür, daß jedes gelesene Wort unserer 
Sprache in den Geist des Kindes so eingefügt wird, daß es wirklich 
die entsprechenden Anschauungen damit verbindet und vorstellt, daß 
jedes Wort dann überliefert wird, wenn die dadurch bezeichneten 
Dinge, Eigenschaften, Vorgänge vom Kinde mit Interesse angeschaut 
werden, wenn im Kinde ein Bedürfnis nach eben diesem Worte er- 
zeugt wird?! Das Sprachverständnis ist das Hauptmittel zur 


Sprachaneignung. Wir können doch nicht vom Kinde — vom 
schwachsinnigen Kinde — neben der Erschaffung eines neuen W ort- 


bildes auch noch die Erzeugung einer neuen Vorstellung ver- 
langen! In den Lesetexten wird die vom Kinde gesprochene Sprache 
nur wiedergegeben, nicht etwa weitergeführt. Erst auf einer 
späteren Stufe suchen wir durch den Lesestoff auch neue Begriffe 
zu entwickeln und neue Wörter einzuführen. ?) 

Wie erlangen wir nun Kenntnis von der vom Kinde gesprochenen 
Sprache, von seinem sprachlichen Standpunkte? »Was wir nötig 
haben und in der Tat aller Wahrscheinlichkeit nach bald besitzen 
werden, das sind sorgfältig angeordnete Kinderwortschätze über die 
Formen und die Bedeutung der Wörter, um den Lehrern die Laut- 
elemente und Lautverbindungen, mit welchen sich die Kinder anı 
meisten abzumühen haben, dann die Wörter, welche sie am schnellsten 
und sichersten erwerben, ferner die Zahl und Reihenfolge der Wörter 
in jedem Gedankenkreise, und endlich die Attribute und Bedeutungen, 
welche sie am meisten verwirren, zu zeigen.«?) Dies gewissenhafte 
Forschen und Sammeln ist nötig, weil die Kinder nicht etwa, wie 
die Fibelfabrikanten zu glauben scheinen, kleine Erwachsene sind mit 
denselben Fähigkeiten, mit denselben Gefühlen und Trieben, mit den- 
selben Interessen, nur in verkleinertem Maße, sondern weil sie einzig- 
artige, von uns Erwachsenen nach dieser Seite hin ganz verschiedene Ge- 
schöpfe sind. Wohl beobachten wir auch bei dem Kinde, wie bei dem 
Erwachsenen, eine Abgrenzung und Anwendung der Begriffe, aber die- 
selbe ist eine ganz andere als die, welche wir uns angeeignet haben. 
Denn während die Begriffe bei uns scharf abgegrenzt sind, faßt sie das 


1) Vergl. die Schriften von DertuoLDb Orrto. 
?) HarL-Stiuert, Beiträge usw. 


Die Kinderfehler. IX. Jahrzanr. 4 


IS A. Abhandlungen. 


Kind oft viel weiter, so daß es ihm möglich wird, auch das auszudrücken, 
was ihm wegen Mangel an Wörtern von unserem Standpunkte aus 
nicht gelingen würde. Diese individuelle Wortbedeutung sollten 
wir erforschen und im ersten Leseunterrichte nicht unbeachtet lassen. 


Wir sollten beobachten, welche Wörter es am häufigsten gebraucht, 


welehe Ausdrücke es richtig oder falsch anwendet, welche eigentüm- 
lichen Ausdrücke es benützt, wie es seine Sätze formuliert; wir 
sollten diese Inhalte, Gedankengänge und Formen der kindlichen 
Sprache studieren bei Kindern, wenn sie im Selbstgespräche und 
wenn sie im Gespräche mit andern Kindern sind. Gelegenheit dazu 
bieten das Schulleben, die Lehrspaziergänge und die Beobachtung der 
eigenen Kinder. Dabei werden wir erkennen, daß »die Entwicklung 
der Sprache bei dem normalen Kinde nicht regellos geschieht, weder 
in Hinsicht auf ihr Hervortreten im Laute (Sprechen), noch, was ich 
hier besonders im Auge habe, hinsichtlich ihres Aufbaues, wie der- 
selbe stufenweise nach Inhalt und Form vor sich geht. Die Ent- 
wicklung der Sprache des normalen Kindes ist ein Naturprozeß, der 
aus ureigener Kraft hervorgerufen wird und sich ohne jede Vermitt- 
lung vollzieht.<c Auch ohne jede gewaltsame Vermittlung der Fibel- 
fabrikanten. Für uns Lehrer der Schwachen wäre die Forscherarbeit 
noch zu erweitern, da wir auch die Ergebnisse der Erforschung der 
Sprachentwicklung bei anormalen Kindern zu berücksichtigen hätten. 

Woher nehmen wir nun unsere Lesetexte, wenn wir die Fibel 
aus der Schule verbannen? Wir lassen sie durch die Arbeit der 
Kinder an der Wandtafel entstehen. Die Stoffe dazu bieten der 
übrige Unterricht, die Lehrspaziergänge, die Erlebnisse der Klasse 
und auch, wenn der Gegenstand allgemein interessiert, Erlebnisse des 
Einzelnen. Wir werden niemals über Mangel an Stoffen in Verlegen- 
heit sein, denn es ist auch hier »das Leben in seiner reichen, 
wechselnden Mannigfaltigkeit, welches die erste Sprache schafft, es 
ist das Leben, welches das schöpferische Werde! spricht.« Dabei 
kommt der geistige und besonders der sprachliche Standpunkt des 
Kindes und die von seiner Natur verlangte beeriffliche Bearbeitung 
aller Anschauungen sehr deutlich zum Ausdruck. Diese Art des 
Entstehenlassens der Texte werden wir nicht nur auf der Fibelstufe 
anwenden, sondern auf allen Altersstufen fortsetzen, und wir kommen 
auf diese Weise zu Lesebüchern, die dem jeweiligen Standpunkte 
unserer Kinder, ihrem Verstande, ihrer Fassungskraft, ihrem Interesse 
wirklich entsprechen. (Man vergl. die Bestrebungen BsrTHoLD Orros 
in den Hauslehrerschriften: Altersmundarten.) Für die Schüler ist 
die Bearbeitung der Lesetexte zugleich eine gute Vorbereitung auf 


ScHuzzE: Der erste Lese- und Schreib-Unterricht in der Hilfsschule. 19 





die spätere selbständige Abfassung derselben, und ich verspreche mir 
bei Durchführung dieses Prinzips auf allen Stufen große Vorteile für 
den Aufsatzunterricht der oberen Stufe. Man wird überrascht sein, 
mit welchem Interesse, mit welchem Wetteifer auch der Schwächste 
an der Gestaltung der Texte arbeitet, welche Resultate der Unterricht 
zeitigt, da auch hier die psychologische Wahrheit gilt, daß aller 
Unterricht um so packender und erfolgreicher ist, je mehr 
er sich an das lebendige, an das gesprochene Wort hält. 
»Die Muttersprache wird die Vermittlerin fast des ganzen Unterrichts 
dieser Periode sein; sie muß es aber auf dem kurzen Kreislauf vom 
Ohr zum Munde sein, welches unbekannte Zeitalter lang vor dem 
Schreiben oder Lesen existierte, aber nicht der Hauptsache nach auf 
dem langen Kreislauf und biologisch ganz neuen Gehirnpfad vom 
Auge zur Hand. Die Lehrer preisen die schriftlichen Haus- und 
Schulaufgaben; all diese wenden sich aber an die neuen und un- 
entwickelten Fähigkeiten der Nerven und Muskeln. Weil wir auf 
solchen, zu dieser Zeit noch unzuverlässigen Grundlagen ein gutes 
Deutsch aufbauen wollen, gibt es so viele berechtigte Klagen über 
ein schlechtes Deutsch. Durch die Verfrühung ruinieren wir sowohl 
die Handschrift als auch das idiomatische Sprechen. Das Kind sollte 
in einer Welt der Lautsprache leben. Es sollte jeden Tag stunden- 
lang hören und sprechen; dann könnte es die Fundamente für ein 
reines und richtiges Deutsch legen und das Schreiblesen dem Hören 
und Sprechen unterordnen, wie es sich gehört. Es würde schreiben, 
wie es spricht, und wir würden dem Greuel der Büchersprache ent- 
rinnen.« !) 

Nach diesen Ausführungen vergleiche man den Lesestoff, den 
die Schilder nach dem neuen Lehrgange z. B. im Monat Dezember 
mit seinen den Kindern überaus naheliegenden ethischen und realisti- 
schen Gebieten erarbeitet und gelesen haben, mit dem durch den 
Lehrgang der Fibel gebotenen Übungsstoff, bei dem man zur Weih- 


nachtszeit vielleicht zu den Buchstaben - Pi und 2 gckommen ist. 


Lesestoff nach dem neuen Lehrgange: 


JE SUS, KIND LEIN, MUT TER, MA RI A, JO SEF, 
HIR TEN, FEL DE, HEU, WIN DELN. 

TAN NE, ZE DER, WIN TER ZEIT, ZEN SUR. 
KÖR BE, KET TEN, ZUK KER, RO SI NEN. 


!) HarL-Stiurt, Beitiäge usw. 


20 A. Abhandlungen. 


PUP PE, WA GEN, SOL DA TEN, REI TER, BU REN. 
PELZ, JOP PE, JAK KE, KAP PE. 

Lesestoff nach der in der Hallischen Hilfsschule benutzten Fibel 
von STEGER und \WVOHLRABE: 


Ba E E nu 20 


ae 


Be ua, DI a a pe es 
u A er 
BER AU famy E E 2 T di 


"e F E 


Auch im weiteren Verlaufe des Unterrichts nach dem Lehrgange 
der Fibel, bei Einführung der kleinen Druckschrift sowohl, wie auch 
der großen Schreib- und Druckschrift, kann von einem geistig an- 
regenden Material, von wirksamen Konzentrationsbildern niemals die 
Rede sein, während der neue Lehrgang durch Einführung der kleinen 
lateinischen Druckschrift (bei mir vom 2. Jahre ab) das Selbstbilden 
und Lesen von Sätzen ermöglicht, die dem Anschauungskreise der 
Schüler entnommen sind, ihrer Ausdrucksweise, ihrer Sprechfertigkeit 
und Sprachbildung entsprechen; in engster Beziehung zum Lesen- 
und Schreibenlernen stehen auch hier wieder, wie überall, die Be- 
tätigungsübungen, die nach der hergebrachten Lehrmethode infolge 
des gekennzeichneten Mangels natürlicherweise gelähmt oder ge- 
mindert sind. 

Der vorbezeichnete Lehrgang mit seiner Auswahl angemessener 
Sachgebiete, mit dem unausgesetzt in Regsamkeit gehaltenen kind- 
lichen Interesse und der Ordnung und Vermehrung der kindlichen 
Gedanken, sowie endlich mit seinem mannigfaltigen Umsetzen des 
Gesehenen und Gehörten in ein bewußtes Tun, vermittelt das geistige 
Erwachen der oft noch recht tief schlummernden Psyche wohl eher 
und sicherer, als der durch die Fibel gewiesene Lehrfortschritt, nach 
welchem die Förderung der Lese- und Schreibfertigkeit höher bewertet 
wird als die Gesamtentwicklung des kindlichen Geistes. Die Not- 
wendigkeit einer Neuform des ersten Lese- uud Schreibunterrichts 
wird jeder Einsichtige zugeben. Wir Lehrer der Schwachbegabten 
haben wohl alle das lebhafte Verlangen, unsern Schülern diesen 
Unterricht so viel als möglich zu erleichtern. Eine Erleichterung 
erhoffte ich gerade von dieser Methode, von der wir wohl dasselbe 





Die Liebe bei den Kindern. 2} 


behaupten dürfen, was ein Taubstummenlehrer von FoRCHAAMMERS 
imitativem Sprachunterricht in der Taubstummenschule sagt: sie ist 
eine humane Methode, die an die Schüler keine größeren An- 
forderungen stellt, als sie mit Leichtigkeit erfüllen können. Selbst- 
verständlich will ich nicht gesagt haben, daß das Neue nur in der 
hier angegebenen Weise ausgeführt werden könne, dazu reichen die 
Erfahrungen nicht aus; weitere Versuche von den verschiedensten 
Kollegen in den verschiedensten Schulen durchgeführt, werden auch 
bier das Richtigste und Praktischste ergeben. Darum empfehle ich den 
Versuch allen Kollegen aus voller Überzeugung. An Einwendungen 
wird es nicht fehlen: dieselben werden uns aber, sachlich gehalten, 
zur Förderung der Frage willkommen sein. Möge man deshalb ohne 
Voreingenommenheit und mit Ernst prüfen; denn es ist nicht gut, 
wenn man sich das objektive Beurteilen durch vorgefaßte Meinungen 
von vornherein verdirbt. »Jede Unterrichtsweise, welche die Selbst- 
tätigkeit fördert, ist aufmerksamster Pflege wert«, schrieb erst jüngst 
wieder der von mir hochgeschätzte Kollege WEHLE. 

Möchten diese Zeilen als ein Beitrag zur Förderung des ersten 
Sprech-, Schreib- und Leseunterrichts in der Hilfsschule zum Segen 
für unsere Schüler sich erweisen! 


Literaturnachweis: 

Hexck, Reform des Lese-, Schreib- und Sprachunterrichts in der Elementarklasse. 
LEHauensick, Das Prinzip des Selbstfindens in seiner Anwendung auf den ersten 

Sprachunterricht. 
Wise, Der erste Sprachunterricht nach dem Prinzip der Selbsttätigkeit. 
SCHREIBER, Beiträge zur Theorie und Praxis des gesamten Elementarunterrichts. 
VogEL, Die Erziehung unserer Schulneulinge zum Wissen. 
HarL-Srtivprt, Ausgewählte Beiträge zur Kiuderpsychologie und Pädagogik. 
Erpvass und Dover, Psychologische Untersuchungen über das Lesen. 
Fatıuans, Geschichte der Schrift. 
FORCHHANMER, Der imitative Sprachunterricht. 
Lay, Führer durch den Rechtschreibunterricht. 
Ders., Führer durch den Rechenunterricht. 
Schutz, Blätter für deutsche Erziehung. 
Orro, Hauslehrerschriften. 


B. Mitteilungen. 


l. Die Liebe bei den Kindern. 
Von R. Speyer. 


Die beiden grofsen, weltbewegenden Eigenschaften: der Hafs und die 
Liebe vibrieren in dem psychischen Organismus eines Kindes ebenso heftig 


22 B. Mitteilungen. 


wie in dem eines Erwachsenen. Je nach der Veranlagung des Kindes 
wird die Herrschaft, die diese beiden Leidenschaften über das Kind be- 
kommen, verschieden grols sein, und sich bei einem mit reicher Fantasie 
begabten Kinde stets am stärksten zeigen. Beim Studium des ver- 
brecherischen Kindes, sind Psychologen wie Montegazza und Lino 
Ferriani, auf die wir uns hier beziehen [von Ferriani siud die nachstehen- 
den Briefe entnommen], zu der Überzeugung gekommen, dafs die grofsen 
Leidenschaften der Menschen, die Liebe und der Hafs, die Seele eines 
Kindes mit gröfserer Schnelligkeit und Heftigkeit erfassen, als die eines 
Erwachsenen. Die rege Phantasie, die Sorglosigkeit des Alters, der Mangel 
an Erfahrung und die schnelle Fassungsgabe des Kindes, diese Faktoren, 
die das Feuer in dem kleinen Herzen schüren und leicht die ernsteste 
Schädigung des psycho-intellektuellen Organismus herbeiführen, arten 
später nur zu oft in Perversität aus. 

Die Erziehung muls hier schon frühzeitig einsetzen und einer über- 
starken Sentimentalitätsäulserung des Kindes zu steuern versuchen. Das 
Prinzip moderner Pädagogen, dem Kinde Gelegenheit zur freien Entfaltung 
der Anlagen zu geben, weder zu unterdrücken noch zu fördern, und nur 
allein durch gute Beispiele zu wirken, ist im allgemeinen bei normal 
veranlagten Kindern wohl durchaus richtig, andere aber, und mit diesen 
beschäftigen wir uns hier in erster Reihe, brauchen eine sicher führende 
Hand, die es versucht, mit Klugheit und grölstem Zartgefühl das Kind 
zu leiten. Es muls dem Kinde die Gelegenheit genommen werden, seine 
Empfindungen, seine liebenden Wünsche in so stürmischer und heftiger 
Weise, wie es oft bei ihm der Fall ist, zu äÄulsern. 

Mit den vornelimeren Waffen der Klugheit und des Zartgefühls wird 
man bei der Erziehung stets viel mehr erreichen, als mit der leider bei 
so vielen Erziehern üblichen Manier, den Kindern in höhnischer, verächt- 
licher und gleichgültiger Weise entgegenzutreten. Das sind die Mord- 
waffen, mit denen so viel in unserer Erziehung gesündigt wird, die jedes 
zarte Empfinden des Kindes ertöten und sie, die getäuscht und belogen 
werden, zu leuchlern und Lügnern stempelt. 

Man geht vielfach von der irrigen Ansicht aus, dafs die psychischen 
Anlagen des Kindes im Verhältnis zu seiner körperlichen Entwicklung 
stehen, und glaubt, dafs in einem kleinen Körper auch nur kleine Leiden- 
schaften wohnen können. Das ist ein grofser Irrtum, denn wir sehen oft, 
dafs das Herz eines Kindes ganz ebenso von einer Leidenschaft erfalst 
wird wie das eines Erwachsenen, und dafs, wenn hier Erfahrung, Über- 
legung und Erziehung mildernd eingreifen, das Kind, dem dies alles fehlt, 
sich ihr in der sorglosesten und schrankenlosesten Weise hingibt. Und 
wenn hier nicht durch die kluge Hand des Erziehers energisch eingegriffen 
wird, wenn die Atmosphäre, in der das Kind lebt, nicht eine reine und 
gesunde ist, so kann die Liebe des Kindes, deren Schwester die Eifersucht 
ist, leicht grolses Unglück anrichten. Ist das Kind erblich belastet oder 
in einer verbrecherischen Familie zu leben gezwungen, so hat die Eifer- 
sucht, das kleine anormale Wesen schon zu Handlungen getrieben, wie 
sie schlimmer nicht von den gröfsten Verbrechern ausgeführt werden können. 


Die Liebe bei den Kindern. 23 


a LU e e a a e a am a aM a a i a aaa amaaa amama aIamŘħiIħõ 


Die Seele des Kindes offenbart sich am besten in Briefen, und deshalb 
sollen hier einige eingefügt werden, die den Beweis erbringen, welch’ 
grofse Rolle die Liebe im Leben der Kinder spielt. Die Briefe rühren 
erstens von anormalen Kindern her, die einer verbrecherischen Familie 
entstammen, zweitens von normalen, aber mit besonders stark verliebtem 
Naturell begabten Kindern. Die leidenschaftlichen Briefe, in denen die 
Liebe vorherrscht, unterscheiden sich nicht wesentlich voneinander, in 
Bezug auf die Eifersucht aber sind sie ganz verschieden: die kleinen Ver- 
brecher gehen in ihren Drohungen bis zum äulsersten, ja bis zum Mord; 
die andern hingegen ergehen sich in melancholischen Ausdrücken und 
sprechen sogar die Absicht aus, sich das Leben zu nehmen. 


Anormal. 


Ein kleiner Knabe von neun Jahren, der einer liederlichen 
Arbeiterfamilie entstammt. Der Vater ist wegen Diebstahl mehrfach be- 
straft; das verbrecherische Milieu hat viel zur abnormen Entwicklung des 
Kindes beigetragen. Seine Liebe war früh dem Laster verfallen, blieb aber 
ihrem Anbeter gegenüber unempfindlich: 

»Liebe Anna! 
Du weifst ja, dafs ich Dich liebe, wenn Du aber dabei bleibst, 
mir immer nein zu sagen, breche ich Dir die Rippen entzwei. In- 
zwischen küsse ich Dich.« 


Ein Mädchen von zwölf Jahren, das einer wohlhabenden und 
anständigen Familie angehört, wurde, weil die Mutter nicht die geeignete 
Erzieberin des Kindes war, früh in eine Pension geschickt, da man der 
Ansicht war, dafs die Keime, die in dem Kinde steckten, dort am besten 
bekämpft werden könnten, bedachte aber nicht, dafs hier oft uieser 
Leidenschaft Vorschub geleistet wird. Eine Dame bemerkte einmal sehr 
richtig: »In der Pension werden einem alle Bäume zu Männern, und 
später, in Wirklichkeit, alle Männer zu Bäumen.« Dafs Kinder sich in 
Erwachsene verlieben, kann man nur zu oft beobachten. Sie kommen 
sich dadurch selbst erwachsener vor und glauben die andern auch leicht 
über ihr wahres Alter zu täuschen. 

Das zwölfjährige Mädchen hatte sich in den zweiundzwanzigjährigen 
Sohn (des Pensionsgärtners verliebt, der sie wohl zuweilen verliebt ange- 
blickt hatte, dessen Braut aber ein Dienstmädchen der Pension war. Von 
Eifersucht gequält schrieb das Kind an ihn: 

»Ich liebe Dich, ich bete Dich an, und will, dafs Du mein seist, 
mein, mein, mein ganz allein, mein Gatte, meine einzige Liebe; wenn Du 
nicht einwilligst, werde ich mich schrecklich rächen, und sollte die Welt 
auch daran zu Grunde gehen.« 

Ein Knabe von dreizehn Jalıren, Sohn eines Mannes, der 
zweimal wegen Körperverletzung bestraft wurde. Er liebt ein fünfzehn- 
jähriges Mädchen, das ihm zuerst mit Kälte und dann mit Hohn begegnet. 
Er schreibt an sie: 

»Wenn Du mich nicht lieben willst, zerfleische ich Dir das Gesicht; 
nimm Dich in acht, ich bin im stande Dich zu töten.« 


24 B. Mitteilungen. 


Ein Knabe von dreizehn Jahren an ein kleines dreizehnjähriges, 
sehr hübsches und kokettes Mädchen: 

»Du wirst mein sein, oder ich bringe Dich um! Ich bin eifer- 
süchtig und könnte Dich töten!« 

Er war ein kleiner Othello und warf der kleinen Koketten, die von 
drei Knaben geliebt wurde, einst bei einem Anfall von Eifersucht einen 
Stein an den Kopf. 

Normal. + 

Ein Mädchen von neun Jahren aus adliger Familie, das sich in 
einen sechsunddreilsigjährigen Lehrer verliebt hat. 

»Ich bete Dich an wie die Engel im Paradies Gott anbeten. 
Liebe mich, sonst sterbe ich vor Gram.« 

Ein Mädchen von zwölf Jahren aus adliger Familie verliebt sich 
in einen schönen Knaben von fünfzehn Jahren, der ihre Zärtlichkeit 
mit Verachtung von sich weist, und sie wie eine Herumtreiberin be- 
handelt. Sie schreibt ihm: 

»Ach, mein Gott, was muls ich leiden, wie habe ich weinen 
müssen, als Du mir gesagt hast, ich wäre eine Herumtreiberin! Warum 
quälst Du mich so? Siehst Du denn nicht wie ich leide, wie elend ich 
werde; ich schlafe nicht mehr, ich esse nicht mehr. Ach Gott! Ich 
fühle es, wenn Du mich nicht liebst, werde ich mir das Leben nehmen, 
ich tue es ganz bestimmt, und wenn ich einst tot bin, wirst Du mir 
eine Rose auf mein Grab pflanzen.« 

Hier ist der Selbstmord mit einer romantischen Idee verknüpft, die 
weit über das Alter hinausgeht. Ungeeignete Lektüre oder Theaterbesuche 
haben augenscheinlich diese Ideen in die Seele des Kindes gepflanzt. 

Ein kleines Mädchen von zehn Jahren und ein Knabe von 
zwölf Jahren aus adliger Familie. 

Es handelt sich hier um einen schr ernsten Fall, der durch den 
Wunsch der Eltern aus den Kindern der beiden befreundeten Familien 
ein Paar zu machen entstanden ist. Die Erziehung, die die beiden 
Kinder bekommen haben, war die denkbar beste, sie haben auch bei den 
Eltern und im Hause nur das Beste vor Augen gesehen, aber man 
amüsierte sich damit, die beiden Kinder schon früh als zukünftiges Ehe- 
paar zu denken und ihre Spiele als Mann und Frau gut zu heilsen. Das 
bringt immer Gefahr, und derartig verliebte Empfindungen können leicht 
in eine traurige Wahrheit ausarten. Die Studienzeit des Knaben trennt 
die beiden Kinder. Er hat seine kleine Freundin vergessen; sie aber 
liebt den Mann, wie sie schon den Knaben geliebt hat, wird aber die 
Frau eines andern. Sie treffen sich wieder als junge und schöne 
Menschen und die Zeit, da sie Mann und Frau spielten, steht ihnen 
wieder vor Augen, bald verfallen sie wieder in das frühere »Du« und 
er wird ihr Geliebter. Die Kinder-Komödie verwandelt sich hier in ein 
Ehebruchsdrama. 

Hier noch ein Brief aus ihrer Kinderzeit, den das Mädchen in der 
Hoffnung schreibt, dals ihr kleiner Gatte ihr treu bleiben wird, denn sie 
fiiblt, dafs sie ohne ihn und seine Liebkosungen nicht mehr leben kann. 


Über einige abnorme Erscheinungen im kindlichen Seelenleben. 25 


»Du bist mein einziger Gedanke, dich sehe ich überall, beim 
Spiel, bei der Arbeit, beim Essen und mit Sehnsucht erwarte ich den 
Beginn der Ferien, um Dich zu umarmen und Dir zu sagen, dafs ich 
für immer und ganz Dir angehöre.« 

Aus all’ diesem geht hervor, wie unrecht die Eltern tun, wenn sie 
den Leidenschaften der Kinder und ihren sentimentalen Neigungen nicht 
genügende Aufmerksamkeit schenken, und wie wichtig es für die Mutter 
ist, in ihr Erziehungsprogramm die Psychologie ihrer Kinder mit aufzu- 
nehmen. 


2. Über einige abnorme Erscheinungen im kindlichen 
Seelenleben. 
Von Dr. A. Kühner, Koburg. 


Die Kinderforschung bildet eine der reichsten und ergiebigsten 
Quellen der Erweiterung des Wissens und Könnens für den Arzt, den 
Lehrer, den Seelsorger, für Haus und Familie. Die Kindheit ist für uns eine 
der beredtesten Naturerscheinungen geworden, die uns in ihrer allmählichen 
Entwicklung sowohl über unsere Verwandtschaft mit der Tierwelt als über 
verschiedene Zustände beim Erwachsenen Anfklärung gibt sowie über die 
Kräfte berichtet, durch welche die Menschheit im Laufe der Zeit eine so 
erhabene Stellung sich erworben hat. Lehrer, Erzieher und Ärzte müssen 
daher gemeinsam wirken zur Aufklärung abnormer Erscheinungen im 
Kindesalter, gutartiger oder hösartiger Natur. Bei der regen Arbeit und 
Fürsorge für das abnorme Kind und seine Behandlung, bei der allmäh- 
lichen Klärung der abnormen Erscheinungen im kindlichen Leibes- und 
Seelenleben,!) bei der ungemein wichtigen Bedeutung von Defekten im 
Seelenleben bei Kindern und Erwachsenen für die strafrechtliche Würdi- 
gung, hingesehen auf die Tatsache, dals das Geistesleben des Erwachsenen 
uns vielfach erst aus dessen Vorleben und der kindlichen Entwicklung 
erschlossen wird, ist die Erfahrung tief zu beklagen, dals diese For- 
schungen der Pädagogen und Psychiater von der Rechtspflege, welcher 
sie den grölsten praktischen Nutzen versprechen, ganz unbeachtet 
bleiben. Man rügt die vielen widersprechenden Gutachten Sachverständiger 
in forensischen Fällen. Stehen die gerichtlichen Erkenntnisse, die im In- 
stanzenzug geradezu den Rechtsirrtum als tatsächlich bekennen, etwa nicht 
in Widerspruch? Der Vorwurf der notorischen Verschiedenheit, durch 
welche man ärztliche Gutachten in ein verdächtiges Licht zu setzen sucht, 
trifft selbst die exakteste angewandte Wissenschaft, die Mechanik, bei 
welcher verschiedene Vorschläge zur Erreichung desselben Zwecks sich be- 
streiten. Und sehen wir nicht, dals in allen andern Rechtsfragen, in 


Wir setzen zahlreiche wervolle Beiträge über diesen Gegenstand in der 
»Zeitschrift für Kinderforschung« als bekannt voraus, insbesondere auch die Sonder- 
schrift von J. Trüper, Die Anfänge der abnormen Erscheinungen im kindlichen 
Seelenleben, eine Arbeit, auf deren Inhalt wir mehrfach verweisen, 


26 B. Mitteilungen. 





theologischen, politischen, pädagogischen Problemen die Ansichten so zahl- 
reich sind als die Köpfe? Und in der Medizin, die ein stets im Wechsel 
begriffenes lebendiges Wissen von einem Organismus bildet, der, weil er 
lebt, in gleicher Umwandlung sich befindet, in unseren Gutachten über 
normales und abnormes Geschehen von Menschen, an Menschen verlangt 
man Einigkeit bei der Beurteilung menschlicher Situationen, welche 
äulsere und innere Verwicklungen und Kombinationen bieten der mannig- 
fachsten Art, man erwartet Einigkeit zu einer Zeit, in welcher uns die 
Entwicklungslehre!) sagt, dafs die Dinge an sich weder warm noch kalt, 
weder gut noch böse, weder schön noch hälslich, weder normal noch ab- 
norm, weder gesund noch krankhaft, nie das eine oder das andere sind, 
sondern immer beides zugleich! Man verlangt Einheit, Gewifsheit, Tat- 
sächlichkeit von einer Wissenschaft, die im raschen Flug wechselvoller 
Erscheinungen nur eine Probabilitätsrechnung zuläfst. Schon Schiller 
erhebt im »Verbrechen aus verlorener Ehre« den Vorwurf: »Die Richter 
sehen in das Buch der Gesetze, aber nicht einer in die Gemütsverfassung 
des Beklagten.« Dieser Zustand besteht noch heute zu Recht mit wenigen 
Ausnahmen. Auf dem Kongrefs für Kriminalanthropologie zu Genf ist 
vor einigen Jahren behanptet worden: »Der Richter als Vertreter des Ge- 
setzes muls im gegebenen Fall unterscheiden, ob der Delinquent verant- 
wortlich ist oder nicht. Niemals aber wird er seine säkulare Gewalt vor 
einer Kommission von Ärzten oder Soziologen niederlegen. Die juristischen 
Wissenschaften und unter ihnen die Wissenschaft vom Strafrecht müssen 
ihre Autonomie in der Hierarchie der Wissenschaften aufrecht halten, 
Kriminalanthropologie aber ist ein Wortmilsbrauch gleichbedeutend mit 
philologischer Astronomie und metaphysischer Chemie.« Hierauf erwidert 
der Abgeordnete und Professor »der Rechte« Ferri aus Rom die 
schönen Worte: »Wenn Herr Zakrewsky verspricht, nie den Forderungen 
der Wissenschaft weichen zu wollen, so vergifst er vielleicht, dafs die 
Richter nur die Diener, die Vollzieher des Rechts, niemals aber seine 
Schöpfer sind. Da das Recht durch den umbildenden Einfluls wissen- 
schaftlicher Eroberungen täglich sich umgestaltet, so ist es auch notwendig 
und selbstverständlich, dafs der Richter sich den Neuerungen anzupassen 
hat. Und wenn der gegenwärtige Richter von unserer Wissenschaft nichts 
versteht, so liegt der Fehler nicht an ihr, sondern an den mangelhaften 
und verjährten Universitäts-Einrichtungen, aus denen er ohne Begriffe von 
Psychologie, Soziologie und Psychiatrie als Rechtsgelehrter hervorgegangen 
ist. Sollten die Richter, wie die apokalyptische Behauptung des Herrn 
Zakvewsky beilst, niemals ihre säkulare Gewalt, weder vor einer Ge- 
sellschaft von Ärzten, noch vor einer Gesellschaft von Soziologen ablegen, 
so bleibt uns als einzige Erwiderung: Um so schlimmer für die Richter, 
wenn sie sich über die Wissenschaft erhaben fühlen. Aber den Herrn 
Senator möchte ich noch an einen Gedanken erinnern, der von einem der 


t) Ich verweise zu dieser Erkenntnis auf das soeben erschienene epoche- 
machende Werk von Julius Iart: Die neue Welterkenntuis. Verlegt bei Eugen 
Diederichs, Leipzig. 5 M, geb. 6 M. 


a 


Über einige abnorme Erscheinungen im kindlichen Seelenleben. 27 








klassischen Juristen aller Zeiten herrührt und der ihm zeigt, wie tief sich 
das Recht von den Tatsachen der Anthropologie d. h. von den biologischen 
und psychologischen Erkenntnissen inspizieren lassen muls, um als wahres 
Recht zu gelten. Vielleicht schreibt Herr Zakrewsky diesen Ausspruch 
jener philosophischen Astronomie zu, von der er uns eben unterhielt, wir 
aber haben ihn von dem grofsen römischen Redner und Juristen Cicero. 
Er schreibt: A natura hominis discenda est natura juris. »Von der 
menschlichen Natur muls man die Natur des Rechts lernen« und das gilt 
von der Natur des Einzelmenschen so gut wie von der Natur des Kollektiv- 
menschen. « 

Die Tagespresse bemerkt, anlälslich des diesjährigen Juristentages, 
dafs »eine Kluft sich bilde zwischen der geübten Rechtspflege und den 
Rechtsanschauungen des Volks«, dals »gewisse Urteile, die mehr der Spitz- 
findigkeit und Haarspalterei, als dem gesunden Menschenverstand dienen, 
in weiten Kreisen Aufsehen erregen« u. s. f. Häckel vermilst im »Welt- 
rätsel«e die psychologische Schulung der Juristen. Noch entschiedener 
tritt der Professor der technischen Hochschule zu Charlottenburg, Riedler 
auf. In der Sitzung des preufsischen Herrenhauses vom 29. März 1901 
sagte er u.a.: »Die Juristen haben einen Wall von Vorurteilen und Vor- 
rechten aufgetürmt. Der Wall verträgt keine Bresche, sonst fällt der ganze 
künstliche Bau zusammen.« »Klarsehende Juristen schen wohl ein, dafs 
ihr Ansehen im Land trotz der Monopole im Niedergang ist, in dem 
Mafs, als selbst im eigentlichen Rechtsleben die Rechtsprechung mit dem 
Rechtsbewulstsein im Volk in Widerspruch kommt, in dem Mafs, als die 
Rechtspraxis eine Kunst der Zunft wird, unzugänglich dem gesunden 
Menschenverstand.« Hingesehen auf diese Äufserungen der Zeit und ihrer 
Sachverständigen, hingesehen auf den kindlichen Entwicklungsgang und 
dessen Ausdruck im Erwachsenen, wird man gegen vorstehende Betrach- 
tung gewils nicht den Vorwurf erheben, sie sei nicht praktisch, nicht 
zeit- oder ortsgemäls. Zu unserer Rechtfertigung der Behauptung vom 
Formalismus, der unsere lebendige Wissenschaft von den Natur -Lebens- 
erscheinungen des Kindes und Erwachsenen beherrscht, zitieren wir die 
neuste Entscheidung des Reichsgerichts 4. Zivils. v. 13. Febr. 1902 betr. 
den Unterschied zwischen Geisteskrankheit und Geistes- 
schwäche nach $6 Nr. 1 B. G. B. ein Erkenntnis, dessen Abdruck und 
Motivierung in einer »Zeitschrift für Kinderforschung« nicht fehlen darf: 
»Der Unterschied beider Begriffe ist nur in dem Grade (?) der geistigen 
Anomalie zu finden und zwar nach der Richtung, ob die krankhafte (?) 
Störung der Geistestätigkeit dem Erkrankten vollständig die Fähigkeit 
nimmt, die Gesamtheit seiner Angelegenheiten zu besorgen oder ob sie 
ihm wenigstens noch diejenigen Fähigkeiten lälst, welche bei cinem Minder- 
jährigen von 7 (?) bis 21 Jahren in der Besorgung seiner Angelegenheiten 
vorausgesetzt werden können. Fehlt es an jedem zuverlässigen Material 
(?) eines Unterschiedes zwischen Geisteskrankheit und Geistesschwäche, 
so ergibt sich mit Sicherheit doch so viel, dafs jene die schwerere, diese 
die leichtere (?) Form ist. Im ersteren Fall entspricht es der Absicht 
.des Gesetzes, die Entmündigung wegen Geisteskrankheit, in dem zweiten, 


28 B. Mitteilungen. 


sie wegen Geistesschwäche eintreten zu lassen. »Diese Entscheidung ist 
daher, mangels hierüber feststehender medizinischer Begriffe 
(?), keine psychiatrische, sondern eine überwiegend tatsächliche, welche 
der Richter trifft und die nur zum Teil auf dem ärztlichen Gutachten, 
das den Stoff zu seinen Schlüssen liefert, beruht.« Trotz dieser Erkennt- 
nisse und ihrer Bedenken fassen wir, gestützt auf die Ansicht des klas- 
sischsten Juristen aller Zeiten, dafs sich das Recht von den Tatsachen der 
Anthropologie d. h. von den biologischen und psychologischen Erkennt- 
nissen inspizieren lassen muls, um als wahres Recht zu gelten, den Mut, 
uns über einige abnorme Zustände der Kinder zu verbreiten, um aus dem 
Ergebnis dieser Betrachtung einige Schlüsse zu ziehen für die Lehre der 
Geistesschwäche. 

Dals unsere Terminologie der Abweichungen von der Breite der Ge- 
sundheit im kindlichen Seelenleben die Begriffe Kretinismus, Idiotismus, 
Imbezillität, Debilität zusammenwirft, ist bereits von Trüper in jenem 
Vortrag hervorgehoben und von ihm in Vorschlag gebracht worden, jene 
Abweichungen als abnorme Erscheinungen im Seelenleben im all- 
gemeinen zusammenfassen oder nach dem Vorgang von Koch als seelische 
Minderwertigkeiten und insofern diese krankhafter Natur, als psycho- 
pathische Minderwertigkeiten zu bezeichnen. Neben graduellen Ver- 
schiedenheiten der Geisteskräfte haben wir auch mit qualitativen Ver- 
schiedenheiten zu rechnen. »Nicht nur dıe Intelligenz kann im Seelen- 
leben abnorm sein, sondern in demselben Malse kann auch des Gemüts- 
und Willensleben sowohl krankhaft geschwächt, als auch krankhaft ge- 
steigert und krankhaft entartet sein. Es gibt auch einen moralischen 
Schwachsinn wie eine moralische Verrücktheit.« (Trüper.) Ich verweise 
des weiteren auf diesen Vortrag. Über gewisse abnorme Erscheinungen 
im kindlichen Seelenleben erbringt die Zeitschrift »Lancet« soeben als 
Originalbeitrag drei Vorlesungen!) des englischen Kinderarztes Still, Aus- 
führungen, welche wir im nachfolgenden ir originaler Bearbeitung und in 
gedrängtester Kürze wiedergeben. Still betrachtet zunächst die mora- 
lische Schwäche, einen Mangel an moralischem Widerstands- 
vermögen. Dals ein solcher Defekt in Verbindung mit den verschiedenen 
oben bezeichneten Graden geistiger Schwäche, selbst geistiger Störung vor- 
kommt, abhängig oder unabhängig von diesen Zuständen, ist uns bekannt. 
Es kommen aber andere Fälle vor, welche nicht jener Kategorie angehören, 
Kinder mit vorübergehendem oder bleibendem Defekt moralischer Wider- 
standskraft, Zustände, bei welchen die Frage entsteht, ob dieselben nicht 
der Ausdruck eines abnormen Seelenzustandes, Kinder, die indes nichts- 
destoweniger als solche von normaler Begabung gelten, Zustände, welche 
sorgfältige Beachtung wünschenswert machen. Wenngleich einige dieser 





1) The Goulstonian Lectures on some abnormal psychical conditions in children, 
Delivered before the Royal College of Physiciaus of London by George F. Still, 
M. A. M. D. Cantab, F. R. C. P. Lond. Assistant physician for diseases of children, 
King's College Hospital; Assistant physician to the Hospital for sick children, Great 
Ormond - Street. 


Über einige abnorme Erscheinungen im kindlichen Seelenleben. 29 


Zustände auch bei Erwachsenen vorkommen, so ist doch die Gelegenheit, 
diese Vorgänge zu erforschen, zu keiner Lebensperiode so günstig, als in 
der Kindheit, zu welcher Zeit der Einflufs der Umgebung nicht so 
wechselnd und kompliziert und die Möglichkeit besteht, eine mehr oder 
wepiger zuverlässige Lebensgeschichte des Individuums zu erlangen, ein 
Umstand von grolser Wichtigkeit, wenn die Frage der angebornen Schwäche 
entsteht, eine Zeit, in welcher wir die Entwicklung eines Fehlers sorg- 
fältig und unbeirrt verfolgen können. 


Das moralische Widerstandsvermögen des normalen Kindes. 


Für den Psychologen bedeutet moralisches Widerstandsvermögen die 
Fähigkeit zu handeln konform mit der Idee des Guten überhaupt. Die 
moralische Widerstandskraft setzt das Erkenntnisvermögen des Verhaltens 
zur Umgebung voraus, d. h. die Fähigkeit, Vergleiche mit der Umgebung 
anzustellen. Aus diesem Erkenntnisvermögen erwächst das Bewulstsein 
der Fähigkeit des Wollens des Guten überhaupt seitens des Individuums, 
das moralische Bewulstsein. Das moralische Widerstandsvermögen besteht 
also in der Fähigkeit zu handeln, konform mit dem moralischen Bewufst- 
sein. Die Fähigkeit, Vergleiche anzustellen, setzt gewisse intellektuelle 
Fähigkeiten voraus, um zum moralischen Bewulstsein zu gelangen und 
zwar einen um so höheren Grad von Fähigkeit, je komplizierter die Ver- 
hältnisse zur Aufsenwelt sind. Insofern ist das moralische Widerstands- 
vermögen abhängig von der Intelligenz. Das moralische Vermögen ist aber 
weiterhin abhängig von der Willenskraft, die kaum als eine intellektuelle 
Fähigkeit betrachtet werden kann; moralische und Willenskraft entwickeln 
sich daher erst einige Zeit nach der Geburt, sobald die Aktivität, die 
Fähigkeit zu handeln, anstatt wie bislang instinktiv, reflexiv oder impulsiv, 
intuitiv, willenskräftig geworden, ein Zeitpunkt, der nicht genau zu be- 
stimmen, jedenfalls aber erst nach Wochen, Monaten des extrauterinen 
Lebens beginnt. Diese Fähigkeit des moralischen Bewulstseins und des 
Wollens wächst beim normalen Kind mit dem allgemeinen Wachstum, was 
für die Bedeutung als krankhafte Erscheinung von Wichtigkeit ist, insofern 
eine graduelle Äufserung des moralischen Widerstandsvermögens, das völlig 
normal in sehr jugendlichem Alter, später eine ganz andere Deutung er- 
fahren muls. Für diese entscheidet ferner die Umgebung und ganze Er- 
ziehung. 


Defekte des moralischen Widerstandsvermögens in Verbindung 
mit andern Mängeln im Seelenleben. 


Bei den niederen Graden des Schwachsinns ist das moralische Wider- 
standsvermögen natürlich eine Unmöglichkeit. Der Blödsinnige, der keine 
Personen kennt, selbst die Qualität der materiellen Nahrung nicht unter- 
scheidet, ist einem Automaten vergleichbar. Im übrigen gleicht das mora- 
lische Widerstandsvermögen einem dreistöckigen Haus, dessen zweiten 
Stock es inne hat. Dieser zweite Stock kann nicht bestehen, wenn nicht 


30 B. Mitteilungen. 


—— 


der erste, das Erkenntnisvermögen zu Grunde liegt, und der die Willens- 
fähigkeit beherbergende Dritte kann nicht bestehen, wenn nicht der erste 
und zweite gegenwärtig. Bei den innigen Beziehungen der Seelentätigkeiten, 
die fortwährend ineinander und untereinander fliesen, ist dieses natürlich 
nur ein Vergleich. Hierbei entsteht sofort die Frage: Ist der moralische 
Defekt notwendig proportional dem intellektuellen? Können wir sagen, dafs 
dieses oder jenes Kind intellektuell und deshalb auch an moralischer 
Widerstandskraft schwächer ist, als ein anderes? Hingesehen auf die viel- 
fachen Kombinationen und Komplikationen im Seelenleben muls zugegeben 
werden, dafs das moralische Widerstandsvermögen und Bewulstsein sowie 
dessen Störungen etwas Apartes gegenüber den übrigen Seelentätigkeiten 
bilden kann. Insbesondere werden bei manchen leichteren Graden des 
Schwachsinns die Beziehungen beider zueinander gelockert, so dafs deren 
graduelle Unterschiede verschieden ausfallen und ein Kind mit einem nur 
leichteren Grad von Schwachsinn einen bei weitem grölseren Defekt an 
moralischem Widerstandsvermögen zeigen kann, als ein mit höheren Graden 
des Schwachsinns behaftetes Kind. 


Krankhafte Defekte des moralischen Widerstandsvermögens in 
Verbindung mit körperlichen Abweichungen. 


Unser Geist wurzelt in Gegensatzbildern, aber nur, indem er die 
Gegensätze aufrecht erhält und sie zugleich überwindet, gelangt er 
zu einer reinen Anschauung. Ihm ist jedes Ding eine Einheit, doch nicht 
nur eine Einheit — ihm ist jedes Ding eine Vielheit, doch nicht nur 
eine Vielheit. Unser Bewulstsein ist völlig blind für die Vorstellung der 
reinen Einheit wie für die der reinen Vielheit, wir jagen blofsen Schemen 
nach, wenn wir sie ergreifen und begreifen wollen. Getrennt existieren 
sie nicht, sondern nur in der Vereinigung; nur als Vieleinheit besteht 
die Welt und alles, was sich in ihr befindet. Diese Betrachtung trifft vor 
allem das Seelenleben sowie die Begriffe von Gesundheit und Krankheit, 
normal und abnorm, gesund nnd krankhaft. Unter dieser Rücksicht- 
nahme kann der krankhafte, abnorme Charakter eines Defektes des mora- 
lischen Widerstandsvermögens erschlossen werden nach dem Grade, den 
wir ermessen nach unserer allgemeinen Erfahrung sowie auf Grund der 
Abschätzung, Anpassung nach dem vorliegenden Alter und nach seiner 
Disharmonie mit den Einflüssen der Umgebung. In manchen Fällen er- 
weist sich der Defekt im moralischen Bewulstsein als Ausfluls oder Vor- 
hersage einer körperlichen Krankheit, Fälle von ungemein grofser prak- 
tischer Bedeutung. In Betracht kommen hierbei in erster Linie Erkran- 
kungen des Gehirns und der Nerven: Gehirnentzündungen, Geschwülste, 
Kopfverletzungen, Epilepsie, Lähmungen, Typhus, Diphtherie, Scharlach, 
akute Krankheiten der verschiedensten Art.!) In beinahe allen diesen 





!) Interessenten verweisen wir auf die sehr ausführliche Kasuistik von Dr. Still 
in dessen bereits erwähnten Vorlesungen. (Lancet v. 19. April d. J. ff.), Fälle, 
die vun um so grölserem Interesse, als sie die innigen Beziehungen psychischer 


Über einige abnorme Erscheinungen im kindlichen Sceelenleben. 31 








Fällen bestand die Veränderung in einem Verlust des bereits erworbenen 
moralischen Widerstandsvermögens. Würde die somatische Störung in 
einem früheren Alter eingesetzt haben, so war anzunehmen, dafs die mora- 
lische Entwicklung hintangehalten worden wäre. Man kann dieses Zurück- 
bleiben einer so komplizierten geistigen Fähigkeit wie das moralische 
Unterscheidungsvermögen des Kindes vergleichen mit dem Verlust der 
Sprache, die bisweilen infolge körperlicher Erkrankung eintritt, wobei in 
Rücksicht zu ziehen, dafs sich das moralische Bewulstsein später und viel 
allmählicher, als die Sprache entwickelt. 


Defekt des moralischen Widerstandsvermögens als eine krank- 
hafte Erscheinung ohne allgemeine Herabminderung der 
Intelligenz und ohne körperliche Abweichung. 


Dals bei Erwachsenen krankhafte Abweichungen des moralischen 
Widerstandsvermögens ohne allgemeine Herabminderung der Intelligenz 
und ohne körperliche Störungen vorkommen, ist den Psychiatern bekannt. 
Man fafst solche Abweichungen unter dem Namen moralisches Irre- 
sein (moral insanity, Gefühlsirresein), und wenn der Zustand mit In- 
telligenzdefekten verbunden, als Gefühlsschwachsinn, moralische 
Idiotie zusammen. Das Krankhafte des Zustandes darf hierbei nie- 
mals allein aus der ausgesprochenen Schlechtigkeit des Charakters, 
sondern aus Abstammung, körperlichen und geistigen Degenerationszeicher, 
Nutzlosigkeit versuchter Erziehung erschlossen werden, der Schwerpunkt 
der Störung liegt im krankhaften Seelenleben, als dessen Ausflu[s der 
moralische Befund und dessen Äulserungen zu betrachten sind. Auch bei 
Kindern kommen mit der allmählichen Entwicklung des moralischen Be- 
wulstseins solche pathologische Entartungen vor, z. B. Diebstahl von Kleinig- 
keiten bei reichem Besitz, womit noch häufig Sonderbarkeiten sich ver- 
binden z. B. die Generosität des Verschenkens des Gestohlenen oder der 
Hang zum Stehlen aus Vergnügen, aus Sammelwut oder ohne jede Moti- 
vierung, der sofortige Rückfall nach erfolgter Bestrafung. Nicht nur der 
aulsergewöhnliche Grad des moralischen Defektes, auch das unnatürliche 
Motiv entscheidet für das krankhafte Geschehen. Bei näherer Betrachtung 
kann man bei solchen Störungen unterscheiden: 1. krankhaftes Zurück- 
bleiben der Entwicklung des moralischen Widerstandsver- 
mögens und Verlust des bereits erlangten Widerstandsver- 
mögens. Auch für diese Kategorien findet sich als Nachweis in jenen 
Vorlesungen eine reiche Kasuistik, auf welche wir Interessenten verweisen. 


und physischer Zustände erweisen, aber fast sämtlich ohne wesentliche Intelligenz- 
effekte verlaufen, so dafs wir hier Beispiele vorfinden von einer krankhaften Alte- 
ration des moralischen Widerstandsvermögens obne allgemeine Ilerabminderung des 
Intellekts. 


32 B. Mitteilungen. 


3. Zur Vererbung der Taubheit. 


Wir Deutschen haben Ursache, Amerika wegen des vom Professor 
Fay in Washington D. C. beigebrachten Materials über die »Vererbung der 
Taubheit« zu beneiden. Es ist zahlenmäfsig durch dasselbe nachgewiesen, 
dafs falls ein Ehegatte oder wenn beide Gatten taub geboren sind und 
Familien entstammen, in denen sich in aufsteigender Linie be- 
reits Gehörleiden gezeigt haben, eine grolse Gefahr vorliegt, dals diesen 
Ehen mehr taube Kinder entstammen werden, als nicht belasteten Familien. 
Aus der der Besprechung des Werkes »Mariages of the deaf in America« !) 
beigegebenen Tabelle ist zu ersehen, dafs verhältnismäfsig 9,7°/, von Taub- 
stummenehen taube Nachkommen entstammen, und dafs durchschnittlich 
8,6°/, der Kinder aus diesen Ehen taub sind. Bei erblicher Be- 
lastung der tauben Gatten haben aber 28,4°/, der Ehen taube Nach- 
kommen und 30,3°/, aller Kinder aus diesen Ehen sind taub. Die Frage 
aber, ob Blutsverwandtschaft der Eltern als solche ein Grund für 
die Ausbreitung des Gebrechens ist, kann durch die Faysche Aufnahmen 
nicht genügend beantwortet werden; von 4471 Taubstummenehen konnte 
nur bei 31 Blutsverwandtschaft der Eheleute nachgewiesen werden. Gegen 
folgenden Schluls möchte wenig zu sagen sein: 

Taubheit ist keine Krankheit, sondern ein Gebrechen. 

Taubheit als solche ist nicht vererblich, wohl aber die Anlage zu 
mancher Ursachskrankheit derselben. 

Bei Ehen Blutsverwandter ist häufig anzunehmen, dafs beide Gatten 
die Anlage zu derselben Krankheit besitzen. 

Auf Kinder aus solchen Ehen wird die Anlage zu der Ursachskrank- 
heit der Tanbheit sowohl vom Vater, wie von der Mutter auf die Kinder 
vererbt. Darum ist anzunehmen, dafs den Ehen Blutsverwandter verhält- 
nismälsig mehr taube Kinder entstammen werden, als andern Ehen. 

Ein auf statistischem Material ruhender Beweis ist aber bislang noch 
nicht beigebracht. 

Es wäre wünschenswert, wenn in dieser Hinsicht Material beschafft 
würde. Hier ist etwas aus meiner kleinen Anstalt. 

Die 33 Zöglinge derselben entstammen 28 verschiedenen Familien. 
In 7 derselben sind die Gatten blutsverwandt, von diesen finden sich 
nachweislich in 5 Familien in aufsteigender Linie gehörkranke Glieder, 2) 
nämlich: 

1 Familie: Vaters Schwester ist taubstumm: 1 taubstummes Kind. 
1 Fanilie: ,„, = i : 3 taubstumme Kinder. 
1 Familie: Der Mutter Vetter ist taubstumm : 2 taubstumme Kinder. 
2 Familien: „  ,„ e a : je 1 taubstummes Kind. 

Dagegen entstammen Familien, in denen die Gatten nachweislich 

nicht blutsverwandt sind: 





1!) Siehe Kinderfebler, Jahrgang 1900. Heft I u. I. 
°) Es war nur von einem Gliede aufwärts bezw. seitwärts sichere Nachricht 
zu erhalten. 


Zur diesjährigen Versammlung des Vereins für Kinderforschung. 33 


1 Familie je 4 taubstumme Kinder und 
2 Familien je 2 taubstumme Kinder, 
und von früheren Jahrgängen: 
2 Familien entstammen je 3 taubstumme Kinder, 
4. ” ” „ 2 ” ” 
Emden. O. Danger. 


4. Zur diesjährigen Versammlung des Vereins für 
Kinderforschung am 1l. u. 12. Oktober in Halle a/S. 


Das gastliche Halle rüstet sich zur Zeit als vielbegehrte Versammlungs- 
stadt, die deutschen Philologen zu empfangen. Kurz nach Schluls der 
vielseitigen Verhandlungen, welche der Philologentag bringen wird, gilt es, 
eine weitere Vereinigung zu beherbergen, eine Vereinigung, welche in 
aller Stille ihre Arbeit vorbereitet hat und in aller Schlichtheit ihre Dar- 
bietungen zur Besprechung bringen wird: es ist die Versammlung des im 
Jahre 1897 gegründeten 

Vereins für Kinderforschung. 

Wenn man von.einer Kinderforschung hört oder liest, so meint man 
vielleicht, dals die allerorts blühenden freien Vereinigungen der Lehrer 
und Lehrerinnen bereits das erledigen, was ein gesonderter Verein für 
Kinderforschung sich etwa zur Aufgabe stellen kann. Mit dem Kinde und 
seiner Entwicklung hat sich jeder Erzieher das eine oder das andere Mal 
schon beschäftigt. Aber eine planvolle Erforschung der Eigenart, die Indi- 
vidualität, zu betreiben, ihr gerecht zu werden durch naturwissenschaftlich 
exakte Methoden zum Zwecke einer sicheren Fundierung der Lehr- und 
Erziehungspraxis, sowie zur sozialen Gesundung unseres Volkslebens: das 
ist bisher noch nicht als das erstrebenswerte, gemeinsame Ziel vieler 
Gleichgesinnter hingestellt worden. Und zwar sind mit diesen Gleich- 
gesinnten nicht nur alle Erzieher, wie Eltern, Geistliche, Lehrer und 
Lehrerinnen gemeint, welche in ihrer Tätigkeit oft vor schier unlösbaren 
Rätseln stehen, die kindliche Entwicklung, ein Stück der Naturwissenschaft 
der Menschen, bedarf zu ihrer Erforschung auch der Mitarbeit des Medi- 
ziners. Pädagogik und Medizin müssen sich oft, namentlich bei dem oft 
abnorme Wege nehmenden Gange in der Entwicklung des kindlichen 
Geistes und Körpers, gegenseitig ergänzen und gegenseitig Handreichung 
leisten. Im Vereine für Kinderforschung bietet sich eine willkommene 
Gelegenheit, dieses Hand in Hand gehen zu betätigen. Nun, ein Einblick 
in die Vereinsliste beweist, dafs diese Gelegenheit von einer ganzen Reihe 
namhafter Mediziner bereits benutzt wird. Haben sich doch im Vorstande 
des sich schnell entwickelten Vereins mit den Pädagogen Un. Prof. Dr. 
W. Rein-Jena und Anstaltsdirektor J. Trüper-Jena die Mediziner: Geh. Hot- 
und Medizinalrat Prof. Dr. Binswanger-Jena, Un. Prof. Dr. Ebbinghaus- 
Breslau, Un. Prot. Dr. Ziehen-Halle vereinigt. Der Verein für Kinder- 
forschung möchte aber noch weitere Kreise als Helfer bei der Lösung 
seiner wichtigen Aufgaben gewinnen. Juristen und insbesondere Krimi- 


Die Kinderfehler. IX. Jahrgang. 3 


34 B. Mitteilungen. 





nalisten dürften hier ein willkommenes Arbeitsfeld finden. Die Gedanken- 
kreise: Grolsstadtjugend und das Verbrechen, sowie dessen Sühnung vor 
Gericht bedürfen wohl heute mehr denn je einer vielseitigen Prüfung zum: 
Zwecke einer Gesundung unseres Volkslebens. Kurzum, der Zusammen- 
schlufs vieler Helfer aus den verschiedensten Berufskreisen ist ebenso er- 
wünscht als notwendig, wenn es gilt, das Gedeihen unserer Jugend zu 
fördern. 

Diesem idealen Zwecke will auch in vielseitiger Weise diese V. Tagung 
des Vereins für Kinderforschung dienen. In der am 11. Oktober, 6 Uhr 
abends, im Grand Hötel stattfindenden Eröffnungsversammlung werden 
nach einer Begrüfsung durch Schulrat Brendel-Halle sprechen: Un. Prof. 
Dr. Aschaffenburg-Halle Ȇber die Bedeutung der Stimmungsschwankungen 
bei Epileptikern«, Oberlehrer Landmann-Jena »Über das Kind und die 
Kunste Die am 12. Oktober 81/, Uhr morgens beginnende Haupt- 
versammlung wird Vorträge bringen: 1. »Die ersten Zeichen der Nervosi- 
tät des Kindesalters«e von Un.-Prof. Dr. Oppenheim-Berlin. 2. »Körper- 
liche Ursachen geistig minderwertiger Leistungen« von Kinderarzt Dr. 
Schmid- Monnard-Halle. 3. »Psychopathische Minderwertigkeiten als Ur- 
sache der Gesetzverletzungen Jugendlicher« von Anstaltsdirektor J. Trüper- 
Jena. Der Besuch der Versammlungen, welche auch Nichtmitgliedern gern 
gestattet ist, wird zeigen, ob die Schulstadt Halle, welche zu ihren viel- 
seitigen Schuleinrichtungen auch eine wohlentwickelte Hilfsschule für 
schwachbefähigte Schüler zählt, auch für den in aller Schlichtheit arbeiten- 
den Verein für Kinderforschung mit seinen grolsen Aufgaben die alte An- 
ziehungskraft als gern aufgesuchte Versammlungsstadt besitzt. 

Dr. med. Schmid-Monnard. 


5. Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich 
gefährdeten Jugend. !) 
Ein Reisebericht von J. Chr.Hagen, Direktor des Schulheims zu Falstad bei Drontheim.. 
(Fortsetzung.) 


4. Baden. 


Im Grolsherzogtum Baden hat die Arbeit für die verwahrlosten Kinder: 
eine stetige Entwicklung durch eine Organisation erhalten, die wegen der 
konsequenten Durchführung ihrer Ideen Beachtung verdient, was übrigens 
nur durch das in diesem Lande allgemein verbreitete Interesse für die 
Sache möglich geworden ist. Durch das Gesetz über Zwangserziehung nimmt 
der Staat die verwahrlosten Kinder und Jugendlichen wie die Umherstreifer 
in seine Obhut und sorgt für ihre zweckmälsige Erziehung, um sie so weit 
wie möglich für die Gesellschaft zu retten. Man hat aber vom ersten 
Beginn an eingesehen, dals, wenn diese Arbeit sich darauf beschränken 
wollte, die verwahrlosten Kinder blols in einer Anstalt unterzubringen, und 


t!) Vgl. Jhrg. 1903 Heft I, II und IV. 


Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 35 














man sich mit der einfachen Anwendung des Gesetzes über Zwangs- 
erziehung begnügen wollte, nur die halbe Arbeit getan wäre. 

Man hat einen offenen Blick dafür gehabt, dafs eben bei der Ent- 
lassung aus der Anstalt die schwerste und gefährlichste Zeit beginnt — 
mit andern Worten, dafs man, um den vollen Nutzen des genannten Ge- 
setzes zu haben, spezielle Veranstaltungen treffen müsse für die Vermittlung 
des Überganges. Es ist eine Voraussetzung für die Wirksamkeit des Ge- 
setzes, dals der Staat mit der privaten Fürsorge Hand in Hand zu arbeiten 
hat. Schon seit mehreren Jahren ist dieses Prinzip auf der einen Seite 
für das Eingreifen der öffentlichen Behörden und auf der andern Seite für 
das der privaten Initiative maflsgebend gewesen. Es sind nämlich vor 
mehreren Jahren sogenannte Schutzvereine für freigelassene Gefangenen er- 
richtet. Diese Schutzvereine sind allmählich recht zahlreich geworden. 
Überall in den Städten und auf dem Lande sind Kreis- oder Distrikts- 
vereine gebildet worden, in deren Administration in der Regel die örtliche 
Behörde Mitglied ist. Es sind im ganzen ungefähr 60 solcher Vereine mit 
zusammen etwas über 8000 Mitgliedern und einem Vereinsvermögen von 
63000 M. Diese Vereine bilden zusammen einen Landesverein, an dessen 
Spitze eine Zentraladministration steht. Wie die Prädikate dieses Bundes 
zum Schutz von freigelassenen Gefangenen andeuten, hatte («icse Institution 
ursprünglich dasselbe Ziel wie unsere Gefängnisgesellschaften; aber schon 
früh erweiterte sie ihre Wirksamkeit — unter Hinsicht auf die Zwangs- 
erziehungsgesetze — dahin, dals sie sich auch der verwahrlosten 
Kinder und verbrecherischen Jugend anzunehmen habe. 

Die Zentraladministration hat vornehmlich, soweit es die letzte Kategorie 
angeht, die Frage über die Aufnahme an den von diesen mit Beistand 
des Staates errichteten und unterhaltenen Anstalten zu entscheiden, ver- 
waltet die durch die Kreisvereine eingekommenen Mittel und kann aus ihrer 
durch diese Mittel und die von dem Staate gegebenen Zuschüsse gebildeten 
Kasse die nötigen Beiträge für die Wirksamkeit der verschiedenen Kreis- 
vereine bewilligen. Sowohl dem Landesbund, als den einzelnen Vereinen 
ist durch Staatsministerialbeschluls vom 4. Mai 1887 Bewilligung erteilt, 
als öffentliche Korporation mit den im Reichsgesetz gewährleisteten 
Rechten zu wirken. Vermögen und Eigentum (Anstalten, Landbesitz usw.) 
der Gesellschaften sind steuerfrei. Die Zentraladministration verfügt jetzt 
über ein gesammeltes Vermögen von ca. 100000 M. Die Bezirksvereine 
haben — unter Beistand der Zentraladministration — sich der Unter- 
bringung in Lehre oder Dienst anzunehmen, durch ihre Mitglieder Aufsicht 
zu führen und mit Rat und Tat den so Untergebrachten beizustehen. Sie 
geben der Zentraladministration jährlichen Bericht von ihrer Wirksamkeit. 
So wie die einzelnen Vereine ihre jährlichen Gencralversammlungen, so 
hat der Landesbund seine Kongresse, wo dic Vereine durch ihre Ver- 
treter erscheinen, und wo die verschiedensten Fragen diskutiert und ent- 
schieden werden. Zur Beleuchtung der Wirksamkeit des lLandesvereins 
sollen hier einige statistische Angaben für 1897 folgen (die Angaben für 
1898 waren noch nicht publiziert). 

1897 wurden durch die Bezirksvereine 331 Entscheidungen über 

3* 


36 B. Mitteilungen. 


Jugendliche unter 18 Jahren, (wovon 278 männlichen, 53 weiblichen Ge- 
schlechts) und 802 über Männer und Weiber über 18 Jahre, zusammen 
über 1133 Fälle, getroffen. 

Die Erfolge der Wirksamkeit der Vereine bei den bis 1897 Unter- 
gebrachten und Versorgten waren bei 67 gut, bei 16 schlecht, bei denen 
in 1897: bei 50 gut, bei 26 schlecht. In Arbeit traten 1897 203 unter 
18 Jahren, 120 über 18 Jahre. 

Die sämtlichen Beiträge betrugen ca. 10000 M, die Verwaltungs- 
kosten ca. 1800 M und die Ausgaben in Form von Unterstützung, Bei- 
trägen zu den verschiedenen Anstalten und zu den Arbeitskolonien zu- 
sammen va. 6500 M. 

Wie oben angedeutet, erstreckt sich die Tätigkeit des Landesbundes 
sowohl auf die eigentlichen Erziehungsanstalten als auf die Arbeitskolonien, 
Arbeitsanweisungskontoren und auf die Unterbringung in Arbeit. Von den 
Fragen, die zur Besprechung auf der Generalversammlung aufgeworfen 
wurden, mögen genannt werden: 

1. Welche Persönlichkeiten darf man vor allem für aktive Teilnahme 
an der Arbeit der Schutzvereine gewinnen? 

2. Welche Bedeutung hat organisierter, unentgeltlich gebotener Arbeits- 
nachweis für die entlassenen Individuen? 

3. Welche Bedeutung haben Arbeiterkolonien oder dergl. Zufluchtsorte 
für Entlassene beider Geschlechter, die bei der Entlassung arbeitslos und 
hilfebedürftig sind? 

Auf der letzterwähnten Generalversammlung ward unter anderm im 
Hinblick auf Punkt 2 beschlossen: Es müssen eingerichtet und unterhalten 
werden Verbindungen zwischen den Administrationen der entsprechenden 
Vereine und der nächsten Anstalt für Arbeitsnachweis. 

Es ist begreiflich, dals diese Ordnung von grolser Bedeutung für die 
Bestrebungen der Vereine ist, wenn es entlassene Anstaltszöglinge unter- 
zubringen gilt. Die Vereine werden auf diese Weise zu jeder Zeit von 
ledigen Dienststellungen, Gelegenheit zur Arbeit usw. unterrichtet und 
haben dann wesentlich ihre Auswahl unter den für den Zweck geschick- 
testen Arbeitsherren zu treffen. 

Von den Anstalten Badens besuchte ich Flehingen, Sickingen, 
Scheibenhart und Durlach. Von diesen stehen Flehingen und Sickingen 
direkt unter der Zentraladministration des Landesbundes. Scheibenhart ist 
1886 von dem badischen Frauenverein unter Protektion ihrer Kgl. Hoheit 
der Grolsherzogin Louise errichtet. Durlach ist ein Mittelding zwischen 
Staats- und Privatanstalt. Von diesen boten nur Flehingen und Sickingen 
etwas von besonderem Interesse. Hier soll nur Flehingen erwähnt werden. 

Nachdem ich vorher von Herrn Geheimen Oberfinanzrat Fuchs, der 
Präsident der Administration der badischen Schutzvereine ist, freundlich 
empfangen und durch ihn von dem Stand der anstaltlichen Arbeit in 
Baden im allgemeinen unterrichtet worden war, besuchte ich die Anstalt 
Flehingen, die im Dorfe desselben Namens liegt. Sie ist in einem alten 
ärmlichen Schlosse interniert. Eine Brücke führt über die früheren, nun 
ausgefüllten und bebauten Schlolsgräben in die Anstalt. Diese macht, 


Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 37 





restauriert und aufgeputzt wie sie ist, einen vorteilhaften Eindruck. 
Das Innere der Lokale dagegen kam mir lange nicht so ansprechend vor; 
sie waren auch ziemlich unzweckmälsig, wie es in einem Gebäude kaum 
anders erwartet werden kann, das ursprünglich für einen andern Zweck 
bestimmt war. 

Ich erlaube mir das Wesentlichste der Statuten, Reglements und Haus- 
ordnung der Anstalt anzuführen: 

$ 1. Die Anstalt ist zunächst für Knaben bestimmt, die über das 
schulpflichtige Alter hinaus sind und 

1. auf Grund des Strafgesetzbuches, $ 56, oder 

2. infolge des Gesetzes vom 4. Mai 1886 in einer Erziehungsanstalt 
untergebracht werden sollen. 

3. kann die Anstalt als Detentionsplatz für die bestrafte männliche 
Jugend dienen, indem sie dann entweder statt zuerkannter Strafe eintritt 
oder als Aufenthaltsstelle nach überstandener Strafe dient. 

$ 2. Die Zöglinge der Anstalt sollen zu einem sittlich-religiösen, 
arbeitsamen, und anspruchslosen Leben erzogen werden, den nötigen Unter- 
richt erhalten und mit nötigen Kenntnissen ausgerüstet werden. Wenn 
sie die Anstalt verlassen, soll ihnen zu einer ordentlichen Existenz ver- 
holfen und ihre geistige Verbindung mit der Anstalt fortgesetzt werden. 

§ 3. Die Anstalt wird durch Beiträge vom Staate und von der Zentral- 
administration des Landesbundes der badischen Vereine zum Schutze ent- 
lassener Gefangenen erhalten. Die besondere Aufsicht wird einem Komitee, 
dem sowohl Vertreter des Landesbundes als des Staates angehören, überlassen. 

§ 4. Die Verwaltung der Anstalt und die Erziehung der Zöglinge 
liegt einem Hausvater ob, der von der erforderlichen Anzahl von Gehilfen 
unterstützt wird. Unter den Aufsichtspersonal sollen sich Vertreter beider 
Bekenntnisse befinden. Von den Funktionären müssen einige im Gartenbau, 
in Gemüsezucht und im Handwerk ausgebildet sein. Der Hausvater hat 
500 M Kaution zu stellen. 

$ 5. Seelsorge und Religionsunterricht liegen in den Händen der 
Geistlichen des Ortes. 

§ 6. Die Aufnahme sowohl als die Entlassung aus der Anstalt wird 
von dem Komitee der Zentraladministration beschlossen. In der Regel 
werden Knaben unter 14 und über 18 Jahre nicht aufgenommen, auch 
nicht Kranke oder mit körperlichen Fehlern behaftete. Bei der Aufnahme 
wird ein Verpflegungskontrakt gemacht. Die Verpflegungskosten betragen 
1 M pro Tag. Die durch Zwangserziehung veranlalsten Kosten werden 
teils von der Armenkasse der Heimat des Betreffenden ganz, teils von 
dieser und dem Distriktsvereine, der sonst für den Knaben zu sorgen 
gehabt hätte, gedeckt. 

$ 7. Der der Entscheidung des Zentralkomitees zufolge aufgenommene 
Knabe, wird zuerst ins Bad gebracht, dann wird die Kleidung der An- 
stalt angezogen, darauf wird in Schulkenntnissen geprüft und bei erster 
Gelegenheit wird er dann dem Seelsorger und dem Arzt vorgestellt. Er 
wird sogleich mit Tagesordnung und Pflichten bekannt gemacht und zum 
Guten ermahnt. 


38 B. Mitteilungen. 





$ S. Andachten und vorgeschriebene Gebete sollen vom Hausvater 
oder einem der Assistenten verrichtet werden. 

$ 9. Die Knaben werden zu Fleifs und sittlichem Lebenswandel ver- 
pflichtet. 

$ 10. Brave und fleilsige Zöglinge sollen durch vernünftiges Lob 
und Belohnungen aufgemuntert werden. Als solche gelten: 

1. Arbeitsbelohnungen bis 1 M pro Monat, die zusammengespart 
werden sollen. Die nach dem Strafgesetzbuch, $ 56, und die zufolge des 
Gesetzes über die Fürsorge des Staates für die verwahrloste Jugend unter- 
gebrachten Knaben können erst nach 6 Monaten Aufenthalt in der Anstalt 
irgend eine Belohnung erhalten. 

2. Gestattung von ausgewählter Lektüre. 

3. Besonderer Unterricht in Zeichnen, Sprache, Musik. 

4. Ein Gartenstück wird zur speziellen Bewirtschaftung überlassen. 

5. Erlaubnis zum häufigeren Briefwechsel und Besuchsannahme. 

6. Arbeit bei Vertrauen erweckenden Meistern aulserhalb der Anstalt. 

T. Erlaubnis, eine bestimmte Arbejt zu verrichten oder ein bestimmtes 
Instrument zu spielen, mit erweiterter Freiheit dazu. 

8. Erlaubnis zu verständiger und kontrollierter Verwendung von Spar- 
geld, doch nicht über 1/, des Ersparten. 

$ 11. Als Strafen benutzt man: 

1. Zurechtweisungen. 

2. Verlust von Freistunden, Ausschlielsung von Spielen und Spazier- 
gängen, Verbot, sich mit den Kameraden zu unterhalten. 

3. Auferlegung einer unbehaglichen Arbeit. 

4. Einsperren ohne Beschäftigung bis zu 12 Stunden, unter Umständen 
im finsteren Raum. 

5. Untersagung von Briefschreiben und Empfang von Verwandten, bis 
zu 6 Monaten. 

Nach diesem möglichst kurzen Resumé der Statuten der Anstalt dürfte 
cs sich empfehlen, einige Mitteilungen über die Anstalt selbst zu machen. 

Dafs man unter den dortigen Knaben mit besonders schweren Ele- 
menten zu arbeiten hatte, ging aus dem streng disziplinarem Gepräge, das 
über dem Ganzen ruhte, hervor. Die Freistunden waren sehr knapp: in 
der Mittagszeit !/, Stunde und am Abend 1 Stunde. Auch an den Sonn- 
tagen wurde die volle Freizeit auf ein Minimum beschränkt; Gottesdienst 
und Andachten nahmen zusammen 6 Stunden ein! An und für sich mufs 
es ja freilich zugegeben werden, dals einer grofsen Schar vernach- 
lässigter und verdorbener Burschen gegenüber jede Freizeit ihre Bedenken 
haben mag. Es ist im ganzen merkwürdig, wie wenig Spielraum nötig 
ist, wenn die schlechten, unmoralischen Anlagen hervorbrechen und zünden 
sollen; es dürfte aber doch eine Frage sein, ob diesem dadurch entgegen- 
gewirkt wird, dafs man in so grofsem Umfange den Kindern Pflichtarbeit 
auferlegt; ob man nicht dadurch das Bedürfnis des Kindes nach glück- 
lichen Stunden übersieht. Es ist allerdings eine Hauptforderung, dafs das 
Kind zur Verantwortlichkeit und Pflichttreue erzogen und dafs es unter 
Hinweis darauf zu arbeiten gewöhnt wird; aber es liegt ebenso gewifs 


Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 39 








eine erziehende Macht darin, dals das Kind eine Zeit des Tages erhält, 
wo nicht die gegebenen Befehle, sondern sein eigener Wille sein Tun und 
Lassen bestimmen. Eben dann, wenn die freie Zeit dem Kinde gehört, 
wird es unwillkürlich im Genufs derselben den Segen, den gerade die ge- 
ordnete Arbeit zu erwecken vermag, in erhöhtem Mafse verspüren. Treten da 
die Funktionäre hinzu, verständuisvoll interessiert und aufmunternd, statt 
die Feierstunden als einfache Wachtstunden aufzufassen, so wird eine etwas 
grölsere Ausdehnung der Feierstunden sogar von grofser Bedeutung sein. 
Sie wird es sein nicht nur durch die nötige Ruhe, die sie gibt, sondern 
vor allem dadurch, dafs die bei diesen Individuen vorkommende verkehrte 
Energie durch den unwillkürlichen Impuls der regulären Pflichtarbeit auf 
eine natürliche Weise weiter leitet, aber in rechte Balınen und zu nütz- 
lichem Ziele, sei es Spiel, Sport oder Arbeit. Und zur selben Zeit er- 
hält das Kind allmählich mehr Verständnis für die Genugtunng, die darin 
liegt, nach seinem eigenen Kopfe seine eigene Zeit zum Nutzen und zur 
Freude anzuwenden, d. h. zur rechtschaffenen Selbstbetätigung in Frei- 
heit. Es ist ja auch die Aufgabe, den Jungen zu einem Leben in persön- 
licher Freiheit, die nicht gemilsbraucht wird, zu erziehen. 

Ich erhielt indes nicht den Eindruck, dals dieses Moment in irgend 
einem besonderen Grade in Flehingen betont würde. Im Gegenteil machte 
man den Knaben gegenüber kein Hell daraus, dafs sie Gegenstand des 
Verdachtes waren, und dals man zu jeder Zeit Widerspenstigkeit, Aufruhr 
und Enutweichung erwarte. 

Bei meiner Vorstellung bei Herrn Fuchs teilte er mir mit, dals er 
schon dem Direktor der Anstalt Ordre gegeben hatte, die verschiedenen 
Sorten, wie er es nannte, d. h. die verschiedenen Kategorien 
vor die Front hervorzurufen und mir zu präsentieren: 1. die- 
jenigen, die auf Probe ein-, zwei-, drei-, viermal entlasscu waren; 2. die 
vor ihrem Eintritt in die Anstalt schon bestraft waren; 3. die schon cin- 
oder mehrmals entwichen waren, usw. 

Gerade als während meines Besuches in der Anstalt cs mir graute 
vor der Zeit zu dieser Parade, da erscholl das Hornsignal zur Auf- 
stellung auf der Linie. Der Direktor erklärte, dals er nun die ver- 
schiedenen Gruppen wolle hervortreten lassen. Meinem Versuch, diesem 
wie mir schien, peinlichen Akte zu entgehen, ward damit begegnet, dals 
er von der Zentralleitung Ordres empfangen hatte und dafs es darum ge- 
schehen müsse. 

Im schmalen, engen Hofraum war die Kompagnie aufgestellt und als 
eine gesonderte Gruppe 7 Aufscher mit schweren Knotenstöcken und Signal- 
hörnern über die Schultern hängend. Ein scharfes: »Achtung« schallte 
zwischen den Mauerwänden, und ich befand mich vor einer laugen Doppel- 
reihe von durchgehends harten, abstolsenden Gesichtern. Mit einem harten 
Kommandowort wurden dic, die einmal auf Probe entlassen und dann aufs 
neue eingesetzt, hervorgerufen. Der Direktor bezeichnete unter diesen die, 
die besonders schlimme Kanaillen waren, und die dies oder das Verbrechen 
begangen hatten. Dann kamen die zum zweitenmal, zum drittenmal, zum 
viertenmal vergebens auf Probe Entlassenen. Für jede Gruppe erbielt ich 





40 B. Mitteilungen. 


von den einzelnen, indem der Direktor sie kennzeichnete, einige charakte- 
ristische Personalien, und nach einer summarischen Bemerkung liefs er 
die Gruppe dann in das Glied zurücktreten. So wurde auch mit den- 
jenigen, die ein oder mehrere Male gestraft worden, fortgefahren; auch die 
ein oder mehrere Male Entwichenen mufsten hervor. Einer dieser letzten 
ward mir später an dem Tage vorgestellt. Er trug wie alle Durchbrenner 
Hosen, deren unterer Teil aus blaugestreiftem Kadettzeug bestand. Aber 
dazu trug er auch einen Messinggürtel, der rund um den Leib 
durch Jacke, Weste und Hose gezogen und hinten mit einem 
Vorlegeschlofs geschlossen war. (Er mulste in gewissen Fällen 
sich an einen Aufseher wenden, um gelöst zu werden!) Solange der 
Direktor beim Verhör des Knaben mir seine Fehler und Versehen erzählte, 
war das Gesicht desselben sehr hart und frech und es erzählte mir deut- 
licher als Worte es können von dem ausgerotteten Ehrgefühl. Dals es 
aber in diesem Knabenherzen andere Saiten mit weicheren Tönen gab, die 
nur angeschlagen zu werden erwarteten, sollte ich aus einem späteren 
Gespräch mit ihm erfahren. Es war wirklich ein Rest des Guten darin 
übrig, das zur Anknüpfung für wirklich moralische Beeinflussung benutzt 
werden konnte: Besserung aber konnte nicht durch die permanente Schande 
erreicht werden, die ihm buchstäblich durch einen lächerlich aussehenden 
Anzug, geschlossenen Messinggürtel und zur Schande glattgeschorenes 
Haar, angetan war. Nach meiner Auffassung muls Verbitterung, Milsmut, 
ja geradezu Verhärtung durch solche Malsregeln hervorgerufen werden. 
Wenn es erst dazu kommt, dafs die Knaben ihrer Versehen wegen hervor- 
gerufen und vor der Front durchgegangen und den Fremden als Kanaillen 
vorgeführt werden, so mülste es ein Wunder sein, wenn dieses auf das 
Gemüt des Jungen in irgend einer zuträglichen Richtung wirkte. Ich erfuhr 
übrigens, dafs die disziplinaren Schwierigkeiten der Anstalt sich für einen 
nicht unwesentlichen Teil von den auf Probe entlassenen, aber wieder 
zurückgeschickten Zöglingen herrührten. Es war ihnen jedesmal, wenn sie 
wiederkamen, immer schwerer, sich unter den Regeln und Forderungen 
der Anstalt zu beugen; sie schienen härter und steifer zu werden, je 
älter sie wurden. Die häufigen Entweichungen waren auch in der Regel 
das Werk dieser Rückfälligen. 

Die Beschäftigung der Knaben bestand, aufser in Unterricht nach 
dem Plane der Volksschule, im wesentlichen in körperlicher Arbeit. 

Als solche ward in grolsem Umfange Gartenbau betrieben; zum 
Teil Feldbau, ferner Tischlerarbeit und endlich Arbeit in dem Steinbruche 
der Anstalt. Der gröfste Teil der Belegschaft ward, sobald es die Jahres- 
zeit erlaubte, in dem Steinbruche verwandt. Dieser lag ca. 50 Minuten 
von der Anstalt entfernt. Bei meinem Besuch waren sämtliche Zöglinge 
dort beschäftigt. Sie kamen gegen 12 Uhr nach Hause. Nach !/, Stunde 
Ruhe erscholl wieder das Signal zum Abmarschieren. Die Knaben stellten 
sich in Reihe und Glied. Die 7 Aufscher mit ihren Signalhörnern und 
Stöcken musterten Ihre besonderen Gruppen und mit ausgerückten Rotten 
zog die Abteilung aus dem Burgtore, durch das Dorf zur Grube ab. 
Auf das freundliche Anerbieten des Direktors folgte ich ihm dahin. 





Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 41 


Aus einer mehrere Meter tiefen Grube hoben die Knaben mit Handkraft 
die Steine auf, zermalmten sie und rollten und schichteten sie zu Haufen. 
Überall patroullierten die Aufscher. Sie waren nicht mit bei der Arbeit 
tätig und liefsen sich auch nicht mit den Knaben ins Gespräch ein. Diese 
arbeiteten in der Welt ihrer eigenen Gedanken und man merkte wohl, dafs 
die Männer mit Stöcken und Hörnern ihnen nicht verhehlten, dals sie 
scharf jede geringste Bewegung beobachteten. »Sobald Widerspenstigkeit 
um sich greift oder jemand durchbrennt«, erzählte mir ein Aufscher 
»signalisieren wir mit den Hörnern, wodurch alle umliegenden Höfe gc- 
warnt werden.« Entweichung fand häufig statt, es waren bis 28 Fälle 
im Jahre vorgekommen. Mehrere Meutereien waren ins Werk gesetzt 
mit dem Zwecke bald den Direktor, bald Funktionäre zu töten. 
Die Anfseher, die an der Seite der Schlafsäle lagen, mulsten während der 
Nacht ihre Tür fest verschlossen halten; sie war mit Schlofs und solidem 
Riegel versehen. 

Die Arbeit in dem Steinbruche der Anstalt mufste allerdings ziemlich 
einförmig ausfallen. Da sie sich zudem über mehrere Monate erstreckte, 
den einen Tag wie den andern und bei jedem Wetter — fand ich es 
ganz erklärlich, wenn sie dazu beitrug, die Knaben des Ganzen überdrüssig 
zu machen. In jedem Falle schien sie mir unzweckmälsig, der Arbeitsschen 
entgegenzuwirken. Dazu ist eine bildendere Beschäftigung erforderlich. 
Es waren denn auch unter den Verhandlungen des Badischen Landtages 
Einwendungen dagegen vorgekommen. Auf dem Kongresse der Zentral- 
leitung war darauf geantwortet worden, dafs der Steinbruch eine ziem- 
lich grofse ökonomische Ausbeute brächte und dafs es in der Anstalt an 
nötigem Raum fehle, um Handwerksunterricht in dem gewünschten Um- 
fange aufzunehmen. 

Die Verhältnisse in Flehingen zeigten im ganzen, welche wesentliche 
Bedeutung cs hat, dafs die Anstalt darauf eingerichtet ist und Gelegen- 
heit hat zu einem praktischen, rationell geordneten und nicht zu begrenzten 
Umfang der Beschäftigung — und wie Mangel in dieser Hinsicht dic 
Anstaltwirksamkeit lähmt und auch in disziplinärer Richtung bedenkliche 
Folgen nach sich zieht. Es liegt ja immer ein starkes erziehendes Moment 
darin, dafs der Junge fühlt und trotz seiner Arbeitsschen bekennen muls: 
»Hier lerne ich wirklich etwas«e ; dafs er sich sagen muls: »Dies habe 
ich gelernt selbst zu machen; das ist etwas, was man braucht und was 
gebraucht werden kann.« — 

Der Direktor der Anstalt (Verwalter genannt) leitet die Austalt unter 
der Kontrolle der Zentraladministration der Schutzvereine. Scine Frau hat 
die Leitung des Haushaltes. Das Gehalt des Direktors beträgt 1500 M, 
nebst freier Wohnung, Licht und Feuerung, samt Kost für sich und seine 
Familie nach festgesetztem Regulativ für das Gewicht und die Beschaffen- 
heit des Essens. 

Der Lehrer wird mit 800 M und Junggesellenwohnung besoldet. 7 
Aufseher — auch in der Anstalt wohnend — erhalten 406—602 M und 
freie Wohnung. Ein jeder der Aufseher mufs als Militär gedient haben. 
(Zur Zeit war ein Unteroffizier als Direktor angestellt.) 


a 


42 B. Mitteilungen. 





Aulserdem waren der katholische sowie der lutherische Pfarrer als 
Lehrer und Seelsorger der Anstalt beigegeben. 

Der Staat leistet als jährlichen Zuschufs 5000 M und hat dazu um- 
sonst der Anstalt die Gebäude zum Gebrauch überlassen. Die Kommune 
trägt 1 M täglich für jeden Knaben, den sie unterbringt, bei (zwei Drittel 
davon werden ihnen vom Staate zurückerstattet), und von der Zentralkasse 
der Schutzvereine kommen jährlich 1000 M. Alles in allem ergeben diese 
Beiträge eine Einnahme von 30000 M. Hierzu kommen die Ausbeute des 
Land- (hauptsächlich Garten-) baues und des Steinpruches, zusammen ca. 
6800 M. Weiter die Renten und Kapitale, die von Zeit zu Zeit der 
Anstalt geschenkt werden, ca. 30000 M. Die gesamte Einnahme der An- 
stalt beträgt ca. 65800, die jährlichen Ausgaben ca. 60000 M, demzufolge 
die Anstalt durchschnittlich einen Überschuls hat von ca. 6000 M. 

Die ökonomisch günstige Stellung der Anstalt hat doch nicht allein 
— obgleich wesentlich — ibre Ursache in der Bereitwilligkeit, womit der 
Staat, die Schutzvereine und die Zentraladministration derselben sie stützt, 
sondern auch darin, dafs die Bekleidung und die Kost so sparsam und 
frugal wie irgend möglich angelegt ist. 

Es war z. B. reglementarisch bestimmt, dafs die Hemden 2 Jahre lang 
dauern sollten; Unterbeinkleider und Sonntagskleider ebenso; Arbeits- 
kleider 1 Jahr; die Hosenträger sollten 2 Jahre halten. Die so fest- 
gesetzte Gebrauchszeit ist als minimale zu betrachten. 

Es ist doch eine Frage, ob es nicht seine bedenklichen Seiten hat, 
die budgetmälsigen Rücksichten und Bestrebungen, Überschüsse zu erzielen, 
einen zu dominierenden Einfluls auf die Behandlungsweise gewinnen zu lassen. 

Schliefslich will ich noch bemerken — was übrigens aus den an- 
geführten Beobachtungen schon hervorgeht — dafs in der Fürsorge für 
die Knaben nichts besonderes von individueller Behandlung sich erkennen 
liefs. Man nahm keine Rücksicht auf psychische Anomalten, ausgenommen 
den Fall, dafs diese geradezu die tägliche Wirksamkeit hinderten. Der 
Direktor sprach sich dahin aus, dafs er nicht persönlich mit den 
dazu gehörenden Fragen vertraut sei. Zur Förderung der Aufgaben der 
Anstaltserzichung — hiels cs — kommen hauptsächlich zwei Fragen in 
Betracht. Die erste ist, durch streng geordnete Arbeit die eingelieferten 
Knaben an Fleils, Ordnung und Gehorsam zu gewöhnen und dadurch einer- 
seits der sittlichen Verkommenheit entgegenzuarbeiten, andrerseits ihre 
Gesundheit zu stärken und ihre körperlichen Kräfte zu entwickeln. Die 
„weite Aufgabe besteht darin, die Knaben, die Besserung zeigen, für ihre 
Zukunft vorzubereiten. So lautet cs auch im Plan der Anstalt. Wie man 
sicht, nüchtern und ohne ein Streifchen psycho-pathologischen Interesses. 
Auch stand man ciner Anstalt gegenüber, deren Aufgabe es war, zu erT- 
ziehen, ohne dals irgend cin Gedanke, weder in Theorie noch Praxis, in der 
Richtung, was gegenüber dem eigentümlichen Erziehungsobjekt solcher 
Anstalten gefordert werden sollte, der pädagogischen Pathologie gewid- 
met war. Ist es eine Tatsache, dafs wir überall in den Schulen unter den 
kindern psychopathische Symptome antreffen, so ist es ganz gewils nicht 
am wenigsten der Fall unter »den verwahrlosten Kindern« Sei es, dafs 


C. Literatur. 43 





man auf vererbte, sei es, dafs man auf erworbene psychische Unregel- 
mälsigkeiten hinsieht, haben sie beide einen besonders fruchtbaren Boden 
sowohl in den moralischen als auch den ökonomischen Verhältnissen der 
Gesellschaftsschichten, aus welchen hauptsächlich die Anstaltszögliuge 
stammen. 

Überhaupt fand ich diese Seite der Sache ganz unbeobachtet an 
sämtlichen von mir besuchten deutschen Anstalten, ausgenommen das Er- 
ziehungshaus des Direktors Trüper in Jena. Aber Trüper ist ja auch, 
soviel ich weils, der erste, der — selbst ein eifriger Psychiater — die 
Theorie Dr. Kochs, Strümpells, Scholzs u. a. in den Dienst der praktischen 
Pädagogik hineingeführt hat. 

Ich gehe daher dazu über, die Trüpersche Anstalt kurz zu be- 
sprechen. Sie ist allerdings nicht eine Zwangserziehungsanstalt, sie 
schlielst neben Epileptikern und Blödsinnigen auch moralisch Entartete und 
Verkommene von der Aufnahme aus und sie wird nicht wie unsere An- 
stalten hauptsächlich von den breiten Schichten aus rekrutiert, nimmt aber 
überhaupt Kinder mit vererbten oder erworbenen psychischen Defekten, d.h. 
schwer erziehbare Kinder, auf und begründet seine Behandlungsweise psy- 
chiatrisch ; Kinder, die, wenn sie aus ärmeren Kreisen stammen, die 
äufseren Umstände, die sittliche Luft ihrer Familie und deren soziale Ver- 
hältnisse auch in unsere Anstalten drängen. 

Die Erfahrungen, die ich in meiner Wirksamkeit als Direktor einer 
Erziehungsanstalt habe machen können, schienen mir fortwährend zu zeigen, 
dafs die moralischen Fehler und Verbrechen, die die Unterbringung der 
Knaben in der Anstalt zur Folge hatten, in grofser Ausdehnung Produkte 
pathologischer Zustände waren, welchen die ethischen und sozialen Ge- 
brechen des Mililieus als günstiger Boden gedient hatte. Ich fand es 
daher von gröfstem Interesse zu sehen, wo ich in einer Zwangserziehungs- 
anstalt Anwendung der Psychiatrie finden konnte, so wie sie Trüper 
in Praxis durchführt. Ich fand aber keine. (Schluß folgt.) 


C. Literatur. 


Ziehen, Dr. Julius, Über den Gedanken der Gründung eines Reichs- 
schulmuseums. Frankfurt a/M., Kesselring. 27 S. 0,50 M. 

Scheinbar gehören diese Gedanken nicht in den Rahmen unserer Zeitschrift 
Wir möchten aber dennoch unseren Lesern diesen kleinen gediegenen und gedanken- 
reichen Vortrag sehr empfehlen. Was Ziehen hier sagt, hat Hand und Fuß und 
ist nicht ohne Bedeutung für die Entfaltung des gesamten deutschen Bildungswesens. 
Hinzu kommt noch, daß Ziehen ein Vertreter des Einheitsschulwesens ist und 
zwar im vollen Sinne des Wortes. Sein Vortrag umfabt darum die Interessen 
aller, auch der Volksschulen. Das von Ziehen gedachte Reichsschulmuseum 
würde auch der geeignetste Ort sein, die in unserer Zeitschrift vertretenen Be- 
strebungen zweckmäßig zu zentralisieren. Tr. 


Pr 


44 C. Literatur. 





Stadelmann, Schulen für nervenkranke Kinder. Berlin 1903. Preis 0,75 M. 

Das Schriftchen ist in der bekannten Sammlung von Abhandlungen von 
Ziegler und Ziehen erschienen. Es beleuchtet das vielbesprochene Gebiet der 
Frühbehandlung und Prophylaxe der Neurosen und Psychosen, auf dem sich der 
Arzt und der Pädagoge zu ersprießlicher Tätigkeit die Hand reichen sollen. Der 
Verfasser bringt nichts, was nicht da und dort schon einmal eindringlich gefordert 
worden ist. Eine Wahrheit jedoch, die zum Fortschritt mahnt, läuft nie Gefahr, 
durch Wiederholung ihre Wirkung zu verlieren. 

Stadelmann meint: Das Verweilen nervenkranker Kinder in der allgemeinen 
Schule ist für gesunde und kranke Schüler gefahrvoll. Die nervenkranken Kinder 
sollen von dem allgemeinen Unterrichte feıngehalten werden wegen seiner zu langen 
Dauer und wegen des für die pathologische Anlage unzweckmäßigen Lehrprogramms. 
In die Schule für nervenkranke Kinder gehören: Jugendliche Psycho- und Neuro- 
pathen, bildungsfähige Schwachsinnige, Kinder mit Sprachstörungen und Epileptische 
(ausgenommen die Kranken mit gehäuften Anfällen und zu schweren Intelligenz- 
defekten). 

Die Grundsätze, welche Stadelmann bei der psychischen und physischen Be- - 
handlung der Kinder in den von ihm empfohlenen Schulen befolgt wissen will, haben 
sich seit geraumer Zeit bei Ärzten und Pädagogen das Bürgerrecht erworben. 

Weshalb Stadelmann zum Schlusse seiner Ausführungen gegen den »verfehlten 
Vorschlag« front macht, epileptische Kinder in einem ländlichen Pfarrhause oder 
am besten in einer besonders für solche Kranke eingerichteten Erziehungsanstalt 
unter der Leitung eines fachkundigen Pädagogen unterzubringen, ist mir nicht klar 
geworden. Kein Geringerer als Binswanger hat den Vorschlag gemacht, den ich 
‚in meiner kleinen Laienpredigt über »Die Epilepsie im Kindesalter«') als vollständig 
zweckmäßig aufgriff, Daß ich mit diesem Vorschlag die jugendlichen Epileptiker 
nicht dem Machtbereiche des Nervenarztes entziehen wollte, hätte Stadelmann sehen 
können, wenn er seine Gäusefüßchen nicht zu früh geschlossen hätte. Ich verlangte 
eine »ständige Beratung durch einen Spezialarzt« (vgl. 1. c. pag. 28.). Unter dieser 
Voraussetzung überlasse ich ein epileptisches Kind, das nicht gerade unter einem 
direkten Heilverfahren z. B. der Opium-Bromkur steht, dem Pädagogen gern ohne Sorge.. 

Jena. Dr. Strohmayer. 


Eie nachahmenswertes Buch, 


La protection de l’enfance en Belgique. Législation. Enfants mal- 
heureux. Mineurs délinquants par Arthur Levoz, Substitut du procureur 
du Roi à Verviers, Docteur en sciences politiques et administratives, Président 
de la Sociċté pour la protection de l’enfance et le patronage des condamnés, des 
vagabonds et des aliénés à Verviers, Membre de la commission royale des patro- 
nages de Belgique. Bruxelles, J. Goemaere, Imprimeur du Roi, rue de la Li- 
mite 21. 1902. 80, S. 497. 

Wenn wir von diesem Buche statt ciner trocknen Nachricht von seinem Er- 
scheinen cine eingehende Inhaltsangabo bringen, so geschieht dies deshalb, weil 
dasselbe eine wirkliche Lücke ausfüllt und es äußerst praktisch wäre, wenn ein 
solches Werk in jedem Lande erschiene. Es ist ein in sich vollständiges und höchst 
interessantes Werk, so recht geschaffen einerseits gerade für solche, die ohne vor- 


') Strohmayer, Die Epilepsie im Kindesalter. Vortrag gehalten auf der 
4. Versammlung des Vereins für Kinderforschung. Altenburg, Oskar Bonde, 1902. 
Preis 0,80 M. 





C. Literatur. 45 


herige Spezialkenntnisse sich an die Beschäftigung mit den Fragen der unglücklichen, 
vernachlässigten, oder anormalen Kinder herantreten, andrerseits für Spezialisten, die 
sich über die verschiedenen Methoden und die besondere Literatur belehren wollen. 

Obwohl das Buch zunächst nur die Belgier interessiert, so ist es doch auch 
andern von höchstem Nutzen, zuerst durch den Vergleich mit den belgischen Ein- 
richtungen betreffs des Schutzes der unglücklichen und vernachlässigten Kindheit. 
dann durch die Überlegungen, Berichte und Ratschläge, die Herr Levoz 
auf langjährige Erfahrungen gestützt, daran knüpft, sowie durch die ungemein 
reichhaltigen Belege und Quellen, auf die er auf jeder Seite hinweist und 
die eine wirklich tiefe Gelehrsamkeit des Autors in diesem Fache beweisen. 

Das Buch zerfällt in drei Hauptteile, von denen der erste la législation 
concernant l’enfance«, die die Kindheit betreffende Gesetzgebung, der zweite 
»l’enfance malheureuse«, die unglückliche Kindheit, und der dritte »les mineurs 
delinquants«, die Kinder, die sich eines Vergehens schuldig gemacht haben, be- 
handelt. 

Der erste Teil enthält alle Bestimmungen des Code Napoleon mit den im 
Laufe der letzten Jahrzehnte hinzugefügten Modifikationen der belgischen Gesetz- 
gebung über den Bürgerstand des Kindes von dem Augenblicke seiner Emp- 
fängnis an bis zu seiner Mündigkeitt und die unentbehrlichen Erklärungen und Be- 
lehrungen für den Laien, soweit solche dem Zwecke des vorliegenden Werkes ent- 
sprechen. Nun ist der Zweck dieses Teiles, wie der Verfasser in einer Anmerkung 
auf der ersten Seite seines Buches sagt, nicht so sehr die fachgemäße Aufzählung 
und Erklärung jeder möglichen rechtlichen Lage des Kindes, als vielmehr der Hin- 
weis auf die Schwierigkeiten, die sich für die Rechte der Kinder und die Maß- 
regeln zu ihrem Schutze ergeben können, damit die nichtjuristischen Mitglieder der 
Schutzvereine wissen, was sie zum Besten ihrer Schützlinge unternehmen können. 
So erfahren wir in dem ersten Kapitel nach und nach die gesetzlichen Vorschriften 
über die Geburtserklärung, den Familiennamen (besonders bei illegitimen 
Kindern), die erlaubten Vornamen, die Findlinge, die Nationalität und 
die Heimatsberechtigung der Kinder, die legitime Abstammung seitens 
des Vaters und seitens der Mutter, über die Lage der natürlichen Kinder 
und die Möglichkeit ihrer Anerkennung und Legitimierung, das Aufsuchen 
der Mutterschaft (la recherche de la maternité est admise) und der Vater- 
schaft (la recherche de la paternite est interdite, eine Bestimmung, die Herr Levoz 
ein Übereinstimmung mit allen rechtlich denkenden Leuten als ‚la plus detestable 
du Code« erklärt, und deren Revision in Frankreich und Belgien namentlich seitens 
der Feministen nachgesucht wird); dabei erfahren wir, daß die aus Ehebruch 
oder Inzest hervorgegangenen Kinder durchaus gar keine Rechte haben; sie dürfen 
selbst die Mutterschaft nicht nachsuchen und haben nur dann allenfalls Anspruch 
auf Pflegegelder, wenn ausnahmsweise ihre Abstammung gerichtlich festgestellt 
werden mußte; sonst können sie weder erben noch selbst von ihren Eltern Ge- 
schenke empfangen, auch haben sie keinen Familiennamen, es sind vollständige 
Parias. Diese barbarischen Bestimmungen müßten nach Herrn Levoz' Ansicht be- 
deutend gemildert werden. — Danach wird die Adoption behandelt, die offizielle 
Vormundschaft. sowohl für die legitimen wie für alle andern Kinder, die 
Pflichten der Eltern gegen ihre Kinder, Ernährung, Erziehung, besonders 
betreffs der natürlichen und sozusagen rechtlosen Kinder, und dann die väter- 
liche Gewalt, die nach Herrn Levoz im Code civil auch tiefe Lücken und be- 
dauerliche Übertreibungen enthält. Daran schließen sich die Rechte der Eltern 


46 C. Literatur. 








in Hinsicht auf die Erziehung, Beaufsichtigung und Züchtigung der Kinder 
und die Fälle, wo Eltern dieses Recht verlieren oder verlieren müßten. Herr 
Levoz ist für gänzliche Abschaffung der körperlichen Züchtigung, was wohl ein 
wenig zu weit gegangen ist. In Belgien kann ein Vater sein Kind auf sein Ver- 
langen bis zu einem Monat in gerichtlichem Gewahrsam halten lassen, bei Minder- 
jährigen über 16 Jahre sogar bis zu 6 Monaten. In solchem Falle ist es Sache 
der Schutzgesellschaften, für das Kind einzutreten, um Mißbräuche zu verhindern; 
solche Freiheitsstrafen werden aber nicht gebucht. Doch ist es dann noch vor dem 
Einsperren des Kindes Pflicht des Richters, einerseits durch gütiges Zureden den 
Zorn des Vaters zu besänftigen und andrerseits auf das Gemüt des Kindes ein- 
zuwirken zu suchen, und er soll den Befehl zum Einsperren des Kindes erst er- 
teilen, nachdem seine Versuche fruchtlos geblieben sind. Es ist nun Sache der 
Patronate (Schutzvereine), sich des eingesperrten Kindes anzunehmen oder es 
eventuell gegen seine eigene Familie zu schützen; die Mitglieder solcher Vereine 
haben die Erlaubnis, Kinder im Gefängnis zu besuchen. 

Nun folgen die Bestimmungen über die Verwaltung des Vermögens der 
Kinder; in der Festsetzung der elterlichen Autorität betreffs des Vermögens bei 
natürlichen Kindern sind die gesetzlichen Anordnungen auch außerordentlich lücken- 
haft und ihre Auslegung ist infolgedessen sehr vielseitig. 

Das darauf folgende Kapitel über den Verlust der Elternrechte ist sowohl 
für die legitimen als auch für die natürlichen Eltern sehr erschöpfend behandelt 
und zahlreiche Rechtsquellen sowie Winke für Ausnutzung der im Gesetze vor- 
handenen Lücken sind sorgfältig angegeben, um die Kinder dem verderblichen Ein- 
fluß, der Mißhandlung oder der Vernachlässigung unwürdiger Eltern zu entziehen. 

Das Thema des darauf folgenden Kapitels ist die rechtliche Lage der Kinder 
im Falle der Ehescheidung der Eltern, und das darauf kommende behandelt 
die rechtliche Lage der Unmündigen, ihre rechtlichen Befähigungen und 
Untauglichkeiten, und zwar nicht nur als ganz junge Kinder, sondern auch 
später, z. B. bei der Heirat, bei Schenkungen, Testamonten, Arbeits- 
verträgen, Stimmrecht bei Unterstützungsvereinen und Sparkassen, Zeugnis- 
ablegen, Klagen vor Gericht. 

Die wichtigen Bestimmungen über die Vormundschaft nehmen die nächsten 
Paragraphen in sehr erschöpfender Weise ein; jeder Fall ist darin vorgesehen, 
Iierauf folgt der ebenso wichtige Paragraph über die rechtliche Verantwortung 
der Eltern, Vormünder, Lehrer und Lehrherren für die von den Kindern 
begangenen Handlungen. 


Das zweite Kapitel enthält die Verordnungen des Verwaltungsrechtes 
und spricht zunächst von den Kindern, welche der öffentlichen Wohltätigkeit an- 
vertraut sind, den Findlingen, den Waisen, den Verlassenen. Wir lesen 
dort die gesetzlichen Erklärungen dieser Ausdrücke, damit man weiß, zu welcher 
Kategorie die uns etwa auvertrauten Kinder zu zählen sind; ferner die von den 
belgischen Behörden erlassenen Verordnungen über die Frage, wer für diese Kinder 
zu sorgen habe und wie dieses zu geschehen habe. Wir erfahren dabei, daß die 
Meinungen über den letzteren Punkt sehr geteilt sind und die verschiedenen Ge- 
meinden verschiedene Systeme haben. In Belgien wird die »Charit& publique« 
(öffentliche Wohltätigkeit) durch zwei Organe ausgeübt: die »Hospices« und die 
»Bureaux de bienfaisance« (Armenverwaltung). Nach einem kaiserlichen Dekret 
von 1811 haben die Hospitien für die drei Arten von Kindern zu sorgen, aber in 
der Praxis handelt jede Gemeinde nach ihrem Ermessen. Dasselbe Dekret wollte 





C. Literatur. 47 








den Eltern das Verlassen und Aussetzen ihrer ganz jungen Kinder erleichtern, 
deshalb schrieb es die Einrichtung eines »Tour< vor, d. h. eines Findelhauses mit 
Drehlade, in welche man die Säuglinge legen konnte ohne gesehen zu werden. Der 
angebliche Zweck war, die Kindermorde zu vermindern, zu damaliger Zeit aber wohl 
in Wahrheit, zukünftige Matrosen und Soldaten zu gewinnen. Das artete aber in 
Mißbräuche aus; die Aussetzungen der Kinder wurden immer häufiger, ja sogar 
Fuhrleute nahmen gegen entsprechenden Lohn gewerbsmäßig Säuglinge aus der 
Provinz mit nach den größeren Städten, um dieselben dort in den »Tour« zu legen. 
Deshalb suchte man nach Mitteln, um diese allmählich sehr zahlreich gewordenen 
Einrichtungen nach und nach zu unterdrücken; die ergriffenen Maliregeln riefen 
nun viele Debatten hervor, man bestritt ihre Gesetzmäßigkeit und ihre Menschlich- 
keit, doch wurde die Unterdrückueg beibehalten, und auch in Belgien haben diese 
Tours zu bestehen aufgehört. In Paris hat man eine andere Einrichtung dafür ein- 
geführt, den »Abandon secret«, das verschwiegene Verlassen, indem man in dem 
Wartezimmer des Hospice de la rue Denfert-Rochereau eine Anzeige aufgehängt 
hat, die sagt: »Jede Person, welche ein Kind hierher biingt mit der Absicht, es zu 
verlassen, ist benachrichtigt, dal ihr im Interesse des Kindes Fragen gestellt werden, 
daß es ihr aber gestattet ist, dieselben unbeantwortet zu lassen oder dieselben nur 
teilweise zu beantworten. Auch die Vorlage eines Geburtsscheines ist nicht not- 
wendig.«e Und alles dies, weil der Versuch, ein Kınderleben zu retten, alle andern 
Bedenken beseitigt, und diese Bestimmung möchte Herr Levoz auch in Belgien 
aufgenommen wissen. Vorläufig nehmen sich nur die Gesellschaften »des Enfants 
martyrs« oder die Kinderschutzvereine der armen Verlassenen an. 

Es folgt nun die Auseinandersetzung der Verordnungen betreffs der Vor- 
mundschaft der unter der Ägide der Hospitien erzogenen Kinder und 
über die Verwaltung der diesen letzteren etwa zufallenden Gelder und Erb- 
schaften, über ihre Erziehung, die gewöhnlich bei Bauern oder Handwerkern, die 
dafür eine kleine Pension erhalten, stattfindet, und über die Fälle, wo die Vor- 
mundschaft der Hospitien ein Ende erreicht. 

Betreffs der von den Eltern im Stich gelassenen größeren Kinder und 
für die Waisen hat das Gesetz lange nicht dieselbe Fürsorge wie für die Findlinge, 
was Herr Levoz auch als einen großen Fehler erklärt, da diese letzteren ebenso 
sehr menschliche Teilnahme verdienen, als die ersten. Auch hatte die Regierung 
die Mängel dieser Gesetze empfunden und im Jahre 1895 eine Kommission ernannt, 
die mit dem Studium einer Reform in der Armenverwaltung betraut war; dieselbe 
hat auch nach fünfjähriger Arbeit einen Bericht vorgelegt, der aber nur wenig von 
diesen unglücklichen Kindern spricht und übrigens noch nicht zum Gesetz geworden 
ist. Herr Levoz ist der Meinung, daß die Patronate und Wohltätigkeitsvereine die 
bürgerrechtliche Personifizierung erlangen müßten, um mit Erfolg ohne behördliches 
Einschreiten den faktisch und ebenso schr den moralisch verlassenen Kindern zu 
Hilfe kommen zu können. Herr Levoz versetzt hier der belgischen Abgeortl- 
netenkammer einen wohlverdienten Hieb, indem er den Wunsch ausspricht, die 
Herren Abgeordneten möchten einmal ihre endlosen abgeschmackten politischen De- 
batten lassen, um die von allen gemütvollen Menschen erschnten der Jetztzeit ent- 
sprechenden Gesetze zu schaffen betreffs des Schutzes der Kindheit, des 
Nachsuchensder Vaterschaft, desSchulzwangs, der Reform der Armen- 
verwaltung, der Vorschriften über die Geisteskranken undder Sittenpolizei, 


sowie der Gesetze über die Trunkenheit. Wer möchte dem nicht beistimmen? 
(Schluß folgt.) 


48 C. Literatur. 


Eingegangene Schriften. 


Die Irrenpflege. Monatsschrift zur Belehrung, Fortbildung, Unterhaltung 
und Hebung des Pflegepersonals an Heil- und Pflegeanstalten, Fachblatt zur Ver- 
tretung der Standesinteressen des Pflegepersonals in Deutschland und Österreich- 
Ungarn. Mit Berücksichtigung der freien, kolonialen und familiären Behandlung 
der häuslichen und allgemeinen Krankenpflege begründet und herausgegeben von 
Dr. Konrad Alt, Direktor und Chefarzt der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Ucht- 
springe. Unter ständiger Mitarbeit erfahrener Fachärzte und Anstaltsbeamten 
redigiert von Dr. Ludwig Scholz, dirig. Arzt der Heil- und Pflegeanstalt Waldbroel 
(Rheinland) und Dr. Heinrich Sehlöss, Direktor der nö. Landes-Irren-Anstalt Kier- 
ling Guggiez bei Wien. Halle a/S., Verlag von Carl Marhold, VII. Jahrg. Nr. 1. 
Preis für das Halbjahr 3 M. 

Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift. Redigiert von Ober- 
arzt Dr. Joh. Bresler. Halle a/S., Verlag von Carl Marhold. V. Jahrgang. Nr.1. 
Preis für das Vierteljahr 4 M. 

Dr. J. Demoor, Société protectrice de l'enfance anormale. Rapport de M. le 
Secrétaire général à la 20 Assembloć generale annuelle tenue à l'Hotel Ravenstein, 
le S mars 1903. Bruxelles, Palleunis & Ceuterich, 1903. 

Dr. A. Kühner, Abnorme Kinder. In der Zeitschrift für Kinderheilkunde 
»Der Kinder-Arzt«, herausgegeben von Dr. med. Sonnenberger in Worms, 1903. Nr. 2. 

Bulletin of Jowa State Institutions. A quarterly journal of the 
scientific and clinical work in the Hospitals for the insane, and in the Institutions 
for the Feeble Minded, and containing information touching all other Institutions 
under the care of the Board of Control. Vol V. 1903. Nr. 1. 

Report of the School Committee of the City of Springfield, Massachusetts. 

International Reports of Schools for the Deaf. Mode to the Volta 
Bureau January 1901. 

Der Rettungshausbote, Korrespondenzblatt für die christliche Erziehungs- 
und Rettungsarbeit an der Jugend. Herausgegeben von Pastor FR. Kirstein in 
Templin (Uckermark) 1903. 

Die Gesundheitswarte der Schule. Monatsschrift für Stadt- und Land- 
lehrer. Redigiert von Dr. med. Alfred Baur, Seminararzt und Lehrer der Schul- 
gesundheitspflege im Kgl. Lehrer- und Lebrerinnen-Seminar in Schwb. Gmünd. 

M. Enderlin, Erziehung durch Arbeit. Eine Untersuchung über die 
Stellung der Handarbeit in der Erziehung. Leipzig, Verlag von Frankenstein 
& Wagner. 1903. 

Karl Knortz, Streifzüge auf dem Gebiete amerikanischer Volks- 
kunde. Darmstadt und Leipzig, Verlag von Erust Hoppe. 1903. 

L. Maurer, Beobachtungen über das Anschauungsvermögen der Kinder. I. 
Sonderabdruck aus Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene. 

R. Paschen, Der Schiefwuchs der Kinder. I Die Skoliose, Ent- 
stehung und Heilung derselben vermittels persönlich konstruierter Apparate nach 
eigenen, in 16jähriger Anstaltstätigkeit gesammelten Erfahrungen für Ärzte und 
Laien. Dessau, Anbhaltische Verlagsanstalt, 1902, 

Albert Schmitz, Zweck und Einrichtung der Hilfsschulen. Aus: 
Pädagogisches Magazin, Abhandlungen vom Gebiete der Pädagogik und ihrer 
Hilfswissenschaften. Herausgegeben von Friedrich Mann. Langensalza, Hermann 
Beyer & Söhne (Beyer & Mann). 


Druck von Hermann Beyer & Sohno (Beyer & Mann) in Langonsalza. 








A. Abhandlungen. 


1. Über die ersten Zeichen der Nervosität des Kindes- 
alters. 
Vortrag, gehalten im Verein für Kinderforschung am 11. Oktober 1903. 
Von 
Prof. Dr. Oppenheim. 


