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Full text of "Die Tat - Monatsschrift 18.1926-27, Band 1"

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BERKELET 

LIBRARY 

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ER Bücherei 2 


Gsasellschaft de Freunde 


dez vaterländischenschul-u.Erziehunggwegens 


Eu QrAmbura 


Digitized by Google 


Die Tat 
Monatsſchrift für die Zukunft 
deutſcher Kultur 


herausgegeben von 


Eugen Diederichs 


18. Jahrgang 1926/27 


Band I. April / September 


Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1926 


LOAN STACK 


aus“ es mieten aus der 
Bücherei d. Jes. d. Freunde d. vaterl. 
Schul- u. Erzienungswesens Hamburg 


Inhalt des achtzehnten Jahrganges I Ill 


Inhalt des achtzehnten Jahrganges 
I. Salbjahrband 


Bluaͤher, Sans, Eine mediziniſche Steeitfchrift -. - - - . - .. . Zeite 231 
Booth, Meyrid, Das England von heute 8 304 
Braun, Felix, Frankreich und Deutfhland - -. - - - > 2 22... = 349 
Braunthal, Alfred, Die Seimvolkshochſchule cin „ 3186 
Buͤbler, Fritz, Die Runftfituation des Films = 486 
Buſſe⸗Wilſon, Eliſabeth, Zur National - Pſychologie des Bolſche · 
wismuiu s * 181 
Delius, Rudolf von, Das Geheimnis Segels „ 448 
Drews, Arthur, Georg Brandes, Sauptſtrömungen der Literatur 
des neunzehnten Jahrhundert᷑t es 5 145 
Ebrentreich, Alfred, Die neue Sachlichkeit in der Schule 5 234 
Ernſt, Paul, Doſtojewſti und wir - - -» » 2 2 220 ne nen N 161 
Everth, Erich, Goethes Lebens ideea 5 150 
„ moderne Charakterforſchun gu jr 23 
Joelkerſahm, Samilkar von, Organiſche RAultu ert 5 140 
Fraenkel, Ernſt, Die Wirtſchaftsſchule des Deutſchen Metallarbeiter · 
verbandes in Bad Duͤrren berg „ 333 
Fraͤnzel, Walter, Geſolei · Eindruͤckke nn „ 163 
Freytag, Aarl Ferdinand, Paul Ernſ tt. 1 III 
Fricke, Fritz, Die Berliner Gewerkſchaftsſchulñlnñle 1 320 
Sußboeller, Leo, Kulturzentren der Groß · State u 129 
„ Seminar für Spredhkunde . - » - 2 2.2. 0. " 482 
Gerloff, meta, Marg. NMaumanns ſchoͤpferiſche handwerkliche Er · 
ebhun sd We 5 492 
Gleis ner, Martin, Elemente des Laienſpiels 3 204 
Graf, Georg Engelbert, Arbeiterbildungskurr eee. " 279 
Grau, G., W. Wilfons Worte.. „ 236 


Grave, Friedrich, Die vierzehn Punkte von der Freiheit des Willens „ S6 
5 An der Schwelle des vierdimenſionalen Jeitalters 5 475 
Gumbel, Sermann, Vom Weſen des nordiſchen Nenſ chen " 195 


1 Bünder des Weges 5 216 
en Valtin, Arbeiter bildung 5 24] 
15 „ Die Funktionaͤrſchule des Arbeiter Bildungs - Inſti⸗ 
tuts in Leipzig u 335 
R „ Üöerſicht Aber die Organifation des Arbeiterbil ⸗ 
dungsweſen-ꝰ”nÖ nenn... 5 336 
Zartmann, Sans, Der Menſchen ſuchende Gott 5 233 
1 „ X Reiſeeindruͤcke aus Frankreich 5 355 
„ Kirche und Volksbildung, Leitſ atze 5 410 


e Otto, Zur Metaphyſit des kuͤnſtleriſchen Tanzes . . . = 237 


5 
2 1 


IV Inhalt des achtzehnten Jahrganges I 


Seller, Sermann, Die Leipziger Volks hochſchulbe inne 
5 Arbeit und Bildung in der Arbeiterbewegung 
Beine: Fritz, Chaotica ac Divine 
Sermberg, P., Die Wirtſchafts ſchule Leipzig o 
Zofmann, Walter, Methodiſche Grundlagen zur Arbeiterbildung 


Soͤrdt, Philipp, Deutſche Schickſ alle 
pr Von der Alaſſe zum Sande 


Bapff; Rudolf, Vom ſchwaͤbiſchen Volkstum und feiner Pflege. 


Bern, Sans, Die Wiederentdeckung der biozentriſchen Romantik 


Klages, Ludwig, Die Bedeutung von C. G. Carus für die Pſycho 


ISS.... er. ir es 
Bloß, Heinz, Sprengelſiedlung und. ‚Zeimarheblung ee 
Le Seur, Eduard, Schloß Elmau und feine kulturelle Bedeutung ; 
Lieblich, Aarl, Über die rechte Befolsfhaft - - - - - > 2... 
Cukscs, Georg, L’art pour l’art und proletariſche Dichtung 


de Man, Sendrik, Arbeiterbildung in der Welt | 


Meß, Friedrich, Serzog Georg in Widersborf -. - - » 2... 
meyer ⸗Benfey, Seinrich, Menſch und Ubermenſ o 2 
Michel, Ernſt, Die Akademie der Arbeit u, 
mödel, Barl, Das heilige Reich der Deutfhben - - - -» 2... 


N ch, Ernſt, Geiſtige Elemente und geiſtige Arbeit der freien Ge · 


werkſc haften 
Yin, Martin, Johann Jakob Bachofen und das Naturſymbol 
Obe nauer, Barl Juftus, Ju RB. Chr. Plancks Teſtament 
„ A. Chr. Plancks Naturphiloſophie 
papeſch, Joſepb, Oſterreichiſche Sentimentalitaͤten 
pee, Julius, Conſcience Sorfbung - gs 
Peters, Richard, Stufen der Jugendbewegung 
Plaßmann, J. O., Voͤlkerbuͤnde im Mittelalteeeeeee % 
Dloum, Seinz, Eine urchriſtliche Gemeinde im . Jahrhundert 
Prellwitz, Gertrud, Paul Muͤbhſau - - - - 22 ne 
Schulz, Seinrich, Phaſen der Arbeiterbildung x 
Schürer, Oskar, Einige Geſichtspunkte zur entwicklung PR In- 
duſtrialism uns 
Seelbach, 3. Grundfragen der Organiſation der Staatlichen Fach- 
ſchulen für Wirtſchaft und Verwaltung 
Sonneborn, Marliſe, Offener Brief an Serrn Corw eg 


Staͤbler, F., Chriſtoph Schrempf l / f1llllll .. | 


Steinhauſen, Georg, Die Ungeiftigfeit der deutſchen Geſellſchaft im 
letzten Menſchenaltttt ua 
Struͤnckmann, Karl, Die „Coueismus - Pſychoſſ e 


1 „ Der neue Reichsbund für Lebens · und Seil ⸗ 


Tal hoff, Albert, Farbe und Daſ ein. er 
e Wilhelm, Der Darwinismus und der deutſ che Geiſt 
Pr „ Bacheſenan2nan 


e Erich, Der Sprachſtreit in Norwegen | 


Inhalt des achtzehnten Jahrganges | 


Trummler, Erich, Worwegiſche Volks hochſchu le 
Wegwig, Paul, Gott · Natur 
7 „ Das Ehebuc hh 

5 „ Friedrich Gundolf, Cäſar, Geſchichte feines Ruhms. 

5 „ Bemerkungen zu Bal za, 

5 „ Dichtung und Dichter der J eit 
Wilhelm, Richard, Spaniſche Eindruͤckke 
Willige, Wilhelm, Deutſche Myſtik und Romantiee 
Winkler, Erich, Bildungs fragen der Sozialdemokratie 
Wohlbold, g., Goethe als Naturforſcher in feiner Bedeutung für 
die Gegenwart 

* „ Ein Weg zur Erforſchung des Lebendigen 


5 


2 2 


V 


IV Inhalt des achtzehnten Jahrganges 


Seller, Sermann, Die Leipziger Volks hochſchul beine 
Mr Arbeit und Bildung in der Arbeiterbewegung 
8 Fritz, Chaotica ac Divine 
Sermberg, P., Die Wirtſchafts ſchule Ceip zig 
Zof mann, Walter, Methodiſche Grundlagen zur Arbeiterbildung 
Soͤrdt, Philipp, Deutſche Schickſ alle 
u Von der Klaſſe zum Stad 22. . 
Bayff; Rudolf, Vom ſchwaͤbiſchen Volkstum und feiner Pflege. 
Bern, Sans, Die Wiederentdeckung der biozentriſchen Romantik. 


Seite 


Blages, Ludwig, Die Bedeutung von C. G. Carus für die pſycho u 


/ 1 
Aloß, Heinz, Sprengelſiedlung und 0 „ 


Ce Seur, Eduard, Schloß Elmau und feine kulturelle Bedeutung. 5 


Cieblich, Karl, Über die rechte Gefolgſchaf t... 
Cukscs, Georg, L'art pour Fort und proletariſche Dichtung 


de Man, Sendrik, Arbeiterbildung in der Welt. f 


Meß, Friedrich, Serzog Georg in Wickersdoerrr rr 
meyer · Benfey, Seinrich, Menſch und Übermenfb ohhh 
michel, Ernſt, Die Akademie der Arbeietetetet 2... ee 
mödel, Karl, Das heilige Reich der Deutfden - - - - 2... 
N ch, Ernſt, Geiſtige Elemente und geiftige Arbeit der freien Ge⸗ 
werkſc haften 
Kind, Martin, Johann Jakob Bachofen und das ne ; 
Obenauer, Karl Juftus, Ju RA. Chr. Plands Teſtament 
„ AJ. Chr. Plancks Naturphiloſophie 
papeſch, Joſepb, Oſterreichiſ che Sentimentalitàͤa ten 
Dee, Julius, Conſcience⸗Forſchunn uus 
Peters, Richard, Stufen der Jugenbbewegung - ggg 
Plaß mann, J. O., Voͤlkerbünde im Mittel alten 3 
Ploum, Seinz, Eine urchriſtliche Gemeinde im XX. Jahrhundert 
Prellwig, Gertrud, Paul Mübfem. - - - - 2 22mm. 
Schulz, Seinrich, Phaſen der Arbeiterbildung S 
Schuͤrer, Oskar, Einige Geſichtspunkte zur Entwicklung des In- 
duſtrialismunnnu sss 
Seelbach, 5., Grundfragen der Organiſation der Staatlichen Fach- 
ſchulen für Wirtſchaft und Verwaltung 
Sonneborn, Marlife, Offener Brief an Seren Cor weg 


Staͤbler, F., Chriſtoph Schrempf l / fl. | 


Steinhauſen, Georg, Die Ungeiſtigkeit der deutſchen Geſellſchaft im 

letzten Menſchenaltt nu 

Struͤnckmann, Karl, Die „Coueismus · Pſpchoſ e 

5 „ Der neue Reichsbund für Lebens · und Seil⸗ 

, a ee ei Br 

Talhoff, Albert, Farbe und Daſe˙in . Er 
zen Wilhelm, Der Darwinismus und der deutſche Geiſt 

* J. J. Bachefenngn. 


. Erich, Der Sprachſtreit in Norwegen. | 


329 


Inhalt des achtzehnten Jahrganges! V 


Trummler, Erich, Norwegiſche Volks hochſchule Seite 397 

Wegwitz, Paul, Gott Natuer 0 nennen. 7 68 

5 „ Das Ehebunc̃ hh 1 143 

5 „ Friedrich Gundolf, Caͤſar, Geſchichte ſeines Ruhms. 1 146 

2 „ Bemerkungen zu Balzaõ.;ſ qa + 392 

* „ Dichtung und Dichter der J eit * 480 

Wilhelm, Richard, Spaniſche Eindruͤ cke 1 337 

Willige, Wilhelm, Deutſche Myſtik und Romantik 1 405 

Winkler, Erich, Bildungsfragen der Sozialdemokratie . . . - . -» 1 264 
Wobhlbold, 5., Goethe als Naturforſcher in ſeiner Bedeutung für 

die Gegenwart 8 17 


= „ Ein Weg zur Erforſchung des Lebendigen 1 85 


ir 


: 8 * 
. 

22202 

® * 8 11 . . 


ie ſa 


Monatsſchri 


für die Zufunft 
deut ſcher Rultur 


18. Jahrgang Heft 1 April 1926 
—᷑ͤ(᷑᷑.':ñ᷑᷑᷑!!.;Z̃ mç—üBp ͤ᷑—....... ͤwœ!—T—T ᷑w—ññ ᷑ ? :::.: b]!ln——ʃ ͤ ͤ——— 


Wilhelm Troll / Der Darwinismus 
und der deutſche Geiſt 


In memoriam R. Ch. Planck 
Darwin neben Goethe ſetzen 
beißt: die Majeſtät verlegen — 
me estatem genii! Wietzſche 
„Iſt auch ſchon ihre Erfahrungsweiſe ganz 
reſpektabel, fo konnen fie beim Uberdenken 
ſich von mechaniſchen und atomiſtiſchen 
Vorſtellungen nicht los machen, und werden 
ſie eine Idee gewahr, ſo wollen ſie ſolche 
zur Sintertuͤr hereinbringen, welches ein 
fuͤr allemal nicht geht.“ 
Goethe über unſere weſtlichen Nachbarn 


Die Tragödie des deutſchen Geiſtes 


eit alters ſtehen ſich zwei fundamental verſchiedene Naturan⸗; 
Stier gegenüber, die aͤußerlich ⸗mechaniſtiſche und die inner⸗ 

lich⸗ ideelle. Die erſtere iſt vor allem dem Denken der weſtvoͤlker 
eigentůmlich. Ihren glaͤnzendſten Serold fand fie in Bacon von Verulam, 
der in ſeinem Novum Organum den Grund zu einer rein empiriſtiſchen 
Auffaſſung der Natur legte. Von nun an ſollte nur mehr als wirklich und 
wahr gelten, was den Sinnen zugänglich iſt und Objekt der ſinnlichen Er⸗ 
fahrung werden kann. Nur mehr der aͤußeren Erſcheinung ſollte Realität 
zukommen; was vergangene Zeiten hinter ihr ſuchten als ihr Weſen und 
als tragende Idee, wurde als Zutat des Subjektes aus dem Bereiche des 
Weltbildes verwieſen. In ungehemmter Entfaltung verbreitete ſich dieſe 
aͤußerlich · empiriſtiſche Weltanficht zunaͤchſt uͤber Weſte uropa und eroberte 
ih das Denken der Weſtvoͤlker um fo vollſtaͤndiger, je mehr es ſich im Laufe 
Tat xv 1 


2 Wilhelm Troll 


von drei Jahrhunderten entleerte und entgeiſtigte, bis fie im I8. und 19. 
Jahrhundert in flachen Materialismus ausartete. 

Umgekehrt: genau im Widerſtreben gegen die empiriſche Außerlichkeit 
und die Sinnenfaͤlligkeit beſteht der Zauber der deutſchen, der innerlich⸗ 
ideellen Denkweiſe. was das deutſche Denken und Vorſtellen von dem 
weſtlichen hauptſaͤchlich unterſcheidet, das iſt: daß es „tief“ iſt, daß es zu 
den „Muͤttern “ hinabſteigt. Es ſucht nach dem „Orgelpunkt“. 

Die deutſche Naturanſchauung, innerlich ideell wie die platoniſche und 
ihr zutiefſt verwandt, erkennt der Natur nicht bloß toten Mechanismus, 
ſondern auch Geiſt und Leben zu, eine Entwicklung aus irrationalen 
Tiefen, eine produktive, ſchoͤpferiſche Kraft. Sie verlegt das Schwerge⸗ 
wicht in das Innere und betrachtet das Außere, die Erſcheinung, als 
„ſymboliſche Vermummung, wohinter ein hoͤheres geiftiges Leben ſich 
verbirgt” (Goethe). Die Erſcheinung iſt Ausdruck und Geſtaltung eines 
Geiſtigen, von ſchaffenden Ideen. 

Dieſer Naturanſchauung haben die größten Beifter des Deutſchtums 
gehuldigt und ſie waren ſich bewußt, hierin ein hohes Erbe zu wahren, 
namentlich gegenüber dem drohenden Einbruch des flachen weſtlichen Den- 
kens. Goethe ſah es genau, wenn er meinte, daß es in der neueren Zeit 
„unſeren weſtlichen Nachbarn niemals zum Schaden gedieh, wenn fie von 
deutſchem Forſchen und Beſtreben einige Kenntnis nahmen! . In Goethes 
Geſtalt iſt uͤberhaupt all das Beſte deutſchen Weſens und deutſcher Natur⸗ 
anſchauung wie in einer letzten glänzenden Verkoͤrperung zuſammen⸗ 
gefaßt. Aber in ſein Alter reichen bereits dunkle Schatten herein wie von 
kommender Nacht, die denn auch, laͤngſt an den Grenzen lauernd, über den 
deutſchen Geiſt herein brach. 

Die Entwicklung des deutſchen Geiſteslebens ſeit dem Seimgange Goe⸗ 
thes iſt dadurch gekennzeichnet, daß das weſtliche Denken den Sieg uͤber das 
urfprünglich deutſche davontrug und es vergewaltigte. Der deutſche Geiſt 
wurde zuruͤckgedraͤngt, ſo daß er von nun ab in Bettlersgeſtalt wie weiland 
GOdyſſeus an der Schwelle des eigenen Sauſes darben mußte. Das iſt eine 
Schmach, der gegenuber alle politiſche Demuͤtigung verblaßt, und doch: 
von wie wenigen wurde fie gefeben! Deren klagende Stimme aber ver⸗ 
klang in eiſiger Einſamkeit. Damals ſchrieb Nietzſche: „Die Deutſchen — 
man hieß ſie einſt das Volk der Denker: denken ſie heute uͤberhaupt noch? 
Die Deutſchen langweilen ſich jetzt am Geiſte, die Deutſchen mißtrauen jetzt 
dem Geiſte .. Deutſchland gilt immer mehr als Europas Flachland.“ 

In dieſe Eiszeit deutſchen Geiſteslebens faͤllt das Wirken eines Mannes, 
der, ſchon zu Lebzeiten kaum erkannt, faſt gaͤnzlich in Vergeſſenheit geraten 
iſt: des Philoſophen Karl Chriſtian Planck. Es iſt ein bitteres Geſchick, 
welches das Werk dieſes Mannes den Blicken ſeiner Zeit und der Nachwelt 
entzog. Aber war es nicht natürlich, daß ein Künder wahrhaft deutſcher 
Tiefe wie Planck ůberhoͤrt werden mußte in einer Periode, in welcher nach 


Der Darwinismus und der deutſche Geiſt 3 


feinen eigenen Worten „bei dem inneren Abſterben der alten IJdealform die 
traurigſte Ernuͤchterung und Veraͤußerlichung des ganzen Bewußtſeins, 
die tiefſte Erſchlaffung des ſchaffend⸗ idealen Sinnes“ allgemein wurde? 
Das „Teſtament eines Deutſchen“, ſein letztes poſthumes Werk, in dem er 
die Rerngedanken feiner „Philoſophie der Natur und der Menſchheit“ 
noch einmal zuſammenfaßt, iſt heute noch fo gut wie uneroͤffnet “. Und 
dennoch wird es, wenn erſt die Zeit erfuͤllt iſt, dem unverlierbaren Beſitz des 
deutſchen Schrifttums zugerechnet werden; nur „die Ungunſt und Stumpf: 
beit einer am hoͤchſten Berufe deutſchen Geiſtes irre gewordenen Zeit“ 
konnte die Beachtung einer prophetiſchen Stimme verſagen, welche die 
innere Sohlheit des neuen Deutſchland ſchon am Beginne der ſiebziger 
Jahre ausſprach und feinen unvermeidlichen Zuſammenbruch vorausſagte. 

Serder ſchrieb in ſeinen Briefen zur Befoͤrderung der Sumanitaͤt: „Auf 
dieſem demuͤtigen Wege wollen wir bleiben und nicht erwarten, daß man 
uns verſtehe und ehre. Der Nationalruhm iſt ein taͤuſchender Verfuͤhrer. 
Zuerſt lockt er und muntert auf; hat er eine gewiſſe Soͤhe erreicht, ſo um⸗ 
Hammert er den Kopf mit einer ehernen Binde. Der Umſchloſſene ſieht im 
Nebel nichts mehr als fein eigenes Bild, keiner fremden neuen Eindruͤcke 
mehr faͤhig. Bebüte der Simmel uns vor ſolchem Nationalruhm.“ Darin 
iſt das politifche Ideal aller großen univerſellen Deutſchen ausgedruͤckt. 
So ſah es auch Planck; er ſah es aber im Lichte der großen nationalen 
Einigung, welche in die Bluͤte ſeines Schaffens fiel, jedoch nur allzubald 
in engſtirnigen Nationalismus ausartete. „, Deutſchland, Deutſchland uͤber 
alles‘, ich fürchte, das war das Ende der deutſchen Philoſophie — fo nahm 
Nietzſche dieſe Spottgeburt deutſchen Weſens auf und gab die Lofung, 
nach der ſich die feineren Köpfe zu ihm ſtellten: „National zu fein in dem 
Sinne, wie es jetzt von der Öffentlichen Meinung verlangt wird, würde an 
uns geiſtigeren Menſchen, wie mir ſcheint, nicht nur eine Abgeſchmacktheit, 
ſondern eine Unredlichkeit ſein, eine willkuͤrliche Betaͤubung unſres beſſeren 
wiſſens und Gewiſſens.“ Planck aber verkuͤndete ſchon 1878 dieſem Na⸗ 
tionalismus fein unvermeidliches Ende: „Welch blutig trauervolle Srüchte 
feines bloß nationalen Strebens wird dieſes heutige Deutſchland noch ern- 
ten möffen, bis es aus dem Stumpfſinn erwacht, mit dem es ſich heute gegen 
alles tiefere Wort der Wahrheit verſchließt.“ Seine Mahnung verballte 
ungebört ; es fehlte ihr der mächtige Reſonanzboden in der Nation, die um 
das goldene Kalb tanzte, indes ihr Schickſal ſich erfuͤllte. 

Die alten Goͤtzen ſanken in Staub zuſammen, die glänzende Faſſade, die 
ſich der Deutſche nach außen hin gegeben hatte und die ihn über feine innere 
Schmach hinwegtaͤuſchen mußte, iſt zuſammengebrochen. Aus dem Schutt 
und der Aſche aber glimmt hell der unverlierbare Funken des deutſchen 
weſens zu neuem Leben empor, genaͤhrt an der tiefſten Tradition der Ver 
Planck, A. Ch., Teſtament eines Deutſchen. br. M J2.50, Keinen M 16.—. 
Jena 1925, Eugen Diederichs Verlag. 

1 


2 Wilbelm Troll 


von drei Jahrhunderten entleerte und entgeiſtigte, bis fie im I8. und 19. 
Jahrhundert in flachen Materialismus ausartete. 

Umgekehrt: genau im wWiderſtreben gegen die empiriſche Außerlichkeit 
und die Sinnenfaͤlligkeit beſteht der Zauber der deutſchen, der innerlich⸗ 
ideellen Denkweiſe. Was das deutſche Denken und Vorſtellen von dem 
weſtlichen hauptſaͤchlich unterſcheidet, das iſt: daß es „tief iſt, daß es zu 
den „Muͤttern “ hinabſteigt. Es ſucht nach dem „Orgelpunkt“. 

Die deutſche Naturanſchauung, innerlich ⸗ ideell wie die platoniſche und 
ihr zutiefſt verwandt, erkennt der Natur nicht bloß toten Mechanismus, 
ſondern auch Geiſt und Zeben zu, eine Entwicklung aus irrationalen 
Tiefen, eine produktive, ſchoͤpferiſche Kraft. Sie verlegt das Schwerge⸗ 
wicht in das Innere und betrachtet das Außere, die Erſcheinung, als 
„ſymboliſche Vermummung, wohinter ein hoͤheres geiſtiges Zeben ſich 
verbirgt” (Goethe). Die Erſcheinung iſt Ausdruck und Geſtaltung eines 
Geiſtigen, von ſchaffenden Ideen. 

Dieſer Naturanſchauung haben die groͤßten Geiſter des Deutſchtums 
gehuldigt und ſie waren ſich bewußt, hierin ein hohes Erbe zu wahren, 
namentlich gegenuͤber dem drohenden Einbruch des flachen weſtlichen Den- 
kens. Goethe ſah es genau, wenn er meinte, daß es in der neueren Zeit 
„unſeren weſtlichen Nachbarn niemals zum Schaden gedieh, wenn fie von 
deutſchem Forſchen und Beſtreben einige Kenntnis nahmen“. In Goethes 
Geſtalt iſt uberhaupt all das Beſte deutſchen Weſens und deutſcher Natur⸗ 
anſchauung wie in einer letzten glänzenden Verkoͤrperung zuſammen ⸗ 
gefaßt. Aber in ſein Alter reichen bereits dunkle Schatten herein wie von 
kommender Nacht, die denn auch, laͤngſt an den Grenzen lauernd, über den 
deutſchen Geiſt hereinbrach. 

Die Entwicklung des deutſchen Geiſteslebens ſeit dem Seimgange Goe⸗ 
thes iſt dadurch gekennzeichnet, daß das weſtliche Denken den Sieg über das 
urſpruͤnglich deutſche davontrug und es vergewaltigte. Der deutſche Geiſt 
wurde zuruͤckgedraͤngt, ſo daß er von nun ab in Bettlersgeſtalt wie weiland 
Odyſſeus an der Schwelle des eigenen Sauſes darben mußte. Das iſt eine 
Schmach, der gegenuber alle politiſche Demätigung verblaßt, und doch: 
von wie wenigen wurde fie gefeben! Deren Hagende Stimme aber ver⸗ 
klang in eiſiger Einſamkeit. Damals ſchrieb Nietzſche: „Die Deutſchen — 
man hieß fie einſt das Volk der Denker: denken fie heute überhaupt noch? 
Die Deutſchen langweilen ſich jetzt am Geiſte, die Deutſchen mißtrauen jetzt 
dem Geiſte .. Deutſchland gilt immer als ᷑uropas Flachland.“ 

In dieſe Eiszeit deutſchen Geiſtesleben e M dos Wirken eines Mannes, 


der, ſchon zu Lebzeiten kaum erkannt, Tenbeit geraten 
it: des Philoſopben Karl Chriſti⸗ s Geſchick, 
welches das Werk dieſes Mannes d Nachwelt 
entzog. Aber war es nicht t deutſcher 
Tiefe wie Planck ůͤber bor „elcher nach 


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Der Darwinismus und der deutſche Beift 3 


feinen eigenen Worten „bei dem inneren Abſterben der alten Jdealform die 
traurigſte Ernuͤchterung und Veraͤußerlichung des ganzen Bewußtſeins, 
die tiefſte Erſchlaffung des ſchaffend · idealen Sinnes! allgemein wurde? 
Das „Teſtament eines Deutſchen“, fein letztes poſthumes Werk, in dem er 
die Rerngedanken feiner „Philoſophie der Natur und der Menſchheit“ 
noch einmal zuſammenfaßt, iſt heute noch fo gut wie uneröffnet*. Und 
dennoch wird es, wenn erſt die Zeit erfuͤllt iſt, dem unverlierbaren Beſitz des 
deutſchen Schrifttums zugerechnet werden; nur „die Ungunſt und Stumpf: 
beit einer am hoͤchſten Berufe deutſchen Geiſtes irre gewordenen Zeit“ 
fonnte die Beachtung einer prophetiſchen Stimme verſagen, welche die 
innere Sohlheit des neuen Deutſchland ſchon am Beginne der ſiebziger 
Jahre ausſprach und ſeinen unvermeidlichen Zuſammenbruch vorausſagte. 

Serder ſchrieb in ſeinen Briefen zur Befoͤrderung der Sumanitaͤt: „Auf 
dieſem demuͤtigen Wege wollen wir bleiben und nicht erwarten, daß man 
uns verſtehe und ehre. Der Nationalruhm iſt ein taͤuſchender Verfuͤhrer. 
Zuerſt lockt er und muntert auf; hat er eine gewiſſe Soͤhe erreicht, fo um⸗ 
Hammert er den Kopf mit einer ehernen Binde. Der Umſchloſſene ſieht im 
Nebel nichts mehr als fein eigenes Bild, keiner fremden neuen Eindruͤcke 
mehr faͤhig. Bebüte der Simmel uns vor ſolchem Nationalruhm.“ Darin 
iſt das politiſche Ideal aller großen univerſellen Deutſchen ausgedruckt. 
So ſah es auch Planck; er ſah es aber im Lichte der großen nationalen 
Einigung, welche in die Blüte feines Schaffens fiel, jedoch nur allzubald 
in engſtirnigen Nationalismus ausartete. „‚Deutfchland, Deutſchland über 
alles‘, ich fürchte, das war das Ende der deutſchen Philoſophie — fo nahm 
Nietzſche dieſe Spottgeburt deutſchen Weſens auf und gab die Lofung, 
nach der ſich die feineren Köpfe zu ihm ſtellten: „National zu fein in dem 
Sinne, wie es jetzt von der oͤffentlichen Meinung verlangt wird, wuͤrde an 
uns geiſtigeren Menſchen, wie mir ſcheint, nicht nur eine Abgeſchmacktheit, 
ſondern eine Unredlichkeit ſein, eine willkuͤrliche Betaͤubung unſres beſſeren 
wiſſens und Gewiſſens. Planck aber verkuͤndete ſchon 1878 dieſem Na⸗ 
tionalismus fein unvermeidliches Ende: „Welch blutig trauervolle Srüchte 
feines bloß nationalen Strebens wird dieſes heutige Deutſchland noch ern; 
ten muͤſſen, bis es aus dem Stumpfſinn erwacht, mit dem es ſich heute gegen 
alles tiefere Wort der Wahrheit verſchließt. Seine Mahnung verhallte 
ungehoͤrt; es fehlte ihr der maͤchtige Reſonanzboden in der Nation, die um 
das goldene Kalb tanzte, indes ihr Schickſal ſich erfuͤllte. 

Die alten Goͤtzen ſanken in Staub zuſammen, die glänzende Faſſade, die 
ſich der Deutſche nach außen hin gegeben hatte und die ihn uͤber ſeine innere 
Schmach hinwegtaͤuſchen mußte, iſt zuſammengebrochen. Aus dem Schutt 
und der Aſche aber glimmt hell der unverlierbare Funken des deutſchen 
Weſens zu neuem Leben empor, genaͤhrt an der tiefſten Tradition der Ver⸗ 
Planck, RB. Ch., Teſtament eines Deutſchen. br. M 12.50, Keinen M 16.—. 
Jena 1925, Eugen Diederichs Verlag. 

1 


4 Wilhelm Troll 


gangenheit. Der deutſche Geiſt iſt daran, ſich ſelbſt wiederzufinden und einer 
neuen Zukunft entgegenzugehen. In dieſer deutſchen Renaiſſance aber, in 
der wir trotz des gegenteiligen äußeren Anſcheines ſtehen, darf Planck nicht 
vergeſſen bleiben. Er, der wie wenige um den Kern deutſchen Weſens in 
Leben und Lehre wußte, kann mit den Gipfeln deutſcher Vergangenheit 
den Suchenden und Ringenden voranleuchten in die werdende Jukunft. 


K. Ch. Planck und der Darwinismus 


K.. Chriſtian Planck wurde geboren am 17. Januar 1819 in Stuttgart, 
er iſt geſtorben am 7. Juni 1880 in Maulbronn. In dieſen zeitlichen 
Rahmen iſt fein Daſein eingeſpannt, das unſcheinbar verlief und voll der 
herbſten Entſagung war. Mehr iſt hier über feinen aͤußeren Lebenslauf 
nicht zu berichten. Seine Studien nahmen den in feinem Seimatlande 
uͤblichen Verlauf. Nachdem er die mittlere Schule abſolviert hat, finden 
wir ihn in Tuͤbingen dem Studium der Theologie und Philoſophie ergeben. 
Dort gebörte Reiff, der Schüler Fichtes, zu feinen Cehrern. 

Vielleicht bezeichnet dieſe Tatſache den bedeutſamſten Punkt in ſeinem 
geiſtigen Daſein. Don hier aus empfing er die wichtigſten Impulſe feines 
Schaffens, das darauf hinzielte, die idealiſtiſche Einſeitigkeit des logo⸗ 
zentriſchen Syſtems des alten Fichte zu überwinden. Planck fand vielmehr 
den Anſchluß an das objektive Weltbild Goethes, und zwar geſchah dies im 
Gefolge einer umfaſſenden Auseinanderſetzung mit der Naturwiſſenſchaft 
feiner Zeit, deren Erkenntniſſe er in ihrer ganzen Breite ſich aneignete, 
ohne aber ihrer empiriſtiſchen Außerlichkeit zu verfallen. Dem Materialis⸗ 
mus einerſeits, dem ſubjektiven Idealismus Fichtes und feines ehemaligen 
Zehrers Reiff und dem abſoluten Idealismus Segels und feiner Anhänger 
anderſeits — beiden ſetzte er den „wahren Realismus entgegen, wie er ihn 
zur Grundlage zahlreicher Schriften gemacht hat. Mit ſouveraͤner Beftalter- 
kraft ergriff er die ihm von der Wiſſenſchaft dargebotene Tatſachenfuͤlle, um 
ſie im Geiſte deutſcher Naturanſchauung auszudeuten. Der deutſche Geiſt 
ſaß ihm zu tief, als daß er irgendwo haͤtte aufhoͤren koͤnnen deutſch zu emp⸗ 
finden und zu denken. 

Ihren konzentrierteſten und reinſten Ausdruck hat Plands Naturan ; 
ſchauung in ſeiner Schrift gegen den Darwinismus gefunden. Sie ſei des⸗ 
halb den folgenden Ausfuͤhrungen zugrunde gelegt, die dazu beſtimmt 
ſind, den Namen unſeres Denkers der Vergeſſenheit zu entreißen und ſein 
naturphiloſophiſches werk einer ſpaͤten Auswirkung zuzuführen. Keine 
ſeiner Schriften duͤrfte ſich ſo dazu eignen wie die von der Wahrheit und 
Flachheit des Darwinismus, „ein Denkſtein zur Geſchichte heutiger deut- 
ſcher Wiſſenſchaft“, wie die Zeit keinen zweiten aufzuweiſen hat. 

will man den Darwinismus recht verſtehen, fo muß man zuruͤckgehen 
bis auf Kant, in dem das wiſſenſchaftliche Streben der Neuzeit zum erſten 
Male feiner ſelbſt bewußt wurde, zugleich aber eine bedenklich ein ſeitige 


Der Darwinismus und der deutſche Beift 5 


Richtung annahm. Nach Kant kann als wiſſenſchaft nur die Bemeiſterung 
der in der ſinnlichen Erfahrung gegebenen Tatſachen durch allgemeine Be; 
griffe und Geſetze gelten; was nicht ſinnlich gegeben iſt, kann nicht Gegen · 
ſtand der Wiſſenſchaft fein, fo ſehr Rant feine Realitaͤt anerkennt. Er 
ſpricht von dem „uͤberſinnlichen Subſtrat der Natur“, betont aber gleich ; 
zeitig, daß wir davon nichts „bejahend beſtimmen konnen“. Wiſſenſchaft 
iſt gleichbedeutend mit Erfahrungswiſſenſchaft, die in der mathematiſch⸗ 
exakten Theorie der Naturforſchung gipfelt. Ohne den Mechanismus der 
Natur kann es nach Kant keine Naturwiſſenſchaft geben; die Natur er⸗ 
Mären heißt, fie mechaniſch erklaͤren. Die ſtrenge Scheidung Kants zwiſchen 
dem überfinnlichen Subſtrat der Natur und den Erſcheinungen, in denen 
es ſich darbietet, ſollte für die Zukunft ſehr verhaͤngnis voll werden, indem 
fie Veranlaſſung zu einer Kantſcholaſtik gab, die dem Meiſter ſelbſt fremd 
war. Man uͤberſah ſehr bald „das uͤberſinnliche Subſtrat der Natur“ voll ⸗ 
ſtaͤndig und behielt allein die Materie in Saͤnden. 

Der Kantiſche Wiſſenſchaftsbegriff aber wurde zunehmend der Begriff 
von Wiſſenſchaft uberhaupt und inſonderheit die Naturwiſſenſchaft 
uͤbernahm ihn reſtlos. Selbſt auf dem Gebiete der Biologie, auf dem Kant 
über eine hoͤchſt merkwürdig anmutende Zwitterſtellung nicht hinauskam, 
wurde er maßgebend und der Darwinismus iſt nichts anderes als eine der 
letzten Auszweigungen des Mechanismus in der Naturforſchung. Wir 
muͤſſen in ihm den grandioſen Verſuch ſehen, auch für den Urſprung 
und die Ausbildung des organiſchen Daſeins die ausnahmsloſe Geltung 
der mechaniſchen Naturgeſetze zur Erkenntnis zu bringen, das heißt nach 
Kant ſo viel, wie die Entwicklung des Organiſchen zu erklaͤren. Und eben 
darauf beruht fein ungeheurer Erfolg. Er ſchien in zwangloſer Weife, ja 
geradezu mit ſpielender Zeichtigkeit, das undurchdringliche Dunkel, das 
bisher über dem organiſchen Entwicklungsprozeß lag, aufzubellen. 

Bei der wiſſenſchaftlichen Betrachtung lebender Körper drängte ſich von 
jeher unabweislich die Überzeugung auf, daß der Mechanismus der Natur 
zur Erklaͤrung derſelben nicht ausreiche. Selbſt Kant ſagt, es ſei „ganz 
gewiß, daß wir die organifierten Weſen und deren innere Moͤglichkeit nach 
bloß mechaniſchen Prinzipien der Natur nicht einmal zureichend kennen 
lernen, viel weniger uns erklaͤren koͤnnen, und zwar ſo gewiß, daß man 
dreiſt ſagen kann, es iſt fuͤr Menſchen ungereimt, auch nur einen ſolchen 
Anſchlag zu faſſen, oder zu hoffen, daß noch etwa dereinſt ein Newton auf: 
ſtehen koͤnne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Natur⸗ 
geſetzen, die keine Abſicht geordnet hat, begreiflich machen werde; ſondern 
man muß dieſe Einſicht dem Menſchen ſchlechterdings abſprechen “. Die 
organiſchen Produkte der Natur Fönnen nicht als nach bloß mechaniſchen 
Geſetzen moͤglich beurteilt werden. Vielmehr iſt man gezwungen anzuer⸗ 
kennen, daß hier eine Geſtaltung vorliegt, die aus einer Idee kommt; die 
Beurteilung der organiſchen Körper führt alſo unmittelbar an das „über: 


6 | Wilbelm Troll 


ſinnliche Subfirat” der Natur heran, zu ihrer Erklaͤrung reicht die „reale“ 
Urſachenverknuͤpfung nicht mehr aus, es treten „ideale Urſachen in den 
Bereich der Erfahrung. Dieſe aber kann die mechaniſtiſche Naturwiſſen⸗ 
ſchaft nicht brauchen, ſie muß verſuchen dieſelben auszuſchalten und eine 
mechaniſche Erklaͤrung des Zebensgeſchehens zu geben, das heißt eine 
Erklaͤrung nach „realen Urſachen“. Auch das Zebensgeſchehen läuft, fo 
lautet die Forderung, nach den bloßen, auch in der anorganiſchen Materie 
wirkſamen Geſetzen ab, es ſieht nur ſo aus, „als ob“ in ihm ideelle Fakto⸗ 
ren wirkſam waͤren; in Wahrheit ſind ſolche nicht vorhanden und wir 
unterliegen einer Taͤuſchung, wenn wir glauben auf ſie ſchließen zu koͤnnen. 
Die exakte Analyſe findet davon nichts. 

Dem Darwinismus ſchien es gelungen zu ſein, eine mechaniſche Er⸗ 
klaͤrung des Lebens und feiner Entwicklung zu geben. Darwins Selek⸗ 
tionstheorie, das heißt die Theorie von der natuͤrlichen ZJuchtwahl, geht 
von dem Gedanken aus, daß alle lebenden Geſtalten zweckmaͤßig ſind, und 
daß die Entwicklungsgeſchichte der Organismen ein einziger Fortſchritt 
von minder zweckmaͤßig gebauten zu vollkommeneren Formen ſei. Dieſer 
Fortſchritt erklaͤrt ſich nach der Selektionstheorie aus vier entſcheidenden 
punkten. Der erſte iſt die ſog. Variabilitaͤt der Organismen, das heißt die 
Erſcheinung, daß die Nachkommen eines Elternpaares ſich nicht gegen; 
ſeitig bis in die Einzelheiten gleichen, ſondern in beſtimmten Merkmalen 
ſich voneinander unterſcheiden. Unter dieſen Abweichungen ſollen ſich 
ſolche befinden, die der Erhaltung des Individuums foͤrderlich, die alſo 
nuͤtzlich und zweckmaͤßig ſind, und ſolche, die ihm nachteilig ſind. Die 
Variationsmerkmale werden auf die Nachkommen vererbt; es macht ſich 
eine Uberproduktion von Individuen geltend, die ſich gegenſeitig Raum 
und Nahrung ſtreitig machen, was den vielgenannten Kampf ums Daſein 
zur Folge hat, in dem ſich Träger zweckmaͤßiger Merkmale erhalten, wäb- 
rend die Traͤger ſchaͤdlicher Merkmale ausgemerzt werden, von jenen wegen 
des Beſitzes zweckmaͤßigerer Bildungen bei Nahrungserwerb und Sort- 
pflanzung uͤbervorteilt. Ihre Vererbung und neue Variationen ſollen 
dafuͤr ſorgen, daß ſich dieſe zweckmaͤßigen Strukturen erhalten und im 
Laufe der Zeit noch ſteigern, und fo ſollte fie die ganze Entwicklungs⸗ 
geſchichte der Organismen, das ſukzeſſive Auftreten der verſchiedenen Tier; 
und pflanzengeſchlechter und zuletzt des Menſchen erklaͤren. 

Man ſieht: innere oder ideelle Faktoren ſind bei der darwiniſtiſchen Er⸗ 
klaͤrung der organiſchen Entwicklungsgeſchichte vollſtaͤndig ausgeſchaltet. 
Die Formen der Lebewefen verdanken ihr Daſein dem mechaniſchen Walten 
naturgeſetzlichen Geſchehens. Der Darwinismus braucht keine inneren oder 
ideellen Faktoren und bleibt ganz im Rahmen der mechaniſtiſchen Natur; 
erklaͤrung. Alles iſt von außen erklärt durch die „natürliche Zuchtwahl“. 
Seute freilich lernt man allgemein einſehen, daß es ſich dabei um eine ſehr 
„ kuͤnſtliche ( Zuchtwahl gehandelt hat, daß der Darwinismus nicht entfernt 


Der Darwinismus und der deutſche Beift 7 


imftande iſt das Auftreten auch nur der Sauptſtufen des Tier- und Pflan⸗ 
zenreiches verſtaͤndlich zu machen. Auf die naturwiſſenſchaftliche Kritik des 
Darwinismus, die mit Naegelis mechaniſch⸗phyſtologiſcher Theorie der 
Abſtammungelehre einſetzte, koͤnnen wir hier nicht eingehen. Wichtig iſt 
uns, daß mehr als ein Jahrzehnt vor dem Erſcheinen der erſten fachwiſſen⸗ 
ſchaftlichen Kritik Planck dem Darwinismus mit entſcheidenden Argu⸗ 
menten entgegentrat. 

Sucht der Darwinismus feine wahrheit darin, daß er gegenuber den 
alten dualiſtiſchen Schoͤpfungsanſichten ganz innerhalb der Natur und 
ihrer Geſetze ſteht, daß er in dieſem Sinne eine „moniſtiſche“ Naturan⸗ 
ſchauung vertritt, ſo zeigt Planck, daß eben die wahrhafte Natur ſchon 
eine Tiefe des Gegenſatzes in ſich ſchließt: die Polaritaͤt eines innerlich 
beherrſchenden und geſtaltenden Zentrums und einer ſelbſtaͤndig aͤußer⸗ 
lichen Teilbildung oder Peripherie ⸗ Entwicklung. Die darwiniſtiſche Anſicht 
bringt nur eine Seite der Natur zur Geltung, die andere, tieferliegende, 
aber uͤberſieht oder unterdrädt fie. „Denn indem fie alles auf die von 
außen, von der Peripherie her auf den Organismus einwirkenden Ein⸗ 
fluͤſſe zuruͤckfuͤhrt, und fo auch ſchon den erſten Urſprung des Grganiſchen 
aus einem bloßen Zuſammenwirken von Stoffen der Erdperipherie 
(Erdoberflaͤche) erklaͤren will, fo läßt fie dabei das, was doch erſt das 
Eigentümliche des Grganiſchen iſt, die innerlich bildende und beberr- 
ſchende Macht eines Zentrums, dieſe Abhaͤngigkeit der Teile von der 
inneren Einheit ihres Ganzen, und die Stufenunterſchiede der fortſchrei · 
tenden inneren Konzentrierung, in welcher der Kern der organiſchen 
Fortbildung und Vervollkommnung liegt, noch nicht zu wirklichem Rechte 
kommen und vermag dies alles in wahrheit nicht zu erklaͤren.“ „Nur des 
halb, weil ſchon die ganze uͤbrige Naturanſchauung derzeit von jener 
Grundlage der geſamten Naturentwicklung und dem inneren Gegenſatz 
derſelben nichts weiß und vielmehr uͤberall nur ein ſelbſtaͤndig aͤußerliches 
und mechaniſches Verhaͤltnis der Stoffteile zueinander vorausſetzt, — nur 
deshalb mußte auch auf dem Gebiete des Grganiſchen die darwiniſtiſche 
Anſchauung ſolchen Boden gewinnen. Die Frage nach dem Urſprung und 
Entwicklungsgeſetz des Organiſchen haͤngt immer unzertrennlich zuſammen 
mit der Naturanſchauung im Ganzen.“ 

In dieſen Worten taucht das alte große Thema deutſcher Naturanſchau⸗; 
ung wieder auf und „bier, in der Erklaͤrung der innerlich zentralen Ent · 
wicklung, welche das Weſen des Organiſchen ausmacht, liegt noch die echt 
de ut ſche Aufgabe, während die Geiſtesrichtung engliſcher Wiſſenſchaft 
von jeher und ihrer Natur nach die verſtaͤndig aͤußerliche und von der 
Peripherie herkommende Seite vertreten hat. Und wenn ſchon einmal, 
durch Kant und feine Nachfolger, gegenuͤber einem Summe, Locke uſw., der 
deutſche Geiſt feine Urſpruͤnglichkeit gezeigt und gegenüber der empi- 
riſtiſchen aͤußerlichen Ableitung jener die ſelbſtaͤndig zentrale Natur der 


8 wilhelm Troll 


Denk ⸗- und Bewußtſeins formen zur Geltung gebracht hat, fo wird ein 
Gleiches auch mit dem Darwinismus ſich wiederholen. Saͤtte nicht gerade 
jetzt, im natuͤrlichen Gegenſatz und Ruͤckſchlag zu unſerer idealiſtiſchen Ver⸗ 
gangenheit, auch bei uns Deutſchen das verſtaͤndig Empiriſche ſo einſeitig 
das Übergewicht (fo wie ja auch ſonſt das verſtaͤndig Praktiſche und das 
äußere nationale Daſein, ähnlich wie bei anderen Voͤlkern, bei uns zur 
Sauptſache geworden iſt), — fo haͤtte der Darwinismus ſchon bisher keinen 
fo uͤberwiegenden Einfluß bei uns erlangen koͤnnen.“ Das klaͤgliche Miß⸗ 
verhaͤltnis, in welchem dieſe empiriſtiſche Abhaͤngigkeit unſerer jetzigen 
Wiſſenſchaft zur Groͤße unſerer geiſtigen Tradition ſteht, „mag uns darauf 
hinweiſen, daß auch aus der Tiefe deutſcher Wiſſenſchaft erſt wieder ein 
neuer ſchoͤpferiſcher Quell hervorbrechen und das, was der Darwinismus 
zunaͤchſt nur von der aͤußerlichen Seite angeregt hat, erſt zu ſeiner wahren 
geiſtigen Ergaͤnzung bringen muß“. plancks Widerlegung des Darwinis ; 
mus richtet ſich naturgemäß gegen die beiden Sauptpunkte desſelben, ein- 
mal gegen die darwiniſtiſche Anſicht vom Urſprung des GOrganiſchen über- 
haupt, dann gegen die Erklaͤrung der Entwicklungsgeſchichte der Zebe⸗ 
weſen im Verlaufe der Erdentwicklung einſchließlich der Abſtammung des 
Menſchen. Daran ſchließt ſich eine Kritik der Theorie vom „Rampf ums 
Daſein“. 


Der Urſprung des Organiſchen 

Oba, wie ſchon bemerkt, die darwiniſtiſche Anſicht ſich anfaͤnglich 

noch nicht auf den Urſprung des Organiſchen bezog und Darwin ſelbſt 
von dieſer Grundfrage abgeſehen hat, fo liegt doch darin, daß aller Fort⸗ 
ſchritt in der inneren Ronzentrierung des Organiſchen, die erſte Entſtehung 
eines Nervenlebens, die Ausbildung des Wirbeltiercharakters mit ſeinen 
verſchiedenen Stufen, und endlich die der menſchlichen Organiſation ſelbſt, 
nur aus der fortſchreitenden Anpaſſung und ihrer naturlichen Juchtwahl, 
alſo aus dem Einfluſſe der umgebenden aͤußeren Natur · und Lebensver- 
haͤltniſſe erklaͤrt wird, notwendig auch die Ronſequenz, daß das Organiſche 
ſchon ſeinen erſten Urſprung nur in einem Zuſammenwirken von unorga⸗ 
niſchen Stoffen der Erdoberflaͤche gehabt habe. Denn weiß man in der 
ganzen Fortentwicklung des Organiſchen nichts von einem tieferen Ent⸗ 
widiungsprinzip, als es der Rampf ums Daſein iſt, fo iſt es natuͤrlich, daß 
man ſchon für den erſten Urſprung des Grganiſchen kein derartiges Prinzip 
anerkennt, ſondern in demſelben nur eine kombinierte Wirkung der unorga⸗ 
niſchen Stoffe ſieht. Der Urſprung des Organiſchen aus dem Anorganiſchen 
iſt die konſequente Forderung des Darwinismus. Darnach waͤre das alte 
„Vorurteil“ von der weſentlichen Verſchiedenheit des Organiſchen und des 
Anorganiſchen dadurch ganz beſeitigt, daß man teils der Analogie des Orga⸗ 
niſchen mit den Kriſtallbildungen eine moͤglichſt große Ausdehnung gibt, 
teils ſich auf die Serſtellbarkeit ſog. organiſcher Verbindungen auf nicht 


Der Darwinismus und der deutſche Geiſt 9 


organiſchem Wege beruft. In dieſer einfachen Form ſah die damalige Zeit 
das Problem. Im Grunde hat ſich daran bis heute nichts geaͤndert, wenn 
ſich die Fragen auch vielfach detailliert haben. 

Dem gegenüber betont Planck: „Das Organiſche iſt und bleibt eine 
ganz neue Stufe des inneren Verhaͤltniſſes der Teile zu ihrem 
Ganzen, und darum iſt es, wenn es auch nur dieſelben ſtofflichen 
Elemente enthaͤlt, wie die unorganiſche welt, doch eine Widerſinnigkeit, 
dieſe ganz neue Stufe der Naturentwicklung aus einem bloßen Zuſam⸗ 
menwirken ſolcher Elemente zu erklären, deren Produkt ihrer eigenen 
Natur zufolge immer wieder nur ein totes und aͤußerliches Teildaſein 
bleibt.“ 

Schon Goethe hat in dieſem Sinne den Unterſchied zwiſchen anorgani- 
ſchen und organiſchen Körpern formuliert und in klaſſiſche Worte gefaßt: 
„Das Sauptkennzeichen der Mineralkoͤrper iſt die Gleichguͤltigkeit ihrer 
Teile in Abſicht auf ihr Juſammenſein, ihre Ro ⸗ oder Subordination 
Wie ſehr unterſcheiden ſich dagegen organiſche Weſen, auch nur un voll; 
kommene! Sie verarbeiten zu verſchiedenen beſtimmten Grganen die in 
ſich aufgenommene Nahrung, und zwar, das uͤbrige abſondernd, nur einen 
Teil derſelben. Diefem gewaͤhren fie etwas Vorzůgliches und Eigenes, in- 
dem fie manches mit manchem auf das innigſte vereinen und fo den Glie ; 
dern, zu denen fie ſich hervorbilden, eine das mannigfaltigſte Leben be⸗ 
zeugende Form verleihen, die, wenn fie zerſtoͤrt iſt, aus den Überreften 
nicht wieder hergeſtellt werden kann.“ 

Allen Verſuchen, den Unterſchied des Organiſchen von den unorganiſchen 
Stoffen aus der chemiſch ⸗phyſikaliſchen Natur der Eiweißſtoffe heraus zu 
beſtimmen, ſetzt Planck treffend entgegen: „wohl iſt die eigentuͤmliche chemi · 
ſche Natur der Rohlenſtoff verbindungen die unumgaͤngliche und weſentliche 
Bedingung der organiſchen Prozeſſe, aber ſie iſt eben nur Bedingung. 
Das Leben ſteht über dem chemiſch · phyſikaliſchen Geſchehen, es geht nicht 
in ihm auf, ſondern benutzt es vielmehr, um an ihm in die Erſcheinung zu 
treten“. Planck ſpricht auch einmal von der „bloßen Leibes huͤlle und dem 
„eigentlichen Leibe”, für welchen jene nur die Unterlage abgibt. Und fo iſt 
es ſchon dem erſten Urſprung der organiſchen Formen nach „ein anderes 
hoͤheres Prinzip, eine der unorganiſchen Außerlichkeit und Selbſtaͤndigkeit 
der Stoffteile entgegengeſetzte und auf ihre innere Beherrſchung durch das 
Ganze hingerichtete oder innerlich konzentrierende Macht, welche die indi⸗ 
viduellen Stoffe und deren Kräfte erſt in ihren Dienſt genommen und fie 
zu ſolcher Einheit verbunden hat, obgleich fie eben hierin erſt Lebenskraft 
wurde und innerhalb des einmal vorhandenen Lebens nur gemäß den 
chemiſch⸗phyſikaliſchen Geſetzen ſelbſt wirken kann“. 

So haben auch die mannigfachen Verſuche, welche fo vielfach über die 
Möglichkeit einer Urzeugung aus unorganiſchen Stoffen angeſtellt worden 
find, keine endgültige Entſcheidung bringen koͤnnen; ja fie find ſaͤmtlich in 


10 | Wilhelm Troll 


ihr Gegenteil umgeſchlagen und haben die Autonomie des Lebensgefche- 
hens nur um fo uͤberzeugender dargetan. Man braucht ihre Bedeutung als 
Wege exakter Forſchung nicht zu verkennen; „traurig iſt es nur, wenn 
man, wie jetzt fo vielfach geſchieht, von ſolchen Experimenten die Ent; 
ſcheidung über eine allgemeine Grundfrage des menſchlichen Geiſtes, über 
das Weſen des Lebensgrundes erwartet, und ſich der Unwuͤrdigkeit und 
Klaͤglichkeit, die hierin liegt, nicht bewußt iſt“! 

Welches iſt nun der allgemeine Lebensgrund, aus dem ſich der Urſprung 
des Grganiſchen überhaupt, wie ſchließlich der von Tier und Menſch ber- 
leiten ſoll? „Unmittelbar empiriſcher Art kann er nicht fein. Denn empiriſch 
ſind uns nur die individuellen Stoffe unſerer Erdoberflaͤche gegeben, und 
eben in dieſen iſt vielmehr jene unorganiſche Außerlichkeit und Selbftändig- 
keit der Teile gegeneinander zu Sauſe. Bei der jetzigen Zeitrichtung freilich 
kommt eben das dem Darwinismus zugute, daß ſeine Erklaͤrungsweiſe bloß 
im empiriſch Gegebenen wurzelt. Allein der tiefere wiſſenſchaftliche Sinn 
erkennt vielmehr nur eine traurige Schwaͤche und Gberflaͤchlichkeit darin, 
da am aͤußerlich Empiriſchen feſthalten zu wollen, wo es ſeiner Natur nach 
nicht zureichen kann. Denn die empiriſchen Stoffe ſind nun einmal ihrer 
Natur nach das Reich des einſeitigen Teildaſeins, während das Grganiſche 
vielmehr in der inneren Serrſchaft des Ganzen (oder eines Zentrums) über 
die Teile ſein weſen hat, und je mehr es ſich vollendet, deſto vollſtaͤndiger 
auch dieſe Unterordnung des Teillebens unter die innere Einheit des Gan⸗ 
zen ſich vollzieht.“ 

In dieſen Sägen iſt Plancks ganze Naturphiloſophie im Kern enthalten. 
Er ſieht in der Natur ein großes Prinzip, das ſich ſchon im Bereiche des 
Anorganiſchen ankuͤndigt, um ſich dann in der welt der Organismen ſtufen · 
weiſe reiner und immer reiner auszupraͤgen; es iſt ein „innerlich zentrales 
Entwicklungsgeſetz, ein Entwicklungsſtreben aus dem individualitaͤts· 
loſen Teildaſein der bloßen Materie nach individueller Zentrumsform“. 
Aus ihm heraus begreift Planck ſowohl die unorganiſche Erdentwicklung 
wie die Entſtehung und Fortbildung des Organiſchen als analoge, nicht 
gleichartige, aber gleichgerichtete Erſcheinungen. 

Wir ſtehen in dieſen von hohem Schwung getragenen Gedanken vor dem 
Derfuche einer Naturdeutung, wie fie in ähnlicher Form Goethe vertrat: 
einem Verſuche, den inneren Sinn der Naturerſcheinungen zu verfteben, 
dem der Mechanismus der Natur gleichſam als Werkzeug unterſteht. Die 
exakte Naturwiſſenſchaft kann hier nicht mehr folgen. Jede Deutung geht 
über das bloß empiriſch Gegebene hinaus. Die exakte Wiſſenſchaft jedoch 
muß ihren Praͤmiſſen zufolge im Bereiche der Materie als dem allein finn- 
lich Gegebenen bleiben, deſſen Geſetze fie nach Maß und Zahl verfolgt. Sie 
kann nur Quantität handhaben, für Qualitaͤt und alles, was ins uͤber⸗ 
ſinnliche Subſtrat der Natur weiſt, ift fie blind. Heißt das aber, daß der 
menſchliche Geiſt uberhaupt dafuͤr blind iſt? Und welche Philoſophie iſt es 


Der Darwinismus und der deutſche Beift 11 


denn, welche ihm die Berechtigung abſtreiten koͤnnte, nach dem Sinn des 
Naturgeſchehens, das dem entgeiſtigten Auge des exakten Forſchers als 
blinder Mechanismus erſcheint, zu fragen? 


Die Abſtammung der Örganismen 


Man hat bei der kritiſchen Wuͤrdigung des Darwinismus vielfach nicht 
auseinandergehalten zwiſchen der Abſtammungslehre oder Deſzen ; 
denztheorie, der Entwicklungsgeſchichte der Organismen und der Selek⸗ 
tionstheorie Darwins, das heißt eben jener Lehre von der natürlichen 
Juchtwahl, den treibenden Faktoren der Entwicklung. Gerade dieſe letztere 
aber iſt der weſentliche Teil des Darwinismus, naͤmlich die Erklaͤrung des 
Entwicklungsgeſchehens, das laͤngſt vor Darwin angenommen, durch die⸗ 
ſen und durch die Verquickung mit der Selektionotheorie erſt zur ee 
nen Anerkennung gelangte. 

Auch Plancks Kritik richtet ſich nicht gegen den Entwicklungsgedanken 
oder die Abſtammungelehre, nur über das Wie dieſer Entwicklung gerät 
er mit dem Darwinismus in ſcharfen Gegenſatz. Glaubt dieſer die organiſche 
Entwicklungsgeſchichte auf die magere Schnur einer leeren Formel auf. 
reihen und damit mechaniſieren zu koͤnnen, was dem vertieften Blicke als 
ein von aller Außerlichkeit losgelöfter autonomer Vorgang erſcheint, fo 
verlegt Planck das Schwergewicht der Entwicklung in das „uͤberſinnliche 
Subſtrat“ des Organismus, auf welches die peripheren Einfluͤſſe nur modi⸗ 
fizierend wirken koͤnnen. Er faßt fie auf als eine Folge von geſteigerten 
Akten innerer Konzentrierung, als ein Zosſcheidungsſtreben des Zentrums, 
als Steigerung der Polarität, der polaren Spannung zwiſchen Zentrum 
und Peripherie, zwiſchen innen und außen, die ſich in drei Sauptſtufen voll ⸗ 
zieht: im Urſprung eines Nervenſyſtems, im Urſprung der Wirbeltiere und 
endlich im Urſprung des Menfchen. 

„Es iſt eine Widerſinnigkeit, daß aͤußere Einfluͤſſe das Organiſche auf 
eine andere und hoͤhere Stufe innerer Konzentrierung heben follen, wie 
fie der Urſprung eines Nervenſyſtems zweifellos bedeutet. Denn fo 
mannigfach und weitgehend innerhalb der einmal vorhandenen Stufe 
die quantitative Steigerung und Ausbildung derſelben ſein kann, alſo 
3. B. innerhalb des Nervenſyſtems die Ausbildung beſonderer Sinnes⸗ 
und Bewegungsorgane, fo widerfinnig bleibt der Sprung in eine quali- 
tativ verſchiedene Stufe hinuͤber, wie er bei jener Anſicht vom Urſprung 
des Nervenſyſtems ſtattfaͤnde. Wir werden daher den gleichen Fehler auch 
bei der letzten Sauptfrage, bei dem Urſprunge des Menſchen finden, indem 
auch hier der qualitative Unterſchied, der zwiſchen dem Menſchen und 
Affen beſteht, in einen bloß quantitativen verkehrt wird.“ 

„In wahrheit alſo läßt ſich der Urſprung eines pſychiſchen zentrums 
oder, was dasſelbe heißt, eines Nervenſyſtems, nur ebenſo erklaͤren, wie 
ſchon der des Organifchen überhaupt. Er iſt ein Entwicklungsakt des all⸗ 


J2 Wilhelm Troll 


gemeinen irdiſchen Zentrums, das befeelend in die Erdperipherie und ihre 
Stoffe eingriff. Denn nur im Entwicklungsſtreben dieſes Zentrums, nicht 
aber in der ſchon vorhandenen, beſtimmten und beſchraͤnkten Stufe des 
Grganiſchen ſelbſt, lag die Ronſequenz, die zur immer vollſtaͤndigeren Be- 
herrſchung des leiblichen Peripherielebens durch das Zentrum, alſo zur voll ⸗ 
ſtaͤndigeren inneren Scheidung des letzteren hinging. “ Die Urform jeder 
Stufe verhaͤlt ſich wie die unentwickelten embryonalen Zentraltypen zu 
ihrer ſpaͤteren Abartung und Verzweigung, ihrer allmaͤhlichen peripbe- 
riſchen Fortbildung in den durch den Urtypus feſtgelegten Grenzen, die 
nur ein neuer „ſchoͤpferiſcher Akt“, der aus dem Innern der Natur her⸗ 
vorbricht, uͤberſchreiten kann. 

So allein iſt auch der Urſprung der wirbeltiere zu verſtehen. Mit 
ihnen erſcheint eine neue Form, eine hoͤhere Stufe der inneren Konzentrie- 
rung und Abloͤſung des organiſchen Zentrums von der Peripherie; mit 
ihrem Erſcheinen ereignete ſich ein erneutes Servortreten des ſchoͤpferiſch · 
zentralen Entwicklungsſtrebens des Erdganzen, das von den bisher vor- 
handenen Stufen tieriſcher Entwicklung abbrechend, einen neuen aus den 
äußeren Verhaͤltniſſen feiner Lebensfpbäre nicht zu erklaͤrenden Anſatz 
nahm. 

Das ganze Prinzip der von außen her angeregten Anpaſſung und ihrer 
Zuchtwahl paßt gar nicht hierher. „Der Darwinismus hebt den wahren 
ſchoͤpferiſch originalen Charakter dieſer Entwicklungsſtufen gänzlich auf, 
gerade fo wie ſchon den des Organiſchen überhaupt” und dies „zugunſten 
einer oberflaͤchlichen Formel, welche eben hier keinen Sinn hat und zu den 
Tatſachen paßt wie die Fauſt auf das Auge.“ 

Am deutlichſten und ſchaͤrfſten aber tritt die Unzulaͤnglichkeit und Flach · 
heit des Darwinismus hervor am Unterſchied der menſchlichen geiſtigen 
Bewußtſeins formen und ihrer Grganiſation vor der des Tieres. „Daß der 
Unterſchied von Menſch und Tier nur ein quantitativer ſei, nur in einem 
verſchiedenen Grade von Ausbildung einer und derſelben Grundorganiſa ; 
tion beſtehe, dies iſt der allgemeine Grundſatz, in welchem ſich hier die dar; 
winiſtiſche Anſchauung zuſammenfaßt. Und deshalb will fie auch geſchicht⸗ 
lich nur einen fließenden Unterfchied von Menſch und Affe anerkennen.“ 

In laͤngeren, vielfach ſehr tief ſchuͤrfenden Darlegungen entwickelt 
planck die Un haltbarkeit der darwiniſtiſchen Anſchauungen von der Ent- 
ſtehung des Menſchen. „Das unſinnlich Geiſtige der menſchlichen Selbſt⸗ 
unterſcheidung beruht darin, daß ſie nicht mehr unmittelbar auf das 
Nervenleben bezogen iſt“ und an ihm feinen „ausſchließlichen Inhalt hat, 
ſondern an ſich felbft von diefer Beziehung auf das finnliche Teilleben ge- 
ſchieden und frei iſt, und nur noch mittelbar, durch Beziehung auf die 
Zwiſchenſtufe des ſinnlichen Bewußtſeins, ſich darauf zuruͤckbezieht, wäh- 
rend das Tier, und fo auch der am hoͤchſten organifierte Affe, noch un- 
mittelbar und unfrei in jene Beziehung auf das Nervenleben (und damit 


Der Darwinismus und der deutſche Geiſt 13 


auf das ſinnliche Teilleben) verſenkt bleibt, ganz dadurch beherrſcht iſt und 
eben deshalb auch ohne Möglichkeit, ſich durch irgendwelche Ausbildung 
darüber zu erheben. Und dieſe „unſinnlich geiſtige Selbſtunterſcheidung 
beruht eben darauf, daß im Menſchen erſt jener Grundcharakter des Orga⸗ 
niſchen zu ſeiner letzten Ronſequenz durchgefuͤhrt iſt. Denn hier erſt hat ſich 
die innere Einheit des Ganzen oder das Zentrum von der unmittelbaren 
Beſtimmtheit durch ſein leibliches Teilleben, d. h. von der unmittelbaren 
Beziehung auf das Nervenleben ganz frei gemacht” und „ſteht als geſchie ; 
dene und reine Einheit des Ganzen (oder als reines Zentrum) über dieſer 
unmittelbaren Beziehung auf das Nervenleben “. „Nicht weniger wider⸗ 
finnig als die uͤbrige Vorſtellungsweiſe des Darwinismus erſcheint nun 
nach dem allen auch die Behauptung eines bloß fließenden Überganges aus 
dem Affen zum Menſchen.“ Das Servortreten des Menſchen iſt feiner gan⸗ 
zen Natur nach „nur als ein bei dem erſten Urſprung ſchon zur vollen 
Verwirklichung gekommener Entwicklungsakt zu denken“ und die um⸗ 
bildenden und zuͤchtenden Einfluͤſſe der Umwelt zu feiner Erklaͤrung gel- 
tend zu machen, erſcheint Planck als Gipfel der Flachheit. 

Daß zum Beiſpiel die Sprache „auch in der Natur der Sprachorgane, in 
der Eigentuͤmlichkeit des menſchlichen Rehlkopfs uſw., ihre Vorausſetzung 
hat, verſteht ſich zwar von ſelbſt. Allein dies nun zum urfpränglichen Aus · 
gangspunkt zu machen und in einer derartigen aͤußerlichen Fortbildung den 
erſten Anſatz zum Geiſtigen zu ſuchen, dies iſt wieder die ganz gleiche Ver⸗ 
kehrung, wie die Ableitung des Organiſchen aus einem bloßen Zuſammen ; 
wirken der empiriſchen Stoffe. Was bloß eine Bedingung iſt, wird 
auch hier wieder zum Grunde gemacht“. „Überall liegt dieſelbe 
traurige Verflachung der Unterſchiede in einen bloß quantitativen Brad- 
unterſchied zugrunde.“ 

„In ſchreiendſter Weiſe alſo zeigt ſich auch hier wieder der Grundfehler 
des Darwinismus und zugleich der jetzigen Zeitanſchauung uberhaupt, die 
aͤußerlich mechaniſche Auffaſſung, die alle Eigentuͤmlichkeit und alle Ge⸗ 
ſetze des Organiſchen ſchließlich aus aͤußerlichen Einwirkungen der Stoffe 
oder bedingender aͤußerlicher Cebensverhaͤltniſſe der Organismen ableitet. 
Die darwiniſtiſche Auffaſſung „mag wohl engliſch und ein rechter Aus⸗ 
bund äußerlich empiriſtiſcher und mechaniſcher Auffaſſung fein, allein 
deutſch iſt fie auch mit keiner Ader mehr!. 


Der Kampf ums Daſein 


ie wir ſchon einleitend ſahen, iſt die treibende Kraft des ganzen Ent- 
wicklungsgeſchehens nach darwiniſtiſcher Anſchauung der ſog. 
Rampf ums Daſein. Übervölferung, Konkurrenz, Überleben des Tuͤchtig⸗ 
ſten, während das minder Tuͤchtige ausgemerzt wird: das find die Saupt ; 
faktoren, die der Darwinismus zur Erklaͤrung dieſes Entwicklungsprozeſſes 
einfuͤhrt. Es iſt bezeichnend genug, daß Darwin die beiden Sauptgedanken 


17 Wilhelm Troll 


feiner Theorie, Ubervoͤlkerung und Rampf ums Dafein, den Lehren des 
Nationalòtonomen Malthus entnahm. Darwin übertrug Verhaͤltniſſe, 
wie ſie in dicht bevoͤlkerten engliſchen Induſtriebezirken herrſchen, auf die 
Natur; er hat Malthus mit der Natur verwechſelt. Man koͤnnte kein 
treffenderes Wort ſagen, als es Nietzſche fand: „Um den ganzen engliſchen 
Darwinismus herum haucht etwas wie engliſche Ubervoͤlkerungs · Stick 
luft, wie Kleiner · Ceute ⸗Geruch von Not und Enge.“ | 

Auch Planck wendet ſich in beſonderer Weife gegen dieſes „formelle Prin⸗ 
zip“ des Darwinismus, den Kampf ums Daſein, jenes „vielgehoͤrteſte und 
bis zum Überdruß angewendete Lofungswort”. „Es wiederholt ſich bier 
nur von umgekehrter Seite dieſelbe Widerſinnigkeit, daß aͤußerlich peri⸗ 
pheriſche Cebenseinfluͤſſe eine fo einſeitig innerliche und zentrale Umaͤnde⸗ 
rung hervorgebracht haben ſollen. Der Rampf ums Daſein iſt deshalb 
ganz unzulaͤnglich, „weil gerade die wichtigſten Weiterbildungen, die der 
inneren Zonzentrierung und Geſamtanlage des Grganismus, für den 
Kampf ums Daſein viel weniger in Betracht kommen, daher ja auch jede 
der hier in Betracht kommenden Stufen, die der nervenlo ſen Tiere, die der 
wirbelloſen Nerventiere, wie endlich die verſchiedenen Stufen der Wirbel⸗ 
tiere, neben den andern in einer Menge von Klaſſen und Arten fort⸗ 
dauern, und jede ſich im ganzen ſo gut wie die andern zu erhalten vermag. 
Die wirkung des Kampfes um das Daſein und die hierdurch hervor⸗ 
gebrachte fortſchreitende Anpaſſung iſt daher auch nach dieſer Seite hin 
gerade fuͤr die wichtigſten organiſchen Sortſchritte großenteils nur eine 
Formel und Phraſe.“ 

Ein gaͤnzlich unwuͤrdiger und erniedrigender Anſchlag iſt es, den ur. 
ſprung des Menſchen aus der Wirkung des bloßen Kampfes um das Daſein 
erklaͤren zu wollen. — „Es gehoͤrte die ganze Stumpfheit und einſeitige 
Außerlichkeit jetziger Zeit dazu, damit ein ſolches Prinzip ſolchen Anklang 
finden konnte.“ Aber es paßt „zu der Anſchauungsweiſe einer Zeit, die 
auch rechtlich und nationaloͤkonomiſch noch die bloße freie Konkurrenz 
aller, ihr bloßes ſelbſtiſches Teil ⸗ und Sonderſtreben und in letzter Form 
den ſelbſtiſchen Rampf der Nationalitaͤten gegeneinander zum Prinzip 
der buͤrgerlichen Geſellſchaft macht. Denn dies iſt ja eben der bloße Rampf 
ums Daſein, in welchem jetzt ebenſo ganze Erwerbsklaſſen, Arbeiter und 
Unternehmer u. dgl., wie gewaffnete Nationen ſich gegenuͤberſtehen. Und 
von dieſen Anſchauungsweiſen iſt die eine ſo faul und verwerflich wie 
die andere.” Es fehlt eben dem Darwinismus gaͤnzlich „jenes tiefere, 
allein wuͤrdige und allein wiſſenſchaftliche Bewußtſein, wonach auch die 
Erdoberflaͤche im ganzen nur als der aͤußere Zeib eines innerlich wirk⸗ 
ſamen und in feiner hoͤchſten Entwicklung organifierenden Jentrums zu 
betrachten iſt, welcher daher auch die Grundzuͤge ſeiner aͤußeren Geſtalt 
der . Entwicklung feines Innern verdankt“. 


Der Darwinismus und der deutſche Geiſt 15 


Der Darwinismus und die deutſche wiſſenſchaft 

A Schluſſe ſeines Buches nimmt Planck das Thema der Einleitung 

wieder auf und führt es in einem unſterblichen Kapitel, voll von fernhin 
leuchtenden Sägen, zu Ende, indem er nun auch die beiden größten deut · 
ſchen Denker der Vergangenheit, Goethe und Kant zu Zeugen beruft. Noch 
mehr als im vorausgehenden ſoll hier der Philoſoph ſelbſt ſprechen, da 
= Verarbeitung feiner Worte eine Schmaͤlerung ihrer Kraft bedeuten 
müßte. 

„Es iſt durchaus charakteriſtiſch, daß die Darwinſche Theorie, welche aus- 
ſchlie ßend den empiriſch · aͤußerlichen Faktor, die bloßen Stoffe und Ver⸗ 
haͤltniſſe der Erdoberfläche, zum Beſtimmenden ihrer Geſchichte macht und 
auch die Urſache des Grganiſchen und ſeiner Entwicklung in ihm ſucht, 
engliſchen Urſprunges iſt, „ſowie von jeher, auch in der Geſchichte der 
pbiloſophie, einem Lode, Sume u. a., der engliſche Geiſt die verſtaͤndig 
aͤußerliche und empiriſtiſche Richtung vertreten hat. Unſere deutſche 
wi ſſenſchaft aber, in ihrer derzeit herrſchendſten und am meiſten das Wort 
führenden Richtung, ſteht ſo nach ganz unter engliſchem Einfluß. An 
dieſer Tatſache mag man ermeſſen, wie es auf tieferem geiſtigen Gebiete mit 
unſerer ſonſt ſo geprieſenen und ihrer ſelbſt ſo bewußten deutſchen Gegen⸗ 
wart ſteht. Gerade die Zeit unſerer nationalen und verſtaͤndig praktiſchen 
Erhebung iſt auch die unſerer undeutſcheſten und aͤußerlichſten Wiſſenſchafts⸗ 
form. In ihrer Affentheorie haͤlt ſie ſich eben das Spiegelbild ihrer ver⸗ 
zerrten Außerlichkeit vor. Was ſonſt das fpezififch Deutſche war, was z. B. 
noch Kant und die von ihm ausgehende philoſophiſche Entwicklung 
gegenüber der empiriſtiſchen Außerlichkeit engliſcher Auffaſſung fiegreich 
vertrat, als er das ſelbſtaͤndig Zentrale und innerlich Spontane in den 
Denk und Anſchauungs formen, wie im ſittlichen Bewußtſein, geltend 
machte, kurz alles das, was unſere deutſche Bildungsgeſchichte von jeher 
zum innerlichen Zentrum der Geiſtes entwicklung gemacht bat, gegenüber 
der einſeitigeren, nach irgendeiner beſonderen Seite der Peripherie hin⸗ 
ausgewendeten anderer Voͤlker, — das alles iſt in dieſer jetzigen Rich; 
tung unſerer Wiſſenſchaft verſchwunden und uͤberall, auch fuͤr die Erklaͤ⸗ 
rung des Organiſchen und Geiſtigen, nur das empiriſch Außerliche, die 
bloßen Stoffe und Verhaͤltniſſe der Erdoberflaͤche (oder Peripherie), an die 
Stelle geſetzt. Sowie die Deutſchen derzeit auch in praktiſcher Sinſicht ge⸗ 
worden ſind wie andre Nationen, wie bei ihnen die nationale Einheit und 
Macht und deren militaͤriſche Sicherung die innerlich zentralen und menſch⸗ 
lich univerſellen Aufgaben zuruͤckgedraͤngt hat, ſo hat leider auch auf 
wiſſenſchaftlichem Gebiete verſtaͤndig aͤußerlich engliſche Denkweiſe die 
deutſche uͤberwuchert. Man findet Darwin „groß und erhaben wie die 
Natur ſelbſt“, und man fühlt nicht, wie er in allen Grundfragen, d. h. 
überall, wo es ſich um einen ſelbſtaͤndig neuen zentralen Entwicklungs 
anſatz handelt, und am meiſten bei der Auffaſſung des Menſchen bis zur 


16 wilbelm Troll, Der Darwinismus und der deutſche Geiſt 


Unertraͤglichkeit flach und kleinlich aͤußerlich iſt, aber freilich nicht flacher 
und ſtumpfer als dieſe ganze Naturanſchauung ſelbſt, von der er ein not; 
wendiger Ausfluß iſt, und die, wenn fie konſequent fortwirken konnte, 
allen idealen Kern unſres Volkes ertöten wurde. Doch noch iſt dem deut ⸗ 
ſchen Volke der ideale Sinn nicht erſtorben; gerade in der ſchaͤrfſten und 
nuͤchternſten Realität, in der noch unfreieſten und ſelbſtloſeſten Natur⸗ 
grundlage, erkennt er ſeine eigene Wurzel!“ 

„Vergebens bemüht ſich darum auch der Darwinismus für feine aͤußer⸗ 
lich mechaniſche Erklaͤrung des Organiſchen, und für deſſen nur aus den 
peripheriſchen Einfluͤſſen abgeleitete Fortentwicklung, bei den Vertretern 
unſerer großen Literaturperiode Anhaltspunkte zu fuchen. Wie nichtig 
3. B. find die Folgerungen, die Saeckel aus Goetheſchen Ausſpruͤchen 
nieht! ... Die Wahrheit iſt, daß Goethe wohl ein allgemeines inneres 
Geſetz der Fortentwicklung des Organiſchen bis zum Menſchen hinauf vor ; 
ſchwebte, daß er aber uͤber eine damals noch unvermeidliche Unbeſtimmt ; 
heit in betreff des Weſens dieſes Geſetzes nicht hinauskommen konnte. Am 
wenigſten aber haͤtte er jene widerſinnig aͤußerliche Erklaͤrung vom Ur⸗ 
ſprung des Menſchen, dieſes innerſten Zentrums der Natur, gebilligt.“ 

„Was Goethe vorſchwebte, war vielmehr jenes wahrhafte Entwicklungs; 
geſetz, das aus der noch unentwickelt zentralen Anlage und aus ihrer ge⸗ 
meinſamen Grundform erſt die beſtimmte und ausgepraͤgte Scheidung und 
Sonderung der Seiten und den mannigfachen Reichtum der leiblichen Pe; 
ripherie hervorgehen laͤßt. Und wie weit er von der mechaniſchen Natur; 
auffaſſung, die auch der Darwinismus teilt, entfernt war, das zeigt ja 
nichts deutlicher als feine Licht ⸗ und Farbentheorie, die ihre wahre Be⸗ 
gründung und Verdeutlichung nur aus dem Grundbegriffe der organiſchen 
Naturanſicht erhaͤlt, aus der unmittelbaren innerlich univerſellen Einheit 
und Zuſammenfaſſung der Peripherie und aus der demgemaͤßen innerlich 
offenen und in die Peripherie hinausbezogenen Einheit des Zentrums mit 
ihr. Kurz, die ganze Denk ⸗ und Geiſtesweiſe Goethes, fo ſehr fie realiſtiſch 
iſt und auf volle Natur hindringt, hat ja doch nicht weniger in der Natur 
überall das Ideale, zentral von innen heraus geſtaltende Entwicklungs ; 
ſtreben zum Gegenſtand.“ 

„Nun kennt allerdings die Wiſſenſchaft als ſolche keine Nationalitaͤt; fie 
iſt ein univerſelles Gebiet, in welchem die Geiſtestaͤtigkeit der einzelnen 
Nationen ſich gegenſeitig ergänzen ſoll. Allein nur zu ſehr übt doch der 
einſeitig nationale Geiſt ſeinen Einfluß aus, auch auf die Wiſſenſchaft, vor 
allem gerade da, wo es ſich um die hoͤchſten und letzten Fragen, um den 
Urſprung alles organiſchen und geiſtigen Daſeins handelt. Und in dieſem 
Sinne haben wir bei dem Darwinismus geſehen, wie er im vollſten Maße, 
von Anfang bis zu Ende, jene Einſeitigkeit teilt, welche ſich auch ſonſt in 
der engliſchen Entwicklung zeigt, obgleich feine letzten Konfequenzen, die 
urſpruͤngliche Erklaͤrung des Organiſchen ſelbſt uſw., zuerſt von deutſcher 


S. Woblbold, Goethe als Naturforſcher in feiner Bedeutung f. d. Gegenwart 17 


Seite gezogen worden find. Kein Denkender, der ſich über die Natur 
und Entwicklung deutſcher wiſſenſchaft klar geworden iſt, kann 
darum glauben, daß ſie mit dieſem grellen Gegenſatze gegen 
ihre eigene Natur und Vergangenheit, mit dieſer Außerlichkeit 
engliſcher Anſchauungsweiſe endigen werde. Es iſt dies ebenſo 
widerſinnig, als daß unſere jetzige ſcharf nationale Stellung, durch die wir 
zum Gegenſtand der Eiferſucht für andere Nationen und zum Anlaß ge 
ſteigertſter allgemeiner Bewaffnung geworden find, das Bleibende fein 
und darüber jene hoͤchſte und umfaſſendſte Beſtimmung, auf die eine tau⸗ 
ſendjaͤhrige Geſchichte uns hinweiſt, .. nämlich die zu einem geiſtig er- 
neuenden und menſchlich univerſellen Zentrum des Voͤlkerlebens, daruber 
aufhoͤren Pönnte.” 