In einem früheren Vortrage,!) welcher das Thema Nervenleiden 
und Erziehung behandelte, habe ich die Bezeichnung »nervös« und 
»Nervosität« angewandt, ohne eine Definition des Begriffes zu geben, 
ohne das Wesen und die Erscheinungen dieser krankhaften Zustände 
zu erläutern. Diese Lücke ist dadurch entstanden, daß ich stets streng 
darauf gehalten habe, Fragen und Ergebnisse unserer Wissenschaft 
nur in dem engeren Kreise der Fachgenossen zu besprechen und 
mich lange dagegen sträubte, sie aus diesem hinauszutragen und vor 
ein weiteres Forum zu bringen. Nicht als ob ich daran gezweifelt 
hätte, daß es Probleme und Resultate der ärztlichen Forschung gibt, 
die ein allgemeines Interesse beanspruchen — nein, nur der Wider- 
wille gegen die übliche Art der Behandlung medizinischer 'Themata 
in der Tagespresse, der oft sensationelle Charakter derartiger Mit- 
teilungen hatte mich wie viele andere zu einem Extrem der Zu- 
rückhaltung gedrängt, das mir heute nicht mehr berechtigt erscheint, 
das mich auch in Konflikt mit meinen eigenen Bestrebungen bringen 
mußte, als ich die vom Standpunkte des Nervenarztes aus wichtigen 
Erziehungsgrundsätze aufzustellen versuchte. Meine damaligen Aus- 
führungen konnten nur dadurch fruchtbringend werden, dab sie zur 


1) Nervenleiden und Erziehung. Berlin, Verlag von S. Korger, 1899. 
Die Kinderfehler. IX. Jahrgang. 4 


Digitized by G oogle 


50 A. Abhandlungen. 


Kenntnis derer gelangten, denen die Erziehung der Jugend obliegt. 
Dann durfte aber auch nicht mit Begriffen operiert werden, mit denen 
nur der Fachmann eine klare, bestimmte Vorstellung verbindet. In 
dieser Hinsicht sollen nun meine heutigen Ausführungen eine Er- 
gänzung und Vervollständigung der früheren bilden. 

Ich will nämlich über die Nervosität des Kindesalters 
sprechen und besonders über die Erscheinungen, durch welche sie 
sıch am frühesten offenbart, welche die angeborene Anlage zur Ner- 
vosität schon in der Frühe des Lebens erkennen lassen. Meine Dar- 
stellung erstreckt sich nicht auf die organischen Gehirnkrankheiten 
und Psychosen; selbst die Zustände angeborener Geistesschwäche, 
über deren erste Äußerungen Herr Trürer vor kurzem gesprochen 
hat,!) werde ich, soweit es möglich ist, umgehen und mich auf das 
Gebiet der Neurasthenie, Hysterie und ihrer Mischformen beschränken. 

Das Studium der Nervosität des Kindesalters erhält dadurch 
einen besonderen Reiz und einen besonderen Wert, daß es uns Ge- 
legenheit gibt, sie gewissermaßen an ihrer Quelle, in ihrem ersten 
Entwicklungsstadium kennen zu lernen. Auch ist ihr Auftreten in 
dieser Zeit ganz dazu angetan, ihr ein besonderes Gepräge oder doch 
wenigstens einzelne charakteristische Züge zu verleihen. 

Wenn wir mit den psychischen Abnormitäten — unter Aus- 
schluß der Geistesstöürungen — beginnen, so spielen als Merkmale 
der Nervosität zunächst die Stimmungsanomalien und abnormen Ge- 
mütsreaktionen eine wesentliche Rolle Die Art der Gemütsreaktion 
kann eine krankhafte sein 1. der Intensität nach, indem leichte 
Reize unverhältnismäßig starke Gefühlsausbrüche auslösen. 
Diese Reizbarkeit kann zu den frühesten Zeichen der Nervosität ge- 
hören, ja sic bildet schr oft ihr Erstlingssymptom. Das umgekehrte 
Verhalten, die krankhafte Apathie und Indolenz spielt bei den Neu- 
rosen im engeren Sinne nur eine untergeordnete Rolle, 2. der Dauer 
nach, indem die durch einen Eindruck erzeugte Gemütsreaktion über- 
mäßig lange haften bleibt, nicht schnell ausklingt wie beim gesunden 
Kinde, sondern den Reiz unverhältnismäßig lange überdauert. Die 
Nervosität kann sich aber auch 3. durch ein zu kurzes Haften 
und einen zu rapiden Wechsel der Gemütsreaktion, durch eine 
ungewöhnlich starke Labilität der Stimmung kennzeichnen. Es ist 
aber gerade bei der Feststellung dieses Faktors der Kindesnatur im 
vollen Umfang Rechnung zu tragen: in der Seele des Kindes wohnen 
Lust und Unlust sehr nahe beieinander, die Stimmungen wechseln 


1) Die Anfänge abnormer Erscheinungen im kindlichen Seelenleben. Alten- 
burg, Verlag von Oskar Bonde, 1902. 


OPPENHEIM: Über die ersten Zeichen der Nervosität des Kindesalters. 51 


schnell und können unvermittelt ineinander übergehen. Indes gibt- 
es doch auch hier eine Unbeständigkeit und Überstürzung, die den 
krankhaften Charakter ohne weiteres zur Schau trägt. 

Man könnte schließlich noch 4. von einer perversen, para- 
doxen Gemütsreaktion sprechen, wenn Eindrücke, die bei normalen 
Kindern ein Lustgefühl hervorbringen oder ihre Stimmung überhaupt 
nicht beeinflussen, eine lebhafte Unlustreaktion erzeugen. Ich denke 
hier z. B. an die oft aufs äußerste gesteigerte Abneigung gegen be- 
stimmte Farben, Gerüche, Geschmacksreize, die für das normale Kind 
indifferent sind oder gar ein Wohlgefühl bei ihm hervorrufen, ebenso 
an oft schon früh hervortretende unerklärliche Antipathien gegen be- 
stimmte Personen usw. —, indes gehören diese Erscheinungen zum 
Teil nicht mehr in die psychische Sphäre hinein, andrerseits ist es 
gerade hier sehr schwer, die Grenze zu bestimmen, wo das Patho- 
logische anfängt, da der Individualität hier recht weitgehende Rechte 
eingeräumt werden müssen. 

Zu den angeführten Momenten kommt nun ein weiteres, durch 
welches sich der krankhafte Charakter der Gemütsreaktion am deut- 
lichsten offenbart, dadurch daß sie nämlich 5. Erscheinungen hervor- 
bringt, die dem normalen Kinde fremd sind. Dahin gchört z. B. die 
Steigerung des Lachens und Weinens zum Lach- und Weinkrampf, 
die Ausartung des Zornaffekts zu einem Krampf- oder Tobsuchts- 
anfall, die Ausmündung eines Ärgers in einen Schüttelfrost, der Ein- 
tritt von Ohnmacht bei lebhaften Sinnesreizen, von vasomotorischen 
Störungen, z. B. Nesselausschlag im Anschluß und infolge von Ge- 
mütsbewegungen. 

Die abnorme Reizbarkeit findet einen besonders sinnfälligen Aus- 
druck in der Schreckhaftigkeit. Die psychische und motorische 
Reaktion auf plötzlich einwirkende Sinnesreize, besonders der opti- 
schen und akustischen Sphäre oder auf entsprechende psychische In- 
sulte, die sich in dem Vorgang des Sich-Erschreckens kundgibt, ist 
dem Säuglingsalter im allgemeinen fremd und entwickelt sich ge- 
meiniglich erst mit der Bildung der Begriffe, mit dem Erwachen 
der Intelligenz. Von einer krankhaften Schreckhaftigkeit können wir 
da sprechen, wo schon unverhältnismäßig schwache Reize die Sen- 
sation des Schrecks auslösen und wo sowohl die Intensität der moto- 
rischen Reaktion als auch die des sie begleitenden Unlustgefühls eine 
übermäßig starke und nachwirkende ist. So kann sich aus der in 
der Regel blitzartig kurzen Muskelzuckung des Zusammenfahrens ein 
Krampf, eine Konvulsion entwickeln oder es kann die Muskelspannung 


in ein lebhaftes Muskelzittern übergehen. Besonders charakteristisch 
4* 


52 A. Abhandlungen. 


ist es aber, wenn die Bewegungshemmung, die der Schreck auch beim 
Gesunden als vorübergehende Erscheinung erzeugt — Nichtsprechen- 
können, kein Glied rühren können vor Schreck usw. — zu einer 
dauernden wird, wenn sich eine sogenannte Schreckstummheit oder 
Schrecklähmung entwickelt. Diese stellt immer eine pathologische 
Erscheinung dar und ist ein sicheres Zeichen der Nervosität. 

Ich habe mich bei dieser Frage etwas länger aufgehalten, weil 
die Schreckhaftigkeit ein schr häufiges Symptom der kindlichen Ner- 
vosität ist. In 19 von 40 Fällen, über die ich mir genauere Notizen 
gemacht habe, ist nach der Versicherung der sorgfältig beobachtenden 
Angehörigen, die abnorme Schreckhaftigkeit das erste Zeichen der 
Nervosität gewesen, das ihnen bei dem Kinde aufgefallen ist. Oft 
war sie schon im Säuglingsalter, manchmal schon bald nach der Ge- 
burt zu Tage getreten. 

Von den Seelenstörungen, die sich auf dem Boden der Neu- 
rasthenie und Hysterie im Kindesalter entwickeln können, will ich 
nicht sprechen — nur ein Symptomenkomplex, der sich als eine 
akute transitorische Geistesstörung darstellt, darf nicht übergangen 
werden, da cr gerade bei der infantilen Hysterie nicht selten vor- 
kommt, auf die Umgebung sehr alarmierend wirkt una zuweilen 
auch von Ärzten verkannt wird, es sind das die sogenannten hallu- 
zinatorischen Delirien. Das von einem solchen Anfall betroffene 
Kind wird plötzlich verwirrt, unruhig, erregt, die Erregung kann sich 
bis zum Toben steigern; bei genauerer Betrachtung ist es schnell zu 
erkennen, daß lebhafte Sinnestäuschungen und eine illusionäre Ver- 
kennung der Umgebung zu Grunde liegen. Der Anfall, in dem das 
Kind völlig verändert erscheint, hat eine Dauer von !/,—!/, Stunde, 
kann aber auch Stunden und länger anwähren. Ich habe auch Fälle 
geschen, in denen der kleine Patient ruhig saß oder lag und nur 
wie in einem Traumzustande vor sich hin weinte, aber durch Zu- 
reden in keiner Weise beeinflußt werden konnte. Nachdem der An- 
fall vorüber war, konnte ermittelt werden, daß er unter der Herr- 
schaft eines schreckerregenden Traumes gestanden hatte, der am Tage 
aus dem wachen Zustand heraus scheinbar ganz abrupt sich ent- 
wickelt hatte. 

Wegen der innigen Beziehung des Schlafes zum Seelenleben 
sei hier das Wesentliche über die Schlafstörungen bei der Nervosität 
dies Kindesalters angeführt. Namentlich in der zweiten Kindheit ist 
die neurasthenische Schlaflosigkeit schon eine nicht seltene Erschei- 
nung, wenn sie auch nur ausnahmsweise einen Grad und eine Hart- 
näckigkeit erreicht, wie bei der Neurasthenie des reiferen Alters. 


ZT 


OPPENHEIM: Über die ersten Zeichen der Nervosität des Kindesalters. 53 


Eine wesentliche Rolle spielen hier gewisse Charakterveränderungen 
des Schlafes: große Bewegungsunruhe, lebhaftes und anhaltendes 
Träumen mit Aufschreien, Weinen oder Singen im Schlafe, nächt- 
liches Aufschrecken, schließlich das Nachtwandeln oder der nächtliche 
Somnambulismus, welcher eine ausgesprochen - neuropathische Er- 
scheinung darstellt und nie bei gesunden Kindern vorkommt. 

Es reiht sich hier die Besprechung gewisser psychischer Ab- 
normitäten an, die auf dem Boden der neuropathischen und psycho- 
pathischen Diathese entstehen bei sonst geistig intakten und oft sogar 
sehr intelligenten Individuen: ich meine die sogenannten Phobien 
und Zwangsvorstellungen. 

Ich möchte in diesem Vortrage nur das anführen, was ich selbst 
gesehen und erfahren habe, und kann gerade auf Grund dessen be- 
haupten, daß die Phobien und auch die echten Zwangsvorstellungen 
im Kindesalter keine seltene Erscheinung bilden. Daß die Tatsache 
so wenig bekannt ist, liegt in der Natur dieses Leidens begründet. 
Zu der Scheu, welche es schon dem Erwachsenen erschwert, über 
diese Zustände Auskunft zu geben, kommt im Kindesalter noch die 
Schwierigkeit, sich über Seelenvorgänge klar zu werden und deutlich 
auszusprechen. Trotzdem ist es mir in einer nun schon großen Zahl 
von Fällen gelungen, durch sorgfältige Beobachtung und eine der 
Natur des Leidens und des Kindesalters angepaßte Methode der vor- 
sichtigen Exploration, über diese Zustände Auskunft und Bekenntnis 
zu erhalten. 

Besonders aber haben mir erwachsene Neurastheniker häufig 
erklärt, daß ihre Phobien und Zwangsvorstellungen bis in die früheste 
Kindheit zurückreichen. 

Es kommen zunächst Phobien vor, die den Idiosynkrasien 
sehr nahe stehen. Bei ihrer Entstehung spielen vererbte oder an- 
erzogene, gelegentlich in Aberglauben und Mystik wurzelnde Vor- 
stellungen eine Rolle, und es ist da oft schwer zu sagen, ob und 
inwieweit etwas Krankhaftes vorliegt. Ich habe da besonders die 
Idiosynkrasien gegen gewisse Tier- Arten (Mäuse, Spinnen, Kröten, 
Käfer, Würmer und dergl.) im Auge. Sie kommen zweifellos bei 
ganz gesunden Individuen vor und werden nicht selten von Gene- 
ration zu Generation fortgcerbt. 

Aber schon die Intensität der Unlustgefühle, welche der Anblick 
oder die Berührung der verabscheuten Ticrspezies erweckt, kann die 
krankhafte Grundlage bekunden. Hatte ich doch Gelegenheit, nervöse 
Kinder zu behandeln, die unter diesen Verhältnissen von einem Angst- 
anfall mit Zittern, Erblassen, Erbrechen, ja von Konvulsionen er- 


54 A. Abhandlungen. 





griffen wurden, andere, bei denen schon die Vorstellung des ent- 
sprechenden Tieres derartige Attaken auszulösen vermochte. 

Stark betonte Unlustgefühle dieser und verwandter Art scheinen 
mir auch bei den Nahrungsidiosynkrasien zuweilen im Spiele 
zu Sein. Ich habe nervöse Menschen behandelt, die in der Kindheit 
einmal einen besonders peinigenden Eindruck von einem blutenden 
Vogel, einem toten Fische erhalten hatten und seitdem außer stande 
waren, Geflügel, Fisch oder selbst das, was mit diesen in Berührung 
gekommen, zu genießen. Der erste Eindruck hatte ein starkes Ekel- 
gefühl ausgelöst, das nun für immer mit ihm verknüpft blieb. Der- 
artige Erinnerungsassoziationen werden mit der Zeit immer fester 
und es ist im Hinblick auf die Ernährungsfrage von großer Wichtig- 
keit, sie so früh wie möglich zu lockern. 

Von den anderweitigen Phobien des Kindesalters können einige 
eine einfache Konsequenz der Erziehung sein z. B. die Monophobie, 
die Furcht vor dem Alleinsein, die Furcht vor dem Dunkel, dem Ge- 
witter usw., aber bei nervösen Kindern erhalten sie durch den hohen 
Grad der Verängstigung, durch ihre schon geschilderten abnormen 
Äußerungen und die völlige Unfähigkeit der Beherrschnng ein be- 
sonderes Gepräge. Andrerseits kommen auch die echten Phobien, 
die Zustände von Situationsangst, die immer pathologischen Charakter 
haben, z. B. die Platzangst, die Reiseangst, die Schmutzberührungs- 
angst, die Waschsucht usw. im Kindesalter nicht selten vor. 

Bei einigen meiner Patienten traten vor der Ausbildung dieser 
und verwandter Zustände gewisse Eigentümlichkeiten hervor, die als 
besonders scharf ausgeprägte Charakterzüge gedeutet werden mußten, 
z. B. eine skrupulöse Pünktlichkeit und Ordnungsliebe, ein auffälliger 
Geiz, ein ungewöhnlicher Grad von Feigheit; es bedarf aber noch 
weiterer sorgfältiger Beobachtungen, um die Beziehungen zwischen 
derartigen hervorstechenden Charaktereigenschaften und gewissen 
Zwangszuständen klarzustellen. 

Während ces so auf der einen Seite schwer sein kann, die Grenze 
zwischem dem Normalen und Pathologischen zu ziehen, kommen nun 
andrerseits auch im Kindesalter Affektionen dieser Art vor, die eine 
so schwere Hemmung hervorrufen, daß sie aus diesem Grunde ver- 
kannt und als rätselhafte Erscheinung oder als Geisteskrankheit an- 
gesehen werden. So behandelte ich ein Mädchen von 10 Jahren, das 
schon in der ersten Kindheit von heftigen Angstanfällen ergriffen 
wurde, wenn Mutter oder Vater das Haus verließen. Das Kind 
stellte sich an die Tür oder ans Fenster, vor Angst und Aufregung 
zitternd und war nicht von der Stelle zu bringen, bis die Eltern 


OPPENHEIM: Über die ersten Zeichen der Nervosität des Kindesalters. 55 


zurückkehrten. Bald durfte die Mutter das Zimmer überhaupt nicht 
mehr verlassen, schließlien war der Angstzustand ein fast permanenter 
und beherrschte das Denken und Handeln so vollständig, daß das 
Mädchen durchaus einem geisteskranken glich. Es bedurfte einer 
sehr genauen Exploration, um festzustellen, daß die Zwangsvorstellung, 
es könne den Angehörigen ein Unglück zustoßen, zu Grunde lag und 
daß ausschließlich diese für das eigentümliche Verhalten bestimmend 
war. Sobald der Angstaffekt gewichen war, war das Kind sich der 
Grundlosigkeit seiner Furcht bewußt und empfand sie selbst als eine 
krankhafte.e Nachdem ich das Leiden erkannt hatte, gelang es mir, 
durch eine entsprechende Behandlung eine wesentliche Besserung 
herbeizuführen. 

In einem andern Falle bereitete ein 4jähriges, sehr intelligentes 
Mädchen der Mutter die größte Qual dadurch, daß es sich nicht an- 
kleiden ließ. Beim Versuch, ihm das Hemd oder einen Rock anzu- 
ziehen, geriet es in heftige Erregung und sträubte sich energisch 
gegen diese Prozedur. Hatte man ihm trotzdem die Bekleidung auf- 
genötigt, so stand es wie verzweifelt da, mit den Händen das Kleid 
weit vom Körper abziehend. Man konnte sich das Verhalten nicht 
erklären. Als ich um Rat gefragt wurde, dachte ich zunächst an 
eine Hyperästhesie der Haut. Das traf aber nicht zu, da Berührung, 
Reibung der Haut usw. gut ertragen wurde. Da erinnerte ich mich, 
daß eine Art von Bekleidungsfurcht als quälende Form der Zwangs- 
vorstellung bei Erwachsenen vorkommt. Die Betroffenen haben, so- 
bald sie ein Kleid anziehen, das Gefühl der Beengung oder die Vor- 
stellung, daß der Körper schief, verschoben ist oder es ist eine pein- 
liche Empfindung, die sie nicht genau definieren können. Bei einem 
Teil dieser Individuen macht sich die Qual nur dann geltend, wenn 
sie ein neues Kleidungsstück anziehen wollen. Ich konnte feststellen, 
daß die Bekleidungsphobie bei dem sonst normalen, geistig intakten 
aber belasteten Kinde vorlag. 

Ich könnte noch eine große Reihe derartiger Fälle aus meiner 
Praxis anführen, will aber lieber gleich zu der Betrachtung moto- 
rischer Reizerscheinungen oder psychomotorischer Vorgänge 
übergehen, die sich zum Teil noch eng an die Zwangszustände an- 
schließen. Die wichtigsten sind die, welche von den französischen 
Autoren als Tic bezeichnet werden. Im großen und ganzen deckt 
sich der Begriff mit dem der Geste. Es gibt leichte und schwere, 
lokalisierte und generalisierte Formen desselben. Sie sind bei den 
Kindern neuropathischer Familien sehr verbreitet und werden meist 
verkannt und zwar in der Weise mißdeutet, daß das Leiden für cine 


56 A. Abhandlungen. 


»schlechte Gewohnheit« gehalten wird. Wir werden gleich sehen, 
inwieweit diese Auffassung etwas Zutreffendes enthält. Es handelt 
sich meist um Augenblinzeln, Mundaufreißen, Hin- und Herwerfen 
des Kopfes, gestikulationsartige Bewegungen mit den Gliedmaßen, 
Schnalzen, Bellen, Räuspern, Ausstoßen von Worten obscönen In- 
halts usw. Bald liegt nur eine Zwangsbewegung vor, bald ist der 
ganze Körper ergriffen. 

Es ist begreiflich, daß die Angehörigen im Beginn, bei schwacher 
Ausbildung und enger Begrenzung des Leidens an Unart und Ge- 
wohnheit denken. Es gibt auch in der Tat sogenannte Gewohnheiten, 
die in ihrer äußeren Erscheinungsform dem Tic sehr nahe stehen. 
Aber die Brücke zum Krankhaften ist schnell geschlagen. Die Mehr- 
zahl der Menschen, bei denen sich solche Gewohnheiten festsetzen 
und nicht abgeschüttelt werden können, sind eben Neuropathen. Bei 
diesen ist einmal die Neigung zur Immitation oft eine sehr ausge- 
sprochene; andrerseits werden die ursprünglich zweckmäßigen Reflex- 
und Ausdrucksbewegungen durch die krankhafte Neigung zur Repe- 
tition gerade bei ihnen leicht zu einem Zwang, zu triebartig ausge- 
führten Bewegungsakten, die schließlich dem Einfluß des Willens 
ganz entzogen sind. Es bedarf kaum der Hervorhebung, wie wichtig 
cs ist, die krankhafte Natur dieser Erscheinungen rechtzeitig zu er- 
kennen. Besonders deshalb, weil es leichte, gerade an der Grenze 
des Pathologischen stehende Formen gibt, in denen durch stetes Er- 
innern und Ermahnen die Bewegungsakte unterdrückt werden können, 
noch bevor sie zu Zwangsbewegungen, zum eigentlichen Tic aus- 
gcartet sind. Vor großer Strenge und Anwendung von Strafe möchte 
ich aber immer warnen, da gerade die Verknüpfung dieser Muskel- 
bewegungen mit dem Angstaffekt besonders geeignet ist, den echten 
Tie zur Entwicklung zu bringen. 

Für die Lehrer und Pädagogen haben diese Zustände noch ein 
besonderes Interesse dadurch, daß sie eine große Zerstreutheit und 
Unaufmerksamkeit mit sich bringen, daß diese Kinder mit einer 
oft guten Intellgenz eine beträchtliche Zerfahrenheit verbinden, 
dadurch in ihren Leistungen einseitig, mangelhaft und sprunghaft 
werden. Überhaupt möchte ich nicht versäumen, anzuführen, daß 
die Zerstreutheit schr oft eine Folge der Nervosität ist und zu ihren 
frühen Merkmalen gehören kann. 

Auf dem Grenzgebiet zwischen der sogenannten schlechten Ge- 
wohnheit und dem Tic finden wir noch eine Reihe von Störungen, 
die zumeist schon den neuropathischen Charakter haben. Hierzu 
rechne ich das Nägelkauen, das Haarpflücken, das Abzupfen der 


OPPENHEIM: Über die ersten Zeichen der Nervosität des Kindesalter. 57 


nn mm nn III I 


Haut u. dergl. Gewiß kommen diese Neigungen in schwacher Ausbildung 
auch wohl bei gesunden Kindern vor, aber bei den nervösen werden 
sie zu einem unwiderstehlichen Zwang und führen zuweilen zu recht 
unangenehmen Selbstbeschädigungen und Verunstaltungen. Ich habe 
Neuropathen behandelt, die seit Kindheit mit diesem Übel behaftet, 
keine Spur eines Nagels mehr besaßen; die Endphalangen ihrer Finger 
waren mit Narben bedeckt und völlig verunstaltet. Man hat be- 
hauptet, daß diese Kinder Aspiranten der Masturbation wären. In 
der Annahme dieser Beziehungen ist man aber zu weit gegangen. 
Das Nägelkauen und Daumenlutschen hat mit der Masturbation direkt 
nichts zu tun. Die Erscheinung deutet nur darauf hin, daß es sich 
um Individuen handelt, bei denen sich Gewohnheiten leicht fixieren 
und einen triebartigen Charakter annehmen und in diesem Sinne 
sind sie auch für die Masturbation prädisponiert. 

Daß auch Krampfzustände mannigfacher Art schon im frühen 
Kindesalter vorkommen und sich zum großen Teil besonders auf dem 
Boden der neuropathischen Diathese entwickeln, will ich nur er- 
wähnen, ohne dieser Frage hier näher zu treten. Die Beurteilung 
der Krämpfe und ihre Differenzierung verlangt genaueste ärztliche 
Sachkenntnis und ich halte es für richtiger, dieses Gebiet ganz von 
unseren Betrachtungen auszuschließen. Auch das Zittern, die Sprach- 
störungen und Lähmungszustände mögen im Hinblick auf die Kürze 
der mir zu Gebote stehenden Zeit nur beiläufig angeführt werden. 

Ich wende mich lieber gleich einer Gruppe von Erscheinungen zu, 
die als besonders charakteristische Merkmale der Nervosität angeschen 
werden können und oft schon in der ersten Lebenszeit die nervöse 
Anlage verraten, es ist die Gruppe der vasomotorischen, d. h. der 
sich im Bereich des Blutkreislauf- Apparates abspielenden Störungen. 
Es gibt Individuen, bei denen die Nervosität sich ausschließlich oder 
doch vorwiegend durch diese Erscheinungen manifestiert. Auch ist 
es nicht ungewöhnlich, daß gerade diese vasomotorische Form der 
Nervosität sich vererbt, so daß oft zahlreiche Mitglieder einer Familie 
von ihr betroffen sind. 

Diese vasomotorischen Naturen haben gewöhnlich schon von Kind 
auf unter Zirkulationsstörungen zu leiden. Besonders ist cs das 
Kältegefühl an Händen und Füßen, dem meist auch eine Temperatur- 
erniedrigung der Haut dieser Teile entspricht, zuweilen eine aus- 
gesprochene Neigung zu bläulich-roter Verfärbung unter dem Einfluß 
der Kälte oder selbst bei warmer Außentemperatur. Auch die Ge- 
sichtsfarbe wechseln sie ungewöhnlich leicht und die erheblichen 
Schwankungen in der Blutfüllung der Gesichtsgefäße bedingt es, daß 


58 A. Abhandlungen. 





sie innerhalb kurzer Zeiträume ihr Aussehen wechseln. Eine seltenere 
Störung dieser Art ist der sogenannte Totenfinger, ein anfallsweise 
erfolgendes Erblassen und Absterben eines oder einzelner Finger. 

Die Kinder dieser Gruppe sind meist empfindlich gegen Haut- 
reize, so daß ein Druck oder Stich eine intensive Rötung und Quaddel- 
bildung erzeugt. Überhaupt werden sie leicht von Nesselausschlag 
befallen. Nach einem Insektenstich erreicht die Hautschwellung oft 
ungewöhnliche Grade. 

Bei einigen dieser Individuen besteht eine ausgesprochene In- 
toleranz gegen Alkohol, so daß beim Genuß ganz kleiner Quanti- 
täten, wie sie z. B. in einer Weinsauce oder Biersuppe enthalten 
sind, das Gesicht sowie die Schleimhäute des Halses und Rachens 
sich lebhaft röten und schwellen. Eigentümliche Formen von 
Schnupfen mit übermäßiger Sekretion einer wasserklaren Flüssigkeit 
und heftigem Niesreiz kommen dabei vor. — Auch das nervöse 
Herzklopfen gehört hierher. 

Auf derselben Grundlage kann sich eine weitere Erscheinung 
entwickeln, die freilich auch oft einen andern Ursprung hat: die 
Neigung zu Ohnmachten. Bei jedem Schmerz, bei jedem pein- 
lichen Eindruck, besonders beim Sehen von Blut werden diese Indi- 
viducn von einer Ohnmacht befallen, die bald nur eine oberflächliche, 
bald mit vollkommener Bewußtlosigkeit verknüpft ist. Ich hatte Ge- 
legenheit, Tochter und Mutter an diesem Übel zu behandeln, bei 
denen schon das Eintauchen der Hände in kaltes Wasser einen Ohn- 
machtsanfall auslöste. 

Ich erwähne an dieser Stelle noch eine Erscheinung, die aller- 
dings nur in einem lockeren Zusammenhang mit den vasomotorischen 
Phänomenen steht: das nervöse Erbrechen. Es gibt Kinder, die 
bei jeder Aufregung von Erbrechen befallen werden. Besonders 
typisch ist das Erbrechen am Morgen vor dem Schulbesuche Es 
sind keineswegs vorwiegend schlechte Schüler, die an diesem Übel 
leiden, es ist eine nervöse Erregung unbestimmter Art, die sich mit 
dem sogenannten Erwartungsaffekt deckt, welche das Erbrechen ver- 
anlaßt. Bei manchen dicser Kinder sind es sogar hauptsächlich 
freudige Erregungen, die den Brechakt auslösen. 

Mit der abnormen Reizbarkeit des vasomotorischen und des 
Brechzentrums ist auch oft eine Hyperästhesie der Gleich- 
gewichts-Öentren verbunden, so daß bei plötzlichen oder unge- 
wöhnlich schnellen Veränderungen der Beziehungen zum Raume 
(Drehbewegungen, Carousselfahrt, Eisenbahnfahrt mit Rücksitz usw.) 
Schwindel, Übelkeit und Erbrechen cintritt. 


OPPENHEIM: Über die ersten Zeichen der Nervosität des Kindesalters. 59 


Wir wollen nun die abnormen Erscheinungen in der sensiblen und 
sensorischen Sphäre betrachten, die als Vorboten und frühe Zeichen 
der Nervosität auch für die infantile Form gewürdigt werden müssen. 

Von schmerzhaften Zuständen ist da in erster Linie der 
Kopfschmerz und speziell die Migräne zu nennen. 

Von diesem Leiden ist es ja bekannt, daß seine Qual oft schon 
in der Kindheit anhebt und daß es vielen ein treuer Begleiter durch 
das Leben bleibt und sich oft erst durch die Beschwerden des Alters 
ablösen läßt. 

Weniger bekannt ist der nervöse Rückenschmerz, der namentlich 
bei Mädchen vorkommt und jene schon in der Kindheit sehr ver- 
breitete Algien, die durch jede Muskelleistung oder auch nur durch 
die Tätigkeit bestimmter Muskelgruppen ausgelöst werden. Sie ver- 
dienen deshalb Beachtung, weil sie die Wurzel eines sehr hartnäckigen 
aber glücklicherweise seltenen Leidens, der sogenannte Akinesia algera 
bilden können. 

Von den Hpyperästhesien ist die der Hör- und Sehnerven eine 
der Nervosität des Kindesalters keineswegs fremde Erscheinung. Be- 
sonders haben WıLsrannp und Sänger gezeigt, welch hervorragende 
Rolle die asthenopischen Beschwerden in der Kindheit spielen. 

Die Hyperästhesie im engeren Sinne dokumentiert sich dadurch, 
daß mechanische Reize der Haut und Weichteile, die bei dem Ge- 
sunden kein Unlustgefühl erzeugen, schmerzauslösend wirken. 

Es gibt nervöse Kinder, bei denen der ganze Körper, andere, bei 
denen nur bestimmte Stellen, z. B. der Oberarm, der Rücken in 
diesem Sinne hyperästhetisch ist. 

Auf eine interessante Abart resp. Lokalisation dieser Hyper- 
ästhesie konnte ich vor kurzem die Aufmerksamkeit der Fachgenossen 
lenken: die Hyperästhesia unguium, d. h. die Überempfindlich- 
keit der Nägel. Ich fand die Erscheinung, die sich darin äußert, daß 
das Reinigen und Beschneiden der Nägel einen übermäßigen Schmerz 
hervorruft, der sogar diese Prozedur unmöglich machen kann, nur 
bei nervösen Kindern. Heute möchte ich auf eine weitere Form dieser 
Überempfindlichkeit hinweisen, die mir in den letzten Jahren wieder- 
holt begegegnet ist: die Hyperästhesie der Kopfhaare. Bei einer 
meiner Patientinnen handelte es sich um ein cererbtes Übel, an dem 
auch Mutter und Großmutter gelitten hatten. Jede Berührung der 
Kopfhaare war ihr in dem Maße schmerzhaft, daß ihr das Kämmen 
und Ordnen der Haare die größte Pein bereitete und meist höcht 
oberflächlich betrieben werden mußte. Bei einem Knaben hatte diese 
Störung einen solchen Grad erreicht, daß die verängstigten Eltern 


60 A. Abhandlungen. 


seit Wochen auf Kämmen und Bürsten verzichtet hatten und mir 
das Kind in recht verwahrlostem Zustande zuführten. — 

Über die Hyperästhesie und Anästhesie, die Abstumpfung des 
Gefühls und der Sinnesfunktionen, können wir schnell hinweggehen, 
da sie im wesentlichen nur der Hysterie zukommen — von der 
Idiotie sehen wir hier ja ganz ab. 

Auch bei den sogenannten trophischen oder Ernährungsstörungen 
will ich nicht lange verweilen; sie gehören zu den selteneren Zeichen 
der infantilen Neuropathie und betreffen vorwiegend die Haare und 
Nägel. Am häufigsten kommt der Haarausfall, namentlich der um- 
schriebene, auf dieser Basis vor. Auch ein Ergrauen einzelner Haar- 
büschel habe ich in vereinzelten Fällen schon bei Kindern beobachtet. 
Nächstdem sind es die Nägel, an denen Ernährungsstörungen infolge 
nervöser Diathese schon im Kindesalter zur Ausbildung kommen. Es 
handelt sich da besonders um eine abnorme Brüchigkeit und spon- 
tanen Ausfall einzelner oder aller Nägel. 

Der Verdauungsapparat bildet auch bei Kindern sehr oft den 
Ausgangs- und Ansiedelungsort nervöser Beschwerden und Erschei- 
nungen. Es gibt zunächst eine Form der Appetitlosigkeit dieses 
Charakters. Sie kann sehr hartnäckig sein, eine beträchtliche Ab- 
magerung zur Folge haben und bei unzweckmäßiger Behandlung 
selbst das Leben gefährden. Auf gewisse Idiosynkrasien gegen 
Nahrungsmittel wurde schon hingewiesen. Wir hatten dabei aber 
nur die psychologische Seite berücksichtigt. Es kann nun aber bei 
nervösen Individuen eine wirkliche Intoleranz des Magens gegen 
gewisse Speisen (Eier, Milch, bestimmte Fleischsorten usw.) schon in 
der Kindheit hervortreten und sich dadurch äußern, daß der Genuß 
derselben jedesmal eine Indigestion zur Folge hat. Auch da macht 
sich oft ein familiärer Zug geltend und es ist gewiß denkbar, daß 
bei cinem der Aszendenten die Abneigung einen psychischen Ursprung 
hatte, während es sich bei den Nachkommen um eine ererbte reelle 
Intoleranz handelt. Der sogenannte »schwache Magen« findet sich 
überhaupt häufig in nervösen Familien und kann sich schon in der 
Kindheit in quälender Weise fühlbar machen. Das gleiche gilt für 
die sogenannte nervöse Dyspepsie. 

Von einzelnen Beschwerden dieser Art möchte ich das Aufstoßen 
und die habituelle Stuhlverstopfung besonders hervorbeben. Aber 
auch die nervöse Diarrhoe ist an dieser Stelle anzuführen. 

In der Urogenitalsphäre, d. h. im Bereich der Blasen- und 
Geschlechtsfunktionen kann die nervöse Anlage sich frühzeitig be- 
kunden. So ist das nächtliche Bettnässen und der unfreiwillige Harn- 


OPPENHEIM: Über die ersten Zeichen der Nervosität des Kindesalters. 61 


abgang am Tage ein Symptom, das meistens auf angeborene Nervo- 
sität beruht. Es gibt nervöse Kinder, die bei jeder Aufregung den 
Urin, seltener den Stuhl unter sich lassen, während die entsprechen- 
den Schließmuskeln sonst gut funktionieren. 

Eine psychisch vermittelte Hemmung der Blasenfunktion kommt 
ebenfalls vor. Zunächst gibt es neuropathische Kinder, die in Gegen- 
wart anderer den Harn nicht entleeren können; das kann sich bis 
zu dem Maße steigern, daß schon die Vorstellung des Beobachtet- 
werdens die Fähigkeit der Harnentleerung aufhebt. Schließlich kann 
sich diese Hemmung mit einem Angstaffekt verknüpfen, der nun 
jedesmal eintritt, wenn diese Individuen in einem geschlossenen 
Raume von Harndrang befallen werden. 

Es ist bekannt, daß bei den Kindern nervöser Eltern die Ge- 
schlechtslust oft ungewöhnlich früh erwacht. Die durch ihr vor- 
zeitiges Auftreten und ihre Maßlosigkeit ungewöhnlichen Formen der 
Masturbation beobachtet man wohl nur bei nervösen und psycho- 
pathisch minderwertigen bezw. schwachsinnigen Kindern. 

Es ist ferner beachtenswert, daß nach dem Geständnis Erwachsener 
die sexuellen Perversitäten oft bis in die Kindheit zurückreichen. 
Andrerseits kann aber auch der Ausbildung eines durchaus normalen 
Sexualtriebs in der Kindheit eine Periode unklarer und selbst perverser 
Vorstellungen und Empfindungen dieser Art vorausgehen. Erektionen 
können in seltenen Fällen schon im frühen Knabenalter ein quälendes 
Symptom bilden usw. 


Ich bin am Schlusse meiner Darlegungen. Ich habe Ihnen ge- 
zeigt, daß die Nervosität das Kind schon auf seinem ersten Lebens- 
wege begleiten und sich in den mannigfaltigsten Erscheinungen äußern 
kann. Es lag mir aber besonders daran, auch den Nicht-Ärzten die 
Möglichkeit zu gewähren, die ersten Keime und Knospen dieses 
Leidens bei ihren Kindern und Pflegebefohlenen zu erkennen. Aber 
gerade in dieser Hinsicht habe ich noch vor einem Fehlschluß und 
Fehlgriff zu warnen. Ich habe einzelne Erscheinungen angeführt und 
ihnen die Bedeutung von Symptomen der Nervosität zuerkannt. Bei 
einem Teil derselben handelt cs sich um Abweichungen von der 
Norm, um Eigentümlichkeiten, die ererbt oder erworben sein können, 
ohne daß sich aus ihnen jemals ein ausgesprochenes Leiden zu ent- 
wickeln braucht. Andrerseits können einzelne dieser Funktions- 
störungen auch durch andere Krankheiten, durch Erkrankungen 
anderer Organe hervorgerufen werden. Es wird also immer noch 
einer vorsichtigen und kritischen Prüfung dieser Merkmale bedürfen, 


62 A. Abhandlungen. 


namentlich wenn sie vereinzelt in die Erscheinung treten. Mit andern 
Worten: Die geschilderten Abnormitäten sollen den Eltern und Er- 
ziehern als Warnungssignale dienen, sie sollen sie veranlassen, 
den Arzt zu Rate zu ziehen, der nun auf Grund seiner speziellen 
Sachkenntnis zu entscheiden hat, ob sich in den ihnen als ungewöhn- 
lich auffallenden Erscheinungen die keimende Nervosität offenbart. 

Man könnte nun noch die Frage aufwerfen, ob es denn ein Ge- 
winn sei, wenn diese krankhaften Zustände früh erkannt werden, ob 
damit auch die Mittel an die Hand gegeben seien, sie zu bekämpfen 
und im Keim zu vernichten. Nun, die Frage beantwortet sich von 
selbst. Wenn wir auch nicht in der Lage sind, die ererbte und an- 
geborene neuropathische Konstitution durch eine andere zu ersetzen, 
so steht es doch in unserer Macht, durch die Art der Erziehung 
und Bchandlung, ganz besonders durch die Fernhaltung gewisser 
Schädlichkeiten, auf die ich in früheren Vorträgen hingewiesen habe, 
dahin zu wirken, daß die vorhandenen Keime nicht zur üppigen Ent- 
wicklung, nicht zur vollen Entfaltung gelangen. Möchten meine An- 
regungen in diesem Sinne wirken! 


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2. Über die Bedeutung der Stimmungsschwankungen 
bei Epileptikern. 
Vortrag gehalten am 12. Oktober zu Halle auf der 5. Versammlung des Vereins 
für Kinderforschung. 
Von 
Prof. Dr. Gustav Aschaffenburg. 


Nicht ohne ernste Bedenken ergreife ich hier das Wort vor 
ciner Versammlung von Nicht-Medizinern, um zu einer klinischen 
Frage Stellung zu nehmen, die noch nicht als unzweifelhaftes Er- 
oberungsgebiet unserer Fachwissenschaft betrachtet werden darf, zur 
Frage nach der Bedeutung der Stimmungsschwankungen bei Epilep- 
tikern. Allerdings glaube ich berechtigt zu sein, meine Ansicht zu 
vertreten, die das Ergebnis spezieller Untersuchungen ist, und zu der 
sich neuerdings auch mehr und mehr die Fachgenossen bekannt haben. 
Nicht das also ist, was mich bedenklich macht. 

Meine Bedenken wurzeln vielmehr in der Befürchtung, bei jeder 
Stimmungsschwankung in dem Herzen der Eltern das Gespenst der 
Epilepsie mit all ihren Schrecken auftauchen zu sehen. Und doch 
scheint mir diese Furcht das geringere Übel zu sein, gegenüber der 
Gefahr, die Epilepsie zu verkennen. 


ÄSCHAFFENBURG: Bedeutung der Stimmungsschwankungen bei Epileptikern. 63 


Ich möchte anknüpfen an die Worte STROHMEYERS aus seinem Vor- 
trage »Über Epilepsie im Kindesalter« auf der vorigen Tagung dieser 
Versammlung in Jena: »Je früher und je energischer eingegriffen 
wird, um so größer ist die Aussicht auf Heilung.« Nicht allzuoft 
ist es möglich, die Epilepsie zu heilen, aber darum brauchen wir die 
Hände nicht in den Schoß zu legen. Da, wo unsere Hoffnung auf 
völlige Wiederherstellung an der Schwere der Krankheit scheitert, 
bleibt uns immer noch die Möglichkeit, wenigstens dem allzuschnellen 
Fortschreiten durch Anordnung einer zweckmäßigen Lebensweise Ein- 
halt zu tun, wenigstens die schlimmsten Erscheinungsformen der 
Epilepsie zu verhindern. 

Um das zu können, müssen wir die Krankheit möglichst früh- 
zeitig feststellen; deshalb ist cs notwendig, alle die mannigfachen 
Formen zu kennen, auf Grund deren wir die Wahrscheinlichkeits- 
diagnose der Epilepsie stellen. Die Wahrscheinlichkeitsdiagnose sage 
ich ausdrücklich; sie genügt, um den vorsichtigen Arzt zu allen vor- 
beugenden Maßnahmen zu veranlassen, deren ein epileptisches Kind 
bedarf. Denn das eine bedarf wohl keiner Begründung: Alle pro- 
phylaktischen Mittel der Erziehung und Lebensweise schaden keinen 
Kinde, auch dem gesunden nicht. Wohl aber kann cine Lebens- 
führung, die für ein rüstiges Gehirn unbedenklich ist, bei einem 
epileptischen Kinde die größten Nachteile bringen. Nur so also bitte 
ich meine Ausführungen zu verstehen; nicht eine übertriebene Ängst- 
lichkeit gegenüber psychopathischen Kindern möchte ich wachrufen, 
sondern nur zur Vorsicht mahnen, damit nicht aus anscheinend harm- 
losen Anfängen größerer Schaden erwächst. 

Die Epilepsie ist eine Krankheit von so ausgeprägtem Charakter, 
daß sie zu den bestgekannten gehört, soweit wenigstens der große 
Krampfanfall in Betracht kommt, dieses erschütternde Bild tiefster 
Bewußtlosigkeit, von krampfhaften Zuckungen der Glieder und des 
ganzen Körpers begleitet. Der klinischen Beobachtung aber konnte 
es nicht lange entgehen, daß die Krankheit nicht immer nur in dieser 
Form oder ausschließlich in Kränpfen auftrat. Im Gegenteil; bald 
lernte man bestimmte Charaktereigenschaften des Epileptischen kennen, 
ferner eine Anzahl von kleinen Anfällen, kurzdauernden Schwindel, 
Ohnmachten, blitzschnell vorübergehende Bewußtseinstrübungen, petit 
mal genannt, einerseits, andrerseits schwere psychische Erkrankungen, 
tage- und wochenlang andauernd, in denen die Kranken, verwirrt und 
in phantastischen Erlebnissen befangen, oder auch auf den ersten 
oberflächlichen Blick völlig besonnen und scheinbar wohlüberlegt 
handelnd, doch ein Traumleben führen. 


64 A. Abhandlungen. 


Diese schweren Anfälle, die sogenannten Dämmerzustände, 
schließen sich nicht selten an einen Krampfanfall an oder enden in 
einen solchen; man bezeichnet sie deshalb als post- oder präepilep- 
tische Dämmerzustände. Zuweilen aber finden sie sich ohne jeden 
Zusammenhang mit Krämpfen, an deren Stelle. Diese Zustände, 
ebenso wie die andern Anfälle nicht krampfartiger Natur werden all- 
gemein epileptische Äquivalente genannt. Von besonderer Wichtig- 
keit im Zusammenhang mit den zu besprechenden Stimmungsschwan- 
kungen ist die Tatsache, daß sich leichte Anfälle von Bewußtseins- 
trübungen, Krämpfen oder Schwindel zuweilen durch den Genuß 
größerer Mengen Alkohols in die schweren Dämmerzustände um- 
wandeln lassen, ein Experiment, das leider der Epileptiker vielfach 
in der Freiheit macht. 

Zu dem festen Besitzstande unserer Kenntnisse von der Epilepsie 
gchört auch der epileptische Charakter. Reizbarkeit und Launen- 
haftigkeit, Heimtücke und Egoismus, übertriebene Frömmigkeit und 
Lügenhaftigkeit, Brutalität und Empfindlichkeit, alles wird dem Epi- 
leptiker nachgesagt. An diesem Punkte nun glaube ich darf die 
Kritik einsetzen. Kein Zweifel, viele der Epileptiker, besonders der 
schwachsinnig gewordenen, zeigen alle diese Charaktereigentümlich- 
keiten. Aber nicht alle, nicht einmal der größere Teil. Und bei 
näherer Beobachtung mancher Kranken wiederum, die anscheinend 
der »epileptischen Charakterdegeneration« verfallen sind, wird man 
überrascht sein, die unangenehmen Seiten nicht immer, nicht dauernd 
vorzulinden. Manche sind wochenlang leicht lenkbar, zuverlässig, 
zuvorkommend bis zur Aufopferung. Plötzlich ändert sich das Bild. 
Derselbe Kranke, der noch am Tage vorher sich in nichts von dem 
scsunden unterschied, ist plötzlich ablehnend, ärgerlich, verstimmt, 
jeden Zuspruch zurückweisend, und bei dem geringsten Anlaß auf- 
brausend. 

Oft findet man bei einer körperlichen Untersuchung die Zeichen 
eines Anfalles, der nur, weil er sich Nachts abspielte, unbemerkt 
blieb: Zungenbisse, Blutungen in der Bindehaut des Auges und ähn- 
liches. Nicht immer aber läßt sich diese Veränderung im äußeren 
Verhalten auf einen Anfall zurückführen; oft läßt sich vielmehr ein 
Anfall mit Bestimmtheit ausschließen, besonders dann, wenn die Er- 
regung sich unter den Augen des Beobachters im Laufe des Tages 
oder plötzlich entwickelt. Diese Zustände sind cs, von denen ich ver- 
suchen will, heute nachzuweisen, daß sie an Stelle von cpileptischen 
Anfällen auftreten. 


Den Anlaß, diese eigenartigen Stimmungsschwankungen näher 





ASCHAFFENBURG: Bedeutung der Stimmungsschwankungen bei Epileptikern. 65 


zu untersuchen, gaben die Aussagen, die seitens der sogenannten 
Dipsomanen (Quartalsäufer) über die Empfindungen gemacht werden, 
durch die sie zum Trinken veranlaßt werden, und weiter die Erfahrungen 
an solchen Kranken während ihrer dipsomanischen Anfälle und außerhalb 
derselben. Bei sorgfältiger Beobachtung zeigte sich, daß die Kranken 
in gewissen Intervallen ohne jeden äußeren Grund plötzlich ver- 
stimmt, traurig, ängstlich wurden, unter gleichzeitigem Auftreten 
körperlicher Begleiterscheinungen, die auf eine Beteiligung des ganzen 
Nervensystems hinweisen. Da nun manche Dipsomanen außerdem 
an unzweifelhaften epileptischen Anfällen litten, ferner die Umwand- 
lung der äußerlich wenig ausgeprägten Verstimmung in schwere 
Dämmerzustände unter dem Einflusse des Alkohols auf die enge Be- 
ziehung zur Epilepsie hinwiesen, schien die Auffassung vollauf be- 
berechtigt, daß die Dipsomanie eine epileptische Psychose sei. Nach 
Gaupps!) trefflicher Monographie über die Dipsomanie kann wohl 
diese Frage als gelöst betrachtet werden. 

Ich habe nun im Anschluß an die Beschäftigung mit der Dipso- 
manie 1895 und neuerdings in diesem Jahre eine Anzahl Epileptiker 
genauer auf das Bestehen ähnlicher Zustände hin untersucht. In 
der ersten Gruppe hatte ich mich nicht streng an die enge Fassung 
der Epilepsie gehalten, wie sie manche Autoren aus Furcht vor 
einer allzugroßen Ausdehnung der Krankheit, vor einer Verwässerung 
des Begriffes der Epilepsie vertreten. Wohl aber in meiner zweiten 
Gruppe. Um jede Selbsttäuschung, aber auch jeden Einwand zu bce- 
seitigen, habe ich nur solche Epileptiker bei meiner zweiten Unter- 
suchungsreihe verwertet, die charakteristische epileptische Anfälle ge- 
zeigt hatten, ohne natürlich eine sonstige Auswahl zu treffen. Aller- 
dings hatten nicht alle Krampfanfälle. Der Standpunkt, daß nur der 
große Krampfanfall die Epilepsie beweise, ist ja wohl längst über- 
wunden. SIEMERLING2) sagt darüber, daß die Schwindelanfälle häufiger 
und wichtiger seien als die Krampfanfälle. 

Es ist hier nicht der Ort auf die Einzelheiten meiner Unter- 
suchungen näher einzugehen. Nur 3 Punkte bedürfen der Be- 
sprechung: Erstens, wie oft finden sich solche Stimmungsanomalien 
bei Epileptikern, zweitens in welcher Form zeigen sie sich, und end- 
lich, wodurch läßt sich beweisen, daß cs sich nicht um harmlose 
Verstimmungen handelt, denen auch der gesunde und erst recht der 


1) Gaurr, Die Dipsomanie. Jena, Gustav Fischer, 1903. 
2) SIEMERLING, Über die transitorischen Bewußtseinsstörungen der Epilepsie in 
forensischer Beziehung. Berliner klin. Wochenschrift, 1895. S. 938. 


Dio Kinderfehler. IX. Jahrgang. ọ 


66 A. Abhandlungen. 





psychopathische Mensch unterworfen ist, sondern um epileptische 
Äquivalente? 

Bei meiner ersten Reihe hatte ich in 64°/, aller Fälle, und, bei 
ausschließlicher Berücksichtigung der längere Zeit und sorgfältig be- 
obachteten, in 780% Stimmungsanomalien gefunden; bei der zweiten 
Reihe in 77. Dieses Zusammentreffen ist wohl ein Zufall; aber so- 
viel steht wohl fest, daß etwa 3/, aller Epileptiker diese Erscheinung 
zeigen. Um nicht mißverstanden zu werden, möchte ich besonders 
hervorheben, daß ich den Begriff der Stimmungsanomalie nicht allzu 
eng begrenzen möchte. Sehr häufig verdichten sich die unange- 
nehmen Empfindungen zu bestimmten Vorstellungen, selbst zu Ver- 
folgungsideen, ohne daß sich zwischen diesen etwas komplizierteren 
Fällen und der einfacher Verstimmung eine scharfe Grenze ziehen 
läßt. Aus dieser Ausdehnung des Begriffes erklärt sich z. T., warum 
andere Beobachter!) zu weniger hohen Prozentzahlen gekommen sind. 

Die Art, in der sich der Verstimmungsanfall zeigt, ist sehr ver- 
schieden und wechselt oft bei demselben Kranken. Die einfachste 
Form ist eine leichte Verstimmung mit Selbstvorwürfen, Sorgen 
um die Existenz, um die körperliche Gesundheit, hypochondrisches 
Selbstbeobachten, unbestimmte Angst, Druckgefühl auf der Brust, 
im Kopf, Erschwerung des Denkens; eine besonders wichtige Vor- 
stellung ist die des »Heimwehs<. Der Ausdruck wird überraschend 
oft von solchen Kranken gebraucht. Man kann leicht erkennen, 
daß es sich nicht um eine physiologische, begründete Sehnsucht 
nach der Familie und den Angehörigen handelt; sind die Kranken 
nämlich in ihrer gewohnten Umgebung, so zeigt sich das gleiche 
Gefühl in Form eines Dranges zum Fortlaufen, zur Ortsveränderung. 
In den Anstalten kommt es zu lebhaften Protesten gegen die Zurück- 
haltung, zu Fluchtversuchen, in der Freiheit zu zwecklosem Um- 
herlaufen, zu weiten Reisen ohne Ziel, zu langen Märschen bis zur 
völligen Erschöpfung. ?) 

Die Kenntnis dieser Zustände gibt uns den Schlüssel zu manchen 
unverständlichen Entweichungen, zu mancher Fahnenflucht. Da er- 


t) Rarcke, Die transitorischen Bewußtseinsstörungen der Epileptiker. Halle a/S., 
Carl Marhold, 1903. S. 95. 

?) Heiupronser (Über Fugues und Fugue-ähnliche Zustände. Jahrbücher für 
Psychiatrie 1903) hat völlig recht, wenn er behauptet, solches Flüchten käme auch 
bei andern Kranken vor und auch bei Epileptikern außerhalb der Anfälle. Ich muß 
aber auf Grund meiner Erfahrungen behaupten, daß die Fugueszustände bei weitem 
am häufigsten bei Epileptikern zu beobachten und in jedem Falle als epilepsie- 
verdächtig anzusehen sind. 


cz 


ÄSCHAFFENBURG: Bedeutung der Stimmungsschwankungen bei Epileptikern. 67 








fahrungsgemäß Epileptiker oft nach einer psychischen Erregung, 
einem Ärger, Kummer oder einer Strafe ihre Anfälle bekommen, so 
darf auch der Nachweis eines scheinbar ausreichenden Grundes noch 
nicht als Gegenbeweis gegen die pathologische Entstehung des Fort- 
laufens angesehen werden. 

Die innere Unzufriedenheit mit sich und allem zeigt sich aber 
nicht nur in Form der Verstimmung, sondern auch als erhöhte Reiz- 
barkeit. Dann machen die Kranken ihrer inneren Spannung durch 
lautes Klagen und Schimpfen Luft, sie haben an allem etwas auszu- 
setzen, fühlen sich benachteiligt, zurückgesetzt, beschweren sich über 
schlechtes Essen, Unfreundlichkeit der Umgebung. Das sind noch 
verhältnismäßig harmlose Formen der Erkrankung; es kommt aber 
auch zu gefährlichen Ausschreitungen, zu brutalen Angriffen und sinn- 
loser Wut. In solchen Zuständen genügt oft ein leiser Widerspruch, 
eine geringfügige Zurechtweisung, um die größten Explosionen her- 
beizuführen. 

Ein charakteristisches Merkmal der nervösen Veranlagung ganz 
allgemein ist das Mißverhältnis zwischen Reiz und Reaktion, die über- 
große Empfindlichkeit. Aber bei den Erregungszuständen der Epilep- 
tiker ist die Beantwortung eines Reizes eine derartig exzessive, daß 
auch dem Laien die pathologische Natur klar wird. Die Aufregung 
steigert sich schnell und unaufhaltsam; kein Zureden und Beruhigen 
vermag der Erregung Einhalt zu tun und sic zu dämpfen. Ein 
nicht geringer Teil furchtbarer und motivloser Verbrechen entspringt 
solchen Zuständen. 

Ich habe mit Absicht das Bild eines besonders schweren An- 
falles gegeben, um die Wichtigkeit der Diagnose ins rechte Licht zu 
stellen. Zwischen den leichten Verstimmungen und den heftigen 
Wutausbrüchen findet man natürlich alle Formen und, glücklicher- 
weise, die harmloseren häufiger. Schr wertvoll ist das rechtzeitige 
Einschreiten, wenn es möglich ist, den Kranken sofort zweckmäßig 
zu behandeln. Das souveräne Mittel ist in solchen Fällen das Bett. 
Die Ruhe des Körpers gesellt sich zur Ruhe des Geistes, Reibereien 
und die daraus entstehende stärkere Erregung werden vermieden ; 
der Anfall verläuft im Stillen. Seine Dauer wechselt von Stunden 
bis zu Tagen, in seltenen Fällen auch Wochen. 

Besonders bedenklich ist während der Anfälle der Alkoholgenuß. 
Er wirkt wie der zündende Funke im Dynamit. Die Notwendigkeit 
der Alkoholabstinenz gilt für alle Epileptiker, da die Anfälle sich 
unter seiner Einwirkung häufen. Aber bei weitem am gefährlichsten 
ist der Genuß geistiger Getränke während der Erregung. Das ist 

Kr 


68 A. Abhandlungen. 


ee 


doppelt wichtig, weil der Erwachsene nur zu sehr geneigt ist, die 
innere Angst und Unruhe durch geistige Getränke zu beseitigen. 
Schwere Dämmerzustände in all ihren Formen sind die traurige 
Folge. 

Was berechtigt nun, die skizzierten Stimmungsschwankungen als 
epileptische Anfälle aufzufassen? Ich schicke nochmals die Warnung 
vor dem Mißverständnisse voraus, als ob jede Verstimmung, jeder 
Ärger als pathologisch anzusehen sei; selbst dann darf man nicht 
soweit gehen, wenn der Affekt sehr lebhaft, die Ursache gering 
ist. Nicht einmal dann, wenn sonst die Epilepsie zweifellos ist, darf 
jede Stimmungsschwankung als epileptisches Symptom aufgefaßt 
werden. Selbstverständlich entgeht kein Epileptiker dem Ärger, der 
Trauer, dem Zorn. Als beweisend für die pathologische Entstehung 
der Zustände ist deshalb vor allem anzusehen, wenn sie völlig unbe- 
gründet, wie aus heiterem Himmel erscheinen. Ich will mich nicht in 
Einzelheiten verlieren und Beispiele anführen. Nicht nur die Kranken, 
sondern auch ihre Familien und die Lehrer kennen die Erscheinung; 
ich habe nicht selten dic charakteristische Äußerung gehört: Heute 
hat der Kranke seinen Tag. Viele Eltern berichten, daß ihnen die 
plötzliche motivlose Charakterveränderung für kurze Stunden besonders 
auffällig sei, der merkwürdige Gegensatz gegenüber dem sonstigen 
Wesen. 

Ein weiterer Grund, der uns berechtigt, diese Verstimmungen 
von der einfachen Launenhaftigkeit zu trennen, liegt in der Periodi- 
zität. Allerdings darf man diesen Begriff nicht wörtlich nehmen. 
Ebensowenig wie der cpileptische Krampf in völlig gleichen Inter- 
vallen wiederkehrt, ebensowenig ist das bei der epileptischen Ver- 
stimmung zu erwarten. Pflegt doch auch unser Leben nicht so 
gleichmäßig zu verlaufen, daß nicht zu gewissen Zeiten äußere 
Schädigungen, Krankheiten, Unwohlsein oder innere, wie Kummer 
und Sorgen, sich häufen. Nur in Anstalten, wo das Leben einiger- 
maßen geregelt und von äußeren Störungen ziemlich unbeeinflußt bleibt, 
tritt die regelmäßige Wiederkehr der Anfälle deutlicher zu Tage. 
Gleichwohl läßt auch das Leben in der Freiheit erkennen, daß sich 
immer wieder von Zeit zu Zeit die Anfälle einstellen, und daß dieses 
Einstellen bei großen Zeiträumen auch die Regelmäßigkeit nicht ver- 
missen läßt. 

Ich habe vorhin schon darauf hingewiesen, welche Umwandlung 
der Alkohol auf die Erscheinungsform des Anfalles ausübt. Er ver- 
wandelt die leichte Verstimmung in einen schweren Dämmerzustand, 
der alle Merkmale der Epilepsie aufweist: schwere Bewußtseinstrübung, 





ASCHAFFENBURG: Bedeutung der Stimmungsschwankungen bei Epileptikern. 69 











phantastische Erlebnisse, Sinnestäuschungen, Erinnerungsstörungen. 
Gelegentlich beweisen auch Krämpfe als Schlußakt des Anfalles seine 
Zugehörigkeit zur Epilepsie. Auch die Häufung der Anfälle bei 
dauerndem stärkeren Alkoholgenuß, ihr Seltenerwerden bei Abstinenz 
darf dabei nicht überschen werden. 

Der 4. Grund, der für die Identität der Verstimmungen mit epi- 
leptischen Anfällen spricht, ist der Zusammenhang mit Krämpfen. 
Die Zustände ähneln so sehr dem, was man unmittelbar vor oder 


nach Krämpfen beobachtet hat, daß der Einwand erhoben werden 


konnte, es handle sich tatsächlich wohl um postepileptische Er- 
regungen. Nur seien die Anfälle der Beobachtung entgangen. Das 
gilt gewiß für einen Teil der Fälle, aber ebenso gewiß nicht für alle. 

Wenn man Gelegenheit hat, die Entstehung und Entwicklung 
eines solchen Zustandes von Anfang an zu beobachten, was für den 
Arzt in Anstalten natürlich leichter möglich ist, als außerhalb, so 
kann man oft mit Sicherheit einen Krampfanfall ausschließen. Gut 
beobachtende Angehörige haben mir übrigens dasselbe oft mit aller 
Bestimmtheit bestätigt. 

Ich lege darauf großen Wert, daß die äußerliche Form der epilep- 
tischen Verstimmung nach Krämpfen der ohne solche photographisch 
ähnlich ist, weil diese Übereinstimmung uns der Notwendigkeit ent- 
hebt, allzuängstlich nach den Zeichen des überstandenen Krampfes 
zu forschen. Nur dann würde ich diese Symptome (Zungenbisse, 
Verunreinigungen, Blutungen usw.) für besonders wichtig halten, wenn 
außer den Stimmungsschwankungen kein epileptisches Symptom be- 
kannt ist. Deshalb weise ich ausdrücklich darauf hin, daß die 
Krämpfe nicht immer den ganzen Körper befallen, sondern auch iso- 
liert, auf einzelne Muskelgruppen beschränkt vorkommen. 

Der letzte Beweis endlich liegt in den Begleiterscheinungen. 
Eins der häufigsten Symptome ist der Kopfschmerz, meist in der 
Stirn lokalisiert, selten einseitig, migräncartig. Zuweilen leitet den 
Anfall Flimmern vor den Augen, das Schen von Funken, feurigen 
Kugeln, roten Flächen, Feuer ein, ganz wie in der Aura des Epilep- 
tikers. Der Puls ist beschleunigt, das Gesicht stark gerötet oder auf- 
fallend blaß. Zittern der Hände, körperliches Unbehagen bis zu bce- 
stimmten, stets wiederkehrenden Klagen, für die aber objektiv kein 
Anhaltspunkt zu finden ist, starke Schweißausbrüche, Durchfälle ge- 
hören zu den nicht seltenen Erscheinungen. Einige Male konnte ich 
feststellen, daß die Pupillen außerordentlich weit waren und auf Licht- 
einfall ungenügend oder langsam reagierten. 

Alle diese Symptome deuten auf die schwere und allgemeine 


70 A. Abhandlungen. 








Beteiligung des Zentralnervensystems hin. Sie sind nicht immer vor- 
handen, nicht bei jedem Kranken und nicht in jedem Anfalle gleich 
deutlich, aber es gelingt fast stets, eine oder die andere Erscheinung 
nachzuweisen. Auch die Bewußtseinstrübung fehlt nicht gänzlich. 
Stärkere Beeinträchtigungen des klaren Denkens sind allerdings nicht 
häufig, aber eine leichte Benommenheit besteht fast immer. Man 
darf nur nicht erwarten, sie bei der einfachen Unterhaltung feststellen 
zu können. Dazu gehören feinere, exakte, experimentelle Methoden 
der Untersuchung. Aber die subjektive Empfindung intelligenter 
Kranken ersetzt und ergänzt die bisher gemachten Experimente. Die 
Patienten klagen über Erschwerung des Denkens, über Benommen- 
heit, über das Gefühl, als ob sie ein Brett vor dem Kopfe hätten, 
die Gedanken nicht klar fassen könnten, zerstreut seien. Je schwerer 
der Anfall ist, um so deutlicher werden die objektiven Zeichen 
und dann entgeht auch meist dem geübten Beobachter die Denk- 
störung nicht. 

Damit ist der Kreis der Beweisführung meines Erachtens ge- 
schlossen. Die Periodizität der Stimmungsschwankungen, ihre Ent- 
stehung ohne erkennbaren äußeren Anlaß, die Beziehung zum Alkohol- 
genuß, die Gleichheit mit den prä- und postepileptischen Zuständen 
und endlich die Begleiterschemungen zwingen zu dem Schlusse, diese 
Stimmungsanomalien als epileptische Äquivalente anzusehen. 

Aber man darf nun nicht glauben, daß ihr Auftreten den Schluß 
auf Epilepsie ohne weiteres gestatte. Es bedarf dazu einer sehr sorg- 
fältigen Nachforschung, ob nicht auch noch andere Zeichen der 
Epilepsie nachzuweisen sind. Es bedarf vor allem der Feststellung, 
daß es sich nicht um anderweitige geistige Störungen, nicht um 
Hysterie handelt. 

Ich komme damit zum Ausgange meines Vortrages zurück. Der 
Mangel an Stetigkeit der Stimmung ist nichts weiter und soll nichts 
weiter sein als ein Warnungssignal für die Eltern und Erzieher. Sie 
sollen nicht gleichgültig darüber weggehen oder glauben, mit den 
Mitteln der Erziehung dagegen ankämpfen zu können. Die Ent- 
scheidung, ob Erziehung oder Behandlung und welche Art der Be- 
handlung erforderlich ist, kann nur der Arzt treffen. Mir will 
scheinen, als ob es für das Kind besser ist, wenn der Arzt einmal 
zu viel, als einmal zu wenig zu Rate gezogen wird. Aber der Arzt 
kann gerade auf dem Gebiete der Epilepsie auch die Beihilfe des 
Lehrers nicht entbehren. Der Arzt sicht gerade das epileptische Kind 
meist außerhalb des Anfalles; er'ist deshalb auf die Beobachtung des 
Lehrers angewiesen. lch stelle mit besonderer Freude fest, daß diese 











Bericht über die V. Jahresversammlung des Vereins für Kinderforschune. 7] 














Beobachtungen oft außerordentlich genau und gut waren, ein Beweis 
für die Aufmerksamkeit, die den Kindern zu teil wird, und für die 
Vertiefung in die Charaktereigenschaften jedes einzelnen Pflege- 
befohlenen. 

So bitte ich also meine Ausführungen aufzufassen als den 
Wunsch, die Lehrer und die Angehörigen der Kinder in der Pflege 
und Erziehung zu unterstützen. Der Lehrer, der von diesen Stim- 
mungsschwankungen weiß, wird auffälliger Reizbarkeit oder periodisch 
wiederkehrender Verstimmung gegenüber argwöhnisch werden. Er 
wird die Kinder besonders sorgfältig ins Auge fassen, und seine 
Beobachtungen werden dann dem Arzte die unentbehrliche Grund- 
lage für seine Untersuchung werden. Das Ergebnis aber (dieses ein- 
mütigen Zusammenarbeitens von Arzt und Erzieher kommt dem zu 
gute, dem unsere Bestrebungen gelten, dem kranken Kinde. 


nn. AOL A AEREAS 


B. Mitteilungen. 





1. Bericht über die V. Jahresversammlung des Vereins 
für Kinderforschung am 11. und 12. Oktober 1903 in 
Halle a/S. 


Erstattet von den Schriftführern Nervenarzt Dr. med. Strohmayer-Jena und 
Anstaltslehrer Stukenberg-Sophienhöhe (Jena). 


Der Besuch der diesjährigen Versammlung war zahlreich, ein Um- 
stand, wofür zum nicht geringen Teile dem rührigen Ortsausschusse unter 
dem Vorsitze des Rektors Dr. B. Maennel der Dank gebührt. 

Der Vorsitzende des Vereins, Anstaltsdircektor J. Trüper- 
Sophienhöhe b. Jena eröffnete die Versammlung am 11. Oktober abends 
6 Uhr mit einem kurzen Rückblick auf die bisherige Arbeit des Vereins. 
Er wies auf die vielen Tausende derjenigen Kinder hin, die in ihrer 
Eigenart nicht verstanden werden und darum mißraten, und forderte zu 
einem einmütigen Zusammenarbeiten aller auf, denen das Wohl unserer 
Jugend am Herzen liege, wünschend, daß unsere diesjährigen Beratungen 
der Wissenschaft vom Kinde zur Förderung und der Jugend zum Segen 
gereichen mögen. 

Sodann begrüßte Stadtschulrat Brendel-Halle die Versammlung 
namens der Stadtverwaltung. Er wünschte dem Verein volles Blühen 
und Gedeihen. 

Hilfsschulleiter Kielhorn-Braunschweig überbrachte den Gruß 
des Verbandes der Lehrer an Hilfsschulen. Er wünschte, daß sich beide 
Vereine gegenseitig ergänzen möchten. 


72 B. Mitteilungen. 


Prof. Dr. med. Oppenheim-Berlin hielt einen Vortrag über »Die 
ersten Zeichen der Nervosität des Kindesalters«. 

Da die Vorträge unter den Abhandlungen dieser Zeitschrift im Wort- 
laut zum Abdruck kommen, so begnügen wir uns an dieser Stelle mit 
dem bloßen Hinweise. Die Debatte wurde lebhaft geführt. 

Kinderarzt Wolf Becher-Berlin berichtet über Beobachtungen 
an nervösen Kindern in der Kinder-Erholungsstätte vom roten Kreuz in 
Schönholz bei Berlin. Unter den Pfleglingen waren Hysterische, Choreatische, 
Imbezille, Kinder mit Pavor nocturnus, Halluzinationen usw. Er schildert 
die Eigenart der Kinder-Erholungsstätten und legt dar, daß diese Anstalten 
sowohl für die kinderpsychologischen Forschungen, als auch Behandlung 
und Heilung der im Elternhause und in der Schule als nervenkrank auf- 
fallenden Kinder sich ganz besonders eignen. 

Prof. Ziehen-Halle bemerkt, daß bei dem Kinde das Vorhanden- 
sein von Krankheitseinsicht nicht wie bei dem Erwachsenen stets die 
Zwangsvorstellungen gegenüber inhaltsverwandten Wahnvorstellungen cha- 
rakterisiere. Entscheidend für die Feststellung von Zwangsvorstellungen 
ist vielmehr das Bewußtsein des Kindes, daß es sich um eine ihm fremd- 
artige, sonst nicht zu ihm gehörige Vorstellung handelt, die das Kind 
selbst gern los sein will. Die Wahnvorstellung dagegen fühlt das Kind 
als zu seinem Ich gehörig. 

Sanitätsrat Dr. med. Berkhan-Braurnschweig: Besondere Er- 
wähnung verdient hier noch der plötzliche Wandertrieb bei Kindern. 

Im Alter von 6—8 Jahren verlassen sie plötzlich die Schule oder 
das Haus, übernachten im Freien und kommen nach 2 oder 3 Tagen 
halbverhungert nach Hause. Später, im 14.— 16. Lebensjahre, in einer 
Dienststellung, verhalten sich solche mit Wandertrieb Behaftete noch eine 
Zeitlang zur Zufriedenheit ihrer Vorgesetzten, entfernen sich jedoch plötz- 
lich und wandern ohne Geld Wochen, aber auch Monate lang, bis sie 
reuevoll wieder zu Hause anlangen, um später von neuem zu wandern. 
Ob Epilepsie zu Grunde liegt, oder Zwangsvorstellungen oder Zwangs- 
handlungen oder Angstaffekte, läßt sich in den einzelnen Fällen schwer 
entscheiden. 

Es ist aber eine der Aufgaben des Vereins, in diesen nicht seltenen 
Fällen die spätere Laufbahn solcher von Wandertrieb befallenen Menschen 
zu verfolgen. 

Anstaltsdirektor Trüper-Sophienhöhe bei Jena führt ein Bei- 
spiel für den Wandertrieb an. Ein Knabe bekam nach halbjährigem 
Aufenthalt ohne Heimweh Besuch von seinen Eltern. Am 1. Tage ging 
er mit ihnen in die Stadt und kam abends sehr erfreut zurück. Auch 
die Eltern lobten sein Verhalten. Am 2. war er plötzlich morgens ver- 
schwunden. Er war nach dem Aufstehen vor dem Frühstück bei strengster 
Winterkälte ohne Mantel und Handschuhe fortgegangen und hatte bei 
einem Bauern einen Wagen für sich bestellen wollen, um nach Weimar 
zu fahren. Dort wollte er höchstwahrscheinlich mit seinen heimfahrenden 
Eltern zusammentreffen. Ganz klar war ihm jedoch das Ziel nicht. Er 
bekam den Wagen nicht und fiel dann auf der Straße einem Schutzmann 


Bericht über die V. Jahresversammlung des Vereins für Kinderforschung, 73 


auf, dem er die wunderbarsten Angaben machte. Eine Nummer in seinem 
Hute veranlaßte den letzteren, bei uns telephonisch anzufragen. Als 
Grund des Wandertriebes darf hier wohl gelten eine außergewöhnliche 
Erregung, hervorgerufen durch die Freude über den Eilternbesuch, die 
einen blindea Drang zum Wandern auslöste. 

Prof. Dr. med. Aschaffenburg-Halle bemerkt, daß nach seinen 
Erfahrungen in weitaus den meisten Fällen diese eigenartigen Flucht- 
zustände auf epileptischer Basis beruhen, jedoch nicht alle; sie kommen 
auch als Symptom bei andern Erkrankungen, vielleicht auch bei Ge- 
sunden vor. Wenn man aber bei älteren Leuten eine genaue Anamnese 
erheben kann, so findet man in dem Vorleben epileptische Merkmale. 
Die Beweise für diese Auffassung würden weit über den Rahmen einer 
Diskussionsbemerkung hinausgehen; er sei aber zu der erwähnten Uber- 
zeugung nach sorgfältigster Verfolgung zahlreicher Einzelbeobachtungen 
gekommen. 

Dr. med. Strohmayer-Jena möchte den Trüperschen Fall als 
hysterischen Dämmerzustand auffassen. Er erinnert daran, daß der soge- 
nannte » Wandertrieb« in 30°/, der Fälle hysterischer Dämmerzustand ist. 
(Heilbronner.) Gemütsbewegungen sind häufig die auslösende Ursache. 

Hauptlehrer Kielhorn-Braunschweig: Unter den schwachbe- 
fähigten Kindern, die wir in der Hilfsschule haben, sind sehr viele nervös. 
Ich muß auch gestehen, daß ich oft im Unklaren gewesen wäre, wenn 
ich nicht den psychiatrischen Beirat des Sanitäts-Rats Dr. Berkhan ge- 
habt hätte. Ich möchte darum hier die Notwendigkeit erklären, daß jeder 
Hilfsschule ein psychiatrisch gebildeter Arzt zur Seite stehen muß. 

Den Wandertrieb betreffend, teile ich mit, daß ich unter den schwach- 
befähigten Kindern einen größeren Prozentsatz gefunden habe, die die 
Neigung besaßen, sich zwecklos umherzutreiben. Es wird also unter 
denen, die vom Wandertricb befallen sind, mancher sein, der geistig 
minderwertig ist. 

Anstaltsdirektor Trüper-Jena hebt hervor, daß bei den ihm 
vorgekommenen Fällen von Wandertrieb weder vorher noch nachher epi- 
leptische Anfälle beobachtet worden seien. 

Prof. Dr. med. Oppenheim-Berlin spricht im Schlußwort seinen 
Dank für die seinem Vortrage erwiesene Aufmerksamkeit aus. 


Der Vorsitzende Herr Trüper, macht der Versammlung bekannt, 
daß der auf der Tagesordnung angesetzte Vortrag über »Das Kind und 
die Kunst«s wegen Erkrankung des Herrn Referenten ausfallen muß. 
Statt dessen wird der geschäftliche Teil eriedigt. Die als richtig befundene 
Kassenführung ergibt eine Einnahme von 356,08 M. Demgegenüber steht 
eine Ausgabe von 323,61 M, so daß also ein Überschuß von 32,47 M 
zu verzeichnen ist. Der Kassenwart, Anstaltslehrer Stukenberg- 
Sophienhöhe bei Jena bemerkt, daß sich der Verlag der »Zeitschrift für 
Kinderforschungs (Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann], Langensalza) 
bereit erklärt habe, das 1. Heft des Jahrganges jedem Mitgliede des 
Vereins frei ins Haus zu liefern, auch wenn der Beitrag noch nicht ge- 


74 B. Mitteilungen. 


zahlt sein sollte. Erfolgt dann die Zahlung des Vereinsbeitrages nicht, 
so hört die Lieferung auf. 

Darauf entsteht eine kurze Debatte über die Satzungen des Vereins. 
Es wird beschlossen, Punkt IV fallen zu lassen, und dafür Punkt III 
folgendermaßen festzusetzen: »Der Vorstand besteht aus 8 Personen. Er 
wählt seinen Vorsitzenden, verteilt die Geschäfte unter sich und ernennt 
Schriftführer und Kassenwart.« 

Punkt IV lautet nun: »Alljährlich findet eine Hauptversammlung 
statt. Zeit und Tagesordnung werden zuvor in dem Vereinsorgan, der 
» Zeitschrift für Kinderforschung«, bekannt gegeben. Vorort des Vereins 
bleibt Jena. Anmeldungen von Vorträgen, Anträge auf Beschluß- 
fassungen usw., welche der Tagesordnung eingefügt und vorher bekannt 
gemacht werden sollen, müssen 4 Wochen vor der Hauptversammlung 
beim Vorstande eingereicht werden.« 

Uber den Mitgliedsbeitrag wird beschlossen, daß er für die außer- 
ordentlichen Mitglieder 1 M pro Jahr betragen soll.!) 

Nach der Neuwahl des Vorstandes setzt sich derselbe nunmehr aus 
folgenden Herren zusammen: Gymn.-Dir. Dr. Altenburg-Glogau, Geh. 
Medizinalrat Prof. Dr. Binswanger-Jena, Professor Dr. Ebbinghaus- 
Breslau, Professor Dr. Oppenheim-Berlin, Reg.- und Med.-Rat Professor 
Dr. Leubuscher-Meiningen, Professor Dr. Rein-Jena, Anstaltsdirektor 
Trüper-Jena-Sophienhöhe, Professor Dr. Th. Ziehen-Halle Schrift- 
führer und Kassenwart sind Dr. med. Strohmayer-Jena und Anstalts- 
lehrer Stukenberg-Jena-Sophienhöhe. 

Als Ort der nächsten Hauptversammlung des Vereins wurde Leipzig 
gewählt. 


Am 12. Oktober, morgens 9 Uhr, begann die 2. Versammlung. Leider 
mußte auch heute der Vorsitzende den Ausfall eines Vortrages mitteilen, 
da der Referent, Kinderarzt Dr. med. Schmid-Monnard-Halle, plötzlich 
schwer erkrankt war. 

An crster Stelle sprach deshalb Prof. Dr. med. Aschaffenburg- 
Halle Ȇber die Bedeutung der Stimmungsschwankungen bei 
Epileptikern«. 

In der Debatte zum Vortrage bemerkt Dr. med. Strohmayer-Jena, 
daß für die Diagnose »Epilepsie« strikte beweisend nur der epileptische 
Anfall ist. Stimmungsschwankungen allein genügen nicht. Vielleicht 
klärt ein progredienter geistiger Verfall im Verlaufe die Erkrankung auf, 
oder eine günstige Beeinflussung durch Brom ist im stande, die Wahr- 
scheinlichkeits-Diagnose zu stützen. Er stimmt im übrigen Aschaffenburg 
bei, daß selbst bei ganz unsicherer Diagnose das Bestehen der schwereren 
Erkrankung angenommen und demnach therapeutisch gehandelt werden 
soll. Es ist besser, daß gelegentlich einmal Epilepsie zu Unrecht ange- 
nommen, als daß eine tatsächlich bestehende verkannt wird. 

Erziehungsinspektor Pieper-Dalldorf: Vortragender warnte 


1) Anmeldungen und Beiträge sind zu richten an Anstaltslehrer W. Stuken- 
berg-Jena-Sophienhöhe. 


Bericht über die V. Jahresversammlung des Vereins für Kinderforschung. 75 


vor pädagogischer Beeinflussung bei Stimmungsschwankungen der in Frage 
kommenden Kinder. Sie soll nicht in Strafen bestehen, im Gegenteil, sie 
liegt auf ganz andern Gebieten. Der Lehrer hat bei Stimmungsschwan- 
kungen derartiger Kinder nach folgenden Grundsätzen zu handeln: 1. Das 
Kind darf geistig nicht angestrengt werden. 2. Der Lehrer hat das Kind 
freundlich zu behandeln, es friedlich zu stimmen, ihm ein Lob zu 
spenden. 3. Er hat das Kind zu schützen gegen nachteilige Einflüsse 
der übrigen Kinder. 4. Er hat das Kind den Tag über im Auge zu behalten. 

Prof. Dr. med. Aschaffenburg-Halle ist absichtlich nicht auf 
Einzelheiten der Diagnose eingegangen. Der Verfall in intellektuelle oder 
ethische Schwäche ist ein Symptom, das nicht immer eintritt. Vortr. 
hat oft langjähriges Bestehen schwerer, wenn auch nicht häufiger Anfälle 
gesehen, ohne Spuren eines beginnenden Defektes. Vor allem aber zeigt 
sich der Defekt erst so spät, daß wir gerade im Beginne der Erkrankung 
das Symptom nicht feststellen können, und es kommt darauf an, die 
Diagnose recht früh zu stellen. 

Brom hat sich nicht als diagnostisches Mittel bewährt. Manche 
zweifellos epileptische Kranke blieben unbeeinflußt, andere fragliche Fälle 
besserten sich schnell. In jedem Falle aber mnß der Versuch mit Brom 
gemacht werden, weniger der Diagnose als der Behandlung wegen. 

Vortr. hat leider oft die Erfahrung gemacht, daß Lehrer und Eltern 
mit Strenge, mit Strafen und Prügeln diesen Stimmungsschwankungen ent- 
gegentraten. Das ist kein Vorwurf, weil die Erkennung der Zustände 
sehr schwer, die Kenntnis der Erscheinungen wenig verbreitet ist. Gerade 
die Lehrer, die stundenlang ihre Zöglinge vor Augen haben, erkennen das 
Krankhafte der periodischen Reizbarkeit oft besser als die Eltern und Ärzte. 
Daher richtet Vortr. nochmals die Aufforderung zu energischem und ziel- 
bewußtem Zusammenarbeiten an Lehrer und Ärzte. 

Anstaltsdirektor Trüper-Jena: Was hier über nachteilige Be- 
einflussung gesagt worden ist, trifft für viele Fälle durchaus zu. Doch 
gilt dies nicht nur für Eltern und Lehrer, sondern auch für Ärzte und 
Juristen. Es ist darum auch so außerordentlich wichtig, daß die Auf- 
klärung in die weitesten Kreise dringt. Es dürfen Medizin und Päda- 
gogik keine Geheimwissenschaften sein. 

Ich selbst habe zahlreiche Erfahrurgen betroffs der Stimmungsschwan- 
kungen gemacht. Einen Fall will ich hier erwähnen. Es handelte sich 
um ein Mädchen von 9 Jahren. Die Eltern konnten mit der Erziehung 
nicht fertig werden. Es zeigte zahlreiche Charakterfehler mit großen 
Stimmungsschwanknngen, die sich periodisch stärker oder schwächer kund- 
gaben. Das Kind war oft sehr lieb und gut und oft unverbesserlich 
schlecht. Diese Perioden wurden häufiger und anhaltender; das Kind 
wurde Mitzöglingen bedenklich, und infolgedessen entließen wir es. 
Ein Jahr darnach hörten wir, daß es schwer epileptisch geworden sei, 
trotzdem bei uns garnichts von den eigentlichen Symptomen der Epilepsie, 
vor allem nicht die geringsten Spuren von Krampfanfällen zu bemerken 
waren. Deshalb kann ich nicht nachdrücklich genug betonen, solche 
Stimmungsschwankungen ja zu beachten. Doch darf man auch nicht ins 


6 B. Mitteilungen. 





Gegenteil verfallen und jeder Launenhaftigkeit nachgeben. Es kommt 
eben auf die richtige Erkennung der Zustände an. Deshalb wiederhole ich 
noch einmal: es ist nötig, daß überall Schulärzte sind, daß auch die Land- 
schulen nach dem Muster des Herzogtums Meiningen wenigstens einen 
Kreisschularzt haben, und daß diese auch den Eltern und Lehrern weitere 
Aufklärung über die Nervenkrankheiten im Kindesalter vermitteln. Dazu 
ist aber erforderlich, daß die Schulärzte sich mehr als das bisher ge- 
schehen, mit der Psychiatrie des Kindesalters befassen. 

Hierauf hielt Herr Direktor Trüper-Jena-Sophienhöhe seinen 
Vortrag »Über psychopathısche Minderwertigkeiten als Ur- 
sache von Gesetzesverletzungen«. 

Die Debatte drehte sich um folgende vom Redner aufgestellte Leit- 
sätze: 1. Es gibt abnorme Erscheinungen und Zusände im Seelenleben der 
Jugend, die nicht unter die Rechtsbegriffe »Unzurechnungsfähigkeit« und 
»Geistesschwäche« fallen, die aber doch pathologischer Natur sind und bei 
manchen zu Gesctzesverletzungen führen, ja unbewußt drängen. 

2. Diese Zustände entwickeln sich allmählich aus kleinen Anfängen 
und können, rechtzeitig erkannt und zweckentsprechend bei der Er- 
ziehung berücksichtigt, in den ersten Fällen gebessert werden. So können 
zugleich jugendliche Gesetzesübertretungen verhütet und ihre Gesamtzahl 
kann wesentlich vermindert werden. 

3. Es ist darum ım Öffentlichen Interesse dringend erwünscht, daß 
Lehrer. Schulärzte, Seelsorger und Strafrichter sich mehr als bisher dem 
Studium der Entwicklung der Kindesseele und ihrer Eigenarten widmen, 
am der Entartung des jugendlichen Charakters rechtzeitig vorbeugen zu 
können. Namentlich ist,es erwünscht, daß an den Universitäten in Ver- 
bindung mit pädagogischen Seminaren Vorlesungen über Psychologie und 
Psychiatrie des Jugendalters gehalten werden, und daß in den Volksschul- 
seminaren die künftigen Lehrer Anleitung zum Beobachten des kindlichen 
Seelenlebens erhalten. 

4. In allen Schulen ist mehr als bisher der Erziehung des Gefühls- 
und Willenslebens Rechnung zu tragen und der einseitigen intellektuellen 
Überlastung vorzubeugen. 

5. Bevor jugendliche Individuen wegen Gesetzesverletzung Öffentlich 
vor den Strafrichter gestellt werden, sollten sie zunächst einem »Jugend- 
gericht«, bestehend aus dem Lehrer des betreffenden Kindes, dem Leiter 
der betreffenden Schule, dem Schularzte, dem Geistlichen und dem Vor- 
mundschaftsrichter überwiesen werden. Erst auf Beschluß dieses Jugend- 
gerichtes sollten Jugendliche dem öffentlichen Verfahren überwiesen werden. 

6. Statt oder neben der Strafe als Sühne oder der bloßen Einsperrung 
zum Schutze der Gesellschaft gegen die Übeltäter sollte in besonderen 
Anstalten, von besonders vorgebildeten Pädagogen unter medizinisch-psy- 
chistrischem Beirate geleitet, eine für Leib und Seele sorgfältig erwogene 
Heilerziehung Platz greifen. Die Fürsorgegesetze tragen bisher diesen 
Anforderungen nicht genügend Rechnung. 

In der Besprechung des Vortrages teilte Geheimrat Prof. Dr. von 
Liszt-Charlottenburg im wesentlichen den Standpunkt des Vorredners 


Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 77 


-e a e e a e a a a e e a ee e e e e 


und empfahl, die Thesen bis auf die 5. zur Annahme. Dieser These 
gegenüber habe er das Bedenken, daß damit hinter die bisher fast allge- 
mein angenommene Forderung, daß Schulkinder unter keinen Umständen 
vor den Strafrichter gestellt werden dürfen, zurückgegangen würde. Im 
übrigen bitte er die Versammlung, die zur Zeit in diesem Sinne im Gange 
befindliche legislative Bewegung zu unterstützen. 

Die Thesen wurden darauf auf Antrag von Dr. Strohmayer-Jena 
mit Ausnahme der 5. einstimmig angenommen und unter Hinweis auf die 
soziale Bedeutung des Kinderstudiums wurde die Versammlung geschlossen. 


2. Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich 
gefährdeten Jugend. '!) 


Ein Reisebericht von J. Chr.H agen, Direktor des Schulheims zu Falstad bei Drontheim. 
(Fortsetzung.) 


Erziehungsheim Sophienhöhe.?) 


Diese private Anstalt liegt außerhalb Jenas auf einer Anhöhe, welche 
den Namen Sophienhöhe führt. Die Stelle ist mit besonderer Sorgfalt ge- 
wählt. Die Stadt Jena mit ihrer Umgebung gehört der Gesundheitsstatistik 
zufolge zu den von Tuberkulose am wenigsten heimgesuchten Gegenden 
Deutschlands. Die Anstalt liegt ca. 200 m über dem Meere und ca. 60 m 
höher als die Stadt. Die Luft ist so verhältnismäßig rein; die Temperatur 
ist weniger wechselnd. Die Gebäude sind von einem ca. 3 ha großen 
Park umgeben, hinter dem Park, ca. 10 Minuten von der Anstalt, beginnt 
Nadelwaldä, wohin täglich mit den Kindern Spaziergänge gemacht werden. 


1) Vergl. Jahrg. 1903 Heft I. IV, und 1904 oft I. 

2) Bisher habe ich in den VIII Jahrgängen unserer Zeitschrift es sorgfältig 
vermieden, über meine Anstalt irgendwie berichten zu lassen, weil die Zeitschrift 
auch von dem Scheinverdacht des Werbezweckes für dieselbe freigchalten werden 
muß. Wir haben darum auch Bedenken getragen, den nachstehenden, in norwegischer 
Sprache bereits veröffentlichten amtlichen Bericht Hagens hier wiederzugeben. 
Weil es sich aber um die Charakterisierung eines Prinzips handelt, dessen An- 
wendung Hagen sonst vergeblich auf seiner Reise gesucht hat, und über deren 
Richtigkeit und Zweckmäßigkeit man ja streiten kann, so glauben wir schließlich es 
sogar als wissenschaftliche Pflicht erachten zu sollen, auch dieser Charakteristik 
Raum zu geben. 

Unsere Anstalt fällt ja nicht in die Kategorie der von Iagen sonst be- 
suchten öffentlichen Anstalten für sittlich Gefährdete. Aber zu ihrer Gründung wurde 
ich doch von der Erwägung veranlaßt, daß ein Privatversuch gemacht werden sollte 
— öffentliche Anstalten scheuen ja gewöhnlich die Versuche —, das Pathologische 
der Kindesnatur auch dort noch heilerzieherisch zu berücksichtigen, wo man es für 
gewöhnlich durchaus nicht mehr sucht. Bei den von Hagen mitgeteilten Fällen 
ist ja das pathologisch Abnorme gewiß noch sehr auffallend. Es wird sich aber 
schon noch Gelegenheit bieten, die Bedeutung der Berücksichtigung auch der kleinsten 
Anfänge des Pathologischen für die Behandlung darzutun. Tr. 


78 B. Mitteilungen. 


Der Ort bietet überhaupt durch seine Lage alle natürlichen Be- 
dingungen, um die körperliche Gesundheit zu fördern und Minderwertig- 
keiten zu entfernen, soweit sie nervösen Ursprungs und besserungs- 
fähig sind. 

Planmäßig werden denn auch diese Vorteile, die die Natur bietet, 
verwertet durch Gartenbau und andere Beschäftigung im Freien, Turnen 
und Spiele, im Sommer Schwimmen, im Winter Schlittschuhlaufen, Hand- 
schlittenfahrten im Parke, Wanderungen zu Fuß in der Umgegend usw. 
Dieses alles nimmt einen ziemlich großen Platz in dem Erziehungsplan 
der Anstalt ein. 

Die Tagesordnung nach dem Plane der Anstalt, soweit nicht 
vom Arzte verordnete Abweichungen stattfinden, ist folgende: 

Die Kinder stehen auf, lüften die Betten usw. im Winter um 7 Uhr 
im Sommer um 6 F 


Frühstück . . . . im Winter um 71/, Uhr „ $ v 6Ha s 
Gemeinschaftliche Andacht ,, ~ 7 3 „ 3» „ 
Der Unterricht beginnt as u 5 j 3 „ T! „ 


Die Stunden liegen in den Klassen möglichst parallel und haben eine 
Dauer von 8/4 Stunden. Zwischen jeder Lektion wird 15 Minuten pausiert; 
doch ist dafür gesorgt, daß Zöglingen, die leicht müde werden, die 
Zwischenpausen verlängert werden können. 

In den niederen Klassen dauern die Lektionen 30 Minuten und 
zwischen den Lektionen werden 30 Minuten zum freien Spielen oder, 
wenn es nötig ist, zum vollständigen Ruhen benutzt. 

In der Zeit von 9—10 Uhr ist Frühstückspause, dann Spiel oder 
ein kurzer Spaziergang. 


Theoretischer Unterricht . . . 2.2.2.2. . 10—12 Uhr 
Handarbeitsunterricht . 2. 2 2 202020... 12—1 j 
Mittagessen. . a 2 2 nn nn Ti o» 
Frei . . . 13, —4 » 


Während dieser Freizeit. gehen die, welche der Ruhe bedürftig sind, 
zur Ruhe; die übrigen sind im Freien beschäftigt, spielen, betreiben Arbeit 
im Garten oder in der Werkstatt, werden massiert, treiben Heilgymnastik usw. 

Vesperbrot . . . 4—41, Uhr 

Von 41/, Uhr bis 53/, Uhr bei den Kleineren und bis 7 Uhr bei 
den Größeren wird Unterricht in Gesang und Turnen, Klavierspielen, 
Schnitzen u. dergl. erteilt. 

Abendessen für die Jüngeren um 5?/, Uhr, für die Größeren um 
71/4 Uhr. Nach dem Abendessen freies Spielen oder Beschäftigung unter 
Aufsicht wie sonst. Abendandacht wird von den betreffenden aufsicht- 
führenden Lehrern oder Erzieherinnen auf den Schlafsälen gehalten nach 
der Hausregel: »Dem lieben Gott gilt das letzte Wort«. 

Einige ältere Knaben bilden eine Art Lehrlingsabteilung der Anstalt. 
Sie haben täglich 4—5 Stunden theoretischen Unterricht, 3 des Morgens 
und 2 des Abends. In der übrigen Zeit geht es zu praktischen Arbeiten 
mit bestimmten Pausen. 

Der Unterricht der Anstalt — mustergültig abgepaßt, zur Ge- 


Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 79 


nüge inhaltreich und doch abgewogen, beseelt, ruhig und frei von über- 
flüssigem Gerede — repräsentierte die geistige Hygiene der Anstalt. Man 
sucht ihn erziehend im eigentlichen Sinn zu machen. Er trug immerhin 
das Gepräge, daß man streng und zur äußersten Konsequenz nicht nur 
einer intellektuellen Entwicklung, sondern auch einer Veredelung von 
Gemüt- und Willensleben zustrebte. Aller didaktischer Verbalismus und 
Materialismus war darum verpönt. Es wurde das Hauptgewicht darauf 
gelegt, das Kind zur selbständigen Betrachtung und zu lebendigem Ver- 
ständnis von Natur und Menschenleben anzuleiten und als notwendiger 
Abschluß wurde die Anwendung des klar Erkannten gefordert. 

In einer Unterrichtsstunde konnte man darum quantitativ gesehen 
nicht immer große Fortschritte wahrnehmen — qualitativ genommen aber 
konnte man bei den Kindern am Schlusse der Stunde einen merklich 
positiven Erfolg feststellen. Ich stellte sogar Proben an und fand im 
täglichen Umgange mit diesen Kindern durchgehends eine Gründlichkeit 
des Selbsterlebten, eine Befruchtung des Verstandes sowohl, als des Ge- 
fühles und Willens, die mich überraschte. Jede Unterrichtsstunde bildete 
ein geschlossenes Ganzes. Es war ein begrenzter, aber interessierender 
Stoff gewählt, der selten von den Schülern erlesen, als weit mehr von 
dem Lehrer entwickelnd dargestellt wurde; Lehrer und Schüler drangen 
dialogisch in denselben hinein und bauten auch das Neudargebotene selbst- 
tätig auf. Von dem so Durcharbeiteten zogen die Zöglinge selbständig 
ihre Schlüsse und durch diese kam der rein unwillkürliche Appell der ge- 
ernteten Erfahrungen hervor. 

Die Behandlungsweise der Anstalt. Die Wirksamkeit auf 
Sophienhöhe ruhte durchgängig auf psychiatrischen Prinzipien, und die 
Behandlung der Kinder war darum im vollen Maße individuell. Eine der 
vornehmsten Pflichten der Angestellten, insbesondere der Lehrer, war es 
denn auch, gründlich die einzelnen Individuen zu studieren. Auf den unter 
der Leitung des Direktors gehaltenen wöchentlichen Konferenzen, wo das 
Personal seine Beobachtungen vorbrachte und diskutierte, sollten die Lehrer 
auch ein Individualitätsbild von jedem der zuletzt aufgenommenen Zög- 
linge, nachdem sie etwa einen Monat in der Anstalt sich aufgehalten 
haben mochten, schriftlich vorlegen. Nachdem dieses vorgetragen, wurde 
es dann diskutiert und die Bcehandlungsweise danach festgesetzt. 

Zur Beleuchtung, sowohl wie genau man auf die individuelle Eigen- 
tümlichkeiten einging, als wie man später diese bei der Behandlung be- 
rücksichtigte, erlaube ich mir cin paar von diesen Individualitätsbildern 
der schwierigsten Zöglinge hier mitzuteilen. 

l 1. A. L., ca. 9 Jahre, war 4 Wochen in der Anstalt gewesen. In 
Rücksicht auf das Körperliche bot er nicht viel Außergewöhnliches. 
Sein Kopf war etwas groß, er wuchs langsam, lispelte etwas und 
war zum Schwatzen geneigt. Auffallend war dagegen seine Unruhe. Es 
war ihm unmöglich, in der Klasse ruhig zu sitzen, er liebte mit den 
Beiven zu baumeln, den Nebenmann anzugreifen, sich hin und her zu 
wenden, zu plaudern und zu flüstern, kurz er war ein perpetuum mobile. 
Warnte ihn der Lehrer, saß er eine Sekunde stille und war dann wieder 


EZ 


80 B. Mitteilungen. 


in Bewegung. Er antwortete, ohne gefragt zu sein, lachte und plapperte 
wegen der größten Kleinigkeit. 

In psychischer Hinsicht war man über ihn, insofern ich richtig auf- 
gefaßt habe, noch nicht ganz klar. Ich besuchte immerfort seine Klasse, 
besonders in den Rechenstunden. In einer Normalschule würde von ihm 
gewiß gesagt werden: Er ist ein etwas beschränkter, ungezogener Knirps 
und er würde als solcher behandelt werden. Ihm mangelte ein ernster 
Wille, logischer Sinn ebenfalls; seine Zahlenvorstellungen waren nicht 
sehr entwickelt. Von Gehorsam und ÖOrdnungssinn war keine Rede. 
Warnungen, scharfe Zurechtweisungen gingen in das eine Ohr hinein und 
aus dem andern wieder hinaus. 

Man wies nach, wie diese psychischen Mängel mit seiner leiblichen 
Unruhe zusammenhingen. Diese nervöse Unruhe war Ursache des Mangels 
an logischem Denkvermögen, sowie auch Ursache sowohl der Willens-, 
wie der ethischen Defekte. Seine Rezeptivität schien überaus gering zu 
sein, sein Reproduktionsvermögen ebenso. 

Wie sollte das nun gebessert werden? Mit Vermahnungen richtete 
man nichts aus, auch mit Prügel nicht. Man würde weit vom Richtigen 
sich entfernen, wenn man seine Unruhe, Unaufmerksamkeit usw. als 
mangelhafte Erziehung, als Ungebührlichkeit oder dergl. betrachtete. 

Das Mittel in diesem Falle war Ruhe. Es war darum mit dem 
medizinischen Ratgeber der Anstalt, Prufessor Dr. Ziehen, vereinbart, 
daß der Knabe, sobald diese Unruhe sich zeigte, ins Bett gebracht und da 
in vollständiger Ruhe unter ununterbrochener Aufsicht gehalten werde. 
Noch in der ersten Woche meines Aufenthaltes in der Anstalt war der 
Lehrer recht häufig genötigt, ihn aus der Klasse zu führen, worauf er 
ins Bett beordert wurde. Da brachte er den Rest des Tages in un- 
gestörter Ruhe zu. Außer dem Knaben durfte dann kein anderer als die 
Aufsicht führende Krankenschwester im Zimmer sich aufhalten. Im Bette 
mußte der Knabe entweder liegen oder halb angekleidet sitzen. Er be- 
kam hin und wieder ein Brettspiel oder dergl. zur Unterhaltung, aber 
in Ruhe mußte er damit hantieren. Die Wirkung war sogar in den 
Wochen, die ich mich in der Anstalt aufhielt, auffallend. Es war nicht 
zu verkennen, daß es verhältnismäßig schnell vorwärts ging. 

Das Auftreten der Lehrer so beschwerlichen Schülern gegenüber 
zeigte musterhafte Selbstbeherrschung; keine Miene oder Bewegung ver- 
riet irgend einen Affekt, was den ganzen Erziehungserfolg gefährdet haben 
würde. Daß der Knabe gerettet wurde, schien unzweifelhaft. Durch eine 
gowöhnliche Schulbehandlung würde er einfach zu Grunde gerichtet sein. 

2. F. H., 9°/, Jahre alt, hatte bei meiner Ankunft sich ca. 8 Tage 
in der Anstalt aufgehalten. 

In physischer Hinsicht sei bemerkt, daß er ein wenig mikrocephal 
war. Der Schädel war etwas zu früh zusammengewachsen. Im übrigen 
war er wohlproportioniert. Die Sinne fungierten alle. 

Seine Eltern, in England wohnend, waren Verwandte; Vetter und 
Cousine. Der Vater ist ein selbständiger Charakter; er ist konfessionslos 
geworden und gehört zu der ethischen Kulturgesellschaft. In seiner 





u nn nn LT mm a rer ll len ll nn 


Familie hält er, statt Andachten in gewöhnlichem Sinne, Stunden, wo er 
aus klassischen profanen Werken mit hervortretend ethischem Inhalt rezitiert. 

Auch die Mutter war gesund und stark und hatte selbst ihr Kind ge- 
stillt. Die Geburt verlief günstig. F. lief und begann auch zu sprechen in 
seinem zwölften Monate. Verschiedene Krankheiten hat er durchgemacht. 
Er ist sauber und näßt nicht ein. 12 Monate alt fiel er aus einem Wagen 
heraus und auf den Kopf. Sein Gang und seine Haltung ist etwas eigen- 
tümlich; er hat eine stark ausgeprägte Eigenart in seiner Bewegung. 
Wenn er etwas will, bewegt er sich schnell im Kreise. Er unterscheidet 
Form und Farbe und kann die Zeit angeben. 

Psychisch bot der Knabe viel von Interesse. Der Raum hier gestattet 
nur einen Teil der Beobachtungen mitzuteilen. 

Ich begleitete ihn in der Gesellschaft des Direktors zum Professor 
Ziehen, wo er, wie ein jeder Neuaufgenommene, zur medizinischen 
Untersuchung sich vorstellen sollte. In das Zimmer des Professors ein- 
getreten, offenbarte er völligen Mangel des Sinnes dafür, daß er nun 
einer fremden Person gegenüber stand; geistesabwesend sah er um- 
her, gar nicht auf den Professor, sondern auf die Decke und auf die 
Wände, ging leise singend umher, stand still vor einem Bücherregal, wo 
der Rücken eines Buches mit englischem Titel seine Aufmerksamkeit er- 
weckte; da aber in demselben Augenblicke die Wanduhr schlug, fuhr er 
zusammen, steckte die Finger in die Ohren und, wie in großer Bedrängnis 
jammernd, schrie er: Au, an. Er fuhr so fort, während die Uhr ihre 
fünf langsamen Schläge machte, nahm dann ängstlich prüfend die Finger 
aus den Ohren. Englisch aufgefordert, wurde er von dem Professor zum 
Sitzen gebracht. Unterdes machte sich ein Bedürfnis geltend und er 
mußte zum Abort geführt werden. Dieser war ein Wasserklosett und als 
er die Wasserspülung gewahrte, brüllte er laut auf, vor Schrecken zitternd, 
bleich im Gesicht und mit starkem Herzklopfen. Aber in keinem dieser 
Fälle ließ er artikulierte Rede hören. Auf Fragen antwortete er nicht. 
Die ganze Zeit, während ich ihn betrachtete — spät und früh —, be- 
merkte ich, daß gewisse unartikulierte Laute, wie Glockenschläge, Wagen- 
getöse, Sausen oder Wasserklosetts usw. ganz störend auf ihn einwirkten, 
während Laute lebender Wesen ihn auf keine Weise affizierten. Er schien 
sie im Gegenteil gar nicht zu beachten. In der Unterrichtsstunde ver- 
nahm er scheinbar nichts von dem, was vorging, sab unruhig, sang leise, 
zeichnete anf der Pultplatte, ging auch wohl in der Klasse umher: es 
war, als wäre kein anderer da. Was nur immer in der Stunde vorging, 
er lebte wie in einer fremden Welt. Unaufhörlich mußte er korrigiert 
werden. Rief man ihn bei Namen, beobachtete er es nicht, sah nicht 
einmal nach der Richtung, woher die Anrede kam. 

Einer oberflächlichen Betrachtung schien er am meisten einem Idioten 
gleich. Und doch Idiot war er gar nicht; ich erinnere mich unter 
anderem einer Rechenstunde, wo er auch in seiner gewöhnlichen, wie 
geistesabwesenden Weise aß. Der Lehrer operierte mit der Zahlenreihe 
1—8; die übiigen Kinder waren eifrig dabei. Als ich ihn doch cinmal 


Dio Kinderfehler. IX. Jahrzanz. 6 


g2 B. Mitteilungen. 


ui 


—— 


leise singend eine Zahl nennen hörte, bat ich den Lehrer ihn zu fragen. 
Er wurde hervorgerufen; auf dem Tische lagen 8 Stäbchen. Der Lehrer 
mußte ihn bei der Hand festhalten, damit er nicht umherzuwandern be- 
gann. Der Knabe sah nicht auf den Tisch oder auf den Lehrer. Er 
stand da, leise mit sich selbst sprechend, sah zur Decke auf, auf die 
Wände usw. Endlich wurde er gefragt: Wie viele Griffel sind das? 


8 — 8 — 8 — sang er. Der Lehrer: Ich nehme drei, wieviel sind 
dann übrig? F. murmelnd: 5 — 5 — 5. Er betrachtete aber einige Bilder 
an der Wand und gar nicht die Griffe. — Er rechnete schon damals 


bis 100 und lernte in wenigen Monaten bloß durch Anwesenheit in der 
Klasse, wo die Kinder bereits lasen und schrieben, das ihm schriftsprach- 
lich völlig fremde Deutsch korrekt lesen und schreiben. — 

Er hatte zum Zeichnen ausgeprägte Anlagen. Eines Tages lieferte er, 
als er allein saß, eine Bleistiftskizze.. Man sah gleich, daß es Bismarck 
war. Die charakteristischen Züge waren da, das Bild in ungefähr halber 
Lebensgröße. So hatte er auch ein Dampfschiff gezeichnet, eine Droschke 
mit dem Kutscher auf dem Bocke, ganz selbständig aufgefaßt, ohne Vor- 
zeichnung. Seine Fixierung Bismarcks war eine Nachahmung eines Alfenid- 
reliefs in dem Zimmer des Direktors, den er nur einige Augenblicke vor 
einigen Tagen da gesehen hatte. Diese seine Reproduktionen waren ganz 
impressionistisch ausgeführt; rasche, kräftige Hauptlinien, so charakteristisch 
gegriffen, daß die Totaiwirkung treffend war. 

Noch ein Zug: Der Vater hatte dem Direktor ein in Grün ge- 
bundenes Buch, einige klassische Gedichte, die dieser in den früher er- 
wähnten ethischen Andachtsstunden verwendete, gesandt. Der Direktor 
zcigte dieses dem Knaben und sagte, daß es vom Vater gekommen wäre, 
nur um zu ermitteln, ob der Gedanke an die Heimat eine Rolle bei ihm 
spiele. Zu unserm großen Erstaunen fing der Knabe an, klar und aus- 
drucksvoll auswendig ein hexametrisches Gedicht, das mehrere Blätter des 
Buches umfaßte, mit guter Betonung zu deklamieren. Nichts aber verriet, 
daß irgend ein besonderes Bild von der Heimat oder ein Gedanke an die- 
selbe, an Vater und Mutter geweckt wurde. Aber das Gedicht in dem 
ihm bekannten Buche hatte er im Gedächtnis und vom einfachen Vorlesen 
aus »The best book«, wie der Knabe es von selber daheim genannt habe, 
wortgetreu behalten. Das hatte er sich trotz seiner scheinbaren Geistes- 
abwesenheit durch bloßes Hören angeeignet. 

Er hiclt sich niemals zu seinen Kameraden, sondern war am liebsten 
allein, sprach mit sich selbst, war voller Freude und Zufriedenheit, pflückte 
Blumen, liebkoste die Tiere usw. 

Es war klar, daß der Knabe »Verstand« hatte, auch Willen und Ge- 
fühl, und er besaß auch den Faktor, der unter normalen Umständen sich 
zu diesen Eigenschaften wie die Triebfeder zum Uhrwerk verhält: er 
hatte Fantasie. Die Fantasie war aber hier stark und einseitig entwickelt, 
während andere Eigenschaften noch schlummerten, und die Fantasie die 
ganze psychische Energie verschlungen hatte; die einseitige Entwicklung hatte 
zur Folge gehabt, daß alle übrigen Vermögen vernachlässigt wurden. Hiermit 
hängt im Grunde auch das oben erwähnte eigentümliche Gedächtnis zusammen. 


Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 83. 








Ich will dies Gedächtnis ein unbewußt mechanisch wirkendes nennen, 
bei welchem Auge und Ohr in Wirksamkeit sind — eine durch diese 
Organe vermittelte Rezeptivität im Gedächtniszentrum, wobei ein ange- 
bornes feines Gefühl für Form und Rhythmus unterstützend wirkt. Er 
besaß dagegen nicht das bewußt arbeitende Gedächtnis, das nicht nur die 
Eindrücke durch die Sinne empfängt und bewahrt, sondern sie noch 
durch einen Willensakt sich einprägt und sie zu systematisierten Bildern 
verarbeitet. Wenn man den Knaben betrachtete, kam es einem vor, als 
wäre etwas somnambulistisches, etwas tränmerisches und mechanisches in 
ihm. Darum stand er auch in keiner bewußten Korrespondenz mit der 
Umgebung, sei es mit Lehrern, mit Mitschülern oder mit anderen. Ein 
normales Kind würde, wenn die Eindrücke der neuen Umgebungen die 
Vorstellungen von den Verhältnissen der Heimat in den Hintergrund ge- 
drängt hätten, sich dem einen oder andern in der Anstalt angeschlossen 
haben. Das bewußt arbeitende Gedächtnis — die Erinnerung an Vater 
und Mutter, an Erlebnisse in der Heimat und dergl. — würde durch 
die Entbehrung Sozialvorstellungen hervorrufen, die bei einer normaleren 
Fantasie ein Ergebenheitsgefühl wachrufen und es treiben würden 
zu einer bewußten, gewollten Anschließung an das Individuum, 
das durch sein Hervortreten entweder in äußeren Verhält- 
nissen oderin Wesenseigentümlichkeiten diesen Vorstellungen 
des Kindes entspricht. 

Aus dem Angeführten geht zur Genüge hervor, daß der Knabe weder 
in einer Normalschule noch in einer Idiotenanstalt seinen Platz fände. 
Die Behandlung wird von dem Resultat, das die neuropathologische Unter- 
suchung ergibt, abhängig sein. Zuerst muß in solchen Fällen die 
physische Basis des psychopathischen Zustandes medizinisch bestimmt 
werden; dann gilt es die psychische Diagnose zu stellen und dann erst 
kann die körperliche und geistige Behandlung festgesetzt werden. 

Kurz soll hier angegeben werden, wie ich mir — nach dem Zustande 
des Knaben zu urteilen — denke, daß die Anstalt dem erwähnten Knaben F. 
gegenüber vorgehen sollte.) 

Der Bewegungsdrang erschwerte jede Gewalt über ihn, seine eigen- 
tümlich krankhafte Überempfindlichkeit des Hörsinnes ebenso. Er muß 
Übungen, um die Unruhe seiner Glieder zu beherrschen, unterworfen 
werden, zuerst in den rein äußeren Verhältnissen, um den einfachsten 
Forderungen des Gehorsams der Ordnung und der Regelmäßigkeit zu will- 
fahren. U. a. müssen Gymnastik, ruhige Spaziergänge und dergl. angewandt 
werden. Da bei diesem Knaben — wie übrigens bei andern psycho- 
pathischen Kindern gewöhnlich — eine antisoziale Natur sich geltend 
macht, müssen diese Übungen, die auch in geordneten Spielen bestehen 
müssen —, mit andern Kindern zusammen unternommen werden. Es gilt 
auch dem stark eguistischen Zuge entgegenzuarbeiter. Nur dadurch, daß 
er, selbst wenn er dazu getrieben werden muß, mit Seinesgleichen oder am 





1) Zu allererst viel Ruhe, dann sorgfältige Ernährung, ferner vorsichtige Ab- 
härtung usw., dann erst psychische Behandlung. Tr. 
6* 


84 B. Mitteilungen. 


—- — -= = Á ma m Tr | 


liebsten mit ein wenig Unterlegenen zusammen lebt, wird der Altruismus 
des Kindes angespornt, und es werden soziale Eigenschaften erwachen. Er 
muß darum auch an dem regulären Unterrichte teilnehmen; wenn er zu viel 
Störung in dem Unterrichte verursacht, wird er hinausgeführt, aber unter 
pädagogischer Leitung zu freier, geeigneter Beschäftigung angehalten. Ihn 
in den Unterricht zu treiben, davon kann unter keinen Umständen die 
Rede sein! Das Ziel muß in jedem Falle niedrig gestellt und leicht zu 
erreichen sein. Es versteht sich von selbst, daß nur, was das Kind leicht 
fassen kann, und wofür es sich interessiert, behandelt werden muß. Der 
Stoff muß durch einfache, nicht fantasieerregende Bilder und eine nüchterne 
Vorstellung anschaulich gemacht werden. Dadurch wird sein Interesse 
erweckt werden und eine Hauptbedingung für Denken, Wollen und Fühlen 
gewonnen sein. Instinktiv wird das unbewußt arbeitende Gedächtnis zur 
bewußten Funktion gelangen und die psychische Energie überhaupt wird 
nicht allein durch allseitigere Eindrücke belebt, sondern auch allmählich 
angespornt und aus der Gewalt der einseitig entwickelten Fantasie aus- 
gelöst werden. Es muß also gefordert werden, daß die werdende Denk- und 
Willenskraft konsequent und methodisch gepflegt wird. Einer geschwächten 
Willenskraft nützen Moralpredigten nicht allein; das Mittel muß wieder 
in regelmäßiger, wohlgeordneter Beschäftigung gesucht werden und es 
müssen leicht erreichbare Ziele gesteckt werden; denn »jede Handlung, 
die gelingt, bildet eben eine Quelle fortgesetzten Wollens und Handelns«. 
— (Prof. Rein, »Pädagogik im Grundriß«.) 

Aus diesen flüchtigen Andeutungen ist zu ersehen, daß die indi- 
viduellen Anlagen (z. B. Fantasie, Zeichenanlage usw.) in den 
Hintergrund gestellt sind. Sie sollen freilich nicht vernachlässigt oder 
außer Betracht gelassen werden, aber sie sollen auch nicht besonders 
gepflegt werden; darin würde eine Gefahr für das Kind liegen. Durch 
einseitige Pflege einseitiger Anlagen würde nicht erreicht werden, was 
zur geistigen Gesundheit, d. h. geistigen Harmonie gehört. Jede Er- 
ziehung muß zu einem gewissen Grade die Natur vervollkommnen, die 
Mängel und Einseitigkeiten der Natur ausglätten. Sie soll freilich nicht 
die individuellen Gaben verleugnen oder schwächen, vielmehr verhindern, 
daß sie sich einseitig in einem Grade entwickeln, der das Gleich- 
gewicht der geistigen und körperlichen Kräfte bedroht. (Dr. Konr. Lange, 
die künstlerische Erziehung der deutschen Jugend.) 

Durch die hier angeführten Individualitätsbilder und die daran an- 
geknüpften Bemerkungen von der Behandlungsweise auf der Sophienhöhe 
ist angedeutet, was bei dem Besuche dieser Anstalt besonderes Inter- 
esse hat. (Schluß folgt.) 


3. An die Mitglieder des Vereins für Kinderforschung. 


Da der neue Jahrgang der Zeitschrift bereits am 1. Oktober dieses 
Jahres begann, bitten wir die Mitglieder des Vereins für Kinderforschung, 
schon jetzt ihren Beitrag (4,00 M) einsenden zu wollen, um Störungen 
in der Lieferung zu vermeiden. 


Zulassung von Volksschullehrern zum akademischen Studium. 85 








Das Vereinsjahr läuft demnach nicht mehr wie bisher vom 1. Januar 
bis zum 31. Dezember, sondern vom 1. Oktober bis zum 30. September. 
Jena-Sophienhöhe. Der Kassenwart: 

Stukenberg. 


4. Zulassung von Volksschullehrern zum akademischen 
Studium. 


Die hessische Regierung hat eine Verordnung über die Zulassung 
von Volksschullehrern zum akademischen Studium erlassen. Danach 
können Volksschullehrer, die in der Entlassungsprüfung die erste Zensur 
erhalten haben, wenn sie mindestens drei Jahre im öffentlichen Schul- 
dienste tätig gewesen sind, auf die Dauer von drei Jahren zum 
Besuche der Landesuniversität beurlaubt und dort als Studierende 
der Pädagogik immatriknliert werden. Der Abschlufs der Studien erfolgt 
durch eine besondere Prüfung, die frühestens nach Ablauf von fünf 
Semestern abgelegt werden kann. 

Das ist eine sehr zweckmälsige und nützliche Verordnung. Die 
Forderung, dafs die Volksschullehrer ihre ganze Ausbildung an der Uni- 
versität erhalten, wie von radikaler Seite gefordert wird, halte ich nicht 
für heilsam im Hinblick auf die Jugenderziehung. Wenn nur die Seminare 
etwas reformfreundlicher sich zeigen wollten. Aber dafs den Tüchtigsten 
unter ihnen die Universitätstore geöflnet werden, kann viel Segen stiften. 
Leider sind das aber nicht immer die mit I Zensierten. Unter diesen 
sind oft auch mechanische Arbeitsmaschinen und Gedächtnismenschen, 
während nachdenksame, selbständige Köpfe nicht selten ungünstig zensiert 
werden. Darum sollte man die Aulnahmebedingungen etwas weitherziger 
fassen. Wir brauchen solche Schulmänner mit höherer und tieferer Bil- 
dung bei seminarischer Grundlage als Leiter für Volks- und Mittelschulen, 
als Stadt- und Kreisschulinspektoren, als Seminarlehrer und Seminar- 
direktoren. Wir brauchen sie vor allem aber auch als Lehrer oder doch 
wenigstens als Leiter für Anstalten und Schulen, worin abnorme Kinder 
jeder Art gebildet und erzogen werden sollen. Es ist für diese Arbeit 
ein solches Mafs von naturwissenschaftlich-hygienischer wie psychologischer 
und psychopathologischer Kenntnisse erforderlich, wie das Seminar sie 
nicht zu bieten vermag. Tr. 


5. Für geistig zurückgebliebene Jünglinge und Jung- 
frauen 


ist in Berlin, Brunnenstraße 186, eine Fortbildungsschule eingerichtet 
worden. Ehemalige Schüler von Nebenklassen und solche junge 
Leute, die sich infolge einer eigentümlichen Veranlagung oder schwerer 
Erkrankung nur ein geringeres Maß von Schulkenntnissen und Fertig- 
keiten aneignen konnten und in den bestehenden Fortbildungsschulen nicht 
die entsprechende Weiterbildung erfahren können, sollen in dieser Schule 





86 B. Mitteilungen. 


soweit ausgebildet werden, daß sie den Anforderungen, die das Leben 
an sie stellt, besser als bisher gerecht zu werden vermögen. Es besteht 
die Absicht, in jeder Klasse stets nur eine kleine Anzahl von Schülern 
(10—12) zu vereinigen, so daß sich die Lehrkräfte jedem einzelnen Schüler 
und jeder Schülerin eingehend widmen können. Der Unterricht will zu- 
erst das vorhandene Wissen und Können befestigen, sodann die Lücken 
ausfüllen und endlich, unter sorgfältigster Beachtung der Eigenart und 
des Berufs eines jeden Schülers, im Deutschen, im Rechnen und in der 
anschaulichen, praktischen Gesellschaftskunde die möglichste Ausbildung 
versuchen. Schwerhörige geistig zurückgebliebene Jünglinge und Mäd- 
chen werden in besonderen Klassen nach einer schon erfolgreich ange- 
wandten Methode unterrichtet werden. Der Unterricht findet für Jüng- 
linge Montags und Donnerstags von 7—9 Uhr, für junge Mädchen Diens- 
tags und Freitags von 6—8 Uhr abends statt. Der Besuch der Fort- 
bildungsschule ist kostenlos. 


6. t Dr. med. Schmid-Monnard. 


Der Verein für Kinderforschung hat am 10. November dieses Jahres 
einen schweren Verlust erlitten. Ein auf dem Gebiete der Schulhygiene 
und Kinderforschung unermüdlich tätiger Arzt, Herr Dr. med. Schmid- 
Monnard-Halle a/S., wurde nach kurzer, aber schwerer Erkrankung aus 
diesem Leben abgerufen. Die Bürgerschaft Halles hat an dem Genannten 
einen eifrigen Stadtverordneten und die Lehrerschaft einen warmen Freund, 
sowie insbesondere die Schulkinder einen kundigen Förderer ihrer phy- 
sischen und intellektuellen Entwicklung verloren. Zahlreich sind seine 
Veröffentlichungen, namentlich in Kotelmanns bekannter »Zeitschrift für 
Schulgesundheitspflege«, welche selbständige Forschungen und scharfsinnige 
Beobachtungen offenbaren. Seine oft originellen Studien auf dem Gebiete 
der Kinderforschung, welche er gerne in den Dienst der öffentlichen Wohl- 
fahrtspflege stellte, wollte er in letzter Zeit zusammenfassen in einer 
Habilitationsschrift, um sich die vensa legendi an der Friedrichs-Universität 
Halle-Wittenberg zu erwerben. Ferner hatte er sich, trotz gerade in letzter 
Zeit für ihn sich häufender literarischen Arbeiten, als Mitglied des Halleschen 
Örtsausschusses in den Dienst unseres Vereins gestellt. War doch ledig- 
lich auf seine lebhafte Werbung hin seinerzeit in Jena beschlossen worden, 
eine Tagung des Vereins für Kinderforschung in Halle abzuhalten. Kaum 
hatte er für diese einen Vortrag »Über die physischen Ursachen der psychi- 
schen Minderwertigkeiten« fertig gestellt: da traf ihn ein hartes Geschick. 
Eine Heilanstalt mußte den rastlos Tätigen aufnehmen, in welcher er nun 
nach wenigen Wochen verschied. 

Wir betrauern den Heimgang des weit über Halle hinaus bekannten 
und geschätzten Kinderarztes und werden ihm ein dankbares und getreues 
Andenken bewahren. 








C. Literatur. ST 


C. Literatur. 


Ein nachahmenswertes Buch. 


La protection de l’enfance en Belgique. Legislation. Enfants mal- 
heureux. Mineurs délinquants par Arthur Levoz, Substitut du procureur 
du Roi à Verviers, Docteur en sciences politiques et administratives, President 
de la Société pour la protection de l’enfance ct le patronage des condamnés, des 
vagabonds et des aliénés à Verviers, Membre de la commission royale des patro- 
nages de Belgique. Bruxelles, J. Goemaere, Imprimeur du Roi, rue de la Li- 
mite 21. 1902. 8%. 497 S. (Schluß.) 

Hierauf folgt die ebenfalls wichtige Abteilung über die Frage, wo das 
»domicile de secours« (die zur Unterstützung berechtigende Heimat) 
jeder Person zu suchen sei, eine Sache, die für verlassene und verwaiste Kinder 
von der höchsten Bedeutung werden kann, Herr Levoz untersucht hier wieder 
in sehr erschöpfender Weise die rechtliche Lage aller denkbaren Verhältnisse nicht 
nur der legitimen und illegitimen (einfach natürlichen oder aus Ehebruch und Inzest 
hervorgegangenen) Kinder, sondern auch der mündigen und emanzipierten Personen, 
der Verpflichtungen der verschiedenen Gemeinden solcher Personen gegenüber und 
der Behörden, die über diese gauzen Verhältnisse eine Aufsicht ausüben können 
oder sollen. 

Im Kapitel III gelangen wir nun an die Bestimmungen des »Code penal 
des belgischen Strafgesetzbuches. Dieses Kapitel fängt mit dem »Avorte- 
ment« (Abtreiben des Kindes) an, geht dann über Kindermord, vorsätzliche und 
unvorsätzliche Körperverletzung, widerrechtliche Einsperrungen, Ver- 
lassen der Kinder (resp. deren Aussetzung), Unterdrückung oder Fälschung 
ihres Zivilstandes, Raub oder Entführung, Attentat gegen die Sitt- 
lichkeit, Mißbrauch der Schwächen oder Leidenschaften Jder Minder- 
jährigen bis zum Diebstahl und zu Betrügereien zwischen »Aszendenten« und 
»Deszendenten« (Verwandten in auf- oder absteigender Linie) weiter. 

Betreffs der unbeabsichtigten Körperverletzungen stellt Herr Levoz fest, daß 
in den Bestimmungen dieser Kategorie gewisse Vergehen gar nicht einmal vor- 
gesehen sind. So müßte z. B. 1. die Tatsache, ein Kind ohne die celementarste 
materielle Pflege gelassen zu haben, besonders die der Reinlichkeit, es ohne Nah- 
rung gelassen zu haben und selbst denselben nur eine ungenügendo oder schlechte 
Nahrung gegeben zu haben, als Körperverletzung gelten, und je nach den Um- 
ständen als vorsätzliche oder unvorsätzliche angesehen werden. (In Frankreich ist 
diese Lücke seit 1898 ausgefüllt: wer einem Kinde unter 15 Jahren ohne Not die 
nötige Nahrung und Pflege vorenthält, begeht eine vorsätzliche Körperverletzung 
und wird dementsprechend bestraft.) 2. Ebenso die Tatsache, ein Kind zu einer 
seine Kräfte überschreitenden Arbeit genötigt zu haben, namentlich dasselbe zu 
schwere Lasten haben tragen zu lassen; und Herr Levoz führt einen Fall als Bei- 
spiel an, wo ein Mann einen 14jährigen Knaben und einen Hund zum Zichen eines 
übermäßig beladenen Karrens zwang, und wo der Mann wegen Überlastung des 
Hundes (Tierquälerei) verfolgt werden konnte, des Kindes wegen aber unbehelligt 
gelassen werden mußte! 

Betreffs des Zivilstandes der neugeborenen Kinder erfahren wir alle 
gesetzlichen Vorschriften über das Anzeigen der erfolgten Geburt; interessant 
ist, daß die Frage, welche Erklärungen bei der Geburt eines natürlichen Kindes 


88 C. Literatur. 





verlangt werden dürfen, lauge Erörterungen sowohl in den Kammern als auch in 
den ärztlichen Kongressen hervorgerufen hat und schließlich dahin geregelt worden 
ist, daß der Name der Mutter bei der obligatorischen Auzeige bei der Geburt eines Kindes 
angegeben werden muß; selbst bei totgeborenen Kindern ist die Anzeige obligatorisch. 

Bei den Sittlichkeitsvergehen ersehen wir, daß dieselben, wenn sie mit 
Kindern unter 14 Jahren begangen werden, natürlich strenger bestraft werden als 
solche mit älteren Kindern. Wenn aber das Sittlichkeitsvergehen mit Kindern 
über 14 Jahren ohne Gewalt oder Drohungen ausgeführt ist, bleibt es straflos, was 
Herr Levoz auch als fehlerhaft bezeichnet, da doch bei sonstigen Vergehen die 
Minderjährigen bis zum Alter von 16 Jahren als ohne »Discernement« handelnd 
angesehen werden. Als Notzucht wird schon die alleinige fleischliche Annäherung 
der beiden Geschlechter betrachtet, wenn dabei cin Kind unter 14 Jahren beteiligt 
ist. Die übrigen Bestimmungen werden wohl den in allen zivilisierten Ländern 
üblichen ähnlich sein. 

Darauf gibt uns der Verfasser eine eingehende Auseinandersetzung der gesetz- 
lichen Anordnungen über die Arbeit der Frauen und Kinder, und zwar um 
so genauer, als es seine Absicht ist, die Gesellschaften zum Schutze der Kinder und 
die Patronate der Verurteilten’ zu belehren, in welchom Alter und unter welchen 
Bedingungen sie ihre Schützlinge in die unter der Beaufsichtigung der Behörden 
stehenden Industrien eintreten lassen können. Ein Gesetz über die Reglementierung 
der Arbeit für Frauen und Kinder wurde im Jahre 1889 veröffentlicht; wie not- 
wendig und nützlich dasselbe war, geht aus einem im November 1894 veröffent- 
lichten Bericht der Regierung hervor. Derselbe sagt, daß im Jahre 1891 noch 
2285 Mädchen und Frauen unter 21 Jahren mit unterirdischen Arbeiten in Kohlen- 
und andern Bergwerken beschäftigt waren: im Jahre 1893 waren es noch 1505, 
im Jahre 1894 nur noch 1076; im Jahre 1891 waren darunter noch 683 Mädchen 
unter 16 Jahren, 1893 nur noch 44 und 1594 gar keine mehr. Aus einem andern 
Berichte geht hervor, daß die Zahl der Frauen und Mädchen in den Bergwerken 
bis 1897 um cin Drittel vermindert war. Indem das Gesctz das zu lange und 
das zu frühe Arbeiten (schon mit & Jahren gingen die Kinder in die Fabriken!), 
das übermäßige Arbeiten, die Nachtarbeit, die ungesunde Arbeit ver- 
hinderte, hat es die Kindheit menschlich beschützt. Jetzt folgt die ins einzelne 
gehende Aufzählung der Vorschriften über das zulässige Alter der Kinder, die 
Dauer und Stunden der Arbeit, der deu Kindern untersagten Arbeiten 
usw., sowie über die obligatorische Ruhe an einem Tage nach sechs Arbeits- 
tagen, Anschlagen dieser Vorschriften in den Werkstätten, ferner die Be- 
schreibung der Zusammensetzung und Wirksamkeit des »Ministeriums der In- 
dustrie und der Arbeit« die Inspektion der Fabriken, Werkstätten, Berg- 
werke, Steinbrüche usw., und die Strafandrohungen für Übertretungsfälle seitens 
der Arbeitgeber und der Eltern. 

Ein äußerst wichtiger Paragraph ist auch der nun folgende über die in den 
ambulanten Professionen angewendeten Kinder. Wir erfahren, daß die bel- 
gische Gesetzgebung in ihren letzten Vorschriften vom Jahre 1888 sich vom preußi- 
schen Gesetze vom 16. Mai 1853, von zwei italienischen Gesetzen von 1865 und 
1873 und von cinem französischen Gesetze von 1874 hat bestimmen lassen. Unter 
andern erfahren wir, daß herumziehende Akrobaten, Zirkusdirektoren und dergl. 
Kinder unter 18 Jahren nur mit ITerbeizichung der Eltern und solche unter 
14 Jahren überhaupt nicht vorführen dürfen, selbst die Eltern dürfen in diesem 
Alter ihre eigenen Kinder nicht auftreten lassen. Dabei hat man aber vergessen, 
das Auftreten der Kinder in festen Theatern zu verbieten. Wir lernen auch die 


C. Literatur. sg 


Strafandrohungen bei Verhandeln der Kinder, die Pflichten der herum- 
ziehenden Handwerker gegen ihre Lehrlinge usw. kennen. 

Im folgenden Paragraphen lesen wir die Bestimmungen über die Ver- 
abreichung von geistigen Getränken an von Erwachsenen nicht begleitete 
Minderjährige unter 16 Jahren. Selbst das bloße Verabreichen an solche ist 
strafbar; sind die Kinder von Erwachsenen begleitet oder ist der Verkäufer nach- 
weislich über das Alter des Kindes getäuscht worden, so ist der Verabreichende 
straflos.. Aber das Berauschen von Minderjährigen unter 16 Jahren wird sowohl 
seitens des Verabreichenden als seiteus des zum Trinken Anregenden bestraft. 

Jetzt kommt cin Paragraph über die Bettelei und das Vagabundieren 
Minderjähriger. Das Vagabundieren ist überhaupt verboten. Minderjährige über 
18 Jahren, welche gewohnheitsmäßig vagabundieren, werden bis zum Alter 
von 21 Jahren in eine Besserungsanstalt gebracht. Für jüngere Kinder darf der 
Richter, dein solche gewohnheitsmäßigen Vagabundierens wegen vorgeführt werden, 
nur dann das Überführen in eine Besserungsanstalt verordnen, wenn die Kinder als 
»mmoralisch verlassene angesehen werden müssen. Der Ausdruck »moralisch ver- 
lassen« ist aber nicht näher bestimmt und der Auslegung des Richters ist also viel 
Spielraum gelassen. Wer Kinder zur Bettelei anhält oder einem Bettler zu diesem 
Zwecke verschafft, ist straffällig. 

Was das Kolportieren seitens Minderjähriger betrifft, so hat die Gesetz- 
gebung noch keine Maßregeln ergriffen; im allgemeinen wird aber zugestanden, daß 
die Gemeinden das Recht haben, den Minderjährigen unter einem gewissen Alter, 
gewöhnlich 16 Jahren, das Kolportieren zu verbieten. In Brüssel und Antwerpen 
müssen die Kolporteure mindestens 18 Jahre alt sein; die meisten Kinder, welche 
sich mit Kolportieren beschäftigen, sind Zeitungsverkäufer, da die meisten Zeitungs- 
leser hier ihre Blätter einzeln auf der Straße kaufen. 

Im letzten Paragraphen des ersten Teiles werden einige Maßregeln betreffs 
der Prostitution erwähnt. Ein minderjähriges Mädchen, welches auf den Be- 
richt eines Polizeibeamten hin auf die Liste der unter sittenpolizeilicher Aufsicht 
Stehenden eingeschrieben worden ist, kann in Frankreich dagegen vor Gericht Ein- 
spruch erheben, in Belgien nicht. 

Im zweiten Ilauptteile bespricht Herr Levoz »Les enfants malhou- 
reuxe. Wie im ersten Teile beginnt er hier mit dem Schutze, der den Kindern 
schon vor der Geburt zukommt, weshalb es Pflicht sei, für die Gesundheit und 
die nötige köperliche und geistige Ruhe der Mutter vor und nach der 
Entbindung zu sorgen. Dann erwähnt er die Wochenbettversicherungen, 
die offiziell nur in Deutschland und Österreich-Ungarn eingeführt sind, die unent- 
behrlichen Unterstützungen, die namentlich den verführten Mädchen geleistet 
werden müssen, um etwaige Kindermorde vor und nach der Geburt zu verhindern, 
und die Asyle, die den mittellosen Wöchnerinnen offen stehen müssen, den Mäd- 
chen wie den Frauen. 

Hierauf folgt der den Kindern unentbehrliche Schutz bei der Geburt, 
nicht nur bei der der natürlichen Kinder, sondern auch bei den legitimen, nament- 
lich durch wissenschaftliche Bildung derlicbammen und durch gewisson- 
hafte Einrichtung der Spitäler und Asyle für Mittellose. Zum Schutze 
der Neugeborenen in armen Familien bespricht Herr Levoz die Gründung und 
Wirksamkeit gewisser zu diesem Zwecke gegründeter oder zu gründender Vereine, 
Überall müßte man Frauenvereine gründen, deren Mitglieder wie wahre Laien- 
schwestern es sich zur Aufgabe machten, die hygienische Erziehung der augelienden 
Mütter und der Wöchnerinnen zu unternehmen und denselben während der Ent- 





90 C. Literatur. 


bindung und des Wochenbetts mit Rat und Tat zu helfen; eine Dame aus einem 
solchen Vereine sollte dann die Protektrice, der Schutzengel und die Vorsehung des 
Neugeborenen, der Wöchnerin und der ganzen Familie werden. Solcher Vereine 
bestehen bereits mehrere in Frankreich und Belgien. In einem Paragraphen über 
schwächliche und vor der Zeit geborene Kinder wird die sogenannte 
»Coureuse d’enfants«, die Kinderbrutanstalt, erklärt, die dazu dient, diese hilf- 
losen Geschöpfe zu erhalten und sie auswachsen zu lassen. 

Die Pflege und Aufziehung der Neugeborenen ist der Gegenstand 
der nächsten Paragraphen. Wir lesen nacheinander Aufklärungen über die 
Sterblichkeit der Neugeborenen, Verbrechen gegen die Kindheit (künst- 
liches Ilerbeiführen cines raschen Todes), und über die zu andern Leuten in 
Pflege gegebenen Kinder (was in den meisten Fällen auch nichts weiter ist 
als methodischer Kindermord; bei Brüssel soll eine Ortschaft sein, deren Bewohner 
sich ın der Kunst, Säuglinge gegen geringen Entgelt in Pflege zu nehmen und sie 
tadellos und straflos aufs schnellste umkommen zu lassen, einen traurigen Ruf er- 
worben hat — die Hälfte ihres Kirchhofs ist mit kleinen Gräbern bedeckt). Um 
das plaumäßige Umkommen solcher Säuglinge zu verhindern, müssen seit 1898 die 
Gemeinde und selbst der Staat einspringen, wenn solche Pflegeeltern plötzlich den 
ausbedungenen Pflegelohn nicht mehr erhalten sollten. Hieran schließt sich natur- 
gemäß der Paragraph über die Versicherung gegen den Todesfall des 
Kindes, gegen welche lebhafte Propaganda erhoben wird; um die Versicherungs- 
summe zu erhalten, ließen die geldgierigen gewissenlosen Eltern ihre Sprößlinge 
einfach langsam oder vielmehr schnell umkommen. 

Indem dann der Verfasser über unwissende und nachlässige Eltern 
spricht, Ratschläge an die Mütter erteilt (namentlich daß alt eıngewurzelte, 
oft äußerst dumme Vorurteile abgeschafft würden), und die rationelle Ernährung 
der Säuglinge erklärt, empfiehlt er unter andern als nachahmenswertes Beispiel 
die sogenannten (kostenlosen oder gar obligatorischen) Konsultationen über 
die Säuglinge (jede Woche werden die in den Asylen oder Spitälern geborenen 
Säuglinge vorgezeigt, untersucht, gemessen und gewogen, wobei die gehörigen Maße 
und Gewichte für jedes Alter bis zu einem Jahre angegeben werden). Daran 
schließen sich dann die Milchanstalten für Säuglinge (in denen Unbemittelte 
die Milch gratis erhalten und die die nötige Ergänzung der Gratiskonsultationen 
bilden), die Kleinkinderbewahranstalten, »les Creches« oder »Krippen«, 
wohin die Arbeiterinnen ihre noch in der Wiege befindlichen Kinder zur Auf- 
bewahrung während des Arbeitstages bringen köunen. Wir lernen auch die soge- 
nannten »Pouponnieres« -Wickelkinderhäuser kennen, in welche unbemittelte 
junge Mütter mit ihrem Kiude eintreten können unter der Bedingung, einen andern 
Säugling mit dem ihrigen zusammen aufzuziehen: eine Einrichtung, die dem töd- 
lichen Inpflegegeben der Kinder entgegenarbeiten soll. Auch die Kinderkrank- 
keiten werden besprochen. 

Darauf folgen wir nun den Kindern zuerst in den Kindergarten (Geschicht- 
liches, Beschreibung seines Wesens und der verschiedenen Methoden), der sich an 
die »Cröches anschließt und den armen und elenden Geschöpfen Ersatz fürs öde 
Elternhaus und den unentbehrlichen Comfort und die Erziehung bieten muß. Dann 
kommen wir an die eigentliche Schule. In Belgien existiert die »Freiheit des 
Unterrichts«e. Der öffentliche Unterricht (zu dessen Besuch aber niemand ge- 
zwungen ist) wird auf Staatskosten gegeben; daneben ist der Privatunterricht an- 
erkannt. Nun haben die Statistiker festgestellt, daß in Belgien ungefähr 200000 
Kinder von 6 bis 14 Jahren überhaupt keine Schule besuchen oder sich so selten 


C. Literatur. 91 





dahin begeben, daß sie keinen Nutzen daraus ziehen. »Das ist eine wirklich be- 
dauernswerte Sachlage. Diese armen Kleinen, wahrhaft moralisch verlassene Kinder, 
verfallen bald ins Vagabundieren und in Bettelei, wenn sie nicht zu vollständigen 
Übeltätern werden... Eine im Jahre 1896 in Brüssel angestellte Untersuchung hat 
ergeben, daß von 22248 Kindern von 6—14 Jahren 3035 keine Schule besuchten; 
1612 sind in der Lehre, 310 helfen ihren Eltern, 1113 vagabondieren. Andrerseits 
verläßt eine große Zahl von Kindern die Schule vor Beendigung ihrer Schulklassen. 
In diesem Falle waren in Brüssel im Jahre 1896 1262 Kinder oder 72°/,... Wenn 
dieses Verhältnis sich so in Brüssel stellt, wo doch die städtische Behörde alles tut, 
um eine mustergültige Volksschule zu besitzen, wie wird es nun auf dem Lande 
sein ?« Das einzige Heilmittel für solche jämmerlichen Zustände wäre die Ein- 
führung des obligatorischen Schulbesuchs, aber der belgische Charakter ist jedem 
Eingreifen des Staates ins Familienleben so feind, daß vorläufig (und, fügen wir 
hinzu, so lange ein katholisches Ministerium an der Spitze des Staates steht) darauf 
nicht zu rechnen ist. Herr Levoz zählt nun die einzelnen Behörden oder Per- 
sonen auf, deren Pflicht es ist und die die nötige Autorität haben, die Kinder zum 
Schulbesuche anzuhalten, z. B. die Gemeindeverwaltung, das Schulpersonal, die 
Schulvorstände (einflußreiche Personen, die im Bereiche der Schule wohnen), die 
Schutzvereine und Patronate. 

Der folgende Paragraph spricht von den ganz armen Schulkindern und 
gibt als Beweis der Notlage vieler Schüler das Ergebnis einer Untersuchung an, 
welche die Stadt Brüssel 1. von den Schulvorstehern über die Kleidung, gewöhnliche 
Nahrung, Reinlichkeit, Schulbesuch, 2. von Ärzten über den Gesundheitszustand und 
Ernährung, und 3. von der Polizei über die Wohnung anstellen ließ. Von den zahl- 
reichen zitierten Ziffern erwähnen wir nur, daß unter 14 447 untersuchten Kindern 
2442 schlecht beschuht, 3620 schlecht bekleidet und 3663 unzureichend ernährt 
waren, ferner daß 5635 in derselben Stube wie ihre Eltern, 590 mit ıhren Eltern ın 
demselben Bette, 578 Knaben mit einer und zwei Schwestern in demselben Bette, 
579 Mädchen mit einem oder mehreren Brüdern in demselben Bette und 2608 in 
dem Raume schliefen, wo das Kochen besorgt wurde. Um den Mängeln der Beklei- 
dung und der Ernährung abzuhelfen, veranstalten mildtätige Vereine im Winter Ver- 
teilungen von Kleidern und Wäsche und Verabreichungen von Suppe und Brot 
morgens und mittags an die hilfsbedürftigen Schüler. 

Darauf gibt Herr Levoz Ratschläge für die Schullokale und das Schul- 
material, dann solche für die Bildung und das Verhalten der Lehrer; 
dieselben sollen sich das Vertrauen und die Zuneigung der Kinder gewinnen; Körper- 
strafen, zu denen auch das Einzelneinsperren gehört, müssen unterbleiben, sowie alle 
langen Strafpreligten, demütigende Redensarten und ebensolche andere Maßregeln. Da- 
gegen muß es auch Belohnungen geben, z. B. Spaziergänge und Ausflüge. Zur Aus- 
bildung der Lehrer gehört nicht allein Pädagogiıe, sondern auch Pädologie. 
Nach einigen Abschnitten, die der Aufmerksamkeit der Schüler, der Ermüdung 
und der geistigen Überanstrengung gewidmet sind, welche die körperliche 
Ausbildung, Gesundheitsüberwachung, Kräfteprüfung u. dergl. eingehend behandelt. 
Eine besondere Aufmerksamkeit muß auf das reinliche Äußere der Kinder gerichtet 
werden, und jede Schule müßte zum wenigsten eine Stube mit den nötigen Wasch- 
vorrichtungen besitzen, wo unreinliche Kinder sich waschen können; noch besser 
wäre eine Duschanstalt und ein Bade- oder Schwimmbecken. 

Die ansteckenden und epidemisch auftretenden Krankheiten 
bilden den Gegenstand des nächsten Kapitels, dazu kommen die präventive Heil- 
mittelverabreichung, die Hygiene der Augen, Ohren, Kehle, Nase und 


> 
DD 


C. Literatur. 


Zähne. Betreffs des Turnens zieht Her Levoz das sogenannte schwedische Turnen 
dem Geräteturnen vor; auch Spiole sind zu empfehlen, unter denen Herr Levoz 
jedoch die aus England importierten athletischen Spiele u. a. den Foot-ball verwirft 
und auch für das Zweirad nicht viel Begeisterung zeigt. Auch die Ferienkolonien 
werden besprochen; dieselben wurden von besonderen Vereinen gegründet und werden 
von diesen unterhalten, und jede größere Stadt in Belgien besitzt deren mehrere 
sehr schöne teils auf dem Lande, teils an der See; dazu gehört auch der »Aus- 
tausch«, eine Einrichtung, um den Waisenkindern, die in Waisenhäusern leben, 
eine Abwechslung und Luftveränderung zu verschaffen, indem die Anstalten ver- 
schiedener Provinzen während der Ferien ihre Zöglinge auf einige Wochen unter- 
einander austauschen. Die Transportkosten werden durch milde Gaben und durch 
Gratisbeförderung auf der Eisenbahn leicht aufgebracht. 

Nach der körperlichen Ausbildung kommt nun die geistige. Zuerst das all- 
gemeine Lehrprogramm der Volksschulen, zu dem auch Handarbeit für 
Knaben und Mädchen gehört sowie Haushaltungs- und landwirschaftlicher 
Unterricht; dann cine Kritik der in Belgien und Frankreich üblichen Preis- 
verteilungszermonien, deren pädagogischer und moralischer Wert sehr zweifel- 
haft ist. und ein Lob der Ausflüge, wenn, wie es sein soll, deren Zweck nicht 
allein Erholung sondern auch Beobachtung ist. 

Hierauf folgt die Besprechung der moralischen Erziehung, die in einem 
Lande, wo infolge der mangelhaften Schulbildung dcs Volkes die Unwissenheit unter 
den gewöhnlichen Massen natürlich sehr groß ist und die körperlichen Strafen durch- 
aus untersagt sind, ganz besonders schwer zu bewerkstelligen ist. Der Verfasser 
gibt angezeichnete Ratschläge über den Unterricht in der Höflichkeit und in dem 
Anstand, in den Grundsätzen der Enthaltsamkeit von dem Alkohol, sowie 
der Sparsamkeit; er erwähnt die zu diesem Zwecke gegründeten, schon auf 
der Schule bestehenden Spar- und Altersrentenkasse und der gegenseitigen Unter- 
stützungsvereine. 

Hierbei spricht Herr Levoz den Wunsch aus, daß für die Kinder armer Eltern 
auch cein Heim besorgt würde, wo diese nach der Schule und während der Ferien 
bleiben könnten, ohne deshalb eiuen Zwang zu fühlen, so daß sie nicht gezwungen 
wären, sich bis zur Heimkehr der Eltern von der Arbeit den ganzen Tag aufsichts- 
los herumzutreiben. 

Die mißhandelten und moralisch verlassenen Kinder bilden den 
Gegenstand des darauffolgenden Kapitels. Natürlich handelt es sich hier nicht, wie 
im ersten Teile, um ihre rechtliche Lage, sondern um ihre Behandlung und 
Rettung. Nach kurzer Aufzählung der ganz unerhörten Tatsachen, welch in Bezug 
auf das Märtyrertum der Kinder zu Tage kommen, behandelt Herr Levoz des 
längereu die vorzuziehenden Systeme über das Unterbringen solcher mißhandelten 
oder verlassenen Kinder. Er meint, nachdem er das Für und das Wider sämtlicher 
Systeme untersucht hat, daß che solche Kinder der Vormundschaft des Staates über- 
wiesen würden, solche lieber der von Patronaten anvertraut werden müßten, wie 
z. B. in Brüssel der Gesellschaft des Enfants martyrs oder in Verviers der 
Societo de la Protection de l'enfance, und diese müßten von der Gesetz- 
gebung die rechtliche Personifikation und die nötige Autorität erhalten, um solche 
Kinder gegen das Zuruckfordern der Eltern zu schützen. Diese Gesellschaften müßten 
dann die ihnen überwiesenen Schützlinge zuerst daraufbin untersuchen lassen, ob sie 
normal oder anormal wären; die letzteren müßten dann in besondere (noch zu 
schaffende) Anstalten gebracht werden (Internate), die andern aber am besten in 
kleinen Kolonien bis zu 12 Kindern verschiedenen Alters und Geschlechts bei ge- 


C. Literatur. 93 





eigneten Familien auf dem Lande nicht zu weit von einer Stadt untergebracht werden, 
damit sie als Externe eine tüchtige Schule besuchen oder mit Leichtigkeit zu einem 
Meister oder in einer Fabrik in die Lehre gehen könnten. Mit diesem letzten System 
habe die Gesellschaft von Verviers höchst erfreuliche Erfolge gehabt. Das Examen, 
das bei Übernahme eines Kindes angestellt würde, müßte nicht allein dieses selbst 
betreffen, sondern natürlich auch seine Familie oder die Leute, bei denen es wohne 
und den Verkehr’und die Umgebung, in der es lebe. 

Was die kleinen Vagabunden, Bettler oder Blumen-, Zeitungs- 
oder Streichhölzerverkäufer betrifft, so rät Heir Levoz sehr richtig, den- 
selben weder etwas zu schenken noch etwas abzukaufen, dieselben lieber den Schutz- 
vereinen zu melden, müßte das auch einige Umständlichkeiten nach sich ziehen. 

Für die Kinder der herumziehenden Jahrmarktsleute rät Herr 
Levoz, dem Beispiel Brüssels zu folgen und überall, wo diese Leute einige Zeit 
blieben, für die Kinder besondere Kurse einzurichten. In Brüssel ist konstatiert 
worden, daß die meisten dıeser Kinder außerordentlich aufgeweckt sind, die Schule 
regelmäßig besuchen und überraschende Fortschritte machen. Dies ist also ein Unter- 
nehmen, das die höchste Beachtung verdient. 

Die Prostitution der Minderjährigen mit allen Fragen, die sich daran 
knüpfen, ihre Abschaffung, ihre gesetzliche Regelung, gesundheitliche und moralische 
Prophylaxie; das Eingreifen der Schutzgesellschaften bei moralischer Gefährdung der 
Kinder durch das Gewerbe oder das schamlose Leben der Eltern oder deren Ver- 
treter; »la Traite des blanches« der weiße Sklavinnenhandel, d. h. das ver- 
räterische Verhandeln junger Mädchen in Freudenhäuser bilden der Reihe 
nach einen Gegenstand eingehender Besprechung, besonders das letztere. Die War- 
nungen und Fingerzeige, die diese Seiten enthalten, können für unerfahrene Leute, 
namentlich für junge Madchen von dem höchsten Nutzen sein. Die Pflichten aller 
wohlwollenden Menschen und namentlich der Patronate und Schutzvereine gegenüber 
den jungen Leuten und Mädchen, die sich schon auf dem Wege der Sünde befinden, 
bilden den Inhalt der letzten Seiten dieses hochinteressanten Kapitels. 

Das Folgende ist das uns besonders Interessierende über die auormalen 
Kinder. Nach einer kurzen Erklärung dessen, was man unter »anorımalem Kinde« 
zu verstehen hat, unter kurzer Hinweisung auf die Geschichte der besondern Schulen 
(Hilfsschulen) für dieseiben im Ausland (vom belgischen Standpunkt aus) erfahren 
wir, daß man in Belgien erst im Jahre 1895 angefangen hat, sich mit dem Gedanken 
der Einrichtungen von Hilfsschulen zu beschäftigen, und daß es die Stadt Brüssel 
war, die im Jahre 1897 mit der Einrichtung einer besondern Schule für Knaben den 
Anfang machte.') Für Mädchen bestehen sechs Hilfsklassen, die über drei Schulen 
verteilt sind. In Antwerpen besteht eine solche Schule seit 1899. Zu der letzteren 
wird noch ein »Laboratoire d’etudes scientifiquese, ein sogenanntes Laboratorium 
wissenschaftlicher Studien (natürlich betreffs der Psychologie solcher Kinder) unter 
der Leitung eines Arztes hinzugefügt. Auch in der Brüsseler’ Vorstadt Ixelles 
(Elsene) soll eine Ililfsschule gegründet werden. 

Im folgenden Paragraphen bespricht der Verfasser die Ursachen, welche die 
regelmäßige Entwicklung eines Kindes beeinträchtigen können. Ilinderliche Faktoren 
können angeerbt sein oder vor oder nach der Geburt oder während der späteren 
Entwicklung des Kindes eintreten. Unter die ersteren gehören organische Unzu- 

1) S. „Die Kinderfehler-, 1902, VIL Nr. 3 u. 4, »Ein Besuch in der Brüsseler 
Hilfsschule«. Ferner das Buch -Die anormalen Kindere von Dr. Demoor (Alten- 
burg, Bonde, 1901), dem llerr Levoz die meisten Ausführungen dieses Teiles entlchnt. 








94 C. Literatur. 


länglichkeit, Tuberkulose, Syphilis, Alkoholismus, Nervosismus der 
Eltern, unter die letzteren die allgemeinen hygienischen Bedingungen, 
ansteckende und Nervenkrankheiten und soziale und pädagogische 
Umstände. Danach beleuchtet er in einzelnen Paragraphen zuerst die Sprach- 
fehler, die Taubstummen (geschichtlicher Rückblick im allgemeinen und insbe- 
sondere für Belgien: ein französischer Lehrer namens Pouplin beschäftigte sich 1819 
aus Mitleid mit der Erziehung von 2 Taubstummen, ein Jahr darauf hatte er 19 Zög- 
linge, im Jahre 1820 wurde dann eine Verwaltungskommission gegründet, welche 
1822 die Schaffung eines Pensionats beschloß, dem 1837 ein solches für Blinde hin- 
zugefügt wurde, und aus diesen wurde l'Institut royal des sourds- muets et 
aveugles. Jetzt gibt es solche Anstalten außerdem in den Provinzen Antwerpen, 
Brabant, Ost- und Westflandern, Ilennegau, Limburg und Namur; dann Ursachen 
dieses Gebrechens, Behandlung, Erziehung, passende Handwerke, Sta- 
tistik der europäischen Länder: in Belgien etwa 65 auf 100000 Einwohner, und 
ihren Schutz, der am besten durch Vereine, Patronate u. dergl bewerkstelligt wird); 
die Blinden (geschichtlicher Rückblick, Erziehung, Handwerke (Schutz); die Epi- 
leptischen und Hysterischen (ein Patronat für Epileptiker wäre wünschenswert, 
in Belgien haben drei religiöse Gemeinschaften Asyle für epileptische Kinder) und 
die zurückgebliebenen Kinder. Hier gibt der Verfasser eine Übersicht nach 
dem Werk des Herrn Prof. Dr. Demoor »Die anormalen Kinder«, ihre Einteilung 
in pädagogisch und medizinisch Zurückgebliebene, die Ätiologie und 
Diagnose, ihre Behandlung und ihre physische, intellektuelle und mo- 
ralische Erziehung. Für die idiotischen und schwachsinnigen Kinder 
wünscht der Verfasser ebenfalls Schutz durch Patronate, und zwar ein präventives 
Patronat vor dem Internieren, welches letztere er für wünschenswert hält, eines für 
die in Irrenhäusern oder zu Hause Internierten und eines für den Schutz der Ent- 
lassenen. Ähnliche Patronate bestehen in Tournai, Verviers, Nivelles und Lüttich. 

In den beiden nächsten Paragraphen wird von den Patronaten für anor- 
male Schüler und der Notwendigkeit von Hilfsschulen gesprochen. Eine 
Socicte protectrice de l'eufance anormale wurde auf Veranlassung der 
Herren Dr. Demoor und Dr. Daniel, Ärzte der Brüsseler Hilfsschule, gegründet, 
Diese Gesellschaft besteht aus zwei Sektionen; die erstere hat besonders den Zweck, 
den entlassenen Schülern der Hilfsschule sorgfältig ausgesuchte Stellen für ihre 
Lehrjahre zu verschaffen und die in der Schule angefangene moralische und wissen- 
schaftliche Bildung fortzusetzen. Diese Sektion hat ein bereitwilliges Entgegen- 
kommen seitens der Meister und Kaufleute konstatiert; die Schützlinge der Gesell- 
schaft bilden unter sich eine Ililfskasse, die zur allgemeinen Altersrentenkasse ge- 
hört. Die andere Sektion verfolgt theoretisch - statistische Zwecke und erstrebt die 
Gründung von llilfsschulen. Diese müßten nach Herrn Levoz vom Staate oder der 
Provinz übernommen und wie die Anstalten für Taubstumme und Blinde unterhalten 
und verwaltet werden. 

Im letzten Kapitel des zweiten Hauptteiles behandelt der Verfasser die Ver- 
hältnisse der schwächlichen und siechen Kinder, und zwar der Reihe nach 
die tuberkulösen, blutarmen und rachitischen Kinder unter Angabe der 
möglichen Ursachen ihrer Gebrechen und der Maßregeln, die man ergriffen 
hat oder ergreifen müßte, um dieselben entweder zu verhindern oder ihre Folgen 
so gut als möglich zu bekämpfen oder zu beseitigen. 

In dem dritten Hauptteile handelt es sich um die »Enfants délinquants, 
um die Kinder, welche sich Vergehen haben zu schulden kommen lassen. Wegen 
des gewaltigen Stoffes, den dieses Thema bietet, sagt der Verfasser, sei es unmög- 


C. Literatur. 05 


lich, eine erschöpfende Studie desselben zu geben; sein Zweck sei, die Aufmerksam- 
keit aller auf seine vielseitigen Probleme zu ziehen. Er konstatiert mit andern 
Kriminalisten, daß die Verderbtheit im allgemeinen jetzt bei einem jüngeren 
Alter anfängt als früher, wie bei dem Wahnsinn und dem Selbstmord. Verschiedene 
Ursachen müssen dafür angegeben werden: zuerst die Verderbtheit der 
Familie, schlechte Beispiele, erbliche Belastung, Alkoholismus, 
Müßiggang und Vagabundieren, Suggestion, Genußsucht, in andrer 
Hinsicht der Zug der Landbevölkerung nach den Städten, oder auch die 
Zerrüttung des Familienlebens, das Verschwinden des Respekts und 
der Mangel an Unterricht, besonders in Moral und Religion (die öffent- 
lichen Schulen Belgiens haben keine Religionsstunden); andere klagen gar die 
Nachlässigkeit und das schlechte Beispiel der besitzenden Klassen an. 
Unter den Kindern von weniger als 16 Jahren, die Herın Levoz vor allem 
interessieren, findet man wirkliche Verbrecher, sogar Mörder; er zitiert einen 
Vatermörder von 15 Jahren, einen ebenso alten Knaben, der seinen 3jährigen 
Bruder mit dem Beile totschlug, einen vierzehnjährigen, der mit einem Revolver 
nach einem Mönche schoß, einen zehnjährigen, der seine kleine Cousine mit Stein- 
schlägen tötete usw. Solche Scheusale, fast immer erblich Belastete, müssen einer- 
seits durch Einsperren unschädlich gemacht werden, andrerseits muß man versuchen, 
sie durch physische, moralische und pädagogische Erziehung zugleich zu bessern. 

Dann findet man aber auch zahlreiche Kinder, welche sich einfachere Ver- 
gehen haben zu schulden kommen lassen, Diebe, Unzüchtige, Heftige, 
Impulsive oder Heuchler, Lügner, Heimtückische, Faullenzer, Passive. 
Es ist unbedingt notwendig, sich mit diesen zu befassen, sonst geraten sie ins Verderben. 

In den folgenden Kapiteln behandelt der Verfasser ziemlich eingehend die 
Fragen betreffs des Einflusses des Alters auf die Straffälligkeit der Kinder, 
der gegen sie zu ergreifenden Maßregeln (z. B. Überweisung an eine Besse- 
rungsanstalt), ihrer Zurechnungsfähigkeit usw. Dann die gerichtliche 
Verfolgung Minderjähriger, besonders bei polizeilichen Protokollen, und 
den Schutz der Kinder gegen zu große Strenge, die sie auch auf Abwege 
führen kann. So haben die jungen Advokaten in Brüssel ein Comité gegründet, 
das als besondere Mission die Verteidigung der vor das Polizeigericht ge- 
ladenen Kinder hat. und sich nicht allein hierauf beschränkt, sondern das Schicksal 
des ihm anvertrauten Kindes untersucht und dasselbe zum Guten zu wenden trachtet. 
Hierauf folgt das Erscheinen der Kinder unter 16 Jahren vor dem Strafgericht 
mit allen moralischen und juristischen Bedenken und Folgen; dann das Erscheinen 
vor Gericht Minderjähriger von 16—18 Jahren, die in Belgien sehr oft angewandte 
bedingungsweise Verurteilung mit deren meist moralischen und zwar guten 
Folgen, und die mögliche Berufung gegen die für Minderjährige unter 18 Jahren 
getroffenen Maßregeln. 

Die schuldig gefundenen Kinder werden »zur Disposition der Regierung 
gestellt«, d. h. die Regierung kann sie in eine Besserungsanstalt bringen lassen. 
Alle hierbei vorkommenden Maßregeln, Systeme, Art und Weise der Inter- 
nierung und der später ausgegebenen Zeugnisse sind der Gegenstand des 
nächsten Kapitels, dem dann ein anderes folgt, in welchem diese Besserungsanstalten, 
die seit kurzem in Belgien »Ecoles de bienfaisance (Wohltätigkeitsschulen) 
genannt werden, nach ihrer geschichtlichen Entwicklung, Einrichtung, 
pädagogischen Methode, wissenschaftlichem und handwerklichem 
Unterricht usw. bis ins einzelne beschrieben werden. Patronatsgesellschaften 
bemühen sich für das moralische und materielle Fortkommen der entlassenen 





96 C. Literatur. 


——— -- m m a a EEE a a aaaea Ima 


Zöglinge; dieselben werden gewöhnlich erst im Alter von 21 Jahren entlassen, 
doch können die Lehrer solcher Anstalten für gute und wirklich gebesserte Zöglinge 
ein bedingungsweises vorzeitiges Entlassen derselben beantragen. Das Unter- 
bringen und Überwachen dieser Zöglinge durch die Patronate, die Wahl 
der Pflegeeltern und die zu erfüllenden Vorschriften bei der Plazierung der- 
selben bilden den Gegenstand der nächsten Paragraphen. Dazu gehören noch die 
Art und Weise des Transports solcher Kinder in die Anstalt oder aus der- 
selben, ihre Ausstattung, ihre Teilnahme an der Spar- und Altersrenten- 
kasse, die Belohnungen für verdienstvolle Zöglinge, das Verfahren bei 
ihrer Erkrankung, die Formalitäten bei ihrem Eintritt in das Heer und 
schließlich die Überwachung und ihre Beschützung solcher Soldaten durch die Patronate, 

In einem Anhang über die Schutzvereine der Kindheit und über die Patro- 
nate für Verurteilte oder entlassene Sträflinge, Vagabunden und Geisteskranke in 
Belgien erfahren wir, daß diese Vereine jetzt ein Netz bilden, das sich über das 
ganze Land erstreckt, obgleich dieselben erst seit etwa dreizehn Jahren ins Leben 
getreten sind. Ein Versuch der Regierung vor etwa 50 Jahren, einen ähnlichen 
Zweck auf administrativem Wege zu erreichen, war gänzlich fehlgeschlagen. Die 
Initiative zu diesen humanen Unternehmungen und die gänzliche Reform der Be- 
handlung der schuldigen Kindheit ist ein Verdienst des Herrn Justizministers 
Lc Jeune (1890—94), der bei allen humanen Bestrebungen in juristischer Beziehung 
stets oben an steht; derselbe verwandelte die ehemaligen »Penitenciers«e (Bußhäuser) 
oder »Maisons de correction« oder »de reforme« (Besserungsanstalten) in »Ecoles de 
bienfaisance de l’Etat«, die an die Armen- und nicht au die Polizeiverwaltung atta- 
chiert sind, uud organisierte mit Hilfe von Patronaten, deren Bildung er selbst 
veranlaßt hatte, das Unterbringen der entlassenen Zöglinge solcher Anstalten bei 
Bauern und Handwerkern. Jetzt existieren in Belgien folgende Organe zum 
Schutz der schuldigen Kindheit: 1. Obenan zuerst eine »Commission 
royale des patronages«, ein an das Justizmivisterium attachierter konsultativer 
Ausschuß, der sich besonders mit internationaler Patronierung beschäftigt; daun die 
Federation des patronages, Patronatsbund, der aus der Vereinigung des Aus- 
schusses der verschiedenen Lokalkomitees besteht. — 2. Neunundzwanzig 
Komitces für die Patronierung der entlassenen Sträflinge und den 
Schutz der moralisch verlorenen Kinder und der Geisteskranken (ge- 


wöhnlich in der Kreishauptstadt.. — 3. Vier Societes protectrices des 
enfants martyrs, Schutzvereine für mißhandelte Kinder in Brüssel, Antwerpen, 
Lüttich und Gent. — 4. Schutzkomitees zur Verteidigung vorgeladener 


Kinder unter den Advokaten Brüssels, Antwerpens, Lüttichs und Verviers. — 
5. Eine Société protectrico de l’enfance anormale zu Brüssel seit Mai 
1901, mit Sektionen in Antwerpen und Verviers. 

Wenn man nun bedenkt, daß jeder dieser hervorgehobenen Abschnitte vom 
juristischen, moralischen, wissenschaftlichen und praktischen Standpunkte aus ein- 
gehend besprochen ist, und außerdem mit zahlreichen Belegen versehen ist, so wird 
man gerne zugeben, daß dieses Werk des Merrn Levoz cine so weitläufige Be- 
sprechung wohl verdient hat und dasselbe die Beachtung jedes Mannes, der sich 


mit diesen Fragen beschäftigt, und der Behörden auf sich ziehen muß, 
Brüssel. Dr. Koch. 


Nachschrift der Redaktion: Auch wir möchten das Buch des Herrn 
Levoz, über das uns Herr Dr. Koch einen so erschöpfenden und mühevollen 
Bericht erstattet hat, dringend empfehlen. Iloffentlich erhalten wir auch in Deutsch- 
land bald ein derartiges Werk. Ufer. 





Druck von Hormann Beyer & Söhne (Beyer & Mann) in Langensalza. 








A. Abhandlungen. 


1. Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache 
von Gesetzesverletzungen Jugendlicher. 
Vortrag, gehalten auf der V. Versammlung des Vereins für Kinderforschung in 
Halle am 12. Oktober 1903. 
Von 
J. Trüper. 


Die Frage nach dem richtigen psychologischen Verständnis der 
Gesetzesübertretungen Jugendlicher ist keine ganz unbedeutende. Im 
Jahre 1901 wurden im deutschen Reiche 49675 im Alter von 12 bis 
18 Jahren verurteilt, und die Zahl dieser jugendlichen Gesetzesüber- 
treter ist seit langem stetig gewachsen. Auch ist die Zahl der jugend- 
lichen Sünder noch weit größer, weil längst nicht alle Fälle vor den 
Strafrichter kommen. Außerdem gibt es göttliche wie menschliche 
Gebote der Sitte, des Anstandes, der Ehre, der Menschlichkeit, die 
die Buchstaben des Strafgesetzbuches nicht schützen und deren Über- 
tretung für gesittete Menschen doch noch weit schändlicher ist, als 
wenn z.B. ein Knabe von 12 Jahren und 1 Tag ein paar Äpfel vom 
Baume eines andern Besitzers pflückt und sich nun dafür vom Straf- 
richter öffentlich unter die jugendlichen Sträflinge stellen und für 
sein ganzes Leben als »bestraft« aichen lassen muß. 

Auch wie diese jugendlichen Übeltäter in der Voruntersuchung, 
vor Gericht und bei Vollstreckung des Urteils, also durch die Strafe, 
behandelt und vielleicht für ihr weiteres Leben beeinflußt werden, 
ist eine Frage von außerordentlicher Tragweite. 

Die Kinderfchler. IX. Jahrgang. 7 


98 A. Abhandlungen. 


Diese 50000 jugendlichen Missetäter sind zudem keine ab- 
sterbenden Greise, sondern werdende Menschen, die dem Vater- 
lande später noch eine Nachkommenschaft bieten, auf die sie ihre 
Anschauungen, Gefühle und Wollungen bewußt und unbewußt ver- 
erben. Es handelt sich also bei dieser Frage um die sittliche und 
indirekt auch um die geistige und körperliche Gesunderhaltung eines 
großen Teiles unseres Volkes; abgesehen davon, was dieses Heer von 
Gesetzesübertretern und ihr Nachwuchs dem deutschen Volke an 
materiellen Opfern kostet. Geh. Rat Permax, Prof. der Psychiatrie in 
Bonn, hat nachgewiesen, daß schon für eine einzige, namentlich durch 
Alkohol entartete Familie Staat und Gemeinden 5 Millionen zu ver- 
ausgaben hatten. | 

Und schließlich ist noch ein Umstand außerordentlich folgen- 
schwer: die Rückfälligkeit der jugendlichen Verbrecher. 
Ein Volksschullehrer eines Großstadtvorortes erzählte mir einmal, ein 
dreizehnjähriger Knabe, der wegen Diebstahl etliche Tage Gefängnis 
erhalten, hätte in der ersten Pause am ersten Tage nach seiner Ent- 
lassung auf dem Spielplatze seine ganze Klasse als andächtige Ge- 
meinde um sich versammelt gehabt. Er hatte sich auf einen Hügel 
mitten unter sie gestellt und in lebhafter Weise den »Spaß« ge- 
schildert, den er von der Anzeige an bis zur Gefängnishaft gehabt 
habe. Dieses Beispiel ist für sehr viele Fälle typisch. Die große 
Rückfälligkeit der gerichtlich Bestraften wird durch dasselbe begreif- 
lich, vielleicht auch die große antimoralische Infektion unter den Jugend- 
lichen. Und kein geringerer als der bekannte englische Gefängnis- 
geistliche Wittram DovsLas Morıssox bemerkt angesichts der Tatsachen, 
daß in England bis 79°/, der vom Strafrichter Verurteilten rückfällig 
werden — und bei uns wird es auch wohl kaum viel anders sein 
—: »Was bedeutet dieses riesige Verhältnis der Gewohnheitsmissetäter 
innerhalb der Verbrecherbevölkerung? Es bedeutet, daß gegenüber 
der Mehrheit der letzteren das Strafgesetz und die Straf- 
behandlung sich als gänzlich unwirksam erwiesen haben. 
Das höchste, vielleicht das einzige Ziel jedes richtigen Strafwesens 
ist, den Verurteilten von der Wiederholung der Straftat abzuhalten. 
Wird dieser Hauptzweck, wie die Tatsachen lehren, in den meisten 
Fällen verfehlt, so ist es hoch an der Zeit, daß die Grundlagen 
des heutigen Strafwesens abgeändert und umgestaltet 
werden. Solange das jetzige System mit seiner Unwirksamkeit fort- 
besteht, bleibt das Gemeinwesen von den mit dem Vorhandensein 
einer vielköpfigen Menge von Gewohnheitsverbrechern verbundenen 
Verlusten, Beunruhigungen und Gefahren bedroht. ... Die Kosten, 


Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 99 


die der eingesperrte Gewohnheitsverbrecher dem Staat verursacht, 
betragen etwa ein Zehntel dessen, was der freiumhergehende ver- 
schlingt.« !) 

Ich meine nun, eine der Hauptursachen aller dieser Umstände 
liegt in dem mangelhaften Verständnis des Unfertigen und 
des Pathologischen im Kindes- und Jugendalter und dessen 
sachgemäße Wertung bei allen Maßnahmen, ja in dem mangelhaften 
Verständnis des werdenden Seelenlebens aller Kinder und Jugend- 
lichen überhaupt. 

Es darf uns das ja auch nicht wundern. Im deutschen Reiche 
gab es im Jahre 1901 22856071 Kinder und Jugendliche unter 
18 Jahren u. m. W. nicht einen einzigen Lehrstuhl an allen Univer- 
sitäten, der den Auftrag hat, sich in erster Linie mit dem Werden 
des Personlebens dieser 23 Millionen, also mit Kinderseelenforschung 
zu befassen. Die genetische Psychologie wie die genetische Psychi- 
atrie, oder die Psychologie und Psychiatrie der Kindheit und Jugend, 
bleibt ganz der freiwilligen Arbeit überlassen, wie sie sich zur Zeit 
in unserem Verein für Kinderforschung und verwandten Bestrebungen 
organisiert hat. Und von allen deutschen Universitäten hat auch nur 
eine einzige, unser Jena, einen selbständigen Lehrstuhl für die Er- 
ziehungswissenschaft mit einer Seminarübungsschule, die für die 
Lehrer im Hinblick auf die Entwicklung der Jugend dieselbe Be- 
deutung hat, wie die Universitätsklinik für die Ärzte im Hinblick 
auf die Heilung von Krankheit. 

Wenn es sich bei Gesetzesübertretern um ausgesprochene psy- 
chische Störungen handelt, dann wird selbstverständlich, wenn leider 
auch erst vor den Schranken des öffentlichen Gerichtes, der Psychiater 
als Sachverständiger hinzugezogen, und wenn es sich um geistige 
Minderwertigkeit handelt, die man als ausgesprochene Geistesschwäche, 
als Idiotie, Blödsinn oder Schwachsinn bezeichnen muß, so erkennt 
sie ja auch schon der Strafrichter ohne das Gutachten Sachver- 
ständiger. 

Wesentlich anders ist es aber, wenn das Psychopathische einen 
geringeren Grad zeigt und dem oberflächlichen Beobachter nicht in 
die Augen springt, wenn man bloß von einer Herabniinderung der 
seelischen Betätigungen aus psychopathischen Ursachen, von den 
Übergängen von geistiger Zurechnungsfähigkeit zur geistigen Minder- 








1) W. D. Morrison, Jugendliche Übeltäter. Autotorisierte deutsche Ausgabe, 
frei bearbeitet von LeoroLv Karscuer. Leipzig, Freund & Wittig, 1899. S. VII 
und VILI. 
7* 


100 A. Abhandlungen. 


wertigkeitreden kann. Kinder und Jugendliche befinden sich überdies fast 
immer in diesem Übergangsstadium. Oder glaubt jemand, daß man über 
Nacht mit dem 12. Lebensjahre die Schwelle von der Unzurechnungs- 
fähigkeit zur Zurechnungsfähigkeit urplötzlich überschreitet? Von einer 
graduellen und darum auch von einer verminderten Zurechnungsfähig- 
keit wie von psychopathischen Minderwertigkeiten als Ursache von 
Gesetzesverletzungen will die Rechtspflege bis jetzt aber wenig wissen. 
Und doch würde schon das einfache Dasein einer offiziellen gene- 
tischen Psychiatrie diese Begriffe der Rechtspflege einfach diktieren. 
Bis jetzt ist ein Angeklagter für den Strafrichter schlechthin zu- 
rechnungsfähig oder unzurechnungsfähig, urteilsfähig oder schwach- 
sinnig, gesund oder verrückt. Die Übergänge gibt es für ihn nicht, 
eben weil die Gesetzgebung sie nicht kennt und maßgebende Juristen 
z. B. den Begriff »verminderte Zurechnungsfähigkeite noch rundweg 
ablehnen. Wie es in dieser Beziehung in unserer Rechtspflege steht, 
lehrt beispielsweise eine neuere Entscheidung des Reichsgerichts des 
4. Ziv.-Sen. vom 13. Febr. 1902, betr. den Unterschied zwischen 
Geisteskrankheit und Geistesschwäche nach $ 6 No. 1 des 
B. G. S.) Sie lautet: 

»Der Unterschied beider Begriffe ist nur in dem Grade der 
geistigen Anomalie zu finden und zwar nach der Richtung, ob die 
krankhafte Störung der Geistestätigkeit dem Erkrankten vollständig 
die Fähigkeit nimmt, die Gesamtheit seiner Angelegenheiten zu be- 
sorgen oder ob sie ihm wenigstens noch diejenigen Fähigkeiten läßt, 
welche bei einem minderjährigen von 7 bis 21 Jahren in der Be- 
sorgung seiner Angelegenheiten vorausgesetzt werden können. Fehlt 
es an jedem zuverlässigen Material eines Unterschiedes zwischen 
Geisteskrankheit und Geistesschwäche, so ergibt sich mit Sicherheit 
doch soviel, daß jene die schwere, diese die leichtere Form ist. 
Im ersteren Fall entspricht es der Absicht des Gesetzes, die Ent- 
mündigung wegen Geisteskrankheit, in dem zweiten, sie wegen Geistes- 
schwäche eintreten zu lassen. Diese Entscheidung ist daher, mangels 
hierüber feststehender Begriffe, keine psychiatrische, sondern eine 
überwiegend tatsächliche, welche der Richter trifft und die nur zum 
Teil auf dem ärztlichen Gutachten, das den Stoff zu seinen Schlüssen 
liefert, beruht.« 

Wo ist hier bei diesen eigenartigen Definitionen und Unter- 
scheidungen auch nur ein bescheidenes Plätzchen für alles Werdende 





1) Vergl. Dr. A. Künser, Über einige abnorme Erscheinungen im kindlichen 
Seelenleben. Ztschr. f. Kdf. IX. Jahrg. 1. Heft. S. 27 f. 


Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 101 


und Wechselnde im menschlichen Seelenleben, zumal in dem der 
Jugend? Wenn aber das am grünen Holze im Reichsgericht geschieht, 
was mag dann im Landgericht und Schöffengericht passieren? 

Aber wenn in manchen Fällen bei jugendlichen Vergehen auch 
Freisprechung oder Zubilligung mildernder Umstände oder Über- 
weisung zur Zwangserziehung erfolgt, so bedeutet das für jene Frage 
doch herzlich wenig. Für den Menschenfreund fragt es sich: Ob, 
wenn rechtzeitig das Minderwertige oder Psychopathische 
in einem werdenden Menschen erkannt wird, die Gesetzes- 
übertretungen und die Schäden, die dadurch im Volks- 
körper erwachsen, nicht hätten verhütet werden können; 
ob es denn gerade immer erst zu Gerichtsverhandlungen kommen 
muß, ehe man Schutzmaßnahmen für notwendig hält; ob man den 
Brunnen immer erst zudecken darf, wenn das Kind bereits er- 
trunken ist? 

Es dürfte sich verlohnen, die Bedeutung dieser Fragen an einigen 
der breitesten Öffentlichkeit bekannt gewordenen typischen Fällen 
noch etwas näher zu erläutern und Ihnen insbesondere klar zu 
machen, welche Tragweite das rechtzeitige Erkennen von psycho- 
pathischen Minderwertigkeiten und deren Wertung in der ge- 
samten Jugendfürsorge für Gesellschaft und Individuum hat. Ich 
wähle dafür zunächst einige Fälle, wo es sich um ein Vergehen gegen 
das Leben handelte. 

1. Ihnen allen wird noch der Fall Behnert und Genossen be- 
kannt sein. Drei Raubgesellen verübten am hellen Vormittage in 
offenem Laden an belebter Straße in Jena einen Raubmord. Von 
dem einen dieser Raubmörder namens Goldschmidt ist nachgewiesen, 
daß er, der aus trunksüchtiger Familie stammte, schon als Knabe 
sich als geborener psychopathischer Verbrecher gefährlicher Art ent- 
puppte. Man ließ ihn dennoch frei umherziehen. Die Gesellschaft 
hat den nötigen Schutz gegen ihn erst erhalten, nachdem die 
Trödlerfrau ihm zum Opfer gefallen. 

2. Ich erinnere sodann an den Fall stud. jur. Fischer-Eisenach, 
den Brautmörder. Fischer war erblich belastet, als Kind hydrocephal, 
in der Schule ein Sonderling, ward geistig und ethisch noch ab- 
normer durch ungesunde Lektüre, wie z. B. der Schriften des patho- 
logischen Frienrich NIETZSCHE, die die Lieblingsspeise des Tertianers 
bildeten. Dann folgten alkoholistische und sexuelle Verderbnisse, die 
ebenfalls die Psyche pathologisch schädigten, usw. Der Brautmord 
war nur das Endglied in der psychopathischen Herabminderung. 

Hätte, rechtzeitig das Pathologische erkannt und pädagogisch ge- 


102 A. Abhandlungen. 


wertet, die Entwicklung nicht eine andere Richtung nehmen können, 
ja müssen? Helmholtz war z. B. auch als Kind hydrocephal, wie Herr 
Sanitätsrat BERKHAN?!) nachgewiesen. 

3. Als dritten Fall nenne ich Hüssener, den jungen Fähnrich, der 
in der Nacht vor dem Östersonntag den einjährig-freiwilligen Kanonier 
Hartmann hinterrücks mit dem geschliffenen Marinedolche nieder- 
stach, als jener glaubte, dieser wolle auf dem Wege zur Wache ent- 
fliehen, wohin er ihn bringen wollte, weil er ihn in betrunkenem 
Zustande nicht vorschriftsmäßig grüße, ja >plump vertrauliche sich 
benahm, d. h. den Hüssener »bier«-gemütlich in den Arm nehmen 
wollte. | 

Nicht bloß die ganze Stadt, wo die Tat geschah, sondern auch 
die gesamte Presse von der sozialdemokratischen Linken bis zur 
ultrakonservativen Rechten, der ganze Reichstag, ja das ganze deutsche 
Volk sind über den Vorfall und dessen gerichtliche Behandlung in 
Aufregung geraten und bis heute noch nicht darüber zur Ruhe ge- 
kommen. Als vor kurzem, also ein halbes Jahr später, das Kriegs- 
gericht in Heidelberg sehr schwere Strafen über einige Soldaten ver- 
hängte, die im Alkoholrausche und aus Liebesneid sich an ihrem 
vorgesetzten Unteroffizier vergriffen hatten, geriet bei dem Bekannt- 
werden des Urteils nach den Schilderungen der »Neuen Bad. Landes- 
zeitung« die Menge fast außer Rand und Band, sie wich nicht von 
der Stelle und als die Militärrichter bald darnach erschienen, dröhnte 
hundertfältiges Pfeifen, Gejohl und »Hoch Hüssener!« ihnen entgegen. 
Und selbst die »Hamburger Nachrichten« meinten, daß die gelinde 
Bestrafung Hüssener aufregend gewirkt habe. Bis in konservative 
Kreise hinein wurde das ganze System der militärischen Erziehung 
angeklagt und verdammt; sie trage die Schuld, daß derartige An- 
schauungen und überspannte Ehrbegriffe sich in den Köpfen unserer 
Burschen entwickeln und festsetzen. Die Richter wurden der Partei- 
lichkeit beschuldigt und gegen den Fähnrich entlud sich eine Über- 
fülle von Haß und Abscheu.?) 


1) Sanitätsrat Dr. BerkHan, Zeitschrift für Kinderforschung. 1902. S. 49 ff. 

2) Nur eine einzige entgegengesetzt lautende Stimme kam mir zu Gesicht. 
Nach meinem Vortrage in Halle sandte mir Herr Dr. Orro JuULIUSBERGER Nr. 5 des 
»Korrespondent für die abstinenten Arbeiter und Arbeiterinnen 
Deutschlands« mit einem Artikel »Alkohol vor Gericht«. Verfasser und Zeitschrift 
waren mir bis dahin auch dem Namen nach unbekannt. Seine Ausführungen decken 
sich auffallenderweise zum Teil wörtlich mit dem, was ich in Halle sagte. »Meiner 
Ansicht nach ist der Fall ganz und gar nicht geeignet, in der üblichen Weise und 
nach bevorzugter Richtung an dem Militarismus Kritik zu üben. ... Verurteilen 


Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 103 


Ich muß auch anklagen, aber meine Anklage liegt in einer 
andern, der eingangs erwähnten Richtung. Der Fall ist so lehrreich 
und so typisch, daß es sich wohl verlohnt, ihn psychologisch genauer 
zu betrachten, als es bisher geschehen ist. 

Was haben die Gerichtsverhandlungen und die Mitteilungen der 
Presse offenbart? Zunächst eine auffallende Urteilsschwäche, einen 
gewissen Grad von Schwachsinn. 

Aus Pflichtgefühl oder wegen jenes Benehmens des Hartmann 
solche Tat zu begehen und nach begangener Tat über Achselklappen 
und andere eitle Dinge sprechen, Cigaretten rauchen und sie andern 
anbieten, und so über das Geschebene urteilen, wie Hüssener es getan, 
das bringt doch nur ein geistig Geschwächter fertig. Er spricht im 
Briefe an Hartmanns Eltern von einer »harten, harten Soldatenpflicht« 








wir nicht, sondern lernen wir begreifen und richtig beurteilen.«< Das steht in dem 
Blatte, dessen sozialdemokratisches Eingangsgedicht »Zur Wahl« beginnt: 

»Der Tag glüht auf, es kommt die Stunde, 

Das Volksgericht bricht endlich an.« 

Der Fall Hüssener ist zwar abgetan. Freunde sagten mir in Halle schon, 
ich hätte ihn aus allerlei Rücksichten, u. a. auf das Heer, besser nicht erwähnt. 
Aber ich meine, daß gerade an einem Falle, der so sehr die Öffentlichkeit erregt 
hat, exemplifiziert werden muß, was die Öffentlichkeit daraus hätte lernen sollen, 
aber nicht gelernt hat, eben weil man unsere Frage von keiner Seite stellte. 

Meine dortigen Ausführungen hatten zudem verschiedene Zusendungen, Zu- 
schriften und Besprechungen in der Presse zur Folge, die teilweise von großen Miß- 
verständnissen zeugten. Ein anonymer Brief aus Berlin dürfte z. B. Auffassungen 
wiedergeben, die auch in gebildeten Kreisen weit verbreitet sind, auch wenn sie 
sich nicht frei ans Tageslicht wagen. Er lautet: 

»Sehr geehrter Herr Direktor! 

Zu dem im Verein für Kinderforschung in Halle a/S. durch Herrn Anstalts- 
direktor Trürer -Jena gehaltenen Vortrage: ‚Psychopathologische Minderwertigkeit‘, 
den ich in einer wissenschaftlichen Vereinszeitschrift gelesen, möchte ich nach 
meinen Ansichten zu dem angeführten Falle »Hüssener« bemerken: es mögen wohl 
psychopathologische Minderwertigkeiten nach wissenschaftlichem Systeme vor- 
kommen; allein seine psychopathologische Minderwertigkeit hätte ihm vielleicht 
noch vor einigen Jahren ausgetrieben werden können vermitteis der Zuchtrute 
(recht derbe angewandt) seitens seiner Eltern oder Vorgesetzten; sein Ehrenstolz 
hätte sich dann etwas gedämpft! 

Kein Freund der neuen Pädagogik, die mit Theorie und lauter Wissenschaft 
erziehen will. 

Einer in angesehener Stellung, dank seiner streng gehaltenen Erziehung in 
Jugendjahren! Hochachtend 

Prof. Dr. N.« 

Ich erörtere den Fall hier darum eingehender als die bemessene Zeit für 
meinen mündlichen Vortrag in Halle es mir gestattete, und flechte hie und da 
noch eine treffliche Ergänzung JULIUSBERGERS ein. 


104 A. Abhandlungen. 


der er sich unterziehen mufste und kommt sich als musterhaftes 
Opfer von Soldatentugenden und als großer Held vor, der in der 
Kollision der Pflichten untergeht. Wie kann eine derartige Ver- 
kennung der Wirklichkeit, eine solche vollständige Verwechselung 
von Recht und Unrecht entstehen? Auf welchem Boden ist sie er- 
wachsen ? fragt die »Rhein.-Westf. Zeitung« mit Recht. Aberihre und 
alle Antworten der Presse treffen den Kern der Ursache nicht. Ge- 
sellschaft und Offizierserziehung werden schwerer belastet, als sie es 
verdienen. Mag in den Köpfen der Fähnriche und Unterleutnants 
das im Alkoholrausche und im Jugendtraum sich bildende exaltierte, 
aller Ethik widersprechende, an Größenwahn grenzende Standesehr- 
gefühl epidemisch wirken, bei einem Menschen mit gesundem Urteil 
setzt es sich doch nicht dermaßen als fixe Idee fest, daß er auf 


Urlaub nach Begrüßtwerden späht — 20 Soldaten soll Hüssener 
gestellt und notiert haben, die er wegen Nichtgrüßen nach den Oster- 
tagen anzeigen wollte — und es mit Strafen und Dolchstichen zu 


erzwingen sucht. Die Vernunft unterlag eben dem gleichfalls patho- 
logischen Gefühl und dem daraus hervorgehenden blinden Tatendrange. 
Bei debilen Jugendlichen ist ja so oft gerade das ethische Urteil 
geschwächt. Ein gedächtnismäßiges Wortwissen, eine Fähigkeit im 
verbalen Ausdruck, ein oft von der Eitelkeit dressiertes korrektes 
Auftreten verdecken dem oberflächlichen Beobachter diese patho- 
logische Minderwertigkeit. Aber eine genauere Beobachtung lehrt, 
daß neben der Abnormität des Gefühlslebens auch die sittlichen Be- 
griffe, also gerade die edelsten und zartesten geistigen Gebilde, außer- 
ordentlich zurückgeblieben und nicht selten obendrein entartet sind, 
auch beim Überlegen und Handeln oft gar nicht als Leitmotive in 
Wirksamkeit treten. »Ich habe, so schreibt Hüssener an seine 
Mutter den Trost und das Bewußtsein, meine Ehre unverletzt er- 
halten zu haben.« Dieser ohne Frage aus voller Überzeugung ge- 
schriebene Satz Hüsseners ist typisch. 

Neben der Urteilsschwäche litt Hüssener an Ideenflucht. 
Gottvertrauen, das Sprossen seines blonden Schnurrbärtchens, die 
Hoffnung, bald wieder für seinen Kaiser ins Feld ziehen zu können, 
sein blühendes Aussehen usw., das sind unmittelbare Gedankenfolgen 
in einem durch die Presse gegangenen Briefe an die Mutter. Und 
dabei spricht er mit großer Kälte von seiner Tat und mit demselben 
Atemzuge ruft er die Liebe Gottes an und hofft auf die Gnade Jesu 
Christi. Da fehlt jede Gedankenzucht, jeder logische Zusammenhang 
und obendrein jedem Gedanken die reale äußere wie innere Grundlage. 

Aus diesem Briefe wie aus dem an Hartmanns Eltern leuchtet 


Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 105 


wie aus seinem ganzen Auftreten zugleich eine große Gefühlsarmut, 
aber auch zugleich eine entsetzliche Gefühlsentartung hervor, und 
beides in Verbindung mit der oberflächlichen religiösen Schwärmerei, 
dieich keineswegs für Heuchelei halte, kennzeichnet einen andern krank- 
haften Zustand, den man moralischen Schwachsinn nennen könnte. 

Sein exaltiertes Gefühlsleben haben die Richter und seine 
Vorgesetzten hervorgehoben. Der Staatssekretär der Marine von 
Tırrirz nannte ihn im Reichstage eine »aggressive Natur«, der nur 
noch »versuchsweise in der Marine« geduldet würde, und seine Tat 
eine »ungeheuerlichee. Nach dem Urteil seiner ausbildenden Offiziere 
war er »leicht erregbar, schroff gegen Untergebene und bei Kameraden 
wenig beliebt gewesen. Strenge Selbstzucht kannte er nicht und 
seine Entlassung war ernstlich erwogen worden.« Mit dieser Charakte- 
ristik stimmte überein, was nach der Tat über den Charakter und 
das Vorleben des Angeklagten bekannt und festgestellt wurde, so daß 
der Abgeordnete Lexzmaxv ihn unter dem Beifall des Reichstags »ein 
Konglomerat von Dummheit, Gefühlsroheit und protziger Überhebung« 
nannte. Man erklärte ihn für unfähig, minderwertig, offenbar unreif, 
aufgeblasen und maßlos eitel. Sein Wesen sei affektiert, aufgeregt 
jähzornig, sein Charakter unberechenbar. Daß aber alle diese Charakter- 
fehler pathologischer Art waren, das haben alle übersehen. Die 
#issener »Rhein.-Westf. Zeitung« beklagte zwar an dem Urteil, daß 
es auf die psychologische Seite überhaupt nicht eingehe, daß man 
sie bei Abmessung der Strafe gar nicht berücksichtigt habe. Aber 
an das Psychopathologische dachte auch sie nicht. Auch die Ver- 
teidigung hat nach den Zeitungsberichten nicht den Milderungsgrund 
geltend gemacht, daß Hüssener zwar nicht unzurechnungsfähig 
schlechthin, nicht geistesgestört, wohl aber von Haus aus mit psycho- 
pathischen Herabminderungen schwer belastet war. 

Die Gerichtsverhandlungen haben nach den Zeitungsberichten 
nicht festgestellt, ob, bezw. inwieweit erbliche Belastung vorlag. 
Aber die Geschichte seines Schullebens verrät dem Kenner schon 
gewisse kindliche Nervosität mit seelischen Herabminderungen. Die 
öffentliche Schule mußte er zeitweise aufgeben und mit wieviel 
außergewöhnlichem Aufwande hat er es schließlich bis zum Sekundaner 
gebracht! Nur günstige Vermögensverhältnisse und ähnliche Umstände 
konnten ihn anscheinend zum Fähnrich befördern, und als solcher 
wurde er auch nur versuchsweise geduldet. Schon als zwölfjähriger 
Knabe warf er auf ein Mädchen, das hinter der Mauer seines elter- 
lichen Grundstückes stand, einen Stock und zerstörte so das Auge 
des Mädchens. Und etwa ein Jahr vor der denkwürdigen Osternacht 


106 A. Abhandlungen. 





bei der silbernen Hochzeit seiner Eltern hatte er nach dem Genuß 
»schwerer Weine« mit dem Hotelier Streit angefangen, weil er sich 
von ihm beleidigt glaubte. Als Hüssener von dem Leiter des 
Kruppschen Hotels wegen ungebührlichen Benehmens zurechtgewiesen 
war, ging er hinaus und schnallte seine Dolchkoppel um. Er betrat 
dann wieder das Zimmer, sich an den Hotelier wendend mit den 
dreisten Worten: »Bremer, kommen Sie einmal her«. Hätte dieser 
nicht seine Ruhe vollkommen gewahrt, wer weiß ob nicht damals 
schon Bremer das Schicksal Hartmanns zu teil wurde. Die darauf- 
folgenden Vorgänge in Hüsseners Wohnung beweisen genug. Denn 
von seinem verstorbenen Vater alsdann nach Hause geschickt, hat 
er in einem Anfall sinnloser Wut dermaßen im Hause getobt und 
das Mobiliar zerschlagen, daß die allein zu Hause verbliebenen Dienst- 
mädchen durch die Fenster flüchten mußten. Er hatte sogar nach 
der Pistole gegriffen, wenngleich er sie auch nur gegen die Wand 
abgefeuert haben will. Diese doch wohl noch frische Erinnerung an 
seine eigene Haltung hielt den Fähnrich aber nicht ab, sich moralisch 
zu entrüsten, als der Zweijährige Hartmann in augenscheinlich 
stark angeheiterter Stimmung eine Wirtschaft betreten wollte. In 
einer dünkelhaften Wichtigtuerei verhaftete er den Soldaten und 
schwindelte nun in wenigen Minuten in einem unangenehmen Ge- 
misch von Unreife, Jähzorn und Instruktionswut die Situation jäh 
zu einer dramatischen Höhe herauf, die mit dem Tode eines jungen 
Menschen endete. 

Das alles sind entschieden keine Zeichen von Charaktergesund- 
heit. Gewiß können bei einem Nervengesunden auch schwere Ver- 
gehen vorkommen, aber sie sind wesentlich anderer Art und ent- 
springen andern Impulsen und andern Überlegungen. 

Hüssener litt also wahrscheinlich schon von klein auf 
an psychopathischen Herabminderungen, die mindestens 
eine Mitursache, wenn nicht die treibende Ursache seiner 
Handlungen waren. 

Aber alle diese pathologischen Herabminderungen hätten nicht 
zu solchen Taten geführt, wenn man sie zeitig genug gewertet 
hätte. Ich bin sogar der Überzeugung, daß Hüssener dann noch ein 
durchaus brauchbarer Offizier hätte werden können, ja daß die Mög- 
lichkeit auch jetzt noch nicht ausgeschlossen wäre, wenn das Gericht 
ihn anstatt auf Festung hinreichend lange in eine Heilanstalt ge- 
schickt hätte. 1) Aber jetzt — so sagt die »Rhein.-Westf. Ztg.«e — »ver- 


_—— 


1) Vergl. Dr. JULIUSBERGER a. a. O. 


Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 107 


gnügte Festungshaft, die weiter nicht viel Unannehmlichkeiten mit 
sich bringt, als daß sie — ein ziemlich teurer Spaß ist.«e — Nichts 
steht ihm formal im Wege, um weiter zu drillen, nichts steht ihm 
formal im Wege, Offizier zu werden.<e Und wenn er es wird, dann 
braucht man gerade kein psychiatrischer Prophet zu sein, um zu 
weissagen, daß Schlimmeres noch folgen wird auf verantwortungs- 
vollerem Posten. 1) 

Im Hinblick auf die Gesellschaft erkannte auch der »Hamburger 
Korrespondent« das Folgenschwere, das ja zum Teil schon eingetroffen 
ist: »Der ganze erzieherische Wert des strafrechtlichen Einschreitens 
gegen die Essener Bluttat ist jetzt vernichtet und die Rechtsprechung 
der Marine befindet sich in schroffem Gegensatz zu dem Rechts- 
bewußtsein der weitesten Kreise des deutschen Volkes. Fänden die 
Reichstagswahlen morgen statt, so möchte es wohl sein, daß die Sozial- 
demokratie noch eine halbe Million Stimmen mehr erhalten würde.« 

Das ist jedoch nur die eine Seite Die andere ist die, daß 
nach 1 Jahr und 6 Monaten Hüssener wieder auf die Gesellschaft 
losgelassen wird, die ein Anrecht auf Schutz gegen ihn haben sollte. 
Sein unverändertes Gebahren trägt er ja schon in Magdeburg nach 
den Berichten der Tagespresse auf den Straßen und in Restaurants 
öffentlich zur Schau. Die Strafe ist aber bloß Strafe und an sich 
noch kein Heilmittel. Im Hinblick auf die Gesellschaft wie auf das 
Individuum sollte aber das Endziel die Besserung sein und diesem 
Ziel sollte man die Mittel anpassen. 

Was hat dem nun aber das Verderbenbringende bei den Knaben 
Hüssener und Fischer wie bei vielen andern jugendlichen Gesetzes- 
übertretern ähnlicher Art zur Entfaltung gebracht? 

Das war der Alkohol und wohl nur der Alkohol. 

Ja, an den wissenschaftlich genau festgestellten Folgen der Alko- 
holwirkungen können wir die ganze Skala von pathologischen Herab- 
minderungen studieren, welche zum Gesetzesbruch durch Jugendliche 
und namentlich zu Roheitsdelikten und zu Vergehen gegen Leib 
und Leben führen und die wir auch bei Hüssener und Fischer 
schon feststellten, während sie bei Goldberg bereits ein väterliches 
Erbteil mit konstitutioneller Entartung bildeten. 

Der Alkohol verschafft uns zunächst jene viel besungenen eupho- 
rischen Gefühle; aber nur dadurch, daß er vorübergehend be- 
schleunigend auf die Herztätigkeit und die gesamte Muskelfunktion 


1) Erfreulicherweise ist Hüssener später (im November) dauernd aus der 
Marine entlassen worden, 


108 A. Abhandlungen. 





wirkt, aber zugleich andauernd die Funktion der Gehirnzellen lähmt 
und die Bewußtseinsvorgänge schwächt und hemmt. U. a. werden 
nach dem Genuß von Alkohol die Sinnesorgane abgestumpft und es 
wird die Auffassung und das Behalten erschwert. Das Denken wird 
verlangsamt und die Denkleistungen werden quantitativ herabge- 
mindert und qualitativ verschlechtert. Die willkürliche Perzeption, 
die willkürliche Assoziation und die willkürliche Reproduktion 
werden gelähmt und damit wird die Überlegung gehemmt. Infolge- 
dessen nimmt die Fehlerhaftigkeit der seelischen Arbeitsleistung zu 
und die Zuverlässigkeit ab. Die Verknüpfung der Vorstellungen er- 
folgt nach Alkoholgenuß zudem mehr mechanisch nach rein äußeren 
Zufälligkeiten und dem Klange der Worte und weniger nach innerem, 
logischem Zusammenhange der Sachen und Tatsachen; darum nimmt 
die Geschwätzigkeit zu und die Denkfähigkeit ab. 

Der Gefühlszustand bleibt mehr von Zufälligkeiten abhängig. 
Die feineren Gebilde des Gemütslebens werden allmählich zerstört. 
Namentlich schwindet das sittliche Taktgefühl, die Freude an allem 
Edlen und Hohen; dagegen wächst in der Regel das Interesse für 
das Gemeine und Verwerfliche. Die sittlichen Begriffe werden kon- 
fuser. Recht und Unrecht wird schwerer unterschieden. Die Wahl 
des Guten wird erschwert. Die Grundsätze für ein sittliches Handeln 
werden schwankender. Das ernste Wollen erschlaff. Der Mensch 
demoralisiert. 

Dagegen wird der Bewegungsdrang gesteigert, während die 
Wahl der Bewegungen nach Zweckmäßigkeit große Einbuße 
erleidet. Die Neigung zum unüberlegten und zwecklosen, impulsiven 
und gewalttätigen Handeln macht so den veranlagten Alkoholisten 
verbrecherfähig, den Gelegenheitstrinker gelegentlich, den Gewohn- 
heitstrinker chronisch.!) Und das alles ist um so stärker der Fall, je 
pathologischer, je abnormer der Betreffende veranlagt oder je unent- 
wickelter sein Nervensystem, je jünger er ist. 

Das sind feststehende, durch die Kraepelinsche Schule insbe- 
sondere experimentell erwiesene Tatsachen. Der Trinker selbst hat 
aber stets das gegenteilige, oft bis an Größenwahn grenzende Gefühl. 
Und so erklären sich die oft rätselhaften Vorgänge in dem Gehirne 
mancher jugendlichen Fähnriche und Studenten, ja die meisten Ge- 
setzesübertretungen Jugendlicher schlechthin. 


1) Bei pathologischen Naturen kann schon eine geringe Alkoholdosis zu Sinnes- 
täuschungen und Wahnvorstellungen führen. Hüssener glaubte, Hartmann wie 
Bremer hätte ihn angegriffen. Infolge dieser alkoholistischen Täuschung handelte er. 


Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 109 


Auch Hüssener wie Fischer litten neben den vielleicht schon 
angeborenen nervösen Anlagen an diesen alkoholistischen Herab- 
minderungen ihres Seelenlebens. Zudem waren sie bereits chronisch 
geworden. Ihr Vorleben beweist das. Hüssener soll als Schüler — 
was ja leider allgemein eher Regel als Ausnahme ist — schon Trinker 
und Raucher gewesen sein. Bei der pathologischen Konstitution 
brauchte er das natürlich nicht im landläufigen Sinne zu sein. Neu- 
ropathen sind oft außergewöhnlich intolerant gegen den Alkohol, auch 
wenn sie ihn sehr lieben. Ja es ist geradezu beachtenswert, daß Hüssener 
auf der silbernen Hochzeit nicht für betrunken gehalten wurde. Auch 
hörten wir nicht, daß er einer Begleitung vom Hotel nach Hause 
bedurfte. Jeder Sachkenner wird jenes Benehmen aber nur als Folge 
von Alkoholwirkungen bei Neuropathen erklären. 

Bei den Gerichtsverhandlungen wurde Hüssener gefragt: » Waren 
Sie an dem fraglichen Abend ganz nüchtern?« Hüssener antwortete: 
»Jawohl. Ich war bei einem Bekannten und hatte dort nur sehr 
wenig getrunken.« Was Hüssener unter »sehr wenige versteht, 
wissen wir nicht. Wieviel das in jenen Kreisen aber zu sein pflegt, 
offenbarte ein Zeuge. 

Hartmann war von einer Kneipe in die andere gezogen. Sein 
studentischer Begleiter, der Student L., hatte nach eigener Aussage 
30 Glas Bier getrunken, Hartmann wohl nicht weniger. Daß er dabei 
noch vollständig »Herr seiner Sinne« war, behauptete L., der sich 
selbst nach dem Genusse dieses Alkoholquantums unter Zeugenaussage 
noch für »>ganz nüchtern« hält. Auch mancher bereits im Rinnstein 
Liegende hält nach dem bekannten Liede höchstens die Straße für 
berauscht. Der Alkohol täuscht eben allerlei fehlende Kraftgefühle 
vor, während hinreichend wissenschaftlich erwiesen ist, daß er auf 
Leib und Seele stets Jähmend wirkt, schon beim Genuß kleiner Dosen, 
wie sie etwa 2—3 Glas Bier enthalten. Bei pathologischen Naturen 
genügen solche kleinen Mengen, um Affekte auszulösen, die Hand- 
lungen mit ungewolltem und unvorhergesehenem Ausgange zur Folge 
haben. 

Der Alkoholgenuß erklärt auch völlig den Widerspruch in der 
Aussage. Hartmann hatte ihn angegriffen — wie früher der Hotelier 
— glaubte Hüssener. Der Student L. behauptet das Gegenteil. Beide 
werden subjektiv ihre Überzeugung ausgesprochen haben; der Alkohol 
vermehrt eben die Fehlerhaftigkeit der Erinnerungen, so daß man 
jemand, der 20, ja auch nur etliche Glas Bier getrunken, überhaupt 
nicht als Zeugen zulassen, wenigstens nicht vereidigen sollte. 

Pathologisch Belastete geraten zudem nach Alkoholgenuß oft in 


110 A. Abhandlungen. 


eine Art von Verfolgungswahn. Aber auch Gesunde fühlen sich von 
wahrnelimbaren Personen gereizt und bedroht und lassen sich dann 
zu unerwarteten, impulsiven und verhängnisvollen Handlungen fort- 
reißen, wovon das zahlreiche Ankontrahieren der Studenten ja Bei- 
spiele in Fülle sind, und das tragische Duell Thieme-Held in Jena 
samt den Vorgängen in den Offizierskreisen in Insterburg, Mörchingen 
und Forbach lieferten ja der Öffentlichkeit solche Gegenstücke zu 
dem Falle Hüssener. 

So wenig Hüssener auch von Reue gepackt war, in einer Hinsicht 
ist er in der Haft doch ernüchtert worden: er klagt sich an und 
verspricht Besserung, indem er der Mutter schreibt: »Ich werde, 
wenn ich erst entlassen bin, Nichtraucherund Abstinenzler 
werden.«e Als er die Tat beging, da war er um Mitternacht »nicht 
mehr beim ersten Glas« und dachte und fühlte darum anders. Sonst 
wäre der geschliffene Dolch trotz der vorerwähnten pathologischen 
Ursachen ohne Frage in der Scheide geblieben. 

Viel wichtiger ist es darum in der Instruktion, die 
Fähnriche vor dem Mißbrauch des Alkohols als vor dem 
des Dolches zu warnen, so wichtig dieses selbstverständlich auch 
sein mag. 

Abstinenz in Alkohol und Nikotin sollte die Jugend 
von vornherein und grundsätzlich üben, nicht erst wenn sie 
aus dem Gefängnisse entlassen wird. Hier übe man Fürsorge, dann 
gibt es keine Nachsorge. Leider ist aber der Alkoholmißbrauch auch 
in gebildeten Kreisen, erst recht für Einjährige und Fähnriche, noch 
immer ein Zwang. Jemand zur Selbstschädigung, zur Selbstvergiftung 
zu zwingen, ist aber doch genau besehen etwas, was weit eher vor 
den Strafrichter gehört, als das Aufheben von ein paar Äpfeln seitens 
12 jähriger Knaben. 

Hüssener wie Fischer waren also nicht unzurechnungsfähig 
schlechthin, nicht geistesgestört, wohl aber mit psychopathischen 
Minderwertigkeiten behaftet, und diesen Zustand steigerten die Trink- 
sitten zum pathologischen Verbrechen. 

Keineswegs soll aber damit für Milderung des Urteils plädiert 
oder besser gesagt: das einmütig angefochtene milde Urteil gerecht- 
fertigt werden. Auch der Abnorme darf keinen Freibrief für 
das Verbrechertum erhalten; im Gegenteil muß die Gesellschaft 
gegen ihn doppelt geschützt werden. Aber das milde Urteil so be- 
gründet, hätte nicht den Sturm der Entrüstung im deutschen Volke 
hervorgerufen. 

Wir haben den Fall auch nicht zergliedert, um das Urteil zu 


BernHart: Medizin und Pädagogik. 111 
kritisieren, sondern nur um die Notwendigkeit des Studiums des 
Pathologischen bei den Gesetzesverletzungen der Jugendlichen und 
um die Notwendigkeit einer größeren Vorsorge darzutun. Würde 
man z. B. auf Grund besserer und rechtzeitiger Einsicht dieselbe 
Sorgfalt auf die Gesundung und Kräftigung reizbar-schwacher Nerven 
einerseits und auf die Entfaltung des Ethos andrerseits legen, wie 
man sie auf die Aneignung des examinierbaren Scheinwissens allerlei 
Art verwendet, dann hätte vielleicht auch noch aus einem Hüssener 
ein relativ brauchbarer Seeoffizier werden können. Das Verbrechen 
würde er dann wenigstens nicht begangen haben und die Erbitterung 
von Millionen gegen Heer und Marine wie gegen die Rechtspflege 
hätte nicht Platz gegriffen. (Schluß folgt.) 


2. Medizin und Pädagogik 


u. 

Wir geben zunächst Herrn Dr. med. BeryHart in Frankenthal 
Raum für eine durchaus sachlich gehaltene Entgegnung auf unsern 
letzten Artikel,!) wozu ich meine Gegenäußerungen am Schlusse in 
Anmerkungen folgen lasse. 

Auf die Angriffe anderer Art von Herrn Dr. phil. et med. 
Weyseaxpr in der »Psychiatrischen Wochenschrift« wie von Herrn 
Sanitätsrat Dr. med. L. Jenz in der »Krankenpflege« kann ich wegen 
Raummangel leider erst in nächster Nummer antworten. 


1. Medizin und Pädagogik in der Idiotenanstalt. 
Von Dr. med. Bernhart in Frankenthal. 


Unter dem angeführten Titel veröffentlichte ich im vorjährigen Mai- 
hefte des »Vereinsblattes der Pfälzischen Ärzte« einen kurzen Aufsatz, den 
Herr Institutsdirektor Trüper kürzlich an dieser Stelle in seiner Abhand- 
lung »Medizin und Pädagogik« zum Abdrucke brachte und mit kritischen 
Bemerkungen versah. Bevor ich zu dem letzteren meinerseits das Wort 
ergreife, möchte ich hervorheben, daß ich es durchaus nicht »unter meiner 
Standeswürde« finde, mich mit Pädagogen in eine Disputation einzulassen, 
und daß ich auch nicht aus Sucht nach materiellen Vorteilen mich der 
Idioten- und Epileptikerpflege zuwandte, sondern weil ich als Pyschiater 
besonders in foro es als großen Mangel empfand, über die genannten 
Kranken nicht die gleichen Erfahrungen zu besitzen, wie über andere 
Neuro- und Psychopathische. Noch mehr aber liegt es mir ferne die 
Pädagogik der Botmäßigkeit des Mediziners zu unterwerfen, wenn ich auch 
leider im Gegensatze zu meinem Herrn Kritiker dabei stehen bleiben muß, 


1) Jahrg. 1903. S. 271 ff. 


112 A. Abhandlungen. 


daß nur ein psychiatrisch ausgebildeter Arzt in der Lage ist, die Leitung 
einer Idioten- oder Epileptikeranstalt zu übernehmen. (1) Es geschieht dies 
aus folgender Erwägung: 

Idioten und Epileptiker sind Kranke und bedürfen als solche in 
erster Linie des Arztes. (2) Wenn auch tatsächlich, wie Pellmann meint, bei 
vielen von ihnen »die heilende Tätigkeit des Arztes keinen Boden mehr 
findet«, so hat jener doch an ihnen das vorzüglichste Gebot der Medizin 
zu erfüllen, den Kranken vor jeder Schädigung zu schützen und seine 
Lebenslage so zu gestalten, daß er sein Übel möglıchst wenig empfindet. (3) 
Wollte man allen unheilbar Kranken den Arzt entziehen, dann würde wohl 
die Daseinsberechtigung der gesamten Medizin aufs Spiel gesetzt. (4) So 
aber geben gerade die als unheilbar geltenden Krankheiten den Sporn ab 
zu immer neuen Forschungen und es ist sehr wenig im Interesse der 
Wissenschaft gelegen, von praktischen Gesichtspunkten abhängig zu machen, 
was sie in den Kreis ihrer Untersuchungen mit einbeziehen soll. (5) Die 
verschiedenen Formen von Idiotie und Epilepsie haben mit gewissen 
anderen psychopathischen Zuständen die Ätiologie gemeinsam und unter- 
scheiden sich von diesen nur durch die Entwicklungsstufe, auf der der 
Organismus von einer krankmachenden Ursache befallen wird bezw. durch 
die Intensität und Extensität, mit der die Schädigung im Zentralnerven- 
systeme um sich greift.!) Wollte es nun die Psychiatrie noch länger 
verschmähen, sich den beiden Gebieten im gleichen Maße und unter den 
gleichen äußeren Bedingungen zu widmen, wie den übrigen, so würde sie un- 
fehlbar einer sehr verhängnisvollen Einseitigkeit verfallen. (6) Nach meiner 
Meinung ist es daher höchste Zeit, daß mit der Gepflogenheit, Epileptiker 
und Idioten nicht in Irrenanstalten aufzunehmen, endlich einmal gebrochen 
wird, um so mehr diese Anstalten schon seit geraumer Frist den Charakter 
reiner Heilanstalten verloren haben und der Ausschluß genannter Kranken 
nicht einmal mehr aus praktischen Gründen gerechtfertigt ist. Ich glaube 
auch nicht, daß durch eine derartige Maßnahme die Pädagogen zu kurz 
kommen, da es ihnen nur erwünscht sein kann, an nach der Pubertät 
geistig Erkrankten die intakt gebliebenen Überbleibsel des Seelenlebens 
kennen und beeinflussen zu lernen, um dann mit den gewonnenen heilpäda- 
gogischen Erfahrungen ihren in mancher Irrenanstalt bis jetzt ein recht über- 
flüssiges Dasein führenden Kollegen unter die Arme greifen zu können. 
Die Idioten und Epileptiker aber würden durch ihre Aufnahme in psy- 
chiatrisch geleitete Anstalten einer ausgesprochen spezialistischen Behand- 
lung teilhaftig werden, wie sie Nichtärzte, und seien sie die gewiegtesten 
Pädagogen, nie und nimmer zu bieten vermögen. (7) 

Durchaus muß ich der Aufstellung Trüpers widersprechen, als hätte 
an dem Schiffbruche, den Mariaberg in der Irrenpflege erlitt, der Umstand 
schuld, daß die Leitung der Anstalt in den Händen gerade eines katho- 
lischen Ordens gelegen war. Die Alexianer haben einfach die Regel 
außer acht gelassen: »Schuster bleib’ bei deinem Leisten, « und würden Philo- 

1) Vorgl. meinen Aufsatz: »Zur Klassifikation der Idiotie und Psychoneurosen«, 
Zeitschrift für Psychiatrie usw. Bd. 58. 


BeErnHArT: Medizin und Pädagogik 113 


sophen, für die Kant die Psychiatrie in Anspruch nahm, sich an deren 
Stelle befunden haben, sie wären zu keinen anderen Resultaten gekommen. (8) 
Der rettende Gedanke, der die Psychopathischen in ihre Menschenrechte 
einsetzte, entsprang der Erkenntnis, daß die Geistesgestörten insgesamt 
körperlich Kranke sind. Bannerträger dieser Erkenntnis sind von jeher und 
können nur Ärzte sein. (9) Ärzte werden auch fürderhin die Ausnahme- 
stellung geistig Abnormer in den mythisch-religiösen, wie in den rechtlich- 
sittlichen Gemeinschaften den Theologen und Juristen gegenüber zu wahren 
haben, nicht minder aber auch den Erziehern und Lehrern die gesicherten 
Ergebnisse physiologischer und hygienischer Forschung vor Augen halten 
und dafür Sorge tragen müssen, daß keine pädagogische Einwirkung an 
ein erkranktes Nervensystem herantritt, die für dasselbe einen Nachteil 
befürchten läßt. (10) 

Das Ideal wäre ja wohl, wenn im Vorstande einer Idiotenanstalt der 
Arzt und Pädagoge zu vereinigen wäre, allein die Kunst ist lang, das 
Leben kurz, und wenn nicht irgend ein Genie auftritt, das »lebendig 
empfindet, was die Wissenschaft bei den Toten sucht«, so wird es mit 
einer exakten Heilpädagogik noch gute Wege haben. (11) Vielleicht gelingt 
es zuvor eine geeignete Prophylaxe der Idiotie zur Durchführung zu bringen 
und deren Therapie in fruchtbarere Bahnen zu lenken, was alles andere 
überflüssig machen würde; hierzu muß es um so eher kommen, je eher 
sich die Psychiatrie dazu bequemt, sich in einer der Wichtigkeit der 
Sache entsprechenden Weise mit der Idiotie zu beschäftigen und je früher 
aus den Idiotenanstalten das durchaus unzulängiiche Institut der Hausärzte 
verschwindet, die ihren Namen sehr oft davon führen, daß sie ihren eigent- 
lichen Wirkungskreis gar nicht »im Hause« haben. 


Hierauf erwidere ich: | 

Zu 1. Alles im ersten Absatz Gesagte steht in keinem Gegen- 
satze zu meinen Ausführungen. Eingehend dargelegt habe ich aber, 
daß es nicht im Interesse der Abnormen aller Art liegt, namentlich 
solange die Erziehung im Vordergrunde der Fürsorge steht, zu sagen: 
»nur« ein Arzt ist in der Lage. Statt dessen wolle man lieber vor 
allen Beteiligten feststellen, was läßt sich in Wirklichkeit für die 
Unglücklichen noch tun und was muß man als Mindestmaß davon 
für jede öffentliche Anstalt fordern. Dann mag doch die Erfahrung 
entscheiden und es mögen die nächsten Interessenten bestimmen, 
wem sie die Leitung einer Anstalt anvertrauen wollen; denn sie ist 
weder für den Arzt noch für den Lehrer, sondern für die Unglück- 
lichen da. 


Zu 2. Wersaxor behauptet mit demselben Recht, auch die Kurz- 
sichtigen sind Kranke. Mithin müßten Schulen mit Kurzsichtigen, 
desgleichen mit Taubstummen, Blinden usw. vom Arzte nicht bloß 
beraten, sondern geleitet werden. 

Dio Kinderfchler. IX. Jahrgang. S 


114 A. Abhandlungen. 


Zu 3. Wer hätte dieses Gebot den Unglücklichen gegenüber 
nicht zu erfüllen? 

Zu 4. Wer will das? 

Zu 5. Fürsorgeanstalten haben zunächst nicht die Aufgabe zu 
forschen, sondern zu versorgen, zu erziehen, zu bilden und, wo es 
geht, zu heilen. Die Forschung ist zunächst Sache der Wissenschaft, 
in erster Linie der Universitäten unter den Anstalten, wobei es selbst- 
verständlich ein Verdienst bleibt, wenn nach wie vor die Leiter wie 
die Hausärzte, Lehrer und Seelsorger an Fürsorgeanstalten mit 
forschen. Aber jene Frage kann unmöglich von diesem Gesichts- 
punkte aus entschieden werden. 

Zu 6. Das habe ich vor Jahren schon nachdrücklich betont und 
sogar eine Abteilung für psychopathische Kinder in der psychiatri- 
schen Klinik gefordert, wogegen mir ein namhafter Psychiater wohl 
beachtenswerte humanitäre Bedenken geltend machte. Auch den 
Verein für Kinderforschung haben wir aus gleichem Wunsche ins 
Leben gerufen. 

Zu 7. Wo es sich um Fälle handelt, bei denen die Heilbehand- 
lung oder die ausgesprochene Krankenpflege wichtiger als die Er- 
ziehung ist, bin ich durchaus damit einverstanden und habe Eltern 
stets in diesem Sinne Rat erteilt. 

Zu 8. Das letzte ist entschieden zu viel behauptet. Ich habe 
auch nur für die Pädagogik, nicht für die Philologie, gefordert, was 
ihr naturgemäß gehört, und habe nachdrücklich dagegen Verwahrung 
einlegen wollen, daß man, wie es von ärztlicher Seite wiederholt ge- 
schehen, Mariaberg der nachreformatorischen Pädagogik zur Last lege. 
Man wollte mit diesen und ähnlichen Vorfällen beweisen, die Päda- 
gogen seien unfähig für die Leitung. Dann kann ich auch mit 
NARDENKÖTTER und Genossen, die als Apotheker und Ärzte »appro- 
biert«, also keine »Kurpfuscher« waren, viel eher die Unfähigkeit der 
Medizin beweisen. Aber es wäre Blödsinn, diese den Ärzten an- 
hängen zu wollen. Zudem war ja auch in Mariaberg ein verantwort- 
licher Hausarzt. Überhaupt sollte man mit solchen abnormen Bei- 
spielen keine prinzipielle Frage lösen wollen. 

Zu 9. Das »nur« ist auch hier nicht am Platze. Es war nicht 
die Medizin, sondern genau besehen die Naturforschung, welche diese 
Erkenntnis schuf, die aber in demselben Maße Grundlage der Päda- 
gogik sein sollte, wie sie es bei der Medizin längst ist. Sie würde 
es auch längst sein, wenn die Staatsverwaltung dasselbe für die Päda- 
gogik wie für die Medizin täte. Zudem steckte der »rettende Gedanke« 
seit 1900 Jahren ganz wo anders als in dieser Hypothese. 


Herder und die Kindesseele. 115 





Zu 10. Auch das ist ebenso einseitig geurteilt. Mein vorstehen- 
der Vortrag liefert dafür einen Gegenbeweis. 

Zu 1. Wir sind damit eben soweit vorgeschritten wie mit der 
eigentlichen »Medizin«. So wechselnd wie hier dieselben Heilmittel 
bald angepriesen und bald verdammt werden, sind dort die Methoden 
nie gewesen, noch ist die Reklame für die angeblichen Heilmittel auf 
heilpädagogischem Gebiete jemals eine so schwindelhafte gewesen. 
Es liegt also absolut kein Grund vor, hier absprechend zu urteilen. 

In Summa: Wenn Herr Dr. BeryHuArt der Pädagogik und dem 
Lehrer das zubilligen will, was wir der Medizin und dem Arzte gerne 
zuerkennen, dann sind wir uns einig. Sein Ideal wird dann hier in 
dem Arzt und dort in dem Lehrer sich bald mehr, bald weniger ver- 
wirklichen. Das erstreben wir hier mit unserer ganzen Arbeit. 


mnnmunte 





B. Mitteilungen. 


1. Herder und die Kindesseele. 
(Zum hundertsten Todestage des Dichters.) 
Von Prof. Dr. Leo Langer in Villach (Kärnten). 


Wie Klopstock, der durch die Macht seiner dichterischen Persönlich- 
keit und den originellen Schwung seines »Messias« am Beginne des acht- 
zehnten Jahrhunderts selbst zu einem Messias wurde, zu einem Wecker 
des deutschen Geistes, der in den sklavischen Banden der Nachahmuns 
schmachtete, und wie dieser Befreier in der raschen Entwicklung der er- 
lösten Dichtung vergessen wurde, so war Herder, dem man heutzutage 
nicht mehr die gebührende Wertschätzung zuteil werden läßt, ein Pfad- 
finder auf mannigfachen Gebieten. Wenn er mit seinem Zauberstabe auf 
harten Fels schlug, es strömte ein reicher Quell hervor, aus dem ein 
mächtiger Strom wurde, befruchtend und die Landschaft belebend. Mächtige 
Städte und reicher Gewerbfleiß erblühten an diesen Strömen, den Zauberer 
aber, der den Quell aus totem Steine lockte, hat man vergessen. Herder 
hat die literarische Ästhetik gefördert, er hat der vergleichenden Sprach- 
forschung ihre Bahnen gewiesen, er schritt vor Hegel auf dem Gebiete 
der Geschichtsphilosophie, er war Naturphilosoph vor Schelling, er hat 
vor R. Ritter die wissenschaftliche Erdkunde angeregt, Bibelforschung und 
Homerkritik, Shakespeare- und Homerübersetzung, Germanistik und orien- 
talische Philologie, selbst der Darwinismus fanden in ihm einen genialen 
Erwecker. Die größte Bedeutung hat aber Herder auf pädagogischem 
Gebiete, denn hier konnte er seine reiche Begabung auf einem lebendigen 
Übungsfelde erproben. Jedoch nicht das gesamte pädagogische System 
Herders, das sich auf die Volksschule und das Gymnasium erstreckt 
und eine Realschule zu schaffen versucht, soll dieses Gedenkblatt be- 


8* 


116 B. Mitteilungen. 


handeln, es soll nur des edlen Menschenfreundes und Humanitätsapostels 
Vertiefung in das Geheimnis der Kindesseele gewürdigt werden. Denn 
einmal ist diese Seelenkunde die Grundlage jedes wissenschaftlichen päda- 
gogischen Systems und dann zeigt sie uns den Dichter von seiner ge- 
mütvollen Seite, denn seine reizbare Natur, die vielfachen Lebenstäuschungen, 
die Unzufriedenheit mit seinen Stellungen, der Zwiespalt seiner theologischen 
und philosophischen Anschauungen und nicht zum mindesten sein Ver- 
hältnis zu den Weimarer Größen haben sein Charakterbild getrübt. Seine 
Liebe zu den Kindern, sein Verständnis für deren Freuden und Leiden 
sollen all die Schattenseiten seines Wesens überstrahlen. 

Unserem Dichter war es sein ganzes Leben lang beschieden, zu 
lehren, in Möhrungen, wo er bisweilen seinen Vater vertrat, in Königs- 
berg, wo man in den Anfänger volles Vertrauen setzte, in Riga, Bücke- 
burg und Weimar, auf keiner Stufe seiner Lehrerlaufbahn wandelte er auf 
ausgefahrenen Geleisen weiter, er blieb immer, was er schon als Stürmer 
und Dränger gewesen — originell, er hat auch hier mit ahnungsvollem 
Geiste uns einen Ausblick in die künftige Gestaltung des Unterrichts- 
betriebes geboten, er hat vieles angedeutet, was die Pädagogik der Gegen- 
wart besitzt oder doch erstrebt. Und er fand Befriedigung in dem Ver- 
kehre mit der Jugend, schreibt er doch am 26. April 1784 an Gleim: 
»Täglich komme ich mehr darauf zurück, daß die Wissenschaft und tät- 
licbe Bildung anderer, insonderheit der Jugend, das reellste Geschäft meines 
Standes sei, worin man, wenn man das Glück echter Unterstützung ge- 
nießt, allein Befriedigung hoffen und finden mag.« Wie sehr er aber 
selbst durch die Macht seiner wertvollen Persönlichkeit trotz aller Launen 
und Schrullen auf junge Gemüter zu wirken vermochte, beweist wohl am 
besten Goethes Beispiel, beweisen Zeugnisse seiner Schüler. »Herders 
Nähe«, schreibt Fr. Peucer, der in Weimar Herders Schüler gewesen 
und nachmals daselbst sein Nachfolger wurde, »war wohltuend wie die 
Frühlingssonne. Mit unbeschreiblicher Liebe und Ehrfurcht hingen sämt- 
liche Schüler an ihm und jedes Wort, das er sprach, war ein Orakel- 
spruch.« (»Weimarische Blätter« S. 624). — Und wer hätte auch mehr 
in sich den Beruf gefühlt, als Anwalt der verkannten, mißhandelten, ge- 
quälten, durch falsche Methoden verbildeten Kindesseele aufzutreten und 
mit heiligem Eifer gegen jene sein Wort zu erheben, die sich dieser 
größten Sünde an der Menschheit schuldig machten? Trug er doch selbst 
eine solche gequälte Seele in der Brust, die unter Grims und besonders 
Treschos unbeiliger Hand gelitten hatte. Und den Fluch einer lichtlosen, 
freudearmen Jugend nahm er mit in das Leben, das ihm nie mehr völlige 
Seelenruhe zu bieten vermochte. Mit Blut möchte er die Erinnerung an 
die Knechtschaft seiner Jugend abwaschen und an eine Stelle in einem 
Briefe Treschos knüpft er das erbitterte Epigramm: ... 

»Ja Dank! Du warst der Stock, der starr das Bäumchen bog, 
Der Rosenstrauch, der sie, die Rose, auferzog, 
Das Marterkreuz, an dem der Engel aufwärts flogl« 

So lernte Herder aus eigenem Leide den Wert der Kindesseele 

schätzen. Selbsterlebtes scheint er den Weimarer Lehrern ans Herz zu 


Herder und die Kindesseele. 117 


legen, wenn er sie in seiner Rede von der Grazie in der Schule warnt, 
die wertvollen Seelen der ihnen anvertrauten Jugend zu verderben, indem 
sie selbst die Grazie der Selbstbeherrschung verlieren. (H.!) 16, 18.) 
»Maxima debetur puero reverentia — et cura«, ruft er in einer anderen An- 
sprache aus (»Von der Scheu und Achtung der Lehrer...« H. 16, 91) 
und er begründet es damit, daß die Jugend der größte Schatz des Staates 
sei, in ihr weiches Gemüt drücke sich alles Gute und Schlechte ein, 
schon in den Schuljahren könnte ihre Seele verderben. »Nun aber haben 
Eltern nichts Werteres als ihre Kinder, der Mensch hat nichts Schöneres 
als seine Jugend. Ist diese verloren, so hat er sein Bestes verloren; ist 
zu dieser Zeit seine Seele gekränkt oder vernachlässigt, gekrümmt, er- 
mattet und schlaff geworden, so ermuntert und erholt er sich kaum wieder. 
Brich du diesem jungen Gewächs sein Herzblatt ab, zerknicke seinen jungen 
aufstrebenden Wuchs: Du wirst es bald verwelkt, oder, so lange es da 
ist, wirst du vielleicht eine armselige Pflanze an ihm bedauern.«< Den- 
selben Vergleich mit einer Blume finden wir auch in der Abhandlung 
»über den Wert morgenländischer Erzählungen zur Bildung der Jugend« 
(H. 6, 178.) Wie eine Knospe breche die Kindheit hervor, um später zu 
reifen. Sie ahne viel, denn sie kenne noch wenig, sie hoffe viel, denn 
sie habe noch keine Schranken gefunden. Dank gebühre dem Schöpfer 
für diesen Morgen voll schöner Bilder, für dies Paradies unschuldiger 
Hoffnungen und Wünsche. Das Jünglingsalter — ist »Das Alter der 
Graziee und zu dessen Schutze beruft er sich auf Christi Wort: »Heilig 
ist eine jugendliche Seele, die obersten Engel des Himmels sind ihre 
Diener und Schutzgeister auf Erden; in dem reinen jugendlichen Antlitz 
einer Kindesseele schauen sie Gott!« (»Von der Heiligkeit der Schulen« 
H. 16, 217.) Und so bat er denn auch seiner bekannten Legende »Der 
gerettete Jüngling« das denkwürdige Wahrwort vorgesetzt: 


»Eine schöne Menschenseele finden, 

Ist Gewinn, ein schönerer Gewinn ist 

Sie erhalten, und der schönst’ und schwerste, 
Sie, die schon verloren war, zu retten.« 


Seine Liebe für das Kind gibt sich auch darin kund, daß er nicht 
müde wird, das Erhabene der Muttertreue zu schildern, daß er die Jugend 
immer und immer zu belebenden Vergleichen heranzieht oder mit warmer 
Anteilnahme einzelne Kindergestalten und liebliche Kindergruppen be- 
trachtet. Er war ja selbst ein liebevoller Vater, seine Karoline eine 
wackere Mutter und so sagt er mit innerster Überzeugung: »Das Verlangen 
der Mutter nach Kindern ist die schönste Sehnsucht« (»Liebe und Selbst- 
heit« in den »Zerstr. Bl.« H. 15, 44) und 

»O Lust! sein Kind ans Herz zu drücken, 
Von süßen Regungen sanft beseelt« 
(»An R. Erstgebornen«). 