„Und die deutſche Wiſſenſchaft, fie, die jetzt dieſe hoͤchſte Aufgabe zu voll ⸗ 
bringen hat, wird auch zuerſt jenen Bann brechen, der jetzt einer ſtarren 
aͤußerlichen Rinde gleich auf dem tieferen idealen Leben des deutſchen Gei⸗ 
ſtes zu liegen ſcheint. Sie wird mit der augenfaͤlligen Nichtigkeit, in welcher 
fie alle empiriſtiſche aͤußerliche Erklaͤrung des organiſchen und geiſtigen 
Lebensgrundes erkennen läßt, auch den Sinn oͤffnen für die wahrhafte 
Natur, fuͤr das innerlich durchſichtige zentrale Entwicklungsgeſetz alles 
Daſeins. Und dies Servorbrechen einer innerlich erneuten, lebendig orga⸗ 
niſchen Naturanſchauung mit ihrer nach allen Seiten hin befruchtenden 
macht wird auch die Entſcheidung bringen für die uͤbrige Wiſſenſchaft. “ 


H. Wohlbold / Goethe als Natur⸗ 
forſcher in ſeiner Bedeutung fuͤr die 
Gegenwart 


oethe war bis in fein hoͤchſtes Alter um die Erkenntnis der Natur 

bemuͤht. Die Ergebniſſe ſeiner Studien hat er in einer Reihe von 

Schriften niedergelegt. Vieles davon blieb fragmentariſch. Die 
Unterſuchungen über die Metamorphoſe der Pflanzen und über die Farben; 
lehre ſind, im Weſentlichen, zu einem Abſchluß gekommen. Sie geben ein 
Bild feiner biologiſchen und phyſikaliſchen Anſchauungen. Ihre Bedeu⸗ 
tung liegt weniger in Einzelentdeckungen, als in der Problemſtellung und 
in der beſonderen Forſchungsmethode Goethes, die ſich durchaus von der 
des modernen Naturforſchers unterſcheidet. Die Wiſſenſchaft lehnt Goethe 
ab. Zwar Saeckel iſt für ihn eingetreten — aber er hat das, was er aus ihm 
herauslas, zuerſt ſelbſt in ihn hineingelegt. Er ſtimmt ihm zu, weil er ihn 
falſch verſteht. Aus ihren Prinzipien heraus muß die Gegenwartswiſſen ; 


»Goethes Morphologiſche Schriften. Serausg. v. W. Troll. br. M 15. —, geb. M 18.50. 
Eugen Diederichs Verlag in Jena. 
Tat XVIII 2 


18 5. Wohlbold 


ſchaft Goethe ablehnen, wenn ſie auch nur einigermaßen begriffen hat, 
was er will. Es handelt ſich ja keineswegs nur um eine naturwiſſenſchaft⸗ 
liche Frage. Auch nicht, wie das gerne ſo hingeſtellt wird, um den Gegenſatz 
zwiſchen der poetiſch⸗phantaſie vollen Naturauffaſſung eines in der wiſſen⸗ 
ſchaft dilettierenden Dichters und exakter Sorfhung und Methode — fon- 
dern Weltanſchauung ſteht gegen weltanſchauung. Der Rampf um den 
Naturforſcher Goethe muß heute deshalb aufgenommen und durchgefuͤhrt 
werden, weil von Goethes richtiger Einſchaͤtzung ſehr weſentlich die 
weitere Entwicklung des mitteleuropaͤiſchen Geiſteslebens und damit der 
abendlaͤndiſchen Rultur abhaͤngt. Der Intellektualismus verliert ſich immer 
mehr in mechaniſtiſchen und materialiſtiſchen Abſtraktionen. Damit hat er 
die Kultur Europas zugrunde gerichtet. Goethe zeigt den Weg zur Spiri⸗ 
tualiſierung des Denkens und damit die Moglichkeit zur Überwindung der 
fortſchreitenden Mechaniſierung und Barbariſierung Europas. 

Die Naturwiſſenſchaft beherrſcht die Zeit. Sie hat die aͤußere Sorm der 
weſtlichen Ziviliſation geſchaffen. Aber ſie war bisher nicht faͤhig, aus ſich 
heraus eine Weltanſchauung zu begründen. Was man „naturwiſſenſchaft⸗ 
liche Weltanſchauung“ nennt, verdient dieſen Namen nicht. 

Materialismus und Mechanismus waren als ein Refervat einzelner Per 
ſoͤnlichkeiten und auch noch beſtimmter, ſogenannter „gebildeter! Kreiſe 
intereſſante Theorien. Eine Flut populärer Literatur trug fie in die breiten 
Maſſen, vor allem des Proletariats. Dort wurde mit den Theorien ernſt ge- 
macht, man feste fie in die Praxis um. Es zeigte ſich, daß ſich mit ihnen 
nicht leben laͤßt; ſie zerſtoͤrten zwar, aber ſie koͤnnen nicht Neues aufbauen. 
Deshalb ſagt 3. B. Sarnack einmal, die Naturwiſſenſchaft ſei nicht faͤhig, 
dem Leben einen Sinn zu geben. So denken heute ſehr viele. Wer nach 
einem Sinn des Lebens ſucht, der wendet ſich der Myſtik des Mittelalters 
oder der Weisheit Aſiens — Indiens, Chinas, zu. Dort liegen allerdings 
hoͤchſte geiſtige Werte, aber fie entſtammen einem dem modernen Europaͤer 
fremden Bewußtſein und koͤnnen deshalb nicht im Großen in unſere Zeit 
verpflanzt werden. Jede Epoche hat die ihr eigentuͤmliche Bewußtſeins⸗; 
form und demgemaͤß auch ihre beſonderen Ideale. Weltanſchauungen koͤnnen 
einer Zeit nicht aufgepfropft werden, ſie muͤſſen organiſch aus ihr wachſen. 

Der Menſch des zwanzigſten Jahrhunderts iſt enger mit der Erde ver⸗ 
bunden als der fruͤherer Generationen. Er lebt ganz hingegeben an die 
Sinneswelt. Nur Erfahrung und Beobachtung laͤßt er als Grundlage 
ſeiner Erkenntniſſe gelten. Deshalb kommt fuͤr die Gegenwart alles darauf 
an, aus der Sinneswelt, aus der naturwiſſenſchaftlichen Erfahrung und 
durch fie den Weg zu hoͤheren Erkenntniſſen zu finden. Die Naturwiſſen⸗ 
ſchaft iſt entweder agnoſtiziſtiſch oder — im Widerſpruch zu ihren eigenen 
erkenntnistheoretiſchen Grundlagen — materialiſtiſch. Sie transformiert 
in dieſem Hall das Weltbild des naiven Beobachters — bei dem der Agnoſti 
zismus ſtehen bleiben müßte — in das Gebiet des Unerfahrbaren. Man 


Goethe als Naturforſcher in feiner Bedeutung für die Gegenwart 19 


rann weder hier noch dort wirklich von einer „Weltanſchauung“ ſprechen. 
Aber es iſt doch denkbar, daß man die materialiſtiſch mechaniſtiſche Vor⸗ 
ſtellungsart nur erſt in die Naturwiſſenſchaft hineingetragen bat. 

Zu Goethes Zeiten wirkten die „Naturphiloſophen“, die in mehr oder 
weniger enger Fuͤhlung mit Schelling waren. Sie ſtellten gerade den Na⸗; 
turforſcher Goethe beſonders hoch, zu dem die Kathederwiſſenſchaft ſchon 
damals kein Verhaͤltnis fand. Die Naturphiloſophie brach ab, ehe ſie ſich 
richtig entfaltet hatte. Sie kam ſehr oft nicht uͤber die Problemſtellung hin; 
aus und verlor ſich zuletzt in einem fruchtloſen Spiel mit Analogien und 
Symbolen. Aber in ihr lagen Keime zu einer geiſtgemaͤßen Naturanſchau⸗ 
ung. Nur findet ſie die Kraft nicht, ſie zur Reife zu bringen. So erliegt ſie, 
als in der zweiten Saͤlfte des I9. Jahrhunderts die geiſtige Welle Aber 
Deutſchland hinflutet, die aus dem weſten heruͤberkommt. 

Darwin tritt auf und Saeckel wird ſein Prophet. Wie er meint, iſt er auch 
der Prophet Goethes. Der wird zum „Vorlaͤufer darwiniſtiſcher Gedan ; 
kengaͤnge geſtempelt. Auch Serm. v. Selmholtz hat ja einmal auf einer 
Generalverſammlung der Goethegeſellſchaft in Weimar, im Jahre 1882, 
uͤber „Goethes Vorahnung kommender naturwiſſenſchaftlicher Ideen“ ge⸗ 
ſprochen. 

Auf der SS. Verſammlung deutſcher Naturforſcher und Arzte in Eiſe⸗ 
nach, im Jahre 1882 hielt Saeckel einen Vortrag, in dem er auch auf Goe⸗ 
thes Metamorphoſe der Pflanzen zu ſprechen kam. Er führte aus, wie 
Goethe „den ganzen Sormenreichtum der Pflanzenwelt von einer einzigen 
Urpflanze“ ableite. „Er läßt” — ſagt Saeckel — „alle die verſchiedenen Gr⸗ 
gane derſelben durch mannigfache Umbildung und Ausbildung eines ein- 
zigen Grundorganes entſtehen, des Blattes.“ Saeckel führt einige Zeilen 
aus dem Gedicht Goethes uͤber die Metamorphoſe der Pflanzen an, in dem 
der Dichter von dem „geheimen Geſetz“ ſpricht, auf welches der „Chor 
deutet“. Dann faͤhrt er fort: 

„Dieſes geheime Geſetz“, dieſes „heilige Kaͤtſel“ iſt die gemeinſame Ab⸗ 
ſtammung aller Pflanzen von jener Urpflanze, waͤhrend ihre ſpeziellen 
Unterſchiede durch Anpaſſung an die verſchiedenen Umſtaͤnde ihrer 
Exiſtenzbedingungen bewirkt werden.“ 

Goethes „Urpflanze” erſcheint hier als die erſte, primitive Pflanze der 
Urzeit. Durch Vererbung und Anpaſſung ſoll ſich aus ihr die ganze Pflan- 
zenwelt nach und nach „entwickelt“ haben. 

In Wirklichkeit nennt Goethe die „Urpflanze“ das „Muſter“, nach dem 
alle Pflanzen gebildet ſeien. Sie iſt das „Modell und ein Schluͤſſel“, mit 
dem man noch „Pflanzen ins Unendliche erfinden“ kann, die „konſequent“ 
fein muͤſſen, das heißt, die, wenn fie auch nicht exiſtieren, doch exiſtieren 
koͤnnten und nicht etwa maleriſche oder dichteriſche Schatten und Scheine 
ſind, ſondern eine innere Wahrheit und Notwendigkeit haben. Die Ur⸗ 
pflanze iſt ein „Typus“, eine „Entelechie“, eine Idee. Saeckels erſte Pflanze 

= 


20 5. Wohlbold 


iſt eine Theorie. Sie iſt erfunden. Goethes Urpflanze iſt „geſchaut“, wenn 
auch „mit den Augen des Geiſtes“. 

Darwinismus und Goetheanismus ſtehen auf verſchiedener erkenntnis · 
theoretiſcher Grundlage. Sie unter ſcheiden ſich außerdem vor allem durch 
ihre Auffaſſung des Organismus. 

Der Entwicklungs gedanke als ſolcher wird kaum mehr ernſtlich beſtritten. 
Aber die Tatſache der Entwicklung kann durch die geltenden Theorien nicht 
erklaͤrt oder bewieſen werden. Die Anſicht, daß im Kampf ums Dafeln der- 
jenige am beſten vorwaͤrts kommt, der ſich den Verhaͤltniſſen anzupaſſen 
verſteht, mag als Maxime fuͤr Geſchaͤftsleute brauchbar ſein. Aber es iſt 
doch ſehr naiv, damit die Entwicklung des Menſchen aus Einzellern er ⸗ 
klaͤren zu wollen. Die Entwicklungslehre iſt eben heute noch immer ein 
Problem und nicht eine erweisbare Tatſache. Was Darwin und Saeckel 
richtig geſehen haben, iſt die Wandelbarkeit der organiſchen Form. Aus den 
Komponenten einerſeits vererbter Faktoren, andererſeits der Anpaſſung, 
der Milieuwirkung follte die ganze organiſche Natur wie die Refultante 
im Kraͤfteparallelogramm entſtanden fein. Die Entwicklung wäre demnach 
ein — wenn auch noch nicht in ſeinen Einzelheiten durchſchaubarer — 
mechaniſcher Vorgang. Er iſt der „Gott, der nur von außen KÖRBE” — und 
eben nicht einmal ein Gott. 

Saeckel war ſo in ſeinen Theorien befangen, daß er das zunaͤchſt vor 
Augen liegende nicht ſah. In dem ſchoͤnen phyletiſchen Muſeum in Jena 
iſt die außerordentliche Beweglichkeit des Organismus eindringlich und 
uͤberzeugend demonſtriert. In nebeneinanderſtehenden Reihen von Grga⸗ 
nismen oder von Einzelgliedern wird nicht — wie Saeckel glaubte — die 
Entwicklung, aber die Metamorphoſe, der „Proteus“, offenbar. Die Natur 
bildet ein Bein, eine Gliedmaße. Sie hat dazu zahlloſe Möglichkeiten. Das 
Modell, die Idee, nach der fie ſchafft, wird als ſolche nie — oder immer — 
Erſcheinung. In vielen verſchiedenen Formen ſpricht ſie ſich aus, je nach 
den Moͤglichkeiten, die ihr innerhalb der Erſcheinungswelt dazu gegeben 
find. Aller Sormenreichtum der Natur iſt alſo zunaͤchſt nichts anderes als 
vielfach verwandelter Ausdruck eines Urbildes. 

Der phylogenetiſche Geſichtspunkt ſteht in naher Beziehung zum mor⸗ 
phogenetiſchen. 

Wie ſich alle Pflanzen von der ideellen Urpflanze ableiten laſſen, ſo ſind 
die einzelnen Teile des Pflanzenorganismus wieder Metamorphoſen des 
„Blattes“. Auch in dieſem Punkt hat Saeckel Goethe mißverſtanden. Die 
Botanik ſpricht ja von der Metamorphoſe. Stacheln ſind metamorphoſierte 
Blätter, Ranken metamorphoſierte Sproſſe uſw. Irgendein Organ erfährt 
durch äußere Urſachen — dazu gehoͤren auch Klima, Naͤhrboden — einen 
Anreiz zur Umbildung. Die vererbte Form wird dadurch umgewandelt, ab- 
geaͤndert. Das Geſetz von Urſache und Wirkung gilt hier wie in der lebloſen 
Natur. 


Goethe als Naturforſcher in feiner Bedeutung fuͤr die Gegenwart 21 


Das allzu Primitive dieſer Dorftellungsart iſt vielfach empfunden worden. 
Deshalb hat man von gewiſſer Seite noch eine beſondere, nur dem Grga⸗ 
nismus eigentumliche Geſetzmaͤßigkeit angenommen. Die Lebensvor⸗ 
gaͤnge ſollen „zweckmaͤßig“ verlaufen. Wohl folgt auch, fo wird angenom- 
men, im lebenden Körper auf die Urſache die Wirkung, aber fie liegt not; 
wendig in beſtimmter Richtung. Nach teleologiſcher Anſicht folgt auf A 
nicht ein nur durch dieſes A beſtimmtes B, ſondern ein ſolches B, daß da⸗ 
mit ein beſtimmter, vorweggenommener Endzweck, ein Endziel C erreicht 
wird. So iſt das organiſche Geſchehen in ſeinem Ablauf durch ein myſtiſches 
Element beſtimmt, durch etwas Außer · oder Ubernatuͤrliches. Geht man 
den Dingen auf den Grund, ſo findet man uͤberhaupt, daß die angeblich nur 
ſtreng auf der Erfahrung fußende Naturwiſſenſchaft von aͤhnlichen myfti- 
ſchen Elementen uͤberall durchſetzt iſt. Um den Grganismus zu erklaͤren, 
phantaſieren „exakte Naturforſcher von atomiſtiſchen Cebenstraͤgern oder 
ebensteilchen, Biophoren, oder von beſonderen Chemismen und was ſonſt 
alles in die Zelle hineinphantaſiert wird. Sier gilt ſchon das Wort vom 
„Kerl, der ſpekuliert“ und von der „grauen Theorie“. Goethe hat nie et- 
was zur Natur hinzu erfunden. Das Phaͤnomen ſelbſt iſt ſchon die Theorie 
— ſagt er. Er wollte nur „ſchauen“. Denn er wußte, daß der tief genug 
dringende Blick weſenhaftes in den Erſcheinungen ſieht, das realer iſt als 
ausſpintiſierte Vorſtellungen, als Begriffe, die man erſt in die Welt hinein⸗ 
konſtruiert und dann in ihr findet als ein metaphyſiſches Etwas, das die 
Urſache von allem wahrgenommenen iſt. Es ſei dahingeſtellt, ob die Er⸗ 
finder ſelbſt ernſthaft an ihre Theorien glauben. 

weil es ihm nicht darum zu tun war, etwas anderes als Tatſachen feſt⸗ 
zuſtellen, lehnte Goethe auch die teleologiſche Auffaſſung der organiſchen 
Natur ab. „Die Frage nach dem Zweck — die Frage warum? — iſt durch⸗ 
aus nicht wiſſenſchaftlich ( — ſagt er zu Eckermann, und er fügt hinzu: 
„Weiter kommt man mit der Frage — Wie?“ 

Noch deutlicher druͤckt er ſich im erſten „Entwurf einer Einleitung in die 
vergleichende Anatomie“ aus. „Man wird“ — fo heißt es dort — „künftig 
von ſolchen Gliedern, wie 3. B. von den Eckzaͤhnen des Sus Babirussa 
nicht fragen: wozu dienen ſie? ſondern: woher entſpringen ſie? Man wird 
nicht behaupten, einem Stier ſeien die Soͤrner gegeben, daß er ſtoße, ſondern 
man wird unterſuchen, wie er Hörner haben koͤnne, um zu ſtoßen.“ Das 
Reſultat einer Bo Unterſuchung deutet Goethe in dem Gedicht ABPO- 
LO an: 


„Denn fo hat kein Tier, dem ſämtliche Jaͤhne den obern 

Kiefer umzaͤunen, ein Horn auf feiner Stirne getragen, 
Und daher iſt den Löwen gehoͤrnt der ewigen Mutter 

Ganz unmöglich zu bilden und bote fie alle Gewalt auf; 

Denn ſie hat nicht Maſſe genug, die Reihen der Jaͤhne 

Völlig zu pflanzen und auch Geweih und Hörner zu treiben.“ 


22 3. Wohlbold 


Die organiſche Form iſt im Zuſtand eines labilen Gleichgewichtes. Ein 
Mehr auf der einen bewirkt ein Weniger auf der anderen Seite. Eine „be⸗ 
wegliche Ordnung herrſcht im Organismus. Der Typus, die Idee, im 
beſonderen Fall die Urpflanze, nimmt wechſelnde Geſtalten an, durch aͤußer⸗ 
lich wirkende Wefen” ; ſelbſt verwandelbar, in ſich vollendet, iſt fie „im 
heiligen Kreiſe lebendiger Bildung beſchloſſen “. Die Idee als das Wefen 
des Organismus iſt urſpruͤnglich, ſie iſt vor der Erſcheinung und in ihr. 
Aber aͤußere Faktoren machen ihre Verwirklichung in der Erſcheinung nur 
bedingt moͤglich. Nie deckt ſich die Form mit dem „allgemeinen Schema“. 
Ein ſolches iſt auch das, was Goethe das „Blatt“ nennt. Er meint nicht 
das Laubblatt. Ausdruͤcklich ſagt er: „Es verſteht ſich hier von ſelbſt, daß 
wir ein allgemeines Wort haben mußten, wodurch wir dieſes in fo ver⸗ 
ſchiedenen Geſtalten metamorphoſierte Organ bezeichnen und alle Erſchei⸗ 
nungen ſeiner Geſtalt damit vergleichen koͤnnten.“ Alſo das Wort, das 
notwendig wäre, fehlt der Sprache. So nennt er das Grgan, das meta⸗ 
morphoſiert in allen Teilen der Pflanze auftritt, ein „Blatt“. Das Laub- 
blatt iſt ſchon eine ſeiner Metamorphoſen. 

Es wirkt alſo nicht Form auf Form, Natur auf Natur, ſo wie bei 
phyſikaliſchen Vorgängen. Sondern das nur Natuͤrliche — nennen wir es, 
wenn das Wort in umfaſſender Bedeutung verſtanden wird, das Milien — 
gibt dem ideellen Urbild beſchraͤnkte und verſchiedenartige Ausdrucks⸗ 
möglichkeit. So wird aber das Phänomen zur Phyſiognomie der Idee, es 
verbirgt und offenbart ſie zugleich. 

Sor die phyſiognomiſche Naturbetrachtung Goethes iſt die Frage nach 
dem Weſen, nach der „Urſache“ des Lebens bedeutungslos. Sie iſt falſch 
geſtellt. Das „Leben“ iſt weder ein phyſikaliſch⸗chemiſcher Prozeß, noch 
eine beſondere Kraft. Ein abſtraktes „Leben“ gibt es nicht — nur lebende 
Organismen. Man darf nicht fragen: was iſt das Leben? Sondern: wann 
nennen wir ein Naturweſen lebendig? Wodurch unterſcheidet ſich der 
Organismus vom unorganiſchen Körper? Was iſt das weſentliche des 
organiſchen Geſchehens? Es liegt darin, daß phyſikaliſche Vorgänge von 
außen, organiſche von innen heraus veranlaßt ſind. Der Organismus iſt 
ideell ein Ganzes, die Teile wirken im Sinn der Entelechie zuſammen. Das 
Ganze ſteht uͤber den Teilen. Bei mechaniſchem Geſchehen ergibt es ſich 
erſt aus den Einzel wirkungen. 

Goethe denkt dynamiſch. Die moderne wWiſſenſchaft iſt atomiſtiſch und 
kann deshalb niemals zur Erkenntnis von weſenhaftem kommen. Nicht 
nur das iſt gemeint, was man im engeren Sinn in der Chemie „Atomis- 
mus” nennt. Ob es tatſaͤchlich Atome gibt oder nicht, ſpielt hier keine Rolle. 
Atomismus iſt jeder Verſuch, das Ganze aus der Zuſammenwirkung feiner 
Teile zu erklaͤren — feien dieſe Teile nun makroſ kopiſch oder mikroſ kopiſch 
oder ſchlie lich nur erdacht. Die ganze Welt loͤſt ſich für den Atomismus in 
ein Spiel kleinſter Entitaͤten auf. Sie ſollen die Urſache des Geſchehens 


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Goethe als Naturforſcher in feiner Bedeutung für die Gegenwart 23 


bilden, die objektive Weltwirklichkeit, die wir ſubjektiv als Farbe, Klang, 
Subſtanz uſw. wahrnehmen. Aber alle diefe Jonen, Elektronen, Ather⸗ 
ſchwingungen oder was immer es ſei, ſie liegen im Unterſinnlichen, mit 
ihnen loͤſcht man die Wirklichkeit aus. Man hat aus dem Weltbild der 
modernen wiſſenſchaft einerſeits den wahrnehmenden und empfindenden 
Menſchen hinausgeworfen, aber man hat auch die Natur ſelbſt ausgetilgt, 
um an ihre Stelle nicht nur eine nicht wahrgenommene, ſondern eine fuͤr 
immer un wahrnehmbare Welt zu ſetzen. Ein Nichts iſt das Monon, das alles 
Daſeiende verurſachen ſoll und das die „lebendige Natur, da Gott den 
Menſchen ſchuf hinein“ erſetzt. 

Goethe ſucht keine verurſachende hinter der wahrgenommenen Welt. 
Er ſucht das Bedingende und das weſen der Phaͤnomene. Es offenbart 
ſich durch die Erſcheinung. Blau ſagt etwas anderes als Rot, Gold anderes 
als Blei. Atherwellen von verſchiedener Länge oder Atommodelle ſagen 
gar nichts. Deshalb kann eine Naturanſchauung, die zum Erlebnis des 
Wirklichkeitsgehaltes der Welt fuͤhren will, nicht atomiſieren. Den Men; 
ſchen dadurch verſtehen zu wollen, daß man ihn für einen „Jellſtaat“ er- 
Plärt, iſt ein Unſinn. Jedes Individuum iſt etwas für ſich und hat etwas zu 
ſagen. Dann aber muß es ſich zur Welt erweitern. Wirklich zu verſtehen iſt 
es erſt, wenn man es in feiner Bedeutung ſieht, die ihm innerhalb eines 
hoͤheren Ganzen zukommt. Nicht ins Kleine, ins Große muß man gehen. 
man muß die Einzelheiten zuſammenſchauen. Elne Pflanze iſt, für ſich be- 
trachtet, eine Abſtraktion. Zu ihr gehoͤrt die Erde, auf der ſie waͤchſt, die 
Sonne, wie fie durch den Tierkreis wandert. So iſt die Erde ſelbſt als 
Mineralkugel unwirklich. Sie iſt ein Organismus. Pflanzen, Tiere, Men; 
ſchen, meteorologiſche Prozeſſe, Sonnen und Monden wirkung gehoren zu 
ihr. Erſt das alles zuſammen iſt wirklich „die Erde“, aus der Idee der Erde 
iſt auch der Menſch bewirkt. Die Stufenfolgen der Naturreiche bedingen 
oder verurſachen ſich nicht. So wenig als etwa hiſtoriſch das, was heute 
geſchieht, oder in dieſem Jahr, die Urſache des Geſchehens im naͤchſten 
Jahre iſt. Die Dinge tragen ſich gegenſeitig, ſtrahlen gewiſſermaßen von 
einem ideellen Mittelpunkt aus. 

Durch Atomiſieren, durch kauſal⸗mechaniſche Erklaͤrungsverſuche kommt 
die moderne Naturwiſſenſchaft zu ganz falſchen Vorſtellungen. Sie ſtellt 
nebeneinander das Skelett eines Menſchen und das eines Affen. Dann 
vergleicht fie Anochen mit Knochen. Sie mögen einmal länger, einmal 
kuͤrzer, breiter oder ſchmaͤler fein. Ein weſentlicher Unterſchied beſteht für 
eine ſolche atomiſtiſche Auffaſſung nicht. Vergleicht man die Skelette als 
Ganzes, fo fällt ſofort der durchaus verſchiedene Sabitus auf. Man ſieht, 
wie etwa bei dem Affen die Schwere überwiegt, wie dagegen das Mienfchen- 
ſkelett allgemein nach Aufrichtung tendiert. Der Geſamteindruck — wir 
wollen nicht auf Einzelheiten eingehen — iſt ein ganz anderer. Nimmt 
man die Idee der „Entwicklung“ ernſt, ſo kann dieſe fuͤr einen Affen doch 


27 5. Wohlbold 


immer nur darin beſtehen, daß er das, was ihn zum Affen macht, deutlicher, 
vollkommener ausbildet. Er wird nie zum Menſchen, ſondern entfernt ſich 
nur immer weiter von ihm. Im Sinne Goethes kann man ſagen, daß ſich die 
Idee des Menſchen nicht aus der Idee des Affen ableiten laͤßt. So ergibt 
ſich ein ganz anderer Geſichtspunkt, wenn man auf das Wefen der Dinge 
eingeht, bei dem Organismus alſo auf das ihn von innen heraus geſtaltende 
Prinzip, auf ſeine Idee als das Wirkliche. Wirklich iſt das Wirkende und Be⸗ 
wirkende. 

Sieht man ſo zunaͤchſt im Organismus den Ausdruck der Idee, die ſich 
metamorphoſiert, fo kommt dazu noch der ebenfalls von Goethe gefundene 
Begriff der „Steigerung“. Damit wird das Entwicklungsproblem geloͤſt, 
das in der mechaniſtiſchen Entwicklungstheorie nur ſeine Scheinloͤſung 
finder. 

Wenn die Erſcheinung — wir deuteten das bereits wiederholt an — als 
Ausdruck der Idee dieſe vollkommener oder unvollkommen zum Ausdruck 
bringt, ſo ergibt ſich daraus ſchon eine Abſtufung der Organismen. Ge⸗ 
wiß hat die Umwelt einen Einfluß auf die Geſtaltung. Aber nur inſofern, 
als die bildende Kraft der Natur von ihr abbängig iſt, fo etwa wie der bil- 
dende Künftler von feinem Material. Die Metamorphoſe kommt dadurch 
zuſtande, daß Inneres und Außeres zuſammenwirken. Sie wird einmal als 
ein Weltprinzip von umfaſſender Bedeutung erkannt werden, wenn ſie erſt 
richtig verſtanden wird. Nicht blind und ziellos wirkt ſie. Aber ihr Ziel liegt 
in der Idee ſelbſt, es wird nicht von außen an ſie herangebracht und iſt nicht 
metaphyſiſch oder myſtiſch. Durch die „Steigerung“ wird die Form ge⸗ 
laͤutert und geklaͤrt, ſie wird immer mehr Ausdruck der Idee. 

Goethes Darſtellung der Metamorphoſe der Pflanzen zeigt ſeine Auf⸗ 
faſſung in den Einzelheiten. Dort ſpricht er von „Blatt“ und „Knoten“. 
Darunter verſteht er zwei Tendenzen, die in der Pflanze — und nicht nur in 
ihr — wirkſam find, die Tendenz der Ausbreitung und des Zufammen- 
ziehens. Es iſt der Rhythmus des Lebendigen, den er ſieht, der Rhythmus 
des Werdens. Denn nicht als ſtarre Form iſt der Organismus aufzufaſſen. 
Das Gewordene iſt bereits tot. Er ſteht im Fluſſe des Werdens und die 
Entelechie geſtaltet ſich in Syſtole und Diaſtole, im Einziehen und Aus⸗ 
breiten. Goethe zeigt, wie die Pflanze in drei Intervallen ſich vom Groben, 
wie es noch in den unteren Zaubblättern, weniger bereits in den oberen, 
auftritt, verfeinert, wie ſie zarter wird, ſich in der Bluͤte in leuchtende 
Farben kleidet und im Duft ſich aͤtheriſtert, fo daß hier alles Stoffliche auf- 
gelöft, uͤberwunden wird. Sand in Sand damit verläuft der innere Rhyth⸗ 
mus wie ein Atemholen. „Dasſelbe Organ, welches im Stengel als Blatt 
ſich ausdehnt und eine hoͤchſt mannigfaltige Geſtalt angenommen hat, zieht 
ſich nun im Kelche zuſammen, dehnt ſich im Blumenblatt wieder aus, zieht 

, Ab in den Geſchlechtswerkzeugen zuſammen, um ſich als Frucht zum letzten 
mal auszudehnen.“ 


Goethe als Naturforſcher in feiner Bedeutung für die Gegenwart 25 


waͤhrend Goethe die Pflanzenmetamorphoſe im weſentlichen geſchloſſen 
darſtellte, blieb ſeine Darſtellung des Tieres fragmentariſch. Die Pflanze iſt 
immer nur „Blatt“. Ein dementſprechendes Grundorgan gibt es für das 
Tier nicht. Es laͤßt ſich auch nicht ein „Urtier“ entſprechend der „Urpflanze“ 
aufſtellen. Auf das Tierreich wird erſt dadurch Licht geworfen, daß man es 
in richtiger Weiſe zum Menſchen in Beziehung bringt. 

Goethe ſucht nach einem „anatomiſchen Typus“, einem „allgemeinen 
Bild“, worin die Geſtalten ſaͤmtlicher Tiere der Moͤglichkeit nach enthalten 
waͤren, aber, ſagt er, „ſchon aus der allgemeinen Idee eines Typus folgt, 
daß kein einzelnes Tier als ein folder Vergleichs kanon aufgeftellt werden 
koͤnne “. Wo der Vergleichskanon zu ſuchen iſt, das geht aus einer anderen 
Außerung hervor, wo es heißt „daß der Menſch dergeſtalt gebaut ſei, daß 
er ſo viele Eigenſchaften und Naturen in ſich vereinige und dadurch auch 
ſchon phyſiſch als eine kleine Welt, als ein Repraͤſentant der übrigen Tier 
gattungen exiſtiere . Den gleichen Gedanken findet man bei den Natur⸗ 
philoſophen. Oken beſonders hat ihn ſeinem Syſtem zugrunde gelgt. „Das 
Tierreich iſt nur ein Tier”, ſagt er, „das heißt die Darſtellung der Tierheit 
mit allen ihren Organen, jedes für ſich ein Ganzes. Ein einzelnes Tier ent- 
ſteht, wenn ein einzelnes Organ ſich von dem allgemeinen Tierleib abloͤſt 
und dennoch die weſentlichen Tierverrichtungen ausübt. Das Tierreich iſt 
nur das zerſtuͤckelte hoͤchſte Tier — Menſch“. Ofen unterſcheidet Darmtiere, 
ungentiere uſw. In jeder Tiergruppe herrſcht ein Organſyſtem vor und 
drängt die anderen zuruck. Das Idealtier haͤtte in ſich alle Organe gleich⸗ 
wertig und in Sarmonie gebracht. Aber erſt im Menſchen tritt das Lebens ; 
zentrum auf, das den Organismus barmonifiert. So wie das Denken das 
Triebleben, uͤberragt das Gehirn die Organe. Im Tierreich dominiert das 
Gehirn noch nicht, der Kopf iſt, ſagt Goethe, „nur angehaͤngt“. Das primi- 
tive Denken des Tieres iſt ebenfalls triebhaft. 

Die Welt des Lebendigen entwickelt ſich nicht durch Reize von außen, fie 
entfaltet ſich aus dem Inneren in Metamorphoſe und Steigerung. 

Die Idee des Organismus iſt bei der Pflanze Leben, beim Tier Empfin⸗ 
dung, beim Menſchen wird fie Bewußtſein. Er waͤchſt über das nur Leben; 
dige, uͤber das Triebhafte hinaus. Der Menſch iſt Pflanze und Tier und mehr 
als beide. Die Natur wird ſich in ihm ihrer ſelbſt bewußt. Was auf den 
tieferen Stufen des organiſchen Daſeins im Stoff und in der Form, im 
Trieb zur Selbſterhaltung und zur Erhaltung der Art aufging, das erſcheint 
im menſchlichen Bewußtſein als Idee. Der Menſch bringt zu dem natür- 
lichen Daſein etwas Neues hinzu, er vollendet die Natur erſt, in ihm ſtellt 
ſich „das ſonſt Undarſtellbare“ dar. Was ſonſt nur in der Erſcheinung daſtand. 
wird Idee. Aus der Sinfternis der Natur gebiert ſich das Licht des Geiſtes. 

An dieſer Stelle dürfen vielleicht einige Worte uͤber Goethes „Farben · 


lehre gefagt werden. Die Phyſiker wiſſen nichts mit ihr anzufangen. Sie , 
iſt auch nicht eigentlich eine phyſikaliſche Angelegenheit, obwohl fie von den 


mund 


26 5. Wohlbold 


Phänomenen der phyſikaliſchen Optik ausgeht. Durch die Nonſtruktion 
von Strahlen und von Brechungswinkeln kann man ſie weder beweiſen 
noch auch widerlegen. Auch ihre Vorausſetzungen find dynamiſch, während 
die Newtonſche Lehre atomiſtiſch iſt. Die Phyſik behauptet, das ſogenannte 
weiße Licht ſei aus den ſieben oder wieviel Sarben des Spektrums zu⸗ 
ſammengeſetzt. Nach Goethes Auffaſſung ſind die Farben im Lichte nicht 
materiell, ſondern der Möglichkeit nach enthalten. Die Sarben find Meta; 
morphoſen des Lichtes. Dieſes ſelbſt iſt eine Entitaͤt, die, wie die „Ur- 
pflanze“, nur mit den „Augen des Geiſtes“ geſehen werden kann. Denn 
auch das Licht, von dem Goethe ſpricht, iſt eine Idee. So, wie die Ur⸗ 
pflanze mit dem Stoff, ringt das Licht mit der Sinfternis und dadurch ent 
ſtehen die Farben. Sie find „Taten und Leiden des Lichts“. 

Goethe ſucht das Urphaͤnomen. Gewiſſe Saktoren find für das Zuftande- 
kommen einer Erſcheinung nebenſaͤchlich und wirken nur modiſizierend auf 
ihren Verlauf. Andere bedingen ſie ſchlechthin. Mit dem Urphaͤnomen, ſagt 
Goethe, ſei der Naturforſcher „an die Grenzen ſeiner wiſſenſchaft gelangt“ 
und hier nimmt der Philoſoph „aus des Phyſikers Sand ein Letztes, das bei 
ihm nun ein Erſtes wird“. Farben gibt es nur dort, wo durch Licht und 
Sinfternis die Bedingungen für ihr Auftreten gegeben find. Die Bedin⸗ 
gungen fuͤr das Zuſtandekommen eines Phaͤnomens weiſt Goethe nach, er 
ſucht nicht deſſen Urſachen. Schwingungen im Ather — oder wo es ſonſt 
ſei — koͤnnen nie Urſache des Lichtes oder der Farbe fein. Sie find hoͤchſten⸗ 
falls Wirkungen. Vorausgeſetzt, daß fie wirklich fo, wie die Phyſik an⸗ 
nimmt, exiſtieren wurden, daß es das gäbe, was die Phyſik den Ather nennt 
und dieſer die ihm beigelegten Eigenſchaften haͤtte — ſo wuͤrde er auf das, 
was wir als Licht, als Farben wahrnehmen, eben durch Schwingungen re⸗ 
agieren. Sür Goethe wäre das von untergeordneter Bedeutung. Die Dar⸗ 
ſtellung der Farbe im menſchlichen Bewußtſein iſt ihm ungleich wichtiger 
als die Art ihrer Wirkung in einem hypothetiſchen Medium, wie es der 
Ather der Phyſik iſt. Nach phyſikaliſcher Auffaſſung entſteht das Licht 
durch das Zuſammenwirken der Spektralfarben. Dieſe ſind Atherſchwin⸗ 
gungen von verſchiedener Wellenlänge. Damit wird das Licht zur Sinfter- 
nis. Das gleiche gilt natuͤrlich auch von der Quantentheorie oder von an⸗ 
deren Zypotheſen. Goethe blickt durch das Prisma auf die weiße Wand. 
Sie bleibt weiß. Nur dort, wo ein Selles an ein Dunkles grenzt, entſtehen 
Farben. Damit iſt eine Tatſache feſtgeſtellt. Damit Farben auftreten, iſt 
notwendig das Selle, das Dunkle und das Prisma — die Truͤbe. Das Ur⸗ 
phaͤnomen liegt in der Polaritaͤt Licht —Finſternis. Dieſe iſt der Ausdruck 
eines Gegenſatzes, der allen Erſcheinungen zugrunde liegt. Goethe kam es 
darauf an, in ſolcher Weiſe Elnſicht in das Weſen der Farben zu gewinnen, 
daß ihre „ſinnlich⸗ſittliche Wirkung! verſtaͤndlich wird. Weshalb iſt blau 
eine kalte, rot eine warme Farbe? Weshalb wirken die verſchiedenen Farben 
jede in anderer Art auf das dafuͤr empfaͤngliche menſchliche Gemuͤt? Die 


Goethe als Naturforſcher in feiner Bedeutung für die Gegenwart 27 


Optik Newtons, die moderne theoretiſche Phyſik kann auf ſolche Fragen 
keine Antwort geben. Sie will das auch nicht. Im Gegenteil. Die Natur 
ſoll von dem menſchlichen Bewußtſein, von der Form, wie ſie in dieſem er⸗ 
lebt wird, losgeloͤſt werden. Goethe will fie gerade mit dem Menſchen ver⸗ 
binden. Die theoretiſche Phyſik hat die Tendenz, ihr Syſtem zu vereinheit · 
lichen — wir zitieren Worte eines der bedeutendſten Gelehrten auf dieſem 
Gebiet — „durch eine gewiſſe Emanzipation von den anthropomorphen 
Elementen, ſpeziell den fpesififchen Sinnesempfindungen . Goethe ſagt: 
„Der Menſch an ſich ſelbſt, inſofern er ſich ſeiner geſunden Sinne bedient, 
iſt der größte und genaueſte phyſikaliſche Apparat, den es geben kann. 

Der Menſch iſt eins mit der Natur. Aber er iſt nicht nur Stoff von ihrem 
Stoff. Wenn er erkennend vor fie hintritt, fo „ſpricht ein Geiſt zum anderen 
Geiſt“, es iſt der Rern „der Natur Menſchen im Serzen“. 

Nicht darum handelt es ſich, daß die gleichen chemiſchen Elemente ſich im 
menſchlichen Organismus nachweiſen laſſen, die ſich auch in der übrigen 
Natur finden. Der „Menſch“, von dem die moderne Phyſtologie ſpricht, iſt 
nur der Leichnam. Der wahre Menſch iſt ein geiftig-feelifches Weſen. Er 
wird nicht nur durch die Naturgeſetze beſtimmt und beherrſcht, ſondern er 
iſt in das Sinnlich · Sittliche, in die moraliſche Weltordnung — im weiteften 
Sinn — bineingeftellt. Fůr das in der Gegenwart geltende kantiſche Denken 
faͤllt das ſpezifiſch Menſchliche, von der einfachen Sinnes wahrnehmung 
und Empfindung bis zum reinen Denken aus der Natur heraus. 

Goethe wollte gewiß keine Phraſe hinſchreiben, als er ſagte: „Im far- - 
bigen Abglanz haben wir das Leben.“ Die Farbenlehre, die „fo alt wie die 
Welt" iſt, weiſt auf die hoͤchſten Fragen hin. Das Schema, worin ſich die 
Farbenmannigfaltigkeit darſtellen laͤßt, deute — fo ſagt Goethe — „Ur- 
verhaͤltniſſe an“. Durch Verdoppelung und Verſchraͤnkung der beiden Tri⸗ 
angeln — der dem Licht und der dem Dunkel verwandten Farben — ge- 
langt man „zu dem alten geheinmisvollen Sechseck und man kann, indem 
man „ dieſen beiden getrennten, einander entgegengeſetzten Weſen eine gei- 
ſtige Bedeutung“ unterlegt, ſich kaum enthalten, „wenn man ſie unterwaͤrts 
das Gruͤn und oberwaͤrts das Rot hervorbringen ſieht, dort an die irdiſchen 
hier an die himmliſchen Ausgeburten der Elohim zu gedenken“. Bis in 
religiöͤſe Tiefen verfolgt Goethe gerade auch in der Farbenlehre die Pro⸗ 
bleme. Wie aus allen Pflanzen dem geiſtigen Auge die Urpflanze hervor⸗ 
leuchtet, als die Idee, deren Entfaltung und Ausgeſtaltung die Pflanzen⸗ 
welt iſt, wie die Natur im Geiſte des Menſchen ihren Gipfelpunkt erreicht, 
die Idee des Menſchen allem Erdenweſen zugrunde liegt, ſo will ſich die 
Idee des Lichtes in der Natur herausringen — „das ſtolze Licht, das nun 
der Mutter Nacht den alten Rang, den Raum ihr ſtreitig macht“. 

„icht und Geiſt“ — fo lieſt man in den Sprüchen in Proſa — „jenes im 
phyſiſchen, dieſer im Sittlichen herrſchend, find die hoͤchſten denkbaren, 
unteilbaren Energien.“ 


28 3. Wohlbold 


Die Vorſtellungsart der Phyſik findet nicht den Zugang zu Goethes Sar- 
benlehre. Jene der Naturphiloſophen ſtand ihr ſehr nahe. In einem um- 
fangreichen Aufſatz in Okens Iſis referiert 1819 B. S. Blaſche uͤber den 
damaligen Stand der Naturphiloſophie. „Das Licht“ — ſchreibt er — 
„ſpielt nicht eine der erſten Rollen in der Natur, wie Schelling meint, fon- 
dern es ſpielt ſchlechthin die erſte Rolle. Es muß daher auf eine richtige und 
vollſtaͤndige philoſophiſche Grundlage zur Theorie des Lichtes ungemein 
viel ankommen, ja alles von ihr abhaͤngen.“ 

Im Geiſt des Menſchen geht das Licht der Natur auf. Die Idee wird 
Bewußtſein. Der Menſch, indem er ſeine Wahrnehmungen und Vor⸗ 
ſtellungen mit Ideen durchdringt, reproduziert die Natur damit nicht, er 
produziert, ſchafft etwas Neues, das in ihr vorher nicht da war. Die Pflanze 
iſt in der Natur auch ohne den Menſchen vorhanden, aber der Begriff, die 
Idee der Pflanze, die „Urpflanze“ ſchafft erſt der denkende Menſch. Und 
auch fie gebört zum Naturganzen. 

Die Bedeutung des ſchoͤpferiſchen Denkens, das etwas anderes iſt als das, 
was man im Alltagsleben „Denken“ zu nennen pflegt, charakteriſtert Au- 
dolf Steiner in der „Philoſophie der Freiheit“ mit folgenden Sägen: „Mit 
welchem Recht erklaͤrt ihr die Welt fuͤr fertig ohne das Denken? Bringt 
nicht mit der gleichen Notwendigkeit die Welt das Denken im Ropfe des 
menſchen hervor wie die Bluͤte an der Pflanze? Pflanzt ein Samenkorn in 
den Boden. Es treibt wurzel und Stengel. Es entfaltet ſich in Blaͤttern 
und Bläten. Stellt die Pflanze euch ſelbſt gegenuber. Sie verbindet ſich in 
eurer Seele mit einem beſtimmten Begriffe. Warum gehoͤrt dieſer Begriff 
weniger zur ganzen Pflanze als Blatt und Bluͤte? Ihr ſagt: Die Blätter 
und Blüten find ohne ein wahrnehmendes Subjekt da; der Begriff erſcheint 
erſt, wenn ſich der Menſch der Pflanze gegenuͤberſtellt. Ganz wohl. Aber 
auch Blůten und Blätter entſtehen an der Pflanze nur, wenn Erde da iſt, 
in die der Reim gelegt werden kann, wenn Licht und Luft da ſind, in denen 
ſich Blaͤtter und Bluͤten entfalten koͤnnen. Gerade ſo entſteht der Begriff 
der Pflanze, wenn ein denkendes Bewußtſein an die Pflanze herantritt.“ 

Goethes naturwiſſenſchaftliche Vorſtellungsart ſteht allerdings im Ge⸗ 
genſatz zu den erkenntnistheoretiſchen Grundlagen der modernen Natur⸗ 
wiſſenſchaft. 

Seit dem Aufgang der griechiſchen Philoſophie ſucht das menſchliche 
Denken eine Vereinigung der Urgegenſaͤtze, in denen uns die Welt gegen- 
uͤbertritt. Die Auf loͤſung des Dualismus Menſch und Natur, Subjekt und 
Objekt, Beift und Materie in eine Einheit iſt das Ziel alles Philoſophierens. 
Es fuͤhrt zum Materialismus oder zum Idealismus, je nachdem es das eine 
oder das andere Prinzip uͤberſpannt. 

Seit dem 15. und 16. Jahrhundert hat ſich das europaͤiſche Gedanken ⸗ 
leben in der Weiſe entwickelt, daß es nur noch der Materie objektive Wirk⸗ 
lichkeit zuſpricht. Der Begruͤnder der modernen Denkweiſe iſt Baco von 


Goethe als Waturforſcher in ſe iner Bedeutung für die Gegenwart 29 


Derulam. „Bacos Philoſophie“ — ſchreibt ein Siſtoriker der Philoſophie 
, iſt bis heute das unuͤbertroffene Muſterſtatut des realiſtiſchen Natura⸗ 
lismus.“ Von Baco geht die Entwicklung weiter zu Hobbes und Locke, 
vom Realismus — das Wort iſt hier nicht im Sinn der Scholaſtik, ſondern 
modern gemeint — und Nominalismus zum Materialismus und Senſua⸗; 
lismus und zu den franzoͤſiſchen Enzyklopaͤdiſten, die ſich ausdruͤcklich auf 
Baco berufen. D' Alembert nennt die „Magna instauratio“ den „catalogue 
immense de ce qui reste A découvrir“. Sie enthalt das Programm der 
Naturwiſſenſchaft auf Jahrhunderte hinaus. Der theoretiſche wird zum 
ethiſchen Materialismus, ſchließlich zum Nihilismus. Andererſeits ent ⸗ 
wickelt ſich aus der gleichen Strömung die flache common sense Philofo- 
phie und die Philiſtroſitaͤt des Aufklaͤrungszeitalters. Kant ſchafft die 
theoretiſchen Vorausſetzungen des wiſſenſchaftlichen Denkens im 19. Jahr⸗ 
hundert. Als die zweite Welle aus England heruͤberkommt, verbindet ſich 
der Darwinismus mit dem Atomiemus. Auch bier iſt Nihilismus das Er⸗ 
gebnis. Das Reſultat des Baconismus iſt ein ſeelenloſer Menſch in einer 
toten, un wahrnehmbaren Welt. 

Iſt für Baco alles Wiſſen nur durch „Erfahrung“, d. h. wie dann Locke 
betont, durch die ſinnliche Wahrnehmung möglich, und wird fo die Materie 
alles, fo iſt fie für die andere, auf Plato zuruͤckgehende Geiſtesſtroͤmung 
nach deſſen Wort un zy, das nicht Seiende. Sie iſt nur Schein, die 
Phänomene der Sinneswelt haben, nach dem bekannten, oft zitierten Satz, 
nur die Bedeutung von Schatten an der Wand. Nur der Welt der ſinnlich⸗ 
keitsfreien Ideen kommt wahre Wirklichkeit zu. Kant hat den Gegenſatz 
zwiſchen Platonismus und Baconismus feſtgelegt. Seine Erkenntnis- 
theorie mit ihrem Gegenſatz zwiſchen der reinen und der praktiſchen Ver⸗ 
nunft, zwiſchen Wiſſen und Glauben hat verheerend gewirkt. Die menſch⸗ 
liche Erkenntnismoͤglichkeit wird auf die phyſiſch ſinnliche Welt beſchraͤnkt, 
das Ding an ſich, das ard xad ard, liegt jenſeits aller möglichen 
Erfahrung. Damit iſt die theoretiſch dogmatiſche Grundlage des Mate⸗ 
rialismus gegeben. Der wahre Menſch als ein geiſtiges, freies Weſen bleibt 
der wiſſenſchaftlichen Einſicht ebenſo unzugaͤnglich wie die transzendentale 
Realität der welt. So muß der einſeitig betonte Idealismus automatiſch 
den Materialismus auslöfen. Fuͤr die kantiſche Denkweiſe gibt es nur die 
Wahl zwiſchen dem Materialismus und dem Dogma der Kirche. Die eigent⸗ 
lichen Begruͤnder der materialiſtiſchen Naturwiſſenſchaft waren teilweiſe 
orthodox katholiſche Gelehrte. Was koͤnnte der Kirche lieber fein als ein 
wiſſenſchaftlicher Standpunkt, der ihr zugibt, „daß wir nichts wiſſen 
koͤnnen “. Wir muͤſſen alſo glauben. Goethe kennt nicht wiſſen und Glau⸗; 
ben, Natur und Idee, Diesſeits und Jenſeits. Das Unerkennbare iſt als 
ſolches nur ein relativer Begriff. Am Menſchen ſelbſt liegt es, ob und in⸗ 
wieweit er die weltwirklichkeit erkennt. Goethe iſt überzeugt, daß wir 
ſchließlich doch etwas „wiſſen konnen“, denn „es wäre nicht der Muͤhe 


30 5. Wohlbold 


wert, ſiebzig Jahre alt zu werden, wenn alle Weisheit der Welt Torheit 
wäre vor Bott”. 

Goethes Weltanſchauung ruht auf der Vorausſetzung, daß der menſch⸗ 
lichen Erkenntnis faͤhigkeit keine abſoluten Schranken geſetzt find. Damit 
wird er zum Befreier und gibt dem Menſchen ſeine Menſchenwuͤrde wieder. 
Wohl iſt es bei ihm nur erft der Anfang eines zukuͤnftigen Menſchheits⸗ 
weges, aber das fauſtiſche Wort gilt: 


„Die Geiſterwelt iſt nicht verſchloſſen, 
Dein Sinn iſt zu, dein Serz iſt tot.“ 


Hätte Kant recht, fo wäre es wirklich nicht „der Muͤhe wert, ein Menſch zu 
fein”. 

Der Menſch der Gegenwart fucht nach einem neuen Wiſſen und nach 
tieferen Erkenntniſſen, zu denen er aus innerer Freiheit eine Beziehung 
finden kann, die vor feiner Vernunft beſtehen koͤnnen. Er will die Welt mit 
der Kraft des bewußten Gedankens durchdringen um Alarheit uͤber fein 
eigenes Weſen und über den Sinn des Lebens zu bekommen. Die Wiſſen⸗ 
ſchaft gibt, fo wie fie iſt, keine Cebens werte. Sie mechanifiert das Denken. 
Es läuft neben der Weltwirklichkeit her, regiſtriert Relationen zwiſchen 
den Sinnes wahrnehmungen oder erfindet abſtrakte welthintergruͤnde. Be- 
danken find das Reſultat chemiſcher Vorgaͤnge im Organismus, wenn nicht, 
ganz grotesk „Gehirnſchwingungen “. Die Ethik hat im naturwiſſenſchaft⸗ 
lichen Weltbild keine Begründung, fie iſt ihm nur aufgeklebt. 

Der Materialismus und Mechanismus kann den Menſchen nur in oͤko⸗ 
nomiſche Juſammenhaͤnge hineinſtellen. Er macht ihn Ich⸗los. Denn fein 
Ich hat entweder einen metaphyſiſchen, weltfremden und unwirklichen In. 
halt, oder er iſt im Denken, Fuͤhlen und Wollen nur erfüllt und getrieben 
von den Gewalten der Umwelt. Er kann Anarchiſt oder Bolſchewiſt werden. 
Sein ſoziales Milieu wird entweder zum Unſinn oder zur Fabrik. Der Zu⸗ 
ſammenbruch der europaͤiſchen Ziviliſation ſchreitet unaufhaltſam weiter. 
Wie er in Erſcheinung tritt, als wirtſchaftlicher Niedergang und politiſches 
Chaos — iſt er nur ein Symptom des Verſagens der geiſtigen Kultur. Was 
irgendwo geſchieht, das iſt immer zuerſt einmal gedacht worden. Verkehrte 
Gedanken zerſtoͤren das Leben. Nur ein neues, wirklichkeitsgemaͤßes Den⸗ 
ken kann eine neue Kultur begründen. 

Don der Uberwindung des Materialismus und von ihrer Notwendigkeit 
wird viel geredet. Aber er kann nicht mit Abſtraktionen, nicht mit phan⸗ 
tafievollen Idealismen überwunden werden, die über der Erde ſchweben. 
Das Denken muß das materielle Sein durchdringen und vergeiſtigen. Auch 
hier gilt der Gedanke der Metamorphoſe und Steigerung. Goethe leugnet 
die Materie nicht wie der Platonismus. Sie iſt, wie ſchon bei Ariſtoteles, 
dvudxue öv. Hier knuͤpft die Vorſtellungsart Goethes an deshalb ſtellt 
er die Empirie ſo hoch, und will von Spekulation und von Metaphyſik 


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Goethe als Naturforſcher in feiner Bedeutung für die Gegenwart 31 


nichts wiſſen. So ſympathiſch Goethe vieles bei den Naturphiloſophen 
war, fo ſehr hoch er Schelling ſchaͤtzte, es blieb ein ihm peinlicher Reſt. 
„Was hab ich denn an einer Idee“ — ſchreibt er an Schiller nach der Zek⸗ 
türe von Schellings, Ideen zu einer Philoſophie der Natur — „ die mich 
nötigt, meinen Vorrat an Phänomenen zu verkümmern.“ 

Spinoza, unter deſſen Einfluß Goethe vor der roͤmiſchen Reife ſtand, iſt 
im hoͤchſten Grade unperſoͤnlich. Er beobachtet, regiſtriert — rechnet. Er 
wendet die mathematiſche Methode auf die Philoſophie an. Die Ethik wird 
bei ihm „ordine mathematico demonstrata“. Er iſt nur Denker, der ſich 
ſelbſt im Denken aufgibt und ſich hingibt an das Böttliche. Scharf, klar, 
kuͤhl — iſt er ohne Saß und ohne Liebe, ohne Antipathie oder Sympathie. 
Allerdings nennt Goethe noch 1816 einmal Spinoza feinen „Seren und 
Meiſter“. Aber im Gegenſatz zu ihm ſucht er immer mehr das Konkrete 
und ſtrebt nach einer phyſiognomiſchen Naturanſchauung. In Amenau 
ſucht er „das Göttliche in herbis et lapidibus“. Iſt es zwar immer das 
„ewig Eine, das ſich vielfach offenbart“, fo ſoll doch andererſeits „das goͤtt⸗ 
liche Wefen ... nur in und aus den rebus singularibus“ erkannt werden. 
Der entſcheidende Schritt vom pantheiſtiſchen Naturerlebnis zum Schauen 
der Idee iſt lange vorbereitet. Er vollzieht ſich dann, als Goethe die Ur⸗ 
pflanze geſtaltet, in Italien. 

Der Gedanke wandelt ſich zum Bilde. Bei der Betrachtung der griechiſchen 
Aunſtwerke wird es Goethe offenbar, daß die Natur nach den gleichen Ge⸗ 
ſetzen ſchafft wie der bildende Nuͤnſtler. 

Goethes eigenes kuͤnſtleriſches, dichteriſches Schaffen iſt von feiner Na⸗ 
turanſchauung nicht zu trennen. In den Annalen ſpricht er einmal von der 
ihm „eingeborenen Methodik“, die er „gegen Natur, Aunft und Leben 
wendet”. 

Sermann Grimm fagt in feinen ausgezeichneten Boetbe-Dorlefungen in 
einem befonderen Fall, Goethe ſchildere ein Ereignis feines Zebens fo, daß 
er „die Affäre aus dem Bereich des Faktiſchen in den des Moͤglichen“ ver- 
fee. Damit iſt überhaupt das weſen des kuͤnſtleriſchen Schaffens ausge ; 
ſprochen. Der Nuͤnſtler fiebt in dem beſonderen Fall nur die Metamorphoſe 
des Urphaͤnomens und er geſtaltet das Ereignis als Typus, indem er es in 
ſeiner Idee, der hoͤheren Wirklichkeit, erfaßt. So wird die Dichtung immer 
zur wahrheit — nicht trivial, als Naturkopie, ſondern ideell. Es iſt nichts 
anderes, als wenn man mit der Urpflanze — ſoferne man ſie einmal ge⸗ 
ſchaut hat — „Pflanzen ins Unendliche erfinden” kann, die, „wenn ſie auch 
nicht exiſtieren, doch exiſtieren koͤnnten !. 

KAunſtſchaffen und Naturanſchauung find fuͤr Goethe eines. Die Wiſſen · 
ſchaft wird zur Kunſt, indem ſie nicht regiſtrierend, reproduktiv oder theo- 
retiſierend verfaͤhrt, ſondern die Erkenntnis kraft als Schoͤpferkraft im 
menſchen aufruft. Die Gegenwartswiſſenſchaft iſt unproduktiv, ſie hat ſeit RR 
dem 16. Jahrhundert Feine neuen Begriffe geſchaffen. Goethe erſt hat dass 

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32 5. woblbold, Goethe als Naturforſcher in feiner Bedeutung f. d. Gegenwart 


getan. Denn ſeine Begriffe der Metamorphoſe, der Urpflanze, des Typus, 
des Lichtes find vSllig neu. Darin liegt feine große Bedeutung. 

In den naturwiſſenſchaftlichen Schriften hat Goethe wie nirgends ſonſt 
ſeine Methode des Anſchauens entwickelt und dargeſtellt. Deshalb bahnen 
dieſe erſt eigentlich den Weg zu ihm. Der Dichter, der Menſch Goethe iſt 
ohne die naturwiſſenſchaftlichen Schriften nicht zu verſtehen. Und erſt 
dann, wenn dieſe in ihrer vollen Bedeutung erkannt und anerkannt werden, 
wird Goethe für unſere Lebensgeftaltung — im weiteſten Umfang — 
fruchtbar werden. Seute wird nur zerſtoͤrt, nicht aufgebaut. Es fehlen die 
ſchoͤpferiſchen Gedanken, die das Neue, das wir auf allen Gebieten erwarten 
muͤſſen, bringen koͤnnten. Alle Programme und Theorien über ſoziale, 
wirtſchaftliche, politiſche Probleme ſind abſtrakt und praktiſch wertlos. Sie 
laufen neben dem Geſchehen her, das ſeiner eigenen Geſetzmaͤßigkeit folgt 
und der menſchlichen Einwirkung ſich entzogen hat. Das Chaos waͤchſt von 
Tag zu Tag. Die Naturwiſſenſchaft weiß nichts vom freien Menſchen. Sür 
ſie gibt es nur noch materielles Geſchehen. Der Menſch iſt eingeſpannt in 
die wirtſchaftlichen Zuſammenhaͤnge. Das Geiſtesleben hat als ſolches feine 
Bedeutung verloren. Es wird ſie in dem Augenblick wieder gewinnen, in 
dem es den Menſchen wieder fo mit der Natur, allgemein geſprochen mit 
dem äußeren Leben verbindet, daß er es in feinem Ablauf durchſchaut und 
auch hier die Urphaͤnomene erkennt. Dann kommt er zu wirklichkeitsgemaͤ⸗ 
ßen Ideen und zu ſchoͤpferiſchem Sandeln. Er findet die verlorene Menſchen⸗ 
würde wieder, wenn er nicht mehr willenlos in das Getriebe eines Zebens- 
mechanismus eingefpannt iſt, ſondern erkennend und aus Erkenntnis han; 
delnd uͤber der bloßen Naturgeſetzlichkeit ſteht. Die Naturwiſſenſchaft hat 
dem Menſchen ſein wahres, geiſtiges Weſen genommen. Er muß erſt ſich 
ſelbſt wieder finden. Damit findet er auch das Weſen der welt wieder, er 
uͤberwindet die Phraſe durch die Wirklichkeit. Darauf kommt es heute an. 
Die Spiritualiſierung des Denkens iſt die Aufgabe der Gegenwart. Die 
Naturwiſſenſchaft kann den Weg zu ihrer Löfung bahnen, wenn fie das 
rechte Verhaͤltnis zu Goethe findet und durch ihn zur Natur — 


Denn die Natur iſt aller Meiſter Meiſter! 
Sie zeigt uns erſt den Geiſt der Geiſter, 
Caͤßt uns den Geiſt der Rörper ſehn, 
Kebrt jedes Geheimnis uns verſtehn. 


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Sans Bern, Die Wiederentdeckung der biozentriſchen Romantik 33 


Hane Kern / Die Wiederentdeckung 
der biozentriſchen Romantik 


ie exakte Naturforſchung hat es nach herkoͤmmlicher Auffaſſung 
der Klaſſe der „Empfindungen zu tun, welche fie in „objektive“ 
und „ſubjektive “ Beſtandteile zerlegt, um unter radikaler Ausſchal⸗ 
tung der letzteren zu einer allgemeinen, beſtimmten, vollkommenen Geſetz⸗ 
maͤßigkeit alles „Gegebenen“, zu einem „geſetzmaͤßigen Weltbegriff“ ge- 
langen zu koͤnnen. Die unendliche Mannigfaltigkeit der (erlebbaren) Quali ⸗ 
täten der Welt bemůht fie ſich auf die allen ſolchen Qualitaͤten zugrunde 
liegenden „gemeinſamen Beſtandteile “ zu reduzieren. Somit verfaͤhrt die 
exakte Naturwiſſenſchaft des techniſchen Zeitalters transphaͤnomenal, zer⸗ 
legt das den Sinnen ſich bietende Reich der Geſtalten, um die Natur als 
Mafchine begreifen und konſtruieren zu koͤnnen. Bei ihrer Bemuͤhung, von 
den Sormen und GQualitaͤten der Phaͤnomene abzuſehen, um zur Beſtim⸗ 
mung irgendwelcher rein quantitativer Verhaͤltniſſe zu kommen, die rech · 
neriſch faßbar find, ůberſieht aber die exakte Naturwiſſenſchaft gefliffent- 
lich, daß Konſtruktionen, welche ein quantitativ beſtimmtes, mechaniſches 
Zuſammenwirken von Elementen als Grundvorgang annehmen, niemals 
verſtaͤndlich zu machen vermögen, wie die menſchliche Seele zum Erlebnis 
der konkreten, qualitativ unendlich verſchiedenen, Erſcheinungen uͤber⸗ 
haupt gelangen konnte; denn es geht natürlich nicht an, die farbige, to. 
nende, duftende, kurz: be ſeelte Welt der lebendigen, immerfort ſchoͤpferiſch 
ſich wandelnden Erſcheinungen als ein bloß „ſubjektives Blendwerk der 
Sinne hinzuſtellen, demgegenuͤber in den „Energien“, „Atomen oder 
„Elektronen“ das wahrhaft Wirkliche zu finden ſei! 

Der Grundfehler der exakten Naturwiſſenſchaft iſt es nun, daß ſie in der 
Natur ein Lebendiges uberhaupt nicht mehr zu ſehen vermag, daß fie mit 
ihrer Auffaſſung der Natur als eines großen Maſchinenhauſes der Phyſik 
jeden Glauben an einen Sin nzuſammenhang des Alls in der Wurzel ab⸗ 
ſterben läßt. So iſt es kein Zufall, daß die Kenntniſſe, die fie aufzuhaͤufen 
weiß (denn wirkliche Erkenntniſſe = Wefenseinfichten liefert fie nicht), 
vorzugsweife der Technik zugute kommen; man will das praktiſche Sandeln 
an den Erwartungen orientieren koͤnnen, welche die wiſſenſchaftliche Er 
fahrung an die Sand gibt. Wie aber die Maſchine mit vernichtender 
Gewalt in die Natur eingreift, die Oberflaͤche der Erde furchtbar verwuͤſtet, 
die Organismen in riefiger Zahl vertilgt, fo dürfen wir uns auch nicht ein · 
bilden, daß die Mechaniſation der Natur der Kronzeuge echter „Natur⸗ 
wiſſenſchaft“ ſei! Das Leben iſt kein Quantum, das in einer Energieform 
verbraucht, in der anderen wieder zum Vorſchein kaͤme. Es beſteht kein 
Verhaͤltnis der Aquivalenz zwiſchen dem Leben und weben R 


Tat XV 


3$ Sans Bern 


Sochwaͤlder z. B. und den Rieſenmaſſen von 3eitungspapier, die man aus 
ihnen berftellte. In der Gegenwart gibt es gluͤcklicherweiſe wieder eine 
Reihe von Naturforſchern, die in der mechaniſchen, bzw. energetiſchen oder 
elektro dynamiſchen Weltauffaſſung keineswegs mehr die Betrachtungs⸗ 
weife ſehen, ſondern ſogar folgenden Saͤtzen eines deutſchen Spätroman- 
tikers Zuſtimmung ſchenken wuͤrden: „Wir haben bei allen Natur · und 
Geiſtesvorgaͤngen zweierlei Wahrheiten zu unterſcheiden; die eine, welche 
an Zahlen und Formen gemeſſen oder durch das phyſikaliſche Experiment 
bewieſen werden kann, oder uberhaupt im Geiſte den mathematiſchen Be⸗ 
weis zulaͤßt, die andere, welche unmittelbar im Gefuͤhl erkannt wird und 
gleichſam als Blůte der geſamten ſeeliſchen Anſchauung hervortritt. Beide 
haben ihren eigentuͤmlichen Bereich im geiſtigen Daſein, beide ſtreiten zu⸗ 
weilen auch miteinander um die größere Söͤhe ihres Erkennens, und beide 
verhalten ſich zueinander wie die Quadratur zum Zirkel. Wer von der einen 
Art der Wahrheit verlangt, daß fie durch die Mittel der anderen bewieſen 
werden ſoll, beweiſt eigentlich, daß er ſelbſt über beide nie ernſtlich nach⸗ 
gedacht hat, und er wird im gelindeſten Falle denen verglichen werden 
koͤnnen, welche die Quadratur des Zirkels doch irgendeinmal durch fort · 
geſetzte Anſtrengungen zu entdecken hofften. — Viele der geringſten Wahr; 
nehmungen und Entſcheidungen der Seele gehören vor das Forum der 
zweiten Gattung, allein (wir duͤrfen es ungeſcheut ausſprechen) auch alle 
die hoͤchſten Aufgaben des Beiftes, fie koͤnnen nur auf jenem Wege erkannt 
werden. (Carl Guſtav Carus, „Über Cebensmagnetismus“) 

Man beginnt heute bereits wieder einzuſehen, daß das Lebensganze des 
Univerſums von feiner Totalitaͤt her verſtanden werden muß, nicht aber 
von irgendwelchen Reduktionsbeſtandteilen, die der Analyſe ſich ergaben; 
man lernt wieder verſtehen, daß das Leben ein ununterbrochenes, fließen ⸗ 
des Schaffen von Neuem, ſo noch nicht Dageweſenem iſt, daß es ſich aber 
nicht erſchoͤpft in der Form von Urſache und wirkung, die immer nur 
Gleiches aus Gleichem entwickelt, daß fein zeitlicher Wandel nicht umge⸗ 
kehrt werden kann wie die „energetiſchen Vorgänge”, jene zeitentzogenen 
Scheine des Geſchehens. Mit einem Wort: man ahnt wieder, daß das 
Leben eine urſpruͤngliche, ſchoͤpferiſche Bewegung darftellt, die jedenfalls 
nicht berechnet werden kann wie ein Mechanismus. 

Die geſchilderte neue Einſtellung gewiſſer zeitgenaͤſſiſcher Forſcher iſt der 
von der Philoſophie der deutſchen Romantik geuͤbten Betrachtungsweiſe 
immerhin fo ähnlich, daß es ſehr an der Zeit wäre, auf die romantiſche 
Naturphiloſophie und ihre mannigfaltigen Befunde ſich ein wenig zu be⸗ 
ſinnen, und das um ſo mehr, als jene, zumeiſt von Bergſon orientierten 
Denker (wie auch Bergſon felber) noch weit davon entfernt find, die Er; 
kenntnistiefe der romantiſchen Naturphiloſophie irgendwie erreicht zu 
haben. Allerdings beſtehen von dieſer ſog. „romantiſchen “ Naturphilo⸗ 
ſophie in der Meinung der Gebildeten wie nicht minder der Gelehrten recht 


— —— 1 


Die Wiederentdeckung der biozentriſchen Romantik 35 


falſche Vorſtellungen, weil man — von der Naturphiloſophie der Roman; 
tił ſprechend — gemeinhin Schelling im Auge hat. Gerade dieſen halten 
wir aber nicht fuͤr einen echten Lebensphiloſophen ! 

Schelling (hierhin an Fichte und Kant anknuͤpfend und von dem Pan⸗ 
logiften Segel fortgeſetzt) geht nämlich von einem Bewußtſeinsprinzip aus, 
welches er ins Abſolute erhebt. Das Bewußtſein (die Vernunft, der „Geiſt“ 
iſt aber ein vom Kosmos aus geſehen durchaus Peripheriſches, daher es 
nie zum Zentralbegriff der Metaphyſik werden darf. Fur Schelling 3. B. 
find die einzelnen Naturerſcheinungen, in welchen wir zweifelsohne Indi ⸗ 
vidnalitaͤten, lebendige Einmaligkeiten anzuerkennen haben, lediglich 
„quantitative Differenzen“ einer „abſoluten Indifferenz“, die Schelling 
auch als „abſolute Vernunft“ (1) bezeichnet. Ahnlich tat ſchon Schellings 
weſentlichſter Lehrmeiſter Spinoza den Ausſpruch: „omnis determinatio 
est negatio“, verſuchte alſo alle Individualität aus der bloß quantitativen 
Einſchraͤnkung eines indifferenten Abſoluten zu begreifen! Wie aber 
vermochte die abſolute Indifferenz, das leere Nichts der Quell alles fird- 
menden Lebens zu fein! (Schelling hat in einer ſpaͤteren Periode feines 
Denkens, angeregt von Eſchenmeyer, dieſes verzwelfelte Problem feiner 
philoſophie geſehen und — die Sintergruͤnde feiner metaphyſiſchen Ein ; 
ftellung verratend — die mannigfaltige Welt der individuellen Erſcheinun⸗ 
gen, das „hie et nunc“, als einen Suͤndenfall, einen Abfall von der ab» 
ſoluten Indifferenz betrachtet!) 

Das Leben aber, ſo glauben wir zu wiſſen, ſteht in jedem Augenblick im 
ſchoͤpferiſchen Neubeginn und bietet ſich in unreduzierbaren Einmalig · 
keiten dar. Das Meer gibt jeder Woge ihre einmalige Form, das All⸗Ceben 
jedem Gebilde fein unvertauſchbar Individuelles. Kein Blatt gleicht dem 
anderen, nichts iſt genau ſo noch einmal in der welt. Wie alſo ſollte man 
der ſchoͤpferiſch⸗webenden Natur gerecht zu werden vermögen, wenn man 
ihre milliardenfaͤltigen Exſcheinungen als lediglich quantitative Differenzen 
einer abſoluten Indifferenz auffaßt! 

Es hat nun jedoch eine Richtung in der romantiſchen Naturphiloſophie 
gegeben, die im Gegenſatz zu Schelling (zum Teil ihn offen bekaͤmpfend) 
von der Anſchauung des Konkret ⸗ Individuellen ausging und damit einen 
Grundzug des Lebens zum erſten Male ſeit den Tagen Seraklits wieder⸗ 
entdeckte: wir meinen den Rhythmus! Zum Beweiſe mögen hier nur die 
folgenden Ausſprůche der unterſchiedlichſten Denker dienen: 

„In allem Grganiſchen, Gliedbaulichen, iſt dasſelbe in fortwaͤhrender 
Entwicklung irgendeiner Individualitaͤt beſtehende Leben anzuerkennen, 
gleichviel ob von werdenden Sonnenſyſtemen oder einer werdenden Pflanze 
die Rede iſt; und nicht minder .. zu einem größeren Organismus gebörig 
iſt der Fels zu nennen mit feinen kriſtalliniſchen Fuͤgungen oder die Quelle 
mit ihren rhythmiſchen Stroͤmungen in Beziehung zum Erdganzen, als 
das Anochengebilde mit feinen Kriſtallfaſern oder der Blutſtrom mit feinem 

3* 


pulſierenden Wellenfchlag in Beziehung auf das Leben des Tieres. (Carl 

Guſtav Carus) | 

„Wie die Lebendigkeit der Weltkörper in einem ne alien 
Geſetzen erfolgenden Umlaufe fi aͤußert, fo iſt das bewußtloſe bildende 
Leben der eigentliche Gerd des rhythmiſchen Wechſels.“ „Weil eben die 
ſchoͤpferiſche Weltkraft in ihrem Weſen unendlich iſt, iſt ſie es auch in ihren 
Außerungen: unerſchoͤpflich in ihren Rombinationen, bringt die Natur in 
alle Ewigkeit fort nur Neues hervor; immer kehrt nur Ahnliches, niemals 
dasſelbe wieder. (Karl Friedrich Burdach) 

„In der Richtung iſt alles lebendig; die Welt ſelbſt iſt lebendig und erhaͤlt 
ſich nur dadurch, daß ſie lebt; wie ein organiſcher Leib ſich nur erhaͤlt, in · 
dem er durch den Lebensprozeß ſich immer neu erzeugt.“ (Lorenz Gken) 

„Die Natur exiſtiert in jeder Weltgegend verſchieden .. Die Fruͤchte 
fallen, die Reime ſtehen auf; dies iſt das Bild des Geſetzes, welches lebendig 
im Univerſum waltet; nur in ihm koͤnnt ihr es faſſen, woher alles N 
und wohin alles geht. 1 (J. p. V. Troxler) | 

Solche Säge — und fie ließen ſich beliebig vermehren — geben uns das 
Recht, die zitierten Romantiker neben anderen mit einem ſchoͤnen Wort von 
Ludwig Klages als „Biozentriker“ den „Logozentrikern“ Fichte, Schelling 
und Segel, vor allem aber den mechaniſtiſchen Naturwiſſenſchaftlern ent 
gegenzuſtellen. 

Im Rhythmus erkannten unſere Romantiker ein weſenemerkmal des 
Lebens, und es ging ihnen eine bedeutſame Ahnung auf von der Gegen; 
ſaͤtzlichkeit von Leben und Bewußtſein, denn nur das Leben als abſolut 
unbewußtes kann wahrhaft ryhthmiſch fein, da es nicht (wie beim Men; 
ſchen) vom bewußten Regulierungswillen des Ichs getroffen werden kann. 
In der Tat begründeten 3. B. Carus und Burdach eine unerhoͤrt tiefe Auf: 
faſſung des „Unbewußten“ (als einer magiſchen Macht), wie fie vorher 
nicht da war und nachher verloren ging, denn der Leibnizſche Begriff des 
„Unbewußten“ meint in Wahrheit ein verſchwindend kleines Bewußtſein, 
ein Bewußtſeins differential, und der gleichnamige Schellingſche Begriff 
hat ein Vorbewußtes im Auge, das zum Bewußtſein ſich zu ſteigern ver 
mag. Von dem von Carus reichlich beeinflußten Eduard von Sartmann 
ſchweigen wir hier, da er deſſen tiefſinnige Gedanken ungehenerlich ver; 
flachte. 

So waren denn alle Vorbedingungen gegeben zum verſuch einer groß; 
zůgigen weltdeutung. Den kosmiſchen Rhythmus des „Unbewußten“ oder 
den des Lebensftromes zu verfolgen, war für die biozentriſch gerichteten 
5 die erſte und wichtigſte Aufgabe, und ſie ſahen in den Dingen 

oder „Tatſachen nicht wie die „exakte Naturforſchung Urſachen wieder 
anderer Tatſachen, ſondern Signaturen der Entwicklung des Weltlebens. 
Naturphiloſophie wurde gleichbedeutend mit kosmiſcher Phyſiognomik. 
Man fragte alfo 3. B., was denn der Rhythmus von Entſte hen und Ver; 


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Die Wiederentdeckung ber biegentrifchen Romantit 8 37 


gehen fur das All oder den Planeten Erde (Sommer und Winter, Tag und 
Nacht, Ebbe und Slut), was Geburt und Tod für die epitelluriſchen Lebe ⸗ 
weſen zu bedeuten habe. Oder man verfolgte die Metamorphoſe der Ur⸗ 
formen im Reiche der Kriſtalle, der Welt der Pflanzen und der tieriſchen 
Organismen. Serner ſtellte man die Frage auf nach dem Sinn der Polaritaͤt 
der Geſchlechter, dem Sinn der Wachstumsrichtungen der Pflanzen, der 
horizontalen Struktur der Tiere oder der vertikalen des Menſchen uſw. 
Es verſteht ſich von ſelbſt, daß mit dieſem großartigen Umſchwung in 
der metaphyſiſchen Betrachtungsweiſe einherging eine völlige Neubegruͤn⸗ 
dung der Pſychologie. Im Mittelpunkte der Pſychologie ſtanden jest — 
im ſtrengſten Gegenſatze zur mechaniſtiſchen Seelenerklaͤrung — die Be⸗ 
griffe des Lebens und des Organismus. Die Seele wurde nicht mehr zerlegt 
und aus Elementen aufgebaut, ſondern follte als Ganzes in ihrer Ent; 
wicklung, ihrer zeitlichen Entfaltung, aufgefaßt werden. Das fuͤhrte zur 
Vertiefung in die Formen verwandtſchaft der ſeeliſchen Typen in der Reihen · 
folge der Tierwelt. Vor allem aber: als das eigentlich Seeliſche wurde das 
„Unbewußte“ erkannt, dem das Bewußtſein gegenuͤberſteht. Die heute 
„okkult“ genannten Phaͤnomene kamen dadurch in eine neuartige und auf ⸗ 
ſchlußreiche Beleuchtung. — Gotthilf Seinrich von Schubert bemerkt: 
„Von Elementen der Seele zu reden, wuͤrde ſelbſt der kuͤhnſte wahnſinn 
eines Sieberkranken nicht wagen.“ Und bei Carus lefen wir die bedeut 
ſamen Saͤtze: „Lange Zeit war die Wiſſenſchaft in die Irre gegangen, 
indem ſie von dem eigentlichen Urweſen unſeres Seins und werdens, 
d. h. von der Seele geradezu loszuloͤſen verſuchte alle jene Strebungen des 
Unbewußten, auf denen ebenſo die geſamten Myſterien des Bildungslebens 
ruhen, wie nur von ihnen die wunderbare Anziehung und Abſtoßung der 
Gefuͤhle, ja, ſelbſt die oft noch wunderbarere eigene Seilkraft unſerer Natur 
in Krankheiten abhaͤngt; ſie verſuchte dagegen unter dem Namen der 
„Lebenskraft“ oder irgendeinem aͤhnlichen, alles dies als ein Nicht ⸗See⸗ 
liſches darzuſtellen, ohne zu ahnen, daß gerade hier das tief innerlichſt See⸗ 
liſche nie haͤtte verkannt werden ſollen. Da, wo ſomit Ariſtoteles ſchon ſo 
richtig die Wahrheit erfaßt hatte, indem er ſagte: „die Seele ſei die erſte 
Wirklichkeit eines natuͤrlichen gegliederten Körpers”, da taſteten die Spaͤ⸗ 
teren oft vielfältig im Ungewiſſen, ja, im Abſurden herum, indem fie zuletzt 
ſogar dahin gelangten, den uberhaupt nur als eine Einheit begreiflichen 
Organismus geradezu wie eine Maſchine, d. h. als ein aus verſchiedenen 
Kraͤften und Teilen Zuſammengeſetztes zu deuten und zu erklaͤren. („Ulber 
Cebensmagnetiamus“ 

Aus diefen Sägen wird deutlich, daß man den „Sitz der Seele” nicht 
mehr ſuchte im Gehirn, fondern in der Totalitaͤt des Leibes überhaupt als 
der Erſchein ung der Seele. So gelangte man dazu, der Phyfiognomif des 
Univerſums eine Symbolik der menſchlichen Geſtalt anzugliedern, indem 
man den verſchiedenen moͤglichen Formen des menſchlichen Körpers eine 


38 Sans Bern, Die Wiederentbeckung der biozentriſchen Romantik 


charakterologiſche Deutung zu geben verſuchte, denn, ſo ſagte Novalis, 
„das Außere iſt ein in Geheimniszuſtand erhobenes Innere.“ 

Bei allen derartigen Sorſchungsbemuͤhungen haben die biozentriſchen 
Romantiker, wiewohl oft irrend, doch ebenſo oft fo bedeutende Befunde 
zu Tage gefördert, daß jeder innerlich noch nicht gänzlich Vermorſchte der 
Bewunderung anheimfallen muß, weil er fühlt, daß er an die Pforten 
uralter Geheimniſſe geführt wurde. 

Daß nun Männer wie Carus, Burdach, Schubert, Ofen, Troxler, Tre 
viranus, Paſſavant, Eſchenmayer, Ennemoſer, Keil, Ritter und andere 
ganz oder faſt ganz in Vergeſſenheit geraten konnten, iſt auch ein „Zeichen 
der Zeit!“ Um fo mehr begrüßen wir die Tatſache, daß in allerjuͤngſter 
Jeit hierin eine Wandlung bewirkt wurde, an der wir ſelbſt zu unſerer 
Freude einigen Anteil nehmen durften. Der Anſtoß ging ohne Zweifel von 
Ludwig Klages aus, der nicht nur als der eigentliche Entdecker von Carus 
anzuſehen iſt, ſondern uberhaupt in feinen Schriften das philoſophiſche 
Růſtzeug zu einer tieferen Auffaſſung der Romantik lieferte. So war er 
auch der Berufenſte zur Neuherausgabe der „Pſyche“ des Carl Guſtav 
Carus. Im unmittelbaren Anſchluß an Klages haben Chriſtoph Ber · 
noulli und Sans Kern die Werke der biozentriſch orientierten Romantiker 
in umfangreicheren Auswahlen in einem ſtarken Bande zuſammengefaßt 
und zu kommentieren verfucht*. Daneben ließen fie erſcheinen oder bereite; 
ten als Neuausgaben vor: Troxlers tiefſinnige Schrift „lber das Leben 
und fein Problem“, Carus’ „Briefe uͤber das Erdleben“, „Über Zebens- 
magnetismus“, „Natur und Idee“, „Briefe uͤber Landſchaftsmalerei“ 
und eine Schriftenauswahl von G. 3. v. Schubert. Sodann erſchienen 
zwei Monographien: „Die Pſychologie des Carl Guſtav Carus und deren 
geiſtesgeſchichtliche Bedeutung! von Chriſtoph Bernoulli — und die „Phi; 
loſophie des Carl Guſtav Carus; ein Beitrag zur Metaphyſik des Lebens“ 
von Sans Kern. Ferner hat Theodor Leſſing das großartige charakterolo⸗ 
giſche Werk „Die Symbolik der menſchlichen Geſtalt“ von Carl Guſtav 
Carus mit ausfuͤhrlichen Rommentaren und Ergaͤnzungen neu heraus 
gegeben. 

Die erſten Schritte zur Sebung des verſunkenen romantiſchen Sortes 
find ſomit getan; zu deſſen reſtloſer Bergung durfte indeſſen die Arbeit 
einer ganzen Generation nicht ausreichen. 


Romantiſche Naturphiloſophie. Serausgegeb. v. E. Bernoulli und A. Bern. br. 
m I1.—, geb. m 14.—. Eugen Diederichs Verlag. Bernoulli, Ch., Die Pſycho⸗ 
logie von C. G. Carus und deren geiſtesgeſchichtliche Bedeutung. kart. M 2.50. 
Ebenda. 5 


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Ludwig Blages, Die Bedeutung von C. G. Carus für die Pſychologie 39 


Ludwig Klages / Die Bedeutung 
von C. G. Carus fuͤr die Pſychologie 


ein Naturforſcher, der tiefer in ſeinen Gegenſtand eingedrungen, 
wird es unterlaſſen, ſich mit der Geſchichte ſeines Wiſſensgebietes 
vertraut zu machen; aber auch kein Naturforſcher der Gegenwart 
wird ſich uber Chemie oder Phyſik oder Aſtronomie unterrichten wollen 
aus noch fo vortrefflichen Schriften, die etwa um das Jahr 1840 erſchienen 
waͤren; denn inzwiſchen find Chemie und Phyſik und Aſtronomie in dem 
Sinne allerdings fortgeſchritten, daß aus den Kenntniſſen wie auch Er⸗ 
kenntniſſen, die man damals zu beſitzen glaubte, die probehaltigſten aus · 
geſondert und um nicht wenige vermehrt wurden. Der Zeitſtrahl des Den; 
kens zwar verſchiebt ſich fortwährend, und es gibt auch in der Phyſik Pro- 
bleme, die zu Unrecht vergeſſen wurden, und daneben jederzeit zahlreiche 
Coͤſungeverſuche, die kuͤnftig mit Recht der Vergeſſenheit anheimfallen 
werden; allein davon kann auf dem Gebiete wenigſtens vorderhand nicht 
die Rede ſein, daß man einmal errungene Wiſſensſchaͤtze hernach wieder 
preisgegeben und bloßen Scheinbildern der Erkenntnis geopfert haͤtte. 
Ganz anders in der Pſychologie oder Seelenkunde! 

Sie hat ſich in der zweiten Saͤlfte des 19. Jahrhunderts an den hoheren 
Bildungsſtaͤtten mehr und mehr eine dienſtliche Sonderſtellung erkaͤmpft, 
hat allem „Spekulieren“ abgefagt, hat nach naturwiſſenſchaftlichem 
Muſter das Verſuchemachen gepflegt, hat ein ſchier unüͤberſehliches 
Schrifttum gezeitigt und ſchien eine Zeitlang der Behandlung ſonſtiger 
Geiſteswiſſenſchaften Vorſchriften erteilen zu wollen, wie fie ſich neuer 
dings anſchickt, in der Form von Begabungsforſchung, „Pſychotechnik“, 
Charakterdeutung der Praxis des Lebens unter die Arme zu greifen. Wir 
laſſen es auch dahingeſtellt, ob es mehr in ihr ſelber begruͤndet liege, daß es 
kaum eine Frage noch ſo elementaren Charakters gibt (wie etwa die nach 
der Entſtehung unſerer Raumanſchauung), in deren Beantwortung ihre 
Vertreter einig wären, oder mehr in der Einſichtsloſigkeit vieler jener Ver; 
treter; merkwuͤrdig aber und recht geeignet, uͤber vermeinte Erkenntnis; 
fortſchritte nachdenklich zu machen, iſt dieſe unumſtoͤßliche Tatſache: Wer, 
mit den Begriffen, Methoden und mannigfachen Lehrmeinungen heutiger 
Pſychologie umfaſſend vertraut, zum erſtenmal die ſeelenkundlichen Werke 
der Spaͤtromantiker aufſchlaͤgt, inſonderheit die „Pſyche von Carus, die 
1846 zuerſt und fuͤnf Jahre ſpaͤter in zweiter Auflage erſchien, der muß ſich 
ſagen, daß angeblich bahnbrechende Befunde neueſten Datums damals be · 
kannt waren, nein, beſſer bekannt und tiefer begruͤndet, und er wird, je 
weiter er vordringt, deſto mehr die Uberzeugung gewinnen, daß der roman 
Carus, C. G., Pſyche. Serausgegeben v. . Blages. br. M 9.—, geb. M 12.— 


> ı > Kubwig Alages 


tiſche Seelenforſcher einen unvergleichlich größeren Geſichtskreis hatte, an 
welchem gemeſſen die heutigen Leiftungen Gberwiegend ſogleich ihre Ser- 
kunft aus einer gewiſſermaßen kleinleutemaͤßigen Enge des Geiſtes verraten! 

Nicht verſchwiegen ſei, daß dank den vornehmlich bewußtſeinswiſſen · 
ſchaftlichen oder, wie es gemeinhin zu eng gefaßt heißt, „erkenntnistheo⸗ 
retiſchen Bemühungen der Zwiſchenzeit an Strenge und Straffheit der 
Gedankenfuͤhrung manches gewonnen und zumal etwas abgeſchuͤttelt 
wurde, was die Lektüre der Werke aus jenen Tagen oft unerfreulich be- 
buͤrdet: wir meinen eine gewiſſe lehrhafte und erbauliche Breite und die 
durchaus nicht nur zum leide der Sache gehoͤrige paſtorale Feierlichkeit, 
von der ſich ein Nietzſche dermaßen abgeſtoßen fühlte, daß er Darüber feine 
eigene VDerwandtſchaft mit der Romantik teils ironiſch bedauerte, teils tat⸗ 
ſaͤchlich verkannte. „Man ſehe ſich“, ſchreibt er in der „Morgenröte“, „heute 
einmal nach Schiller, wilhelm von Sumboldt, Schleiermacher, Segel, 
Schelling um, man leſe ihre Briefwechſel und fuͤhre ſich in den großen Kreis 
ihrer Anhaͤnger ein: was iſt ihnen gemeinſam, was an ihnen wirkt auf 
uns, wie wir jetzt find, bald fo unausſtehlich, bald fo ruͤhrend und bemit⸗ 
leidens wert? Einmal die Sucht, um jeden Preis moraliſch erregt zu er- 
ſcheinen; ſodann das Verlangen nach glänzenden, knochenloſen Allgemein ⸗ 
heiten, nebſt der Abſicht auf ein Schoͤner · ſehen · wollen in bezug auf alles 
(Charaktere, Ceidenſchaften, Zeiten, Sitten)... Es iſt ein weicher, gut⸗ 
artiger, ſilbern glitzernder Idealismus, welcher vor allem edel verſtellte Ge⸗ 
baͤrden und edel verſtellte Stimmen haben will, ein Ding, ebenſo anmaßlich 
als harmlos, beſeelt vom herzlichſten Widerwillen gegen die , kalte oder 
trockene Wirklichkeit, gegen die Anatomie, gegen die vollſtaͤndigen Leiden⸗ 
ſchaften, gegen jede Art philoſophiſcher Enthaltſamkeit. , zumal aber 
gegen die Naturerkenntnis, ſofern fie ſich nicht zu einer religiöfen Symbolik 
gebrauchen ließ.“ Saͤtte er Carus gekannt, er haͤtte ihn trotz feinem natur- 
wiſſenſchaftlich umfaſſenden Wiſſen nicht ausgenommen; und es muß zu⸗ 
geſtanden werden, daß die geſamte denkeriſche Romantik durch Voreinge- 
nommenheiten des Glaubens verhindert wurde, von dem Erkenntnis 
baume, den fie felber verſucheriſch gepflanzt, die eben reifenden ] Fruͤchte zu 
brechen. Sie begnuͤgte ſich mit einem prachtvollen Strauß feiner Blůͤten. — 

Auch das Weltanſchauungsſchema des Carus voller Widerſpruͤche, die 
teils von ihm uͤberſehen werden, teils ihm zu ſchaffen machen — iſt ein ins 
Chriſtliche gebogener Platonismus. Die außerzeitliche göttliche Weſenheit 
traͤgt in ſich die ſeienden, ſomit ewigen und veraͤnderungsloſen „Ideen“, 
die in der zeitlichen Welt des unablaͤſſigen Werdens immer von neuem zur 
Erſcheinung kommen. Damit verknuͤpft ſich — aus tieferen Schichten em; 
porgetrieben die ein wenig ariſtoteliſch getönte Wertſchaͤtzung des Indi · 
viduellen und der Entwicklung, weshalb der Akzent bald auf die Ewigkeit 
der Ideen fällt, bald entſchiedener auf ihr fortſchrittsartig gedachtes Sich⸗ 
offenbaren in der Folge der Generationen. Wieder und wieder wird der · 


Die Bedeutung von C. G. Carus für die Pſychologie 41 


geſtalt Carus zu grůbleriſchen Betrachtungen uͤber die recht eigentlich un · 
mögliche Frage gefuͤhrt, was der Weltprozeß für die außerzeitliche Gottheit 
bedeute und wie er in ihre Ewigkeit hinůͤberzuwirken vermoͤge. Wir erlaſſen 
uns eine breitere Ausmalung dieſes auf Sarmoniſierung des Un vereinbaren 
zugeſchnittenen Schemas um fo mehr, als es diejenigen Weſenselemente 
unferes Denkers gerade nicht enthält, denen er fein folgenreichſtes Er ⸗ 
ſchauen der Welt verdankte. Man wird es aus dem Buche ſelbſt hinreichend 
entnehmen und in einigen anhangsweiſe beigegebenen Anmerkungen teil⸗ 
weiſe kritiſch beleuchtet finden. Unſere immerhin nicht ganz unbetraͤcht⸗ 
lichen Nuͤrzungen allzu haͤufiger Wiederholungen, entbehrlicher Zuſam⸗ 
menfaſſungen und abſchweifender Einſchiebſel dienen lediglich einer ſchaͤr⸗ 
feren Markierung der Gliederung des Ganzen und laſſen nicht nur die 
ſprachliche Formgebung, ſondern auch alle weltanſchaulichen Ableitungen 
unangetaſtet. Wir glaubten deshalb auch nicht verzichten zu durfen auf 
vollſtaͤndige Wiedergabe des wunderlichen Schlußkapitals „Von dem, was 
im Unbewußtſein und Bewußtſein der Seele vergaͤnglich und was darin 
ewig iſt“, obſchon es den ſeelenkundlichen Aufſchluͤſſen des Buches nicht 
das geringſte hinzufůͤgt. — Dieſes vorausgeſchickt, verſuchen wir jetzt, 
durch knappſte Kennzeichnung ihres bleibend Weſentlichen dem Leſer das 
Eindringen in eine Gedankenwelt zu erleichtern, die nach langer Vergeſſen ; 
heit in mehr als einem Stůcke ſoeben eine glaͤnzende Auferſtehung zu feiern 
berufen iſt. | 


ruͤge man, worin die von uns behauptete Derwandtfchaft Nietzſches mit 

der Romantik und, was danach wohl unvermeidlich wäre, die gemein⸗ 
ſame Verwandtſchaft beider mit dem Altertum beſtehe, fo haͤtte die Ant · 
wort zu lauten: in der Wiederaufnahme des antiken Begriffes vom Leben, 
aber ohne die antike Neigung, ibn zu logifieren. Ein einziger Überblick 
über die neuzeitliche Geiſtes geſchichte etwa ſeit Descartes lehrt, daß bei noch 
fo außerordentlichen Verſchiedenheiten ſaͤmtliche Denker und Denkergrup⸗ 
pen zum Erſtaunen übereinftimmen in der teils ausdruͤcklich betonten, teils 
und noch oͤfter ſtillſchweigend vorausgeſetzten Verſelbigung der Seele mit 
dem Bewußtſein. (Auf die ſcheinbare Ausnahme Leibniz kommen wir als- 
bald!) Ob wir vom cartefifchen „cogito sum“ ausgehen oder von Berke⸗ 
leys „esse percipi“: immer wird die Welt zum Bewußtſeinserzeugnis und 
ſomit die Seele zur Grundlage des Erkennens gemacht. Zwar wurden beide 
Ausſpruche in ideologiſcher Abſicht getan; allein Berkeley bleibt nichts⸗ 
deſtoweniger ein Sauptzeuge des inſularen „Senſualismus“ und ſchon Pa⸗ 
lagyiꝰ hat darauf hingewieſen, daß man fein Schluͤſſelwort ja nur um: 
gekehrt zu leſen brauche: percipi esse, und man habe das Glaubensbekennt · 
N en Vorleſungen“, 2. Aufl., Barth, Leipzig. Dies bervor- 


ragende Werk ſteht unter den een Grunslegungsverfuchen der N 
Jeit weitaus an erſter Stelle. | 


12 Ludwig Blages 


nis des „Materialismus“ . Beide Saͤtze, weſentlich inhaltsgleich, konnten 
freilich fuͤr richtig gelten, waͤre nur mit dem „Sein“ nicht die Wirklichkeit 
ſelber gemeint! Das aber iſt fo ſehr der Fall, daß man nicht übertreibt, 
wenn man den Satz aufftellt, kein Ideen · oder Vernunftbekenner und 
ebenfo kein Erfahrungsbekenner habe Sein und Wirklichkeit auch nur ver- 
ſuchsweiſe auseinandergehalten ! Maͤßen wir ſolche Unterlaſſung nun aber 
an der heute verfügbaren, obſchon erſt ſpaͤrlich geſaͤten Koͤpfen zur Kennt · 
nis gelangten Einſicht, daß Wirklichkeit ausſchließlich erlebt und nur das 
Sein auch begriffen werde, fo wurde uns ihre verborgene Sinterabſicht als 
dahinzielend verſtaͤndlich, die Wirklichkeit in bloße Denkgegenſtaͤnde zu ver- 
flůchtigen und das Innenleben zu verdrängen mit dem bald mehr willens- 
artig (voluntariſch, aktualiſtiſch, funktionaliſtiſch), bald mehr verftandes- 
artig (intellełtualiſtiſch) gefaßten Geiſt. Die „Pſychologie ohne Seele“, auf 
die man ſich ſeit einem halben Jahrhundert viel zugute getan, bildet vom 
fraglichen Denkfehler nur eine unausweichliche Folge. | | 

Unverkennbar allerdings hatte ſchon die eleatiſch⸗platoniſche Sorfchungs- 
richtung denſelben Irrweg betreten. Allein, da ihr bis zuletzt der Begriff 
einer Selbſttaͤtigkeit des Bewußtſeins fremd blieb, war fie weit davon ent · 
fernt, im Bewußtſein den Beſtimmungsgrund des Welterlebens zu ſuchen, 
und hat vielmehr Schritt fuͤr Schritt zu immer klarerer Ausprägung ge ; 
bracht die Verſchieden heit der Beſeeltheit des Leibes vom weſentlich gei- 
ſtigen Urſprunge ſcharfen Erkennens ſowie auch des überlegten Wollens. 
Es wird ſtets eine der denkwuͤrdigſten Tatſachen bleiben, daß die Romantik 
dieſe Überzeugungen mit einer Entſchiedenheit wiederaufgriff, die in der 
Zwiſchenzeit von rund zwei Jahrtauſenden nicht ihresgleichen findet, und 
es ſei denn ein für allemal ausgeſprochen, daß Carus es, wenn nicht am 
kůhnſten, fo doch am beſonnenſten getan und mittels ſorgfaͤltig feſtgehal · 
tener Ceitgedanken eine lebenswiſſenſchaftliche Bearbeitung des gegen die 
Antike unvergleichlich gewachſenen Naturwiſſens feiner Zeit geliefert hat, 
die heute fo wenig uͤberholt iſt, daß man noch einiges zu tun haben wird, 
bis man gewiß ſein darf, ſeine fruchtbarſten Befunde unverlierbar zu be⸗ 
ſitzen. Damit wir uns aber um fo ſchneller Gber die Lage des zu betretenden 
Wem die philoſophiſchen Runftwörter fremd und die Is men wenig geläufig 
find, kann ſich für ſeelenkundliche Jwecke die Sache dadurch ungemein vereinfachen, 
daß er fie ſamt und ſonders in zwei Gruppen teilt mit Silfe etwa der Stichwoͤrter 
Idealis mus“ und „Realismus“. Auf die Seite des Idealismus kaͤmen: Ratio⸗ 
nalismus, Aritizismus, Subjektivis mus, Illuſionis mus, Logis mus, Fiktionalis - 
mus, Solipſis mus uſw.; auf die Seite des Realismus: Senfualismus, Empiris 
mus, Atomis mus, Materialismus uſw. — Stets wird er die Vertreter der ideali ⸗ 
ſtiſchen Seite in irgendeiner Weiſe bemüht finden, das Innenleben und ſomit das 
Leben ſelbſt aus dem Geiſt zu verſtehen, die Vertreter der realiſtiſchen Seite, es aus 
Eindrucken und Erfahrungen und ſomit zuletzt aus dem Sein zu verſtehen. Da aber 
Geiſt und Sein zufammengebören wie Subjekt und Objekt, iſt der weltanſchauliche 
Gegenſatz der beiden Jomengruppen pſychologiſch unerbeblich; außer für den 
beute jedoch obſolet gewordenen Streit um das Daſein oder Nichtdaſein „an⸗ 
geborener Ideen“. 


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Die Bedeutung von C. G. Carus für die Pſychologie 43 


Ortes auskennen, ſei es vorweg erwogen, in welcher Sinſicht auch hier in · 
folge der oben erwähnten Chriſtlichkeit der Romantik die Ausſicht gewiſſe 
Beſchraͤnkungen erleide. 

Die ſoeben ſcharfkantig umriſſene Einſicht bildet im weſentlichen erſt eine 
Errungenſchaft Nietzſches, der fie — mit ihr die Nachfolge Seraklits an- 
tretend ſofort dazu benutzte, um den nur menſchenmaͤßigen (anthropo⸗ 
morphen) Charakter des Seinsbegriffes ſowohl allgemein als auch in ſeinen 
zahlloſen Sondergeſtalten aufzudecken. Damit wird er in einer zuvor noch 
nicht dageweſenen Bedeutung zum Kritiker des Bewußtſeins. Er wirft 
von allem Anfang an die Frage auf, ob in Anſehung des Lebens und der 
Fulle des Lebens das Bewußtſein für eine Lebensnotwendigkeit, Lebens. 
ſteigerung und ſomit für wertvoll gelten muͤſſe oder etwa für eine Ent 
artung, Abartung und Lebensbeeinträchtigung zu halten ſei; und es geht 
durch die Mannigfaltigkeit der wendungen, Saͤtze, Formeln, mit denen 
er — in Einzelzůgen immer wieder wechfelnd darauf Antwort zu geben 
unternimmt, bald kaum vernehmlich, bald maͤchtig anſchwellend der Ton 
hindurch, der uns am unvermiſchteſten und gewaltigſten entgegenſchlaͤgt 
aus feinen fruͤhen Geheimaufzeichnungen „lber wahrheit und Lüge im 
außermoraliſchen Sinne“ (1873), die erſt aus dem Nachlaß ans Licht ge⸗ 
foͤrdert wurden: „In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahlloſen 
Sonnenſyſtemen flimmernd ausgegoſſenen Weltalls gab es einmal ein Ge⸗ 
ſtirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmůuͤtigſte 
und verlogenſte Minute der , Weltgeſchichte : aber doch nur eine Minute. 
Nach wenigen Atemzuͤgen der Natur erſtarrte das Geſtirn, und die klugen 
Tiere mußten ſterben. — So koͤnnte jemand eine Gabel erfinden und würde 
doch nicht genugend illuſtriert haben, wie klaͤglich, wie ſchattenhaft und 
flůchtig, wie zwecklos und beliebig ſich der menſchliche Intellekt innerhalb 
der Natur ausnimmt.“ Ferner: „Was weiß der Menſch eigentlich von ſich 
ſelbſt !.. Verſchweigt die Natur ihm nicht das allermeiſte, ſelbſt uͤber feinen 
Börper, um ihn, abſeits von den windungen der Gedaͤrme, dem raſchen Fluß 
der Blutſtroͤme, den verwickelten Faſererzitterungen, in ein ſtolzes gauk⸗ 
leriſches Bewußtſein zu bannen und einzufchließen ! Sie warf den Schluͤſſel 
weg: und wehe der verhaͤngnis vollen Neubegier, die durch eine Spalte 
einmal aus dem Bewußtſeinszimmer heraus und hinabzuſehen vermochte, 
und die jetzt ahnte, daß auf dem Erbarmungsloſen, dem Gierigen, dem 
Unerſaͤttlichen, dem Moͤrderiſchen der Menſch ruht, in der Gleichguͤltigkeit 
feines Nichtwiſſens, und gleichſam auf dem Ruͤcken eines Tigers in Traͤu⸗ 
men haͤngend.“ was ſelbſt die Griechen auf ihre Weiſe zwar unterſchieden, 
nicht aber zu trennen gewagt hatten, Nietzſche reißt es auseinander: das 
Bewußtſein und das Leben. Beileibe nicht auf dem Baume des Lebens, 
ſondern auf dem Baum der Erkenntnis find die gefährlichen Srüchte der 
Weisheit gewachſen, und dieſer Baum der Erkenntnis — iſt er nicht viel⸗ 
mehr das unheimliche Geſpenſt eines Baumes?! 


44 WE Ludwig Blages 
wWir haben bier nicht Nietzſches Meinungen wie Ergebniſſe, nicht feine 
methoden und Begriffe zu verfolgen. Vergegenwaͤrtigt man ſich aber nur 
die obige Frageſtellung, fo ſieht man leicht, daß erſt fie den Erforſcher der 
vitalen Ermoͤglichungsgruͤnde des Bewußtſeins von der Verpflichtung 
entbinde, in die Bewußtſeinsbedingungen Wertbedingungen bineinzutra- 
gen, und ihn dergeſtalt nicht nur gegen Verfaͤlſchungen feit, ſondern vor 
allem ihm auch erlaubt, aus keinen anderen Gruͤnden ſich Salt zu gebieten 
als aus ſolchen entweder ſachlicher Schwierigkeiten oder den des perfön- 
lichen Lrlahmens. 

Demgegenůber bleibt Carus, wie wir ſchon hörten, durchaus im Glauben 
an die Wirklichkeit des Seins und damit nun aber auch in der Uberzeugung 
befangen, das Bewußtſein muͤſſe „die hoͤchſte Blüte der Seele“ fein, um 
ſeine eigenen mehrfach wiederholten Worte zu gebrauchen. Davon die Folge 
iſt, daß er zunaͤchſt ber einen beſtimmten Kreis biologiſcher Fragen nicht 
mehr hinaustrachtet, ferner mehr als einmal Antworten gibt, die gar keine 
ſind, endlich aber in allen fuͤr ihn mehr peripheren Problemen ſich nicht zu 
befreien vermag von den Sinterlaſſenſchaften des engliſchen Senſualismus; 
wovon wir ebenfalls in einer Anmerkung genauere Rechenſchaft geben. 
Um fo bewunderungswůrdiger iſt es und für die innige Lebens verbunden⸗ 
heit feines Geiſtes zeugend, daß er in den ihm zentralen ragen unbeirrt 
nicht nur von der geſamten Kathederpſychologie ſeit Descartes, ſondern 
teilweiſe unbekuͤmmert ſogar um — wie ſich verſteht, nicht bemerkte — 
widerſpruͤche der eigenen Metaphyſik feinen Weg bis weit hinein in wirk 
liches Neuland verfolgt; womit wir zur Kennzeichnung ſeines Baugrundes 
uͤbergehen. 

Es möchte uns nach allem bisher wenigſtens andeutungsweiſe von feiner 
Weltanſchauung Vernommenen in voller Breite und Tiefe ſchwerlich ver · 
mutbar werden, nach wie vielen Seiten hin der eine leitmotivartige Satz 
ausgreift, mit dem er fein Werk eröffnet: „Der Schluͤſſel zur Erkenntnis 
vom Weſen des bewußten Seelenlebens liegt in der Region des Unbe- 
wußtſeins. Entnehmen wir aus ihm zwar das ja nicht Unerwartete, daß 
die Seele ſelbſt als unbewußter Sachverhalt begriffen werde, ſo ſcheint es 
uns indeſſen nicht uͤberfluͤſſig zu fein, ſogleich mit Nachdruck zur Kenntnis 
zu bringen: dieſes Unbewußte därfe unter keinen Umſtaͤnden verwechſelt 
werden mit dem Unbewußten des Leibniz, das im weſentlichen noch heute 
den Plan beherrſcht. Vielmehr iſt hier derſelbe Name auf zwei dermaßen 
verſchiedene Tatbeſtaͤnde verwandt, daß wir ein leiſes Bedauern daruͤber 
nicht unterdruͤcken koͤnnen und wuͤnſchen möchten, Carus habe die negative 
Bezeichnung vermieden und dafür unumwunden „ bewußtloſes Leben” ein- 
geſetzt. Wir verhehlen uns nicht, wie vieles gegen unſere Scheidung zu 
ſprechen ſcheint 
So etwa naͤmlich, wie wir an paſſenden Beiſpielen das Feſte durch eine 
beliebige Stufenfolge von Erweichungen, kurzer, durch ganz allmaͤhliche 


Die Bedeutung von C. G. Carus für die Pſychologie 45 


Schmelzung ſtetig ůbergefuͤhrt denken koͤnnen in das vollkommen Släffige, 
fo mag man von Leibnizens unbewußt bloß „perzipierenden” Monaden 
über Serders Konzeption des aus dem Dunklen ins Selle ſtrebenden Lebens 
und endlich uͤber Goethes ſchon völlig romantiſches „Unbewußte “, von dem 
ſogleich genauer zu reden fein wird, eine ſchier luͤckenloſe Reihe zum „Un- 
bewußten ! des Carus verlaufen ſehen. Rechnen wir hinzu, daß Carus 
drei organiſche Syſteme unterſcheidet: das bewußtlos erfuͤhlende, das em · 
pfindend weltbewußte und das ſelbſtbewußt denkfaͤhige Syſtem, ſcheinbar 
genau analog Ceibnizens Dreigliederung in ſchlafende Monaden mit ledig · 
lich unbewußten Vorſtellungen, Seelenmonaden engerer Bedeutung mit 
klaren, aber undefinierbaren und inſofern „verworrenen “ Vorſtellungen 
(= Empfindungen) und ſelbſtbewußte Geiſtmonaden mit deutlichen, d. i. 
definierbaren Vorſtellungen (= Apperzeptionen); endlich, daß auch der 
Gott des Leibniz der Ort der ewigen Wahrheiten, die regio idearum, iſt, 
fo ſcheint die Verwandtſchaft uber jeden Zweifel erhoben und die Identität 
der beiden gleichnamigen Begriffe geſichert zu ſein. Dennoch haͤtten uns alle 
Gleichniſſe und Gleichungen in die Irre geführt! 

Wie die Möglichkeit ſtetigen Überganges vom vollkommen Seften zum 
vollkommen Siöffigen nicht das mindeſte an der Weſensgegenſaͤtzlichkeit 
der beiden Aggregatzuſtaͤnde ändert, fo beweiſen Übergänge zwiſchen ver- 
ſchiedenartigen Endgliedern deren Weſensgleichheit um deswillen grund; 
ſaͤtzlich nicht, weil fie ja ebenſogut aus ihrer beliebig abſtufbaren Miſchung 
erklaͤrt werden könnten: ein Satz von Bedeutung, gegen den in der wiſſen · 
ſchaft nur allzu Häufig geſuͤndigt wird! Die tatſaͤchliche Ver ſchiedenheit der 
beiden Unbewußtſeinsbegriffe ergibt ſich aber aus dem einfachen Sinweis 
darauf, daß Leibniz jenen Spitzenſatz umkehren muͤßte und es auch zwei · 
felsohne unbedenklich getan haͤtte: der Schluͤſſel zur Erkenntnis vom 
Wefen des unbewußten Seelenlebens liegt in der Region des Bewußtſeins! 
Sein „Unbewußtſein“ naͤmlich und ebenſo das der Schulen bis auf den 
heutigen Tag iſt, ſtreng genommen, das Bewußtſein noch einmal, aber 
nach Analogie des Differentialbegriffes bis zum „unendlich kleinen“, ge⸗ 
nauer bis zum verſchwindenden Bewußtſein vermindert gedacht. Daher 
die vielgenannten petites perceptions!* Nur indem man den Stoff des 
Die Parallele: Bewußtſein — Licht, Unbewußtſein — Dunkelheit, deren Wur⸗ 
zeln bis in die Mythengeſchichte und religidſe Symbolik reichen, wird immer etwas 
uberredendes haben dank der mitgedachten Polarität zweier Lebenszuſtaͤnde, des 
Wachens und Schlafens, zu denen der Gegenſatz von Tag und Nacht nicht bloß 
aͤußerlich in Beziehung tritt. Woͤrtlich verſtanden aber und ohne Seitenblid auf 
Cebenszuſtaͤnde iſt der Gegenſatz „Bewußtſein — Unbewußtſein“ ein ſog. kontra⸗ 
diktoriſcher und die Annahme von Bewußtſeinsgraden völlig unhaltbar. In jedem 
Ausmaß klar und unklar, deutlich und undeutlich, gegliedert und verworren uſw. 
find die Gegenſtaͤnde des Bewußtſeins; aber das mit ihnen verknuͤpfte Bewußtſein 
iſt immer nur entweder vorhanden oder nicht vorhanden. Man weiſt vielleicht 
darauf hin, daß man doch manchmal ſich ganz beſonders wach, friſch und aufgeweckt 
füble und dann wieder hindaͤmmernd, traͤumend und wie im Salbſchlaf (3. B. in 


56 Lubwig Blages 


vermeinten Unbewußten ganz und gar aus dem Bewußtſein, ja aus der 
Tätigkeit des Denkens bezog und dergeſtalt aus allen Seelenin halten 
gleichſam verſchattete Begriffe, aus allen Seelenvorgaͤngen verſchattete 
Urteile machte, konnte es geſchehen, daß man Anſchauungen, Empfin ; 
dungen, Gefuͤhle, kurz Erlebniſſe uberhaupt mit noch ungeklaͤrten und 
konfuſen Gedanken verwechſelte. Daß aber davon Carus unzweifelhaft 
genau das Gegenteil meint, wird uns vollends aus einem Zuge ſeiner 
Metaphyſik gewiß, mit dem, obzwar in ſchmerzhaftem widerſpruch zu 
feinem Glauben an die unzeitliche regio idearum, erſtmals er, namlich weit 
entſchiedener als Schopenhauer, jene von Nietzſche fortgefuͤhrte Richtung 
des europaͤiſchen Denkens eröffnet, deren ihm allerdings noch unerfaß⸗ 
liches Ziel die Verneinung der Praͤmiſſen des Beiftes im Grunde der Wirk: 
lichkeit wäre**.— Iſt naͤmlich bei Ceibniz die oberſte und naturgemäß durch 


großer Erſchoͤpfung). Das trifft auch zu; aber, obwohl wir bier auf den Beweis 
dafuͤr aus Raummangel verzichten müͤſſen, fo ſei es doch ausgeſprochen: das Be- 
wußtfein ſcheint etwas Stetiges zu fein, iſt aber in Wahrheit etwas Intermit⸗ 
tierendes, alſo unaufbörlid Abſetzendes; weshalb der Wachzuſtand fortwährend 
unterbrochen wird von bewußtſeinsleeren Intervallen, die bald kurzer, bald länger 
dauern. — Das find nun freilich grundlegende Neubefunde. Will ſich jemand davon 
genauer unterrichten, fo verweiſen wir ihn an die Werke Palsgyis oder an un⸗ 
fere programmaͤßig zuſammenfaſſende Schrift „Vom Weſen des Bewußtſeins“. 
man knuͤpft die fragliche Wende gern an den Namen Schopenhauers, inſofern 
dieſer zum Weltgrunde einen blinden, alſo unintelligenten Willen macht und alle 
Zwedtbeorien durchaus verwirft. Jweifellos hat denn auch fein Stimmungspeſſi · 
mis mus einer Seite im Lebensgefühl jener Zeit denkeriſch ebenſo kraͤftig und eigen · 
willig Ausdruck verlieben, wie es dichteriſch etwa Byron getan, und dadurch die 
Befuͤrwortung der — wir mochten ſagen nominellen — Irrationalitàt des Welt: 
grundes erſt eigentlich in Schwung gebracht. Allein in etwas ſchaͤrferer Beleuch · 
tung zeigt ſich feine Philo ſophie ungleich verſtandesabhaͤngiger, alſo rationaler 
und flacher als die des Carus (und der Romantik überhaupt, wenn man dabei nur 
nicht gerade an die glänzende Attrappe Schelling denkt l). Schopenhauer ſtellt be 
kanntlich die Gleichung auf: Wille = Trieb = Bewegungsurſache. Indem er dabei 
aber durchaus nicht vom Trieb, wie er meint, ſondern vom Bewußtſeins inhalt der 
Wollung ausgeht, bege iſtet er den Weltgrund nicht weniger als andere Ideologen, 
nur daß er den Primat des Wollens vor dem Erkennen lehrt, wie es vor ihm ja 
bereits die voluntariſchen unter den Scholaſtikern getan. Die Menſchenmaͤßigkeit 
ſeiner Auffaſſung tritt grell hervor, wenn das allgemeine Geſchehen des halb aus 
Unrube und Mangel ftattfinden muß, weil unſer Juſtand des Wollens freilich ſtets 
ein Entbehren anzeigt; und feine verborgene Vernunftglaͤubigkeit verrät ſich vol · 
lends mit der ſonderlich unvorſichtigen Wendung, daß es von beſagter Unruhe des 
Dichtens und Trachtens immerhin gewiſſe Erlöſungen gebe, darunter auch die 
durch das — reine Erkennen! Es könne ſcheinen, als ſei das von alters her die 
Meinung folgerichtiger Materialiſten, zumal alfo eines Demokrit, Bpikur, Cucrez 
geweſen. Dieſer Schein jedoch tröge zwiefach. Einmal naͤmlich hat es nie einen 
Materialiſten gegeben, auch der Neuzeit nicht, der nicht darauf aus geweſen wäre, 
aus den von ihm angenommenen Weltgrundlagen, 3. B. bewegten Atomen, den 
Geiſt abzuleiten, ſei es im Sinne einer Funktion der Atome, ſei es aus eigens 
dafur beſtellten Seelenatomen. Sodann aber wurde man nach den beſche iden · 
ſten Unfägen eines Wiſſens um die Weſensverſchiedenheit von Leben (Seele) 


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Die Bedeutung von C. G. Carus fur die Pſychologie 47 


und durch taͤtige Monas folgerichtig ein abſolutes Bewußtſein oder denn 
eine außerweltliche Intelligenz, im Verhaͤltnis zu der die naturierten Mo 
naden als ihre Gedanken erſcheinen, aus allwiſſender Weisheit nach Maß ⸗ 
gabe beſtmoͤglicher Vollkommenheit in den Zuſtand des Exiſtierens verſetzt, 
fo bildet für Carus den welt · und wirklichkeitsgrund ein univerſelles Un · 
bewußtes, im Verhaͤltnis zu dem bewußtloſe wie auch die bewußtſeins⸗ 
faͤhigen Geſtaltungen voruͤbergehend aus ihm auftauchende und unaus⸗ 
weichlich wieder darein verſinkende Erſcheinungen ſeines Weſens ſind und 
welches gedanklich durchdringen zu wollen ebenſo hoffnungslos wie ver⸗ 
meſſen wäre”. Dort alſo iſt der hervorbringende Grund der welt die Tat 
an ſich (parus actus), ausgezeichnet durch das Merkmal grundſaͤtzlicher 
Berechenbarkeit ihrer Wirkungen; bier ein — mit Carus geredet — vom 
„Iſisſchleier den Blicken entzogenes Geheimnis, deſſen Offenbarungen in 
der Form der Notwendigkeit des Geſchehens erſchaubar, nie berechenbar 
find — dort fällt die Indi vidualitaͤt mit den unvermeidlichen Schranken 
zuſammen, denen die Denkmoͤglichkeiten des Geiſtes ſich ausgeſetzt finden 
durch Übergang in das wirklichſein; hier iſt fie für dieſe der naͤhrende Boden 
— dort find die Dunkel heiten und farbigen Daͤmmerungen der Seele den 
Abſchwaͤchungen des ſchattenloſen Lichtes gleichzuachten; hier iſt der Tag 
der Sohn jener Nacht, „die ſich das Licht gebar“, das „ſtolze Licht“, das 
unfehlbar in ihr zuletzt wieder verloͤſchen wird. Ohne Zweifel, Carus war 
auf dem wege zu den „Muttern“, und er haͤtte ihnen feinen Ideengott 
preisgegeben, wäre dem nicht entgegen geweſen fein chriſtlicher Fromm · 
finn. - 


Freilich nicht nur mit den beruͤhmten Verſen des zweiten Fauſt, auf die 
wir ſoeben angeſpielt, ſondern mit zahlreichen Außerungen in gebundener 
und ungebundener Rede iſt ſein hochbewunderter Goethe ihm wie der 


und Geiſt gerade auf materialiſtiſcher Seite vergeblich ſuchen. Jwar unter ⸗ 
ſcheidet 3. B. CLucrez anima und animus, aber durchaus nur graduell. Wenn der 
Materialismus als ſein nicht gering anzuſchlagendes Verdienſt buchen darf, der 
Gegenſeite jederzeit ihre Verſtiegen heiten angeſtrichen zu haben, fo pflegt er dieſe 
dagegen durchweg noch zu uͤbertrumpfen in langweiliger Anbetung der Moniſtik! 
Von wem E. von Sartmann ſich zu feiner „Philoſophie des Unbewußten“ in- 
ſpirieren ließ, dürfte nach folgenden Sägen auf der zwoͤlften Seite der achten Auf ⸗ 
lage feines Buches nicht länger zweifelhaft fein: „In die neuere Maturwiſſenſchaft 
bat der Begriff des Unbewußten noch wenig Eingang gefunden. Eine ruͤhmliche 
Ausnahme macht der bekannte Phyſiologe Carus, deſſen Werke Pſyche und 
Phyſis weſentlich eine Unterſuchung des Unbewußten in feinen Beziehungen 
zum leiblichen und geiftigen Leben enthalten. Wie weit ibm dieſer Verſuch ge 
lungen ift und wieviel ich bei dem meinigen von ihm entlehnt haben konne, uber 
laſſe ich dem Urteil des Leſers. Jedoch füge ich hinzu, daß der Begriff des Unbe · 
wußten bier in feiner Reinheit frei von jedem unendlich kleinen Bewußtſein Har 
bingeftellt iſt.“ — Daß aber dieſer typiſche „Amalgamiſt“ und noch typiſchere 
Bourgeois den großen Gedanken, kaum daß er ihn anruͤhrte, auch ſchon bis zur 
Unkenntlichkeit verpfuſcht hatte, durch Sineinfaͤlſchung namlich einer Weltzweck · 
lehre gruͤndlich ſenilen Bepräges, ſollte heute keines Wortes mehr bedhrfen | 


78 Ludwig Alages 


ganzen Romantik in der Entdeckung des echten Unbewußten vorausge- 
gangen; dabei bezeichnend genug keineswegs an Zeibntz, ſondern an den, 
wie febr immer mißverſtandenen und umgedeuteten Spinoza . ! 
Der Pblloſopb, dem ich ſo gern vertraue, 
Lehrt, wo nicht gegen alle, doch die meiſten, 
823 unbewußt wir ſtets das Beſte leiſten; | 
Das glaubt man gern und lebt nun friſch ins Blaue 

In ſolchen Verſen kuͤndet ſich die noch unabſehliche Wende des Denkens 
an, derzufolge nicht im Bewußtſein, nicht in der Vernunft, nicht im Geiſte, 
ſondern im tief bewußtlos bildenden Leben der Grund aller vollkommen · 
beiten des Daſeins geſucht werden mußte. 

All unſer redlichſtes Bemuͤhn 

Blädt nur im unbewußten Momente. 

Wie mochte denn die Roſe blühn, ö 

| Wenn fie der Sonne Serrlichkeit erkennte! 

„Wo das bewußte Denken ſchwankt“, fagt Carus, „und zweimal viel 
leicht das Falſche und einmal das Wahre trifft. , da geht das unbewußte 
walten der Idee mit größter Entſchiedenheit und .. Weisheit feinen ganz 
gemeſſenen Gang und bietet fein Weſen oft dar mit einer Schönheit, die in 
ihrem ganzen Umfange von dem bewußten Leben nie erfaßt, geſchweige 
denn nachgeahmt werden kann.“ Inmitten ſolcher Weis heitsworte fühlen 
wir uns dem Jahrhundert des Barock und der mathematiſchen Überfhwän- 
ge ebenfo gewiß weit enträdt, wie wir uns in enger Nachbarſchaft Nietz · 
ſches fühlen, deſſen Mißtrauen gegen die Dignitaͤt des Bewußtſeins ſogar 
in manchen Ausſpruͤchen Goethes leiſe vorklingt. „Denn in allen angeneb- 
men und guten Zuſtaͤnden verliert die Seele das Bewußtſein ihrer felbft . . 
und wird nur durch unangenehme Empfindungen wieder an ſich erinnert.“ 

„Niemand weiß, was er tut, wenn er recht handelt; aber des Unrechten 
find wir uns immer bewußt.“ „Die Sinne trugen nicht, aber das Urteil 
truͤgt. „Der Menſch kann nicht lange im bewußten Juſtande . verhar⸗ 
ren; er muß ſich wieder ins Unbewußeſein ſtuͤrzen; denn darin lebt ſeine 
Wurzel.“ 

Das Unbewußtſein die Wurzel des Bewußtſeins und demgemaͤß das, 
wodurch jedes Einzellebendige geſpeiſt wird aus dem Allgemeinleben des 
Alls, in das es naͤherungsweiſe periodiſch im Schlafzuſtande, endguͤltig 
aber mit dem unabwendbaren Tode zuruͤcktaucht, das iſt, lapidar geſprochen, 
der Gedanke, aus dem die Seelenkunde des Carus geſchoͤpft hat, was an ihr 
ſich als unvergaͤnglich und weiterzeugend bewaͤhren wird. Sammeln wir 
im Fluge ihren Ertrag an Alaͤrungen, Deutungen, Aufſchluͤſſen, Wei- 
ſungen, Einſichten, ſo ſind es folgende Punkte zumal, die ſich der Aufmerk⸗ 
ſamkeit des verſtaͤndnisbereiten Ceſers empfehlen. 

J. Die Erforſchung der Wachstums ⸗ und welktumsvorgaͤnge des lebendi- 
gen „Bliedbaues” (ein ſchoͤnes Deutſchwort von Carus für „Organismus“) 


Die Bedeutung von C. G. Carus für die Pſychologie 40% 


fällt — völlig im Geiſte des Altertums — größeren Teils der Seelenkunde 
zu; und wenn auch Carus aus den hinlaͤnglich bekanntgegebenen Grunden 
verhindert wird, vom Leben das Bewußtſein des Erlebten ſtreng zu unter⸗ 
ſcheiden, in der Bewußtloſigkeit eine Erlebniseigenſchaft zu erkennen und 
demgemäß es auszuſprechen, daß Lebensvorgänge entweder gar nicht oder 
nur als Erlebnisvorgaͤnge gedacht werden koͤnnen, fo läßt er doch daruͤber 
nicht den leiſeſten Zweifel, daß die elementaren Bildungs hergaͤnge, 3. B. 
der Entwicklung des eben befruchteten Eis im Mutterleibe, genau nur 
inſoweit begreiflich ſeien, als es uns durch Abbau des Bewußtſeins ge⸗ 
linge, in ihnen Vorformen des bewußten Erlebens wiederzufinden und 
dergeſtalt aus dem gleichen Geſichtspunkt zu erklaͤren die Geſtaltungen, die 
eiſtungsfaͤhigkeiten, den Verfall der Organe des Lebensträgers und feine 
Eindruͤcke, Vorſtellungen, Gefuͤhle. Oder: „Seele und Bildungsprinzip 
des lebendigen Zeibes find eines und dasſelbe. — Da aber der lebendige 
eib nicht gleich der Maſchine von außen her zuſammengeſetzt werden 
kann, ſondern von innen her ſich auseinandergliedert, fo beſteht — in 
aͤußerſtem Gegenſatz zur üblichen Auffaſſung — die Aufgabe der Seelen⸗ 
kunde darin, Entfaltungen, Gliederungen und Bewußtwerdungen zu ver- 
folgen und nicht etwa im unmoͤglichen Unterfangen, aus vermeinten de: 
wußtfeinselementen die Seele zufammenfügen zu wollen! 

2. Jeder Lebensträger — vom Protoplasma an bis zum hochentwickelten 
Zellenbau des fertigen Menſchen — iſt ein zeitlicher Sachverhalt; das 
Weltall ſelbſt, falls lebendig, desgleichen; womit geſagt fein will: fein je 
augenblicklicher Zuſtand ſei Erzeugnis feiner Vorgeſchichte und Erzen ⸗ 
gungsgrund feiner Zukunft. Gegenſtand der Seelenkunde iſt das Sich⸗ 
wandeln, niemals ein Seiendes. Die damit eröffnete genetiſche Forſchungs⸗ 
methode bedeutet Nuͤckkehr zur antiken Urſachenauffaſſung, aber entſchie⸗ 
denſte Abkehr von der neuzeitlich formaliſtiſchen, die lediglich Bedingungen 
kennt. 

Über Carus hinausgehend fuͤgen wir zur Verdeutlichung an: die bisher 
fo genannte Phyſik hat es zwar mit zeitbezogenen, nicht aber mit zeitlichen 
Tatſachen zu tun. Ihre „Urſachen“, „Wirkungen“, „Kraͤfte“ find ſamt 
und fonders geſchichtslos; und die Weltereigniffe hoͤren auf, ihr zugänglich 
zu ſein, ſobald ſich am Bilde ihrer Gegenwart Momente ihrer Vorgeſchichte 
oder ihrer Zukunft beteiligen. Die phyſikaliſche Zeit it ein raumanalogiſches 
Meß werkzeug, die vitale Zeit dagegen eine Seite des wirklichen Geſchehens 
oder im Sinblick auf die Abfolge der Vorgänge und Zuftände deren Aus 
einanderhervorgehen. 

3. Den Zuſtand des Lebendigen, ſofern es Erzeugnis feiner Vorgeſchichte, 
nennt Carus den epimetheiſchen; ſofern es Servorbringungsgrund feiner 
Zukunft, den prometheiſchen. Ausgehend von der uns bewußten Erxinne⸗ 
rung und Vorausſicht enthüllt er durch Abbau im Epimetheiſchen ein 
bewußtloſes Nachgefuͤhl des Geweſenen („Innerung“), im Promethei ; 
Tat xVnl 4 


50 Ludwig Alages 


ſchen ein bewußtloſes Vorgefuͤhl des Rommenden („Ahnung“). Um- 
gekehrt beſteht nun die Faͤhigkeit des Erinnerns im Erwachen der bewußt: 
loſen Innerung, die Sähigkeit zur Vorausſicht im Erwachen der bewußt; 
loſen Ahnung. Wenn dergleichen Betrachtungen einer Lehre von den 
Inſtinkten, vom Gedaͤchtnis und vom ZJielbewußtſein auch nur praͤludieren, 
fo wird man doch nicht nur ihre außerordentliche Überlegenheit uͤber die 
Perzeptionsatomiſtił der Senſualiſten anerkennen, ſondern auch alsbald 
ſich belehren, wie weit neuere Verſuche aͤhnlicher Art an weitblick und 
Tiefſinn hinter Carus zuruͤckſtehen muͤſſen. 

4. Sandle es ſich um Bildungshergaͤnge oder um äußere oder innere Nei⸗ 
zungen, allemal finden dadurch Umſtimmungen des — man vergeſſe nie- 
mals: befeelten! — Zebensgrundes ſtatt, und dieſe find es, die dem Be⸗ 
wußtſein Gefuͤhle anmelden; eine Anſchauung, die mit einem Griff den 
innerleiblichen Urſprung aller Gefuͤhle und ihre Untrennbarkeit von 
phyſiſch beſchreiblichen Körperzuftänden wie aber auch die Tatſache ins 
Licht ruckt, daß kein Sinneserlebnis ohne Gefuͤhlsbetonung ſtattfinden 
könne. Wer die hilfloſen Rontroverſen um die James · Cangeſche Theorie 
der Affekte kennt, wird einigermaßen verwundert ſein, deren haltbaren 
Beſtandteil, des Narrengewandes entkleidet, mit aller nur wuͤn ſchbaren 
Klarheit von Carus vorgetragen zu hoͤren: „So iſt es alſo falſch zu ſagen: 
die Trauer wirkt einen langſamern Serzſchlag, ein Bleichen der Saut 
durch Zuruͤckziehen der Blutſtroͤmung aus den feinſten Netzen der Gber 
flaͤche , ein langſameres Atmen.. uſw., ſondern es ſoll heißen: die Trauer 
it teilweiſe eben alles dieſes ſelbſt. — Auf die immer noch nicht ent- 
woͤlkte Frage aber nach der beſonderen Natur derjenigen Umſtimmungen 
der Ceibesſeele, die uns als Sinneserlebniſſe Bunde geben von einer wirk⸗ 
lichen oder vermeinten Außenwelt, bleibt die erſcheinungswiſſenſchaftliche 
Antwort allerdings auch Carus ſchuldig, wenn er gleich metaphyſiſch mit 
dem beziehungs vollen Gedanken vortaſtet, der Grund alles Erkennens 
liege im Konflikt der „Ideen“ (d. i. der Urbilder). 

5. Wie die Seele das Bildungsprinzip des lebendigen Leibes, ſo iſt der 
lebendige Leib Erſcheinung und Offenbarung der Seele. Damit fallen als 
finnleer dahin die nicht enden wollenden Meinungskaͤmpfe, die ſich ſeit 
Descartes, Spinoza, Leibniz an die Frage nach Art und Denkbarkeit des 
Juſammenhanges beider geſchloſſen. Was man zumal in den letzten fünfzig 
Jahren Über „wWechſelwirkung“ und „pſychophyſiſchen Parallelismus“ 
vorgebracht, wird ſich jedem, der einem Carus zu folgen vermochte, als 
das, was es iſt, enthuͤllt haben: als Ausſchwitzungen verbiſſenen Unver⸗ 
mögens. An Stelle der Deklamationen uͤber die angeblich beklagenswerte 
Abhaͤngigkeit der Seele vom Leibe, wie fie etwa im tollen Vergnuͤgtſein 
des Weinberauſchten zutage trete, oder den entgegengeſetzten Deklamatio⸗ 
nen uͤber die angeblich bejubelns werte Abhängigkeit des Leibes von der 
Seele, für die es denn freilich auch nicht an allerhand gegen wertigen Bei⸗ 


Die Bedeutung von C. G. Carus für die Pſychologie 51 


ſpielen mangelt, ſo wenn etwa anhaltendes Veraͤrgertſein gallenkrank 
machen würde, hoͤren wir fo ſchlicht als unmittelbar uͤberzeugend: niemals 
habe dergleichen ſtattgefunden, ſondern immer nur ein Verkehr der un; 
bewußten Regionen mit der Bewußtſeinsregion oder zuletzt der unbe⸗ 
wußten Regionen untereinander. Man kann das anders und vielleicht noch 
naͤherkommend, noch treffender ausdrucken: der gemeinte Sachverhalt 
ſelbſt beſteht ebenſo gewiß zu Recht, wie er von obigen Lehrmeinungen 
karrikiert wird. „Dunkle Erfuͤhlungen“ des bewußtloſen Zellen verbandes 
beeinfluſſen unaufhoͤrlich die Gefuͤhle und mittels ihrer die Gedanken und 
Entſchluͤſſe, wie umgekehrt dieſe umſtimmend in das bewußtloſe Syſtem 
hineinwirken. Die mythiſche Rede vom „Geiſt des Weines“ erfaͤhrt ihre 
wiſſenſchaftliche Rechtfertigung; denn Nerven und Blut ſind beſeelt, und 
jede chemiſche Wandlung im Grganismus iſt unfehlbar eine Anderung des 
Juſtandes der durch ihn zur Erſcheinung kommenden Seele. | 
Es verſteht ſich von ſelbſt, ift aber zu lehrreich, um mit Stillſchweigen 
uͤbergangen zu werden, daß dieſer ausgepraͤgteſte und noch von keinerlei 
Seitenblicken auf Energieerhaltungsgeſetze geſtoͤrte Vitaliſt der neueren 
Geiſtesgeſchichte jede Gelegenheit wahrnimmt zur Abweiſung der feit 
Wolff und Blumenbach oft wiederholten und auch neuerdings teilweiſe be⸗ 
liebten Verſuche, dem phyſtkaliſch Entſeelten hinterdrein die Seele wieder 
zuſchenken mittels eines nisus formativus, einer vis vitalis, vis essentialis 
und wie die ſcholaſtiſchen Formeln ſonſt noch lauten. Kein Unvoreinge⸗ 
nommener wird den Carus ſtudieren, ohne die Überzeugung davonzutragen, 
daß es nicht bloß erfahrungswidrig, ſondern ſogar denkunmoͤglich fei, 
lebendige Weſen hervorgehen laſſen zu wollen aus einem unlebenden Uni⸗ 
verfum! — (Eine andere Frage iſt es, ob man deshalb auf dieſes, wie es die 
Romantik und mit ihr Carus tut, den Begriff des Organismus uͤbertragen 
duͤrfe; was wir, beilaͤufig gefagt, für irrig halten. Unnoͤtig, hinzuzufügen, 
daß gerade dieſer Irrtum von allen ſich romantiſch gebaͤrdenden Literaten 
der Gegenwart mit Eifer wiederholt wird!) 
6. Das von Carus bevorzugte Anwendungsgebiet vorſtehender Erkennt 
niſſe ſind die Wechſelbeziehungen zwiſchen Bewußtſein und Unbewußtſein, 
unter denen in erſter Reihe die periodiſche Exmuͤdung des Bewußtſeins 
und ſein periodiſches Wiederverſinken im nie ermuͤdenden Unbewußtſein 
ihn zu tieffuͤhlenden Betrachtungen einlädt. Er hat den Wechfel von Wa⸗ 
chen und Schlafen zutreffend mit der Rhythmik aller Lebenserfcheinungen 
in Verbindung gebracht, kommt aber in feiner Kennzeichnung der Ver⸗ 
ſchiedenheit beider Lebenszuftände uͤber allgemein gehaltene Andeutungen 
nicht hinaus. Dagegen fuͤhrt ihn die gleichläufige Auffaſſung des Verſin ; 
kens und Wiederemportauchens der Bewußtſeinsinhalte zu folgenreichen 
Betrachtungen über das geheime Wachstum und welktum unſeres unbe- 
wußten Erfahrungsſchatzes. Weil jeder entſchwindende Bewußtſeinsinhalt 
jogleich den Bildungsvorgaͤngen des Organismus und damit einem Be⸗ 
4° 


52 Ludwig Blages 


reich lebendiger Wandlung anbeimfällt, fo kann keine einzige „Vorſtellung“ 
jemals identiſch wiederkehren und wird vielmehr, ſo oft ſie genoͤtigt oder 
von ſelbſt abermals zum Bewußtſein kommt, geringere oder größere Ab- 
änderungen erfahren haben, die uns weſentliche Aufſchlůſſe zu erteilen ver⸗ 
ſprechen uber die verborgene Geſchichte des individuellen Lebens. Saͤtte 
man dieſen Gedanken nachdrädlich weiterverfolgt, welche Aufſchluͤſſe 
wären uns ſicherlich ſchon zuteil geworden über die bewußtſeinsbeſtimmende 
Rolle des Charakters, ber das Derbältnis der Triebfedern zu den geiſtigen 
Begabungen, über die Reichweite wie auch die Grenzen der Übung uſw., 
ſtatt daß wir uns heute mit „Pſychologien“ herumſchlagen muͤſſen, die 
ihr ſogenanntes Unbewußtſein ſozuſagen bis in die Knochen rationa⸗ 
liſtert und die arme Seele bis an den Rand aufgefüllt haben mit den Saar · 
ſpaltereien und Rechenkuͤnſten der eben wie niemals zuvor triumphierenden 
Schlauheit! 

7. Typiſch romantiſch, aber gerade von Carus vor Überfpannungen forg- 
ſam behůtet, iſt die grundſaͤtzlich richtige Anſchauung, das Unbewußte fei 
das die Sonderweſen ſowohl untereinander als auch mit der Landſchaft, 
dem Klima, der Erde uſw. verknuͤpfende allgemeine und verallgemeinernde 
Mittel des Lebens. Don dieſem Gedanken ſtrahlen die Radien nach den 
verſchiedenſten Richtungen aus, neue Moͤglichkeiten des Verſtehens wei ⸗ 
ſend: der Fortpflanzungsvorgaͤnge und der Liebesgefuͤhle, der Beziehungen 
des werdenden zum muͤtterlichen Organismus, der „magnetiſchen Rap- 
porte“, der Sern wirkungen, Wabrträume, Sellſehereien. — Wie ſehr es 
gerade bier bei Anlaͤufen, Vermutungen, zwielichthaften Ahnungen bleibt, 
fo ſehr doch fühlt man fi von ihnen wunderbar erfriſcht, und mancher 
vielleicht, der ſich mit dem beſten Willen durch heutige Okkultismen hin; 
durchgequaͤlt, wird ſich mit Staunen geſtehen, daß es nicht an der Sache, 
ſondern an ihren Verwaltern lag, wenn fie bisher ihm im Lichte lebens⸗ 
fremder Gaukeleien erſchienen war. 

Das find die wichtigſten wegweiſer in der zwar nicht uͤppigen, aber ſehr 
mannigfaltigen Seelenlandſchaft, durch die ein Carus uns fuͤhrt, gemeſſen 
und langſam voranſchreitend, aber niemals ſtehen bleibend. Denn im Gegen⸗ 
ſatz zu den tektoniſchen Syſtemen — „Syſtem“, nebenbei erinnert, heißt 
„das Juſammengeſtellte — des mittelalterlichen wie auch des neuzeitlichen 
Denkens vor 1800 ſteht die ganze Romantik und mit ihr Carus im Zeichen 
der Idee des Prozeſſes. Wie ſehr daher ſie bewußt auch ſich immer wieder 
bemuͤhen mag, den neuen wein in alte Schläuche zu füllen: im Lebens ⸗ 
gefuͤhl dieſer Maͤnner iſt das heraklitiſche Geſchehen Serr geworden uͤber 
das eleatiſche Sein, die Polaritaͤt uͤber die Unitaͤt, und heimlich immer, oft 
aber auch mit aufleuchtender Beſonnenheit trachten ſie, die Forderung 
zu erfuͤllen, die wir herausleſen duͤrfen aus einem der ſchoͤnſten Worte 
Goethes an Eckermann: „Die Gottheit .. iſt wirkſam im Lebendigen, aber 
nicht im Toten; ſie iſt im Werdenden und Sichverwandelnden, aber nicht 


Die Bedeutung von C. G. Carus für die Pſycho logie 53 


im Gewordenen und Erſtarrten. Deshalb hat auch die Vernunft in ihrer 
Tendenz zum Goͤttlichen es nur mit dem werdenden, Lebendigen zu tun, 
der Verſtand mit dem Gewordenen, Exſtarrten, daß er es nutze. — Alles 
löͤſt ſich jetzt auf in Werden und Vergehen, in Entwicklung, „Geſchichte“. 
„Zur Entwicklungsgeſchichte der Seele” lautet deshalb der Untertitel auch 
dieſes Buches mit hoͤchſtem Recht! Vorgelegt wird uns die Geſchichte des 
allmaͤhlichen Erwachens der Seele in der Stufenleiter der Weſen — die Be- 
ſchichte ihres helleren Erwachens im eben des Menſchen — die Geſchichte 
der Freude, der Trauer, des Saſſes, der Liebe! 

Sinter Carus lebenswiſſenſchaftlicher Bedeutung bleibt feine bewußt ⸗ 
ſeinswiſſenſchaftliche weit zuruck. Auch hier zwar fehlt es nicht an Tief. 
blicken, fo wenn er nachdruͤcklich feſtſtellt, daß im ewigen Fluß der Erſchei⸗ 
nungen nur der Geiſt eine Gegenwart zu finden vermöge! Allein teils war 
feine Begabung eine uͤberwiegend biologiſche, teils ſtand ihm hindernd im 
wege fein chriſtlich · platoniſches Schema, über das wir uns ja genuͤgend 
verbreitet haben. Würde ſchon deshalb die Rennzeichnung und Krit ik feiner 
erkenntnistheoretiſchen Meinungen nur geringen Ertrag liefern, ſo waͤre 
fie ůberdies auch nicht ohne weitgehende Bezugnahme auf die ſpaͤtere Ent · 
wicklung, eingerechnet die Sauptſtroͤmungen der Gegenwart, und ſchließ 
lich nicht ohne Zuhilfenahme eigener Forſchungsergebniſſe durchzufuͤhren . 
Iſt doch das Wiedererwachen der Teilnahme für Carus nicht zum wenigſten 
den Sinweiſen zu verdanken, die wir zuerſt 19 Jo in unſeren ſeither ver⸗ 
griffenen „Prinzipien der Charakterologie““ “ und inzwiſchen wiederholt, 
fo zumal in unſerer Schrift „Vom weſen des Bewußtſeins“ (Barth, 
Leipzig) gegeben haben. So ſei es in der Beziehung bei dem belaſſen, was 
ſich unſchwer daruͤber entnehmen laͤßt aus unſeren eingangs gebotenen 
Bemerkungen über die nnen zwiſchen der Romantik und 
Wiiesſche. 


ie nachſtehend gebotenen Daten aus dem Leben unſeres Philoſophen 

verfolgen keinen anderen Zweck, als einen Überblick über fein Sor- 
ſchungsgebiet und feine wichtigſten Leiſtungen zu geben, und beſchraͤnken 
ſich angeſichts der außerordentlich großen Jahl feiner Schriften gefliſſent 
lich auf Anfuͤhrung feiner Sauptwerke. — Carus, von Beruf Mediziner, 
wurde 1789 in Leipzig geboren und ſtarb in Dresden 1869. Schon 1811 
habilitierte er ſich und ging 1814 als Profeſſor der Entbindungskunſt und 
Direktor der geburtshilflichen Klinik nach Dresden, wo er 1827 Leibarzt 
des Königs wurde. Aus der großen Reihe feiner mehr oder minder fach⸗ 
wiſſenſchaftlichen Veroͤffentlichungen find hervorzuheben: Lehrbuch der 


Auch konnen wir erfreulicherweiſe auf die im gleichen Verlage erſchienene vor⸗ 
treffliche Studie von Dr. C. Bernoulli uber „Die Pſychologie von C. G. Carus und 
pe geiſtesgeſchichtliche Bedeutung“ verweiſen. Die 4. Auflage en in Vorbe ; 
reitung. 


54 Ludwig Blages 


300tomie (J8) — Lehrbuch der Gynäkologie (20) — Von den dußern 
Lebensbedingungen der warm- und kaltbluͤtigen Tiere (24) — Liber den 
Blutkre slauf der Inſekten (27) — Erlaͤuterungstafeln zur vergleichenden 
Anatomie (26—55) — Grundzüge der vergleichenden Anatomie (28) — 
Syſtem der Phyſiologie (3840). — Zu den organphyſiognomiſchen 
Forſchungen eine wichtige Überleitung und Unterlage bilden die „Brund- 
zuge einer neuen und wiſſenſchaftlich begründeten Kranioſ kopie (4) und 
der „Atlas der Kranioſkopie“ (43—45). 

Fuͤr jeden, der unſeren obigen Darlegungen aufmerkſam gefolgt iſt, wird 
es naͤherer Erlaͤuterung nicht bedürfen, warum Carus — im Vollbefis 
aller anatomiſchen und phyſiologiſchen Kenntniſſe feiner Jeit — ſich ver⸗ 
ſucht fühlen mußte, auf neuer Grundlage und mit neuen Mitteln die feelen- 
rundliche Deutung des menſchlichen Gliedbaues oder denn reformatoriſch 
das zu unternehmen, was bisher teils unter der Marke „Phyſtognomik“, 
teils als „Phrenologie“ hervorgetreten war und am treffendſten Organ⸗ 
phyſtognomik zu nennen wäre. Es iſt weder Zufall noch neuerungsſuͤch⸗ 
tiges Belieben, wenn Carus fein Sauptwerk darüber „Symbolik der 
menſchlichen Geſtalt“ (53) betitelt, dem die Sonderunterſuchungen uͤber 
„Proportionenlehre der menſchlichen Geſtalt“ (54) und „Über Grund und 
Bedeutung der verſchiedenen Formen der Sand bei verſchiedenen Per⸗ 
fonen” (46) ergänzend zur Seite treten. Er wuͤnſchte damit ſchon in der 
Aufſchrift zum Ausdruck zu bringen, daß er nicht etwa nur in den Ergeb⸗ 
niſſen, ſondern zumal auch im Leitgedanken und in den Methoden von 
feinen Vorgaͤngern durchgreifend abweiche; und es muß zugeſtanden wer 
den, daß durch die Anwendung des Entwicklungsgedankens auf den frag⸗ 
lichen Tatſachenkreis — verſteht ſich, ſowohl im Sinne phylogenetiſcher 
wie auch monogenetiſcher Entwicklung — die Morphologie der Organe 
von ihm zuerſt in das Licht einer möglicherweife verſtaͤndlichen Zeichen · 
ſprache des Innenlebens geruͤckt worden iſt. In der Beziehung wird zu⸗ 
mal ſeine „Symbolik“, daneben auch die am beſten hier zu erwaͤhnende 
„Phyſis, Zur Geſchichte des leiblichen Lebens“ (51) ihren geiſtesgeſchicht⸗ 
lichen Wert behalten. Inwiefern wir gleichwohl die Grundfrage der Phy⸗ 
ſtognomik damit noch nicht für geloͤſt erachten, haben wir in unferen 
Schriften mehrfach zum Ausdruck gebracht. 

Nach unſerem Dafuͤrhalten fein Bedeutendſtes und Bleibendſtes find 
aber feine ſee lenkundlichen Werke, von denen außer der im Mittelpunkte 
ſtehenden „Pſyche“ zu nennen find: „Vorleſungen über Pſychologie (3 J), 
„Über Lebensmagnetismus” (57) und „Vergleichende Pſychologie der Ge⸗ 
ſchichte der Seele in der Reihenfolge der Tierwelt“ (66). — Dem Beduͤrfnis, 


»Im Verlage von Niels Bampmann (Celle) iſt ſoeben, wie wir hören, auch die 
„Symbolik neu herausgekommen. Vgl. „Ausdrucks bewegung und Beftaltungs- 
kraft oe „Einführung in die Pſychologie der Sandſchrift“ (Seifert-Per- 
lag, Seilbronn). 


Die Bedeutung von C. G. Carus für die Pſychologie 35 


von feiner Forſchungsweiſe die Prinzipien herauszuſtellen, entſprang fein 
„Organon der Erkenntnis der Natur und des Geiſtes“ (56). 

Aber auch damit haben wir die geſtalteten Niederſchlaͤge dieſes Geiſtes 
bei weitem noch nicht erſchoͤpft, der in feiner ſtoffgeſaͤttigten Univerfalltaͤt 
an ſein großes Vorbild Goethe gemahnt! Wenn heute von romantiſcher 
Naturphiloſophie die Rede iſt, fo pflegt man an den (weit Gberfchägten) 
Blender Schelling und allenfalls an Maͤnner wie Oren, Riefer, Ritter, 
Steffens zu denken. Aber ebenſo wie unter den ſpaͤtromantiſchen Seelen⸗ 
forſchern noch ein Schubert feiner Auferſtehung harrt, fo unter den ſpaͤt⸗ 
romantiſchen Naturphiloſophen Carus, der nicht nur mit feinen ſchoͤnen 
„Zwoͤlf Briefen über das Erdleben“ (4 J), ſondern auch mit dem ſyſtematiſch 
zuſammenfaſſenden „Natur und Idee (61) eine heute entfernt noch nicht 
ausgeſchoͤpfte Weltdeutung geboten hat. 

Zu alledem greifen manche feiner Schriften in das Gebiet der Weisheits⸗ 
lehre, der Kunſtwiſſenſchaft und der Literaturwiſſenſchaft Aber. Wie be⸗ 
kannt, war Carus, teilweiſe angeregt durch den ihm befreundeten Land- 
ſchafter Caſpar David Friedrich, auch Landſchaftsmaler von nicht zu unter · 
ſchaͤtzender Begabung. Schon 1835 gab er feine noch heute hoͤchſt leſens · 
werten „Briefe über CLandſchaftsmalerei“ heraus. Dazu geſellen ſich ſpaͤter 
feine „Betrachtungen und Gedanken vor auserwaͤhlten Bildern der 
Dresdner Galerie“ (67). — Der Weisheitslehre angehoͤrt fein Buch uͤber 
„Die Lebenskunſt nach den Inſchriften des Tempels zu Delphi“ (63) und 
am paſſendſten ebenfalls dorthin rechnet man feine Schriften Aber Goethe: 
Briefe über Goethes Fauſt (35) — Goethe (43) — Goethe und feine Be⸗ 
deutung für dieſe und kuͤnftige Zeit (49). 

Wir heute inmitten einer Zeit der gluͤckloſen Saft, die mehr oder minder 
jeden in ihren zermalmenden Malſtrom reißt, ſtehen zaghaft und kaum es 
faſſend vor ſolcher Fruͤchtelaſt eines einzigen Lebens, das keiner Einſtedelei 
und Abſonderung bedurfte, um ſich dennoch gleich einem Rieſenbaum nach 
allen Seiten zu verzweigen, ohne deshalb zu verflachen, und moͤgen uns an 
dergleichen Monumenten der Vergangenheit darauf beſinnen, daß die 
Menſchheit jeden Gewinn an machthungriger Tatkraft unfehlbar bezahlt 
mit ſchwerer wiegenden Verluſten an Seele und Bildnertum! | 


56 Friedrich Grave 


Sriedrich Grave / Die vierzehn 
Punkte von der §reiheit des Willens 
Eine naturphiloſophiſche Studie 


„Bis endlich in die rinnenden Gewebe 

einſchlaͤgt des Willens grollende Gewalt 

und eins ergreift inmitten ſeiner Schwebe — 
Cbriſtian 5 


Fi an!“ — dieſe Bitte, gerichtet an die Philoſophen unſerer Tage, 


ſcheint aus den Blicken jener uͤber die Lande verſtreuten Schar zu 
| ſprechen, in der ſich der gegenwärtige Bildungs · (Umbildungs-, Neu; 
bildungs · wille am edelften verkoͤrpert. 

„Fanget endlich an! — ſtatt geſchichtliche Revuen zu veranſtalten oder 
Programme zu ſchreiben. Fanget an irgend einer ‚Stelle an mit dem, 
was nach fauſtiſcher Auffaſſung immer am Anfang ſtehen muß (zumal 
wenn ihr für eine JZeitſchrift ſchreibt, deren Titel es euch, heilſam 
zwingend, unaufhoͤrlich zuruft). Wahrlich, wir glauben es: am Anfang 
war die Tat — und nicht das Programm, und erſt recht nicht die Revue!“ 
Solchen Worten, wer immer ſie aͤußern mag, ſtimme ich herzlich zu und 
waͤhle als „Anfang“ die Tat ſelbſt, oder vielmehr das, woraus fie ent- 
ſpringt: die Freiheit des Willens. Daß ich in ihr einen Bau⸗ und Eckſtein 
zur Begründung einer neuen Naturphiloſophie fand, verdanke ich einem 
fruͤheren Schulkameraden, der ſich inzwiſchen als Biologe Forſcherruf er- 
worben hat und von mir vor zwei Jahren mit Überreichung meiner meta⸗ 
phyſiſchen Schrift „Das Chaos als objektive Weltregion” bedacht wurde. 
Die Schrift fand nicht feinen Beifall. Er wollte alle Metaphyſik prinzipiell 
ablehnen, indem er es eine „Kleinigkeit“ nannte, das geſamte Geſchehen 
der Welt kauſal⸗analytiſch zu erklären —, da wir doch zum Kauſalprinzip 
ein aͤhnliches Verhaͤltnis der Unentrinnbarkeit haͤtten wie die Boldfifche 
zum Aquarienglas. Ich ſchoß empor und fandte ihm eine feurige Garbe 
zuruck, in der die Behauptung vorkam, die Kaufalitär ſei die Nanaille 
unter den zeitlichen Verknuͤpfungsformen, deren Ochlokratie in der Ge ; 
ſchichte der wiſſenſchaft etwa um dieſelbe Zeit begonnen haͤtte, in der auf 
ſozialem Gebiete das Wort von der Gleichheit aller Menſchen zum erſten 
Mal erklungen wäre. — Es ergab ſich bald Gelegenheit zu muͤndlicher 
Ausſprache, und nun folgte eine nächtliche Debatte im Freundeskreiſe, in 
der gegen mein werk alle Argumente eines naturwiſſenſchaftlichen Po⸗ 
ſitivismus losgelaſſen wurden. 

„Aber der Menſch legt oft die Eier, die man ihm — an den Kopf wirft“ 
— ſagt Jean Paul (in „Des Luftſchiffers Giannozzos Seebuch“, Erſte 


Sahrt). 


Die vierzehn Punkte von der Freiheit des Willens 57 


Aus jener Auseinanderſetzung ging eine andere, größere hervor, die in 
Materialien abgeſchloſſen vorliegt und die ich in der Einfuͤhrung zu „Cha- 
otica ac Divina“ S. 270 als die Auseinanderſetzung mit dem Ewigen 
rechten und dem Ewigen linken Slügel des Geiſtes bezeichnet habe. Aus ihr 
bildet das Folgende einen Ausſchnitt, der einerfeits die ſehr vorläufige 
Begruͤndung der Willensfreiheit in „Chaotica ac Divina“ S. 248 ff. be- 
deutend vertieft, anderfeits nur den allerengſten Bern des Befamtpro- 
blems auf bricht — auf den freilich am Ende alles ankommt. 

Nun ſcheint einem Verſuch, das Problem der Willensfreiheit auf dem 
Boden „ theoretiſch“ bleibender Naturphiloſophie und ohne Sinblick auf 
eine Ethik loͤſen zu wollen, durch Kant von vornherein das Urteil ge- 
ſprochen zu fein. Nicht freilich deshalb, weil nach Kant die Willensfreiheit 
uͤberhaupt kein Erfahrungsbegriff iſt. Denn das iſt die gemeine Kauſalitaͤt 
auch nicht. Aber Kant glaubt einen Unterſchied beider darin zu ſehen, daß 
der Begriff von RNauſalitaͤt durch die Erfahrung beſtaͤtigt, ja durch dieſe 
gefordert werde, der Begriff von Willensfreiheit hingegen durch die Er⸗ 
fahrung niemals beſtaͤtigt werde und dennoch ſich behaupte (vergl. 
„Grundlegung zur Metaphyſik der Sitten”, Abſchnitt „Von der aͤußerſten 
Grenze uſw. “). Deshalb nennt Kant die Kauſalitaͤt einen Verſtandes⸗ 
begriff (Kategorie), die Willensfreiheit „nur eine Idee der Vernunft.“ 

Der folgende Verſuch unternimmt es nachzuweiſen, daß ein biologiſcher 
Begriff von Willensfreiheit durch die Erfahrung nicht nur beſtaͤtigt, ſon · 
dern ſo ſehr gefordert wird, daß ohne ihn Erfahrung im Umkreis des 
Joologiſchen ſchlechtweg unmoͤglich wäre. Ich behaupte, daß wir nicht die 
geringſte tieriſch⸗menſchliche Regung, nicht das Sinuͤberlaufen eines 
undes über die Straße erfahren koͤnnen, als tieriſche Selbſtbewegung er- 
fahren koͤnnen, ohne Willensfreiheit vorauszuſetzen —, genau wie wir 
„phyſiſche ! Geſchehniſſe nicht erfahren koͤnnen, ohne Kauſalitaͤt voraus⸗ 
zuſetzen. Wille oder was notwendig dasſelbe iſt: freier Wille — ruht auf 
der allgemeinen Sorm der Aktivitat, in der ich eine Kategorie im Sinne 
Kants, eine Bildeform im Sinne der eigenen Metaphyſik erblicke. | 

Die Naturphiloſophie fragt nicht, was „bätte geſchehen follen, ob es 

gleich nicht geſchehen ift” ; fie zieht den Blick der Tranſzendentaliſten aus 
der hohen Sphäre ethiſcher Forderungen zur Erde nieder, um ihnen das 
y naturliche Wurzelreich des Willens zu zeigen. Sie hofft das zu leiften, 
was Kant (vergl. Fußnote im 3. Abſchnitt der Grundlegung d. M.) als 
wuͤnſchenswert empfunden, aber als menſchliche Erkenntniskraft über- 
ſteigend von ſich abgehalten hat: „die Freiheit auch in ihrer theoretiſchen 
Abſicht zu beweiſen / und damit eine N „Laſt“ zu heben, „die die 
Theorie druͤcktꝰ. 
2 | 
u dieſem Zweck wird die Naturphiloſophie zunaͤchſt über die Enge des 
Gegenſatzes „Kauſalitaͤt Willensfreiheit“ hinauskommen und einen 


58 | Friedrich Grave 


Abriß ſaͤmtlicher moͤglichen Verknuͤpfungstatbeſtaͤnde geben muͤſſen, in 
denen Freiheit ſtattfinden kann. Das philoſophiſche Arbeitsfeld wird ſich 
hierdurch in unerwarteten Richtungen dem Umfange nach erweitern, aber 
die Problematif wird ſich, nunmehr aus einem Ganzen ſtatt aus heraus; 
geriſſenen Teilen ſchoͤpfend, ebenſo unerwartet vereinfachen. 

Im vorgeſchriebenen Rahmen dieſes Aufſatzes kann dergleichen nicht 
unternommen, ſondern nur inſoweit angedeutet werden (ſub 3), als es 
erforderlich iſt zur Vermittlung des Verſtaͤndniſſes dafür, daß die Frucht 
barkeit des Vergleiches von „phyſiſchem Geſchehen“ und Wollen haupt; 
ſaͤchlich von der Wahl der richtigen Anſaͤtze abhaͤngt. 

Da die Behauptung, der wille ſei frei, wegen der Mehrdeutigkeit des 
Ausdruckes „frei“ mancherlei Miß verſtaͤndnis zulaͤßt, erſetzen wir fie durch 
folgende Theſe: „Der Strom eines konkreten kauſalen Geſchehens bricht 
ſich an einem konkreten Akte des Wollens.“ 


3 | | 

Aoethe fagt einmal: hundert graue Pferde machen noch keinen Schim⸗ 

mel. Man koͤnnte auch ſagen: hundert kleine Banknoten ergeben noch 
keine große Banknote. Oder allgemeiner: hundert a ergeben noch kein A. 
Um den Sinn dieſes einfachen Satzes dreht ſich der ganze Streit Gber das 
Kauſalprinzip. Der Kauſaliſt iſt ein Menſch, der ſich zutraut, ein A in 
hundert a, ein B in hundert b, ein C in hundert c auflöfen zu koͤnnen; ein 
Menſch, der nur einen Reihen ⸗ aber keinen Rangunterſchied der Tatſachen 
anerkennt. Und keinen Rangunterſchied der Geſchehniſſe. Ihm beſteht 
alles Geſchehen aus Kettengliedern mit dem einzigen Range a, oder 
vielmehr aus Gliedern ohne jeden Rang. Eine ſolche Optik hat etwas 
poͤbelhaftes. Man kann ihr entgegenſetzen: wie es verſchieden geſtufte 
Raumſtrukturen, wie es insbeſondere vier uͤbereinander aufſteigende 
Naturreiche (Stoff, Kriſtall, Pflanze, Tier,) gibt, fo gibt es Soͤhenlagen 
des Geſchehens. Alle Kauſalitaͤt gehoͤrt der niederſten Soͤhenlage an: fie 
iſt die ſchlichte Verknuͤpfung ſtofflicher Daſeins · Elemente. Über ihr erheben 
ſich die Höhenlagen kriſtalliſcher Derwachſung (Coeno⸗ und Synkriſtalle), 
pflanzlicher Fortpflanzung und animaliſcher Willens ſchoͤpfung. Jede 3oͤ⸗ 
henlage ruht auf ſaͤmtlichen niederen, ihr „unterliegenden“, und über- 
lagert fie mit einer neuen ſpezifiſchen Jeitform (Superpoſition), die in ſich 
ein einfaches, unzerlegbares Element iſt, das jeder Analyſe trotzt. 

Im Gebiete der Raumſtrukturen, ja ſchon der einfachen Raumgeſtalten 
(Figuren) leuchtet es ohne Muͤhe ein, daß ein Ganzes mehr iſt als die 
Summe feiner Teile, fo oft es auch in der Anwendung überfeben wird. 
Suͤr die Zeitgeſtalten kann man ſich einer entſprechenden Einſicht nicht ver ⸗ 
ſchließen, ſobald man fie zeichneriſch ſymboliſiert (durch Kurven, muſika⸗ 
liſche Noten u. dergl.) oder auch, ſoweit man fie als Melodie zu hoͤren ver; 
mag. Das, was insbeſondere eine Tonfolge zur Melodie macht, iſt ein 


Die vierzehn Punkte von der Freiheit des Willens 59 


herrſchendes Geſtaltelement, das — ſowohl objektiv, wie auch ſubjektiv, 
im „Ohr“ des Bomponiften — zwar auf ſich anbietende Töne angewieſen 
iſt, aber nicht von ihnen ergriffen wird, vielmehr ſie ergreift, ſich ihrer be⸗ 
dient! Dies Geheimnis — wie dergleichen moͤglich iſt! — iſt auch das Ge⸗ 
heimnis des freien Wollens. 


4 

De Tatbeſtaͤnde der Umwelt kommen unmittelbar als kauſale Glieder 

eines Wollensverlaufes nicht in Betracht. Sie bedürfen vielmehr erſt 
erkenntnismaͤßiger Ergreifung und „Verarbeitung“ zu Vorſtellungen und 
erleiden ſchon bei dieſem Prozeß durch die Spontaneitaͤt des ihnen ent · 
gegentretenden Willens eine „Daͤmpfung“ (worauf näher einzugehen der 
Raum nicht erlaubt). — Als kauſale Glieder eines Wollensverlaufes koͤn⸗ 
nen alſo nur Vorſtellungen oder — noch vorſichtiger ausgedruckt — innere 
Tatbeſtaͤnde in Betracht kommen: wir nennen fie gewöhnlich Motive. Man 
It nun vielfach der Meinung, daß jeder Willensakt auf irgendwelche Mo⸗ 
tive Beſtimmungsgruͤnde des Sandelns reſtlos zuruͤckgefuͤhrt werden 
koͤnne und daß ſelbſt da ein — häufig unbewußtes — Motiv den Ausſchlag 
gegeben habe, wo es ſich vor der Bewußtheit des Willens gerade um die 
Niederringung von irgendwelchen Motiven gehandelt habe. Dieſer Über- 
zeugung ſteht eine andere gegenüber, die die letzte Auswahl des beftimmen- 
den Motives als freie Tat des ſouveraͤnen Ich in Anſpruch nimmt: als 
Indeterminismus ſteht fie dem Determinismus gegenüber. 

Objektiv war der Streit bisher nicht los bar, und zwar deshalb, weil über 
das Wefen von Kaufalitdt und alles deſſen, was damit zuſammenhaͤngt, 
Dunkel herrſchte. Man ſah dieſe Verknuͤpfungsform nicht im Zuſammen⸗ 
hang der welt, man ſah ſie nicht „organiſch“. Man griff aus einem kau⸗ 
ſalen Verlauf irgend etwas heraus, was man ſtimmungsmaͤßig fuͤr we⸗ 
ſentlich hielt, und ſchuf Definitionen, die eine „logiſche Bearbeitung der 
naiven Dorftellungen” fein ſollten, aber in Wahrheit ein Treubruch gegen 
den ſicher und gut fuͤhrenden Genius unſerer Sprache waren. Der Genius 
der Sprache ſagt: Urſache, das iſt eben eine Ur ⸗Sache, eine Sache. Der 
ogiker iſt kluger: bewahre! Urſache iſt ein vorhergehender Vorgang 
(3. B. Wundt) oder ein 3uftand (3. B. Schopenhauer). Nicht minder find 
die Gelehrten unter ſich verſchiedener Anſicht uͤber das Verhaͤltnis von 
Urſache und Bedingung. So iſt beim Fall eines Steines nach Wundt die 
Erdanziehung bloße Bedingung und feine vorhergegangene Sebung die 
eigentliche Urſache; nach Sigwart iſt es umgekehrt. — Beide Männer find 
aber wohl darin einig, daß die Erdanziehung uberhaupt in den Baufal- 
nexus hineingehoͤrt: was m. E. nicht der Fall iſt. — So iſt die allgemeine 
Unklarheit ziemlich heillos; der Leſer der großen werke wird klug, aber 
nicht innerlich hell gemacht. 

Ich glaube eine Exklaͤrung der angedeuteten Dinge vorlegen zu koͤnnen, 


60 Friedrich Grave 


die vor allem Selligkeit verbreitet. Sie findet ihre naͤchſte Stuͤtze in der 
Theorie von den Strukturen (Befeelungsformen) der vier Naturreiche, die 
ich in den beiden anfangs erwaͤhnten Schriften“ aufgeſtellt habe. Insbe⸗ 
ſondere ergaͤnzt fie ſich mit meinen Definitionen von Stoff und Tier 
(Menſch) zu einer harmoniſchen Geſchloſſenheit. 


As Zeitverknuͤpfungen ſpielen ſich an Mikrokosmen, alſo raͤumlichen 
Subſtraten ab und bedeuten Bearbeitung einer in die Subſtrate einge⸗ 
gangenen Bewegung in eben dieſen Subſtraten, eine Bearbeitung, die bloße 
weiterleitung oder Transformation ſein kann. Dieſer einzige Satz gilt fuͤr 
die Kauſalitaͤt wie für das Wollen gemeinſam. Alle anderen Ausſagen über 
dieſe beiden Formen und die ihnen unterliegenden Subſtrate zeigen eine 
Gegenſaͤtzlichkeit und doch wieder Entſprechung, weshalb es ratſam iſt, 
ihren Parallel verlauf auch ſichtbar zum Ausdruck zu bringen. Dies ſoll ge; 
ſchehen in den folgenden 


Vierzehn Punkten 
J A. Das vorbildliche, vom Determi- I B. Das Wollen fpielt ſich an und in 


nismus als Muſter benutzte Baufalge- 
ſchehen ſpielt ſich an und in einem Stoff; 
komplex ab. In einem Stoffkomplex 
geht etwas vor, wenn gewirkt wird, 
vermöge einer ſeeliſchen Form, die von 
mir a. a. St. mit dem Terminus „Be⸗ 
ſtaͤndigkeit“ belegt wurde („Chaotica“ 
Seite 139). 