Und mit Freude übersetzt er Filicajas 156. Sonett »Die Vorsehung«, 


1) Nach der volkstümlichen Hempelschen Ausg. 


118 B. Mitteilungen. 


das einen lieblichen Vergleich enthält, der in dem Herzen des Kinder- 
freundes wärmsten Nachhall fand. 


» Wie die Mutter, wenn sie ihre Kinder 

Um sich siehet, liebevoll sie anblickt, 
Diesem einen Kuß auf Stirn und Wange, 
Jenes sich ans Herz drückt und ein andres, 
Auf den Schoß hebt, auf den Knieen wieget, 
Und indem sie ihrer aller Wünsche 

In den Blicken, in Geberden lieset 

Gibt sie jedem etwas, dem ein Lächeln, 
Dem ein süßes Wort, dem dritten zürnt sie, 
Scheint zu zürnen und hat ihn am liebsten: 
So ist uns die mütterliche Vorsicht.« 


Bald läßt er das Kind zu seinem eigenen Glücke sterben, von 
Himmelsträumen umschwebt (»Die Geschwister«), bald zaubert er das 
Bild eines frisch und wissensfreudig antwortenden Knaben vor unsere 
Blicke. »O, wenn Jünglinge wüßten, wie schön, wie reizend es sei, wenn 
sie sich in ihrer licbenswürdigsten Gestalt zeigen! Wenn auf eine Frage, 
ja nur auf den leichten Wink einer Frage die Antwort leicht, jugendlich, 
klar, wohlgebildet in Gedanken und Worten, als ein schöner Abdruck 
ihrer Seele ohne Mühe hervortritt und wie eine bescheidene Minerva da- 
steht!« (»Von den förderlichen Schulübungen« H. 16, 47.) Auch in der 
antiken Kunst und Dichtung (»Humanitätsbriefe« 6. Samml.) sucht er 
nach rührenden Kindergestalten und ähnlichen Motiven. Herkules an der 
Brust der Juno und die schönen spielenden Kinder, welche die griechische 
Kunst schuf, erscheinen ihm als ein rührender Vorwurf. »Diese Vor- 
stellung setzt uns jedesmal in das Leben der Kinder, in die unschuldigen 
Vergnügungen der Kirdesjahre. Ihre Natur atmet die volle Gesundheit, 
die offne Fröhlichkeit, die uns Kinder so lieb macht.« Und so haben 
auch die Griechen in ihrer künstlerischen Naivität trefflich die Jünglings- 
gestalt, »die Blüte der Menschheit«, gedacht und gebildet. Ebenso schufen 
die Dichter rührende Kindergestalten an Niobes und Medeas Seite, Ana- 
kreon verdanken wir die reizenden Amoretten, spielend und schlummernd, 
Blumen brechend, Schmetterlinge verfolgend, mit Tauben tändelnd — und 
eine Psyche küssend. — 

Aber dieser moderne Geist ging noch einen Schritt weiter. Schul- 
dramen, wie sie im 16. und 17. Jahrhunderte blühten, wollte er nicht das 
Wort reden, wohl aber wollte er die Kindesseele mit ihren Freuden, Leiden 
und Taten auf der Bühne sehen und er wies auf Teren und Diderot und 
Lessings »Philotas. »O ihr Kunstrichter und kritischen Köpfe, ruft er 
eifernd aus, »wollet immer keinen kindischen Jüngling, keinen Helden- 
knaben, wollet lieber einen altklugen Blödsinnigen, kurz keinen Philotas!... 
Und gäbe es also kein Jünglingsdrama, wo eine jugendliche Situation, deren 
es so viele gibt, die Anlage, ein Jünglingscharakter die vornehniste Trieb- 
feder und also vielleicht mıt andern Eingeflochtnen Hauptakteur wäre?« 
(»Über Abbts Schriften« H. 24, 246.) Daß man in der Gegenwart die 
Kindesseele oft genug zum Gegenstande der Dichtung gemacht hat, brauche 


Herder und die Kindesseele. 119 








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ich nicht zu erwähnen;!) auch hier hat Herder ahnungsvoll in die Zu- 
kunft gewiesen. 

Herder war aber auch ein nachempfindendes Talent. Er hat mit 
Meisterschaft den Volkston getroffen, ihm war die blumige Sprache des 
Orients geläufig, Ossians herbe, nebelhafte Gebilde vertraut, er sang mit 
den spanischen Romanzen um die Wette, er hatte aber auch die schwierige 
Gabe, mit den Kindern kindlich zu sprechen, ihr Seelenleben also nicht 
bloß von der Höhe psychologischer Forschung zu ergründen, sondern auch 
sich zu ihnen herabzulassen und ihrer Gefühls- und Gedankenwelt zu 
folgen. Herzig ist sein Kinderlield »Der erste Nachtigallen-Ausflug«, in 
dem er die gemütvolle Anteilnahme der Kleinen für das Geschick der in 
ein Netz verstrickten jungen Nachtigall verwertet, eine Verbindung von 
Kindesseele und Tierseele, wie wir sie heute bei Kipling, Thompson und 
unserer Eschenbach wiederfinden, wahre Perlen aber sind die Briefe, die 
Herder aus Rom an seine Kinder schrieb. Trefflich weiß er sich ihrer 
Individualität anzupassen, Gottfried erhält einen Bericht über römische 
Altertümer, August über schöne Götter und Göttinnen, dem braven Wilhelm 
erzählt er von Gebäuden, dem naturfreundlichen Adelbert von italienischen 
Ochsen, Kühen, Bäumchen, dem lieben Luischen von Gärten und Bildern, 
dem kleinen Emil endlich von Weintrauben und ähnlichen schönen Sachen. 
Und immer ist der Stil dem Gegenstande und dem Kinde angepaßt, durch 
kindliche Fragen und Einwürfe belebt, voll behaglicher Breite, wie es die 
Kinder lieben und ohne aufdringliche Lehrhaftigkeit. 

So liebte Herder die Kinder und ihre reine, bildsame Seele. Doch 
er ging an seine Aufgabe nicht bloß mit gemütvoller Anteilnahme, 
sondern näherte sich ihr mit dem gauzen Rüstzeug psychologischer Be- 
gründung. Er wußte ja auch in der Volksseele zu lesen, seine geschichts- 
philosophischen Ideen allein zeugen für seine Seelenkunde, er vertiefte sich 
aber auch sonst in ästhetische Fragen mannigfacher Art, schrieb über 
»Erkennen und Empfinden der menschlichen Secle«, erklärte in den »Frag- 
menten« die Psychologie für die »Deutsche Hauptwissenschaft«, der Plato, 
Baco und Locke die ersten Materialien geliefert hätten (»Fragm.« III, 213), 
arbeitete an einer Abhandlung über Verjüngung und Veraltung der mensch- 
lichen Seele, wandte immer die Gesetze der Verstandes- und Gefühls- 
entwicklung an, so z. B. auch in meisterhafter Weise bei seinen Unter- 
weisungen in der Stillehre (»Über die Prosa des guten Verstandes«), kurz 
er war mit Recht und mit Stolz »ein Biograph der Sceles. (»Über Abbts 
Schriften«.) 

Seine Fürsorge für die Kindesseele und deren Heil beginnt bei dem 
Säuglinge, dessen Unbeholfenheit er bedauert, dessen drückende Bande er 
als ein Sinnbild der ewigen menschlichen Kneclıtschaft betrachtet. 

»Wer ist der kleine Sklave, der in Banden 
Aus diesem frühen Sarge Klagen weint? 


—,— —- —_ D- 1 


1) Vergl. meinen Aufsatz »Marie Ebner von Eschenbach und die Kindesseele« 
in der 125. Beilage zur Allg. Ztg. 


120 B. Mitteilungen. 


Ein Mensch? O löset ihn, macht frei ihn von den Banden; 

Wer Seufzer hemmet, ist ein Menschenfeind. 

Der Wurm darf sich im Staube winden, 

Das Lamm hüpft um die Mutter her; 

Und ihn umhüllen Binden, 

Zwangfesseln eng und schwer.« (»Der Säugling.«) 


In den »Ideen« (1V, 4) verfolgt Herder kurz die Entwicklungs- 
stufen des Kindes. Schwächer als das Tier kommt der Mensch zur Welt, 
er bleibt lange schwach, »denn sein Gliederbau ist dem Haupte zu- 
erschaffen worden.... Ehe das Kind gehen lernt, lernt es sehen, hören, 
greifen und die feinste Mechanik und Meßkunst dieser Sinne üben.... 
Seine feinsten Sinne, Auge und Ohr, erwachen zuerst und werden durch 
Gestalten und Töne geleitet. Allmählich entfaltet sich sein Gesicht und 
hangt am Auge der Menschen um ihn her, wie sein Ohr an der Sprache 
der Menschen hangt und durch ihre Hilfe die ersten Begriffe unterscheiden 
lernet. Und so lernt seine Hand allmählich greifen; nun erst streben 
seine Glieder nach eigner Übung...« Er spricht von der Entwicklung 
des Gefühles in seiner Abhandlung »Vom Gefühl des Schönen in der 
Plastik« (19. Abschn.), er bringt diese Beobachtungen, denen W. Preyer 
in seiner »Seele des Kindes« wissenschaftliche Fassung verlieh (Leipzig 
18811, 1884?, 1890), in poetische Form in dem Fragmente »Das Ich«. 
Ohne den Selbstbegriff erblickt der Mensch die Welt, so saget man, 


»Du erblicktest sie noch nicht; sie sahe dich, 
Von Deiner Mutter lange noch ein Teil, 

Der ihren Atem, ihre Küsse trank, 

Und an dem Lebensquell, an ihrer Brust, 
Empfindung lernete. Sie trennte dich 
Allmählich von der Mutter, eignete 

In tausend der Gestalten dir sich zu, 

In tausend der Gefühle dich ihr zu, 

Den immer Neuen, immer Wechselnden. 

Wie wuchs das Kind? Es strebte Fuß und Hand 
Und Ohr und Auge spähend immer neu 

Zu formen sich. Und so gediehest du 

Zum Knaben, Jünglinge, zum Mann und Greis...« 


Wiederholt zieht er die Entwicklung im ersten Kindesalter zum 
Vergleiche heran. So vergleicht er in seiner Gedankenskizze zur Plastik 
(Lebensbild II, 393) Völker in ihrer Kindheit mit den fühlenden Kindern: 
»sie sagen noch nichts, sie kennen noch nichts; sie fühlen, und. was sie 
bewegt, was durch Bewegung auf sie wirkt, das personifizieren sie. Sie 
werden alle Dinge, die sich bewegen, lebendig glauben...« Denselben 
Parallelismus finden wir auch in jenem Abschnitte der »Fragmente«, der 
von den Lebensaltern der Sprache nandelt. — 

Und so entwickelt sich das Kind weiter. Es spricht. Und da die 
Sprache auf Nachahmung beruht, so preist er das Kind glücklich, dem 
von seinen ersten Jahren an verständliche, menschliche, liebliche Töne ins 
Ohr kamen und seine Zunge unvermerkt bildeten. (»Von der Ausbildung 


Herder und die Kindesseele. 121 


der Schüler in Rede und Sprache H. 16, 158.) Traumhaft ist diese 
Lebensstufe. »Sehen sie jenes Kind stille spielen und sich mit sich unter- 
halten! Es spricht mit sich selbst; es ist in einem Traum lebhafter 
Bilder.< Diese Bilder würden ihm einst wiederkommen, aber nicht als 
Erinnerungen eines schon einmal genossenen Menschenlebens, sondern als 
eine Palingenesie aus dem Paradiese der Kindheit. (Ȇber die Seelen- 
wanderung« Zerstr. Bl. H. 15, 11.) 

Die menschliche Seele hat ihre Lebensalter wie der Körper (»Reise- 
Journal« im Lebensbild 314), für die Herder das Wachstum der Pflanze 
als typisches Vorbild anführt. In besonders geistreicher Weise und schöner 
bilderreichen Sprache hat er diesen Vergleich in den «Ideen« dureh- 
geführt, wo er »das Pflanzenreich unserer Erde in Beziehung auf die 
Menschengeschichtes behandelt (II, 2). Jede Entwicklung braucht aber 
Zeit. Diese nennt Herder witzig einen mächtigen Mitarbeiter, freilich 
sei sie ein unbesoldeter Kollaborator, aber dieser arbeite durch alle Klassen 
und beginne seinen Unterricht beim Kinde in der Wiege. (»Von der 
bolden Scham der Schule H. 16, 149.) Die Zeit aber hat auch ihre 
Gesetze, die man nicht ungestraft übertreten darf. Daher ist die Früh- 
reife nicht hart genug zu verdammen. Das Kind, der Knabe, der Jüngling 
ist eine Knospe, in der der ganze Baum, die ganze Blume eingehüllt 
blüht. Es ist ein unersetzlicher Schade, wenn man diese jungfräuliche 
Blüte vorzeitig aufbricht, denn sie muß verwelken. Und er entrollt seiner 
Zeit ein düsteres Bild, das doppelt in unseren Tagen beachtenswert sein 
dürfte. »In unserer Zeit, da alles früh reif wird, kann man auch mit 
der Auferziehung junger menschlicher Pflanzen nicht genug eilen. Da 
stehen sie, die jungen Männer, die Kinder von hundert Jahren, daß man 
sieht und schauert. Die verworrene Rührung, die sich, wie Winckelmann 
sagt, zuerst durch einen fliegenden Reiz verrät, muß gleich bestimmt, Er- 
fahrungen und Kenntnisse, die erst Früchte männlicher Jahre sein sollten, 
mit Gewalt hineingezwungen werden, daß in weniger Zeit Jünglingen 
selbst die Lust zu leben vergeht, die echten Freuden der jungen Jahre 
immer seltener werden und Übermut, Vorwitz, Tollkübnheit, Ausschweifung 
sich mit elender Schwäche und Mattigkeit abw echseln oder enden.« (»Vom 
Erkennen und Empfinden« H. 17, 212). — Daher eifert Herder auch 
gegen das Studium der Philosophie in den mittleren Schulen, indem er 
seine Warnung vor der Frühreife der höheren Kräfte in der Forderung 
gipfeln läßt: »Bilde nicht eher den Weltweisen, bis du den Menschen ge- 
bildet hast.« («Daß und wie die Philosophie für das Volk nutzbar zu 
machen ist« H. 24. 50.) Freilich spielt auf diesem Gebiete auch seine 
Abneigung gegen Kants Philosophie mit. 

Die Erziehung der Kindesseele beginnt mit dem Leben, denn Glieder 
und Kräfte bringt der Mensch mit auf die Welt, doch deren Gebrauch 
muß er lernen; ein Zustand der Gesellschaft aber, der die Erziehung ver- 
nachlässigt, ist ein unmenschlicher Zustand (»Humanitätsbriefe« II, 25). 
Freilich hängt alles von der Art der Erziehung ab. »Bildung der Denkart, 
der Gesinnungen und Sitten ist die einzige Erziehung, die diesen Namen 
verdient, nicht Unterricht, nicht Lehre.« Und er weist auf die treffliche 


122 B. Mitteilungen. 


Methode Fönälons hin, Prinzen zu erziehen (ebenda IV, 49). Wir sehen 
aber, daß er mit diesem Gesinnungsunterrichte ein Vorgänger Herbarts 
ist. Und er hat diese Anschauung auch in Wirklichkeit umgesetzt, heißt 
es doch in einem seiner Gutachten über Weimarer Schulangelegenheiten 
kurz und bündig: »Die Schule muß, zumal wie sie jetzt ist, ein Rüsthaus 
guter Menschen und Bürger, nicht lateinischer Phrasesjünger werden.« 
Auch fordert er in der pädagogischen Erörterung seines »Reisejournals« 
eine von Jugend an gleichmäßige Erweiterung aller kindlichen Seelen- 
kräfte (»Lebensbild« II, 218). Die Erziehung ınuß aber auch planmäßig 
sein. Voll Begeisterung, aus der seine Liebe zur Jugend atmet, ruft er 
in demselben Reisejournal (ebenda II, 325) aus: »O gebet mir eine un- 
verdorbene, mit Abstraktionen und Worten unerstickte Jugendseele her, 
so lebendig, als sie ist; und setzet mich dann in eine Welt, wo ich ihr 
alle Eindrücke geben kann, die ich will, wie soll sie leben! Ein Buch 
über die Erziehung sollte bestimmen, welche und in welcher Ordnung 
und Macht diese Eindrücke sollten gegeben werden, daß ein Mann von 
Genie daraus würde und dieses sich weckte!« Und so fährt er denn mit 
dem ganzen Ingrimme seiner Satire gegen die geckenhafte Modeerziehung 
los, die sich nur auf »die galantiora« gelegt hat; wo man nur von süßer 
Speise lebe, müßten Ungeziefer und Würmer entstehen (»Nachteile der 
neuen leichten Lehrmethode« H. 16, 41). 

Das Kind ist des Mannes Vater. Von diesem Gedanken geht Herder 
aus, wenn er den Erziehern die tiefsten Falten der Kindesseele erleuchtet 
und ihnen wie ein weiser Arzt Winke gibt, wie sie diese zu behandeln, 
die verderbte zu heilen hätten. »Wer das zarte Saitenspiel junger Kinder 
und Knaben zu behorchen, wer nur in ihrem Gesichte zu lesen weiß: 
welche Bemerkungen von Genie und Charakter, d. i. einzelner Menschenart 
wird er machen! Es klingen leise Töne, die gleichsam aus einer andern 
Welt zu kommen scheinen; hie und da regt sich ein Zug von Nachdenken, 
Leidenschaft, Empfindung, der eine ganze Welt schlafender Kräfte, einen 
ganzen lebendigen Menschen weissagt...« (»Vom Erkennen und Empfinden e 
H. 17, 212.) 

Ein Wurm, der an der Kindesseele nagt, ist die Lüge. Und doch 
ist gerade der unverdorbenen Jugend die sittliche Grazie der Naivität 
eigen, »das Kindlich-Erhabene« (»Kalligone« III, 4. H. 18, 718). Da sagt 
die Seele alles, was sie denkt, so an Kindern, so an unschuldigen Mädchen, 
es ist die echte deutsche Treuherzigkeit. (»Zur Plastik« Lebensbild II, 
402.) Und diesen lieblichen Reiz kann der Erzieher selbst zerstören, wenn 
er das Gift eigenen Zweifels und der Zerfahrenheit in das jugendliche 
Herz einfließen läßt (» Vom Erkennen und Empfinden« H. 17, 202). Denn 
groß ist die Macht des Vorbildes für das empfängliche Gemüt im Guten 
wie im Bösen (Einfluß der Regierung auf die Wissenschaften« H. 17, 111). 
— Leicht kann man der Kindesseele Ärgernis geben, denn das Gefühl 
für Recht und Unrecht ist in dem jugendlichen Gemüte stark und leb- 
haft gegründet. Dieses »fühlt inniger als es ein Mann fühlen wird, der 
mit deinem falschen Urteil zugleich den Grund oder Ungrund desselben 
sieht und übersieht.« Deshalb wird der Knabe im Unmut gegen den Druck 


Herder und die Kindesseele. 123 





sich aufbäumen und sich von diesem zu befreien suchen (»Von der Scheu 
und Achtung der Lehrer gegen die Schüler...« H. 16, 91). Das Auge 
des Jünglings bemerkt aber auch oft schärfer als das des Mannes und 
unparteiischer als das durch Gewohnheit und den Schlendrian getrübte 
(ebenda S. 92). Mit Sittensprüchen allein gegen die Verderbnis der Seele 
anzukämpfen, ist eine fruchtlose Arbeit, denn sie haben nicht lebendige 
Kraft, sondern bleiben »bloße Schattengestalten oder sind leere Töne«e. 
(»Über den Wert morgenländischer Erzählungen« H. 6, 179). Frömmelei 
oder dogmatische Sprüche lagen aber unserem Dichter völlig ferne, ihm, 
dem Rationalisten, dem freisinnigen Theologen und Humanitätsprediger, 
der an dem Zwiespalt in seiner Seele genug zu leiden hatte. — 

Wenn das Kind in die Schule tritt, dann steht alles auf einem 
Wurfe. »Es kommt auf den ersten allmächtigen Eindruck an; ist dieser 
verfehlt, so ist alles verloren — verloren der erste unerklärliche Scharf- 
sinn, der nie durch Geduld und Fleiß ersetzt wird, .... kurz verloren 
das, was man Genie nennt.« Dieses läßt sich nicht mehr ersetzen (»Von 
der neuern römischen Literatur« H. 19, 199). Deshalb hielt es auch der 
Ephorus des Weimarer Gymnasiums nicht unter seiner Würde, dem ersten 
Unterricht Katechismus und Fibeln zu bearbeiten, für den späteren morgen- 
ländische Märchen, deren biblische Einfalt der kindlichen Phantasie be- 
sonders entgegenkommt (»Über den Wert morgenl. Erzähl« H. 6, 179) 
und die »Palmblätter« darzubieten. — 

Anschauung, Mitbeschäftigung und Zucht sind die Grundpfeiler des 
öffentlichen Unterrichts, denn pur auf diesen nimmt er Rücksicht, da dieser 
allein den edlen Wetteifer unter den Kinderseelen erzeuge, »weil ein 
öffentliches Gut besser ist als ein besonderes und ein Strom, aus welchem 
Hunderte trinken können, besser ist als ein kleines stehendes Wasser, das 
nur einer in Besitz nimmt (»Von den Vorwürfen, die man öffentlichen 
Lehranstalten macht« H. 16, 113; 32). Da aber nach einem alten Er- 
fahrungssatze die Masse demoralisiert — »die Jugend mißbildet sich selbst« 
{(»Notwendigkeit der Schulzucht« H. 16, 32) — so bietet die Schwäche 
eines Lehrers, der nicht Zucht zu wahren weiß, ein Bild der Qual, unter 
der wieder die Kindesseele selbst am meisten leidet. »Der Harte z. B., 
der getrieben sein will, dessen Seele ein Kieselstein ist, was wird er 
ohne Schulzucht sein?« (ebenda 31). 

Das belebende Element aber, das die Kindesseele in der wohltätigen 
Spannung erhält — noch heute eine der ersten Forderungen des Unter- 
richte — ist die Mitbeschäftigung, die er zum seelischen Heile der Jugend 
nicht oft genug verlangen kann. Der Lebrer muß der Mittelpunkt der 
Klasse sein, denn »Flamme steckt Flamme an, Gegenwart des Geistes er- 
weckt Gegenwart des Geistes.« Im gegenteiligen Falle ertötet der stupor 
scholasticus alle Seelenkräfte, trockenes Wortgedächtnis muß der hinkende 
Bote sein, der die Stelle der Einbildungskraft, des Urteils, der Neigungen 
und eigener Bestrebsamkeit vertreten soll («Von den förderlichsten Schul- 
übungen« H. 16, 47). In einer anderen Schulrede schildert Herder mit 
lebhaften Farben die Qual in der ermatteten Kindessele, wenn sie des 
Lehrers Feuer nicht entzünde («Von der Scheu und Achtung der Lehrer... .< 


124 B. Mitteilungen. 


H. 16, 94), es darf nicht »der eine Flügel im Todesschlaf liegen, indes 
der andere exerziert« (H. 16, 114). — Durch mangelnde Mitbeschäftigung 
geht auch ein wichtiges Förderungsmittel des Gesinnungsunterrichts ver- 
loren, der Allgemeingeist, der Spiritus rector, ohne den das Ganze ver- 
west («Von den Vorwürfen, die man Öffentlichen Lehranstalten macht« 
H. 16, 115; 116), — Und er gibt auch das Mittel an, das diesen heil- 
samen Lebenshauch der Jugend einflößen könne; »Methode, Methode ist’s, 
meine Herren, das die Aufmerksamkeit fesselt: wenn ich lebhaft und nicht 
für Greise rede, jedes auf seiner neuesten Seite zeige, die Mannigfaltigkeit 
und Einfalt glücklich verbinde, jeden Augenblick ganz die Seele anfülle, 
jede Saite der Aufmerksamkeit treffe, jedem Schlupfwinkel der Zerstreuung 
zuvorkomme, wenn ich nicht in einer fieberhaften Methode walle, die bald 
fliegt, bald kriecht, sondern stets mit einem gleichen Auge alle bemerke, so 
kann ich die Blumen meiner Saat abbrechen« (»Von der Grazie in der 
Schule« I. 16, 17). — Denn die edle Neugierde, jener edle Wissensdurst, 
der z. B. der Pfarrer in Goethes «Hermann und Dorothea« das Wort 
redet, darf nicht erlahmen, sie ist die Triebfeder seiner Betätigung (»Reise- 
journal« Lebensbild II, 322; 314). Worte aber allein werden diesen gött- 
lichen Funken nicht entzünden, da müssen Sachen mithelfen, der An- 
schauungsunterricht ergibt sich von selbst als ein hervorragendes Erfordernis. 
(»Die Schulen als Anstalten zur besten Übung« II. 16, 187; auch 16, 247), 
— So wurde Herder ein Nachfolger des Comenius, der in seinem 
»Orbis pietus« denselben Zweck verfolgt (vergl. H. 13, 246), und heute 
beginnen wir auf diesem Gebiete sogar in das verderbliche Gegenteil zu 
verfallen, die zerstreuende, abstumpfende Bildersucht. Er hat vor Pesta- 
lozzi in seinem Plane einer Realschule Form, Zahl und Wort als die 
Stufenleiter der kindlichen Seelenentwicklung betont, er hat Basedow über- 
troffen, denn in dessen Philantropia lernten die Kinder, wenn ich ein 


Wortspiel gebrauchen darf, was sie freute — wie die Erfahrung zeigte, 
ein gefährliches Unternehmen — bei Herder freute die Kinder, was er 
sie lehrte. — »Der Jüngling wollte durch Lustgefilde des Paradieses wandeln 


und der Lehrer, mit Frost bedeckt, führt ihn über Schnee und Eis... 
Der Reiz ist das Leitband, das die Jugend fesselt!« (Von der Grazie 
in der Schule« H. 16, 15). 

So kam er denn in folgerichtiger Fortentwicklung seiner Anschauungen 
auf die Idee einer Realschule, die erst im 19. Jahrhunderte vollständige Ver- 
wirklichung fand, wieder wurde er ein Prophet modernsten Geistes. Was 
Bacon, Comenius und Pestalozzi ahnten, hat Herder im »Reisejournal«, als 
er von Riga auf dem Seewege nach Frankreich fuhr, in den Entwurf eines 
Lehrplanes gekleidet und damit begründet, daß der reale Unterricht der 
psychologischen Entwicklung und dem modernen Zuge am meisten ent- 
spreche. Dabei war aber Herder weder ein Feind der Antike — er hat 
sich vielmehr um diese vielfach verdient gemacht — noch ein Verfechter 
des nüchternen Nützlichkeitsgrundsatzes, sondern bloß ein erbitterter Gegner 
des scholastischen Formalismus, des grammatischen Latinismus, der die 
blühende Kindesseele ertöte. Der römische Geist, der auf dem Forum und 
in der Schlacht lebte, er ist mit Cäsar und Cicero und seinen anderen 


Herder und die Kindesseele. 125 


m UL a 


Trägern gestorben, er kann nicht wieder aufleben in der römischen Schul- 
sprache, eine Sprache ohne den Geist des Volkes ist dem Verfasser der 
»Ideen« ein Greuel (»Einfluß der Regierung auf die Wissenschaften« 
H. 17, 81), eine solche Schule ist »ein Kerker, in welchen wie in eine 
dunkle Höhle junges Vieh zusammengetrieben wird, damit es frohlockend 
hinten ausschlage, wenn es dem Kerker entkommt« (H. 16, 114). Man 
verliert seine Jugend, wenn man die Sinne nicht gebraucht, durch bloße 
Abstraktionen wird der jugendliche Kopf wüst und dumpf. Für die Seele 
des Kindes ist es die schrecklichste Qual, Schatten von Gedanken ohne 
Sachen, Sprache ohne Sinn, eine Lehre ohne Vorbild sich aneignen zu 
müssen. »Gehe in eine Schule der Grammatiker hinein: eine Welt 
alternder Seelen unter einem veralteten Lehrer... Weg also Grammatiken 
und Grammatiker! Mein Kind soll jede tote Sprache lebendig und jede 
lebendige so lernen, als wenn es sie selbst erfände.« Und nun entwickelt 
er das Frische, Lebendige jener Methode, die sich erst in unseren Tagen 
im alt- und neuphilologischen Unterrichte Gelturg verschafft hat, die aus 
dem belebten Lesestoffe das Gesetz, die Regel selbst finden lehrt (»Reise- 
Journale). Der verkehrte Grammatismus hat aber auch gesellschaftliche 
Nachteile, da er die erste frische Kraft der Jugend raubt, das Talent ver- 
gräbt, das Genie aufhält. »Die Welt aber braucht hundert tüchtige Männer 
und einen Philologen, hundert Stellen, wo Realwissenschaften unentbehrlich 
sind, eine, wo eine gelehrte und grammatische Kenntnis des alten Roms 
gefordert wird« (»Fragmente« UI. H. 19, 201). 

Der ureigenste Boden, auf dem die Jugendseele am gedeihlichsten 
wächst und blüht, bleibt die heilige Muttersprache, bleibt die Nation. Von 
welch edlem Vaterlandsgefühle Herder durchglüht war, ist wohl bekannt, 
er hat es auch in den Dienst der Erziehung gestellt. Darum ist auch in 
allen seinen Vorschiägen und Entwürfen, die den Unterricht betreffen, die 
Muttersprache die Grundlage als die Mutter jeder Gesinnung. Darum 
sein Kampf gegen den Latinismus, gegen die französiche Erziehung. » Wenn 
Sprache das Organ unsrer Seelenkräfte, das Mittel unsrer innersten Bildung 
und Erziehung ist, so können wir nicht anders als in der Sprache unseres 
Volks und Landes gut erzogen werden« (»Humanitätsbr.« IX, 111, 
H. 13, 492.) 

Schließlich sei noch einer Herderschen Forderung Erwähnung getan, 
die wieder mit den modernsten Bestrebungen zusammenfällt: die Jugend 
soll zum Schönen erzogen werden. Sie hat von der Natur den Drang 
darnach erhalten, er soll befriedigt werden. »Die Jugend ist das schöne 
Alter des menschlichen Lebens, sie liebt und übt also auch nichts so 
gern, als was ihr schön dünkt. Schöne Wissenschaften, schöne Künste 
sind die süßen Lockspeisen, die sie anziehen, die Früchte Hesperidischer 
Gärten, die sie bezaubern.« (»Vom falschen Begriff der schönen Wissen- 
schaften« H. 16, 55.) Und so entwickelt denn Herder die ganz modernen 
Ideen, daß der Jugend das Beste gerade gut genug sei, daß man ihnen 
nicht schlechte Kupferstiche zeigen, sondern sie nur schöne Formen sehen, 
melodische Töne hören lassen solle. Sonst geschieht es eben, »daß unsere 
Seelen veralten, statt daß sie, in den Begriffen der Schönheit erzogen, ihre 


126 B. Mitteilungen. 


— 


erste Jugend wie im Paradiese der Schönheit genießen würden.« (»Reise- 
journal« a. a. O. II. 326.) 

So hat denn Herder eine harmonische Veredlung der Kindesseele 
erstrebt und diese war ihm nicht bloß ein Gegenstand spekulativer Er- 
forschung, sondern es war ihm Herzenssache, sich in ihre Geheimnisse zu 
vertiefen, »die Entwicklung einer schönen jugendlichen Seele zu behorchen 
und sie auf ihre ganze Lebenszeit weise, gründlich, von Vorurteilen frei 
und glücklich zu machen.« (»Reisejournal« a. a. O. II. 200.) — 


2. Der I. internationale Kongress für Schulhygiene 


tagt unter dem Protektorat des Prinzen Dr. med. Ludwig Ferdinand von 
Bayern am 4. bis 9. April 1904 in Nürnberg. 

Das internationale Komitee, das sich aus namhaften Schulhygienikern 
des In- und Auslandes zusammensetzt, erläßt in deutscher, frauzösischer 
und englischer Sprache folgenden Aufruf: 

»Auf dem Gebiete der hygienischen Forschung steht zurzeit in allen 
zivilisierten Ländern die Schul- und Volkshygiene im Vordergrunde des 
allgemeinen Interesses. Viele Hygieniker haben mit Wort und Schrift in 
diesen Zweigen der Wissenschaft bahnbrechend gewirkt. Ärzte und Schul- 
männer haben denselben gemeinsame Arbeit gewidmet, Regierungen und 
Kommunalverwaltungen sind eifrig bemüht, solche Arbeit zu fördern. Bei 
aller Anerkennung der Fortschritte, die in der öffentlichen Gesundheits- 
pflege insbesondere durch die Mitwirkung der Kongresse für Hygiene und 
Demographie bereits erzielt worden sind, kann man sich doch der Tat- 
sache nicht verschließen, daß zur Heranbildung einer gesunden Jugend 
gerade der Schulhygiene noch viel zu tun übrig bleibt, und daß ihr immer 
neue Aufgaben erwachsen, um den jugendlichen Organismus zu kräftigen 
sowie dem Umsichgreifen der Nervosität und einer frühzeitigen Erschöpfung 
entgegenzutreten. Derartige Gesichtspunkte sind maßgebend gewesen für 
die Gründung schulhygienischer Vertreter, so des Allgemeinen deutschen 
Vereins für Schulgesundheitspflege, der französischen »Ligue des mödicins 
et des familles pour l’amölivration de l’hygiene physique et intellectuelle 
dans les &coles«, der schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheits- 
pflege, der »Allgemeen pacdologisch Gezelschap in Antwerpen«, der »Ver- 
eeniging tot Vereenvoudiging van examens en onderwijs in Arnheim«, der 
englischen »Society of medical officers of schools« und des Fachkomitees 
der ungarischen Schulärzte und Professoren der Hygiene in Budapest. In 
der Erkenntnis, daß bezüglich einer hygienischen Erziehung bereits im 
jugendlichen Alter methodisch vorgegangen werden muß, daß insbesondere 
in der Schule durch vollendete Körperpflege geistige Überanstrengung und 
Schwächung der Individualität verhindert werden können, — in der Er- 
kenntnis, daß die gedeihliche Entwicklung eines Volkes in erster Linie 
dadurch gesichert wird, daß es die Gesundheit seiner Jugend besonders 
während der Schulzeit nach jeder Richtung hin stärkt, — in der Über- 
zeugung endlich, daß durch gemeinsame Arbeit aller Nationen die Auf- 


Der I. internationale Kongreß für Schulhygiene. 127 


gaben und Bestrebungen der Schulhygiene wesentlich erleichtert und be- 
fördert werden, sehen sich die Unterzeichneten veranlaßt, internationale 
Kongresse für Schulkygiene ins Leben zu rufen, die alle drei Jahre tagen. 
Der erste Kongreß soll an den sechs Tagen der Woche nach Ostern des 
Jahres 1904 in Deutschland stattfinden. Für den Vorsitz sind der All- 
gemeine deutsche Verein für Schulgesundheitspflege und ein Ortskomitee 
in Aussicht genommen, als Kongreßort hat sich die Stadt Nürnberg bereit 
erklärt. Vorträge und Beratungen, welche dem Gebiete der Schulhygiene 
angehören müssen, können in irgend einer europäischen Sprache, insbe- 
sondere in der deutschen, französischen oder englischen, abgehalten werden. 


Nähere Bestimmungen. 


Mitglied des Kongresses können alle diejenigen werden, welche an 
der Förderung schulhygienischer Bestrebungen Interesse besitzen. Die Er- 
werbung der Mitgliedschaft erfolgt durch genaue Angabe von Vor- und 
Zunamen, Stand, Titel und Adresse bei dem Ortskomitee des Kongresses. 

Jedes Mitglied hat einen Beitrag von 20 M zu entrichten. Hierfür 
wird eine Mitgliedskarte ausgestellt, die zur Teilnahme an allen Sitzungen 
und Veranstaltungen des Kongresses, zur Ausübung des Abstimmungs- und 
Wahlrechtes, sowie zum Bezug des Kongreßtageblattes und des Kongreß- 
berichtes berechtigt. 

Für Deutschland wird der Allgemeine deutsche Verein für Schul- 
gesundheitspflege nebst seinen Zweigvereinen sowie das Ortskomitee der 
Kongreßstadt die Organisation des Kongresses übernehmen. Für Frank- 
reich wird sich die Ligue des médecins et des familles, für die Schweiz 
die Schweizerische Gesellschaft für Schulgesundheitspflege, für Belgien die 
Paedologisch Gezelschap in Antwerpen, für Holland die Vereeniging tot 
Vereenvoudiging van Examens en Onderwijs, für Ungarn das »Fachkomitee 
der Schulärzte und Professoren der Hygiene« mit der Organisation be- 
fassen; in England ist das Erziehungsdepartement darum ersucht worden. 
In den übrigen Ländern werden sich namhafte Hygieniker, Ärzte und 
Schulmärner mit den ÜUnterrichtsministerien und Medizinalkollegien zur 
Einrichtung von Komitees in Verbindung setzen. 

Die Verhandlungen verteilen sich auf allgemeine Sitzungen und Ab- 
teilungssitzungen. Letztere finden vormittags und nachmittags statt. Für 
die Plenarsitzungen bleibt der Montag, Dienstag und Freitag Vormittag 
reserviert. In den Plenarsitzungen werden zusammenfassende Vorträge 
allgemeinen Interesses ohne Diskussion, offizielle Ansprachen und die ge- 
schäftlichen Angelegenheiten des Kongresses erledigt. Die Vortragszeit 
ist auf 45 Minuten zu bemessen. Die Vorträge in den Abteilungssitzungen 
sind in der Reihenfolge ihrer Anmeldung zu halten, bezw. ist ihre Reilien- 
folge vom Abteilungsvorsitzenden zu bestimmen. 

Die Dauer eines Abteilungsvortrages darf 20 Minuten nicht über- 
schreiten. An diese Vorträge knüpft sich eine Diskussion, in welcher 
jedem Redner in der Regel nicht mehr als 8 Minuten zur Verfügung 
stehen. Die Abteilungssitzungen werden durch einen vom Örtskomitee 
ernannten Einführenden eröffnet und von dem durch die Anwesenden er- 





128 B. Mitteilungen. 





wählten Präsidenten geleitet. Über jede Plenar- und Abteilungssitzung 
ist von den Schriftführern Protokoll zu führen. 

Vorträge für die Abteilungssitzungen werden bei dem Vorsitzenden 
des Organisationskomitees des betreffenden Landes angemeldet, Vorträge 
für die Plenarsitzungen mit dem Organisationskomitee des Landes und 
Ortes, wo der Kongreß stattfindet, vereinbart. Für alle Vorträge, welche 
auf dem Kongreß zur Verhandlung kommen, muß ein druckfertiges Manu- 
skript in einer der genannten Sprachen mit einer deutschen, französischen 
oder englischen Zusammenfassung vorgelegt werden. In der letzten Plenar- 
sitzung wird von den Kongreßmitgliedern der Ort für den nächsten 
Kongreß bestimmt. Nach Auflösung eines Kongresses werden die laufenden 
Geschäfte dem ÖOrganisationskomitee des neuen Kongreßortes übermittelt. 

Die internationalen Kongresse für Schulhygiene führen folgende Ab- 
teilungen: 

. Hygiene der Schulgebäude und ihrer Einrichtungen. 

. Hygiene der Internate. 

. Hygienische Untersuchungsmethoden. 

. Hygiene des Unterrichts und der Unterrichtsmittel. 

. Hygienische Unterweisungen der Lehrer und Schüler. 

Körperliche Erziehung der Schuljugend. 

. Krankheiten und Kränklichkeitszustände und ärztlicher Dienst in 
den Schulen. 

8. Hilfsschulen für Schwachsinnige, Parallel- und Wiederholungs- 
klassen, Stottererkurse, Blinden- und Taubstummenschulen, Krüppelschulen. 

9. Hygiene der Schuljugend außerhalb der Schule, Ferienkolonien 
und Organisation von Elternabenden. 

10. Hygiene des Lehrkörpers.« 

Vorsitzender des I. Kongresses in Nürnberg ist Professor Dr. med. 
et phil. Griesbach in Mülheim i/Els. und Generalsekretär, der An- 
meldungen usw. entgegennimmt, ist Hofrat Dr. med. Schubert in 
Nürnberg. 

Für die Sitzungen der 10 Abteilungen des Kongresses sind 
an erster Stelle Referate über wichtige Fragen in Aussicht genommen, 
deren eingehende und möglichst erschöpfende Behandlung als besonders 
wünschenswert und zeitgemäß empfunden wird. Als Referenten und Kor- 
referenten sind je nach der Art des Themas Ärzte, Pädagogen, Techniker 
und Verwaltungsbeamte aufzustellen. Um die Diskussion in die rechten 
Bahnen zu lenken und möglichst fruchtbringend zu gestalten, sollen von 
den Vortragenden kurze und klare Leitsätze aufgestellt und von der 
Kongreßleitung rechtzeitig veröffentlicht werden. 

Wir wollen hoffen, daß auch das Kinderpsychologische, also die 
Hygiene des Seelenlebens in hinreichendem Maße vertreten sein wird. 

Tr. 


sıoPpPpvonm 


Sechste Bundesversammlung deutscher Taubstummenlehrer. 129 


3. Sechste Bundesversammlung deutscher Taub- 
stummenlehrer. 
28. September bis 1. Oktober 1903. 


Weit über 300 deutsche Taubstummenlehrer und -Lehrerinnen hatten 
sich am 29. September im großen Prunksaale der Loge Frankfurt in 
Frankfurt a/M. zu ernster Beratung zusammengefunden. Es war kein 
internationaler Kongreß, wie die früheren Versammlungen der Taub- 
stummenlehrer in Paris, Mailand und Brüssel waren. Da aber die deutsche 
Methode des Taubstummenunterrichtes in den letzten Jahrzehnten einen 
Siegeszug durch alle zivilisierten Länder der Erde gemacht hat, war es 
erklärlich, daß auch Rußland, Livland, Ungarn, Österreich, ja selbst 
Amerika Vertreter gesandt hatten. In erster Reihe vor dem Vorstands- 
tische saßen die Vertreter von höchsten und von hohen Behörden, der 
Geheime Ober-Regierungsrat Professor Dr. Wätzoldt-Berlin, Provinzial- 
Schulrat Dr. Otto-Kassel, Regierungsrat Dr. Wahl-Stuttgart und Ober- 
schulrat Dr. Waag-Karlsruhe. Als Vertreter der Stadt Frankfurt war der 
Stadtrat Grimm und als Vertreter des Pflegeamtes der Frankfurter Taub- 
stummenanstalt der Justizrat Dr. Sieger erschienen. 

Neun Uhr vormittags wurde die Bundesversammlung durch den 
Direktor der Königl. Taubstummenanstalt in Berlin, Schulrat E. Walther, 
eröffnet. Nach der Begrüßung der Versammlung durch die Vertreter der 
Behörden und die Abgesandten aus dem Auslande wurde beschlossen, daß 
der erste Tag der Praxis, der zweite der Theorie gewidmet sein sollte. 

Es war ein schwieriges Unternelimen, in einem fremden Raum die 
taubstummen Zöglinge der Frankfurter Taubstummenanstalt einer großen 
Versammlung in Lehrproben vorzuführen; die Art und Weise aber, wie 
es durch den Direktor der Anstalt, J. Vatter, geschah, legte Zeugnis 
davon ab, daß diesem der ihm scherzweise beigelegte Titel eines »Ober- 
meisters« wohl gebührt. 

Sodann wurde dem Direktor der ostfriesischen Taubstummenanstalt, 
Oberlehrer O. Danger, das Wort zu dem Vortrage »Die Erziehung der 
Taubstummen für das Gemeinschaftsleben« gegeben.!) Das naturgemäße 
Gemeinschaftsleben, auf das die Taubstummenanstalten ihre Zöglinge vor- 
zubereiten haben, kann nicht für alle dasselbe sein. Einst zündete das 
Buch des Schulrats Graser über die »dem Leben wiedergegebenen Taub- 


t) Leitsätze: 1. Das Ziel der Erziehung für das Gemeinschaftsleben besteht 
in den Taubstummenanstalten darin: a) die Taubstummen so weit zu fördern, daß 
sie selbständige Mitglieder der Gemeinschaften dieser Welt werden können und 
b) ihnen den Weg zu zeigen und sie auf diesem Wege zu geleiten, der zur himm- 
lischen Heimat führt. — 2. In der kurzbemessenen Schulzeit ist dieses Ziel noch 
nicht zu erreichen. Daraus erwiächst den Taubstummenanstalten die Pflicht, ihren 
Zöglingen auch nach ihrer Entlassung noch zur Seite zu stehen. Dieses muß ge- 
schehen a) durch Förderung der gewerblichen Fortbildung der Entlassenen, b) durch 
Rat und Tat in allen Lebenslagen, c) durch Teilnahme der Taubstummenanstalten 
an der Seelsorge der entlassenen Taubstummen. 

Die Kinderfchler. IX. Jahrgang. 9 








130 B. Mitteilungen. 





stummen.«e Bei dem sehr verschiedenen geistigen Standpunkte der Taub- 
stummen und den körperlichen Gebrechen, an denen manche außer der 
Taubheit noch leiden, ist es aber ausgeschlossen, alle zu selbständigen 
Gliedern des Gemeinschaftslebens der Vollsinnigen heranzuziehen. Nur 
mit den geistig und (rel.) körperlich Normalen unter ihnen kann es 
gelingen. Diese sind glücklicherweise in entschiedener Mehrheit, sie 
gehören nicht in das Gemeinschaftsleben einer » Taubstummenwelte, 
sondern in das der Welt, wie sie ist. Ihnen muß die Sprache dieser 
Welt gegeben werden, in erster Linie aber die Verkehrssprache, nicht 
die Büchersprache Die Büchersprache ist notwendig, um eine 
höhere Stufe im Gemeinschaftsleben einzunehmen. Die Taubstummen ent- 
stammen größtenteils den ärmeren Familien, und es liegt kein Grund vor, 
sie, weil sie taub sind, auf eine höhere Stufe zu fördern, als sie im 
Leben erreicht hätten, wenn sie hörend, also begabter wären. Mit seltenen 
Ausnahmen würden die Tauben auf den höheren Stufen des Gemeinschafts- 
lebens im Konkurrenzkampfe mit den Vollsinnigen stets unterliegen. In 
der kurzbemessenen achtjährigen Schulzeit könne das Ziel, sie, die Gehör- 
kranken, ausreichend zu befähigen, dereinst selbständig ihre Stellung im 
Gemeinschaftsleben einzunehmen, nicht völlig gelingen. In Großstädten 
möchten in für sie besonders eingerichtete Fortbildungsschulen die 
vorhandenen Lücken nach der Entlassung noch mehr oder weniger aus- 
gefüllt werden können, doch nur in diesen. Der Mehrzahl der Taub- 
stummen könne aber nur durch Hinzulegung eines neunten (oder besser, 
9. und 10.) Schuljahres geholfen werden, in dem nach dem Vorbilde der 
holländischen Anstalten, der Anstalten in den vereinigten Staaten Amerikas 
usw. die Lern- und Arbeitsschule sich gegenseitig ergänzten. Weil 
die Anstalten in der Schulzeit ihr Ziel nicht völlig erreichen können, 
hätten dieselben ihre Arbeit nach der Entlassung der Zöglinge noch fort- 
zusetzen. Hierzu sei aber erforderlich, daß ihnen Fonds für die gewerb- 
liche Fortbildung entlassener Taubstummen zur Verfügung ständen. 

Da es unmöglich sei, alle Taubstummen ım Sprachverständnisse so weit 
zu fördern, um in genügender Weise nach ihrer Entlassung aus der Anstalt 
von ihren Pfarrgeistlichen pastoriert werden zu können, sei es erforderlich, 
auch die geistliche Pflege der erwachsenen Taubstummen anstaltsseitig zu 
fördern. In Großstädten, in denen Hunderte von erwachsenen Taubstummen 
leben, sei es Pflicht der Kirche, besondere Taubstummenpastoren anzu- 
stellen; diese müßten sich aber das Rüstzeug zu ihrem Berufe aus den 
Taubstummenanstalten holen. Für die zerstreut wohnenden Taubstummen 
könnten für die Predigt aber nur selten befähigte Geistliche gewonnen 
werden. Da seien in verschiedenen, nicht zu weit auseinanderliegenden 
Städten regelmäßig wiederkehrende Andachten für Taubstumme einzu- 
richten, in denen die Taubstummenlehrer die Predigt übernehmen müßten, 
während die weitere Pastorierung der Taubstummen ihren Ortspastoren 
überlassen bleiben könnte. Eine derartige Einrichtung trete in der Provinz 
Hannover 1904 ins Leben. i 

Die körperlich und geistig unternormalen Taubstummen gehörten aber 
in die »Taubstummenwelt« Sie seien frühzeitig abzusondern. Und da 


Sechste Bundesversammlung deutscher Taubstummenlehrer. 131 


in dieser Welt die gesprochene Sprache doch nicht die Verkehrssprache 
werden könne, möchte man mit geistig unternormalen Kindern nur ruhig 
die Schrift und die Gebärdensprache pflegen. Dann würde Zeit verbleiben, 
diese Unglücklichen, mehr als bislang es möglich sei, an ein arbeits- 
freudiges Leben zu gewöhnen. Und an die Anstalten für diese Kinder 
möchte sich später das Asyl anschließen, in dem sie als Erwachsene unter 
sachgemäßer Leitung je nach ihren Kräften ihr täglich Brot zum Teile 
selbst verdienen könnten. 

Die Ausführungen des Redners fanden die Zustimmung der Ver- 
sammlung. 

Am zweiten Versammlungstage referierte der Taubstummenlehrer Dr. 
P. Schumann aus Leipzig über »Die wissenschaftliche Ausbildung 
der Taubstummenlehrer«. Die von dem Referenten aufgestellten Leit- 
sätze fanden allseitige Aufnahme und es wurde der Bundesvorstand auf- 
gefordert, sie mit dem Vortrage den Unterrichtsministerien der deutschen 
Staaten einzureichen.!) 

Die Leitsätze lauten: 

1. Die Höhe der erzieherischen Aufgabe und die Schwierigkeit des 
unterrichtlichen Problems der Tanbstummenbildung rechtfertigt die Forde- 
rung einer gründlichen wissenschaftlichen Vorbildung der Taubstummen- 
lehrer neben ihrer praktischen Ausbildung. 

2. Als Grundlage der Didaktik und speziellen Methodik des 
Faches ist erforderlich die Kenntnis der allgemeinen Pädagogik in 
wissenschaftlicher Form, die Kenntnis der Psychologie, vor allem 
auch in ihren Abzweigungen der Kinderpsychologie, Psychopathologie und 
Sprachpsychologie, die Kenntnis vom Bau und von der Funktion 
der Sprachwerkzeuge und Sprachsinne und der darauf gegründeten 
Phonetik. Aus allgemein methodischen Gründen und zur Förderung des 
unumgänglich notwendigen Studiums der Fachliteratur und der Ge- 
schichte des Taubstummen-Bildungswesens ist wünschenswert 
die Kenntnis fremder Sprachen (Latein und Französisch oder Latein 
und Englisch). 

3. Die in den verschiedenen deutschen Ländern bestehenden Ein- 
richtungen zur Ausbildung von Taubstummenlehrern genügen diesen Forde- 
rungen nicht in vollkommener Weise und sind zeitgemäß umzugestalten. 
Vor allem ist zu erstreben, die Ausbildung der Taubstummenlehrer mit 
der Universität in Verbindung zu setzen. 

4. Als Zentrale der Ausbildung und als Prüfungsstätte empfiehlt sich 
deshalb die Gründung eines allgemeinen deutschen Taubstummenlehrer- 
Seminars — verbunden mit einer Übungsschule — in einer Universitäts- 
stadt. An dieser Anstalt hat jeder Taubstummenlehrer mindestens ein 
Jahr der auf drei Jahre berechneten Ausbildungszeit zu verbringen und 
dort die Prüfung abzulegen. | 

5. Mit dieser Erweiterung der Ausbildung ist naturgemäß eine Um- 


1) Nach der Drucklegung des Vortrages werden wir in den »Kinderfehlern« 
auf denselben zurückkommen. 
QF 


132 B. Mitteilungen. 


gestaltung der bestehenden Prüfungsordnungen verknüpft. Es sind obli- 
gatorische Prüfungen mit gesteigerten Anforderungen einzurichten, deren 
Bestehen die Berechtigung gewährt zum Taubstummenlehreramte und zur 
Leitung einer Anstalt.!) 

Bevor nach den arbeitsreichen Tagen das Fest in heiterem Kommerse 
ausklang, wurde die neue Arbeitsstätte, die Frankfurter Anstalt besucht. 
Die Anstalt ist nicht staatlich, nicht provinziell, sondern eine von einem 
Pflegeamte verwaltete Vereinsanstalt.e. In der wohlhabenden Großstadt, 
kommen die Gaben reichlich; so ist das Pflegeamt in der Lage gewesen 
das neue Anstaltsgebäude so zu erbauen und auszustatten, daß es in 
Deutschland seinesgleichen nicht hat. Für eine solche Stadt, wie Frank- 
furt ist, paßt auch ein solches Gebäude. Die Zöglinge aber, die dieser 
einen mehr privaten Charakter tragenden Anstalt zugewiesen werden, 
dürfen voraussichtlich in späterem Leben sagen: 

»Was ich als Ritter gepflegt und getan, 
Nicht will ich's als Kaiser entbehren.« 
E. O. D. 


4. Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich 
gefährdeten Jugend. 
Ein Reisebericht von J. Chr. Hagen, Direktor des Schulheims zu Falstad bei Drontheim. 


Schlußbemerkungen. 


Wenn ich so ausführlich bei der psychiatrischen Behandlungsweise 
mich aufgehalten habe, so hat dieses seinen Grund darin, daß ich in 
meiner praktischen Betätigung als Pädagoge immer aufs neue den Eindruck 
verstärkt erhalten habe, daß Schule und Haus in der Regel zu wenig ihre 
Aufmerksamkeit auf die Eigentümlichkeiten des Seelenlebens des Kindes 
und ihren Zusammenhang mit seiner physischen Konstitution richten. Man 
hört so oft, daß das Kind nicht wie die andern sei, oder daß es als ein viel 
versprechendes die Schulzeit begann, aber dann plötzlich unter die Nach- 
zügler geriet oder daß es in andern Fällen nicht zu zügeln oder nicht 
von schlechten verbrecherischen Handlungen abzuhalten war. In der Schule 
wie im Hause folgen unablässig Moralpredigten wegen Gleichgültigkeit, 
Faulheit, Schlaffheit, Ungehorsam usw. Es erhält Prügel, es wird gelieb- 
kost, erhält Versprechungen auf Belohnung, es wird gelobt und getadelt. 
Der eine Erzieher macht es bei seinem Kinde, wie er es beim andern sah, 
oder es heißt: So tat mein Vater mir, so tue ich meinem Kinde. Und die 
Früchte der Methode! Wie oft wird geklagt, daß sie ganz ausbleiben. Das 
eine Mal nach dem andern heißt es: es wird viel schlechter. Wer gibt 
sich Rechenschaft darüber, inwiefern die intellektuelle oder moralische 
Minderwertigkeit des Kindes etwa auf pathologischen Ursachen, einer funktio- 


1) Die Einrichtung besonderer Prüfungen für Vorsteher-Aspiranten wurde all- 
seitig als ein Fehler anerkannt. 


Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 133 


nellen Abnormität usw. beruht? Und doch, wenn der Erzieher sich in die 
pathologischen Verhältnisse gerade der Schuljugend vertiefen wollte, würde 
ganz gewiß mancher verhängnisvolle Fehler im Unterrichte wie in der 
sonstigen erzieherischen Behandlung vermieden werden. 

Wenn eine Statistik über nervöse, sowie geistig und sittlich ge- 
schwächte, zu stark gereizte, interesselose, unfähige oder sogar entartete 
und schließlich moralisch verdorbene und verkommene Schmerzenskinder 
in Familien und allen Gesellschaftsschichten möglich und vorhanden wäre, 
so würde man gleich begreifen, welche Frage von außergewöhnlicher Be- 
deutung das Studium der seelischen Fehler und der psychopathischen 
Minderwertigkeiten in dem Kindesalter und ihrer Behandlung ist, sagt 
Trüper. (Psychopathische Minderwertigkeiten im Kindesalter.) 

Bezeichnend ist es, daß das Schulwesen, welches sich mit den Ab- 
normen befaßt, abgesehen davon, daß es Tauben und Blinden zu helfen 
sucht, dabei stehen geblieben ist, den »Geistesschwachen« und Idioten sein 
Interesse zu widmen. Von psychopathischen Minderwertigkeiten außer 
diesen Kategorien ist selten die Rede. Freilich ist es Tatsache, daß die 
Schulen nun immer mehr mit Schulärzten ausgerüstet werden und daß 
in einigen Städten besondere Klassen für „Abnorme“ sich vorfinden, in 
der Tat ist aber das hier berührte Gebiet so ziemlich unbekannt, und es 
steht fest, daß die Schule die Kinder nicht genau genug kennt. Es 
kommen in der Kinderwelt in ziemlich großer Ausdehnung psychische Zu- 
stände vor, wo teils angeborene, teils erworbene Anomalien ihren Einfluß 
auf das innere Leben des Kindes gewinnen — und die, wenn sie auch 
nicht alle als Charakter von Geistesschwäche sich charakterisieren, doch 
Ursache eines größeren oder geringeren intellektuellen oder moralischen 
Defektes sind. 

Ist ein Kind leiblich schwach, richtet sich seine Behandlung in der 
Regel nach dem Rate des Arztes, seine besondere Verpflegung wird fest- 
gesetzt; zur Analyse und Begründung des psychischen Zustandes dagegen 
kommt es selten. Die Fehler mögen wachsen, ohne daß Eltern, noch 
weniger die Schule, auf diesen Zustand als etwas in strengem Sinne 
Kränkliches achten. 

Entweder wird das Kind rücksichtslos in die Schule getrieben; Exa- 
men muß es machen, oder man gibt sowohl Unterricht als Erziehung auf 
und weist ihm irgend eine Beschäftigung zu, sendet es an die See oder 
bringt es auf dem Lande unter. 

Für die breiten Schichten der Bevölkerung steht es in diesem Punkte 
am kläglichsten. In den überzähligen Klassen der Volksschule steht der 
Lehrer dem einzelnen zu fern. Seine psychische Konstitution wird nicht 
erkannt. Die Kinder, die nicht mitfolgen können, werden zum Extra- 
unterricht zusammengetan. Aber der Hauptzweck ihrer Übersiedelung ist 
in der Tat, die Normalklasse von den hemmenden Individuen zu befreien, 
— nicht die Unglücklichen zu heilen. Geht es auf keine andere Weise, 
dann weg mit ihnen; sie werden in Zwangsschulen, Erziehungsanstalten usw. 
untergebracht oder zur Pflege aufs Land gegeben. 

Freilich ist es nicht mein Zweck, hier zu behaupten, daß jeder Fehler, 


134 B. Mitteilungen. 


den das Kind begeht, als etwas Krankhaftes betrachtet werden soll, an 
dem es keine Schuld trägt. Mangel an Interesse, Unehrlichkeit, Trotz und 
dergl. ist nicht absolut ein Zeichen seelischer Anomalie. Aber wenn diese 
Erscheinung als eine unablässig begleitende Eigenschaft auftritt, dann gilt 
es, daß der Erzieher jedenfalls ein offenes Auge und ein psychologisches 
Verständnis hat, damit zweckmäßige Behandlung stattfinde. Ein Tatsache 
ist es, daß man hier oft der Erscheinung eines verbreiteten Übels gegen- 
über steht. Es wird einleuchtend sein, daß wir, was zu diesem Übel 
führen kann, beobachten und studieren müssen. 

Ich nenne zuerst das Gesetz der Vererbung. Sind die Eltern psycho- 
pathisch belastet, so werden sich in der Regel auch bei den Kindern, und 
zwar früh, psychopathische Minderwertigkeiten offenbaren. 

Dann aber müssen die erworbenen Minderwertigkeiten mit ihren bald 
somatischen, bald psychischen Ursachen genannt werden. Einige Kinder 
haben schwerere Krankheiten durchgemacht — Gehirnentzündung, Rha- 
chitis und dergl. — und tragen die Folgen davon. Bei anderen kommen 
die Eigentümlichkeiten von äußeren Beschädigungen, z. B. des Hirn- 
schädels, von Schlagen, Fallen, Genuß des Alkohols, Überanstrengung. Die 
psychischen Ursachen sind freilich auch in der Ordnung der Schule, aber 
zuerst und am meisten in der Behandlung des Elternhauses, und sonst 
überhaupt in den sozialen Zuständen zu suchen. 

Was die Schule betrifft, so illustriert sie noch allzu oft — trotz 
ihrer Paläste und ihrer reichen Ausstattung — die alte Wahrheit, daß 
»der Buchstabe tötet.« Noch wird in nicht geringem Grade mii einer 
überwältigenden Menge Kenntnisstoff, mit Begriffen und Termini getummelt, 
ohne daß das Kind zu Realitäten und zu einem organisch geordneten Ge- 
ddankenkreise gelangt. Nicht wenig Pedanterie macht sich in den ver- 
schiedenen Fächern geltend. Ich will nur die »Sloid« (kleine Handarbeit) 
und den Sprachunterricht nennen. Unablässig wechselnde Lehrbücher und 
Methoden, immer wechselnde Regeln mit ebenso variablen Ausnahmen 
können auch nicht der Zerstreuung und Verwirrung entgegenwirken. Es 
wird geklagt, daß der Zögling nicht nachkommen kann, zerstreut ist, 
während die Faulheit, die Trägheit ebensogut die Folge davon sein kann, 
daß man dem Kind Steine statt Brot geboten hat. 

Hinzu kommen die großen Belege der Klassen. Die schwächeren 
Elemente der Klassen von 40 Schülern!) sind in großer Gefahr, geistige 
Krüppel zu werden. Sicher ist, daß der Lehrer bewußt oder unbewußt 
hauptsächlich in seinem Unterricht die normal Begabten im Auge hat; ein 
anderes und noch wesentlicheres ist, daß — besonders in den großen 
Klassen — gewöhnlich keine Gelegenheit für den Pädagogen ist, die direkte 
individuelle Wirkung auf das Gemüt des Kindes zu üben, trotz der großen 
Bedeutung, die die Gemütsbewegungen für das Vorstellungs- und Willens- 
leben halten. Es ist auch klar, daß nichts geschickter ist, den Mut 
herunterzustimmen und die Willensenergie zu erschlaffen, als das unab- 

1) In manchen Staaten des deutschen Reiches gibt es leider noch zahlreiche 
Klassen von 80 bis 140 Schülern. Tr. 


Zur anstaltlichen Behandlung unserer sittlich gefährdeten Jugend. 135 





lässige Gefühl von Unterlegenheit, von dem Nichterreichen der geseizten 
Ziele; tritt dann Strafe, Vorwurf, Lächerlichmachen hinzu, so ist ungefähr 
was zur Vernichtung getan werden kann, getan. 

Obgleich aber die Schule ihren Teil der Schuld trägt, — die Haupt- 
verantwortlichkeit fällt auf die Familie und auf das soziale Leben im 
ganzen. 

Zuvor will ich an die Häuser, aus denen die Kinder der Volksschule 
und der Erziehungsanstalten kommen, erinnern. Wie oft dient da der- 
selbe Raum als Küche, Schlafzimmer, Wohnstuba und Arbeitsraum; in 
dieser verdorbenen Luft leben sie von Kind an und zwar von nahrungs- 
armer Kost und Kaffee zunächst, und Kaffee oder gar Alkoholgetränk ferner- 
hin schlechte Luft, schlechte E:nährung, Unsauberkeit, Unordnung und 
Unregelmäßigkeit! — Was anders kann man erwarten als eine schlechte 
körperliche Konstitution, schlechte Muskeln, schlechte Nerven und ein 
schlechtes Gehirn, die günstigste Bedingung pathologischer Zustände. 
Hinzu kommt die geistige Atmosphäre in vielen dieser Familien, die nicht 
selten im Leichtsinn gestiftet wurden; die Wahl des Gatten geschieht ganz 
oberflächlich ohne tiefere Gedanken über eintretende Elternpflichten. 
Wird die Abstammung der in den Anstalten untergebrachten Kinder ge- 
prüft, findet man häufig, daß Eltern oder Voreltern dem Trinken, Dieb- 
stahl, der Unsittlichkeit ergeben oder doch geneigt sind, oder daß sie 
krankhaft sind; bald sind es Nervenkrankheiten, bald Tuberkulose, Epi- 
lepsie, Syphilis und dergl. Sind die Eltern, die Geschwister oder die 
nächste Umgebung lasterhaft, so hat, wie es sich versteht, ihr Beispiel 
neben der erblichen Belastung noch einen verhängnisvollen Einfluß. 

Ganz natürlich müssen solche Verhältnisse psychopathische Zustände 
hervorrufen und fördern — um so viel mehr, als die Nahrung, die ein 
Familienleben unter solchen Verhältnissen in intellektueller Hinsicht bietet, 
oft wertlos oder sogar schädlich ist. Was wird in der Gegenwart der 
Kinder gesprochen und gelesen? Skandalöse Geschichten, schlüpfrige Lieder, 
Agitationsschriften, die zum Klassenhaß reizen — ein Strom von Gift! 
Man will etwas, das »reizt-! 

In ursächlichem Zusammenhange mit den psychopathischen Zuständen 
treten so auch die sittlichen Defekte auf, und diese bedingen die ganze 
ethische Physiognomie des sozialen Lebens. Sollen die prädisponierenden 
Ursachen getroffen werden, so muß die Aufmerksamkeit auch darauf ge- 
richtet sein. Eine Illustration des Zustandes findet man in der Presse 
und der Literatur. Die ruhige sachliche Abwägung ist außer Kurs; in 
den Vordergrund treten Personen und Parteien; die Tagespresse fließt von 
sensationellen Berichten und umständlichen Schilderungen bald des einen 
bald des andern Verbrechens. Literatur und Bühne müssen das möglichst 
Pikante und Nervenreizende bringen; sonst gefallen sie nicht dem Ge- 
schmack. Nach dem geschäftiger Arbeitstag soll man sich in Wirts- 
häusern, Schenken, Varieteen und dergl. erfrischen. Dice Folge des er- 
wähnten ist kurz und gut ein Leben über unsere Kraft. Ja — ich wage 
zu sagen: die Gesellschaft trägt ein starkes Gepräge psychopathischer 
Eigenschaften! 


136 B. Mitteilungen. 


Wenn der Stier an den Hörnern ergriffen werden soll, muß es da- 
durch geschehen, daß die humanitären Bestrebungen die psychopathische 
Belastung und Degeneration als einen wesentlichen Faktor des Mißverhält- 
nisses erkennen. Aus dieser Erkenntnis muß dann die Wirksamkeit der 
Schule, der Familie und besonders der Erziehungsanstalten ihr Gepräge er- 
halten. Es muß ein größerer Platz in der Bildung der Erzieher nicht 
nur für elementare Psychologie, sondern auch physiologische Psychologie 
und spezielle Kinderpsychologie gegeben werden. Besonders müssen die 
Schulen und Erziehungsanstalten auf dieser Grundlage sich aufbauen. Die 
letzten empfangen durchgehend ihre Kinder aus den ungünstigst gestellten 
Gesellschaftsschichten. Ein Blick auf die Lebensgeschichte der Anstalts- 
kinder zeigt — wie schon angedeutet — daß die meisten von ihnen in 
einer vergifteten Atmosphäre aufgewachsen sind. Es lautet so oft in den 
Personalien: »Die Eltern haben die Autorität über das Kind verloren — 
in der Tat: sie haben niemals Autorität gehabt! — Oder: »Aus der 
Schule ausgewiesen wegen Faulheit, Schwänzen« usw.; in der Tat ziemlich 
oft, weil das Elternhaus die Schule niemals unterstützte, sondern es die 
Schule als eine Plage anzusehen lehrte, oder weil das Kind vom ersten An- 
fang an durch schlechte Ernährung und Verpflegung geschwächt ist; sehr 
oft sind es ganz einfach das Beispiel und die Eigenschaften der Eltern, 
die man im Kinde vor sich hat. 

Da nun diese verschiedenen Minderwertigkeiten so häufig von neuro- 
pathischer und psychopathischer Art sind, kommt es darauf ar, daß der 
Pädagoge seinerseits die Voraussetzungen, um die einzelnen Fälle beur- 
teilen zu können, besitzt; sonst werden wir aus der traditionellen Ungefähr- 
behandlung nicht herauskommen. Arzt und Pädagoge müssen hier Hand 
in Hand gehen, damit die Behandlung rationell werde. Es muß, soweit 
geschehen kann, eine korrekte Prognose für die einzelnen Fälle gestellt 
werden; soll die Ursache des Zustandes entfernt werden, muß sie gekannt 
sein. Den Erzieliungsanstalten ist so ein in allgemeinen Worten gehaltener 
ärztlicher Schein, daß das Kind nicht an ansteckender Krankheit leidet 
usw. nicht ausreichend. Es muß Stoff genug zu einem So genauen 
Individualitätsbild, wie möglich, gesammelt werden. Bei mehreren An- 
stalten des Auslandes hatte man auch einen sogenannten Fragebogen. 

Von der Prognose ist die Art der Behandlung abhängig. In der 
Regel wird es zuerst gelten, leiblich das Kind aufzubauen: Muskel und 
Nerven, die ganze leidliche Konstitution muß erneuert werden. 

Wie die leibliche, so hat auch die seelische Hygiene in jedem ein- 
zelnen Falle ein entsprechendes Ziel: es gilt Charaktere zu bauen, das 
Gemütsleben zu stärken, d. h. das Willens- sowohl als das Gefühlsleben. 
Bald ist das eine, bald das andere mangelhaft und verkehrt; bald kommen 
perverse Willensäußerungen, bald vollkommener Mangel an Wille vor usw. 

Abnorme Zustände in der Kindesnatur müssen von dem Erzieher als 
solche erkannt werden und was ich hier besonders vor Augen habe — 
die Erziehungsanstalten müssen ihre Behandlung darnach einrichten. Sowohl 
Verpflegung und Aufsicht, als Erziehung und Unterricht müssen so indi- 
viduell als möglich angelegt werden. Eine Hauptbedingung für das Ganze 


Deutscher Kongreß für experimentelle Psychologie. 187 


wird der offene Verkehr zwischen Kind und Erzieher und ein von dessen 
Persönlichkeit beseeltes Zusammenleben in der Anstalt sein. Hieraus er- 
gibt sich, daß gefordert werden muß 1. bei dem Erzieher gründliche 
pädagogische Bildung und sittlich-religiöse Charakterfestigkeit; 2. die 
Teilung der Zöglinge in Gruppen, welche sich um eine reife und ge- 
schickte Kraft konzentrieren, 3. daß die Wirksamkeit der Anstalten ratio- 
nell auf physiologischen und psychologischen Prinzipien angelegt wird. um 
die korrekte individuelle Behandlung möglich zu machen und 4. daß die 
Kinder nicht zu früh auf Probe entlassen werden, sondern in der Anstalt 
verbleiben, bis man »dem Ideal« eines leiblich und seelisch gesunden Indi- 
viduums so nahe wie möglich kommt, wenn man es nicht ganz erreichen 
kann. Die Bestimmung unseres norwegischen Gesetzes betreffs »Entlas- 
sung auf Probe« muß von dem hier entwickelten Gesichtspunkte aus nur 
als eine in vielen Fällen gewagte Anweisung zum Experimentieren werden. 

Die Erfahrung zeigt, daß die psychopathischen Kinder lange Zeit zu 
ihrer Entwicklung bedürfen, und es scheint mir um soviel minder wahr- 
scheinlich, daß man, wie unser Gesetz vom 6. Juni 1896 andeutet, in 
einem oder zwei Jahren, was »ab ovo« verdorben oder vom 1. bis 12. 
15. Jahre oder weiterhin sich von Tag zu Tag immer unheilvoller aus- 
gebildet hat, wiederherstellen kann. 

Nein! Es bedarf psychologischer Planmäßigkeit und ausdanernder 
Arbeit, denn die Hauptsache ist, daß das Kind mit edlem Charakter und 
sittlicher Widerstandskraft wider die vielen verhängnisvollen Eindrücke und 
Einflüsse des Lebens ausgerüstet wird. 

Kenntnisse können gewiß in den meisten Fällen einigermaßen be- 
friedigend erlangt werden; das aber ist Nr. 2, Nr. 1 ist der Charakter, 
die sittlich-religiöse Betätigung. 


5. Deutscher Kongress für experimentelle Psychologie. 


Neben den Internationalen Kongreß für Psychologie, der alle vier 
Jahre tagt, tritt nunmehr auch ein deutscher Kongreß für experimentelle 
Psychologie, der zum erstenmal in der Zeit vom 18.—20. April 1904 in 
Gießen abgehalten werden soll. Die endgültige Tagesordnung ist noch 
nicht festgestellt; doch sind in einem Rundschreiben des Ausschusses 
(Prof. Dr. E. Müller-Göttingen und Prof. Dr. Sommer-Gießen) bereits 
25 angemeldete Vorträge aus den verschiedensten Gebieten der experimen- 
tellen Psychologie verzeichnet. Das Verzeichnis läßt darauf schließen, daß 
man auch eine Abteilung für pädagogische Psychologie bilden wird. 
Hierher gehörige Vorträge werden gehalten von Ament- Würzburg (Das 
psychologische Experiment an Kindern), Lay-Karlsruhe (Das Wesen und 
die Bedeutung der experimentellen Didaktik), Meumann-Zürich (Eine 
Erweiterung der experimentellen Gedächtnismethoden) u. a. Damit ist 
aber das, was für den Pädagogen Interesse hat, bei weitem nicht erschöpft. 
Wir hoffen, daß der Kongreß auch aus dem Kreise unserer Mitarbeiter 
und Leser zahlreich besucht wird. Ufer. 


138 C. Literatur. 


6. Schwachsinnige und Militärpflicht. 


Aus Erfurt wird uns berichtet: Nach einer Vereinbarung der Teil- 
nehmer am ersten Erfurter Hilfsschultage werden dieselben im Februar 
1904 dem Zivil-Vorsitzenden der Ersatz-Kommission ein Verzeichnis der 
schwachsinnigen Gestellungspflichtigen einreichen und den Antrag auf Be- 
freiung der letzteren vom Militärdienste stellen. 


C. Literatur. 





Mönkemöller, Geistesstörung und Verbrechen im Kindesalter. Samm- 
lung von Abhandlungen usw. von Ziegler und Ziehen. VI, 6. Berlin 1903. 
108 S. Preis 2,80 M. 

Die statistischen Zahlen über die Beteiligung der Jugend an der kriminalistischen 
Bewegung reden eine derart »beredte Sprache, daß der Staat im allgemeinen, der 
Richter, der Lehrer und der Verwaltungsbeamte im besonderen sich der Verpflich- 
tung nicht entziehen können, den Ursachen dieses Übels auf den Grund zu gehen. 
Ihnen hat sich in der neuesten Zeit noch der Arzt zugesellt, und ihm wird in der 
Zukunft bei der Heilung dieses Krebsschadens eine weit größere Domäne zufallen, 
als es bis jetzt im allgemeinen den Anschein hatte«. 

Das gut und lebhaft geschriebene Büchlein Mönkemöllers rechtfertigt eine 
ausführlichere Besprechung vor unseren Zeitschriftlesern. Ich wünsche ihm die 
verdiente Beachtung in den weitesten Kreisen. 

Mönkemöller bekämpft den Standpunkt Lombrosos, daß das Kind ein 
des moralischen Sinnes ertbehrender Mensch sei. Treten die von Lombroso als 
Gemeingut aller Kinder geschilderten Eigenschaften gehäuft bei einem jugendlichen 
Individuum auf, so ist es pathologisch oder gar geisteskrank. Von den Gesetzgebern 
aller Zeiten und Kulturländer ist das Kind in foro anders und milder beurteilt 
worden als der Erwachsene. Mangelnde Einsicht und Erfahrung, unfertiges Urteil, 
ungenügende psychische Hemmungen gegenüber plötzlich auftretenden Impulsen, 
größere Lebhaftigkeit und Labilität der Affekte, stärker entwickelte Nachahmungs- 
sucht, das alles sind Momente, die das Kind vor dem Strafgesetzbuch physiologisch 
minderwertig je und je erscheinen ließen. Eine absolute Aufstellung der Alters- 
grenze, an der sich die »Zurechnungsfähigkeit« einstellt, ist unmöglich. 

Welche Psychosen des Kindesalters führen zum Verbrechen? 
Von vornherein scheiden aus verständlichen Gründen bei der Betrachtung aus: der 
chronische Alkoholismus und die anderen Intoxikationspsychosen (Morphinismus, 
Cocainismus), die progressive Paralyse und die Gehirnsyphilis, und wegen ihrer rela- 
tiven Seltenheit auch die periodischen und zirkulären Psychosen. Letzteres möchte 
ich aus eigener Erfahrung bestreiten. Ich kenne eine Reihe von Fällen periodisch 
upd zirkulär geisteskranker Kinder mit auffallend gehäuften und schweren Recidiven. 
Allerdings glaube ich, daß sie weniger dem reinen manisch-depressiven Irresein zu- 
gehören, sondern fürchte vielmehr, daß sie über kurz oder lang in den großen 
Hafen der Dementia praecox einlaufen werden. Unter den akuten Psychosen nennt 
Mönkemöller die maniakalischen Erregungszustände (Zerstörungstrieb 
und Gewalttätigkeiten gegen die Umgebung in den schweren, überinütige Streiche 





C. Literatur. 139 








und Übertretung der Polizeivorschriften infolge des gesteigerten Lust- und Kraft- 
gefühls in den leichteren Fällen), die Melancholie (Selbstmorde) und die Paranoia. 
Bei der letzteren ist die systematisierende Form der Wahnbildung selten. Die 
Kinder produzieren verworrene und unklare Wahnideen, auf Grund deren sie, nament- 
lich wenn Sinnestäuschungen hinzutreten, Mord, Brandstiftung, Diebstahl usw. planen. 
Diese Charakteristik scheint mir den Schluß zuzulassen, daß Mönkemöller manches 
zur Paranoia rechnet, was ins Gebiet der Hebephrenie (Dementia praecox) ver- 
wiesen zu werden verdient. Besonders wichtig ist es, die sogenannten Vorbereitungs- 
stadien der Paranoiafälle richtig zu erkennen (Charaktereigentümlichkeiten, scheues, 
verschlossenes Wesen, Mißtrauen, verbissener Groll usw.). Einen ıecht breiten 
Raum unter den Geisteskranken der jugendlichen Verbrecherwelt nehmen die Epi- 
leptiker ein (Charakterdegeneration, Dämmerzustände mit Gewaithandlungen, Brand- 
stiftung, Wandertrieb). Weniger wichtig sind die Psychosen, die durch schwere 
Kopfverletzungen hervorgerufen sind. Sie sind doch wohl nicht so häufig. Auf 
dem Boden der Hysterie erwächst die pathologische Lüge (falsche Aussagen vor 
Gericht, phantastische Anschuldigung Erwachsener wegen angeblicher Sittlichkeits- 
delikte). Auch manche Zwangsvorstellungen führen das Kind zum Verbrechen 
(Brandstiftung). Zutreffend ist der Hinweis darauf, daß die Pubertätsentwick- 
lung zwar an sich keine Psychose ist, aber doch mit nicht zu unterscbätzenden 
Störungen des psychischen Gleichgewichts einhergeht (Flegeljahre!), und vor allen 
Dingen schlummernde Dispositionen zum Ausbruch bringt. In diesen Lebens- 
abschnitt fällt auch das menstruale Irresein und der Hang zu exzessiver 
Masturbation, mit der Neigung zu Delikten gegen Altersgenossen usw. Dem großen 
Gebiete des angeborenen Schwachsinns und der psychopathischen Minder- 
wertigkeit ist von Mönkemöller mit Recht eine eingehende Besprechung ge- 
widmet. Auch das schwankende Bild der Moral insanity scheint mir richtig 
gewürdigt und gezeichnet, wenn neben den ethischen Defekten gewisse, wenn auch 
nicht so in die Augen springende, intellektuelle Schwächezustände und körperliche 
nervöse Krankheitssymptome postuliert werden. 

Die Feststellung des Krankheitsmomentes bei jugendlichen Verbrechern 
ist nicht leicht. Vor Hinein-Suggerieren bei der Exploration ist dringend zu warnen. 
Bewußte Simulation gehört zu den Seltenheiten. 

Bei der Verwertung der sogenannten Degenerationszeichen als körper- 
liche Dokumente für geistige Defekte ist größte Vorsicht geboten. Zeichen körper- 
licher Entartung am Schädel, an den Ohren, den Zähnen, Genitalien usw. kommen 
allerdings bei verbrecherischen Kindern nicht selten vor, finden sich aber auch bei 
ethisch und intellektuell normalen. Die Verbrecherphysiognomien lassen ganz im 
Stich. Von größerer Bedeutung bei der Beurteilung ist eine Reihe nervöser 
Störungen, die den Rückschluß gestatten, daß wir kein normales Individuum vor 
uns haben: Schielen, Augenzittern, Pupillen- und Facialisdifferenzeun, Tics, Stottern 
u. a. m. Tätowierung fand Mönkemöller sehr häufig, kann aber darin nichts 
Charakteristisches sehen. Das Motiv dazu ist meist kein tieferes als der Nach- 
ahmungstrieb. 

Unter den ätiologischen Faktoren ist neben der erblichen Belastung vor 
allen Dingen hervorzuheben der Alkoholinißbrauch der Eltern mit seinen häuslichen 
Konsequenzen (Mißhandlungen, unzureichende Ernährungs- und Wohnungsverhält- 
nisse). Eine direkte Vererbung von verbrecherischer Neigung war nur in einem 
geringen Prozentsatz zu ermitteln. Uncheliche Geburt, kümmerliche soziale Lage, 
Tod der Eltern, schlechte Behandlung in der Pflege, die Prostitution der Umgebung, 





140 C. Literatur. 


m aa ne rn 


Vagabondage und körperliche Gebrechen (entstellende Krankheiten) vervollständigen 
die Summe derjenigen Umstände, die man Verbrechermilieu nennt. 

Die Verbrechen des Kindesalters sind mannigfachster Art. Obenan steht 
der Diebstahl, namentlich der sogenannte Bandendiebstahl, Sachbeschädigung, dann 
Betrügereien und Unterschlagung, Schwindelei und Verleumdung, sowie Körper- 
verletzung. Seltener ist Raub, Mord, Aufruhr und die Sittlichkeitsverbrechen. Die 
Opfer der Päderasten, der Prostitution und der Vagabondage gehören hierher. Die 
Brandstiftung beruht auf verschiedener Grundlage (Schwachsinn, Epilepsie, Hysterie, 
Zwangsvorstellung) und ist kein spezifischer »Trieb«. 

Von den Vorschlägen zur Verhütung der Geisteskrankheiten von 
der Ascendez her ist nur der Kampf gegen den Alkoholismus der Erzeuger ernst 
zu nehmen, alle sonstigen gesetzlichen Präventivmaßregeln werden Utopien bleiben. 
Die prophylaktischen Aufgaben im Hause bestehen in ausreichender Ernährung, 
Entfernung von den truuksüchtigen Eltern, Öffentlicher Fürsorge für die Kinder, 
Verbot des Straßenhandels und der Teilnahme an zweideutigen Schaustellungen und 
Gerichtsverhandlungen. Die Schule hat bereits segensreich eingegriffen durch die 
Errichtung von Nebenklassen und Hilfsschulen. Weil sich das Institut der Schul- 
ärzte — vor allem psychiatrisch gebildeter — nicht an allen Schulen schaffen lassen 
wird, so ist die verständnisvolle Mitwirkung der Lehrer dringend erwünscht. 

Die Unterbringung von geisteskranken Kindern ist recht schwer. Es bleibt 
meist nur die Idiotenanstalt als ultimum refugium. In ihrer jetzigen Beschaffenbeit 
ist sie nicht zweckmäßig wegen der zu großen intellektuellen Unterschiede der 
Unterzubringenden, so daß sich die Errichtung von »Nebenabteilungen« in Anlehnung 
an die Idiotenanstalten empfiehlt. 

In strafrechtlicher Beziehung fordert Mönkemöller mit Recht, daß bei 
Delikten Jugendlicher häufiger als es jetzt geschieht, nicht die Frage nach der Ein- 
sicht für die Strafbarkeit der Handlung, sondern nach der Zurechnungsfähigkeit im 
psychiatrischen Sinne aufgerollt werde. Die juristisch beliebten Verweise sind in 
den meisten Fällen wirkungslos. Die Nachteile des Gefängnisaufenthaltes sind hin- 
länglich bekannt. Die immer häufigere Anwendung der bedingten Strafaussetzung 
bei jugendlichen Verbrechern ist vom psychiatrischen Standpunkte aus mit Freuden 
zu begrüßen. 

Soweit es sich nicht um akute Psychosen handelt, ist der Aufenthalt jugend- 
licher geisteskranker Verbrecher in Irrenanstalten unzweckmäßig. Der Ort, wo das 
Gros untergebracht wird, ist jetzt und für die absehbare Zukunft die Besserungs- 
anstalt, gegen die Mönkemöller theoretische und praktische Bedenken vorbringt, 
Die Behandlung und Einwirkung auf die Zöglinge wird sich dort vornehmlich dar- 
nach richten müssen, ob es sich um geistig normale oder krankhaft veranlagte und 
abnorm entwickelte Menschenkinder handelt. Sodann ist die Frage zu lösen, wie 
die verschiedenen Krankheitskategorien sich zu den strengen Erziehungsgrundsätzen 
stellen. Der einfache Schwachsinn wird andere Behandlung erheischen als der mit 
ethischer Verkommenheit, gar nicht zu reden von den Epileptikern und Paranoikern 
mit ihrer krankhaft gesteigerten Reizbarkeit und Zornmüdigkeit. Was Mönkemöller 
über die körperliche Züchtigung, Isolierung, Bettbehandlung, ländliche Beschäfti- 
gung usw. in der Fürsorgeerziehung, vorsichtig das Für und Gegen abwägend, vor- 
bringt, wird den Beifall aller Psychiater und — so hoffe ich — auch der Pädagogen 
finden. Daß er für den psychiatrisch gebildeten Arzt einen hervorragenden Platz 
im Betriebe der Besserungsanstalten beansprucht, wird ihm selbst der enragierteste 
Fürsorgeerzieher nicht verübeln. 

Jena. Dr. Strohmayer. 


C. Literatur. 141 


Möbius, P. J, Ausgewählte Werke. Bd. I: J. J. Rousseau. Leipzig, Am- 
brosius Barth, 1903. 8°. 312 S. Preis 3 M. 

Ich möchte manchem einen Dienst erweisen, indem ich ihn auf die »Patho- 
graphiens aufmerksam mache, die aus der Feder des bekannten Leipziger Neuro- 
logen stammen. Was sind »Pathographien« und was will der Autor damit? Er will 
der Biograph des »Pathologischen« sein, das bei den Geistesheroen so iunig mit der 
Größe verwoben, ja sogar manchmal deren Grundlage ist. Der gewöhnliche Bio- 
graph tappt an solchen Dingen verständnis-, wenn nicht taktlos herum, legt mehr 
unter als aus und braucht. wenn er ehrlich sein will, in manchen Fällen wie der 
Richter einen Sachverständigen. Der berufenste Sachverständige — wenn es sich 
um psychische Abnormitäten handelt — ist der Psychiater. Da hilft keine Philo- 
sophie, keine Psychologie, da bedarf es positiver Kenntnisse von den krankhaften 
Seelenzuständen. Und dies um so mehr, je dünner die Wand ist, die den »Wahn- 
sinn« vom großen Geiste trennt. Die Herren Biographen müssen sich die Mit- 
wirkung des Psychiaters wohl oder übel gefallen lassen, wenn sie nicht vorzichen, 
sie da mit Freuden zu begrüßen, wo sie das eigene Rüstzeug im Stiche läßt. Ver- 
kehrt aber wäre es, wollte man die psychiatrische Betrachtungsweise als etwas 
Despektierliches aus sentimentalen Rücksichten hindern. »On doit des égards aux 
vivants; on ne doit, aux morts, que la vörite.« 

Es ist ein Verdienst von Möbius, den gekennzeichneten, mühevollen Weg 
beschritten zu haben. Möge ihn das Bewußtsein lohnen, daß etwas Brauchbares 
dabei herauskommt! Das zeigt schon die erste Pathographie von J. J. Rousseau. 
Gerade sie wird manchem Pädagogen die Gestalt Rousseaus in vollständig neuem 
Lichte erscheinen lassen. Denn wie wenige wissen, daß er an Verfolgungswahnsinn 
litt und daß seine »Bekenntnisse« die Verteidigungsschrift eines Paranoikers sind! 

Vor kurzem ist als II. und III. Band die Pathographie unseres Dichterfürsten 
Goethe erschienen; vorgesehen sind die von Schopenhauer und Nietzsche. 

Und nun noch ein Wort an die Vertreterinnen des schönen Geschlechts! 
Möchten doch recht viele an die Lektüre des Mannes herantreten, der zur Zeit 
wohl der bestgehaßte unter den Männern ist, weil er den Weibern in einem kleinen 
Büchlein mit einem herausfordernden Titel einige bittere Wahrheiten sagte. Dann 
würden sie sehen, daß Möbius kein öder Stänker ist, der mit Kleinkram handelt, 
sondern ein Mann, der turmhoch die weiblichen Kläffer überragt, der nicht witzelt 
und nicht geistreichelt, sondern ernste Arbeit tut. Also lest Möbius getrost und 
solltet Ihr auch keinen anderen Nutzen ziehen, als — objektive Betrachtungsweise 
und gutes Deutsch kennen zu lernen. 

Der Verlagsbuchhandlung gebührt ein Dank extra dafür, daß sie Möbius zu 
so billigem Preise in so vornehmem Gewande dem gebildeten Publikum zugäng- 
lich macht. 

Jena. Dr. Strohmayer. 


Verhandlungen der IV. schweizerischen Konferenz für das Idioten- 
wesen zu Luzern am 11. und 12. Mai 1903. IJlerausgegeben vom Konferenz- 
vorstande. Zu beziehen für die Schweiz vom Sekundarlehrer C. Auer in Schwan- 
den (Kanton Glarus) zum Preise von 1,50 Fr., für Deutschland vom Oberlehrer 
J. Thumm in Stetten i/Remstal (Württemberg) zum Preise von 1,20 M, mit 
Porto 130 M. 

Es ist erfreulich, zu vernehmen, daß die Schweiz, die Heimat- und Wirkungs- 
stätte des großen Pestalozzi, im Sinne seiner Ideen auch den Schwachen am 

Geiste wirksame Fürsorge angedeihen läßt und ihre Angelegenheiten auf diesem 








142 C. Literatur. 





Gebiete durch eine eigene Konferenz zu fördern sucht. Die Verhandlungen der 
IV. schweizerischen Konferenz für das Idiotenwesen, deren Bericht jetzt vorliegt, 
legen von den dortigen Bestrebungen beredtes Zeugnis ab. Wir beglückwünschen 
die Konferenz zu ihren Erfolgen und versichern ihr, daß wir ihre Verhandlungen 
stets mit lebhaften Interesse verfolgen werden. 

Der Bericht bringt außer den Vorträgen der Konferenz noch eine Übersicht 
über die schweizerischen Erziehungs- und Pflegeanstalten für Geistesschwache und 
über die Spezial- und Nachhilfeklassen für schwachbegabte Kinder und im Anhange 
die vorzüglichen Abbildungen der vorhin genannten Erziehungs- und Pflege- 
anstalten. Der Gesamtinhalt des Berichts ist äußerst lehrreich; wir können aber 
hier nur auf eine kurze Beleuchtung einzelner besonders wichtigen Angelegen- 
heiten eingehen. 

Der Vorsitzende der Konferenz, Sekundarlehrer C. Auer-Schwanden, be- 
richtet über den gegenwärtigen Stand der Fürsorge für geistesschwache Kinder 
in der Schweiz und liefert in seinen Ausführungen den Beweis, daß die Schweiz 
mit ihren Bestrebungen auf dem Gebiete der Schwachsinnigenbildung tüchtig vor- 
wärts gegangen ist. Es bestehen in der Schweiz 22 Erziehungs- und Pflegeanstalten 
für Geistesschwache mit 958 Zöglingen, 53 Spezialklassen für schwachbefähigte Kinder 
mit 1096 Schülern in 18 größern Orten und 36 Nachhilfeklassen mit 318 Kindern 
an verschiedenen Schulen. Danach genießen in der Schweiz 2372 schwach- 
begabte Kinder cine besondere Erziehung und Bildung, und das will bei einer 
Bewohnerzahl von etwa 3 Millionen Seelen schon viel sagen. Möchten dem Bei- 
spiele der Schweiz doch auch diejenigen Staaten bald folgen, die bisher wenig oder 
gar nichts zum Wohle der geistig Schwachen getan haben. 


Einen wertvollen Beitrag zur Symptomatologie, Ätiologie und Prophylaxe des 
Schwachsinns bietet der Vortrag des Dr. A. Ulrich-Zürich, welcher den Schwach- 
sinn bei Kindern, seine anatomischen Grundlagen, seine Ursachen und 
seine Verhütung behandelt. Den Ausführungen des Referenten liegen folgende 
Gedanken zu Grunde: »Schwachsinn ist der Sammelname für die mannigfaltigen 
verschiedenen geistigen Schwächezustände. Der Schwachsinn gilt als die seelische 
Äußerung einer körperlichen Erkrankung des Gehirns. Die Erkrankung ist an- 
geboren oder erworben, sei es bei der Geburt, sei es in frühester Jugend. Die 
anatomischen Grundlagen der Gehirnerkrankung sind verschiedener Art: Wachs- 
tumshemmungen, Entwicklungsfehler, Mißbildungen, entzündliche und ähnliche Vor- 
günge im Gehirn. (Zu kleines, zu großes Gehirn, Fehlen einzelner Teile, Erweite- 
rung der Hirnhöhlen durch Flüssigkeitsansammlung usw.) Als Ursachen der dem 
Schwachsinn zu Grunde liegenden Gehirnerkrankung kennen wir: Die erbliche Be- 
lastung, die Vergiftung der Keimzellen mit Alkohol und andern Giften, Syphilis und 
Tuberkulose der Eltern, Ausfall der Tätigkeit der Schilddrüse, Erkrankungen, Ver- 
giftungen und Verletzungen des kindlichen Gehirns vor, während und nach der 
Geburt. Die vorbeugenden Maßnahmen zur Verhütung des Schwachsinns be- 
stehen theoretischerseits in der Erforschung der Ursachen, praktischerseits in der 
Bekämpfung der bekannten Ursachen. Die Hauptaufgaben sind: Aufklärung des 
Volkes über das Wesen und die Folgen der erblichen Belastung, die Bekämpfung 
des Alkoholmißbrauchs, sowie anderer Gewohnheitsgifte, die Bekämpfung der Syphilis, 
der Tuberkulose, des Kretinismus, der Krankheiten überhaupt und der Armut und 
des Elends. Fernere Mittel zur Verhütung des Schwachsinns sind: Schonung und 
richtige Pflege der Mutter während der Schwangerschaft und Schonung der Kinder 
vor, bei und nach der Geburt.« 


C. Literatur. 143 


Das Korreferat des Direktors F. Kölle-Zürich verbreitet sich hauptsäch- 
lich über die Ursachen des Schwachsinns. Redner unterscheidet folgende Gruppen 
von Ursachen: »Ursachen, die wirklichem Verschulden der Menschen zur Last 
fallen, wie Trunksucht, absichtliche Verletzungen der Mutter während der Schwanger- 
schaft, Lues u. dergl. Ursachen, die durch Beobachtung einfacher Regeln etwa hätten 
verhindert werden können, wie Verwandtschaftsheiraten oder Heiraten erblich be- 
lasteter Familienglieder, Bewohnen ungesunder Häuser, Unachtsamkeit gegenüber 
kleinen Kindern. Ursachen, denen gegenüber wir machtlos sind: Erkrankungen des 
Kindes in den ersten Lebensjahren verschiedenster Art. Und Ursachen, die uns 
bisher gänzlich unbekannt sind.« 

Es erscheint in der Tat lohnend, das Nähere darüber in dem Berichte nach- 
zulesen, der auch mehrere gute Abbildungen von Gehirnen verschiedener Schwarh- 
sinnigen zur Verdeutlichung der Hirndefekte bringt. In der Diskussion weist 
Dr. Ganguillet-Burgdorf auf die Erforschungen eines französischen Arztes hin, 
der neue Gesichtspunkte auf die Art und Weise, wie Schwachsinn entsteht, be- 
leuchtet. Der französische Arzt soll bei der Untersuchung der Gehirne toter Neu- 
geborenen gefunden haben, daß oft schon vor der Geburt Blutergüsse ins Gehirn 
stattfinden, deren Ursachen in Schädigungen der Mutter während der Schwanger- 
schaft, in geschwächter Konstitution und in Vergiftungen zu vermuten sind. Des- 
halb wäre es erwünscht, wenn die ärztliche Forschung in Zukunft mehr als bisher 
die vorgeburtlichen Verhältnisse und Umstände berücksichtigen würde. 


Die beiden folsenden Vorträge behandeln aus der Praxis heraus die Stellung 
der Lehrkräfte und übrigen Angestellten in den Anstalten für Schwachsinnige 
und die Stellung der Lehrkräfte an den Spezialklassen für Schwachbegabte. Die 
Forderungen der Referenten, welche sich im allgemeinen noch in recht bescheidenen 
Grenzen halten, sind durchaus zu billigen; unsere besser gestellten Anstalten er- 
füllen diese in der Hauptsache schon seit längerer Zeit, freilich könnte manches 
auch bei uns noch besser sein. Wunderlich jedoch mutet es uns an, wenn wir 
erfahren, daß an den Schweizer Anstalten fast durchweg nur Lehrerinnen angestellt 
sind, oft noch ohne Patent. Wir haben im allgemeinen gegen die Lehrerinnen 
nichts einzuwenden, allein eine Erziehungsanstalt für Geistesschwache ohne eine 
entsprechende Anzahl männlicher Lehrkräfte möchten wir nicht bestehen wissen; 
denn wenn irgendwo männlicher Einfluß und männliche Einwirkung erforderlich 
sind, so ist es bei diesen Anstalten der Fall, in denen ja der größte Teil der In- 
sassen aus Knaben besteht, die zu ihrer Erziehung den Lehrer nicht gut entbehren 
werden können. 

Auch vermögen wir uns mit der Auffassung nicht einverstanden zu erklären, 
daß die Spezialklasse für Schwachbegabte ein integrierender Bestandteil der Volks- 
schule sein solle. Wir richten unsere Milfsschulen für schwachbegabte Kinder als 
selbständige Schulanstalten ein und gebert ihnen im Interesse ihrer besseren Entwick- 
lung und ersprießlicheren Wirksamkeit volle Selbständigkeit. Wir weisen deshalb die 
Hilfsklassen oder Nachhilfeklassen vollständig ab, da diese Einrichtungen doch mehr 
oder weniger nur etwas Halbes bedeuten. Unsere Erfahrungen mit der Begründung 
selbständiger Hilfsschulen sprechen für Beibehaltung und weiteren Ausbau dieser 
Anstalten; aus diesem Grunde empfehlen wir, auch dort Versuche mit der Er- 
richtung selbständiger Schulen anzustellen, wir hegen dabei die feste Überzeugung, 
daß unseren Hilfsschuleinrichtungen dann der Vorzug vor den Nachhilfeklassen ge- 
geben werden wird. — Die Forderungen einer speziellen beruflichen Ausbildung der 
IIılfsschullehrer billigen wir in jeder Beziehung und zollen den dortigen diesbezüg- 





144 C. Literatur. 


lichen Bestrebungen, den Veranstaltungen von Bildungskursen für Lehrer an Spezial- 
klassen, unsere Anerkennung. Auch wünschen wir unseren Spezialkollegen Erfolg 
in materieller Hinsicht, wie er uns schon vielfach zuerkannt worden ist. Die 
Lehrer der Hilfsschule müssen manches Angenehme entbehren; der beständige Ver- 
kehr mit geistig schwachen Kindern und die Arbeit an ihnen stellen hohe Anforde- 
rungen an die Arbeitskraft der Erzieher, deshalb ist ihnen eine materielle Auf- 
besserung und selbständige Stellung wohl zu gönnen. 

Der letzte Vortrag befaßt sich mit der Sorge für die Schwachsinnigen 
und Schwachbegabten nach ihrem Austritt aus den Anstalten bezw. 
Spezialklassen. Man will in der Schweiz zur Erleichterung des Eintritts der 
Geistesschwachen in das öffentliche Leben ähnliche Maßregeln treffen, wie sie bei 
uns die Hilfsschulvereine (Leipzig, Königsberg i/Pr., Berlin) vorgesehen haben. Es 
liegt auf der Iland, daß die Hilfsschulen und Erziehungsanstalten ihr Werk erst 
dann ganz erfüllen werden, wenn sie ihren Zöglingen auch nach ihrer Entlassung 
besondere Fürsorge angedeihen lassen wollten. Da der vorliegende Vortrag einen be- 
achtenswerten Beitrag zur Lösung der Fürsorgeaufgaben nach dieser Seite hin bietet, 
so lassen wir die Thesen desselben zur weiteren Beachtung und Prüfung hier folgen. 

1. Erziehung und Unterricht in Anstalten und Spezialklassen für Schwach- 
sinnige und Schwachbegabte sind so zu gestalten, daß auf ein möglichst selbständiges 
Fortkommen der austretenden Zöglinge Bedacht genommen wird. 

2, Zu diesem Zwecke ist neben den Schulfächern dem Handfertigkeitsunterricht 
und den Handarbeiten alle Aufmerksamkeit zu schenken. 

3. Es sollen nach dem Vorgehen der »Schweizerischen Gemeinnützigen Ge- 
sellschaft«e in Orten, wo Anstalten und Spezialklassen für Schwachsinnige und 
Schwachbegabte errichtet sind, Kommissionen ernannt werden, die Patrone für aus- 
tretende Zöglinge bestellen. 

4. Diese Patrone haben den erwerbsfähigen Schwachsinnigen geeignete Plätze 
zu suchen und ihnen mit Rat und Tat an die Hand zu gehen. 

5. Für die nur zum Teil erwerbsfähigen Schwachsinnigen sind Asyle mit land- 
wirtschaftlichem Betrieb zu gründen. Der Staat leistet angemessene Beiträge und die 
Gemeinden, deren Ortsangehörige hier versorgt werden, sorgen für genügende Kostgelder. 

6. Damit für die unglücklichen Idioten allseitig gesorgt werde, sind Blödsinnige 
und erwerbsunfähige Schwachsinunige in besonders zu gründenden Pflegeanstalten 
unterzubringen. Die finanzielle Unterstützung geschieht wie bei These 5. 

Jeder der Vorträge besteht aus einem Referat und einem Korreferat; diese 
Art der Behandlung der Themen hat manches für sich. Es wird dadurch einer ein- 
seitigen Auffassung der Aufgabe vorgebeugt und eine gründliche Beleuchtung des 
Gegenstandes von verschiedenen Gesichtspunkten aus erzielt. Würde es sich nicht 
empfehlen, bei unseren Konferenzen und Verhandlungen auch in dieser Art und 
Weise die Themen zu behandeln? — 

Der Schweizer Konferenz-Bericht erörtert die Beantwortung schwerwiegender 
Fragen auf dem Gebiete des Schwachsinnigenbildungswesens und zeigt auch, wie 
einzelne Aufgaben dieses Gegenstandes zu einer zweckmäßigen Lösung geführt 
werden können. In anderer Beziehung aber gibt er Aufschluß über die anerkennens- 
werten Fürsorgebestrebungen für Geistesschwache eines Staates, der mit seinen 
humanen Einrichtungen an die Spitze der Völker gestellt zu werden verdient. Wir 
empfehlen deshalb den Bericht zur Beachtung, wünschen ihm weite Verbreitung 
und rufen unseren Schweizer Kollegen cin kräftiges: »En avant!« zu. 

Stolp i;Pom. Fr. Frenzel. 





Druck von Hormann Boyer & Söhno (Beyer & Mann) in Langensalza. 














A. Abhandlungen. 


l. Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache 
von Gesetzesverletzungen Jugendlicher.!) 


Von 
J. Trüper. 


(Fortsetzung.) 


4. Während der Drucklegung dieser Fortsetzung erfolgte die 
Freisprechung des Prinzen Prosper Arenberg vor dem Kriegs- 
gericht. ‚Sie hat wieder einen Sturm gegen die Autorität der Regie- 
rung und die Militärjustiz wie im Falle Hüssener hervorgerufen. 
Selbst Blätter, wie die »Tägliche Rundschau«, der man wahrlich keine 
Gegnerschaft gegen Regierung und Militär vorwerfen kann, bleibt 
hinter der Affäre »zu viel Unbehagliches, ja geradezu Unheimliches 
zurück«. Auch für uns ist das der Fall, und zwar noch in einer 
andern Richtung, als die Tagespresse die Angelegenheit ausbeutet. 

Wir können darum nicht umhin, ihn als ebenbürtiges ja über- 
legenes Seitenstück zu Fischer, Hüssener und vor allem zu Dippold 


1) Wegen der großen aktuellen Bedeutung dieser Frage für die geplante 
Reform der Strafrechtspflege habe ich den in Halle gehaltenen Vortrag während 
der Drucklegung noch durch Eınfügung mehrerer typischer Beispiele wesentlich er- 
weiter. Der Schluß kann darum leider erst im nächsten Hefte erfolgen. Die 
Sonderausgabe des »Berichtes über die Verhandlungen der V. Ver- 
sammlung des Vereins für Kinderforschung am 11. und 12, Oktober 
in Halle a. S.« erscheint aber schon jetzt und ist zum Preise von 1 M durch 
den Vereinskassenwart, Herrn Lehrer STUKENBERG, Sophienhöhe bei Jena, wie durch 
den Buchhandel zu beziehen. Mein Vortrag kommt dort auch in erweiterter Form 
zum Abdruck. 

Die Kinderfehler. IX. Jahrgang. j 10 


146 A. Abhandlungen. 





zu betrachten und auch an diesem Beispiel abermals zu zeigen, wie 
teuer unser Volk die geringe Achtung der Jugendforschung und 
Jugenderziehung als Wissenschaft und Kunst seitens der Macht- 
habenden bezahlen muß und wie rückständig in dieser Hinsicht 
unsere Justiz wie auch unsere Militärverwaltung ist. Denn Prinz 
Prosper Arenberg gehörte zu den psychopathisch minder- 
wertigen Gesetzesbrechern schon von Kind auf. 

Die Zeugen bekundeten vor Gericht, ein Vetter des Prinzen von 
väterlicher Seite sei geisteskrank. Die Mutter des Prinzen sei hoch- 
gradig nervös. Von jenem her kann er zwar nicht direkt erblich 
belastet sein, aber die Tatsache deutet doch an, daß auch in der 
väterlichen Familie Psychopathien zu Hause sind, daß der Prinz also 
mütterlicher- wie väterlicherseits die psychopathische Herabminderung 
wahrscheinlich als Erbteil empfangen hat. 

Mit dieser erblichen Belastung stimmt überein, daß der Prinz 
nach Aussage der Zeugen schon als Knabe sich als Psychopath offen- 
barte und an Verfolgungswahn litt; er sei schon als Knabe von 
7 Jahren mit einem geladenen Revolver umhergegangen — nebenbei 
bemerkt zugleich ein Zeichen von einer ganz unverantwortlichen 
Erziehung, die das ermöglichte. 

Der hervorstechenste Zug der Entartung seines Charakters war 
die Grausamkeit. Schon als achtjähriger Knabe hat der Prinz 
öfter Fische gefangen, den Tieren die Augen ausgestochen, den Bauch 
aufgeschlitzt und sie dann fortgeworfen. Auch hat er in Fallen 
Katzen gefangen und ihnen die Pfoten abgeschnitten, damit sie, wenn 
er die Hunde auf sie hetzte, sich nicht wehren konnten. Die Herzogin 
hatte dem Prinzen einen Seidenspitz geschenkt, er hetzte einen bös- 
artigen Hund auf das Tierchen und während beide miteinander 
kämpften, biß der jugendliche Prinz, der bald darauf bei den Kürassieren 
eintrat, dem Seidenspitz den Schwanz ab. Als junger Offizier hat 
der Angeklagte einen ausgegrabenen Dachs an den Hinterläufen auf- 
gehangen und das Tier zwei Tage lang mit dem Kopf nach unten 
hängen lassen. Der Prinz kam oft frühmorgens betrunken nach 
Hause; er stach dann mit dem Degen nach seinem Hunde und das 
Tier biß nach dem Herrn. Dann streichelte er das Tier und wusch 
ihm das Blut ab. In Afrika ließ er störrigen Kamelen Feuer unter 
dem Schwanz anzünden und wenn nun die Tiere wie von der Tarantel 
gestochen aufsprangen, freute sich der Prinz kindisch darüber. Wenn 
ein Ochse geschlachtet wurde, kam der Prinz schnell hinzu und 
freute sich über die Todeszuckungen des Tieres. Eingeborene und 
seine Hunde hat er in Afrika in der entsetzlichsten Weise gemißhandelt. 


Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 147 


Gegen Mitmenschen war der Prinz nicht viel anders. Er war 
mitunter sehr grob und gebrauchte manchmal Ausdrücke, wie sie 
ein gebildeter Mensch nicht benutzt, bezeugt der Stallmeister des Vaters. 
Gegen seine Lehrer betrug er sich ungebärdig. Er prügelte sie, so 
daß die meisten baldigst ihre Stellung aufgaben. Auf einem Ritt in 
Südafrika schoß er plötzlich dem mitgenommenen Feldgeistlichen mit 
dem Revolver unmittelbar an der Nase vorbei. Es ist darum wohl 
kaum anzunehmen, daß er den Bastard Cain im Verfolgungswahn 
getötet hat, sondern im Alkoholrausche aus purer Grausamkeit, und 
die Behandlung des Halbtoten spottet ja auch jeder Beschreibung. 

Der Prinz war dazu Alkoholist, vielleicht schon als Kind dazu 
erzogen, den Sitten in solchen Kreisen entsprechend; denn wenn er 
seine Lehrer prügeln und Tiere quälen durfte, dann wird man gewiß 
auch nichts dagegen gehabt haben, daß er täglich sein Quantum 
alkoholischer Getränke zu sich nahm, und der Alkohol hat natürlich 
bei dem Psychopathen doppelt und dreifach anziehend und verderb- 
lich gewirkt. Der Prinz trank in den Jahren 1896 bis 1898 Un- 
mengen von Cognac, Steinhäger und Sekt. Er leerte in einer Viertel- 
stunde eine ganze Flasche Cognac; eine Viertellitertasse trank er auf 
einen Zug leer. In Münster, wo der Prinz in Garnison lag, trank 
er mit dem Stallmeister von 10 Uhr abends bis 5 Uhr morgens 
10 Flaschen Sekt, wovon dieser nur wenig getrunken haben will. 

Dazu kamen Verderbnisse des Gehirns mit Nikotin. Er hat 
in Afrika den schwersten einheimischen Tabak geraucht, der jedem 
Europäer eine Zerrüttung seiner Nerven einträgt. 

Die Buhle des Alkoholismus fehlte ebenfalls nicht, und sie stellte 
sich ohne Frage weit mehr infolge des Alkoholmißbrauchs als infolge 
der Grausamkeit ein, obgleich seine sexuellen Exzesse ja schon an 
und für sich auch eine Grausamkeit waren. Die Aussagen über 
diesen Punkt sind vor verschlossenen Türen gemacht, aber soviel 
ist in die Öffentlichkeit durchgesickert, daß sie einfach unbeschreib- 
licher Art gewesen sind, und ob nicht die schöne Yokbeth, die Frau 
des Cain, wenn nicht die Triebfeder, so doch eine Triebfeder mit 
gewesen ist für die grausame Ermordung des Cain, bleibt wohl da- 
hingestellt. Jedenfalls steht er auch in dieser Beziehung dem Dippold 
nicht nach, nur ist der Unterschied der, daß der Prinz auf alle mög- 
liche Weise seinen Lüsten fröhnen konnte, eben weil er reicher Prinz 
war, während die Mittellosigkeit dem Dippold manche Schranke auf- 
erlegte. 

Wie alle Alkoholiker war er in seinem Verhalten schwankend. 


Gleich grausam gegen die Afrikaner wie gegen seine Hunde, war er 
| 10* 


u 


148 A. Abhandlungen. 


N 


gegen die weißen Untergebenen oft seelensgut, bald aber auch jäh- 
zornig, »gerade wie ihm die Mütze stande. Von seinem Kammer- 
diener ließ er sich, wenn er nicht aus dem Bette zu bringen war, 
mit dem Stiefelknecht bedrohen, mit Wasser begießen und die Bett- 
decke fortreißen. Wenn er aufwachte, warf er mit Stiefeln und 
andern Sachen nach seiner Umgebung. 

Genau so pendelte er hin und her zwischen großer Furchtsam- 
keit und Tollkühnheit. Ein Arzt beobachtete auf der Reise nach 
Afrika, daß sich bei geringsten Aufregungen Zuckungen im Gesicht 
zeigten und er oft sehr feige war. Bei einem kleinen Sturm ist er 
mit Schwimmgürtel und im Hemde auf dem Verdeck unter den un- 
besorgten Mitreisenden umhergelaufen und hat geschrien, das Schiff 
geht unter. Er hat eine entsetzliche Furcht vor der Malaria ge- 
zeigt und sich alle Augenblicke vom Arzte untersuchen lassen. In 
Afrika sprang er nachts plötzlich auf, lief aus dem Zimmer mit der 
Behauptung, die Schwarzen kämen und wollten ihn überfallen und 
er vermutete auch am Tage hinter jedem Busch einen Schwarzen, 
der ihn ermorden wolle. Andrerseits packte er eine giftige Schlange 
beim Schwanze in der Art, wie es die eingeborenen Zauberer tun, 
um sie zu töten, obgleich diese Tollkühnheit ihm das Leben kosten 
konnte. 

In ästhetischer wie in ethischer Beziehung war der Prinz auch 
sonst ein eigenartiger Mensch. Er hat sich nie wie ein Offizier 
betragen, er ist in einer alten schmutzigen Hose umhergelaufen und 
hat Arbeiten, wie sie kein Weißer drüben getan, verrichtet. 

Für ethische und ästhetische Dinge fehlte ihm eben jedes Wert- 
urteil und jedes Schamgefühl, wenigstens trat es nicht in Aktion. 
Er erzählte ungeniert über seine Mordtat, sein Geschlechtsleben und 
seine Familie. Mit einem Ehebrecher und Giftmörder schwatzte er im 
Gefängnis, wie dumme Jungen zusammen schwatzen. Wie Hüssener 
war er der Ansicht, daß ihm das größte Unrecht geschehen sei durch 
seine Verurteilung und er behauptet, daß er dem deutschen Reiche 
einen Gefallen erwies, als er den »Verräter« Cain tötete. Der Kaiser 
habe eine besondere Pike auf ihn, nur durch Gerichtsbeugung sei 
er verurteilt worden. 