2 A. Der Stoffkomplex iſt irgend ein 
molekulares Aggregat. Er ſei im Fol- 
genden repraͤſentiert durch einen be- 
ſtimmten Stein beliebiger Große. 


3 A Der angenommene Stein bat 
keinen naturlichen (weſensnotwendi · 
gen), ſondern immer nur einen zufaͤlli⸗ 
gen oder künſtlichen Umfang. Er tritt 
ſtets als „Stück“ auf. — Indem man 


einem Individuum ab. Ein Indivi- 
duum tut etwas, wenn gewollt wird, 
vermöge einer ſeeliſchen Form, die Wille 
beißt („Chaotica“ S. 143). 


2 B. Das Individuum iſt die nervoͤſe 
maſſe eines Tieres oder Menſchen 
( „Chaos“ S. 44). Es ſei im Folgenden 
repräfentiert durch das Modell eines 
menſchlichen Gehirns (mit nervoͤſem 
Anhang), in dem das Auftreten jedes 
bewußten wie unbewußten Motivs 
phyſiologiſch wahrgenommen werden 
konne. ä 

3 B. Die nervdfe Maſſe hat einen 
natürlichen (weſens notwendigen) Um⸗ 
fang. Sie tritt ſtets als geſchloſſene 
Naturbildung auf. Als Vermittler von 
Willens ſetzungen heißt fie Schöpfer. 


» Auf diefe Schriften wiederholt Bezug zu nehmen, ift unerläßlich, da die Löfung 
eines Problems, wie des gegenwärtigen, nur aus einer großen Pbilofopbie als 
ibre Frucht herausfallen kann. Die „Chaotica ac Divine“, Eugen Diederichs Verlag 
1926, br. N 10o.—, geb. M 13.—, find im folgenden als „Chaotica“ zitiert, „Das 
Chaos als objektive Weltregion“, Walter de Gruyter & Co. 1924, als „Chaos“. 


Die vierzehn Punkte von der Freiheit des Willens 61 


in Stucke den Schein einer geſchloſſenen 
Naturbildung durch Einfuͤhlung hin; 
eintraͤgt, macht man aus Stücken 
„Sachen“. — Auch der Stein, als Ver 
mittler kauſalen Geſchehens, heißt 
Sache, und zwar Ur ⸗Sache („Chaotica“ 
S. IG. 

4 A. Man darf die Aauſalität nie · 
mals in der „Sache“ als ſolcher, d. h. 
als einer Ganzheit ſuchen, ſondern nur 
in ihren kleinſten Stoffteilen (wenn 
auch nicht in Einzel molekuͤlen), die nur 
durch „kubiſche Jentrierung“ aneinan ; 
der gebunden find. — „Aubiſche Jen ⸗ 
trierung“ will befagen, daß Jentrum 
und Umfang eines Stückes zufammen- 
fallen, oder daß die Seele („Beſtaͤndig 
keit“) in jedem Teile gleich maͤßig wirkt, 
und zwar als Robäfion innerlich und als 
Elaſtizitaͤt aͤußerlich („Chaotica“ S. IG). 

5 A. Der angenommene Stein befin- 
det ſich in einer unbegrenzten Um⸗ 
gebung; das ſelbe mit anderen Worten: 
der urſaͤchliche Stoffkomplex ruht in 
einem Bedingungs komplex. Infolge 
einer aͤußeren Veranlaſſung bringt 
jener in ihm, dem Bedingungskomplex, 
eine Wirkung hervor. 

Urſache und Bedingung find Raum · 
begriffe; Veranlaſſung und Wirkung 
ſind Jeitbegriffe. 


6 A. Die Veranlaſſung geſchieht ſtets 
durch einen anderen Stoffkomplex, der 
an ſich auch als Urſache behandelt wer⸗ 
den konnte. Urſaͤchlicher und veranlaſ · 
ſender Komplex find alſo objektiv mit · 
einander vertauſchbar; Beiſpiel: Ju⸗; 
ſammenſtoß zweier Steine. — Dies be⸗ 
ruht darauf, daß man vermoͤge der Re · 
lativitaͤt der aͤußeren Bewegung jeden 
Stein als ruhend und wechſelweiſe den 
anderen als bewegt ſetzen kann. Die 
Setzung beruht auf einer Konvention, 
die im allgemeinen die mit der Erde ver; 
bundenen Dinge als ruhend behandelt. 
Für einen fliegenden Stein exiſtiert die ſe 


4 B. Man darf das Wollen, und da ; 
ber auch die angebliche Baufalität des 
Wollens, niemals in einzelnen Gehirn; 
oder Nervenfaſern ſuchen, ſondern nur 
in ihrer Verbindung zu einem punk. 
tuell zentrierten Ganzen, eben dem In · 
dividuum. Dieſes iſt es, das will; nicht 


die Safer. „Punktuelle Jentrierung“ 


will beſagen, daß die Beziehungen 
zwiſchen innen und außen und den Tei ⸗ 
len unter ſich als zentripetale und zen · 
trifugale in einem Punkte ihre Ba⸗ 
lance finden. 

5 B. Die nervòſe Maſſe befindet ſich 
in einer begrenzten Umgebung (Bör- 
per); das ſelbe mit anderen Worten: das 
ſchoͤpferiſche Individuum ruht in einem 
Komplex koòͤrperlich⸗techniſcher Mittel. 
Infolge einer Eingebung (inneren 
„Veranlaſſung“) oder Motivſetzung 
bringt es in ihm, dem Mittelkomplexr, 
eine Sandlung hervor. 

Schöpfer und Mittel komplex find 
Raumbegriffe; Motivfegung (Motive: 
tion) und Sandlung find Jeitbegriffe. 

6 B. Die Motivation geſchieht ſtets 
durch einen nervoͤſen Teilkomplex, der 
niemals als Schöpfer behandelt werden 
konnte. Schöpfer und Motiv find daher 
nicht vertauſchbar. Die innere Be⸗ 
wegung der Motivation iſt infolge 
ihrer feſten Orientierung am mikrokos · 
miſchen Jentrum keine relative Be 
wegung. 


62 Friedrich Grave 


feine aͤußere Bewegung als ſolche über- 
haupt nicht, er „weiß nichts davon“ 
und kann deshalb auch nichts an ihr aͤn⸗ 
dern (gewöhnlich Prinzip der Trägbeit 
genannt). 

7 A. Der Baufalvorgang fpielt ſich 
ſo ab: 

Der Stoff komplex, 3. B. der geſtoßene 
Stein, läßt nichts in ſich hereinkommen, 
er haͤlt es ab, leitet die Bewegung des 
Störers durch ſich (obwohl nicht durch 
fein „Inneres“ „Chaos“ S. 31) bin⸗ 
durch und gibt ſie als Druck oder Stoß 
nach außen zuruck bzw. weiter, um 
ſchnellſtens wieder zur Ruhe zu kom⸗ 
men. Er iſt ſozuſagen einzig auf ſei⸗ 
nen Beſtand (Molekuͤlbeſtand) bedacht; 
der Leitſatz feiner „Beſtaͤndigkeit“ lau; 
tet wie der des Lindwurms in den Ni⸗ 
belungen : „Ich lieg’ und beſitze: — laßt 
mich ſchlafen !“ Der Geiſt des Drachen 
iſt der Geiſt des Stoffes und der Aau⸗ 
felität. 

Ein Gleichnis zum oben geſchilderten 
Vorgang: eine Ariegsarmee als Sol 
daten ⸗Aggregat. Abwehr der feind; 
lichen Macht um ſeden Preis. Prinzip 
des „Dichthaltens“. 


8 A. Demgemaͤß iſt der Stoff phyſi ; 
kaliſch undurchdringlich. Denn dies will 
befagen: er laßt Angriffe „abprallen“ 
zum Schutze feiner Molekule, die „un⸗ 
ter ſich“ bleiben „wollen“. 


7 B. Der Willensakt ſpielt ſich ſo ab: 

Das Individuum laͤßt etwas in ſich 
hereinkommen (zentripetal), nimmt es 
auf, um ſich ſelbſt mit ſeiner Silfe in 
Bewegung zu ſetzen, in eine Bewegung, 
die erſtens wieder nicht relativ iſt, die 
zweitens in den Mittelkomplex zentri⸗ 
fugal ausſtrahlt, und die drittens dem 
Individuum die Ruhe — nimmt. — 
Das Individuum iſt ſozuſagen einzig 
auf ſeinen Selbſtverbrauch bedacht, der 
Ceitſatz des Willens lautet wie das 
Siegfried - Wort: „Schaff ſt du ein leich; 
tes Lager zum Schlaf — der Schlum- 
mer wird mir da ſchwer “. Und ein an ; 
deres Siegfried ⸗ Wort (ſich beziehend 
auf den erbeuteten Nibelungenſchatz) 
— „Was ihr mir nuͤtzet, weiß ich nicht“ 
— verkündet die Feindſchaft gegen den 
Stoff. (Ju beiden Worten finden ſich 
Parallelen bei Fauſt, dieſem Siegfried 
einer Sochkultur, nämlich: „Werd' ich 
beruhigt je mich auf ein Saulbett legen 
uſw.“; „Was man nicht nützt, iſt eine 
ſchwere Laſt, nur was der Augenblick 
erſchafft, das kann er nutzen.“) — Der 
Geiſt Siegfrieds (Fauſtens) iſt der Geiſt 
des Individuums und des Wollens. 

Ein Gleichnis zum oben gefchilder- 
ten Vorgang: eine Briegsarmee als 
militär. Inſtanzenorganiſation. Ser⸗ 
einnahme wichtiger Botſchaften, Ein; 
fangen von Spionen, ihre Benutzung; 
Dispoſitionen über die Armee, Einſetzen 
von Truppen durch die oberſte Seeres · 
leitung. Prinzip des „Lockerhaltens“. 

8 B. Demgemaͤß iſt das Individuum 
aktiv durchdringlich. Denn dies will be 
fagen: es läßt manches in ſich herein ; 
kommen, um es dann, felber angrei- 
fend, als Bahn feines Schoͤpferlaufs, 
als Cauf - Bahn zu benutzen. 


Die vierzehn Punkte von der Freiheit des Willens 63 


9 A. Wie iſt das moglich? 

Einerſeits dadurch, daß der Stoff 
elaſtiſch iſt, das heißt: einem Angriffe 
außerlich nachgibt, durch Erſchutte 
rung, Dehnung (wie eine angegriffene 
Armee), kurzum: durch Bewegtheit; 

anderſeits dadurch, daß er kohaͤrent 
iſt, das heißt: feinen Molekuͤlverband 
nicht zerreißen laͤßt. 

Auf beiden Momenten ruht ſeine ſog. 
„koͤrperliche Feſtigkeit, die einen Ver · 
gleich mit der ſeeliſchen des Indivi 
duums heraus fordert. 


9 B. Wie iſt das moglich? 

Einerſeits dadurch, daß das Indivi⸗ 
duum Paſſivitaͤt (kriſtalliſche Emp- 
faͤnglichkeit) beſitzt, vermoͤge deren es 
Fremdkomplexe zu Teilen von ſich ſel⸗ 
ber, zu nervoͤſen Teilkomplexen, machen 
kann („Chaotica“ S. 134, 146); 

anderſeits dadurch, daß es ſich, dank 
ſeiner animaliſchen Aktivität, von 
ihnen nicht benutzen läßt, ſondern fie 
ſelber benutzt. 

Auf beiden Momenten ruht ſeine 
ſeeliſche „Feſtigkeit“, die einen Ver⸗ 
gleich mit der „körperlichen“ des Stof ; 
fes herausfordert. 


„Stehen wie Felſen doch zwei Männer gegeneinander!“ 
(Goethe, Sermann und Dorothea) . 
Vgl. auch die Ausdrucke: trotziger Fels; Sartkòpfigkeit, Dickſchaͤdel. 


Jo A. Die Seftigkeit des Stoffes hat 
verſchiedene Grade, die feine Tüchtig⸗ 
keit begruͤnden. Dieſe ſchwankt zwiſchen 
idealer Viormerfüllung und aͤußerſter 
Normabweichung. 

aa Eine Abweichung bezüglich der 
Elaſtizitaͤt zeigt ſich darin, daß der 
Stoff, 3. B. der geſtoßene Stein, nicht 
liegen bleibt, ſondern ausweicht. Weni⸗ 
ger tuͤchtig find Küſſigkeiten, am un⸗ 
tůchtigſten Gaſe. Sie leiten die Be 
wegung am wenigſten weiter, weil ſie 
am wenigſten erſchuͤttert werden. Ihr 
aͤußerer Ortswechſel iſt am größten, iſt 
für fie jedoch ein mikrokosmiſches Ni ⸗ 
bil (vgl. oben 6 A.). Die Heinften Teile 
von Gaſen verhalten ſich etwa wie ein 
ſtarres, nahezu unelaſtiſches Lineal, 
das man in der Richtung der Laͤngs⸗ 
achſe weiterſchiebt: es erſchůttert auch 
ſeine Umgebung nicht oder kaum, ſon⸗ 
dern ſchiebt fie weiter. Es würde, ge 
fragt, jede Bewegung beſtreiten, un- 
geachtet der „Stimmenmajoritaͤt“ der 
in ſeiner Umgebung befindlichen Dinge. 


bb) Eine Abweichung bezüglich der 


30 B. Die Feſtigłeit des Individuums 
hat verſchiedene Grade, die feine Tuͤch ; 
tigkeit begründen. Dieſe ſchwankt zwi⸗ 
ſchen idealer Normerfuͤllung und dußer- 
ſter Normabweichung. 

aa) Eine Abweichung bezuglich ſei⸗ 
nes Moti vations komplexes zeigt ſich 
darin, daß das Individuum kein als 
Bewegungsbahn ſeines Willens ge⸗ 
eignetes Motiv befigt und in Ruhe ver 
barrt. Weniger tuͤchtig iſt der ſozial 
niedrig Stehende (weil weniger „orien⸗ 
tiert“, weniger „gebildet“ in einem 
Sinne, der die chaotologiſche und die 
landlaͤuſige Bedeutung des Wortes 
„Bildung“ wunderbar vereinigt); am 
wenigſten tuͤchtig iſt der Proletarier. 
Dieſer verarbeitet die Fremdkomplexe 
am wenigſten innerlich und wird am 
meiſten durch aͤußere Bewegungen 
yſtoffartig“ (ſuggeſtiv) erſchuͤttert. Sei⸗ 
ne innere Bewegtheit (Labilität) iſt am 
größten, er bält fie aber für Selbft- 
bewegung und würde, gefragt, fein 
„Geführtſein“ beſtreiten, ungeachtet 
der Majoritaͤt der Bompetenten. 

bb) Eine Abweichung bezuglich der 


67 Friedrich Grave 


Bobäfton zeigt ſich darin, daß der 
Bompler, 3. B. der geſtoßene Stein, 
zwar liegen bleibt, aber ſich unter dem 
Angriffe chemiſch, elektriſch uſw. zer⸗ 
ſetzt. Auch dieſen Vorgang wuͤrde der 
Stoff felber, konnte er reden, eben in ; 
folge ſeiner „Schwaͤchung“, nicht an⸗ 
erkennen. 


II A. Von bier aus ergeben ſich die 
intereſſanteſten Ausblicke auf eine 
kuͤnftige vergleichende Pſychologie der 
Stoffe und des Menſchen (der Tiere). 
Vgl. „Cbaos“ S. 55. — So ſei nur 
kurz hingedeutet auf den Vorgang der 
kinetiſchen Erwarmung, der in einer 
Revolutionierung der Molekule be⸗ 
ſte ht und herbeigefuͤhrt wird aa) durch 
uͤbermaͤßige Erſchůtterung als plöy- 
liche Aataſtrophe; bb) durch heimlich 
langſame Bearbeitung der feinſten 
Teile mittels Waͤrmezufuhr. — In beir 
den Faͤllen werden die Molekule „ner 
vs“ u. wollen die Aohaͤſion ſprengen. 
Je nach der „Anfälligkeit“ der Mole⸗ 
küle find die verſchledenen Stoffe gute 
oder ſchlechte Wärmeleiter. — Fur die 
meiſten Stoffe gibt es ein in bezug auf 
Rhythmus und Seftigkeit der Erſchuͤt⸗ 
terungen mittleres Maß, das gleichſam 
„als angenehm empfunden“ wird und 
als Norm die größte Bedeutung in der 
Architektur hat. Jedes Saus, jede 
Brucke beruht auf einem „Bonzert” 
ſtoffſeeliſcher Tatbeſtaͤnde. 

12 A. Auch Ausblicke ins Metaphy⸗ 
ſiſche fehlen nicht: der Stoff erſcheint 
als Unterlage eines erſt im Menſchen 
ſich vollendenden Atmungsprozeſſes 
der Gott · Natur. Vergl. „Chaos“ S. 26. 


13 A. Die Feſtigkeit des Stoffes iſt 


Motivbenutzung zeigt ſich darin, daß 
ein vorhandenes Motiv, infolge ner ; 
voͤſer Störung, nicht benutzt wird; fon- 
dern das Individuum feinerfeits „be- 
nutzt“. Das Individuum aber merkt 
auch ſeine Geſtoͤrtheit nicht, ſondern 
modelt die ganze Welt nach den Mo⸗ 
tiven um, von denen es ſelbſt beherrſcht 
wird. ö 

II B. Von hier aus ergeben ſich die 
intereſſanteſten Ausblicke auf eine 
kuͤnftige vergleichende Pſychologie des 
Menſchen und der Stoffe. — So ſei nur 
kurz hingedeutet auf den Vorgang des 
„Nervöswerdens“, der in einer Revo⸗ 
lutionierung der Motivations komplexe 
beſteht und genau umgekehrt wie beim 
Stoffe herbeigeführt wird durch die 
dort als „Ideal“ geltenden mittleren 
Grade. Der Menſch empfindet ſie im 
allgemeinen als Juſtaͤnde dauernden 
Geſtoͤrtwerdens durch Tatbeſtaͤnde, die 
er einerſeits nicht überſehen, anderſeits 
nicht genugend ſchnell bearbeiten kann: 
ihm wird „ganz heiß“ (I). — Von den 
meiften Menſchen werden die beiden 
Extreme als angenehm oder „richtig“ 
empfunden: aa) eine wenn auch ſtarke, 
ſo doch klare Affektion, zu der er, ſich 
zuſammenraffend, Stellung nehmen 
kann; bb) milde, milieuhafte Affek⸗ 
tionen. — Menſchenerziehung und 
Menſchenbe handlung ſollten auf ge ⸗ 
naueſter Benntnis dieſer Verhaͤltniſſe 
ruhen. 

12 B. Ausblick ins Metaphyſiſche: 
der zu 9 B. geſchilderte Vorgang des 
Serein und Sinaus iſt eine ſeeliſche At ⸗ 
mung des Individuums, die ihr Gegen · 
ftüäd hat in der des ebenfalls punktuell 
zentrierten Serzens. — Atmoſphaͤriſches 
wie ſeeliſches Alima haben gleich wich · 
tige Bedeutung in ganz verwandtem 
Sinne, naͤmlich im Sinne eines Quali- 
taͤts anſpruches. („Chaotica“ S. 215, 
229) 

I3 B. Die Freiheit des Individuums 


Die vierzehn Punkte von der Freiheit des Willens 65 


auch eine Art Freiheit: Freiheit von iſt Freiheit von der Baufalität durch 
der Vagabondage geringerer Bildungs ⸗ fein Wollen. 

ſtufen (Feinbauelemente) und von der 

Widerſtandsloſigkeit des „Unſoliden“. 

— Auch die Raufalitdt iſt Freiheit — 


zul generis. 
14 A. Der Stoff iſt der bewegte Un⸗ 14 B. Das Individuum iſt der un ; 
beweger (MNichtbeweger). bewegte Beweger. 


urch die ausführliche Gegenůuberſtellung der Bewegungsvorgaͤnge, wie 

fie ſich einerſeits in ſtofflichem, anderſeits in animaliſchem Gebilde ab- 
ſpielen, iſt m. E. die Entſcheidung zum Problem der Willensfreiheit klar 
gegeben. Um aber mit dem „ewigen Zweifel“ gruͤndlichſt fertig zu werden, 
will ich noch einmal beſonders den Satz herausſtellen, an deſſen Richtigkeit 
zuletzt alles haͤngt. Es heißt zu 8 B und 9 B, daß das Individuum ein 
Motiv nicht leidend, ſondern angreifend heraushebt und — benutzt. 

Der „ewige Iweifel“ ſieht nur das Empiriſche am und im Gehirn: 
Motivkomplexe auf der einen und motoriſche Zentra auf der anderen Seite; 
und ihm ſcheint nichts natuͤrlicher, als daß das kraͤftigſte Motiv fein ent ; 
ſprechendes motoriſches Jentrum kauſal affiziere. 

Verſteifen wir uns nicht darauf, daß dieſer Argumentation bereits durch 
die Bemerkung zu 4 B die Möglichkeit abgeſchnitten iſt, ſondern verſuchen 
die Löfung noch einmal durch unmittelbare „Schau“! 

Stehen ſich das Motiv und fein motoriſches Zentrum nicht ahnlich gegen; 
über wie die Speiſe dem Munde, wie das weibliche Sexualorgan dem 
männlichen, wie die Töne der Melodie, ja wie eine Ware dem Käufer? — 
Welche Symbole des Umſturzes ſind es, wenn der Mund nicht mehr eſſen, 
ſondern nur noch ſich ſtopfen laſſen kann, wenn die Rollen der Sexual ; 
organe ſich vertauſchen, wenn die Ware ſich dem Käufer aufzudraͤngen 
beginnt! Und wenn die Toͤne anfangen, die Melodie zu verzehren, um 
ſelber „unendliche Melodie zu werden, ein Sinnbild des Rauſalgeſchehens, 
wie es im Stoffe (als einem ungeſchloſſenen Rom plex) von kleinſtem Teil 
zu kleinſtem Teil kontinuierlich verläuft! — Welche Symbole des Um⸗ 
ſturzes, eines Erloͤſchens ſtatt einer Erklaͤrung des Wollens 

Das iſt ja alles nur „dynamiſcher Schein“! 

Aber nicht minder waͤre es dynamiſcher Schein, das Prius, die Urſache, 
das Ergreifen, Jeugen, Kaufen, muſikaliſche Geſtalten in den Mund, in 
das Jeugungsorgan, in die Sand des Käufers, in die Geſtalt zu verlegen! 

Nur Eines kann das geſuchte Prius fein: der „Nontaktſchluß“ zwiſchen 
Motiv und motoriſchem Zentrum. In der Pſychologie als „Impuls“ wohl ⸗ 
bekannt, iſt er ein Pulsſchlag des Wollens ſelbſt. Dieſes alſo, das Wollen 
— nun aber nicht im pſychologiſchen, ſondern im metaphyſiſchen Sinne — 
iſt letzter Grund aller Willens Akte oder Sandlungen. Es hat keine em- 
piriſche Urſache, ſondern tranſzendente „Gruͤnde“, aus denen es quellend 
Tat Vu 5 


66 Friedrich Grave 


in die empiriſche Welt hinaustritt, wie die Waſſerquelle ins Tageslicht aus 
dem dunklen Schoß der Erde. Aber das Wollen iſt auch nicht „Urſache“, 
fondern — „Grund“ des Handelns, ewig neuen Sandelns, auch darin der 
Waſſerquelle vergleichbar, die ewig neue Wellen emporwirft. Am Anfang 
war die Tat, aber auch: in jeder Tat ſteckt ein „erſter Anfang“. „Etwas 
tun“ iſt im Sprachgebrauch in weitem Maße gleichbedeutend mit „etwas 
anfangen“. 


| 5 

95 das Handeln der Menſchen iſt doch prinzipiell berechenbar! — Ganz 

gewiß! Doch wir ſprachen bislang vom Wollen, und an ihm iſt nichts 
zu berechnen. Denn es wird in feinem weſen nicht davon beräbrt, ob man 
dies will oder das will — wie auch Erkenntnis als reine Form nicht davon 
beruͤhrt wird, ob man dies erkennt oder das erkennt. 

Handeln hingegen „muß“ jedes empiriſche weſen — gemäß feinem 
empiriſchen Wefen. Doch dieſes Muͤſſen, das man auch „ſubjektive Not⸗ 
wendigkeit“ nennen kann, iſt nun kein kauſales, ſondern ein logiſches. Es 
verknuͤpft nicht zwei zeitliche Tatbeſtaͤnde, ſondern faltet den Bern des 
Wollens ſelber ins Empiriſche auseinander. Jedes Wollen iſt ja ein Sich⸗ 
aͤußern · wollen. Sich äußern kann man nur an techniſchen Mitteln. Das 
Beziehungeverhaͤltnis dieſer auf das Wollen heißt „Zweck“, und die Be⸗ 
ziehung als ausgeführter Akt „Teleologie “ oder Logik des Jweckes. „San⸗ 
deln muͤſſen“ iſt nur ein anderer Ausdruck dafür, daß der vor einer Sand⸗ 
lung Stehende nicht blind, und gleichſam aus dem Nichts, ſondern aus der 
wahren oder für wahr gehaltenen Logik des Zweckes feine Entſcheidungen 
trifft. Er waͤhlt feine Motive nicht fo, wie ein Lotterieſpieler Coſe zieht, 
ſondern wie ein Käufer eine Ware auswaͤhlt. Aus einer Fulle von Angebot 
waͤhlt dieſer das richtige Kleid, die richtige Brille, die richtige waffe. So 
ergeht an den Sandelnden die Mahnung: Pruͤfe alles, und das Beſte be⸗ 
halte! — Das Biologiſche wandelt ſich beim Menſchen zum Ethiſchen. 


6 
De Einwand der Berechenbarkeit läßt ſich noch tiefer widerlegen — 
gewiſſermaßen mit einem argumentum ex universo. Und da alle 
wahre Naturphiloſophie in weltanſchauung eingebettet ruht, ſei es er- 
laubt, die gegenwaͤrtige Betrachtung ſo ausklingen zu laſſen, wie ſie an⸗ 
gehoben hat: weltanſchaulich. 

Auch Gott iſt „berechenbar“. Auf die „Rechnung“ mit ihm kann man 
ſich verlaſſen wie auf nichts anderes. Nicht nur die Cogik und die Mathe⸗ 
matik find getragen von einem Sich⸗Verlaſſen auf Gott, ſondern auch die 
moraliſchen Dinge. Sagt jemand: „ich mußte in dieſem Falle ſo handeln“, 
ſo hat er unbedingt recht. Nur folgt daraus nichts. Er ſoll das Vergangene 
ruhen laſſen, denn die nach ruͤckwaͤrts gerichtete Reue iſt eine Abkehr vom 


Die vierzehn Punkte von der Freiheit des Willens 67 


zukunftgerichteten Wollen, das allein „felig machen kann“, ſelbſt noch 
am Vorabende des Todes. Nicht fuͤr ſein Vergangenes als ſolches verliert 
oder gewinnt der Menſch die Seligkeit, ſondern für fein So-fein in „eben 
dieſem Augenblick“. Dem reinen Wollen entſpringt die Welt immer neu, 
„ſoeben“ hat fie ihm angefangen. — Sagt nun jemand: „ich werde fo 
handeln muͤſſen“, fo übt er Verrat an Welt und Gott. Denn: „was weiß 
er davon!” Liegt ihm die Frage nach einer etwaigen Praͤdeſtination nicht 
als theoretiſches Problem vor, ſondern liegt ſie ihm als Sorge am Serzen, 
fo kann er beruhigt ſein: nichts zu fürchten braucht, wer um fein Seelen- 
heil „noch“ ernſthaft beſorgt iſt. — Und was für den Einzelnen gilt, das 
gilt nicht minder fuͤr eine ganze Menſchengeneration. Wohl kann heute 
einmal wieder der Eindruck uͤbermaͤchtig werden, daß Zeiten allgemeinen 
Niederganges Reflexe größerer Weltvorgaͤnge fein möchten. Fuhren fie die 
Menſchen zur Selbſtbeſinnung, fo erwecken fie Sehnſůchte, und aus Sehn; 
füchten werden Taten erwachſen und ein neuer Aufſtieg. 


ieſer aber pflegt ſich in den Gemuͤtern der Menſchen auf ſo merkwuͤrdige 

Weife zu ſpiegeln, daß man faſt von einer Freiheitsparadoxie fprechen 
kann. Sie kommt aͤußerſt prägnant z. B. in folgendem Satze zum Ausdruck, 
der einem Aufſatz von Eugen Diederichs (im Weihnachts katalog feines Ver⸗ 
lages 1925) entnommen iſt und ſich auf die Entwicklung der Jugend⸗ 
bewegung bezieht: „An Stelle freier Selbſtbeſtimmung trat jetzt innerhalb 
der Jugend wieder die Forderung: Sich unterordnen koͤnnen, damit Grd⸗ 
nung werde, in den Vordergrund.“ In dieſem Satze iſt der Begriff der 
Sreiheit bezogen auf das Verhaͤltnis nicht zwiſchen dem Individuum und 
ſeinen Sandlungsmotiven, ſondern zwiſchen dem Individuum und einem 
Verbande, dem es zugehoͤrt. Wir finden nun zu jeder Zeit, daß dieſelben 
Menſchen gruppen, die „freie Selbſtbeſtimmung“ politiſch fordern („Libe⸗ 
ralismus“ ), als Kauſaliſten eine Willensfreiheit verneinen; und nicht 
minder, daß ihre Gegner, die in politifcher Sinficht Unterordnung fordern, 
als Indeterminiſten größten Wert auf Bejahung perſoͤnlicher Verant⸗ 
wortlichkeit legen. 

Es kann nicht anders ſein. Denn die ſcheinbar in ſich widerſpruchsvollen 
Bekenntniſſe jeder der beiden Gruppen ſind nichts anderes als mehrfache 
Brechungen einer jeweils ganz beſtimmten Weltanſchauungs⸗Romponente. 
Während fie für die „Liberalen“ ſich in die Formel faſſen läßt: „Wir 
glauben an keine Rangordnung der Dinge“ — lautet die Formel bei ihren 
Gegnern genau entgegengeſetzt: „Wir glauben an eine Rangordnung.“ 

Und dieſes letzte Bekenntnis moͤchten wir, zur Naturphiloſophie uns 
zuruůͤckwendend, auch zu dem unſeren machen. Die Natur, ausgebreitet in 
vier übereinander ruhenden Reichen, gibt uns das herrlichſte Beiſpiel einer 
ariſtokratiſchen Stufenordnung, und dieſelben Augen einer heranwachſen ; 
den Generation, die jetzt wieder empfaͤnglich werden für eine Auf bauſtruk⸗ 

5 


68 umſchau 


tur der menſchlichen Geſellſchaft, werden in naher Zeit bemerken und als 
Wunder anſtaunen, woran ſie bisher gleichguͤltig voruͤberſtreiften. Und 
dann mögen, leiſe erinnernd, jene Dierzebn Punkte von der Freiheit 
eine Mahnung an fie fein, ſich mit der Sage von Siegfried und dem Lind⸗ 
wurm und ihrem tiefen Sinn auch ihrerſeits und in ihrer weiſe ausein · 
anderzuſetzen. 


Umſchau 


Rz Es iſt eine der nachdenklichſten Tatſachen des menſchlichen 
Geiſtes, daß in ihm eine Urentzweiung angelegt erſcheint, 
die allem, was durch ihn hindurchgeht, einen unverkennbaren Stempel aufdruͤckt, 
oder, wenn man will, es mit dieſem zweideutigen Kennzeichen erbarmungslos 
brandmarkt. Selbſt dort, wo die Vernunft ihrem verein heitlichenden Trieb raſtlos 
und ausſchließlich zu folgen ſcheint, bei der Bildung immer hoherer und allge 
meinerer Begriffe, tritt durchaus nicht, wie die Scholaſtik meinte, die Aulmination 
in einem oberſten und legten Begriffe ein; ſondern mit einem geradezu erſchrecken⸗ 
den Jynismus bricht am Gipfel der Abgrund wieder auf: kein hoher und erſt recht 
nicht der hochſte Allgemeinbegriff, der nicht ſofort auf feinen Gegenbegriff an- 
gewieſen wäre, ohne den er ſchlechthin ſinnleer und bedeutungslos fein müßte. 

Dieſem Schickſal zeigt ſich auch der Begriff „Natur“ verfallen. Der Natur — 
als Summe aller Wirklichkeit genommen — hat man geſagt, entfällt nichts; und 
ebenſo entfällt ihrem Begriff nichts. Aber dieſer allumfaſſende Naturbegriff 
enthalt ebenfo nichts. Wenn alles Natur iſt, dann iſt nichts Natur. Wie alle Dinge 
und Erſcheinungen der Natur eingeklemmt erſcheinen zwiſchen den beiden Polen 
Null und Unendlich, wie alle Dinge nur Daſein haben, indem ſie eingeſchraͤnkt, be⸗ 
grenzt, geſtaltet, geformt find, genau fo gewinnen nur an ihren Einſchraͤnkungen 
die Begriffe Daſein, und die hoͤchſten erzeugen ſozuſagen von innen her ihr Außer ⸗ 
halb, an dem fie ſich geſtalten. Nur an feinen Entgegenſetzungen, die er doch alle 
übergreifen will, gewinnt der Begriff Natur einen Inhalt. 

Natur: das iſt das primär Schoͤpferiſche. Sie ſchafft Geſchoͤpfe, die ihrerſeits die 
Schaffenskraft der großen Mutter geerbt haben und an ihr mitſchaffen. Sie iſt 
cr&atrice, alles in ibr iſt Kreatur. 

Natur: das iſt das urſpruͤnglich Gewordene gegenuber allem durch Menſchen 
Gemachten, Bewirkten, Geaͤnderten. Sie iſt dennoch indirekt Wirkerin auch aller 
der Werke, die ihr eignes Angeſicht verändern, der Kultur. 

Natur: das iſt das Bewußtloſe, Unbewußte, iſt Da Sein, und erhebt ſich in 
einigen ihrer Geſchoͤpfe zum Bewußt ⸗Sein. 

Natur: das iſt Alleinheit. Und ihr bewußtes Geſchoͤpf ſondert ſich in ihr von 
ihr zum Individuum. 

Natur: das iſt nicht Chaos, ſondern Ros mos, zur Ordnung „geſchmückt“. Aber 
weiß fie ibre Ordnungen? Sie tut fie. Sie iſt fie. Aber ihr Teil, ihr Geſchoͤpf, das 
menſchliche Bewußtſein will das Ganze wiſſen. Der Spiegel will feine ſaͤmtlichen 
Bilder und deren Geſetze und das Geſetz ſeiner Spiegelung wiſſen und vergißt, daß 
die Geſetze ſeiner Bilder Geſetze ſeines Spiegelns ſind und dieſe zwar Geſetze in der 


— — — 


umſchau & 


Natur, aber nicht Geſetze der Natur. Das iſt Natur ⸗Wiſſenſchaft und Erkenntnis 
der Natur unſeres Wiſſens, Erkenntnistheorie. 

Natur iſt immer „natürlich“. Aber der Menſch will urteilen, daß eine Erſchei⸗ 
nung oder ein Ding der Watur mehr als das andere dem Willen und Begriff ent ⸗ 
ſpraͤche, den die Natur in dem Dinge befolgt habe, und nennt eines widernatürlich, 
ein anderes unnatürlich. 

Natur: das iſt das Ungewordene, Seiende, deſſen Sein ein Werden ift; als Ban- 
zes iſt Natur nicht geworden, ſondern ſie iſt, nur ihre Teile werden und entwerden 
in ihr. Aber der Menſch meint, Sein fei nicht im Werden und Werden nicht im 
Sein, ſondern Werden folge aus Sein. Und er will noch etwas hinter dem Schoͤpfe · 
riſchen, ein Ungeſchaffenes, Allerſchaffendes, das dem Einzelnen zugrund lage (die 
„Idee“) oder dem Ganzen (der „Gott“). 

Aus dieſen Aufſpaltungen des Begriffs Natur geht hervor, daß ſie alles dies iſt 
und ſtets auch noch das Andere, immer über JIweien, oder als Einheit leer: natura 
naturens und natureta, Erſcheinung und Idee, physis und psyche, hyle und nus, 
— Urfrübe und Tiona. Sie iſt der Umkreis, dem auch begrifflich nichts entfällt, ob» 
gleich eben dieſer letzte Inbegriff über allen nur in allen zu faſſen iſt: 

sphaera intelligibilis eulus centrum ubique, circumferentia nus quam 

Einem Naturbegriff, fo widerſpruͤchlich und widerſaͤtzlich, aber darum eben fo 
voll, dazu bezaubernd und uͤberwaͤltigend, weil er nicht dialektiſch wie hier um ; 
ſchrieben iſt, ſondern hymniſch geſungen, einer ſolchen unfaßbar großen Natur be- 
gegnen wir in dem Goethe zugeſchriebenen Fragment, von dem er ſpaͤter nicht an- 
geben konnte, ob es von ihm ſei, zu dem er ſich aber inhaltlich bekannte und, was 
weſentlicher iſt, deſſen Gegenſtand der von ihm zeitlebens ſo verehrte und ge⸗ 
liebte geweſen iſt: 

„Natur l Wir find von ihr umgeben und umſchlungen — unvermoͤgend, aus ihr 
berauszutreten und unvermögend, tiefer in fie hineinzukommen. Ungebeten und 
ungewarnt nimmt fie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt ſich mit uns 
fort, bis wir ermüdet find und ihrem Arm entfallen 

Man muß ſich dieſen ganzen Symnus gegenwärtig halten, deſſen Einſichten 
Goethe ſelbſt modiſizierte (An den Kanzler v. Müller, 24. Mai 1828) und der durch ; 
aus nicht Goethes Stellung zur Natur und zur Erkenntnis der Natur ganz aus; 
zudruͤcken vermag, der aber bier als deſſen Symbol fteben kann, damit man vorerſt 
erkennt, um wieviel enger und aͤrmer der Naturbegriff der über die Natur trium- 
phierenden Naturwiſſenſchaft des letzten Jahrhunderts (oder der letzten vier Jahr ⸗ 
hunderte ſeit Galilei) iſt. Der Triumph und der Erfolg iſt dieſer Wiſſenſchaft nicht 
abzuſtreiten und ſoll ihr nicht geſchmaͤlert werden. Es ſoll aber gezeigt werden, daß 
ihre Natur nicht die Natur und ihre Erkenntnis nicht die Erkenntnis der Natur iſt. 
Es iſt letzten Endes die Natur von gnaden der Vernunft im Sinne Bants, die Na; 
tur, der die Vernunft erſt „ihre Geſetze vorgeſchrieben hat“; d. h. die Geſetze, die die 
Vernunft Eonftituieren, das find auch die, die dieſe Natur konſtituieren. So gewiß 
Bant fein Apriori der Vernunft von der ihm als Paradigma einer unanfechtbaren 
Wiſſenſchaft geltenden Diſziplin, der mathematiſchen, abnahm, fo gewiß ihm nur 
ſoviel wirkliche Erkenntnis in jeder NWaturwiſſenſchaft war, als Mathematik in ihr 
anzutreffen ſei, ebenſo gewiß bezieht ſich dieſe ganze Wiſſenſchaft nur auf eine matbe- 
matiſch⸗mechaniſche Natur. (Man leſe hier in Jieglers „Geſtaltwandel der Böt- 
ter“ im Myihos atheos der Wiſſenſchaft über das titaniſche Bemuͤhen der Phy⸗ 


70 Umſchau 


ſiker Selmholtz und Sertz nach, auch die Baufalität noch los zu werden und nur 
noch mathematiſche Differenzen im phyſikaliſchen Geſchehen wirkſam zu erweiſen.) 
So gewiß die menſchliche Vernunft in ihrer mathematiſch ⸗mechaniſchen Ein⸗ 
ſtellung nichts außer der Natur iſt, ſo gewiß ihre Geſetze alſo nicht außer der Natur 
ſind, ſo gewiß geht in ihre Maße etwas von Natur ein, und wir erfahren durch ſie 
etwas von ihr. Wur daß dieſes Wiſſen nicht alles und dieſe Natur nicht die ganze 
iſt. i 

Die Natur verlor in dieſem Prozeſſe, einem der erſtaunlichſten und in gewiſſem 
Sinne bewunderungs würdigen, viel, im Guten wie im Schlimmen: ihre Schreckniſſe 
milderten ſich, ihre Macht erſchien gezaͤhmt, ihre Grenzen wurden klein ſozuſagen 
und ihre Schranken dennoch unabſehlich binausgeruͤckt. Aber fie verlor mehr: ihr 
Geheimnis, nicht im Sinne des noch nicht Wißbaren, ſondern eines Seiligen Aber 
allem Wiſſen, eines Myſteriums, wovon Wiſſen ſelbſt nur ein — gewiß auch hei⸗ 
liger — Teil iſt. Aus dem Ungeheuren Natur war ein Wiſſen fo folgerechten Sy ⸗ 
ſtems geworden, deſſen Brundsäge klar und eindeutig waren, ein fo feſtes Gebaͤude, 
deſſen Fundamente ſo tief und ſicher lagen, man hatte ein Werkzeug zu ſo ſtolzen 
Errungenſchaften ſich bereitet, daß man daruber das Ungeheure ſelbſt vergaß. 

Dieſes aber kann nicht auf die Dauer weder gebaͤndigt noch vergeſſen werden. 
Es iſt nicht einfach feſtzuſtellen, wo die Grunde für das Erwachen des Gefuͤhls der 
Unzulaͤnglichkeit der wiſſenſchaftlichen Naturbetrachtung liegen. Und ſicher be⸗ 
ruͤhren alle bemerkbaren Gründe den eigentlichen Grund nicht, aus dem dieſes im; 
mer ſtaͤrker werdende Gefuͤhl emporwuchs. 

Man kann ſagen, ein neues Naturgefühl habe die Seelen ergriffen, und es iſt 
zweifellos etwas an der Theſe Joels, „man müſſe die Natur fühlen lernen, ehe 
man fie denken lernt“, „immer wieder muͤſſe die myſtiſche Urein heit erlebt oder 
nachgrfuͤhlt werden, um in aller fortſchreitenden Sonderung die Einheit der Er⸗ 
kenntnis wachzuhalten, die organiſche Ganzheit des Menſchen, der nicht bloß er ⸗ 
kennend iſt; immer wieder muͤſſe das Denken eintauchen in das Grundgefuͤhl des 
Cebens, um die Kraft zu ſchoͤpfen zu immer lebensfremderen Abſtraktionen, zu 
immer gefuͤhlsfremderen Naturentdeckungen; immer wieder müfle aus zentralen 
Tiefen der myſtiſche Geiſt aufſteigen, um überwunden zu werden in der peripheriſch 
ſondernden Wiſſenſchaft “. Woher aber dieſes neue Naturgefuͤhl kommt, kann man 
nicht angeben. Es ſteigt aus dem grundloſen Grunde. Nur eins iſt zu ahnen, daß 
ſolches Eintauchen in das Grundgefuͤhl des Lebens demſelben rhythmiſchen Ge · 
ſetz unterliegt, nach dem jedes Lebendige im Schlafe periodiſch ins Unbewußte ver- 
ſinkt und ſich darin mit neuer Araft ſpeiſt. Und ein anderes iſt ſelbſtverſtaͤndlich: 
daß dieſes neue Naturgefuͤhl zuerſt in der Dichtung durchbrach. Die Natur 
wurde nicht mehr nur lyriſch und ſtimmungshaft erlebt, ſondern die Dichtung der 
letzten Jahrzehnte wies plotzlich einige große Verſuche zu kosmiſcher, mythiſcher 
Weltbildung auf. Es iſt ein Unterſchied, ob in der Lyrik, ſelbſt der tiefſten und zar · 
teſten Storms und Moͤrikes, Liliencrons und Dautbendeys die Seele ihre Er⸗ 
regungen vor der Natur oder durch die Natur ausſpricht, oder ob man das Weſen 
der Welt, der ganzen, ungebeuern, in mythiſchen Bildern ausfagen will, wie in 
den Dichtungen Momberts, Daͤublers, in den „Mythen“ von Rudolf Pannwitz. 

Es ſoll und kann kein urſaͤchlicher Juſammen hang zwiſchen dieſen Erſcheinun⸗ 
gen (und etwa dem neuen Naturgefuͤhl, wie es in der Jugendbewegung einen 
weſentlichen Jug darſtellt) und dem immer ſtaͤrker anwachſenden Empfinden des 


Umſchau 71 


Mangels der Naturwiſſenſchaft konſtruiert werden. ft hier ein Juſammenhang⸗ 
fo iſt er nicht kauſaler Art, ſondern in ibrer Gleichzeitigkeit weifen beide auf dun; 
kelſte Wurzeln und Grunde bin, aus denen immer das Lebensnotwendige ſich 
emporringt. 

Gleichzeitig traten innerhalb der Wiſſenſchaft Strömungen auf, die den ſtolzen 
Bau unter hoͤhlten. Immer breiter machte ſich eine Erkenntnis von der Irrationa ; 
litaͤt alles Rationalen bemerkbar (Müller ⸗Freienfels „Irrationalis mus“, Nikolai 
Sartmann „Metaphyſik der Erkenntnis“); die Relativitätstheorie brachte, wenn 
nicht ein Wanken und Einſtuͤrzen, fo doch eine ſtarke Erſchuůtterung der erkenntnis · 
theoretiſchen Fundamente unſerer Naturwiſſenſchaft; eine tiefe Beſinnung Aber 
die eigentliche Armut unſerer intellektualiſierenden Weltbetrachtung rief die Philo ⸗ 
ſophie Bergſons hervor, und gewiſſermaßen eine Entlarvung des wahren We⸗ 
ſens unferes Verſtandes betrieb eine Forſchung, die man mit der Parole „Wider 
den Geiſt“ kennzeichnen konnte (Blages: „Weſen des Bewußtſeins“, Theodor 
Keffing: „Untergang Europas am Geiſt“), fo daß als ein weſentliches Problem 
unſerer geſamten Aultur, als das, „was uns not tut“, Reyſerling die Wiederver⸗ 
knüpfung von Seele und Geiſt bezeichnen konnte. 

Dazu kam etwas, was man den Aufbruch beinah vergeſſener oder rational uber ⸗ 
deckter Tiefen nennen konnte oder das Aufdraͤngen der Geſtalt, des urtuͤmlichen 
Bildes als eines Letzten, vor dem jede kauſale Betrachtung und erſt recht jede ma 
the matiſch⸗mechaniſche verſagt. Das urtuͤmliche Bild in den Mythen: Plötzlich ge- 
wannen die Forſchungen J. J. Bachofens über das pelasgiſche Jeitalter ebenſo 
Bedeutung, wie Schellings mythographiſcher Verſuch Aber „Die Gottheiten von 
Samothrake“, und nicht zuletzt beruht hierauf das Intereſſe, das man den Lei 
ſtungen von Frobenius entgegenbringt (vgl. Jiegler: Das heilige Reich der Deut- 
ſchen). Das urtuͤmliche Bild in unſerer eigenen Seele: Die Forſchungen Jungs, 
Adlers, Freuds, bei aller Einſeitigkeit und Schiefbeit, die z. B. Theodor Leſſing 
bloßſtellt, haben doch dieſes eine gezeigt: in welchen dunklen Tiefen unſer See 
liſches beheimatet iſt. Und zwiſchen dieſen beiden Tiefenwelten, Bilderwelten er⸗ 
(diem ein ſeltſamer und erſtaunlicher Parallis mus. Das urtumliche Bild in der Bio⸗ 
logie: Sier hat ſich am erſten und auffaͤlligſten das Verſagen der naturwiſſenſchaft⸗ 
lichen Aategorien offenbart, fo daß reſtlos und radikal die Autonomie des Lebens 
vor der mathematiſch · mechaniſchen Geſetzmaͤßigkeit erkannt und anerkannt wer- 
den mußte (Drieſch). 

Buͤndig zuſammengefaßt : ein neuer Begriff der Natur tat ſich auf, der nicht nur 
auf der einen Polariſation des Naturbegriffs: bewußte Erkenntnis ihrer „Be- 
ſetze contra Chaos aufgebaut war, auch keine Naturphiloſophie nach Saeckels 
oder Oſtwalds Muſter und Methode, ſondern der auch alles primär Schoͤpferiſche, 
ulles urſpruͤnglich Seiende, alles Unbewußte, alles kosmiſch Ganze, alles ideen haft 
Jugrundeliegende mit umfaſſen wollte, ein Ganzheitsbegriff der Natur in faſt ver · 
wegenem Verſtande, dem keine Naturwiſſenſchaft engen Sinns genügen konnte, 
ſondern nur eine „neue Naturphiloſophie“. 

Das Grundlegende über dieſen neuen Naturbegriff auszufuͤhren, iſt bier nicht 
der Raum; es genugt auch auf fo Bekanntes und Vorzuͤgliches hinzuweiſen wie 
Ernſt Michels „Goethes Weltanſchauung und Naturdeutung“ (E. Diederichs), 
dem man ergänzend zur Seite ſtellen möge, was in A. J. Obenauers vorzuͤglichem 
Soͤlderlin · Novalisbuch (E. Diederichs 1925) über die „magiſche Naturanſchau ; 


72 Umſchau 


ung” des Novalis geſagt iſt. Oder es ſei die etwas zu allgemeine, aber das Wefent- 
liche umſchreibende Stelle aus dem Nachwort erwähnt, mit dem Gunther Ipſen 
die Aus gabe der Naturwiſſenſchaftlichen Schriften Goethes beſchließt, die der In ⸗ 
ſel verlag eben erſcheinen läßt (innerhalb feiner ruͤhmlichſt bekannten Ausgabe der 
ſaͤmtlichen Werke Goethes, der vollſtaͤndigſten, die es außer der zum Teil vergriffe · 
nen großen Weimarer Ausgabe zur Jeit gibt). Dort heißt es: 

„Es iſt aber nicht ſchwer zu ſehen, daß in unferer Zeit des Übergangs der Geiſt 
ſich anſchickt, eine neue Wendung zu nehmen; daß in der Gegenwart des Alten 
Unruhe, Langeweile, Verzagen und ein böfes Gewiſſen einreißen; daß da und 
dort ein Neues, noch un vergoren, aufſchaͤumt. Dieſe Wendung läßt ſich, ſoweit die 
Wiſſenſchaft daran teilhat, bezeichnen durch drei Züge: die Wiſſenſchaft ſieht ihr 
yphiloſophiſches Ingrediens“ nicht mehr als ſchaͤdlichen Rückſtand an, ſondern 
weiß wieder, daß fie ohne dies nichts iſt, weiß, daß dies ihr feſter Boden, ihre wahr ⸗ 
haft bewegende Araft und ihre letzte Rechtfertigung iſt. Und die Philoſophie ſelbſt 
bat den Mut wiedergewonnen, das „Abenteuer der Vernunft“ zu beſtehen; jenes 
Abenteuer, das — trotz aller Gefahren — von Anbeginn ihr Weſen ausmachte, 
ihren Rang beſtimmte und ihre Bedeutung erwirkte. 

Jum andern hat der Gedanke ſich wiederum dem Gegenſtaͤndlichen zugewendet; 
erkennend, daß der Blick nach innen in einem bloßen Jwiſchenreich von Schatten 
und abgeleiteten Erſcheinungen verweilte. Dem neuen Blick aber ſteht auch die 
Welt neu und wunderbar entgegen; und alle Dinge und Bräfte find ihm voll eige- 
nen Weſens. 

Zum dritten iſt die Zeit des duͤnnfluͤſſigen Verſtandes und feiner Untiefen, feiner 
leeren Weite und Breite überbräffig geworden. Sie hat in allen Dingen eine eigene 
Tiefe wiedergefunden und Rang und Ordnung unter ihnen; beglädt und erfchät- 
tert iſt fie der unzerſtoͤrbaren Ganzheit innegeworden, die allem Wirklichen ein; 
wohnt, feiner lebendigen Bildung, der ſeligen Ruhe und des bacchantiſchen Tau- 
mels feiner Wandlungen. Allůͤberall umgibt uns nun ein uͤberſchwang von Ge- 
ſtalt und Sinn. 

In alledem begegnet ſich das neue Streben mit Goethes Wiſſenſchaft: in der Be; 
jahung des metaphyſiſchen Gehalts, in der Wendung zum Gegenſtaͤndlichen, in der 
Entdeckung der Geſtalten.“ 

Über die moͤglichkeit einer ſolchen „zuſammenſchauenden Naturdeutung“, die 
weit davon entfernt iſt, das Odium einer ausſchweifenden naturphiloſophiſchen 
Begriffsdichtung und einer zuchtlos · ſchwaͤrmeriſchen nebelhaften Naturklitterung 
zu verdienen, über die methodiſchen Grundlagen und ihre erkenntnistheoretiſche 
Berechtigung und Klarung orientiert vorzüglich ein Aufſatz Ernſt Caſſirers 
„Goethe und die mathematiſche Phyſik“ (in „Idee und Geſtalt“, Bruno Caſſirer 
1921), dem zur Ergaͤnzung binzugefägt werde: Wilh. Troll, „Geſtalt und Geſetz“, 
Verſuch einer geiſtesgeſchichtlichen Grundlegung der morphologiſchen und phyſio · 
logiſchen Forſchung (in „Flora oder Allgemeine botaniſche Jeitung“, Verlag 
Guſtav Fiſcher, Jena 1925). Ferner muß immer wieder hingewieſen werden auf 
Keopold Jieglers „Geſtaltwandel“ und „Das heilige Reich der Deutſchen“, vor 
allem, damit man die letzten weltanſchaulichen Bonfequenzen dieſer Einſtellung 
erkennen und wuͤrdigen lernt. Dort iſt auch mit tiefſter philoſophiſcher Beſinnung 
die Gegenüberſtellung der beiden moglichen Welterkenntnis hemiſphaͤren voll ⸗ 
zogen, die des mechaniſchen und des organiſchen Weltbildes, die geeignet ſind, nicht 


umſchau 73 


einander zu verdrängen, ſondern zu ergänzen. Bei der heutigen Geiſteslage und der 
noch beſtehenden Vorberrſchaft kauſal⸗mechaniſcher Betrachtungsweiſe iſt natur 
lich zunaͤchſt eine Betonung der ungewohnten und vernachlaͤſſigten Weltanſicht 
unbedingt von Noten, und es iſt eine mit aufrichtiger Freude zu begruͤßende Er⸗ 
ſcheinung, daß im Verlag von E. Diederichs gerade jetzt eine Schriftenreihe heraus 
kommt, die zur „Neubegründung der Naturphiloſophie“ helfen ſoll, indem fie an 
die älteren vergeſſenen Schriften verwandten Geiſtes anknuͤpft und dieſe mit neue⸗ 
ren verbindet: Die Sammlung „Gott - Natur“, herausgegeben von Dr. Wilh. 
Rößle. 

Es iſt nur naturlich und gerecht, aber auch von hoher und beglückender Symbo⸗ 
li, daß dieſe Sammlung in ihrem J. Bande mit „Goethes morphologiſchen Schrif⸗ 
ten“ beginnt. Alles, was ſich im oben nur angedeuteten Sinne mit der Natur⸗ 
erfaſſung und deutung beſchaͤftigt, findet, wenn auch Wurzeln und Analogien 
weiter nach ruͤckwaͤrts verfolgt werden konnen, in Goethes Morphologie fein Ur⸗ 
bild. Er hat Namen und Begriff dieſer Wiſſenſchaft und man kann ſagen auch ein 
Haffifches Beiſpiel ihrer Methode geſchaffen. Es iſt andern Orts in dieſer Jeitſchrift 
bereits darauf hingewieſen, daß alles, was ſich heute in dieſer Richtung bewegt, 
letzten Endes auf Goethe zuruͤckgeht. Die Ausgabe dieſes Bandes der morpholo · 
giſchen Schriften iſt von Wilh. Troll aufs gruͤndlichſte und liebevollſte eingeleitet, 
ausgewählt und kommentiert worden und bat den großen Vorzug, mit einem 
Schatz von Abbildungen verſehen zu ſein, die teils von Goethe ſelbſt herruͤhrende 
Tafeln, teils Stiche aus Werken der Jeitgenoſſen, aber auch viel eigene Jeichnungen 
des Serausgebers zeigen. In den hundert Seiten der Einleitung wird aus reicher 
Kenntnis und mit großem Geſchick die wiſſenſchaftliche, weltanſchauliche und re · 
ligidfe Bedeutung der Arbeit Goethes dargeſtellt. 

Eine erfreuliche und erſtaunliche Uberraſchung wird für viele der Name C. G. 
Carus bedeuten, aus deſſen hberreihem Schaffen hier die „Pſyche“ aufgenommen 
iſt. Cudwig Klages, der Carus wiederentdeckt hat und ſelbſt an dem Ausbau des 
neuen Weltbildes hervorragend beteiligt iſt, bat dieſes Buch eingeleitet und kom; 
mentiert, feine Schwaͤchen nicht verbergend — es find hier weltanſchauliche Gem- 
mungen in einem „ins chriſtliche gebogenem Platonis mus“ zu ſpüͤren —, aber feine 
ungeheure Bedeutung fuͤr eine wahre Seelenkunde, eine „Entwicklungsgeſchichte 
der Seele“, wie der Untertitel des Buches lautet, ins Licht ſtellend. „Sonderbar”, 
beißt es bei Novalis, „daß das Innere des Menſchen bisher nur fo dürftig betrach · 
tet und fo geiſtlos behandelt worden iſt. Die ſogenannte Pſychologie gehort auch 
zu den Larven, die die Stelle im Seiligtum einnehmen, wo echte Bötterbilder 
ſtehen follten”. (Fragmente) Die „Pſyche“ des Carus gehört nicht zu den Larven. 
Sier iſt Pſychologie eine wirkliche Morphologie des Seeliſchen, und was das Be⸗ 
deutſamſte iſt: eine Einordnung des Seeliſchen ins Organiſche und Bosmifche, die 
wunderbar befreit und beruhigt. „Das Unbewußtſein die Wurzel des Bewußtſeins 
und demgemaͤß das, wodurch jedes Einzellebendige geſpeiſt wird aus dem All⸗ 
gemeinleben des Alls, in das es naͤberungsweiſe periodiſch im Schlafzuſtande, end⸗ 
gültig aber mit dem unabwendbaren Tode zuruͤcktaucht, das iſt, lapidar geſprochen, 
der Gedanke, aus dem die Seelenkunde des Carus geſchoͤpft hat“. Die Seele lebt ſich 
dar im Leibe. Dieſem fundamentalen Satz des Carus, der die Trennung von Leib 


Goethes „Farbenlehre“ wird, herausgegeben von 3. Wohlbold, als weiterer 
Band der Sammlung „Gott ⸗ Natur“ gegen Ende des Jahres 1926 erſcheinen. 


74 Umſchau 


und Seele, Materiellem und Immateriellen und ihre problematiſche Verbindung 
(Parallelismus oder Wechſelwirkung) aufbebt, dieſem eminent ſynthetiſchen Satz, 
der nicht zulaͤßt, daß eine gegebene Einheit erſt analyſiert und dann ſynthetiſiert, erſt 
differenziert und dann integriert wird, braucht man nur den übergreifenden anzu- 
fügen : Gott lebt ſich dar in der Natur — und man hat den hoͤchſten Naturbegriff, 
von deſſen „Polariſationen“ am Anfang geſprochen worden iſt, der der aus hun⸗ 
derten von Ausſpruchen zu belegende Natur ⸗ und Gottes begriff Goethes war, und 
man verſteht den ſymboliſchen Titel dieſer ganzen Schriftenreihe : Gott Natur. 
An dem engeren Beifpiel der Seelenkunde iſt hier das Beſtreben dieſer „Natur⸗ 
pbilofopbie” im Ganzen zu erfaſſen, ihre Vereinigung des Auseinandergebroche⸗ 
nen in der lebendigen Geſtalt, ihre kosmiſche „Phaͤnomenologie“, die eine kos · 
miſche Symbolik, eine Bild und Sinnbild wirklichkeit im Größten und Kleinſten 
darſtellen fol, nicht eine Vernunftwirklichkeit abgezogener Geſetze, nicht eine Wirk. 
lichkeit der die Erſcheinungen tranſzendierenden Atome, Energien, Quanten, nicht 
eine Wirklichkeit der die Erſcheinungen ebenſo tranſzendierenden Geiſt⸗, Ideen ;, 
Abfolut- oder Gottheitsſphaͤre: ſondern eine Wirklichkeit ideendurchwirkten, gott- 
durchwirkten Daſeins in der Geſtalt, im Bild und Symbol. 

In dem Sinne des Goetheſchen Satzes, daß Morphologie auf der Überzeugung 

beruhe, daß alles, was ſei, ſich auch andeuten und zeigen mäfle, hat Carus auch 
eine „Symbolik der menſchlichen Geſtalt“ geſchrieben (erſchienen bei Niels Bamp- 
mann, Celle 1925), die Theodor Leſſing mit einem ausgezeichneten Vorwort be- 
gleitet und bis auf die typologiſche und charakterologiſche Forſchung unferer Zeit 
fortfuͤͤhrt. (Soͤchſt bedeutſam hierbei eine Polemik gegen den Gebrauch des Wortes 
Phaͤnomenologie für ideologiſche (Spenglers Aulturmorphologie) und logoma ; 
thiſche (Suſſerl) Vernunftſchau, feine ſtrenge Scheidung von Geſtalten · „ Formen ;, 
und Ideenſchau). Was für Carus eine umfaſſende Symbolik bedeutet und dieſe für 
eine „neue Naturphiloſophie“, das geht aus folgendem Satze dieſes Buches ber- 
vor: 
„Im böchften Sinne ſtreben wir dahin, die Welt überhaupt als das Symbol des 
hoͤchſten ewigen Myſteriums der Gottheit und den Menſchen als das Symbol der 
göttlichen Idee der Seele anſchauen und verſtehen zu lernen, und indem in die ſem 
Sinne unermeßliche und unendliche Aufgaben ſich herausſtellen, zieht die Sym⸗ 
bolik eigentlich das ganze Gebiet des Ros mos einerſeits, wie anderſeits das Gebiet 
der Morphologie und Phyſiologie in ihren Bereich. Man kann fagen, die Symbo- 
lik werde auf dieſe Weiſe uͤberſinnlicher und ſinnlicher zugleich, gegen die der ver⸗ 
gangenen Jeiten. . .. So erkennt das rechte Schauen der Wiſſenſchaft unſerer 
Jeit in den myſtiſchen Spiralbewegungen der Geſtirne das Symbol der Unendlich⸗ 
keit der Welt, es erkennt in dem Verhaͤltnis von Sonne und Planet ein unmittel- 
bares Symbol der wunderbaren Wechſelwirkung eben jener hoͤchſten maͤnnlich be · 
fruchtenden und begeiſtigenden, ſowie der weiblich empfangenden und geſtaltenden 
MNaturkraͤfte, ibm iſt die Pflanze mit ihrer geheimnis vollen Entwicklung das Sym :; 
bol der unbewußt ſich darlebenden Seele, und der Menſch hinwiederum, in der 
vollen Unergruͤndlichkeit, Weisheit und Unermeßlichkeit feiner Organiſation, wird 
ibm als Mikrokosmus zum Ebenbilde der Welt und Weltſeele überhaupt.“ 

Eine ganz gründliche und klare Einfuhrung in „die Pſychologie des C. G. Carus“ 
von Chriſtoph Bernoulli erſcheint gleichzeitig bei E. Diederichs (1925). Sier wird 
Carus in die Juſammenhaͤnge des romantiſchen Denkens uͤberbaupt eingeſtellt, 


umſchau 75 


ſeine genetiſche Methode gezeigt, die eine Erfaſſung der ſeeliſchen Erſcheinungen 
durch die Beobachtung der fruͤheſten Regungen und letztlich ihrer Analogien im 
unbewußten organiſchen Vorgang erſtrebt, wird die Entſtehung des Bewußtſeins 
nach Carus geſchildert, und vor allem wird die Linie ſeiner Forſchung bis zu 
Ludwig Klages verfolgt. Wer die Flare und reife Beftalt des Carus, die fo goethe · 
nahe Luft feiner Schriften lieben gelernt bat, findet in Bernoullis Heiner Arbeit 
einen willkommenen Deuter. 

Daß Carus neben Goethe die geradezu klaſſiſche Perſoͤnlichkeit der Epoche war, 
an die die vorliegende Sammlung anzuknüpfen ſucht, wird aufs ſchaͤrfte deutlich 
durch den Band „Romantiſche Naturphiloſophie“, ausgewählt und eingeleitet 
von Chr. Bernoulli und Sans Bern. Er enthalt Auswahlen aus den Schriften 
völlig vergeſſener oder nur dem Gelehrten bekannter romantiſcher Naturphilo⸗; 
ſophen. Söchſt intereſſant iſt dieſer Band durch die Darſtellung einer nahezu 
gleichen Grundrichtung in den Medien verſchiedenſter Charaktere und Tempera ⸗ 
mente. Da ſtehen die eigenwilligen, faft gewalttätigen, paragrapbierten Saͤtze 
Okens, des Serausgebers der „Iſis“, des Gründers der Verſammlung deutſcher 
Naturforſcher und Arzte in Leipzig, des Heinen, bageren, impulfiven, ſchwarz ⸗ 
haarigen Mannes mit dem ſüdlaͤndiſchen Teint, Säge, die ftellenweife verbläffen, 
widerſinnig anmuten, und dann wieder Gedanken wie CLichtblitze, wie Entladun⸗ 
gen ungeheuer geſpannter intuitiver Energie. Man vergleiche den Satz: „Jede 
Jeugung fängt mithin von vorn an. Die organiſche Maſſe muß wieder in das ur · 
ſpruͤngliche Chaos aufgeldft werden, wenn wieder etwas Neues entſtehen fol” 
mit Drieſchs „barmonifcdh-aequipotentiellem Syſtem!“ Neben Ofen ſteht die ruhige 
Geſtalt Friedrich Sufelands, die welt maͤnniſche Dietrich Georg v. Biefers, die paſto⸗ 
rale Gotthilf Seinrich v. Schuberts, die wild genialiſche des ſtreitſuͤchtigen Ignatius 
Paul Vital Trorler und die vornehme des Carl Guſtav Carus. Es find außer 
dieſen vertreten, um auch die ubrigen Namen noch zu nennen: Job. Baptiſta 
Friedreich, Wilh. Butte, Aarl Friedrich Burdach, Giovanni Malfatti, Gottfr. 
Reinhold Treviranus. Es iſt unmoglich, den reichen Inhalt gerade dieſes Bandes 
zuſammenzufaſſen; alle großen Themen einer Naturpbiloſophie werden hier be · 
ruͤhrt, vor allem die Grundprobleme des Organiſchen in feinem Verhaͤltnis zur 
Pſyche einerſeits und zum Kosmos andererſeits, des Bewußten zum Unbewußten, 
die große kosmiſche Symbolik, des Waſſers, des Feuers 3. B., die Grundzuͤge einer 
organiſchen Betrachtung auch des Anorganiſchen: die „Lebens bewegungen der 
Erdveſte, der Erdatmoſphaͤre, des Erdgewaͤſſers, des Erdfeuers ! (Carus): letzten 
Endes ein Bemuͤhen um die Einheit der Welt, eine Geſtalteinheit, eine rieſige 
Phaͤnomenologie und Phyſiognomik des Ros miſchen, Verſuche gewiß und Bruch; 
ſtuͤcke, aber in ibrem Fragmentcharakter dennoch Anregungen und vielleicht Bau⸗ 
ſteine einer neuen Welt. 

Endlich ſei noch des Bandes „Der Urſprung der Naturphiloſophie aus dem 
Geiſte der Myſtik“ von Barl Joel gedacht (bereits fruher erſchienen, jetzt in die 
Reihe aufgenommen). Sier wird der Nachweis gefuhrt, daß in dem myſtiſchen 
Allein heits gefühl die philoſophiſche Einheitsdeutung der Welt ihren Urſprung 
babe. Um begreiflich zu machen, daß wirklich die erſte europaͤiſche Naturphiloſo⸗ 
phie, die der Vorſokratiker, myſtiſcher Wurzel ſei, wird zunaͤchſt an der Naturphilo ; 
ſophie der Renaiſſance gezeigt, daß die hohe Jeit der Myſtik, die Gott ins Innere 
zieht, auch die Welt vergoͤttlicht und Gott verweltlicht; im myſtiſch erfaßten Gott 


16 umſchau 


fei dem Menſchen zuerſt die Totalität der Welt ans Serz gelegt, die Naturferne zur 
Forſchung nahegebracht worden. Ebenſo ſei eine myſtiſch lyriſche Subjektivität, 
ein orphiſcher Uberſchwang mit dem Erwachen der antiken Naturphiloſophie 
gleichzeitig. Das Waſſer des Thales, das Unendliche des Anaximander, die Luft des 
Anaximines, das Feuer des Seraklit: das alles iſt das myſtiſche Unendlich ⸗ Eine, 
immer mehr verfeinert, von immer heißerem Lebensgefühl gebrängt, immer lei ⸗ 
denſchaftlicher ausgeſagt. Die myſtiſche Einheit eines Allgefähls iſt die Wurzel 
des kosmiſchen Denkens. Den Schluß bildet eine Parallele zwiſchen dieſen erſten 
und den vorläufig letzten Naturphiloſophen, den Romantikern. 

Mag dieſe geiſtreiche Deutung berechtigt ſein oder nicht — „alles Vergangene iſt 
preisgegeben“, heißt es bei Nietzſche — mag der Urſprung der Naturphiloſophie 
bier oder dort liegen, mag es wenig bedeuten, hier nach Urfprängen uberhaupt zu 
fragen, das Jiel iſt dies wirklich und wahrhaftig: eine verlorene Einheit wieder⸗ 
zugewinnen, die Einheit von Seele und Leib in der beſeelten Geſtalt zu erleben, 
die Einheit von Erſcheinung und Idee im lebendigen Bild zu ſchauen, der Einheit 
vom Unbewußten und Bewußtſein im Leben inne zu werden und zuletzt und zu ; 
hoͤchſt: die Natur in Gott, Gott in der Natur immerfort gewahr zu werden und 
offenbar zu haben. paul Wegwig 


: 1772 Wie oft baben wir es bei Geſpraͤchen erlebt, daß 
die Grenzen der begrifflichen Gangbarkeit erreicht 
wurden, und der Ausruf: „Das tft das Chaos“ vor jedem weiteren Schritte zuruck 
hielt. Die Empfindung, daß es ſich um eine Grenze und jenſeits die ſer Grenze um 
eine Region handele, war alfo bereits immer innerhalb dieſer Situation vorhan ; 
den und war in dieſer Weiſe wirklich gegenwaͤrtig. 

Doch wie es mit allen wegloſen und bedrohlichen Regionen iſt, wie es einſt beim 
meere war, vor einigen Jahrzehnten noch bei der Luft, fo iſt es auch bier, der 
menſchliche Geiſt ſucht Wege in das ſcheinbar Unwegſame zu legen, feien dieſe 
Wege nun Gedankengaͤnge oder wirkliche, konkrete Wegbahnen. So ſehen wir das 
Chaos als eine Region an die Welt der bereits uns moglichen Gangbarkeiten gren · 
zen, wobei die logiſch begriffliche Weglegung (Idee) lediglich als ein vorauseilender 
Entwurf für die ſpaͤter nachfolgende konkrete Weglegung zu denken wäre. 

Dieſe Region des Chaotiſchen — von der wir nicht wiſſen können, ob aus ihr 
über die Bewältigung durch Gedankengaͤnge nicht eines Tages wirklich beſchreit⸗ 
bare und konkrete Wege in die noch ungangbare, ungeordnete Grundmaterie 
hinein ſichtbar werden (etwa in Art von Erfindungen und Entdeckungen) — ſehen 
wir als ein neues unerforſchtes Reich vor uns liegen. 

Ganz bewußt, das Chaos in dieſem komplexen Sinn direkt anſprechend, verſucht 
Friedrich Grave in feinem Buche „Chaotica ac Divine“ Stufen in eine Region zu 
legen, die man bisher als das eigentlich Stufenloſe anſah. Ein tieferes Reich iſt es 
und kein Hlaſſiziſtiſch ſtarrer Begriff der Wegloſigkeit, den wir vor uns ſehen. So 
wie etwa Goethe bereits das „Reich der Muͤtter“ unterweltlich ⸗ chaotiſch ſab, 
in dem die Geſtalten dieſer Welt ihren Urſprung nehmen, und von wo aus ſie be⸗ 
dingt ſind. 

Das alfo, was im 2. Teil des Fauſt die Erſcheinung der Selena ermöglicht, das 
Vorhandenſein einer urbaften Region unter der Ebene unſerer raum zeitlichen 
Eugen Diederichs Verlag in Jena. br. M Jo.—, geb. M 13.— 


umſchau | 77 


Tage, wird hier als chaotiſches Reich abgegrenzt. Bei dieſem Vorgange aber zeigt 
ſich ſchon, daß eine chaotiſche Region ſchon „tiefer“, nicht aber prinzipieller „Miſch⸗ 
maſch“ iſt, ſo daß es dem ſchoͤpferiſch Denkenden und ſicher Schreitenden moglich 
tft, hier noch Wege zu geben. 

So finden wir in Graves Buch das Chaos feiner myſtiſchen Verdunkelung ent- 
ruckt, fo etwa wie die Chemie der Alchemie gegenuber den chemiſchen Stoff ent; 
růͤckte, ohne doch dieſen Stoff an ſich zu leugnen oder abzulehnen. Der im Fauſt ge ; 
gebene zauberiſche Weg iſt hier begrifflich ausgelegt und erweiſt ſich als eine gang · 
bare Ordnung unterſter Weltenftufen. Sier liegen: Gehalt, Ordnung, Geſtalt und 
Bildung. 

Der innere, geheime Baugedanke der „Chaotica ac Divina“ wird gleich zu Be⸗ 
ginn des Buches deutlich. Auf das Erlebnis wird zugunſten der philoſophiſchen 
Erkenntnis nicht verzichtet. Beine reine Syſtemphiloſophie tritt uns entgegen, 
ſondern der Denker formt das Werk als Geſtalter einer tieferen Realität. Im Goe⸗ 
theſchen Sinne einigt ſich hier Erleben und Erkennen. 

Die Möglichkeit, Stufen in ein unbekanntes und nie betretenes Gebiet zu legen, 
wird ſo dem Erlebnis der „Inſtanz“ entnommen. Dieſes Wort, gebraucht wie alle 
Worte, zeigt bei genauerem Eingehen auf feinen inneren Sinn, eigenartige r⸗ 
ſchließungskraͤfte. So läßt es der Autor ſelbſt zu Wort kommen und, als weibliche 
Erſcheinung perſoniſiziert, enthüllt es fein eigentliches Weſen. In einem nächt- 
lichen Iwiegeſpraͤche erleben wir es gleichzeitig mit, fo daß über ein Erlebnis das 
Wort feinen Begriff uns Abermittelt. Dieſe „Inſtanz“ iſt die Möglichkeit und das 
Wefen jeder „Stufe“, iſt eine baſis hafte und periphere Funktion, die fo die „Tiefe“ 
gangbar machen kann, indem man ſich auf ſie verlaͤßt. Von dieſem Erlebnis aus 
koͤnnen ſich beſtimmte Begriffe als baſis hafte Ebenen und Stufen erweifen, die das 
Beſchreiten einer unbekannten Region, bier die der Chaotica, ermöglichen. 

Dieſes Buch der erſtaunend Haren Erkenntniſſe liegt alſo auf einem Erlebnis und 
in dieſem Erlebnis liegt gewiſſermaßen das Volumen, aus welchem der ſpaͤtere Er⸗ 
kenntnisweg diſtanziert wird. Daß dies Erlebnis eines funktionellen Momentes ge 
zeigt und als Erlebnis betont wird, iſt weſentlich und führt uns den lebendigen 
menſchen vor, wie er ſich mäht und vorwärts ſtrebt, im Gegenſatz zu dem vom 
Batbeder verkündigten abſtrakten Syſtem einer Welt. Sier wird der periphere, 
menſchliche, blutwarme Anſchluß an die Welt und an das Leben nicht geleugnet, 
ſondern zur Debatte geſtellt. 

So folgen wir dem Denker mit dem Gefühle, daß er menſchlich⸗ſinnlich, wie 
geiſtig · logiſch zulaͤnglich den Weg zu faſſen vermag und ſchreiten mit ihm auf der 
Folge von Stufen, die er von den Chaotica durch die Region der Concreta und Ab- 
ſtracta zu den Divina gelegt hat. Wohl mögen die Stufen nicht jedem einzelnen 
perſoͤnlich wie koͤrperlich ganz gerecht liegen, über die Tatſache, daß es gangbare 
Stufen find, wird man kaum ſtreiten konnen, denn fie find belegt und gefeſtigt 
durch die Aus ſpruͤche unſerer größten Denker und Dichter. Sie alle, die heran ⸗ 
gezogen werden, ſagen aus, daß ſie an eben dieſen Stellen aͤhnlich empfunden und 
über fie aͤhnlich gedacht haben. 

So bietet ſich uns die ſichere und erſtaunlich geſpannte Stufenfolge als eine 
Vierteilung dar, die in weitere Viertel und Unterviertel zerlegt iſt. Dieſe „Vier 
einigfeit” ergibt: Chaotica, Concreta, Abſtrakta und Divina als eigentliche Re; 
gionen; Gehalt, Ordnung, Geſtalt, Bildung, als Stufen des Chaos; Stoff, Ari · 


78 Umſchau 


ſtall, Pflanze, Tier, als Stufe der Concreta; Beziehungen, Vorgänge, Beſchaffen · 
heiten und Gegenſtaͤnde als Stufen der Abſtrakta und ſchließlich das Gute, das 
Schöne, das Wahre und die Ewigkeit als Stufen der Divina. In dieſem Sinne des 
numerus mysſicus gegliedert, vermögen wir es die Welt zu überblicken. 

Dies waͤre das Buch. — 

Die Philoſophie, welche Grave vertritt, iſt einer ganzen Bewegung, welche in 
voller Entwicklung iſt, zuzurechnen. Sie iſt viel konſequenter als es der Autor ſel⸗ 
ber zu vermuten wagt. Es ſei aber geſagt, daß ſich aus feinen Gedankengaͤngen die 
volle Bonfequenz der Bewegung entwickeln läßt. Diefe Bewegung iſt nicht nur die 
Neubegruͤndung einer auf letzten wiſſenſchaftlichen Erkenntniſſen ruhenden Na⸗ 
turpbilofopbie, ſondern zielt auf die Erweiterung des Raumes ſchlechthin, der dem 
ſuchenden Menſchen ftets fo viel aus feiner Fülle als Lebens platz zukommen läßt, 
als eben dieſer vertragen und ertragen kann. Wir ſehen, blicken wir genauer hin, 
Naturerkenntnis und Naturbeherrſchung auf das innigſte verknuͤpft und durfen 
ſehr wohl von einer Erweiterung des Raumes dort ſprechen, wo es uns gelingt, 
ihn tiefer zu erkennen und zureichender zu beherrſchen. 

Das Euklidiſche Raumbild, wie wir es in der dreidimenſionalen Bewältigung des 
Raumes haben, hat fein Moͤglichſtes innerhalb einer Lebensſtilſtufe bereits ge⸗ 
leiftet und in unſerer Zeit ſpüͤren wir nur zu deutlich, daß die Kulmination bereits 
uͤberſchritten iſt. Wir fteben in der Vollendung einer Raumbewaͤltigung, welche in 
unzähligen Euklidiſch⸗kaſten haften Regiſtraturen (konkret wie abſtrakt) die Orga · 
niſation für einen beſtimmten Lebensſtil bereits geleiftet hat. Hier ſehen wir Jim⸗ 
mer neben Zimmer, Schrank neben Schrank, Baften neben Baften und Begriff 
neben Begriff und haben eine muſeen hafte Ordnung der Weltphaͤnomene vor uns. 
Ja die Form felber, oder, beſſer geſagt, daß, was wir in dieſem Lebensſtile als For⸗ 
men empfinden, ift Euklidiſch wandhaft feſtgelegt. Stolz halten die Formenkom⸗ 
plexe ihre Oberflaͤche als Begrenzung nach außen, weil an dieſe geglaubt wird. 
Doch ſchon taucht aus der ungeheuren, wiſſenſchaftlichen Regiſtratur, ja aus dem 
Komplex der Formen felber die Frage nach einem zulaͤnglicherem Formenbegriff 
auf, oder, anders ausgedrückt, nach einem neuen Raumbild. Die Struktur iſt es, 
welche ihren Platz in der Form, wie neben der Form verlangt. Es iſt keine Form 
ohne Struktur moglich, fo heißt die Parole unſerer augenblicklich modernſten Sor- 
ſchung. Ob wir die Elektronen · Theorie, die Atomzerfallreihe, das elektromagne : 
tiſche Schwingungsfeld oder die Pſychoanalyſe und den Expreſſionismus nehmen, 
überall iſt ein Durchbruch durch die Euklidiſch⸗ wandhafte Grenze der Form — die 
bis her als zulaͤnglich empfunden wurde — hin zur Innenſtruktur zu ſpuͤren. 

Eben dieſer Forderung wird auch Grave in ſeiner Philoſophie, gewiſſermaßen 
von der Metaphyſik her, gerecht. Er ſieht eine Struktur der Welt noch in allen den 
Komplexen, die wir als konkret oder abſtrakt, ſtets aber hoͤchſt wandhaft · begrenzt 
handhabten. Durch die Erkenntnis aber, daß allen konkreten Weſenheiten, wie 
auch allen abſtrakten Weſen heiten chaotiſche Strukturprinzipien innewohnen, 
oder anders ausgedruckt, daß unſere Welt auf einer tieferen Region objektiver 
Chaotica liegt, wird die Sandhabung und die Erkenntnis unferer Welt erweitert. 

Der Blick, der gleichſam bisher nur bis zur Oberflache der konkreten und abſtrak⸗ 
ten Bomplere drang, wird, tiefer dringend, die Form allein unter Einbeziehung der 
Struktur anerkennen. 

So ſehen wir dieſe Philoſophie aktuell in der Gruppe neuzeitlichſter Bemuͤhun⸗ 


Umfdau 79 


gen ſtehen. Allen denen, die nicht erſt dann, wenn hoͤchſt oberflaͤchlich die Dinge 
ihren Dienſt verfagen, ſich bilfeſuchend an die Umwelt wenden, ſondern daran 
arbeiten, die Möglichkeiten und den Grund, eben dieſes Verſagens in die Sand zu 
bekommen, wird Graves Buch von größter Wichtigkeit fein. Sier iſt wieder ein 
Weg gezeigt, der ſubalternen Einſtellung, den Ereigniſſen gegenuber zu entſprin⸗ 
gen und aktiv durch Tiefe der Erkenntnis und daraus entſpringender Moͤglichkeit 
einer Sandhabung, die Fäden in die Sand zu bekommen, welche das große Spiel 
des taͤglichen Lebens dirigieren. Fritz Senning 


Die heranwachſende Generation lebt und leidet ſich 

Sarbe und Daſein mit „vertauſchter Seele“ in ihr Jeitbild ein. Sie iſt 
unentrinnbar einem anderen, heraufdaͤmmernden Gotte börig, einer anderen 
fie wirkenden Ordnung, einem anderen Sein und Werden. Sie hat mit den Erleb⸗ 
niſſen, Erfahrungen, Geſtaltungsprozeſſen, Idealen und Symbolen des von ihr 
abfallenden Geſtern und Vorgeſtern nichts mehr zu tun. Sie iſt ausgeſtoßen und 
doch wieder ins neue Bildnis eines ungeheueren Anfangs eingeſetzt. Sie iſt Opfer 
und heroiſcher Auftakt zugleich. Der von Oswald Spengler uͤber ſie verhaͤngte 
„Untergang“ ift für fie ein ſchmerzliches Gericht. Doch fie gibt ſich dieſer Suͤhne 
willig hin. Sie laͤutert ſich am Zweifel, an der Nacht ihrer Stunde hoch. Auch fie 
ſpuͤrt dunkel eine gewaltig und unbezwingbar fie draͤngende Miſſion. Sie fühlt ſich 
von anderen Stimmen angerufen und von anderen Geſichten bewegt, als ſolche 
ſich auftun in den Untiefen einer allzu rationaliſtiſch⸗peſſimiſtiſchen Weltbetrach · 
tung. Auch fie will den tieferen, außer / und uͤberzeitlichen Sinn ihres Lebens er- 
fahren: Auch fie will bejahen konnen, auch fie iſt ein Ich, das ſich in bitteren 
Bämpfen ins Du einruft, auch fie iſt eine Sehnſucht, ein Wille, und ein Jiel. 
Und — eine Gemeinſchaft. 

So ſehr die verſchiedenen Gruppen und Fuͤhrerſchaften auseinander zu gehen 
ſcheinen, ſo eindeutig und einzielig ſind ſie nach einer Richtung hin in Bewegung, 
es iſt ein und dieſelbe Stimme, die ſie ſpricht, es iſt ein und derſelbe magiſche Jug, 
der ſie antreibt, praͤgt und ſammelt. 