So schwankt das ganze Charakterbild des Prinzen, der bald ein 
Wüterich ist, dessen Wut sich im Zuchthaus zu Tobsuchtsanfällen 
gesteigert haben soll, und bald ein unmündiges, gutmütiges Kind, 
das durch korrekte Umgangsformen, die selbst manchem Hochgestellten 
ja schon als Zeichen von Bildung gelten, über seine Minderwertigkeit 
hinwegzutäuschen verstand. 


Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 149 





In Summa zeigt das ganze Bild des Prinzen, daß die juristischen 
Begriffe »zurechnungsfähig« und »unzurechnungsfähig« durchaus nicht 
auf ihn passen. Er war weder voll zurechnungsfähig noch voll un- 
zurechnungsfähig, er war weder schwachsinnig, noch ausgesprochen 
geisteskrank. Sein ganzer Ideenkreis war, wie auch der Sachverstän- 
dige Herr Geh. Rat Prof. Dr. Lrprmann urteilt, trotz angelernten 
Wissens und angeeigneter gesellschaftlicher Formen auf dem Stand- 
punkte eines Unmündigen stehen geblieben. Er blieb auch als Mann 
jungen- und flegelhaft. 

Bei dem Prinzen haben wir es zwar von Haus aus mit einem 
psychopathisch Degenerierten zu tun. Aber auch hier zeigt es sich 
wieder, daß alle die erwähnten Eigenschaften durchaus nicht zur 
Entwicklung zu kommen brauchten. Daß ein Prinz eine solche 
Erziehung haben konnte, wie er sie nach den Zeugenaussagen gehabt 
haben muß, ist schlechterdings nicht begreiflich. Eine gesunde, 
schlichte Arbeiterfamilie würde niemals ein Kind erzieherisch so 
verwahrlosen lassen, wie der Prinz verwahrlost worden ist. Wir sehen 
ferner, wie wir auch an den voraufgegangenen Fällen dargelegt haben, 
daß alle diese minderwertigen, degenerativen Eigenschaften durch 
den Alkoholgenuß, der ja zum guten Ton gehört, zur Entfaltung 
kommen mußten. Von unserm Standpunkte aus ist es auch ganz 
unverständlich, wie man einen solchen Burschen Offizier werden lassen 
kann. Wenn er dazu geeignet war, dann sind 80°/, der Rekruten 
mit Volksschulbildung ohne weiteres weit fähiger zum Offiziersberuf. 
Aber noch unverständlicher ist es, wie man ihn im Offizierkorps, 
wo die einzelnen doch viel inniger miteinander verkehren als in jedem 
andern Berufe, halten konnte und noch mehr, wie man cinen solchen 
Menschen als Beschützer und Vorkämpfer christlicher Kultur nach 
Afrika schicken konnte. 

Und diesen grausamen Menschen hat die Justiz glattweg frei- 
gesprochen. Die Freisprechung bedeutet doch eigentlich die Frei- 
sprechung von Schuld und Strafe. Wenn hier keine Verschuldung 
vorliegt, so gibt es überhaupt kaum Verschuldung. Dann hat 


‚ Bebel recht, wenn er sagt: »Warum berücksichtigt man die Psy- 


chiatrie nur im Falle Arenberg und nicht auch bei den vielen 
Leuten, die geisteskrank sind, deshalb ihren Dienst nicht ordentlich 
machen können und nun gemißhandelt werden?« Oder wie der 
»Vorwärts« sich ausdrückt: »Arenberg war nicht verrückter als 90 
von 100 derjenigen Mörder, die auf dem Schaffot oder im Zuchthaus 
endeten.« Die Verurteilung sollte auch in einem solchen 
Falle, wenn auch unter Berücksichtigung der verminderten Zu- 





150 A. Abhandlungen. 


rechnungsfähigkeit, unbedingt erfolgen, und zwar müßte sie im 
Interesse der Individuen wie der Gesellschaft dahin lauten, daß der 
Verbrecher solange in einer Heilanstalt, die zugleich Zwangsanstalt 
ist, untergebracht werden muß, bis ein Sachverständigengericht das 
Gutachten abgibt: er kann ohne Bedenken wieder mit der Gesell- 
schaft in Berührung kommen, falls er nicht noch Strafe abzubüßen 
hat. Unmöglich geht es, daß wir die große Mehrzahl unserer Ver- 
brecher laufen lassen oder in das Irrenhaus schicken. Gegen die 
psychopathischen Verbrecher — und sie sind wahrscheinlich 
die Mehrheit — müssen wir doppelt geschützt werden. Es 
sind und bleiben die rückfälligsten. Und die »Tägl. Rundschau« 
sagt wohl kaum zu viel, »daß uns die erfreuliche Aussicht eröffnet 
ist, dem Herrn, dessen gesellschaftliche Formen in der gerichtlichen 
Aussage mehrfach von den Sachverständigen anerkannt worden sind, 
nach einiger Zeit als eleganten Flaneur Unter den Linden zu be- 
gegnen.« 

So weist uns auch der Fall des Prinzen Arenberg hin auf die 
folgenschwere Vernachlässigung der genetischen Psychologie und 
Psychopathologie, auf die entsetzlichste Unwissenheit in diesen Dingen, 
die die Frage erst aufwirft, nachdem der Prinz schon jahrelang in 
Amt und Würde gestanden, eine lange Reihe von strafbaren Hand- 
lungen begangen, dann von Urteil zu Urteil, von Begnadigung zu 
Begnadigung geschleppt worden, bis schließlich Vorkommnisse im 
Gefängnis eine irrenärztliche Untersuchung veranlaßte. Verstände 
man soviel von dem Seelenleben des Kindes und des Jugendlichen 
in allen gebildeten und herrschenden Kreisen wie von der Pferde- 
und Hundezucht oder wie von den Feinheiten der Ausscheidungen 
des Hefepilzes, durch welche man sich in Form von Wein und Bier 
degeneriert, so wäre ein Fall Arenberg unmöglich. 

5. Als fünften typischen Fall für psychopathische Vergehen gegen 
Leib und Leben nenne ich den stud. jur. DiproLp, der seine Zög- 
linge aus Grausamkeit und Wollust dermaßen mißhandelte, daß der 
eine infolgedessen starb. Dieser Fall hat gleich dem Hüssenerschen 
die Welt in Erstaunen und Erregung versetzt, wie auch eine Preß- 
und Broschürenliteratur gezeitigt, die neben viel Beachtenswertem 
für unsere Volkserziehung doch auch zu allerlei sehr bedenklichen 
Forderungen kommt. 

Das Verbrechen selbst ist hinreichend bekannt. Ich brauche 
nur die psychopathischen Herabminderungen dieses rätselhaften 
Charakters festzustellen. 

Die Schule hat keine Defekte an ihm entdeckt. Er hat sie glatt 


Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 151 





bis zur Universität absolviert. Mutmaßlich galt er als begabt. Er 
hat in kurzer Zeit erfaßt, wozu andere Jahre brauchen; der Kreis- 
irrenanstaltsdirektor erklärte ihn darum für forensisch zurechnungsfähig; 
er sei für seine Handlung voll und ganz verantwortlich. Hätte es 
ihm somit nicht an Geld gefehlt, so wäre er gar bald Dr. jur. ge- 
worden und hätte als Publizist, was er werden wollte, Tausende 
unseres Volkes miterzogen, ihnen auch seinen Geistesstempel mit auf- 
gedrückt, die große Zahl dekadenter Schriftsteller vermehrt, die 
sich als Helden und Dichter vorkommen, wenn sie ihre wollüstig- 
perverse Phantasie in Dramen und Romanen austoben können. 

Und doch hatte selbst die Intelligenz Dippolds auffallende 
Schäden. So teuflisch raffiniert und durchtrieben er war, an einer 
bestimmten Stelle versagte sein Urteil vollständig und wurde oben- 
drein von andern seelischen Faktoren krankhaft irregeleitet. 

Der Irrenarzt stellte fest, daß er Wahrheit und Unwahrheit stets 
zu vermischen pflege; seine ganze Rede sei hohle Schwätzerei und 
Phrase, d. h. also, er vermochte gleich dem Schwachsinnigen ihren 
Inhalt nicht zu beurteilen, zeigte also eine ähnliche Debilität wie 
Hüssener. Er sei von größter Selbstüberhebung und von größtem 
Größenwahn, d. h. sein Urteil über seinen eignen Personwert ver- 
sagte. 

Seine Phantasie war hoch entwickelt und sein Gedächtnis gut. 
Daher einerseits die guten schulischen Leistungen und guten Empfeh- 
lungen. Aber hohle Phrase, Größenwahn und die Gabe zu lügen, 
zeugen andererseits von einer ungezügelten, abnormen, pathologischen 
Phantasie. 

Das sind in der Tat Intelligenzdefekte bedenklichster Art, und 
sie machten ihn unfähig, sein eignes Wollen und Handeln richtig zu 
bestimmen. Auf dem Gebiete des Ethischen, der Werturteile, waren 
also auch Verstand und Vernunft pathologisch. Er war gleich Hüssener 
und Arenberg schwachbefähigt, debil in ethischer Hinsicht. 

Dazu war Dippold leicht reizbar bis zum Jähzorn, impulsiv, 
leidenschaftlich und dabei roh, herzlos, schamlos, grausam und woll- 
lüstig im höchsten Grade, und wiederum eitel bis zum Größenwahn, 
egoistisch, herrschsüchtig, antisozial, alles weit über das Normale hin- 
ausgehend ins ausgesprochen Pathologische, und endlich pervers 
in seinen Sexualgefühlen. Und dies entartete Gefühlsleben bestimmte 
seine Phantasie wie sein Wollen und Handeln, ohne die zuverlässige 
Kontrolle des Verstandes. Auf den Vater seiner Braut hat er zudem 
den Eindruck gemacht, als ob er geistesabwesend und »nicht recht 
bei Troste« sei. Und als Dippold den Dr. Sever zu dem von ihm 


-152 A. Abhandlungen. 


totgeprügelten Heinz Koch kommen ließ, schimpfte er erst in un- 
verschämtester Weise auf die Familie Koch, erzählte dann seine 
Lebensgeschichte und erst nach zwei Stunden sagte er ihm, warum 
er ihn habe rufen lassen! Kann so ein Gesunder handeln? 

War Dippold darum zurechnungsfähig oder nicht? gesund oder 
krank? oder vermindert zurechnungsfähig, weil psychopathisch minder- 
wertig?!) Und wurde Prinz Arenberg freigesprochen, warum nicht 
auch der Bauernsohn Dippold? Selbstverständlich ist das nicht unser 
Wunsch. 

Bei Dippold erhält man auf die Frage, wie der begabte Sohn ein- 
facher, braver Bauersleute so pervers entarten konnte, auch bald eine 
Antwort. Es mag ja sein, was die Tagespresse behauptete, daß die 
sexuelle Verderbnis ursprünglich ausgegangen ist von einem flüchtig 
gewordenen Pater, der 10 Jahre hindurch im Knabenseminar zu 
Münnerstadt sein Unwesen getrieben haben sol. Und so viel 
man aus allen Zeugenaussagen schließen darf, keimten alle jene 
Charaktereigenschaften schon bei dem Schulknaben. Aber die hohe 
Schule seiner Laster begann, wie ja der Student singt, »des morgens 
bei dem Branntwein, des mittags bei dem Bier, des abends bei dem 
Mädchen im Nachtquartier«, in der Kneipe und im Verkehr mit der 
Kellnerin in Würzburg und dann in Berlin, wo er das Vermögen 
des Vaters seiner Braut mit Dirnen in den Animirkneipen und wer 
weiß wo verpraßte. 

Hier holte Dippold die tatsächlich nachgewiesene sexuelle Ent- 
artung nebst Syphilis. Denn wenn sein Gemüt und seine Phantasie 
nicht vorher schon vergiftet gewesen, so mußten sie hier verderben, 
wo er beim Bier und Wein saß, wo im Rauschzustande die ebenfalls 
durch Alkoholismus verkommene Kellnerin ihn umarmte und wo man 
nur im Rauschzustande seine Wonne findet in der Lektüre der 
Sumpfblätter, die die Phantasie mit unkeuschen, wollüstigen Vorstel- 
lungen schwängern, wo man kurz gesagt, ein kleiner oder großer 
Dippold wird, über den seine noch nicht so weit fortgeschrittenen 
Zöglinge ihrer Mutter entrüstet schrieben: »Dippold ist ein Schweine- 
kerl, denn er frißt mit den Händen vom Teller herunter; er ist ein 
Saukerl, denn er hat sich besoffen; er ist ein gemeiner Kerl, denn 
er hat unsittlichen Verkehr mit vielen Frauenzimmern.« 


1) Das »Recht, Rundschau für den deutschen Juristenstand, bringt einen Ar- 
tikel: »Die kriminalistische Bedeutung des Falles Dippold«, worin der Verfasser der 
Einführung einer »verminderten Zurechnungsfähigkeit«, doch ohne Annahme einer 
»verminderten Schulds, nicht abgeneigt ist. Allenfalls könne man in solchem Falle 
an mehr »edukatorische Strafvollzüge« denken. Wenigstens ein kleines Zugeständnis! 


Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 153 


6. Mit diesen Betrachtungen ist aber der Fall Dippold für unsere 
Frage noch nicht erschöpft. Mehr als der Verbrecher verdienen unser 
Interesse die Unschuldigen, die ihm zum Opfer fallen, in diesem Falle 
die Gebrüder Heinz und Joachim Koch. 

Der erste juristische Hauslehrer, stud. jur. Pexser-Berlin be- 
zeugte, daß er bei den Knaben viel über Unaufmerksamkeit, Faul- 
heit und Widerspenstigkeit zu klagen hatte und daß körperliche 
Züchtigung nötig gewesen sei. Heinz war weichlicher und weniger 
widerstandsfähig als Joachim. Im übrigen seien sie echte fröhliche 
Jungen gewesen, die man lieb haben müsse. 

Günstiger noch und zum Teil entgegengesetzt wie der Jurist 
urteilen die Pädagogen. 

Beide Brüder waren nach den Aussagen von Dr. Lierz in Hau- 
binda und der Schulvorsteherin Fısk in Berlin sehr harmlose, leicht 
lenksame Knaben von tadelloser Führung. Die geistigen Arbeiten, 
ganz besonders die Erlernung fremder Sprachen, fielen Heinz schwer, 
obgleich er den besten Willen zu lernen hatte. Er war sehr zart 
veranlagt und etwas korpulent. Infolgedessen sei er etwas phleg- 
matisch gewesen. Auch Heinz war von gutartigem Charakter, man 
konnte ihm nicht böse sein. Sie seien milde und ohne Züchtigung 
behandelt worden. 

Von andern Zeugen wurde bekundet, daß die Jungen Nägel 
kauten (ein nervöses Symptom!), daß sie ausgelassen wild sein konnten, 
Schabernack liebten und in den Ausdrücken nicht wählerisch waren. 

Entwendungen scheinen trotz Ableugnens der Angehörigen doch 
eine Rolle gespielt zu haben; ein psychopathisches Symptom, auf das 
wir noch später zurückkommen. Dabei sollten sie an Schlaflosigkeit 
leiden, so daß Prof. Voert Schlafpulver verordnete; ein Mittel, ohne 
das wir in 12 Jahren bei etwa 200 zumeist schwerer nervösen 
Kindern, die ich in dieser Zeit behandelt, noch ausgekommen sind. 

Diese Aussagen bedeuten für uns: wenigstens der Knabe Heinz 
litt an anscheinend angeborener intellektueller Schwäche, namentlich 
in der Sprachsphäre. Er war nervenzart und gehört zu der Gruppe der 
reizbar Schwachen, die leicht interessiert und erregt sind, aber ebenso 
leicht ermüden, im Charakter dabei gutherzig schwach, d. h. auch zu 
Fehltritten allerlei Art fähig sind. Die Mutter redet sogar in einem 
Briefe an Heinz, Dippold solle ihn »aus dem Sumpfe retten«. Hinzu 
kam Fettsucht, die im Kindesalter meistens auch eine Begleiter- 
scheinung von nervösen und seelischen Herabminderungen ist. An- 
scheinend war auch das Herz nicht intakt. Darauf läßt der Ausgang 
der Tragödie schließen. Und ob die Öhnmachtsanfälle, die ich bei 


154 A. Abhandlungen. 


meiner reichen Erfahrung, noch nie bei Kindern gesehen habe, nicht 
epileptische Anfälle waren und ob der Knabe schließlich nicht in 
einem solchen Anfalle, verschuldet durch die grausamste Mißhandlung, 
starb, erscheint mir nicht unwahrscheinlich. 

Und diese Knaben übergibt man nun nicht einem direkt erziehe- 
risch, wenn auch in der Regel für solche Fälle noch ungenügend 
akademisch oder seminaristisch vorgebildeten und erfahrenen Lehrer 
oder einem der Erziehung im allgemeinen noch wohlgeneigten Kan- 
didaten der Theologie oder Philologie, die an der Universität doch 
so ganz nebenbei auch wohl ein Kolleg über Psychologie und Päda- 
gogik hören, sondern einem verkommenen Studenten der Juris- 
prudenz! 

Wer wählte und konnte für sie wählen diesen moralisch ver- 
kommenen stud. jur. als »erstklassigen« Erzieher? War er erstklassig, 
weil er stud. jur. war oder weil er pervers war? 

Sehr treffend schreibt Maxman Harpen in der »Zukunft«: 
»Der Herr Kommerzienrat würde einem nicht jahrelang vorher er- 
probten Manne für eine Viertelstunde den Kassenschlüssel nicht an- 
vertrauen, würde in die Effektenabteilung der Bank selbst zu unter- 
geordneter Arbeit keinen Menschen aufnehmen, der nicht klipp und 
klar bewiesen hätte, daß er zuverlässig und in seinem Beruf tüchtig 
ist. Wenn er seinen Kindern einen Erzieher sucht, begnügt er sich 
mit einem Inserat. ... Die Wahl fällt auf den Studiosus Dippold, 
»weil er die besten Empfehlungen hat« Woher? Darnach wird nicht 
gefragt.« 

Ich möchte fragen, woher kann er gute Empfehlungen als Er- 
zieher haben? Etwa von den Dirnen, mit denen er das Geld des 
Vaters seiner Braut verpraßte? Allerdings ist das Zeugnis- und Emp- 
fehlungswesen vielfach ein großes Unwesen voll wissentlicher oder 
leichtfertiger Unwahrheit, wobei auch der Vorsichtigste gründlich 
hineinfallen kann. 

Weiter. Vor Dippold waren diese Knaben schon zweimal in der 
Pension von Frl. Fınk-Berlin und sodann im Landerziehungsheim 
Haubinda gewesen, und mit Dippold waren sie erst in Berlin, dann im 
Harz, dann in Bayern. Und Dippold war auch schon der zweite Student 
der Rechte als Hauslehrer der Knaben, die Ärzte würden im gleichen 
Falle sagen: der zweite »Kurpfuscher«. Ob man glaubte, daß jemand, 
der die Strafgesetze studiert hat, am geeignetsten für solche Knaben 
sei — das Strafen verstand ja Dippold — oder ob das Vorurteil 
gegen Lehrer und Theologen und für Juristen und Offiziere in diesen 
begütertsten Kreisen ausschlaggebend war, weiß ich nicht. Die Wahl 


Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 155 


dieses »erstklassigen, idealen Menschen« ist mir aber ganz unbegreif- 
lich. Wie kann man als reicher Mann einen solchen versumpften 
Studenten als Knabenerzieher wählen? Und das alles nach Aussage 
des Vaters bloß wegen des leidigen, aber für uns ganz naturgemäßen 
Zurückbleibens im Schulunterricht! Eine entsetzliche Strafe für eine 
ohne Frage angeborene Schwäche! 

Verstanden hat von allen Nahestehenden die Knaben keiner, 
denn sonst hätte man ganz unmöglich die Dinge bei den vielen War- 
nungen derer, in denen die ureigensten menschlichen Instinkte der 
Teilnahme und Kinderliebe noch nicht erstorben waren, so laufen 
lassen können, noch; dazu so lange. Der Knabe ist dem Unver- 
stande geopfert worden. Auch nur ein Schimmer von psycho- 
pathologischem, ja von einfach kinderpsychologischem Verständnis 
hätte den Weg einschlagen können. Das rührende Herz einer Mutter 
genügt nicht. Auch verstanden wollen Kinder sein. 

Das ist die rächende Nemesis an den Hochgestellten, die die 
Pädagogik dermaßen als Aschenbrödel behandeln und verachten, daß 
sie glauben, das Studentenleben befähige jeden zum Erzieher, während 
man z. B. auf medizinischem Gebiete sofort »Kurpfuscher« schreit 
und nach dem Staatsanwalt ruft, wenn ein »Laie« nur den Körper 
eines andern in Behandlung nimmt. Ist denn die Seele nicht min- 
destens soviel wert wie der Körper und die Entwicklung der Jugend, 
auch zur Verhütung der Verbrechen, nicht so wichtig wie die Be- 
strafung der Verbrecher, so daß man neben die medizinische und 
juristische Fakultät auch eine pädagogische stellen sollte? 

Anstatt zu solchen Forderungen zu kommen, setzten sich hundert 
berufene und unberufene Federn in Bewegung, um an der Hand 
des Falles Dippold bald die Notwendigkeit der ärztlichen Aufsicht 
: über die Erzieher darzutun — trotzdem der Neurologe Prof. Voert 
den Dippold für einen »idealen« Erzieher auf Grund seiner ärzt- 
lichen Kontrolle erklärte und dem im ganzen gesunden Jungen 
Schlafpulver verschrieb! —, und bald die Frage nach der Berech- 
tigung der körperlichen Züchtigung und der Unterweisung in der 
Sexualität zu beantworten. Dabei behandelte man obendrein Dippold 
als Typus eines Erziehers! Und man ging dabei so weit zu be- 
haupten: »Der Fall Dippold ist geradezu typisch für die immer mehr 
überhand nehmende Grausamkeit der modernen Menschheit.« Und es 
wurde alles, was seit je die Menschheit an pathologisch grausamen 
Wollüstlingen gezeitigt hat, aufgezählt, um zu beweisen, daß die Jugend 
von Erziehern gezüchtigt wird aus Wollust! Dippold, so behauptet 
derselbe Autor, wurde wahrscheinlich in der Jugend geprügelt und 


156 A. Abhandlungen. 


infolgedessen ein so perverser Wollüstling. Andere wiederum 
zichen aus dem Fall Dippold die Lehre, daß weit mehr in der 
Erziehung geprügelt werden müsse, .die Prügelstrafe auch in den Ge- 
fängnissen wieder| einzuführen sei, damit keine Dippolds heranwachsen, 
während jener folgert: »Wir müssen dahin kommen, daß die körper- 
liche Züchtigung aus unserm Erziehungsleben völlig verschwindet und 
daß auch dem Kinde bereits eine entsprechende Aufklärung über das 
Geschlechtsleben geboten wird«, auch natürlich über das perverse, 
damit der Teufel ja recht deutlich an die Wand gemalt werde. 
Selbstverständlich ist die »freie Liebe« und die Prostitution für diese 
modernste »Pädagogik« etwas Gutes, Empfehlenswertes. Sie war es 
ja doch auch im Mittelalter und ist es noch im Morgenlande und, 
fügen wir hinzu, in den Sümpfen unserer Großstädte. 

Nein, umgekehrt ist es, gewisse »modernen« Schriftsteller und 
Buchhändler, die für Millionen von Mark die Jugend über Sexualität 
schamlos aufklären, die erbärmliche, im Sumpfe sich behaglich fühlende 
pornographische Schandliteratur züchtet uns die Dippolds und die 
»geheimen Jugendsünden«, auch der Kinder. Sie gehören als Be- 
günstiger der Dippolds mit auf die Anklagebank! 

Ich bedauere hier so abschweifen zu müssen, aber ich möchte 
nicht gerne, daß unsere Wünsche von den Sadisten und Masochisten 
verunreinigt werden. Ich erstrebe eine gesunde Erziehung, dem 
gesunden Instinkt entsprechend auch als Norm für die Abnormen, 
nicht aber eine pathologische Erziehung für die Gesunden. Der 
Großstadtsumpf ist kein gangbarer Weg für uns. Wohl aber zwingt 
er uns, mit psychiatrischem Blicke das Abnorme zu betrachten und 
zu überlegen, wie man seiner Entfaltung vorbeugen könne Weil 
an einem Laternenpfahl sich schon einmal jemand erhängt hat, soll 
man doch die Laternenpfähle nicht beseitigen und die Stadt ver- 
finstern lassen. Allenfalls verbiete man — das Erhängen! Die Frage 
der körperlichen Züchtigung und der sexuellen Belehrung ist auch 
für mich diskutabel, aber nicht im Anschluß an den Fall Dippold. 
Dippold war kein Erzieher. Dippold war selber ein Objekt der 
Heilerziehung! Der Fall Dippold mit seinen Opfern lehrt uns nur, 
wie ein psychopathisches Seelenleben scheußliche Verbrechen im Ge- 
folge und wie die Unkenntnis solcher Zustände strafwürdige Pflicht- 
vergessenheit zeitigen kann, die auch die Verteidigungsrede eines 
Staatsanwaltes nicht reinwäscht. (Schluß folgt.) 


Kırrer: Hygienische und psychologische Bedenken usw. 157 


2. Hygienische und psychologische Bedenken der 
körperlichen Züchtigung bei Kindern. 
Von 


Dr. O. Kiefer, Stuttgart. 


Es gibt auch aufgeklärte, freidenkende Menschen, welche da 
meinen, ohne die Prügelstrafe gehe es run einmal nicht bei der Er- 
ziehung von Kindern oder doch jedenfalls nicht bei der Knabener- 
ziehung; die unbändige Wildheit vieler Knaben müsse durch mäßige 
Prügel an die Schranken unserer Kultur gewöhnt werden; wer das 
nicht einsehe, gehöre halt zu den »Humanitätsduslern«, welche die 
Wirklichkeit nicht verständen. Ohne nun für diesmal die Unrichtig- 
keit dieser Ansichten zu beweisen, will ich mich einfach darauf be- 
schränken das hygienisch und psychologisch Bedenkliche jeder, auch 
der leichtesten körperlichen Züchtigung zu erörtern; der verständige 
Lehrer wird dann schon wissen, was er zu tun hat. 

Noch ziemlich verschiedene Arten von körperlichen Strafen wen- 
den die Kulturvölker unserer Zeit zur Bestrafung der Jugend an, 
von der Ohrfeige und den »Tatzen« bis zu den mit cynischer Grau- 
samkeit und kalter Berechnung erteilten abgezählten Stock- oder gar 
Rutenhieben auf den in die dafür geeignete Lage gebrachten Sitzteil. 
Wenn nun auch »offiziell« die Ohrfeigen als sehr gefährlich meist 
verboten sind, so kommen sie doch, wie der Fall Deditius neulich 
wieder einmal gezeigt hat, noch häufig genug vor und haben, wie 
man aus diesem traurigen Fall und tausend andern ohne viel Über- 
legen entnehmen kann, sehr oft die allerschlimmsten Folgen für die 
im Kopf befindlichen Organe der Gezüchtigten. Weniger schlimm 
scheinen beim ersten Anblick die sogenannten »Tatzen« zu wirken: 
was können auch, meint man und meinen die meisten Schulordnungen, 
so ein paar »leichte Streiche« mit einem »dünnen Stöckchen« oder einer 
Rute auf die inneren Handflächen viel schaden? Und doch kennt 
man Fälle, da durch so einen »leichten Streich« einem Kind die Hand 
für immer gelähmt worden ist, und zum wenigsten pflegen diese 
»Streiche« derart heftig erteilt zu werden, daß die an sich so zarte 
Hand des Kindes anschwillt und längere Zeit arbeitsunfähig bleibt. 
Wer das leugnet, befrage einmal einige Hundert von Durchschnitts- 
volksschülern, und er wird es kaum für möglich halten, wie roh 
und grausam noch viele unserer »Jugendbildner« sein können! 
Doch wenn das alles wäre, wollte ich gar nichts sagen; aber da 
kommt nun die Mehrzahl der Schulordnungen und gestattet auch 
noch die im Volksmund mit dem Wort »Hosenspanner« recht trefiend 


158 A. Abhandlungen. 


bezeichnete Art der Prügelstrafe, und diese Art in allererster Linie 
ist es, welcher unsere Betrachtung gilt. Ich brauche wohl kaum auf 
die die Seele des Kindes und des Lehrers in gleicher Weise ent- 
würdigende Art des äußeren Vorgangs bei der Erteilung dieser Strafe 
hinzuweisen, ob sie nun unter vier Augen oder, was meistens 
üblich und noch verderblicher, vor der ganzen Schulklasse, ob sie 
an dem in der Bank stehenden vornübergebeugten, oder an dem über 
das Knie des Strafenden gelegten oder an dem über einen Stuhl ge- 
streckten Kinde vorgenommen wird. All das ist im Grunde genommen 
einerlei, die Wirkungen auf Körper und Seele bleiben immer dieselben. 
Und diese Wirkungen sind sehr schlimm. Zunächst ist auch bei der 
leichtesten Strafe derart nie abzusehen, welche etwa in dem Kinde 
bereits latent liegenden Leiden durch die enorme seelische und körper- 
liche Erschütterung, welche diese Strafe darstellt, zum akuten Aus- 
bruch gebracht werden; man lächelt, wenn der Arzt sagt, es Kann 
eine Lungenentzündung u. dgl. durch eine Tracht Schläge hervorge- 
rufen werden, und doch ist es so, man meint, außer ein paar Striemen 
und Beulen am Sitzteil könne doch von »Folgen« derartiger Strafen 
keine Rede sein, und doch nennt ein hervorragender Forscher u. a. 
als Folgen: Quetschung, Entzündungen, Eiterungen bis unter die 
Muskulatur, Brand, Entzündungen und Vereiterungen im Becken, 
Lähmung der unteren Extremitäten, Reizung des Geschlechtstriebes, 
tödliche Brustkrämpfe, Nervenfieber, Brustentzündung, Bluthusten und 
Blutbrechen! Natürlich werden derartige schlimme Folgen selten auf- 
treten, allein sie sind eben durchaus unvorhersehbar, was ja gerade 
für den Gezüchtigten und den Züchtiger oft so furchtbar wird! Auf 
eine der oben genannten Folgen aber will ich besonders hinweisen: 
auf die Reizung des Geschlechtstriebs, diese Folge ist natürlich am 
wenigsten leicht nachweisbar und kommt doch, wie der mit offenen 
Augen Begabte weiß, so oft vor: da ist auf einmal der frische, ge- 
sunde Junge der Onanie verfallen, kein Mensch kann begreifen, wie 
das kam, verführt kann er nicht sein, denn er wird so gut beauf- 
sichtigt, aus Büchern kann er’s nicht haben, denn man weiß genau, 
was er liest! Und doch? Also kann’s nur die in ihm liegende Bosheit 
sein — und die vertreibt man mit dem Stock! Aber merkwürdig: die 
Sache wird immer schlimmer und die grausamsten Strafen helfen 
nichts! Natürlich nicht, ihr törichten Leute, denn gerade eine Tracht 
Hiebe hat ja in dem unglücklichen Kind, ihm selber kaum bewußt, 
den ersten Anreiz zum Laster gegeben, und dieses entnimmt den 
weiteren Hieben immer neue, immer stärkere Reize, ja es kann, wie 
man in Rousseaus Bekenntnissen nachlesen kann, die Prügelstrafe 





Kerer: Hygienische und psychologische Bedenken usw. 159 


selbst schon als ein die Sexualsphäre in Tätigkeit setzender Reiz 
wirken! Und dann gehts mit Schrecken dem Abgrund entgegen und 
aus dem Geprügelten wird schließlich -— das ist das Merkwürdigste! 
— ein sich an den Qualen anderer mit Wollust labender Mensch, 
— ein Dippold! Und es gibt viele Subjekte dieser Art! Nur treiben 
es die meisten derselben nicht so weit, nicht gar so bestienhaft, son- 
dern wissen ihrer Prügellust das Mäntelchen der »Erzieherpflicht« 
umzuhängen ....! Es sollte darum ein gewissenhafter Erzieher, wenn 
er nur die geringsten Spuren von derartigen Trieben, die leider auch 
vererblich sind, in seiner Seele entdeckt, es sich zur heiligen Pflicht 
machen, niemals mehr zu einem Züchtigungsmittel zu greifen, so stark 
auch die Versuchung dazu sein mag, denn es ist nachgewiesen, daß 
derartige Triebe sich dadurch, daß man ihnen nachgibt, verstärken 
und den Menschen immer weiter herabziehen und zum Sklaven der 
widerlichsten Art Wollust machen. Aber auch in den Kindern, die 
bei einem solchen Akte der Grausamkeit Zuschauer sein müssen, 
entstehen verderbliche Wirkungen: ihr Grausamkeitstrieb wird rege, 
sie werden in ihrem feinen Empfinden abgestumpft, die Schaden- 
freude wird erweckt, ja selbst in ihnen kann solch ein Anblick schon 
sexuelle Empfindungen auslösen, wofür ich selbst Beispiele erlebt habe. 
Gerade diese bei allen Beteiligten, den Geprügelten, den Prüglern 
und den Zuschauern mögliche sexuelle Wirkung der Strafe ist für 
mich das stärkste Gegenargument gegen alle Verteidigungen der 
Prügelstrafe, und ich meine, alle andere Schäden der Prügelstrafe 
wären noch erträglich, wenn dieser eine absolut ausgeschlossen 
wäre. Man entgegne nicht: diese Wirkung ist selten und kommt 
wohl nur bei heftigen Schlägen vor; meine Erfahrung lehrte mich, 
daß diese Wirkung öfter vorkommt als der Laie ahnt und daß sie 
bei jeder Prügelstrafe, auch bei der auf die Waden erteilten — die 
man im Hinblick auf die Gefahren der Züchtigung aufs Gesäß 
empfohlen hat -— möglich ist und vorkommt! Ich verweise übrigens, 
um zu zeigen, daß die Ärzte dies schon längst wissen, auf Bocks Buch 
vom »Gesunden und kranken Menschen«, das besonders den Ruten- 
hieben diese Wirkung zuschreibt, dann auf die bekannten Forschungen 
von Mort und Krarrt-Ebing sowie auf Dünrens ausführliches Werk 
»Das Geschlechtsleben in England« Bd. II, das von Beweisen gerade- 
zu wimmelt. Es ist sehr bedauerlich, daß nicht schon in den weite- 
sten Kreisen diese Dinge bekannt sind; wieviel Unglück wäre 
durch ein Kennen dieser Dinge auf seiten der Eltern und Lehrer 
schon verhütet worden! Besonders Kinder, die an sich schon mit 
geistigen oder körperlichen Defekten behaftet sind, müßten in dieser 





160 A. Abhandlungen. 


Hinsicht mit aller Vorsicht behandelt werden, denn bei ihnen ist natür- 
lich die Möglichkeit einer abnormen Erregung des Geschlechtslebens 
noch viel größer als bei sonst gesunden und vernünftig erzogenen 
Kindern. 

Welche Folgerungen ergeben sich nun aus diesen Tatsachen? 
Meines Erachtens mit zwingender Notwendigkeit die Forderung der 
Abschaffung jeder Prügelstrafe in den Schulen, oder doch, wenn dies 
nicht über Nacht geht, wenigstens die der weitgehendsten Einschrän- 
kung: Absolutes Verbot aller Entblößungen natürlich, aber auch ab- 
solutes Verbot aller Züchtigungen während des Unterrichtes oder in 
Anwesenheit anderer, Aufsparen der Züchtigung für ganz seltene Fälle 
von sittlicher Verkommenheit, niemals allerdings als Strafe gegen so- 
genannte »Unsittlichkeiten«, d. h. gegen sexuelle Laster und niemals 
bei Knaben, die notorisch der Onanie huldigen und die in besonderen 
Anstalten mit strenger Körperarbeit im Freien u. dgl. untergebracht 
werden müßten; dann aber auch viel energischeres Vorgehen der 
Gerichte gegen jede auch nur geringe »Überschreitung des Züch- 
tigungsrechts« und unwiderrufliche Absetzung derartiger Lehrer! 
Aber auch die Eltern dürften sich diese Forderungen gesagt sein 
lassen, denn sie legen oft am ersten durch törichtes Prügeln in 
ihre noch ganz kleinen Kinder den Keim zum Verderben; mir ist 
ein Fall bekannt, wo ein 4jähriger Knabe durch die vielen Schläge, 
die er bekam, zur Onanie gebracht wurde, die sich. steigerte unter 
den gegen dieselbe angewandten Rutenstreichen! Gegen solche Eltern 
kann man staatlich nichts tun — leider! Aber gerade deswegen 
sollten die Eltern ihre staatlich garantierte Freiheit zu prügeln oder 
nicht, im guten Sinne nützen und einen Stolz darein setzen, ihre 
kinder durch andere Mittel zu brauchbaren Menschen zu erziehen! 


3. Medizin und Pädagogik. 
Von 
J. Trüper. 
2. Zur Abwehr gegen Herrn Sanitätsrat Dr. Jenz. 

Herr Prof. D. Dr. Zimxer veröffentlichte in der November-Nr. 
1902 der Zeitschrift »die Krankenpflege« — herausgegeben von 
Prof. Dr. med. MenpeLsonn, Verlag von Georg Reimer-Berlin — einen 
Aufsatz mit der Überschrift »Eine Streitfrage zwischen Ärzten 
und Pädagogen«. Hierauf antwortete Herr Sanitätsrat Dr. Jexz, 
Direktor der Großh. Idiotenanstalt in Schwerin, in der Märznummer 
1902/3 in einem längeren Artikel mit gleicher Überschrift. 


TrÜPer: Medizin und Pädagogik. 161 


Darauf folgte wieder in der Septembernummer desselben Jahres 
eine gründliche Entgegnung von Orro Nienaus. 

Wir hatten mit dem Zınmerschen Artikel absolut nichts zu schaffen. 
Ich habe ihn ohne Frage später als Herr Dr. Jenz kennen gelernt. 
Es liegt darum keine Veranlassung vor, uns in den sachlichen Streit 
beider einzumischen. Herr Sanitätsrät Dr. Jenz hat aber in einer 
eigenartigen Weise unsere Zeitschrift mit zum Objekt seiner An- 
griffe gemacht, so daß wir diese Kampfesweise dem Urteile unserer 
mitbetroffenen Leser wie Mitarbeiter unterbreiten müssen. So sagt 
er gleich eingangs Seite 530: 

»Es schließt sich dieser Aufsatz einer Reihe ähnlicher Artikel an, die in 
den letzten Jahren, speziell in »heilpädagogischen« Zeitschriften und Berichten, er- 
schienen sind und die Unterstellung von Idiotenanstalten unter ärztliche Leitung — 
zum Teil in wenig vornehmer und objektiver Weise — vom Standpunkt der sich 
in ihren Interessen bedroht fühlenden theologischen oder aus dem Lehrerstande 
hervorgegangenen Leiter von privaten und sogenannten öffentlichen Wohltätigkeits- 
anstalten für Idioten oder Epileptische bekämpfen.« 

Ich weiß nicht, wer außer mir eine solche Artikelreihe in »heil- 
pädagogischen« Zeitschriften veröffentlicht hat. Und Tatsache ist es, 
daß in dem Zmmerschen Artikel viele meiner Gedanken wiederkehren, 
womit ich aber keineswegs die Verantwortung für alles Gesagte über- 
nehme. Wenn Herr Dr. Jexz das Angeführte aber in Bezug auf 
meine Artikel behauptet haben sollte, so machte er sich einer argen 
Entstellung und einer Unterschiebung falscher Motive schuldig, was 
weder »vornehm« noch »objektiv« wäre. Unter andern bin ich weder 
Leiter einer Anstalt für Idioten noch für Epileptische, noch habe ich 
vom Standpunkte des Standesegoismus aus die ärztliche Leitung be- 
kämpft, sondern nur Übergriffen abgewehrt. Das »heilpädagogisch« 
in Anführungszeichen bedeutet zudem für Verständnisfähige ungefähr 
dasselbe wie »Kurpfuschereie. Und die Art, wie er von Zmner als 
»Laien« spricht, der sich auf ein Gebiet begebe, von dem er nichts 
verstehe, und der Gefahr laufe, sich ebenso zu verirren, als wenn er 
behaupte, »die Idiotie sei eine Gehirnkrankheit«, bestärkt nur diese 
Auffassung. Aber sonderbar, was ich Dr. Weycanpr abstreite, das 
streitet Dr. Jexz Prof. Zimmer ab. »Idiotie ist keine Gehirnkrank- 
heit, sondern höchstens die Folge oder ein Symptom einer selchen«, 
sagt Dr. Jexz in fast wörtlicher Übereinstimmung mit mir. Er mußte 
ja nun eigentlich daraus folgern: dann hat der Mediziner nichts mit 
ihr zu schaffen. Er folgert aber das Gegenteil. Doch will ich mich 
in diesen Streit nicht weiter einmischen, sondern lediglich die 
Kampfesweise damit kennzeichnen. 

Auch später, Seite 533, stellt er wieder Behauptungen auf gegen 

Die Kinderfchler. IX. Jahrgang. ll 


169 A. Abhandlungen. 


er te i a rn EHER 





die »meisten der Aufsätze, die von pädagogischer Seite ausgehen«, 
welches unbegründete Verdächtigungen sind, wenn sie sich auf unsere 
Zeitschrift beziehen sollen. Sollen wir in beiden Fällen aber nicht 
gemeint sein, warum nennt Herr Dr. Jexz dann nicht seinen Prügel- 
jungen? »Vornehm« und »objektiv« ist das wiederum nicht. 
Unmittelbar darauf nennt er zwar endlich in seiner »vornehmen« 


Art einen Bösewicht. Es steht Seite 533: 

»Beiläufig will ich nur bemerken, daß mir häufig die wenig objektive Art 
und eine gewisse Überschwenglichkeit in den Aufsätzen von Pädagogen, die die 
Fragen der Idiotenbehandlung erörtern, aufgefallen ist, so daß ich zuweilen unwill- 
kürlich beim Lesen solcher Aufsätze denken mußte: wo die Begriffe fehlen, da stellt 
zur rechten Zeit ein Wort sich eın. Schrieb mir doch einmal auch ein solcher 
Pädagoge, der mir über ein Kind berichten wollte. »ihre Psyche flattert umher wie 
ein Schmetterling, der keine Ruhe finden kann.« Das ist ja entschieden wunderschön 
gesagt — ich hatte dieselbe Wendung übrigens nicht lange vorher, wennich nicht 
irre, in einem Aufsatz der Zeitschrift für Kinderforschung gelesen und sie 
hatte mir damals schon entschieden imponiert —, aber leider konnte ich mir wenig 
Positives dabei vorstellen oder für die Beurteilung des Kindes daraus Nutzen ziehen.« 


Es ist sein gutes Recht, in dem Streite die Schwächen der 
Lehrer oder wie er an anderer Stelle wieder in Anführungszeichen 
höhnt, der »Pädagogene, zu geißeln. Das kann ihm niemand verargen. 
Aber wer geistig und moralisch so viel höher stehen will, der sollte 
objektiver denken können und nicht mit so überkleinlichen Waffen 
in einer so ernsten Sache kämpfen. Vornehmer, gescheiter, tapferer 
und humaner wäre es z. B., die verantwortliche Mecklenburgische 
Regierung anzufassen, wenn die Lehrerschaft dort wirklich beruflich 
so ungenügend vorgebildet ist, als er wiederholt betont, also für die 
Lehrer an Vorbildung mit Entschiedenheit zu fordern, was ihm als 
Arzt ja zumeist auf Staatskosten (insofern Gymnasium und Universität 
Staatsanstalten sind) zu teil geworden ist. Denn als typisch muß er das 
Beispiel doch betrachten. Sonst hätte es ja keinen Zweck. Und im 
andern Falle mag er doch den Mann nennen und nicht den ganzen 
Stand damit belasten. Ob der Satz in unserer Zeitschrift gestanden, 
weiß ich nicht. Ich würde aber keinen Artikel ablehnen, der ihn 
enthielte, noch auch den Satz streichen. So kleinlich wird uns ja 
wohl kein Leser halten. Und wenn Herr Dr. Jexz sich nichts dabei 
denken konnte, dann wird der Lehrer entschieden gescheiter gewesen 
sein, der sich etwas dabei gedacht hat. Auch bin ich überzeugt, daß 
unsere Leser genau wissen, was der Lehrer damit meinte, der sich 
zudem in der noch einigermaßen anständigen Gesellschaft von — 
Herrder befindet, wie der vortreffliche Artikel über »Herder und die 
Kindesseeles in voriger Nummer der Zeitschrift von Prof. Dr. Leo 
Lascer bekundete. Wenn unsere logische Bildung so tief stände, daß 


Trürer: Medizin und Pädagogik. 163 





»eins« oder selbst »einige« für uns gleich »alle« bedeuten, daß wir 
mit einzelnen Vorkommnissen eine allgemeine Forderung begründen 
wollten, dann hätten wir es leicht, wenn wir, was uns übrigens nie 
eingefallen ist, die Unfähigkeit oder nur Unzweckmäßigkeit der Ärzte 
für die Leitung von Idiotenanstalten beweisen wollten. Ich würde 
den von mir hochgeschätzten Stand beleidigen, wollte ich auch nur 
die öffentlich bekannt gewordenen Vorkommnisse, geschweige denn 
die mir persönlich bekannt gewordenen psychiatrischen Unkenntnisse 
einzelner Ärzte ihm irgendwie zur Last legen. Ich wünsche nur, daß 
die Kampfesweise von Jexz und WeryGannt nicht das Verhältnis unserer 
pädagogischen Leser und Mitarbeiter zu den ärztlichen trüben möge. 

Wie Jesz überhaupt den Lehrer einschätzt, dafür ein Beispiel. 

Er sagt S. 536/7 vom Arzte: 

»In gewissem weiteren Sinne ist nämlich jeder Arzt, besonders der Irren- 
arzt stets mehr oder weniger Pädagog.«... »Der Arzt als Leiter einer Idioten- 
anstalt oder einer Anstalt für Epileptische kommt vollständig mit seiner ihm ver- 
möge seines Berufes innewohnenden Erziehungskunst aus.« 

Würde ein Lehrer dasselbe in Hinblick auf die Heilbehandlung 
sagen, sofort träfe ihn von Jexz und Genossen ohne Gnade der Bann- 
strahl »Kurpfuscher«. 

Herr Dr. Jexz sagt weiter Seite 537 vom Lehrer: 

»Wir wollen und können absolut in diesen Anstalten nicht auf die Mitarbeit 
des Lehrers verzichten, seine Tätigkeit und Hilfe bei der Behandlung von Idioten 
und Schwachsinnigen wird in keiner Weise von uns unterschätzt, wir halten sie im 
Gegenteil für unentbehrlich.<.... »Beide, der Lehrer an der Idiotenanstalt wie der 
Masseur, sind Gehilfen des Arztes, die, selbst ohne volles Verständnis für die 
Ursachen und Eigentümlichkeiten des einzelnen Erkrankungsfalles, doch im stande 
sind, vermöge ihrer beruflichen Ausbildung dem Arzt bei der Behandlung der be- 
treffenden Kranken wesentliche und oft unentbehrliche Dienste zu leisten — Dienste, 
die, wenn der Arzt sie selber übernehmen müßte, seine Kraft und Zeit unnötig und 
ungebührlich in Anspruch nehmen würden — und so oft die Behandlung erst zu 
einer erfolgreichen zu machen.« 

Das ist genau dasselbe wie das mittelalterliche Verhältnis des 
Geistlichen zum »Organisten, Schulmeister und Küster«, wie es in 
Mecklenburg ja wohl noch zu Recht besteht. Da ist es uns un- 
möglich, über die Frage selbst mit Herrn Sanitätsrat Dr. JExz noch 
zu streiten. Wir leben im 20. Jahrhundert. 

Diese Behandlung eines ganzen Standes, dem in unserm Vater- 
lande ca. 5 Millionen mindestens 8 Jahre und täglich mindestens 5 Stun- 
den anvertraut sind, ist um so unerhörter, als die Frage der Standes- 
ehre bei manchen Ärzten gegenwärtig eine so hervorragende Rolle 
spielt und jeder, der nur irgendwie in ihre Berufswirksamkeit hin- 
übergreift, sofort als »Kurpfuscher« hingestellt wird. 

11* 





164 A. Abhandlungen. 





Wir wollen nicht Gleiches mit Gleichem vergelten und nun auch 
bei jeder Gelegenheit von »Schulpfuschern« reden. Wir wollen viel- 
mehr nach wie vor daran festhalten, daß Medizin und Pädagogik, 
Arzt und Lehrer bei der körperlichen und geistigen Entfaltung nicht 
bloß der »Idioties, nicht bloß der Abnormen schlechthin, sondern 
der gesamten Jugend Hand in Hand arbeiten müssen und daß das 
nur möglich ist, wenn jeder Stand den andern und jede Wissenschaft 
die andere als ebenbürtig anerkennt. Beides sind notwendige orga- 
nische Glieder am Volksorganismus. Je mehr eins dem andern Hand- 
reichung zu leisten sucht, desto besser für beide Teile. 

Keineswegs vertritt auch Herr Sanitätsrat Dr. JEexz, die Ansichten 
des gesamten Ärztestandes. Mit Männern, wie BERKHAN, BINSWANGER, 
Koch, KRUKENBERG, PELMAN, ZIEHEN u. a, wissen wir uns in der 
schwebenden Frage durchaus zu verständigen.!) Jenen Anschauungen 
und Angriffen gegenüber aber werden wir uns um des Zusammen- 
arbeitens willen nach wie vor nur abwehrend, aber entschieden 
abwehrend verhalten. 


3. Zur Abwehr der Kampfesweise des Herrn Dr. phil. et med. Weygandt. 


Der Angriff von Herrn Sanitätsrat Dr. Jenz ist harmlos gegen- 
über einem längeren Artikel von Herrn Dr. phil. et med. WEYGAnDT 
in Nr. 38 v. J. der von dem Oberarzt Herrn Dr. med. BRESLER in 
Lublinitz herausgegebenen »Psych.-Neurol. Wochenschrift« (Verlag 
von Carl Marhold-Halle) mit der Überschrift »Über die Leitung des 
Idiotenwesens«, worin er gegen unsere Zeitschrift wie gegen die »Zeit- 
schrift zur Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer«e den un- 
geheuerlichen Vorwurf erhebt: »dafs in der Zeitschriftenliteratur des Idioten- 
wesens die Ärzte nur geduldet sind, aber nicht einmal das Recht haben, sich 
persönlichen Invektiven gegenüber ihrer Haut zu wehren.«< Das heißt für 
uns: unser ganzes Programm und unsere neunjährige Zusammenarbeit 
war unlauter und gründete sich auf den Mißbrauch des Vertrauens 
der mitwirkenden Ärzte! 

Was veranlaßte Herrn Dr. Weycanor dazu? Und ist das irgend- 
wie begründet? 

In Heft I (Januar) und III (Mai) des Jahrganges 1902 dieser Zeit- 
schrift veröffentlichte ich, wie unsere älteren Leser sich erinnern, 
ein paar Artikel mit der Überschrift: »Über das Zusammen- 





1) Der Leser wolle z. B. den nachstehenden Artikel Kochs über die Schul- 
arztfrage nach Ton und Inhalt mit den Ausführungen von Jenz und WEYGANDT 
verglichen. 


TRÜPER: Medizin und Pädagogik 165 
wirken von Medizin und Pädagogik bei der Fürsorge ab- 
normer Kinder.« In diesen Artikeln widmete ich u. a. auch der 
Schrift Weveanpts »Die Behandlung idiotischer und imbe- 
ziller Kinder in ärztlicher und pädagogischer Beziehung« 
(Würzburg 1900) eine eingehende Besprechung. Der Gesantinhalt 
meiner Ausführung ging dahin, daß Medizin und Pädagogik wie Ärzte 
und Lehrer im Hinblick auf die gesamte Jugend zur gegenseitigen 
Handreichung und Unterstützung immer wieder aufeinander ange- 
wiesen sind und daß darum die Frage, wer in den einzelnen Fällen 
die Leitung übernehmen soll, nicht so generell, wie Herr Dr. WEYGANDT 
es versucht, entschieden werden kann, daß aber das moralische Recht 
dort liegt, wo für den einzelnen Fall der »Löwenanteil« der Arbeit, 
wie Herr Dr. Wevscasor sich ausdrückte, zu leisten ist. Und wo 
Herr Dr. Wrycaxor diesen »Löwenanteil« für die Pädagogik unum- 
wunden zugestand, da, so sagte ich im Gegensatz zu ihm, hat sie 
auch das erste Anrecht auf Leitung der Veranstaltungen zur Für- 
sorge. Alles aber, was an Rückständigkeit in der einen oder andern 
Wissenschaft vorhanden ist, könne nicht mitsprechen, sondern hier 
müsse man zuvor auf Beseitigung der Mißstände dringen und um 
das zu ermöglichen, u. a. auch der Pädagogik das zubilligen, was 
die Medizin längst hat. 

Ich hatte lange zu der Schrift geschwiegen. Das ist richtig. 
Aber als diese Schrift vielfach als normativ betrachtet wurde, da 
durfte ich als Herausgeber d. Ztschr. nicht mehr schweigen. Kritiklos ein 
Buch wie das Weveanprsche hinnehmen, hieße die gemißhandelte Päda- 
gogik zum Sklaven nicht der Medizin, sondern eines Mediziners er- 
niedrigen. Die Grenzfrage, die er gestellt, mußte freimütig erörtert 
werden. Das habe ich versucht. Und in derselben Nummer steht 
neben der Kritik der Weycanptschen Schrift cine andere, wo ich die 
Angriffe eines einflußreichen Schulmannes auf die moderne Medizin 
und ihre Bedeutung für die Erziehung Abnormer schärfer als die 
Weycantsche Darstellung der Pädagogik zurückweise, ein Zeichen, 
daß ich nicht für die Pädagogik um der Pädagogen willen und gegen 
Medizin und Mediziner kämpfe, sondern lediglich für die Sache, 
der alle zu dienen haben. Ich habe an der Weyvcaxprschen Schrift 
gelobt, was ich loben konnte, und abgewiesen, was von unserm 
Standpunkte aus abgewiesen werden mußte. Herr Dr. WEYGaANDT 
nennt das zwar »an den Haaren herbeiziehen«. Ich darf aber doch 
wohl meine abweichenden Ansichten für ebenso wichtig als er die 
seinigen erachten und sie ebenfalls noch öffentlich zum Ausdruck 
bringen, selbst wenn jene Pflicht es nicht geböte. Oder stehe ich 


166 A. Abhandlungen. 


zu dem Mediziner auch in demselben Verhältnis wie der Jexzsche 
»Masseur«, der blind seine Ansicht sich anzueignen hat? Diese ein- 
gehende Kritik auch in den Einzelheiten war notwendig wegen des 
weittragenden Schlusses, der aus den gesamten Ausführungen gezogen 
wurde und der für die Abnormenfürsorge ungemein folgenschwer 
werden kann, wie ich das damals näher dargelegt habe. Um dieses 
Schlusses willen war es wichtig, die gesamten Prämissen auf ihre 
Richtigkeit und Tragweite hin zu prüfen, um so mehr, weil die 
Schrift als maßgebend hingestellt wurde, obgleich ich damals nicht 
wußte, daß sie cs auch sein sollte, daß sie im behördlichen 
Auftrage bearbeitet war, wie ihr Verfasser jetzt bekennt. 

Herr Dr. Wexycaxot hat zu meinem Aufsatze Jahr und Tag ge- 
schwiegen. Dann schrieb er mir urplötzlich am 3. Juni 1903: 


»Sic werden sich vielleicht schon gewundert haben, daß ich auf Ihre Angriffe 
in den »Kinderfehlern« bisher nicht antwortete. Ehe!) ich die längst fertige 
Antwort einer andern Zeitschrift übergebe oder sie als offenen Brief 
erscheinen lasse, möchte ich Sie fragen, ob Sie die Antwort, die selbstverständ- 
lich, wie bei den Angriffsartikeln nicht anders zu erwarten, polemisch gefärbt ist, 
in den Kinderfehlern selbst erscheinen lassen würden, so daß sie also vor den- 
selben Leserkreis käme, der die Augriffsartikel erhielt. 

Ich antwortete darauf: 

»Da ich mitsamt unserer Zeitschrift auf dem Standpunkte stehe, daß in der 
Heilerziehung Pädagogik und Medizin zusammenzuwirken haber und ich soviel ich 
kann auf das Zusammenwirken hinarbeite, so kann mir selbstverständlich 
eine weitere Diskussion der umstrittenen Frage in unserer Zeit- 
schrift nur willkommen sein, also auch eine Entgegnung auf meine 
eignen Artikel. Wenn ich darum auch eine endgültige Zusage erst nach der 
Lektüre ihrer Entgegnung geben kann, so bin ich doch grundsätzlich gerne 
bereit, jeden weiteren fördernden Beitrag zu der Frage zum Abdrucke zu bringen. 
Da ich dem sachlichen Grundgedanken Ihrer Schrift durchaus sympathisch gegen- 
über stehe, so teile ich auch ganz Ihre Ansicht, daß die Differenzen 
vor demselben Leserkreis klarzustellen sind. Haben Sie darum die Güte, 
mir Ihre Arbeit einzusenden. Ich gebe Ihnen dann so bald als möglich endgültige 
Antwort. In einem Punkte dürften Sie aber irren. Sie reden von »Angriffen«. 
Mein Doppelartikel war eine Abwehr nach zwei Seiten. Darauf darf ich Sie wohl 
im vorab schon aufmerksam machen.« 


Ich erhielt dann später den Artikel, von der — Schriftleitungder 
»ZJeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epi- 
leptischer« zugesandt. Auf meine Anfrage hin erfuhr ich, daß auch 
der pädagogische Mitherausgeber, Herr Direktor SCHRÖTER, sich zu 
der Aufnahme bereit erklärt hatte, wenn Herr Dr. WEYGANDT 
die persönlichen Angriffe (nicht: die Abwehr persönlicher In- 


1) Die Sperrungen der Zitate sind von mir veranlaßt. Tr. 


Trürer: Medizin und Pädagogik 167 


vektiven!) fortließe und ich den Artikel ablehnen würde, da er doch 
nur vor demselben Leserkreise Zweck habe. 

Jene Drohung des Herrn Dr. phil. et med. Wersaxpr enthielt 
also eine nackte, wissentliche Unwahrheit. 

Daraufhin habe ich Herrn Dr. Weysaxpr am 30. Juni doch noch 
folgendes geantwortet: 


Ihren von der Redaktion der »Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger 
und Epileptischer« abgelehnten Artikel habe ich mit Dank empfangen und nunmehr 
gelesen. Es entspricht jedoch, um mit Ihren eignen Ausdrücken zu reden, »den 
in wissenschaftlichen Kreisen üblichen Gepflogenheiten nicht«,, nach fast 2 Jahren 
noch eine Entgegnung auf eine Buchbesprechung zu bringen, die ich Ihnen gleich 
nach dem Erscheinen derselben zugesandt habe. Unsere Leser werden sich der 
Einzelheiten meiner Artikel ja gar nicht mehr erinnern und den zahlreichen neuen 
Abonnenten sind dieselben ja ganz und gar unbekannt geblieben. Hätten Sie jedoch, 
wie ich Ihnen das letzte Mal schrieb, in einer streng sachlichen Entgegnung einen 
wesentlichen Beitrag zur Lösung der schwebenden Frage geliefert, so wäre mir der- 
selbe selbstverständlich auch jetzt noch willkommen gewesen und 
auch dann, wenn Sie meinen Ansichten in allen Punkten entgegen- 
getreten wären. Auch, wenn Sie Ihren Artikel dahin umarbeiten und durch 
Streichung des für unsere Leser Selbstverständlicheu kürzen wollen, steht unsere 
Zeitschrift Ihnen jederzeit zur Verfügung. Ich würde auch nach zwei 
Jahren noch jede Berichtigung, die Sie nach dem Erscheinen des Artikels 
ja ohnehin auf Grund des Preßgesetzes verlangen konnten, gern aufnehmen, 
denn es hat mir schr fern gelegen, Ihnen in irgend einem Punkte unrecht zu tun, 
sowohl in sachlicher wie in persönlicher Hinsicht. Aber eine Antikritik von 21 Seiten 
können Sie nicht als eine derartige Berichtigung betrachten. Außerdem würde ein 
solcher Artikel auch erst im Laufe des nächsten Jahres zum Abdruck kommen 
können, weil noch auf lange hinaus der Raum für alle Hefte besetzt ist, und Ihren 
Artikel, mit dessen Einsendung Sie selbst über 1'', Jahre Zeit hatten, jetzt als einen 
dringlichen aufzufassen und zu bevorzugen, werden Sie einer Redaktion nicht zu- 
muten. Das entspricht keinen Gepflogenheiten. Eine kurze, den Gepflogenheiten 
entsprechende Berichtigung hätte ja selbstverständlich sofort in jedem Hefte Platz 
gefunden. Im ubrigen aber liegt auch sonst noch Literatur vor, die mich als 
Herausgeber der Zeitschrift zwingt, zu der Frage »Medizin und Pädagogık« aufs 
neue Stellung zu nehmen und einzelne Punkte noch etwas deutlicher zu beleuchten. 
Ich denke meine Kritik Ihrer Schrift wird dann vielleicht auch noch etwas ver- 
ständlicher werden. Für die sachliche Weitererörterung werde ich also selbst Anlaß 
geben. Unsere Zeitschrift steht dann nach wie vor auch abweichen- 
den Ansichten offen. 

Ich will selbstverständlich hier keine Antikritik liefern. Aber auf ein paar 
Punkte möchte ich Sie doch hinweisen, ich denke in Ihrem Interesse. Zunächst 
nennen Sie meinen Artikel »Angriffe. Ich schrieb Ihnen neulich schon, daß es sich 
in demselben lediglich um eine Abwehr handelte; nicht um eine Abwehr persön- 
licher Art, sondern um eine solche, die das öffentliche Interesse erheischt, das ich 
als Herausgeber der Zeitschrift zu vertreten habe. Ich kann mir psychologisch 
vielleicht erklären, wie Ihnen gar nicht zum Bewußtsein gekommen ist, daß Ihre 
Schrift augreifend vorgegangen ist. Ich sollte aber meinen, aus meiner Antwort 
hätte Ihnen das klar werden müssen. 


168 A. Abhandlungen. 





Wenn Sie Ihren Artikel genau prüfen, so werden Sie weiterhin finden, daß 
Punkt für Punkt, was Sie mir darin vorhalten bis auf den Druck- oder Schreib- 
fehler des fehlenden »h«,!) auf diesen Ihren Artikel selbst zutrifft, und wenn Sie 
dann meinen Artikel nochmals genau lesen, dann werden Sie finden, daß vieles, 
was Sie mir vorwerfen, von mir gar nicht behauptet wurde. Es kann nicht meine 
Aufgabe sein, Ihnen das brieflich im einzelnen nachzuweisen. Die Mühe wird sich 
erst lohnen, wenn Ihr Artikel irgendwo erscheinen sollte. 

Aber nur einen Punkt Ihrer Antikritik möchte ich an dieser Stelle klarstellen, 
weil er sagt, daß Sie eine persönliche Ehrenkränkung in meiner Abhandlung emp- 
fanden. Da solche Absicht mir sehr fern gelegen hat, so halte ich es selbstver- 
ständlich für eine Ehrenpflicht, Sie darüber aufzuklären. Mutmaßlich wird das 
auch wohl der Punkt gewesen sein, der ein Gefühl schuf, das Ihnen den mir sonst 
nicht begreiflichen Artikel diktiert hat. Sie schreiben Seite 21: 

»Das Stärkste in seiner Polemik leistet sich Herr TrürErR, indem er mir 
das Motiv des Suchens nach persönlichen Vorteil unterschieben will und von 
‚Forderungen Dr. WiyGasprs und einiger anderer Ärzte, die so Beschäftigung 
suchen,‘ zu reden wagt.« 

Ich gestehe gerne zu, daß beim flüchtigen Lesen jemand zu Ihrer Auffassung 
kommen und mir den von Ihnen vorgeworfenen Gedanken unterschieben kann, 
aber nichts hat mir ferner gelegen, als bei diesem Satze an das Suchen nach 
Ihrem eigenen persönlichen Vorteil zu denken. Es liegt ja auch ganz klar auf 
der Hand, daß ich den Nebensatz nur »auf andere Ärzte« und nicht auf Sie 
gemünzt haben kann, und meines Erachtens kann er sich bei genauer Prüfung 
auch sprachlich und logisch nur auf die letzteren beziehen, was, wie gesagt, 
aber beim flüchtigen Lesen übersehen werden kann. Doch für Flüchtigkeiten 
anderer bin ich nicht verantwortlich. Ich habe an der Haud Ihrer Schrift gerade 
deshalb die Punkte so scharf hervorheben können, weil dieser Gedanke, das 
Suchen persönlicheu Vorteils, beiIhnenfürjeden Leserausgeschlossen 
ist und weil genau dasselbe auch bei mir zutrifft, denn ich stehe in der Frage 
persönlich ganz außer Schußweite. Wer mich persönlich oder meine Anstalt näher 
kennt, dem brauche ich das nicht mehr zu sagen. Ich glaubte darum auch, diese 
Frage besprechen zu dürfen, ohne in den Verdacht irgend welcher persönlichen 
Interessen kommen zu können. Bei andern trifft das auf beiden Seiten eben nicht 
immer zu, und darum ist die Diskussion der Frage auch auf beiden Seiten nicht 
immer ganz objektiv geblieben. Daß ich Sie persönlich nicht gemeint baben kann, 
geht doch schon daraus hervor, daß ich wußte und aus dem Titei des Buches, den 
ich voll abdruckte, ersah, daß Sie Privatdozent seien und mithin eine ganz andere 
Karriere einschlagen wollten, die bei jener Frage ja absolut nicht iu Betracht 
kommeu kann. Ich wußte ja auch ferner und habe das auch in meiner Rezension 
gesagt, daß Sie nach der einen Seite hin mit mir das redliche Bestreben haben, auf 
eine Zusammenarbeit von Medizin und Pädagogik hinzuwirken. Sie haben das be- 
wiesen durch Ihre Mitarbeit an unserer Zeitschrift, an der Zeitschrift für die Be- 
handlung Schwachsinniger und Epileptischer usw. Aber daß es noch »andere Ärzte« 
gibt, ich denke dabei namentlich an die vielen beschäftiguugslosen der Großstädte, 
die hier auf Anstellung hoffen, das wissen Sie besser als ich, und daß dieselben 


1) In »erethisch« hatte der Setzer das »hs fortgelassen, was ich bei der 
Korrektur übersehen und Weycaxpt hervorhebt, während er den Namen des be- 
kannten Pädagogen und Philosophen regelmäßig »Herbarth« schrieb. 


Trürer: Medizin und Pädagogik. 169 


einen starken Einfluß auf die Frage ausüben und ausgeübt haben, werden Sie gewiß 
auch nicht leugnen wollen, auch wenn es nicht so handgreifiich und direkt nach- 
gewiesen werden kann, und wenn es geschehen könnte, würde man es ja selbst- 
verständlich unterlassen, eben weil diese Herren ja bedaueruswert genug sind, als 
daß man sie deswegen noch direkt angreifen und verurteilen sollte. 

Zum Überfluß will ich noch hinzufügen, daß es im Grunde doch für Sie 
etwas Verdienstvolles ist, wenn Sie aus sozialer Fürsorge für Ihre Kollegen 
in dieser Sache eintreten. Ich meine also, daß Sie hier wie auch an andern 
Stellen gegen Gedanken kämpfen, die mir selbst im Traum nicht ein- 
gefallen sind. 

Wie gesagt, wenn jene falsche Auffassung Ihnen das übrige diktiert haben 
sollte, so sind vielleicht auch andere Vorwürfe von diesem Gesichtspunkte aus ver- 
ständlicher. Im andern Falle ist mir Ihre ganze Entgegnung einfach nicht begreif- 
lich. Wenn ich irgend eine andere Absicht hätte, als für eine gute Sache zu 
kämpfen, dann könnte mir nichts willkommener sein, als Ihren Artikel in unserer 
Zeitschrift eiligst zum Abdruck zu bringen. Zur Abwehr brauchte ich nur die be- 
treffenden Stellen aus meinen früheren Artikeln in Fußnoten dazu abzudrucken 
und könnte dann das übrige Urteil ruhig den Lesern überlassen. 

Aber ich habe und suche keine persönliche Gegnerschaft und erst 
recht keine derartigen Genugtuungen. Wenn aber der alte Hohenzollerngrundsatz 
verletzt wird: »Jedem das Seine«, dann werden Sie mich immer unerschrocken auf 
dem Plane finden, gleichviel wer dann für oder wider mich ist. 

So bitte ich meine Artikel verstehen zu wollen. 

Endlich darf ich Sie wohl noch darauf aufmerksam machen, daß Sie sich mit 
Ihrem Briefe vom 3. dieses Monats eine arge Blöße gegeben haben. Kommt Ihr 
beiliegender Artikel zum Abdruck, so bedauere ich, dieselbe zur Charakterisierung 
Ihrer Kampfweise öffentlich aufdecken zu müssen, worauf ich Sie im vorab auf- 
merksam machen möchte, 

Nun kann ich es Ihrem eignen Ermessen ganz überlassen, mit dem Artikel zu 
machen, was Sie wollen.« 


Wiederum verging ein halbes Jahr, bis am heiligen Abend mir 
der Postbote »einen offenen Brief« von Herrn Dr. phil. et. med. Wer- 
GANDT übergab, enthaltend einen Sonderabdruck aus Nr. 38 vorigen 
Jahres der »Psychiatr.-Neurol. Wochenschrift«. Ich sah, daß es der 
bekannte Aufsatz war und ließ ihn bis gegen Ende Januar liegen, 
wo mir Freunde mitteilten, daß er auch sie mit dem Sonderabdruck 
beschenkt habe!) und sie mich nach Dingen fragten, die mir nicht 
bekannt waren und die mich nötigten, den Artikel doch noch einmal 
zu lesen und mich nun auch veranlaßten zu einem Wort ent- 
schiedenster Abwehr an eben demselben Orte. 

Das gab aber allerlei Hindernisse in der »Psychiatr. Wochen- 
schrift«e. Der mir persönlich bekannte Schriftleiter gewährte mir 2 


I!) Nach einer Briefkastennotiz ist er auch an den Herausgeber wie an Leser 
der mitbeschuldigten Schröter - Wildermuthschen Zeitschrift gesandt, also für größt- 
möglichste Verbreitung gesorgt worden. 


170 | A. Abhandlungen. 


Spalten, während er uns auf 20 Spalten angreifen ließ. Weil ich 
den Raum überschritten hatte, erhielt ich den Artikel mit dem Er- 
suchen um Kürzung auf 2 Spalten zurück. Ich kürzte. Aber wieder- 
um kam er zurück. 

Herr Dr. BresLer wünschte »Beschränkung des Inhaltes auf die 
bloße Angabe des Tatsächlichen«e. Mehrere Urteile, trotzdem ich sie 
hinreichend begründet hatte, wies er zurück. 

In der »Psychiatr.-Neur. Wochenschrift« hatte ich doch kein 
Wörtlein gegen Herrn Dr. Wryeaxor gesagt. Man läßt uns dort aber 
vor den Lesern unerhört angreifen. 

Auch Herr Sanitätsrat Dr. WiLpermur# hat nach Weysannrs Be- 
hauptung den Artikel in der »Zeitschr. f. d. Behandl. Schwachs. 
und Epil.« ohne weiteres aufnehmen wollen. 

Da frage ich nun, gegen wen Herr Dr. Weycaxpt die eingangs 
erwähnte Anschuldigsung erheben mußte. Ich tue es nicht, weil ich 
gar nicht anders kann, als annehmen, beide Herren haben in dem 
guten Glauben gehandelt, daß jene Anschuldigungen auf Wahrheit 
beruhten. 

Zu dem Artikel selbst aber sei noch folgendes zur Abwehr be- 
merkt. 

In manchen Punkten stimme ich nach wie vor mit Herrn Dr. Wer- 
GAXDT überein. In andern muß ich aber nach wie vor entschieden 
widersprechen. Soweit die Sache selbst in Frage kommt, genügt es 
darum vorläufig, den Leser einfach auf meine Artikel zu verweisen. 
Dort ist, wie gesagt, das Meiste schon widerlegt. Selbst »die derbe 
Bezeichnung« »Kauderwelsch« — um nur ein Beispiel zu nennen — 
hat dort ein wesentlich anderes Gesicht und ist gar nicht gegen WEY- 
GAxDT gerichtet, auch ist sie nicht gegen Ärzte und Medizin, sondern 
im Interesse beider mir entschlüpft, wenngleich ich die sachlichen Ein- 
wände des Herrn Dr. Weycaxor, die schon vor Jahr und Tag Herr 
Dr. STROHNEYER hier an diesem Orte bei Besprechung meiner Schrift 
über »Abnorne Erscheinungen im kindlichen Seelenleben« erhoben, auch 
gcrne als die Kehrseite meiner Wünsche anerkenne. Und diese STROH- 
MEYERSChe Bemerkung veranlaßt mich, hier zu erklären, daß das, was 
ich wünsche, sich deckt, sogar völlig deckt — und mehr kann man 
von mir doch nicht verlangen — mit den Thesen, die Herr Dr. med. 
Reıssıs-Hamburg als Ergebnis seines Vortrages: »Über die sogenannte 
Naturheilkunde« auf der »1. Jahresversammlung der deutschen 
Gesellschaft zur Bekämpfung des Kurpfuschertums« nach 
dom Berichte in Nr. 3 d. J. der »Ärztlichen Mitteilungen « auf- 
stellte: 


Trürer: Medızin und Pädagogik 171 


1. »Aufklärung über die mannigfachen Gebiete der Heilkunde ist notwendig; 
sie entspricht dem Verlangen des Volkes. 

2. Wahre Aufklärung durch Schrift und Wort ist zur Zeit die erfolgreichste 
Waffe im Kampf gegen die Ausbreitung der Kurpfuscherei. 

3. Die Mehrzahl der Ärzte hat im Gegensatz zu früher nichts mehr gegen 
eine einwandfreie populär medizinische Literatur einzuwenden, befürwortet 
letztere vielmehr, da sie in gleicher Weise den Laien wie den Ärzten nützt.« 


Herr Dr. Reıssıs fügt aber hinzu: »Selbst die Ärzte, die vordem 
zu den entschiedensten Gegnern zählten, finden sich mit diesem 
Wandel der Anschauungen ab«. Und wenn meine Worte sich in 
einer drastischen Wendung, begründet durch unwiderlegte Beispiele, 
gegen die Rückständigen wenden und für diesen Wandel eintreten, 
so sollte man doch auch mir daraus keinen Vorwurf machen wollen. 
Ja, ich kann, um damit eine für eine humane Sache schwerwiegende 
Anschuldigung des Herrn Dr. Wrvaasor abzuweisen, noch hinzufügen, 
daß ähnliche Gedanken, wie sie der Vortrag von Herrn Dr. Reıssıc 
bietet, bereits vor Jahren in der von mir mit herausgegebenen »Zeit- 
schrift für Kinderforschung«e zum Ausdruck kamen und der Artikel 
auf meine Veranlassung von Herrn Dr. med. Wiwpegera, jetzt Leiter 
des Sanatoriums Schwarzeck in Blankenburg i. Thür., verfaßt worden ist. 

Wenn wir aber fragen, warum Herr Dr. Weycaspr sich denn 
eigentlich in einer so vorwurfsvollen Polemik ergeht und in der Tat 
alles »bei den Haaren herbeizicht«, so wird diese Frage für einen 
psychologisch Tieferblickenden schon durch die Drohung beantwortet, 
seine Polemik in einem »offenen Briefe« erscheinen zu lassen. Dazu 
greift doch kein Gelehrter, der sachlich etwas will, zumal ihm unsere 
Zeitschrift ja dafür offen stand. Wer der Sache dienen will, wendet 
sich bei einer Entgegnung auch nicht zuerst an einen andern Leser- 
kreis, der seine Aussagen auf die Richtigkeit hin nicht zu prüfen 
vermag. Herr Dr. WeyGaxpr macht auch keinen Hehl aus seinen 
Absichten, obgleich er eingangs betont: 

»Für meine Person hätte ich selbst den grundlosen Verdacht des qui tacet, 
consentire videtur auf mich genommen, aber da es sich schließlich nur um eine 
Sache von prinzipieller Wichtigkeit handelt, fühle ich mich doch zu dem Versuche 
getrieben zu entkräften und meine Stelluugnahme nochmals zu begründen, vor allem, 
da die Frage der Leitung der Idiotenanstalten neuerdings auch von anderer Seite!) 
in den Vordergrund des Interesses gerückt ist.« 

Denn aus dem ganzen Artikel von Anfang bis zu Ende blickt 
immer wieder cin Anderes hervor. 

Gleich anfangs stellt er dem ceben angeführten Satze folgenden 
voran: 


1) Dr. Jexz, »Zur Streitfrage zwischen Ärzten und Pädagogen« in »Die Kranken- 
pflege«, Il. S. 530. 


12 A. Abhandlungen. 


»Ursprünglich fehlte mir die Neigung, auf die Polemik einzugehen, die von 
den in wissenschaftlichen Kreisen üblichen Gopflogenheiten vielfach nicht unerheb- 
lich abweicht.« 

Ich will über diese »Gepflogenheiten« nicht weiter streiten. 

Wir haben vorhin aktenmäßig dargelegt, daß Herr Dr. Weyeanpr 
eine den wissenschaftlichen Gepflogenheiten in unsern Kreisen ent- 
sprechende Entgegnung weder bei uns noch bei Schröter und Wilder- 
muth veröffentlichen wollte. 


Er wagt die Sache dagegen so darzustellen: 

»Das Sprichwort von dem fata libellorum bewährt sich diesmal auch bei einem 
bloßen Zeitschriftenartikel. Alsbald nach dem Empfang des zweiten Trüperschen Auf- 
satzes gegen mich, der über 1!/, Jahr nach meinem Buch erschien, entwarf ich eine 
Abwehr. Nach einer Herbstreise reichte ich diese dem ärztlichen Heraus- 
geber der »Zeitschrift zur Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer« ein, der 
zur Aufrahme freundlichst bereit war. Indes erhob der pädagogische 
Herausgeber dieser Zeitschrift allerlei Einwände!) und legte mir nahe, den Aufsatz 
in der Zeitschrift »Kinderfehler«, herausgegeben von Herrn Institutsdirektor TRÜPER, 
einzureichen. So wünschenswert es mir?) erschien, daß die Leser des Angriffs und 
die der Abwehr identisch wären, versprach ich mir doch keinen Erfolg von der 
Befolgung dieses Rates. Trotzdem machte ich den Versuch, um nach einiger Zeit 
meinen Aufsatz von Herrn Institutsdirektor TrÜrer zurückzuerhalten, in Begleitung 
eines Schriftstückes von diesem Herrn. Darin heißt es unterm 30. VI. 1903, es 
erscheine nicht angängig, »nach fast 2 Jahren noch eine Entgegnung auf eine Buch- 
besprechung zu bringen.«®) Wo die 2 Jahre stecken, ist mir rätselhaft. Mein 
Antwortsatz, sofort geschrieben hatte sich wohl etwas verzögert durch die »Zeit- 
schrift zur Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer«, doch war er 11 Monate 
nach dem Empfang des 2. Kinderfehlerartikels in Herrn Trürers Händen, der sich 
seinerseits zum Erscheinen seines ersten Kinderfehlerartikels doch über ein Jahr 
Zeit gelassen hatte. Klar jedoch leuchtet mir aus diesen Erfahrungen 
ein, daß in der Zeitschriftenliteratur des Idiotenwesens die Ärzte 
nur geduldet sind, aber nicht einmal das Recht haben, sich persön- 
lichen Invektiven gegenüber ihrer Haut zu wehren. Ich mache daher 
von der Gastfreundschaft der psychiatrisch-neurologischen Wochenschrift Gebrauch, 
in der Überzeugung, daß für ihre Leser auch Fragen des Idiotenwesens nicht ohne 
Interesse sind.« 

Wenn diese Angaben des Herrn Dr. Weysanpr richtig wären, 
dann könnte er nach aller Logik und Moral doch nur sagen: »Ich, 
Dr. phil. et med. Weycaxpt, wurde nicht geduldet«, und zwar nicht 
in der oder der Zeitschrift. Nun beschuldigt er die ganze Zeit- 
schriftenliteratur des Idiotenwesens, obgleich die unsere streng ge- 


nommen gar nicht unter jene Gruppe gehört, und er identifiziert sich 








1) Warum nennt er keinen und verschleiert alle? 

?) Scırröter hatte ihm bei der Ablehnung geraten, »ihn dort zu veröffentlichen, 
wo er sich für angegriffen hielt«e, wie er in Nr. 1 seiner Zeitschrift erklärt. 

3) So wagt die »wissenschaftlichee — Gewissenhaftigkeit mit meinen Erklä- 
rungen umzuspringen! 


Trürrr: Medizin und Pädagogik. 173 


mit »den Ärzten« schlechthin, während das Inhaltsverzeichnis sämt- 
licher Jahrgänge beider von ihm gemeinten Zeitschriften genau das 
Gegenteil des Behaupteten jedem bekundet, der nicht auf beiden Augen 
blind sein will. In welcher Wissenschaft ist aber diese Logik und 
diese Moral »üblich?« Nun wimmeln obendrein die Angaben in seiner 
Begründung von mehr als »Entstellungen« und »direkt falschen 
Wiedergaben von Äußerungen« — wie er von meinen Artikeln be- 
hauptet und mit diesen selben Mitteln zu beweisen sucht —, so daß 
die Logik Wersaxors: »Eins = Alle« lauten muß: »Auch die falsche, 
negative Eins = Alle. Und dem Doktor zweier Fakultäten leuchtet 
diese Logik »klar cine! 

Für uns dagegen enthält die Behauptung: »daß in der Zeit- 
schriftenliteratur des Idiotenwesens die Ärzte nur geduldet sind, aber 
nicht einmal das Recht haben sich persönlichen Invektiven gegenüber 
ihrer Haut zu wehren« eine falsche und obendrein verallgemeinerte, 
anscheinend zielbewußte Verdächtigung anerkannt verdienstvoller Be- 
strebungen um die Fürsorge unglücklicher Mitmenschen. Hier liegt 
ohne Frage keine »Tendenz im gewöhnlichen Sinne« zu Grunde, 
wie er für seine Schrift bestreitet. Nein, es ist eine solche in einem 
ganz außergewöhnlichen Sinne hiermit wohl erwiesen. 

Dieselben Mittel sind ihm auch recht, wenn er den vermeintlichen 
Gegner persönlich bloß stellen will. Nur zwei Beispiele dafür zur Abwehr. 

1. Auf dem Titelblatte cines früheren Prospektes meiner An- 
stalt steht: »für Kinder mit geschwächter oder fehlerhafter 
Veranlagung«. Ich wollte damit andeuten, was im Prospekt dann 
weiter ausgeführt ist, daß ich keineswegs bloß Schwachbegabte, son- 
dern auch überbürdete und willensschwache Kinder aufnehme, die 
dann später auf das Gymnasium oder die Realschule zurückgehen. 
Herr Dr. Weycaxor schreibt nun zur Abwehr meines Wunsches, daß 
die medizinische Literatur möglichst die zum Teil sinnwidrigen Fremd- 
wörter vermeiden möge: »Um so erstaunlicher erscheint mir Herrn 
Trüpers Vorwurf, als er doch in seinem Erziehungsheim für schwach- 
sinnige Kinder laut Prospekt selbst für Unterricht im Lateinischen 
Sorge trägt.« »Mit geschwächter und fehlerhafter Veranlagung« hatte 
er im Manuskript durchgestrichen und dafür »schwachsinnig« gesetzt, 
ein Ausdruck, der für unsere Zöglinge in ihrer Gesamtheit durchaus 
nicht paßt und den ich auch sonst tunlichst vermeide. Gefissentlich 
redet er auch von meiner »Idiotenanstalt«. Wie nennt man nun 
solche »Gepflogenheit«<? 

2. Herr Dr. Wivyaaxot klagt mich an: 


»Das Stärkste in seiner Polemik leistet sich Herr Trürer, indem er mir das 


174 B. Mitteilungen. 








Motiv des Suchens nach persönlichem Vorteil unterschieben will und von Fordernugen 
Dr. W.'s und einiger anderer Arzte, die so Beschäftigung suchen, zu reden wagt.« 

Zu dem Punkte hatte ich ihm brieflich die oben angeführte Er- 
klärung gegeben. 

Wenn nun Herr Dr. Wevysaxor seine Auffassung dennoch auf- 
recht erhalten wollte — und ich kann und will ihm das absolut 
nicht wehren —, so hätte man doch von einem Manne seiner Lebens- 
stellung auf alle Fälle erwarten dürfen, daß er wenigstens bekenne, 
ich hätte ihm brieflich diese Ehrenerklärung gegeben und seine Auf- 
fassung widerlegt. 

So geht es nun weiter vom »Stärksten« zum Schwächsten, auf 
dessen Widerlegung ich aus begreiflichen Gründen verzichten kann. 
Und wohl kein Leser wird es mir wie der Schriftleitung der »Zeit- 
schrift für Schwachsinnige und Epileptische« verargen, wenn wir 
davon 21 Seiten nicht bedingungslos »nach 11 Monaten« oder richtiger 
»nach fast zwei Jahren« abdrucken, zumal die Aufnahme noch durch 
unwahre Drohungen erzwungen — oder verhindert werden sollte. 

Diese Kampfesweise des Herrn Dr. Weysaxor ist um so mehr 
zu bedauern, als er mit meinen Schlußbemerkungen auf S. 164, 
Zeile 2—10 v. o., einverstanden sein dürfte. 


S DE Zar SEE DV a NANANA 


B. Mitteilungen. 





1. Der Schularzt im Oberamt Cannstatt. 
Von Medizinalrat Dr. J. L. A. Koch. 


Längst hätte ich gerne über einen Gegenstand referiert, an dem 
unsere Zeitschrift nicht achtlos vorübergehen darf, nämlich über das 
Schularztwesen im Oberamt Cannstatt in Württemberg. Leider 
hat mich ein längeres Unwohlsein und haben mich auch allerlei andere 
Dinge bisher verhindert, meine Absicht auszuführen. Um so mehr freut 
es mich, daß ich nun endlich doch Raum finde, einige Worte über diesen 
Gegenstand niederzuschreiben. 

Ja, es ist eine wahre Freude, über die Gestalt zu berichten, in 
welcher das Schularztwesen im Oberamt Cannstatt ins Leben getreten ist. 
Die Sache regt sich ja überhaupt immer mehr (vergl. auch unsere Zeit- 
schrift. Wer damit zu tun hat, kann sich für manches ein Muster in 
Cannstatt holen. — 

In Württemberg gibt es oberamtsärztliche (physikatsamtliche) Gemeinde- 
Medizinalvisitationen, die alle sechs Jahre wiederkehren. Diese Revisionen 
erstrecken sich auch auf die Schulen. Die Beobachtungen, die der Physikus 
des Oberamts Cannstatt, Medizinalrat Dr. Blezinger, bei seinen Schul- 
visitationen machte, und die Überlegungen, die er daran anknüpfte, be- 


D1 


Der Schularzt im Oberamt Cannstatt. 17 


fähigten ihn in besonderem Maße richtige Wege als Schularzt, der er 
selbst wurde, und für den Schularzt überhaupt zu finden. 

Oberamtsarzt Blezinger hat bei seinen Nledizinalvisitationen nicht 
nur der Anlage und Einrichtung der Schulen, sondern stets auch dem 
Gesundheitsstand der Schüler sein Augenmerk zugewandt. Dabei hat er 
immer eine Anzahl von Schülern herausgefunden, die körperliche oder 
geistige Defekte an sich hatten. Aber eine amtliche Fürsorge konnte 
dann eigentlich nur armen Schülern mit besonders auffallenden 
Schäden zu teil werden. Und wenn auch außerdem noch die Eltern und 
Pfleger der andern schadhaften Schüler durch Vermittlung des Schul- 
inspektors oder des Lehrers auf die Schäden aufmerksam gemacht werden 
konnten, so entzog es sich doch zunächst der Kenntnis des Physikats, 
welche Wirkung das hatte, das Physikat erfuhr nicht, ob etwas und was 
jeweils zur Abhilfe der Schäden geschah, und nach sechs Jahren erst 
wiederholte sich die Visitation in der einzelnen Gemeinde. Das empfand 
Dr. Blezinger als einen Mangel. Mit um so freudigerem Entgegen- 
kommen beantwortete er die Anfragen über seine Stellung zur Einführung 
regelmäßiger schulärztlicher Visitationen, welche das Kgl. Oberamt und 
das Stadtschultheißenamt Cannstatt im Frühjahr 1899 an ihn richteten. 

Bei der Darlegung seines Standpunktes ging Dr. Blezinger davon 
aus, daß an den oben gedachten württembergischen Medizinalvisitationen 
nicht gerüttelt werden dürfe. Es war.ihm klar, daß diesen Visitationen 
die hygienische Fürsorge für die Schulen mit Rücksicht auf die baulichen 
Einrichtungen usw. vorbehalten bleiben müsse. Aber auch noch abgesehen 
davon erschien ihm die Aufgabe des Schularztes, wie sie da und dort ge- 
stellt wurde, als zu groß und zu umständlich. Manche zeitraubenden und 
mühsamen Untersuchungen, so interessant sie für den Anthropologen sind, 
kommen für den Arzt doch erst in zweiter Linie in Betracht. Ihre Durch- 
führung belastet aber nicht nur den Arzt, sondern auch den Lehrer; und 
das war für Dr. Blezinger ein wichtiger Punkt, denn er war lebhaft 
davon überzeugt, daß überhaupt jede wesentliche Belastung der Lehrer ` 
vermieden werden müsse, wenn nicht die ganze Einrichtung von Anfang 
an in Frage gestellt werden solle. So bedingten äußere und innere 
Gründe die Anschauung, daß man sich auf das Notwendigste beschränken 
müsse. Diese Forderung sollte ganz besonders für den Anfang gelten. 
Das Notwendigste konnte aber für Dr. Blezinger nichts anderes sein, als 
das Heraussuchen der körperlich oder geistig »Schadhaften« unter den 
Schülern und sodann die Beseitigung der Schäden, soweit dies nur irgend 
möglich. Wie weit ist dies aber möglich? Es ist, abgesehen von der 
Heilbarkeit oder Unheilbarkeit eines Falles, jedenfalls nur soweit möglich, 
als die Mittel dazu vorhanden sind. Ohne das Vorhandensein oder die 
Schaffung von Mitteln, so sagte sich Dr. Blezinger, werde die schul- 
ärztliche Tätigkeit fruchtlos bleiben, sie könne und werde aber segensreich 
wirken, wenn die pekuniäre Frage für die Angehörigen der schadhaften 
Kinder eine wesentliche Rolle nicht spiele. Darum war er dafür, dab 
in allen Fällen, wo die Eltern nicht im stande sind, zu sorgen, daß aber 
auch nur in diesen Fällen öffentliche Kassen eintreten. 


176 B. Mitteilungen. 





Die Anschauungen und Vorschläge Dr. Blezingers fanden die Zu- 
stimmung der genannten Behörden. 

Nun wurden durch den Oberamtmann (Regierungsrat) des Bezirks 
und den ÖOberamtsarzt die Bezirks- und Ortsschulinspektoren, ganz be- 
sonders aber auch die Lehrer über ihre Auffassung der Sache befragt. 

Anfänglich fand der Gedanke, schulärztliche Untersuchungen einzu- 
führen, in diesen Kreisen nur eine sehr geteilte Aufnahme; schließlich 
aber wurde demselben allgemein zugestimmt. Dazu trug viel die von den 
beiden Beamten im Verlauf der Besprechungen wiederholt gegebene be- 
stimmte Versicherung bei, daß mit der Aufstellung eines Schularztes durch- 
aus nicht eine neue Aufsichtsbehörde geplant sei. Das ist aber ein durch- 
aus richtiger Grundsatz. Eine bureaukratische Beaufsichtigung und Be- 
vormundurg der Lehrer oder auch irgend ein Zurückdrängen derselben 
wäre bei diesem Stück jedenfalls ganz verkehrt, denn nur bei einer freudigen 
Mitarbeit der Lehrer, bei einem wirklichen Zusammenwirken von Päda- 
gogik und Medizin kann hier etwas Ersprießliches herauskommen, eine 
Erkenntnis, die unsere Zeitschrift von Anfang an in ihr Programm auf- 
genommen hat. Bei manchem einzelnen Stück fällt der Pädagogik sogar 
der wichtigere und größere Teil der Arbeit zu. Man denke nur an die 
Behandlung mancher, an einer psychopathischen Minderwertigkeit leiden- 
den Kinder. Ja oft schon da, wo es sich darum handelt, ein solches 
Leiden zu erkennen oder doch zu vermuten, kann der Lehrer, der das 
Kind fortlaufend unter Augen hat, das Beste tun. — Auch die Kgl Ober- 
schulbehörde gab ihre Zustimmung zur Einführung der geplanten ärzt- 
lichen Untersuchungen. Und da sich weiterhin die Amtskörperschaft in 
richtiger Würdigung der Sache zur Bestreitung des erwachsenden Auf- 
wandes sehr entgegenkommend. bereit erklärt hatte, so konnte der Plan 
zur Ausführung gelangen. 

Die Untersuchungen sollten sich nun auf sämtliche Volks- und Mittel- 
schulen und auch auf die öffentlichen Kleinkinderschulen der Stadt und 
des Bezirks erstrecken. Die Geschäfte wurden so verteilt, daß der Ober- 
amtmann die Besorgung des ökonomischen Teils derselben, die Korrespondenz, 
die Verteilung einzelner Kinder auf die Soolbäder usw., der Oberamtsarzt 
aber die ärztlichen Geschäfte übernahm. Die Vermittlung zwischen dem 
Schularzt und den Eltern der Kinder sollten die Ortsschulinspektoren und 
die Lehrer besorgen. Daß aber der Physikus zum alleinigen Schularzt 
für Stadt und Bezirk bestellt wurde, hatte seinen guten Grund darin, daß 
man von der Ansicht ausging, es sei eine einheitliche Regelung der schul- 
ärztlichen Untersuchungen mindestens für so lange nötig und wünschens- 
wert, als sich die Sache noch im Stadium des Versuchs befinde. 

Gegen Ende des Jahres 1899 konnte mit den Untersuchungen be- 
gonnen werden. Vom Oktober dieses bis zum Oktober des darauffolgenden 
Jahres wurden 6783 Schüler untersucht. Davon wurden im ganzen als 
schadhaft befunden 605 = 8,9°/,; in der Stadt erheblich mehr als auf 
dem Lande. Die zunehmende Übung aber hat in den nächsten Jahren die 
Zahl der herausgefundenen Schadhaften merklich erhöht. — Die Art, wie 
Dr. Blezinger bei seinen Untersuchungen im einzelnen zu Werke ging, 


Der Schularzt im Oberamt Cannstatt. 177 


scheint mir sehr zweckmäßig erdacht zu sein, und man versteht es wohl, 
daß er, indem er richtig Gedachtes richtig ausführte, nicht nur die willige 
und freundliche Unterstützung der Lehrer fand, sondern auch die Kinder 
selbst für sich und die Sache einzunehmen wußte, und sofort und um so 
leichter seine schönen Erfolge erreichen konnte, als die ganze Einrichtung 
auch vielen Eltern der Schüler willkommen war. Ich muß aber wegen 
des Details auf den Bericht verweisen, den er im Jahr 1901 im Medizinischen 
Korrespondenz-Blatt des Württembergischen ärztlichen Landesvereins er- 
stattet hat. 

Auch die Fürsorge für die Schadhaften wurde in trefflicher Weise 
eingeleitet und durchgeführt. Mancher Schaden konnte seine Heilung oder 
doch Besserung finden. Auch das kam vor, daß Schüler dem Turnunter- 
richt zurückgegeben werden konnten, weil die bezeugten Schäden, wegen 
deren sie Dispensation gefunden hatten, nicht mehr oder gar nie vorhanden 
waren. Dr. Blezinger spricht besonderen Dank den Spezialärzten aus, 
die sich in uneigennütziger Weise um einen Teil der schadhaften Schüler 
bemühten. Auch die Hausärzte stellten sich fast ausnahmslos freundlich 
zu der Sache, was auch gar nicht anders sein konnte bei dem konzilianten 
Vorgehen des Schularztes, der den Hausärzten die Fälle zuwies und in 
den Schulen, Sprechstunden usw. immer wieder erklärte, daß er nicht 
der Schülerarzt sein wolle und könne, sondern der Schularzt, ein Schul- 
arzt aber, der im Interesse der Sache Hand in Hand arbeitet mit dem 
Hausarzt. 

Auf einige Punkte möchte ich noch hinweisen. Zunächst darauf, daß 
Dr. Blezinger zwar auch die psychisch Schadhaften (pathologischer- 
weise psychisch Schadhaften) grundsätzlich in seine Untersuchungen und 
Erhebungen einbezieht, daß er aber bezüglich derjenigen Schulkinder, 
deren Leiden dlen psychopathischen Minderwertigkeiten beizuzählen ist, 
überall zunächst nur soweit ging, als er sicheren Boden unter den Füßen 
hatte. Auf diesem Gebiet handelt es sich für Ärzte und Lehrer jetzt noch 
vielfach vor allem um ein gründliches Lernen. Die erste Grundlage aber 
für die einzelnen schulärztlichen Untersuchungen wird auf diesem Gebiet 
noch mehr als auf manchem anderen im allgemeinen der Lehrer schaffen 
müssen. — Speziell hebt Dr. Blezinger hervor, daß die Sorge für die 
»Schwachen am Greist« wohl der Staat werde in die Hand nehmen müssen, 
zum Heil für die Schule und für die schwachen Kinder. Unter diesen 
Schwachen am Geist werden wohl wesentlich die au psychopathischen 
Degenerationen, also an bestimmten psychopathischen Minderwertigkeiten 
leidenden Kinder subsumiert sein. Bei solchen Kindern ist eine patho- 
logische psychische Schwäche dieser oder jener Art, immer aber eine 
Schwäche psychopathisch minderwertigen Maßes und Charakters vorhanden. 
Man muß sich aber nur überall von dem Irrtum frei halten, in dem zur 
Zeit noch manche Ärzte befangen sind, als ob die psychopathische Minder- 
wertigkeit bei den Schülern lediglich nur als schwache Begabung patho- 
logischer Art, als ein leichter Schwachsinn auftrete. Die Lehrer, die den 
psychopathischen Minderwertigkeiten ihre Aufmerksamkeit schenken, haben 
da aus ihrer Erfahrung heraus viel richtigere Vorstellungen als manche 

Die Kinderfehlor. IX. Jahrgang. 12 








178 B. Mitteilungen. 


Ärzte. Sie wissen es wohl, daß unter den an psychopathischer Minder- 
wertigkeit leidenden Schülern weit mehr solche Kinder sind, die nicht 
geistig schwach, beziehungsweise geschwächt, als Kinder, die an geistiger 
Schwäche leiden. Viele psychopathisch minderwertige Kinder sind hoch- 
begabt und können später etwas Rechtes, ja Hervorragendes werden. Die 
haben keinen Schwachsinn, wenn sie auch psychisch geschädigt sind. 

Des weiteren möchte ich nicht unerwähnt lassen, daß Dr. Blezinger 
seine Schulbesuche gerne auch dazu benutzt, daß er den Kindern populär- 
medizinische Belehrungen erteilt, namentlich solche aus dem hygienischen, 
speziell dem prophylaktischen Gebiet (Reinlichkeit und manches andere). 
Das ist etwas, was einem ganz besonders gefällt, denn Dr. Blezinger 
hält nicht zusammenhängende, systematische Vorträge, sondern er ergreift 
zu rechter Zeit den rechten Anlaß und beschränkt sich auch hier weise 
auf das unmittelbar Praktische. Das ist die wahre populäre Medizin für 
das Volk, die in dieser Weise unmittelbar aus dem Bedürfnis heraus- 
wächst, ihm sich anschmiegt und auf das jeweils wirklich Erreichbare 
sich beschränkt. Übrigens will Dr. Blezinger zufrieden sein, wenn nur 
dann und wann etwas in den jungen Köpfen hängen bleibt. 

Soviel in Kürze über das Cannstatter Schularztwesen. Man kann nur 
wünschen, daß diesem mit so viel Liebe und Selbstlosigkeit, so viel Um- 
sicht und Besonnenheit und mit so erfreulicher opferwilliger Unterstützung 
durch die berufenen Mitarbeiter unternommenen und betriebenen Werk ein 
fröhlicher Fortgang und eine immer größere Vervollkommnung beschieden 
sei, die notwendig dem Schularztwesen überhaupt zu gute kommen wird. 


2. a) Einige Bemerkungen 


zu der Abhandlung »Der erste Schreib- und Leseunterricht« usw. im 
1. Heft des 9. Jahrganges dieser Zeitschrift. 


Für die in diesem Aufsatze gegebenen Anregungen bin ich Herrn 
E. Schulze sehr dankbar; zweierlei nur will mir vorerst nicht zusagen: 
a) der Beginn mit großen Druckbuchstaben, b) die Trennung von Lesen 
und Schreiben. Ich habe das Folgende einzuwenden. 

Zu a. Wie Herr Schulze selbst sagt, weisen die großen und kleinen 
lateinischen Druckbuchstaben durchaus ähnliche Formen auf. Es kann 
daher, wenn diese nur in genügender Größe dargestellt werden, ebenso- 
gut mit den kleinen als, wie Herr Schulze will, mit den großen Druck- 
buchstaben begonnen werden. Für die kleinen bezw. gegen die großen 
Druckbuchstaben scheint mir zu sprechen: 

1. Eine an und für sich so formale Tätigkeit wie das Lesen verlangt 
nach Anwendung, die zunächst in Wörtern (von bekannten Eigenschaften) 
erfolgt. Werden diese aus Großbuchstaben gebildet, so erhält das Kind 
zunächst kein Gefühl für die Unzulässigkeit eines Großbuchstabens mitten 
im Worte; bei dem späteren Schreiben muß der Unterricht sich also 
hüten, an das bereits Erworbene anzuknüpfen! 

2. Mit vielen sehe ich den häufigen Gebrauch von Großbuchstaben 


Einige Bemerkungen. 179 


Des, 


als einen Zopf an, der zumal unserem Volke eignet; auch für den Unter- 
richt muß ich daher wünschen, daß die Großbuchstaben möglichst zurück- 
treten und die die Basis unserer Schrift bildenden Kleinbuchstaben die 
erste Stelle zugewiesen bekommen. 

3. Für das Wortlesen ist von Wichtigkeit, daß die zu einem Worte 
gehörenden Buchstaben vom Kinde auch als zusammengehörig erkannt 
werden können. So gewiß jedes einzelne Zeichen klar hervortreten muß, 
so gewiß müssen alle auch miteinander verbunden sein. Ich fürchte, 
daß andernfalls das leidige »heimliche Buchstabieren« wieder einsetzt. 
Das Kind wird die Laute einzeln lesen, nach jedem absetzen und sie erst 
nachher aneinanderreihen. Das ist ja ein Umstand, der bei der Beur- 
teilung von »Lesemaschinen« Bedeutung hat. -- Wird mir das bei 3 Ge- 
sagte zugegeben, so folgt die Frage, ob die kleinen Druckbuchstaben 
eine enge Verbindung eingehen können. Sie ist zu verneinen; denn auch 
die kleinen Druckbuchstaben bleiben für das Auge unverbunden. Wer 
dieser Tatsache Bedeutung beimißt, wird wieder die »Schreibschrift« an 
die erste Stelle setzen. Damit kommen wir 

zu b. Ist das Schreiben vom Lesen zu trennen? Mir erscheint die 
Trennung nicht rätlich. Wenn, wie Herr Schulze ausführt, die Nerven- 
bahn vom Auge zur Hand »biologisch ganz neu« ist, so folgt daraus, daß 
dieser »Gehirnpfad« ganz besonders häufig durchlaufen werden muß. Zu 
der gewiß sehr zweckmäßigen Darstellung der Buchstaben, die Herr 
Schulze empfiehlt, gesellt sich das Schreiben als gleichwertig. Die 
»Schreibbewegungsvorstellung«e ist doch auch eine der mit Recht als 
wichtig betonten Bewegungsvorstellungen; auch das Schreiben ist Ein- 
prägungsmittel, ist eine Tätigkeitsform des Kindes, ist eine Anwendung. 

Halte ich hiernach und noch aus anderen Gründen die Trennung 
von Schreiben und Lesen nicht für angebracht, so bin ich doch weit da- 
von entfernt, Herrn Schulze seine gegenteilige Anschauung zum Vorwurf 
zu machen. Denn Herr Schulze läßt uns nicht im Zweifel darüber, daß 
er bei mehr Bewegungsfreiheit ganz anders verfahren würde. Jetzt aber 
befindet er sich in einer Notlage; behördliche Vorschriften hemmen 
die Betätigung seirer besseren pädagogischen Einsicht. Hier 
hat die Reform einzusetzen. Es darf die Forderung nie verstummen: 
1. Weg mit dem Schreib- und Leseunterricht aus dem 1. Schul- 
jahr! Das ist auch für »Normalschulen« unbedingt zu fordern. Ist die 
Forderung erfüllt, so ist das bei b Gesagte von selbst erledigt. Die 
»Fibelfrage« aber müssen wir einstweilen noch zu andern Lasten tragen, 
bis auch folgende Forderungen erfüllt sind: 2. Weg mit den groß- 
geschriebenen Dingwörtern, der Bezeichnung der Vokallänge 
durch die Schrift usw. (Mit einer Gesundung unserer Orthographie 
verlieren die formalistischen Fibeln naturgemäß jeden Kredit!) Endlich 
3. Weg mit der sogenannten »deutschen« Schrift, die nur ein 
verunstaltetes Latein ist! Wenigstens lege man auf die Lateinschrift, die 
sich aus vielen Gründen empfiehlt, das Hauptgewicht und fasse die 
»deutsche« Schrift als einen Luxus auf, den sich leisten mag, wer Lust 


und Zeit dazu hat. Dann erst kann die »Fibelfrage« reinlich gelöst 
12? 


Big 


180 B. Mitteilungen. 


— 


werden. Bis dahin bleiben alle diesbezüglichen methodischen Maßnahmen 
Kompromisse, bleibt »der erste Kindesunterricht die erste Kindesqual«, 


Wickrath. A. Paulmann. 


2. b) 


Die Gefahr, die Herr Paulmann in den vorstehenden anregenden Be- 
merkungen unter a) 1. durch den alleinigen Gebrauch der Großbuchstaben 
befürchtet, ist wohl nicht vorhanden, denn die Kinder kennen doch vor- 
läufig nur das eine Alphabet, sie wissen doch vorläufig nichts anderes, 
als daß alle Wörter so geschrieben werden, sie hören von »großen« und 
»kleinen« Buchstaben doch nichts, solange eben nur die großen im Ge- 
brauch sind. Sobald nun aus den großen Buchstaben die kleinen ent- 
wickelt sind — das geschieht in ganz kurzer Zeit —, werden die Schüler 
natürlich darauf aufmerksam gemacht, daß die meisten Wörter »klein« ge- 
druckt werden, daß wir bei andern Wörtern nur den ersten Buchstaben 
»groß« drucken, daß ein Großbuchstabe mitten im Worte unzulässig ist. 
Dies Gefühl wird von nun an durch den Lesestoff anerzogen. Die Er- 
fahrung lehrt, daß die Schüler den richtigen Gebrauch von Groß- und 
Kleinbuchstaben jetzt, bei größerer Reife und längerer Vorbildung, viel 
schneller und sicherer erlernen. Das Einprägen der Laute und ihrer 
Zeichen mittels der großen lateinischen Druckbuchstaben möchte ich als 
Vorkursus des Schreib-Lese-Unterrichts aufgefaßt wissen; derselbe wird 
infolge der in der Arbeit angeführten Vorzüge um so kürzere Zeit 
währen, je intelligenter die Kinder sind. 


Dem unter a) 2. Gesagten stimme ich selbstverständlich bei, aber so- 
lange wir diesen »Zopf« tragen, müssen wir doch im Unterrichte damit 
arbeiten, auch wenn er uns an einem vorteilhafteren Arbeiten hindern 
sollte. Der vorgeschlagene Lehrgang bietet den Vorzug, daß sofort nach 
Bewältigung der großen Buchstaben durch Einführung aller Kleinbuch- 
staben zur selben Zeit orthographisch richtig geschriebene Sätze, Lese- 
stücke, kurz alles lateinisch Gedruckte gelesen werden kann. Bei dem 
umgekehrten Gange ist das nicht möglich. Alle Fibeln zeigen, daß bei 
Einführung der großen Buchstaben nach den kleinen (bis jetzt natürlich 
»deutsche«) nur ein beschränkter Lesestoff vorhanden ist. Bei »D« liest 
man eben: Der Dom ist hoch. Das Dach ist schräg. Der Dolch ist 
scharf. Der Dorn sticht. Die Dame spricht. Der Drache steigt. Die 
Droschke eılt. Andere großgeschriebene Wörter können nicht gelesen 
werden, weil die andern Großbuchstaben noch nicht bekannt sind. Und 
wo bleibt bei solchem Kunterbunt eine gesunde Lehrplantheorie? Anschluß 
des Lesestoffes an die sachunterrichtlichen Stoffe, die eben jetzt behandelt 
werden, das ist mir die Hauptsache! 

Das zu a) 3. Gesagte ist scheinbar berechtigt, aber nur scheinbar, 
denn wann sind unsere Kinder wohl soweit, daß sie nicht mehr die 
einzelnen Buchstaben ansehen und beim Lesen der Reihe nach lautieren, 
sondern das Wort als etwas Ganzes auffassen! Manches Kind kommt in 


Einige Bemerkungen. 181 


der ganzen Schulzeit nicht vom Lautieren weg! Drei- und vierlautige 
Wörter kann der Mensch wohl auf einmal auffassen, Wörter mit mehr 
Lauten muß jeder, auch der erwachsene, zerlegen. Uns Erwachsenen 
kommt das natürlich nicht mehr zum Bewußtsein, weil wir schon durch 
das Überblicken der Konsonanten das Wort durch Hinzufügung der Vokale 
gewissermaßen erraten. Weiter dürfte Herr Paulmann bei Aufrecht- 
erhaltung seiner Behauptung und bei konsequenter Durchführung derselben 
niemals nach der Bedeutung eines einzelnen Lautzeichens fragen, niemals 
ein Wort buchstabieren lassen, niemals einen einzelnen Buchstaben 
schreiben lassen, er müßte auch die einzelnen Buchstaben durch ganze 
Normalwörter einführen, denn sonst würden die Kinder vielleicht erkennen, 
daß die Worte aus einzelnen Buchstaben bestehen. Die Schüler lernen 
anfangs — wenn nicht ganze Normalwörter geschrieben werden — nur 
einzelne Buchstaben, und der nun folgende Schritt zum Wortschreiben, 
die Einsicht, daß man die gelernten Buchstaben durch Striche verbinden 
kann, daß dann ein »Wort« entsteht, dieser Schritt vorwärts ist unendlich 
schwer für das Kind. Das sehen wir auch daran, daß es beim Ab- 
schreiben Buchstaben für Buchstaben von der Vorschrift absieht und in 
seiner Abschrift Buchstaben an Buchstaben reiht, auch wenn der Lehrer 
täglich und stündlich dagegen eifert. Durch die von mir vorgeschlagene 
Einführung der Schreibschriftformen aus den Druckschriftformen läßt sich 
das Wesen des »Wortschreibens« auch eigentlich erst recht nachweisen: 
durch Bogen und Striche werden die einzeln stehenden Buchstaben ver- 
bunden, in einem Zuge, ohne abzusetzen, geschrieben; wir müssen sie 
eben verbinden, um zu »schreiben«e. Hat sich nicht auch die Schreib- 
schrift aus der Druckschrift auf diese Weise historisch entwickelt? Warum 
soll das Kind nicht auf demselben Wege lernen wie die Menschheit? Zum 
Erkennen der Zusammengehörigkeit der Buchstaben zu einem Worte ge- 
nügt doch wohl der größere Abstand zwischen je zwei Worten. 

Zu b): Die Trennung von Lesen und Schreiben halte auch ich für 
einen Übelstand. Doch nur der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe, 
habe ich bei Einführung der kleinen Druckschrift von dieser Trennung 
gesprochen. Bei der praktischen Ausführung hat sich nun die Sache 
etwas anders gestaltet. Die Kinder lernten infolge der Gleichheit und 
Ähnlichkeit der Formen das kleine lateinische Druckalphabet so über- 
raschend schnell, daß ich schon nach einer Woche mit der Einführung 
der kleinen lateinischen Schreibschrift beginnen konnte. (Einen aus- 
führlichen Bericht über das zweite Jahr meines Versuches werde ich am 
Ende des Schuljahres in dieser Zeitschrift bringen.) 

Daß die im letzten Abschnitte erhobenen Forderungen ganz nach 
meinem Sinne sind, brauche ich dem geschätzten Herrn Kollegen Paul- 
mann wohl nicht erst zu sagen. 


Halle a/S. Eduard Schulze. 





182 B. Mitteilungen. 


3. Über Bettnässen. 


Das K. K. österr. Ministerium des Innern hat folgenden Erlaß an die 
Besserungsanstalten für jugendliche K ortigengen herausgegeben : 

K. K. Ministerium des Innern. 
Z. 31086. Wien; am 1. August 1903. 


Dem Ministerium des Innern ist zur Kenntnis gelangt, daß in einer 
Besserungsanstalt Disziplinarstrafen wegen Bettnässens verhängt wurden. 
Die K. K. Landesregierung wird nun angewiesen, sämtliche im dorti- 
gen Amtsbereiche befindlichen Besserungsanstalten für jugendliche Korri- 
genden darauf aufmerksam machen zu lassen, daß das Bettnässen in der 
Regel auf einem krankhaften Zustand beruht, der auf eine funktionelle 
Störung des Blasenmuskels zurückzuführen ist und daß ein solcher Zu- 
stand nicht durch Strafen, sondern durch entsprechende ärztliche medi- 
kamentöse und insbesondere elektrische Behandlung beseitigt werden kann. 
Für den Minister des Innern: 
Auersperg m. p. 

Der Zweck dieses Erlasses ist ohne Zweifel ein sehr humaner, man 
will eine ungerechte Bestrafung verhüten, man will verhindern, daß Un- 
schuldige bestraft werden, ein Zweck, der ohne weiteres gebilligt werden 
kann. Wenn jedoch verlangt wird, daß wegen Bettnässens überhaupt keine 
Disziplinarstrafen verhängt werden sollen, so zeigt dies von einer mangel- 
haften Kenntnis der Ursachen des Bettnässens. Dürfte man »in der 
Regel« keine der erlaubten Disziplinarstrafen (Rüge, Verweis, Entziehung 
eines Vertrauens- oder Ehrenamtes, eines Vergnügens, Einschränkung oder 
Entziehung einer Mahlzeit, körperliche Züchtigung) anwenden, dann würde 
es beim besten Willen und bei der strengsten Disziplin nicht möglich sein, 


die notwendige Ordnung und Reinlichkeit in den Schlafsälen — ganz mit 
Recht der Stolz einer jeden Anstalt — zu erzielen und merken die Zög- 


linge, namentlich die sittlich verwahrlosten, daß sie ob dieser garstigen 
Eigenschaft, dieser Unreinlichkeit keine Strafe erhalten, dann wird es gar 
nicht lange währen, daß die Mehrheit der Angehaltenen Bettnässer sind. 

Will man dieses Übel mit Erfolg bekämpfen, so muß man vor allem 
die Ursachen zu ermitteln trachten und wenn diese als zweifellos gefunden 
sind, sie zu beseitigen suchen. Und welches sind die häufigsten Ursachen 
des Bettnässens? 

Obenan ist zu nennen die schlechte Gewohnheit von Jugend 
auf. Das Kind muß mit dem 7. Monate gewöhnt werden, die Notdurft 
regelmäßig zu verrichten. Faulheit und Bequemlichkeit und nicht selten Dumm- 
heit der Mutter und der sonstigen Erzieher sind schuld daran, wenn das 
Kind mit einem Jahre nicht schon »zimmerrein« erzogen is. Auch die 
ärmsten und unbemittelsten Eltern können in dieser Richtung ihre Auf- 
gabe erfüllen. Wie sieht es aber oft in Wirklichkeit aus? Das Kind macht 
wo es steht, geht und liegt unter sich; es liegt im Stalle, auf dem Boden 
in einem Verschlag oder in einer Kiste mit Stroh und Heu. Ist dieses 
durchnäßt, schmutzig, stinkend oder gar schon faulig, so wird frisches 
Stroh oder Heu daraufgegeben oder vorher »ausgemistet«. So geschieht’s 


Über Bettnässen. 183 


bei armen Leuten. Das Kind reicher Leute hat zwar sein Bett, das aber 
bei faulen Müttern nichtsdestoweniger als rein gehalten wird, das Kind 
bleibt Dienstboten überlassen und wird von diesen hauptsächlich erzogen 
und den vornehmen Eltern nur dann präsentiert, wenn es sauber ist, die 
Untugenden kommen oft gar nicht zu den Ohren der Eltern. Nun kom- 
men solche Kinder in eine Erziehungsanstalt! Hier muß doch vor allem 
diese schlimme Gewohnheit des Bettnässens ausgetrieben werden und das 
ist vielfach nur möglich durch Anwendung von Disziplinarstrafen. 