Aber es iſt auch ein und derſelbe Daͤmon, der fie anfällt und bedroht, es iſt ein 
und derſelbe Rhythmus, der ſie durchſtampft und ſie „verzeitlicht“, es iſt ein und 
das ſelbe raſende Ungeheuer, das in ibre Welt eingebrochen iſt: 
die Maſchine. 

Wo und wie auch immer der heutige Menſch ſich herauszuſondern vermag aus 
den Taten und ſchreienden Wirklichkeiten ſeiner Jeit, wohin und wo hinauf er ſich 
immer zu flüchten imſtande ift, ob hinein in feine eigene innere grund / und gott · 
ſichtige Tiefe, oder hinauf in die Sphaͤren einer noch in unberuͤhrter Klarheit ſich 
ſpiegelnden Natur: immer iſt es dieſer eine, Flirrig vorſtoßende, aufbeulende Takt, 
der bereintönt in die fernſte Abgeſchiedenheit der Seele: 
die Maſchine. 

Sie iſt das ſinnlich⸗dinglichſte Symbol unſerer Jeit. Sie iſt der Seros, der „un⸗ 
beswingbar ſtuͤrmende Geld”. Sie iſt die tragiſche Geburt einer aus ſich ſelber 
mächtig gewordenen Technik, fie iſt der aus Eiſen und Kupfer getuͤrmte Luzifer 
unſerer in Ohnmacht ſich duldenden Welt. Ihre Rotation iſt der Rhythmus 
unſerer Sprache, unſeres „juͤngſten“ ſchoͤpferiſchen Ausdrucks, unferer „dionyſiſchen 


* W. Steinfels, „Farbe und Daſein“ (Grundzüge zu einem ſymboliſchen Weltbild). 
Verlag von Eugen Diederichs in Jena. 


80 Umſchau 


Mmuſit und unſeres unſaͤglich vernaͤchtigten, ſeeliſchen Ablaufs. Was anderes iſt denn 
der Kubismus als der magiſch⸗ vollzogene Akt, der über ſich lebendig gewordenen 
maſchine? — : die Maſchine als geiſtig bildneriſche Diktatur? Die Maſchine als „ros; 
miſches Geſchehen?“ — die Maſchine als eine im oberen Jeichen wirkſam gewor · 
dene und gegen den ſchoͤpferiſchen Menſchen vorbrechende okkulte Beſchwoͤrung? 

Wo immer ſich ein Leben in asketiſcher Verſenkung bereitet, immer wird es 
uͤberfallen und geſchreckt von dieſem naͤchtlichen Geſicht: 
von der Maſchine, die ſich zum gigantiſchſten Aampfe aller Bämpfe rüftet — das 
zum eigenen Bewußtſein aufſtrebende Eiſen wider Menſch, Tier und 
Nat ur. 

Groß iſt dies Geſchehen. Unermeßlich und ſpontaner Anlaß zur Eroͤrterung 
vieler ſich bildender Probleme. 

Auch die Wiſſenſchaft weiß ſich dieſer tragiſchen Wendung verantwortlich. Auch 
fie dringt mit immer ſchaͤrferen, genialeren Prognoſen und Sypotheſen in ihre 
Umwelt vor. Auch ſie iſt ergriffen von jenem Geiſte, der ſich aus „anderen“ Tiefen 
und Vordergruͤnden ruft. Auch fie beſinnt ſich auf die Terminologie neuer, die 
kreiſenden ARätfel einfangenden Begriffe. Auch fie ſchickt ſich an, neue Methoden 
an Stelle veralteter Syſtematik zu ſetzen, auch fie iſt mit dem zertruͤmmerten Atom 
dem „Rosmos“ verſchmolzen, auch fie muß über das Operationsbereich ihrer „zu 
Tode erperimentierten” Materie hinaus. 

Auch in ihr wirkt eine neue Generation. Aber auch dieſe iſt im Banne der 
„Mmaſchine“. (Gegen den Andersinſpirierten marſchiert geſchloſſen die „ſchlag⸗ 
fertige Formation“ .) 

Der Bosmos wird auf feine „Motore“, „Trans miſſionen“ und „Gewichte“ 
unterſucht. Selbſt der „Gott“ wird zum ſchizophrenen Automaten, und wo ſich 
die Bilder „magiſcher Wirklichkeiten“ nicht mehr an „Riemen“ und „Aäber” 
ſpannen laſſen, die Pbiole nirgends mehr die Verdunſtung eines „Stoffes“ zeigt, 
da iſt die obere und hintere Welt fuͤr alles ſpekulative Denken erloſchen. Da kommt 
der Punkt! Warum nicht das Fragezeichen? Da kommt die uneingeſtandene Kata; 
ſtrophe vor der „geſpenſtigen Wand“, an Stelle einer Antitheſe für eine binfällige, 
laͤngſt geſtorbene Behauptung. 

Man loͤſt ſich von den Inhalten vergreiſter Begriffe ab, um neue Suͤllen über ſich 
ſelbſt tuende und wirkende „Werte“ zu ftülpen. Man fragt nicht nach dem Weſen, 
ſondern nur nach ſeiner Funktion. Man entzieht ſich mit der ſchlagfertigſten Rhe⸗ 
torił der Gefahr: das zu demonſtrieren, was man urſpruͤnglich in ſich ſelbſt be · 
deutet, um nur das bleiben zu dürfen, was zum zunftmäßigen Anſtand eines „vor ⸗ 
ſichtig und nirgends entſtatutlicht beberrfchten Aatheders“ gehort. 

Doch auch hier lauert die Maſchine vor den Toren. Aus ihr wird noch fruͤh 
genug jener Daͤmon lebendig werden, den man noch allzugeringſchaͤtzig in ſchillern · 
den Abſtraktionen deduziert und ſchweigend „uͤberſieht“. Auch das Weſen der 
Maſchine gehoͤrt zur inneren „tiefenſichtigen Naturwiſſenſchaft“, wie das „Geld“ 
zur praktiſchen Magie. 

Die „Maſchine“ iſt des Abendlandes untergängeriſchſtes Schickſal, fie iſt des Un · 
geiſts hoͤchſter Triumph und des „fauſtiſchen Menſchen“ gefaͤhrlichſter Wider 
ſacher. 

Vor allem aber bedeutet die aus der Maſchine heraus wirkende Mechaniſtik des 
Denkens, des ſich „Fuͤhlens“ und Erlebens die unuͤberſchaubare Gefahr. Auch in 


umſchau 81 


den Bezirken unſeres geiſtigen Lebens hat ſich die Maſchine verbegrifflicht und in 
den Aſpekten des Schauens und Sörens konſiguriert. Sie hat die Pupille und das 
Obr bereits bezwungen. Sie baut ſich im Sehen und Sören des Menſchen ihr 
inneres Geſicht. Sie ſpricht ſich in der Sprache, fie handelt ſich im ſpontanen Ver 
halten und im taglichen Tun. Die Maſchine projiziert ſich an die Formen · und Be 
ſichterebenen der Seele, ſie iſt es, die der heranwachſenden Generation die „Ge⸗ 
ſtalt“, auch die innere beſtimmt. Sie iſt es, die an den Rändern unſeres auch 
geiſtigen Daſeins kreiſt, und einſchickt ibre rhythmiſch · dynamiſche Beſchworenheit 
ins „Ober · „ Unter · und Tiefenbewußtſein“ des heutigen Menſchen. 

Darum verfällt die heraufwachſende Jugend fo raſch und widerſtandslos dieſem 
alles regierenden, „techniſchen Phänomen”, darum wird fie eben dem Radio fo 
raſch als einer neuen Welterfahrung hoͤrig, darum iſt fie fo willenslos bebert von 
der „Telepathie des wellentönigen Apparates“, darum verwechſelt fie fo leicht 
die ſes rein phyſikaliſche Experiment mit dem Erlebnis einer „fuͤnfdimenſional“ 
aufgetanen und durch Antennen einzufangenden „oberen“ Welt. Darum verſinkt 
ſie aus der Erfahrung des wahren Wunders in das Bereich der Ehrfurchtsloſig · 
keit. 

Sie ift dem mechaniſchen Begriff an und für ſich, dem mechaniſtiſch ſich verſinn⸗ 
bildlichenden Weltbilde verfallen. Die Maſchine hat ſich in ſie eingedacht. 
Und mit dieſem Denken vergewaltigt, ordnet ſich auch ihr Schauen ihre Vorſtel ⸗ 
lungswelt und die Ausſprache der ihr adaͤquaten, expreſſiven Mittel und Formen. 

In feinem Buche: „Farbe und Daſein“ hat ſich W. Steinfels dieſer zeitlich 
bedingten Ur ⸗ und Tatſache bemaͤchtigt und es verſtanden, geiſtige Diſziplinen durch 
das mechaniſche Darſtellungs mittel zu veranſchaulichen und ſo dem mechaniſtiſchen 
Denken zu offenbaren. Das iſt der große Vorzug, aber auch der yaͤdagogiſche Wert 
der Steinfelsſchen Methodik. Steinfels treibt die Mechaniſtik durch die Mechanik 
aus. Seine Schau gehort mehr dem Intuitiv ⸗Viſionaͤren, als dem Reflexiv⸗; 
Doftrinären. Aus dem Erlebnis vor dem inneren Geſicht im ſchoͤpferiſchen Banne 
magiſcher Weſensintenſitaͤt baut ſich feine Welt. 

Ganz im Gegenſatze zu den ublichen Publifationen moderner Exploſionswiſſen · 
ſchaft, die ihre Ahnungen bereits als unumſtoͤßliche Poſtulate ſetzt, die aus einem 
zeitbeſchworenen Erregungszuſtand heraus Phantasmagorien als Fosmifche Ma⸗ 
nifeſtationen, Welterlöfungs- und Welterneuerungsideale definiert ; ganz im Unter- 
ſchiede zu dieſer undiſziplinierten, mehr felbftgefälligen, erfolgsſuchtigen, als ziel · 
richtigen Wiſſenſchaft, ringt ſich Steinfels in maͤhlichem Anſtieg zu den errungenen 
Poſitionen auf, bis ſich in der erſchoͤpfenden Ausgießung dieſes Welterlebniſſes 
das Weltbild zu einer bezwingenden Klarheit formt und ſich aus ſpricht. Es geht 
bier nicht mehr um eine fanatiſche Verteidigung des empiriſchen Wiſſens; die 
ſchoͤpferiſche Intuition, das im inneren Schauen aufgebrochene Gebeimnis wird 
bier Form, Jahl und Jeichen. Steinfels bringt die Mechanik der Vielfalt in die 
entmechaniſierte Einheit, ins „Abſolute“, in den „Logos“ (Gott) zurück und laͤßt 
von dieſem in ſich ſelbſt drehenden Braftzentrum aus die Welt ihre Syſteme und 
„Erſcheinungen“ bewegen, innerhalb einer eigens dazu demonſtrativ konſtruierten, 
farbig plaſtiſchen Kugel, aus deren Achſen und Romponenten, farbigen und hiera⸗ 
tiſch gegliederten Bezirken und Kategorien Steinfels feine Schluͤſſe ablieſt und er» 
ſchaubar macht. Aus der zweipolig gerichteten Seele ſteigt der Geiſt in die Einheit 
feiner überwundenen Dualitaͤt auf. Aber immer bleibt die Einheit von der Iwei⸗ 
Tat XVII 6 


82  Umfheu 


beit und dieſe wiederum von ber fie tragenden Einheit durchdruntzen und durch⸗ 
ſchienen: Das Bild bleibt immer Widerbild. Die Idee erfährt ihre Indivi · 
duation in konkreter Daſeinsform, die geiſtigen Diſziplinen erklaͤren ſich in der 
Kinematik des bewegten und „rotierenden“ Bildes. Alles iſt in dinglichſte Nahe 
gerädt, und der viſuell beſtimmbaren Form eingegoſſen. 

In der Wahl feines Demonſtrationsmittels iſt dies Buch von überragender 
Genialitaͤt. An Sand eines „mechaniſchen Getriebes“ werden die abſtrakteſten Be ⸗ 
griffswelten dem Schauen Ereignis. Das Auge erobert in dieſem Buche 
das „abſtrakte Ding“. Aus der zweipolarigen Gerichtetheit der Seele zwingt 
ſich der Menſch in den Logos, in Gott, in den Raum feiner Räume auf. 

Auch die Farbe iſt Symbol. JIwiſchen · Weiß Schwarz durchfaͤhrt der „Geiſt“ alle 

Regionen feiner ſchoͤpferiſchen Tat, wobei die innere Achſe, die der Rugel Oberſtes 
und Unterſtes halt, den jeweiligen Grad der materiellen und ſpirituellen „Farb ⸗ 
und Weſenskategorie“ beſtimmt. Die Farbe wird hier verfündigtes Licht —: Geiſt · 
Cicht in feinen Taten, Leiden und Vermaͤchtniſſen. Der „Begriff“ wird im Sarb- 
wefen lebendig und übermittelt ſich fo nicht nur dem „Verſtande“, ſondern in 
ſpontaner Aktivität dem „Gefuͤhl“, dem Nichtmehrwiſſen, dem Werden des inneren 
Bildes. 
Im Steinfelsſchen Weltbild iſt die Farbe pſychologiſch und philoſophiſch · meta · 
phyſiſch graduiert und geſtuft. Sie ſtellt in ſich praͤziſierte und ſelbſtaͤndig regierte 
Sierarchien dar, die uber · , in · und gegeneinander gelagert, immer Formationen 
geiſtiger Tatbezirke und Organiſationen verſchiedenen Ranges und verſchiedener 
Wirkungen (Impulſe) find. In dieſem Sinne dringt das Buch bis zu einer Meta · 
phyſik der Farbe und bis zu einer philoſophiſch · inſpirierten Pſychologie ihrer 
Funktionen und inneren Prinzipien vor. 

Immer wird das Gedachte Bild. Und auch in den uͤberſinnlichſten Gebieten des 
Buches wird der Leſer zum ſtetigen Betrachter der hier de monſtrierten, abſtrak · 


ten, doch immer in der Beftalt ſich wiederſindenden geiftigen Welt. 


Farbe, Bewußtſein, Weltbild, das find die drei Teile, aus denen das 
Buch ſpricht. Albert Talhoff 


Karl Chriſtian Plancks Denken fällt 

Zu K. Chr. Dlands Teftament in die Jeit der erſten Wirkung Scdo- 
pen hauers und Darwins, in die poſitiviſtiſchen Jahre 1850 —80; fein Sauptwerk, 
das „Teſtament eines Deutſchen“, das das geſamte Gebiet der Natur ⸗ und Sozial; 
philoſophie nach einem univerſalen Prinzip genial zuſammenſchauend behandelt, 
in das erſte Jahrzehnt nach der Reichsgruͤndung: es erſchien zuerſt J88J, ein Jahr 
nach feinem Tode. Mitten in diefer gottfernſten Jeit, die ja auch jeder tieferen 
Naturphiloſophie von Grund aus abgeneigt war, ſetzt es die idealiſtiſche Auf⸗ 
faſſung der Natur fort, indem es die geſamten Maturphaͤnomene vor uns ent- 
fteben läßt, zwar nicht aus einem wirklichen Ideenkos mos, aber doch aus einem 
einzigen großen Prinzip — dem der ſtufenfoͤrmigen konzentrierenden Verſelbſtung 
bis zur finſter · kalten, verſchloſſenen Materie und von da in ebenfo ſtufenweiſe 
fortſchreitender Entſelbſtung bis zum lichten hinauswirkenden ſelbſtbewußten 
Beift. — Es wahrt alfo in dieſer boͤſen Jeit durchaus eine tiefere Tradition; aber 
durch eben dieſe Jeit, in der er ſchreibt, kann ſich doch das geiſtige nn das er 

3. Auflage 1925, Eugen Diederichs Verlag in Jena. N 


Umſchau 83 


feiner Maturdeutung zugrunde legt, nur bis zu dieſem abſtrakt pantheiſtiſchen 
Prinzip entwickeln. Der Aampf gegen die geiftlofe, mechaniſch⸗empiriſtiſche Natur · 
auffaſſung, den er führen muß, gegen dieſe „ſinnlos äußerliche, entwürdigende 
und verzerrende Auffaſſung der Natur“, die er überwinden will, gegen dieſen 
„elenden abſtoßenden Mechanismus“, den er fo gluͤhend haßt, nimmt ihm zu viel 
Braft, man fühlt, wie dieſer Geiſt der gerade ihre größten Triumphe feiernden 
Empirie ihn von allen Seiten einengt. Dazu werden ihn in dem anderen Rampf, 
den ihm die Zeit ebenſo auferlegt, dem gegen einen ſchal und kraftlos gewordenen 
Idealismus, in deſſen Weltabgewandtheit er die eigentlichſte Urſache der materia ⸗ 
liſtiſchen Veraͤußerlichung erkennen muß, doch viele alten echten Quellen religidſen 
Idealismus und tieferer Naturphiloſopbie zweifelhaft, fo daß die Welt, aus der 
ſein Geiſt die Nahrung zieht, an Boͤhme, an Goethe oder der romantiſchen Natur⸗ 
pbilofopbie gemeſſen, faſt nüchtern und begrenzt erſcheinen konnte. Aber es wäre 
trotzdem grundfalſch, ihn nur als Epigonen romantiſcher Naturpbiloſophie und 
pantheiſtiſch⸗idealiſtiſcher Syſteme zu faflen oder gar fein Sauptwerk, das Teſta⸗ 
ment, nur als eine wirkungslos gebliebene, weil allzuſehr außer der allgemeinen 
Denkentwicklung ſtehende philoſophiſche Buriofität abſchaͤtzend zu werten. Wenn 
Planck geiſtesgeſchichtlich einer der vorangegangenen ſyſtematiſchen Philoſophien 
nicht gut „angehaͤngt“ werden und man ſich doch nicht entſchließen kann, feiner 
eigentuͤmlichen, in feiner Art großartig wahren Erſcheinunz in den Sandbüuchern 
der Philoſophie des 19. Jahrhunderts ein beſonderes Bapitel zu widmen: wäre es 
nicht vielleicht doch deshalb, weil er zu denen gehort, die in ihrer Zeit einfach nicht 
gehort werden koͤnnen, weil fie geheime Brücken zum Rommenden zu ſchlagen 
baben? Die weniger von der Vergangenheit als von der Jukunft her erſt richtig, 
gerecht und zureichend zu deuten find? Ju den prophetiſchen Geiſtern alſo, zu den 
Vorverkündern und Vorlaͤufern mehr als zu den letzten Ausläufern der alten 
MNaturphiloſopbie, die von der Renaiſſance über Boͤhme, Goethe und die Ro⸗ 
manti? ſich entwickelt und die er tatſaͤchlich auch mitten in dieſer nüchternften 
und myſterienloſeſten aller Jeiten auf ſeine Art fortzuleiten hatte, wenn er alle 
Stoffe aus verdichtetem Licht und verdichteter Wärme vor uns entſtehen laͤßt? 
Satte dieſer tiefblickende Schwabe, der feiner Zeit unbekannt und fo gut wie ver- 
graben in Blaubeuren und zuletzt in Maulbronn lebte und den ſie noch weniger 
porte und verſtand als den in Baſel und Bayreuth geiftig beheimateten unzeit- 
gemäßen Nietzſche, ſeinem Volk nicht auch ein wichtiges und wirkliches Teſtament 
binterlaſſen, das nur langſam, langſam erſt in feiner ganzen Bedeutung erkannt 
werden kann? 

Die weihevolle Feierlichkeit zwar, mit der er die Einleitung dieſes 700 Seiten 
ſtarken Teſtaments ſchreibt, mag zunaͤchſt im Ton heute irgendwie befremdlich 
Hlingen. Planck fühlte ſich als Verkünder vor allem auch neuer ſozialer Gedanken, 
die, weil fie jenſeits aller liberaliſtiſcher und ſozialiſtiſcher Hachheiten und Irr⸗ 
tümer ſtanden, am meiſten hatten gehoͤrt werden follen. Aber das pantheiſtiſche 
Fundament, auf dem er ſtand, und das ibn alle ſchaffenden, goͤttlich geiſtigen Beäfte 
über dem Menſchen mit höheren Bewußtſeins formen beſtimmt negieren ließ, 
konnte doch das Innerſte, Lebendigſte der Seele nicht ergreifen: daher dieſe Art 
feines Pathos, das uns zuweilen weniger überzeugt als feine Ideen. Kieft man 
fein Werk aber dann bis zum Ende durch, dann ſieht man allerdings, daß er tat · 
ſaͤchlich prophetiſchen Geiſtes war, und daß fein Ungehoͤrtwerden von ihm mit 


IS 


84 umſchau 


Recht als etwas Tragiſches empfunden werden mußte. Planck hat namlich um 
J880 ſchon den Weltkrieg vorausgeſagt, und zwar nicht etwa in vagen Ahnungen 
kommender Aataſtrophen und Einſtürze, ſondern in klar vorſehenden Erkennt⸗ 
niſſen der welthiſtoriſchen Situation, in der wir dann wirklich in den Weltkrieg 
eintraten. Planck hatte den böchften Begriff von der auf feiner zentralen Lage 
beruhenden, zwiſchen allen Völkern des Oſt und Welt, des Word und Süd ver- 
mittelnden, wahren Miſſion des deutſchen Volks, er glaubte, daß Deutſchland, das 
beilige Ser der Volker, ſich nicht wie die ubrigen europätfchen Staaten natio⸗ 
naliſtiſch verſelbſten dürfe, daß es in der europaͤiſchen Familie das geiſtig einigende 
Band bleiben muͤſſe. Er war der Meinung, daß nur von Deutſchland und von 
ſeiner geiſtigen Arbeit her die wirkliche Einheit Europas bewahrt werden könne. 
Von dieſer hohen Miſſion ſchien ihm das Deutſchland der Bründerjabre abgefallen, 
indem es ſich dem Taumel eines feſſelloſen Erwerbsgeiſtes hingab. Sieraus ging 
ihm die Erkenntnis auf, daß der Deutſche nur durch ein Schickſal voll Blut und 
Tränen von dieſem Abfall zu feiner wahren zentralen Natur zuruͤckſinden konne. 
Aus der tiefen Einſicht alſo in die Anarchie der europaͤiſchen Staaten, die ohne 
gemeinſchaftbildendes geiſtiges Prinzip, mit der nationalen Erhebung und waffen⸗ 
ſtarrenden Abſchließung des neuen Reichs erſt in das gefährliche kritiſche Sta⸗ 
dium trat, ergab ſich ihm zunaͤchſt die Vorſicht in den kommenden europäifchen 
Bankrott; aber er ſah zugleich, neben dieſem Abfall Deutſchlands in feiner Ver · 
aͤußerlichung jener Jeit, zugleich ſeine relative Schuldloſigkeit: er wußte, daß der 
Weltkrieg ſelbſt nicht von uns, ſondern von Rußland begonnen würde. Ja, er ſah 
voraus, daß wir „zum Seile Europas“ dazu auserſehen waͤren, in dem kommenden 
Bampf das zum Untergang reife Jarentum Rußlands zu vernichten, er ſah aber 
nicht, und konnte es noch nicht feben, daß wir Rußland an Stelle dieſer alten 
Form nichts zu geben haben wuͤrden als den Marxismus, und daß dies eine neue 
welthiſtoriſche Schuld darſtellen wurde, die erkannt werden muß, wenn wir uns 
beute dem Rommenden gegenüber richtig einftellen wollen. 

Planck war alfo, wir wiederholen es, wirklich prophetiſchen Geiſtes. Ich ver ⸗ 
weiſe auf den Schluß des Buches, wo er folgendes ausſpricht: „Beine politiſche 
Blugbeit, Feine Sriedensliebe von ſeiten Deutſchlands vermag innerhalb der jetzigen 
bloß nationalen Ordnung dieſen feindlichen Juſammenſtoß (mit dem Oſten) zu ver- 
bindern. Denn maͤchtiger als alle Klugheit iſt die Natur der Verhaͤltniſſe. Und 
kommt es dann einſt zum Aampfe, fo wird derſelbe, fo ſehr wir ihn auch zum 
Beſten Europas auszufechten haben, dieſes doch nicht an unferer Seite finden, 
ſondern wie im Oſten, fo werden wir zugleich auch im Weſten und im Suden uns 
verteidigen muͤſſen; nach allen Seiten wird die feindlich nationale Eiferſucht ſich 
genen das neue, in ihrer Mitte geſetzte Reich erheben. Doch eben die Erkenntnis, 
daß in dieſem letzten und ſchwerſten Kampfe das völlig Unzureichende aller bis⸗ 
herigen bloß nationalen Ordnung zu Tage kommt, daß vor allem die univerſelle, 
mit einer Reihe fremder Elemente verknuͤpfte Stellung der deutſchen Yration da⸗ 
mit völlig unvertraͤglich iſt und nur zu unaufbörliden Kaͤmpfen binfuͤhren müßte 
— fie wird dieſem blutigſten Rampfe auch feine für immer entſ cheidende Bedeutung 
geben, wird den Geiſt der Nation, der jetzt noch in ſtumpfer Außerlichkeit gefangen 
iſt, öffnen für feinen letzten und bleibenden Beruf. Aufgehen wird unter Blut und 
Traͤnen die Einſicht uff... Solche Säge im Teſtament eines Deutſchen find 
Einſichten eines Haren, in keinen Jeitſtimmungen befangenen Geiſtes und ven 


umſchan | 85 


dienen eben des halb auch heute noch, und heute erſt recht, gehort und bedacht zu 
werden. Und ein Mann, der ſo Har in die Jukunft ſab, ſollte nicht auch auf ſeinem 
eigenſten Gebiete, dem der Ylatur- und Sozialphiloſophie, weſentliches zu ſagen 
baben? Man wird jedenfalls, nachdem man erſt dieſen Schluß des Teſtaments 
einmal bedacht hat, an die Prüfung dieſer Philoſophie vielleicht mit mehr Ernſt 
und Geduld herangehen als man bis jetzt bewies. So gut er ſich in der Erkenntnis 
der Jukunft und der kommenden ſozialen Probleme als ein ſeiner Jeit weit uͤber⸗ 
legener Geiſt bewies und Einſichten hatte wie keiner der beruͤhmten Empiriker, die 
feinen Ruhm verdunkelten, fo war er auch in der Naturphiloſophie nicht nur 
Epigone, ſondern tatſaͤchlich ein um ein weſenhaftes neues Naturbild ringender 
Geiſt, den wir heute nur von der rechten Stelle aus ſehen mäflen, um feine Be. 
deutung zu erkennen. Da hier nicht mehr Raum iſt, werde ich dies im naͤchſten Tat- 
heft ausführlicher zu begründen verſuchen. Aarl Juſtus Gbenauer 


Die moderne Wiſſen · 
Ein Weg zur Erfor ſchung des Lebendigen e 


turge ſchehen in feinem aͤußeren Ablauf nach kauſalen Juſammenhaͤngen zu er 
faſſen. Sie transformiert die Sinneswahrnehmungen in ein theoretiſches Gebiet 
und löft fie in Bewegungen kleinſter Entitaͤten auf, welche die „Urſachen“ des 
natürlichen Geſchebens einſchlie lich der Lebens vorgaͤnge fein ſollen. Auch das, 
was fonft nicht in Maß und Zahl beſtimmbar iſt, laßt ſich nach die ſer Methode 
mathe matiſch formulieren. Werden die Ergebniſſe der Rechnung in die urfpräng- 
lichen Naturqualitàͤten zuruͤckuůͤberſetzt, fo ſtimmt das Reſultat mit der Sinnes ⸗ 
erfahrung überein. Aber damit, daß das Exempel ſtimmt, iſt nichts Aber die objek⸗ 
tive Wirklichkeit der myſtiſchen Welt von Jonen, Elektronen, Quanten ufw. ge⸗ 
fagt. Denn es wird aus der Matur nur das wieder herausgeholt, was man vorher 
in ſie hineingelegt hat. Daß dem phyſikaliſchen Weltbild eine urſaͤchliche Bedeutung 

gegenuͤber der wahrgenommenen Welt zukommt, iſt eine hypothetiſche Annahme, 
die nicht erwieſen und nicht erweisbar iſt. In juͤngſter Zeit gewinnt innerhalb die · 
ſes Weltbildes der „Ather“ immer größere Bedeutung für die theoretiſche Phyſik. 
Materie und Ather find 3. B. nach Lenards Auffaſſung die Grundprinzipien — 
oder wie man es nennen will — der welt. Über den Ather iſt viel geſchrieben 
worden, Intereſſantes und, im akademiſ chen Sinne, Geiſtreick es. Aber fo Klug das 
alles äußerlich genommen erſcheint, der Ather läßt ſich nicht faſſen, er gewinnt 
kein Leben und bleibt abſtrakt, tot und geſpenſtig. Dr. Wachsmuth geht in feinem 
Buch über „die aͤtheriſchen Bildekraͤfte“ von ganz anderen Vorausſetzungen und 
Vorſtellungen aus als die Gegen wartsphyſik. Der Begriff der „Bildekraͤfte“ iſt der 
anthropoſopbiſchen Terminologie Dr. Rudolf Steiners entnommen. Dort verſteht 
man darunter nicht mechaniſtiſche „Urſachen“ der Lebens vorgaͤnge, auch nicht das, 
was die Vitaliſten als „Lebenskraft“ bezeichnen, ſondern es handelt ſich um das, 
was als ein Tätiges, als innere Aktivität im Organismus auftritt und weiterhin 
in der ganzen Natur. Alle materiellen Erſcheinungen find fo, wie fie zunaͤchſt wahr⸗ 
genommen werden, nur Phyſiognomie und Ausdruck eines ſich aus ſich ſelbſt 
Bewegenden; der Organismus insbeſondere ift eine Entelechie, wie Ariſtoteles und 
nach ihm Goethe ſagte und da in der Natur nichts wirklich tot und leblos ift, fo 


»Dr. Guenther Wachsmuth, Die aͤtheriſchen Bildekraͤfte in Ros mos, Re und 
Menſch. Der kommende Tag A. G. Verlag, Stuttgart. 


86 Umſchau 


laßt ſich der Begriff der Entelechie über das Naturganze ausdehnen. Alles iſt be« 
wirkt aus inneren Bildekraͤften. Bei Goethe, bei Schelling und den Naturphiloſo⸗ 
phen iſt verſucht, zu einem Verſtaͤndnis der Bildekraͤfte zu kommen. Goethe ſpricht 
vom organiſchen „Typus“, den er in der „Urpflanze“ fuͤr ein beſtimmtes Gebiet 
genau dargeſtellt bat. Er weiſt nach, daß die Pflanze in dem Spiel und Gegen ſpiel 
von Syſtole und Diaſtole, Ausdehnung und Juſammenzie hung emporwaͤchſt. Ihr 
Geſtaltwerden, wenn ſie aus dem Samen, in dem ſie nur der Idee nach vor⸗ 
handen iſt, vom Unraͤumlichen in den Raum übergeht, iſt ein Rampf zwiſchen den 
Tendenzen von Raumentfteben und Raumverneinung, „Blatt“ und „Anoten“. 
In ahnlicher Weiſe, wie in dieſem beſonderen Fall die Bildekraͤfte wirken, ſieht 
Wachsmuth fie im geſamten Naturleben tätig, in Kosmos, Erde und Menſch. 
Alles Naturdaſein geht aus der Idee über in den Raum und dort, wo es zur Er⸗ 
ſcheinung wird, laſſen ſich gewiſſermaßen vier Urphaͤnomene alles Werdens auf: 
zeigen. Die Urpolarität, die Goethe der Entelechie der Pflanze zugrunde liegend 
ſieht, teilt ſich bei Wachsmuth noch einmal. Er unterſcheidet zwei zentrifugal wir · 
kende Atherarten oder Bildekraͤfte — Wärmeätber und Lichtaͤther — und zwei 
zentripetale, chemiſchen und Kebensätber, die abwechſelnd am einen Pol des Be 
ſchehens nach Aufldfung, am anderen nach Verdichtung ſtreben. So entſteht — 
wir zitieren Goethe — das „ewige Leben, Werden und Bewegen“ der Natur aus 
dieſen „wenigen Triebfedern“ des „immerwährenden Anziebens und Abſtoßens“. 
Was Goethe nur erſt anzudeuten begann, das entwickelt Wachsmuth mit ſchoͤner 
Klarheit in umfaſſender Weiſe. Er führt hinein in das Innere, regſam Tätige der 
Natur, aus dem die Erſcheinungen heraustreten, um es zu offenbaren, indem ſie die 
Welten harmonien zur Wahrnehmung bringen. Der ganze Bosmos iſt erfüllt von 
lebendiger Tatigkeit. Lebendige Bildekraͤfte ſtroͤmen aus dem Weltenraum, von 
der Sonne, dem Monde, den Planeten auf die Erde herab, ſie begegnen ſich mit dem 
Eigenleben der Erde, das mit ihnen in Wechſelwirkung tritt, wenn der Erdorganis⸗ 
mus feine Bilde kraͤfte aus der Tiefe empor ausatmet und wieder in ſich zurückzieht. 
Die Probleme der Meteorologie werden in ein neues Licht geftellt, der Rhythmus 
der atmoſphaͤriſchen Erſcheinungen findet ſeine Erklaͤrung in allen Einzelheiten. 
Das Wort Goethes von den „Simmelskraͤften“, die „auf ⸗ und niederſteigen“, ge: 
winnt Wirflichfeitsbedeutung. Es geht ein großer Jug durch Wachsmuths Buch, 
das die Welt aus der Erſtarrung löoſt, in welche fie die Wiſſenſchaft bannte, die es fo 
mephiſtopheliſch weit gebracht hat. An die Stelle des Wiſſens nur um die erſtarrte 
Form tritt ein ſolches um die Taͤtigkeit der Natur, um ein Wirkliches, Wirkendes. 
Wachsmuth zeigt, wie durch die Annahme der vierfachen Wirfungsart der aͤthe 
riſchen Bildekraͤfte alles das, was heute noch als Problem diskutiert wird und in 
einem Wuſt von Theorien erſtickt, feine einfache Deutung finden kann — Schwer ; 
kraft und Erdmagnetis mus, Radioaktivität, die Phänomene von Licht, Farbe und 
Ton, um nur einiges anzufuͤhren. Auf der Baſis der aͤtheriſchen Bildekraͤftewir⸗ 
kung wird eine Rosmogeneſis entwickelt, die zeigt, wie dieſe ſich aus einander ent ⸗ 
wickelt haben und heute noch entwickeln, ſo daß das biogenetiſche Grundgeſetz 
umfaſſende Bedeutung gewinnt. Noch ſei darauf hingewieſen, daß er ſchließlich 
zeigt, wie auch der Menſch nicht nur — womit man heute zufrieden iſt — aus den 
gleichen chemiſchen Elementen beſteht wie die uͤbrige Natur, wie er vielmehr mit 
feinem ganzen Weſen als lebendiger Organismus hinein verwoben iſt in den 
Rhythmus von irdiſchen und kosmiſchen Bräften. 5. Woblbold 


umſchan | 87 


„Nietzſches, Geburt der Tragödie bedeutet den Anfang 

2. J. Bachofen einer neuen Auslegung der ſeeliſchen Grundlagen des 
Altertums, fomit der geſamten Vorgeſchichte Aberbaupt und muß fuͤrder von 
jedem gekannt und verarbeitet fein, der ſich irgend an die Erforſchung ſymbo⸗ 
liſchen Denkens und mythiſchen Traͤumens heranwagen will. . . Bevor aber noch 
Nietzſche durch feine großartige Erneuerung des Wiſſens um die Metaphyſik des 
Dion yſiſchen am Urzuſtande der Seele hervortreten ließ deſſen Gegenſaͤtzlichkeit 
zur Tageswelt der Olympier, hatte ſich im Geiſte eines anderen Forſchers voll. 
endet, was die, niedere Mythologie und mit ihr die philoſophiſche Sehnſucht der 
ganzen Romantik ſuchte, ohne doch es zu finden : die Einſicht naͤmlich, daß ſicher 
im mittellaͤndiſchen Voͤlkerkreiſe, hoͤchſtwahrſcheinlich aber in der Geſamtmenſch⸗ 
beit dem ‚Uranismus‘ des Tagesbewußtſeins ein „Chthonismus des Nacht ⸗ 
bewußtfeins vorangegangen und jenem überall erſt nach ſchwerem und teilweiſe 
blutigem Ringen gewichen ſei.“ | 

Es war J. J. Bachofen (1815-1887), deſſen einzigartiger Belebrtenperfön- 
lichkeit Ludwig Klages in dieſen Worten gedenkt. Er iſt auch der Wiederentdecker 
des gewaltigen Werkes Bachofens, das eine liebende Macht bis in unfere Tage 
herein umgab und vor der bornierten Kritik ſubſtanzloſer Menſchen ebenſo be⸗ 
wahrte wie vor dem unflätigen Gebaren nichtswuͤrdiger Marktſchreier. Wir 
ſelbſt wurden durch die angeführten Worte von Klages, welche in feinem Buche 
vom „kosmogoniſchen Eros ſtehen, erſtmals auf den Namen Bachofens auf⸗ 
merkſam und zur Lektüre der bis vor kurzem ſchwer zuganglichen „Graͤberſpmbolik 
der Alten“ veranlaßt, die fuͤr uns ein mit ſeltener Ergriffenheit aufgenommenes 
Ereignis bedeutete. 

Es muß dankbar begrüßt werden, daß der Verlag Selbing & Lichten hahn in 
Baſel es nunmehr unternommen hat, gerade dies Werk Bachofens neu heraus · 
zugeben (J. J. Bachofen, Verſuch über die Graͤberſymbolik der Alten. Zweite, 
unveränderte Auflage. Baſel 1925. Br. M. 7,50). C. A. Bernoulli hat dem Werke 
ein kurzes Vorwort beigefügt, Ludwig Klages eine ebenſo gedraͤngte Würdigung 
der Geſamterſcheinung Bachofens. Die Darſtellung umfaßt zwei große Abhand- 
lungen, „Die drei Myſterien⸗Eier“ und „Oknos der Seilflechter“. 

Der letztere der beiden Verſuche Bachofens iſt in einer handlichen Ausgabe ſchon 
vorher bei C. 5. Beck erſchienen (Bachofen, Oknos der Seilflechter. Serausgegeben 
und eingeleitet von Manfred Schröter. Geh. M. 2,40, geb. M. 3, o). Jedem, dem 
andersgerichtete Tätigkeit die Lektüre der großen Bachofenſchen Werke unmoglich 
macht, ſei dieſes Buch empfohlen, zumal in genannter Abhandlung letzlich der 
ganze Bachofen in nuce enthalten iſt. Manfred Schröter hat eine umfaſſende Ein ⸗ 
leitung zu dem Verſuche geſchrieben, die einen uͤberblick über das geſamte Werk 
und die Perſoͤnlichkeit Bachoſens vermittelt. 

Bachofens koͤſtliche leine Schrift über „Das lykiſche Volk und feine Bedeu⸗ 
tung für die Entwicklung des Altertums“, in der ſich feine Gedankenwelt in fel- 
tener Rundung zuſammenſchließt, wurde in juͤngſter Jeit ebenfalls von Manfred 
Schroͤter neu und gekürzt herausgegeben (5. Saeſſel Verlag in Leipzig. Geh. 
M 1.40, geb. m 2.—). Die Grundſaͤtze der Rürzung, die ſich der Sauptſache nach 
auf das philologiſche Beiwerk beſchraͤnkt, waren dabei die ſelben wie bei der Neu⸗ 
ausgabe des „Ornos“. Sier in dieſer für den Liebhaber beſtimmten Auswahl 
find all dieſe Anmerkungen weggelaſſen und der Text iſt von manchem weniger 


883 umſchau 


wichtigen, dem allgemeinen Verſtaͤndnis zu weit abliegenden Beiwerk befreit, da · 
für aber durch Abſatz · und Bapitelgliederung, die nur das vorhandene deutlicher 
hervorzuheben hatte, leichter zugaͤnglich gemacht. 

Wer aber tiefer in die Welt, die ſich mit dem Namen Bachofens auftut, ein- 
dringen und die aus der Lektüre der Werke des großen Meiſters geſchoͤpften Pro; 
bleme in ihrer reichen geiſtesgeſchichtlichen Verzweigung verfolgen will, der greift 
mit größtem Vorteil zu dem Buche C. A. Bernoullis über Bachofen und das 
Naturſymbol, wofelbft er auch ein Porträt Bachofens findet (Johann Jakob 
Bachofen und das Naturſymbol. Ein Wüͤrdigungsverſuch von Carl Albrecht 
Bernoulli. Benno Schwabe & Co., Baſel 1924. Geh. M 12.—). Der gleiche 
Werfaſſer hat in einer Heinen Schrift Bachofen auch als Religionsforſcher ge · 
würdigt (C. A. Bernoulli, J. J. Bachofen als Religionsforſcher. GH. Saeſſel 
Verlag in Leipzig. Geheftet M J. 40, gebunden m 2.—.) Gerade Bachofens 
Derfönlichkeit iſt es, Aber die man bier umfaſſenden Aufſchluß erhalt. Bei 
Bachofen iſt die Perſoͤnlichkeit unzertrennlich mit dem Werk verbunden. Denn 
„primaͤr bei ihm iſt nicht die Wiſſensleidenſchaft des Religions forſchers, ſondern 
die religioͤſe Leidenſchaft des mythiſch Empfindenden ſelbſt“ (Manfred Schroͤter) 
In feiner autobiographiſchen Ruͤckſchau, die feinem Lehrer F. A. von Savigny 
gewidmet iſt (erſchienen als vierundzwanzigſtes Buch der Rupprecht ⸗Preſſe zu 
Münden, C. 5. Beckſche Verlags buchhandlung), legt er folgendes große Bekennt⸗ 
nis ab: „Ich hatte eine Jeit gehabt, wo die mittelalterlichen Prozeſſualiſten mich 
beglädten. Später hatte ich über einer ſchoͤnen Pandektenſtelle alles vergzeſſen. 
Nach und nach waren alle dieſe Reize verſchwunden. Was ich las, was ich 
ſtudierte, es ſchien mir, bei Lichte beſehen, ein ſo wenig wiegendes Beſitztum, ſo 
geringe Nahrung fuͤr die Seele, fuͤr die Vervollkommnung unſeres unſterblichen 
Teiles im ganzen fo gleichgültig. Ich ſtand in einer Zeit des Übergangs, wie fie 
jedem ſtrebenden Wefen aufbehalten find. Was fie herbeigeführt, wer kann tief 
genug in die Gründe der menſchlichen Seele hineinſchauen? Der Übergang war 
peinlich, jetzt ſegne ich ibn. Es muß die Jeit kommen, in welcher der Gelehrte 
feine Studien über ihr Verhaltnis zu den hoͤchſten Dingen ernſtlich zur Rede ſtellt, 
und ſie hierzu in eine richtige Stellung bringt. Dann wird auch der Wunſch er⸗ 
wachen, ja ein dringendes Beduͤrfnis ſich geltend machen, dem ewigen Gehalt der 
Dinge doch wenigftens um ein kleines naͤherzutreten. Die Schale allein genügt 
nicht mehr. Martervoll iſt der Gedanke, ſich fo lange ſchon mit bloßen wertloſen 
Formen herumzuſchlagen. Da tritt rettend der Glaube dazwiſchen, daß man auch 
in dieſen Dingen ‚den unſterblichen Fußtapfen entdecken kann.“ Und in Bach; 
ofens Vorwort zur „Graͤberſymbolik der Alten“ leſen wir ergänzend: „Dadurch 
bin ich vor allem einem Beduͤrfnis meiner eigenen Natur gerecht geworden, viel · 
leicht aber auch dem hoͤchſten Jiele aller Altertums forſchung, die Ideen fruͤherer 
Geſchlechter einer Zeit, die der Erfriſchung gar ſehr bedarf, in ihrer hohen Schoͤn · 
heit zu erſchließen, naͤhergekommen, als es einer an der Form und der Oberflaͤche 
der Dinge haftenden Betrachtung erreichbar iſt.“ Ein Bommentar zu dieſen 
wahren, hoben und ſchoͤnen Worten konnte ihre eindringliche Sprache nur ver- 
dünnen. Man greife nach dem Werk. Wilbelm Troll 


Schriftleiter: Dr. . e. Eugen Diederichs, Jena, Cari-Jeiß - Platz 5. Bei unverlangter Zufendung 
von Manuſ kripten IR Porto für Rück ſendung beizufügen. — Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 
Druck von Radelli & Sille in Leipzig 


14 
„Meer 
Monatsſchrift für die Zukunft 


deutscher Rultur 


Is. Jabrgang Seft 2 Mai 1926 


Georg Steinhauſen 
Die Ungeiſtigkeit der deutſchen Ge⸗ 
ſellſchaft im letzten Menſchenalter 


nter Ungeiſtigkeit ſoll hier nicht ſchlechthin das verſtanden werden, 

was man Materialismus nennt: denn es gibt auch eine Ungeiſtig · 

keit durchaus nichtmaterialtſtiſcher Natur, eine geiſtige Schlichtheit 
und Anſpruchsloſigkeit, die keineswegs ideallos iſt (das Zeichen des Materi⸗ 
alismus), ſondern etwa religiöfen oder ethiſchen Idealen zugewandt fein 
kann. Anderſeits braucht der Materialismus nicht immer ungeiſtig zu 
ſein. Mit dem modernen Intellektualismus iſt vielmehr der Materialismus 
eng verbunden: das Streben nach materiellen Guͤtern, der wirtſchaftliche 
Egoismus arbeitet ſogar ſehr mit den Kräften des berechnenden Verſtan · 
des, und der wirtſchaftliche Egoismus weiß auch die Errungenſchaften der 
Wiſſenſchaft zu ſchaͤtzen, ſoweit ſie ihm produktiv erſcheinen und er ſie in 
feinen Dienſt ſtellen kann. Selbſt Runft und Literatur braucht eine 
materialiſtiſch geſinnte Geſellſchaft nicht zu verachten; aber dieſe bedeuten 
dann nur ein Stuͤck verfeinerter materialiſtiſcher Genußſucht, dienen dem 
Luxus, der Unterhaltung, der Dekoration des Lebens. 

Eine uͤberfeinerte Ziviliſation kann ſogar — und wir haben das ja in den 
letzten Jahrzehnten erlebt — trotz ihrer materialiſtiſchen Grundhaltung 
eine betonte Geiſtigkeit in fein ſein wollenden Schichten hervorbringen. 
Es iſt dies aber eine unechte, ungeſunde, unnatuͤrliche und blutleere Geiſtig⸗ 
keit weſentlich aͤſthetiſierender Art, zum Teil bloße Spielerei. Keineswegs 
beſchraͤnkte ſich dieſer Typus der „Geiſtigen“ oder „Intellektuellen“ auf 
literariſche oder eigentlich geiftige Kreiſe, er war vielmehr ein geſellſchaft · 
licher Typus, beſonders in großſtaͤdtiſchen reichen, namentlich auch juͤ. 
diſchen Kreiſen vertreten, aber auch in der jüngeren Generation der re be > 


Cat Y 1 . 

ö Ges d. Fr. 
M. rl. Sedal- 2 
Niehungen cs 


90 Georg Stein hauſen 


ziellen Welt und ſonſt. Verabſcheut war immer das Gewoͤhnliche, aber auch 
das Einfache und Natuͤrliche, vor allem jedoch das Nuͤckſtaͤndige, geſchaͤtzt 
immer das Beſondere, Außergewöhnliche. Eine gewiſſe kuͤnſtleriſche, lite⸗ 
rariſche, philoſophiſche Bildung war tatſaͤchlich vorhanden, aber ſie war 
meiſt oberflaͤchlich, Mittel zu dekorativem Zweck. Die ganze Erſcheinung war 
wohl eine Art Ruͤckſchlag gegen den groben, plebejiſchen Materialismus, 
aber ſelbſt ein Erzeugnis verfeinerter materialiſtiſcher Geiſteshaltung, 
weil ſie ohne ethiſche Grundlage, ohne Innerlichkeit, ohne Ideale war. 
pflege und Schaͤtzung der wahren geiſtigen und idealen Werte lagen dieſen 
„Geiſtigen“ durchaus fern. 

Trotz der eingangs gemachten Einſchraͤnkung iſt nun aber in noch groͤ 
ßerem Maße die Ungeiſtigkeit, wie ſie in Deutſchland in den letzten Jahr- 
zehnten in die Erſcheinung trat, ein Ausfluß der feit Mitte des 19. 
Jahrhunderts immer mehr ſich verbreitenden materialiſtiſchen Geiſtes · 
haltung, im Zuſammenhang mit dem zunehmenden Übergewicht der Inter; 
eſſen über die Ideale, der wirtſchaftlichen über die geiſtigen Intereſſen. Der 
Vorgang äußert ſich nach zwei Seiten, einmal in einer Wiaterialifierung 
des geiſtigen Lebens ſelbſt, ſodann in der Minderung und Zurůͤckdraͤngung 
der geiſtigen Intereſſen im Geſamtleben der Nation. 

Die Materialiſierung des geiſtigen Lebens liegt zunaͤchſt in feiner zu · 
nehmenden „Mechaniſierung“ und Bureaukratiſierung, d. h. in der Über: 
ſchaͤtzung des äußeren Apparates, der Technik und der Organiſation, Mo⸗ 
mente, die den ſchoͤpferiſchen Menſchen, den frei gerichteten Geiſt in den 
Betriebsmenſchen, den Nurfachmenſchen verwandeln. Methode und Rou⸗ 
tine wurden das weſentlichſte. Die Materialiſierung liegt weiter in der 
immer ſtaͤrkeren Richtung auf das materielle Ergebnis der geiſtigen Taͤtig · 
keit, im Juſammenhang mit der allgemeinen Schaͤtzung der wirtſchaft 
lichen Intereſſen. Einerſeits ſoll die wiſſenſchaft mehr wie je dem all ⸗ 
gemeinen praktiſchen Nutzen dienen — und fie hat der Induſtrie und Tech⸗ 
nik die glaͤnzendſten Dienſte geleiſtet, man hat auch die praktiſche Nuͤtzlich⸗ 
keit des Nationalökonomen, des Juriſten uſw. im Auge, ſchaͤtzt den Lehrer 
nach dem Nutzen der Schule für das praktiſche Leben, während Kunft 
und Dichtung immer ſtaͤrker den Charakter des Luxus oder der bloßen 
Unterhaltung gewinnen ; anderſeits betrachtet der geiſtige Menſch feine 
Tätigkeit auch immer mehr vom Standpunkt feines perſoͤnlichen wirt- 
ſchaftlichen Nutzens, alſo auf gut deutſch vom Standpunkt des Geldver⸗ 
dienens. Das geiſtige Leben gewinnt wie alles in den letzten Jahrzehnten 
immer mehr den Erwerbscharakter: man kann von einer zunehmenden 
Vergeſchaͤftlichung des geiſtigen Lebens ſprechen, ganz entſprechend der 
immer ausgepraͤgteren Vorherrſchaft des geſchaͤftlichen Menſchen in der 
jetzigen Welt. 

man darf auch hier freilich die Gegenwart nicht zu hart im Verhaͤltnis 
zu fruheren Jeiten beurteilen. In der großen Bluͤtezeit unſerer Runſt vor 


Die Ungeiſtigkeit der deutſchen Geſellſchaft im letzten Menſchenalter 91 


und nach dem Jahre 1500 war der Kuͤnſtler nicht nur in hoͤherem Grade 
Berufsmenſch als etwa in neueren Zeiten, nämlich ausgeſprochener gand⸗ 
werker — und gerade darin lag zum Teil ein großer Gewinn , ſondern 
auch oft ein ſehr guter Geſchaͤftsmann; der Dichter aber und, was ſich da⸗ 
mals noch vielfach deckte, der Gelehrte ſuchten durch ſchweifwedelnde Dedi- 
kationen ihrer Werke von Fuͤrſten, Magnaten und Staͤdten eine klingende 
Belohnung zu erlangen, und bei den ſich allmaͤhlich ausbildenden gelehrten 
Berufen blieb der Charakter des Brotſtudiums doch dauernd — man kennt 
Schillers Klage — das Servorſtechende. Anderſeits wird man auch für die 
juͤngſte Vergangenheit großen Teilen der geiſtigen Welt doch nicht einen 
oft ſehr hohen Idealismus abfprechen dürfen. Aber worauf es ankommt, 
iſt dieſes. Wir urteilen eigentlich nur im Vergleich zu der zeitlich nicht allzu 
weit zuruͤckliegenden Bluͤtezeit des deutſchen Geiſteslebens im ſpaͤteren 18. 
und beginnenden Jo. Jahrhundert — wir Deutſche find ja ſpaͤt zu einer 
ſolchen Blütezeit gelangt — und entnehmen dieſer von idealen Beſtre · 
bungen erfüllten Zeit geiſtiger, von der übrigen Welt anerkannten Große, 
die wir als eine Grundlage unſerer Zukunft feftbalten wollen, die Maß ⸗ 
ſtaͤbe für die Einſchaͤtzung auch der Gegenwart. Und da muß gerade für die 
eigentlichen Werte unſeres Beifteslebens die große Wendung verhaͤngnis 
voll werden, die ſich eben im Io. Jahrhundert vollzogen hat, die Wendung 
vom Geiſt zur Wirtſchaft. Sie mindert nicht nur die Entwicklung des 
geiſtigen Lebens an ſich, ſondern fie laßt nur allzu haͤuflg für die geiſtige 
Welt ſelbſt das Geiſtige nicht mehr das die Seele eigentlich Beſtimmende 
ſein. Der Geiſt gilt im Grunde nur noch als Diener der Wirtſchaft, der 
Technik. 

Erſt recht gewann im allgemeinen Bewußtſein der Nation das Geiſtige 
immer weniger Bedeutung. Mit dem gewaltigen Aufſchwung und den 
greifbaren Erfolgen der induſtriellen und kapitaliſtiſchen Wirtſchaft 
wandten ſich immer mehr gute Köpfe den wirtſchaftlichen Berufen zu und 
von den geiſtigen Berufen ab, die fo an Nachwuchs von foͤrderlichen Be ⸗ 
gabungen einbüßten. Auch aus der beamteten Welt wanderten tuͤchtige 
Leute, ſcharfe Juriſten oder geſchickte Derwaltungsbeamte, zur Induſtrie 
und den Banken ab; Kunſtgelehrte zogen vor, im Kunſthandel tätig zu 
fein und fo fort. Ganz im Sinne der Arbeits verherrlichung im Zeitalter der 
Technik und Induſtrie ſchaͤtzte man geiſtige Menſchen nicht nach dem 
geiſtigen Gehalt ein, ſondern ſprach von „Kopfarbeitern“ oder „geiftigen 
Arbeitern“. Anderſeits waltete vor dem Kriege noch ein gewiſſer äußerer 
Reſpekt vor der geiſtigen Welt vor. Aus der großen Blütezeit des deutſchen 
Geiſteslebens war die freilich bald ſehr veraͤußerlichte und mechaniſterte 
pflege der „Bildung“ als ein faſt geheiligtes Gebot auch fuͤr die dem „Ge⸗ 
ſchaͤft / und dem Tanz um das goldene Kalb Ergebenen uͤberkommen, und 
um des äußeren Anſehens wie der Mode willen pflegte die hoͤhere Ge⸗ 
ſchaͤftswelt, wie gute Beziehungen zur Ariſtokratie der Geburt, fo auch 

7° 


92 Georg Steinbaufen 


ſolche zur Ariſtokratie des Geiſtes, und die mittleren Schichten achteten 
an den Traͤgern der Bildung etwas, was ſie ſelbſt nicht hatten, und was 
aͤußerlich von Staat und Geſellſchaft bevorzugt wurde. Zu dieſer aͤußer⸗ 
lichen Schaͤtzung der gebildeten Berufe trug damals deren immer guͤnſtigere 
äußere Poſition und zunehmender Wohlſtand gegenuber dem frůher fo 
haͤufigen Sungerleiderdafein im erheblichen Maße bei. 

Der Univerſitaͤtsprofeſſor gewann beſonders an Anſehen: einmal hatte 
man die Erfolge der angewandten Wiſſenſchaft fuͤr Induſtrie und Technik 
von jenem Standpunkt des allgemeinen und geſchaͤftlichen Nutzens vor 
Augen und ſah auch manche Chemiker, Phyſiker uſw. nicht nur mit Ruhm 
und Auszeichnungen, ſondern auch mit reichen Einnahmen begluͤckt; man 
ſah ferner die glaͤnzenden Einnahmen vieler Mediziner von Ruf; auch fuͤr 
manche Nationalòkonomen gab es vorteilhafte Beziehungen zu Wirtſchaft 
und Kapital. Unter den Trägern der Geiſteswiſſenſchaften bezog mancher 
bekannte Philoſoph oder Siſtoriker reiche Einnahmen aus gut einfchlagen- 
den Werken, die in breitere Schichten drangen, wenn man in dieſer Be⸗ 
ziehung auch weit hinter den franzoͤſiſchen und engliſchen Verhaͤltniſſen 
zuruͤckblieb. Alles dieſes führte auch der gelehrten Welt manchen Novizen 
aus kapitaliſtiſchen Kreiſen zu, wie uberhaupt Reichtum und wohlſtand 
fuͤr die akademiſche Karriere bedenklich an Bedeutung gewannen. Freilich, 
das geſteigerte Anſehen des Univerſitaͤtsprofeſſors, der ja auch ſelbſt mehr 
und mehr zum Mann der welt geworden war und nur in einem immer 
kleineren Teile an den zur ſtereotypen Figur der ſogenannten „Witzblaͤtter“ 
gewordenen zerſtreuten und ſchlecht angezogenen Profeſſor von ehemals 
erinnerte, beruhte, wie geſagt, weſentlich auf aͤußerlichen Faktoren: ein 
wirkliches Verſtaͤndnis fuͤr die Wiſſenſchaft beſtand ſelbſt in gebildeten 
Reifen nur bei ſehr wenigen, wobei natuͤrlich nicht von einem Verhaͤitnis 
zu den ſtrengen Fachwiſſenſchaften die Rede iſt. Am meiſten Intereſſe be · 
ſteht für die exakten Wiſſenſchaften ſowie für die Kunft- und Literatur ⸗ 
wiſſenſchaft, waͤhrend dasjenige fuͤr die hiſtoriſchen, philoſophiſchen und 
ſonſtigen Geiſteswiſſenſchaften gegen fruher ſtark zuruͤckgegangen iſt. Auch 
bei den Fuͤrſten und ihren Soͤfen ließ ſich ähnliches beobachten. Am preußi- 
ſchen Koͤnigshofe waren die geiſteswiſſenſchaftlichen Intereſſen, wie fie in 
lebhafter Weiſe Friedrich Wilhelm IV. gezeigt hatte, unter dem alten 
Kaiſer Wilhelm bei deſſen ausgeſprochener militaͤriſcher Einſeitigkeit ſtark 
zuruͤckgetreten, waren aber bei der Raiſerin Auguſta, der Trägerin weima · 
riſcher Traditionen, und vor allem am kronprinzlichen Sofe ſehr lebendig: 
unter Kaiſer Wilhelm II. ſpielten geiſtige und kuͤnſtleriſche Dinge zwar eine 
gewiſſe Rolle, aber eine vSllig dekorative und oberflaͤchliche: zur Wiſſen⸗ 
ſchaft und ihren Problemen hatte der Naiſer kein Verhaͤltnis; die Naͤher⸗ 
bringung der Sarnack, Schmoller u. a. durch Buͤlow hatte keinen ernft- 
haften Sintergrund; eher fand wieder die exakte und techniſche Wiſſenſchaft 
wirkliche Teilnahme. Die Berliner Univerſitaͤt hat, ſoviel man weiß, der 


Die Ungeiſtigkeit der deutſchen Geſellſchaft im letzten Menſchenalter 93 


Baifer erſt beſucht, als ein amerikaniſcher Austauſchprofeſſor dort las. Ein 
viel ſchrofferes Gegenbild zu dem beſſeren Einſt unter Karl Alexander bot 
etwa der Weimariſche Sof unter feinem völlig amuſiſchen Enkel. Ahnlich 
it der Gegenſatz etwa zwiſchen dem König Johann von Sachſen, der frei ⸗ 
lich eigentlich ein Gelehrter war, und dem letzten König dieſes Landes. 
Jedenfalls iſt in den letzten Jahrzehnten von einer ſo einflußreichen und 
bewunderten Rolle, wie fie einſt Leibniz an mehreren Soͤfen oder wie ſie 
im 19. Jahrhundert Alexander v. Sumboldt am Berliner Sof ſpielte — 
beides freilich weltmaͤnniſche Gelehrte und auch keine Univerſitaͤteprofeſ · 
foren — im Sinblick auf die deutſchen Höfe nicht entfernt die Rede. Immer: 
hin iſt bei dieſen das Anſehen, das hervorragende Univerfitätsprofefforen 
genoſſen, auch in neuerer Zeit nicht gering geweſen, aͤußerlich und auf den 
Reſpekt vor dem Gelehrtenſtand angeſehen. 

Die erwaͤhnte aͤußere Schaͤtzung des akademiſchen Gelehrten in der All⸗ 
gemeinheit zeigte ſich gerade neuerdings in der Inanſpruchnahme mancher 
feiner Attribute durch andere Kreiſe (wie durch die der Technik: Dr.⸗Ing.; 
Profeſſortitel durch die Oberlehrer, heute wieder abgeſchafft) und der An⸗ 
eignung der Bezeichnung „Sochſchule! durch alle moglichen Sadhinter- 
eſſenten. Die naivſte Zeiftung war wohl die Errichtung einer „Sotel⸗ 
hochſchule ! in Düffeldorf im Gktober 1914. 

Neben dem Gelehrten, der ſeinerſeits in der offiziellen Schaͤtzung freilich 
hinter dem Offizier, dem Grundbeſitzer, dem hohen Beamten und in der 
allgemeinen Schaͤtzung hinter den Geldleuten und den Großinduſtriellen 
zurůcktreten mußte, fpielte der freie Schriftſteller ein weit weniger an; 
geſehene Rolle, ganz im Gegenſatz zu der erſten Saͤlfte des 19. Jahrhun ; 
derts. Freilich hatten die erfolgreichen Schriftſteller ihre, oft begeiſterten, 
Gemeinden; hin und wieder fanden fie auch Fuͤrſtengunſt, aber in weit 
geringerem Maße als noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts; dagegen 
begönnerte fie mit Vorliebe die haute finance der Großſtaͤdte, und bei ihren 
Diners und Soupers durften gefeierte Autoren ſo wenig fehlen wie be⸗ 
ruͤhmte Ruͤnſtler, um den Nimbus des oft nicht allzu gebildeten Gaſt⸗ 
gebers zu erhoͤhen. Die ſonſtige geſchaͤftliche und auch die große beamtete 
Welt hatte kaum ein tieferes Verhaͤltnis zur Literatur. Dieſen Kreiſen 
imponierte der Schriftſteller meiſt erſt, wenn fie von großen Einnahmen 
aus Tantiemen für erfolgreiche Schauſpiele oder aus immer neuen Auf: 
lagen von Romanen etwas hoͤrten; für fie wuchs die Geltung des Schrift 
ſtellers mit deſſen Wohlſtand. 

Im ganzen hing der ſchon oben angedeutete günftige aͤußere Stand der 
Bildungsſchicht, die ſich ſelbſt ihrer eigentlichen Aufgabe und gegebenen 
Weſensart durch die kapitaliſtiſch gefärbten Verhaͤltniſſe mehr und mehr 
entfremdete, im Grunde lediglich von der guͤnſtigen Entwicklung der Wirt · 
ſchaft ab, die die Wiſſenſchaft teilweiſe in ihren Dienſt ſtellte, das Anwach⸗ 
fen der Beamten ⸗ und Zehrerſchichten geſtattete und Kunſt und Dichtung, 


9 Georg Steinbaufen 


auch, ſoweit Inſtitute und Reifeunterfiänungen in Frage kamen, die For⸗ 
ſchung als eine Art Luxus wohlwollend förderte. Ein inneres Bedürfnis 
für ſolche Dinge lag bei dieſen Foͤrderern ſelten vor. Jetzt, nach dem Krieg, 
unter dem Zeichen der ſtaͤrkſten Zerruͤttung aller Verhaͤltniſſe, iſt der aͤußere 
Nimbus der geiſtigen Schichten dahin. Jetzt zeigt ſich klar und deutlich, 
daß nicht der Geiſt bei uns regierte, ſondern die Wirtſchaft, und daß heute, 
trotz allen Geſchreis, daß uns der Geiſt allein retten koͤnne, ſich alles mehr 
wie je um die Wirtſchaft dreht, daß das Geiſtige, für das ſich kein wirkliches 
Beduͤrfnis als vorhanden erweiſt, verfümmert und mit ihm fein Träger, 
der gebildete Mittelſtand. Zu dem Übergewicht der nur auf das Geſchaͤft 
und den Gelderwerb gerichteten Kreiſe kommen nun noch der vordringliche 
Anſpruch des Sandarbeiters, der ſich für das Maß aller Dinge haͤlt, und 
die häufige Selbſtuͤberſchaͤtzung der kleineren Beamten und Angeſtellten, 
die ſich heute über geiſtige Menſchen erhaben duͤnken “. 

Jetzt zeigt ſich auch in nackter Offenheit, daß der überwiegende Teil der 
Nation kein inneres Verhaltnis zum Geiſtigen beſitzt, daß die Schaͤtzung 
desſelben in der Vorkriegszeit weſentlich aͤußerlich war, daß die Intereſſen 
und Ideale der Nation vornehmlich nichtgeiſtiger Natur waren. Aber, 
freilich, es war fruͤher, von der Epoche der einſeitig geſteigerten Geiſtig ⸗ 
keit vor und nach 1800 abgeſehen, auch nicht anders. Um 1800 nahm auch 
der deutſche Adel an dem neuen Zeben ſtaͤrkeren Anteil; vorher war er 
den geiſtigen Intereſſen zumeiſt doch recht abhold; denn der hoͤfiſche 
Minneſang war mehr eine geſellſchaftliche Erſcheinung, und die Beteili⸗ 
gung von Adligen an dem roͤmiſchen Juriſtentum und dem humaniſtiſchen 
Gelehrtentum des 16. Jahrhunderts, den ſprachlichen und poetiſchen Be⸗ 
ſtrebungen des 17. Jahrhunderts mehr Ausnahme. Als die literariſche 
Mode gegen 1850 wieder abflaute, zeigte der Adel wieder ſtark feine un- 
geiſtige Seite. Der auch geiſtig weit uͤberlegene Bismarck hat ſich oft 
daruͤber luſtig gemacht. Und in jungen Jahren hat er einmal in einem 
Briefe an feinen Freund Scharlach (Aniephoff, 7. April 1834) ein ſpoͤttiſches 
Bild von einem Landjunker, in heiterer Ironie auf ſich ſelbſt bezogen, 
gezeichnet. Er wolle feine großen Pläne aufgeben, „das Land bauen und 
die Sitten feiner Bauern durch unmaͤßige Branntweinfabrikation unter · 
graben . . Wenn Du alſo in zehn Jahren einmal in die hieſige Gegend 
kommen ſollteſt .. „ Du wirſt hier einen fettgemaͤſteten Landwehroffizier 
finden, einen Schnurrbart, der ſchwoͤrt und flucht, daß die Erde zittert, 
einen großen Abſchen vor Sranzofen hegt und unde und Bediente auf 
das Brutalſte prügelt, wenn er von feiner Frau tyranniſiert worden. Ich 
werde lederne Soſen tragen, mich zum Wollmarkt in Stettin auslachen 
laſſen . Zu Könige Geburtstag werde ich mich befaufen und Vivat 
ſchreien, übrigens mich häufig anreißen, und mein drittes Wort wird fein: 


Es gibt freilich gerade in dieſen Areiſen auch viele nach Soͤherem duͤrſtende 
Menſchen, die viel leſen, auch „dichten“ ufw. 


Die Ungeiſtigkeit der deutſchen Geſellſchaft im letzten Menſchenalter 95 


Auf Aehre! ſuperbes Pferd!“ Eine Karikatur naturlich, aber gewiß nicht 
ohne realen Sintergrund und nicht ganz ohne Gultigkeit auch für neuere 
Jeiten. Man kann freilich gerade aus jenen Kreiſen auch ganz andere 
Bilder zeichnen, und manche Schloßbibliotheken, deren Bluͤtezeit freilich 
im I7. und namentlich 18. Jahrhundert liegt, legen nicht nur in den Älteren, 
ſondern auch in den neueren Beſtaͤnden Zeugnis für die geiſtigen Inter⸗ 
eſſen der maͤnnlichen wie der weiblichen Schloßinſaſſen ab. Es gibt aber 
auch Schloͤſſer ohne Bibliothek oder mit einer nur dekorativen. Daß der 
Zandjunker in der Regel auch heute keine beſonderen geiſtigen Intereſſen 
hat und feine geiſtige Nahrung zumeiſt aus der Zeitung, und auch meiſt 
nicht aus deren geiſtigerem Teil nimmt, das teilt er mit den ZLandbewoh⸗ 
nern uberhaupt, mit vielen bürgerlichen Gutoebeſitzern. Weit geringer find 
noch die geiſtigen Intereſſen des beſſeren Bauerntums (Ausnahmen be ⸗ 
ſtaͤtigen die Regel). Wann kaufen dieſe Kreiſe wohl ein gutes Buch? 
Aber wenn wir von der ſpeziſiſch laͤndlichen Atmoſphaͤre einmal abſehen, 
es ſpielt in die oft wenig lebhafte Anteilnahme der ariſtokratiſchen Schicht 
an geiſtigen Intereſſen noch etwas anderes hinein: die alte Anſchauung, 
daß eine volle Singabe an dieſe nicht eigentlich ſtandesgemaͤß ſei; beſten · 
falls könne dergleichen als Ziebhaberei getrieben werden. 1855 ſchreibt 
Seinrich von Treitſchke an Aud. Schelske (Briefe I, 300): „Wenn ich dieſe 
frivole Borniertheit ſehe, womit mir 3. B. neulich ein Verwandter (eine 
Zierde vornehmer Kreiſe) riet, ſtatt der Dozentenkarriere, die ſich für Leute 
‚von Erziehung nicht paſſe, doch lieber die Stallkarriere zu ergreifen, 
wenn ich bedenke, wie ſelbſt der beſſere Teil dieſer reife zwar zuviel Takt 
hat, um dieſem Seroismus der Dummheit beizuſtimmen, aber im Stillen 
doch keine andere adlige Beſchaͤftigung anerkennt als den Miſtwagen und 
den Exerzierſtock; wenn ich dieſen kindlichen Eifer ſehe, womit man jeden 
Schritt und Tritt der, Serrſchaften vergoͤttert . , dann habe ich. alle 
Urſache empört zu fein.” Es kam hinzu, daß man ſeit der franzoͤſiſchen 
Revolution und mit dem Aufkommen der demokratiſchen und liberalen 
Beſtrebungen in Gelehrten und Schriftſtellern auch oft Träger „ſtaats ; 
gefährlicher” Ideen ſah und, ebenſo wie die ſtreng kirchlichen Kreiſe, von 
der Verbreitung der „Bildung“ gewiſſe Gefahren fuͤrchtete. Wenn Varn⸗ 
hagen in feinem Tagebuch 1840 (28. September) die Saͤupter der reaktio⸗ 
naͤren Partei fo charakteriſiert: „Im ganzen dem Geiſt und den Ideen ab- 
gewandt, aber voll Alugheit und Weltkunde, fo iſt vielfach auch weiter 
bin bei Piugen Sof · und Staatsmaͤnnern und in konſervativ⸗ariſtokrati · 
ſchen politiſchen Kreiſen eine bewußte Juruͤckhaltung gegenüber den 
geiſtigen Bewegungen und den geiſtigen Intereſſen und Idealen geuͤbt 
worden. Aber die ſozialen und politiſchen wie die allgemein kulturellen 
wandlungen ließen doch ſolche Saltung mehr und mehr ruͤckſtaͤndig er · 


ſcheinen. | 
An literariſch und wiſſenſchaftlich produktiv taͤtigen Gliedern iſt der 


96 Georg Steinbaufen 


Adel in neuerer Zeit überdies eben mit der Angleichung der ſozialen und 
ebeneverhaͤltniſſe an das Bürgertum immer reicher geworden. Eine Aus; 
nahmeerſcheinung iſt immerhin der auf feinem Serrenſitz Klein ⸗Gels 
ſtrengen wiſſenſchaftlichen, vor allem philoſophiſchen Studien ſich er- 
gebende Graf Paul Norck von Wartenburg, ein ſtrenger Denker mit einer 
bei bürgerlichen Gelehrten nicht immer vorhandenen ariſtokratiſchen Über- 
legenheit des Urteils — fein Briefwechſel mit dem Philoſophen Dilthey 
läßt dieſe herbe Erſcheinung naͤher kennen lernen. Einen unter der Ariſto⸗ 
kratie weniger ſeltenen Typus kuͤnſtleriſcher und ſchoͤngeiſtiger Bildung 
ſtellt Graf Philipp zu Eulenburg dar: immerhin fand er ſich, wie aus 
manchen Stellen feines Nachlaßmaterials hervorgeht, von den un⸗ 
geiſtigen und feineren Geſchmacks entbehrenden Teilen der preußiſchen 
Sofgeſellſchaft nicht ſelten abgeſtoßen, und ſehr unguͤnſtig urteilte er uber 
die Sfterreichifche Ariſtokratie, die er gelegentlich mit dem Epitheton „einer 
wirklich hervorragend ungebildeten Menſchheit“ bedenkt. Die traditionelle 
Aufgabe einer Ariſtokratie, die Pflege einer feineren geſellſchaftlichen Aul · 
tur, hat der deutſche Adel, wenn auch mit landſchaftlichen Differenzie ⸗ 
rungen, nicht außer acht gelaſſen. Aber fein Einfluß auf weitere Kreiſe der 
Nation in dieſer Beziehung iſt nicht ſehr groß geweſen. W. Wittich (Saupt · 
probleme der Soziologie II, 299 f.), darin Mar Weber folgend, meint, die 
Betaͤtigung des Adels im Staatsdienſt habe ihn durch die Verwicklung in 
das buͤrokratiſche Syſtem feinem wahren Wefen entfremdet. Von der 
Buͤrokratie habe er (wie Weber ſagt) „die jeder hoͤheren Kultur und 
Lebensart ſpottenden, akademiſchen Sitten und Umgangsformen dieſes Be- 
rufsſtandes akzeptiert, die ihm fein koſtbarſtes Gut, die ‚perfonelle Aus 
bildung’, beeintraͤchtigte. Ungleich den romaniſchen und angelſaͤchſiſchen 
Aulturgebieten, wo die „adlige! Sitte richtunggebend für die Umgangs; 
formen des ganzen Volkes geworden ſei, ſei in Deutſchland nicht ein „hoͤſi⸗ 
ſcher“ oder „adliger Verkehrston, ſondern ein „akademiſcher“ Pennalis⸗ 
mus maßgebend geworden, der ſich als ganz ungeeignet erwieſen habe, er- 
chend und veredelnd auf die unteren Klaſſen zu wirken. Nicht ganz un- 
richtig, aber doch einſeitig! 

Im ganzen genommen gilt von den geiſtigen Intereſſen des Adels, was 
von denen der geſellſchaftlichen Oberſchichten uberhaupt gilt. Ahnliches 
laͤßt ſich vom Ofſtzierſtand ſagen, immer ohne zu ſehr verallgemeinern zu 
wollen. Mit der zunehmenden Geiſtigkeit des hoheren Mittelſtandes ſeit 
Ende des 18. Jahrhunderts waren auch bei einem großen Teil des Offizier ⸗ 
ſtandes geiſtige Intereſſen ſtaͤrker, hier und da auffallend ſtark geworden. 
Aber die Zunahme der realen Intereſſen, auch der materialiſtiſchen Geiſtes · 
haltung iſt dann neuerdings in Teilen des Offizierſtandes ebenſo ſichtbar 
geworden. General von Freytag ⸗Loringhoven (Menſchen und Dinge) 
meint, daß feine Bemühungen, die Offiziere mehr zum Studium zu 
bringen, ohne „durchſchlagenden Erfolg“ geblieben ſeien. In der preußi- 


— — — r 2 . - 4 3 


Die Ungeiftigkeit der deutſchen Geſellſchaft im letzten Menſchenalter 97 


ſchen Armee ſei „die Erziehung ausſchließlich auf die Tat gerichtet“ ge» 
weſen (wie dies ja auch, wenigſtens vorwiegend, der Fall fein muß). Aber 
Graf Schlieffen habe die Mißachtung des Studiums uͤbel empfunden. „Die 
Routine allein tue es nicht, wie viele im Generalſtab glaubten.“ 

So ſehr der gebildete Mittelſtand, dieſe Neubildung des 19. Jahrhun⸗ 
derts, der Saupttraͤger der geiſtigen Intereſſen geblieben iſt, ſo wenig darf 
man für das durchſchnittliche Buͤrgertum überhaupt, zumal dasjenige des 
letzten Menſchenalters, eine beſondere Anteilnahme am geiſtigen Leben und 
feiner Forderung annehmen. Dieſes Buͤrgertum iſt aͤhnlich wie das Bauern; 
tum (nur in ſtaͤrkerer Verknupfung mit der feineren Ziviliſation [„ Ver 
bůͤrgerlichung“] und infofern auch mit gewiſſen höheren geiſtigen Inter · 
eſſen) vorwiegend von egoiſtiſch ⸗ wirtſchaftlichen Intereſſen beſtimmt und 
geleitet. Je mehr mit dem Anbruch des induſtriell⸗techniſch⸗kapitaliſtiſchen 
Zeitalters die geſchaͤftlichen Schichten zunahmen und ihre Auffaſſung zur 
ſtark vorherrſchenden wurde, um fo mehr näherte ſich die geiſtige Saltung 
der bürgerlichen Sauptmaſſe bis in die buͤrgerliche Oberſchicht derjenigen, 
wie fie ſeit längerem für die Angelſachſen, insbefondere für die Amerikaner, 
nicht allgemein, aber doch vorwiegend bezeichnend geworden iſt. Der Typus 
des Geſchaͤftsmannes iſt dort zum herrſchenden geworden, und er wurde 
es immer mehr auch bei uns. Das Geiſtige liegt dieſem Typus nicht. Wenn 
G. Frenſſen kuͤrzlich in feinen Briefen aus Amerika (S. 93) meinte: „Den 
reinen Geiſteswiſſenſchaften ſteht das ganze (amerikaniſche) Volk noch zu 
jung, eilig und hochmuͤtig gegenuber; es kann noch nicht begreifen, daß 
ſich einer, mit Geiſt beſchaͤftigt',, Geiſt betreibt !, fo liegt dieſe Saltung doch 
nicht an der Jugend dieſes Volkes, an einer gewiſſen Unentwickeltheit, 
ſondern lediglich an ſeinem abſchreckenden Eingeſtelltſein auf die geſchaͤft · 
lichen Intereſſen. Es iſt das typiſche Volk der egoiſtiſchen bürgerlichen 
Menſchen geworden. Und die Abneigung diefes Bourgeoistume, das mit 
einem innerlich freien, gebildeten und aufrechten Bürgertum nicht zu ver · 
wechſeln iſt, gegen das Geiſtige iſt auch bei uns laͤngſt bemerkbar geweſen 
und heute immer ſtaͤrker geworden. Der ſcharf urteilende Th. Fontane ſagt 
bereits 189 I] (Briefe II, 268 f.): „Wir erheben uns jetzt fo ſehr über die 
Chineſen, aber darin find dieſe doch das freieſte Volk, daß das Wiflen am 
hoͤchſten geſtellt wird. Bei uns kann man beinah fagen, es diskreditiert. 
Das Bourgeoisgefuͤhl iſt das zur Zeit maßgebende.“ 

Gerade die immer breitere Schicht der Reichgewordenen verſagte am 
meiſten, ob ſich ſchon dieſe gutgekleideten Barbaren im Theater und in 
Konzerten breit machten. Sehr bemerkenswert iſt das Urteil ZLichtwarke 
in feiner Schrift: „Der Deutſche der Zukunft“ aus dem Jahre 1905. Er 
meint zwar, die Gefahr, „daß das deutſche Volk von nun an in der 
Anhaͤufung und im Genuß weltlicher Guter den Zweck feiner Arbeit und 
feines Daſeins ſehen werde”, ſei nicht mehr vorhanden, aber fie habe ſtark 
gedroht. „Dasſelbe Geſchlecht, das die neuen Guͤter erwarb, war nur in 


98 Georg Steinhauſen 


einzelnen Ausnahmefaͤllen in der Cage, fi) die Kultur zu erwerben, der 
fie zu dienen beſtimmt find. Auch der Reichtum braucht Überlieferung, um 
ſich auszudrucken, und Überlieferung gab es in Deutſchland nicht. Wir 
hatten keinen über das ganze Land verteilten Stand mit ererbtem Reich; 
tum und überliefertem Kulturleben, dem der neue Reichtum haͤtte nach⸗ 
ſtreben koͤnnen. So kommt es, daß er keinerlei Verpflichtung zu fühlen 
oder anzuerkennen braucht. Man kann in Deutſchland ſehr reich, ſehr un- 
gebildet, zu keinerlei Opfer für irgendeinen Rulturzweck bereit fein, ohne 
der Verachtung anheimzufallen. Das geſellige Leben hat dieſer neue Reich; 
tum auf eine rein materielle Baſis geſtellt und dadurch zu einem Fluch ge⸗ 
macht fuͤr die, die ſich ihm nicht entziehen koͤnnen. Es hat wohl bisher 
noch nie eine geſellſchaftliche Oberſchicht fo ohne Kulturbedeutung ge- 
geben wie die deutſche der Gegenwart. Sie ſteht an geiſtiger Regſamkeit 
und Teilnahme hinter den Mittel ⸗ und ſelbſt den Unterklaſſen im Durch⸗ 
ſchnitt zuruck. Es wäre ſchlimm, wenn die Peſſimiſten recht haͤtten, die 
dem Vertreter von Zunft und Wiſſenſchaft, ſoweit er nicht mit eigenen 
Guͤtern geſegnet iſt, eine Art ſozialer Soͤrigkeit im Kreis der Beſitzenden 
weisſagen. Man braucht dem Urteil dieſes Vorkaͤmpfers fuͤr eine feinere 
deutſche Kultur, der den Kreiſen der Reichen an ſich keineswegs mit Ab⸗ 
neigung gegenuͤberſtand, nichts hinzuzufuͤgen. Oder nur dies, daß eine 
leiſe Wendung zum Beſſeren, die vor dem Kriege wohl zu beobachten war, 
durch den Einbruch der Kriegs ⸗ und Nachkriegsgewinnler und die Bil⸗ 
dung einer innerlich völlig plebejiſchen Schicht neueſter Reichen völlig 
aufgehoben worden iſt. Die Schilderung Lichtwarks würde heute noch 
viel ſchwaͤrzer ſein. Erfuͤllt iſt das ſchon vor langer Zeit geſprochene Wort 
Nietzſches: „Die gebildeten Stände und Staaten werden in eine großartig 
veraͤchtliche Geldwirtſchaft fortgeriſſen. Niemals war die welt mehr N 
nie aͤrmer an Liebe und Büte.” 

Nun hat freilich der Anſteckung der gebildeten Schichten durch den ge- 
ſchaͤftlichen Ungeiſt und ihrer, auch durch die neue „realpolitiſche Geiſtes · 
haltung herbeigefuͤhrten Abwendung von geiſtigen Zielen und Inter 
eſſen anfangs noch ein Teil der gebildeten Geſellſchaft widerſtanden, und 
dieſer oder jener Einzelne tat es bis heute. Die aͤlteren Maͤnner und Frauen 
der Zeit nach 1870 verſtanden noch die alten geiſtigen Traditionen mit dem 
Stolz auf die neue politiſche Machtſtellung Preußens und Deutſchlands 
und dem Intereßſe an feiner aufſteigenden wirtſchaftlichen Entwicklung zu 
verbinden. Dieſe Maͤnner und Frauen waren keine blaſſen Ideologen mehr 
wie die vorhergehende Generation. Sie waren ja ſchon durch ein reges und 
kampfreiches politiſches Leben gegangen, das freilich noch von großen 
politiſchen Ideen, denen der Einheit und Freiheit, beherrſcht wurde. Sie 
erwarteten im neuen Deutſchen Reich nach 1870 ein großes freiheitliches, 
politiſches Leben, das die geiſtigen Jutereſſen aber keineswegs zuruͤck⸗ 

draͤngen, ſondern noch ſtaͤrker und wirkſamer machen ſollte. Dieſe geiſtigen 


Die Ungeiſtigkeit der deutſchen Geſellſchaft im letzten Menſchenalter 99 


Kreiſe der guten Geſellſchaft, aus Adel und hoͤherem Bürgertum vielfach 
gemiſcht, ſahen die Dinge von hoͤheren Geſichtspunkten aus an. Groß war 
das geſchichtliche Intereſſe, und die werke der damals beruͤhmten Siſto · 
riker wurden eifrig geleſen. Die Politik trieb man als etwas Geiſtiges. 
Rege war die Teilnahme an der Literatur, freilich einer etwas gegaͤngelten, 
und der Kunft, freilich im Banne der Renaiffance. Charakteriſtiſch moͤchte 
für dieſe Intereſſenſphaͤre etwa der Kreis um Sedwig von Olfers in Berlin 
ſein, in den ja deren Briefe einen Einblick gewaͤhren, und der zuletzt als ein 
Reſt alter Vergangenheit nur noch von wenigen aufrechterhalten wurde. 
Allem Materiellen waren dieſe gebildeten Kreife von Gelehrten, Rünftlern, 
böberen Beamten uſw. noch durchaus abhold; anſprucholos, aber geiſtig 
vornehm war ihre Geſelligkeit; das neue geſchaͤftliche Treiben war ihnen 
unverſtaͤndlich. 