Bei vielen Kindern ist der plötzliche Wechsel in der Kost Ur- 
sache des Bettnässens. Daraus erklärt sich u. a. die überraschende Tat- 
sache, daß manche Zöglinge, die vor ihrer Einlieferung — also zu Hause 
— nicht eingenäßt haben, Bettnässer werden. Solche Zöglinge müssen 
nach und nach an den Nahrungswechsel gewöhnt werden, insbesondere 
vermeide man abends die Verabreichung von flüssigen Nahrungsstoffen 
(Suppen, Milch usw.), man gebe vielmehr feste, derbe und wenig Wasser 
enthaltende Speisen. Ebenso verbiete man solchen Kindern, noch spät 
abends vor dem Schlafengehen Wasser zu trinken. 

Der Wechsel der Temperatur ist ebenfalls häufig die Ursache 
des Bettnässens. Der Übergang aus dem Warmen ins Kalte oder um- 
gekehrt hat erfahrungsgemäß eine erhöhte Harnabsonderung zur Folge. 
Namentlich im Winter wird sich diese Ursache des Bettnässens öfter un- 
angenehm bemerkbar machen. Die Bettwärme spielt dabei natürlich eine 
Rolle. Ist der Zögling recht erwärmt und im ersten Schlaf, dann näßt 
er ein und daraus erklärt sich auch die Tatsache, daß die Gewohnheits- 
nässer in der Zeit von 9—12 Uhr in der Regel »ihr Werk« vollbracht 
haben. 

Kalte Füße oder eine Verkühlung des Körpers überhaupt 
kann Bettnässen zur Folge haben, eine Beobachtung, die die Vorsteher 
von Erziehungsanstalten häufig genug gemacht haben werden und welche 
z. B. folgendes Beispiel bestätigt: Bei einem Stande von 32 Zöglingen 
waren während der Haupfferien, d. i. vom 1. August bis zum 16. Sep- 
tember fast gar keine Bettnässer verzeichnet. Bei Beginn des Schuljahres 
stellten sich sofort wieder einige ein. Das ist doch gewiß eine ganz un- 
erklärliche Erscheinung, wenn man bedenkt, daß die Lebensweise, die 
Kost, die Arbeit usw. gegen früher sich gar nicht geändert hat und nur 
der Schulurterricht entfiel. Und gerade dieser letztere Umstand führte 
zur Lösung des Rätsels. Durch Versuche wurde nachgewiesen, daß sich 
die Zöglinge während des direkten Schulunterrichtes sowohl (8—12 Uhr 
vormittags) als auch während der Arbeitsstunde (6—7 Uhr abends) kalte 
Füße holen und infolgedessen einnässen. Das Schulzimmer befindet sich 
nämlich über einem gewölbten Keller, so daß sich der Fußboden des 
Schulzimmers selbst im Sommer nicht gehörig erwärmt. Die Zöglinge 
haben daher bei längerem Aufenthalte in diesem Zimmer nicht nur kalte 
Füße, sondern auch im ganzen Körper ein frostiges, unbehagliches Gefühl 
und schen ganz »erfroren« aus. Die Schwächlichen und Disponierten 
werden daher leicht ein Opfer der Verhältnisse werden und — einnässen. 

Die ärgsten Bettnässer sind jene, bei denen eine krankhafte orga- 


184 B. Mitteilungen. 


nische Veranlagung vorhanden ist und das ist in der Regel eine 
Blasenschwäche in der Muskulatur. Solche Zöglinge zeigen schon äußer- 
lich ein krankhbaftes Aussehen, sind gelb, fahl, farblos; sie sehen aus, als 
ob es ihnen immer kalt wäre und sind sehr empfindlich gegen Kälte und 
Nässe. Für solche Bettnässer ist allerdings ein ärztlicher Eingriff, eine 
elektrische Behandlung unbedingt notwendig. Eine Bestrafung ist ganz 
selbstverständlich ausgeschlossen. Um das Leiden und deren Folgen halb- 
wegs erträglich zu machen, empfiehlt es sich, den Zögling in der Nacht 
öfters zu wecken und zu verhalten, die Notdurft zu verrichten. Manche 
dieser Zöglinge haben einen derart festen und tiefen Schlaf, daß sie den 
Drang, auf die Seite zu gehen, gar nicht spüren oder sie sind so schlaf- 
trunken, daß sie zwar aufstehen, bis zur Tür gehen, dann aber umkehren 
und sich um so fester in die Decke einhüllen; mancher geht bis zur 
Muschel, verrichtet aber seine Notdurft nicht, sondern kehrt in den Schlaf- 
saal zurück, ein anderer geht zum Bette eines Kameraden uud macht ihm, 
in der Meinung, er stehe vor der Muschel, ins Bett; am andern Morgen 
weiß sich keiner an seine »Taten« zu erinnern. Gegenwärtig befinden 
sich unter 32 Zöglingen meiner Anstalt zwei, bei welchen das Bettnässen 
auf einen krankhaften Zustand zurückzuführen wäre Gewiß ein ziem- 
lich hoher Prozentsatz — dazu kommen noch die Wochen- oder Monats- 
nässer, das sind solche, welche aus Unvorsichtigkeit, Übermut, frevent- 
lichem Vertrauen oder Mangel an festem Willen zuviel Wasser trinken, 
zu viel wasserhaltiges Gemüse abends essen oder überhaupt zu viel essen 
(ohne Wissen der Leitung) und dann ihre »böse Tat« durch spontanes 
Einnässen verraten. 

Ganz ähnliche Beobachtungen und Erfahrungen machen die Lehr- 
herren mit den Lehrlingen, welche ehemals Zöglinge der Anstalt waren 
und zu den periodischen Einnässern gehörten. Die Anstaltsleitung macht 
die Lehrherren jedesmal auf die Schwächen der Entlassenen aufmerksam 
und gibt auch Ratschläge für die Behandlung derselben. Bei leichtsinnigen, 
gleichgültigen Burschen wird strenge Bestrafung, auch körperliche Züchti- 
gung empfohlen und siehe da! das Bettnässen verschwindet augenblicklich. 

Der angezogene Erlaß ist gut gemeint und verfolgt einen löblichen 
Zweck, trägt aber ganz entschieden den Stempel der Einseitigkeit, er 
wurde am »grünen Tisch« gemacht, ohne die Erfahrungen der im prak- 
tischen Dienste stehenden Männer zu Rate zu ziehen. In solchen Fragen 
muß dem erziehlichen Faktor zum mindestens ebensoviel Anspruch auf 
ein Urteil eingeräumt werden, wie der Medizin und der grauen Theorie, 
Die Belehrung in dem Erlasse wäre gewiß ganz anders ausgefallen, hätte 
man die praktische, erfalırene Erziehung auch zu Worte kommen lassen, 
besonders wäre dann sicher festgestellt worden, daß die krankhafte Ver- 
anlagung, d. i. ein organischer Fehler, nicht die Regel, sondern die Aus- 
nahme unter den Bettnässern ist. 

Und welche ist die entsprechende medikamentöse Behandlung? Warum 
wird diese nicht gleich angeführt? Sind es Geheimmittel, die angewendet 
werden sollen? In welcher Weise ist die empfohlene elektrische Behand- 
lung vorzunehmen. Lauter offen gelassene Fragen! Was soll z. B. der 


Neunter Blindenlehrerkongreß. 185 


Leiter einer Erziehungsanstalt tun, welche weit entlegen ist von einer 
größeren Stadt, wenn eine elektrische Behandlung notwendig ist. Der 
Anstaltsarzt, so tüchtig er sonst ist, weiß sich mit solchen Krankheiten 
nichts anzufangen. Er empfiehlt zwar Hochliegen der Beine, Sitzbäder, 
Tuschen, hartes Lager, öfteres Wecken usw. aber mit medikamentöser Be- 
handlung hat er es noch nicht versucht und für elektrische Behandlung 
fehlen ihm die Apparate. 

Vielleicht bieten diese wenigen schlichten Zeilen Anlaß zum Meinungs- 
austausch; die Erfahrungen, die Tatsachen haben das erste Wort in dieser 
Angelegenheit, dann erst mag der Arzt sprechen. Es ist wohl sicher an- 
zunehmen, daß man diesem Thema ein Interesse entgegenbringt, weil in 
der Tat mancher treue und gewissenhafte Erzieher ungeduldig wird darüber, 
daß es ihm durchaus nicht gelingen will, diese Untugend, welche so viele 
Unannehmlickeiten im Gefolge hat, zu beseitigen. Institutsvorsteher, Leiter 
von Erziehungsanstalten, von Pensionaten männlichen und weiblichen Ge- 
schlechtes und nicht minder auch Privatfamilien werden der richtigen Be- 
urteilung dieser Frage das lebhafteste Interesse entgegenbringen. 


Olbersdorf, österr. Schlesien. Alois Hajek, Anstaltsleiter. 


4. Neunter Blindenlehrerkongress. 


In der Zeit vom 1.—5. August d. J. wird in Halle a/S. der XI. All- 
gemeine Blindenlehrer-Kongreß abgehalten werden. Wenn man die Fort- 
schritte in Bezug auf Blindenbildung und Blindenfürsorge während der 
letzten Jahrzehnte als erheblich bezeichnen muß, so ist ein großer, viel- 
leicht der größte Teil dieser Errungenschaft der segensreichen Arbeit der 
Kongresse zu verdanken, deren erster im Jahre 1873 in Wien tagte, und 
die seitdem alle 3 Jahre an Orten, in denen sich eine Blindenanstalt be- 
findet, abgehalten worden sind. 

Den größten Raum hat auf den Kongressen die Erörterung der Frage 
über geistige und körperliche Ausbildung der Blinden für Beruf und 
Leben eingenommen. Auf den letzten Kongressen hat die Frage der Für- 
sorge für die ausgebildeten entlassenen Blinden mehr im Vordergrunde 
gestanden. — Von größter Bedeutung sind die Kongresse für Ausgestaltung 
der Blindenschrift. Die Braillesche Punktschrift ist durch dieselben all- 
gemein zur Einführung gekommen, und seit einigen Jahren hat man, um 
Raum und damit Geld zu sparen, ein Kurzschriftsystem aufgestellt, dessen 
Ausbau allerdings noch nicht ganz abgeschlossen ist. — Gleichzeitig hält 
mit dem Kongreß der »Verein zur Förderung der Blindenbildung«, 
der sich die Aufgabe gestellt hat, Blinde und Blindenanstalten mit Lehr- 
mitteln, in erster Reihe mit Druckschriften und geographischen Karten 
zu versehen, seine Generalversammlung ab. — Von den Regierungen, den 
Provinzial- Verwaltungen und städtischen Behörden sind die Kongresse 
stets in wohlwollender Weise unterstützt und gefördert worden. 

Möge durch reiche Beteiligung von Fachleuten, Freunden und Gönnern 


186 B. Mitteilungen. 


der Blindenbildung die Arbeit des bevorstehenden Kongresses eine gesegnete 
für die Blinden werden! 


5. Jugendgerichte. 


Gegen meine Forderung auf der Versammlung in Halle, die jugend- 
lichen Gesetzesübertreter vor besondere Gerichte zu stellen, ist ın der 
Presse von juristischer Seite Einspruch erhoben worden. Ich werde in 
einer späteren Nummer mich mit den Gegengründen auseinandersetzen. 

Inzwischen ist in dem »staatswissenschaftlichen Praktikum« der 
»Gehestiftung« in Dresden wie in dem großen, 1600 Mitglieder zählenden 
Dresdner Lehrerverein von Oberlehrer Ernst Hahn ein Vortrag gehalten 
worden über »Die Strafrechtsreform und die jugendlichen Ver- 
brecher«, der in jener Frage zu ähnlichen Ergebnissen wie der meine 
führte, wie aus folgenden Leitsätzen zu ersehen ist. 

1. Die Klagen wider das Strafrecht hinsichtlich der jugendlichen 
Verbrecher gründen sich zumeist auf die Kriminalstatistik, die dabei oft 
in unkritischer oder tendenziöser Weise verwendet wird. 

2. Die Kriminalstatistik ist nicht der deckende Ausdruck für Stand 
und Bewegung der Kriminalität der Jugendlichen, noch weniger der ihrer 
Moralität., 

3. Trotz aller kritischen Einschränkung muß sie als bedeutsamster 
Rechenschaftsbericht der gegenwärtigen Strafjustiz kinsichtlich der Jugend- 
lichen angesehen werden. Ihre wichtigsten Erscheinungen sind: Häufig- 
keit und Steigerung des Eingreifens der staatlichen Strafgewalt, ununter- 
brochenes Wachstum der Rückfallsziffern, zunehmende Milde in der Straf- 
rechtspraxis trotz Zuwachses der schweren Delikte. 

4. Die Entwicklung des Jugendverbrechertums findet zwar zu einem 
Teile ihre Erklärung in sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen ; es 
muß aber der bestehenden Strafjustiz eine wesentliche Schuld an derselben 
zugemessen werden. 

5. Wenn auch von der Handhabung der bedingten Begnadigung, von 
den Zwangs- und Fürsorgeerziehungsgesetzen, dem Kinderschutzgesetz eine 
heilbringende Wirkung auf die Jugendkriminalität erwartet werden kann, 
so muß die Forderung der Strafrechtsform hinsichtlich der Jugendlichen 
trotzdem als eine unaufschiebbare aufrecht erhalten werden. 

6. Der folgenschwere Fehler des bestehenden Strafrechts liegt in dem 
Dominieren des logisch-formalen Elementes. Seine Reform kann nur ge- 
schehen auf dem Grundprinzip der psychologisch - pädagogischen Erfassung 
des jugendlichen Verbrechers. Die zuverlässigen Ergebnisse der modernen 
Kriminal- Anthropologie und -Soziologie sind dabei möglichst zu verwerten; 
die Richtlinier aber sind zu ziehen auf Grund einer voluntaristischen 
Psychologie. 

7. Bei der bevorstehenden Strafrechtsreform sind hinsichtlich der jugend- 
lichen Verbrecher folgende Forderungen als dringliche geltend zu machen: 

I. Aufhebung des Legalitätsprinzips, 


C. Literatur. 187 


T rt e e I nn e 


I. Wegfall der Einsichtsfrage, Erfassung des jugendlichen Ver- 
brechers in seiner Ganzheit, 

III. Heraufsetzung der unteren Altersgrenze der relativen Strafmündig- 
keit auf das vollendete 14. Lebensjahr, 

IV. Ausschluß von Öffertlichkeit und Presse, 

V. Möglichste Vermeidung der kurzzeitigen Freiheitsstrafen, Ver- 
schärfung derselben, 

VI. Vermehrte, aber weise Anwendung der Zwangserzichung. 

8. Als Zukunftsideal muß hingestellt werden: Schaffung eines einheit- 
lichen Reichsgesetzes, betreffend a) die verwahrlosten, b) die verbrecherischen 
Jugendlichen. Durch dasselbe ist in erster Linie der Strafvollzug zu 
regeln und sind »Jugendgerichte« einzusetzen. Trüper. 


PL ED EP ED ER 


C. Literatur. 


Schiner und Bösbauer, Fibel für abnorme Kinder (Hilfsschulenfibel). I, Teil. 
Leipzig. Verlag von B. G, Teubner. Preis kart. 0,50 M. 

Die Verfasser, die sich durch ihre unterrichtliche Tätigkeit an Stotterkursen, 
Schwachsinnigen- und Taubstummenschulen zur Abfassung der Arbeit besonders 
befähigt glaubten, haben das 56 Seiten starke Büchlein herausgegeben, weil »schon 
lange der Mangel eines direkt dem schwachsinnigen Unterrichte angepaßten ersten 
Lesebuches bemerkbar wurdes. Und wahrlich, bei einer Unterweisung nach diesem 
Buche kann man mit Recht von einem »schwachsinnigen Unterrichtes reden, kann 
man die armen Kinder bedauern, die durch dieses Buch ihren schwachen Geist 
stärken und bereichern sollen! Denn nachden auf den Seiten 3—5 die Vokale 
durch Sprachbilder der Mundstellungen, die nebenbei gesagt die Stellung der Sprech- 
werkzeuge bei o, e, i nicht einmal korrekt darstellen, den Kindern beigebracht 
werden sollen, beginnt auf S. 6 das Sammelsurium, das sich fortsetzt bis zum Ende 
des Buches: heute redet man von der Maus, morgen von der Nuß, übermorgen 
vom Ei, dann vom Säbel, vom Fisch, vom Auge, vom Hut usw.; sogar in ein und 
derselben Stunde folgen die sinulosesten Wörter hintereinander, z. B. S5. 27: ist, 
fest, steif, fasten, stehen, rasten, finster oder S. 46: bei, bar, bin, aber, oben, eben, 
beten, leben, loben, baden, bauen, reiben. Werden die Kinder nicht bei jedem 
neuen Normalworte, ja bei jedem folgenden Übungsworte in einen ganz neuen Ge- 
dankenkreis versetzt, wird nicht durch einen solchen Unterricht die Ideeuflucht 
systematisch anerzogen ?! 

Auf S. 8 sprechen die Verfasser vom Ei, S. 17 von der Eule, S. 20 von 
Vögeln und S. 32 von einem Vogel —, S. 11 vom Wagen, 8. 19 vom Rad —, 
S. 13 vom Auge, S. 35 vom Fuß des Menschen —, S. 22 vom Baum, S. 33 von 
Bäumen usw. Warum werden diese inhaltlich verwandten Stoffe nicht auch zu- 
sammenhängend behandelt? Mit dieser Planlosigkeit in der Anordnung der Ent- 
wicklungswörter zeigen die Verfasser, daß sie von einer Theorie des Lehrplans noch 
nicht viel gehört haben. 

Weiter: Aus dem Normalwort »Vögel« wird das »ö«, aus »Vogele das »v« —, 
aus »Baum« das »b«, aus »Bäume« das »äu« entwickelt usw. Ist das konsequente 
Durchführung eines Prinzips? 





188 C. Literatur. 





Bei Abfassung des Buches waren »die Gesetze der modernen Phonetik maß- 
gebend«, und dann lesen wir schon S. 6 kurze Vokale (am, im, um) —, schon S. 8 
und 9 zwei verschiedene e-Laute (eine, einen, seine, seinem) —, S. 10 zwei ver- 
schiedene s-Laute mit zwei verschiedenen Schreibweisen (seines) —, S. 15 zwei 
verschiedene ch-Laute (ach, ich) usw. usw. Sonderbare phonetische Gesetze! 

Die Fibel beobachtet weiter valle für den Unterricht schwachsinniger Schüler 
maßgebenden heilpädagogischen Grundsätze«. Doch Formen wie Seinem, eines, 
seines, feines, feinem, jenem, beim, hohe, rasch, rascher, am raschesten usw., sowie 
Übungswörter wie lese einmal, lösen, bar, empor, mürbe, seit, steif, fasten, rasten, 
reizen, aichen, laichen, maischen usw. lassen diese »Grundsätze« in einem eigen. 
artigen Lichte erscheinen. Wir fordern Wörter, die wirklich einen Sinn haben 
und dem Fassungsvermögen der Kinder entsprechen, Wörter, die inhaltliche Ver- 
bindung untereinander haben. 

Die Zahl der nach Schema F bearbeiteten Fibeln ist zwar wieder um eine 
vermehrt, aber ein Fortschritt in der Frage des ersten Leseunterrichts ist dadurch 
nicht erreicht. Wir verlangen eine Fibel, die ein denkendes Lesen verbürgt, die 
nicht dummer, sondern gescheiter macht, kann sie das nicht, so gehört sie unter 
die Makulatur! 

Halle as. Eduard Schulze. 


Brohmer und Kühling, Taubstummenlehrer, Übungsbuch zum Gebrauche 
beim Rechenunterricht in Taubstummenanstalten, Hilfsschulen und ver- 
wandten Schulgattungen. Halle, Pädagogischer Verlag von Schroedel. 96 S. 

Aus der Erfahrung heraus betonen die Verfasser in der Einleitung die 
Schwierigkeit, welche der Rechenunterricht den taubstummen Schülern bereitet. 
Die Bearbeitung des Rechenbuchs zeigt, daß sie — wir können dies nur für Hilfs- 
schulen bestätigen — mit Erfolg bestrebt gewesen sind den nicht voll- oder schwach- 
sinnigen Kindern die Arbeit zu erleichtern und den Rechenstoff zum geistigen 
Eigentum derselben zu machen. 

Dies beweist zunächst die Einteilung der Zahlenreihe von 1—10 in 2 Gruppen 
1—5 und 6—10. Die Erfahrung hat uns nun schon durch mehrere Jahre hindurch 
gezeigt, daß cs schwachsinnigen Kindern sehr schwer fällt von 1—10 durch Zählen 
die Zahlen so zu erfassen, daß sie mit dem Zahlwort auch die richtige Menge der 
Gegenstände verbinden. Wenn dies aber am Anfang der 1. Rechenstufe nicht zu 
erreichen ist, so wird es besser sein, man quält die Kinder nicht zu lange und 
manche gar umsonst damit, sondern begnügt sich zunächst mit der kleineren Reihe 
von 1—5. Dadurch erstarkt das Rechenvermögen der Kinder und sie sind dann 
später leichter im stande die Fortsetzung der Reihe von 6—10 zu erfassen. Die 
Verfasser zeigen gleich am Anfang des Buches — also auch hier beim Erfassen 
der Zahlen von 1—5 — wie vielseitig sie die Rechenaufgaben zu gestalten ver- 
mögen. 

Als ein weiterer Vorzug des Rechenbuches muß es gelten, daß jede Rechen- 
operation — und zwar zunächst Addition und Subtraktion — getrennt auftreten. 
Wie Trocelltsch, der Erfinder des Nürnberger Rechenbrettes, fangen die beiden 
Verfasser nicht mit dem Zuzählen sondern mit dem Zerlegen der Zahlen an. Uns 
hat es immer erscheinen wollen, daß es Schwachsinnigen leichter fällt, wenn sie 
mit der ersten Übung beginnen, wobei auf keinen Fall dio zweite Übung vernach- 
lässigt werden soll und darf, denn die Kenntnis von der Zusammensetzung der 
Zahlen ist unbedingt notwendig, wenn der Zehner überschritten werden soll. 


C. Literatur. 189 





Nicht einverstanden erklären können wir uns, daß die Verfasser nach der 
Behandlung der Addition und Subtraktion von 1—10 gleich die Multiplikation und 
Division eingefügt haben. Die ersten Jahre an der Hilfsschule haben wir dies auch 
getan, aber der Erfolg stand nicht im richtigen Verhältnis zu der angewandten 
Mühe. Es macht den Kindern auf dieser Stufe noch ungemein große Schwierig- 
keiten die Begriffe mal, in, geteilt durch zu erfassen und damit zu arbeiten, auch 
wenn diese ganz anschaulich zum Verständnis gebracht wurden. Dazu kommt noch, 
daß sich in der Zahlenreihe von 1—10 doch wenig Übungen anstellen lassen. Der- 
selben Ansicht ist auch Haase in seinem vortrefflichen Buche über die Methodik 
des ersten Rechenunterrichts (Verlag von Hermann Beyer & Söhne [Beyer & Mann] 
in Langensalza), wenn er schreibt: »Wir haben oben die bedeutenden Schwierig- 
keiten des Multiplizierens und Dividierens erkannt, haben gesehen, daß hier nur 
unter ziemlich bedeutenden Voraussetzungen auf einigen Erfolg gerechnet werden 
kann. Überlegt man nun, daß diese Voraussetzungen nur bei einem kleinen Teile 
unserer Schüler jetzt schon erfüllt sein werden und hält man damit die geringe 
Zahl von Multiplikations- und Divisionsaufgaben in diesem Zahlenraum zusammen, 
so muß es zweifelhaft erscheinen, ob es angebracht ist diese Rechnungsarten schon 
hier zu behandeln, da das, was erreicht werden kann, offenbar in keinem Verhält- 
nisse steht zur aufgewandten Zeit und Mühe. Dazu kommen die weiteren Be- 
denken, daß wir es beim Multiplizieren und Dividieren im Zahlenraum von 1—10 
nur mit Bruchstücken von später auftretenden größeren Übungsgruppen (Einmaleins) 
zu tun haben, während uns im Addieren und Subtrahieren bis 10 eine ganz selb- 
ständige, abgeschlossene Übungsgruppe vorliegt, und zwar eine Gruppe von grund- 
legender Bedeutung, und daß hernach beim Übergehen in den Zahlenraum bis 100 
eine ziemlich lange Zeit addiert und subtrahiert wird, wobei jenes Multiplizieren 
und Dividieren nur mühsam frisch erhalten werden kann. Es dürfte daher näher 
liegen diese Rechnungsarten aus dem Zahlenraum bis 10 zu verweisen und sie erst 
im Zahlenraum bis 100 einzuführen.« Dies sagt Haase vom Rechenunterricht mit 
normalen Kindern. Wieviel mehr gilt dies von schwachsinnigen Kindern. Auf 
dem 4. Hilfsschultag in Mainz ist auch dafür gesprochen worden, daß die beiden 
Operationen erst im Zablenraum bis 100 behandelt werden sollen. Für unsere Ansicht 
spricht auch die Einrichtung des Rechenbuchs der beiden Verfasser, da sie auf 
Seite 78 besondere Aufgaben aus der Addition und Subtraktion unter der Überschrift 
Reihenaufgaben auftreten lassen. Solche Aufgaben bilden doch eine gute Vorübung 
für Multiplikation und Division. 

Als ein weiterer Vorzug des Buches muß die große und mannigfaltige Reich- 
haltigkeit und Verschiedenheit der Aufgaben angesehen werden. Uns sind wenig 
Rechenbücher bekannt, in denen die Zahlenreihe von 1—20 eine so reiche Behand- 
lung erfahren hat. Dies muß für die schwachsinnigen Kinder ganz entschieden von 
großem Vorteil sein; denn diese können sich nicht genug mit der Reihe beschäftigen, 
wenn sie in derselben fest werden sollen. Dazu kommt noch die Vielseitigkeit der 
Aufgaben, so daß das Interesse nicht erlahmen kann. 


Als ein weiterer Vorzug des Buches mag noch hervorgehoben werden, daß ın 
dasselbe angewandte Aufgaben aufgenommen worden sind. Die Lehrer an der Hilfs- 
schule werden wohl oft genug die Erfahrung gemacht haben, daß die Kinder wohl 
mit Fingern, Kugeln und andern Anschauungsmitteln zu rechnen vermögen, daß sie 
aber nicht im stande sind angewandte Aufgaben zu lösen; denn dazu genügt nicht 
bloß die Rechenfertigkeit, sondern hier kommt noch das Hineindenken und Erfassen 
der Aufgaben hinzu. Es ist daher mit großem Danke anzuerkennen, daß die Ver- 


190 C. Literatur. 


fasser eine so große Zahl von angewandten Aufgaben aufgenommen haben. Auch 
entsprechen dieselben dem Anschauungs- und Interessenkreis der Kinder. Wünschens- 
wert wäre es vielleicht gewesen, wenu noch mehr das Spiel und die Beschäftigung 
der Kinder in Schule und Haus herangezogen worden wäre. 

Mit den Verfassern möchten wir am Schluß den Wunsch aussprechen, daß 
das Buch in den entsprechenden Anstalten eine bescheidene Dienerstellung erwerben, 
durch seinen Dienst an den Armen Segen stiften möge. 

Altenburg. Hugo Seifart. 


Keller, Helen, Optimism. An Essay. New York, T. P. Crowell & Cp., 1903. 

Die den Lesern der »Kinderfebler« bekannte Taubblinde Helene Keller in 
Boston wirft in der diesjährigen Novembernummer von »The ladies home journal« 
die Frage auf: »Was soll ich dann tun, wenn ich Radcliffe verlasse? Mein Leben, 
meinen Bildungsgang habe ich beschrieben. Was bleibt mir also noch zu tun?« 
Um Antworten ist sie nicht verlegen. Eine Antwort ist mir besonders sympathisch: 
»Ich will dahin streben, mehr Bücher für die armen Blinden zu schaffen und für 
die Blinden cine allgemeine, gleiche Schrift!« 

Nun, es würde segensreich sein, auf dieses Ziel immer weiter hinzuarbeiten. 
Zunächst hat Helene Keller aber den Rat ihres alten Freundes, des Super- 
intendenten J. Hitz vom Volta Bureau, befolgt, hat sich der Philosophie zugewandt, 
die sie ja auch studiert hat. Vor mir liegt ein Werk von ihr: »Optimismus.« 

Der Titel gefiel mir nicht: Eine taubblinde Philosophin! Mag sein, daß auch 
das Titelbild mir nicht gefiel. Eine Dame im Talare und mit dem Doktorhut ist 
uns eine recht fremde Erscheinung. Aber als ich zu lesen begonnen hatte, hörte 
ich damit nicht auf, bis ich zu Ende war. Die Sprache ist flüssig, wie in »The 
Story of my life«. Jeder wissenschaftliche Ausputz ist unterlassen. 

Das Werk zerfällt in 3 Teile: Optimismus im Innern. Optimismus nach außen, 
Die Ausführung des Optimismus. 

Optimismus im Innern. »Der Wunsch, glücklich zu sein, ist allen 
Menschen gemeinsam, dem Philosophen, dem Fürsten und dem Kaminkehrer.« So 
sagt Helene Keller zu Anfang dieses Abschnittes. Uud ich bin glücklich, 
führt sie weiter aus. Einst lebte ich als Taubblinde in der Dunkelheit und im 
Schweigen, und ich hätte gegen die Wände anrennen mögen, die mich einschlossen, 
Jetzt aber kenne ich die Hoffnung und die Freude. Mein Leben war ohne Ver- 
gangenheit und ohne Zukunft, tot; der Pessimist würde sagen hoffnungslos. Die 
Nacht entfloh vor dem Tage des Denkens; und Liebe und Freude und Hoffnung 
kehrten bei mir ein. Wie könnte ich da Pessimistin sein? Man muß mit dem 
Unglücke und mit Sorgen bekannt sein, um ein Optimist zu werden. »Schaffe!« 
mahnt Carlyle. Ich habe Wirken gelernt, ich bin glücklich. Ein Krüppel kann 
der glücklichste Arbeiter im Weinberge sein. Sagen die Philosophen, daß wir nur 
Schatten sehen können, nur einen Teil des Universums, so können wir uns doch 
mit dem Geiste zu dem Höchsten erheben. Im Geiste verwandeln sich die Schatten 
zu Wesen, die Teile zum Ganzen. So sind denn alle großen Philosophen in Wahr- 
heit Verehrer Gottes und dadurch Optimisten gewesen. 

Optimismus nach außen. Ich verstehe es, daß Spinoza sich auch dann 
glücklich fühlte, als er von Juden und Christen ausgestoßen war. Ich war in 
meiner Kindheit, wie er damals war. Aber ich bin es nicht mehr. Und blicke ich, 
die Taubblinde, hinein in die Geschichte der Menschheit, so sagt mir diese, daß die 
Welt besser geworden ist, langsam, aber stetig. Jesus wurde gekreuzigt, seine 


C. Literatur. 191 


Nachfolger wurden gemartert, Juden und Albigenser wurden verfolgt ..... Und 
jetzt? ..... Selbst dann, wenn ich von den Greueln auf den Philippinen lese, so 
tröstet mich der Gedanke: werden diese Greuel auch von Amerikanern vollbracht; 
so haben die Herzen der wahren Amerikaner doch nichts damit zu tun. ... Der 
Pessimist sagt, der Mammon sei der Gott der Amerikaner. Er sieht nur den 
Schatten, übersieht aber die Lichtseiten, die Werke der Humanität. Nur der 
Optimist erkennt die Zeichen der Zeit. 

Die Ausführung des Optimismus. Schopenhauer ist ein Feind der 
Menschheit. Der Pessimismus erviedrigt. nur der Optimismus erhebt. Pessimistisch 
gesinnte Juristen erklärten, Taubblinde seien den Idioten gleich zu rechnen. Der 
Optimist Dr. Howe aber fand den Weg zum Geiste der taubblinden Laura 
Bridgman. Alles Große in der Welt ist durch Optimisten vollbracht. Der 
Pessimist kann nur verneinen. 

Es sind nur wenige Sätze, die ich der Arbeit der Helene Keller entnommen 
habe. Ich wünsche ja nur zum Lesen ihres Büchleins anzuregen. Dabei aber wird 
man finden, daß wir in Helene Keller keineswegs eine »Prophetine, die neue 
Gedanken verkündigt, zu sehen haben. Sie ist auch kein »Wundere, nur das, wofür 
sie die »Kinderfehler« immer erklärt haben: ein außerordentlich begabtes taubblindes 
Mädchen, dessen Lebensweg von opferfreudigen Freunden in vorzüglichster Weise 
geebnet ist. Es ist so, wie ihre Lehrerin Fräulein Sullivan bereits vor Jahren 
geschrieben hat: Gott will durch sie zeigen, daß man auch im tiefsten Schatten 
glücklich sein kann. 

Die Ausstattung des 76 Seiten umfassenden Buches ist vorzüglich. 

Emden. O. Danger. 


Karth, Max, Über abnorme Erscheinungen in der geistigen Entwick- 
lung des Kindes. Osnabrück 1903. 60 S. 

Die Arbeit ist ein Teil des vierten Programms der Provinzial-Taubstummen- 
Anstalt zu Osnabrück. Programme pflegen nur einen kleinen Leserkreis zu haben; 
es würde aber schade sein, wenn die Arbeit von Karth nicht über denselben 
hinaus kommen sollte. Sie beansprucht nicht, dem Fachmann Neues zu bringen. 
Das möchte schon für sie sprechen. Ein zweiter Vorzug der Arbeit ist die genaue 
Angabe der benutzten Schriften und Abhandlungen auf Seite 60. Der dritte aber 
ist, daß diese Quellen nicht allein benutzt sind, sondern daß das aus ihnen Erlesene 
mit Eigenem klar zusammengestellt ist und zwar in einer Form, daß die Arbeit 
auch von denen gern gelesen werden wird, die vor dem Studium größerer Werke 
zurückschrecken. — Die Ausführung zerfällt in 3 Teile: 1. In welcher Weise treten 
abnorme Erscheinungen und Zustände im Seelenleben des Kindes auf? 2. Ursachen 
dieser Erscheinungen. 3. Kurzer Überblick über die Bestrebungen, auf diesem Ge- 
biete helfend einzugreifen. 

Für den Zweck, für welchen die Arbeit geschrieben ist, genügt die Schluß- 
zusammenstellung der Qucllen. Sollte aber, was zu wünschen ist, die Programm- 
arbeit aucb noch als ein selbständiges Werk im Buchhandel erscheinen, so wäre 
es zu wünschen, daß an den betreffenden Stellen unter dem Striche noch genauere 
Hinweise auf die Quellen mit Angabe der Seitenzahl hinzugefügt würden. Dem 
Leser, dem nach mehr verlangt — und cs ist ein Vorzug der Arbeit, daß sie das 
Streben hiernach weckt — würde es hierdurch leichter gemacht werden, sich weiter 
mit der Sache zu beschäftigen. 

Emden. O. Danger. 


= 


192 C. Literatur. 





Berniger, Johannes, Ziele und Aufgaben der modernen Schul- und 
Volkshygiene. Winke und Ratschläge für Lehrer, Schulärzte und Eltern 
Wiesbaden, Verlag von Otto Nemnich, 1903. 90 S. Preis 2 M, in ganz Leinen 
2,80 M. 

Den Ausführungen liegt ein in zweckentsprechender Form erweiterter Vortrag 
zu Grunde. Sie wollen einen neuen Beitrag dazu liefern, »daß sich die sämtlichen 
in Frage kommenden Faktoren immer mehr zu einer kampfbereiten Phalanx gegen- 
über allen Gefährdungen des gesundheitlichen Wohlbefindens unserer nächsten Gene- 
ration zusammenfinden.« Tr. 


Oppenheim, Prof. Dr. H., Die ersten Zeichen der Nervosität des Kindes- 
alters. Nach einem im Verein für Kinderforschung gehaltenen Vortrage. Ber- 
lin, S. Karger, 1904. Preis 0,50 M. 

Es ist erfreulich, daß Ierr Professor Oppenheim den unsern Lesern be- 
kannten Vortrag in erweiterter Form noch weiteren Kreisen zugänglich gemacht 
hat. Ich kann nur wünschen, daß alle unsere Leser im Interesse der zahllosen 
nervösen Kinder für möglichste Verbreitung sorgen. Tr. 


Baur, Dr., Seminararzt, Hygienischer Taschenatlas für Haus und Schule, 
Wiesbaden, Verlag von Otto Nemnich. Preis 1,50 M. 

Das Schriftchen bringt auf 26 Tafeln zahllose Abbildungen, während auf der 
gegenüberstehenden Seite in größter Kürze die Beschreibung dazu geboten wird. 
»Wie der einzelne sein eigenes Wohl und damit der Gesellschaft Gedeihen fördern 
kaun«, das soll hier beleuchtet werden. Die Überschriften der einzelnen Tafeln 
mögen von der Reichhaltigkeit des Büchleins Kenntnis geben: Blutstillung (Taf. 1), 
Hilfeleistung bei Unglücksfällen (2 und 3), Giftpflanzen (4), Krankenpflege (5—8), 
Rückgratsverkrümmung in der Schule und zu Hause (9—11), richtiges Sitzen in 
Schulbänken (12), ansteckende Haut- sowie andere Krankheiten im Kindesalter (13), 
ansteckende Kinderkrankbeiten (14), Krankheiten und körperliche Defekte im Schul- 
alter, welche besonderer Rücksichtnahme zu empfehlen sind (15), Heilpflanzen (16), 
Ernährungstafel (17), Wohnung, Kleidung, Heizung, Desiufektion und Impfschutz (18), 
Zimmergymnastik (19, 20), Zimmergymnastik und Turnen (21), Turnen und Leibes- 
übungen (22, 23), gesunde Spiele für Knaben und Mädchen (24—26). 

Mehr kann man in einem kleinen Büchlein in Oktavformat nicht bieten. Daß 
man dabei an die einzelnen kleinen Zeichnungen nicht zu hohe Anforderungen 
stellen darf, liegt auf der Hand. Sie sind aber durchweg sehr instruktiv und wir 
können den Taschenatlas für Haus und Schule nur empfehlen. Tr. 


Hahn, Ernst, Die Strafrechtsreform und die jugendlichen Verbrecher. 
Neue Zeit- und Streitfragen. Herausgegeben von der Gehestiftung zu Dresden. 
5. u. 6. Heft. Februar und März 1904. Dresden, Zahn & Jaensch, 1904. 46 S. 
u. 4 statistische Tafeln. 

Der oben unter den »Mitteilungen« erwähnte Vortrag ist inzwischen im Druck 
erschienen. Ich möchte iha als bedeutsame Ergänzung zu meinem Vortrag auf 
das angelegentlichste empfehlen. Ir. 


TUT INN UN NT UN 





Druck von Hermann Beyer & Söhne (Beyor & Mann) in Langensalza. 

















A, Abhandlungen. 


1. Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache 
von Gesetzesverletzungen Jugendlicher. 
Von 
J. Trüper. 


(Schluß.) 


Eine andere Gruppe jugendlicher psychopathischer Missetaten 
sind die Eigentumsvergehen. 

Von jenen 49675 Abgeurteilten unter 18 Jahren waren 36 608, 
die wegen Vergehen gegen das Eigentum verurteilt, d. h. für den 
Kinderfreund, die in öffentlicher Verhandlung für alle Zeit als mit 
einem Makel behaftet gebrandmarkt wurden. Von hier aus öffnet 
sich darum auch das weiteste und allgemeinste Eingangstor für das 
Studium der Psychologie der jugendlichen Verirrungen. 

Nichts reizt die Jugend mit ihrem gesunden Appetit, ihrem Taten- 
drange und ihrem Erwerbs- und Sammelsinn mehr, als in den Besitz 
fremden Eigentums zu gelangen. Jene Ziffer bezeichnet auch nur 
einen Bruchteil dieser Art Vergehen. Zahllose Fälle kommen über- 
haupt nicht vor den Strafrichter und andere endeten wegen Mangel 
an Einsicht mit Freisprechung. 

Überdies reizt nicht selten auch die Art der Strafe manchen derben, 
nach Tatendrang durstenden Jungen obendrein noch zur Geringachtung 
der etwaigen Folgen. Welchen Eindruck sollen auch die ganzen 
Verhandlungen von der Untersuchung bis zum Richterspruch auf 


Die Kinderfehler. IX. Jahrgang. 13 


194 A. Abhandlungen. 


einen verwilderten Jungen machen, wenn sie zu einem Ergebnis wie 
dem folgenden führen? 

»Der 14jährige Schulknabe Karl S. aus Nerkewitz hat dem Landwirt Emil Fl, 
dortselbst Geldbeträge im Gesamtbetrage von 1,80 Mark ausgeführt; einmal stahl 
er 1,20 Mark, den Rest ließ er bei einem zweiten Besuche in seinen Taschen ver- 
schwinden. Dann ging das Bürschehen bin und verjubelte seine Beute auf der 
Neuengönnaer Kirmse. Der Junge ist ohne weiteres geständig und kommt mit einem 
Verweis davon.« 

Oft lautet das Urteil auch entgegengesetzt und wegen gering- 
fügiger Entwendungen folgte früher nicht selten Gefängnisstrafe. 

Nicht selten werden unter der Jugend wahre Diebesbanden organi- 
siert. Unlängst hatte sich unter der gymnasialen Jugend in der 
rheinländischen Stadt M. nach Art studentischer Verbindungen ein 
Verein gebildet, der Außergewöhnliches leistete. Die Söhne hoch- 
gestellter Familien waren daran beteiligt. 

In solchen Fällen haben wir es sicher nicht mit psycho- 
pathischen Burschen zu tun. Sie schalten darum für unsere weitere 
Betrachtung aus. Nur darauf will ich hinweisen, daß das Ethos 
dieser Helden doch auf einer sehr niederen Entwicklungsstufe ge- 
blieben ist, deren Ursachen nachzuforschen ebenfalls nicht uninter- 
essant wäre. 

Die Eigentumsvergehen unter pathologischem Einflusse sehen 
anders aus. 

Unlängst erhielt ich von einem höheren westdeutschen Beamten 
folgenden Brief: 

Ba ne Darf ich Sie um Ihren gütigen Rat bitten ? Der Fall betrifft nun frei- 
lich nicht ein Kind, sondern einen Jüngling von 19 Jahren, der heuer das huma- 
nistische Gymnasium gut absolvierte, aber trotzdem ein so schwaches moralisches 
Gefühl, insbesondere ein so schwaches sittliches Willensleben hat, daß er sich zu 
strafbarer Entwendung fremden Geldes hinreißen ließ. 

Gibt es Anstalten, wo ein Mensch von dem Alter unter pädagogischer Aufsicht 
und Leitung gehalten, aber doch auch seiner geistigen Vorbildung entsprechend und 
mit Rücksicht auf einen künftigen Lebensberuf beschäftigt wird und wenn, wo be- 
finden sich solche Anstalten ?« 

Ich habe den Fall nur oberflächlich kennen gelernt, wußte leider 
auch nicht eine solche Anstalt zu nennen. Ich erwähne ihn aber, 
weil er insofern typisch ist, als hier jede Spur von intellektuellem 
Schwachsinn, also von juristischer Unzurechnungsfähigkeit, ausge- 
schlossen ist und der Bursche bereits die Schule hinter sich hatte 
und unter der Fahne stand. Der Nervenarzt hat den Offiziersaspi- 
ranten aber aus triftigen Gründen doch vor dem Strafrichter ge- 
schützt, im Einverständnis mit den militärischen Vorgesetzten. 

Ich leınte im Laufe der Jahre auf jene oder ähnliche Weise 


Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 195 


Dutzende von derartigen Fällen kennen, zum Teil sehr genau. Da 
drängt sich uns die Frage auf: Wie kommen Knaben und Jünglinge 
wie Mädchen — wenn auch seltener —, die nach juristischer Defini- 
tion nicht unzurechnungsfähig und nach psychiatrischem Urteil nicht 
geistesschwach sind und die aus Familien stammen, wo gute Er- 
ziehung, Bildung und Wohlstand zu Hause sind, so daß keine äußere 
Not sie zwingt, von der der wirtschaftliche Materialismus behauptet, 
daß sie alle Verbrechen gegen das Eigentum verschulde, wie kommen 
sie zu solchen Handlungen’? 

Wenn man genau nachforscht, so sind viele von ihnen erblich 
belastet, d. h. von ihren Vorfahren ist ihnen neben andern Eigen- 
schaften und Anlagen auch die zur Nervosität, zum Krank- und 
Schwachwerden des Nervensystems, vererbt, wobei die alkoholistischen 
und sexuellen Jugendsünden der Väter eine nicht seltene Rolle 
spielen. In vielen Fällen läßt sich aber absolut keinerlei erbliche 
Belastung nachweisen. 

In gar manchen Fällen berichten Eltern Ähnliches. Das Kind sei 
von Geburt an schwächlich gewesen. Schon in der Wiege hatte sich 
bei den geringsten körperlichen Störungen ein krankhafter Zustand ge- 
zeigt, den man in der einen Gegend »Gichter« in der andern »Fraisen« 
nennt. Die Zähne, welche bei einem nervengesunden Kinde ohne 
Beschwerden durchbrechen, verursachten Geschrei, Unruhe, Schlaf- 
losigkeit oder Krämpfe. Später zeigte sich Rhachitis oder englische 
Krankheit. Noch später war es behaftet mit anhaltenden Kopf- 
schmerzen oder eigenartigen Zuckungen, mit Schielen, schlechter 
Haltung und dergl. Es zeigte Angst vor Hunden, Katzen, Fröschen, 
vor Dunkelheit und Gespenstern, es hatte Angstanfälle bei Tag wie 
in der Nacht, wo es plötzlich heftig auffahrend im Schlaf aufschrie. 
Es zeigte sich bis in das Knabenalter noch Bettnässen und dergl. Als 
die Schullast getragen werden mußte, verschlimmerte sich manches, 
namentlich die Kopfschmerzen und die Angstzustände Es folgten 
auf Zeiten geistiger und körperlicher Stumpfheit, Zeiten nervöser 
Überreiztheit: »himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt«. Dabei 
immer blasse Farbe und welke Muskeln und fehlende Körperkraft, 
trotzdem die Mutter alles mögliche versuchte, das Kind kräftig zu 
ernähren. »Stärkende Weine« und reichliche Fleischkost führten 
aber eher zum Gegenteil. So ein schlaffer Junge wird als Gym- 
nasiast selbstverständlich vom Turnen dispensiert und erhält keinen 
Ersatz. Traten Halsentzündungen oder andere Kinderkrankheiten 
auf, so litt dieses Kind viel stärker darunter als andere. 

Oder es handelte sich um von Haus aus ganz gesunde Kinder, 

13* 





196 A. Abhandlungen. 


die erst durch Überforderung in der Schule und nicht minder in der 
Familie wie durch Genußsucht und durch Trinkunsitte entarteten. 

Die Intelligenz bleibt in beiden Fällen vielfach intakt. Wenigstens 
merkt der oberflächliche Beobachter die Defekte nicht. Das Kind war 
seit je ja so leicht erregbar und interessiert. Es war im Grunde auch 
trotz alledem ein gutes Kind. Aber die Lehrer klagten je länger je 
mehr, straften auch wohl wegen häufiger Unaufmerksamkeit und 
Schläfrigkeit und Trägheit und nachlässigem Arbeiten. Es hatte doch 
zeitweise bewiesen, daß es Erfreuliches leisten könne. Zwar war es 
schon seit je leicht übellaunisch, es wurde nun allmählich eigensinnig 
und auch wohl trotzig, warf sich auf den Boden, strampelte mit den 
Füßen, usw. Später verwandelte sich das allmählich in eine Art 
Hinterlist und Verschlagenheit. Nach und nach begann es sich aus 
allem herauszulügen. Die ursprüngliche Begabung führte Ent- 
täuschungen herbei. Es blieb in einzelnen Fächern, besonders im 
Rechnen, in der Mathematik zurück, schließlich mußte es eine Klasse 
repitieren. Und dann — ja dann machte es eine große Dummheit, 
es entwendete Geld. 

So, oder meistens nur teilweise so, oder in ähnlicher Weise ver- 
läuft die Lebensgeschichte so vieler jugendlicher Missetäter, und alle 
diese Keime schießen wie Pilze aus der Erde empor zu strafbaren 
Handlungen, sobald noch die oben gekennzeichneten alkoholischen, 
Nikotin- und sexuellen wie pornographischen Einflüsse sich geltend 
machen. 

In dem einen Falle macht nun das Kind Gütergemeinschaft mit 
der Portokasse des Vaters, im andern mit den Ersparnissen der 
Schwestern, ein dritter findet Geld bei den Großeltern, ein vierter in 
der Tasche des Mitschülers beim Baden, usw. Der eine nahm bloß 
Geld, der andere auch noch beim Onkel, der Bahnhofsvorsteher ist, 
Fahrkarten I. Klasse, der dritte beliebige Gegenstände. 

Der eine entwendete nur einmal, der andere bekam Wohlgefühle 
nach dem Gelingen und wiederholte die Tat. Der dritte wird ernst- 
lich ermahnt, es nie wieder zu tun. Es dauert nur wenige Tage, da 
ist die Familie aufs neue blamiert. Er wird nun auf das Entsetz- 
lichste durchgehauen und er fleht und bittet um Verzeihung und 
gelobt, es nie, nie wieder zu tun, und schon nach einer Stunde geht 
der Tertianer striemenbedeckt in ein Geschäft und macht unter 
falscher Angabe heimlich Einkäufe für sich. Aber sonderbarerweise: 
das eine dieser Kinder kaufte sich für das entwendete Geld gedruckte 
Gratulationskarten zu Verlobungen, das andere wollte durchaus ein- 
mal I. Klasse auf den breiten Sitzen mit dem roten Plüsche fahren 


Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 197 


und das dritte warf alles, was er an fremdem Gute entwendete, direkt 
in den Abort oder verschenkte es wieder. 

Wir fragen nun: sind nun diese Kinder, die wir nicht bloß in 
Volksschulen, sondern auch in der Sexta bis zur Prima der Gym- 
nasien finden, zurechnungsfähig oder nicht und wenn nicht, sind sie 
geisteskrank oder schwachsinnig oder in welche Schablone juristischer 
oder anderer dogmatischer Begriffe passen sie hinein? Verdienen sie, 
daß man sie öffentlich vor den Strafrichter stellt und so ihnen den 
Stempel des Bestraftseins für ihr ganzes Leben aufdrückt und sie 
jenen 50000 einreiht, und wenn es geschieht, was ist damit ge- 
wonnen? Werden sie dadurch gebessert? Wird der Schaden dadurch 
wieder gut gemacht? Wird ihre Ehre und die der Familie wieder 
hergestellt? Ich antworte: Nein und abermals nein. Höchstens mag 
die Gesellschaft Befriedigung der Rache haben, ein Bedürfnis, das 
man früher ja sogar den Göttern zuschrieb. 

Sind solche Kinder aus ärmeren Kreisen, so verfallen sie leider 
von selber dem Strafrichter. Sind sie aus wohlsituierten Kreisen, so 
deckt man gerne manches mit dem Mantel der Liebe, des Einflusses 
und des Geldes zu, und in der Regel verfallen die Angehörigen dann 
auch auf den klugen Gedanken, daß es zweckmäßiger sei, den Nerven- 
arzt oder den Erzieher zu Rate zu ziehen als den Strafrichter. Und 
ganz auffallend ist es, daß selbst solche rückfällig gewordenen Ge- 
setzesbrecher meistens nicht wieder rückfällig werden, wenn sie in 
eine andere Umgebung verpflanzt werden, wo sie mehr frische Luft 
umweht und ihnen mehr Sonnenschein auf die Haut wie ins Herz 
fällt und wo vor allem die Überbürdung der Schule mit geisttötenden, 
rein verbalen Exerzitien einem geisterfrischenderen Unterrichte Platz 
macht. Denn alle jene Handlungen hatten als Ursache Ner- 
vosität und andere Dinge, welche psychopathische Herab- 
minderungen schufen, die die relative Willensfreiheit be- 
einträchtigen, ja die zu einer Art von Trieb-, Zwangs- oder 
Reflexhandlungen drängen. 

Suchen wir uns den psychologischen Vorgang noch etwas ge- 
nauer zu erklären. 

Angenommen mehrere Tertianer oder mehrere Brüder wissen, 
daß an einem bestimmten Orte Geld liegt. Die Vorstellung des 
Geldes kann in ihnen allen allerlei andere Vorstellungen und Wünsche 
wecken. Sie werden sich an dem Besitz von Geld erfreuen. Sie 
können für das Geld sich Näschereien, Obst, Bier, Cigarren kaufen. 
Sie können dafür eine Bootfahrt machen, oder auf der Eisenbahn stolz 
I. Klasse fahren. Sie können es in die Sparkasse tun und ihr Be- 





198 A. Abhandlungen. 


sitztum so bereichern, usw. Bei den nicht reizbar schwachen 
Kindern werden manche dieser Vorstellungen gar nicht auftreten und 
die auftreten, werden nicht so lebhaft auftreten, weil gesunde Kinder 
auf Eindrücke nicht gesteigert reagieren. 

Nun entsteht eine Zielvorstellung. Man möchte das Geld be- 
sitzen. Bei einem Kinde mit überreizten Nerven löst sofort oder 
ohne viel Überlegung diese Zielvorstellung eine Handlung aus. Man 
nimmt das Geld und befriedigt damit jene Wünsche. 

Bei einem Kinde mit nicht überreizten Nerven oder mit reg- 
sameren Gewissen wirken andere Vorstellungen dem entgegen, wie 
z. B.: das Geld ist fremdes Gut, es ist verboten, dasselbe sich anzu- 
eignen; wenn man es nimmt, betrügt man damit Eltern und Lehrer; 
man verstößt gegen Gottes Gebot; würden die Eltern es nicht 
sehen, der Allwissende sieht es immer; auf die Sünde folgt Strafe 
und sei es auch nur die Qual des Gewissens; es ist eine Sünde, so 
etwas zu tun, usw. 

Bei einem nervenfesten, aber zielbewußten Diebe tauchen wiederum 
Vorstellungen anderer Art auf: es würde nicht entdeckt werden; 
der Eigentümer hat Geld genug, was schadet es, wenn man ihn ärmer 
macht; früher habe er schon wiederholt dergleichen getan und es 
sei ihm stets gelungen, usw. 

Je nach dem Überwiegen der einen oder der andern Vor- 
stellungsreihe wird nun die Handlung ausgeführt. Man nimmt das 
Geld, vernascht es, versteckt es, legt es in die Sparkasse, usw., oder 
man läßt die Angelegenheit auf sich beruhen und widersteht der 
Versuchung. 

Es ist klar, daß auch im Falle eines vollständig normalen Seelen- 
lebens das Kind, dem die Grenze zwischen mein und dein, die Be- 
deutung eines Vergehens gegen das Strafgesetzbuch noch nicht so 
klar zum Bewußtsein gekommen ist, anders handeln wird als der Er- 
wachsene. Bei dem Armen werden andere Vorstellungen auftreten 
als bei dem Reichen. Sind fremde Personen anwesend, so wird die 
Sache anders ausfallen, als wenn man sich unbeobachtet glaubt. Ist 
das Geld eingeschlossen, wird man anders handeln, als wenn es offen 
auf dem Tische liegt. Der Intelligente wird selbstverständlich auch 
anders handeln als der Schwachbefähigte, weil bei jenem viel eher 
Überlegungen Platz greifen, bei diesem viel weniger hemmende 
Vorstellungen auftreten, und wiederum nähert sich der Schwach- 
sinnige dem Intelligenten, der nervös überreizt oder nervös abge- 
stumpft ist. 

Aber dieses Erwägen und Überlegen gibt oft nicht den Aus- 


TrÜürEr: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 199 


schlag; für unser Handeln ist ein anderes ausschlaggebender. Die- 
selbe Vorstellung führt z. B. bei Liebe oder bei Haß zu ganz ent- 
gegengesetzten Handlungen. Es kommt darauf an, von welchen Ge- 
fühlsstönen unsere Vorstellungen begleitet werden und zwar, ob die 
Gefühlsstöne Lust oder Unlust, \Wohlgefühl oder Abscheu bedeuten, 
ob sie lebhaft oder schwach oder indifferent sind. Denn diese Gefühls- 
töne, die jede Vorstellung begleiten, sind bei ein und derselben Per- 
son zeitweilig für ein und dieselbe Wahrnehmung, und für ein und 
dieselbe Vorstellung bei verschiedenen Individuen sowohl quantitativ 
als qualitativ verschieden. So erhalten die gleichen Vorstellungen bei 
verschiedenen Menschen wie auch bei verschiedenen Zeiten und bei 
verschiedenartigen Umständen einen durchaus verschiedenen Gefühls- 
wert. Der eine bleibt darum indifferent, wo der andere freudig er- 
regt wird und den dritten ein Unlustgefühl überkommt. 

Nun werden im Kampfe der Vorstellungen die mit starken Ge- 
fühlstönen begleiteten im allgemeinen über die schwach betonten, 
die von Lust begleiteten über die Unlust erweckenden beim Streben 
nach Ausführung der Handlung den Sieg davon tragen. 

Hinzu kommt aber noch eins. Die Nerven fraglicher Individuen 
sind leicht erregbar, reflexartig führen die Reize von außen zu Hand- 
lungen; daher z. B. die motorische Unruhe der Nervösen. Das Ge- 
fühlsleben ist zudem abnorm. Die starken Gefühlstöne sind im 
Stadium der Erregung übermäßig gesteigert, im Stadium der Ermü- 
dung sehr herabgemindert und im allgemeinen herabgemindert bei 
Vorstellungen abstrakter Art, also z. B. bei den ethischen Begriffen 
über Recht und Unrecht, können es wenigstens sein. Oder die 
Lustgefühle können dermaßen stark auftreten, daß sie mit unwider- 
stehlicher Macht wie Hunger und Durst zur Verwirklichung drängen. 
Jener Knabe hat im Eisenbahnwagen II. Klasse seinen Vater dringend 
gebeten, doch einmal mit ihm erster Klasse zu fahren, und die ver- 
nünftige Abweisung des Vaters steigerte nur noch den Gefühlston, 
bis er bei der Großmutter sich das Geld dafür entwendete. Hinzu 
kommt noch, daß die Gefühle nicht bloß Begleiterscheinungen der 
Vorstellungen, der Intelligenz sind, sondern auch alle unbewußten 
Vorgänge begleiten. 

Solche Zustände können sich steigern bis zur direkten Zwangs- 
handlung, die jede entgegengesctzte Vorstellung und jedes ernste 
Wollen einfach niederringt. »Das Gute, das ich will, das tue ich 
nicht, aber das Böse, das ich nicht will, das tue ich. — Ein anderes 
Gesetz ist in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz in 
meinem Gemüt und nimmt mich gefangen in der Sünde Gesetz, 





200 A. Abhandlungen. 


welches ist in meinen Gliedern.«e So schildert der Apostel Paulus!) 
aus eigener schwerer Erfahrung mit treffenden Worten diesen Zustand. 
Und jener Knabe, der nach der Züchtigung die Handlung vollzog, 
handelte entschieden in einem solchen blinden, zwangsartigen Drange. 
Nebenbei bemerkt, waren seine Gefühlstöne außerordentlich matt und 
nicht ohne die Schuld der Angehörigen unentwickelt geblieben. Und 
ein auch geistig geschwächtes gutherziges Mädchen, das in gewissen 
Zeiten, namentlich während der Mensis, beliebige Sachen entwendete 
und sie direkt in den Abort warf, bittet die Mutter: »Bleibe bei 
mir und laß mich nicht allein, denn dann kommt eine Angst über 
mich, daß ich Böses tun muß.« 

Nun frage ich: Kann unser landläufiges Strafsystem hier etwas 
ausrichten? Ja, ist der Jurist vermöge seiner Vorbildung befähigt, 
hier zu urteilen? Daß bisher der Jurisprudenz jedes Verständnis für 
diese Fragen fehlte, beweisen die von mir besprochenen Fälle wie 
die vorhandenen Strafgesetze. 

Man bestraft den Gesetzesbrecher, weil er eine sittlich recht- 
liche Schuld auf sich geladen hat, eben die Schuld des Gesetzes- 
bruches. Zweck der Strafe ist die Vergeltung, die Wiederherstellung 
der gebrochenen Rechtsordnung durch eine dem Maße der Verschul- 
dung angemessene Strafe. So sagt die klassische Strafrechtsschule. 

Die moderne Schule, die den Menschen als willensunfrei, im wesent- 
lichen als das Produkt der umgebenden sozialen Verhältnisse darstellt, 
hält ebenfalls ein Strafrecht für notwendig. Rechtsgrund und Zweck 
verschieben sich aber. Rechtsgrund ist für sie nicht die Tatsache 
des Verbrechens, sondern die Person des Verbrechers. Er ist ver- 
antwortlich nicht, weil er schuldig ist, sondern weil seine antisoziale 
Gesinnung die Gesellschaft gefährdet. Zweck der Strafe ist daher der 
Schutz der Gesellschaft, die Sicherheit der Gesellschaft gegen anti- 
soziale Existenzen. Die Strafe ist nicht Vergeltungsstrafe, sondern 
Sicherungsstrafe. 

Über diesen Standpunkt ist man eigentlich auch ideell nicht hin- 
ausgekommen, und wenn der Centrumsabgeordnete Dr. Schaumz im 
Preußischen Abgeordnetenhause urplötzlich der Vorlage eines Zwangs- 
erziehungsgesetzes den Namen eines »Fürsorgegesetzes« aufgedrückt 
hat, so ist das eigentlich ein Unikum, wenn auch ein so erfreuliches, 
daß weitere Kreise zunächst den Namen und damit auch je länger 
je mehr von dem Inhalte desselben sich angeeignet haben. 

Die psychopathologische Betrachtung des jugendlichen Verbrecher- 


1) Röm. 7, 19. 23. 


Trürer: Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursache usw. 201 


tums zwingt uns zu dem Standpunkte überzugehen, daß wir neben 
oder vor der Strafe aus Vergeltung oder zum Zwecke des Schutzes 
der Gesellschaft die Verhütung der Gesetzesübertretungen und bei 
Gesetzesübertretungen die leibliche und seelische Besserung und 
Rettung ins Auge fassen. Damit stellen wir uns auf den Standpunkt, 
den die neuzeitliche Psychologie und Psychiatrie uns anweist, auf den 
aber schon einer vor 1900 Jahren hingewiesen hat, als er durch 
Wort und Tat ausrief: »Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig 
und beladen seid, ich will euch (nicht verstoßen und verfluchen, 
sondern euch bessern und) erquicken.« (Matth. 11, 28.) 


Sind nun meine vorstehenden Darlegungen, und wenn auch nur 
im allgemeinen, stichhaltig, so ergeben sich daraus folgende, im Inter- 
esse der heranwachsenden Jugend zu erhebende Forderungen: 

1. Es gibt abnorme Erscheinungen im Seelenleben der 
Jugend, die nicht unter die Rechtsbegriffe »Unzurechnungs- 
fähigkeit« und »Geistesschwäche« fallen, die aber doch 
pathologischer Natur sind und bei manchen zu Gesetzes- 
verletzungen führen, ja unbewußt drängen. 

2. Diese Zustände entwickeln sich in vielen Fällen 
erst allmählich aus kleinen Anfängen. Werden dieselben 
rechtzeitig erkannt und zweckentsprechend in der Er- 
ziehung berücksichtigt, so können dadurch viele jugend- 
liche Gesetzesübertretungen verhütet werden. 

3. Es ist darum im Öffentlichen Interesse dringend 
erwünscht, daß Lehrer, Schulärzte, Seelsorger und Straf- 
richter sich mehr als bisher dem Studium der Entwick- 
lung der Kindesseele und ihrer Eigenarten widmen. 
Namentlich ist es notwendig, daß an den Universitäten 
in Verbindung mit pädagogischen Seminarien Vorlesungen 
über Psychologie und Psychiatrie des Jugendalters ge- 
halten werden und daß in den Volksschullehrerseminarien 
die künftigen Lehrer Anleitung zum Beobachten des 
kindlichen Seelenlebens erhalten. 

4. In allen Schulen ist mehr als bisher der Erziehung 
des Gefühls- und Willenslebens Rechnung zu tragen und 
der einseitigen intellektuellen Überlastung vorzubeugen. 

5. Bevor jugendliche Individuen wegen Gesetzesver- 
letzung öffentlich vor den Strafrichter gestellt werden, 
sollten sie zunächst einem Jugendgericht, bestehend aus 


902 A. Abhandlungen. 


dem Lehrer des betreffenden Kindes, dem Leiter der be- 
treffenden Schule, dem Schularzte, dem Geistlichen und 
dem Vormundschaftsrichter überwiesen werden. Erst auf 
Beschluß dieses Jugendgerichtes sollte gegen Jugendliche 
cin öffentliches Verfahren eingeleitet werden.!) 

6. Statt oder neben der Strafe als Sühne oder der 
bloßen Einsperrung zum Schutze der Gesellschaft gegen 
die Übeltäter sollte in besonderen Anstalten von be- 
sonders vorgebildeten Pädagogen unter medizinisch-psy- 
chiatrischem Beirate geleitet, eine für Leib und Seele 
sorgfältig erwogene Heilerziehung Platz greifen. Die Für- 
sorgegescetze tragen bisher diesen Anforderungen nicht 
genügend Rechnung. 


2. Eine merkwürdige Entdeckung über die Bedeutung 
der Schilddrüse. 
Vortrag, gehalten gelegentlich der 13. Jahresversammlung des holländischen Vereins 
für die Fürsorge für Idioten und zurückgebliebene Kinder. 
Von 
Dr. med. A. Dupont-Ermelo (Holland). 


Die Fortschritte der Wissenschaft sind nur langsame. 

Auch auf dem biologischen Gebiete ist noch gar vieles ein 
Rätsel. Auf welche Weise Seele und Leib zusammen wirken, ist 
uns noch ganz und gar unbekannt. 

Unbekannt ist noch, wie das Protoplasma der Zelle sich nährt 
mit den von dem Blute zugeführten nahrhaften Bestandteilen, warum 
das Protaplasma einzelner Zellen andere Wirkung hat als das anderer 
Zellen, obschon durch das Mikroskop wenig Unterschied im Bau 
wahrzunehmen ist. 

Unbekannt ist z. B. auch noch die Wirkung der Nebennieren. 
Wir wissen nur, daß bei Krankheit der Nebennieren sehr wichtige 
Störungen eintreten. Es ist nicht lange her, als wir erfuhren, die 
Milz spiele eine Rolle bei der Blutbereitung. 


t) Die gauze bisherige Strafpraxis hat sich für die Jugendlichen als durchaus 
nutzlos erwiesen und kostet nur dem Staate unnütz viel Geld. Hier muß ein 
Üborgang von der elterlichen und Schulzucht zur strafrechtlichen geschaffen werden. 
Die Hinausschiebnng der Altersgrenze für die Strafbarkeit ist ein unwirksames Mittel. 
Es wird nur die Ziffer herabdrücken, aber die Sünden nicht mindern. Das Einzelne 
meiner Forderung bleibt vorläufig auch für mich diskutabel. Ich bin zufrieden, 
wenn ich damit nur die edukatorische Erörterung der Frage in Fluß bringe. 


Dvpoxt: Eine merkwürdige Entdeckung über die Bedeutung der Schilddrüse. 203 





Unbekannt ist noch die Verrichtung verschiedener Hirnteile, 
unbekannt die Wirkung der Thymus-Drüse usw. 

Dankbar erkennen wir den Fortschritt der Wissenschaft als eine 
Gottesoffenbarung an. Jedoch müssen wir, mit dem großen Physio- 
logen CLAUDE BERNARD äusrufen: »Nous sommes entourés de phéno- 
mönes que nous ne voyons pas,« wir sind umgeben von Phänomenen, 
welche wir nicht schen. Zu den Organen, wovon man bis vor kurzer 
Zeit gar nichts wußte, gehört die Schilddrüse. 

Sie besteht aus zwei seitlichen, von einem schmalern Mittel- 
läppchen verbundenen Teilen, welche sich am obern Teile der Luft- 
röhre befinden. Das Mittelstück bedeckt die oberen Knorpelringe 
der Luftröhre. 

Der innere Bau gleicht dem Baue jener Organe, welche eine 
gewisse Flüssigkeit abscheiden, und Drüsen genannt werden, dasjenige 
aber, was sie davon unterscheidet, ist der absolute Mangel cines 
Ausführganges, durch welche die abgeschiedene Flüssigkeit weggeführt 
wird. Welchen Zweck hat diese Flüssigkeit der Schilddrüse und wohin 
nimmt sie ihren Weg? Das sind Fragen, worauf vergebens eine 
Antwort gesucht ward, bis die Entdeckung einer bestimmten Krank- 
heit darauf mehr Licht warf. 

Bei dieser Krankheit wollen wir zunächst einige Augenblicke 
verweilen. 

Vor dreißig Jahren stellten der englische Arzt Witam GULL 
und einige Jahre später auch sein Kollege Orp einer der gelehrten 
Gesellschaften einzelne Patienten vor, bei denen Abweichungen von der 
Normalität der Haut und dem Nervensystem vorlagen. Es handelte 
sich um Frauen, und wie beide Ärzte glaubten, um eine selbständig 
auftretende Krankheit. 

In einem der Fälle war Orp im stande, eine Untersuchung nach 
dem Tode zu erreichen, wobei er bestimmen konnte: 1. cinen starken 
Rückgang der Schilddrüse, 2. ein Durchziehen der Haut und des 
Unterhautzellgewebes mit einem schleimigen Stoffe. Durch den 
schleimigen Stoff sah die Haut bleich und wachsig aus, und erschien 
dick beim Betasten. 

Beim ersten Anblicke glich sie der Haut der Wassersüchtigen; 
das bekannte Grübchen beim Drücken blieb aber nicht darin stehen. 

Orp gab deshalb der Krankheit den Namen Myxoedem, d. h. 
schleimige Anschwellung. 

Von französischer Seite, von Cuarcor und seinen Schülern, kamen 
ungefähr gleichzeitig, und unabhängig von ihren englischen Kollegen, 
Nachrichten über ähnliche Fälle, jetzt auch in Bezug auf Männer, 





204 A. Abhandlungen. 


und die erneute Untersuchung fand, daß die Krankheit schon im 
jugendlichen Alter eintreten kann und auch angeboren vorkommt. 

In allen Fällen wurde konstatiert großer Rückgang, resp. Fehlen 
der Schilddrüse. 

Es kamen nun die Erfahrungen der Schweizer Chirurgen R£vErDIN 
und Kocer dazu, wonach nach gänzlicher Entfernung (durch operieren) 
der in der Schweiz vielfach vorkommenden Kröpfe (kränkliches 
Wuchern der Schilddrüse) ein Zustand eintrat, dem die Krankheit 
ungemein ähnlich war, welche von obengenannten Ärzten beschrieben 
wurde. Im einen Falle: Rückgang, also Fehlen der Schilddrüse, im 
andern operatives Entfernen jenes Organes. 

Nun lag es auf der Hand, die Krankheit in Verbindung zu 
bringen mit der fehlenden Wirkung der Schilddrüse, und zu meinen, 
die abgeschiedene Flüssigkeit jener Drüse habe ohne Zweifel ein be- 
deutendes Werk zu verrichten. 

Im Jahre 1884 lieferte Schirr den Beweis, daß ein Hund, dem 
die Schilddrüse genommen wird, nicht leben kann. Er wird apa- 
thisch, schläfrig, sein Bewußtsein wird gestört, er bekommt Krämpfe, 
usw. Bei einem andern Hunde, dem ScHiFF zuvor die Schilddrüse 
eines andern Hundes im Unterleibe festgenäht hatte, wurde erkannt, 
daß das Fortnehmen der Schilddrüse jetzt nicht tödlich war. Die 
genannten Phänomene blieben aus. Schirrs Schlußfolgerung war, 
daß der Schilddrüse eine wichtige Funktion für die normale Wirkung 
des Organismus anvertraut sein müsse, und daß das Fehlen des Ab- 
scheideproduktes ernstliche Störungen anrichten könne. 

Was nun die Ursache des Rückschrittes oder Fehlens der Drüse 
ist, ist bis jetzt noch unbekannt. 

BourNEVILLE, der viel Erfahrung hat in Bezug auf diese Krank- 
heit, sagt, daß Alkoholvergiftung wiederholt vorkomme in der Familie 
seiner Patienten. Auch in der Familie eines unserer Patienten hat 
sich dies gezeigt. 

Genannter BoursEVvILLE fand wiederholt Tuberkulose in der Familie, 
wir bei einem unserer Patienten auch. 

Man hat wahrgenommen, daß die Krankheit mehr bei Frauen 
als bei Männern auftritt (6 Frauen stehen einem Manne gegenüber), 
besonders mehr bei verheirateten Frauen. Auch kommt die Krank- 
heit in einzelnen Ländern, z. B. in England, häufiger vor als in andern. 
Das Alter, in welchem die Krankheit am häufigsten auftritt, liegt 
zwischen dem 30. bis 50 Jahre. Doch auch bei Kindern und an- 
geboren kommt die Krankheit nicht selten vor. Bei jüngern Kin- 
dern war die Krankheit schon früher bekannt unter dem Namen: 


Dveoxt: Eine merkwürdige Entdeckung über die Bedeutung der Schilddrüse. 205 


sporadischer, d. h. zerstreuter, Cretinismus, so genannt dem ende- 
mischen oder einheimischen Cretinismus gegenüber, wie er vorkommt 
in den Berggegenden Europas (Schweiz, Tyrol und Nord-Italien). 

Die an jenem örtlichen Cretinismus Leidenden zeigen öfters 
einen Kropf, der meistens nichts anders ist als eine kränkliche Ent- 
artung der Schilddrüse. Auf welche Weise dieser Kropf entsteht, ist 
bisher unbekannt geblieben. Die Entstehung hängt jedoch unzweifel- 
haft zusammen mit dem Trinken von Wasser aus bestimmten Quellen 
und wahrscheinlich auch damit, daß die Lufterfrischung in den Tälern 
viel zu wünschen übrig läßt. Bekannt ist, wie das Erblicken eines 
ähnlichen unglücklichen Cretinen Dr. GucsEngünn schon 1840 be- 
wegte, eine Cretinen-Anstalt zu bauen auf dem Abendberge, weil er 
wußte, daß seit langem wohlhabende Talbewohner ihre Wohnung ver- 
legten nach der Höhe der Berge, um also den Tälern zu entfliehen. 
Jene Übereinstimmung zwischen dem örtlichen Cretinismus und dem 
kindlichen Myxoedem ist leicht zu erklären. Es liegen vor: beim 
kindlichen Myxoedem ein Rückgang im jugendlichen Alter; bei dem 
Cretin eine kränkliche Verwandlung der Schilddrüse im jugendlichen 
Alter. Und weil der Mangel der Schilddrüsenwirkung bei den Er- 
wachsenen den Seelenzustand rückwärts gehen läßt, sie träge, stumpf- 
sinnig und fast teilnahmlos werden, so sieht man leicht ein, daß 
beim Fehlen der Schilddrüsenwirkung die Gehirne der Kinder in 
ihrer Entwicklung gestört werden. 

Das Myxoedem der Kinder wollen wir jetzt behandeln. Diese 
zurückgebliebenen Kinder kommen nicht oft in unsere Anstalten, 
weil die Notwendigkeit der Aufnahme nicht drängt; sie sind stumpf- 
sinnig, träge, plump, können oft nicht gehen, bleiben da sitzen, wo 
man sie hinsetzt, haben keine bösen Launen, sind im Gegenteil 
gutmütig; und so wird es möglich, daß eine Patientin, von der ich 
drei Photographien beigebe, bis an ihr 23. Jahr zu Hause blieb. 

Häusliche Umstände zwangen dann die Familie des Mädchens, in 
unsrer Anstalt Aufnahme zu suchen. 

Indem ich jetzt übergehe zu den Phänomenen der Krankheit, 
glaube ich dies am besten tun zu können, indem ich zwei Patienten 
von S’HEEREN Loo im Geiste vorstelle. 

Den 14. Mai 1901 ward mir in meine Studierstube eine neue 
Patientin (G. M....y) gebracht von ihren Eltern und ihrem Bruder. 
Letzterer schwitzte unter der schweren Bürde, die er den langen 
Weg vom Bahnhofe bis zu s’HEErREN Loo getragen hatte. Es war 
ein kleines Mädchen, das wie eine formlose Masse auf seinem Arme 
saß. Als man es auf einen Stuhl hinsetzte, kam der mißgebildete 


206 A. Abhandlungen. 


Kopf nicht höher wie die Lehne. Es saß und guckte still und teil- 
nahmlos für sich hin. Durch nichts gab es kund, es sei ihm fremd 
in meinem Zimmer. 

Es zeigte sich bei dem Mädchen Zwergwuchs. Der Kopf war 
stark verlängert in der Richtung von der Stirn bis zum Hinterkopfe. 
Die Haut des Antlitzes hatte eine gelbweiße Farbe und war dick. 
Man würde sagen, das Mädchen sei wassersüchtig, wenn bei der 
Untersuchung das bekannte Grübchen in der Haut stehen geblieben 
wäre. Die Stirn war nicht hoch und gerunzelt; daher der finstere, 
schwermütige Ausdruck, der all diesen Kranken eigen ist. Die Augen- 
spalten waren eng durch die geschwollenen Augenlieder, und da- 
zwischen befand sich ein breiter, tiefliegender Nasenrücken. Das 
Ende der Nase war breit mit weitaufstehenden Nüstern. Eine dicke 
Zunge war durch den geöffneten Mund sichtbar. Der Haarwuchs 
war sparsam. Das Kind geiferte nicht. Dies Äußere war so typisch, 
daß ich schon vor dem Entkleiden des Kindes fragte, ob es vielleicht 
auch einen dicken Bauch habe, worauf der Bruder antwortete: »Herr 
Doktor, wie cine schwangere Frau.« Nachdem das Mädchen ent- 
kleidet war, fiel der kurze, breite Hals auf, so kurz, als stände der 
Kopf direkt auf den Schultern. Die Gruben oberhalb der Schlüssel- 
beine waren ausgefüllt mit dicken Fettkissen; auch die Unterschlüssel- 
beinsgrube stand mehr als gewöhnlich hervor. Die Haut zeigte 
keinen Haarwuchs; keine Achsel-, keine Schamhaare. Die Brüste waren 
unentwickelt. Die Haut war über Brust, Bauch und Beinen mar- 
moriert, hier mehr, dort weniger gefüllt. Die Haut selber war dick, 
doch ohne Fettlage.e Der Bauch war ein echter Fröschebauch, sehr 
hervorstehend und darauf befand sich noch ein hervorstehender Nabel. 
Die Bauchform und das Hervorstehen des Nabels war besonders 
typisch. Ich will nicht leugnen, daß dann und wann Nabelbruch 
vorkommt; bei unserer Patientin aber entstand das Hervorstehen durch 
Infiltration der Haut um den Nabel. 

Die Beine waren plump, die formlos kleinen Füße zeigten dicke 
Fettpolster und waren mit den innern Kanten einwärts gebogen. Die 
Hände waren ebenfalls kurz und dick, die Finger breit. Von hinten 
geschen, war eine starke Höhlung im Rücken wahrzunehmen, deren 
Bildung zu erklären ist durch die Schwere des Bauches. Die Photo- 
graphie von damals gebe ich hier wieder. Patientin sagt nur ja und 
nein, nimmt keine Notiz von der Umgebung und ist auch noch unrein, 
wenn man nicht darauf achtet. Beim Anreden lächelt sie uns freund- 
lich zu, gibt aber gar kein Anzeichen dafür, daß sie etwas verstehe. 
Patientin beschäftigt sich gar nicht. Wenn man bedenkt, daß Patientin 


Dvront: Eine merkwürdige Entdeckung über die Bedeutung der Schilddrüse. 207 


22 Jahre zählt, 87 cm lang ist und 19 kg wiegt, daß von der Schild- 
drüse keine Spur zu finden ist, dann dürfte es klar sein, daß wir es 
mit einem Falle von Myxoedem zu tun haben. Aus der Vorgeschichte 
dieses Mädchens lernen wir, daß es sich in den ersten Monaten gut 
entwickelte, daß aber der Rückgang anfing nach dem vierten Monat, 
in welchem es eine schwere Form von Masern überstand. Die Zähne 
kamen zu bestimmter Zeit; der erste Wechsel der Zähne geschah 
aber erst im Alter von 14 Jahren und war bei der Aufnahme in die 
Anstalt noch nicht ganz vollendet. Das Mädchen konnte nicht gehen; 
sehr auffallend war das Mißverhältnis zwischen Ober- und Unterleib. 

Der Monatsfluß war noch nicht eingetreten. 

Die ganze Familie war außerordentlich nervös und hastig in 
ihren Bewegungen. 

Großmutter und Onkel sind am Wahnsinn gestorben. — 

Unsrer zweite Patient ist 11 Jahre alt und 104 cm groß, hat 
also ungefähr die Länge eines normalen sechsjährigen Kindes. Hier- 
mit kontrastiert die Größe des Kopfes, dessen Umfang 52!/, cm ist. 
Der Vater ist nervös. Die beiden Eltern des Vaters sind tuberkulös, 
eins der beiden auch epileptisch. Der Neffe des Vaters ist tuberkulös, 
zwei Neffen der Mutter sind idiot gestorben, und die Großtante des 
Patienten ist taub. 

Nach der Geburt, welche lange dauerte, wollte das Kind nicht 
saugen. — Wahrscheinlich war die große Zunge davon die Ursache, 
wiewohl das Nichtsaugenkönnen ein bekanntes Merkzeichen ist für 
idiot geborene Kinder. Danach entwickelte es sich gut, bis nach 9 
Monaten Stillstand eintrat. Die Zähne kamen spät. Das Gesicht 
wurde gedunsen, erhielt bleiche Farbe mit breiten, dicken Hänge- 
backen, dazwischen eine breite, platte Nase. Die Haare wuchsen hart 
und sparsam, der Mund blieb meistens geschlossen. Heute noch ist 
das Milchgebiß vorhanden. Dazu ein kurzer breiter Hals. Oberhalb 
und unterhalb des Schlüsselbeines treten starke Drüsenanschwellungen 
hervor. Von einer Schilddrüse ist nichts zu fühlen. Der Bauch 
steht hervor und ist breit, der Nabel besonders hervorstehend. Die 
obersten und untersten Glieder sind kurz und plump. Die Beine 
sind einigermaßen krumm. Arme und Beine, vorzüglich aber die 
Hände sind kalt und blaurot, die Finger breit und plump. Das Kind 
leidet an Verstopfung. Wo es hingesetzt wird, bleibt es sitzen und 
regt sich wenig. Patient spricht noch nicht, kann nicht allein 
gehen und wenn er steht, muß er sich festhalten. Trägheit in all 
seinem Tun ist charakteristisch. 

Von einer dritten Patientin will ich nur weniges anführen. Sie 





208 A. Abhandlungen. 


ward zu uns gebracht im 14. Jahre auf Anraten von Dr. ABBINK 
SPAINK aus Apeldoorn, welcher dieses Kind schon 3 Jahre behandelte, 
und jetzt meinte, die Zeit wäre da für Schulunterricht. Damals, 
11 Jahre alt, war es gleich einem zweijährigen Kinde 87 cm groß. 
Auch bei diesem Mädchen sieht man den Bauch mit hervorstehendem 
Nabel. Die Franzosen sprechen von ventre de bactracien (buchstäb- 
lich Fröschebauch). 

Noch etwas Merkwürdiges an diesem Kinde ist, daß es onaniert. 
Ich fand einen solchen Fall noch erwähnt in einer Bekanntmachung 
von Bourneville im Jahre 1901; sonst kommt Selbstbefleckung nicht 
vor bei Myxoedemleidenden. Man erzählt, der Vater dieses Kindes 
sei Alkoholiker. Wir sehen also, daß bei dieser Krankheit 4 Gruppen 
von Phänomenen auftreten. 

1. Infiltration der Haut durch schleimige Absetzung. 

2. Das Fehlen der Schilddrüsenwirkung. 

3. Stillstand in der geistigen Entwicklung. 

4. Zwergwuchs. 

Bei dem letzten Phänomen wollen wir noch einen Augenblick 
stille verweilen. 

Bei jedem jüngern Kinde ist ein Mißverhältnis da zwischen den 
Längen des Ober- und des Unterleibes; ein Mißverhältnis, das all- 
mählich verschwindet durch den schnelleren Wuchs der unteren 
Glieder. Die Länge der Glieder wird bedingt durch die Röhren- 
knochen, welche das Skelett der Extremitäten bilden. In dem 
Wuchse der Röhrenknochen ist nun eine merkwürdige Störung wahr- 
zunehmen. 

Ein solcher Knochen, der umgeben ist von einem Beinhäutchen, 
besteht aus drei Stücken; einem Mittelstück und zwei Enden. Diese 
Enden bestehen in den ersten Lebensjahren noch aus Knorpel. Vor 
der Geburt, oder auch wohl kurz nach derselben, entsteht in der 
Mitte dieser Enden ein Verknöcherungszentrum, welches je länger je 
mehr um sich greift, bis zum Schlusse das ganze Ende verknöchert 
ist. Es bleibt dann von dem ursprünglichen Knorpel eine dünne 
Schicht an der Oberfläche, Gelenkknorpel genannt, und eine Knorpel- 
scheibe zwischen dem Ende und dem Mittelstücke. In dieser Knorpel- 
scheibe findet nun fortwährend Zunahme des Knorpels statt, welcher 
sowohl nach der Seite des Endes, als nach der Seite des Mittel- 
stückes übergeht in Verknöcherung, und dadurch wird der ganze 
Knochen länger. Solange der Knochen wachsen muß, bleibt die 
Knorpelplatte bestehen. Ist der Wuchs vollendet, so verknöchert 
auch die Platte, und jetzt erst ist der Röhrenknochen ein Ganzes. 


Duvpoxt: Eine merkwürdige Entdeckung über die Bedeutung der Schilddrüse. 209 


ud 


Vom Beinhäutchen aus, welches den ganzen Knochen umgibt, werden 
Zellen gebildet, welche das Verdicken verursachen. 

Wir sehen nunmehr beim kindlichen Myxoedem, daß die Enden 
der Röhrenknochen knorpelig bleiben, daß es demzufolge keine eigent- 
liche Knorpelplatte gibt zwischen Ende und Mittelstück, und daß 
also keine Absetzung für das Knochenwachstum stattfindet und 
der Wuchs des Beines nicht weiter geht; das Bein behält die Länge 
des Alters, in welchem das Myxoedem eintritt. Deshalb bleibt auch 
das Mißverhältnis bestehen zwischen Ober- und Unterleib. Dies ist 
eine Entdeckung der letzten Zeit durch die Röntgenphotographie, 
wodurch wir im stande sind, das Skelett eines lebendigen Menschen 
zu photographieren, und jetzt auch jene Formen von Myxoedem 
kennen zu lernen, wobei die Schilddrüsenfunktion nur zum Teil auf- 
gehoben ist, und wobei das typische Äußere nicht völlig eintritt. 

Wir sehen bei diesen Formen dann auch zum Teil eine Störung 
im Knochenwuchse. 

Sodann können wir dadurch bestimmen, in welchem Alter das 
Myxoedem eingetreten ist, weil wir wissen in welchem Alter ver- 
schiedene Knochen formiert werden. 

Indem wir jetzt zurückkehren zu unsern Patienten, gebe ich 
einiges aus den Notizen über das erste Mädchen, welches am 14. Mai 
aufgenommen wurde. 

31. August. Patientin fängt an, allein zu essen und auch zu 
stehen, wird aber noch festgehalten. 

7. September. Zustand bessert sich, die häßliche Dicke ist 
sichtbar vermindert, und die wachsbleiche Farbe weicht je länger je 
mehr gesundem Aussehen. 

5. Oktober (das ist 41/, Monat nach der Aufnahme). Eine neue 
Photographie zeigt ganz besondere Besserung. Die Länge hat einige 
Centimeter zugenommen. Patientin steht, indem sie sich festhält, an 
einem Sessel; der dieke Bauch ist verschwunden; die Gesichtsfarbe 
ist gesund; der Blick ist hell, und das Kind schaut mit Bewußtsein 
um sich. Besonders merkwürdig ist, daß die dicke Zunge, welche 
meistens zwischen den Lippen sichtbar war, jetzt dermaßen abge- 
nommen hat, daß der Mund geschlossen werden kann. 

12. Oktober. Patientin fängt an zu gehen. 

Mai 1902 (also ein Jahr nach der Aufnahme). Patientin kann 
jetzt niedlich gehen an der Hand der Schwester, fürchtet aber, sie 
los zu lassen; sie ist 16 em gewachsen und hat sich schr gebessert. 
Sie kennt die ganze Umgebung; das Reden geht aber noch nicht viel 
besser. 

Die Kinderfehler. IX. Jahrgang. 14 





210 A. Abhandlungen. 





Juni. Patientin fängt an zu reden, aber ohne Klänge; antwortet 
auf einfache Fragen. 

Mai 1903. Patientin geht dem Tische entlang und setzt sich ohne 
Hilfe, kann allein und niedlich mit einem Löffel essen. Dann und 
wann ist sie noch unrein. Sie ist in den zwei Jahren der Anstalts- 
behandlung 17,5 cm gewachsen, was im Alter von 24 Jahren merk- 
würdig ist. Vielleicht wäre das Wachstum noch stärker, würden die 
Beine nicht krumm sein. Diese sind jetzt wie ein Reif gebogen, 
während bei der Aufnahme die Kniee einwärts standen. Patientin hilft 
schon einem andern beim Essen, und füttert ihn mit dem Löffel. 
Einen so großen Fortschritt bemerkten wir bei dem Simon nicht; 
von ihm haben wir aufgezeichnet: 

Aufnahme 2. Mai 1901. 

4. September. Es kommt uns vor, daß Patient viel lebhafter 
blickt. Er geht jetzt ohne Stütze. 

20. Oktober. Eine neue Photographie zeigt, mit der von vor 
4 Monaten verglichen, große Besserungen im körperlichen Baue. Die 
plumpe Gestalt, die dicke Haut, der große Bauch mit hervorstehen- 
dem Nabel sind alle verschwunden. Der Blick des Patienten ist 
heller, und er schaut mit mehr Aufmerksamkeit um sich. Die geistige 
Entwicklung ist ebenfalls merkbar vorwärts gegangen, obschon nicht 
so schnell wie die körperliche. 

April 1902. Die Länge ist jetzt 120 cm, sie war 110 cm 1902 
und 104 cm 1901. | 

Er hat sich körperlich viel gebessert; in geringerem Maße aber 
auch geistig. Er versteht, was man zu ihm sagt, kann aber nicht 
reden. | 

Zum Schlusse die Patientin, welche uns schon bedeutend besser 
von Dr. Spayk zugesandt ward. 

Sie war im Juli 1897 elf Jahre alt, maß 87 cm, anderthalb Jahre 
später 1041/, cm, wieder anderthalb Jahr später 122 cm und heute 
mißt sie 139 cm. Sie geht in die Schule, und nach der Aussage 
unseres Lehrers (Herr Pecmax) hat sie schon ziemlich gut lesen ge- 
lernt, und fängt an zu schreiben; im Rechnen ist sie aber noch schwach. 

Durch welches Mittel nun hat man die bedeutende Besserung 
erreicht? 

Der Physiolog Scurr bemerkte, wie wir schon sagten, daß die 
ungünstige Phänomene bei Probetieren nach dem Wegnehmen der 
Schilddrüse ausblieben, wenn er zuvor die Schilddrüse von derselben 
Tierart in den Bauch des Probetieres angeheftet hatte. Die abge- 
schiedene Flüssigkeit kam also doch in den Blutstrom. 

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211 


kwürdige Entdeckung über die Bedeutung der Schilddrüse. 


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212 A. Abhandlungen. 


Herca BircHEr, praktizierender Arzt zu Aarau bei Bern, war 
es, der 1889 zum ersten Male diese Entdeckung von SchHirr, auf den 
Menschen anwandte Er nähte einer Frau, welche operiert war am 
Kropf, die Schilddrüse einer andern Frau in den Bauch ein, und 
erlangte unverkennbares, aber vorübergehendes Resultat. Unabhängig 
von diesem Versuche strebte HorsLeyY nach Verbesserung des Ver- 
fahrens und nähte im Anschluß an Scarrrs Tierversuche eine Schaf- 
schilddrüse im Bauche ein. Auch hier wurde wenn auch nur eine 
vorübergehende Veränderung erzielt. Beide eingenähten Organe ver- 
schmolzen zu keinem Ganzen mit dem Organismus, starben vielmehr 
nach gewisser Zeit ab. 

Bessere Resultate erhielt man durch Einspritzungen in die Blut- 
ader von dem Safte der Schilddrüse. Murray zog die Schilddrüse 
des Schafes aus mit Glycerin und machte damit Unterhauteinspritzungen. 

Jetzt wurden die Resultate erstaunlich. Da aber, sobald die 
Einspritzungen aufhörten, auch eben so schnell Rückgang eintrat, sah 
man ein, daß die vielen Einspritzungen, welche außerdem nicht ohne 
Gefahr waren, nicht regelmäßig dauernd fortgesetzt werden konnten. 
Man förderte die Sache erst recht durch den ersten Versuch 1892, 
indem man die Schilddrüse des Schafes und Rindes arzeneilich an- 
wandte. Man gab jeden Tag !/, bis !/, Drüse frisch und roh auf 
Brot. Man sah auch hier stetige und jetzt auch bleibende Resultate. 
Man ging bald noch weiter, denn die Schwierigkeit, alle Tage frische 
Schilddrüsen zu bekommen, wurde groß. Wmme verfertigte Tabletten 
von der getrockneten und gepuderten Drüse und auch hierin blieb 
der wirksame Bestandteil bewahrt. Diese Tabletten hielten sich 
einige Zeit. 

Auch die Holländer stellten Versuche an. Professor van HAREN 
Noman bereitete die getrocknete Drüse in Pulverform zu, Dr. Küras 
stellte den getrockneten Extrakt der Drüse her, und mit dem 
letzten sind unsere zwei Kinder behandelt worden. Indem wir mit 
kleinen Dosen anfangen und sorgfältig die Wirkung kontrollieren, 
schreiten wir zu größeren Dosen fort. Ich sage, man muß gewissen- 
haft kontrollieren, denn zuviel von der Drüse wird sehr schlecht ver- 
tragen: die Patienten fiebern leicht unter Pulsbeschleunigung, sie 
werden nervös, schlafen unruhig und schreien im Schlafe oft auf. 

Dann muß man mit dem Mittel vorzeitig aufhören. 

Von den verschiedenen Präparaten, welche jetzt im Gebrauch 
sind, möchte ich erwähnen: a) die frische Drüse, b) die pulverisierte 
Drüse (Van Haren Noman) fabriziert von Apotheker Cocx zu Amster- 
dam, c) der getrocknete Extrakt der Drüse (Militärarzt Küthe) fabri- 


Dvroxt: Eine merkwürdige Entdeckung über die Bedeutung der Schilddrüse. 213 


ziert von Apotheker Verwey zu Tiel, d) das Thyreoidin (Merck in 
Darmstadt), e) das Thyraden (Haaf), f) die Tabletten von White, be- 
kannt unter den Namen Wellcome Burrough & Co., g) das Aiodinum, 
Extrakt der Drüse von Schweinen, h) das Jodothyrin (Bayer & Co., 
Elberfeld), ein Jodium enthaltender Bestandteil der Schilddrüse. 
Diese Präparate sind alle verschieden stark. 
Folgende Tabelle!) mag eine Übersicht geben: 








frisch Sul Er Haren) Merck |Wellcome 
Zum Vergleich Verwey | N. Cocx Burrough 
= g 8 8 g 
Frisch 4 Läppchen . . . ==: 10 | =o = 12 |= 2 Tab- 
letten 
Große tägliche Dosis 2 a = 1 Tab- 
chen : 5 = 09 = h20 | = 0,6 lette 
Kleine tägliche Dosis Be 0,5—1 = 0,1 | = 0,25 | = 0,12 |= !/, Tabl. 


Unsere Patienten nahmen im Anfange zu sich 150 mg Extrakt 
Küthe-Verwey und sind allmählich gekommen zu einer täglichen 
Dosis von 250 mg. 

Leider konnte ich keine vollkommene Genesung konstatieren bei 
den geistig Spätreifen, wohl aber große Besserung. Man bedenke 
jedoch drei wichtige Dinge: 1. daß es bis jetzt nicht möglich war, 
dem Kranken die normale Wirkung der Schilddrüse zurückzugeben. 
Die Schilddrüse eines andern Menschen steht nicht zu unserer Ver- 
fügung; bis auf heute mußte man sich der Schilddrüsen von Tieren 
bedienen, und diese werden natürlich nicht vollständig Gleiches leisten 
können; 

2. war das eine Mädchen zu alt, um auf intellektuellem Gebiete 
andern Mädchen ihres Alters gleich zu kommen; 

3. kann man nicht erwarten, daß die Nervenzentren des Hirnes, 
die sich einmal infolge des Mangels von Schilddrüsenstoffen im Blute 
unvollkommen ausgebildet haben, in völlig normalen Zustand über- 
geführt werden. 

Tritt das Myxoedem auf, nachdem die Bildung der Nerven- 
zentra vollendet ist, so erhalten wir sogar völlige Heilungen mittest 
Schilddrüsenpräparate. 

Heute steht soviel fest, die Schilddrüse hat im Organismus 
eine wichtige Funktion zu verrichten. Sie scheidet einen Stoff ab, 





1) Aus »Geneeskundig Jaarboekje voor Nederland«. 


214 A. Abhandlungen. | 

welcher unentbehrlich ist für die Ernährung und das richtige Wirken 
des zentralen Nervensystems. Wenn dieser Stoff fehlt, geschieht die 
Entwicklung der Nervenzentren im jugendlichen Alter unvollkommen. 


3. Medizin und Pädagogik. 
Von 
J. Trüper. 
4. Der Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift, 


herausgegeben von Oberarzt Dr. Jon. BreEsLer in Lublinitz, sandte 
ich zur Abwehr gegen abermalige falsche Darstellungen des Herrn 
Dr. Werscaxor!) eine Richtigstellung im Umfange von etwa 1/, Druck- 
seite. Nach etwa 14 Tagen erhielt ich dieselbe zurück mit folgendem 
Schreiben: 
Lublinitz, den 2. Mai. 
»IIerrn J. Trürer, Jena. 

Anbei folgt Ihr Manuskript zurück mit dem Bemerken, daß der Abdruck des- 
selben abgelehnt wird. 

Dr. BRESLER.« 

Auf meine Anfrage nach dem Warum erhielt ich meinen Brief 
»an die Redaktion der Psych.-Neurol. Wochenschrift z. H. des Herrn 
Oberarzt Dr. med. Breser in Lublinitz« uneröffnet zurück mit dem 
Vermerk »Annahme verweigerte. 

Dieser vortrefflichen Beleuchtung der Weysanprschen Behaup- 
tung über die »Zeitschriftenliteratur des Idiotenwesens« 
brauche ich vorläufig kein Wort weiter hinzuzufügen. Ich überlasse 
das Urteil über diese Behandlung unsern Mitarbeitern und Lesern 
wie denen der — »Psych.-Neur. Wochenschrifte. 


4. »Schutz für Geistesschwache«. 


Der Vorstand der Vereinigung deutscher Anstalten 
für Idioten und Epileptische ersucht uns um Aufnahme einer 
Erwiderung auf einen Artikel der »Frankfurter Zeitung« vom 
8. April d. Js., »Schutz für Geistesschwache« betitelt, mit dem Be- 
merken, daß dieselbe von der Redaktion der »Frkf. Ztg.« nicht auf- 
genommen wurde. 


') Vergl. Heft IV. S. 164 ff. 





»Schutz für Geistesschwache«. 215 


Sie lautet: 
»Schutz für Geistesschwache«. 


Ein unter dem vorstehenden Titel in Nr. 98 der »Fıankfurter Zeitung« vom 
8. d. Mts. erschienener Artikel, der in der Hauptsache auf einen Aufsatz des Privat- 
dozenten Dr. Weycaxpt- Würzburg in der »Psychiatrisch - Neurologischen Wochen- 
schrift« zurückging, kann nicht unwidersprochen bleiben, sofern er im Interesse 
der Humanität die Einführung ärztlicher Leitung für alle Schwachsinnigenanstalten 
glaubt fordern zu müssen. 

Diese Anstalten sind in Deutschland von den 30er und 40er Jahren des 
vorigen Jahrhunderts an ins Leben gerufen, und zwar in erster Linie als Er- 
ziehungs- und Unterrichtsanstalten in der Erkenntnis, daß die den Geistes- 
schwachen (Idioten) zu bringende Hilfe vorwiegend auf pädagogischem Gebiete 
liegt. Diese Erkenntnis, welche inzwischen das pädagogische Spezialfach der 
Schwachsinnigenbildung zu einer achtunggebietenden Entwicklung und Blüte ge- 
bracht hat, steht noch heute in der psychiatrischen Wissenschaft in Geltung, wie 
die einschlägigen Werke zeigen. Anstatt vieler Belege, die mit Leichtigkeit bei- 
zubringen wären, sei nur das Zeugnis des sächsischen Irrenanstaltsdirektors Geh. 
Med.-Rats Dr. Weser-Sonnenstein angeführt (aus dessen Referat über die reichs- 
gesetzliche Regelung des Irrenwesens in der Hauptversammlung des Deutschen 
Medizinalbeamten- Vereins zu Leipzig 1903. Offizieller Bericht S. 48): »Die bei 
Idioten vorliegende Form geistigen Defekts unterscheidet sich so sehr von den 
psychischen Störungen bei den erworbenen Geisteskrankheiten, es ist bei ihnen 
nicht die Heilung eines Krankheitszustandes in Frage, sondern im wesentlichen nur 
die erzieherische Ausnutzung der vorhandenen Fragmeute psychischer Leistungs- 
fähigkeit, oft nur die Abrichtung zu gewissen Betätigungen, so daß für sie ein 
ganz anderes Anstaltsregime bedingt ist, als für Geisteskranke.« 

Auch ein namhafter Frankfurter Psychiater hat sich dahin geäußert, daß 
in einer Anstalt für Geistesschwache wie z. B. in Idstein die pädagogische Leitung 
ganz am Platze ist — eine Anschauung, mit der er unter den Frankfurter Ärzten 
wie den Ärzten überhaupt keineswegs allein steht. Überhaupt findet die in Deutsch- 
land bestehende Idiotenpflege von seiten maßgebender Beurteiler, und gerade auch 
in den Reihen der Psychiater, große Anerkennung, obwohl die ärztliche Ober- 
leitung der Anstalten die Ausnahme bildet, während die Notwendigkeit ärztlicher 
Mitwirkung und Beratung von jedem Einsichtigen anerkannt wird. Die grund- 
sätzliche Einführung der ärztlichen Leitung kann also nicht als aus sachlichen 
Interessen geboten bezeichnet werden. 

Auf den ferneren Wunsch des besagten Artikels hetreffs Verstaatlichung 


der Anstalten — der übrigens gleichfalls nachweislich keineswegs von allen Arzten, 
auch amtlich maßgebenden, geteilt wird — wollen wir nicht weiter eingehen, nur 


bemerken, daß nach der Berechnung des Geh. San.-Rats Professor Dr. Larım m 
Zehlendorf über 45000000 M nötig sein würden, um die vorhandenen Privat- 
anstalten zu verstaatlichen, und daß von anderer Seite diese Summe als ganz cer- 
heblich unterschätzt bezeichnet worden ist (Bericht über die zitierte Medizinal- 
beamten-Versammlung S. 24 f.). 

Trotz dieser bedeutenden Höhe der Kosten, zu deren alsbaldiger Bewilligung 
die Bereitwilligkeit der in Frage kommenden Körperschaften nicht allzugroß sein 
dürfte, müßten die Opfer natürlich doch gebracht werden — wenn in der Tat die 
bestehenden Zustände derartig wären, wie die Ausführungen jenes Artikels den 
Anschein zu erwecken geeignet sind, und wenn nur die Verstaaatlichung diesen 


216 A. Abhandlungen. 


hypothetischen Zuständen ein Ende machen könnte. Wer den Artikel liest, bekommt 
den Eindruck, daß in der z. Z. üblichen Behandlung der Geistesschwachen — 
natürlich nur da, wo nicht ein ärztlicher Direktor angestellt ist! — Prügel und 
ITungernlassen die wichtigsten Inventarstücke bildeten, wogegen wir wohl nicht 
ernstlich zu polemisieren nötig haben. Wenn der Artikel, um die größere Garantie 
für eine humane Behandlung bei ärztlicher Anstaltsleitung zu beweisen, betont, daß 
jedem Irrenpfleger sofort beim Diensteintritt die gänzliche Vermeidung körper- 
lichen Zwanges und körperlicher Züchtigung zur Pflicht gemacht wird, so ist zu 
bemerken, daß dies in pädagogisch geleiteten Anstalten für Schwachsinnige und 
verwandte Kategorien nicht minder der Fall ist. Beispielsweise wird in Idstein 
jeder Pfleger und Erziehungsgehilfe durch schriftlichen Vertrag verpflichtet, sich 
jeder körperlichen Züchtigung zu enthalten, dagegen die anvertrauten Zöglinge 
jederzeit mit Liebe, Geduld und Schonung zu pflegen, und schon bei wiederholtem 
Gebrauch von Schimpfworten in Gegenwart der Zöglinge erfolgt nach der Haus- 
ordnung Entlassung des Betreffenden. Daß bei ärztlicher Oberleitung die Pflicht- 
erfüllung der Angestellten in dieser Hinsicht notwendig eine bessere sei als bei 
pädagogischer, wird man schwerlich behaupten wollen. 

Wenn es da weiter heißt, daß »der Vortrag eines angesehenen Idiotenanstalts- 
direktors auf der 8. Konferenz für das Idiotenwesen (Heidelberg 1895) zu dem 
Resultat kam: »Wer nicht hören will, muß fühlen, usw.« — so kann sich jeder, 
der den Vortrag liest (Schwenk, die Zuchtmittel in unseren Anstalten, Idstein 1899, 
Druck von E. Ohlenmacher), davon überzeugen, daß er mit diesen Worten mehr 
als einseitig, direkt falsch charakterisiert wird. Inwieweit der erfahrene und 
gewissenhafte Pädagoge in besonderen, gewiß seltenen Fällen zu disziplinellen 
Maßnahmen greifen wird, ist eine Frage, die unmöglich durch einseitig ärztliches 
Dekretieren generell entschieden werden kann. Nichts ist doch selbstverständlicher, 
als daß in Erziehungsfragen den Erfahrungen angesehener Pädagogen das 
meiste Gewicht beizulegen ist. Der Lehrer und Erzieher, der mit Liebe und Ernst 
an der sittlichen Bildung seiner Zöglinge arbeitet, um sie den Versuchungen des 
Lebens gegenüber zu festigen, und der sich dabei von seinen Erfahrungen leiten 
läßt, verdient sich gewiß besseren Dank von dem Zögling wie von dessen An- 
gehörigen, als etwa ein Arzt, der als solcher pädagogische Kenntnisse und Erfahrungen 
nicht besitzt, trotzdem aber durch einseitige Überspannung eines an sich guten und 
richtigen Prinzips die Erziehungsarbeit einzuschnüren unternimmt. 

Das Prinzip der möglichsten Vermeidung körperlicher Züchtigungen wird wohl 
von keinem Pädagogen bekämpft, am allerwenigsten von denjenigen, die sich der 
Erziehung der Schwachbefähigten oder Schwachsinnigen widmen. Jeder bemüht 
sich um die Durchführung desselben und verschließt sich dabei durchaus nicht den 
Forderungen und Lehren von ärztlicher Seite. Auch in der von jenem Artikel 
als abschreckendes Beispiel angeführten »Strafliste« der bayrischen Anstalt Ursberg 
wird ja die Zulässigkeit emer körperlichen Züchtigung, die übrigens auf Schüler 
beschränkt ist, ausdrücklich davon abhängig gemacht, daß »hiegegen nicht ein 
ärztliches Bedenken bestehte«! 

Man konstruiere doch nicht künstlich einen Gegensatz zwischen 
ärztlich == human« und »pädagogisch = barbarisch«. sondern fördere 
lieber die DBestrebuugen gegenseitiger praktischer Anregung und Befruchtung 
zwischen Medizinern und Jädagogen, wie sie dem Idiotenwesen von jeher von 
großem Nutzen gewesen sind, und wie sie unseres Wissens gerade auch in Frankfurt 
in erfreulicher Weise bestehen! 


munter oe Lo 


Vom Kongreß für experimentelle Psychologie zu Gießen. 217 


B. Mitteilungen. 


l. Vom Kongress für experimentelle Psychologie zu 
Giessen. 
18.—21. April 1904. 


Wenn ich meine Mitteilungen und Betrachtungen mit der Erwähnung 
des Festessens beginne, so wolle man (deshalb weder von dem Kongresse 
noch von mir etwas Übles denken. Zunächst war die Tafelrunde eine 
gute Gelegenheit, zahlreiche und namhafte Vertreter der psychologischen 
Wissenschaft in Muße von Angesicht zu sehen, was zwar für die Psycho- 
logie nicht von Bedeutung, menschlich aber nicht ohne Interesse ist. 
Von den angesehensten Teilnehmern (die Mitgliederliste weist im ganzen 
97 Namen auf) seien nur wenige genannt: Ebbinghaus-Breslau, Külpe- 
Würzburg, G. E. Müller-Göttinger, Sommer-Gießen, Groos-Gießen, 
Jodl-Wien, S. Exner-Wien, Heymans-Groningen, Siebeck-Gießen, 
Pilzecker-Heidelberg, Martius-Kiel, Stern Breslau, Henri-Paris und 
Claparede-Genf. Für die Kinderpsychologen und die Vertreter der päda- 
gogischen Psychologie hatte Professor Sommer, dessen Verdienste um 
das Zustandekommen und den vorzüglichen Verlauf des Kongresses nicht 
warm genug anerkannt werden können, in liebenswürdiger und vorsorg- 
licher Weise einen Teil der Tatel freigehalten. Hier fanden sich zusammen 
die Herren Ament-Würzburg, Felsch-Magdeburg, Wendt-Troppau, 
Habrich-Xanten, Lay-Karlsruhe, Netschajeff-St. Petersburg, der Unter- 
zeichnete u. a., und es wurde nicht nur gegessen und getrunken, sondern 
auch wissenschaftlich verhandelt, als hätte man mit der Tagesarbeit noch 
nicht genug gehabt. 

Und doch war die Arbeitsleistung des Kongresses eine gewaltige, ein 
Anzeichen dafür, daß sich das Gebiet der experimentellen Psychologie mit 
der Zeit gewaltig erweitert hat. In einer Tischrede erzählte Professor 
Ebbinghaus, wie er vor vielen Jahren dem alten Fechner in Leipzig 
seine experimentelle Erstlingsarbeit überreicht und wie dieser etwas 
verwundert die Ansicht geäußert habe, es werde nach seinen eigenen 
Arbeiten doch wohl nicht viel mehr zu tun übrig bleiben. Was würde 
Fechner, so meinte der Tischredner, jetzt wohl sagen, wenn er gesehen hätte, 
wie in drei Tagen nicht weniger als 48 Vorträge gehalten wurden, die 
fast alle dem Gebiete der experimentellen Gebiete angehörten! 

Die angemeldeten Vorträge hatte der Ausschuß auf folgende 9 Gruppen 
verteilt: 1. Individualpsychologie, 2. Psychophysiologie der Sinne, 3. Gc- 
dächtnis, 4. Verstandestätigkeit, 5. Bewußtsein, 6. Ausdrucksbewegungen, 
7. Gefühle und Ästhetik, 8. Kinderpsychologie und Pädagogik, 9. Kriminal- 
psychologie. Verhältnismäßig am stärksten war die Psychologie der Sinne 
vertreten; das ließ sich erwarten, denn sie ist für das experimentelle Verfahren 
noch immer das dankbarste Gebiet, wenn auch die Zeiten vorbei sind, wo 
sie so ziemlich das einzige war. Wenn viele Pädagogen zur experimentellen 


218 B. Mitteilungen. 


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Psychologie kein rechtes Verhältnis zu gewinnen vermögen, so liegt dies 
daran, daß sie sich lange Zeit fast nur mit den Untersuchungen über die 
Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane beschäftigt hat, und daß ihre 
Ergebnisse für die Pädagogik nicht von besonderem Belang waren, oder daß 
die Verwertbarkeit dieser Ergebnisse doch nicht immer unmittelbar ein- 
leuchtete; ja diese Einzeluntersuchungen boten vielfach nicht einmal ein 
allgemein menschliches Interesse. Ein großer Teil der Arbeiten des 
Gießener Kongresses erweckte denselben Eindruck; ich hatte sogar auch 
in rein psychologischer Hinsicht die Empfindung, als liege in mancher 
Beziehung ein Übermaß der Lust am Experimentieren vor, als studiere 
man in -vielen Fällen mit großem Fleiß und Scharfsinn einzelne Stücke 
und Stückchen der psychischen Tätigkeit, ohne den Zusammenhang mit 
dem Ganzen gebührend im Auge zu behalten. Doch das mag ein Irrtum 
gewesen sein; ich überlasse das Urteil in dieser Beziehung gern den 
Psychologen von Fach und bin dankbar für alles, was ich in Gießen habe 
hören und verstehen können. Unsere Leser werden es aber gerechtfertigt 
finden, wenn ich in meimem Berichte nur diejenigen Arbeiten erwälne, 
die für die Mehrzahl Interesse haben dürften. 

Hierher gehört zunächst ein Vortrag von Henri-Paris, der erste 
in der laugen Reihe. Henri sprach über die Methoden der Individual- 
psychologie. Die Bezeichnung Individualpsychologie ist mißverständlich, 
da sie auch als Gegensatz zu Völkerpsychologie gebraucht wird, während 
sie sich in Henris Vortrage auf die Unterschiede der Individuen bezog. 
Um festzustellen, wie sich bestimmte psychische Vorgänge bei Einzel- 
individuen unterscheiden, nahmen Binet, Henri u. a. Untersuchungen an 
Schülern der Normalschulen vor, deren Lebensbedingungen annähernd die 
gleichen waren. Sie untersuchten anatomische, physiologische und psycho- 
logische Dinge, Körpergröße, Gewicht, Brustumfang, Schädel, Puls usw., sowie 
Suggestibilität, Gedächtnis und Aufmerksamkeit nach bestimmten Methoden. 
Henri findet, daß dieser Weg nicht der einzige und vicht der beste sei. 
Er hat daher zunächst eine Reihe hervorragender Schriftsteller zur psycho- 
logischen Selbstanalyse veranlaßt und glaubt in dieser Weise mit der Zeit 
zu einer wirklichen Individnalpsyhologie zu gelangen. Auch zwei andere 
Vorträge gaben, obwohl sie anderwärts untergebracht waren, Beiträge zur 
Individualspychologie oder dürfen doch wenigstens im Anschluß an sie 
erwähnt werden. Professor Marbe- Würzburg wies auf Grund statistischer 
Untersuchungen nach, daß der Rhythmus der Goetheschen Prosa ein wesent- 
lich anderer sei als der Heines. Nach seiner Ansicht ist der Rhythmus 
eines Prosatextes von wesentlichem Einfluß auf den ästhetischen Eindruck, 
den der Text hervorruft, und es müßte bei den Untersuchungen über den 
Prosastil eines Schriftstellers auch der Rhythmus geprüft werden. Viel- 
leicht könnten derartige Untersuchungen gelegentlich auch bei der Ent- 
scheidung von Echtheitsfragen Verwertung finden. Wir möchten glauben, 
daß hier auch ein Untersuchungsgebiet für die Kinderforschung vorliegt, 
sei es nun, daß es sich um die Prüfung des Rhythmus in den freien 
Schüleraufsätzen handelt oder um die Feststellung des Rhythmus beim 
mündlichen Gebrauch der Sprache (vergleiche die Anzeige des ÖOttoschen 





Vom Kongreß für experimentelle Psychologie zu Gießen. 219 


»Archivs« in dem vorliegenden Hefte dieser Zeitschrift). Prof. Müller- 
Göttingen führte einen Herrn Dr. R. aus Kassel vor, der über ein un- 
geheures Gedächtnis verfügt und in seinem Zahlengedächtnis die Leistungen 
der bekannten Gedächtniskünstler Diamandi und Inaudi in mancher Be- 
ziehung noch übertrifft. R. reproduziert nicht mittelst mmemotechnischer 
Hilfsmittel, sondern lediglich auf Grund des Erinnerungsvermögens. So 
prägte er sich im Nebenzimmer unter Anwesenheit eines »Aufsehers« in 
13 Minuten 204 Ziffern ein und sagte sie vorwärts, rückwärts, in Gruppen 
zu je 6 usw. her, Er multiplizierte ferner eine 4stellige Zahl mit sich 
selbst und wiederholte dann noch 30 ihm nebenher vorgesprochene Zahlen. 
Er iernte in wenigen Minuten 102 einzelne Ziffern, am Vorstandstische 
sitzend auswendig, und faßte gleichzeitig die Ausführungen Müllers über 
die Art seines Ziffernlernens auf. Leider erfuhr man über die Kinder- 
und Jugendzeit des Dr. R. schr wenig; auch sonst hätte man über die 
gesamte psychische Verfassung des Wundermenschen gern noch mehr gehört. 