Aber dieſe Geſinnung und Geiſtes haltung ſchwand mehr und mehr. 
Einer, der, ſchon durch verwandtſchaftliche Beziehungen, einſt als auf⸗ 
ſtrebender Dichter dem Olfersſchen Kreiſe nahegeſtanden hatte, eine ideale 
Natur im alten Sinne, Ernſt von Wildenbruch, glaubte in hoͤherem Alter 
in Erinnerung an die großen Weimarer Traditionen in Weimar den 
Wohnſitz in der geiſtig gehobenen Umgebung zu finden, die er ſich wuͤn · 
ſchte. Er war bitter enttaͤuſcht von der Reſidenz des erwaͤhnten ungeiſtigen 
Enkels Karl Alexanders. 

Die Anderung der Menſchen, auch der oberen Schichten, der Geſellſchaft 
war, wie oben angedeutet, nun nicht allein durch das Übergewicht der 
wirtſchaftlichen Intereſſen, durch Geſchaͤfts · und Geldgeiſt herbeigefuͤhrt, 
ſondern auch durch eine realpolitiſche Reaktion gegen die „Ideologie“, 
gegen „weltfremde und „ unpraktiſche ! Geiſtigkeit. Ein in manchen Bezie⸗ 
hungen heilſames, ja notwendiges neues Tatmenſchentum war herrſchend 
geworden. Paulſen, der Berliner Philoſoph, hat in feiner Philosophia mili- 
tans als Signatur des endenden 19. Jahrhunderts den Glauben an die 
Macht und den Unglauben an die Idee hingeſtellt. Aber ganz richtig ſchrieb 
1895 der Samburger Buͤrgermeiſter Moͤnckeberg feinem Sohn: „Deine 
Klagen uͤber den nüchternen, geifl- und phantaſieloſen Realismus, der 
Deutſchland beherrſcht, find in vielen Beziehungen durchaus begruͤndet. 
Du mußt nur nicht vergeſſen, daß es der ganz natuͤrliche, unvermeidliche 
Ruͤckſchlag iſt, der eintreten mußte, nachdem das, idealiſtiſche, traͤumeriſche, 
romantiſche, unpraktiſche deutſche Volk... endlich zu Macht, aͤußerem 
Anſehen, relativem Reichtum gelangt war. Aber die Aufgabe war, die 
neue Einſeitigkeit, zu der dieſer natuͤrliche Ruͤckſchlag führte, wieder zu 
uͤberwinden, Macht mit Geiſt zu verbinden, den Ideen, den Idealen, der 
echten, innerlichen Kultur (nicht der aͤußerlichen „Bildungs“ pflege) den 
Platz einzuräumen, den fie haben muͤſſen, wenn ein Volk wahrhaft ge⸗ 
e ſoll. er Aufgabe iſt nicht nn erkannt und noch weniger 
gel 


100 Friedrich Meß 


Friedrich Meß 
Herzog Georg in Wickersdorf 


Eine moderne Sage 


Vorbemerkung: Im Jahr 909 entzog der als freiſinnig bekannte Serzog Georg IE 
von Sachſen Meiningen dem Begründer der Freien Schulgemeinde Wickersdorf 
Dr. Guſtav Wyneken die Genehmigung zur weiteren Leitung ſeines in der neuen 
Jugend- und Erziehungs bewegung bedeutungsvollen Unternehmens und zwar, 
wie man jetzt weiß, aus hoͤchſtperſoͤnlichem Entſchluß. Das Ereignis konnte uns 
heute nach 17 Jahren gleichgültig fein, wenn es nicht finnfällig den Gegen ſatz der 
beiden Aulturanſchauungen an den Tag ſtellte, an deren Ausgleich zu arbeiten 
gegenwartig eine deutſche Lebensfrage erſcheint. Die viel zu wenig in ihrer Ganz · 
heit gewuͤrdigte, einen ſtarken Aulturwillen verkoͤrpernde Perſoͤnlichkeit des großen 
Serzogs, deſſen hundertſter Geburtstag am 2. April 1926 gefeiert wurde, muß bei 
jeder Eroͤrterung der Staatsform als typiſcher Grenzfall in Rechnung geſtellt 
werden. Übrigens bat es faft ſymboliſche Bedeutung, daß der ſechsundachtzig · 
jaͤhrige Ränftler auf dem Thron als letzter der Monarchen, die an der Aaiſer ; 
proklamation mitgewirkt hatten, an demſelben Tage zu Grabe getragen wurde, 
an dem der Mord von Serajewo die europaͤiſche Umwaͤlzung einleitete. Mit 
erſtaunlichem Ahnungsvermoͤgen hat ſeinerzeit Maximilian Sarden beide zu- 
ſammenfallende Ereigniſſe in einem Aufſatz . Principes“ in dem von Kaſſanbra ; 
Geſichten erfüllten „Jukunft“ - Seft vom 4. Juli 1914 in Beziehung geſetzt. 


yneken hatte dem Serzog geſchrieben: „Mein Werk und mich 
kann kein Oberſchulrat beurteilen, ſondern nur ein Menſch, der 
entweder durch keine moderne Schule gegangen iſt oder unfäg- 
lich unter ihr gelitten hat. Ew. Soheit, als ein Mann, deſſen ganze und 
reine Kindheit von keinem Schulmartyrium zerſtoͤrt worden iſt, moͤgen 
felber ſehen und richten oder einen vertrauten Menſchen von ſtarker Seele 
ſchicken, deſſen innere Freiheit weder Schule noch Zwang haben ſtumpf 
machen koͤnnen.“ 

Da kam der Serzog ſelbſt. Un vermutet. Mit feinem Sohn, dem Prinzen 
Ernſt, der mit dem Serzen des Ruͤnſtlers und des Vaters mehrerer ſchlanker, 
blonder, ſchulpflichtiger Söhne und Töchter, die Erziehung in der Freiheit 
hatte lieben lernen und dem Lebenswerk von Sermann Lietz ein dauernder 
Freund geworden war. Und mit Paul Graue, einem Öberbofprediger nach 
dem großen Vorbild Serders, der im Eifer um das Soͤchſte immer anderer 
und edlerer Meinung war und in ſolchem Eifer einmal das herzhafte Wort 
gewagt hatte: „Der Teufel hole alles Pfaffentum in der Schule und in der 
Kirche u _ 

Auf einer Waldwieſe übte ſich das junge Volk, zu dem ſich auch Abe 
und Lehrerinnen zaͤhlten, in Wettkaͤmpfen und dann ſprang ein Mädchen 
mit fpielgeröteten Wangen auf einen Baumſtumpf und friſch, als kaͤme es 


Serzog Georg in Wickersdorf 101 


urſpruͤnglich aus ihr ſelbſt, erzaͤhlte fie in tanzendem und Hingendem Rede 
fluß, wie Zeus ſich zur Weltherrſchaft emporfhwang :* 


„Inzwiſchen ſtanden Seras Saus und Sallen leer. 

Und nur des Schickſals Fuße ſchlichen leis umher. 

Doch durch den ſtillen Schloßwald, wo allein das Saͤmmern 
Des Spechtes ward gehoͤrt und durch der Tannen Daͤmmern 
Das Licht in goldnen Trauben drang vereinzelt nur, 

Jog Jeus geſenkten Sauptes die Gedankenſpur.“ 


Und wie alle, die im Gras umherlagen, Alte und Junge, lauſchten, bald der 
Maͤdchenſtimme, bald dem Raufchen der Tannen, bald dem Saͤmmern des 
Spechtes, trat ein einſamer Wanderer auf die Waldbloͤße heraus. Einen 
Augenblick ſtand er am waldſaum ſtill, uͤberſchaute das lebende Bild, 
nahm den Sut ab und ließ die Sonne ſeine gefurchte Stirn, das duͤnne 
Saupthaar, den grauen Anebelbart beſcheinen. Dann ging er mit gemeſſe ; 
nen Schritten gerade auf die jugendliche Derfammlung zu. Niemand kann⸗ 
te ihn. Nur Wyneken. Es war Carl Spitteler. Seinen jugendlichen 
Freunden wollte Wyneken die unbeſchreiblich ſchoͤne Uberraſchung bereiten, 
ihren geliebten Dichter über alles Hoffen in ihrer Mitte zu ſehen. Von Jena 
kam er, hatte Eugen Diederichs, ſeinen Verleger und Freund, beſucht und 
ſtand nun unerkannt unter ihnen, auf den Stock geſtuͤtzt und ſchaute 
laͤchelnd und feuchten Auges das Maͤdchen an, das, ſelbſtvergeſſen in hoͤch⸗ 
ſtem Eifer, auf ſchoͤnen Lippen feine unverklingbaren Worte ſchwang. Mit 
luſtiger Bosheit ließ Wyneken feine Blicke von dem hohen Gaſt auf die 
abnungslofen Freunde ſchweifen. — Da ward auch ihm eine Uberraſchung. 
Denn plotzlich auf der anderen Seite loͤſten ſich vom Schatten der Tannen 
die Geſtalten dreier Maͤnner, die ſich naͤherten. Der eine, lange hagere, mit 
dem ſchwarzen Ziegenbart, der kam ihm bekannt vor, ja, das war der Ober⸗ 
hofprediger Graue — und damit kam ihm blitzartig die Gewißheit, wer die 
beiden anderen waren. Ruhig die Schhlerin weiterſprechen laſſend, naͤherte 
ſich Wyneken dem mittelſten und aͤlteſten der Maͤnner, aber der hob ab- 
winkend den derben Anotenſtock, auf den er feine mächtige, von der Zaſt 
des Alters gebeugte Geſtalt ftüsste, und ſchuͤttelte mit dem Kopf, daß der 
gewaltige weiße Bart hin und her wallte und die Gamsbuſch auf dem 
gruͤnen Jaͤgerhut. 


„Willſt du, von Ruhm umſtrahlt, in Prunk und Pracht 
Die Burg befigen und die koͤnigliche Macht, 

Gebietend über den Olymp und über Erden? 

Ich harre deiner Antwort. Sprich, fo ſoll dir s werden.“ 
Gluthitze uͤberſiel ihn, drauf ein eiſig Schaudern. 

„Greif zu!“ jauchzte die Gier. Entſetzen ließ ihn zaudern. 
„will du, o Zeus“ — 


Carl Spitteler, 5 Frühling, Zweiter en VII. Er — l 
Diederichs, Jena 191 


102 Friedrich Meß 


Sier blieb fie ſtecken, denn das Adlerauge des fremden alten Mannes durch; 
bohrte ſie. Dieſen Augenblick benutzte Wyneken, um ſie ſanft von ihrem 
erhöhten Standort herabzuziehen und ein Schüler, der geiſtesgegenwaͤrtig 
feine Abſicht erriet, breitete fein Cape über den Baumſtumpf, auf dem das 
Maͤdchen geſtanden hatte, und lud den Serzog mit einer anmutig ſtolzen 
Verneigung zum Sitzen ein. Inzwiſchen hatte Spitteler guͤtig die Aufre⸗ 
gung des Maͤdchens bemeiſtert, indem er ihr die naͤchſten Worte der Dichtung 
zuraunte, und vom Geiſt des Dichters wunderbar ermutigt, fuhr fie fort, 
erzählte mit geflugelten Worten, wie Zeus durch Sinterliſt und Verrat, 
durch Blutopfer unſchuldigen Lebens, aus raſender, alle Feigheit ver ⸗ 
geſſenmachender Zeidenſchaft ſich der weltherrſchaft bemaͤchtigte. 


„Und alfo ftieg er blutig jetzt und ſuͤndenſchwer 
Treppan die koͤnigliche Burg, verwaiſt und leer. 

Wohin er trat, nur ftillee Aammern ſtumme Grüße, 
Und drohend donnerte der Sall der frevlen Süße. 

In einem ſtaubigen Saale gaͤhnt ein alter Thron. 

‚Das alfo‘, ſann er, ‚it des Lebens böcdhfter Lohn. 
Sier ſchliefen Aron und Mantel, die er gierig faßte. 
Und fieb, der Mantel ſaß ihm und die Arone paßte. 
Das Jepter wog er und behaͤndigte das Siegel. 

Doch wie fein Blick durch Zufall traf den Senfterfpiegel, 
Schwirrte das Erdenleben, wie's dem Menſchen wird, 
Voruͤber durch den Spiegel, planlos und verwirrt. 

Und alſo ſtetig ſteigend, kam er nach und nach 

Durch eine Luke auf des Schloſſes Jinnendach. 

Da lag vor ſeinem Aug' die unbegrenzte Welt 

Tief ibm zu Fuͤßen, feiner Prüfung unterſtellt. 
Aufmerkſam machte fein enttaͤuſchter Blick die Runde, 
Und ſeufzend ging das Urteil endlich ihm vom Munde: 
Wie iſt's doch auf dem Weltendach fo kalt und ſchaurig! 
Und ſieh, der Sauch der Erde ſchmeckt ſo herb und traurig. 


Und wie an ſein Ohr der Notſchrei der leidenden Geſchoͤpfe dringt, er ent⸗ 
fest fluͤchtet. 
„Doch Gorgo packte barten Griffs des Neulings Arm. 


‚Man kauft, erhabner Zeus, die Serrſchaft nicht im Stück, 
Und auf der Welten hoͤhe gibt es kein Juruͤck. 


Wie fie ihm das froſtige Mal des Ruhmes auf die Stirn druͤckt und ihn zur 
Größe verdammt. Und er ſich aufrichtet, 
„feine Arme weit 
Ausbreitend, rief er weltwärts: Jetzt und alle Zeit 
Weiß ich von eignen Wünſchen nicht und eignem Leid. 
Der Welt und ihren Noͤten weiß ich mich geweiht. 
Er ſchwur s, und Wahrheit rief 's aus tiefſtem Serzensgrunde.“ 


Sie verſtummte und alles verharrte in ehrfurchte vollem Schweigen. Der 
Serzog preßte feine Lippen auf den Stab, man wußte nicht, ob zornig, ob 


. — ne u ** 


Serzog Georg in Wickersdorf | 103 


erſchůttert. Ploͤtzlich ſah er unwillig auf, denn Spittelers große, pruͤfende 
Augen ruhten auf ihm. Zwiſchen beide Maͤnner trat Wyneken, verband 
Sänger und König im Geſpraͤch, lud die hohen Gaͤſte ins Saus und, von 
ihm gefuͤhrt, gefolgt von der jugendlichen Freiſchar, traten fie in die Räume 
der Zukunftsſchule ein. 

„Einer aus meinem Geſchlecht“, ſagte der Zerzog zu Spitteler, als fie 
gingen, „hat einmal ſeinen Vater zum Thronverzicht gezwungen. Seine 
Mutter beſchwor ihn unter Traͤnen, davon abzulaſſen, und was ihren 
Tränen nicht gelang, das ſollten die geiſtlichen Waffen ihres Beichtvaters 
bewirken, den ſie mit ſeiner gefaͤhrlichen Predigtgewalt und ſeiner ein · 
ſchmeichelnden menſchlichen Milde ihm auf den als ſchickte. Aber die 
Macht des Sauſes ſtand auf dem Spiel. Da war er taub gegen Frauen und 
Blerus. — Derſelbe jagte am Anfang feiner Serrſchaft eine ganze Anzahl 
Leute aus feinem Dienſt, weil fie ein ganz Hein wenig unſchuldig gemogelt 
hatten. Sie flehten fußfaͤllig um Gnade. Er verachtete das unwuͤrdige Ge⸗ 
winſel. Wieder ſollte die Geiſtlichkeit vermitteln. Er winkte ab: Wenn man 
weiß, daß ich mich betrugen laſſe, fo bin ich nicht mehr Serr.“ 

Spitteler ſah ihn von der Seite an, erriet und nickte. — Das erſte, was 
der Serzog zu ſehen begehrte, war — zu Wynekens größtem Erſtaunen — 
der Ort, wo ſonſt auch ein Serzog ſich ohne Gefolge hinbegibt. „Daruͤber 
verlangt Ceubuſcher Bericht und er hat Recht, denn für die Schulhygiene 
iſt auch das Unausſprechliche von Bedeutung und in Saubinda ließ es an; 
faͤnglich zu wůnſchen übrig.” 

Dann durchging er die Schlafzimmer, fragte nach der Tageseinteilung, 
bemerkte, daß die Schlafenszeit der älteren Schüler viel zu lang fei. Wyne · 
ken verſprach Abhilfe. „Warum haben Sie ſich übrigens hier oben auf 
dem Wald eingeniſtet, wo ſich die Fuͤchſe und die Saſen Gute Nacht fagen. 
Iſtꝰs hier nicht im Winter erbaͤrmlich kalt? / — „Wir find abgehaͤrtet. Sröb 
gleich nach dem Aufſtehen machen wir nuͤchtern Waldlauf, unbekleidet oder 
mit dunner Sporthoſe. Der Serzog ſchuͤttelte mißbilligend den Kopf. 
„Ich bin nicht pruͤde, aber mit Rindern ſollte man vorſichtig ſein, zumal 
bei Roedukation. Wir find keine Griechen. — „Was find wir denn, wenn 
wir nicht fein wollen wie die Griechen, fprudelte Wyneken hervor. „Daß 
fie einfach Menſchen waren, das iſt das Geheimnis helleniſcher Art.“ — 
„Was in Jahrtauſenden unter dem Einfluß des Chriſtentums zur Über · 
lieferung geworden iſt, kann man nicht als einzelner Menſch um werfen.. 
„Aber ich kann als ſouveraͤne, nur meinem Gewiſſen verantwortliche Per⸗ 
ſoͤnlichkeit nicht die Serrſchaft der Maſſe uber die fortgeſchrittenſten Geiſter 
anerkennen. ‚Warum ereifern Sie ſich über etwas fo Nebenſaͤchliches? 
— „Dies iſt uns wahrhaftig Sauptſache, denn wir glauben an Nietzſches 
Wort: „Der Leib iſt eine große Vernunft. Werkzeug deines Leibes iſt auch 
Prof. Dr. Leubuſcher, Medizinalreferent im ehemaligen Serzoglich Sachſen⸗ 
Meiningiſchen Staats miniſterium. 


104 Friedrich Meß 


deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du, Geiſt “ nennſt, ein Heines Wert: 
und Spielzeug deiner großen Vernunft. Nur in tätiger Andacht zu unſerer 
gefunden Koͤrperlichkeit finden wir die Stimmung, die alles geiſtige Leben 
aus gedanklichen Bruchſtuͤcken zu einer vollen Sarmonie unſeres Weſens 
macht. — „Man muß auch die Lehrer vor Verſuchung ſchuͤtzen, wenn fie 
ſo ſchwaͤrmeriſch veranlagt find wie Sie, Serr Doktor.“ — Nach einer 
Pauſe der Verſtimmung fragte der Serzog: „Sind nicht dieſe Prokruſtes⸗ 
betten viel zu kurz für lange Primaner? Ich möchte mich da nicht hinein ⸗ 
legen." — Dann wuͤnſchte Prinz Ernſt zu willen: „Wie erhalten Sie die 
Ordnung aufrecht? Ich meine, in einer freien Schulgemeinde, wo ſo viel 
Freiheit herrſcht, müßte es auch mancherlei Grdnungsſchwierigkeiten 
geben, denen gegenüber Sie doch ſelbſt auf alle üblichen Schulſtrafen ver ⸗ 
achten.“ 

wyneken: Wo der Beift feine natuͤrliche geſetzmaͤßige Entwicklung 
nimmt, da iſt die eigentliche wirkliche, natürliche Ordnung, nicht eine durch 
Zwang kuͤnſtlich erhaltene Nicht · Unordnung. Und fo auch, wenn man den 
werdenden Menſchen die feinem perſoͤnlichen Weſen entſprechende koͤrper⸗ 
liche, ſeeliſche und geiſtige Entwicklung nehmen laͤßt, immer ihm nur hilft 
bei der Löfung der Probleme in der Erfaſſung der Welt, die ſich ihm ganz 
von ſelber aufdraͤngen, ihn aber mit unverdaulichem fertigen Wiſſen ver · 
ſchont. Dennoch, da. wir alle Menſchen find, kommen, ſelten freilich, Ord ; 
nungswidrigkeiten vor, derart, daß ein Glied ſich mit Abſicht nicht in 
unfere Gemeinſchaft einfügen will und die Gemeinſchaft ſchaͤdigt. Dafur 
bedingt ſich die Gemeinſchaft ſelbſt eine Entſchaͤdigung aus; der Name 
Strafe waͤre unangemeſſen; der Schaͤdiger muß den Schaden durch eine 
Sonderarbeit im Dienſt der Gemeinſchaft ausgleichen. Am beſten nach 
ſeiner Wahl, fo wie ſich in der Zukunftsmenſchheit, die Goethe im Spiel 
„Pandora“ gegenwärtig macht, der Frevler ſelbſt feine Strafe beſtimmt. 

Der Zerzog: „Jedenfalls liefern Sie den Beweis, daß man ganz ohne 
Pruͤgel auskommen kann. Und das freut mich, denn ich bin ein abgeſagter 
Feind des Pruͤgelns. Es ſtumpft alles menſchliche Gefuͤhl ab und nimmt 
dem Geſtraften die Menſchenwuͤrde. Vor einer Reihe von Jahren hat 
einmal ein Teil von jener Kraft, die ſtets das Boͤſe will und ſtets das Gute 
ſchafft, in Geſtalt des ſozialdemokratiſchen Redakteur Boshardt Miß⸗ 
ſtaͤnde im Gefaͤngnis zu Ichtershauſen an den Tag gebracht. Dort waren 
die jugendlichen Gefangenen feſte gepruͤgelt worden. Das habe ich mir für 
die Meininger ZLandeskinder ſehr entſchieden verbeten. Und als die Gotha⸗ 
iſche Regierung meine Worte dahin deutelte und drehte, ich haͤtte nur 
Strafprägel, nicht Erziehungspruͤgel gemißbilligt, da habe ich dieſen Ra⸗ 
buliſten eine Antwort gegeben, die ſie nicht hinter den Spiegel geſteckt 
haben u. . 


Der Zerzog wandte ſich den kleineren Schülern und Schülerinnen zu. Mit 
feinen immer wie zornig funkelnden Augen und der ihm eigenen barſchen 


Serzog Georg in Wickers dorf 105 


wohlwollenden Stimme fragte er: „Wie heißt du denn?" machte ſich und 
den Kindern ein Vergnügen daraus, zu erraten, welche Gegend Deutſch⸗ 
lands oder Europas fie ihre Seimat nannten. Einen größeren Schüler, der 
die ſilberne Weltkugel der Guttempler trug, fragte er nach der Bewandtnis 
dieſes ihm noch unbekannten Zeichens. „Was haben Sie denn da?“, dann 
zu allen: „Ich habe gehoͤrt, ihr ſpielt auch Theater. Was gebt ihr denn?“ 
— „ was ihr wollt”, erwiderte laͤchelnd die Spitteler - RAhapſodin. — „Schön, 
Heine Viola! Sie haben vorhin ihre Sache gut gemacht!“ Alles lachte, 
denn wirklich hatte die Angeredete in dem genannten Shakeſpeareſchen 
uſtſpiel die bezeichnete zierliche Rolle gefpielt. — 

Nun wohnten die Gaͤſte einer Unterrichtsſtunde bei. Wyneken gab Auf: 
ſaͤtze zuruck, die das Thema behandelten: „IR Monarchie oder Republik 
die beſſere Staatsform?! Alle hatten ſich für die Republik entſchieden bis 
auf einen, und dieſen einen bat Wyneken, ſeinen Aufſatz vorzuleſen, denn 
es war der beſte von allen. Mit glübenden Wangen trat der junge Mann 
hervor, griff zitternd nach ſeinem Seft, reckte ſich dann empor und las: 

„Ob Greiſtaat oder Koͤnigtum die beſſere Staatsform iſt, das kann ich 
nicht ſagen. Es kommt bei ihnen beiden auf die Menſchen an. Mit großen 
Republikanern geht es, glaube ich, beſſer als mit kleinen Königen. Und 
umgekehrt. Wie iſt s nun wohl heutzutage? Ich habe mir geſtern das Buͤ⸗ 
chelchen mit den Bildern der Reichstagsabgeordneten angeſehen. Da find 
wenige, die wie ein Cato ausſehen. Der alte Bebel hoͤchſtens. Aber die 
Könige? Sie find alle in Uniform. Und das iſt vielleicht gut. Aber wenn 
heute ein ganz großer Koͤnig wäre, wuͤrde der in Uniform gehen? In den 
blauen Buͤchern, da iſt eins mit modernen Bildwerken. Darunter iſt eine 
Buͤſte des Serzogs Karl Theodor von Bayern, ich glaube von Sildebrand. 
So ſieht ein großer König aus. Oder er müßte ausſehen wie Fridtjof 
Nanſen und müßte im Zuftſchiff den Nordpol entdecken, denn wer die 
Naturgewalten beherrſcht, der kann auch Menſchen beherrſchen. Es gibt 
auch ein Reiterſtandbild vom Kaifer Friedrich in Bremen, wo er als roͤmi⸗ 
ſcher Imperator dargeſtellt iſt und eigentlich nichts an hat. Ein Kaiſer, 
der nichts an hat und doch ſo ausſieht, als haͤtte er was an, naͤmlich eine 
unſichtbare Majeſtaͤt, der iſt nicht wie der Kaiſer mit neuen Kleidern in 
Anderſens Maͤrchen, ſondern er taugt zu ſeinem Beruf. 

wenn heute ein großer König wäre und fein Miniſter legte ihm eine 
Verordnung zur Bekaͤmpfung der Viehſeuchen vor, wuͤrde er ſagen: Was? 
Bin ich ein Profeſſor der Tierheilkunde? Ich bin ein König. Das mag der 
Regierungsveterinaͤr unterſchreiben, der’s verſteht. Ich verſtehe nichts da⸗ 
von und Sie auch nicht, Serr Miniſter. Aber eins verſtehe ich: Es ſollen 
nicht mehr die Kinder der armen Leute in Rlaffen von achtzig bis hundert 
zuſammengepfercht werden, wo ſie nichts lernen und kaum atmen koͤnnen 
vor Stickluft. Und es ſoll nicht mehr fein, daß die Kinder armer Leute 
ohne Fruͤhſtůck in die Schule kommen und müde und hungrig daſitzen und 
Tat vm 8 


106 Friedrich Meß 


Pruͤgel kriegen, wenn fie nicht aufpaſſen koͤnnen wie die Kinder, die ſatt 
und friſch find. Es follen für alle Kinder, arme und reiche, auf dem Land 
freie Schulgemeinden eingerichtet werden, damit eine geſunde und ſtarke 
Jugend heranwaͤchſt. Machen Sie fo eine Geſetzvorlage! “ Wenn aber 
der Miniſter antwortet: ‚Das kann ich nicht, denn der Landtag verwilligt 
keine Mittel dazu, — ‚Dann werde ich den Landtag auflöfen‘, wird der 
König antworten. Der Miniſter zuckt mit den Achfeln. ‚Das koͤnnen Sie 
nur mit meiner Gegenzeichnung, Majeſtaͤt, und die kann ich nicht geben, 
denn es iſt wider meine Überzeugung. Sie koͤnnen mich entlaſſen. Aber Sie 
werden keinen neuen Miniſter finden, der gegenzeichnet, er ſei denn Sozial ⸗ 
demokrat.“ Da wird der große Aönig auffahren: „Was? Zum Unterſchrei⸗ 
ben von Reblausſchutzverordnungen, die mich nichts angehen, bin ich gut 
genug, aber ich darf nicht tun, was meines Roͤnigsamtes iſt, nicht un⸗ 
mittelbar zu meinem Volke ſprechen, wenn ich will? Nicht anders ſoll ich 
mein Volk anrufen koͤnnen als durch Vermittlung eines Feindes des 
Koͤnigtums ? Da iſt was faul im Staat. Ich will dem Lande eine neue Der- 
faſſung geben. Das Volk ſoll ſich ſelbſt regieren durch einen freigewaͤhlten 
Praͤſidenten. Was geht den Rönig die Verwaltung an? Aber ich will der 
oberſte Richter ſein in meinem Volk, das iſt mein Rönigsamt. Richten will ich 
aus freier Überzeugung, ohne Miniſter. Über Anklagen gegen die Staateleiter 
wegen Geſetzverletzung will ich richten. ber den Landtag will ich richten, 
indem ich die Entſcheidung des Volkes über das Ergebnis feiner Arbeit 
herbeifuͤhre. Und alle Richter im Land will ich ernennen, nach freier Wahl 
ohne Gegenzeichnung des Juſtizminiſters. Und nicht will ich allein richten. 
mit zwei von mir berufenen alten Staatsmaͤnnern. So bilden wir drei den 
oberſten Staatsgerichtshof. Und ich will auch nicht mehr König heißen, 
ſondern es nur fein. Obervolksrichter will ich heißen oder Obmann des 
Volksgerichts. Und eines Tages werde ich herunterſteigen vom Kichterſtuhl 
und zum Volke ſagen: Wähle dir einen neuen Richter. Und Gluck dem 
Volk, wenn fie mich wiederwaͤhlen! Groͤßeres Gluck, wenn fie einen bef- 
ſeren finden. Und ich will nicht mehr Saupt der Kirche fein. Die Vertreter 
der Kirche will ich verſammeln und fagen: Es ziemt nicht der evangeli⸗ 
ſchen Kirche, daß ſie ein angeſtammtes Oberhaupt hat. Frei muß ſie ſein, 
aber auch frei im Geiſt. Sie muß ſich erweitern zur Allgemeinde der nach 
Chriſti Vorbild leben wollenden, indem fie ſich ſelbſt aufgibt und ihr Be⸗ 
kenntnis. Sie muß alle Bekenntniſſe verwerfen, weil ſie nur ſchmutzige 
getůnchte Scheidewaͤnde find, die den herrlichen gewoͤlbten Raum der 
Kirche Chriſti ſchaͤnden. Ihre Arme ſoll fie oͤffnen allen Menſchen, die das 
Goͤttliche ſuchen, um ihnen zu dienen, nicht um ſie zu beherrſchen. Sie 
erhält ſich nur aus der Freigebigkeit derer, die ihr angehoͤren wollen, nicht 
aus erzwungenen Abgaben und Steuern der Andersglaͤubigen und Un⸗ 
glaͤubigen. Wenn aber der Landtag ein Geſetz macht: aus den Steuern vou 
Katholiken und Juden und Freidenkern foll die evangeliſche Kirche unter⸗ 


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Serzog Georg in Wickersdorf 107 


halten werden, ſo werde ich die Entſcheidung des Volkes anrufen gegen 
dieſes Geſetz, denn es verſtoͤßt gegen die unumſtoͤßlichſten Saͤtze des Natur⸗ 
rechts, gegen das heilige unveraͤußerliche Recht auf Glaubens ⸗ und Ge⸗ 
wiſſensfreiheit. — Wollt ihr eine ſolche freie Rirche? Wohlan, ich will ihr 
Fuͤhrer fein. Denn es iſt Rönigsamt, des Gewaͤhlten wie des Geborenen, 
die unſterblichen Gůter des Volkes zu ſchuͤtzen, vor allem die Volkskraft 
und die Freiheit des Geiſtes. Der Staatsleiter oder Praͤſident mag fuͤr die 
täglichen Lebens bedůͤrfniſſe des Volkes forgen. 

Zu ſolchem Koͤnigsamt aber muß man geboren fein, auch wenn man ge- 
waͤhlt wird. So ſpricht der große König und hat keine Sorge, daß fein 
Sohn, der ſich unter dem Volk verliert, nicht einſt von ihm gefunden und 
gekroͤnt wird.“ 

Wyneken eroͤffnete eine Ausſprache. Er lenkte ſie geſchickt von der Frage: 
Monarchie oder Republik ? fort, weil er hieruͤber in Gegenwart des fuͤrſt 
lichen Gaſtes nur befangene Außerungen von den Schlern zu bekommen 
fuͤrchtete. Aber er ließ die utopiſche Monarchie des jugendlichen Aufſatz · 
verfaſſers von allen Seiten unter ein Kreuzfeuer der Kritik nehmen und 
jede Kritik aus Schuͤlermund warf er mit einem haarſcharf geſpitzten Ge⸗ 
gengrund um, nicht ohne gleichzeitig einen noch viel ſchaͤrferen Angriff 
hervorzulocken. Dabei kam es, daß das Geſpraͤch ſchließlich im Eifer der 
jungen Leute noch viel peinlicher wurde als ein Geſpraͤch über Republik 
geworden wäre, fo daß Prinz Ernſt, der feinem Vater gegenüber von 
junger Leute Seite nur ſchweigende Ehrfurcht für angemeſſen hielt, un- 
willig vom Stuhl aufſtand und Oberhofprediger Graue mehrmals im Be⸗ 
griff war, Wynekens Sand zu ergreifen und zu ſagen: „Lieber Serr Dok⸗ 
tor, es iſt genug!“ Da ergriff unerwartet der Serzog das Wort und gab 
uͤberraſchend ſchoͤn dem Augenblick feine Würde wieder: „Soͤrt mir zu! Ich 
will eine wahre Befchichte* erzählen. In den Tagen der Voͤlkerwanderung 
waren die Seruler, ein germaniſcher Stamm, hoch oben vom Norden aus 
der Inſel Thule bis ans Mittellaͤndiſche Meer gekommen. In dem oſt⸗ 
roͤmiſchen Reich kaͤmpften fie ſich von Land zu Land. Und in einer blutigen 
Schlacht mußten fie ihren König auf der wWalſtatt laſſen. Sübrerlos 
konnten fie nicht bleiben, es galt einen neuen König zu wählen. Aber 
unter ihnen war keiner von dem alten thulitiſchen Koͤnigsgeſchlecht. Da 
ſandten fie eine Geſandtſchaft nach Thule durch vieler Voͤlker Lande, um 
einen neuen König von koͤniglichem Stamm einzuholen. Die Geſandten 
gelangten nach langer mühfamer Irrfahrt über Länder und Meere zur 
Inſel Thule, uͤberbrachten die Botſchaft und nahmen einen Koͤnigſohn 
mit ſich, der bereit war, ihr König zu werden. Unterwegs aber ftarb dieſer 
Erkorene. Da kehrten fie um, fuhren noch einmal über die See nach Thule 
und nahmen gleich zwei Roͤnigſoͤhne mit ſich, für den Fall, daß einem 
wieder etwas zuſtieße. So kehrten ſie nach Ablauf von drei Jahren mit 
Vgl. Felix Dahn, Die Bönige der Germanen. 

8 


108 Friedrich Meß 


einem neuen Volkskòͤnig zu ihren Stammesgenoſſen im roͤmiſchen Reich 
zuruͤck. Die aber waren inzwiſchen in ſchwere Not geraten und da ihnen 
die Geſandtſchaft zu lange ſaͤumte und fie fuͤrchteten, fie werde nicht wieder⸗ 
kommen, hatten fie einen Edlen oder Freien aus dem Volk auf den Koͤnigs⸗ 
ſchild erhoben, der hatte die Feinde in mehreren Schlachten geſchlagen und 
feinem Volk gute Landfine gewonnen. Als aber der neue König aus Thule 
kam, von altem thulitiſchen Koͤnigsgeſchlecht, da fiel ihm alles Volk zu. 
Der erwaͤhlte ſiegreiche König von geringer Serkunft aber, verlaſſen vom 
Seer, wich mit wenigen Treuen ins Elend und iſt im Kampf mit uͤber⸗ 
legenen Feinden bald danach umgekommen.“ 

Der Serzog erhob ſich. Die Schuͤler ſprangen auf und Wyneken entließ 
fie. Als die fünf Männer unter ſich waren, begann der Serzog: Sie er- 
warten vielleicht, Herr Doktor, daß ich Sie frage: Warum haben Sie dies 
Thema gewaͤhlt? Das wollte ich auch, aber nachdem ich den Aufſatz und 
die Ausſprache gehoͤrt habe, iſt mir eine andere Frage viel wichtiger. Was 
haben die jungen Leute daraus gelernt? Sollen fie Republikaner, follen 
fie Monarchiſten fein? Sollen fie ſich von ihrem Gefuͤhl oder von Gruͤnden 
leiten laſſen? Sollen fie nur einer großen Perſoͤnlichkeit folgen? Alles hat 
Ihre Kritik ihnen problematiſch gemacht. Und vor allem: ſie wiſſen gar 
nicht, was ihr Lehrer ſelber für eine Meinung hat. Ich fürchte, fie find 
in dieſer Unterrichtsſtunde dummer geworden, als fie vorher waren. 

Wyneken: Daß ich es offen geſtehe, Hoheit: Im Grunde bin ich mit 
dieſem Aufſatz in tiefſter Seele einverſtanden. Nicht, weil ich der gleichen 
Meinung bin. Alle Einzelheiten laſſen ſich ſachlich widerlegen. Aber weil 
der Schüler nicht angelernte Weisheit von ſich gibt, ſondern ein inneres 
Exlebnis offenbart. Er hat in Wickersdorf erfahren, daß der Lehrer dann 
am ſtaͤrkſten iſt und ſeine Wirkung auf die Schuͤler am unwiderſtehlichſten, 
wenn er ſich aller aͤußeren Macht begeben hat. Und das wendet er auf den 
Staat an und findet, daß der König, der auf alle Zwangsgewalt verzichtet, 
der maͤchtigſte König iſt. 

Prinz Ernſt: Und Sie ſchließen: So wenig der Lehrer, der den Bakel 
verbrennt, aufbört, Lehrer zu fein, fo wenig verlöre der König von feiner 
Macht, wenn er vom Throne ſteigt. Ein gefaͤhrlicher Vergleich! Ich 
glaube, er hinkt auf beiden Seiten. Denn ſollte nicht dieſer großmuͤtige 
König ſich nur deshalb halten, weil er ein Demagog iſt, und jener Lehrer 
mit der großen Geſte nur dadurch, daß er ſtatt eines Fuͤhrers der Jugend 
ihr Verfuͤhrer iſt? 

Graue: Nicht wahr, lieber Herr Doktor, Sie erkennen in den ſcheinbar 
harten Worten Seiner Hoheit nur das gequaͤlte Serz des Jugendfreundes 
und ehrlichen Wahrheitſuchers, der ſich um die Jugend ſorgt, der Sie 
ſcheinbar keine Ziele zu ſetzen vermoͤgen. Denn ſo wie der Serzog fuͤrchtet, 
daß durch dieſe Uberkritik die Jungens nur noch mehr verwirrt worden 
find, fo möchte auch ich die bange Frage an Sie richten: Zu was und auf 


Zerzog Georg in Wickersdorf 109 


welchem Wege wollen Sie Ihre Schüler führen, wenn Sie auf allen 
Seiten fie nur vor ungeloͤſte Probleme ftellen? 

Wyneken: Das Erlebnis, das der Schuͤler gehabt hat, iſt ſo ſtark, daß 
es der Sturmwind der Kritik nur feſter verwurzeln kann. Und ich glaube, 
alle anderen Schüler haben dasſelbe Erlebnis, nur daß einer allein es hat 
in Worte fallen koͤnnen, und deshalb fühle ich als Lehrer, was einer, der 
nicht in unſerer Gemeinſchaft ſteht, nicht gewahr wird, was alles die 
Schuler in dieſer Stunde gelernt haben, nicht von mir, ſondern von ihrem 
mitſchuͤler. Zu welcher Weltanſchauung meine Schüler ſich durchringen 
werden, das weiß ich nicht, das iſt mir gleichguͤltig. Ich lehre ihnen keine 
feſte Meinung, ſondern helfe ihnen, ihr eignes geſundes Urteil ſtaͤrken und 
entwickeln. Ich ſetze ihnen kein Ziel, ſie ſelber ſetzen es ſich. 

Prinz Ernſt: Jeder einzelne ſetzt es ſich? Ganz nach eigener Willkuͤr? 
Aber fie ſollen einmal Bürger fein im heutigen Staat. Nicht in einem 
beliebigen Staat. Sondern im Deutſchen Reich, ihrem Vaterland, und 
einem der dieſes Reich bildenden geſchichtlich gewordenen Gliedſtaaten. Und 
dieſe Staaten find ſeit Jahrhunderten, ja Jahrtauſenden auf die Monar ; 
chie gegruͤndet. Die Erziehung mag noch ſo ſehr zur Freiheit fuͤhren, aber 
die Überzeugung vom wert der Grundlagen des vaterlaͤndiſchen Staates 
muß ſie in der Jugend zu bilden beſtrebt ſein. 

Graue: Dem kann ich nur hinzufuͤgen: die religiöfe Erziehung mag noch 
ſo frei ſein — und wenn ſie es kann, ſo ſoll ſie es auch, das Kind an kein 
Dogma binden —, aber die Geſinnung Jeſu muß ſie dem heranwachſen⸗ 
den Geſchlecht mitteilen, die ſteht über aller Kritik. 

Wyneken: Die Geſinnung kommt nur aus der Freiheit. So wahr ich mich 
als Chriſt fuͤhle in dem Sinn, daß ich vom Chriſtentum nichts habe als das 
Streben nach der Geſinnung Chriſti, ſo ſicher bin ich, daß meine Worte 
nichts vermoͤgen, wenn mein Beiſpiel nichts vermag, und daß Worte uͤber 
ſolche Dinge nicht nur unnoͤtig, ſondern ſogar ſchaͤdlich ſind. Und ſo brauche 
ich keine koͤnigstreue Geſinnung in meinen jungen Freunden zu wecken, 
wenn fie mit mir erlebt haben, daß man nur im Lande des großen Könige 
von Serzen Monarchiſt fein kann. 

prinz Ernſt: Eines Königs, deſſen Wahlſpruch iſt: Der wahre König iſt 
der wahre Bettler! 

Spitteler: Laſſen Sie mich meinen Freund verteidigen! Ich bin ein Re- 
publikaner, aber ein Dichter. Jeder kommt zu den Serrſchenden mit einem 
anderen Notſchrei. Die wenigſten koͤnnen Erfuͤllung finden, denn das 
Schickſal iſt karg und der Machthaber hart. 

Der Serzog: Und wie lautet der Notſchrei des geiſtigen Menſchen? 

Bpitteler : Silf uns, König, die rohen Gewalten in Staat und Wirtſchaft 
in edlere menſchliche Kraͤfte umzuſetzen! 

Graue: Geſtatten Sie mir ein Bekenntnis! Denn ich bin auch ſo ein 
Geiſtesmenſch, wenn auch keiner von denen, vor denen ich mich ſelbſt in 


119 Friedrich Meß, Serzog Georg in Wickersdorf 


Ehrfurcht beuge, die Könige zu erziehen und mit Königen Freundſchaft zu 
ſchlie en würdig find wie Goethe, aber ich trage an den ſeeliſchen Laſten 
der geiſtigen Menſchen wie irgendeiner. Mir iſt aber das große Erlebnis 
geworden, daß ich ſelbſt mithelfen durfte, die Gewalt des Staates zum 
Werkzeug geiſtiger und ſeeliſcher Befreiung zu machen. Schule und Kirche 
wurden aus einem unnatuͤrlichen Zwangeverhaͤltnis, das beide beengte, 
losgelöft und beide, Schule wie Kirche, empfangen die Freiheit, ungehemmt 
und in freier, freundſchaftlicher Verbindung jede ihre eigene hohe Aufgabe 
zu erfuͤllen. Eine Wiedergeburt religioͤſer Muſik haben wir in den werken 
der Meiſter Brahms und Reger erlebt. Eine Wiedergeburt der Schauſpiel⸗ 
kunſt hat uns die Schaubuͤhne zur moraliſchen Anſtalt gemacht, die ſogar 
uns Gottſuchern auf unſerem Wege weiterhilft. Und das hat ſich alles zur 
Zeit der weltſtaͤdte in einer kleinen, vom weltverkehr abgelegenen Stadt 
ereignet. Oh, dieſe Meininger! Daß ſie gar nicht dankbar ſind den großen 
Meiſtern, die unter ihnen gewirkt, und ihrem Herzog, der ſelbſt ein Schaf 
fender und ein Befreier iſt. 

Wyneken: Es iſt gewiß kein kleines Verdienſt, ein nuͤchternes Geſchlecht, 
das in den Sorgen des Alltags aufging, durch Erſchuͤtterung der ſchlum⸗ 
mernden ſchoͤnheitſehnenden Seele emporgeriſſen zu haben zu einer neuen 
religiöfen Stimmung. Aber ſchließlich muͤſſen wir alle nachleben, was 
Nietzſche uns vorlebte: von der dionyſiſchen Luft am kuͤnſtlichen Weltſpiel 
und der furchtbar ſchoͤnen Tragoͤdie des Lebens fortzuſchreiten zu der welt; 
umgeſtaltenden Tat. Wir religiös Bewegten wurden wieder jung. Nicht 
aus Narrheit oder Laune trage ich dieſelbe Muͤtze wie meine jungen 
Freunde. Unſer Zeitalter verjüngt ſich und fliegt mit neuen Gefuͤhlen zu 
neuen Zielen. Aber Jugend verneint mit ſichrem Gefuͤhl allen Zwang ohne 
Sinn, alle Autorität ohne Geiſt. Sie lehnt die Schule ab, aber liebt den 
maͤnnlichen Rameraden. Sie beſeitigt auch in Staat und Geſellſchaft alle 
Scheinwerte, die, mit dem Sammer angeſchlagen, keinen Klang geben. 
Welcher neue Karl Auguſt leiht dieſem jugendlichen Geiſte Herz und 
macht? Ich ſpreche nicht von mir, aber wo iſt der König geweſen, der 
Nietzſches Gefaͤhrte haͤtte ſein wollen oder koͤnnen? Warum nicht? weil 
er ein Empoͤrer war? Saben nicht große Könige Klopſtock den Republi- 
kaner und Voltaire den Freigeiſt beherbergt? Wir haben unfere Europaͤer · 
würde in die Luft geworfen und erhoffen von einem großen Könige 
aͤhnliches. i 

Der Herzog : Saben Sie mit Ihrem Sammer vielleicht die Entdeckung ge⸗ 
macht, daß auch die Familie keinen Klang mehr gibt und in der menſch⸗ 
lichen Geſellſchaft kuͤnftig keinen Wert mehr hat? — Ich frage, weil ich 
mich des Eindrucks nicht erwehren kann, daß Sie ſich in einem wohl⸗ 
bekannten Fall zwiſchen Eltern und Kind geſtellt und das kindliche Ver⸗ 
trauen von den Eltern auf ſich abgelenkt haben. 

Wyneken: Wenn dies noͤtig iſt, um das Kind zu retten? 


Barl Ferdinand Freytag, Paul Ernſt III 


Der Serzog: wohl oder wehe Ihnen, wenn Sie dieſe Verantwortung 
übernehmen. — Ich merke, daß Sie die Inſtitutionen zerſtoͤren und durch 
Perſoͤnlichkeiten erſetzen wollen. Es ſcheint mir auch fo, als liebten Sie den 
ſozialdemokratiſchen Zukunftsſtaat mehr als den Gegenwartſtaat. Das 
mögen Sie halten wie Sie wollen. Aber das eine glauben Sie mir: wenn 
einmal der Zukunftsſtaat kommt, dann wird er dauernd ebenſowenig auf 
Perſoͤnlichkeiten gegründet fein wie der alte, ſondern auf Inſtitutionen. 
Da Sie mich aber zum Richter aufgerufen haben, fo will ich mein Urteil 
ausſprechen. Nicht Über Ihr Werk, das iſt vielleicht nicht ſchlecht. Auch 
nicht uͤber Ihre Perſoͤnlichkeit, denn wie kann ein Menſch des anderen 
Richter fein! Aber über Ihre Wirkſamkeit. Sie gefaͤhrdet den Staat und 
die Zebensordnung, an der ich in beſcheidenem Maße mitgebaut habe. 
Übrigens wuͤnſche ich Ihrer Schule einen Nachfolger, der Ihnen nicht 
unebenbůttig iſt. 

Der Serzog ſchied mit ſeinen Begleitern. Zu Wyneken ſagte Spitteler: 
„Er hat nicht Unrecht, aber Sie haben Recht.“ 


Karl Serdinand Sreytag / Paul Ernſt 


Erinnerungen eines Jugendfreundes zu ſeinem 
60. Geburtstage, 7. Maͤrz 1926 


m Sommer 1883, als ich 19 Jahre alt war, vertauſchte ich das 
Gymnaſium zu Wernigerode noch als Oberprimaner mit dem zu 
Klausthal. 

Beides waren kleine Sarzſtaͤdte, nicht viele Meilen von einander entfernt, 

aber verſchieden wie Tag und Nacht. Wernigerode war eine ſchoͤne alte 

Kefidenz und ein moderner Kurort und Penſionopolis zugleich. Es hatte 

ein praͤchtiges Schloß mit vielen „hohen Mauern und Zinnen“, ein herr⸗ 

liches Rathaus und viele ſchoͤn geſchnitzte Privathaͤuſer aus dem Mittel 
alter, prachtvolle Gaͤrten und Alleen — kurz, es war ein Fleines Paradies. 

Dagegen war Klausthal nichts als ein großes Dorf, in dem die Saͤuſer 

eigentlich nur Bretterbuden waren, faſt alle mit haͤßlicher gelbgruͤner 

Farbe geſtrichen, und ſich fo aͤhnlich wie ein Ei dem anderen. Das Gym; 

naſium in Wernigerode war ein Prachtbau aus weißem Sandſtein, mit 

ſchoͤn bemalten Kreuzgaͤngen, hohen, gut ventilierten Räumen und allen 
modernen Einrichtungen; das in Klausthal ein baufaͤlliger alter Kaſten. 
Und doch glaͤnzen die neun Monate, die ich in Klausthal verlebte, in 
meiner Erinnerung als die ſchoͤnſte und die gluͤcklichſte Zeit meines Lebens, 
waͤhrend die ſieben Jahre, die ich in Wernigerode zugebracht hatte, da⸗ 
gegen faſt verblaſſen. 
Ich war gluͤcklich in Klausthal, weil ich frei war von allen Beſchraͤn 


112 Barl Ferdinand Freytag 


kungen, die mich vorher gedruͤckt hatten, und weil ich einen Freund fand, 
der mir fuͤr viele lange Jahre mehr ſein ſollte, als es je ein anderer Freund 
geweſen iſt. Und dieſer Freund war Paul Ernſt, dem dieſe Zeilen zu fei- 
nem 60. Geburtstage gewidmet ſind. 

Die Prima hatte nur zwei Baͤnke; auf der einen ſaßen die „Alten“, zu 
denen ich gehoͤrte; — auf der anderen die „Neuen“, und ſo kam es, daß 
Paul Ernft feinen Sitz gerade vor mir erhielt. Daraus ergaben ſich allerlei 
kleine freundſchaftliche Beziehungen wie von ſelbſt. Ich bat ihn oft, ſich 
ja gut anzulehnen, wenn ich hinter feinem Rüden die franzoͤſiſche Auf⸗ 
gabe etwa während der Religionsftunde anzufertigen hatte, weil ich fie am 
Abend vorher vergeſſen oder verſchoben hatte. Aber ach, fein Rüden war 
nur ſehr ſchmal, und manchmal drehte er ſich naiver Weife auch noch um, 
mir zuzuſehen, und dann gab es tragiſche Szenen mit den Lehrern. Aber 
da ich der erklaͤrte Liebling des „Tory“ war, wie man aus irgendeinem 
Grunde den Direktor nannte, und auch bei dem franzoͤſiſchen Lehrer einen 
Stein im Brett hatte, ſo lief die Sache immer glimpflich ab. 

Als Gegendienſt für ſolche neue Art von „Ruͤckendeckung“ hatte ich Ge⸗ 
legenheit, den ſchwaͤchlichen, kurzſichtigen und weltfremden Mitſchuͤler 
gegen die Saͤnſeleien und Taktloſigkeiten der Klaſſengenoſſen zu ſchuͤtzen, 
was ich mit Behagen und Erfolg in Szene ſetzte, ſo daß weitere Verſuche 
bald als ausſichtslos aufgegeben wurden, da ich in dieſer Sache aber auch 
gar keinen Spaß verſtehen wollte. 

So knuͤpften wir allmaͤhlich eine immer waͤrmer werdende Freundſchaft 
an; Paul holte mich auf dem Schulwege ab, oder ich ihn, und noch ehe der 
geſtrenge Sarzer Winter hereinbrach, tranken wir auf einem der idylliſchen 
Zechenhaͤuſer Brüderfchaft. Zwar nur in Milch, da das ſtilgemaͤßere Bier 
leider nicht zu haben war, aber deſto inniger und, wie ſich in 42 Jahren ge⸗ 
zeigt hat, fuͤr um ſo laͤngere Dauer. 

Ich wurde bei Pauls Eltern eingeführt. Sein Vater, der Aufſeher 
(Steiger) in einem ſtaatlichen Pochwerk war, hatte durch den fortwaͤhren · 
den Lärm der Saͤmmer fein Gehoͤr faſt ganz eingebüßt. Aber er hatte gar 
nichts von dem mißtrauiſchen Charakter, der Tauben und Schwerhoͤrigen 
oft eigen iſt, ſondern die Serzensguͤte und Menſchenfreundlichkeit leuchtete 
ihm nur fo aus den guten Augen, wenn er einem zum Willkommen oder 
zum Abſchied die Sand druͤckte. Die Mutter freilich meinte, daß der Vater 
mit großer Verſchlagenheit und Fineſſe behandelt werden muͤſſe, nament- 
lich wenn es fuͤr Paul etwas anzuſchaffen galt, was bei dem winzigen, aber 
ſehr genau verwalteten Einkommen nur ſchwer zu erſchwingen war. Als 
vertrauter Freund wurde ich oft in dieſe Heine Diplomatie eingeweiht, und 

mußte wohl auch ſelbſt ein wenig mit helfen, obwohl ich leicht erkannte, 
daß der Vater alles wohl durchſchaute, aber in feiner freundlichen und mil- 


»So werden im Sarz die Heinen Saͤuſer (meiſt tief im Walde) genannt, in denen 
die Grubenaufſe her wohnen und meiſtens eine Heine Gaſtwirtſchaft betreiben. 


paul Ernſt IIʒ3 


den Geſinnung den Seinen die Freude eines unſchuldigen Spieles nicht 
verderben wollte. 

Ein groͤßerer Gegenſatz als der zwiſchen Vater und Mutter Ernſt ließ 
ſich kaum denken. Der Vater groß, ſtattlich, aber ſchon etwas gebädt, mit 
ſpaͤrlichem, weißem Saar und ergrautem Vollbart; die Mutter klein, viel 
jünger, mit friſchen Wangen, kohlſchwarzen Augen und leicht gekraͤuſel⸗ 
tem, ganz dunklem Saar. Die beiden erinnerten mich immer an Goethes 
Eltern: er ein wenig pedantiſch und ſteif, ſie voller Leben und reger, frei⸗ 
lich ungeſchulter Phantaſie. 

Zuweilen durfte ich auch den Großvater muͤtterlicherſeits begruͤßen, der 

war ein kleiner, lebhafter, penfionierter Volksſchullehrer mit einem Räpp- 
chen und der langen Pfeife, dem die Tochter wie aus den Augen geſchnitten 
war. 
Neben dem großen, freundlichen Wohnzimmer lag Pauls Heines Stüb- 
chen, uͤber der Sausflur und im Winter grimmig kalt. Dort ſaß er, wenn 
das Wetter es irgend erlaubte, leſend oder gar — dichtend. Nie vergeſſe ich 
den Wintertag, an dem er mir zuerſt feine Sammlung von ſelbſtgeſchrie⸗ 
benen Gedichten und Maͤrchen zeigte und vorlas, waͤhrend draußen die 
dicken Schneeflocken langſam und feierlich herabrieſelten. Wie war ich ſtolz 
einen Freund zu haben, der wirkliche Gedichte ſchreiben konnte, nicht 
für den Schulgebrauch, wie ich fie manchmal für Schulfeiern machen 
mußte, par ordre du mufti, ſondern wirkliche Gedichte, die gedruckt wer- 
den konnten, wie die meiner damaligen Goͤtter und Salbgoͤtter: Lenau, 
Geibel und Storm, die ich privatim las und um ſo mehr bewunderte, je 
trauriger ihre Motive waren. Und Maͤrchen ! Ich las fie immer mit Ent ⸗ 
zuͤcken; aber daß man es wagen koͤnnte, ſelbſt derartiges zu ſchreiben, er- 
ſchien mir undenkbar. 

Begeiſtert erzaͤhlte ich meiner Mutter von dem neuen Freunde. „Bring 
ihn doch naͤchſten Sonnabend mit,” fagte fie. Denn Sonnabends ging ich 
ſtets nach Sauſe, um die Mutter in Altenau zu beſuchen. Nie konnte ich die 
Zeit abwarten, bis die Schule am Samstag zu Ende war. Dann aber lief 
ich ſpornſtreichs die 9 Kilometer, oft ohne auch nur etwas gegeſſen zu 
haben, und blieb oft, mit jeder Stunde geizend, bis Montag fruͤh, obwohl 
es mir herzlich ſauer wurde, vor ſechs Uhr an eiſig kalten Wintermorgen 
aufzuſte hen, um rechtzeitig wieder in der Schule einzutreffen. Schularbei⸗ 
ten für Montag leiſtete ich grundſaͤtzlich nie, und die meiſten Lehrer fanden 
ſich mit dieſer Tatſache ab. Sie fragten mich am Montag gar nicht mehr, 


hatte, die ich erfolgreich als Blitzableiter benutzte. Er hatte naͤmli 
Kirche zu Zellerfeld eine echte Sandſchrift Martin Luthers entde 
in einer hiſtoriſchen Fachzeitſchrift zu publizieren und damit ewige 
zu ernten gedachte. Brachte man ihn darauf, ſo vergaß er ſofort 


114 Barl Ferdinand Freytag 


Großen, die Schlacht bei Cannaͤ, und alle ſieben Plagen der Weltgeſchichte. 


Und ich war der Einzige, der ihn darauf bringen konnte. Es gelang mir je⸗ 
desmal, aber ich hielt ſorgfaͤltig mit dieſer Gottesgabe Saus, um ſie Mon⸗ 
tags zu gebrauchen, und nie ließ ich mich bewegen, fie an andere leicht; 
ſinnige Mitſchuͤler zu verſchleudern, obwohl ich damit oft einen ſchweren 
Stand hatte. Aber ſo iſt einmal der Menſch, und Jugend hat keine Tugend. 

An dem Samstag, da ich meinen neuen Freund zum erſten Male nach 
Altenau nahm, ging es nicht fo wie ſonſt. Zuerft mußten wir bei der be- 
ſorgten Frau Ernſt ein gutes warmes Mittagsbrot eſſen, und dann feſt 
verſprechen, daß wir am Sonntag Abend fieben Uhr zuruͤck fein wurden, 
„ſonſt verginge ſie vor Angſt“. Und das haben wir denn diesmal auch 
puͤnktlich gehalten. 


ie Schönheit des Gberharzes läßt ſich ſchwer beſchreiben; man muß 
darin geboren ſein und ſie dann lange entbehrt haben. Dann erſt erkennt 
man ſie und ſehnt ſich nach ihr, mag man auch in weiter Ferne wohnen. 

An jenem Wintertage war es herrlich uͤber die Maßen. Tief lag der 
Schnee auf den Wieſen, ſauber und ohne Makel wie ein friſch gewaſchenes 
Leintuch, und man ging leicht und lautlos Über die Pfade, die von Berg⸗ 
leuten und Pochjungen feſtgetreten waren. Die hohen Fichten trugen 
ſchwere Laften von Schnee; wie Wolken lagen fie auf den dunkelgruͤnen 
Aſten. Das Pochhaͤuschen im Polſtertal ſah aus wie ein Maͤrchenbild mit 
feinem Schneedach, feinem verſchneiten Garten und den Zaunpfoſten mit 
weißen Rappen. Und über allem ſchien die grelle warme Winterſonne vom 
klaren, blauen Simmel. 

Begeiſtert zeigte ich dem Freunde die vielen Herrlichkeiten. Aber der hatte 
damals wenig Sinn für Natur, ſondern war ein rechter Buͤcherwurm und 
erzaͤhlte mir nur immer von Jean Paul, von dem ich noch nie das geringſte 
gelefen, ſondern nur wußte, was ich in der Citeraturſtunde über ihn gehoͤrt 
hatte. Einige Tage ſpaͤter ſchenkte er mir auch den „Titan“; aber ſo redlich 
ich mich auch mübte, es iſt mir bis zum heutigen Tage ganz unmöglich ge⸗ 
blieben, durch den Dornenwald ſeiner Formloſigkeit in ſein Maͤrchenſchloß 
einzudringen und ſeine Schaͤtze zu heben. 

Auch ſonſt hatte er unendlich viel geleſen, von dem ich keine Ahnung 
hatte. In feinem Zimmer ſtanden eine Menge alter Schmoͤker mit Stock⸗ 
flecken und anderen Zeichen einer ehrwuͤrdigen Vergangenheit. Er hatte in 
allen geleſen, ſo jung er war, und mit ſicherem Blick uͤberall das Beſte 
herausgefunden. Daß ich fortwährend in Zeitungen und Zeitſchriften las, 
ſah er mit Entruͤſtung für mich und Verachtung für das „dumme Zeug“, 
das darin ſtand. Statt deſſen empfahl er mir ſchon damals Jakob Boehme 
und andere Myſtiker, die ich erſt 30 Jahre ſpaͤter verſtehen und würdigen 
lernte. 

Immer wenn wir zuſammen waren, hatte er fuͤr mich Neues und Inter⸗ 


paul Ernſt 115 


eſſantes in Fulle, und meine Bewunderung und neidloſe Liebe für ihn 
wuchs von Tag zu Tag. 

Meine Mutter empfing ihn mit aller der Freundlichkeit, die eine gute 
Frau dem Freunde ihres Sohnes entgegenbringt, und mit der Fuͤrſorge, die 
fein zarter Geſundheitszuſtand zu fordern ſchien. Sie tiſchte das beſte auf, 
was das Saus zu bieten hatte, und nachdem wir „die Begierde nach Speiſe 
und Trank vertrieben hatten!, ſetzten wir unſere Debatten über alle Pro⸗ 
bleme, die uns bewegten, fort, ich auf dem ledernen Zotterbett mich behag⸗ 
lich ſtreckend, Paul erregt im Zimmer auf und nieder gehend, waͤhrend die 
Stricknadeln der Mutter eine gemuͤtliche Muſik dazu machten. Ich inter ⸗ 
effierte mich damals ſchon lebhaft, aber in ſehr dilettantiſcher Weiſe für 
Politik, die mein Freund als unwichtig für die Seele mit Entruͤſtung bei- 
ſeite ſchob. Einige Jahre ſpaͤter hat ſie ihn dann freilich doch erfaßt und 
nie wieder ganz freigelaſſen, wenigſtens in der Theorie, denn die praktiſche 
Betaͤtigung auf dieſem dornigen Felde war nichts für ihn, wie er ſchon aus 
der Apologie des Sokrates haͤtte lernen koͤnnen. 

Solche Beſuche wiederholten ſich noch vielmals in unſerem Leben, bald 
in Altenau, bald in Klausthal, und ſpaͤter in meinem Sauſe, als meine 
Frau an Stelle der Mutter getreten war. 

Bald lernte ich auch die Quelle kennen, der die meiſten der Buͤcher meines 
Freundes entſtammten. Am Zellbach, zwiſchen Klausthal und Zellerfeld, 
hauſte ein Sammler von Lumpen, Anochen und ſonſtigen Altertümern 
mit dem füßen Namen Sonig, und dieſer Mann hatte auch in einer Scheu⸗ 
ne ein beſcheidenes Buͤcherlager, in dem mein Freund mit großem Scharf 
ſinn das wenige wertvolle aus dem Wuſt des Wertloſen herausſuchte. 
Serrn Sonig lag nichts daran, was man waͤhlte; er kaufte die Ware beim 
Zentner, und ſoweit es Bücher waren, rechnete er denſelben Preis für das 
Pfund. Das war eine ſehr einfache Rechnung, und als guter Geſchaͤfts⸗ 
mann konnte er auch keinen Schaden dabei erleiden. Das uͤbrige verkaufte 
er als Makulatur. Später, als Student in Gottingen, fand Paul eine Frau 
Eyſelen, mit der er ähnliche Geſchaͤftsbeziehungen anknuͤpfte. Auch dort; 
hin ſchleppte er mich mit, aber ich intereſſierte mich mehr fuͤr ihre huͤbſche 
Tochter, als für ihre Bücher, deren es bei ihr, als in einer Univerfitäts- 
ſtadt, eine viel größere Fulle gab. Auch waren ihre Preiſe erheblich hoͤher, 
obwohl immer noch beſcheiden. 

In der Schule ging es Paul viel ſchlechter, als nach ſeinen großen 
Gaben zu erwarten war. Manche Lehrer hielten ihn fuͤr nachlaͤſſig und 
nur mäßig begabt, der „Tory“ aber für einen übeln Duckmaͤuſer, und ich 
mußte oft meinen ganzen Einfluß auf bieten, um das Schlimmſte zu ver; 
büten. Ein Jahr ſpaͤter, nachdem ich das Abiturium abſolviert hatte, 
brach ein ſolcher Zwieſpalt zwiſchen Paul und dem Direktor aus, daß mein 
Freund auch noch im letzten Jahre die Schule wechſelte und nach Nord⸗ 
baufen uͤberſiedelte, mit demſelben guten Erfolge, wie ich ein Jahr zuvor. 


116 Aarl Ferdinand Freytag 


Gegen weihnachten führte mich Paul bei Fraͤulein Rath ein, einer lie 
benswuͤrdigen und Hugen Dame von etwa fünfzig Jahren, die ſich damit 
vergnuͤgte, junge Leute, die ihr gefielen, jeden Donnerstag Abend einzu · 
laden, und nach einem beſcheidenen Abendeſſen mit ihnen zu mufizieren, 
oder Stucke mit geteilten Rollen zu leſen. Fur Deklamation hatte ich von 
jeher eine ganz beſondere Schwaͤche, freilich ohne die geringſte Schulung, 
und erſetzte durch ein ſchreckliches Pathos, was mir an Verſtaͤndnis leider 
fehlte. Meine guten Freunde in Klausthal aber bewunderten mich ſehr, 
und fuͤr den Direktor war ich, wie auch ſchon vorher in Wernigerode, das 
Daradepferd, das bei jeder Schulfeier vorgeritten wurde. Uberhaupt iſt es 
eigentuͤmlich, wie die Lehrer immer und überall den formell Gewandten, 
mit einem guten Gedaͤchtnis Begabten fuͤr das Genie halten, und indem 
ſie ihn verziehen, ihn hindern das zu werden, wofuͤr er wirklich beſtimmt 
iſt, und damit oft feinen Untergang herbeifuͤhren, während fie fuͤr den 
wirklich Genialen und Griginellen keinen Maßſtab und kein Verſtaͤndnis 
haben und ihn ſchon auf der Schule für fein ſpaͤteres Maͤrtyrertum vor; 
bereiten. 

Die Abende bei Fraͤulein Rath waren für uns ſehr anregend und führten 
noch zu langen Diskuſſionen auf dem Seimwege, bis in die tiefe Winter⸗ 
nacht. wir wurden ganz heiß vom Reden und wandern, waͤhrend die 
Sterne uͤber uns in der Kaͤlte glitzerten und die langen Eiszapfen von den 
Daͤchern hingen. 

So kam bald das Abiturientenexamen heran, und in der Begeiſterung des 
Erfolges tranken wir beide ſo viel Bier, daß ich heute noch nicht weiß, wie 
ich damals nach Sauſe gekommen bin. Paul aber mußte die ungewohnte 
Ausſchweifung mit drei Tagen Krankheit büßen, wie mir feine Mutter in 
großer Betruͤbnis berichtete, als ich am naͤchſten Montag aus Altenau 
zuruͤckkam, um Abſchied zu nehmen von der freundlichen Bergſtadt, in der 
ich fo viel gluͤckliche Stunden erlebt hatte in fo kurzer Zeit. 

Den letzten Abend verbrachte ich dann noch mit Paul, und waͤhrend der 
Maͤrzenſchnee im Fruͤhlingswinde zerſchmolz und das Tauwaſſer die 
Straße hinabjagte, ſprachen wir begeiſtert von all dem Großen, das wir in 
der Welt lernen und leiſten wollten. 


Woher paul den Reſt der Gymnaſialzeit abſolvierte, ging ich nach 
Böttingen, verſchiedene Studien ohne inneren Anteil beginnend 
und wieder aufgebend, ohne rechte Befriedigung und ohne Erfolg. Statt 
ein Brotſtudium aufzunehmen, verſuchte ich mich mit den religioͤſen und 
philoſophiſchen Grundproblemen auseinanderzuſetzen und geriet dadurch 
auf Kant, Sartmann, und namentlich Schopenhauer, der mich dauernd 
gefangen nahm. Das Chriſtentum hatte mich als Kind nur gequält mit eis · 
kalten Süßen in ungeheizten Kirchen mit Steinfließen, und mit langwei- 
ligen Predigten und dem grellen widerſpruch im Leben der Geiſtlichen mit 


Paul Ernſt 117 


dem was fie von anderen forderten, und der Unduldſamkeit, die ich in Wer- 
nigerode fand. Nun warf ich es ganz uͤber Bord und glaubte auch mit 
meinen Grundſaͤtzen nicht vereinbaren zu koͤnnen, daß ich dem Staate, der 
doch unter chriſtlicher Flagge ſegelte, ſpaͤter dienen ſollte. Daruber hatte 
ich viele und leidenſchaftliche Debatten mit aͤlteren Rommilitonen, denen 
ich mich angeſchloſſen hatte. Paul fehlte mir ſehr in diefer ſchweren Zeit, 
und unfere lebhafte Rorreſpondenz konnte den perſoͤnlichen Verkehr nicht 
erſetzen. Er hielt feſt an einem myſtiſchen Chriſtentum, das meinem leiden; 
ſchaftlichen und der Welt trotz allem theoretiſchen Peſſimismus zugewand⸗ 
ten Wefen wenig entſprach. Endlich kam auch er nach Goͤttingen, um 
Theologie zu ſtudieren, fuͤhlte ſich aber auch unbefriedigt und ging das 
naͤchſte Semeſter nach Berlin, um ſich ganz dem Schriftſtellertum zu widmen. 


a nun unfere Seelen leer waren, fo ſuchten wir etwas, das fie füllen 

koͤnnte, und verfielen fo beide, ganz unabhaͤngig voneinander, auf den 
Sozialismus und die moderne realiſtiſche Literatur. Wir hielten beides für 
ſtreng logiſch und wiſſenſchaftlich, und konnten nicht erkennen, daß es ſich 
um nichts anderes handelte als eine neue, freilich ſehr „ziviliſierte und 
verwaͤſſerte Religion. Dieſe neue Religion war die materialiſtiſche Ge⸗ 
ſchichtsauffaſſung; ihr Gott hieß oͤkonomiſche Entwicklung; ihre Bibel 
hieß „das Kapital“, und Karl Marx war ihr Prophet. Das erwaͤhlte Volk 
aber war das Proletariat. Zuerſt mußte es aus dem Agyptenland des Ka⸗ 
pitalismus geführt werden, und die Fuhrer waren auch ſchon da: fie 
hießen Bebel und Ziebknecht. Dann mußte es durch die Wuͤſte ziehen, und 
dabei waren einige Rüdfälle und Tänze um das goldene Kalb freilich nicht 
ausgeſchloſſen. Aber endlich mußte doch die Revolution kommen, der Zu⸗ 
kunftsſtaat, und damit das neue Reich auf Erden, und nichts wuͤrde mehr 
fein als eitel Gluck und Freude, Utopia und Schlaraffenland. 

Da nun niemand ſagen konnte, wie dieſer Zukunftsſtaat eigentlich aus⸗ 
ſehen würde, fo beſchaͤftigte man ſich lieber mit der Kritik der Gegenwart, 
an der es ja auch wirklich genug zu kritiſieren gab, und es wurde an ihren 
Einrichtungen, der Kirche, der Armee, dem Adel, dem Großgrundbeſitz 
denn auch buchſtaͤblich kein gutes Saar gelaſſen. 

Alles, aber auch alles, vom Kriege bis zum Schnupfen, wurde der Wirt⸗ 
ſchaftsform in die Schuhe geſchoben, ganz wie fruͤher dem lieben Gott. 
Dies ließ ſich, wenigſtens in ſeiner kraſſen Form, auf die Dauer ſelbſtver⸗ 
ſtaͤndlich nicht aufrecht erhalten, und fo wurden denn auch bald Ausnah⸗ 
men zugelaſſen. Dom Proletariat wurde bald das „Zumpenproletariat“ 
als hoffnungslos aufgegeben und von der „Bourgeoiſie“ eine Anzahl von 
Ideologen“ abgeſondert. Kritiſcher Prüfung und gereifter Cebenserfah⸗ 
rung konnte ſolch einſeitiges Schema natuͤrlich nicht ſtandhalten; aber die 
Jugend will ja nicht pruͤfen, ſondern glauben, und da es nichts Beſſeres gab, 
ſo eroberte dieſes die Welt. 


J18 Barl Ferdinand Freytag 


Die Literatur jener Zeit wurde deshalb realiſtiſch genannt, weil ihre 
Darſtellung der menſchlichen Geſellſchaft im Gegenſatz zu der ſchoͤnfaͤrben· 
den kleinbuͤrgerlichen Vielſchreiberei Rand, die vorher Mode war, und bei 
den Spießbuͤrgern auch ewig bleiben wird. Alle, die vorher maͤnnliche 
Selden oder weibliche Engel waren, wurden nun umgefaͤrbt zu Teufeln 
und dummen Gaͤnſen. Die Unternehmer waren alle geldgierige Sklaven ⸗ 
halter und Expreſſer, und die Arbeiter und Arbeiterinnen die wirklichen 
selden. Alle Lafter der Welt wurden dem Profitſyſtem zugeſchoben, das 
in feinen ſchrecklichen Folgen in den grellſten Farben geſchildert wurde, in 
der ſicheren und frohen Erwartung, daß allen Menſchen ſogleich die 
Fluͤgel der Vollkommenheit wachſen würden, wenn nur erſt der Tau des 
Sozialismus auf fie fiele. Dies war alles ſehr gut gemeint und hat ſicher 
viele in großer Not mit Hoffnung und Begeiſterung erfüllt, aber realiſtiſch 
war es ganz ſicher nicht, ſondern ausnehmend phantaſtiſch, mochte auch die 
Sprache noch ſo getreu Berliniſch oder Schleſiſch klingen. 

Dies war das Evangelium, dem wir uns hingaben. Es lag in der Luft, 
erfüllte die Serzen aller, die nicht in Streberei und Philiſtertum verſunken 
waren, und entfremdete ſie dem Staat und dem Volke, in dem ſie geboren 
waren. Es gab ihnen für kurze Zeit einen Lebensinhalt, aber es vernichtete 
vielen die Zukunft. 

Als Paul Ernſt von Berlin nach Goͤttingen zuruͤckkehrte, fanden wir uns 
in dem neuen Glauben vereint. Paul war in Berlin in den Schriftfteller- 
verein „Durch“ eingetreten und hatte dort faſt alle Fuhrer der neuen Be⸗ 
wegung kennen gelernt: Wille, die Gebruͤder Sart, Boͤlſche, Sauptmann, 
ſpaͤter auch Solz und Schlaf, während ich in Gottingen „Die Revolution 
in der Literatur von Bleibtreu und „Das Buch der Zeit“ und die „Mo⸗ 
dernen Dichtercharaktere ! mit Begeiſterung geleſen und durch Vorträge 
und Diskuſſtonen Freunde für die neue Bewegung gewonnen hatte. 

Wir wohnten zuſammen in einem huͤbſchen Gartenhauſe und verbrach⸗ 
ten die Zeit mit Unterhaltungen über unerfuͤllbare Pläne zur Verbeſſerung 
der Menſchheit, waͤhrend wir unſere eigene Zukunft daruͤber vergaßen. 

Im Serbſt 1887 gingen wir zuſammen nach Berlin, und ich lernte das 
literariſche Treiben der Großſtadt, aber auch die Entbehrungen des armen 
Studenten und Schriftſtellers gruͤndlich kennen. Wir hatten Verbindungen 
mit einigen größeren Zeitungen angeknuͤpft und lieferten ihnen für kum · 
merlichen Sold literariſche Beſprechungen. In die aktive Politik traten 
wir beide damals nicht ein. In der Tiefe meiner Seele ſchlummerte trotz 
aller Begeiſterung immer ein Gefuͤhl, daß mit der Sozialdemokratie doch 
nicht alles ganz fo golden war wie es uns zuerſt erſchienen, und einige per · 
ſoͤnliche Erfahrungen brachten mich dem Standpunkt George Bernard 
Shaws ſehr nahe, der einmal geſagt hat: Socialism is all right, except 
for the socialiste. So entrann ich der Gefahr, mein Leben von dem Dienſte 
der Sozialdemokratie abhaͤngig zu machen, obwohl ich ihr noch lange anhing. 


paul Ernſt 119 


paul Ernſt hat inzwiſchen wertvolle Jahre dem Dienſte der Sozial; 
demokratiſchen Partei geopfert. Als ich ihn um 1890 in Berlin beſuchte, 
nahm er mich mit ſich zu einem Vortrag, den er in einer Gewerkſchaft hielt. 
Ich ſah wie er ſich ehrlich můhte, den Arbeitern die Maryſche Werttheorie 
Harzulegen, und wie er dabei ſich und feine Zuhoͤrer grauſam quaͤlte. Denn 
je gruͤndlicher er vorging, deſto mehr ermuͤdete er fie, und deſto weniger 
konnten ſie ihm folgen. 

Auch als Redakteur der ſozialiſtiſchen „Volkstribuͤne“ erntete er nichts 
als Undank und Mißerfolg, und auf ſeine ſtreng logiſchen und oft ſehr 
wertvollen Leitartikel im „Vorwärts“ ſogar eine ganz unverdiente ſau⸗ 
grobe Behandlung von ſeiten des alternden Engels. Als ich einſt mit dem 
älteren Ciebknecht eine Wanderfahrt durch den Taunus machte und feiner 
als eines vertrauten Freundes erwaͤhnte, ſpuckte der Gift und Galle, und 
waͤre mir beinahe mitten im Walde allein davongelaufen. 


Jahre 1895 erwarb ich mit meiner Frau ein kleines Gut in Unter⸗ 
franken, das der beruͤhmte Saͤnger Theodor Reichmann zu verkaufen 
hatte, und konnte fo Ende der goer Jahre dem Jugendfreunde Sommer 
für Sommer eine Zuflucht bieten, wenn ihn Krankheit, Enttaͤuſchungen, 
und das ſchwere Ringen um eine geſicherte literariſche Stellung in der 
Großſtadt, aber auch um gedankliche und dichteriſche Vollendung zu ver: 
nichten drohten. | 

Damals haben wir herrliche Sommertage zuſammen verlebt, während 
der Glaube unſerer Jugend allmaͤhlich in uns beiden verblaßte, und wir 
die ungeheure Vielfältigkeit und Verwicklung der Probleme allmaͤhlich er- 
kannten, die wir fruher alle für ganz einfach gehalten und „Aus einem 
einzigen Punkte / kurieren zu koͤnnen geglaubt hatten. 

In unſerem Sauſe geſchah es auch, daß ſich Paul Ernſt entſchloß, eine 
neue Ehe mit Louife von Benda einzugehen, nachdem feine erſte Frau 
ſamt ihrem Soͤhnchen ſchon ganz fruͤh geſtorben war. Dieſe Ehe gab ihm 
zum erſten Male in feinem Leben eine ruhige Saͤuslichkeit und eine ge- 
ſicherte materielle Exiſtenz als Grundlage ſeiner reichen, fruchtbaren und 
vielſeitigen Taͤtigkeit. Immer aber blieben wir eng vereint, und ſo lange 
ich in Deutſchland lebte, ſahen wir uns oft, ſei es, daß ich nach Weimar 
ging, ihn in ſeinem ſchoͤnen Seim „Am Sorn“ zu beſuchen, oder daß er zu 
uns kam, uns in ſchweren Zeiten zu troͤſten. Später führte mich mein 
Schickſal nach Kalifornien, und ſchon zwanzig Jahre ſind wir getrennt. 
Mit ungemindertem Anteil aber habe ich während dieſer ganzen Zeit, und 
mit ſtets wachſender Bewunderung ſeinen ſtetigen Aufſtieg verfolgt. Un⸗ 
beirrt von Beifall oder Verkennung iſt er ſtolz und aufrecht ſeinen weg 
gegangen, und eine beſſere Zeit als die Gegenwart wird feinen Wert er⸗ 
kennen. 

Was ich ihm perſoͤnlich zu danken habe, iſt mehr als ich ſagen und be; 


120 Barl Ferdinand Freytag 


ſchreiben kann. In meinen bildſamen Jugendjahren hat er mich gelehrt, 
immer nur nach dem Soͤchſten und Beſten zu ſtreben und nicht allein das 
Schlechte, ſondern auch das Mittelmaͤßige mit Verachtung beiſeite zu 
laſſen. In meinen Mannesjahren hat er mich erneut auf das kuͤnſtleriſch 
Wertvolle und Bedeutende hingelenkt, und das Bleibende im Wechfel der 
Jeiten zu beachten gelehrt. Durch ſein Beiſpiel, mehr noch als durch ſeine 
werke habe ich die tiefſten Eindruͤcke empfangen. Tag fuͤr Tag habe ich 
ihm zugeſehen, wie er Seite auf Seite beſchrieb mit ſeiner ſchraͤgen, mick⸗ 
rigen, ſchwer leſerlichen Schrift; wie ſich die Bogen haͤuften zu kleinen 
Bergen, und wie ſie auf die Wanderung gingen zu Zeitſchriften und Ver⸗ 
legern; wie ſie immer wieder zuruͤckkehrten, weil niemand ſie drucken und 
leſen wollte. Aber immer ſchrieb er weiter, als ob nichts geſchehen ſei, 
waͤhrend tauſend andere, und ich am erſten, den Mut verloren haͤtten. Und 
ſiehe da, uͤber Nacht kam der Erfolg. Nicht bei der Menge, nicht bei den 
Viel- zu⸗ Vielen, nicht bei den Mittelmaͤßigen, aber bei den Beſten. 
Die ſind doch zuletzt entſcheidend, und ſie haben fuͤr ihn entſchieden. 


Ja ſeinen Dichtungen finden wir nur weniges, das wir als autobio⸗ 
graphiſch anſehen koͤnnen. Am meiſten noch iſt ſein Jugendleben er⸗ 
kenntlich an dem ſchoͤnen Roman „Der ſchmale weg zum Gluͤck“. Alle 
aͤußere Ahnlichkeit in Erſcheinung und Lebensgang des Selden mit denen 
des Dichters ſcheint an vielen Stellen abſichtlich verwiſcht zu ſein. Sans 
hat „ſtraffes, blondes Saar”, wir haben den Eindruck, daß er groß, ſchlank 
und etwas eckig war, waͤhrend Paul zwar auch nicht klein, aber durchaus 
nicht knochig, ſondern eher zart gebaut erſchien und dunkle Locken trug. 
Sanfens Mutter hat einen „glatten, blonden Scheitel“, aber Pauls Mutter 
ſchmuͤckte ſchwarzes, krauſes Saar. Pauls Vater war ein Bergmann, San- 
ſens Vater aber ein Foͤrſter; der Bergmann erſcheint als Großvater San- 
ſens wieder. Sanſens Eltern haben eine Kuh und betreiben eine kleine 
Bauernwirtſchaft; Pauls Eltern waren reine Stadtleute. Sie wohnten 
in Klausthal lange Jahre bei einem Fleiſcher namens Löwe ; daraus iſt 
der Löͤwenhof entſtanden, in dem Sans als Gymnaſiaſt in Nordhauſen 
wohnt. Die Familie des Barons, der Beſitzer des Waldes iſt, in dem Sans 
aufwaͤchſt, in deſſen Dienſten der Vater ſteht, und deſſen Tochter der Sohn 
ſchließlich heiratet, iſt frei erfunden, aber es ſpielen da wohl Beziehungen 
zu Zouiſe von Benda und ihrer Familie hinein. Jedenfalls wurde durch 
die Ehe mit dieſer guten und feinen, wenn auch etwas einſiedleriſchen 
Frau Pauls äußere Exiſtenz in demſelben Sinne unabhaͤngig wie die San; 
ſens durch die Verbindung mit der Tochter des Barons. 

waͤhrend ſo im aͤußeren Leben ſich wenig Ahnlichkeit zeigt, gibt der 
Roman doch die innere Entwicklung des Dichters in einem getreuen Spie 
gelbilde wieder. Schon in der Beanlagung zeigt ſich ſehr viel Ahnliches. 
„Im Rechnen“, ſo heißt es von Sanſen, „ging es bei ihm immer ſchlecht, 


paul Ernſt 121 


ebenſo in der Erdkunde . Und genau fo war es mit Paul. Noch immer ſehe 
ich ihn vor mir, wie er die kleinſten Additionen oder Subtraktionen an den. 
Fingern abzaͤhlte, während ihm manche verwickelte NRonſtruktionen in der 
Geometrie viel weniger Schwierigkeiten bereiteten als mir. Das Kursbuch, 
in dem ich fortwährend lange Reifen unternahm, die „deficiente pecu —“ 
niemals zur Ausführung kamen, blieb ihm ſtets ein Buch mit mehr als 
ſieben Siegeln, und es iſt mir ein großes Rätfel, wie er ſich auf feinen vie 
len Reifen zurechtgefunden hat. 