Mit dem Erlernen, Behalten und Reproduzieren beschäftigte sich auch 
Dr. Ranschburg-Budapest. Das Ergebnis seiner Versuche, die sich auf 
das Erlernen von Sprachmaterial bezogen, war sehr auffällig und verdient 
in ebenso hohem Grade Beachtung, wie es eine sorgfältige Nachprüfung 
wünschenswert macht. Es besteht darin, daß das Erlernen ähnlicher 
Inhalte schwieriger ist, daß dieselben schneller vergessen, langsamer repro- 
duziert und mit größerer Mühe wiedererlernt werden, als gänzlich hete- 
rogene Inhalte. Die Schwierigkeit des Erlernens einander ähnlicher Vor- 
stellungen kann nur mit logischen Hilfsmitteln (Nebenassoziationen) be- 
wältigt werden. Sobald letztere verblassen, tritt schnelles Vergessen cin. 
Nach Ranschburgs Untersuchungen würden nicht die entgegengesctzten, 
sondern die einander ähnlichen Vorstellungen sich am meisten hemmen. 
Dr. Ranschburg, der medizinischer Leiter des Königlichen Heilpäda- 
gogischen Instituts in Budapest ist und auch über schwachsinnige Kinder 
mannigfache interessante Versuche angestellt hat, ist von mir um Mitarbeit 
an unserer Zeitschrift gebeten worden und hat in entgegenkommender 
Weise zugesagt, ebenso, wie im Zusammenhang damit erwähnt werden 
mag, der Direktor des Pädagogisch - psychologischen Laboratoriums in 
St. Petersburg, Professor Dr. Netschajeff. Wir hoffen die Herren bald 
in unserer Zeitschrift begrüßen zu können. 

Die Gruppe »Kinderpsychologie und Pädagogik« wies drei Vorträge 
auf. Einleitend sprach Ament- Würzburg über das psychologische Experi- 
ment an Kindern und hob mit Recht hervor, daß das Experiment zwar 
notwendig sei, aber die einfache Beobachtung nicht allenthalben ersetzen 
könne, daß vielmehr beide zusaminengehen müßten. Im übrigen bot der 
Vortrag eine Übersicht über die Geschichte der experimentellen Kinder- 
psychologie. Dabei wurde, wie später auch in dem Vortrage von Lay, 
ein sehr wichtiger Punkt berührt, auf den ich schon wiederholt hin- 
gewiesen habe, und der in letzter Zeit auch von Stern betont worden ist, 
nämlich daß man einen Unterschied machen müsse zwischen der soge- 
nannten reinen und der angewandten Kinderpsychologie, also der päda- 
gogischen. Hier haben wir nicht nur berechtigte und notwendige Unter- 





2920 B. Mitteilungen. 


schiede in den Methoden, sondern es kann sich auch um Ergebnisse 
handeln, die für die Psychologie an sich wenig oder gar keine Bedeutung 
haben, für die pädagogische Psychologie aber von größtem Werte sein 
können. Nach meiner Ansicht wird ein großer Teil der Einwände, die 
Münsterberg in sehr temperamentvoller Weise gegen die neuere Kinder- 
psychologie erhoben hat,!) hinfällig, wenn man den erwähnten Unterschied 
nicht außer acht läßt. 

An zweiter Stelle sprach Stern- Breslau über die gegenwärtig von 
so vielen Seiten behandelte Sprachentwicklung des Kindes auf Grund von 
Beobachtungen, die er in Gemeinschaft mit seiner Gattin am eigenen 
Kinde, und zwar bis zum ZEinde des vierten Lebensjahres, angestellt 
hatte. Stern legte großes Gewicht darauf, daß man die eigenen 
Kinder beobachten und daß die Mutter dabei helfen müsse. Es geschah 
das nicht ohne eive humoristische Spitze gegen Ament, der als Onkel 
oder so etwas Aufzeichnungen über die Kindersprache gemacht hat. Stern 
hat nun gewiß nicht unrecht; es darf aber doch hervorgehoben werden, 
daß wir auch Personen, die andrer Leute Kinder beobachtet haben, überaus 
wertvolle Beiträge zur Kinderpsychologie verdanken; ich nenne nur die 
Namen Perez, Shinn und Paolo Lombroso. Aus Sterns Beobachtungen, 
die veröffentlicht werden und dann eingehender zu würdigen sind, sei 
kurz folgendes hervorgehoben. 

Bei der Entwicklung des Wortschatzes spielt nicht nur die Nachahmung, 
sondern auch die Spontaneität eine Rolle. Sie durchdringen und ergänzen sich 
gegenseitig, Neubildung von Wörtern tritt nur ganz vereinzelt auf, doch 
bekundet das Kind in der Verwertung des Angeeigneten eine schöpferische 
Tätigkeit. Es kombiniert das Gelernte zu eigenartigen Nenbildungen. Im 
Lernen zeigt es einen gewissen Eklektizismus, wählt unbewußt aus und 
merkt sich nur soviel, wie es gewissermaßen fassen kann. Abstrakte 
nimmt es spät in seinen Wortschatz auf. Es strebt in gewissem Sinne 
stets der Zukunft zu, wertet sie höher als Gegenwart und Vergangenheit. 
Stern beleuchtet die Genesis des Wortes »Nein« beim Kinde. Zuerst 
wird es allein zur Unterstützung einer Abwehrhandlung gebraucht, das 
sogenannte »praktische« Nein. Als Negation, also in bestreitendem Sinne, 
tritt es erst viel später auf, das »theoretischee Nein. Aus interessanten 
Tabellen Sterns entnehmen wir, daß die ersten Adjektive erst nach 
20 Monaten, die Numeralia nach 22 Monaten im Wortschatz auftraten, 
Präpositionen erst im dritten Jahre, Verba schon nach 14 Monaten. Ein 
Ich-Begriff besteht erst gegen Ende des zweiten Jahres, Farbenbenennungen 
treten erst Anfang des dritten Jahres auf. 

Der Vortrag von Lay-Karlsruhe über »experimentelle Didaktik« hot 
denen, die seine Schriften kennen, kaum etwas Neues und war in der 
Hauptsache wohl als eine Anregung zu verstehen. Daß Lay die Ver- 
gangenheit etwas stark herabsetzte und von der Zukunft etwas viel er- 
wartet, nach meiner Meinung entschieden zuviel, will ich gern dem Eifer 

1) Siche Jahrgang IV dieser Zeitschrift, wo ich eine Übersetzung des be- 
treffenden Münsterbergschen Artikels veröffentlicht habe. 


[. Internationaler Kongreß für Schulhygiene zu Nürnberg. 39] 


für die von ihm vertretene nützliche und notwendige Sache zu gute 
halten. 

Gegen den Schluß der Verhandlungen traten fast sämtliche Teilnehmer 
des Kongresses zu einer »Gesellschaft für experimentelle Psychologie« zu- 
sammen. Mitglied kann jeder werden, der eine wissenschaftliche Arbeit 
aus der Psychologie oder deren Grenzgebieten veröffentlicht hat. Über 
die Aufnahme entscheidet der Vorstand. Vorsitzender ist Professor G. 
A. Müller-Göttingen. Die nächste Versammlung findet 1906 in Würz- 
burg statt. Ufer. 


2. I. Internationaler Kongress für Schulhygiene zu 
Nürnberg vom 4.—9. April 1904. 


Bericht von Franz Frenzel-Stolp i/Pom. 


In einer großen Anzahl von Tagesblättern und Zeitschriften sind mehr 
oder weniger ausführliche Berichte über die Verhandlungen des Kongresses 
veröffentlicht worden, so daß wir uns bei der Fülle der gehaltenen Refe- 
rate und Vorträge hier nur auf einzelne Mitteilungen, die unser spezielles 
Interesse verdienen, beschränken wollen. 

Die Beteiligung am Kongreß übertraf die gehegten Erwartungen, 
denn nicht weniger als 1400 Teilnehmer wohnten den Verhandlungen bei. 
Fast alle Kulturstaaten der Erde waren vertreten, natürlich stellte Deutsch- 
land die meisten Teilnehmer und die meisten Referenten. Die Verhand- 
lungen verteilten sich auf Plenarsitzungen und Abteilungssitzungen. 
Die Kongreßleitung hatte zur bessern Übersicht und Abwicklung der Ver- 
handlungen die ursprüngliche Gliederung der Arbeit in 11 Abteilungen zu 
folgenden 7 Gruppen vereinigt: A. Hygiene der Schulgebäude, B. Hygiene 
der Internate, schulhygienische Untersuchungsmethoden, Hygiene des Unter- 
richts und der Unterrichtsmittel, C. Hygienische Unterweisung der Lehrer 
und Schüler, D. Körperliche Erziehung der Schuljugend, E. Krankheiten 
und ärztlicher Dienst in den Schulen, F. Sonderschulen und G. Hygiene 
der Schuljugend außerhalb der Schule, Hygiene der Lehrpersonen und 
Allgemeines. — Die Plenarsitzungen fanden an 3 Vormittagen (Dienstag, 
Donnerstag und Samstag) im Apollotheater statt; die Gruppen tagten in 
den Räumen der Königl. Industrieschule. Die Plenarsitzungen wurden von 
dem Kongreßvorsitzenden, Professor Dr. Griesbach-Mülhausen i/Els., ge- 
leitet, die Gruppensitzungen von einführenden Vorsitzenden, welche ın der 
Regel Nürnberger Ärzte waren. Sowohl für die Plenar-, als auch für die 
Gruppensitzungen hatte die Kongreßleitung einzelne Ehrenpräsidenten er- 
nannt, die ihren Sitz an den Präsidententischen nahmen und teilweise die 
Verhandlungen selbst leiteten. In den. Gruppen kamen offizielle Refe- 
rate und frei angemeldete Vorträge zur Verhandlung; die Leitsätze 
der offiziellen Referate lagen gedruckt vor. 

Uns interessiert insbesondere die Gruppe F. (Sonderschulen), ın 
welcher über annormale Kinder, ihre Erziehung und Bildung usw. ver- 
handelt wurde. Angemeldet waren für diese Gruppe 3 Referate und 


2399 B. Mitteilungen. 


15 Vorträge; gehalten wurden in 6 Sitzungen 3 Referate und 14 Vor- 
träge. Das 1. Referat hielt der Berichterstatter über »Die Hilfsschulen 
für Schwachbegabte«. Er forderte selbständige Hilfsschulen und hielt 
die Einführung des Schulzwanges für diese Erziehungsanstalten als uner- 
läßlich. Für die Lehrer der Hilfsschule verlangte er eine besondere Vor- 
bildung, die in der Ablegung einer eigenen Prüfung ihren Abschluß zu 
finden habe. In der Hilfsschule trete die erziehliche Einwirkung des 
Lehrers auf die Charakterbildung seiner Schüler stärker hervor als in der 
Volksschule. Es sei besonders anzustreben, die Schüler für eine gewisse 
Selbständigkeit und bürgerliche Brauchbarkeit vorzubereiten. Es sei durch- 
aus nötig, auch nach der Schulzeit für die aus der Hilfsschule entlassenen 
Schüler zu sorgen. Dazu sei die Hilfe und Mitwirkung der Ärzte, Geist- 
lichen und Juristen nicht zu entbehren. Den letzteren liege es besonders 
ob, in der Beurteilung der Schwachbefähigten durch Gerichte und andere 
Behörden einen Wandel herbeizuführen. Nach einer 1901 aufgenommenen 
Statistik seien durch die Hilfsschulen 83°/, aller Schüler erwerbsfähig 
gemacht worden. Diese Anstalten gehörten daher zu den segensreichsten 
Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft. —- Die Leitsätze wurden 
einstimmig angenommen. Die Debatte eröffnete keine nennenswerten Aus- 
sichten und keine neuen Gesichtspunkte, sie erstreckte sich auf allgemein 
bekannte Erhebungen. 

Das 2. Referat hatte Dr. Rosenfeld-Nürnberg; er verbreitete sich 
über »Krüppelschulen«e. Die Ausführungen waren sehr interessant und 
wurden durch statistische Tabellen übersichtlich erläutert. Redner wies 
an der Hand von Statistiken nach, daß die Zahl der Krüppel eine sehr 
große ist; sie wacht etwa 5,6°/,, der Bevölkerung aus. In Deutschland 
sind zur Zeit ungefähr 320000 Krüppel — 253000 Erwachsene und 
67 000 Krüppelkinder — vorhanden. Von den Erwachsenen haben etwa 40000 
keinen Unterricht genossen und über 100000 sind nicht in der Lage, 
sich auch nur in der notdürftigsten Weise zu ernähren. Von den schul- 
pflichtigen Krüppelkindern erhalten nahezu 7000 keinen entsprechenden 
Unterricht. Die Gründe, weshalb die Normalschule für Krüppel nicht aus- 
reicht, liegen einerseits in der (febrechlichkeit selbst, andrerseits darin, 
daß der Schulunterricht der Elementarschule allein für einen Krüppel nicht 
genügt, um ihn soweit zu fördern, daß er späterhin im sozialen Leben 
mit den Gesunden konkurrieren kann. Deshalb muß der Krüppel schon 
in der Schule einen seinen körperlichen Fähigkeiten angepaßten technischen 
Ausbildungsunterricht erhalten. Die bestehenden Krüppelschulen, deren 
Zahl allerdings zur Zeit noch eine sehr geringe ist, haben durch ihre 
Wirksamkeit erwiesen, daß 93°/, ihrer Zöglinge eine vollkommen soziale 
Selbständigkeit erreichen, eine soziale Errungenschaft, die einen Gewinn 
von Millionen für das Nationalvermögen bedeutet. Angesichts der Wichtig- 
keit und der großen Vorteile einer zweckmäßigen Beschulung der Krüppel- 
kinder muß die allgemeine Durchführung von Sonderschulen für Krüppel- 
kinder verlangt werden. Der Lehrplan dieser Anstalten hätte neben dem 
Elementarunterricht eine sorgfältige technische Ausbildung zu geben. Turn- 
unterricht und orthopädische Übungen müßten besondere Pflege finden. 


I. Internationaler Kongreß für Schulhygiene zu Nürnberg. 293 





Die Angliederung der Krüppelschulen an bestehende Heilanstalten und 
Polikliniken oder die Anstellung von Spezialärzten wäre empfehlenswert. 
— Redner schloß seine Ausführungen mit einem warmen Appell, allent- 
halben für die Förderung der Krüppelschulen einzutreten, da auf diese 
Weise Tausende, welche jetzt als Bettler verkümmern, zu vollwichtigen, 
selbständigen Menschen gemacht werden könnten. 

Das 3. Referat, das Professor Dr. Sickinger-Mannheim über das 
»Sonderklassensystem der Mannheimer Volksschulen« hielt, ver- 
dient die ernsteste Beachtung pädagogischer und medizinischer Kreise. 
Bereits in der 2. Plenarsitzung hatte der Referent die allgemeinen Ge- 
sichtspunkte, welche die Organisation großer Volksschulkörper 
nach der natürlichen Leistungsfähigkeit der Schüler wünschens- 
wert erscheinen lassen, bekannt gegeben. Wir heben aus seinen Dar- 
legungen kurz folgerdes hervor. — Unsere Jugenderziehung bedeutet für 
jedes Kind eine gewisse Betätigung seiner Kıäfte Es ist darum eine 
richtige Bemessung der geistigen Arbeitsleistung in der Schule nach indi- 
viduellen Gesichtspunkten durchzuführen. Während beim Einzelunterricht 
sich diese Angelegenheit von selbst erledigt, liegt die Sache beim Massen- 
unterricht sehr viel schwieriger, namentlich soweit die Volksschule in Be- 
tracht kommt; denn hier handelt es sich um ein Kollektivwesen, dessen 
Glieder die auseinandergehendsten Befähigungsgrade aufweisen. Darum 
wäre eine auf Differenzierung gerichtete Reform namentlich für große 
Volksschulkörper durchzuführen. Bisher hat man bei der Klassengliederung 
die Unterschiede in der Bildungsfähigkeit gleichalteriger Kinder nicht, be- 
rücksichtigt. Die Verschiedenheiten in der Veranlagung sind aber ganz 
bedentende; sie könnten von großen Volksschulsystemen ohne weiteres be- 
rücksichtigt werden, wenn die zahlreich vorhandenen Parallelklassenreihen 
dazu benutzt würden, ähnlich leistungsfähige Kinder gleichen Alters zu 
homogenen Unterrichtsgemeinschaften zusammenzufassen. Unter dieser Vor- 
aussetzung könnten innerhalb eines großen Volksschulkörpers drei ver- 
schiedene Bildungswege vorgesehen werden: 1. für die mittel- und besser- 
befähigten Schüler, 2. für die mäßig schwachen Schüler, 3. für die krank- 
haft schwachen Schüler. Den letztgenannten Bildungsweg haben bereits 
200 «deutsche Städte eingeschlagen in den sogenannten Hilfsschulen 
für geistig zurückgebliebene Kinder. In die zweite Bildungsklasse sind 
die eigentlichen Sorgenkinder der Schule, die alljährlich zurückversetzten 
Schiller, einzuweisen. Diese neue Gruppierung der Schwachen hätte gegen- 
über dem Modus der Rückversetzung den großen Vorteil, daß auch diese 
Elemente einen ihrer individuellen Leistungsfähigkeit entsprechenden Bil- 
dungsweg durchlaufen und den geisttötenden, unsittlichen Folgen des 
Repetententums entzogen würden. Die Unterrichtsbedingungen wären in 
den Sonderklassen der Schwachen besonders günstig zu gestalten (geringere 
Schiillerzal, erfahrene Lehrer, bevorzugte Teilnahme an den human-sanitären 
Einrichtungen der Schule usw.). Durch ökonomische Ausmutzung der im 
Gesamtschnlkörper vorhandenen Parallelklassen könnte die bezeichnete 
Durchgliederung ohne Mehraufwand durchgeführt werden, wie das Beispiel 
von Mannheim zeigt. Dort ist die Volksschule bereits in der angegebenen 


224 B. Mitteilungen. 


Weise organisiert und zwar zur völligen Zufriedenheit aller beteiligten 
Faktoren. Zwei Momente sind der Forderung nach Differenzierung und 
Arbeitsteilung innerhalb der großstädtischen Volksschulen günstig: Die 
Anstellung von Schulärzten, die aus Gründen der Hygiene für die er- 
hobenen Forderungen eintreten, und die wachsende Einsicht der Lehrer- 
schaft, daß der heutige ausgleichende und schablonisierende Unterrichts- 
betrieb den Gesetzen der Psychologie nicht mehr standzuhalten vermag, 
vielmehr nur auf dem Wege der Differenzierung die Massenerziehung zur 
wirksamen Individualisierung gesteigert werden kaun. Nur unter dem Ge- 
sichtspunkte: Suum cuique! können die goßen Volksschulkörper aus ihrer 
Erstarrung befreit werden. 

Diesen hier kurz skizzierten allgemeinen Grundsätzen ließ der Referent 
die näheren Mitteilungen über die Organisation der Mannheimer 
Volksschulen in der Gruppensitzung folgen. Die Schilderung der Mann- 
heimer Verhältnisse geschah an der Hand übersichtlicher Tabellen, welche 
auch die Bildungsgänge einzelner Schüler nach der Nenorganisation dar- 
stellten. Die Ausführungen des Redners überzeugten durch sachgemäße 
Darlegungen und klare Beweisführungen. Der Mannheimer Arzt Dr. Moses 
beleuchtete die Sicekingerschen Erhebungen vom hygienischen Stand- 
punkte aus in treffender, ergänzender Weise. Nach einer lebhaften Debatte, 
in welcher die Pläne und Vorschläge der Referenten gehörig erörtert 
wurden, gelangten folgende Leitsätze zur Annahme: 

1. Die Befähigung der Kinder für die Unterrichtsarbeit ist infolge 
physiologischer, psychologischer, pathologischer und sozialer Bedingtheiten 
derart verschieden, daß es, wie die Promotionsstatistik lehrt, unmöglich 
ist, die die obligatorische Volksschule besuchenden Kinder innerhalb der 
gesetzlichen Schulpflicht nach einem Plane, durch den gleichen Unter- 
richtsgang nach dem gleichen Lehrziel hinzuführen. 

2. Damit vielmehr auch die große Zahl der Kinder mit dauernd 
oder vorübergehend geringerer Arbeitsfähigkeit während des gesetzlichen 
Schulbesuchs ohne unhygienische Belastung die ihrer natürlichen Leistungs- 
fähigkeit entsprechende Ausbildung erlangt, bedarf es für sie besonderer 
pädagogischer und hygienischer Maßnahmen, die eine sorgfältige Berück- 
sichtigung des Einzelindividuums verbürgen. 

3. Die Schüler eines größeren Volksschulganzen sind iu mindestens 
drei Kategorien nach ihrer Leistungsfähigkeit zu gruppieren: 

1. in besser befähigte, 

2. in minder befähigte (unter mittelleistungsfähige), 

3. in sehr schwach befähigte (schwachsinnige). 

Die Bildung besonderer Klassengemeinschaften für die drei Kategorien 
darf aus pädagogischen, ethischen und sozialen Gründen nicht nach außen 
hervortreten, sondern kommt nur in der innern Gliederung des Schul- 
organısmus zur Durchführung. 

Von den 14 in Gruppe F. gehaltenen Vorträgen können wir hier 
nur über einzelne kurz referieren. — Dr. Gutzmann-Berlin sprach über 
den »Einfluß der Schule auf die Sprachstörungen«e. Zwei große 
Gruppen von Sprachstörungen, Stottern und Stammeln, sind es, die 


I. Internationaler Kongreß für Schulhygiene zu Nürnberg. 39 


Or 





der Schule viel zu schaffen machen. Zur Bekämpfung dieser Übel haben 
fast sämtliche größere Städte Deutschlands besondere Sprachheilkurse für 
sprachgebrechliche Kinder eingerichtet, in denen Ärzte und Lehrer in ge- 
meinschaftlicher Arbeit die Sprachstörungen bekämpfen. Zu diesen Maß- 
nahmen hat besonders die auffallende Erscheinung beigetragen, daß das 
Stottern während der Schulzeit unter den Schülern bedeutend zunimmt. 
Statistische Erhebungen haben gezeigt, daß von je 100 Stotterern auf das 
Alter von 6—7 Jahren nur 6°/,, auf das von 7—8 Jahren schon 10%, 
und auf das von 11—12 Jahren bereits 15°/, entfallen. Die Ursachen 
dieser auffallenden Zunahme sind verschiedener Art. Da es sich bei den 
Stotterern vorwiegend um neuropathisch belastete Individuen handelt, so 
sind die durch den Schulunterricht selbst bewirkten Reize und Hemmungen 
als Ursachen anzusehen. Zur Abhilfe der Sprachstöruugen genügen die 
Heilkurse allein nicht. Den Lehrern muß allgemein schon während ihrer 
Ausbildung ein größeres Verständnis für die an dem Übel leidenden Kinder 
erschlossen werden. Auch sollen die Eltern auf die Sprachentwicklung 
ihrer Kinder im vorschulpflichtigen Alter mit größerem Eifer achten. Das 
Verständnis der Eltern für diese Aufgabe zu wecken, ist Sache der ge- 
meinschaftlichen Arbeit der Lehrer und Schulärztee — Das Stammeln er- 
weist sich in der Regel weniger hartnäckig als das Stottern. In manchen 
Fällen von Stammeln wirkt bereits der erste Leseunterricht hygienisch so 
wohltätig, daß dieses Übel bald vollständig verschwindet. Würde der 
erste Leseunterricht und der Anschauungsunterricht nicht nur auf exaktes 
und lautreines, sondern auch auf langsames und mit richtiger Atem- 
verteilung bewirktes Sprechen hinzielen, und würde ein solches Sprechen 
auch auf den weitern Schulstufen zielbewußt gepflegt werden, so könnte 
auch die Zunahme des Stotterübels sehr wirksam vermieden werden. — 
Ähnliche Gedanken brachte auch Dr. Schleißner-Prag in seinem Vor- 
trage: Ȇber die Sprachgebrechen der Schuljugend an den 
deutschen Schulen zu Prag«, zum Ausdruck. Er wies an der Hand 
statistischer Erhebungen und Übersichten die Zunahme der Sprachstörungen 
(Stottern) in der Schule nach und stellte fast die gleichen Forderungen 
zur Bekämpfung der Sprachgebrechen unter der Schuljugend, wie sie von 
Dr. Gutzmann in seinem Vortrage aufgeworfen wurden. 

»Nervosität und Schwachsinn beim Kinde in ihren Be- 
ziehungen« behandelte der Vortrag des Dr. Feser-München. Redner 
führte aus, daß bei Kindern nervöse Erscheinungen und Zeichen von 
Geistesschwäche nicht selten zusammentreffen; es liege deshalb die Frage 
nach der gegenseitigen Beziehung beider nahe. Im allgemeinen seien 
folgende Gesichtspunkte hervorzuheben: 1. Schwache Begabung bei red- 
lichem Willen oder falscher Erziehung führt durch Überanstrengung oder 
Überarbeitung leicht zur Nervosität. 2. Schwacher und beschränkter Geist 
leistet hypochondrischen Vorstellungen, wie sie in uns allen gehemmt 
liegen, geringen oder gar keinen Widerstand. Diese Art der Beziehung 
findet sich mehr bei Erwachsenen als bei Kindern, vor allem aber in 
höherem Alter. 3. Nervosität, besonders wenn sie sich in der Form patho- 
logischer Schüchternheit äußert, kann Dummheit und Schwachsinn vor- 

Die Kinderfchlor. IX. Jahrgang. 15 


296 B. Mitteilungen. 


täuschen. 4. Nervosität und Schwachsinn gedeihen nebeneinander, zwei 
Triebe aus einem Stamm, auf dem gemeinsamen Boden der erblich degene- 
rativen neuro-psychopathischen Konstitution. — Diese enge Verbindung 
zwischen Nervosität und Schwachsinn erfordert bei der Beurteilung und 
Behandlung schwachsinniger Kinder entsprechende Berücksichtigung. Es 
wäre besonders erwünscht, wenn mit den Hilfsschulen Internate verbunden 
würden, in welchen schwachsinnige Kinder der ärmern Volksklassen, die 
nervöse Symptome aufweisen, einer zeitweiligen, zweckentsprechenden Be- 
handlung unterworfen werden könnten. Nur so würden wir der Nerven- 
degeneration innerhalb der Jugend der Generation der Zukunft erfolgreich 
begegnen. 

Des weiteren hielt Dr. Cron-Heidelberg einen Vortrag über »Die 
moralisch Schwachsinnigen in den Öffentlichen Schulen«. Er 
betonte zunächst die Notwendigkeit der Ausdehnung psychologischer und 
psychopathologischer Vorstudien der pädagogischen Instanzen und verlangte 
darauf die Umgestaltung der Schulsysteme zu besser organisierten Ein- 
richtungen, bessere Instruktion der Eltern und ein einheitlich angelegtes 
Zusammenarbeiten von Schule, Schularzt und Elternhaus. Von der Er- 
füllung dieser Voraussetzungen stehe zu erwarten, daß die sonst leistungs- 
fähigen moralisch Schwachsinnigen ihre Erziehung innerhalb des Systems 
der öffentlichen Schulen finden werden, daß also für diese Schwachen 
kein Ausstoßen aus dem Rahmen des normalen Schulwesens zu erfolgen 
habe, sondern daß durch Vertiefung der pädagogischen Arbeit, die zugleich 
dem ganzen Schulorganismus zu gute käme, der Weg zur Rettung der 
erziehungsfähigen moralisch Schwachsinnigen gefunden werden könnte. 

Über epileptische Schulkinder, Schulen für Epileptische, 
Erziehung und Bildung epileptischer Kinder usw. wurden mehrere 
Vorträge gehalten, die sich teilweise in ihren Forderungen schroff gegen- 
überstanden. Während auf der einen Seite Schulen für Epileptische dringend 
befürwortet wurden, war auf der andern Seite keine Stimmung dafür. 
Neue Ausblicke über die Epileptikerbehandlung bot keiner der Referenten; 
immerhin aber verdienen ihre Ausführungen eine gewisse Beachtung, be- 
sonders deshalb, weil die Frage der Epileptikerbehandlung wieder von 
neuem aufgerollt wurde. — Dr. Weygandt- Würzburg sprach über »epi- 
leptische Schulkindere. Er verbreitete sich über seine Erfahrungen 
an einem größern Material von epileptischen Kindern im schulpflichtigen 
Alter und bemerkte, daß das Bild der Krankheit sich als ein ungemein 
mannigfaltiges erweise. Direkte Störungen des Unterrrichts durch epilep- 
tische Symptome, insbesondere durch Anfälle, wären verhältnismäßig recht 
selten vorgekommen. Des weitern sprach sich der Vortragende gegen 
eine generalisierende Behandlung der epileptischen Kinder aus, also auch 
gegen die Einrichtung von Epileptikerklassen und Epileptikerschulen. Die 
epileptischen Kinder müssen streng individuell behandelt werden; die tief 
Blödsinnigen gehören in Idiotenanstalten, leicht Schwachsinnige in die 
Hilfsschulen und sozial Bedenkliche in Fürsorge-Erziehungsanstalten. Kinder 
mit gehäuften Anfällen und status epilepticus sind rein ärztlich (mög- 
lichst im Bett) zu behandeln, während Kinder mit vereinzelten Anfällen 











I. Internationaler Kongreß für Schulhygiene zu Nürnberg. 297 


oder leichtern Symptomen sehr wohl in der Normalschule, freilich unter 
einem entsprechend informierten Lehrer und in Fühlung mit dem Schul- 
arzt, verbleiben können. 

Sanitätsrat Dr. Berkhan-Braunschweig forderte in seinem Vortrag: 
»Schulen für epileptische Kinders, die Einrichtung selbständiger 
Schulen für Epileptiker, namentlich für alle diejenigen, deren Anfälle 
störend für den Unterrichtsbetrieb werden oder nachteilig auf die andern 
Schüler einwirken. Seine Forderungen verdienen um so mehr Beachtung, 
als sie der Vortragende aus einer reichen Erfahrung und aus augenschein- 
lichen Beobachtungen und Wahrnehmungen erhob. 

Dr. Gelpke-Karlsruhe erörterte in seinem Vortrage »Die Be- 
ziehungen des Sehorgans zum angeborenen und erworbenen 
Schwachsinn«. Er hatte 578 psychisch-minderwertige Kinder der Karls- 
ruher Volksschulen und der Idiotenanstalt zu Mosbach untersucht. Die 
Untersuchung bestätigte zunächst die bekannte Tatsache, daß man es bei 
den schwachsinnigen Kindern nicht allein mit psychisch - minderwertigen, 
sondern auch mit körperlich-defekten Individuen zu tun hat. Dr. Gelpke 
gab die Zahl der Kinder mit körperlich-mangelhafter Verfassung auf 52°, 
an. Bei der Untersuchung fand er gleichzeitig, daß die körperlichen Ab- 
normitäten zu dem Grad des Schwachsinns in direktem Verhältnis standen. 
Besonders groß war die Zahl der Sehdefekte; nur 30°/, der Kinder waren 
im Besitze eines nach jeder Richtung hin tadellosen Sehorgans, die übrigen 
70°/, wiesen teils Sehstörungen, teils akute oder chronische Entzündungen 
15,8°/,, teils Mißbildungen 12,6°/, auf. Die Zahl der schwachsichtigen 
Augen stand in umgekehrt proportionalem Verhältnis zum Grad des 
Schwachsinns derart, daß unter den Schwachbegabten die relativ größte 
Zahl schwachsichtiger Augen —= 54,4 °/, und unter den Idioten die ge- 
ringste = 12,8 °/, gefunden wurde. Auf Grund seiner Beobachtungen 
zog der Vortragende den Schluß, daß die Sehdefekte bei den Schwach- 
begabten als ursächliches Moment eine große Rolle spielen, und daß es 
daher vom hygienischen Standpunkte aus absolut erforderlich wäre, für eine 
frühzeitige Korrektion etwaiger Sehstörungen bei diesen Kindern zu sorgen. 
Von 54,4°/, konnte der Prozentsatz der Abnormalsichtigen durch geeignete 
Behandlung resp. optische Korrektion auf 16°/, reduziert werden — ein 
sehr erfreuliches Resultat. 

sÜber funktionelle Prüfungen der Gehörorgane in den 
Hilfsschulen für Schwachbegabte zu Münchene sprach Dr. Wanner- 
München. Er kam unabhängig von Dr. Gelpke zu der Feststellung, daß 
die schwache Begabung mancher Schüler aus einem Gehörsdefekt resul- 
tiere; sobald der bestehende Mangel behoben oder ausgeglichen werde, 
könnten solche Schüler gemeinschaftlich mit den normal veranlagten Kindern 
unterrichtet werden. Der Vortragende erging sich des weitern auch in 
Angriffen auf einzelne Örganisationsangelegenheiten der Hilfsschulen, be- 
zweifelte die Hingehörigkeit mancher Schüler in die Hilfsschule, stellte 
die Erfolge der Hilfsschulen in Frage usw. Eine Widerlegung seiner 
Meinungen und Behauptungen erfuhr er in der sich an seinen Vortrag 
anschließenden Debatte durch Dr. Wehrhahn-Hannover, Kielhorn-Braun- 

15* 


228 B. Mitteilungen. 


schweig, Dr. Berkhan-Braunschweig, durch den Berichterstatter usw. — 
Wir können Dr. Wanner für seine Anregungen dankbar sein, aber für 
spruchreif halten wir seine Behauptungen denn doch noch nicht. Es 
haben schon andere Größen Versuche nach dieser Seite hin angestellt, die 
vielfach gänzlich belanglos ausfielen und gewöhnlich im Sande verliefen. 
— In Berlin sind zur Zeit zwei Klassen mit schwerhörigen Kindern 
eingerichiet, welche von eigens zu diesem Zwecke ausgebildeten Lehrern 
unterrichtet werden. Die Schüler sind zum größten Teil normal veranlagt 
und weisen in der Tat infolge der eigenartigen Behandlung, wie ich mich 
selbst überzeugt habe, gebessertes Auffassungsvermögen auf. Trotzdem 
wäre die ganze Angelegenheit noch mit einer großen Vorsicht zu be- 
handeln, weil keine abgeschlossenen Erfahrungen vorliegen. Auch wäre 
es verfehlt, aus einzelnen gelungenen Versuchen Kapital zu schlagen; das 
würde offenbar eine verfrühte Reklamemacherei bedeuten. — 


Recht lehrreich und beachtenswert war der Vortrag des Hilfsschul- 
leiters Kielhorn-Braunschweig, welcher »die Gesundheitspflege in 
der Hilfsschule« behandelte. Redner sprach über die äußern und 
innern Bedingungen, die vom hygienischem Standpunkte aus an die Hilfs- 
schuleinrichtungen gestellt werden müssen, damit die Hilfsschulen auch 
in gesundheitlicher Beziehung ihre Aufgaben voll und ganz zu erfüllen 
vermöchten. Seine Anregungen waren in vielen Stücken sehr zeitgemäß 
und verdienen darum praktische Verwirklichung. Die Leitsätze des Vor- 
trages fanden einstimmige Annahme. 


Es war während der gesamten Verhandlungen ia Gruppe F zu be- 
merken, daß das Gebiet der Schwachsinnigenbildung, insbesondere 
die Hilfsschulfrage, immer wieder von neuem in die Besprechungen hinein- 
gezogen wurde. Die Erörterungen darüber füllten oft ganze Diskussionen 
aus und waren sehr fruchtbar. Sehr viel zur Belebung der Debatten 
trugen die beiden Vorsitzenden des Verbandes deutscher Hilfsschulen — 
Stadtschulrat Dr. Wehrhahn-Hannover und Hilfschulleiter Kielhorn- 
Braunschweig — bei, welche sehr oft das Wort ergriffen und belehrend 
und anregend zur Sache sprachen. 


Einen interessanten Vortrag von weittragender Bedeutung hielt in 
der Gruppe F. Hauptlehrer Baldrian- Wien über die »Gesundheits- 
pflege taubstummer Kinder«. Er sprach zunächst über die krank- 
haften Erscheinungen, welche mit der Taubstummheit auftreten und er- 
örterte darauf die Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Ursachen des 
Gebrechens der Taubheit geeignet erscheinen. Er forderte allgemeine 
Verbesserung der Lebensbedingungen der großen Massen. Solange diese 
Ursachen nicht beseitigt sind, sollen die nachteiligen Folgen der Taub- 
stummheit durch Gründung von Pflegeanstalten für noch nicht schul- 
pflichtige taubstumme Kinder armer Eltern zu mildern gesucht werden. 
In diesen Pflegeanstalten soll vorwiegend Wartung und Körperpflege aus- 
geübt werden. Für den Unterricht Taubstummer wäre am besten das 
Internat in den ersten Jahren zu empfehlen. Bei der Pflege taubstummer 
Kinder sind hauptsächlich Stärkung der Lunge und Schonung der Augen 


I. Internationaler Kongreß für Schulhygiene zu Nürnberg. 229 


zu beobachten. — Der Vortragende erntete reichen Beifall für seine Aus- 
führungen.!) 

Von den in den Plenarsitzungen gehaltenen Vorträgen verdient 
derjenige des Professor Dr. Liebermann-Budapest über die »Aufgaben 
und die Ausbildung von Schulärzten« besonders erwähnt zu werden. 
Nach den Darlegungen des Redners haben sich die Aufgaben der Schul- 
ärzte nach den Zielen zu richten, die man mit der schulärztlichen Insti- 
tution verfolgt. Das Hauptgewicht darf nicht allein auf die spezifisch 
ärztliche Tätigkeit des Schularztes gelegt werden, vielmehr müsse dieser 
auch in der Lage sein, seinen Pflichten als hygienischer Sachverständiger 
und als Ratgeber der Schulleitung und des Lehrkörpers nachkommen zu 
können. Diesen Aufgaben entsprechend muß sich die Ausbildung der 
Schulärzte nächst der speziell ärztlichen auf die wissenschaftliche 
Hygiene und die Pädagogik erstrecken. Der Schularzt soll auch 
Lehrer, und zwar Lehrer der Gesundheitspflege, sein. Inbesondere wäre 
eine wissenschaftlich-hygienische und pädagogische Ausbildung, für welche 
ein besonderer Nachweis beigebracht werden müßte, von den Schulärzten 
zu fordern. — Wir wünschen den Forderungen des Vortragenden auch 
bei uns baldige Verwirklichung! 

Die auswärtigen Teilnehmer des Kongresses erhielten als Festgabe 
eine vom Nürnberger Ortsausschuß gestiftete Festschrift, welche einen 
187 Seiten starken, prächtigen Folioband bildet. Der Inhalt betrifft das 
Schulwesen Nürnbergs und die Schulgesundheitspflege in den Nürnberger 
Schulen. Überhaupt wurden die Teilnehmer mit Drucksachen, Prospekten, 
Flugschriften usw. in reichstem Maße bedacht, so daß mancher Tage lang 
mit Lektüre versehen sein dürfte. 

Mit dem Kongreß war eine reichbeschickte schulhygienische 
Ausstellung verbunden, die in den Räumen der Königl. Industrieschule 
zweckmäßig untergebracht worden war. »International« allerdings. 
konnte sie kaum bezeichnet werden, denn es hatten außer Deutschland 
nur vereinzelte auswärtige Staaten sie beschickt. Die Räume der Aus- 
stellung waren fast fortwährend von einer lernlustigen Menge belebt, denn 
es gab im ganzen genommen recht viel zu sehen und zu betrachten. Viel 
Bewunderung fanden die Schülerarbeiten und ausgestellten Sachen des 
Trüperschen Erziehungsheims auf Sophienhöhe bei Jena. Uns inter- 
essierten auch die photographischen Aufnahmen der Hilfsschuleinrichtungen 
zu Mülhausen i/Els. und zu Braunschweig; besonders bot eine Photo- 
graphie aus Mülhausen, die eine Lehrerin im Kreise ihrer Schutzbefohlenen 
darstellte, ein sehr niedliches Bild. Salve Caritas! — 

Für Vergnügungen, Unterhaltung, Bequemlichkeit usw. 
hatte die Kongreßleitung, insbesondere aber der Nürnberger Ortsausschuß, 
in reichstem Maße gesorgt. In der Industrieschule waren ein Postamt, 
eine Restauration, ein Lesezimmer und verschiedene Toiletten eingerichtet. 
Drei große Konzerte, ein Festspiel und verschiedene andere Veranstaltungen, 


1) Über die Verhandlungen in andern Abteilungssitzungen zu berichten, be- 
halten wir uns für später vor. 


230 B. Mitteilungen. 


Besuche, Führungen usw. wurden den Teilnehmern geboten. Die Stadt 
selbst, die entschieden zu den schönsten Städten Deutschlands gerechnet 
werden muß, gewährte den Besuchern auf Schritt und Tritt immer neue 
fesselnde Reize; es ist kaum möglich, alle die eigenartigen Schönheiten 
der Kongreßstadt würdigend hervorzuheben. Außerordentlich befriedigt 
haben sämtliche Eindrücke und Veranstaltungen, so daß wir den Nürn- 
bergern zu großem Danke verpflichtet sind. 

Es muß mit Befriedigung konstatiert werden, daß die sonst leider 
so selten in die Erscheinung tretende Einheit der Schule — von der 
Universität bis zur Dorfschule — ein erfreuliches Kennzeichen des Kongresses 
war, und daß auch die Arbeit der Volksschule und ihrer Lehrer überall 
die gebührende Beachtung fand. Volksschullehrer hielten Referate und 
Vorträge neben den gelehrtesten und berühmtesten Professoren und fanden 
dieselbe Würdigung wie diese. Selbst zu Ehrenpräsidenten wurden einzelne 
in manchen Gruppen ernannt. Dadurch wich der Nürnberger Kongreß 
vorteilhaft ab von der ähnlichen vorjährigen Bonner Versammlung, auf 
welcher kaum ein einfacher Elementarlehrer beachtet wurde. Dieser 
Kongreß bot außerdem eine ausgezeichnete Gelegenheit, die hervorragendsten 
‘Gelehrten und Forscher der Welt kenner zu lernen und reihte sich würdig 
den bedeutungsvollsten Kundgebungen auf dem Gebiete der Jugend- 
erziehung und Jugendfürsorge an. 

Der nächste Kongreß (II. Internationaler Kongreß für Schulhygiene) 
soll in der ersten Augustwoche des Jahres 1907 zu London tagen. Sir 
Brunton-London, Delegierter des Royal College of Physicians, wurde 
zum 1. Vorsitzenden des II. Kongresses ernannt. Dr. Mathieu-Paris 
richtete an den Kongreß die Bitte, den II. Internationalen Kongreß 1910 
in Frankreich, und zwar in Paris, abzuhalten. Frankreich und Paris 
würden dem Kongreß brüderlich ihre Tore öffnen. Die internationalen 
Kongresse seien geeignet, die Bande der Freundschaft zwischen den 
Lehrern aller Länder zu festigen und unter den Gesichtspunkten der 
Humanität dem Elend in den Schulen abzuhelfen. 

Allen Teilnehmern wird das Gefühl unauslöschlicher Dankbarkeit gegen 
Nürnberg gemein sein; ebenso gebührt großer Dank der gesamten 
Kongreßleitung und allen Referenten, die ihre Aufgaben mit großer Ge- 
schicklichkeit und wissenschaftlicher Durchführung lösten. Man kann 
sicher behaupten, daß die Verhandlungen durchweg auf der Höhe der Zeit 
standen; jedermann hat gewiß neue Anregungen erhalten und neues 
Wissen erworben. Möchten nun die Errungenschaften der Ver- 
handlungen zum Heil und Segen der gesamten Schuljugend 
baldige Verwirklichung finden! 


3. Hörstummheit. 
Von G. Mayor, Jena, Sophienhöhe. 


Wir haben in unserer Anstalt dann und wann einen Zögling, der aus 
‚dem Rahmen der einfachen körperlichen und seelischen Herabminderung 





Hörstummheit. 231 


herausfällt und darum bis auf weiteres in Einzelbehandlung kommt. 
Dahin gehört auch folgender Fall von Hörstummheit. 

K., ein 8jähriger Knabe, stammt von gesunden Eltern. Auch die 
Grofseltern waren gesund. Keine neuropathische Belastung, keine Sprach- 
störungen in der Familie. Die Geburt war normal. Während der Gravität 
traf die Mutter im Keller eine Ratte und fiel vor Schreck in Ohnmacht. 
K. hatte keine Kinderkrankheiten durchzumachen. Eine Kehlkopfswucherung 
wurde operativ beseitigt. K. ist von Geburt an abnorm; seine Entwicklung 
war eine sehr langsame; er lernte im 3. und 4. Jahre laufen; die Sprache 
entwickelte sich im 6. Jahre und Sprachverständnis war erst vom 7. Jahre 
an bemerkbar. Er hat nur einige Wörter, wie »Papa«, »Tisch«, »Hut«, 
»Stuhl« gesprochen, sonst stiels er fortgesetzt unartikulierte Laute aus. 
Von den Wörtern war nur Papa deutlich; von den andern sprach er nur 
den ersten Konsonanten, wenn er ihn konnte, und den folgenden Vokal 
z. B. hu (Hut), tu (Stuhl), ti (Tisch). Die Eltern haben sich vergeblich 
bemüht, ihn zum Sprechen zu bringen. 

Als ich den Knaben zuerst kennen lernte, war er körperlich gut 
entwickelt und hatte gesunde, frische Farbe. Die körperliche Untersuchung 
ergab nichts Abnormes. Seine Sprachwerkzeuge zeigten jedoch grofse 
Defekte. Er hat einen stark prognaten Oberkiefer. Die unteren mittleren 
Schneidezähne stehen stumpfwinklig zueinander und springen nach hinten 
zurück. Die unteren Augenzähne sind übermälsig grofs. Alles dieses 
verhindert das Zustandekommen eines Verschlussess. Der Gaumen ist un- 
verhältnismälsig hoch. Keine Vegetationen. Die Zunge konnte zwar her- 
ausgestreckt, aber nicht ruhig gehalten werden; Bewegungen konnte er 
mit ihr nicht ausführen. Gehör gut. Der Knabe machte einen verhältnis- 
mäßig intelligenten Eindruck; er schien alles zu beobachten, zu hören 
und zu sehen. Einfache, leichte Aufträge führte er meist richtig aus. 
Auf Wunsch zeigte er Kopf, Nase, Hände usw. auch Tür und Fenster; 
Hut und Mütze, Stuhl und Tisch verwechselte er. Er kannte Gegenstände 
im Einzelbilde, in zusammenhängenden Darstellungen fand er fast nichts 
herans. Zu gleichfarbigen Dreiecken, Sternen, Kreuzen, Kreisen usw. konnte 
er nicht immer das zweite finden. Die Farben kannte er auch nicht 
sicher, er irrte auch oft in der Benennung derselben. Unter gleichen 
Geldstücken, Karten, Photographien usw. fand er nicht immer die zu- 
sammengehörigen, gleichen heraus. Die Raumbegriffe vor, unter, hinter, 
auf usw. fehlten ganz; ebenso die Grölsenverhältnisse lang, kurz, dick, 
dünn usw. Das Tastgefühl war unentwickelt; er konnte bei verbundenen 
Augen betastete Gegenstände nach Abnahme der Binde nicht wieder zeigen. 
Akustisch hatte er auch Defekte, er unterschied bei verbundenen Augen 
den Ton einer Geige nicht immer sicher von dem eines Klaviers, eines 
Glases, einer Trompete usw. Die Töne vermochte er nicht zu lokalisieren. 
Dabei ist K. aber musikalisch. Er singt oder besser summt eine nur ein- 
oder zweimal gehörte Melodie ziemlich richtig nach. 

Der Gang war schwankend und ungeschickt, dagegen Hand- und 
Fingermuskulatur leidlich entwickelt; er konnte Faustmachen, Fingerspreizen, 
vermochte seine Jacke zuzuknöpfen, wenn auch noch nicht geschickt. 


232 B. Mitteilungen. 


Punktierte Figuren konnte er nicht nachstehen, nicht einmal eine gerade 
Linie. Das Schneiden mit der Schere ging ganz gut, vermutlich ist dies 
zu Hause geübt. Er konnte nicht auf einem Bein stehen. Er als sehr 
unpeholfen. 

Das Gedächtnis hatte also in der optischen und taktischen Sphäre 
starke, in der akustischen schwächere Defekte. 

K. litt an angeborener Aphasie, an Hörstummheit. Hörstummheit 
ist die bei ausreichend hörenden, nicht idiotischen Kindern 
vorkommende, meist angeborene Aphasie. 

Wie ist das Ausbleiben der Sprache zu erklären? Zur normalen 
Sprachentwicklung sind notwendig normale Sprachorgane, ausreichendes 
Gehör und ausreichende Intelligenz. Ungemein wichtig ist das letzte: 
nötige Intelligenz. Kann ein Kind die einzelnen Laute nicht unterscheiden 
und festhalten, so kommt es niemals über das erste Stadium der normalen 
Sprachentwicklung, über die Urlaute hinaus. K. ist nicht etwa, weil er 
»Papa« sprechen konnte, durch das 2. Stadium der Nachahmungen zum 
Sprechen von »Wörtern, mit denen er einen Sinn verbunden hatte« ge- 
kommen, denn er schwatzte den ganzen Tag Papa, Papa, und fragte man 
ihn etwas, so antwortete er meist Papa, oder er brachte Lautzusammen- 
stellungen hervor, die kein Mensch verstehen konnte. Um sprechen zu 
lernen, genügt es nicht, die Laute mit dem Ohr aufzunehmen und zu be- 
halten — akustische Aufmerksamkeit und akustisches Gedächtnis —, 
sondern das Auge muls die Sprachbewegungen sehen. Die motorische 
Aufmerksamkeit mufs die Wiedergabe derselben kontrollieren und das 
motorische Gedächtnis mufs die betreffenden Muskelempfindungen auf- 
speichern. »Man muls sich hüten, Aufmerksamkeit und Gedächtnis als 
Fähigkeiten zu betrachten, die in gleicher Weise für alle ihre Ausführungen 
und bei allen Inhalten funktionieren. Aufmerksamkeit und Gedächtnis 
sind nicht Fähigkeiten, die den Inhalt ergreifen resp. ihn in die Er- 
innerung zurückrufen; sie sind vielmehr Funktionen des Inhaltes, d. h. wir 
besitzen nicht cine einzige Aufmerksamkeit und ein einziges Gedächtnis, 
sondern viele, nämlich optische, akustile, taktische, motorische usw.« 
(Liebmann, Vorlesungen über Sprachstörungen.)!) Ein normales Kind sieht 
dem Sprechenden auf den Mund, beobachtet und verfolgt jede Bewegung 
und versucht, dieselben nachzuahmen. Was es nun gelernt, hält es mit 
dem Gedächtnis fest. Alles, was in der Aulsenwelt vorgeht, nötigt dem 
Kinde Jüteresse ab; es sieht und hört viel; es entgeht ihm wenig. Es 
ist erstaunlich, wie aufmerksam das Kind alles beobachtet und wie fest 
und sicher es die Eindrücke in seinem Gedächtnis aufspeichert. 

Ganz anders verhält sich das hörstumme Kind der Aulsenwelt gegen- 
über. Es beobachtet, es sieht und hört wenig oder nichts. Es ist nicht 
fähig, die Bewegungen unseres Mundes, der Zunge usw. zu unterscheiden 
und zu erfassen, hat also keine bewulsten Reizempfindungen, mithin 
keine Erinnerungsbilder, kann daher nicht reproduzieren, nicht sprechen. 

Betrachten wir uns nun nach diesen Erwägungen unsern Knaben ge- 


1) Vergl. auch Baldwin, Die Entwicklung des Geistes beim Kinde. 


Hörstummheit. 233 


nauer. K. hatte die 2. Sprachentwicklungsstufe, die Nachahmungen, er- 
reicht; er konnte Laute und Verbindungen derselben sprechen, sprach so- 
gar Papa, für jedermann verständlich. Weiter ist er nicht gekommen. Er 
verstand meistens, was man ihm sagte, kannte auch viele Dinge seiner 
Umgebung, — von oben genannten Verwechselungen abgesehen —, und 
führte auch viele gegebene Befehle sicher aus. Dies setzt voraus, dals er 
den ganzen Satz erfalst hat. Warum spricht er nun nicht, da er doch 
einiges Sprachverständnis hat? Seine Augen verfolgten die Sprach- 
bewegungen nicht, mithin konnte er sie nicht nachahmen und auch nicht 
die betreffenden Muskelempfindungen aufspeichern. 

Es fehlte ihm an der motorischen Aufmerksamkeit und dem Ge- 
dächtnis. Die motorische Aufmerksamkeit ist so minimal, dafs sie die 
Urlaute nicht in richtige Sprechlaute umwandelt, trotzdem unser Knabe 
durch das Gehör deutliche Klangbilder hat. Seine Sinnestätigkeit liegt 
infolge der schwachen Aufmerksamkeit sehr darnieder, somit sind die 
Wahrnehmungen unklar, und dem Gedächtnis werden unbestimmte, ver- 
schwommene Eindrücke übermittelt. Es kann daher nie zu einem regen 
Vorstellungsleben, zu einer lebhaften Gedankenbewegung kommen, es fehlen 
also auch von dieser Seite die Anregungen, die gehörten Laute und Wörter 
nachzubilden. Diese Form der Hörstummheit, die ihren Grund in mangel- 
hafter motorischer Aufmerksamkeit und mangelhaftem motorischem Ge- 
dächtnis hat, nennt man motorische Hörstummheit. 

Behandlung: Ich versuchte zunächst den Knaben für die Sprache 
zu interessieren. Wie das geschieht, ist ganz gleichgültig, nur eins ist 
dringend geboten, dafs man sich von vornherein das Vertrauen des Kindes 
erwirbt; das Kind mufs gern in die Sprechstunde koınmen. Dazu ist 
notwendig, dals man sich von der liebevollsten, geduldigsten Seite zeigt. 
Man wird am ehesten sein Ziel erreichen, wenn man sich ganz auf 
den geistigen Standpunkt des Kindes herabläfst und mit ihm treibt, was 
es interessiert, wenn man mit ihm spielt. Man beobachte die Mutter 
im Umgange mit ihrem Kinde und alıme dies Verfahren nach. Ich fing 
an, mit Bauklötzen zu bauen, sie fielen um, mit trauriger Miene sagte ich 
»0, ox. Es fiel mir einer auf den Fufs, ich sagte »au, aue. Dann 
packte ich die Klötze ein, schob den Kasten zu und sagte »zu«, machte 
ihn auf, und sagte »auf«e. Man kann auch ein Kegelspiel benutzen; die 
Kugel rollt, es fallen Kegel um, dann heifst's »bums«. Man spielt Pferd 
und sagt: »hü«, »hotte hü«. Es soll stehen »brrr«e. Man versteckt Sol- 
daten oder Puppen und sucht sie mit dem Kinde; findet man eins, so ruft 
man erfreut »da, da«. Oder man spielt mit einer Eisenbahn und ahmt 
das Puffen des Dampfes nach. Geht man draulsen spazieren und findet 
Blumen, so ruft man mit fröhlicher Miene »ei, ei«, »da, da«. Man fängt 
Ball oder was es sonst sein mag. Es dauert gar nicht lange, so ist das 
Kind ganz bei der Sache, springt mit herum, stellt Kegel auf usw. Und 
man wird das um so eher erreichen, wenn man Dinge nimmt, die das 
Kind noch nicht kennt oder die es noch nicht in dieser Form gesehen 
hat. Immer hat man darauf zu achten, dals diese ersten Demonstrationen 
möglichst lebendig und drastisch sind, denn sonst reilsen sie die Kinder 


234 B. Mitteilungen. 


nicht aus ihrer Trägheit heraus. Auch darf man in keiner Weise das 
Kind zur Betätigung oder gar zum Sprechen heranziehen. Dies ist der 
srölste Fehler, der gemacht werden kann. Das Kind muls sich vor allem 
frei fühlen. Alles muls man so machen, als ob es aus eigenstem Inter- 
esse geschähe, nur um sich selbst zu unterhalten. Die Worte, die man 
dazu sagt, müssen leicht zu sprechen sein. Ist einem dies Theaterspielen 
gut gelungen, so kann es vorkommen, dafs die Kinder in der ersten Stunde 
Laute nachahmen. So unser Knabe. Nicht selten hat man es, dafs die 
Kinder die Nachahmungen versuchen, wenn sie allein sind. K. war leb- 
haft bei der Sache, er hörte nicht nur auf die Worte, sondern achtete 
auch auf die Mundstellungen, Nun gingen wir ins Freie und ich 
nannte die Namen der Gegenstände, die wir sahen, 8—10 hintereinander, 
forderte aber niemals zum Sprechen auf. Wieder zeigte ich Gegenstände 
im Zimmer und grofse Einzelabbildungen der Dinge. K. versuchte oft, die 
Worte nachzubilden. Jetzt nahm ich an, dafs das ideagene Zentrum ge- 
nügend mit optischen Bildern ausgestattet sei, und dafs sich im sensorischen 
Zentrum genug Lautbilder eingeprägt hatten, und begann, Laute zu üben. 
Zunächst kommen die einfachen Vokale a u o ei und die Diphthonge 
au, ei, eu; denn dies sind Naturlaute und die können die Kinder leicht 
sprechen. Von den Verschlufslauten — die ersten Konsonantenübungen — 
nimmt man b p d t g k zunächst; diese sind die leichtesten, die Kinder 
sehen die Mundstellungen gut. Hieran schliefsen sich die Lautverbindungen 
ba bu bo be bi 
ab ub ob eb ib usw. 

Nun stellt man Wörter zusammen. Selbstverständlich dürfen es nur 
zweisilbige sein und je 2 Laute in einer Silbe haben. Zwischen beiden 
Silben läfst man eine Pause eintreten. Sehr gut und empfehlenswert sind 
die Ubungstafeln von Liebmann. 5. Heft der Vorlesungen über Sprach- 
störungen. 

Bei den ersten Wortübungen zeigt sich meistens, dafs die Kinder 
wohl an ein und derselben Stelle innerhalb eines Wortes artikulieren, nicht 
aber, oder doch schwer mit den Artikulationstönen wechseln können. Sie 
können papa sprechen, nicht aber pate und tappe, kappe und packe. Sie 
assimilieren d und g, t und k. K. sprach stets für t und d, g und K. 
Jetzt war es notwendig, durch Nähern und Entfernen der Artikulations- 
stellen das Sprechen zu erleichtern. Ich habe damit gute Erfolge er- 
zielt. Andere Therapeuten greifen zum Spatel. Ich halte dies nicht 
für gut aus einem doppelten Grunde, zum ersten, weil wohl nicht 
nach jedem Gebrauch der Spatel desinfiziert wird und zweitens, weil 
es grolse Nachteile für die Behandlung in sich schliefst, besonders, für 
ängstliche Kinder oder für solche, die das Messer und andere Instrumente 
des Mediziners kennen. Fährt man ihnen mit dem Spatel in den Mund, 
so sind sie ängstlich und unruhig, ja sie zittern nicht selten, weil sie 
abermals einen operativen Eingriff befürchten, und den richtigen Laut 
erreicht man keineswegs besser und schneller als ohne Spatel. Mir ist 
es schon vorgekommen, dafs ein Kind garnicht mehr sprach, nachdem 
ich den Spatel benutzt hatte; es hatte alles Vertrauen verloren, weil es 


Hörstummheit. 235 


dachte, ich wollte ihm wehe tun. Wie lange kann man dann arbeiten 
und sich Mühe geben, um das alte Verhältnis wieder herzustellen. Es 
scheint mir daher viel einfacher zu sein, man benutzt, wie es auch Lieb- 
mann vorschlägt, den Finger des Kindes und hält die Zunge damit nieder, 
dann muls ein »k« ertönen, oder man drückt vom Mundboden her die 
Zungenmitte an den Oberkiefer, es kann dann kein »t« gesprochen werden, 
es muls ein »k« ertönen. So gibt es viele Kunstgriffe. Durch ihre An- 
wendung kann man sowohl den Spatel, als auch den Handobdurator ent- 
behren. 

Können die Kinder einen Konsonanten nicht mit dem folgenden Vokal 
verbinden — K. konnte nicht ta und da usw. sprechen —, so schiebt 
man das physiologische »h« dazwischen und lälst es allmählich wieder weg. 

Nach den Verschlufslauten nahm ich die Nasalen »m« und »n«. 
Auch hier konnte K. nicht mit Vokalen verbinden, ich öffnete, während 
er m oder n sprach, den Mund und es kam ma oder na hervor. 

Nunmehr wurden die Reibungslaute geübt. Besonders schwierig ist 
das »h«. Man hilft sich am besten, indem man die Kinder gegen einen 
Spiegel ausatmen läfst. Die Kinder sehen den Belag und freuen sich und 
üben fleifsig. K. konnte es nach ein paar Malen. Ist wieder die Ver- 
bindung mit Vokalen schwierig, so lälst man in der Vokalstellung stark 
expirieren. Schwierig waren für K. s fs z sch infolge seiner Defekte, er 
hatte einen starken Sigmatismus simplex und lateralis. Er mulste das 
Summen der Biene, das Zischen des Dampfes nachahmen; bald ging es 
leidlich, jedoch wird er niemals diese Laute gut sprechen lernen. Dies ist 
auch nicht notwendig, man begnüge sich mit nur annähernd wohllautenden 
Klängen. Viele Erwachsene sprechen diese Laute schlecht ohne merklich 
aufzufallen. 

Nach den zweilautigen Silben nehme ich dreilautige. Recht viel 
Zeit erforderten platte, breite, schwab usw. Diese Konsonantenhäufungen 
sind sehr schwierig; man übe pe—latte, sch— wabe, sch—tak usw. 

Als er diese Wörter konnte, übten wir Substantive mit dem Artikel 
und legten den Ton auf den Artikel, benutzten ihn also als hinweisendes 
Fürwort. Nun kamen leichte Sätze. Um aber von einem Dinge etwas 
aussagen oder 2 Dinge in Beziehung setzen zu können, müssen auch die 
geistigen Fähigkeiten soweit entwickelt sein, dafs das Kind weils, wie die 
Dinge sind, was sie tun usw. Neben den sprachlichen Übungen muls 
die Ausbildung der geistigen Fähigkeiten hergehen. Sind die geistigen 
Fähigkeiten nicht genügend entwickelt, so wird das Kind keine Sätze 
sprechen können, es spricht agrammatisch, läfst Präpositionen, Adverben, 
Artikel, Kopula weg, weil sie für dasselbe keinen Sinn haben. Man muls 
ganz einfache Sätze z. B. »das ist der Schrank«, demonstrieren und jedes 
Wort mit einer entsprechenden Handbewegung !) begleiten. 

Bei der Untersuchung der zentralen Fähigkeiten hatten wir alle 
Defekte des Knaben festgestellt und wissen daher, was zu üben ist: 
Unterscheidung von Geräuschen und von Formen, Farben, Grölsen-, Raum- 





1) Vergl. Liebmann, Über geistig zurückgebliebene Kinder. 


236 B. Mitteilungen. 


und Lagerverhältnisse, Verständnis von Sätzen, das Erkennen von (Gegen- 
ständen in grofsen, zusammenhängenden Darstellungen. Um die Mängel 
der taktischen Sphäre zu beseitigen, übte ich die Hand-, Arm- und die 
gesamte Körpermuskulatur. Gymnastik der Rumpf- und Gliedermuskulatur 
soll den Körper kräftigen und beleben. Viel Bewegung in frischer Luft 
z. B. Gartenarbeit ist angezeigt. Karreschieben im Sommer und Berg- 
schlittenfahren im Winter sind wohl die gesündesten Bewegungen, weil 
bei beiden Betätigungen Ruhe mit körperlicher Arbeit abwechselt.e Nur 
mufs man sich sowohl bei den körperlichen Übungen als auch bei den 
sprachlichen Betätigungen hüten, die Kinder zu überbürden, und dies ge- 
schieht sehr leicht, weil man meistens nicht bedenkt, dafs ein hörstummes 
Kind auch in sonstiger Beziehung auf einer viel niedrigeren Stufe der 
geistigen Entwicklung steht. 

In der oben geschilderten Weise haben wir bei unsern Knaben be- 
friedigende Erfolge erzielt. 


4. Kurse in Theorie und Praxis der Fröbel-Erziehungs- 
lehre für Kindergärtnerinnen, Elementarlehrer und 
Lehrerinnen 
veranstaltet das Kasseler Fröbelseminar, vom 19. Juli bis 2. August 1904. 


Als Muster dienten die Fortbildungskurse in Jena, wie denn auch zur 
Fortsetzung jenes Kursus die Teilnahme an dem »Ferienkursus in 
Jena« vom 4. bis 19. August 1904 empfohlen wird. 

Das Programm ist ein reichhaltiges. Es kündigt folgende Vorlesungen 
und praktische Übungen an: 

1. Grundsätze der Fröbelschen Erziehungslehre. Diskussion. Fräulein 
Mecke 2. Psychologie des Kindes. 3. Die Methode der Gaben und 
Beschäftigungen in Kindergarten,- Schule und Kinderhort. Probelektionen 
(Anschauungs- und Darstellungsübungen inkl. Turnspiele und Bewegungs- 
spiele). Fräulein Mecke. 4. Die Fröbelsche Pädagogik in der Elementar- 
klasse nach dem Prinzip der Selbsttätigkeit. Lehrproben und Diskussion. 
Rektor Henck. 5. Anleitung zur Anfertigung von Fröbel- Arbeiten in 
Famile, Kindergarten und Schule. Fräulein Gabriele Müller. 6. Er- 
ziehung und Unterricht nicht normal beanlagter Kinder nach Fröbelschen 
Grundsätzen. Besuch in einer Idioten-Anstalt. Pfarrer Schuchardt und 
Hauptlehrer Hagen. 7. Bedeutung und Pflege der Musik. General- 
superintendent Pfeiffer. 8. Jugendliteratur. Schriftsteller Traut. 9. Auf- 
gaben und Organisation des Kindergartens und des Kinderhorts. Fräulein 
Mecke. 10. Grundsätzliches der Volks- und Schulhygiene. Dr. W. 
Krause und Dr. Adolf Alsberg. — Volkspflege. Frau Pastor Gruß. 
11. Die soziale Arbeit der Kindergärtnerinnen: Anleitung zur 
praktischen Einführung der Mutter im Volk in hygienische und pädago- 
gische Aufgaben. Arbeit in Volksunterhaltungs-, Elternabend und Jugend- 
verein. 12. Besuch der Wohlfahrtseinrichtungen der Stadt Kassel. Ge- 
meinsame Ausflüge in die Umgegend Kassels (Wilhelmshöhe, Annatal, 
Münden), Führung in Museen und Galerien. Eisenach (Fröbelmuseum). 











Ferienkurse in Jena. 237 


Es werden also nicht bloß Kindergärtnerinnen, sondern auch Lehrer 
und Lehrerinnen reichliche Anregung finden. Die Seele des Ganzen, 
Fräulein Hanna Mecke, hat seit Jahren gern besuchte Vorlesungen im 
Jenaer Kursus gehalten. Sie steht auch unsern Bestrebungen für Kinder- 
forschung nahe. Das beweist das verständnisvolle Programm für diese 
Frage. So haben wir allen Grund, dem jungen Unternelimen ein Glückauf 
zuzurufen. 

Anmeldungen sind an das Fröbelseminar in Kassel zu richten. 

Außer 3 M Einschreibegebühren belaufen die Kosten des ganzen 
Kursus sich auf 60 M und zwar für 

Wohnung für 14 Tage. . . . . . 15 M 
Beköstigung für 14 Tage. . . . . 30 
Honorar für die Vorlesungen insgesamt 15 „ 

Anmeldungen für Wohnungen sind bis zum 15. Juli an die Leiterin 
der Kindergärtnerinnen - Bildungsanstalt (Fröbelseminar) Fräulein Hanna 
Mecke, Kassel, Parkstraße 22, oder an Herrn Rektor Henck, Kassel- 
Rothenditmold, zu richten. 


5. Ferienkurse in Jena. 


Unter den zahlreichen Vorlesungen, welche in der Zeit vom 4. bis 
17. August stattfinden, werden unsern Lesern insbesondere folgende inter- 
essieren: 

Physiologie des Gehirns mit Demonstrationen: Privatdozent 
Dr. Noll. 

Ausgewählte Kapitel der menschlichen Anatomie: Privat- 
dozent Dr. W. Lubosch. 

Geschichte der Pädagogik: Privatdozent Dr. Leser-Erlangen. 

Allgemeine Didaktik: Professor Dr. Rein. 

Hodegetik oder die Lehre von der Bildung des sittlichen 
Charakters: Professor Dr. Just-Altenburg. 

Spezielle Didaktik mit praktischen Übungen: die Seminar- 
Oberlehrer Fr. Lehmensick und H. Landmann. 

Frauenfrage und Mädchenerziehung: Professor Dr. D. Zimmer- 
Zehlendorf. 

Die höhere Mädchenschule in Deutschland: Kgl. Oberlehrerin 
M. Martin. 

Friedrich Fröbels Erziehungslehre und der Kindergarten: 
Fr. von Portugall-Neapel. 

Einleitung in die Philosophie der Gegenwart: Privatdozent 
Dr. Scheler. 

Herbarts Psychologie und ihre Gegner: O. Flügel- Wansleben. 

Das Hilfsschulwesen: Rektor Dr. Maennel-Halle. 

Demonstration geistig schwacher und defekter Kinder: 
Öberstabsarzt Dr. Fiebig, Schularzt in Jena. 

Die Sprachstörungen des Kindesalters: Dr. Herm. Gutz- 
mann - Berlin. 





238 B. Mitteilungen. 


Psychologie des Kindes: Dr. A. Spitzner-Leipzig. 

Die Charakterfehler im Kindes- und Jugendalter: Direktor 
J. Trüper. 

Über die Psychologie und Psychopathologie finden im Anschluß an 
obige Vorträge Diskussionsabende statt. 

Auch ist der Besuch von Hilfsschulen und Erziehungsanstalten für 
Abnorme in Aussicht genommen. 

Außerdem finden während der Zeit der Ferienkurse folgende öffent- 
liche Versammlungen statt: 

1. Comenius-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft und der Volks- 
erziehung. Haupt-Versammlung am 14. August im Volkshaus zu Jena. 

Es werden folgende öffentliche Vorträge gehälten werden, zu denen 
die Teilnehmer der Ferienkurse freundlichst eingeladen sind: 

1. Mittags 12 Uhr. Geheimrat Dr. Keller-Berlin: Ȇber die 
Idee der Humanität und ihre Geschichte«. 

2. Abends von S Uhr ab: 

1. Herr Ober-Studiendirektor Dr. Ziehen-Berlin: Ȇber die staat- 
liche Fürsorge für die Volkserziehung«. 

2. Herr Adolf Damaschke-Berlin: »Die Förderung der Volks- 
erziehung als Aufgabe der Gemeindepolitike«. 

3. Herr Professor D. Dr. Zimmer-Berlin: Ȇber die genossen- 
schaftliche Fürsorge der Volkserziehung«e. 

2. Pädagogische Gesellschaft. Haupt - Versammlung Montag, den 
15. August abends 81/, Uhr im Volkshaus. 

Im Anschluß an die Versammlung findet ein öffentlicher Vortrag von: 
Pfarrer O. Flügel- Wansleben statt. (Thema vorbehalten.) 

Nähere Auskunft erteilt das Sekretariat: Frau Dr. Schnetger-Jena, 
Gartenstraße 2. 


6. Die diesjährige Versammlung des Vereins für 
Kinderforschung 


findet am 14.—16. Oktober in Leipzig statt, also am Schlusse der Herbst- 
ferien. 
Die Tagesordnung wird im nächsten Hefte bekannt gegeben. 
Anmeldungen von Vorträgen wie Anfragen um nähere Auskunft sind 
zu richten an die Schriftführer Dr. med. Strohmayer-Jena und Anstalts- 
Ichrer Stukenberg-Sophienhöhe bei Jena. 


7. Zur Beantwortung mehrerer Briefe. 


Schon seit längerer Zeit gehen uns aus verschiedenen Landesteilen 
von Lehrern, die sich auf eine höhere Prüfung vorbereiten, Anfragen über 
Literatur zur pädagogischen Psychologie, Pathologie und Kinderpsychologie 
zu. So gern wir auch in dieser Hinsicht gefällig sind, so können wir 
uns doch nicht zur Beantwortung verstehen, wenn wir es mit Persönlich- 





C. Literatur. 239 


keiten zu tun haben, die binnen wenigen Wochen eine wissenschaftliche 
Arbeit an die Prüfungskommission abliefern wollen und in ihren Briefen 
deutlich erkennen lassen, daß sie des Gegenstandes, über den sie schreiben 
sollen, völlig unkundig sind. Auch sind wir, von Ausnahmefällen ab- 
gesehen, nicht in der Lage, Bestandteile unserer Bibliothek nach auswärts 
leihweise zu versenden. 

Zu derartigen Briefen würde aber auch keine Veranlassung vorliegen, 
wenn die Betreffenden aufmerksam unsere Zeitschrift läsen und sich bei 
den ihnen zugänglichen Lehrer-, Seminar- und öffentlichen Bibliotheken 
um Anschaffung der wichtigsten Schriften bemühten. Ufer. 


mm nr run 


C. Literatur. 





Archiv für Altersmundarten und Sprechsprache. Herausgegeben von 
Berthold Otto. Vierteljahrsschrift. Heft I. Oktober 1903. Leipzig, Th. Scheffer. 
Jahrespreis 6 M. 

Die Zeiten, in denen man die Sprechsprache entweder gänzlich unbeachtet ließ 
oder doch sehr geringschätzig behandelte, sind längst vorbei. Welcher Wert ihr 
überhaupt beigelegt wird oder zukommt, kann hier nicht erörtert werden. Dagegen 
ist im besonderen der Zusammenhang mit der Kinderpsychologie hervorzuheben. 
Die bisherigen Untersuchungen, namentlich ganz kürzlich die von Stern, haben 
dargetan, daß man in der Entwicklung der Kindessprache von besonderen Alters- 
mundarten reden kann, und der Zweck der vorliegenden Zeitschrift besteht zum Teil 
in deren genauer Erforschung. Damit jedoch über die Ansicht des Herausgebers 
kein Mißverständnis entsteht, lassen wir ihn selbst reden. »Der Begriff der Alters- 
mundart ist sicherlich nicht so zu fassen, daß sich für jedes Lebensjahr mit untrüg- 
licher Sicherheit Formenlehre, Syntax, Wortschatz und Stilistik aufstellen ließe. 
Das Kind macht keine Sprünge in der Entwicklung; es gleitet geistig wie körper- 
ich aus einem in das andere Lebensalter hinüber. Wann das Kind aufhört, die 
Altersmundart der Elfjährigen zu sprechen, und anfängt, sich der der Zwölfjährigen 
zu bedienen, läßt sich natürlich ebensowenig mit Sicherheit bestimmen, wie der 
Arzt den Tag angeben kann, an dem der Körper des Kindes aus dem Habitus des 
Elfjährigen in den des Zwölfjährigen übergeht. Dennoch wird jeder Arzt auf den 
ersten Blick sagen, ob er ein zehnjähriges oder ein zwölfjähriges Kind vor sich hat, 
und mit derselben Sicherheit können wir die Sprache des Zehnjährigen von der des 
Zwölfjährigen unterscheiden, so unendlich zahlreich auch die Zwischenstufen sind.« 

Der pädagogische Wert der Altersmundarten liegt nach der Ansicht des 
Herausgebers in der Nachbildung von Seiten des Lehrers und der Verwendung im 
Unterricht. Otto will also sicherer gehen als beispielsweise Wiedemann, der in 
seinem Buche »Wie ich meinen Kleinen die biblischen Geschichten erzähle« die 
Kindessprache in Bausch und Bogen und mehr aufs Geratewohl nachalmt. 

Das erste Ileft der Zeitschrift enthält zunächst eine Anzahl biblischer Ge- 
schichten des alten Testaments, wie sie ein zchnjähriges Mädchen wiedererzählt 
bat. Die Wiedererzählungen sind stenographisch aufgenommen worden. Der Wort- 
laut ist nicht allenthalben gleichmäßig, so daß man oft mit Sicherheit den Vorerzähler 
vernimmt; immerhin enthalten die Nacherzählungen so viel echt Kindliches, wie 


240 C. Literatur. 


man in dem Buche Wiedemanns Plattes und Läppisches findet, und wenn wir 
auch nicht glauben, daß alle Blütenträume des Herausgebers reifen werden, so 
können wir doch empfehlend auf sein Unternehmen hinweisen und ihn zur Fort- 
setzung ermuntern. Einstweilen steckt die Sache noch in etwas rohen Anfängen 
und wird sich mit den Hilfsmitteln, die die Wissenschaft bietet, noch vervoll- 
kommnen lassen. Ansätze zur wissenschaftlichen Bearbeitung des Gegenstandes 
finden sich bereits in den Anmerkungen des Herausgebers. Ufer. 


Berkhan, Dr. O., Sanitätsrat in Braunschweig, Über den angeborenen und 
früh erworbenen Schwachsinn (Geistesschwäche im Sinne des Bürgerlichen 
Gesetzbuches) für Psychiater, Kreis- und Schulärzte dargestellt. Zweite durch 
Nachträge ergänzte Auflage. Mit Abbildungen. Braunschweig, Druck und Verlag 
von Friedr. Vieweg & Sohn, 1904. Ladenpreis geheftet 2,40 M. 

Im Jahrgang V No. 4 haben wir die erste Auflage eingehend besprochen und 
unsern Lesern angelegentlichst empfohlen. Unser Urteil findet sich auch in der 
Schrift mit vorgedruckt. Wir verweisen darum für die zweite Auflage auf dasselbe. 
Die zweite Auflage ist noch mit Nachträgen versehen, in denen Gruppen von 
Schwachsinn beschrieben sind, welche gegenwärtig ein besonderes Interesse bieten 
und bei denen teilweise ärztliche Behandlung in den Vordergrund tritt. Es sind 
das die mit Wasserkopf behafteten Schwachsinnigen, über die wir früher: schon 
einen besonderen Artikel von dem Verfasser brachten, die mikrocephalen Schwach- 
sivnigen, die kretinoiden Schwachsinnigen, der Mongolen-Typus der Schwachsinnigen. 
Diese Nachträge machen die zweite Auflage noch besonders wertvoll. 

Auszusetzen habe ich an derselben nur eins: Der Titel ist unvollständig, in- 
sofern die Schrift nicht bloß Psychiatern, Kreis- und Schulärzten, sondern in erster 
Linie Lehrern und auch nicht bloß Lehrern an Hilfsschulen, sondern den Lehrern 
schlechthin zu empfehlen ist. Soviel wie Berkhan hier mitteilt, sollte jeder Lehrer 
über den Schwachsinn oder wie man sonst die Intelligenz-, Willens- und Körper- 
defekte bezeichnen will, wissen. Allerdings bedarf Berkhan in Lehrerkreisen 
kaum einer Empfehlung. Er gehört zu denjenigen Medizinern, die ein Herz voll 
Liebe zu den Ärmsten und Schwächsten unter den Kindern haben und darum selbst- 
lose Freunde der Lehrer und der Schule sind. Als Sohn eines Lehrers zieht ihn 
trotz hohen Alters auch immer wieder die schwierigste Arbeit in der schwierigsten 
Schule, in der sogenannten Ililfsschule, an, und wo Versammlungen zur Beratung 
über solche Fürsorge tagen, da findet man auch immer wieder den Verfasser der 
vorliegenden Schnift. Diese ist somit eine erfreuliche Frucht der von uns seit je 
erstrebten Art des Zusammenwirkens von Medizin und Pädagogik, von Ärzten und 
Lehrern, und ihr Verfasser personifiziert als Mediziner gewissermaßen diese unsere 
Bestrebungen. Das fühlt man aus jedem Kapitel der Schrift heraus. Neben oder 
vor den Ärzten werden die Lehrer ihm darum auch für die 2. Auflage der Schrift 
mit ihren Erweiterungen dankbar sein. Trüper. 


Druck von Hermann Boyor & Suhno (Boyor & Mann) in Langonsalza. 














A, Abhandlungen. 


l. Vererbung und erbliche Belastung in ihrer Be- 
deutung für Jugend- und Volkserziehung. 
Von 


D. Hieronymus, Rektor in Leer. 


Mit Recht wird man denjenigen beneidenswert, vielleicht glück- 
lich nennen, der einen begüterten Vater hat, welcher seinem 
Sprößling eine reiche Erbschaft zu hinterlassen im stande ist. 
Hab und Gut sind im Leben Mächte, an deren Bedeutung man 
nicht zweifeln kann, und das elterliche Vermögen bildet einen 
Fonds, von dem während und nach Lebzeiten der Eltern das Schick- 
sal der Kinder beeinflußt, wenn nicht abhängig ist. Die in dieser 
Hinsicht vom Schicksal nicht so Begünstigten bleiben zwar nach Hab 
und Gut ohne Erbschaft, eins aber erbt jedes Geschöpf von seinen 
Eltern — sein eigenes Ich nach Leib und Seele. Wahrhaft beneidens- 
wert und glücklich derjenige, der in dieser Hinsicht von seinen 
Eltern ein Vermögen erbt, dessen Größe, Bedeutung und Qualität 
durch Hab und Gut nicht aufgewogen oder gar ersetzt werden kann! 
Nichts ist natürlicher, als daß ein Geschöpf wesensgleich ist dem- 
jenigen, aus dem es hervorgegangen — ein Leib demjenigen, der 
ihn gebildet hat. Wenn das von dem Leibe gilt, so ist gleichfalls 
natürlich, daß auch das innere, geistige Wesen des Erzeugers auf 
das Erzeugte sich vererbt, denn psychische Individualität und 
physische sind untrennbar. Wie der von den Eltern über- 
kommene Leib für unsere körperliche Gestaltung und Zustände, so 

Die Kinderfehler. IX. Jahrgang. 16 


242 A. Abhandlungen. 


sind auch die geistigen Eigenschaften derselben, in und mit den 
körperlichen verwebt, für unser körperliches und geistiges Ich in 
hohem Grade bedingend, wenn nicht ausschlaggebend. Das Kind ist 
nach seiner körperlichen und geistigen Individualität das Produkt 
der seelisch-leiblichen Qualität seiner Eltern. Die Erziehung hat nun 
an diesen Tatsachen der Vererbung insofern ein hohes Interesse, als 
sie mit dem vererbten Fonds sowohl nach Quantität als Qualität 
rechnen muß. Namentlich die Qualität ist hier von Bedeutung. 
Doppelt angenehm ist die Erbschaft, welche nur mit Aktiva zu 
rechnen hat; aber bei der Vererbung spielen auch die Passiva eine 
bedeutende Rolle. Gerade ihnen wenden in der Neuzeit die Psychiater, 
Psychologen und Pädagogen ihre Untersuchungen zu. An der Hand 
dieser Arbeit wollen wir gleichfalls einen Blick werfen auf die Ver- 
erbung im allgemeinen und die erbliche Belastung im besonderen. 

I. Die Vererbung im allgemeinen. Wenn ein einzelliges 
Urtier (die Amöbe) seinen Körper durch Einschnürung in zwei Stücke 
teilt, so sind beide Teile naturgemäß vollständig wesensgleich. Das 
Resultat der Zeugung durch Teilung ist die Vermehrung. Wesent- 
lich verschieden hiervon und komplizierter ist die geschlechtliche 
Vermehrung. Um das Wesen der Vererbung zu begründen, müssen 
wir kurz auf die anatomischen und pathologischen Grundlagen der 
Entstehung cines Geschöpfes, nämlich die Zeugung, eingehen. Wir 
verfolgen sie nur insoweit, als die Vererbung dabei in Frage kommt. 
Über das Wesen der Zeugung gibt es dreihundert verschiedene 
Zeugungs- bezw. Vererbungstheorien. Die Ovisten sehen in dem 
weiblichen Ei das neue Geschöpf en miniature, die Spermatisten da- 
gegen im männlichen Samen. Das Wachstum des Embryo schreibt 
Darw der Wellenzeugung, d. i. der Befruchtung der Nachbarzellen 
durch die vorbergehend befruchtete zu. GaLrox gibt dem Keimchen 
die Fähigkeit der Selbstvermehrung. Nach HäckeL ist die Zeugung 
ein Bewegungsvorgang, der die Vereinigung der Moleküle zu Lebens- 
gemeinschaften einleitet; nach HERBERT SPENXCER geschieht die Fort- 
pflanzung und Vererbung durch Strukturänderung der sogenannten 
»psychologischen Einheiten«. 

In neuerer Zeit hat sich die Theorie Weısuanss!) allgemeinere 
Geltung verschafft. Er stellt die Vorgänge etwa folgendermaßen dar: 
Bei der Zeugung wird durch die Vereinigung des Spermas mit dem 


1) Seine bedeutendsten Schriften über Vererbung sind: Die Kontinuität des 
Keimplasmas. 1885. Das Keimplasma, eine Theorie der Vererbung. 1892. Be- 
deutung der sexuellen Fortpflanzung. 1886. 


Hieronymus: Vererbung und erbliche Belastung in ihrer Bedeutung usw. 243 


Ovum ein chemischer Vorgang eingeleitet, welcher eine scheinbar 
innige Verschmelzung des Protoplasmas beider bewirkt. In diesem 
letzteren sind nun aber neben den körperbildenden auch die Ver- 
erbungssubstanzen enthalten. Als Träger der Vererbung werden die 
in dem Protoplasma vorkommenden farbigen Stäbchen angesehen. 
Diese sogenannten Chromatinstäbchen sind aber jedes für sich 
von außergewöhnlich komplizierter Zusammensetzung und enthalten 
in den Vererbungstendenzen des Ausgangskörpers zugleich die über- 
kommenen seiner Vorfahren, seines Geschlechts, seiner Rasse. Sie 
können in ihrem Innern soviel Molekulargruppen bilden, daß auf 
1/1000 Kubikmillimeter 400 Millionen kommen. Die Art der Zu- 
sammensetzung des Keimplasmas ergibt die körperliche und geistige 
Organisation; denn die letztere beruht auf der Organisation des Ge- 
hirns und ist danach auch vererbungsfähig. Die verschiedene An- 
ordnung der Chromatinstäbchen führt zu der ungeheuren Verschieden- 
heit der Individuen. Wenn schon aus 24 Buchstaben die gesamte 
Sprache und aus 12 Tönen unendliche Harmonien sich ergeben, so 
ist aus der Möglichkeit der Keimgruppierung ersichtlich, daß identische 
Geschöpfe noch nie angetroffen worden sind. — Die Frage über den 
Ursprung des Zeugungsplasmas müssen wir mit Weısmann da- 
hin beantworten, daß es ein Extrakt aus dem ganzen Körper ist, daß 
also auch die Vererbungstendenzen aus jedem kleinsten Teil des 
Körpers in Form von Molekülen in ihm enthalten sind, denn nur auf 
diese Weise ist es zu erklären, daß selbst die kleinsten Eigenheiten, 
wie z. B. ein Muttermal, ein Hautfleckchen des elterlichen Körpers 
sich an dem kindlichen wiederfinden. Schwierig ist die Frage, wie 
einerseits die die Vererbungseigenschaften enthaltenden Moleküle 
ihren Weg von der Peripherie des Körpers in den Zeugungskeim, 
andrerseits wie sie nach der Befruchtung von hier aus wieder die 
Stelle des neuen Körpers erlangen, zu der sie gehören. Die 
Ansicht Häckeıs, welcher den Molekülen ein »Bewußtsein« oder ein 
»Gedächtnis«,!) in dieser Beziehung zuspricht, gilt mit Recht als un- 
haltbar. — Wahrscheinlicher, wenn auch nicht zu beweisen, ist die 
Annahme, daß die Struktur des einzelnen Moleküls hier ausschlag- 
gebend sei. Danach geht die Vereinigung der Vererbungs-Idanten, 
(Chromatinstäbchen) durch ganz bestimmte Zellfolgen auf festliegenden 
»Keimbahnen« vor sich. Vermöge seiner Struktur nimmt das Stäb- 
chen seinen ganz bestimmten Platz sowohl innerhalb des Keims als 
auch später im Körper ein. — Der Hauptunterschied zwischen der 


1) „Erblichkeit ist Gedächtnis, Variation ist Fassungskraft des Plastiduls.« 
16* 


244 A. Abhandlungen. 


ungeschlechtlichen (Teilung, Knospung, Sporenbildung) und geschlecht- 
lichen Zeugung ist die Vereinigung der Vererbungstendenzen 
zweier verschiedener Körper, des männlichen und weiblichen. 
Die Art und Weise dieser Vereinigung geschieht folgendermaßen: 
Die Chromatinstäbchen des Ovums und Spermas legen sich anein- 
ander, verschmelzen nicht etwa ineinander, sondern spalten sich bei 
ihrer Berührung der Länge nach in zwei Teile; je zwei von diesen 
Teilen vereinigen sich durch Anlagerung; jeder aber bleibt für sich, 
behält seine Individualität. In dem Neukeim sind also die männ- 
lichen und weiblichen Vererbungstendenzen in genau gleichen Hälften 
vorhanden. Für das spätere Überwiegen der väterlichen oder mütter- 
lichen Eigenschaften eines Individuums soll nach einer wohl erklär- 
lichen, aber nicht zu beweisenden Annahme die größere oder ge- 
ringere Reife und Zeugungskraft des Ovums ausschlaggebend sein, 
so daß im ersteren Falle ein Knabe mit überwiegend mütterlichen 
Eigenschaften, im letzteren ein Mädchen mit überwiegend väterlichen 
Eigenschaften sich bilde. »Vom Vater erbt ich die Statur, des 
Lebens ernstes Führen; vom Mütterchen die Frohnatur und Lust zu 
fabulieren!« Goethe. In dem Neukeim findet nun durch die Ver- 
einigung zweier Keime eine Vermehrung der Chromatinstäbchen nicht 
statt, da immer die zwei Hälften derselben von dem Keimplasma 
absorbiert werden, also verschwinden. Es ist danach aus zwei ver- 
schiedenen Hälften ein neues Ganzes entstanden. Nimmt man nun 
— genau ist die Zahl nicht festgestellt — je 32 Keimstäbchen-Hälften 
für Sperma wie Ovum an, so ergibt das eine rechnerische Kombi- 
nationsmöglichkeit der männlichen und weiblichen Vererbungstendenzen 
von 337 Millionen. Dabei ist sehr wohl anzunehmen, daß gewisse 
für die Rasse typische Kombinationen ähnlicher Art ständig wieder- 
kehren, woraus sich andrerseits ergibt, daß diese Kombinationsähnlich- 
keit bei verwandten Personen größer sein wird als bei solchen, die 
zueinander fremd sind. — Es bleibt noch die Frage zu erledigen, ob 
und inwieweit erworbene Eigenschaften eines Individuums ver- 
erbbar sind. Die Erfahrung lehrt z. B., daß trotz der Jahrtausende 
langen Anwendung der jüdischen Vorhautbeschneidung eine Ver- 
kürzung derselben nicht stattgefunden hat, ferner daß von Generationen 
Mäusen, denen man die Schwänze abgeschnitten hat, niemals schwanz- 
lose Nachkommen entstanden sind — so darf man folgern, daß er- 
worbene Eigenschaften nicht erblich sind, wie man überhaupt bei 
der Vererbung eine gewisse Zielstrebigkeit, eine innere Notwendig- 
keit dahin wahrnehmen kann, daß die Natur nicht gerne von der 
gewiesenen Bahn abweicht. Damit ist aber nicht gesagt, daß diese 


Hirroxyamus: Vererbung und erbliche Belastung in ihrer Bedeutung usw. 945 


erworbenen Eigenschaften ohne Einfluß auf den Organismus über- 
haupt wären. Letzterer wird wieder die Keimzellen beeinflussen, so 
daß auch zufällig erworbene Eigenschaften, namentlich wenn sie in 
langandauernden Reizen bestehen, zunächst eine latente Anlage 
und durch Änderungen der molekularen Keimstruktur eine er- 
höhte Disposition für diese Erwerbungen schaffen, so daß sie unter 
Einfluß von Klima, Lebensweise, veränderten Lebensbedingungen nach 
und nach erblich werden. Auf diesem höchst wichtigen Vorgange 
beruht das Variieren innerhalb der Art, wofür nicht nur, wie nach 
Larmark und Darwıs, Übung und Anpassung, sondern auch die Keim- 
anlage maßgebend ist. Die große Bedeutung der geschlecht- 
lichen Fortpflanzung und Vererbung liegt darin, daß sie nicht nur, 
wie die ungeschlechtliche, die Erhaltung der Art bewirkt, sondern 
durch Verschmelzung verschiedenartiger Vererbungstendenzen etwas 
Neues schaift. Jede neue Vererbung bietet die Möglichkeit der 
Weiter- und Höherführung der Art, und wenn auch Neubildungen 
in unmerklich kleinen Schritten erfolgen, so ist doch der Mensch von 
heute, namentlich in Bezug auf seine geistige Qualität, nicht mit dem 
Naturmenschen identisch, und die Möglichkeit ist vorhanden, daß die 
der Rasse nicht vorteilhaften Vererbungstendenzen in ihrer Wirksam- 
keit schwinden, während die vorteilhaften sich vermehren. Das 
Hauptprinzip der geschlechtlichen Vermehrung ist Ent- 
wicklung und Vervollkommnung. 

U. Die erbliche Belastung. Es kommt nicht selten vor, daß 
ein Mensch mit dem überkommenen Gut, welches er als Erbe über- 
nehmen mußte, nicht nur keine Aktiva, sondern im Gegenteil Passiva 
(Schulden) auf sich bringt. Daran kann er dann unter Umständen 
sein Leben lang arbeiten, um sie durch seine Kraft abzutragen — 
es gelingt ihm nicht! Ebenso ist es auf geistigem Gebiet. Auch hier 
ist ein großer Teil der Menschen verurteilt, neben den ererbten Aktiva 
von Geburt an Lasten zu tragen und sie mit durchs Leben zu schleppen: 
Das nennt man erbliche Belastung. »Krank in kranker Hülle lebt 
meine Seele« schreibt der periodisch irrsinnige Dichter des »Befreiten 
Jerusalem«, Tasso, an den Herzog von Urbino. »Fliehend vor mir selbst, 
bin ich mir selbst stets gegenwärtig« Man braucht die Möglichkeit 
der erblichen Belastung nicht zu übertreiben. auch nicht alle Mängel 
und Gebrechen auf die erbliche Belastung zurückzuführen — man 
braucht mit Lougroso sie nicht bis zu Seitenrerwandten — Vettern 
und Oheimen — auszudehnen: dennoch reden all die Jammerrufe der 
Beraubten und Entblößten, der Krüppel, Blinden, Tauben, der Kreti- 
nisten und Idioten, der entstellten Skrophulösen, der hohlwangigen 


246 A. Abhandlungen. 


Schwindsüchtigen eine so deutliche Sprache, daß man nicht einsehen 
kann, worauf der Mensch in seiner eitlen Nichtigkeit und hartnäckigen 
Selbsttäuschung oft so stolz ist. Wohl überkommen uns, Gott sei 
Dank, von unsern Eltern auch diejenigen körperlichen und geistigen 
Güter, auf welche wir uns mit Recht etwas einbilden können, aber 
mit viel größerer Kraft und stetigerer Steigerung stellen sich er- 
fahrungsgemäß ebenfalls diejenigen Erbtümer ein, die den Menschen 
vielleicht lebenslang belasten. 

Schon nach diesem werden wir die Frage, ob eine erbliche Be- 
lastung möglich ist, unbedingt bejahen. Es bleibt nur zu unter- 
suchen, inwieweit und unter welchen Voraussetzungen die erbliche 
Belastung zu stande kommt. Die belastenden Momente zeigen sich 
einerseits in dem anatomischen Auf- und Ausbau des Körpers, andrer- 
seits in der anormalen chemischen und physikalischen Beschaffenheit 
des Gehirns und der Nerven. Während die ersteren äußerlich sicht- 
bar erscheinen, sind die letzteren nur in ihren Folgeerscheinungen 
nachweisbar. Soviel ist sicher, daß die konstitutionellen Krank- 
heiten der Eltern auch in der Konstruktion oder der chemischen 
Beschaffenheit der Molekulargruppen der Zeugungskeime zum Aus- 
druck kommen, so daß bereits der Keim der Träger erblicher Be- 
lastungsmomente ist. Als konstitutionelle Blutkrankheiten gelten 
Syphilis, Rhachitis, Skrophulose; erblich sind auch besonders Gehirn- 
und Nervenkrankheiten. Die traurigen Folgen treten um so sicherer 
und verstärkter ein, wenn beide Erzeuger anormale Zustände auf- 
weisen. Lonsroso hat z. B. berechnet, daß aus der Zeugung unter 
Wahnsinnigen das Produkt in 89°, mit Wahnsinn belastet ist. 
Hier tritt auch die unheimliche Zunahme der belastenden Eigen- 
schaften deutlich hervor, insofern oft Menschen, deren krankhafte 
Zustände in Exzentrizität und Hypochondrie bestehen, die Eltern von 
Idioten und Irrsinnigen werden. Latent liegende Perversitäten des 
Vaters treten nicht selten bei Sohn oder Tochter aktiv zu Tage. 
Lehrt doch die tägliche Beobachtung, wie einzelne Eigenheiten eines 
Menschen, z. B. Linkshändigkeit, Gebärden, die der Vater nicht auf- 
weist, sich bei dem Sohne zeigen. Physiologisch ist diese Erschei- 
nung dahin zu erklären, daß in dem Vater die hier bedingenden 
Vererbungstendenzen zwar vorhanden sind, jedoch in latentem Zu- 
stande sich befinden, ohne damit die Fähigkeit zu verlieren, fort- 
erbend im nächsten Glied wieder in die Erscheinung zu treten. Wir 
müssen hier noch auf die Verwandtenehe zurückkommen. Sie war 
bei den Persern, Phöniziern und Arabern gesetzlich gefordert, bei 
den Athenern und Spartanern erlaubt, bei den Muhamedanern, Juden, 


Hiırroxyauus; Vererbung und erbliche Belastung in ihrer Bedeutung usw. 9247 


De 





Römern und Germanen jedoch von Anfang her verboten. Abgesehen 
von der moralischen Begründung dieses Verbotes, liegt die Gefahr 
der Verwandtenehe auf physiologischem Gebiet hauptsächlich in der 
schon vorher erwähnten großen Ähnlichkeit der Molekulargruppen 
des Keims. Durch diese Ähnlichkeit wächst naturgemäß auch die 
Gleichheit der Vererbungstendenzen und damit gleicherweise die 
größere Wahrscheinlichkeit der Belastungserscheinungen, welche er- 
fahrungsgemäß sich zeigen als Taubstummheit, Schwachsinn, Früh- 
geburten und Unfruchtbarkeit. 

Für die erbliche Belastung spielt die vorhin schon angeschnittene 
Frage der Erblichkeit erworbener Eigenschaften eine große 
Rolle. Lange hat man gemeint, daß auch Herzkrankheiten, Tuber- 
kulose, Krebs, Diphtheritis usw. direkt erblich seien. Um hier zur 
Klarheit zu gelangen, muß man die drei vorgeburtlichen Stadien aus- 
einanderhalten: den Keim, den Embryo (1.—3. Monat) und den Fötus 
(4.—9. Monat). Nur diejenigen Belastungserscheinungen kann man 
mit Recht erblich nennen, die schen in dem Keim begründet ge- 
wesen sind, und das sind diejenigen, welche bereits in das Eigentum 
der Rasse bezw. in die organische Konstitution des Erzeugers über- 
gegangen sind. Nun steht aber fest, daß dazu die oben genannten 
Krankheiten nicht gehören. Der Grund ist hier anderswo zu suchen, 
nämlich in dem Embryonal- und Fötalzustande des Menschen. Embryo 
und Fötus sind nämlich im Mutterleibe großen Gefahren und krank- 
haften Beeinflussungen ausgesetzt, und der dem Keim nach gesunde 
Mensch kann als Embryo zum Idioten werden. Hier kommt die Er- 
zeugerin in erster Linie in Betracht. Weit umfangreicher als direkte 
Keimesübertragung ist die Möglichkeit und Gefahr, daß auf Grund 
widriger Einwirkungen der Embryo und Fötus, und demgemäß der 
Körper eine größere Disposition für bestimmte krankhafte 
Zustände erhält. Die Krankheiten können schon bei dem Embryo 
und Fötus selbst ihren Anfang nehmen und sind dann wohl an- 
geboren, aber nicht angeerbt. Diese Prädisposition äußert sich in 
einer verminderten Widerstandsfähigkeit gegen die oben genannten 
Krankheitserscheinungen. Auf dem Gebiete des Seelenlebens zeigt 
sie sich in verschicdenen Stufen von leichter Erschöpfbarkeit, reiz- 
barer Schwäche an bis hin zum Schwachsinn und Idiotismus. Gründe 
für den Schwachsinn oder für die in Form der Disposition beginnende 
Degenerenz bis hin zum Idiotismus sind besonders die Schwindsucht 
der Eltern, Trunksucht und verbrecherische Neigungen, uneheliche Ge- 
burten, elende Lebensverhältnisse, großer Kinderreichtum (37 /, Kinder- 
sterblichkeit) zu frühe und zu späte Heiraten. Wie weit die Degene- 





248 A. Abhandlungen. 


renz des menschlichen Geschlechts, namentlich in Beziehung auf 
Alkoholismus und Tuberkulose fortschreiten kann, zeigen die neusten 
auf dem letzten Ärztekongreß (1903) bekannt gegebenen Forschungen 
des Professors BEurıns, wonach die Tuberkuloseinfektion vom 1. bis 
5. Lebensjahr 17°/,, bis zum 14. = 33%,, bis zum 18. = 50°, 
bis zum 30. = 96°/, der Menschheit ergriffen hat. Welch sichere 
Gefahr steht also für denjenigen vor der Tür, der für die verderb- 
lichen Wirkungen dieses Menschheitsfeindes besonders disponiert ist! 
Namentlich in dicht bevölkerten Volkszentren kann man von einer 
allgemeinen Tuberkulosedurchseuchung reden. — Sollen wir nun 
fatalistisch dem Zugrundegehen des menschlichen Geschlechts ent- 
gegensehen? Nein! Für alle Krankheitsdispositionen und -Infektionen 
gibt es ein Allheilmittel. nämlich die gesunde Zeugung und Geburt 
und für viele derselben vorbeugende bezw. heilende Mittel, 
die in der kulturellen sozialen Lage begründet sind und sich nach 
der Art der Erkrankung zu richten haben. Nicht alle Krankheits- 
infektionen führen zum Tode, nicht alle Mängel der Eltern zum 
Atavrismus der Kinder. Endlich übt die geschlechtliche 
Kreuzung mit gesunden Individuen die Hauptwirkung aus 
für das Verschwinden oder die Abnahme der Konsti- 
tutionsfehler. Nicht an letzter Stelle tritt auch die Erziehung als 
Präservativ und Heilmittel auf den Plan. 

III. Bedeutung der Vererbung für Jugend- und Volks- 
erziehung. Der vorige Abschnitt hat gezeigt, daß viele Kinder 
vom Schicksal dazu verurteilt sind, von ihrer Jugend an eine größere 
oder geringere, sei es körperliche oder geistige Last durchs Leben zu 
schleppen. Nicht immer tragen die Eltern die Schuld dieser Be- 
lastung, wenngleich man oft sagen muß: Der Sohn trägt die Missetat 
seines Vaters. »Es geht bergab mit mir«, sagt mit bittrer Ironie 
Dr. Raxx in Ipsexns »Nora«, »es ist nichts dagegen zu machen. So 
eines andern Schuld zu büßen. Wo bleibt da die Gerechtigkeit! 
Mein armes unschuldiges Rückgrat muß für meines Vaters Leutnants- 
tage büßen. Es ist traurig, daß all der Portwein und Champagner 
auf so ein unglückseliges Glied schlagen, das nicht den geringsten 
Vorteil davon gehabt hat.« — Der Erzieher beobachtet, das durch- 
schnittlich 41/,°/, der Kinder der Großstadt an Skrophulose, 3,7%, an 
Nervosität, 7,3°/, an Drüsen, 3,2%, an Rhachitis leiden. Die Wir- 
kungen dieser körperlichen Belastung zeigen sich bald im geistigen 
Zurückbleiben. Schwachbefähigung und Schwachsinn sind die am 
öftesten jedem Lehrer entgegentretenden Eigenschaften, die in den 
wenigsten Fällen durch äußere Degenerenzerscheinungen begründet 





Hırroxvaus: Vererbung und erbliche Belastung in ihrer Bedeutung usw. 249 


oder erklärbar sind. Solche Armen sind dann ein Bleigewicht für 
Schule und Lehrer. Man könnte sich ja auf den Standpunkt des 
 Herrenmenschen stellen und der natürlichen Auslese oder der hart- 
herzigen Regel des »Leidenlassens« das Wort reden, aber ein rechter 
Jugend- und Volkserzieher kann nicht die große Zahl minderwertiger 
Menschen verkümmern lassen nur um des Prinzips der Hebung der 
Rasse willen, wie es der Herrenmensch will. Wir müssen den 
Menschen so nehmen, wie er ist. Dazu ist vor allen Dingen für 
den Erzieher nötig, daß er das Kind nach seinen physischen und 
psychischen Anlagen zu erkennen sucht, welches nur auf Grund 
immanenter Beobachtungen geschehen kann. Für den Jugend- 
erzieher sollte schon bei dem Schuleintritt das Kind weder körper- 
lich noch geistig eine tabula rasa sein. Er muß sich mit dem 
Kinde, besonders mit dem scheinbar belasteten Kinde!) als Indi- 
viduum, dann auch mit dem Typus, dem es entstammt, nämlich den 
Eltern bekannt machen. Diese psychopathische Beobachtung wird 
ihm manchen Wink für die Behandlungsweise des Kindes 
an die Hand geben. Insonderheit wird er bei nervösen und reizbaren 
Erscheinungen umsichtig und milde zu Werke gehen, bedenkend, 
daß in ihnen manchmal die beobachtbaren Anfänge anormaler Zu- 
stände sich zeigen, die bei unrichtiger Behandlung zu Krankheiten 
sich entwickeln können. In psychischer Beziehung muß der Erzieher 
sich eine Geschicklichkeit in der Analyse des kindlichen Gedanken- 
kreises, der gerade bei solchen Kindern von der körperlichen Be- 
lastung beeinflußt wird, erwerben. Die Vererbungslinien, welche sich 
dem kindlichen "Geiste aufgeprägt haben, muß er je nach ihrer Art 
entweder nachzuzeichnen und zu vervollständigen oder aber möglichst 
zu verwischen suchen. Man kann zwar ein unbegabtes Kind 
nieht zu einem begabten machen; man kann die überkommene 
Erbschaft nicht neu schaffen, aber wohl korrigieren, indem man 
durch planmäßige Übungen die Kraft steigert. Dies darf 
namentlich bei belasteten und gering begabten Kindern nur nach 
psychologisch berechneter Methode geschehen — mit Strenge und 
Tadel wird bei diesen Bedauernswerten nichts ausgerichtet. Belastete 
Kinder müssen durch freundliches Wesen des Lehrers, durch auf- 
munterndes Lob fügsam gemacht werden. Der Lehrer hat sie vor 
Hänseleien ihrer Mitschüler zu schützen und muß selbst seine Be- 
obachtungen unauffällig machen. Schlimmsten Falles hat er aber 
auch den Schutz der Gesunden in die Hand zu nehmen, indem er 


1) Siehe Broschüre » Jenseits von Gut u. Böse« v. Verf. dies. (Bielefeld, Helmich). 


250 A. Abhandlungen. 


mitwirkt, daß die geistig oder körperlich unheilbar oder ansteckend 
Belasteten aus der Gemeinschaft derer, die durch sie gefährdet sind, 
entfernt und zu besonderen Heilstätten gebracht werden. Eine prak- 
tische Folgerung dieser Forderungen ist, daß der Erzieher möglichst 
lange mit dem ihm anvertrauten Kinde zusammenbleibt. 

In Bezug auf das Volks- und Staatsleben bilden Vererbung 
und erbliche Belastung einen wesentlichen Teil der sozialen Frage, 
welcher der Volkserzieher und Gesetzgeber seine ernsteste Aufmerk- 
samkeit zuwenden muß. Auch der Staat muß den Menschen nehmen, 
wie er ist, und sein sozialer Bestand ist davon abhängig, daß er ge- 
sunde Generationen erzeugt. Die Vorbedingung einer guten Volks- 
erziehung ist die gute Erzeugung. Wir müssen hier nochmal auf 
die große Bedeutung des Weibes in diesem Punkte zurückkommen. 
Mit der Rassenverschlechterung des Weibes geht die des 
Volkes Hand in Hand; gesunde Mütter können gesunde Kinder 
gebären, denn wie schon oben gezeigt, ist der menschliche Embryo 
und Fötus von dem Zustand der Mutter außerordentlich beeinfußt. 
Gesund erhalten kann sich das Weib durch eine vernünftige plan- 
mäßige Selbsterziehung: regelmäßige Lebensweise, Turnen, Baden, 
Abhärtung. Bei einem gesunden Weib ergibt sich ein normaler Ge- 
burtsverlauf; es kann das Kind mit eigener Milch nähren und bietet 
dadurch das beste Gegenmittel gegen die große Sterblichkeit der 
Säuglinge, welch letztere nach den neusten Untersuchungen ihre 
Hauptquelle in der Säuglingsmilch haben soll (Professor Bearna). Der 
Staat hat im eigenen Interesse die Aufgabe, besonders in der Zeit 
der Schwangerschaft für den Schutz des Weibes mit allen ihm zu 
Gebote stehenden Mitteln einzutreten. — Von außerordentlicher Be- 
deutung ist die Sorge für eine gute Volksernährung. Alle Lei- 
stungen des Organismus sind an die Ernährung gebunden. Bei den 
Kindern und jugendlichen Personen kommen zu dem gewöhnlichen 
Stoffverbrauch, den Wärmeentwicklung, Verdunstung und mechanische 
Arbeit der Organzellen beanspruchen, noch diejenigen Erfordernisse 
hinzu, welche durch das Wachstum des Körpers bedingt sind. Durch 
die Nahrung muß für den rechtzeitigen und genügenden Ersatz der 
verbrauchten Stoffe gesorgt werden. Da nämlich der Verbrauch auch 
ohne unsern Willen unaufhörlich fortschreitet, so werden bei un- 
gcnügender Ernährung die Säfte dem Muskelbestande des Körpers 
entzogen, und die Folge ist Abmagerung, Schwächung, größere Dis- 
position für Krankheitszustände. Andrerseits ist die Wohlgenährtheit 
und Gesundheit des Körpers die beste Schutzwehr gegen Krankheits- 
infektionen und in Krankheitsfällen die sicherste Hilfe zur Überwin- 





Hirroxvuus: Vererbung und erbliche Belastung in ihrer Bedeutung usw. 951 


dung, Darum ist namentlich für alle körperlichen Schwächlinge, 
unter Kindern also für die skrophulösen und rhachitischen, eine reich- 
liche und passende Ernährung die grundlegende Forderung für alle 
weiteren Maßnahmen. Nun sind in Bezug auf den Aufbau der körper- 
lichen Organbestandteile die stickstoff- und eiweißreichen Nahrungs- 
mittel Milch und Fleisch durch keinen andern Nahrungsstoff zu er- 
setzen, woraus wir hier nur folgern möchten, daß namentlich das 
erstere, als das billigere, auch von Staats- oder Gemeinde wegen noch 
weit genereller in dem Kampfe gegen Schwächezustände besonders 
des werdenden Menschengeschlechts herangezogen werden müßte. 
Wenn z. B. 10°% aller deutschen Volksschulkinder (rhachitische, 
skrophulöse, sonst schwächliche) tagtäglich in der großen Vormittags- 
pause je !/, 1 gekochte Milch in der Schule gereicht erhielten, so 
würde manche Million, die jetzt für Lungenheilstätten, Siechenhäuser, 
Kinderheime usw. ausgegeben werden muß, auf diese Weise zins- 
tragender für das deutsche Volk angelegt sein. — Aus dem allen er- 
gibt sich: wie im Leben des einzelnen die wichtigste Frage die 
Magenfrage ist, so ist auch im Staat neben der Wehrfrage die wich- 
tigste die Nährfrage. — Ein weiteres volkserziehliches Mittel ist der 
Kampf gegen Alkohol und Unzucht. Wahrhaft grauenvoll 
sind die gelegentlich ausgeführten Statistiken über die Folgen des 
Alkoholismus. So hat Lomgsroso die Nachkommen eines Trunkenboldes 
in einem Verlaufe von 75 Jahren verfolgt und ausgerechnet, daß 
280 derselben blind, blödsinnig, schwindsüchtig usw. waren, daß 300 
im zartesten Kindesalter dem Tode wieder anheim fielen. Unter den 
Wahnsinnigen stammen 12°/, von Trinkern ab. Die bekanntesten 
Degenereurerscheinungen an den Nachkommen von Trinkern sind die 
Neigung zu Unzucht und Verbrechen, Kleptomanie und Diebstahl, 
bei Frauen Unfähigkeit zum Stillen der Kinder, Disposition zu Skro- 
phulose und Schwindsucht. Die nach dieser Hinsicht beiderseitig 
belasteten Heiraten führen zum baldigen sicheren Untergange der 
Familie und des Geschlechts. Der sicherste Eingriff in diese Wunden 
am Volkskörper ist die Erziehung von selbständigen Persön- 
lichkeiten, und solche zu erziehen, dafür ist die ganze soziale 
Gesellschaft mit verantwortlich. Hier durch Eheverbote eingreifen 
zu wollen, wäre nutzlos, da die nicht zu verhindernde außer- 
eheliche Zeugung die Mißstände nicht beseitigen, sondern verschlim- 
mern würde. Zudem arbeitet ja schon die heutige christliche Kultur 
mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln daran, die Mißstände auch 
auf dem Gebiete der Vererbung möglichst auszugleichen. In Bezug 
auf das Einzelleben in der Familie lehrt die Vererbungstheorie, daß 


252 A. Abhandlungen. 





es hinsichtlich der Keimesanlagen weder Rasse noch Geschlecht gibt, 
daß danach also weder die Rasse bestimmend ist für die Erziehung, 
noch das Geschlecht. In dem Individuum sind die wesensgleichen 
männlichen und weiblichen Keime in gleicher Zahl vorhanden, die 
dem bestimmten Geschlecht zugehörenden Eigenschaften und Kräfte 
treten nur besonders zu Tage. In der sozialen Gesellschaft 
müssen also auch Mann und Weib nicht gegeneinander 
sondern nebeneinander arbeiten — jedes auf der für seine 
Art von Natur her besonders gegebenen und gewiesenen 
Bahn. 