Ganz wie Sans, ſo iſt der Dichter ſelbſt, ſo bin ich, und ſo ſind viele 
Harzer Knaben aufgewachſen. So wie er haben wir das Waldesrauſchen 
gehoͤrt und das Brummen der Kühe an der Raufe. So wie er haben wir 
den Seuboden erlebt und das Gruſeln gelernt, fo wie er das Gefuͤhl der 
Schuld, des böfen Gewiſſens und der verdienten oder un verdienten Strafe. 

Namentlich wenn wir einzige Rinder waren, wie Sans und Paul und 
ich ſelbſt. Ganz ſo wie Sans haben wir alle das Seimweh gefuͤhlt, wenn 
wir den Sarz verlaſſen mußten, und wußten nicht einmal wozu. Wie er 
fuͤhlten wir ſchmerzlich das ſchwere Scheiden von den Tannenwaͤldern; 
wie er ſahen wir die letzten weißen Stämme auf den Guͤterzuͤgen hinter 
uns zuruͤckbleiben; wie er empfanden wir die weite Ebene als fremd und 
troſtlos; wie er fühlten wir Berlin als einen unheimlichen Koloß, der ſich 
wie ein Albdruck auf unſere Bruſt legte; wie er verloren wir uns in dem 
Großſtadtgetriebe und fühlten, daß wir wie ein Tropfen reinen Bebirgs- 
waſſers in den ſchmutzigen Fluten der Spree verſanken. 

Das alles hat Paul Ernſt dargeſtellt mit ſicherer Kuͤnſtlerſchaft und mit 
großer Treue: ſich ſelbſt und mich und alle, die mit uns jung waren vor 
vierzig Jahren. Viele von ihnen find zugrunde gegangen als Opfer einer 
ungluͤcklichen, zerriſſenen Zeit, in der der Deutſche Glaube, der Deutſche 
Idealismus verſunken und vergeſſen waren. Manche haben ſich noch in 
letzter Stunde gerettet in die Einſamkeit oder uͤber das Weltmeer, — ent; 
wurzelt, der deutſchen Kulturwelt verloren. Nur ganz wenige haben es 
vermocht, die Umwelt, wie fie ſich in unſerer Zeit darſtellte, durch kuͤnſt⸗ 
leriſche Geſtaltung und wiſſenſchaftliche Erkenntnis zu uͤberwinden und 
damit Bleibendes zu ſchaffen. Einer von dieſen wenigen iſt Paul Ernſt. 
Trotz aller Semmniſſe einer feindlichen Umwelt, trotz Not und Krankheit 
iſt er unablaͤſſig den ſteilen Pfad emporgeſtiegen, der ihn zu immer hoͤheren 
Gipfeln gefuͤhrt hat, ohne zu raſten, ohne zu weilen, ohne ſich auch nur 
umzuſchauen. Ich dagegen habe viel Zeit vergeudet beim Blumenpfluͤcken 
auf Seitenpfaden, unter dunklen Fichten und an klaren Quellen, und beim 
Plaudern mit Kindern, die auf den Tuͤrſchwellen ſaßen, und in der Sorge 
für das tägliche Brot. Auch mit vielen Spitzbuben und argem Geſindel 
mußte ich mich herumſchlagen. Aber immer wieder winkte er mir freund- 
lich zu von der Soͤhe, die er ſchon erreicht hatte. Und es iſt merkwuͤrdig: 
trotzdem die Entfernung zwiſchen uns immer groͤßer wurde und nun wohl 
Tat XV 9 


122 A. Juſtus Obenauer 


ſchon ſehr groß ſein muß, kann ich ihn doch noch ganz deutlich verſtehen 
und mich aller ſeiner Worte freuen wie damals, als wir jung waren. 

Und wenn ich mir manchmal doch Vorwuͤrfe mache, daß ich ihm nicht 
zur Seite geblieben bin auf dem harten, ſteilen, ſonnverſengten Pfade nach 
oben, dann troͤſte ich mich wieder damit, daß wir doch nicht alle Rompo⸗ 
niſten fein koͤnnen, ſondern es muß auch Sänger geben und Klavierſpieler, 
und ſchließlich ſogar einfache Zuhoͤrer, die vielleicht manchmal einſchlafen 
bei der ſchoͤnſten Muſik, aber doch dankbar find und das Saͤndeklatſchen be- 
ſorgen, wenn es noͤtig iſt, und die ſchoͤnen Blumenſtraͤuße bringen zum 
Jubilaͤum und ſechzigſten Geburtstag. 

Ein ſolcher Blumenſtrauß ſollen dieſe Zeilen ſein. Ein Strauß von 
wie ſenblumen, wie fie in den Tälern des Sarzes wuchſen, als wir beide 
jung waren, und deren Duft man nie vergißt, auch wenn der Schnee von 
vierzig Wintern ſie bedeckt. 


K. Juſtus Obenauer 
K. Chr. Plancks Naturphiloſophie 


on Plands Naturphiloſophie ſei folgendes hervorgehoben. Vor 

allem: die empiriſtiſch aͤußerliche und mechaniſche Naturanſicht hat 

das Bewußtſein des zentralen Grundes der Dinge gaͤnzlich verloren, 
hat es untergehen laſſen in dem erſt der ſpaͤteren, frei peripheriſchen Na⸗ 
turentwicklung angehoͤrigen Teildaſein der individuellen Stofflichkeit. Am 
Anfang der Dinge kann nicht die Selbſtaͤndigkeit der Teile (Atome) ſtehen, 
vielmehr gilt es gerade, dieſe individuelle Stoff lichkeit aus dem noch indivi⸗ 
dualitaͤtsloſen Grunde entſtehen zu laſſen. Sierauf beruht auch feine Pole⸗ 
mit gegen die mechaniſche Licht · und Waͤrmetheorie. Die Abſonderung ir- 
gend welcher Stoff · oder Atherteilchen kann Licht und Wärme nicht er- 
flaͤren, weil verſelbſtaͤndigte Teilchen, deren Mechanik Licht und Wärme 
erklaͤren follen, einem viel ſpaͤteren Stadium der Weltentwicklung erſt an⸗ 
gehoren koͤnnen. Wie die Naturreligionen des Altertums naiv anſchaulich 
die geſamte Entwicklung aller Dinge aus dem weltenei hervorgehen 
laſſen (ſiehe den gleichzeitigen Bachofen )), fo iſt für Planck dieſer Anfang 
etwas ähnliches: die „ſelbſtlos innere Zuſammenfaſſung der Teile mit dem 
Ganzen“, „individualitaͤtslos heiße und lichte Einheit“, und die beſonde⸗ 
ren Weltkoͤrper und Stoffe find Stufen fortſchreitender Ronzentrierung 
und laſſen deutlich ihr beſtimmtes Verhaͤltnis zum Zentrum, aus dem ſie 
hervorgingen, noch erkennen. Wenn Schelling in den Ideen einmal ſagt, 
die Stelle im Syſtem ſei die einzige Erklärung, die es von den Erſcheinun ; 


»Siehe den Aufſatz vom gleichen Verfaſſer im Aprilheft: Ju R. Plancks Teſta⸗ 
ment. 


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A. Chr. Plandis Naturphiloſophie | 123 


gen gäbe, fo gilt dies auch hier, mit dem Unterſchied nur, daß bei Planck 
die Welt und ihre Wunder ſelbſt ſich real vor uns entwickeln, und nicht nur 
een, die aus einer zentralen Idee abgeleitet werden. 

Die Weltentwicklung erklaͤrt fi alſo nach Planck allein aus dem Prin- 
zip der fortſchreitenden Individualiſterung, der relativen Verſelbſtaͤndi⸗ 
gung, die teils in einem raͤumlichen Auseinandertreten der Teile, teils in 
einer innerlichen Juruͤckziehung in ſich ſelbſt beſteht, ſtatt des anfaͤnglichen 
noch individualitaͤtsloſen glühenden Ineinanderwirkens zur ſelbſtaͤndigen 
Erxkaltung und Verdunkelung hinſtrebt, und inſoweit zur ſelbſtiſchen Be⸗ 
ziehungsloſigkeit der Teile gegeneinander wird (86). Nur auf dies allge- 
meinſte zentrale Entwicklungsgeſetz iſt ſein geiſtiges Auge gerichtet, und er 
zieht aus der empiriſchen Wiſſenſchaft nur das heran, was zur Derdent- 
lichung notwendig iſt. Die fortſchreitende Indi vidualiſterung, Erkaltung 
und Konzentrierung fordert das Gegengeſetz: Ruckkehr zu innerlich uni⸗ 
verſeller, über alles Teil · und Eigendaſein erhabener Einheit. Ahnlich hatte 
Goethe (in dem Weltentſtehungsſyſtem in Dichtung und Wahrheit) alles 
Leben aus dem Weltgeſetz der einatmenden Verſelbſtung und der ausat- 
menden Entſelbſtigung entſtehen laſſen, aber nie iſt dieſer Gedanke ſo zum 
Mittelpunkt eines ganzen Syſtems geworden wie bei Planck. 

Was iſt aber dann Wärme und Licht ſelbſt? Dies kann Planck nicht deut · 
lich ſagen. Am Anfang iſt die Einheit Licht, die Einheit Waͤrme. Oder, mit 
ſeinen eigenen Worten: waͤrme iſt die noch unſelbſtaͤndig hinausbezogene 
innere Einheit des Jentrums mit dem räumlich entfernten Umkreis; Licht 
die unmittelbare innere Einheit, in welcher das vom Umkreis verſchiedene 
und inſofern gegen ihn abgegrenzte eigene Weſen der urſpruͤnglichen Non · 
zentrierung mit dem raͤumlich entfernten Umkreiſe iſt, ſo daß es eben nach 
feiner räumlich entfernten Abgrenzung oder Gberflaͤche doch zugleich als 
ſelbſtloſe innere Einheit mit dem Umkreis in ihm gegenwaͤrtig iſt, waͤh⸗ 
rend es als dunkles Zentrum ein ſelbſtaͤndig beziehungsloſes Beſtehen von 
ihm hat. Es iſt die unmittelbar intenſive Einheit des Ausgedehnten (78). 
Dabei iſt Umkreis — Weltraum, Zentrum = ſchaffende Natur, Schwere; 
beides das „reine Wirken“. Licht und Wärme find Grundformen des reinen 
Wirkens, der ſelbſtloſen, ſtrahlend webenden Einheit von Jentrum und 
Peripherie. Man ſieht: Meditationen über das uralte Kreisſymbol liegen 
zugrunde. Derartiges aber war der herrſchenden Empirie vollkommen un- 
verſtaͤndlich. Daß ſie aber auch auf ſeine Kritik der mechaniſchen Biologie 
nicht hoͤrte, war weniger begreiflich. 


2 
n einem ſuͤddeutſchen Organ? wurde im vergangenen Winter lebhaft 
Gber die „Kriſe des Darwinismus“ geſtritten, von der man ja bei uns 
nun faſt ſchon ſeit mehr als zwanzig Jahren ſprechen kann und die hier nur 
In der wiſſenſchaftlichen Beilage der Muͤnchner Neueſten Nachrichten. 
9° 


124 A. Juftus Obenauer 


wieder vor der breiteften Offentlichkeit manifeſt wurde. Der Streit knuͤpfte 
ſich an einen Proteſt Muͤnchner Biologen und Naturforſcher gegen einen 
Aufſatz von Prof. Fleiſchmann⸗ Erlangen, einem alten Gegner der Def: 
zendenztheorie. Der Verlauf dieſes wiſſenſchaftlichen Streites vor dem 
großen Publikum zeigte, daß Fleiſchmann, der den Darwinismus mehr als 
Empiriker bekaͤmpft und von dem er über die unerforſchliche Tiefe der Natur 
Dinge behauptet, die nie experimentell nachpruͤf bar fein werden, zwar auch 
heute ſehr vereinzelt ſteht; daß aber das neue Bild der Abſtammungslehre, 
nachdem fie ſich mehr und mehr von dem ſeichten Monismus löfte, mit dem 
fie amalgamiert war, noch ſehr unbeſtimmt und umſtritten iſt. 

Auf alle Sälle trat auch hier, für den, der dies noch nicht wußte, klar zu⸗ 
tage: die alte Stammbaumlehre ſowie die mechaniſche Selektionstheorie, 
die doch der allgemeinen Deſzendenzlehre zum Sieg verhalfen, ſind beide 
gründlich erſchuͤttert und von vielen jüngeren Forſchern ſchon aufgegeben. 
Es wurde von einem „Sturz der Zuchtwahllehre“ geſprochen. „Sowohl 
gegen die Vorausſetzungen als gegen die Folgen dieſer Lehre laſſen ſich die 
ſchwerſten Bedenken erheben“ (Prof. Wolff ⸗Baſel). Der eigentliche Darwi⸗ 
nismus im engeren Sinn, d. h. die Lehre von der Entſtehung der Arten 
durch erbliche Variation und Selektion mag als ganz und gar widerlegt 
gelten — fo Prof. E. Dacaus. Die Annahme der Saͤufung der Eigenſchaf⸗ 
ten, der Entſtehung neuer Formen durch Züchtung hat ſich „als ein gran ⸗ 
dioſer Irrtum bewieſen “. Man ſteht fo vor der Notwendigkeit, die Ab⸗ 
ſtammungslehre (die ſchon von Zamarck vertreten wurde), neu zu be⸗ 
gründen (Tſchulok, Deſzendenztheorie 1922). Was man alſo allein noch 
feſthaͤlt, it, daß ſich die Arten in naturlich ⸗ blutmaͤßigem Auseinanderher · 
vorgehen gebildet haben. Grundfalſch aber war es, innere Entwicklungs⸗ 
geſetze, innere Entwicklungsurſachen mit ſpontaner Entſtehung neuer 
Arten zu leugnen. Das waren auch bier die Ergebniſſe der Diskuſſion. In 
der Vererbungsforſchung ſpricht man von einer „Befreiung von defzen- 
denztheoretiſchen Spekulationen“, und namhafte Forſcher wenden ſich 
entſchieden gegen die „Spekulationen über die Stammbaumgeſchichte “. 

Denn die Stammbaumlehren ſind nicht weniger erſchuͤttert wie die Se⸗ 
lektionstheorie. Das Buch von Tſchulok ſprach ſchon von der Notwendig 
keit der „Aufgabe eines einigermaßen ausgeführten, palaͤontologiſch ge⸗ 
ſtuͤtzten Stammbaums /. Reine Stammreihe ſcheint der Kritik mehr ftand- 
zuhalten. Dasſelbe ſagt der Palaͤontologe Dacque („Was iſt nun Ab⸗ 
ſtammungslehre “): die Erwartung, daß die Palaͤontologie den erwarteten 
Stammbaum beſtaͤtigen würde, wenn fie mehr und mehr foſſiles Tier · und 
Pflanzenmaterial noch ans Tageslicht förderte, habe ſich nicht beſtaͤtigt. 
„Die genauere Durcharbeitung der gefundenen Übergangsformen und das 
weiterhin zuſtroͤmende, ergänzende foſſile Material haben gezeigt, daß aus ⸗ 
nahmslos alle vorweltlichen Tierformen, ebenſo wie die heutigen, ſo ſpe⸗ 
zialiſiert waren, daß ſie keine wirklichen, ſondern wiederum nur ideelle 


KA. Chr. Plancks Naturphiloſophie 125 


Übergangsglieder zwiſchen den Gruppen bilden”. Der große breit durch die 
Zeiten flutende Lebensftrom, in dem alles beſtaͤndige Wandlung, Sorm- 
änderung und Anpaſſung an neue Bedingungen iſt, hat auch das realiſtiſch 
ausgefuͤhrte Bild vom Stammbaum aller Arten mit fortgeſchwemmt. 

Dies iſt, in wenigen Worten, die „Kriſe des Darwinismus“. Zwar ſagte 
der Biologe P. Wasmann, S. J., die Abſtammungslehre als naturwiſſen⸗ 
ſchaftliche Theorie ſei in ſich unabhaͤngig von jeder Weltanſchauung und 
jedem religioͤſen oder politiſchen Bekenntnis; fie beſtehe ja nur in der gene ; 
tiſchen Auffaſſung der Organismen und in dem Beſtreben, dieſe Auf⸗ 
faſſung auf unſere jeweilige Tatſachenerkenntnis anzuwenden. Aber die 
Kriſe des Darwinismus trifft doch zu ſehr mit der allgemeinen Weltan⸗ 
ſchauungskriſe zuſammen, und es waͤre ſonderbar, wenn man nun, nach 
dem Sturz der Selektionstheorie, nicht verſuchen wuͤrde, ein ganz neues 
Bild vom werden der Organismen, ihrer Geſchichte und ihrer genetiſchen 
Zuſammenhaͤnge zu machen, wenn ſich nicht auch hier eine neue Natur⸗ 
philoſophie regen wuͤrde. Denn es kann ſich doch heute nicht nur etwa um 
eine vitaliſtiſche Umformung des Darwinismus handeln, der weiter nichts 
fein würde als die Erkenntnis, daß das biologiſch Zweckmaͤßige ohne im- 
manente Teleologie, ohne ſchoͤpferiſche Zweckſetzung, rein mechaniſch (d. h. 
zufällig) nicht entſtehen kann. Wenn 3. B. Dacqus ſagt, man muͤſſe von 
einer epigenetiſchen zu einer entelechiſchen Deſzendenzlehre übergeben, da- 
mit bekomme auch der Begriff der Entwicklung feinen tiefſten Sinn zuruck, 
und dieſe entelechiſche Entwicklung unterſcheide ſich von der epigenetiſchen 
darin, daß fie die Entfaltung des Cebensreiches in die immanenten, ſchoͤp⸗ 
feriſchen Kräfte des Organiſchen verlege, fo iſt hier, und erſt recht in allen 
andern Entwicklungs vorſtellungen Dacques*, der Wandel der Weltan- 
ſchauung deutlich erkennbar. Und daß auch das Gewiſſen und Verantwor⸗ 
tungsgefuͤhl der führenden Wiffenfchaftler in dieſer langen Kriſe des Dar · 
winismus geſchaͤrft wurde, beweiſt nicht nur das Buch von Oskar Sert⸗ 
wig „Zur Abwehr des ethiſchen, ſozialen und politiſchen Darwinismus“, 
wo der Darwinismus in ſeinen Folgen und praktiſchen Auswirkungen eine 
der Saupturſachen des kulturellen Niedergangs genannt wird; es zeigt ſich 
auch in der beſcheideneren Einſchaͤtzung wiſſenſchaftlicher Theorien über- 
haupt. Dacqué gibt nicht nur zu, daß es ein „verwerflicher Unfug“ war, 
der den Darwinismus zu einem Kampfmittel der Religion, zum willkom⸗ 
menen Agitationsmittel einer ſeichten Weltanſchauung gemacht hat, er iſt 
auch der Meinung, daß keine der großen religiöfen Wahrheiten von irgend 
einer naturwiſſenſchaftlichen Theorie zu fürchten hat. Wie beſcheiden klingt 
fein Wort: „Alles, was wir an Wiſſenſchaft, ſelbſt an exakteſter Wiſſen⸗ 
ſchaft, hervorbringen, find nur Deutungen, find nur ſymboliſche Ausdruͤcke, 
find nur Spiegelungen unſeres Geiſtes an dem durch empiriſchen und dis; 
Purfiv verfahrenden Verſtand nicht zu ergruͤndenden Daſein. Und deshalb 
Siehe fein bekanntes Buch Urwelt, Sage und Menſchheit. 


126 A. Juſtus Obenauer 


kann nie das Gebiet der innerlich erlebten Religion je irgendwie eingeengt 
werden” („Was iſt nun Abſtammungslehre“). 

Der Kampf um die beſte Form der Fortbildung der Deſzendenztheorie iſt 
gewiß noch nicht zu Ende, aber wenn man einmal auf die Geſchichte des 
Darwinismus zuruͤckſchaut, wird man auch K. Chr. Planck nicht vergeſſen 
duͤrfen. Denn es war nicht, wie man in dieſer Diskuſſion einmal meinte, 
der Botaniker Naͤgeli, der zuerſt (1884) in feiner „mechaniſch⸗ phyſiolo⸗ 
giſchen Theorie der Abſtammungslehre ! die Lehre von der Zuchtwahl für 
unannehmbar erklaͤrte, weil fie lediglich den Nuͤtzlichkeitsſtandpunkt her⸗ 
vorhebe und nichts uͤber die bewirkenden Urſachen einer Umbildung aus; 
ſage. Ganz klar und eindeutig hat Planck ſchon 1872, in ſeinem Buch 
„Wahrheit und Flachheit des Darwinismus“, und dann wieder ausfuͤhr⸗ 
lich in ſeinem „Teſtament“, den Darwinismus mit tieferen Gruͤnden, aller⸗ 
dings ohne irgend gehoͤrt zu werden, zuruͤckgewieſen. Planck hebt, feiner 
pantheiſtiſchen Einſtellung gemaͤß, in ſeiner Kritik des Darwinismus ſtets 
hervor den innerlichen, von der peripheriſchen Lebensanregung ganz ab- 
liegenden und ſchaffend zentralen Urſprung des neuen Organiſations⸗ 
ſtrebens. Der Darwinismus kenne nur den ganz äußerlichen Geſichtspunkt 
anpaſſender Umbildung, nur ein Reich zufaͤlliger aͤußerlicher Einwirkun · 
gen, anſtatt des „aufwaͤrts nach Freiheit und Selbſtaͤndigkeit ſtrebenden 
innerlich zentralen Grundes (S. 335, 340). Dieſe Unterſcheidung der peri⸗ 
pheriſchen Lebensanregung vom zentral ſchaffenden Leben ſelbſt verdiente 
jedenfalls gehoͤrt zu werden. Bei der Deſzendenztheorie fehlt ihm „der er⸗ 
klaͤrende und treibende Grund der Fortentwicklung“, weil in der ſchon ganz 
beſtimmten und in ihre beſchraͤnkte Stufe hineingebannten niederſten 
Sorm nicht die zentrale Anlage zu den weit hoͤheren liegen kann. Er be⸗ 
hauptet ſchließlich damit nichts anderes als die modernſte Naturphilo⸗ 
ſophie Dacques, daß aus der ſchon viel zu einſeitig ſpezialiſierten hoͤheren 
Wirbeltierform der Menſch, der viel ältere Merkmale zeige, auch biologiſch 
nicht hervorgegangen fein konne. So iſt für Planck der eigentliche Träger 
der Entwicklung nicht die ſchon beſtimmte und beſchraͤnkte Stufe des Orga; 
niſchen ſelbſt, ſondern ein Umfaſſenderes, aus dem alles Grganiſche uͤber 
haupt hervorgegangen iſt und in das eingebettet es noch hervorgeht. 
Planck ſucht dann weiter auch bis ins Einzelne den erſtaunlichen embryo- 
nalen Wandel ganz anders zu deuten und zu ſehen als die in ihrer ſelek⸗ 
tiven Theorie Befangenen. Kurzum, man wird feine Gedanken und feine 
Kritik in einer Geſchichte des Darwinismus nicht uͤbergehen duͤrfen. 


3 
an koͤnnte gewiß aus Plands Naturphiloſophie noch manche be⸗ 
deutſame Einzeldeutung anfuͤhren, die ſich ihm aus der Anwendung 
feines univerſalen Prinzips auf die Erſcheinungewelt ergibt, Gedanken 
über die Natur der Planeten und Kometen, der Stoffe und beſonders der 


A. Chr. Plancks Naturphiloſophie | 127 


Metalle, der Erd / und weltentwicklung; wir muͤſſen uns aber mit dem 
wenigen begnuͤgen. Zum Schluß ſei hier nur noch ganz kurz auf den 
Grundgedanken der zweiten Saͤlfte des Werks verwieſen, welcher die 
menſchheitlichen, die geſchichtlichen, ſozialen und Bildungs probleme be⸗ 
handelt. 

Sier wird nun der tiefere Grund des geiſtlos veraͤußerlichten modernen 
Naturbildes erſt ganz erkennbar: er liegt in einem ſo vollkommen natur⸗ 
als weltlos gewordenen Idealismus, der, rein dem innerlich abſtrakt Geiſti · 
gen zugewandt, alle unſere äußeren politiſchen, rechtlichen und wirtſchaft · 
lichen Verhaͤltniſſe ebenſo entgoͤttlicht laͤßt, wie es das mechaniſche Natur 
bild ſelbſt iſt. Die materialiſtiſche Verirdiſchung iſt nur der Schatten dieſes 
falſchen, die Natur der Verhaͤltniſſe undurchdrungen laſſenden Idealis⸗ 
mus. Daher auch die Veraͤußerlichung und Verweltlichung der natuͤrlichen 
ZBildungsgebiete mit ihrer unwahren Trennung vom ſittlichen und reli⸗ 
gioͤſen Mittelpunkt (S. 539). Dieſen Dualismus des religidfen und des 
weltlichen Bildungsgebiets, dieſes unverſoͤhnte und undurchdrungene YIe- 
beneinander gilt es vor allem durch eine neue geiſtgemaͤße wahre Erkennt; 
nis der Natur zu uͤberwinden. 

Dazu tritt nun die Notwendigkeit einer ganz neuen ſozialen Gliederung, 
die Erneuerung des ganzen menſchlichen Gemeinbewußtſeins. Alle die ge⸗ 
prieſenen Freiheiten und politifchen Rechte des neueren Liberalismus find 
ihm „ebenſo idealiſtiſch hohle als ſelbſtiſch aͤußerliche, vom Geiſte des 
bloßen freien Eigenrechts erfüllte Abſtraktionen“. Da ihm die ſozialiſti⸗ 
ſchen Verſtaatlichungsprogramme als ebenſo abſtrakte Dergewaltigungs- 
verſuche der freien Wuͤrde der menſchlichen Perſoͤnlichkeiten erſcheinen, for 
dert er, zur Einſchraͤnkung des liberaliſtiſchen Individualismus, vor allem 
eine ſehr ausgearbeitete neue Berufsordnung. Dadurch, daß allentbal- 
ben die Vertreter der einzelnen Berufe, je nach den konkreten und ortlichen 
Verhaͤltniſſen, zu feſten Organiſationen zuſammentreten, die Unterneh⸗ 
mungen des Einzelnen ohne zu großen Zwang überwachen, das Gefuͤhl 
der Berufsehre ſtaͤrken, die freie Ronkurrenz einſchraͤnken und neue orga⸗ 
niſche Rechtszuſtaͤnde ſchaffen, wird ſich der geſamte ſoziale Organismus 
nen gliedern in mannigfaltige, wirklich den Zuſtaͤnden entſprechenden Roͤr⸗ 
perſchaften. Grundgedanken, die nach dem Krieg bei uns in verfchiedener, 
ganz anderer Geſtalt wieder hervortraten und Reime einer organiſcheren 
Gliederung des Gemeinſchaftslebens enthalten mögen. 

In dieſen ſozialen Beſtrebungen beweiſt Planck einen tief empfindenden 
religiͤſen Geiſt. Nur die kirchliche Form des Chriſtentums ſchien ihm un ; 
fähig, dies neue wahrere bürgerliche Rechtsbewußtſein zu ſchaffen, das den 
unwahren, falſchen, vom bloßen Prinzip des freien ſelbſtiſchen Eigen⸗ 
rechts beherrſchten Geſellſchaftszuſtand, den Kriegszuſtand aller Einzelnen, 
Alaſſen und Staaten, ablöfen kann. Auch hier geht fein Wille auf das kon⸗ 
kret Organiſche, auf das Juſammenfaſſen und Durchbluten der Teile, auf 


128 A. Juſtus Obenauer, N. Chr. Plancks Naturphiloſophie 


die Tiberwindung des ſozialen Atomismus. Er ſchon war auf das tiefſte 
davon durchdrungen, daß dies Nebeneinander chriſtlichen Denkens und Be⸗ 
kennens und unchriſtlich individualiſtiſch ſelbſtiſchen Lebens in nacktem 
egoiſtiſchem Tatmenſchentum in Europa nicht ſo fort gehen koͤnne. Er 
ſieht ſchon den Anbruch einer neuen Gemeinſchaftsepoche voraus, die er 
die des dritten Adam nennt. Er meint damit nichts anderes als die Über- 
windung dieſes liberaliſtiſch⸗individualiſtiſchen Atomismus im ſozialen 
und dieſes widerſpruchs vollen Dualismus im Bildungs ⸗ und Befellfchafte- 
weſen, nichts anderes auch als was die pantheiſtiſchen Denker ſeit Ceſſing 
unter der Idee des dritten Reichs verſtanden, das die heidniſche Naturreli⸗ 
gion und das bis dahin zu ſehr den irdiſchen Aufgaben entfremdete Chri ; 
ſtentum verſoͤhnen wird, indem es zugleich eine neue Staats ⸗ und Geſell⸗ 
ſchaftsordnung und eben dadurch auch eine neue Rechtsordnung verwirk⸗ 
licht. „Wenn das Reich des zweiten Adam, das der chriſtlichen Entwick⸗ 
lung, noch die einſeitige, ſcharf innerliche Antitheſe gegen das unmittelbar 
natürliche zweckbewußtſein des Altertums iſt, fo iſt das des dritten Adam 
erſt reife, freigeiſtige Einigung mit der Natur und ihren Aufgaben” (#10). 

Sehr merkwuͤrdig iſt aber, daß er hier am Schluß, in feinen Ausfuͤhrun⸗ 
gen zur ſozialen Frage im weiteſten Sinn und zur Neugeſtaltung der Ju⸗ 
kunft, dieſe Ruͤckkehr zur Natur und ihren Aufgaben viel weniger pan- 
theiſtiſch faßt als man nach dem erſten Teil des Werks erwarten mußte. 
Denn er ſieht dieſes dritte Reich doch ſchon ganz vorgebildet in Chriſti Er; 
ſcheinung ſelbſt, deren ganze Bedeutung eben darin liegt, daß ſie das we⸗ 
ſentliche Licht, das weſentliche Leben, das volle Sein Gottes für den Men⸗ 
ſchen hier auf der Erde vertritt, die volle innere Gegenwart deſſen, was 
fruher ein jenſeitig Goͤttliches war, die volle Einigung desſelben mit dem 
natuͤrlichen und menſchlichen Sein, fo wie fie nirgends ſonſt vorbildlich an⸗ 
gedeutet iſt (416). Während der Pantheismus fonft den einen Schoͤpfergott 
bekennt, der, der Welt immanent, ſchließlich mit ihr zuſammenfaͤllt, und 
hier für Chriſti Erſcheinung kein Raum und kein Verftändnis iſt, gibt 
Planck in ſeinem erſten Teil dieſen pantheiſtiſch gefaßten Gott ganz und 
gar auf, haͤlt aber dafür, von der Not der menſchlichen Zuſtaͤnde gedrängt, 
an Chriſtus feſt. Er kommt am Ende durch ihn zu dem Begriff der Wieder; 
herſtellung einer urſpruͤnglichen in Gott geſchaffenen Natur des Menſchen, 
der den Kern der chriſtlichen Offenbarung vollkommen richtig trifft, als 
vollmenſchliche Vergegenwaͤrtigung Gottes, was auch dem ganzen letzten 
Teil das Übergewicht fiber den erſten, den begeiſterten Schwung und die 
groͤßere Tiefe gibt, ſelbſt wenn er auch diefe Vergegenwaͤrtigung Gottes 
im Menſchen noch nicht, ſeinem Gottesbegriff entſprechend, in ihrem all⸗ 
ſeitig begnadetem Reichtum gedacht haben ſollte. 


Ceo Fußhoeller, Bulturzentren der Großſtadt 129 


Leo Sußboeller 
Kulturzentren der Großſtadt 


ehr als einmal fpürten wir in den letzten Jahren, wie unloslich 
0 deutſches Schickſal verbunden iſt mit dem Geſchehen am Rhein. 
die Beſetzung weiter rheiniſcher Gebiete durch fremde Truppen, 
die Erdroſſelung des Wirtſchaftslebens die dadurch ausgeloͤſten Erſchei⸗ 
nungen des Separatismus, die Leiden der Bevoͤlkerung, die Opfer, die 
Schwierigkeiten des Lebens überhaupt, all dies griff weit hinaus über 
die Grenzen der Weſtmark, war deutſches Schickſal. Seit kurzer Zeit 
erſt atmen die befreiten Staͤdte wieder auf. Aber die Wunden ſind noch 
nicht vernarbt, die der Ruhrkrieg mit feinen Folgen dem deutſchen Wirt- 
ſchaftsleben zugefügt hat. Und dennoch: wir im Rheinland find ſtolz da; 
rauf, daß wir mitleiden, mitſchwingen und mithandeln konnten. Darum 
wollen wir hier auch nicht verſuchen, die Geiſter jener ſchlimmen Tage 
zu bannen, wenn wir auf ein Werk hinweiſen, das ganz aus den Beweg ⸗ 
niſſen jener Zeit herauswuchs und mehr als anderes vielleicht ein Bild zu 
geben vermag von den Gefahren und Schwierigkeiten, denen wir uns 
im Rheinland nach Eintritt des paffiven Widerſtandes uber Nacht gegen; 
übergeftellt ſahen. Daruͤber hinaus aber gewinnt dieſes Werk Bedeutung 
fuͤr die Loͤſung von Problemen, die auch uns heute in ſtaͤndig ſteigendem 
Maße beſchaͤftigen werden. Wie damals umgibt uns beifpiellofe Erwerbs. 
loſigkeit. Außert ſie ſich auch bisher noch nicht in jenen kataſtrophalen 
Formen, wie fie die rheiniſche Wirtfchaft während des Ruhrkampfes 
verzeichnete, ſo wird ſich doch aller Vorausſicht nach der Arbeitsmarkt in 
den naͤchſten Monaten weiter derart verſchlechtern, daß das Problem der 
Erxwerbsloſigkeit zu viel einſchneidenderen und ausgedehnteren Maß ⸗ 
nahmen der Arbeitsloſenfuͤrſorge zwingt, als es bis heute notwendig 
ſchien. Einen ganz beſonderen Raum wird dabei die Fuͤrſorge erwerbsloſer 
jugendlicher Arbeiter einnehmen. Die folgende Darſtellung eines erfolg ⸗ 
reichen Verſuches, die Erwerbsloſigkeit der Jugendlichen zu lindern, in 
einer Großſtadt unternommen, deren Bevoͤlkerung mehr als andere von 
Erwerbsloſigkeit heimgeſucht war, wird deshalb mehr als bloß paͤda⸗ 
gogiſches Intereſſe erwecken muͤſſen. Seute bereits hat vielmehr dieſer 
Verſuch — und er wird es aller Vorausſicht nach in noch weiterem Maße 
in der naͤchſten Zukunft haben — eine hervorragend aktuelle Bedeutung. 
° Diefer Auffag, der in feinem geiftigen Inhalt vor Jahresfriſt bereits entſtand 
und in deffen erſtem Teil damals neben der SErwerbslofenfürforge der Jugend- 
lichen beſonders auch der Schulgarten und die Freilichtbühne von Steinmeyer, 
Duͤſſeldorf dargeſtellt wurden, wurde jetzt, infolge der durch die Jeitverhaͤltniſſe 
een Anderungen, in ſeiner Einleitung von wirtſchaftskundiger Seite neu 
e 


130 Ceo Fuß boeller 


Denn nirgends ſonſt find die Folgen der Erwerbsloſigkeit nachhaltiger 
und zerſtoͤrender als für junge Menſchen, die, aus geordneten Zebens⸗ 
bahnen herausgeſchleudert, von den Bindungen des Berufes und der 
Schule befreit, den Einflůͤſſen und Eindruͤcken der Straße widerſtandslos 
ausgeſetzt ſind. 

waͤbrend des Ruhrkampfes waren durchweg fiber 50% der Einwohner 
der Stadt Duͤſſeldorf auf ſtaatliche Unterſtuͤtzung angewieſen. Es wurden 
los ooo Sauptunterſtuͤtzungsempfaͤnger mit 126000 Juſchlagsempfaͤngern 
gezahlt. Unter ihnen befanden ſich mehrere Tauſend arbeitsloſer Jugend ⸗ 
lichen. Mit bloßen geldlichen Unterſtůtzungen war ihnen nicht geholfen, 
es galt, fie in eine Beſchaͤftigung zu bringen, die fie von der Straße nahm, 
ihnen Freude machte und den jugendlichen Fertigkeiten und Anlagen ent ⸗ 
ſprach. 

Draußen vor den Toren der Stadt lag weites, braches Land. Vor Jahren 
hatte hier bereits der Zeiter einer Volksſchule, Rektor Steinmeyer, mit 
geringen Mitteln, die ihm hilfreiche Soͤnner geſchenkt hatten, in langſamer, 
zielbewußter Arbeit mit Volksſchuljungen aus Schutthalden und un⸗ 
bebauten Geldern einen bluͤhenden Schulgarten geſchaffen. Die Jungen 
ſollten hier, unmittelbarer als es der Schulunterricht vermochte, in das 
Zeben der Natur eingefuͤhrt werden, ſie ſollten hier wieder offene Sinne 
und Ehrfurcht bekommen vor den Geheimniſſen des natuͤrlichen Wachs⸗ 
tums, von dem in der Stein wuͤſte Großſtadt jede Anſchauung zu fchwin- 
den droht. : 

Da ging nun das Duͤſſeldorfer Arbeitsamt heran und brachte Über 
tauſend erwerbsloſe Jungen in dieſes Gartenland. Sie waren die geeig · 
netſten Arbeitskraͤfte, das begonnene Werk zu erweitern und zu vollenden. 
weite Bodenflaͤchen galt es umzuarbeiten, Erde zu bewegen, zu planieren, 
fruchtbaren Mutterboden zu beſchaffen, Beete und wege anzulegen und 
Straͤucher und Baͤume unter Zeitung kundiger Gaͤrtnerhand zu pflanzen. 
Die Jugendlichen gewannen dabei nicht bloß Verdienſt und wirtfchaft- 
lichen Nutzen — das wäre auch anders möglich geweſen —, es war mehr, 
es war ein Verſuch, erzieheriſch auf junge, ſchulentlaſſene erwerbsloſe 
Menſchen im Alter zwiſchen 14 und 18 Jahren einzuwirken, in einer Art, 
wie fie bisher in dieſem Umfange kaum möglich und uͤblich war. 

Jeder Verſuch einer Gemeinſchaftserziehung jugendlicher Maſſen haͤngt 
ganz unmittelbar in feinem Gelingen von der Löfung des Problems der 
Fuͤhrung und Aufſicht ab. Es genuͤgt noch laͤngſt nicht der vielleicht wert- 
volle Gehalt einer paͤdagogiſchen Idee, die Werbekraft eines begeiſternden 
Erziehungszieles; aller noch fo wertvolle Erziehungsin halt, jede noch fo 
zielfichere Methode bleibt erfolglos, ſofern deren Sandhabung verſagt, ſo⸗ 
fern das Problem der Fuͤhrung nicht geloͤſt iſt. 

Satte zwar der Fuhrer bei dieſem Verſuch einer erzieheriſch fruchtbaren 
Beſchaͤftigung junger erwerbsloſer Arbeiter nicht den ganzen ausgedehnten 


Bulturzentren der Broßftadt 131 


Aufgabenkreis etwa eines Volksſchullehrers: leibliches, ſeeliſches und 
geiſtiges Wachstum zu entwickeln und zu bebüten, hier war der Fuͤhrer 
weniger der Zehrer als vielmehr der Aufſichtsfuͤhrende, der Leiter einer 
Gruppe, der auf zweckmaͤßige und ordentliche Durchfuͤhrung einer in An; 
griff genommenen Arbeit zu achten hatte. War er ſo auch nur hin und 
wieder, durch die Art der Arbeit veranlaßt, in der Lage, Wiſſen zu ent- 
wickeln, ſo war doch gerade die Aufgabe der Anleitung zu diſziplinierter 
Arbeit, zur Zweckmaͤßigkeit im täglichen Arbeitsprozeß, die Aufgabe der 
Beaufſichtigung und Überwachung dieſer jungen Scharen ganz beſonders 
ſchwierig. Die erziehlichen Möglichkeiten, die ſich hier ergaben, waren 
um fo bedeutungsvoller, als die Jungen, vielfach bereits ſeit Jahren jeder 
Zucht und Sitte entwachſen, gerade ſolcher erzieheriſchen Beeinfluſſung 
ganz beſonders bedurften. 

Die große Schwierigkeit lag darin, fuͤr dieſe wichtige und verantwor⸗ 
tungsvolle Aufgabe geeignete Kraͤfte zu finden. Und nicht nur das, die 
Bezahlung dieſer Kräfte durfte finanziell nicht (oder nicht viel) über den 
Rahmen der aus den Mitteln der Erwerbsloſenfuͤrſorge zur Verfuͤgung 
ſte henden Fonds hinausgehen. In der energiſchen Loͤſung dieſer Schwie ; 
rigkeit liegt ein weiteres großes Verdienſt, das das Duͤſſeldorfer Arbeits; 
amt fuͤr ſich beanſpruchen darf. 

Unter den zahlreichen erwachſenen Exwerbsloſen, denen das Arbeits 
amt Unterſtuͤtzung zahlte, befanden ſich eine Reihe Junglehrer, Archi⸗ 
tekten, Ingenieure, Kaufleute, die gern bereit waren, für eine, wenn auch 
geringe Zuſatzverguͤtung neben ihrer geſetzlichen Unterſtuͤtzung die Zeitung 
der Jugendgruppen zu uͤbernehmen. Aus ihnen ſuchte das Arbeitsamt 
die Geeignetſten heraus. Viele Monate hindurch bekleideten einzelne von 
ihnen das ſchwierige Amt des Gruppenfuͤhrers, und die meiſten von ihnen 
haben in ihrer Aufgabe — das bezeugen die ſchriftlichen Berichte, die fie 
ſpaͤter über ihre Taͤtigkeit abgaben (vgl.: „Erwerbsloſe Großſtadtjugend.“ 
Ein Duͤſſeldorfer Erziehungsverſuch an erwerbsloſen Jugendlichen, her⸗ 
ausgegeben von Direktor Dr. Langenberg und Dr. Klute, Duͤſſeldorf 
1925) — auch mehr geſehen als bloßes Beaufſichtigen und Grdnung 
halten. 

Die Geſamtleitung des Werkes lag in den Saͤnden des Arbeitsamtes. 
Das ausfuͤhrende Organ war Rektor Steinmeyer. Die taͤgliche Arbeitszeit 
der Jungen, die gruppenweiſe (je etwa 20 Jungen) moͤglichſt mit den ver · 
ſchiedenſten Arbeiten abwechſelnd beſchaͤftigt wurden, betrug 7 Stunden. 
In der Mittagspauſe wurde eine koſtenfreie Mahlzeit (Eintopfgericht) ver⸗ 
abreicht. Regelmäßig wurden die Jungen vom Arzt auf ihren Ernaͤhrungs 
und Geſundheitszuſtand unterſucht. Fur Spiel und Sport war in der Frei; 
zeit Gelegenheit vorhanden. Mehrtaͤgige Wanderungen führten die Grup⸗ 
pen verſchiedentlich in die Natur. 

Das Duͤſſeldorfer Arbeitsamt hatte von Anfang an die Abſicht, nicht 


132 Ceo Sußboeller 


nur mit Silfe arbeitsloſer Jugendlicher ein Unternehmen von bleibendem 
wirtſchaftlichen Wert zu ſchaffen, ſondern auch den von der Arbeitslofig- 
keit Betroffenen individuell zu helfen. In dieſer Abſicht erfolgten die ver ⸗ 
ſchiedenen fachaͤrztlichen Unterſuchungen, wollte weiter eine berufspſycho⸗ 
logiſche, berufsberatende Befragung der Jungen Über ihren Lebenskreis, 
ihre Berufs ⸗ und Zukunftswuͤnſche Auskunft und, ſoweit es moglich war, 
ilfe geben. Jederzeit ſtand es den Jungen frei, offen und ehrlich ihre 
meinung uͤber das Werk, an dem fie ſelber arbeiteten, zu äußern, Beſchwer⸗ 
den und Vorſchlaͤge zur Behebung der Mißſtaͤnde einzureichen. 
Allmaͤhlich entſtanden durch die tapfere Arbeit junger Saͤnde neben der 
Freilichtbuͤhne, die bereits in fruͤheren Jahren inmitten der von der Volks⸗ 
ſchuljugend ſelbſt angelegten Schulgaͤrten gebaut war, ebene freie Plaͤtze 
für Spiel und Sport und werkſtaͤtten fuͤr Reparaturarbeiten. Ein planſch⸗ 
becken und ſchmucke Siedlungshaͤuſer ſind im Bau begriffen, ſogar ein 
Volkshaus iſt geplant fuͤr Feſte und Feiern der Bewohner der in der Naͤhe 
liegenden Stadtteile Duͤſſeldorfs. | 

Dieſer Verſuch einer Gemeinſchaftserziehung erwerbsloſer Broßftadt- 
jugend hat auch bereits die Aufmerkſamkeit einer weiteren Öffentlichkeit, 
der Zentralbehörden und einer Reihe namhafter Pädagogen gefunden. Die 
Rultusminifter Dr. Boelitz und Dr. Becker, Sachreferenten aus dem Preu⸗ 
ßiſchen Wohlfahrtsminiſterium, aus dem Miniſterium für Sandel und Be- 
werbe, Vertreter der Reichsarbeits verwaltung haben die Duͤſſeldorfer 
Garten- und Arbeitsſchule beſucht. 

Das aber iſt neben der Löfung des Fuͤhrerproblems das größte Verdienſt 
und die bedeutſamſte Leiſtung dieſes Verſuches, daß er ohne beſondere 
finanzielle Beihilfe unternommen wurde, ausſchließlich mit den Mitteln, 
die zur Unterſtuͤtzungsleiſtung der Arbeitsloſen zur Verfuͤgung ſtanden. 
Aber die ſonſt unproduktive Fuͤrſorgeunterſtuͤtzung bekam hier eine in 
ideell · paͤdagogiſchem wie in materiell · ö konomiſchem Sinne produktive Be ⸗ 
deutung. 

Ein Gelaͤnde wurde bebaut, über das jede Stadt draußen an der Peri⸗ 
pherie verfügt. Wären beſondere finanzielle Mittel für die Beſchaͤftigung 
erwerbsloſer Jugend bereitgeſtanden, haͤtte man kaum viel Aufſehens zu 
machen brauchen von dieſem Duͤſſeldorfer Verſuch. Aber ſo wurde er eine 
Tat. Das Verdienſt aber gebührt dem Rektor Steinmeyer, der den Grund ⸗ 
ſtein legte, und dem Duͤſſeldorfer Arbeitsamt, das ſelbſtverſtaͤndlich und 
energiſch das Vorhaben in Angriff nahm. Durch Liebe zur Jugend und 
ſtarken Arbeitswillen hat Rektor Steinmeyer Generationen von Schul ⸗ 
kindern zu einem gefunden Körper, zur Freude an der Natur und zum 
Dienſtwillen an der Gemeinſchaft verholfen. Der mutige Entſchluß des 
Arbeitsamtes aber hat Tauſende Erwerbsloſe zu diſziplinierter Arbeit 
erzogen und mit Jaͤhigkeit dem Nichts blůͤhendes Land abgerungen. Beider 
Arbeit ſchuf ſo eine wirtſchaftliche Grundlage, auf der nunmehr die Idee 


Kulturzentren der Broßftadt 133 


der neuen Zeit in einem weitgeſpannten Schulbilde organiſch wachſen 
kann: der ſynthetiſche Menſch der abgelaufenen Periode einer indivi⸗ 
dualiſtiſchen Zeit und des neuerwachten Gemeinſchafts willens: Bildung 
der Perſoͤnlichkeit innerhalb der Gemeinſchaft, fuͤr die Gemeinſchaft. 

Die äußeren Moͤglichkeiten für ein ſolches Schulideal find auf dem Boden 
der Duͤſſeldorfer Garten · und Arbeitsſchule gegeben. 

Leider koͤnnen im Rahmen dieſer Arbeit nur knappe, dem paͤdagogiſch 
Intereſſierten jedoch verſtaͤndliche Andeutungen die neuen Moͤglichkeiten 
ſkizzen haft umreißen 


ie Entwicklungsſtationen des jungen Menſchen werden durch folgende 
innerlich verbundene Etappen einer Einheitsſchule bis zur Sochſchul ; 
reife äußerlich gekennzeichnet: J. Kindergarten ( weſentlich auf der Grund⸗ 
lage Froͤbels), 2. Grundſchule (auf gleicher Grundlage weiterbauend), 
3. Gabelung in die Auf bauſchule einerſeits (nach der Denkſchrift des 
Miniſteriums mit dem Ziel der deutſchen Oberſchule oder der Gberreal⸗ 
Schule) und nach dem 14. Lebensjahre der Volkshochſchule andererfeits. 
Die Volkshochſchule waͤre alſo organiſch in das ganze Schulleben einzu⸗ 
beziehen und wuͤrde von denſelben Zehrkraͤften geſpeiſt. Der geplante 
Saalbau könnte zu einem Volkshaus mit Feſthalle und Bühne, Buͤcherei, 
eſe · Spiel · „ Erholungsraͤumen uſw. ausgeſtaltet werden. Die erwerbs- 
loſen Jugendlichen waͤren in den Rahmen der Volkshochſchule und des 
Volkshauſes nach Möglichkeit mit einzubeziehen. Als paͤdagogiſche Silfs⸗ 
kraͤfte in der ſozialen Arbeit koͤnnten dem Geiſte der Schule naheſtehende 
junge Akademiker (nach dem Vorbilde der ſozialen Studentenſchaft um 
Dr. Sonnenſchein, Volksverein und Sigmund Schulze, Berlin ⸗Oſt) heran⸗ 
gezogen werden. Gerade durch eine ſolche Einbeziehung in das innere Leben 
einer Siedlung würden die jungen Erwerbsloſen die richtige Einſtellung 
zu ihrer wertſchaffenden Arbeit gewinnen koͤnnen. Sie würden daruͤber 
hinaus einen, wenn auch nicht vollguͤltigen Erſatz für das in ihrem 
Milieu oft fehlende Familienleben erhalten koͤnnen. 
Im übrigen wären für den inneren Schulauf bau folgende Bildungs 
ideen zielgebend: 
I. Schulverfaſſung: Die Einheitlichkeit des Lehrkoͤrpers iſt Grundbe⸗ 
dingung zielbewußten Schaffens. Wo ſie fehlt, herrſcht Chaos. Der junge, 


»An dieſer Stelle verweiſen wir auf J. Leo Fußhoeller, Die Dreiheit eines 
neuen Schullebens, Greifen verlag, Rudolſtadt 1921. 2. Die Wiedergeburt der 
Bübne, berausg. von Fußhoeller, Goetſch, Sellwig; Greifen verlag 1922. 3. Das 
dramatiſche Spiel in der Schule, in Neuendorffs „Schulgemeinde“, Teubner, 
Leipzig 1920. 4. Leo Fußhoeller, Frankfurter Tagung „Jugend und Bühne“, Be⸗ 
richt in der Koͤlniſchen Zeitung vom 2. und 3. Oktober 1924. 5. Leo Fußhoeller, 
Kulturunterricht der Oberſtufe und die Ausldfung der geſtaltenden Kraͤfte im 
jungen Menſchen, Aufſatz in der Jubilaͤumsſchrift der Sumboldt · Oberrealſchule, 
Eſſen 1925. 


J34 Leo Sußboeller 


autoritaͤtenglaͤubige Menſch, der nach einem Ideal ſich ſehnt, gerät in 
Gewiſſenszwang. Der Lehrkoͤrper bildet und ergänzt ſich alſo durch eigene 
Wahl. Er nimmt auch ſogenannte paͤdagogiſche Zaien, z. B. Sandwerker 
und den Schularzt, in feine Gemeinſchaft hinein. Nur nach Perſoͤnlichkeit, 
nach Form ringende Menſchen von ähnlich eingeſtellter ſeeliſcher, geiſtiger 
Grundhaltung, nur in einer tief und weit geſpannten Einheit, in einem 
Drang zum Abſoluten ſich ergaͤnzende Erzieher gewaͤhrleiſten die ſtrenge 
Durchfuͤhrung geſteckter Ziele; fie find viel wichtiger als alle ſchoͤnen Metho; 
den und ſchulmeiſterlichen Programme. Im Grunde reden wir hiermit alſo 
der wahren Weltanſchauungsſchule das Wort. (Weltanſchauung in dem ſo⸗ 
eben beſtimmten, freizuͤgigen Sinne der in demſelben Weltbilde weſentlich 
gleichgerichteten Menſchen.) 

Die Lehrer wohnen moͤglichſt im Schulbereich. Sie ſcharen um ſich inner ⸗ 
lich geſchloſſene Gruppen der jungen Menſchen verſchiedenen Alters, im 
Sinne der Zanderziehungsheime und der Jugendbewegung. Alſo unab- 
haͤngig vom Fach · und Klaſſenſyſtem, das eine geſunde Durchbrechung 
erfährt. Fur die Charakterbildung, die eigentliche Perſoͤnlichkeitsbildung, 
deren tiefſter Sinn der Lebensfinn uͤberhaupt, naͤmlich das Gpfer iſt, iſt 
das Leben in der Gruppe ungleich wichtiger als der Klaſſenunterricht. Es 
entfaltet ſich bei den Aufgaben für die Unterrichtsſtunden und während der 
Sreizeit: im Sport, im Feld · und Gartenbau, in der Werkſtatt, auf Sing ⸗ 
und Lefeabenden, auf gemeinſamer Fahrt. Etwaige Auswuͤchſe ſolcher 
Gruppentypenbildung, die in der Gefahr der Inzucht begruͤndet ſind, 
werden geregelt durch periodiſche Juſammenkuͤnfte der ganzen Schul; 
gemeinde, die in freimätiger Ausſprache die Ordnung und das innere 
eben der Schule, aber nicht feine Bildungselemente, zum Gegenſtand hat 
und in der ſich Lehrer und Schuler, unter Ausſchluß aller nicht zum engen 
Schulleben gehorenden, als Menſch zu Menſch gegenuͤberſtehen. Das da⸗ 
bei der nötige Abſtand gewahrt bleibt, iſt Sache der Leitung, der Gruppen; 
führer und der ganzen Erziehung uberhaupt. Gerade hier wird ſich zeigen, 
5 eine Schule zur ſtrengen Formung und damit als Kulturbildner 
faͤhig iſt. | 

Diefe Gedanken find nicht neu, aber weſentlich und in Landerziebungs- 
heimen wie Wickersdorf erfolgreich durchgefuhrt. 

Am mittag werden die Kinder gegen Entrichtung der Selbſtkoſten in 
der Schule geſpeiſt, in der fie bis in die Nachmittagsſtunden bleiben. Fur 
die Schulkuͤche find freiwillige Kräfte (vgl. Wickersdorf) erforderlich, die 
bei freier Roſt und Wohnung in das innere Schulleben eingegliedert wer⸗ 
den. Nach der Schule gehoͤrt das Kind nicht mehr der Arbeit, ſondern 
allein der Familie, der es auf keinen Fall entfremdet werden darf. Die 
Eltern ſind alſo, ſoweit es moͤglich iſt, an der Entwicklung der ganzen 
Schule, an ihren Feſten, ihren Leiden und Freuden zu beteiligen. Wenn 
auch hier in unſerem Induſtriegebiet die Jerſtoͤrung des Familienlebens 


Kulturzentren der Broßftadt 135 


durch das Wohnungselend der Mietskaſernen und der Einzimmerfamilien⸗ 
wohnungen nicht fo haͤufig iſt, wie etwa in Breslau oder Berlin · Oſt, fo 
bringt doch die ganze Art des Berufslebens der modernen Großſtadt, ge 
rade in den ärmeren Volksſchichten, wo die Mutter oft tage ůͤber auf Er 
werb ausgehen muß, die Erſcheinung mit ſich, daß nur der Abend der 
Samilie gebört. Und da ſoll das Kind nur für die Familie da fein. Den er- 
zieberifhen Wert ſolcher Peripherieſchulen, die ihre Kinder bis in den 
Nachmittag hinein behalten, erkannte ſchon laͤngſt der praktiſche Sinn des 
Englaͤnders. Und gerade durch 

2. den Milieuzuſammenhang mit der Familie einerſeits und mit der Groß ⸗ 
ſtadt andererſeits unterſcheidet ſich die Schulſiedlung der Großſtadtperi⸗ 
pherie von den Zanderziebungsheimen mit ihren Gefahren: nicht Ent; 
fremdung von den Eltern alfo, die gewiß nicht immer die berufenen Er ⸗ 
eher ihrer Kinder find, die aber, trotz oft verkehrter Erziehung, allein 
ſchon durch die Blutsbande ſeeliſch unerſetzliche Werte ſchaffen. Auch nicht 
Inſelland, nicht aͤſthetiſch kultivierte Abgekehrtheit, die beim Sinaustritt 
in die nuͤchterne Wirklichkeit zur weltfremdheit werden kann. Vielmehr 
ſtarker Familienzuſammenhang, weckung des Wirklichkeitsſinnes, volles 
Einmuͤnden in den Strom der Großſtadt und prüfende, ſichtende, löfende, 
klare und dennoch mitfuͤhlende Sicherheit gegenuͤber den brennenden Fragen 
des Alltags und der chaotiſchen, neurotiſchen Zeit. Einfuhrung in die Staͤt⸗ 
ten und Betriebe der Großinduſtrie, der Technik, des Sandels, der Landwirt- 
ſchaft, der wiſſenſchaft und der Runſt und nicht zuletzt in die ſozialen TIöte 
und die geiſtesgeſchichtlichen Juſammenhaͤnge der Volks ⸗ und Menſchheits · 
entwicklung. 

3. Die Verwurzelung mit der Scholle wird im jungen Menſchen bei der 
ganzen Art der Siedlung durch fein lebendiges Verhaͤltnis zur Natur im 
Garten · und Feldbau von ſelbſt geſchehen. Darüber hinaus machen die 
einzelnen Gruppen im ſpartaniſchen Sinne der Saltung zeigenden organi- 
ſierten Wanderbuͤnde wöchentlich eine Eintagsfahrt und gelegentlich 
größere Fahrten in der engeren und weiteren Seimat. Nur der kann 
Seimat und Volk verſtehen und lieben, der noch mit dem Boden verwurzelt 


4. Die Roͤrperbildung ſoll eine harmoniſche fein: keine einſeitige Aus⸗ 
bildung, keine muskuloͤs verkrampften Turnbeine und arme, keine ge⸗ 
drungenen Schultern, wie fie vielfach durch Gbermäßiges Turnen am Reck, 
am Barren hervorgerufen werden, keine mechaniſierenden Exerzieruͤbun ; 
gen. Sondern allſeitige Durchbildung im freien, frohen Spiel, im Sport, 
der dabei nie in die charakterverderbende ÜUberſpitzung des Konkurrenz ⸗ 
kampfes ausarten ſoll: alſo Ballſpiele aller Art, Rudern, Schwimmen, 
Fechten, richtiges Atmen, rhythmiſche Gymnaſtik, die den Leib locker 
macht und frei von verzerrten Spannungen. Der Menſch ſoll Serr uͤber 
feinen ganzen Körper werden. Die zahlreich aus dem Boden ſchießenden 


136 Ceo Fußhoeller 


rhythmiſchen Schulen und Syſteme unſerer Zeit bieten haͤufig: einmal die 
Gefahr der Uberbetonung der weichen Linie in der Bewegung; fie find dem 
herben maͤnnlichen Ausdruck noch zu wenig gemaͤß. Zum anderen ſetzen ſie 
zuweilen an Stelle der früheren taktmaͤßigen Mechaniſierung eine viel raf- 
finiertere Art des Intellekts: das letzte, was dem modernen Menſchen nach 
der Atomiſierung der Muſik noch unbewußt geblieben war, der Ausdruck 
des Zeibes, wird jetzt in das kalte Licht bloß analyſterender Logik gezerrt. 
Der Zeib des Kindes, des jungen Menſchen ſoll ſich in naiver Freude an 
der Eigenkraft und Vitalität ausſchwingen. Wird der Leib durch innere 
Konzentration ſeiner Verkrampfungen ledig, ſo wird, bei der Wechſel⸗ 
wirkung zwiſchen dem Körper und der ihn formenden Seele, auf die Dauer 
auch die Seele aus den durch Vererbung oder Erwerbung bedingten Trieb⸗ 
verdraͤngungen eines unnatuͤrlich gehemmten Gefuͤhlslebens in irgend⸗ 
welche Einſeitigkeiten zur natuͤrlichen Auswirkung ihrer Spannungen und 
damit zu einer Sublimierung chaotiſcher Triebkraͤfte im harmoniſchen Geiſte 
zuruͤckkehren. Siermit würde das Problem der Pſychoanalyſe ungeswun- 
gener gelöft als durch die im Notfall erforderliche wiſſenſchaftliche Me⸗ 
thode des den menſchlichen Organismus kennenden Seelenarztes. 

5. Durch Koͤnnen zum wWiſſen. Ein dem Leben und dem Geiſte inne 
wohnendes Urgeſetz draͤngt nach Schwingung und Form. Aus dem im 
Eigenrhythmus ſchwingenden Werkſchaffen, aus der Lebenserfahrung 
wird dem jungen Menſchen die Weisheit erwachſen. Die Spielgaben des 
Kindergartens, der Feld⸗ und Gartenbau, die Tonplaſtik, das Schaffen in 
der wWerkſtatt (Schloſſerei, Schreinerei, Metallarbeit der Schulſiedlung), 
der Zaboratoriumsunterricht in Phyſik und Chemie, geologiſche Ex- 
kurſionen ſchaffen die Beziehungen zu den ſogenannten bildenden Bünften 
(den Erſcheinungskuͤnſten: Zeichnen, Malerei, Bildhauerkunſt, Architek⸗ 
toni), zur Mathematik, zu den Naturwiſſenſchaften der Organik und Me⸗ 
chanik, zur Wirtſchaftsgeſchichte und Staatskunſt und endlich zur Erd⸗ 
kunde, die, an ſich keine eigentliche Wiſſenſchaft, als Zentral, Sach“ den 
ganzen Kosmos umgreift, ihrem Urſprungscharakter gemäß aber den 
Naturwiſſenſchaften näher ſteht als der ſogenannten Geiſteswiſſenſchaft *. 
Auch auf dieſem wege iſt uns das praktiſchere Ausland (vor allem die nor⸗ 
diſchen Staaten und Nordamerika: John Dewey) vorangegangen, waͤh⸗ 
rend die Idee auf Peſtalozzi und beſonders auf Froͤbel zuruͤckging und in 
Deutſchland für die Volksſchule zum erſten Male von Kerſchenſteiner folge; 
richtig ausgewertet wurde. 

Ein beſonderer Wert einer ſolchen Schulſiedlung wie der hier angedeu⸗ 


»Eine ſcharfe Trennung zwiſchen Natur / und Geiſteswiſſenſchaft gibt es aller⸗ 
dings nicht einmal in der Theorie, ebenſowenig wie die zwiſchen Wiſſenſchaft und 
Bunft. Wir erinnern nur an die Mathematik, die, wie alle Geiſteswiſſenſchaft, 
auch ihre abſtrakteſten Geſetze letzten Endes aus der ſinnlichen Wahrnehmung ber- 
geleitet hat. Oder an die Philoſophie, die ohne die ſchoͤpferiſche Kraft der Intuition 
Denk. Aunſt) als bloß formales Denken erſtarrte Logik wäre. 


Kulturzentren der Großſtadt 137 


teten beſteht noch darin, daß er den eigentuͤmlichen Wachstumoverhaͤlt · 
niſſen des Rindes weit mehr als bisher Rechnung tragen kann. Gemeint 
find jene raͤtſelhaften Erſcheinungen eines geiſtigen Ruͤckgangs, verbunden 
mir einer ſeltſamen Sochſpannung des Gefuͤhls und eines geſteigerten 
Taͤtigkeitsdranges, die etwa in das 6., 9., 13. und 16. Zebensjahr fallen 
und die man bisher mit Jahnwechſel, Erſcheinungen der Flegeljahre 
(I. und 2. Pubertät) abzutun pflegte. Die neuere Pſychologie (A. Buſe⸗ 
mann) ſucht den Grund in Wachstumsſtoͤrungen des Gehirns, das mit der 
uͤbrigen Koͤrperentwicklung in jenen Zeiten nicht gleichen Schritt haͤlt, und 
Fritz Klatt will den jungen Menſchen in dieſen Jahren der „Höben- 
entwicklung“ in ein Leben der Tat hineingeſtellt ſehen, während die rubi- 
geren Jahre der „Breitenentwicklung“ den Verſtand ſtaͤrker fördern ſollen. 


De Auf ban der Geiſteswiſſenſchaften und der weſenskuͤnſte: der 
Sprachen, der Kulturgeſchichte, der Religionswiſſenſchaft, Philoſophie, 
Muſik, Dichtung, Tanzkunſt, wobei es auch wieder Grenzgebiete zu den 
Naturwiſſenſchaften gibt, wie etwa die Sprachphyſiologie (Phonetik) oder 
die innere Geſetzmaͤßigkeit der Muſik (Kontrapunkt), erfolgt aus einem 
zweiten Bildungs fundament der neuen Schule, das aber gleich dem erſten, 
dem Werkſchaffen, auf Schwingung und Formung beruht: der 

6. Rhythmo⸗Dramatik: Mit der Rörperbildung (ſiehe 4. Abſchnitt) und 
über fie hinaus vermag fie in hervorragendem Maße den durch Vererbung 
und Erwerbung intellektualiſtiſch bereits verkrampften jungen Menſchen 
aus feiner Verbiegung zu befreien und feiner urſpruͤnglichen Natur, feinem 
Weſenskern wieder zum Durchbruch zu verhelfen, ihn ebenſo frei und 
hemmungslos ſich ſelbſt geſtalten zu laſſen, wie es in ihrem ungebrochenen 
Zeitenſinn der helleniſche Menſch der Antike und der gotiſche Menſch der 
mittelalterlichen Stadtſtaaten getan haben. Denn letztes Ziel der Menſchen⸗ 
bildung iſt nicht der Kuͤnſtler im bisherigen individualiſtiſchen Sinne, dem 
das Können, die Form oft Selbſtzweck war, fondern der reine Menſch, der 
feinen ganzen Zebensgehalt formt und verſchwendet für die anderen, in 
dem Künftlertum und Menſchſein eins geworden find. Und in jedem Men⸗ 
ſchen glimmt, zwar oft verſchuͤttet, der göttliche Funke der Schoͤpferkraft. 

Warum nun gerade die Rhythmo ⸗ Dramatik? Sie loͤſt nicht nur 
Gewalten aus, die den Menſchen bis in letzte Tiefen bewegen konnen. 
Sie macht auch den Zeib in ſeinem ganzen Ausdruck: mit Stimme, 
Sprache, Klang, Laut, Rhythmus, Dynamik, Börper wieder zu dem, was 
er urſpruͤnglich war, zu einem Inſtrument der Seele. Und ſie begreift alle 
andere Kunſt in fi. Sie iſt zugleich Weſenskunſt und Erſcheinungskunſt, 
wenn ſie auch nur den Augenblick in ſeiner fluͤchtigen Erſcheinung faßt. 
Sie iſt als leib⸗ſeelen geſtaltende: (pantomimifche, taͤnzeriſche und klang · 
ſchoͤpferiſche, mono · und polyphone, muſikaliſche) Kraft urhafte Kunſt, 
Sormung des vitalen, abgruͤndigen Seelenlebens; fie iſt als raumgeſtal⸗ 
Tat xvill Jo 


138 Leo Sußboeller 


tende: (plaſtiſch malende, dem Raum ſich hingebende und durchdringende, 
architektoniſch ſchoͤpferiſche) und als geiſtgeſtaltende: (ſprachformende, Dich⸗ 
tung ſchaffende) Kraft die formſtrenge Aunft des bewußten Beifteslebens. 
Dieſe Dramatik muß ſich im Zaienſpiel ſcharfe Grenzen ſetzen gegen das 
Berufstheater von heute einerſeits, mit dem fie innerlich wenig Beruͤh⸗ 
rungspunkte hat, und gegen die Dilettantenbuͤhne andererſeits, deren Wollen 
ſtets das Maß des Könnens uͤberſteigt. Das hohe Drama kann alſo im 
Einzelſpiel von der Zaienbuͤhne nur unter ganz beſonders guͤnſtigen Ver⸗ 
haͤltniſſen geſpielt werden. Das Puppenſpiel, das nach weismantel in den 
Kaſperleſiguren am beſten die Komik, in der Marionette den Zufall und im 
Schattenſpiel am beften den Ernſt ausdruͤckt ſiehe Leo Weismantel, Werk⸗ 
buch: Puppenſpiele; Buͤhnenvolksbundverlag] eignet ſich beſonders für 
die Gruppen der Schulſiedlung und fuͤr das Familienleben zu Sauſe; es ge⸗ 
hoͤrt nicht in den eigentlichen Kern dieſes Bereichs, iſt aber ſehr wertvoll 
und anregend.) Das Laienfpiel der einzelnen Gruppen, die im Wechſel, nach 
Neigung und Anlage, periodiſch für die ganze Schulgemeinde ſpielen, 
greift am beſten zu Dramen, deren Darſtellung noch nicht das ausgereifte 
Bönnen des berufenen Schauſpielers verlangt. Zunaͤchſt alſo zu dem 
Stegreifſpiel und zu dem Myſterienſpiel des Mittelalters, deſſen ſchlichte 
Einfalt heute nur noch von dem Kinde gelebt werden kann. In ſpaͤteren 
Jahren zu Bearbeitungen, die von dem Erlebnisgehalt unſerer Zeit durch⸗ 
blutet find. Alſo etwa zu Spielen wie Lipperts „Totentanz“, Weinrichs 
„Tänzer unſerer lieben Frau“ und „Tellſpiel der Schweizer Bauern“ oder 
Klingemanns „Till“ (Buͤbnenvolksbundverlag, Frankfurt) oder zu Mirbts 
„Gevatter Tod“ und „Spiel von Uri“ (Chriſtian Aaiſer ⸗Verlag, Muͤnchen) 
oder zu den Bewegungsſpielen von Martin Zuſerke (Verlag Adolf Saal, 
Lauenburg), oder zur Shakeſpearekomoͤdie. Auch die dramatiſterten Maͤr⸗ 
chen von Walter Blachetta („ZJaubergeige“, „Schweinehirt“) find in ihrer 
anſpruchsloſen Improviſationsmoͤglichkeit vor allem für 13—15 jährige 
junge Menſchen ſpielkraͤftig. 

Das hinreißende Pathos des Seroiſchen, des Tragiſchen, des Erhabenen 
aber iſt auch dem Laien moͤglich im Sprech ⸗ und Bewegungschor, der 
ebenfo wie der Vokalchor (Singgemeinde) und der Inſtrumentalchor (Or⸗ 
cheſter) von Angehoͤrigen der ganzen Schulſtedlung: von Anaben, Maͤd⸗ 
chen, Volkshochſchuͤlern, Erwerbsloſen und Eltern geſtaltet werden kann. 
Welch gewaltige, gemeinſchaftsbildende Urkraft darin ſteckt, das wird dem 
modernen Menſchen ahnbar, wenn er etwa die ungeſchulten proletariſchen 
Maſſenchoͤre in Tollerſchen Dramen oder gefeilte Sprechchoͤre der Jugend⸗ 
bewegung und der Akademikerſchaft in Goethes „Fauſt“ und in Schillers 
„Braut von Meſſina“ hoͤren kann. (Zwar fehlte hierbei bisher die 
organiſche, entfeſſelte und doch in einem Gemeinſchaftswillen gebaͤndigte 
Bewegung der Maſſen; denn der Leib gehorcht noch am wenigſten den 
Menfchen unſeres Zeitgeiſtes.) Und wie im Vokal ⸗ und Inſtrumentalchor 


Kulturzentren der Großſtadt | 139 


die Berufenen ſich zu kleinen Spielgruppen (Trios, Quartetten) zufammen- 
finden und die Berufenſten die fuͤhrenden Einzelſtimmen darſtellen, ſo 
werden aus dem Sprech und Bewegungschor der Laien (nach dem Vor⸗ 
bild der Antike) die Begabteſten als die Chorfuͤhrer und die berufenen 
Schauſpieler des hohen Dramas organiſch hervorgehen. Solange die dra⸗ 
matiſche Dichtung unſerer Zeit aber ihren Ausdruck noch nicht im Ge⸗ 
meinſchaftschor gefunden hat, muͤſſen uns im weſentlichen das antike Chor⸗ 
drama und die hohe Bewegungskunſt der Shakeſpeareſchen Tragoͤdie Vor⸗ 
bild ſein. Gerade Shakeſpeare iſt ja in ſeiner Umfaſſung ausklingender 
Typik der Gemeinſchaft und ſtark erwachender Beſinnung des Individu⸗ 
ums der vorbildliche Dramatiker geworden fuͤr die Syntheſe unſerer neu 
anbrechenden Zeit. Und ſo waͤre der Kreis, von dem wir ausgingen, in ſich 
geſchloſſen. 

Letztes dramatiſches Ziel der Schulfiedlung koͤnnte alſo die allmaͤhliche 
Geſtaltwerdung einer Shakeſpearebuͤhne ſein: ohne Wettbewerb mit dem 
Berufstheater, deſſen Stoffe und Ziele heute ja in der Sauptſache ganz 
anderswo liegen, koͤnnte dann von hier aus der Ausdruckswille einer in 
ſich geſchloſſenen Gemeinde auch weiten, der Schulſiedlung durch die Idee 
verbundenen Volkskreiſen zugaͤnglich werden. | 

7. Noch ein letztes Wort ift über die Muſik zu ſagen, auf deren natur- 
bedingten Zuſammenhang mit der Rhythmo⸗ Dramatik, mit Sprache und 
Tanz auf der gemeinſamen Grundlage des Rhythmus ſchon hingewieſen 
wurde. Die Muſik iſt ja ein Bildungselement, das Goethe in feiner „paͤ⸗ 
dagogiſchen Provinz“ ſogar in den Mittelpunkt der Bildung geſtellt wiſſen 
wollte, und feine Idee wurde Tat in der Freien Schulgemeinde zu Wickers · 
dorf, die auch dem dramatiſchen Bildungselement (: in den Bewegungs- 
ſpielen ihres fruheren Mittraͤgers M. Zuſerke und der Shakeſpeare⸗ 
komòͤdie; zwar einſeitig) weiten Spielraum gewaͤhrte. In unferer Schul⸗ 
ſiedlung ſoll die Muſik ebenſowenig wie die Dramatik ein ausgefeiltes 
Bönnen zum allgemein verbindlichen Ziele haben, wenn auch der Wille 
zu ſtrenger Durchformung, verbunden mit wirklichem Spieltrieb, ſtets vor; 
handen fein muß. Geiſtige Muſikalitaͤt zu wecken, die inneren Form⸗ 
elemente der Muſik kennen zu lernen, wird den Begnadeteren vorbehalten 
bleiben. Der junge Menſch ſoll gute Muſik hoͤren, leben! Durch taͤgliches 
Vorſpiel, in Singchor und Grcheſter, in Vokal ⸗ und Streichquartetten. 
Muſik nicht erleben, d. h. bloß nachleben, ſondern leben. 


Schluß wort. Die Koſten für eine Derfuchsfchule der hier gezeichneten Art 
koͤnnen bei dem nur ſtufenweiſe und über einen Zeitraum von Jahren ſich 
erſtreckenden Auf bau, dank der billigen Arbeitskraft und der ſtaatlichen 
Unterſtůtzung durch die Erwerbsloſenfuͤrſorge, nicht allzu beträchtlich 
Vgl. hierzu auch die Beſtrebungen von Vilma Moͤnckeberg. Jetzt Leiter der 
„Schule am Meer“ auf der Inſel Juiſt. 

19° 


180 Umſchau 


werden. Andererfeits aber koͤnnten auf dieſe Weife an der Peripherie der 
Großſtadt Kulturzentren erſtehen von aͤhnlicher Bedeutung, wie fie die 
Pfarrei im Mittelalter beſaß. Wie dieſe die Sammlunge- und Ausſtrah ; 
lungszentrale für alle ſchoͤpferiſchen Kräfte der Gemeinde war, fo koͤnnte 
heute die in ſich geſchloſſene und trotzdem nicht verſchloſſene Caienſchule 
als Träger eines Weltbildes (: der katholiſchen Idee der Wertgebundenbeit 
und Gottesſehnſucht, der evangeliſchen Freiheit des Chriſtenmenſchen, der 
religiös · ſozialiſtiſchen Menſchheitserloͤſung durch den ſich ſelbſt überwin- 
denden Klaſſenkampf, der prometheiſchen Selbſtverantwortung und Gpfer⸗ 
bereitſchaft der Freien Jugendbewegung) in eigengepraͤgten Formen kultur⸗ 
ſchöͤpferiſch wirken und ſich mit den weltanſchaulich andersgerichteten 
Schulgemeinden wechſelſeitig befruchten im freien Geſtalten der Kräfte. 


; man ſpricht heutzutage viel von einer Kriſis der 
Organiſche Kultur europaͤiſchen Kultur. Kriſis bedeutet einen Über ⸗ 


gangszuſtand, der zu Geſundung oder Siechtum und Tod fuhrt. 

Nach Spenglers Entwicklungsſchema kann es eine eigentliche Rulturkrife nicht 
geben: was wir heute ſehen ift das unvermeidliche Einmünden Europas in 
Greiſenalter und Sterilitaͤt. Es ift das Abſterben ganzer Seelenkomplexe im 
menſchlichen Innern, die dem Überwuchern des Intellekts zum Opfer fallen, die 
fortlaufende und in jeder Rultur unvermeidliche Rationaliſierung aller Vorgänge 
des menſchlichen Daſeins infolge der Erſchoͤpfung der ſeeliſchen Möglichkeiten der 
Kultur. Jede Bulturfeele iſt nach Spengler endlich und muß nach Entfaltung 
ihrer Reime dem Tode, der Erſtarrung anheimfallen. Der tiefinnerliche Schoͤp⸗ 
fungs · und Formungsdrang, der aus dem chaotiſch / brauenden Urgrunde der Seele 
dringt, beginnt im Verlaufe der Kultur einer anders gearteten Triebrichtung zu 
weichen: die Ratio den Dingen der Außenwelt aufzusräden, die Natur durch ihre 
eigenen Geſetze zu unterwerfen und nutzbar zu machen. 

Spengler hat in großartiger Intuition eine geſchloſſene Geſchichtsphiloſophie 
geſchaffen, die unbedingt zwingend iſt, ſofern man ſeine Denkmethode als richtig 
anerkennt: eine geſetzmaͤßige Analogie aller Rulturen und damit ein einziges, im 
Großen unabaͤnderliches Schema für ihre Schickſale zu ſchaffen. Spenglers Ge · 
dankengang führt zu einer Art von Fatalismus. Unentrinnbarkeit einem vorher; 
beſtimmten Schickſal gegenüber, das im Weſen des Menſchen liegt, bedingt tra · 
giſche Reſignation hinſichtlich des Ganges der Kultur. 

Andere Denker beſtreiten ſolche Wotwendigkeiten in der Geſchichte. Siſtoriſche 
Schickſale ſollen abfolut individuell fein, ein Vorausbeſtimmen daher unmöglich. 

Spengler glaubt, daß die Seelenkraͤfte des heutigen Menſchen im Verſiegen ſind. 
Manche feiner Gegner meinen, die bisherige Entwicklung babe fie nur verfchättet, 
weil fie fie mißachtet habe. Die tiefe Sehnſucht nach Vertiefung des Weltblides, 
die die heutige abendlaͤndiſche Kulturwelt durchzieht, ſcheint ihnen Recht geben zu 


R. v. Engelhardt: Organiſche Kultur, Deutſche Lebensaufgaben im Lichte der 
Biologie. Verlag von Lehmann, Münden 1925. 


umſchau 141 


wollen. Der Juſtand, in dem unſere geiſtige und ſeeliſche Entwicklung angelangt 
iſt, erzeugt nicht nur bei begnadeten Geiſtern, ſondern auch in allen Suchenden ein 
Gefühl der Leere und Unbefriedigung, das eine Möglichkeit zu neuen Wegen zu 
eröffnen ſcheint. Baum eine andere Jeit kann ſich mit unferer Gegenwart an Un- 
ſicherheit den bisherigen Werten gegenüber meſſen. 

Es ſcheint wohl, als ob die Zeit reif fei, inbrüanftig einem neuen Glauben, einer 
neuen Wertſetzung, einer Verankerung des arm gewordenen Innenlebens in 
großeren Tiefen zu folgen. 

Der Menſch unter uͤberragender Führung feines Intellekts hat ſich ſelbſt ver⸗ 
loren. Sein Leben iſt blutleer geworden. Sein Suchen geht nach neuer Ver⸗ 
bindung feines Lebens mit dem Bosmos. Die mechaniſtiſche Naturwiſſenſchaft 
des 19. Jahrhunderts — ein Symptom der gefamten Bulturentwidlung, — mit 
der ſich der moderne Menſch feinen Weltaſpekt ſchuf, bat ihn vom Bosmos, von 
der Natur ſelbſt geloͤſt, indem quantitative Betrachtung, von dort ausgehend, in 
ſeinem ganzen Denken dominierend wurde. Die Stimmen der Denker, die die Natur 
anders anſchauten und den Blick in die Tiefe fuhren wollten, verhallten. Es iſt 
ein Symptom der kulturellen Brife der Gegenwart, daß die Blicke der Suchenden, 
Wiſſenſchaftler und Laien, ſich wieder in dieſelbe, damals in ihrer Bedeutung nicht 
erkannte, Richtung wenden und im Erſchauen und Erforſchen der tiefſten Ur⸗ 
grunde der Natur an die Weltraͤtſel vorzudringen ſuchen. Wir können ſtolz darauf 
fein, daß einſt Balten, wie A. E. von Baer und von Bunge, ſich gegen die herr ⸗ 
ſchende, ausſchließlich mechaniſtiſche Betrachtung der Natur gewandt haben und 
ibr tiefftes und geheimnis vollſtes Wirken zu ergründen ſuchten. Ihre Nachfolger, 
unter denen ſich Jakob von Uexkuell auszeichnet, find auf dem Wege, die Grund- 
lagen eines Weltbildes zu ſchaffen. In ihre Reihen tritt mit feinem ſoeben er ⸗ 
ſchienenen Buche „Organiſche Kultur. Deutſche Kebensaufgaben im 
Cichte der Biologie”, Dr. Roderich von Engelhardt“. 

Sein langes Wirken als Vorkaͤmpfer gegen mechaniſtiſche Verflachung der 
Aultur hat ibm bereits einen weiten Anhaͤngerkreis außerhalb und innerhalb 
unſerer Seimat verſchafft. Mit Dankbarkeit empfangen wir fein Buch, das uns in 
kuͤnſtleriſch ſchoͤner Form das Fazit feines Denkens bietet. Dr. von Engelhardts 
Vorträge in Riga und Reval im Serbſt 1923 im Juſammenhang mit ber „Menſch“. 
ausſtellung des Deutſchen Sygiene-Mufeums ſtehen den Teilnehmern noch in un- 
geſchwaͤchter Erinnerung. Es bedeutete ein Erlebnis, feinen Gedankengaͤngen zu 
folgen. An die letzten Dinge des Menſchlichen, der Natur zu rühren, die Ehrfurcht 
vor der Groͤße dieſer Dinge zu wecken, dazu gehort ſtets eine gluͤckliche Verbindung 
von kuͤnſtleriſch · intuitivem Erſchauen und wiſſenſchaftlicher Durchbildung. Dr. 
von engel hardts Gedanken führen in eine außerordentliche Weite. Vom Natur ⸗ 
wiſſenſchaftlich · Biologiſchen ausgehend greifen fie mitten in die großen Kultur 
probleme unſerer Jeit hinein. Man konnte als Motto der „Organiſchen Kultur“ 
das von Engelhardt zitierte wunderbare Wort Giordano Brunos ſetzen: „Auf der 
Grenze zwiſchen Jeitlichkeit und Ewigkeit, zwiſchen Urbild und Einzelgeſchöpf, 
zwifchen Verſtandeswelt und Sinnenwelt, überall an dem Weſen beider teil ⸗ 
nehmend und gleichſam die Lucke ausfuͤllend zwiſchen den ſich fliehenden Enden: 
fo aufgerichtet am Sorizonte der Natur ſteht der Menſch.“ 

Ein tiefes Menſchheitsproblem ſoll in dem Buche Engelhardts der CLoͤſung 
»Verlag von Lehmann, München 1925. geb. m 4.50, geb. M 3.20. 