Einsichtsvolle Forscher erkennen an, daß auch auf dem Gebiete 
der Vererbung noch manches unklar und für weitere Forschung übrig 
ist. Sollen wir das Forschen auf diesem Gebiete begrüßen oder be- 
fürchten? Lougroso sagt in der Einleitung seiner Schrift »Genie und 
Irrsinn«, daß das Seziermesser der Analyse ein Verhängnis sei, das 
über Religion und Wahrheit schwebe, bei dem der Forscher jedoch 
das eisige Lächeln eines Cynikers bewahren müsse. Er scheint 
also der Meinung zu sein, daß die Forschungen über Zeugung und 
Vererbung einen der Bausteine zur materialistischen und mechani- 
schen Welt- und Menschenerklärung darzustellen geeignet sind. Diese 
Annahme ist eine durchaus irrtümliche: Je eingehender und tief- 
gründiger die Zeugungs - und Vererbungsvorgänge untersucht 
werden, desto wunderbarer und unbegreiflicher erscheinen sie dem 
denkenden Geist. Ist das ganze Leben, Wirken und Streben, in 
welches wir hineinblickten, nicht der deutlichste Beweis dafür, daß 
eine Macht leitend, überschauend, Leben gebend über dem allen steht, 
die — unsichtbar, aber doch waltend — göttlich ist! Wir begrüßen 
aber um deswillen diese neuzeitlichen Bestrebungen, weil sie in Be- 
zug auf Jugend- und Volkserziehung mancherlei neue Wege weisen 
und Mittel an die Hand geben. 

Insonderheit wird der Jugenderzieher aufs neue an den innigen 
Zusammenhang der psychischen und physischen Prozesse erinnert, 
und so muß die Lehre von der Vererbung dazu beitragen, das Bürger- 
recht der Physiologie in der Pädagogik zu betonen. Wir sind nicht 
der Meinung, als ob eine dieser beiden Wissenschaften den Vorrang 
vor der andern hätte Körper und Geist sind zwei gleich- 
berechtigte, nebeneinander stehende Faktoren. Aufgabe der 
Jugenderziehung ist, beide in gleicher Weise zu pflegen und zu 
fördern. — Auf dem Gebiete des Volkslebens haben die Unter- 
suchungen der letzten Jahre schon manches Resultat gezeitigt, wovon 


ExcELHORN: Welche Bedeutung für die Schulhygiene hat die Psychologie usw. 253 


einerseits die Gesetze zum Schutze des keimenden Lebens und der 
Schwangerschaft, andrerseits die staatlichen Bestrebungen zur Be- 
kämpfung der Unsittlichkeit und Trunksucht ein beredtes Zeugnis ab- 
legen. Die Anzeichen mehren sich, wonach auch innerhalb der 
Volksgemeinschaft selbst der Kampf gegen diese degenerierenden, das 
Volk durchseuchenden Mächte in vielen Lagern aufgenommen wird. 
Der schöne Lohn dieser volkserziehlichen Bestrebungen wird nicht 
ausbleiben, denn durch die Hebung des Volkskörpers wird sicherlich 
auch die Hebung des Volksgeistes herbeigeführt. 


2. Welche Bedeutung für die Schulhygiene hat die 
Psychologie und Psychopathologie der Entwicklungs- 
jahre? 

Vortrag, gehalten auf dem I. internationalen Kongreß für Schulhygiene zu Nürnberg. 
Von 
Medizinalrat Dr. Engelhorn in Göppingen (Württemberg). 


Mit der Frage: »Welche Bedeutung für die Schulhygiene hat 
die Psychologie und Psychopathologie der Entwicklungsjahre?« be- 
trete ich ein Grenzgebiet der medizinischen und pädagogischen 
Forschung, das bis jetzt noch recht wenig Bearbeitung gefunden hat. 
Die Forschungen über die Seele des Kindes, welche wir den Psycho- 
logen und Pädagogen verdanken, schließen meist mit den eigent- 
lichen Kinderjahren ab und werfen nur noch kurze Streiflichter auf 
das für uns in Betracht kommende Jugendalter, wie uns ein Blick 
auf die vorzüglichen Arbeiten von PREYER, STRÜMPELL, SPITZNER, COM- 
PAYRÉ, TRÜPER u. a. klar macht. Ähnlich verhält es sich mit den 
Seelenstörungen des Kindesalters und ihren Bearbeitungen durch 
MorEL, EsquIroL, EmMmiscHAus, Koch, ZIEHEN und viele andere. 

Sollen wir vielleicht aus der Tatsache, daß zusammenhängende 
Schilderungen unseres Gegenstandes fehlen, den Schluß ziehen, daß 
den Entwicklungsjahren eine schulhygienische Bedeutung gar nicht 
zukommt? Nichts wäre unrichtiger als das und ehe wir zu einem 
solchen Schlusse kommen, müssen wir nach den Gründen fragen, 
warum die Entwicklungsjahre schulhygienisch noch so wenig beachtet 
sind. Einer der wichtigsten Gründe hiefür ist die Schwierigkeit der 
Forschung und zwar liegt die Schwierigkeit einmal darin, daß der 
Gegenstand auf dem Grenzgebiete zwischen pädagogischem und natur- 
wissenschaftlichem Erkennen liegt. Die Pädagogen sind nur zu gerne 
geneigt, in den Entwicklungsjahren eine gefährliche Zeit zu erblicken, 


254 A. Abhandlungen. 





welche vornehmlich das Auftreten geschlechtlicher Unarten und 
Sünden begünstigt, die naturwissenschaftliche Forschung beschäftigt 
sich mit der großen, körperlichen und seelischen Umwälzung, welche 
mit der Entfaltung zur Geschlechtsreife einhergeht und fragt nicht 
danach, ob die Bahnen, in welchen sich diese bewegt, erzieherische 
Bedeutung haben oder nicht. Und so fehlt nur allzuleicht zwischen 
beiden Richtungen das verknüpfende geistige Band. Dieses Bandes 
aber bedürfen wir bei der Lösung aller schulhygienischen Fragen 
und es fester zu knüpfen, sollte das ernsteste Bestreben von beiden 
Seiten sein. 

Eine weitere Schwierigkeit, die Bedeutung der Entwicklungsjahre 
für die Schulhygiene im einzelnen zu präzisieren, liegt in den zeit- 
lichen Schwankungen, mit welchen diese Periode im Leben des ein- 
zelnen sich einzustellen pflegt. Die geschlechtliche Entwicklung, 
welche bei Knaben etwas später eintritt, als bei Mädchen, fällt in 
das 12.—16. Lebensjahr. Bei diesem beträchtlichen Spielraum ist es 
von vornherein klar, welchen Schwierigkeiten wir begegnen, wollen 
wir allgemeingültige schulhygienische Forderungen für diesen Zeit- 
raum aufstellen. Es sind dieselben Schwierigkeiten, auf welche 
Euwinsuaus!) bei der Begrenzung der Kinderpsychosen aufmerksam 
gemacht hat, indem er keine bestimmten Jahre für die Störungen 
des Kindesalters in Anspruch nimmt, sondern den kindlichen Habitus 
der Seele unabhängig von der Zahl der Jahre seiner Einteilung zu 
Grunde legt. Ebenso müssen wir für die Zeit der geschlechtlichen 
Entwicklung darauf verzichten, ein bestimmtes Lebensjahr für ihren 
Beginn und ihr Aufhören zu bezeichnen, sind vielmehr darauf an- 
gewiesen, in verhältnismäßig weiten Grenzen und in strenger Indi- 
vidualisierung nach den körperlichen und geistigen Zeichen zu suchen, 
welche den Eintritt der geschlechtlichen Entwicklung bekunden. 

Eine weitere Schwierigkeit, die schulhygienische Bedeutung der 
Entwicklungsjahre zu erkennen, liegt in der Methode der Erforschung, 
welche eine andere für den Arzt ist und wieder eine andere für 
den Pädagogen. Dem ersteren sind untrügliche naturwissenschaftliche 
Zeichen und Mittel, sie zu erforschen, an die Hand gegeben, die dem 
andern naturgemäß versagt sind. Die körperliche Untersuchung nach 
ärztlichen Methoden muß seitens des Lehrers ersetzt werden durch 
eine Reihe von Beobachtungen und Kombinationen, so daß er sich 
in einer ungleich schwereren Lage befindet als der erstere. Zweifel- 
los ist dies mit ein Grund, warum die Schulhygiene den Ent- 


!) Esımiscumaus, Die psychischen Störungen des Kindesalters. Tübingen 1887. 





EsgeLHorn: Welche Bedeutung für die Schulhygiene hat die Psychologie usw. 255 


wicklungsjahren gegenüber noch keine bestimmte Stellung einge- 
nommen hat. 

Unüberwindlich sind aber alle diese Schwierigkeiten nicht und 
wenn ich heute den Versuch mache, der Bedeutung der Entwicklungs- 
jahre für die Schulhygiene näher zu treten, so kann es im Rahmen 
dieses kurzen Vortrages nicht meine Aufgabe sein, das in Rede 
stehende Gebiet erschöpfend zu behandeln, sondern ich beschränke 
mich darauf eine Anregung zu bieten, von der ich hoffe, daß sie zu 
weiterer Bearbeitung unseres Stoffes den Anstoß gibt. 

Wenn wir die Psychologie der Entwicklungsjahre ins Auge 
fassen, so können wir dies nur auf Grund der physiologischen Vor- 
gänge, welche sich in diesem Lebensalter abspielen. Da ich diese 
in unserem Kreise als bekannt voraussetzen darf, genügt es, kurz 
daran zu erinnern, daß die in dem oben erwähnten Zeitraum ein- 
tretende Geschlechtsentwicklung zunächst eine rein örtliche ist, in 
dem die vorher kindlichen Geschlechtsteile anfangen zu wachsen, sich 
zu vergrößern und unter saftreicher Schwellung beginnen ihre spezi- 
fischen Funktionen auszuüben, die Samenbereitung beim Jüngling, 
die Reifung des Eies und seine Loßstoßung in 4 wöchentlichen, von 
Blutungen aus den Geschlechtsteilen begleiteten Zwischenräumen 
beim Mädchen. Mit diesen Vorgängen, welche in ihren Anfängen 
ziemlich plötzlich eintreten, zu ihrer Vollendung aber eine verschieden 
lange, auf 1, 2 und mehrere Jahre sich erstreckende Zeit gebrauchen, 
ist ein intensives allgemeines körperliches Wachstum verbunden, 
während dessen sich der Geschlechtstypus deutlicher ausbildet. Der 
Knabe entfaltet sich zum Jüngling, das Gesicht zeigt die ersten Spuren 
der Behaarung, der Kehlkopf nimmt größere Dimensionen an und 
die unter allerlei Mißtönen sich vollziehende Mutierung der Stimme 
endet damit, daß die Stimme durchschnittlich ungefähr eine Oktave 
tiefer wird. Der Brustkorb weitet sich, die Schultern werden breiter, 
die Muskeln derber und fester. Beim Mädchen entwickeln sich die 
Brüste, die Hüften werden breiter und neben dem Längenwachstum 
macht sich jene Zunahme des Fettpolsters bemerklich, welche der 
jungfräulichen Gestalt ihre runden und weichen Formen und zarten 
Linien verleiht. 

Wie gestaltet sich nun in dieser Periode das Seelenleben? 

An die Spitze der Beantwortung dieser Frage stelle ich den 
Satz, welchen Coxrayr&!) in seiner Entwicklung der Kindesseele aus- 


1) Coxpayrii, GaprieL, Die Entwicklung der Kindesscele, übersetzt von User. 
Altenburg 1900. S. 459. 


256 A. Abhandlungen. 


gesprochen hat: »Abgesehen von den neuen Elementen, welche die 
Leidenschaften der Pubertät im Herzen des jungen Menschen er- 
zeugen, kann die Zukunft die einzelnen (nämlich: psychischen) Fähig- 
keiten nur erweitern, ohne ihre Zahl zu vermehren.«< Man kann die 
Richtigkeit dieses Satzes vollkommen anerkennen und trotzdem von 
einer Umwälzung des Seelenlebens der Entwicklungsjahre reden. Um 
von den Leidenschaften der Pubertät gleich eine herauszugreifen, er- 
wähne ich das Auftreten des Geschlechtstriebs und seine vorzeitige 
Befriedigung, nicht etwa, weil ich sie schulhygienisch für besonders 
wichtig halte, sondern weil ich mir eine Unterlassung zu schulden 
kommen lassen würde, wenn ich sie hier nicht besprechen würde. 
Die vorzeitige Befriedigung des Geschlechtstriebs ist vielmehr gerade 
diejenige Seite der Pubertätserscheinungen, zu welcher Ärzte und 
Pädagogen am meisten Stellung genommen haben und wenn es sich 
nur um die Verirrungen handeln würde, welche in dieser Richtung 
beobachtet werden, würde es nicht der Mühe gelohnt haben, die Ent- 
wicklungsjahre näher zu besprechen. Noch ist zwar eine vollkommene 
Einigung in der Wertschätzung der Masturbation nach ihrer erziehe- 
rischen Seite nicht festzustellen, aber es darf doch freudig anerkannt 
werden, daß man sich im ganzen daran gewöhnt hat, eine extreme 
Stellung nach der einen Seite sowohl, welche in der Masturbation 
nur eine »geschlechtliche Unart« erblickt, als nach der andern, welche 
den einmal ertappten Sünder und Sünderin nun schonungslos zu den 
Verdammten wirft, aufzugeben. Überdies fallen die gefährlichsten 
Masturbanten bekanntlich gar nicht in das Pubertätsalter, sondern 
beginnen ihre Gewohnheiten schon viel früher, so daß sie schon des- 
halb nicht in den Bereich unseres Gegenstandes gehören. Auch bei 
andern kann vor allzueifriger Beeinflussung nur gewarnt werden, 
denn es ist eine Erfahrung, daß man in der Regel mit seinen 
Warnungen zu spät kommt, da aber, wo man unnötigerweise diesen 
heikeln Punkt berührt und Unschuldige verdächtigt, nur allzuleicht 
ein nicht wieder gut zu machendes Unheil anrichtet. 

Nachdem wir diesen Punkt vorweggenommen, ist es uns, als 
hätten wir einen unschönen Flecken aus einem lichtvollen Bilde weg- 
gewischt und wir haben den Blick frei gemacht zur Betrachtung des 
Schönen und Erhebenden, was während der Entwicklungsjahre in der 
Kindesseele vorgeht. Worin bestehen nun diese Vorgänge? Zweierlei 
Dinge sind es, die wir beobachten: das Wachsen und Sichentfalten 
der schon vorhandenen Fähigkeiten der Seele und das Auftreten 
neuer Leidenschaften und Gärungen, neuer Strebungen und Wünsche, 
mit denen der mächtige, auf die Erhaltung der Gattung gerichtete 





ENGELHORN: Welche Bedeutung für die Schulhygiene hat die Psychologie usw. 257 


Trieb teilweise bewußt, mehr noch unbewußt die junge Seele erfüllt. 
Es ist nicht leicht, das Wachstum der schon entwickelten Fähigkeiten 
und das Auftreten neuer Elemente im einzelnen voneinander zu 
trennen, da beide wechselseitig aufeinander wirken: der freiere geistige 
Blick, die wachsende Vernunft zügelt den triebartigen Impuls einer 
mächtigen Strebung, das gewaltige Vorwärtsdrängen eines starken 
Gefühls gibt den Anstoß zur Erweiterung des geistigen Gesichts- 
kreises, und gibt dem Willen eine neue Richtung und verstärkte Kraft. 
Dies gibt uns Veranlassung, die mit der Pubertät eintretende Um- 
wälzung des Seelenlebens im Zusammenhang zu betrachten, ohne 
nach den formalen Unterschieden zu fragen, die durch die Aus- 
bildung vorhandener Eigenschaften und das Auftreten neuer ele- 
mentarer Vorgänge entstehen. 

Dabei sehen wir, daß die Pubertät, wie G. von Rnopex!) sich 
ausdrückt, »die Zeit besonderer geistiger Erhebung ist, die Zeit des 
Idealismus und der Begeisterung für alles Schöne und Hohe, die Zeit 
vielseitiger und lebhafter Gefühlsentwicklung« 

Wäre dieses geistige Wachstum ein gleichmäßiges, wäre die Ent- 
faltung der intellektuellen und gemütlichen Eigenschaften eine stetige 
und die Harmonie zwischen geistigem Erfassen und der Expansion 
des Gemütes eine vollkommene, so könnten wir diese Zeit nicht als 
eine gefährliche bezeichnen und nicht als eine solche, welche der 
Erziehung besondere Schwierigkeiten bereitet. Statt dessen sehen 
wir aber die allergrößten Schwankungen in der Schnelligkeit des 
geistigen Wachstums, wir sehen bald ein Überwiegen des scharf 
abwägenden Verstandes und der Sicherheit des Urteils, bald eine 
einseitige Gefühlsentwicklung und ein bedenkliches Überwuchern 
himmelsstürmenden Strebens, mit welchem die Zunahme der 
Vernunft nicht gleichen Schritt hält. Wir begegnen dem ge- 
hobenen Selbstgefühl, das das eine Mal zum mutigen Erfassen neuer 
Ziele führt, das andere Mal in der eigenen Kraft zu unberechtigter 
Überhebung und krankhaftem Dünkel. Wir schen das Auflodern 
einer kräftigen Phantasie, die die Seele mit reinen Bildern künstle- 
rischer Anschauung erfüllt, ein anderes Mal mit Truggebilden einer 
inhaltslosen Träumerei. In stillen Stunden der gerne gesuchten Einsam- 
keit entfaltet sich eine Innerlichkeit der Empfindung, die einmal zur 
Vertiefung eines gesunden religiösen Lebens führt, ein anderes Mal 
zu bangen Zweifeln und zynischem Atheismus oder zu einer Weich- 
lichkeit des Empfindens mit religiöser Schwärmerei, zu der sich be- 





1) Reis, Handbuch der Pädagogik. S. 856. 
Dio Kindorfchler. IX. Jahrgang. 17 


258 A. Abhandlungen. 


kanntlich nur zu gern der sinnliche Zug eines blühenden Sexualismus 
gesellt. Weltschmerzliche Anwandlungen bestehen neben ausgelassener 
Fröhlichkeit, deren rascher Wechsel nur zu oft die innere Kausalität 
vermissen läßt: das Mißverhältnis zwischen der eigenen Wertschätzung 
des titanenhaften Strebens und der geringen Anerkennung, die ihm 
von außen zu teil wird, führt zu einer schwächlichen Empfindsamkeit 
und das Gefühl des Verkanntwerdens bereitet lange Stunden dem, 
der sich für etwas Höheres geboren fühlt. Nehmen wir hinzu, daß 
von den Kinderfehlern, welche STrüMPELL!) in seiner pädagogischen 
Pathologie alphabetisch zusammengestellt hat, einzelne ganz besonders 
den Entwicklungsjahren angehören wie z. B. Ängstlichkeit, Aus- 
gelassenheit, Abulie, Abspannung mit Unlust zur Arbeit, bei Knaben 
gerne beobachtet nach Alkoholgenuß, Affektieren, ein häufiger Fehler 
der Mädchen, Augendienerei, Apperzeptionsfehler, Blasierheit, Koketterie, 
eine häßliche Eigenschaft der Mädchen namentlich auch ihren Lehrern 
gegenüber beobachtet, Eigensinn, Empfindlichkeit, Eitelkeit, exaltiertes 
Wesen, Flatterhaftigkeit, Feigheit, Freiheitsdrang, Frühreife, Grillen 
und Launenhaftigkeit, Jähzorn, Klatschsucht, Mißtrauen, Naseweisheit, 
Pennalismus, der sich nach STRÜMPELL zusammensetzt aus: »sinnloser 
Gottlosigkeit, Übungen der Falschheit, systematischer Grausamkeit, 
tätigem Ungehorsam, Arbeitsscheu und dem Geist der Genossenschaft 
im Bösen, — Putzsucht, rührselige Stimmungen, Reizbarkeit, Schüchtern- 
heit, Schamlosigkeit, Scheinheiligkeit, Unkeuschheit, Unbeständigkeit, 
Vielwisserei und Altklugheit, Verführbarkeit und Zerstreutheit, — so 
wird das Bild der aufkeimenden Seele immer vielgestaltiger und wenn 
wir beobachten, wie die einzelnen Fehler sich gruppieren, wie oft 
häßliche Eigenschaften bei Kindern sich zeigen, die wir stets für die 
besten hielten, so bestätigt sich für uns der Ausspruch Gorkıs, der 
in seinem »Nachtasyl« den Pilger sagen läßt: »Der Mensch ist nicht 
gut oder böse, sondern er ist manchmal gut und manchmal böse.« 

Eine wichtige Rolle in der Beurteilung der seelischen Eigen- 
schaften des Pubertätsalters spieit auch die Abhängigkeit des geistigen 
Wachstums vom körperlichen, welches durchaus nicht immer gleichen 
Schritt hält und namentlich die Tatsache, daß die geistige Entwick- 
lung bei gesteigertem Körperwachstum oft geradezu stillsteht oder 
zum mindesten stillzustehen scheint, bedarf der größern Beachtung 
seitens der Schulhygiene So sehen wir denn in der Entwicklung 
der Seele im Pubertätsalter ein ziemlich buntes Gewirr und wir haben 


— 


') STRÜMPELL, Die pädagogische Pathologie oder die Lehre von den Fehlern 
der Kinder. 3. Aufl., herausg. von Dr. ALFRED Spitzxer. S. 30 ff. Leipzig 1899. 





EnGeLHoRn: Welche Bedeutung für die Schulhygiene hat die Psychologie usw. 259 


recht, wenn wir diese Zeit eine Zeit des Gärens nennen, und an das 
Goethesche Wort denken: 

»Wenn sich der Most auch ganz absonderlich gebärdet, 

Am Ende gibt es doch n’en Wein.« 

Wenn ich nun noch einen Blick auf die psychischen Störungen 
der Entwicklungsjahre werfe, so möchte ich von vornherein hervor- 
heben, daß ich eine Begünstigung des Ausbruchs von Psychosen 
durch die Schule und ihre Einrichtungen nicht annehme, daß ich 
vielmehr die Schule und ihren wohltätigen erzieherischen Einfluß 
für eines der hauptsächlichsten Mittel halte, die Schädigungen zu 
paralysieren, welche der jugendlichen Seele von anderer Seite drohen. 
Aber gerade dadurch sind die Psychosen des Jugendalters von her- 
vorragender schulhygienischer Bedeutung und wir dürfen die traurige 
Erscheinung, daß dem eben sich entfaltenden Geistesleben die Zer- 
störung droht wie die Frühlingsblüte der Maifrost, nicht unbeachtet 
lassen. 

Die Ursachen der geistigen Erkrankung im jugendlichen Alter 
sind wie wir gesehen haben, nicht in der Schule zu suchen, wie 
denn geistige Anstrengung an sich bekanntlich nicht leicht zu 
Geistesstörungen führt, da das abstrakte, affektlose Denken an die 
Nerventätigkeit keine übermäßigen Anforderungen stellt. Die Störungen, 
die wir im Seelenleben des Jugendalters beobachten, verdanken ihre 
Entstehung ganz andern Einflüssen, von denen wir die Vererbung 
nervöser Störungen und Geisteskrankheiten der Eltern und Voreltern, 
den vererbten und den erworbenen Alkoholismus, die vererbte und 
erworbene Syphilis in erster Linie zu berücksichtigen haben. Erst in 
zweiter Linie kommen eine Reihe von Ernährungsstörungen bei 
Rhachitis, Skrophulose und Infektionskrankheiten in Betracht. Als 
begünstigend wirken nun noch eine Reihe von Verkehrtheiten des 
Familienlebens, vorzeitige Genüsse in gesellschaftlicher Hinsicht, un- 
passende Lektüre, frühzeitiger Theaterbesuch u. dgl. 

Die Formen, unter welchen die Seelenstörungen des Jugend- 
alters vorkommen sind vor allem die Imbecillität und Debilität, die 
Hebephrenie, die epileptischen und hysterischen Irreseinsformen und 
die psychischen und psychopathischen Minderwertigkeiten Kocas, eine 
Bezeichnung, ohne die wir, trotzdem sie ZıEBEN !) ein unklares Schlag- 
wort nennt, kaum mehr auskommen können, seit sie in der pädago- 
gischen Pathologie sich eingebürgert und man sich gewöhnt hat, bei 
ihr bestimmte hereditäre Einflüsse besonders zu berücksichtigen, deren 


1) Zunes, Die Geisteskrankheiten des Kindesalters. Berlin 1902. 
17* 


a a a a nn e a a a e a a ae no on 





260 A. Abhandlungen. 


Würdigung für die Erziehung wir außer Koch selbst namentlich 
STRÜMPELL und Trürrr!) verdanken. Gerade die primären Störungen 
in den Affekten, im ethischen Verhalten und die ersten Defekte der 
Intelligenz sind es, welche die Beachtung der Pädagogen besonders 
verdienen. | 

Was die Häufigkeit der Psychosen im Jugendalter betrifft, so 
ist dieselbe verschieden zu bewerten, je nachdem wir die im ganzen 
selteneren vollkommen zum Ausbruch gelangten Krankheitsformen oder 
nur kleinere Gruppen von Störungen und Fehlerhaftigkeiten, Anfänge 
von Minderwertigkeiten in Betracht ziehen. Letztere können wir 
‚aber gerade im Interesse der Entwicklung der pathologischen Päda- 
gogik gar nicht weit genug ausdehnen und erst wenn die gründliche 
Kenntnis derselben ein Gemeingut der Ärzte und Pädagogen ist, 
werden wir im stande sein, sie schulhygienisch ausreichend zu 
verwerten. 

Wenn ich es versucht habe, in kurzen Zügen die seelische Ent- 
wicklung und ihre Störung in den Pubertätsjahren zu schildern, so 
dürfte daraus hervorgehen, daß wir es mit einem besonderen, schul- 
hygienisch bedeutungsvollen Lebensabschnitt zu tun haben. 

Die schulhygienischen Forderungen, welche sich aus dem psychi- 
schen Verhalten in den Entwicklungsjahren ableiten lassen, sind zu- 
nächst die einer streng individualisierenden Behandlung in der Er- 
ziehung und im Unterricht. Diese Forderung, welche schließlich für 
alle Lebensalter gilt, ist besonders wichtig in einem Alter, das so 
hervorragende psychische Eigentümlichkeiten hat wie das in Rede 
stehende. Der aufstrebende Jüngling und das geistig reifende Mädchen 
hat ein Anrecht darauf, in seinem seelischen Entwicklungsgang ver- 
standen und unterstützt zu werden. Denn wo ein solches Ver- 
ständnis fehlt, ist der Quälerei, des Verkanntwerdens und der Ver- 
kümmerung der schönsten Blüten kein Ende. Wer sich von den 
Seelenschmerzen eines solchen Jünglings überzeugen will, dessen 
edelsten Absichten nicht verstanden wurden, der lese einmal den 
»Joggelic des beliebten Schweizer Schriftstellers Heer, der uns ein 
ergreifendes Bild seiner eigenen Entwicklung und ihrer Hemmung 
durch unvernünftige erzieherische Einflüsse entwirft. 

Neben der allgemeinen Forderung einer individualisierenden Be- 
handlung möchte ich noch auf Grund meiner Ausführungen gegen 
zwei bestehende Einrichtungen zu Felde ziehen und zwar gegen jede 


1) Trürer, Die Anfänge der abnormen Erscheinungen im kindlichen Seelen- 
leben. Altenburg 1902. 














Enerınorv: Welche Bedeutung für die Schulhygiene hat die Psychologie usw. 9261 





Prüfung in den Jahren der Entwicklung und zweitens gegen jede 
Einrichtung, welche dieser Altersklasse ein religiöses Bekenntnis ab- 
nötigt. 

Die Abschaffung der Prüfungen in der geschilderten Periode be- 
gründe ich einerseits mit dem Seelenzustande, den ich zu beschreiben 
mich bemüht und der durch seine Besonderheiten von selbst ge- 
bieterisch verlangt, den Schülern in dieser Zeit alle unnütze Quälerei 
und namentlich die unnötige Belastung des Gedächtnisses zu ersparen. 
Das was durch diese Prüfungen erreicht werden soll, die Entscheidung, 
ob der Schüler für die nächste Altersklasse, für den einjährigen 
Dienst, für ein bestimmtes Fachstudium die nötige Reife besitzt, ob- 
die Schülerin zum Lehrberuf, zur Telephonistin oder zur gelehrten 
Karriere die nötigen Vorkenntnisse besitzt, — diese Entscheidung 
kann wohl ohne Schwierigkeit auf Grund des Durchschnitts dessen 
getroffen werden, was während des ganzen Schuljahres geleistet wurde.. 

Ich begründe aber die Abschaffung aller Prüfungen im fraglichen 
Alter noch durch die spezielle Erfahrung, die ich früher als Arzt an 
einem sogenannten niederen Seminar gemacht habe und die darin 
bestand, daß die aus einem besonders schwierigen Examen hervor- 
gegangenen Zöglinge desselben mindestens ein Semester lang, oft länger 
alle möglichen Formen geistiger Erschöpfung gezeigt haben und daß 
ihre höchst schwankenden Leistungen erst lange nachher in ein ge- 
wisses Gleichgewicht gebracht werden konnten nicht ohne die be- 
trübende Erscheinung, daß hochbegabte Zöglinge, die unter den Ersten 
bei der Prüfung waren, einen bedenklichen Stillstand ihres geistigen 
Fortschreitens an den Tag legten. 

Auch die Forderung, einen religiösen Bekenntniszwang nicht vor 
Abschluß der Entwicklungsjahre zu verlangen, begründe ich mit den 
seelischen Eigentümlichkeiten dieser Zeit. Entweder haben wir es. 
mit unreifen und gleichgültigen Naturen zu tun, dann wird das reli- 
giöse Bekenntnis an sich wertlos oder aber es betrifft nachdenklichere 
und ernstere Naturen, die ohnehin von religiösen Zweifeln gequält 
sind, so vermehren wir ihre Angst, erschweren den natürlichen Ent- 
wicklungsgang zu einer selbständigen Weltanschauung und stören so 
das Gleichgewicht der unter Sturm und Drang sich entfaltenden Seele. 


nero ru ANANASA 


262 B. Mitteilungen. 


B. Mitteilungen. 





1. Der gegenwärtige Stand der Heilpädagogik in Ungarn. 


Von Dr. Paul Ranschburg, Nervenarzt, Chef des psychologischen Laboratoriums 
an den ung. königl. heilpädagogischen Anstalten zu Budapest. 


Es war das allerletzte Jahrzehnt, das nach langem Stillstand neues 
Leben in die Organisation der Institutionen für die Blinden, Taubstummen, 
Schwachbefähigten und Schwachsinnigen in Ungarn brachte. 

Wie es so oft geschieht, begnügte man sich bis dahin mit dem 
Heilen der allerärgsten Wunden, mit dem Verdecken der schreiendsten 
Defekte. Der allseitig in Anspruch genommene Staat sah in diesen In- 
stitutionen nur die humanitäre Seite und begnügte sich sozusagen mit der 
Überwachung derselben; die einzelnen Munizipien sorgten je nach ihrer 
Einsicht und ihren Geldmitteln für Blinde und Taubstumme, deren Defekte 
allzusehr in die Augen springend waren; auch die einzelnen Konfessionen, 
sowie hie und da großmütige Stifter, taten je nach ihrem Gutdünken das 
Allernötigste. 

Zu Ende der 90er Jahre begann es sich dann auch auf diesem Ge- 
biete zu regen, besonders als sich entsprechend vorgebildete Kräfte für 
die Heilpädagogik zu interessieren begannen. Dieselbe war im Unterrichts- 
ministerium unter dem Titel »Humanitäre Institutionen« administrativ der 
Sektion für Kunst untergeordnet gewesen, wurde jedoch unter dem Minister 
von Wlassich im Jahre 1898 als »Sektion für Heilpädagogik« 
reorganisiert und als selbständige Abteilung unter die Leitung des 
Sektionsrates Dr. Alexander v. Näray-Szabö gestellt. 

Von diesem Zeitpunkt an beginnt eine neue Ära für die Heilpäda- 
gogik in Ungarı. 

Der Staat, obwohl mit Mitteln für derartige Zwecke selber noch un- 
genügend versehen, greift mit starken Händen den verschiedenen, vonein- 
ander sozusagen isolierten Institutionen unter die Arme, fördert die Heran- 
bildung von entsprechend vorgebildeten Lehrkräften, schafft, wo es an 
Initiative durchaus mangelt, wie auf dem Gebiete der Hilfsschulen für 
Schwachsinnige, einige Musteranstalten, sorgt für Aufklärung des Publikums 
durch gemeinverständliche Vorlesungen und aufklärende, populäre Flug- 
schriften, fördert das wissenschaftliche Studium der geistigen Abnormitäten, 
lenkt die Aufmerksamkeit der Pädagogen und Ärzte auf die Notwendigkeit 
genauer statistischer Erhebungen bezüglich der Ursachen der Sinnesdefekte 
und geistiger Abnormitäten, und unterstützt nach Kräften auch materiell 
all diese Institutionen. 

Wie so oft, wenn der richtige Mann an die richtige Stelle gestellt 
wird, zieht ein neuer Geist in scheinbar altersschwache, morsche Insti- 
tutionen ein. Vor allem wird dahin gestrebt, das Niveau der Lehrkräfte 
zu heben. Von den Pädagogen, die sich mit Taubstummen, Blinden und 
Schwachsinnigen, sowie mit Sprachfehlern Behafteten befassen, wird eine, 


Der gegenwärtige Stand der Heilpädagogik in Ungarn. 263 


die gewöhnliche Volksschullehrerbildung bedeutend überragende Vor- 
bildung verlangt, deren Erlangung das Selbstbewußtsein dieser Garde be- 
deutend und begründeterweise erhöht, sie mit dem Bewußtsein ihrer 
schweren, dabei aber so interessanten und erhebenden Aufgabe erfüllt. Den 
Pädagogen werden überall, wo dies angeht, psychiatrisch geschulte Ärzte 
an die Seite gegeben, und es wird Sorge getragen, daß hiedurch keine 
Rivalitäten betreffs der Führung, sondern richtig koordiniertes, segensreiches 
Zusammenwirken der verschiedenartigen Kräfte ermöglicht werde. 

Um einigermaßen in die notwendigsten Details einzugehen, wollen 
wir bier folgendes anführen. 

Die materielle Unterstützung und Förderung heilpädagogischer Insti- 
tutionen seitens der Staaten geschieht nach dem Prinzipe, daß — von den 
ganz staatlichen Anstalten abgesehen — die Besoldung der Lehrkräfte der 
in der Provinz von den Munizipien errichteten und zu errichtenden Blinden- 
und Taubstummenanstalten durch den Staat erfolgt. Dank der Anwendung 
dieses Prinzipes stieg die Zahl der Taubstummen-Anstalten von 5 
auf 14, die der Blinden-Anstalten von 1 auf 4, die Idiotenanstalt 
wurde überhaupt verstaatlicht, für schwachbefähigte und für schwach- 
sinnige Kinder wurden in der Hauptstadt 2 Schulen errichtet, und es 
wird für dieselben soeben in der Provinz eine geeignete Beschäftigungs- 
kolonie gegründet. Während die bürgerlichen Kreise zu Beginn den Hilfs- 
schulen fast feindlich gegenüberstanden, hat sich die staatliche Initiative 
auf diesem Gebiet im Laufe einiger Jahre glänzend bewährt; die beiden 
Hilfsschulen können nicht ein Drittel der Bewerber fassen, und nun richtet 
auch die hauptstädtische Kommune an mehreren ihrer Volksschulen Hilfs- 
klassen (bisher an 12 Schulen) für Schwachbefähigte ein. Für die Be- 
handlung der Sprachfehler wurde ein ständiger Kursus eröffnet und 
ein staatlicher Ferienkurs für Lehrer, die sich in der Behandlung der 
Sprachfehler auszubilden wünschen, unter Leitung des Herrn Univ.-Dozenten 
Dr. v. Sarbö errichtet. 

Für die eine Taubstummenschule, die Hilfsschule für Schwachbefähigte 
und für den Sprachfehler- Kurs wurde in der Hauptstadt ein stattliches 
gemeinsames Gebäude, »Heilpädagogische Institute« benannt, aufgeführt, 
welches nunmehr auch das an dieselben angeschlossene, von Dr. Ransch- 
burg gegründete und geleitete psychologische Laboratorium be- 
herbergt. Dasselbe ist mit Apparaten zu allgemein-, sowie pädagogisch 
psychologischen Untersuchungen entsprechend reichlich ausgestattet und 
dient ständig mehreren Pädagogen, Ärzten, Hörern der Philosophie und 
Medizin als Heimstätte wissenschaftlicher Arbeiten. Daselbst werden die 
Schüler der Hilfsschule ärztlich und mit Hilfe psychologischer Methoden 
auch auf ihre einzelnen Fähigkeiten in intensiver Weise untersucht und 
demgemäß den pädagogischen Leitern der Schule mit Aufklärung, eventuell 
den Eltern mit ärztlichen Vorschriften gedient. Das Laboratorium genießt 
eine angemessene staatliche Subvention.e Vom Herbst an soll daselbst 
auch eine öffentliche Ordination für abnorme Kinder eröffnet 
werden. Gegenwärtig führt daselbst Schreiber dieser Zeilen 12 haupt- 
städtische Lehrer in die Untersuchungs-Methoden der Kinderforschung ein. 





294 B. Mitteilungen. 


Veranstalter des Kursus ist die ungarische Kommission für Kinder- 
forschung, an deren Spitze die beiden Präsidenten: Graf Alexander 
v. Telelli und Sektionsrat Dr. v. Näray-Szabö, sowie Vize-Präsident 
Präparandenanstalts-Direktor Ladislaus Nazy stehen. 

Den Schwerpunkt der von Sektionsrat Dr. v. Näray-Szabö in An- 
griff genommenen Reformtätigkeit auf dem Gebiete der heilpädagogischen 
Institutionen bildet die einheitliche Ausbildung der Lehrkräfte 
für sämtliche heilpädagogische Lehrzweige. 

Es wurde ein einheitlicher Lehrerbildungskurs für heilpädagogische 
Fachkräfte ins Leben gerufen. Die Speziallehrerbildung, welcher früher 
für die Schulen für Blinde, Taubstumme usw. gesondert erfolgte, wurde 
vereinigt und ein gemeinsamer Lehrplan, für sämtliche Kandidaten obligat, 
geschaffen. 

Die Grundlage dieser Ausbildung ist die allgemeine Pädagogik. Die 
Aufnahme erfolgt auf Grund eines Volksschul - (Elementarschul -) Lehrer- 
diploms. Der Lelhrkurs dauert 2 Jahre, wobei das erste Jahr mehr für 
die theoretische, das zweite für die praktische Ausbildung in Anspruch 
genommen wird. 

Der erste Jahrgang wird in Budapest absolviert. Spezialgegenstände 
sind: Anatomie und Physiologie der Sinnesorgane und des Zentralnerven- 
systems; Psychologie mit Berücksichtigung der Kinderpsychologie und 
Psychopathologie; Physiologie und Pathologie der Sprache; spezielle 
Methodik; Erziehungslehre und Geschichte der verschiedenen Zweige des 
Bildungswesens für Abnorme. 

Während des ersten Jahrganges werden die Kandidaten in den ver- 
schiedenen hauptstädtischen Anstalten für abnorme Kinder abwechselnd 
untergebracht und erhalten nebst freier Wohnung und voller Pension ein 
Jahres - Stipendium von 480 Kronen (400 Mark). Zum Schluß des ersten 
Jahres bestehen sie eine Prüfung in der Anatomie und Physiologie der 
Sinnesorgane und des Zentralnervensystems, in der Psychologie, der 
Phonetik und in der Behandlung der Sprachfehler. 

Im zweiten Jahre werden die Kandidaten in verschiedene Taub- 
stummenanstalten als provisorisch ernannte staatliche Elementarschullehrer 
eingeteilt, haben zu Ende des Jahres schriftliche und mündliche Prüfung 
in der speziellen Methodik, in Erziehungslehre und der Geschichte und 
Literatur des allgemeinen Abnormenbildungswesens, usw. zu bestehen und 
erhalten sodann ihr einheitlich gültiges Diplom für den Unterricht abnormer 
Kinder. 

Soviel bezüglich der Ausbildung der Lehrkräfte. 

Was die Fürsorge für die abnormen Kinder nach Absolvierung der 
Schule anbelangt, so ist vorläufig am meisten für die Blinden gesorgt. 
Der Landes-Unterstützungsverein für Blinde sorgt für Errichtung besonderer 
Beschäftigungsheime, vermittelt auch Beschäftigungen für Blinde, Indu- 
strielle und Musikanten, und sorgt für den Verkauf der von den Blinden 
erzeugten Artikel, sowie für die Unterstützung der Notleidenden. 

Behufs weiterer Ausbildung, Unterstützung, resp. zeitweiliger Be- 
schäftigung der die Schule verlassenden bildungsfähigen Idioten und 


Erziehung und Krankheit. 265 


Schwachsinnigen wird soeben in der Provinz eine geeignete Beschäftigungs- 
Kolonie errichtet. 

Es mag noch bemerkt werden, daß für die bildungsfähigen Idioten 
2 private Anstalten, für die nicht bildungsfähigen Idioten eine Privat- 
Anstalt, für die nicht zahlungsfähigen eine besondere Abteilung auf der 
Landesirrenanstalt Leopoldifeld zu Budapest, für epileptische Kinder in der 
Provinz eine staatlich beaufsichtigte Privatanstalt bestehen. 

Wie ersichtlich, sind bei uns in Ungarn die heilpädagogischen In- 
stitutionen, wenn auch noch bei weitem nicht im Blühen, so doch wenigstens 
in reger Entwicklung begriffen. Die staatliche Fürsorge zeigt schon nach 
vielen Richtungen ihre segensreichen Wirkungen; leider ist der Hang, jede 
Anregung und alle Durchführung, besonders aber die Lösung der materi- 
ellen Schwierigkeiten, vom Staate zu verlangen, noch viel zu verbreitet. 
Ein wahres Glück, daß wenigstens seitens unseres Unterrichtsministers 
Albert v. Berzeviczy diesen Institutionen reges Interesse und ein 
warmes Herz entgegengebracht wird. 


2. Erziehung und Krankheit. 
Von Dr. med. Hermann, Kinderarzt in Heidelberg. 


Kranke Kinder erziehen — was anders sollen und zum Teil wollen 
unsere Spezialanstalten für schwachsinnige, nervöse, für moralisch minder- 
wertige, degenerierte Kinder? Wie ein Sonnenstrahl dringt die Erkenntnis 
durch das Land, daß man diese unglücklichen Kranken erkennen und aus 
ihrer unkundigen Umgebung entfernen muß. Von den bahnbrechenden Ideen 
dieser neuen wissenschaftlichen Forschung will ich nicht reden. Ich möchte 
eine weitere Frage berühren, vor die jeder Vater, jede Mutter einmal, die 
meisten mehrmals gestellt werden: »Wie habe ich als Erzieher mich 
dem kranken Kinde gegenüber zu verhalten?« 

Es wird wohl niemand geben, der in solchen beängstigenden Zeiten 
sich gewissenhafte Vorstellungen macht, ob dieses oder jenes Vorgehen 
erzieherisch richtig oder unrichtig ist — ein jeder lebt nur dem Gedanken, 
dem Kinde die besten Heilungsmöglichkeiten zu verschaffen und ihm sein 
Leiden um jeden Preis zu erleichtern. Die Sorge um den kranken Lieb- 
ling verzehnfacht die Zuneigung zu ihm, das manderige Kind hat alle 
möglichen Aussetzungen und Nörgeleien, Gelüste und Unarten. Zu keiner 
anderen Zeit sieht sich die verzweifelnde Elternliebe gezwungen, auf der 
einen Seite in so vielem nachzugeben und Fehler ungeahndet zu lassen, 
auf der andern Seite das Kind zum Ertragen so vieler Unannehmlichkeiten 
zu drängen, wie Bettruhe, strenge Kost, Arzneieinnehmen. Daraus ent- 
wickelt sich in vielen Fällen über kurz oder lang eine düstere Atmosphäre, 
in der sich die Eltern als unglückliche Sklaven der Launen ihres Kindes 
fühlen, dieses sich als Tyrann aufspielt und oft mit wahrer Grausamkeit 
seine absurden Ideen durchsetzt. Auch nach längst erfolgter Genesung 
benutzen bekanntlich viele Kinder ihre Erfahrungen vom Krankenlager, um 
ihre Lieblingswünsche zu verwirklichen. Sie überwinden jeden Widerstand 





266 B. Mitteilungen. 


der Mutter, wenn sie nur durch Simulation die Erinnerung an das über- 
standene Leiden wachrufen. Mit der zusagenden Antwort verschwinden 
die beunruhigenden Symptome rasch. 

Mit dem Kummer der Eltern und der zum Schluß grenzenlosen Ver- 
wöhnung des Patienten ist leider die Sache nicht erledigt. Zunächst wird 
der Arzt in den Kreis der Unannehmlichkeiten einbezogen. Sein Verkehr 
mit dem Kinde wird immer mehr erschwert und er eröffnet über kurz 
oder lang, daß es sich um ein »ungezogenes« Kind handelt. Wird ihm 
daraufhin das Haus nicht verboten, so muß er die Behandlung weiter 
führen, und nun fängt ein undankbares Tun für ihn an. Mehr als irgend- 
wo sonst werden seine Ordinationen kritisiert und willkürlich abgeändert. 
Man führt unbequeme Waschungen nicht aus, will lieber Tropfen oder 
schüttet selbst diese zum Fenster hinaus, gibt zu essen und zu trinken 
nach dem nie auszurottenden Hauptsatz: »Es will aber.« 

Wie mit einem Schlage sah ich solche dem sicheren Tod entgegen- 
eilenden Kinder aufblühen von der Woche an, wo sie bei gleichbleibenden 
Verordnungen in die erzieherische Luft eines guten Kinderkrankenhauses 
übergeführt wurden. In andern Fällen war es bereits zu spät. So ist es 
dem Kinderarzt eine geläufige Tatsache, daß Kinder an ihrer Ungezogen- 
heit, auch an der im Lauf der Krankheit erst entstandenen, sterben können. 
Es handelt sich dabei um chronische Darmkatarrhe, Bauchentzündungen, 
die Ruhe verlangen, Herzerkrankungen, Lungenleiden, Blutungen, oder be- 
trifft zuweilen Kinder, die in der Luftröhre eine Kanüle tragen müssen 
wegen Kehlkopfverschluß durch Diphtherie. 

Ich lege Wert darauf, diese Dinge so scharf auszudrücken, weil der 
Laie, der in seinem Leben nur wenig kranke Kinder sieht, sich über die 
schwerwiegende Bedeutung der Ungezogenheit in der Krankenstube nur 
harmlose Vorstellungen macht. Man ist auf Grund ärztlicher Erfahrungen 
verpflichtet, auch für vorerst leichte Erkrankungsfälle bedingungslos den 
pädagogischen Leitsatz aufzustellen: 

Das erkrankte Kind darf nicht eine Sekunde glauben, sein Zustand 
gebe ihm ein Anrecht auf eigensinnige Pläne oder Handlungen. Was 
alles wir unter Erzichung einbegreifen, das muß nicht lockerer 
werden, sondern fester zusammengeschlossen sein am Bett des 
kranken Kindes. Der Erwachsene hat eine äußere Stütze nie nötiger 
als in kranken Tagen, vicl mehr noch das Kind. Des Kindes Stützen sind 
allein Liebe und Erziehung. Beides gibt ihm die Umgebung. Wohl, wenn 
die Liebe auf der Erziehung und die Erziehung auf Liebe beruht! 

Kranke haben viele Launen und wenig Energie. Ich rate Ihnen, dem 
kranken Kinde grundsätzlich nichts als Ungezogenheit anzurechnen, sondern 
als Laune ihm alles Ungeeignete auszureden, ihm in sachlicher ruhiger 
Weise, wie Sie es bei jeder Erziehungsklippe tun, entgegenzutreten, und 
Sie werden stets recht haben. Ich fand kranke Kinder doppelt empfäng- 
lich für kurze klare Worte im Sinne Rousseaus und ebenso unempfäng- 
lich als Gesunde für lange Reden. »Man spricht vergebens viel, um zu 
versagen: Der andere hört von allem nur das Nein.« 

Nur ein Beispiel. Ich werde zuweilen zu brüllenden, tobenden 


Erziehung und Krankheit. 267 


Kindern gerufen, die den Suppenteller zu zertrümmern oder die Wärterin 
zu zerkratzen suchen und auf keine Drohung, keine guten Worte reagieren 
und trotz meines Erscheinens die Scene fortsetzen. Sobald die Umgebung 
und eine halbe Minute drauf das Kind sich beruhigt hat, sage ich mit 
ruhiger fester Stimme: »Du wirst jetzt deine Suppe essen oder sie kommt 
hinaus.« Macht das Kind nicht bald Anstalten zum essen, wird vor seinen 
erstaunten Augen der volle Suppenteller in der Tat hinausgetragen und 
erscheint trotz erneuten Gebrülls nicht wieder, auch hat niemand aus 
der Umgebung mehr einen Blick für den kleinen Schreier. Diese Scene 
sieht man nur einmal, und die wenigen Tränen haben solche von Monaten 
erspart. Das Kind fühlt einen festen Willen über sich. Bei echter 
Appetitlosigkeit empfindet der Kranke diese Behandlung als größte Wohl- 
tat. Ob man gesundheitlich mit solchem Vorgehen schaden kann, darauf 
komme ich nachher noch im Zusammenhang zu sprechen. 

Daß der Arzt als Erzieher kranker Kinder ganz Vortreffliches leisten 
kann, lehrt ein Einblick in jedes gute Kinderkrankenhaus. Da er die 
Tragweite der Krankheitserscheinungen so wie seine Maßnahmen über- 
schaut, ist ihm im Gegensatz zu den unkundigen Eltern die Aufgabe er- 
leichtert. Darum sollten die Eltern dem Arzt das volle Recht geben, auch 
erzieherische Vorschriften für das kranke Kind zu machen. 

Die Mehrzahl der Eltern, auch in den gebildeten Kreisen, hat ganz 
falsche Vorstellungen von dem, was einem kranken Kinde schadet und 
was ihm gut ist. »Aufregung vermeiden!« Daran klammert man sich bis 
zur Lächerlichkeit, man hört die Stimme des Arztes nicht mehr, nicht die 
Stimme der Vernunft — wir Ärzte wissen, daß es nur wenige kindliche 
Kranke gibt, denen Aufregung wirklich schadet, und daß unsere glänzend- 
sten Heilerfolge alle durch eine mehr oder minder große Summe von Auf- 
regungen erkämpft werden. 

Ein anderes Vorurteil, von dem noch schwerer gelassen wird, ver- 
eitelt uns tagtäglich wichtige Kuren: »Das Kind muß doch etwas nehmen.« 
Die sachlichste Darlegung, daß ein kranker Darm Ruhe braucht und sich 
rein naturgemäß durch Erbrechen und Appetitlosigkeit jeglicher Zumutung 
solange erwehrt, bis ein neu einsetzender kaum zu stillender Recon- 
valescentenhunger alles wieder gut macht — meist fruchtet sie nichts. 
»Das Kind schreit nicht, weil es Hunger hat, sondern weil es 
Bauchweh hat« halten viele Mütter für eine böswillige Verdrehung der 
tatsächlichen Verhältnisse, wenn der Arzt es von ihrem Säugling sagt. Es 
kann nicht jede Mutter lernen, wie lange ein kleiner Mensch von seinem 
Körpervorrat zehren kann, aber dem Arzt sollte das Publikum ein gutes 
Urteil darüber zutrauen, da er darauf oft die Behandlung aufbauen muß. 
Wir wissen, daß der Erwachsene, wenn er nur Wasser bekommt, 40 Tage, 
das Kind in individueller Abstufung entsprechend weniger lang hungern 
kann. Andrerseits erkennen wir ohne Mühe die Fälle, in denen eine so- 
fortige Nahrungszufuhr dringend ist. Sie sind selten und meist dem 
Tode nah. 

Dann das »Schreien«! Das kranke Kind schreit aus den verschiedensten 
Ursachen, u. a. vor Schmerz, aus Laune, aus Langeweile, aus kleinlichem 


268 B. Mitteilungen. 


Zorn und Eigensinn. Weit entfernt, daß ihm das Schreien etwas schaden 


würde — diese seltenen Fälle sind zu erkennen und werden mit dies- 
bezüglichen Anordnungen versehen — für die meisten Kinderkrankheiten, 


speziell alle beginnenden und ausgebildeten Lungenkrankheiten, ist Schreien 
durch die dabei erfolgenden tiefen Atemzüge, die Ventilation der Lunge 
und die Anregung zum Aushusten ein Heilmittel sowie ein vorbeugender 
Schutz gegen Lungenentzündung bei allen Bettlägerigen. Man darf ein 
klagendes Kind durch Trost oder Umhertragen beruhigen, die Langeweile 
ibm durch Spiel vertreiben — aber ihm die unsinnigsten Wünsche er- 
füllen, die gefährlichsten Dinge (Trüffelwurst, Gurkensalat bei angeordneter 
Schleimdiät sind mir schon vorgekommen!) in den Magen stopfen, bloß 
»damit es nicht schreit«, ist ein unverzeihliches Verbrechen am kranken 
Kind. Und sollte — äußerst selten — ein ungezogenes Kind sich heiser 
oder »einen Bruch« schreien, so ist es wirklich, allen Ernstes, lange nicht 
so schlimm, als wenn es seinen Eigensinn auf die Spitze treibt, immer 
schwieriger zu behandeln und immer elender wird, und schließlich »an 
der Großmutter« stirbt. 

Mit diesen herausgegriffenen Vorurteilen des Publikums sei es genug. 
Wir haben auch sonst nichts finden können, was in Tagen der Krankheit 
eine planmäßige Erziehung verbieten würde Wir sehen in der un- 
veränderten Erziehungsstrenge die mächtigste Stütze für die Behandlung 
und Genesung, ja wir sehen, daß ungezogene Kinder bei geschickter Be- 
nutzung ihres Krankenlagers im besten Sinne erzieherisch beeinflußt werden 
können. Wie weit die Krankheit als solche einen erzieherischen Einfluß 
ausübt, davon kann ich heute nicht mehr sprechen. Jedenfalls ist die oft 
gehörte »Entschuldigung« für die Ungezogenheit eines Kindes: »Es ist 
lange krank gewesen« eine völlige Verdrehung und Ungerechtigkeit. 


3. Vom Kinde in der Kunst.) 
Von Mittelschullehrer Friedrich Kerst in Elberfeld. 


In der Eremitage zu St. Petersburg befindet sich unter den vierzig 
Rembrandts, die eine Vereinigung der besten Werke des großen Holländers 
bedeuten, eine »heilige Familie«, die den Beschauer in hohem Grade 
fesselt. Rembrandt bekundet sich hier als Kinderfreund. Kinder hat er 
selten gemalt, sogar dem Kinderporträt scheint er aus dem Wege ge- 
gangen zu sein. Aber als er Vater des kleinen prächtigen Titus ge- 
worden ist, geht ihm die Schönheit des Kindes auf. Allerdings hat er 
schon früher eine Himmelfahrt gemalt (München), darin einen Engel- 
reigen, der einem Murillo Ehre gemacht hätte. Dennoch tritt das Kind 
als solches eigentlich erst in seine Kunst ein, als das Mutterglück seiner 
Saskia ihn an die Gottesmutter erinnert und damit zu einem der an- 
ziehendsten Vorwürfe der Malerei aller Zeiten führt. Das Körperchen des 


1) Zugleich Besprechung von Stratz, Der Körper des Kindes. Stuttgart, 
Ferdinand Enke, 1904. i 





Vom Kinde in der Kunst. 269 


eigenen Sohnes studiert er mit Künstleraugen, und so ist er im stande, 
auf dem Petersburger Bilde eine Engelgestalt zu schaffen, die zu den ent- 
zückendsten aller ihrer Art gehört, vielleicht die schönste überhaupt ist. 
Das Christuskind liegt in der Korbwiege, ein echter kleiner vollwangiger 
Holländer, dessen tiefes, behagliches Atmen man zu hören glaubt. Von 
oben schwebt ein Engelsreigen herab, voran das schönste Himmelsbüblein. 
Das Bild in seinem Farbenreiz zu beschreiben, ist unmöglich. Soweit eine 
Reproduktion eine Vorstellung von diesem Bilde geben kann, geschieht 
dies in dem Bande »Rembrandt« (Klassiker der Kunst), der als einziges 
billiges Sammelwerk der Rembrandt’schen Gemälde jedem Leser leicht zu- 
gänglich sein wird. Betont sei nur noch, daß Rembrandt seinen bekannten 
Lichtstrahl in voller Leuchtkraft auf den kleinen Engel und erst in breiterer, 
etwas geschwächter Lichtfülle auf die Wiege fallen läßt; damit deutet der 
Künstler selbst an, wie wert ihm das Englein war. 

Vielleicht wird der bilderkundige Leser, als oben die Schönheit des 
Engels gepriesen wurde, achselzuckend an die berühmten, reizenden Köpf- 
chen am untern Rande der sixtinischen Madonna gedacht haben. In der 
Tat sind sie nach landläufiger Auffassung von Kinderschönheit noch 
hübscher als der Engel Rembrandts, und ich gestehe gern ein, daß ich 
selbst sie für idealschöne Engelkinder gehalten habe, bis ein Buch mich 
eines Bessern belehrt hat; ich halte es nicht für beschämend, dies einzu- 
gestehen, denn es ergibt sich aus der Lektüre, daß man selbst in ärzt- 
lichen Kreisen bis jetzt über die Phasen der Entwicklung gewisser Organe 
beim Kinde nicht orientiert war, und daß überhaupt das gesunde Kind 
verhältnismäßig wenig Beachtung vom ärztlichen wie vom künstlerischen 
Standpunkt gefunden hat. Das Buch ist betitelt: »Der Körper des 
Kindes, für Eltern, Erzieher, Ärzte und Künstler von C. H. Stratz.« 
Andere ähnliche Bücher desselben Verfassers sind weit verbreitet, sie be- 
fassen sich mit der Schönheit des weiblichen Körpers und mögen in vielen 
Fällen wegen der zahlreichen Illustrationen gekauft worden sein, da in 
jenen Büchern der Text wissenschaftlich ist und besonders in seinen 
statistischen Teilen bei den meisten Lesern kaum Beachtung finden wird. 
Auch in vorliegendem Buche haben wir ein wissenschaftliches Werk vor 
uns, das die Entwicklung des Kindeskörpers gleichsam von der Keim- 
zelle an bis zum Eintritt ins Jünglings-, resp. Jungfrauenalter genau und 
lückenlos verfolgt. Besonders der eine Abschnitt daraus interessierte mich, 
der vom Kinde in der Kunst handelt und speziell von den Irrtümern der 
Künstler, die das Kind als Engel oder Christuskind gemalt haben. Daß 
solche Irrtümer vorhanden sind selbst bei großen Meistern, ist nun keine 
neue Entdeckung. Wie ein Morelli-Lermolieff auf gewisse Nachlässigkeiten 
bestimmter Meister in der Darstellung von nebensächlich behandelten Teilen, 
z. B. Ohren, Augenwinkeln, Fingernägeln, eine neue Theorie der Erkenn- 
barkeit der alten Meister gründete, die bedeutende Umwälzungen in ver- 
schiedenen Gallerien zur Folge hatte, — so könnte man auch ähnlich die 
Eigenart verschiedener Maler an der Weise erkennen, wie sie das Kind 
gemalt haben. Sein Körper wurde recht nachlässig aufgefaßt, so daß sich 
bei dem einzelnen Künstler eine Manier, ein Schema bilden mußte, wonach 


270 B. Mitteilungen. 


er die Kinderfiguren schuf.1) Es braucht hier nicht ausgeführt, sondern 
nur daran erinnert zu werden, wie man auf den ersten Blick einen Rubens- 
schen Kinderengel von einem des Tizian, Murillo oder Raffael unterscheiden 
kann; ebenso wird jeder Kunstfreund einen Kinderengel von Hans Thoma 
sofort als solchen erkennen, da er auch einen bestimmten Typus bevorzugt. 

Stratz deutet nun an — eine Ausführung liegt dem Zwecke des 
Buches fern, wäre aber gewiß keine undankbare Aufgabe für eine Sonder- 
untersuchung — wieso die einzelnen Meister gegen die Wahrheit vom 
Kindeskörper gesündigt haben, vergißt aber auch nicht zuzugeben, daß be- 
stimmte Absicht im Ausdruck von der realen Wahrheit abweichen ließ. 
Beim Christuskind, dessen Anblick die Gläubigen erbauen und trösten 
sollte, war es nötig, mehr als den wahren Ausdruck im Gesicht des 
kleinen Kindes zu geben. Es mußte schon in zartester Jugend von der 
Wichtigkeit seiner Sendung überzeugt und von der Liebe zu der sündigen 
Menschheit durchglüht sein. 

So erhält das Christuskind das geistige Gepräge eines Erwachsenen, 
wozu der kindliche Körper seltsam in Gegensatz steht. Ähnlich verhält 
es sich mit dem Johannesknaben, der dem Kinde als Gesellschafter ge- 
geben wird, oder mit den Engelchen, die auch mitfühlende Wesen sein 
müssen. Sehr richtig ist nun, daß Stratz darauf aufmerksam macht, nach 
dem Volksglauben würden schöne Kinder später nicht schöne Erwachsene. 
Es kann nicht ausbleiben, daß Verhältnisse (namentlich der Gesichtspartien) 
wohlgefälliger Art im Laufe der Entwicklung Verschiebungen erleiden, 
daß der Eindruck dann nicht so angenehm ist. Sogenannte schöne Kinder 
verfügen meist über eine charakteristische Nase, die aber später weniger 
angenehme Dimensionen anzunehmen pflegt. Als Grundsatz kann in der 
Tat gelten, daß gewöhnlich ein Kind schön genannt wird, wenn wir in ihm 
Schönheiten Erwachsener zu erkennen glauben. »Aber solche Kinder 
waren eben nur scheinbar schön und galten für schön, weil an sie ein 
Maßstab angelegt wurde, der nicht für das Kind berechnet war.« Solche 
Kinder schen altklug aus, und von ihnen wird gesagt, daß sie nicht alt 
werden. Vom kindlichen zum greisenhaften Aussehen ist kein großer 
Schritt. Wenn nämlich bis jetzt von solchen Künstlern gesprochen wurde, die 
ihren Kindergestalten ein unnatürliches, sogenanntes schönes Aussehen geben 
— Stratz weist z. B. nach, daß die beiden berühmten Engelchen von 
der sixtinischen Madonna unnatürlich sind, da sie die Körper von 4- bis 
5jährigen, aber die Gesichter von 8- bis 10jährigen Kindern haben —, so 
dürfen auch nicht die realistischen niederdeutschen Meister des 15. bis 
16. Jahrhunderts vergessen werden, die die Christkinder geradezu greisen- 
haft malten. Und siehe da, Stratz zeigt uns in Photographien von 
Embryos und Neugeborenen, daß sie genau solch ein grämliches altes 
Aussehen haben, «das durch den zahnlosen Mund und die Faltigkeit der 
Haut verstärkt wird. 


1) Im Hofmuseum zu Wien, wo ich gerade die Korrektur dieses Artikels lese, 
fiel mir die berühmte Raffaelsche »Madonna im Grünen« auf, wo das Jesus- und 
das Johanneskind einander »wie aus dem Gesicht« sind. 











Ein Fall von motorischer Aphasie. 271 


Eine besondere Art der Abweichung von den natürlichen Körper- 
verhältnissen findet dort statt, wo der Künstler einem Christ- oder Engel- 


kinde eine Tätigkeit (z. B. stehen, gehen, Stab tragen, segnen) zuweist, die 


es noch nicht verrichten könnte aus rein physischen Ursachen. Deshalb 
wird die Körperbildung um Jahre weiter gedacht in ihrer Entwicklung, 
so daß jene Handlungen möglich und glaubhaft werden. Wir aber haben 


uns durch unsere klassischen Meister verleiten lassen, ein Idealbild von 


kindlicher Schönheit uns zu schaffen, das unnatürlich ist und alle wahr- 
haft kindliche, naive Schönheit in Mißkredit bringt. Und wenn wir durch 
Stratz uns in das Wesen des kindlichen Körpers und seiner Schönheit 


haben einführen lassen, dann erkennen wir, daß neben dem Kinderfreunde 


Murillo (wieviel Kinder hat er ja gemalt!) Rembrandt ein echter Kenner 
kindlicher Schönheit, besonders in dem Petersburger Engelbuben, ist. Wie 
ernst es ihm dort um die strenge Wahrheit zu tun ist, geht auch daraus 
hervor, daß er nicht ein paar durchaus leistungsunfähige Flügelchen auf 
dem Rücken ansetzt, sondern recht breite, die wie Fledermausflügel breit 
an der Seite haften und zunächst deshalb fremd anmuten. Aber ihm 
glaubt man, daß er schweben kann. (Wieviele unter den tausenden ge- 
malten Engelkindern aber können diesen Glauben erzeugen?) — Wir müssen 
wieder einmal eine gewohnte Vorstellung, nämlich die von der Schönheit 
des Kindes, korrigieren. 


4. Ein Fall von motorischer Aphasie. 
Von H. Dörreich, Taubstummenlehrer in Frankenthal. 


_Diejenige Sprachstörung, welche man als motorische Aphasie be- 
zeichnet, ist dadurch charakterisiert, daß »die innere Wortbildung zwar 
nicht nennenswert gestört ist und der Kranke sich somit schriftlich ver- 
ständigen kann, wobei er jedoch die ihm geläufigen Wortklänge nicht 
durch die Sprachmuskulatur zum Ausdruck zu bringen vermag.<« 1) 

An einer solchen aphasischen Störung litt die am 29. Juli 1892 ge- 
borene K. U., welche am 14. Oktober 1903 in die hiesige Taubstummen- 
Anstalt aufgenommen wurde. Aus den Aufnahmeakten sei folgendes hier 
angeführt: »K. U. ist im Winter (März) 1902 an Meningitis erkrankt. 
Die Krankheit dauerte über vier Monate, war mit heftigem Kopfschmerz, 
Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Abmagerung bis zum Skelett, sehr starker 
Albuminurie und fortwährendem Jammern verkunden. Als letzteres auf- 
hörte, konnte sie nicht mehr sprechen (motorische Aphasie). Gesicht und 
Gehör sind gut. Sie wurde mit Arzneien, Eis und Bädern behandelt. 
Seit einem Jahre besucht sie wieder die Schule, sieht gut aus und zeigt 
sonst keine Krankheitserscheinungen als die erwähnte Aphasie. Die Eltern 
haben sich bisher trotz mehrfacher Aufforderung nicht zur Unterbringung 
in die Anstalt bewegen lassen, bis sie selbst die Erfolglosigkeit des Zu- 
wartens eingesehen haben. Die Heilung ist nur in der Anstalt möglich.« 


1) Dr. Wetterwald, Sprachstörungen. Kinderfehler. VL. Jahrg. 


272 B. Mitteilungen. 


Soweit das ärztliche Gutachten. Die Diagnose war gestellt; der Arzt 
hatte das Seinige getan. Dem Pädagogen oblag es jetzt, durch planvolle 
Unterrichtsarbeit dem Kinde zurückzuerobern, was ihm die tückische 
Krankheit entrissen hatte. Das Kind selbst wußte recht wohl, warum es 
zu uns gekommen war; denn auf eine diesbezügliche Frage antwortete es 
schriftlich: »daß ich plaudern lerne«. Der Glaube an die Möglichkeit des 
Gelingens erwuchs uns aus folgenden Überlegungen: 

Da das Kind auf alles von seiner Umgebung Gesprochene durch 
Nicken, Kopfschütteln oder auch auf schriftlichkem Wege richtig reagiert, 
so liegen keine Perzeptionsstörungen vor. Es handelt sich auch nicht um 
Lähmungserscheinungen innerhalb des Sprechapparates; das beweist u. a. 
der Umstand, daß das Mädchen in der Periode seiner Sprachlosigkeit mit 
lauter Stimme lachen konnte. Demnach ist die vorliegende Sprachstörung 
nur dadurch zu erklären, daß durch die Gehirnhautentzündung jene Region 
der Großhirnrinde in Mitleidenschaft gezogen wurde, von welcher die 
Muskeln des Sprechapparates die Impulse erhalten zur Erzeugung der 
Sprachlaute Damit sind wir an das sprachmotorische Zentrum verwiesen, 
das in der dritten Stirnwindung seinen Sitz hat. Nun zeigt aber die 
klinische Erfahrung, »daß bei den Rechtshändern nur die linke dritte 
Stirnwindung zum Sprachzentrum ausgebildet wird, bei den Linkshändern 
dagegen die rechte dritte Stirmwindung.«!) Daraus ergibt sich die Mög- 
lichkeit einer Verlegung des sprachmotorischen Zentrums von der linken 
auf die rechte Seite oder umgekehrt — für den Fall nämlich, daß das 
bisher tätige Zentrum infolge irgend einer Störung den Dienst verweigert. 
Voraussetzung für die Ausbildung eines neuen Zentrums ist allerdings, 
daß die Störung in der Region der dritten Stirnwindung nur eine ein- 
seitige ist. Um nun in unserem Falle ein neues Sprechbewegungszentrum 
zu schaffen, waren wir offenbar an eine lange Reihe plan- und stufen- 
mäßig fortschreitender Übungen verwiesen. Daß diese Arbeit umständlich 
ist, aber immerhin Erfolg haben wird, sagt Kußmaul mit den Worten: 
»die durch Läsion der einen Hemispbäre verlorene Sprache kann wieder- 
kehren, wenn das Individuum die bisher nicht gebrauchte andere mit Er- 
folg einübt .... die ersten Sprachversuche sind sehr unvollkommen.« 
Ist bei dem normalen Menschen die Auffassung der artikulierten Sprache 
fast ausschließlich von der akustischen Bahn abhängig, so erschien es im 
vorliegenden Falle geboten, auch andere, bisher unbenutzte Bahnen für die 
Perzeption der Lautsprache gangbar zu machen, d. h. auch optische und 
taktile Empfindungen in den Dienst der Laut- und Wortauffassung zu 
stellen. Daß damit zugleich für die Bildung eines neuen sprachmotorischen 
Zentrums etwas gewonnen, also die Wiedererwerbung der Lautsprache ge- 
fördert werden könne, glaubten wir auf Grund neuerer Hypothesen der 
Lokalisationstheorie hoffen zu dürfen. 

Nach einem entsprechenden Übungsgang brauchten wir nicht zu 
suchen; derselbe bot sich uns in dem planmäßigen Sprachentwicklungs- 
gang, wie er dem deutschen Taubstummen-Unterricht eigen ist. 


1) Wetterwald, Sprachstörungen. 





Ein Fall von motorischer Aphasie. 273 





So zuversichtlich wir nun an das Werk gingen, so verhehlten wir 
uns doch nicht, daß es jahrelanger Arbeit bedürfen könne, um zu dem 
gewünschten Ziele zu kommen. Dazu gesellte sich der Zweifel, ob denn 
auch die bisher unbenutzte Region der Großhirnrinde, auf die wir es nun 
abgesehen hatten, von den Folgen der Gehirnhautentzündung unberührt 
geblieben sei. Aber es kam anders, als wir befürchtet, auch anders, als 
wir zu hoffen gewagt hatten. 

Es sei nunmehr eingehend berichtet, wie die beiden ersten Unter- 
richtsstunden verliefen. Mein ganzes Interesse war natürlich der normal 
begabten, normal hörenden und dennoch stummen Schülerin gewidmet. 
Ich begann mit einfachen Wörtern, die dem Kinde vor seiner Erkrankung 
geläufig waren. Sie konnten nicht nachgesprochen werden. Gleich trostlos 
verlief der Versuch mit den Sprachelementen. Auch der leisest vor- 
gesprochene Vokal wurde gehört, aber nicht nachgebildet. 

Es galt mir nun zunächst, eine günstigere psychische Disposition zu 
schaffen, den Mut des Kindes zu heben, das längst aufgegebene Vertrauen 
wieder wachzurufen, daß ja alles zum Sprechen Notwendige vorhanden 
sei: gesundes Ohr, gesunde Sprechwerkzeuge. Nicht als ob ich auf dem 
Wege der Suggestion etwas zu erreichen gehofft hätte; nein ich wollte 
alle Vorstellungen hinwegräumen, die niederdrückend, hemmend wirken 
mußten. Tatsächlich war durch die lange Sprachlosigkeit die psychische 
Grundstimmung derart beeinflußt, daß die jetzige Gemütsverfassung viel- 
leicht am treffendsten mit dem Ausdruck »stumme Resignation« bezeichnet 
werden kann. 

Die Aufmerksamkeit des Kindes versuchte ich auf die wesentlichen 
Funktionen des Sprechapparates und seiner Teile zu lenken, um in dem 
Kinde eine Vorstellung davon zu bilden, wie das Sprechen vor sich geht. 
Das erste waren Atemübungen. Beim Sprechen brauchen wir zunächst 
einen Luftstrom. Den haben wir, sobald wir ausatmen. Tue das mit 
geöffnetem Mund! das Kind führt diesen Befehl richtig aus. Jetzt haben 
wir schon einen Sprachlaut gesprochen. Auf meine Aufforderung, den 
entsprechenden Buchstaben zu schreiben, schreibt das Mädchen ein h. 

Ich atme wieder aus, schließe aber den Mund so, daß die obere 
Zahnreihe auf der leicht vorgeschobenen Unterlippe aufsitzt. Schaue das 
Mundbild an! Mache es auch so! Das ist auch ein Sprachlaut. Schreibe 
dafür den Buchstaben! Das Kind schreibt richtig f. 

In gleicher Weise — immer unter Beachtung des Mundbildes — 
werden die übrigen Sprachlaute gebildet, zu deren Hervorbringung die 
Stimme nicht nötig ist: b, d, g, s, z. Die aufmerksame Sprachschülerin 
erkennt sie als alte Bekannte und bildet sie richtig nach. 

Probieren wir auch die andern Laute, zu deren Erzeugung wir die 
Stimme brauchen, Ich spreche den Halbvokal w vor. Die Mundstellung 
wird nachgeahmt, aber — die Stimme bleibt aus. Es erfolgt die kurze 
Belehrung, daß wir die Stimme nicht vorn im Munde bilden, sondern daß 
sie hinten im Halse, im Kehlkopf entsteht. Das kann man fühlen, wenn 
man die Hand an den Hals des Sprechenden legt. Das Kind fühlt an 
meinem Hals die Vibration, versucht dann bei sich selbst die gleiche 


Dio Kinderfchler. IX, Jahrgang. 18 


274 B. Mitteilungen. 


Wirkung hervorzurufen, bald erscheinen leichte Ansätze des Stimmtones, 
und nach einigen Minuten kommt ein schönes, stimmhaftes w zum Vor- 
schein. 

Sieh, jetzt ist alles gewonnen! Wie leuchten bei diesem Wort die 
Augen des Kindes vor Staunen über das Vollbrachte, vor Befriedigung 
und innerem Glück! An das w reihen sich andere Halbvokale: m, n, 1, r. 
Alle werden ohne Schwierigkeiten gebildet. 

Nun können wir ja bald alle Laute sprechen; es bleiben uns nur 
noch die ganz lauten übrig. Ich spreche sie vor: a, e, i, 0, u. Neues 
haben wir daran nicht mehr zu lernen. Die Stimme wird im Kehlkopf 
hervorgebracht, alles andere sagt uns das Mundbild. Absehen und Ab- 
fühlen sind auch jetzt wieder das erste, die eigenen Versuche der 
Schülerin das zweite. Und auch diese Versuche gelingen ungemein rasch. 
Anfangs ein unsicheres Suchen und Tasten, dann ein schwacher, gehauchter 
Stimmansatz, bald ein kräftiger Stimmton und zuletzt ein klares, klang- 
volles a. Ebenso ist es bei den übrigen Vokalen. 

Das Verschmelzen der Selbstlauter und der Mitlauter zu einfachen 
Lautverbindungen und bekannten einsilbigen Wörtern geht rasch und leicht 
von statten. So ist das Kind nach kaum zweistündiger Arbeit im Besitz 
des lange und schmerzlich vermißten Gutes seiner Muttersprache. Auf 
meine Aufforderung: »Sage mir jetzt auch, wie du heißt!« antwortet 
die freudigst Überraschte in unbeschreiblicher Erregung: »Ka — tha- — 
ri —- na«, 

Dieses silben- und stoßweise Sprechen verlor sich nach wenig Tagen. 
Das Kind kann wieder fließend sprechen und lesen und wird nunmehr 
seinem Elternhause und der Volksschule zurückgegeben. 

Angesichts des unerwartet raschen Verlaufs der neuerlichen Sprach- 
aneignung und im Hinblick auf die eingangs ausgesprochenen Hoffnungen 
und Befürchtungen sehe ich mich zu folgenden Schlußbemerkungen ver- 
anlaßt: Das Wesen der vorerwähnten Sprachstörung war wohl als »moto- 
rische Aphasie« richtig gedeutet. Das sprachmotorische Zentrum war aber 
nicht in dem Grade schädlich beeinflußt, daß eine Wiederaufnahme seiner 
Funktion ausgeschlossen war; denn von der Entwicklung eines neuen 
Zentrums kann wegen der kurzen Übungszeit gar keine Rede sein. Da 
die Periode der Sprachlosigkeit aber 16 Monate gewährt hatte, ist anzu- 
nehmen, daß die betreffende Region der Großhirnrinde im Verlauf der 
Krankheit einen nicht unbedeutenden Druck erfahren hatte. Welcher Art 
diese Hemmung war, kann nur der Arzt bestimmen; und eine Aufklärung 
von dieser Seite wäre sicher auch dem Pädagogen interessant genug. Ob 
ein unterrichtlicher Eingriff, wie er vorstehend geschildert ist, nicht schon 
bedeutend früher Erfolg gehabt hätte, oder ob nicht auch ohne denselben 
nach kürzerer oder längerer Zeit die Sprache zurückgekehrt wäre, darüber 
lassen sich ja nur Vermutungen hegen. Jedenfalls ist es aber nicht un- 
wesentlich, daß der durch die Krankheit furchtbar geschwächte Organismus 
genügende Zeit zu seiner Erholung und Kräftigung hatte. 


Kinderlaunen. 275 


5. Kinderlaunen. 
Von Frau Henny Bock-Neumann in Berlin. 


Pauline Lombroso, die Tochter des berühmten Turiner Psycho- 
logen, schrieb im September-Heft der italienischen Monatsschrift »Nuova 
Antologia« über Kinderlaunen. 

Nach ihrer Meinung müssen die Erzieher sehr sorgsam auf die 
Ursachen der sogenannten Launen und Grillen bei Kindern achten. Wenn 
dieselben nur der Wut oder Herrschsucht entspringen, so sind sie durch 
die Energie und Kraft älterer Personen und sogar durch strenge Strafen 
zu unterdrücken; wenn sie aber andrerseits aus geistiger Unreife, krank- 
hafter Nervosität oder dem Gefühl der Schwäche entstehen, so sind die 
größte Sorgsamkeit, die Kräftigung und Heilung die einzigen Mittel, um 
die Unruhe zu bannen und das schwankende Gleichgewicht wieder herzu- 
stellen. 

Die Schriftstellerin führt als Beispiele eine Reihe von Fakten aus dem 
Leben allgemein bekannter Persönlichkeiten und aus ihrer eigenen Er- 
fahrung an. 

Z. B. der geniale Alfred de Musset war ein anormales Kind und 
hatte in seiner Kindheit zuweilen sonderbare Gelüste. Sein Bruder Paul 
erzählt, daß er eines Tages mit einer Billardkugel den großen Salouspiegel 
zerschlug, mit einer Schere die neuen Gardinen zerschnitt und die Karte 
von Europa mit roten Lacksiegeln bedeckte. Seine Mutter wagte aber 
nicht, ihn dafür zu bestrafen, weil sie fühlte, daß er willenlos gehandelt 
hatte, schon damals ein Opfer der Nervosität, die sich später immer stärker: 
bei ihm bemerkbar machte. 

Georges Sand erzählt in »Histoire de ma vie« unerklärliche Grillen 
ihres Kindes. »Oft, wenn sie mit mir spazieren ging — schreibt sie — 
blieb sie plötzlich stehen und wollte nicht weiter gehen oder sich in den 
Wagen setzen. Sie war 6—7 Jahre alt, als sie mir noch solche Scenen 
machte, daß ich sie trotz widerspenstigen Sträubens alle paar Schritte bis 
zur Wohnung tragen mußte. Das Schlimmste war, daß diese Launen 
niemals eine Ursache hatten, und daß das Kind sich gar nicht darüber 
Rechenschaft geben konnte. Es fühlte sich nur absolut unfähig sich dem 
Willen oder dem Zureden älterer Personen zu fügen.« 

Ein anderes Beispiel unfreiwilliger Launen, die au hysterische Zu- 
fälle erinnern, gab das fünfjährige Kind einer Deutschen. Das Mädelchen 
verweigerte beständig seine Suppe zu essen und wenn man sie mit Gewalt 
dazu zwang, so brach sie sofort die verschluckte Suppe aus. Eines Tages 
bemerkte sie in einem Ladenfenster ein Schüsselchen von origineller Form 
und erklärte, daß sie ibre Suppe ohne Widerwillen aus solch einem 
Schüsselchen, wenn es ihr eigen wäre, essen könnte. Man erfüllte diesen 
sonderbaren Wunsch, und das Kind aß seine Suppe gutwillig aus diesem 
Schüsselchen und verdaute sie vortrefflich. Das ist ein schlagender Beweis,, 
welche Art von Launen nicht durch Strafe zu bekämpfen ist. 

Ein mir bekanntes Mädelchen — erzählte Pauline Lombroso — hatte 
auch Gelüste, die unsere Überredungskunst nicht zu unterdrücken vermochte. 

18* 


276 B. Mitteilungen. 


p—s 


Sie fühlte sich z. B. gekränkt, weil sie Stiefelchen bekam, die für 
sie bestimmt waren und nicht die Stiefelchen ihres Bruders. Nach ihrer 
Meinung, »ermüdeten die Stiefel ihres Bruders niemalse, während »ihre 
Stiefel schnell ermüdeten«. 

Es ist die Gewohnheit mancher Erwachsenen und vieler Kinder, die 
eigene Schwäche auf andere Personen oder Sachen zu schieben. In diesem 
Falle schob das Kind seine eigene Ermüdung und Schwäche auf die Stiefel. 

Ich war auch Zeugin — schreibt die italienische Schriftstellerin — 
wirklicher Anfälle bei einem fünfjährigen Mädchen, das gewöhnlich artig, 
normal entwickelt und gehorsam war. Als wir sie einmal zur gewohnten 

tunde daran erinnerten, daß es für sie Zeit sei, schlafen zu gehen, bekam 
sie einen Wutanfall und rief: 

»— Ich gehe in die Küche, nehme ein Messer und ermorde Euch alle: 
Vater, Mutter, Brüder und Schwestern, dann schneide ich die Köpfe ab, 
lasse das Blut ab und stelle alle mit den Füßen nach oben! Und dann 
gehe ich in den Wald, und wenn Ihr mich suchen kommt, werdet Ihr 
mich nicht finden, weil ich mich verirre. Und Ihr werdet weinen, und 
ich verstecke mich erst recht! Unterdessen ziehe ich mich zum Possen 
an und werfe Euch meine Stiefel an den Kopf, um Euch tot zu schlagen, 
Ihr dummen, Ihr bösen, bösen Menschen! Ich will Euch nicht länger vor 
Augen sehen, ich gehe nach Hause zu meiner Mama, und sage ihr, wie 
schlecht und böse Ihr seid!« 

Alle diese Drohungen stieß sie ohne Weinen aus, mit flammenden 
Augen und geballten Fäusten; nach zehn Minuten beruhigte sie sich und 
bat von selbst um Verzeihung. 

Diese Art von Anfall ist kein Beweis von schlechtem Charakter, 
sondern das Resultat chronischen oder akuten Leidens. 

Wieviel Geduld, Sanftmut und Seelenkunde des Kindes müssen Er- 
zieher und Eltern besitzen, um dem Kinde nicht unfreiwillig unrecht zu 
tun, um es nicht dann zu strafen, wenn es Schutz und Heilung statt der 
Strafe braucht! 


6. Über Bettnässen. 


In dem Artikel über Bettnässen in voriger Nummer dieses Blattes 
ist eine Ursache des Übels unerwähnt geblieben, die zu besonderer Vor- 
sicht in der Behandlung von Bettnässen mahnt — die Epilepsie, 

Diese uuheimliche Krankheit entzieht sich in ihren Anfängen zu- 
weilen selbst dem aufmerksamen Auge des verständigen Erziehers und 
Arztes. Der Patient wird dann nur während des Schlafes von leichten 
Krämpfen befallen. Die unwillkürliche Blasenentleerung ist vielfach das 
einzige zu Tage tretende Krankheitssymptom. Doch erkennt der aufmerk- 
same Beobachter am Morgen nach dem Bettnässen an bald wieder ver- 
schwindenden roten Flecken im Gesichte wie am Halse, noch sicherer an 
leichten Bißwunden in der Zunge des Patienten, daß die unwillkürliche 
nächtliche Harnausscheidung Folge eines epileptischen Anfalles war. Manch- 
mal verrät auch periodisches Augapfelzittern (Nystaymus) eine versteckte 





Das urnische Kind. 277 


Epilepsie. — Allein selbst beim Fehlen dieser Symptome ist Epilepsie 
nicht ausgeschlossen. Sie mag auch dann vermutet werden, wenn Patient 
am folgenden Tage über Mattigkeit, Eingenommenheit des Kopfes klagt, 
wenn seine geistige Leistungsfähigkeit für diesen Tag unverkennbar herab- 
gesetzt ist. Das Sicherste bleibt natürlich Beobachtung der Gesichtszüge 
des Schlafenden während des Bettnässens. — Körperliche Züchtigung aber 
ist Epileptikern, die vor jeder Aufregung bewahrt werden sollten, sicher 
schädlich. Sie mag häufig genug vorkommen. Einer meiner Schüler 
wurde im 13. Jahre von seinen Eltern wegen neuerdings auftretenden 
Bettnässens wiederholt streng gezüchtigt. Auf meine Bitte verwarnte der 
Schularzt die Eitern — mit Recht. Ein Jahr darauf trat die Epilepsie 
in großen Anfällen unverkennbar zu Tage. — Andrerseits kenne ich auch 
einen Fall hartnäckigen Bettnässens, in dem dieses Übel, weder durch 
liebevolle Gewöhnung, noch elektrische ärztliche Behandlung, sondern allein 
durch eine verständige, strenge Anstaltserziehung geheilt wurde. 
Delitsch, Hilfsschul-Leiter in Plauen. 


7. Das urnische Kind. 


Man schreibt uns zu dieser Frage von geschätzter Seite: 

Den Aufsatz von Dr. Hirschfeld in Nr. 6 des VIII. Jahrg. der 
Kinderfehler las ich leider erst heute, bin Ihnen herzlich dankbar für Ihr 
besonnenes und kräftiges Nachwort und kann es nicht lassen, Ihnen meine 
Erfahrungen zur Verfügung zu stellen, wie ich sie untenstehend gebe. 
Hoffentlich sind nicht viele Leute geneigt, den Gedanken des Dr. H. zu folgen. 

Die Anschauungen des Dr. M. Hirschfeld, die er in einem Aufsatz 
»Das urnische Kind« in den Kinderfehlern VIII. Jahrg. 6. Heft äußert, 
dürften wohl kaum die allgemeine Zustimmung finden, die er erwartet. 
Vielleicht ist es zur Aufklärung dienlich, wenn ich den von ihm vor- 
geführten Lebensbildern das meinige an die Seite setze. 

Ich war ein Knabe von kleiner Gestalt und zartem Wuchs; mein 
Haar war lockig und ich mußte es zu meinem Leidwesen lang tragen. 
So bekam ich oft zu hören: »Er sieht ganz wie ein Mädchen ause. Meine 
Stimme war zart und entwickelte sich zu einem schönen Sopran, der bis 
zu Anfang des 17. Jahres vorhielt und bis zum hohen As reichte. Der 
Stimmbruch dauerte eigentlich die ganze Studentenzeit hindurch und wohl 
erst mit 22 Jahren war die jetzige Barytonstimme fertig. Bei Auf- 
führungen der Schüler bekam ich Mädchenrollen, was mir insofern Spaß 
machte, als ich dann mehr gefeiert wurde, als die andern. Der Flaum 
auf der Öberlippe wollte sich durchaus nicht zeigen, während andere 
Kameraden schon auf ihren Bartwuchs stolz waren. Ich war nun etwa 
in den Jahren 10—19 für viele Knaben und Jünglinge ein Gegenstand 
der Vorliebe, wobei zärtliche Annäherungen versucht wurden; man gab 
mir weibliche Namen und lobte mein dementsprechendes Wesen und Be- 
nehmen. Ich habe also die Art eines urnischen Knaben sehr stark be- 
sessen und wenn ich noch einmal jene Schilderungen aus dem Leben 








278 B. Mitteilungen. 


— 


(Septemberheft S. 247—56) durchsehe, so finde ich in den Erinnerungen 
aus meiner Jugend vieles genau Entsprechende. 

Aber — ich war trotz meiner Kleinheit ein tüchtiger Turner, erhielt 
bei einem Schulfest als Zweitbester unter allen Arndts Gedichte als Turn- 
preis, kletterte leidenschaftlich gern auf hohe Bäume oder Felsen im 
Riesengebirge und war bei wilden Spielen, zu denen mich meine Ge- 
schwindigkeit und Sprungkraft befähigte, besonders gern dabei. Mein 
liebstes Spiel daheim waren Bleisoldaten, von denen ich nie genug kriegen 
konnte. Puppen und alle Mädchensachen waren mir ein Gräuel. Die Vor- 
liebe meiner Kameraden für mich war mir unbegreiflich, oft sogar unan- 
genehm und widerwärtig. Daß »der Hirt Corydon für den schönen Alexis 
entbranntee, war mir unfaßbar und lächerlich. In der Schule war ich im 
guten Fortschreiten, wurde immer versetzt, bekam auch Prämien, war aber 
wegen meiner Wildheit und ziemlichen Leichtsinnes nie ein Musterschüler. 
Etwaige Liebesgedanken richteten sich ausschließlich auf das Mädchen- 
publikum. 


Also ein urnischer Knabe ganz ohne urnische Art; wenn die Merk- 
male, die sich äußerlich offenbaren, ganz unbedingt ein angeborenes Wesen 
beweisen sollen, so ist das bei mir nicht eingetroffen und ich erlaube mir 
zu behaupten, daß die Schlußfolgerungen des Herrn Dr. M. H. unrichtig 
sind. Ich deute jene Jugendbekenntnisse anders und schließe mich dem 
Schlußwort des Herrn Dir. Tr. von ganzer Seele an. 


T. R. K., Pastor. 


n 


8. An die Vereinigungen für Kinderpsychologie und 
Heilpädagogik und Freunde dieser Wissenschaften. 


Infolge der erfreulichen Entwicklung der Fürsorge für die gesamte 
abnorme Jugend wie der Bestrebungen für das Studium des kindlichen 
Seelenlebens und einer darauf sich gründenden besseren Gestaltung der 
Unterrichts- und Erziehungsmethoden hat sich je länger desto mehr ein 
dringendes Bedürfnis geltend gemacht nach einem Zusammenschluß aller 
kinderpsychologischen und heilpädagogischen Bestrebungen zu einer ge- 
meinsamen und einheitlichen Vertretung bei vollständiger Wahrung der 
bisherigen Selbständigkeit der einzeluen bereits bestehenden Vereinigungen. 

Die Unterzeichneten halten es darum für erwünscht, daß alle Vereine 
und Konferenzen für Kinderforschung, für Rettungshauswesen, für Fürsorge- 
und Zwangserziehungsanstalten, für Hilfsschulwesen wie für Behandlung 
und Erziehung von Schwachsinnigen und Epileptischen, Taubstummen und 
Blinden sowie überhaupt alle Vertreter, Leiter, Lehrer, Ärzte und Freunde 
heilerzieherischer Anstalten und Bestrebungen sich zu einem alle drei Jahre 
tagenden Kongresse zusammenschließen, wobei es den schon bestehenden 
Vereinigungen unbenommen bleibt, daneben in der bisherigen Weise weiter 
zu bestehen und zu tagen. 

Der allgemeine Kongreß würde einige Vorträge und Beratungen von 


C. Literatur. 279 


gemeinsamen Interessen in Plenarsitzungen veranstalten, während Spezial- 
fragen in besonderen Sektionen erörtert werden könnten. 

Diese Gesamtvereinigung ist notwendig, weil alle jene Bestrebungen 
besser gedeihen werden, wenn sie in engere Fühlung treten werden. Es 
greifen die Spezialgebiete in Theorie und Praxis oft und mannigfaltig in- 
einander über und bedürfen darum einer gegenseitigen Unterstützung und 
Förderung. Weil außerdem nicht einmal die Normalpädagogik wie die 
experimentelle Psychologie an allen Universitäten eigene Lehrstühle hat, 
sondern vielfach noch auf autodidaktische Forschung angewiesen ist, so 
empfindet die Heilerziehung mit ihren schwierigsten Problemen für Theorie 
und Praxis dies doppelt schwer und ist darum doppelt genötigt, auf dem 
Wege freier Vereinigungen und Versammlungen durch Wort und Schrift 
die unerläßlichsten wissenschaftlichen Grundlagen zu schaffen und die 
Praxis zu befruchten. 

Außerdem gibt es für die Erziehung der abnormen Jugend und deren 
Organisation, für die Eingliederung derselben in das gesamte Öffentliche 
Erziehungs- und Schulwesen, für ihre Stellung zu der öffentlichen Gesund- 
heitspflege sowie für die rechtliche wie berufliche Stellung der Leiter, 
Lehrer und Ärzte der genannten Anstalten und Schulen soviel Notwendiges 
zu erstreben, daß ein Zusammenschluß dringend geboten ist, da sich ohne 
einen solchen weniger erreichen läßt. 

In Erwägung dieser Sachlage richten die Unterzeichneten die er- 
gebenste Anfrage an Sie, ob der von Ihnen vertretene Verein unserem Plane 
sympathisch gegenüberstcht. Bejahendenfalls bitten wir zwei Mitglieder 
Ihres Vereins zu nennen, mit welchen weitere Verhandlungen, insbesondere 
auch über die Wahl des Ortes und der Zeit für den ersten Kongreß ge- 
führt werden könnten. Es dürfte sich empfehlen den ersten Kongreß 
frühestens Ostern oder Pfingsten 1905 abzuhalten, damit die einzelnen 
Vereine Gelegenheit haben, vorher zu dem Plane Stellung zu nehmen. 


Prof. Dr. Heubner-Berlin. H. Piper-Dalldorf. J. Trüper-Jena, 
Sophienhöhe. Th. Ziehen-Berlin. 


C. Literatur. 





»Schutz für Geistesschwache.« 


Der Schriftführer der Vereinigung deutscher Anstalten für Idioten 
und Epileptische, Herr O. Niehaus, teilt uns mit, daß die Entgegnung, welche 
wir in voriger Nummer unter obigem Titel abdruckten, schließlich doch auch noch 
in der »Frkf. Ztg.« zum Abdruck gekommen ist. Der Angriff erfolgte in Nr. 98, 
die Abwehr in — Nr. 190 vom 10. Juli! 

Die Redaktion besänftigt die Angriffe: »Der Einsender faßt hier die Aus- 
führungen, gegen die er sich wendet, schroffer auf, als sie gemeint waren. Es sind 
nicht schlechthin die pädagogisch geleiteten Anstalten als inhuman gegenüber den 
ärztlich geleiteten hingestellt worden.« Insbesondere wird dann der »Ruhm« der 





280 C. Literatur. 


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angegriffenen Idsteiner Anstalt hervorgehoben. Sie schließt aber, daß »der Stand- 
punkt der modernen medizinischen Wissonschaft nur allein entscheidend sein kann«. 

Wir können von der Redaktion einer politischen Zeitung nicht erwarten, daß 
sie hier klar sieht, und nicht tadeln, daß sie die Sache harmloser betrachtet. Wir 
haben hinlänglich bewiesen, daß bei einer gewissen Gruppe von Medizinern es sich 
durchaus nicht um Wissenschaft, sondern um Standesinteressen handelt, und die 
»humanen« Kampfesmittel sind von uns hinreichend gekennzeichnet. Die Tages- 
presse hat sie ja auch inzwischen zu ihrem eigenen Erstaunen kennen gelernt. 

Die Redaktion der »Frankf. Ztg.« irrt sich übrigens: es sind die pädagogisch 
geleiteten Anstalten von jener Seite schlechthin als inhüman hingestellt worden, 
es sei sogar »unter der Würdes eines Mediziners, daran mitzuwirken. Nachdem 
das mit Entrüstung wiederholt zurückgewiesen worden war, las man doch noch an 
dort maßgebenster Stelle: »Es liegt nicht im Interesse einer geordneten Idioten- 
und Epileptikerfürsorge, wenn manche Ärzte die Gründung von Anstalten fördern 
helfen, an denen der Arzt an zweiter Stelle steht.« Es widerspricht nach dieser 
Auffassung »der Wissenschaft und der Humanität«, wenn ein schwachsinniger Un- 
hold einmal gezüchtigt wird; human und wissenschaftlich aber ist, wenn nach deren 
eigenem Bekenntnis Hunderten von diesen Unglücklichen der Schädel nutzlos auf- 
gemeißelt wird, wovon gegen ein Fünftel direkt infolge der Operationen starb und 
die übrigen wenigstens keine Besserung verspürten. Den grausamen Knaben Prinz 
Arenberg zu züchtigen, wäre fast ein Verbrechen nach der Auffassung dieser 
Humanitätspächter gewesen; seine Grausamkeit war ja »Krankheit«. Freilich hätten 
sie ihn im Namen der Wissenschaft und der Humanität schon als Kind vom Leben 
zum Tode befördert, dann hätte Deutschland den Skandal nicht erlebt. Ist das der 
Sinn der »Humanität«, dann sage man es offen. Darüber ließe sich schon eher als 
über jenen Vorwand diskutieren. Man weiß dann wenigstens, was gemeint ist. Das 
wäre doch eine prinzipielle Frage. Aus einzelnen gesuchten Beispielen all- 
gemeine Forderungen ableiten, worüber sogar der Reichstag beschließen soll, das 
gehört dagegen in die Wissenschaft und die Humanität der Urteilsschwäche. 

Für uns stehen weder Arzt noch Lehrer in erster Reihe, sondern die fürsorge- 
bedürftigen Kinder. Und wer ihnen am selbstlosesten dient, der steht für uns oben 
an. »Dünket sich aber einer — so mahnt schon der alte Claudius —, so laß ihn 
und gehe seiner Kundschaft müßig.« 


Im übrigen aber sei wider Mißverständnisse und Mißdeutungen nochmals be- 
tont: wir kämpfen nicht gegen, sondern für den Einfluß der Medizin auf die 
Pädagogik. Wir weisen nur die Pseudomedizin ab. Unser Programm ist heute 
noch dasselbe wie vor 10 Jahren: einmütiges, verständnisvolles Zusammenwirken 
von Medizin und Pädagogik, von Ärzten, Lehrern und Geistlichen in allen sich auf 
die kindliche Entwicklung beziehenden Fragen, insbesondere bei der Erziehung Ab- 
normer, und unseren Lesern brauchen wir von dem segensreichen Erfolge dieser 
Bemühungen wohl kein Wort weiter zu sagen. 

Wir wissen uns in unseren Bestrebungen wie in unseren Auffassungen auch 
im besten Einvernehmen mit den angesehendsten Vertretern der medizinischen Wissen- 
schaft, wie wohl auch mit der erdrückenden Mehrzahl der praktischen Ärzte. Unsere 
Abwehr gilt immer nur den unerhörten Angriffen einer Pseudowissenschaft. Im 
übrigen haben die zehnjährigen Angriffe, welche nach dem Schlusse jenes Artikels 
der Frkf. Ztg. dazu dienen sollen, daß Deutschland »wieder mit an der Spitze 
der Kulturstaaten vorwärtsschreite« indem nämlich die Fürsorge für alle 
Abnormen verstaatlicht und vor allem »verärztlicht« werde, doch auch ihr Gutes 


C. Literatur. 281 


gehabt. Sie haben manche Anstalten und ihre Vertreter aus dem Schlafe gerüttelt, 
so daß manche mit Recht getadelten Mißstände beseitigt, manche Reformen an- 
gebahnt wurden. Die Ahwehr zwang zur Besinnung wie zur Vertiefung mancher 
wichtigen Frage. 

U. a. hat die Proskription der Pädagogik und der pädagogischen Fürsorge für 
Geistesschwache und Epileptische seitens jener Pseudomedizin auch zwei wertwolle 
literarische Beiträge gezeitigt. 

Diejenigen Mediziner, welche die Pädagogen nur als ihre »Masseure- Gehilfen 
gelten lassen wollten, haben wiederholt versucht, die Gesetzgebung im Sinne ihrer 
Standesinteressen zu beeinflussen. 

Das hat nun den Anlaß gegeben zu der 


Denkschrift betreffend die besonderen Verhältnisse und Bedürfnisse der Anstalten 
für Idioten und Epileptische im Rahmen der Irrengesetzgebung. Überreicht von 
der Vereinigung deutscher Anstalten für Idioten und Epileptische. 

Ich gehörte und gehöre der Vereinigung nicht an. Einmal habe ich keine 
Anstalt für Idioten und Epileptische und zum andern habe ich anfangs nicht glauben 
können, daß ein Abwehrverein eine Notwendigkeit sei, im Gegenteil stand ich in 
den sachlichen Forderungen auf seiten der Mediziner gegenüber denen der Geist- 
lichkeit. Mit dieser Begründung lehnte ich auch seinerzeit die Aufforderung zum 
Beitritt ab. 

Im Hinblick auf die erdrückende Mehrzahl der mir bekannten Mediziner ist das 
noch meine Ansicht. Zwischen uns besteht keine Differenz. Jenen Medizinalpolitikern 
gegenüber ist aber die Vereinigung im Interesse der Sache nach meiner heutigen 
Auffassung leider eine dringende Notwendigkeit und ich möchte allen Lehrern den 
Beitritt dringend empfehlen. Die Denkschrift beweist das. Sie ist sehr besonnen 
abgefaßt und bekundet vor allem das Einvernehmen zwischen den hervorragendsten 
Psychiatern und den an solchen Anstalten wirkenden Lehrern und Geistlichen. Sie 
ist darum geeignet, versöhnend zu wirken. Wer über die Streitfrage sich unter- 
richten will, dem empfehlen wir dieses 60 Seiten umfassende Schriftchen angelegentlich. 

Verdienstvoller noch ist eine zweite Schrift: 


Zur Geschichte und Literatur des Idiotenwesens in Deutschland. Von 
J. P.Gerhardts, Oberlehrer an den Alsterdorfer Anstalten bei Hamburg. Selbst- 
verlag, 1904. Zu beziehen durch die Alsterdorfer Anstalten bei Hamburg. 353 8. 
Preis 5 M. 

Daß sich für dieses Buch kein Verleger gefunden, ist ein trauriges Zeichen 
für unseren Buchhandel, bei dem jeder Schmutz sogar seinen sicheren Unterschlupf 
findet. Was leistet dagegen Nordamerika! Ich besitze z. B. ein dreibändiges, 
mindestens sechsmal umfangreicheres Werk über die Geschichte des nordamerika- 
nischen Taubstummenwesens. 

Um so mehr bitten wir unsere Leser, das mit großem Fleiß und warmem Herzen 
geschriebene Werk verbreiten zu helfen. Der Staat hat durch seine besoldeten 
Vertreter der Wissenschaften noch keine Geschichte des Idiotenwesens schreiben 
lassen. Er soll jetzt unter Nichtachtung des historisch Gewordenen einfach dekre- 
tieren, daß das alles, was für diese Unglücklichen bisher geschaffen, nicht der 
»Wissenschaft und der Humanität« entspricht. So mutet man es ihm zu. Und 
diese Rufer nach Verstaatlichung und »Verärztlichung« derselben haben höchstens 
einzelne Karrikaturen pädagogischer und geistlicher Fürsorge gezeichnet. Ein 
schlichter Lehrer, der gleich vielen seiner Kollegen das Bedürfnis nach einem Ein- 
blick in die Geschichte seines Spezialberufes empfand, hat nun mühsam in seinen 


282 C. Literatur. 


Mußestunden die Bausteine aus all den »vergriffenene und vergrabenen Schriften 
zu einer solchen Geschichte, oder richtiger: zu einer Quellensammlung, zusammen- 
getragen. 

Wenn die Pseudomedizin höhnt auf die »christliche Liebe«, die für den Dienst 
an den Ärmsten gefordert wird, so muß es für den Verfasser doch eine wahre Be- 
friedigung gewesen sein, festzustellen, wie geistig hochbegabte Männer Vermögen 
und angesehene Stellung solchem Dienste opfern, wie Männer von Charakter und 
Geist ihre Befriedigung in solchem Berufe fanden, ohne nach Verstaatlichung und 
staatlicher Versorgung zu rufen, obgleich wir selbstverständlich nur wünschen 
können, daß der Staat mehr als bisher sich der Armen am Geiste annehme und diese 
Fürsorge nicht länger fast ausschließlich der privaten Wohlfahrtspflege überlasse. 

Die Lehre von der sogenannten Idiotie ist in den meisten Lehrbüchern der 
Psychiatrie, wie auch von den Psycbiatern selbst zugestanden wird, eine derart 
dürftige und unzulängliche, daß Ärzte, Lehrer und Leiter an Idiotenanstalten wenig 
damit anzufangen wissen. Auch die Literaturangaben sind überall äußerst spärlich, 
so daß auch darin ein Wegweiser fehlt. Auch hier füllt das Gerhardtsche Buch 
eine tatsächliche Lücke aus. Und dadurch, daß Gerhardt die Geschichte mehr 
in Form von Quellensammlung geschrieben hat, wird, ohne daß er es beabsichtigte, 
sein Buch zugleich zu einem Lehrbuch über die Idiotie. Tr. 


Gutberlet, Dr. C., Der Kampf um die Seele. Vorträge über die brennendsten 
Fragen der modernen Psychologie. Bd. II. 2. Aufl. Mainz, Franz Kirchheim. 
1903. 8°. 718 S. Preis ? 


Ament, Dr. W., Fortschritte der Kinderseelenkunde 1895—1903. Leipzig, 
Wilh. Engelmann, 1904, 8°. 180 8. Preis 1,50 M. 

Das Buch Gutberlets ist uns wohl zugegangen wegen des Vortrages über 
die Psychologie des Kindes (S. 634—718). Der Verfasser versucht eine Übersicht 
über die neuere kinderpsychologische Literatur zu geben, allerdings 'nicht mit be- 
sonderem Glück. Wie weit er mit dem Gebiete vertraut ist, mag die Bemerkung 
auf S. 640 zeigen, wonach Mark Baldwin »noch mehr Berühmtheit« erlangt haben 
soll als Preyer. Unsere Zeitschrift, deren Titel unrichtig angegeben wird, scheint 
dem Verfasser kaum zu Gesicht gekommen zu sein. Auch sonst findet sich viel 
Unzuverlässiges, von der Unvollständigkeit ganz abgesehen. 

Wer eines guten kritischen Führers durch die neuere kinderpsychologische 
Literatur bedarf, und das dürfte wohl bei jedem der Fall sein, der diesem Gebiete 
sein Interesse zuwendet, dem sei die mit großer Sorgfalt und Sachkenntnis be- 
arbeitete Schrift von Dr. Ament bestens empfohlen. Wenn ich sage, daß sie in 
keiner Lehrerbibliothek fehlen dürfe, so ist das keine bloße Redensart. Es gibt 
wenig psychologische Schriften, die dem Lehrer so unentbehrlich sind wie diese. 

Durch die Empfehlung der Amentschen Arbeit möchte ich gleichzeitig eine 
Reihe von Anfragen erledigen, die noch neuerdings wieder an mich gerichtet worden 
sind. Ufer. 


Ribot, Th., Psychologie der Gefühle. Aus dem Französischen übersetzt von 
Chr. Ufer. Altenburg, Oskar Bonde, 1903. Preis 10 M. 

Th. Ribot gehört zu den bekanntesten und hervorragendsten Psychologen 
der Gegenwart. Seine Psychologie der Gefühle ist zwar kein Werk, dessen Schwer- 
punkt in der pädagogischen Psychologie zu suchen wäre. Wenn ich es trotzdem 
in die Internationale Pädagogische Bibliothek aufgenommen habe, so ist das ge- 


C. Literatur. 283 


schehen in der Hoffnung, man werde sich in pädagogischen Kreisen endlich einmal 
ebenso ernstlich mit dem Gefühlsleben beschäftigen, wie man sich nun schon so 
lange Zeit mit den intellektuellen Erscheinungen des Seelenlebens beschäftigt hat. 

In seiner Grundanschauung nimmt Ribot einen ganz andern Standpunkt ein 
als Herbart; nach seiner Ansicht ist das Gefühl nicht ein abgeleiteter, sondern 
ursprünglicher Zustand; es wird nicht durch die Wechselwirkungen der Vorstellungen 
erzeugt, sondern geht unmittelbar aus dem Triebleben hervor. Wie der Verfasser 
das im Anschluß an James und Lange wahrscheinlich zu machen sucht, muß in 
dem Werke selbst nachgelesen werden, wo man eine Fülle des interessantesten 
Stoffes finden wird. 

Es gibt, vielleicht mit Ausnahme von Feres Pathologie des émotions, die aber 
nur für Ärzte geschrieben ist, keine Arbeit über das Gefühlsleben, die ein so 
reiches, von den Theorien unabhängiges Material enthielte. Dieses muß das Buch 
auch dem wertvoll machen, der die Grundanschauungen Ribots glaubt ablehnen 
zu müssen. 

Für die Leser unserer Zeitschrift hat das Werk noch ein besonderes Interesse, 
einmal insofern es den Schwerpunkt auf die stufenweise Entwicklung des Gefühls- 
lebens legt, und dann insofern bei der Behandlung der einzelnen Gefühle zum 
Zwecke der Erklärung und Erläuterung auch das Pathologische herangezogen wird. 

Ufer. 


Kroiss, Karl, Zur Methodik des Hörunterrichts. Beiträge zur Psychologie 
der Wortvorstellung. Vorträge, gehalten im Auftrage des bayerischen Kultus- 
ministeriums bei dem Informationskurse für Ohrenärzte und Taubstummenlehrer 
in München. Wiesbaden, Bergmann. Preis 2,40 M. 

Die Frage nach dem Hörenlernen der Taubstummen soll hier unberücksichtigt 
bleiben. Die Wiener Taubstummenanstalt, in der auf Anregung des Universitäts- 
professors Dr. V. Urbantschitsch die ersten Versuche in weiterem Umfange ge- 
macht sind, durch Übung bei Taubstummen das Gehör zu wecken, hat sie aufgegeben. 
Unter der Führung des Universitätsprof. Dr. Bezold und des Taubstummenanstalts- 
direktors Koller sind sie in der Königl. Taubstummenanstalt zu München in mehr 
systematischer Weise wieder aufgenommen. Auf der Versammlung des deutschen 
Taubstummenlehrerbundes in Hamburg fanden die von Süddeutschland kommenden 
Anregungen jedoch nur einen geringen Anklang, und gar mancher Fachmann, der 
nachher der Versammlung von Öhrenärzten und Taubstummenlehrern in München 
beiwobnte und unbefangen die Resultate der Hörübungen von teilweis Tauben und 
von Schwerhörigen dort beobachtete, hat ein keineswegs ermunterndes Urteil gefällt. 
An dieser Stelle brauchen wir das Für und Wider nicht darzulegen: die Leser der 
Kinderfehler werden nicht so töricht sein, im Hinblick auf das, was vielleicht 
erreicht werden könnte, sich von dem Beschreiten des durch Erfahrung als richtig 
erkannten Bildungsgange gehörkranker Kinder abhalten zu lassen, 

Von den in sehr ansprechendem Tone gehaltenen wissenschaftlichen Dar- 
legungen m Kroiss’ Buche sei hier aber einiges besprochen. 

Sowohl beim Sprachunterrichte normaler als anormaler Kinder muß die Methode 
des Sprachunterrichts auf Tatsachen aufgebaut sein, die als Ergebnis bei der Unter- 
suchung der akustischen und mimischen Ausdrucksweise sich ergeben haben. Neben 
den akustischen und motorischen Faktoren sind die Tast-, Muskel- und andere 
Empfindungen sehr wichtig. Die anfäglich rein reflektorisch ausgelösten Bewegungen 
des Kindes verursachen Bewegungsvorstellungen. Die akustischen und die Bewegungs- 
Vorstellungen verbinden sich, wenn keine Hindernisse dazwischen treten, zunächst 


284 C. Literatur. 


unbewußt mit den Objekten. Das vollsinnige Kind beginnt infolgedessen selbst Laute 
hervorzubringen, zunächst rein reflektorisch. Aber das eigene »Krakeln« der Kinder 
erzeugt in ihnen Lustempfindungen, und das, was anfänglich unbewußt geschah, 
wird nach und nach zu einem bewußten Handeln. Fehlen jedoch die akustischen 
Vorstellungen, wie beim Tauben, oder sind sie, wie bei dem Schwerhörigen, zu 
wenig kräftig, oder ist der sensorische Apparat geschwächt, so kann auf dem natür- 
lichen Wege die erforderliche Assoziation nicht erfolgen. Liegen abnorme Muskel- 
zustände vor, so gehorchen die Bewegungsorgane nicht. Hier wie dort bleibt die 
Sprache aus, oder sie bleibt unzureichend, unter Umständen bis zu völliger sen- 
sorischer oder motorischer Aphasie. Bei richtiger Arbeit der Organe schält sich 
dagegen das Kind aus den einwirkenden wirren Klängen zunächst die am häufigsten 
gebrauchten Worte heraus. Je kräftiger die zurückbleibenden Spuren der Wahr- 
nehmungen sind, desto früher verdichten sie sich und die Wortvorstellungen ver- 
schmelzen mit den Objekten. Eine sehr wichtige Rolle spielen hierbei die Ono- 
matopöie als Wurzeln des Sprachverständnisses und des Sprachgebrauches. Ähnlich, 
wie sich beim körperlich normalen Menschen die akustischen Eindrücke mit den 
durch die übrigen Sinne wahrgenommenen Objekten assimilieren, so auch die 
optischen Eindrücke beim Tauben und Schwerhörigen, sei es beim Ablesen der 
Worte von den Sprachwerkzeugen des Sprechenden, sei es beim Lesen der ge- 
schriebenen Schrift. Hier wie dort haftet das Auge bei genügender Übung nicht 
auf den Elementen, auf den einzelnen Sprachzeichen: hier wie dort handelt es sich 
besonders um ganze Wortbilder. 

Wenn die Vertreter des Hörunterrichtes der Tauben in diesem eine Erleichte- 
rung des Gesamtunterrichtes der Gehörkranken erblicken, so möchte von psycho- 
logischem Standpunkte aus betrachtet manches dagegen gesagt werden können. 
Unvollkommen und schwierig bleibt das Absehen der Tauben, auch wenn sich der 
Lehrer bemüht, sie so früh wie möglich zu veranlassen, ganze Wortbilder und Satz- 
bilder aufzunehmen. Das psychische Absehen läßt sie häufig im Stiche. Liegt 
Durchbildeten eine undeutliche Handschrift vor, so müssen selbst diese sich beim 
Lesen oft ernstlich bemühen, in schlecht geschriebenen Wörtern durch Entziffern 
der einzelnen Buchstaben den Wortsinn zu fassen. So ist es auch beim Ab- 
sehen des Tauben und Schwerhörigen von den Sprechwerkzeugen des Sprechenden. 
Hier bereiten aber nicht nur undeutlich gesprochene Buchstaben beim Ablesen 
Schwierigkeiten, sondern naturgemäß entziehen sich auch bei korrektem Sprechen 
manche Sprechbewegungen völlig der optischen Auffassung, da sie durch die davor- 
liegenden Teile der Sprechorgane verdeckt werden. 

Wie sich dem Auge viele Bewegungen der Sprechorgane entziehen, so bleiben 
auch dem Ohre des ungenügend Hörenden viele Sprachelemente unvernehmbar. 
Das physische und psychische Hören ‘muß deshalb zum Verständnisse zu- 
sammentreten. Wird nun akustischer und optischer Unterricht nebeneinander er- 
teilt, tritt also eine Schwierigkeit zu der andern, so darf man sich nicht 
wundern, wenn die Gesamtausbildung darunter leiden sollte, statt durch das Zu- 
sammentreten gefördert zu werden. 

Ich habe mir nicht die Aufgabe gestellt, hier einen genaueren Überblick über 
das oben genannte Werk zu geben. Es möchte fördersamer sein, zum Lesen und 
Studieren eines Buches aufzumuntern, sofern es solches verdient. Das Buch 
von Kroiss verdient, gelesen und studiert zu werden, nicht nur von 
Taubstummenlehrern. 

Emden. O. Danger. 





Druck von Hormann Boyor & Söhne (Boyer & Mann) in Langonsalza. 





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