142 Umſchau 


naͤber gebracht werden: zwei Bräfte im Menſchen — Intellekt und Intuition — 
führen ihn in zwei auseinandertreibende Richtungen, die gleichermaßen über- 
zeugend find. Auf der einen Seite das der mechaniſchen Rauſalitaͤt unterliegende 
„verftandesmäßige”, wertfreie Denken, das den Menſchen ſich ſelbſt als ein un⸗ 
verbruͤchlichen Geſetzen unterliegendes, daher un verantwortliches Weſen, zeigt 
und andererſeits das Denken, durch Anſchauung, Intuition, kos miſches Gefuͤhl ge · 
leitet, das ihn im eigenen Spiegelbilde als verantwortliche, nach Werten zu 
meſſende Perſoͤnlichkeit erſcheinen laͤßt, voll Eigenwert, mit einem Teil feines 
Weſens im Ewigen verankert. Die Diskrepanz dieſer beiden Einſtellungen gibt 
unſerer heutigen Rulturepoche ihre Unſicherheit und Ratloſigkeit. Verſtandes ; 
mäßige Jergliederung und intuitives Schauen fteben ſich als die zwei großen 
Wege menſchlichen Erkennens und Verſtehens gegenüber. Seute iſt der zweite 
weg durch Überwiegen intellektualiſtiſcher Betrachtung der Dinge faſt ausge · 
ſchaltet. „Verſtand“ im Goetheſchen Sinne kann die Dinge nur in Reihen und 
Teile auflöfen, und beraubt fie damit ihres Lebens, nur „Vernunft“ oder Intui⸗ 
tion kann das Organiſche, das Lebendige mit umfaſſendem Blicke umſpannen und 
als wirklich lebende Wirklichkeit in ſich aufnehmen. Die Tiefen liegen aber im 
Organiſchen, Lebendigen. Die Biologie, die Lehre vom Leben, iſt für den heutigen 
Menſchen das Gebiet, an dem er wieder feinen Blick für das Organiſche entwickeln 
kann und verſtehen lernen kann, daß nicht Mechanismen die Welt regieren. 

Der Sinn des Menſchen fuͤr das Organiſche ſoll wieder vordringen und den Auf⸗ 
bau auch der Geſellſchaft beberrſchen. Engelhardt trifft ſich hierin mit der mo · 
dernen Soziologie, die den Begriff des Organiſchen zu ihrem Jeitgedanken ge · 
macht hat. 

Die Geſetze des Lebens ſollen wieder zur Geltung kommen, nachdem unorga⸗ 
niſches Denken im politiſchen, ſozialen, wiſſenſchaftlichen Leben Verarmung und 
Verflachung hervorgebracht hat. Die deutſche Kultur hat in der Weimarer Epoche 
uns ein Vorbild geſchaffen, an das unfere Zeit wieder anknüpfen muß, um den 
Weg der Geſundung zu finden. Organiſches Denken, von tiefer Naturkenntnis 
ausgehend, beſtimmte die Geiſtesſtruktur der Haſſiſchen Jeit. 

R. v. Engelhardt führt das warnende Wort des chineſiſchen Weiſen Au · Sung · 
Ming an: „Europa wird an dieſem Kriege zugrunde gehen, wenn es fi nicht auf 
den Weiſeſten beſinnt, den ihm das verfloſſene Jahrhundert geſchenkt hat, auf 
Goethe.“ Die intellektualiſtiſche Geiſteseinſtellung, die den Strukturbegriff des 
Organiſchen verloren hat, führte zu der Jerfahrenheit im politiſchen und ſozialen 
Leben der Gegenwart, der Vertrag von Verſailles mit feiner Verbildung Europas 
und der Bolſchewis mus mit der Trotzkiſchen Parole: „er werde nicht fruher ruhen, 
als bis alle ſozialen Verhaͤltniſſe den Geſetzen der Vernunft (im Goetheſchen 
Sinne — „ Verſtand“ angepaßt ſeien“, find Kinder dieſer falſchen intellektualiſti⸗ 
ſchen Grundeinſtellung gegenuber Problemen der lebendigen Wirklichkeit. Rechen; 
haft ſollen politiſch · ſoziale Verhaͤltniſſe aufgebaut werden. Aber unendlich viel 
Fakten des Lebens laſſen ſich nicht rechen haft, ſondern nur in intuitiv ⸗ genialer 
Weiſe erfaſſen. Der Intellektualismus, ſelbſt lebensfremd, kann Leben nicht or- 
ganiſch geſtalten. Rationalismus iſt Quantitaͤtsdenken. Dagegen braucht unſere 
Zeit wertbewußtes Qualitaͤtsdenken. 

Nur das Einfuhren ſtarker Wertſkalen in das Urteil unſerer Jeit — wertſtalen, 
die metaphyſiſch verankert find — konnte die ſoziale Kriſis der Jeit befeitigen. 


umſchau 113 


Fuhren und Gefuͤhrtwerden muß ſich nach Wertverſchiedenheit beſtimmen. Nur 
ein Aufbau nach Wertordnung kann dem ſozialen Börper die Struktur geben, die 
den Geſetzen des Lebens entſpricht. 

R. v. Engel hardts „Organiſche Kultur“ eröffnet neue Perſpektiven kultureller 
Einkehr und Entwicklung. Nicht Reſignation ſpricht aus feinen Gedanken, fon- 
dern der Wille, den Kampf für Befundung zu führen. Gewiß liegt ein ſchwieriges 
Problem darin, ob der heutige Menſch trotz ſeines Sehnens und Strebens noch 
den Weg zuruͤck „zu den Müttern“, zu der Begründung feines Innenlebens auf 
das RAosmiſch ⸗ Metaphyſiſche finden kann, ob eine Wiedererweckung organiſchen 
Sinnes und intuitiven Denkens noch möglich iſt, ob nicht der Weg der Rationali- 
ſierung der Kultur bereits am Scheidewege vorbeigefuͤhrt bat. R. v. Engelhardt 
trägt in ſich einen tiefen Glauben an dieſe Möglichkeit. Das gibt feinem Buche, 
wie feinem ganzen Wirken das Mitreißende, das die Vorbedingung für den Er 
folg iſt. 

Ein tiefes und dringendes Menſchheitsproblem hat Engelhardt in feinem Buche 
aufgerollt. Der Iwieſpalt, der ſich durch unfere gegenwärtige Bulturpbafe zieht, 
muß uͤberbruͤckt werden, wenn nicht Spenglers Prophezeiung in Erfüllung geben 
ſoll. Engelhardt ſucht den Weg zu ber Brehde zu bahnen, die dieſen Iwiefpalt 
5 ſoll. Zamilkar von ee 

; , In zwei weſentlich verſchiedenen 3 ließ Beyfer: 

Das Ebe. Buch ling feinen Gedanken einer „Schule der Weisheit” 
Geſtalt gewinnen: in den für einen kleinen Kreis beſtimmten Exerzitien und den 
alljaͤhrlichen offentlichen Tagungen im Serbſt. Die Exerzitien hat man fallen laſſen. 
Diefe Meditationsuͤbungen, im Grunde ein wunderlicher Verſuch der Verquickung 
von Coueè, Ignaz und Noga, haben auf mich gewirkt wie eine Farce. Obgleich 
um der Gerechtigkeit willen geſagt werden muß, daß privatim und öffentlich 
auch andere Wirkungen bezeugt wurden, daß dort Menſchen, die vor dem Selbſt⸗ 
mord ſtanden, zu neuer Lebenskraft und neuem Lebensmut kamen, daß andere, 
die unter der modernen Jerſtuͤckelung und Jerfaſerung ihrer Perſoͤnlichkeit ver ⸗ 
zweifelt litten und innerlich bankerott waren, „ibrem Ich eine immer finnvollere 
Verein heitlichung“ geben konnten und das Erlebnis jener vier Tage mit dem 
Danteſchen Incipit vita nuove überſchrieben (vergleiche O. A. 5. Schmitz „Pfv: 
choanalyſe und Noga“, Reichl 1923), obgleich dies alles ehrliche Jeugniſſe find, 
fo beweiſen fie nichts. Auch Seilsarmee und Christian science Fönnen ſich ahnlicher 
Erfolge rühmen. In die Reihe dieſer bedenklichen Erſcheinungen gehörten die 
Exerzitien, nur auf gebildeterer, ſozuſagen monbaͤner Stufe. Daß Re e 
wurden, iſt kein Verluſt. 

Die Serbſttagungen waren von Anfang an das offenbar anſpruchsloſere und 
fruchtbarere Unternehmen: bier bat Beyferling eine weithin ſichtbare und erbo- 
bene Plattform zur Behandlung der letzten Welt · und Menſchheits probleme ge · 
ſchaffen, gleich weit entfernt von weltanſchaulichem Dilettantismus wie von nur 
gelebrter und unfruchtbarer philoſophiſcher Spezialeroͤrterung. Einem Vortrags: 
zyklus ohne zerredende Diskuſſionen liegt ein von Beyferling gewähltes weites 
und bedeutſames Thema zugrunde. Spannung und Rhythmus, Werden und Ver · 
gehen, Freiheit und Norm waren die letzten (enthalten i. d. Jahrbuͤchern der 
Schule der Weisheit, „Der Leuchter“, Reichl, Darmſtadt). Von den verſchiedenen 


144 umſchau 


Seiten ihres Fach · oder Lebensgebietes berantretend, ſprechen die einzelnen Red⸗ 
ner unabhaͤngig von einander zu dieſem Leitmotiv, und ſo ergibt ſich, wenn auch 
nicht, wie Reyferling ſagt, ein Orcheſterwerk des Geiſtes, fo doch eine intereſſante 
Variationenreibhe über ein Thema. Bei der zum größten Teil gluͤcklichen Auswahl 
der Redner und bei der Überlegenheit, mit der Bepferling den Grundakkord ein- 
leitend anſchlaͤgt und endend nach dem Durchgang durch die einzelnen Stimmen 
mit zehnfacher Bedeutung geſaͤttigt wiederholt und geläutert erklingen läßt, ſchloß 
ſich bis her jede Tagung zu einem bedeutenden, klaͤrenden und vertiefenden geiſtigen 
Ereignis zuſammen. 

In ganz aͤbnlicher Weiſe ſtellt ſich uns das Ehe ⸗Buchꝰ dar, das Keyſerling an- 
geregt und herausgegeben hat als „eine neue Sinngebung im Juſammenklang der 
Stimmen führender Jeitgenoſſen“. 

Die Ehe iſt wie fo vieles in unſerer Zeit fragwuͤrdig geworden. Aber man kann 
gerade nach der Lektuͤre dieſes Buches die Entdeckung machen, daß es durchaus 
nicht eine Verfallserſcheinung zu ſein braucht, wenn Dinge oder Inſtitutionen 
problematiſch werden. Im Gegenteil. Nur deshalb genügt der bisherige Begriff 
der Ehe nicht mehr, weil wir hohere Maßſtaͤbe anzulegen gewohnt ſind ſowohl an 
die Eheſchließenden wie an den Sinn der Einrichtung, an das, was ſich in der Ehe 
als Lebenswert eigentlich erfüllen ſoll darüber hinaus, daß fie eine Wirtſchafts · 
gemeinſchaft, eine Geſchlechtsgemeinſchaft und eine Gemeinſchaft zur Aufzucht 
der naͤchſten Generation ſei. Nirgends fo ſchoͤn wie hier exempliſiziert ſich Aeyſer 
lings Gedanke, fein einziger philoſophiſcher, in unzaͤhligen Variationen wieder 
bolter Gedanke vom Sinn: daß der Sinn, die lebendige Vorſtellung, Wirklichkeit 
ſchaffe, zur Verwirklichung geradezu draͤnge. Dieſen Sinn der Ehe zu Flären, auf- 
zuhellen, eindringlich zu machen, find alle die Arbeiten hier zuſammengefaßt, deren 
Niveau, wenn auch im einzelnen ungleich, derartig iſt, daß man das Buch mit 
Freude und Nutzen leſen wird. 

Wir erfahren uber die Ehe in Raum und Jeit von den am gruͤndlichſten etbnno- 
graphiſch und hiſtoriſch Orientierten Weſentliches, uber die indiſche (Tagore), 
chineſiſche (Rich. Wilhelm), amerikaniſche (Beatrice Sinkle), proletariſche (Paul 
Ernſt), buͤrgerliche (Jakob Waſſermann), romantiſche Ehe (Ricarda Such), um 
nur einiges zu nennen; Bedeutenderes noch wird uͤber die Ehe als zeitloſes, d. h. als 
auch derzeitiges, als unſer Problem gefagt: vom pſychologiſchen Standpunkt aus 
(Ernſt Aretſchmer), von der Seite der Pſychoanalyſe (Sattingberg, C. G. Jung, Alfred 
Adler), von Liebe und Ehe als Runſt, von der Ehe als Aufgabe. Man wird keine 
Inhaltsangabe im Einzelnen erwarten. Uberraſchend iſt der Gleichklanz im hoben 
Ernſt der Auffaſſung, der aus allen Arbeiten herauszuhoͤren iſt. Als eine echte Idee 
liegt die Ehe eigentlich ſtets noch vor uns, als eine einmalig zu bedenkende und immer 
neu zu bewaͤltigende Aufgabe. Das, was alle ſtillſchweigend oder ausgeſprochen als 
das Weſen der Ebe anerkennen — von der in dieſem Areis ſeltſamen Bontraft- 
ſtimme Paul Dahlkes abgeſehen, der als Buddhtſt naturlich wie er die Welt ver- 
neint auch die Ehe als „Feſſel“ mit verneinen muß — konnte man mit zwei goe 
theſchen Begriffen bezeichnen: als Polarität und Steigerung, den beiden recht eigent · 
lich dialektiſchen Begriffen. Mit der Ehe, konnte man fagen, beginnt die lebendige 
Dialektik der menſchlichen Geſellſchaft. In dem ſehr klugen und ſchoͤnen ein- 
leitenden Aufſatz Beyferlings iſt das Grundlegende ausgefuhrt: Die Ehe iſt unter 
»Wiels Aampmann Verlag, Celle, 1925. 


umſchau 145 


dem Bilde der Ellipſe mit zwei Brennpunkten geſehen, die nie zuſammenfallen 
koͤnnen oder ſollen. Denn Ehe iſt im weſentlichen Spannung, nicht Gluͤckszuſtand 
im ublichen Sinne, eher tragiſcher Juſtand. „In der Paradoxie des Anein ; 
andergebundenſeins zweier unanfechtbarer Ein ſamkeiten liegt der eigentliche Sinn 
der Ehe. In ihr wird die Tragik alles Lebens dem Menſchen als perfönlicdhes 
Problem bewußt.” (Sier ſteht auch der ſchoͤne Satz von ſeltener Tiefe: „Mit der 
akzeptierten Tragik beginnt erſt das Menſchenleben.“) So iſt die Ehe bekannteſtes 
uͤberliefertes Symbol nicht nur der zwiſchenmenſchlichen, ſondern auch der zwifchen- 
dinglichen Bezüge, der kosmiſchen Jugehoͤrigkeit des Menſchen. Die Urgegebenheit 
Ich und die Welt findet in der Ehe nicht das einzige, aber eins der Flarften Beiſpiele. 
Diefe Urgegebenheit ift hier auf fo kleinen Raum, in fo unmittelbare Naͤhe des 
Einzelnen gedrängt, muß in fo Hleiner Arena ausgetragen werden, daß fie jeder 
erleben kann und muß, der ihrer ſonſt im Blick auf das Daſein nicht inne wird. 
man ſieht, wie tief der Sinn der Ehe hier fundiert iſt: Die Ehe geradezu als „mo · 
raliſche Anſtalt“ erfaßt, als Erziehung zur Würde des Menſchen. Menſchen · und 
Weltklugheit ſpricht aus Reyferlings Ausführungen über die Gattenwahl ebenſo 
wie aus denen uber die Bunft des Verheiratetſeins. 

Alles in allem: ein leſenswertes Buch, ein dankenswertes und manchem Ein ⸗ 
zelnen wohl foͤrderliches Unternehmen. 

Wer nach den verſchiedenartigen Eindruͤcken, die die Lektuͤre dieſes Ehebuches 
bringt und die zuletzt eine ahnliche Wirkung auf das geiſtige Auge ausüben wie der 
Anblick eines buntfarbig bemalten gedrehten Kreiſels: das Grau nicht der Ent; 
taͤuſchung aber doch der Ermüdung und eines gewiſſen Überdruffes an der Be ⸗ 
handlung der gleichen Frage, wer am Schluß ſich nach einem volltönenden und 
knappen Wort der Weisheit über all diefe Dinge ſehnt, der ſchlage im Jarathuſtra 
das Aapitel von Rind und Ehe auf oder höre die folgenden beiden Abſchnitte 
aus der „Deutſchen Lehre“ von Rudolf Pannwitz: 

„Euer beider liebe ſei ein gleichnis der liebe und eure liebe ein gleichnis des lebens 
und euer leben ein gleichnis des daſeins und euer daſein ein gleichnis der ewigkeit: 
ſonſt vereinzelt ihr euch.“ (S. 303 77.) 

„Fordert ja nicht das unbedingte noch hoffet vom unlöslichen euch zu erlöſen ! 
zwei einſamkeiten vermäblen fi keine einſamkeit verliert fi. ſonſt ginget ihr ja 
ein jedes ſich ſelbſt verloren und behieltet dem andern nichts zu ſchenken. dies alſo 
verdenket einander / nicht genuůge euch einander wohlzutun. feiet nicht immer zu · 
ſammen! fei ein jeder viel für ſich — auch mit dem herzen | auf daß eure tiefen ſich 
erneuern und emporquellen und ihr reichlicher einander füllen mögt. zu viele 
reibung und gemeinfame luft uͤberreizt daß man alles eins vom andern erwarte. 
leben aber iſt loͤſung und unloͤsliches / nur tod iſt loͤſ ung allein. jedoch der Menſch 
ſtirbt nur einmal (S. 310/128.) 

Sierin iſt das xiefſte auf einen Punkt zuſammengepreßt, worüber ſich das Ehe; 
buch auf 400 Seiten vielſtimmig verbreitet. Paul Wegwitz 


Georg Brandes, Hauptſtroͤmungen der 5 5 18 Nr 
0 n n es 
Literatur des neunzehnten Jahrhunderts] Srandes 5 


in einem fruheren Sefte der „Tat“ beſprochen habe, bleibt mir noch übrig, auch 
»Dritter Band: 5. Die romantiſche Schule in Frankreich. 6. Das junge Deutſch ; 


138 umſchau 


dem letzten abſchließenden Band des geſamten Werkes, der ſoeben berausgelom- 
men ift, mit einigen Worten anzuzeigen. Sie konnen auch bier nicht anders als 
im Tone des böchften Lobes gehalten fein. Der dritte Band ſchließt ſich wuͤrdig 
feinen beiden Vorgängern an. Er behandelt die franzoͤſiſche Romantik der zwan⸗ 
ziger bis fünfziger Jahre ſowie das junge Deutſchland. Mit der bekannten Meiſter · 
ſchaft legt Brandes auch hier zunaͤchſt wieder die geſchichtlichen Vorausſetzungen 
dar, die der ſog. romantiſchen Schule in Frankreich zugrunde liegen: die Umwaͤl⸗ 
zungen der Revolution, die Kriege des Aaiſerreichs, die Erſchlaffung unter der 
Regierung Ludwigs XVIIL Mit Karl X. beginnt das Jeitalter der kirchlichen Real: 
tion und wird abgelöft vom Buͤrgerkoͤnigtum. Der Kapitalismus fängt an, feine 
Macht zu entfalten. Die Jagd nach dem Geld, die Proſa der ſozialen Frage ver · 
draͤngt die revolutionaͤre und kriegeriſche CLeidenſchaft der eben vergangenen Zeit. 
Der von der Kirche unterdruͤckte Freiheitsdrang bemaͤchtigt ſich der neuen Jugend 
und bewirkt die Abkehr von der noch eben gehegten Schwaͤrmerei für den Aatho · 
lizis mus, die Bönigsgewalt und das Mittelalter. Man beginnt, in der Literatur 
den Zwang der bisherigen Regeln abzuwerfen und gefällt ſich, empört über das 
Grau in Grau, das „Juſtemilieu“ des Bürgerköͤnigtums, in gluͤhender Verachtung 
des „Bourgeois“ und der offentlichen Meinung, in der Vergoͤtterung der zuͤgelloſen 
Ceidenſchaft und der ungebundenen Genialitaͤt. Dazu kommt der Einfluß des Aus · 
landes. Shakeſpeare, Scott, Byron und, wenn auch in geringerem Maße, Goethe 
und E. T. A. Soffmann finden eifrige Leſer und Bewunderer. Wieder einmal wird 
„Natur und Wahrheit“ die Lofung eines Jeitalters, und mit der Abſage an die 
Proſa des Lebens verbindet ſich der Sang zum Abſonderlichen, zur Unnatur, zu 
prunkender Vortragskunſt und die Aucht in das Reich einer phantaſtiſchen, er 
traͤumten Wirklichkeit. Charles Wodier ſchlaͤgt die Tone Hoffmanns an und wird 
der Schutzpatron der neuen Schule. Andre Chenier gibt ihr die lyriſche Weihe: er 
laßt das Haſſiſche Altertum in eigentämlicher neuer Färbung aufſtrahlen. Unter 
feinem Einfluſſe ftebt Alfred de Vigny. Aber ſchon übernimmt Victor Sugo die 
Führung der Schule und loͤſt mit feinen in orientaliſche Farbenpracht und gluͤhende 
Sinnlichkeit getauchten Verſen, ſeinen romantiſchen Dramen einen Sturm der 
Begeifterung in feinem Volke aus. Das bleiche Dichterantlitz Alfred de Muſſets 
taucht vor den Augen des Leſers auf. Weltſchmerzlich und blafiert, ein ausſchwei ; 
fender Benüäßling, der, fruͤh enttaͤuſcht, unbefriedigt, nach immer neuen Reizen 
ſucht, it er nichtsdeſtoweniger der Sänger der füßeften Verſe, die je in Frankreich 
gedichtet ſind. Aber dann geraͤt er unter den Einfluß der genialen George Sand 
und wird nun ebenſo ein anderer, ein mehr maͤnnlicher und zielbewußter und ge⸗ 
reifterer Dichter, wie jene durch ihn geadelt wird und jetzt erſt den Gipfel ihrer 
Schaffenskraft erklimmt. Neben beiden nimmt ſich Balzac als ihr Gegenpol aus. 
Er will das Leben ſchildern in feiner ganzen Brutalität und Rückſichtsloſigkeit, 
den Menſchen ungeſchminkt vor feine Leſer hinſtellen, fein Jeitalter, ganz Frank. 
reich ſoll in ſeinen Romanen wie in einem Spiegel aufgefangen werden. Er greift 
dem ſpaͤteren Naturalismus eines Jola und ſeiner Genoſſen vor und wird ſeiner⸗ 
feits wiederum ergaͤnzt durch Beyle, der ſtatt der pſychologiſch gearteten Charakter · 
ſchilderungen Balzacs, das Gebiet des vöoͤlkeryſychologiſchen Romanes pflegt. 
Merimee iſt beſtrebt, Frankreich den geſchichtlichen Roman zu geben. Theophile 
land. Vom Verfaſſer neu bearbeitet, endgültige Ausgabe. Erich Reiß Verlag, 
Berlin 1924. 


umſchau | 187 


Gautier ragt ebenfo als Lyriker wie als Romanſchriftſteller und Journaliſt hervor. 
In St. Beuve tritt uns Frankreichs größter Kritiker entgegen. Aber auch Vitet 
mit ſeinen „Dramatiſchen Szenen“, Alexander Dumas und ihresgleichen werden 
von Brandes nicht vergeſſen. Und endlich findet er auch anerkennende Worte für 
die Überfebenen und Vergeſſenen, Dichter wie Ymbert Galloix, Louis Bertrand, 
Petrus Borel und Theophile Dondepy, die ſich vergeblich bemüht haben, in der 
großen Jahl genialer Mitſtreiter die gebübrende Anerkennung zu erlangen, und 
meiſt elend zugrunde gegangen ſind. 

. Die franzoͤſiſche Romantik bildet nach Brandes die größte literariſche Schule, 
die das J9. Jahrhundert gefeben hat. Zur felben Jeit erblüht in unſerem eigenen 
Vaterlande das ſogenannte Junge Deutſchland. Seine Vorausſetzungen ſind den · 
jenigen der franzoͤſiſchen Romantik ahnlich. Der Geiſt Metternichs und der Seiligen 
Allianz, der über den deutſchen Ländern brütet, erzeugt eine Gegenbewegung, die 
ſich 1817 auf dem Wartburgfeft ihren erſtmaligen Ausdruck gibt. Die Ermordung 
Kotzebues verurſacht den Verfolgungskrieg gegen alle freiheitliche Geſinnung und 
leitet eine lange und ruͤckſichtsloſe Unterdruͤckung aller irgendwie liberalen Ideen 
ein. Erſt die Julirevolution 1830 gibt den Schriftſtellern und Dichtern neuen Mut, 
und dieſer wird noch mehr entflammt durch die Erinnerungen an Byrons Leben 
und Tod ſowie durch den Aufſtand Polens. Boͤrne wird der hervorragende Anwalt 
der Freiheitsideen in der Politik. Seine, der groͤßte Dichter jener Tage, wird der 
poetiſche Wortfuͤhrer ſeines Jeitalters. In jeder Beziehung ein moderner Menſch, 
verſteht er es wie kein anderer, mit der ganzen Saͤrte und Saͤßlichkeit jener Zeit, 
ihrer Anmut, ihrer Unruhe und ihrem Reichtum an ſchneidenden Gegenſaͤtzen an- 
zubinden. Brandes hat ihn in ſeinem Werke mit ganz beſonderer Liebe behandelt, 
und man kann nichts Schoͤneres und Jutreffenderes uber den Dichter leſen als den 
Abſchnitt, den er ihm gewidmet hat. Wie Seine, ſtrebt auch Immermann aus 
eomantifcher Verſchroben heit nach einer mehr naturgetreuen Bunft als diejenige 
der Vergangenheit. War die Segelſche Pbilofopbie bisher eine konſervative, be- 
wahrende und zuruͤck haltende Macht geweſen, fo beginnt man jetzt, reformatoriſche 
und revolutionierende Folgerungen aus ihr zu ziehen. Sie wird zur Grundlage 
jener Gruppe von Schriftftelleen, die ſich das „Junge Deutſchland“ nennt, und 
deren Streben darauf gerichtet it, unter Aufloͤſung des herrſchenden Serkommens 
in Religion und Moral, Literatur und Leben miteinander zu verſchmelzen, freieren 
Formen fuͤr die Vereinigung und Trennung der Geſchlechter das Wort zu reden 
und eine neue Art der Froͤmmigkeit vor dem Weltall, das fie mit der Gottheit gleich; 
ſetzen, ins Leben zu rufen. Unter der Verfolgung, die fie hiermit gegen ſich herauf 
befhwören, entwickeln ſich Maͤnner wie Gutzkow und Laube, und fie finden 
Unterſtutzung in der immer weiter um ſich greifenden Verehrung Goethes, der jetzt 
zum typiſchen Vertreter aller freiheitlichen Beſtrebungen in kirchlicher wie in ge · 
ſellſchaftlicher Beziehung erhoben wird. 

Und immer radikaler entwickelt ſich ſeit 1840 die deutſche Philoſophie. Schon 
fangen auch die Dichter an, der politiſchen Freiheit unmittelbar den Weg zu bahnen, 
bald angezogen, bald abgeſtoßen durch die Perſoͤnlichkeit Friedrich Wilhelms IV., 
der im Norden die aͤußeren Begebenheiten in Deutſchland ebenſo beherrſcht wie 
Metternich im Süden, und welcher der Literatur ein lebhaftes Intereſſe entgegen⸗ 
bringt. Geiſter, wie Freiligrath, Prutz, Sallet und Sartmann, gleichen Sturm 
vögeln, die den Sturm ankündigen. Mit ihnen zugleich feben wir eine ganze Jahl 


188 Umſchau 


kleinerer Talente am Werke, wie Serwegh, die der große Augenblick für kurze Zeit 
aus der Maſſe emporbebt, bis die Umwaͤlzung des Jahres 1848 alle dichteriſchen 
Auslaſſungen hbertönt. Brandes ſchildert den Gang der äußeren und inneren Er⸗ 
eigniſſe mit geradezu genialer Meiſterſchaft. Aber er vergißt über den Geſchehniſſen 
auch die einzelnen urſpruͤnglichen Perſoͤnlichkeiten nicht, die ihrem Zeitalter den 
Stempel ihrer Eigenart aufgedruckt haben. So verweilt er mit beſonderer Anteil⸗ 
nahme bei den geiſtig hochſtehenden Frauen jener Jeit, einer Rahel und Bettina 
in ihrem Verhaͤltnis zu Goethe, bei Senriette Gerz und Jeanette Wohl in ihrem 
Verhaͤltnis zu Boͤrne. Seines Mouche, Immermanns kliſa, die Fürſtin Pückler, 
Charlotte Stieglitz treten im Verhaltnis zu ihren Mannern vor uns bin. Welcher 
Reichtum an eigenartigen Perfönlichkeiten! Und wie verſteht es Brandes, fie 
wieder vor uns aufleben zu laſſen ! Auch dort, wo fie ſelbſt nichts geſchaffen oder 
wo ihre Schoͤpfungen nicht hoͤchſten Ranges find, weiß Brandes uns doch auf das 
lebhafteſte für fie zu intereſſieren. Dieſer dritte Band feines Werkes erſcheint wirk 
lich, im Juſammenhange mit den beiden fruheren betrachtet, wie der letzte Akt 
eines großen geſchichtlichen Dramas, das ſich folgerichtig mit innerer Notwendig · 
reit vor uns abfpielt. Brandes gibt nicht bloß einen uͤberblick über die damalige 
Literatur, ſondern auch einen tiefen Einblick in die Pſychologie jenes Zeitraums. 
Wir füblen uns in jeder Beziehung innerlich bereichert, wenn wir fein Werk aus 
der gand legen, und wir danken ihm, uns mit ihm nicht bloß belehrt, ſondern auch 
einige Stunden des reinften kuͤnſtleriſchen Genuſſes beſchert zu haben. 
Arthur Drews 


Friedrich Gundolf: Caͤ ſar, Ge ſchichte feines Ruhms 8 85 


Welt dauert und jeden notwendigen Verfall überlebt, der die Beweglichkeit des 
Daſeins erft geſtattet, iſt die Geſtalt. In der lebloſen Natur ſteht dem unentrinn · 
baren Jerlõſungsprozeß, dem Weg hinab, ein hartes Geſetz der ewigen Wieder ⸗ 
kehr der Elemente zu den gleichen Gruppen, Bindungen, Formen gegenüber, das 
nichts Einmaliges erlaubt und nur die gleichen ewigen Schemata der möglichen 
Dinge und Juſtaͤnde immer wieder ſeltſam und beruhigend in unabaͤnderlicher, 
bartnädiger Gewiſſenhaftigkeit mit eben losgelaſſenen Stoffen und Araͤften 
neu erfüllt; in der lebendigen Welt mildert ſich dieſer Iwang zu variabler nur in 
beſtimmten Grenzen beweglicher Generation; im menſchlichen Umkreis aber iſt voll ⸗ 
kommene Dauer möglich bei vollkommener Einmaligkeit und Unwiederbringlich ; 
keit trotz der Verkettung in die Endhaftigkeit — die nur die Rehrſeite der Beformt- 
beit aller Dinge ſelber iſt. Sier iſt, wenngleich nur in den feltenften und gluͤckhaf 
teften, fo doch immerhin in ihrer Vereinzelung troͤſtlichen Fällen, Augenblick 
gleich Ewigkeit. Dieſes Geſetz der Einkehr der Idee in einen geſtalthaften Leib, 
„die Beftalt als Idee“, nicht philoſophiſch entdeckt, aber mit eindringlichſter Braft 
und unwiderſtehlichſter Darſtellung aufgewieſen zu haben, iſt das hohe Verdienſt 
der Gundolfſchen Arbeiten und das, was fie über bloße wiſſenſchaftliche Leiſtung 
binausbebt und in den Dienſt des allerorten angebahnten kommenden Weltbildes 
und zukünftiger Religion ſtellt. Am ſchoͤnſten und uͤberzeugendſten iſt dieſer wenn 
man will metaphyſiſche Jug in feinem Georgebuch zum Ausdruck gekommen, eine 
metaphyſik diesſeitigſter Art und von helleniſchem Glanz, eine Vergöͤttlich 
ung des Leibes und eine Verleibung des Goͤttlichen, ein Preis aller vollkommenen 


umſchau 149 


Geſtalt und eine Verehrung aller erfuͤllenden Geſtaltungskraft, die alle lebloſen 
und lebendigen Dinge mit wefenbaftem Blick ins Ewige erhebt, ohne fie dem 
zeitlichen Sier zu entruͤcken und zu entreißen: dafur iſt ibm der Dichter Stefan 
George Symbol geworden. Stefan George und mit ihm Gundolf lehren uns 
wieder Weſen ſehen, wo man ſich bei den Erſcheinungen raſch beruhigte oder 
binter ihnen das „wahre“ Weſen zu ſuchen unternahm, zu finden hoffte oder zu 
erzwingen glaubte. 

In feinem Goethe und George wendet Gundolf ſich die ſer Geſtalt großer Be- 
ſtalter ſelber zu, in dem Buch Aber Shakeſpeare und den deutſchen Geiſt dem „Ge⸗ 
ſtaltwandel“, in dem menſchliche Weſenhaftigkeit, aus ihrer ruhenden Einmalig · 
keit beraustretend, im Strom der Geſchichte erſcheint, in dem fie ihn ſiegreich uber · 
dauert. Geſtaltwandel — dieſes von Leopold Ziegler geprägte Wort, das wert 
wäre, in unſere Sprache einzugehen, — iſt die einzige Form lebendiger Ewigkeit. 
Nur was ſich ewig wandelnd ewig neu verbleibt, trägt den berechtigten Stempel 
un vergaͤnglicher Große. 

Fin Geſtaltwandelbuch iſt auch Gundolfs letztes, fein Caͤſar (bei Georg Bondi, 
Berlin 1924). Es iſt durch Zeit und Stunde oder vielmehr durch deren erdruͤckenden 
Mangel fuͤhlbar beſtimmt. Caͤſar, das iſt das „ſchlichteſte Bild des wahren Be: 
bieters . Unter allen Dingen, die heute nach Formung, Feſtigung, Bindung ge- 
rabezu beaͤngſtigend rufen, iſt das zerbrochenſte, beillofefte die Geſellſchaft der Vol 
ker, wie denn unter allen Geſtaltern und Formern der geſchichte machende Seros 
der ſeltenſte iſt. Wahrſcheinlich deshalb, weil der Stoff der Menſchenwelt, in dem er 
bildet, ein noch unbildſamerer, gleichzeitig traͤgerer und labilerer iſt als jeder andere 
und weil herrſchen eine Formung und herrſchen konnen eine Tugend ift, ungleich 
ſchwerer als jede andere. Das Bild des „richtigſten Menſchen Caͤſar“ ſoll nicht eine 
Beſchwoͤrung des kommenden Serrſchers über Europa bedeuten und keinesfalls 
Aufſtellung eines großen Muſters. Bein Schoͤpferiſches laͤßt ſich gebieten und weder 
durch Wunſch noch durch Streben beeinfluſſen. Irgendwie muß auch hier die Stunde 
erſt reif und die Zeit erfüllt fein. Aber ein Maßſtab laͤßt ſich aufſtellen, der Blick 
für Große kann aufgeſchloſſen und die Scheu und Ehrfurcht vor ihr gebildet 
werden. Die ſer Maßſtab ſelbſt mißt nicht nur etwa kuͤnftige Praͤtendenten, er 
wird in dem Buch Gundolfs zum Maße ganzer Jeiten. Was eine Jeit, eine Geſell⸗ 
ſchaftsſchicht, ein Einzelner von vorhandener Bröße erkennt, iſt tief verraͤteriſch 
für ihr eigenes Maß. Als mythiſche Geſtalt, als magiſcher Name, als geſchicht⸗ 
liche Perſon — das find die großen hiſtoriſchen Kategorien, in denen die Perſon 
Caͤſars erfaßt wird — offenbaren fi immer neue Seiten dieſes Weſens, deſſen 
Daſein erſt vollrund zum Vorſchein kommt, „indem die Jahrhunderte es erwidern“. 
Was iſt wenn es hoch kommt uns Caͤſar? — Nicht viel mehr als Sekuba : eine Re⸗ 
miniszenz nicht ſehr erſchuͤtternder Geſchichts ⸗ und Lateinſtunden, eine Figur aus 
einer größten, mit Schwermut däfter uͤberſchatteten Tragoͤdie. In Gundolfs Buch 
aber gewinnt die Geſtalt, wenn nicht Keiſch und Blut — das iſt nicht die Abſicht 
des Buches, leider iſt fie es nicht! — fo doch Atmoſphaͤre und eine gewiſſe Lebendig⸗ 
keit in lauter Spiegeln. Wieder finden wir in ihm die glänzende, auf Weſensſchau 
beruhende Charakteriſtik einzelner Zeitalter — des Proteſtantismus 3. B. — ein; 
zelner Perſonen — Petrarcas, des „erſten aͤſthetiſchen und hiſtoriſchen Menſchen“, 
Bacons, Rouſſeaus, Friedrich U., Napoleons, — einzelner Werke — des ſhake⸗ 
ſpeareſchen Caͤſar -; wieder bewundern wir die Faͤbigkeit, in Antitheſen von 


J50 Umſchau 


größter ſprachlicher Feinheit und Anappheit plötzliches Licht uͤber ſehr verſchlun · 
gene Sachverhalte zu gießen. Doch iſt dies Buch ſproͤder als jedes andere Bunbolfs, 
und mit etwas zuviel Gelehrſamkeit uͤberfrachtet, mehr als z. B. „Shakeſpeare 
und der deutſche Geiſt,“ wie ja feine Perſpektiven = über anderthalb Jabe- 
taufende weiter zuruͤckreichen. | Daul wegwis 


; Schon ehe der Profeſſor 5. a. Korff als Nachfol ; 

Soerbes Lebeneidee ger von Albert Böfter nach Leipzig, alfo auf einen 
der erſten Lehrſtůhle Deutſchlands für Literaturwiſſenſchaft berufen war, wußten 
die Leſer feines bedeutenden Werkes über den „Geiſt der Goethezeit“, von dem bis⸗ 
her leider nur der erſte Band erſchienen iſt, daß die deutſche Wiſſenſchaft an dieſem 
Gelehrten eine ſtarke und eigenartige Kraft geiſtesgeſchichtlichen Forſchens ge⸗ 
wonnen hatte. Wenn er jetzt einen Band großer Aufſaͤtze unter dem Sammeltitel 
„Die Lebensidee Goethes“ vorlegt, fo darf man von vornherein etwas Beſonderes 
erwarten. Und man wird auch nicht enttaͤuſcht. Es find fünf Arbeiten, über den 
Sinn des Goetheſchen Lebens, über den Geiſt des weſtoͤſtlichen Diwans, über das 
Hlaſſiſche Sumanitaͤtsideal, uber die Entwicklung der Fauſt · Idee und ſchließlich die 
Cebensidee Goethes. Die Überfchrift der letzten ſteht mit Recht über dem ganzen 
Buche, denn alles darin fügt ſich unter dieſen oberſten Geſichtspunkt ein. Jedes der 
genannten Themen bezeichnet eine wichtige Frage, und ſie alle ſind der geſpannten 
Anteilnahme derer ſicher, die überzeugt find, daß der Name Goethes immer noch 
mehr Zukunft als Vergangenheit repräfentiert, und daß diejenigen, die glauben, 
auch ihn ſchon uͤberwunden zu haben, ihn noch nicht verſtanden haben. 

Ich will nur einiges von Borff herausgreifen, was beſonders weit von der Ebene 
landlaͤuſiger Goethebetrachtung liegt. Junaͤchſt das ſchoͤnſte Wort des Buches, die 
Antwort auf die Frage: „wer iſt goethereif?“ Das iſt ja ein Begriff, der zu Zeiten 
unſerer Großeltern und Eltern eine Rolle in vielen Unterhaltungen geſpielt hat. 
Korff fagt, nur der ſcheine ibm wirklich reif für Goethe zu fein, für den Goethe eine 
innere Notwendigkeit — die Wende einer inneren Not — geworden ſei. In der 
Tat, nur wer in ſeinem eigenen Leben der Beruhigung, Ermutigung, Feſtigung 
uſw. durch Goethe oft bedurft hat und ſich nicht denken kann, daß er ohne ihn 
hätte auskommen konnen, ja wen fein Juſpruch öfter in geiſtigen und ſeeliſchen Er⸗ 
ſchůtterungen gerettet und geheilt hat, weiß, was Goethe einem Menſchen bedeuten 
kann. Nicht bloß die unvergleichlich reiche und unvergleichlich ausgebildete Perſoͤn · 
lichkeit iſt dafur entſcheidend, ebenſoſehr das naturliche, geſunde, umfaſſende Le- 
bensgefuͤhl Goethes, die Art, wie er die Erſcheinungen der Welt aufnahm und 
wertete. Die perſoͤnliche Form, die bei ihm die Lebensweisheit gewonnen bat, der 
tiefe Ton des inneren Lebens ſpricht unmittelbar zu uns, wie kaum irgend ein 
Pbiloſoph es kann, und von feiner geſamten Geſtalt geht eine überzeugende, Salt 
gebende Kraft aus, die immer wieder Zweifel ſchlichtet und den dunklen Glauben, 
auf dem rechten Wege zu fein, beſtaͤrkt. Borff ſcheut ſich nicht, auszuſprechen, daß 
ihm Goethe als die Norm und das Ideal gegenwärtiger Menſchheit vorkommt. 
Wicht feine reale Erſcheinung mit ihren empiriſchen Unvollkommenheiten, aber 
die Idee Goethe. 

Wie aber ift die Idee Goethes zu faſſen? Nur in feinem tiefſten Lebensgefühl. 
Es iſt der von Form zu Form fortſtrebende Lebenstrieb felber, verwandt dem @lan 
vital des modernen franzoͤſiſchen Denkers. „Es kommt im Leben aufs Leben und 


Umſchau 151 


nicht auf ein Reſultat desſelben an”, hat Goethe ſelber geſagt, aus jener völlig 
antiteleologiſchen und durch eigene Naturerforſchung begruͤndeten Anſchauung 
des menſchlichen wie des untermenſchlichen Lebens heraus. So wenig die Frucht 
der Iweck des Baumes oder der Sinn feiner Blute iſt, fo wenig hat das Daſein des 
Aindes nur Wert als Vorbereitung für den erwachſenen Menſchen, jede Stufe trägt 
ihre eigene Daſeins berechtigung und Rechtfertigung in ſich ſelbſt. Das letzte Ziel 
aller Formen iſt, daß ſie leben. Es kommt nicht darauf an, daß wir ein Ideal er⸗ 
reichen, ſondern darauf, daß wir einem Ideal nachſtreben. „Wer immer ſtrebend ſich 
bemüht, den konnen wir erloͤſen.“ Das Grundgeſetz des Lebens iſt Wachstum, 
Steigerung — „alles Vollkommene feiner Art muß Aber feine Art hinausgehen“, 
wie ein anderes Goethe ⸗ Wort lautet. Was nicht fortſchreitet, geht unter; tot iſt nur 
der, der ſich an das bloße Leben Hammert — „und fo lang du das nicht haſt, dieſes 
ſtirb und werde, biſt du nur ein teüber Gaſt auf der dunklen Erde“. Wenn man das 
aber hat, dann gilt als Troſt und Aufrichtung in Wiedergeſchlagenheit und Skepſis 
das andere Wort: „Wie es auch ſei, das Leben, es iſt gut.“ Goethen ſteht das Leben 
jenſeits aller moraliſchen Kategorien; weil Gretchen und die anderen alle fo leben⸗ 
dig find, iſt es ihm gar nicht eingefallen, moraliſche Maßſtaͤbe an fie anzulegen, 
denn ihm kam es nur auf den Lebendigkeits wert an. Und fein Lebensgefühl war fo 
tief, daß es, wie Korff fagt, unter die Sphäre des Geiſtigen tauchen konnte, dort 
hin, wo das Leben nicht mehr Geſtalt, ſondern ewig flutender Prozeß iſt. Goethe 
lehrt nicht mehr eine Rechtfertigung des Lebens durch den Glauben, ſondern eine 
Rechtfertigung des Lebens durch ſich ſelber. IL 

Von hier aus gewinnt auch eine berühmte Stelle im Fauſt einen anderen, hoͤhe · 
ren Sinn, als ihr oft gegeben wird. Man kann ſchon viel über den Fauſt geleſen 
haben und wird ſich ſchwerlich erinnern, eine fo Hare und eindringende Entwick. 
lung der Fauſtidee gefunden zu haben wie bei Korff. Unmoͤglich bier, ins einzelne 
zu geben, nur „der Weisheit letzter Schluß“ ſoll herausgehoben werden. Dieſer 
Schluß lautet bekanntlich: „Nur der verdient ſich Freiheit wie das Leben, der täg- 
lich fie erobern muß.“ 

Die zufällige praktiſche Aoloniſations arbeit aber, mit der Fauſt gerade vor feinem 
Ende beſchaͤftigt iſt und von der er gleich darauf ſpricht, ſtellt nur eine Station dar, 
die ebenſo überwunden werden muß wie alle anderen. Fauſt und Goethe geben 
keine inhaltliche Formel als letzte Weisheit, denn beide haben begriffen, daß nur im 
Wechſel von Qual und Gluͤck das Gluͤck zu faſſen iſt, und daß es, ſoweit uberhaupt 
erringbar, im Rampf mit immer neuen Widerſtaͤnden gewonnen werden muß. Es gibt 
keine Endſtation, auch jenes „auf freiem Grund mit freiem Volke ſtehen“ iſt keine! 
Auch dieſes freie Volk will er „umrungen von Gefahr“ ſehen, denn Ringen, Streben 
gehort zum Meuſchenleben, wenn es menſchlich und lebendig bleiben ſoll. Wenn 
aber Fauſt in den letzten Sägen, die er noch zu ſprechen hat, ein Gluck zu ſehen 
meint, in deſſen Vorgefuͤhl er „den hochſten Augenblick“ zu genießen glaubt, fo er» 
blickt Korff darin nur eine — die letzte — Illuſion, und er meint, Goethe ſehe noch 
an dieſer Stelle Harer als die von ibm geſchaffene Geſtalt, indem er fie mit einer 
letzten Einbildung, man konnte ſagen einer Euphorie, ſterben läßt und ihren Tod 
damit verklaͤrt. Das Vorgefuͤhl von jenem hohen Gluͤck iſt freilich der hochſte für 
Fauſt noch erreichbare Augenblick, denn er ſieht ja, wie Moſes, nur von fern in ein 
gelobtes Land. Die hoͤchſte allgemeine Wahrheit aber, die Fauſt erreichbar war, hat 
er in dem Geſpraͤch mit der Sorge ausgeſprochen: „Im Weiterſchreiten find’ er 


152 umſchau 


Qual und Gluck, er, unbefriedigt jeden Augenblick!“ Dazu ſtimmen die Schluß; 
worte der Dichtung: „Alles Vergaͤngliche iſt nur ein Gleichnis.“ 

Das iſt Goethes einheitliche Lebensidee, deſſen Leben hoͤchſt wechſelnden inhalt⸗ 
lichen Iwecken gedient bat. Dieſe Iwecke find vergangen oder konnen vergeben, 
jene Idee aber ſchwebt darüber und kann fie alle überbauern. Er ich Evert h 


Jobann Jakob Bachofen und das Taturſymbol] dee . 
Ein wWuͤrdigungsverſuch von Carl Albrecht Bernoulli 1 


ge verſchollenen Lebenswerkes des Baſler Rechtsgelehrten und Religions hiſto; 
rikers Johann Jakob Bachofen (181 s—1887) iſt der allgemeinen Geiſtesgeſchichte 
eine Aufgabe erwachſen, welche ebenſo viele gebrochene Lanzen als heißen 
Schweiß koſten und neben kaum noch erſt abzuſehenden Schägen ebenſo viele 
empfindliche Erſchuͤtterungen bringen dürfte. Durch das Gewicht eines Klages erſt 
neuerlich aus behůteter Stille ans Licht gehoben, durch Manner vom Range eines 
Spengler, Sofmannsthal, Frobenius weiterempfohlen, hat es heute bereits einen 
Schwarm von Richtern und Deutern angezogen, welche mit Silfs mitteln der 
neuſten Forſchung einzelne Spezialprobleme oder gar Mann und Werk als Ganzes 
zu beleuchten unternahmen. Carl Albrecht Bernoulli gebührt das Verdienſt, die 
erſte umfaͤngliche Monographie über feinen Landsmann herausgebracht zu haben. 
Ebe wir dazu Stellung nehmen, feien in dem ſchwierigen Fragenkomplex vorerſt 
einige Richtlinien gezogen, an welchen der Wert der Bernoulliſchen Arbeit ſich 
leichter abmißt. 

man kann ſagen, Bachofens Werk iſt der bis jetzt ganz einzigartige Verſuch, 
eine Erklarung der antiken Religion nicht nur, ſondern des ganzen kulturellen Ce; 
bens bis hinein in ſeine feinſten Ausſtrahlungen und Wirkungen im Ablauf der 
Geſchichte aus dem Bewußtſeinszuſtand der Alten heraus zu geben. Der Grund 
ihres Denkens, Empfindens und Schauens, meint Bachofen, iſt die Religion. Auf 
der Religion ruhen alle Satzungen des Rechts, ruhen die Grundlagen des Staats 
und des bürgerliden Lebens, und ſelbſt die großen Ideen und Krafte, welche in 
großen Einzelindividuen wie Alexander, Caͤſar, Auguſtus zum Durchbruche trie · 
ben, entſtammen unbewußterweife jenem gemeinſamen Serd, der das Leben ſpeiſt. 

Erhebt ſich alſo die Frage nach dem Weſen dieſer Religion. Es bezeichnet den 
Gegenſatz zu Creuzer, dem bekannten Symboliker, daß Bachofen zunaͤchſt von 
allen Schlagworten der Religions pſychologie und der Theologie abſah und ſich 
völlig vorurteilslos in die Pſyche des antiken Menſchen verſenkte. Drei Dinge find 
es, die ihm zum Schluͤſſel wurden, mit dem er ſich mübelos durch die Raͤtſelwelt der 
antiken Bulte hindurchfand, der ihm den Sinn der ſeltſamſten Mythen und Riten 
erſchloß und ihm die geheimſten Tuͤren der Myſterien oͤffnete: die Erkenntnis von 
der Bedeutung des muͤtterlichen Prinzipats, des Totenkults (die ibm auf ſeiner 
Italienreiſe im Anblick der etruskiſchen Graͤberſtaͤtten wie blitzartig aufging) und 
der Naturſymbolik. Wie traumartig ward darin dieſe ſtofflich „chthoniſche“ (will 
ſagen dem Muttergrund der Erde verehrend zugerichtete) Religion als die aͤltere, 
urſpruͤnglichere erfaßt gegenuber der uraniſchen, als welche aus jener herauf ſich 
entwickelte und erſt verbältnismäßig ſpaͤt die allgemeine Anerkennung fand, die 
den Olympiern zur Plaffifhen Zeit des Griechentums zuteil geworden. 

muͤtterliches Prinzipat will zunaͤchſt nichts anderes bedeuten als Serrſchaft des 


Umſchan | 153 


Stoffes (Materie), in welchen das ganze Leben der Alten noch in ſeinen geiſtigſten 
Außerungen bineingebettet ift (die rechtliche Seite der Gynaͤkokratie iſt nur eine 
Ausſtrahlung davon, die aber nicht gepreßt werden darf l). Es iſt jene Gebunden⸗ 
heit gemeint, welche den urſpruͤnglicheren Menſchen ſchickſalhaft mit feiner ganzen 
Umwelt verknuͤpft. Die Verehrung der Erde und ihrer muͤtterlichen Gottheiten, 
die Anerkennung der Nacht als der daͤmoniſchen Beherrſcherin aller chthoniſchen 
maͤchte und Gewalten iſt dafuͤr der ſymboliſche Ausdruck. Folgerichtig iſt weiter 
die tiefere Weſens bedeutung des Todes entwickelt und der Vorrang der Demetrier, 
will fagen der im Schoß der Erde aufgenommenen und zu daͤmoniſchem Sein 
geſteigerten Totenfeelen begründet. Die liebende Pflege der Toten wird damit in 
den Brennpunkt der kultlichen Verpflichtungen der Überlebenden gerädt. Wie mit 
einem Schlage erflärt ſich die zentrale Bedeutung, welche ihm im ganzen Altertum 
zukommt und welche ihre zahlloſen Brabftätten mit der eigenen Weihe umkleidet. 
Aus der Nachtgebundenheit des ganzen Bewußtſeinszuſtandes erklart ſich leicht 
auch die eigentümliche Bildbeziehung zur Umwelt, welche auf dieſer Stufe überall 
hervortritt. Nicht Begrifflichkeits ⸗, ſondern Symbolwert hat die ganze umgebende 
Natur, d. b. als ein Sinnganzes umzirkt fie den Menſchen und wirkt noch mit der 
Araft ungebrochener Lebendigreit auf die bildempfaͤngliche Seele des Erlebenden 
ein. Was fie dort aber in den geheimſten Tiefen aufregt, das bleibt ihr un verloren 
und bebält für fie den Wert eines unzerſtoͤrbaren Sinnbildes, welches volle Reali⸗ 
tät beſitzt und doch vermoͤgend iſt, „fie immer wieder über die Grenzen der werden⸗ 
den in das Reich der unendlichen Welt zu entführen“. Mythologie, ſakrale Sand⸗ 
lungen und KAultuͤbungen, Legenden und Riten der Myſterien, ja Rechtsgebraͤuche 
und ſtaatliche Satzungen werden zu einem ungeheuren, labyrinthiſchen Sinn- 
ganzen, welches vom Naturſymbol aus Geſtaltung gewann und daher vom Sym⸗ 
bol aus erſt wieder ſeine Deutung erfahren kann. 

Symbole aber bleiben der lebendigen Sphäre völlig verwurzelt und öffnen ſich 
ihrem innerſten Weſen nach nur ſchauendem Erleben, nie dem rechnenden Ver⸗ 
ſtande, daher es denn eine eindeutig begriffliche Definition derſelben nicht geben 
kann. Unerfhöpflich bleiben die Ausdeutungen, deren etwa das Myſterienei oder 
der Kranz fähig iſt. Darum bat die Symbolforſchung einen ganz anderen Weg zu 
geben als die hiſtoriſchen oder exakten wiſſenſchaftlichen Diſziplinen. Durch Be⸗ 
ſchreibung all ſeiner Charaktere muß ſie ſein Weſen zu beſtimmen ſuchen. Ge⸗ 
naueſte Vergleichung feiner verſchiedenen Bedeutungen im Kult, Mythus und 
Volksglauben ſoll dabei immer die Unterlage bleiben. 

All dieſe Dinge hat Bachofen ſelbſt mehr geahnt, als daß er ſich in ſcharfer Be ; 
grifflichkeit genaue Rechenſchaft darüber gegeben hätte, und es macht das mit 
einen der Reize feiner Bucher aus, daß fie, ohne die Anmaßung einer aufregenden 
Neuentdeckung, ganz nur in ſtiller Hingabe an den Stoff gefchrieben find. Die 
Ruhe und Weihe der Bräberwelt, die fie fo eindringlich ſchildern, iſt darüber ge- 
breitet, und ſelbſt der ganze Stil noch von einem faſt bieratifchen Ernſt getragen. 
Es darf dabei nicht zu ſehr verwundern, daß er mit ſeiner Terminologie nicht 
immer ſtrikte verfahren und ſich ſeine Alterswerke ideengeſchichtlich vielfach im 
Gegenſatz befinden zu feinen ſtaͤrker geſchauten fruheren Schriften („Mutterrecht“ 
und „Graͤberſpmbolik “). 

Wan muß es Carl Albrecht Bernoulli zu Dank wiſſen, daß er, durch Klages an⸗ 
geregt, in feinem „Wuͤrdigungsverſuch“ auf breiteſter Grundlage den weiten Be⸗ 
cat xvni JI 


15$ umſchau 


zirk dieſer Probleme aufrollte und eine vorläufige Löfung mit Silfe der neueren 
Pſychologie zu geben ſuchte. Sein Buch iſt mit waͤrmſter Anteilnahme für den 
Stoff geſchrieben. Durch Temperament und quellende Fuͤlle des Ausdrucks weiß 
er das Intereſſe des Leſers für die Unmenge von Fragen, wie ſie bier aufgeworfen 
werden, immer wach zu erhalten. Ein heißer Atem bringt auch ſtarre, trockene 
Probleme zum Gluͤhen. Vieles iſt dichteriſch erſchaut und in einer Weiſe behandelt, 
wie fie vor rein fachlicher, fachwiſſenſchaftlicher Bearbeitung einen Vorzug hat. 
Einzelzüge ſind trefflich gelungen, wie die Skizze S. Coff., in welcher das Ver 
bältnis der drei Perſoͤnlichkeiten Bachofen · Jakob Burckhardt ⸗ Friedrich Nietzſche 
zueinander abgeſchaͤtzt iſt. Überhaupt iſt alles Perſoͤnliche mit Aennerſchaft und 
beſonderer Liebe herausgearbeitet. Als die endgültige Darſtellung Bachofens und 
feines Lebenswerkes werden wir das Buch nicht betrachten. Vielleicht liegt es 
mehr in den Verhaͤltniſſen, daß die Biographie auf gar dürftiges Tatſachen material 
ſich ſtuͤtzt; denn Bachofen war ſchon zu ſeinen Lebzeiten eine halb legendaͤre 
Perſoͤnlichkeit geworden, und nach feinem Tode hat ſich die Nachwelt fo wenig 
um feine Werke wie um feine perſoͤnliche Nachlaſſenſchaft gekümmert. Es war gut, 
im zweiten Teile Bachofens Bedeutung vom allgemein geiſtesgeſchichtlichen Stand; 
punkt aus zu bemeſſen und feine Bewertung des Naturſymbols in den Mittelpunkt 
der ganzen Betrachtung zu ruͤcken. Jur Frage der Symbolentſtehung iſt viel Ju · 
treffendes geſagt; was bier vermißt wird, iſt die ſtrenge Gruppierung und Ent ; 
wicklung der Ideen und oft die haarſcharfe Problemſtellung. Die Überfälle droht 
das ſtrukturelle Gefuͤge zu uͤberwuchern und auseinanderzureißen. 

martin Ninck 


Sprengelſiedlung und Heimatſiedlung 558 „ 


plexe unterſcheiden: Die Seimatſiedlung und die Sprengelſiedlung. 

Nur eine beſondere Form der Seimatſiedlung iſt die Grenzlandſiedlung an der 
Grenze eines Staates (dort wo ein Nationalinſtinkt, d. i. Sprachinſtinkt, nicht wach 
iſt; hier iſt Seimatſiedlung mit Inland ſiedlung, Sprengelſiedlung mit Ausland: 
ſiedlung identiſch, man vgl. die Schweiz) oder eines Volksgebietes (wenn es ſich um 
Sprachgrenzen handelt). Bei der Grenze eines Volksgebietes wieder kann es ſich 
um innerſtaatliche oder außerſtaatliche Siedlung handeln, Fragen der innerſtaat · 
lichen Siedlung liegen vor bei der preußiſchen Polenpolitik vor 1914, ſolche der 
außerſtaatlichen Siedlung bei dem Abwehrkampf der Deutfhböhmen gegen die 
Tſchechen. 

Die Sprengelſiedlung beruͤhrt ſich eng mit dem Bolonialproblem, ohne ein Teil 
dieſes Problems zu ſein. Eine Sprengelſiedlung ſteht außer Juſammenhang mit 
dem geſchloſſenen Sprachgebiete des Seimatvolkes. Die 1919 geraubten deutſchen 
Kolonien waren mit Ausnahme des nicht ſehr aufnahmefaͤhigen Suͤdweſtafrikas 
und einiger hochgelegener Teile Oſtafrikas keine Siedlungskolonien; ob die Reſte 
von deutſchen Siedlern, die ſich in Suͤdweſtafrika gehalten haben, auf die Dauer 
zu einer Sprengelſiedlung Deutſchlands bzw. des Deutſchtums werden konnen, er- 
ſcheint fraglich bei der abſolut und relativ geringen Stärke gegenuber den übrigen 
Weißen und erſt recht gegenuber den Farbigen Südafrikas. 

Dagegen liegt eine echte Sprengelſiedlung vor in der Wolgadeutſchen Republik. 
Die ſe entſpricht (freilich nicht in der zahlenmaͤßigen Bedeutung) den franzoͤſiſchen 


umſchau 155 


Teilen Aanadas. Letztere find wohl das beſte Beiſpiel für eine ausgewachſene 
Sprengelſiedlung. Die Franco - Aanadier haben ſich innerhalb ISO Jahren ver- 
fuͤnfzigfacht ohne Juwanderung von außen und ſtellten 1925 den Praͤſidenten der 
Voͤlkerbunds verſammlung. Auſtralien dagegen oder gar die Vereinigten Staaten 
koͤnnen nicht mehr als Dependenzen eines Seimatvolkes gelten. 

Weitere deutſchſprachige Gebiete, die eine dementſprechende Rolle ſpielen koͤnn · 
ten, find: Deutſch Siebenbürgen, wo indeflen die Bevoͤlkerungsvermehrung ge · 
ring iſt. Vielleicht beſtimmte Teile des ſuͤdbraſilianiſchen Deutſchtums, ſoweit es 
geſchloſſen wohnt. Vielleicht auch beſtimmte Teile des kanadiſchen Deutſchtums, 
das im ganzen faſt 200000 menſchen umfaßt. 

Auf jeden Fall wäre es zu begruͤßen wenn die Rataftropbe des Deutſchtums in 
den Vereinigten Staaten ſich nicht wiederholte. Das iſt aber nur zu erreichen, wenn 
man geſchloſſene Siedlungen der Auswanderer ſchafft, in denen das Deutſchtum 
nicht nur die Stadtbevoͤlkerung und nicht nur die Landbevölkerung ſondern in 
einem beſtimmten Umkreiſe beides darftellt. Moͤglichkeiten in dieſer Sinſicht bieten 
auch Mexiko, das in der naͤchſten Zeit wieder deutſche Landwirte aufnehmen will, 
und Sibirien. In der Ukraine werden ſchon heute deutſchſprachige autonome Be: 
biete von freilich nur geringem Umfang geſchaffen. 

Es iſt ſehr zu bedauern wenn das auch phyſiſch ſo außerordentlich fruchtbare 
Deutſchtum immer wieder feine Söhne verliert und dadurch auch geiſtig in un- 
beimlicher Weiſe auf der Welt iſoliert bleibt. Dagegen konnte eine Serie von 
„Wolgadeutſchen Republiken“ auf der ganzen Erde verteilt die Verſtaͤndigung des 
Deutſchtums mit den anderen Sprachgemeinſchaften ungemein erleichtern; das 
beſonders bei völliger Sprachfreiheit, wie fie in Rußland heute beſteht. Solche 
Reſonanzvermittler haben England, Frankreich, Spanien. Italien wären fie noch 
zuzubilligen. Gelingt es irgendwo im Verlauf von Joo Jahren eine geſchloſſene 
Siedlung von ca. 250000 Deutſchen zuſtande zu bringen, fo iſt das fuͤr die kulturelle 
Jukunft des Deutſchtums wichtiger als die Entdeutſchung von einundeinerhalben 
Million Elſaß ⸗-Cothringern. Je mehr wir im Grenzlanddeutſchtum geſchwaͤcht 
werden, deſto mehr mäflen wir daran denken, Auslands ſprengel des Deutſchtums 
von einiger Stärke (denn S 000 Menſchen genügen da nicht) zu ſchaffen. Staats · 
vertrage bei der Regelung der Auswanderung konnen da einiges tun. Eine natio- 
naliſtiſche Tendenz ſteckt in alledem nicht und auch keine unbedingte Billigung jener 
kuͤnſtlichen Ronſervierung obſkurſter Dialekte, wie fie die Sowjetunion heute be⸗ 
treibt. Aber wem an einer Wirkungsmoͤglichkeit der deutſchen Sprache liegt, muß 
unter allem Vorbehalt einen Vorrang der Sprengelſiedlung vor der Bei matſied · 
lung wenigſtens inſoweit anerkennen, als er nicht die Unterbindung jeglicher Aus · 
wanderung fordert ſolange die Erweiterung der Seimatſiedlung noch die Möoͤglich · 
keit zur Unterbringung und Ernahrung der überfhäffigen Bevoͤlkerung ſchaffen 
konnte. 

Bei Seimatſiedlung denkt man gewohnlich nur an Odlandurbarmachung, aber 
primär iſt eine andere Frage, primär iſt die Frage der Groͤße der Guter auf dem 
heute ſchon bewirtſchafteten Boden. 

Bekanntlich iſt dieſe Frage durchaus nicht ſo eindeutig zu entſcheiden wie viele 
glauben. Eines freilich iſt ohne weiteres zuzugeben: Man kann auch für „Das 


Von 1760— 1910 etwa find aus SO000 menſchen (meift Bauern) 3000000 ge- 
worden, von denen zwei Drittel in Banabe leben. 
11* 


156 umſchau 


große Gut“ ein Normalmaß annehmen, und wenn eine Familie fünf ſolche Guter 
beſitzt oder ein Gut aus dem ſich immer noch drei Großguͤter ſchaffen ließen, dann 
tft das unheilvoll. Aber man nehme an, dieſer Beſitz ſei auf das Normalmaß redu ; 
ziert. (Wozu man ſich freilich in Deutſchland, wo man den Sürften und dem Klerus 
noch heute das Land verſchenkt, nie aufſchwingen wird.) Dann taucht jetzt erſt 
die eigentliche Frage auf. Naͤmlich es ſteht feſt, daß im allgemeinen größere Guͤter 
höhere Überſchuͤſſe liefern, als eine Summe von kleinen Gütern. Das liegt abge: 
feben von dem größeren Eigenverbrauch einesteils an dem Bapitalmangel der 
fleinen Landwirte, andernteils an dem Bauernkonſervativismus. Auch haben die 
Sozialiſten (man vgl. in dieſer Sinſicht den Freiſtaat Sachſen) eine Schwaͤche für 
Staatsdomaͤnen. Die Frage der Aapitalbeſchaffung wird für den kleinen Bauern 
wohl durch den genoſſenſchaftlichen Gedanken geloͤſt. Unter dieſem Geſichtspunkt 
wird man eine Anzahl gänftig gelegener Broßgäter dem Staate belaſſen, insbe · 
ſondere als Verſuchs guter auch für landwirtſchaftliche Schulen, und im übrigen 
den Kleinbauern, d. h. die planmäßige Siedlung bevorzugen, wobei zu beachten 
iſt, daß der Staͤdter der angeſiedelt werden ſoll, auf lange hin ein ſchlechtes Siedler⸗ 
material bildet. Wenn man an die Güter an der Oſtgrenze von Schleſien denkt, wo 
faſt nur polniſche Landarbeiter hauſen, fo wird einem die Entſcheidung für die 
Bauernanſiedlung recht leicht. 

Jetzt kommen als zwei und drei die Fragen der Odlandkultivierung und der Inten ; 
ſivierung. Man nimmt an, daß in Deutſchland noch kulturfaͤhiges Odland von der 
Große Pommerns vorhanden iſt. Daß man in der Intenſivierung noch Erſtaun ⸗ 
liches leiſten kann, iſt zweifellos. Will man hier die Schwerfaͤlligkeit des Bauern 
überwinden, fo iſt das (hierin hat der Bolſchewis mus unbedingt recht) nicht ohne 
planmäßige Anleitung von oben moglich. Eine große Schwierigkeit liegt in der 
Frage der Vergiftung des Bodens durch den Bunftbünger. 

Eine vierte Frage der Seimatſiedlung wird gekennzeichnet durch das Stichwort: 
Ausſiedlung der Stadt. Sier find folgende Möglichkeiten zu unterſcheiden: Ent⸗ 
weder man ſetzt die heutigen wirtſchaftlichen Grundlagen der Stadt, alſo vor allem 
den Großbetrieb, als unabaͤnderlich voraus. Dann kann man immer noch die Ein 
wohner gedraͤngt wohnen laſſen wie beute und ſorgt bloß für Heine Brundftäde 
vor der Stadt, Garten haͤuschen, Schrebergarten. Sier iſt von Siedlung kaum die 
Rede. Oder man ſiedelt die Einwohner ganz aus, ſo daß jeder Arbeiter und Ange · 
ſtellte feine eigentliche Wohnung inmitten eines kleines Grundſtuͤcks hatte; das 
wäre naturlich mit einer ungeheuren Erweiterung des raͤumlichen Areals der 
Stadt verbunden: Wohnungsausſiedlung. Man kann aber auch eine Anderung des 
Grundcharakters der Stadt für möglich halten, bier geht man aus von der Jer · 
legung der Fabrik, die Stadtausſiedlung umfaßt auch eine Werkſtattausſiedlung, 
wie fie Eugen Roſenſtock geſchildert hat (Roſenſtock, „Werkſtattausſiedlung“, 
Berlin 1922). werk ſtattausſiedlung und Wohn ungsausſiedlung zuſammen wurden 
eine vollſtaͤndige Revolutionierung der kapitaliſtiſchen Stadt bedeuten. 

Schließlich mag fünftens noch eine beſondere Frage erwähnt werden, die ſich bei 
der Behandlung der genoſſenſchaftlichen Arbeit ergibt. Genoſſenſchaften ſelbſtaͤn · 
diger Bauern kennt man bei uns längft. (Meiereigenoſſenſchaften 3. 3.) Sier kann 
aber auch an eine kommuniſtiſche Genoſſenſchaft, an die echte landwirtſchaftliche 
Produktivgenoſſenſchaft gedacht werden, wie ſie die Sowjetregierung mit allen 
Mitteln fördert. Am J. Jo. 1924 gab es in Rußland 6220 Aollektivwirtſchaften 


Umſchau 157 


(Bommunen) mit 145200 Mitgliedern. Wie alles, was in Rußland geſchieht, 
ſollte auch dieſes Experiment bei uns forgfältig beobachtet werden. Alo ß 


5 8 C ieber Doktor Corwegh, 
Offener Brief an Aerrn Corwe b erlauben Sie mir, Ihnen auf 


Ihren Artikel im Maͤrzheft der „Tat“ einige Worte zu erwidern. Sie haben meine 
Auffäge ganz und gar mißverſtanden und deshalb erſcheinen fie Ihnen fo, wie Sie 
fie darſtellen. Wir wollen uns einmal fragen: Wie iſt ſolch ein Mißverſtehen zwi⸗ 
ſchen zwei Menſchen, die gleiche, mindeſtens ahnliche Bildung beſitzen, möglich ? 
Damit helfen wir am beſten uns und den Tatlefern. 

Ich glaube zunaͤchſt, daß wir beide ganz verſchiedenen Generationen angebören. 
Entweder find Sie viel älter als ich — oder viel jünger, fo daß Sie, in beiden 
Faͤllen, in alten Traditionen ſtecken — als viel älterer Menſch natärlicherweife; 
Jugend aber muß Angelehrtes oft erſt überwinden um „zeitgemäß“ zu werden. 
Ich glaube aber, Sie find ein bedeutend aͤlterer Menſch. Sie haben kein Organ für 
das Vorwaͤrts ſtuͤrmende, Suchende, Draͤngende, Sehnende, — Schoͤpferiſche in 
uns „Neuen“. Es empört Sie, wenn wir achtlos über Dinge hinwegſtuͤrmen, die 
Ihnen als abſolute Werte, als Notwendigkeiten erſcheinen. Uns iſt das Leben, iſt 
Wirklichkeit, Tat, Geſtaltung alles. Sie wollen Methode, ruhiges Weiterſchreiten 
in den Juͤgeln des Überlieferten und des „Erworbenen“. Das läßt Sie aber doch 
etwas zu ſehr an Einzelheiten Heben. Vor allem aber begreifen Sie — und neh ⸗ 
men Sie das bitte nicht als Vorwurf, ſondern verſtehen Sie, daß ich Ihnen helfen 
möchte, um uns zu wiſſen — die bunte, fruchtbare Vielſeitigkeit unſeres zukunft · 
erfüllten Weſens gar nicht. Wir find Ihnen gewiß herzlich zuwider, wir Neuen, 
Brauſenden, Stürmifden. Und aus dieſem Reſſentiment heraus kritiſieren Sie 
uns, — meine Auffäge im beſonderen. Sie werden nun aber aus ſolchem Gefühl 
nicht nur ungerecht, nein, auch verſtaͤndnislos. Ja, ich kann Ihnen den Vorwurf 
leider nicht erſparen: Sie leſen irgendwie verkehrt. Entweder haben Sie meine 
Aufſaͤtze zu oft geleſen, fo daß Ihnen der Ihnen weſens fremde Sinn verloren 
ging — oder irgend etwas, vielleicht meine Stellung zu den Akademikern 7, viel- 
leicht ein gewiſſer, wenn auch ganz uͤberparteiiſcher Sozialismus? hat Sie geärgert 
und Sie wollten nun den Sinn — wenn auch unbewußt — nicht mehr in ſich auf: 
nehmen. Anders kann ich mir eine fo peripheriſche, zerſtüͤckelnde Art der Kritik von 
einem geſchulten Menſchen nicht erflären. Auf das Problem ſelbſt gehen Sie gar 
nicht ein. Ihre wenigen Saͤtze am Schluß ſtreifen es kaum. Sie bieten, trotzdem 
Sie verſprechen, nun Poſitives zu ſagen, nur Bemeinpläge, wie eine gewiſſe Preſſe 
fie ſchockweiſe zur Verfügung ſtellt. Erkenntnis, Erlebnis — tief, ſchmerzhaft Er⸗ 
rungenes bieten fie nicht im geringſten. Schlägt man daneben meine — ich darf 
wohl fagen ganz tief erlebten Darlegungen auf, fo fühlt man fofort, wo Erfah ; 
rung, Kraft, Fruchtbarkeit, Fulle, Leben vorhanden iſt. Ich hoffe, recht viele Tat ⸗ 
leſer haben, durch Sie angeregt, noch einmal die betreffenden Sefte zur Sand ge⸗ 
nommen und verglichen. 

Ihre Einzelkritikł grenzt an Wortklauberei. Sie empoͤren ſich daruber, daß ich 
einmal „Weltordnung“ ſetze, wo Sie „Geſellſchaftsordnung“ geſetzt hatten. Welt 
iſt Ihnen gleich Ros mos. Aber Sie kennen doch gewiß das Wort von der „gott ⸗ 
lichen Weltordnung, die erhalten bleiben“ fol? In ihm wird „weltordnung“ 
durchaus im übertragenden Sinne gebraucht, an es habe ich bewußt gedacht, als 


158 Umſchau 


ich das von Ihnen beanſtandete Wort gebrauchte. Darf ich Sie darauf aufmerk · 
ſam machen, daß Sie dasſelbe tun, was Sie an mir tadeln, wenn Sie ſagen: Der 
Standort.. . die Welt zu bewegen . .. uſw. Archimedes Wort ſchwebt Ihnen 
vor. Der alte Grieche meinte es rein phyſikaliſch. Sie gebrauchen es offenſichtlich 
in uͤbertragender Bedeutung. Sie konnen den Bosmos gar nicht meinen. Iſt es 
nun etwas anderes, wenn Sie es tun, als wenn ich es tue? Saͤllt es bei Ihnen nicht 
noch ſchwerer ins Gewicht, da Sie fo ſtreng ſchaͤrfſte Begriffsbegrenzung von — 
anderen fordern? ! Auch wo Sie mir fonft Unordnung im Gebrauch von Be⸗ 
griffen vorwerfen, haͤlt der Vorwurf die Nachpruͤfung nicht aus. Vielleicht hatten 
Sie hier oder da es anders — nicht nur geſagt, ſondern auch gemeint. Ich meine 
aber genau, was ich ſage. Sumoriſtiſch mutet an, was Sie über die Stelle S. 333 
fagen. Es geht aus dem Juſammenhang fo Mar hervor, daß ich den Beſitz ·, 
den Sachwerterraffungskult, das Gaben, dem inneren Menſchenwert, dem 
Charakter, dem Sein, gegenüberftelle, daß ich an ein ernſthaftes Mißverſtehen 
Ihrerſeits nicht zu glauben vermag. An bewußte Verdrehung will ich nicht glau- 
ben, trotzdem Sie boͤſen Schein erregen indem Sie von einer (in Anfuͤhrungs⸗ 
ſtrichen I) Seinskultur reden, was nach einem Zitat ausſieht, aber noch nicht ein ⸗ 
mal dem Sinne des von mir Geſagten entſpricht. Da Sie aber andererſeits eben da 
den Gegenſatz zum „Sein“ mit „Können“, ja ſogar „äͤͤußerlichem Verhalten“ 
ſeltſam konſtruieren, — vielleicht meinen Sie Schein, Anſchein? — fo iſt man doch 
gezwungen, ein blindes Vorbeitaſten anzunehmen, das eben daraus reſultiert, daß 
Sie einzelne Saͤtze und ſelbſt Worte aus dem Juſammenhang reißen. 

Eine Bruͤcke zum Verſtaͤndnis hoffe ich Ihnen bauen zu koͤnnen, indem ich an 
die Gegenuͤberſtellung von S. 322 und S. 329 anknuͤpfe. Zier zeigt es ſich ſehr 
deutlich, was uns trennt. Obwohl es aus den — wieder dem Juſammenhang ent- 
riſſenen! — von Ihnen angeführten Jitaten keineswegs erhellt, eben weil Sie 
ihren ortlichen Juſammenhang als unweſentlich ignorieren — haben Sie Recht, 
wenn Sie behaupten, ich ſei ſowohl „Idealiſtin“ als „Materialiſtin“. Iwar find 
die angrfuͤhrten Schlagworte zu eng gefaßt, ihr „Begriff deckt nicht mehr die 
Wirklichkeiten, die fie bezeichnen ſollen. Aber hier ſtreifen Sie das Problem, das 
ich im ganzen Artikel behandele und das Sie vor lauter Begriffs analyſe ſich immer 
und immer entſchluͤpfen laſſen. Der Riß beherrſcht ja unſere Kultur — das 
„idealiſtiſche Bürgertum ſteht dem „materialiſtiſchen Proletariat gegenüber. 
Der Akademiker, deſſen Potenz zum Iwei ⸗ Menſchentum ich deutlich geſchildert 
babe, ſcheint mir berufen, die Kluft zu überbräden, wenn er nicht nur Wiſſen⸗ 
ſchaftler, Begriffler, ſondern Menſch, Menſch, Menſch iſt! Ich ſelbſt — und 
viele, viele mit mir — bin, ganz bewußt, vom „Idealismus — durch Milieu 
und Bildungsgang — und vom „Materialismus“ — teils auch durchs Studium, 
mehr durch praktiſche, freiwillig dienende Tatigkeit — ausſchlaggebend beeinflußt. 
Es iſt die Aufgabe der Geiſtesmenſchen unſerer Jeit, diefe Gegenſaͤtze in ſich zur 
Sarmonie zu bringen und fie der Allgemeinheit — Gemeinſchaft und Geſell 
ſchaft ! — fruchtbar zu machen. Das eben iſt Syntheſe. Wiemand kann Schoͤpfe · 
riſches vollbringen, der bier nicht ganz tief, ganz hart möchte ich ſagen, durch · 
gedacht, durchgelebt — verarbeitet hat. Dabei aber wird ihm deutlich, daß die durch 
die Worte bezeichneten Begriffe den Umfang und Inhalt der Lebens wirklich 
keiten, die fie darſtellen wollen, in keiner Weiſe mehr faſſen konnen. Nach allen 
Seiten ſtroͤmt es über wie ein zu vollgegoſſenes Gefaͤß, dem immer neues Waſſer 


Aulturpolitiſcher Arbeitsbericht 159 


noch zufließt. Und darin trennen wir Neuen, „Jungen“ — es braucht ja nicht an 
Jahren zu fein! — uns von Euch anderen, — wir erkennen die Relativitaͤt der 
auf Begriffen baſierenden ſogenannten „Wiſſenſchaft“, das Kriterium des Be ; 
griffes iſt uns die Wirklichkeit, nicht aber wollen wir die Wirklichkeit mit der 
Enge des Begriffs meiftern. 

Meine Artikel in der Tat follten Weckruf fein, fie ſollten Scheuklappen ab⸗ 
reißen, Köpfe und Serzen revolutionieren. Ich glaube nicht nur, ich weiß, daß mir 
das bie und da gelungen iſt. 

Aritit tut mir nicht weh. Aber ich wuͤnſchte, um Ihretwillen, es wäre eine Ari 
tit des Verſtaͤndniſſes, der Uberlegenheit gewefen. Unſere Art ift ſehr verſchieden. 
Wir ſehen von ganz anderen Geſichts punkten. Das gibt veränderte Perſpektiven. 
Da iſt Verſtaͤndnis nur noch moͤglich bei ſehr gutem Willen, bei beiderſeitigem, ſich 
beſcheidendem Anerkennen und Achten der Notwendigkeit und der Eigenart des 
Andersſeienden. Ein Hein wenig laſſen Ihre Jeilen dieſen guten Willen meiner 
Meinung nach vermiſſen. Aber, wie geſagt, ich glaube, Sie zu verſtehen, und 
zeichne in aller Sochachtung | Arserlle Sonneborn 


Rulturpolicifcher Arbeitsbericht 


keit, in Bauernhaͤuſern und Bauern⸗ 


Unſer Arbeitsplan 
Arbeitswoche n fur 1928 iſt noch 
nicht endgültig. Eine beſondere Aufgabe 
iſt uns erwachſen im Ausbau und in der 


Auswirkung der Arbeiten von Serrn 


Profeſſor Schwindrazheim. 

Erfreulich iſt die Unterſtͤtzung, die 
uns der erziehungswiſſenſchaftliche 
Ausſchuß und andere Areiſe entgegen- 
bringen. Nach all den Juſchriften liegt 
hier eine Aufgabe vor, die an alle Leh; 
rervereine herangetragen werden muß. 
In ſelbſtloſeſter Weiſe ſtellt Serr Pro; 
fefioe Schwindrazbeim fein umfang ⸗ 
reiches Anſchauungs material und Wiſ⸗ 
fen in den Dienſt der Aufgabe. In San; 
nover, Elbingerode, Laderholz und 
anderen Orten ſind eingehende Studien 
getrieben worden. 

So fand bereits vom 27. Maͤrz bis 
J. April unter feiner Sͤhrung eine 
Woche über Fünftlerifhes Sehen in der 
Matur ſtatt. Es folgen vom J. bis I3. 
Juli : Studien mit Profeſſor Schwind ⸗ 
razheim. Selbſtaͤndiges Arbeiten der 
Teilnehmer. Schwarz · weiß, wenig Sar- 
ben, mit gefüllten Paſtellkaſten; und 
im Auguft : Bauernſtudien mit Skizzier⸗ 
uͤbungen und Wanderungen um Dein⸗ 
ſtedt herum. Studieren in der Wirklich ⸗ 


doͤrfern. 

In der Pfingſtwoche vom 25. bis 
30. Mai hält Profeſſor E. Griſebach ; 
Jena eine Arbeitswoche über „Was iſt 
ethiſche Wirklichkeit“. (Moglichkeit und 
Begründung der Ethik). 

Die paͤdagogiſche Arbeit, die ja, 
im weiteren Sinne genommen, ſich als 
Aufgabe Deinſtedts herausgeſtellt hat, 
wird weſentliche Erweiterungen er- 
fahren. Arbeitstage mit Serrn Pro- 
feſſor Dr. Spranger liegen noch nicht 


feſt. 

Fuͤr die Serſtferien find in Ausſicht 
genommen: Serr D. Friedrich Gogarten ; 
Je na über „Autorität und Erziehung“; 
Serr Profeſſor Nohl ⸗ Gottingen über 

„Religion und Schule“. 

Te ilnehmerbeitrag 32 m (für Nicht · 
mitglieder 25% Aufſchlag) fur Sonorar, 
Verpflegung, Unterkunft. Für Jung ⸗ 
lehrer betraͤgt die Teilnehmergebühr 
nur 21 M. Teilnehmerbeitrag für die 
Jeit vom I. bis 13. Juli 84 m. Eigene 
Bettwaͤſche iſt mitzubringen. 

Anmeldungen ſind zu richten an die 
Zei matſucher e. V., Deinſtedter Arbeits⸗ 
5 Deinſtedt bei Bremer: 
voͤrde. 


160 


Pfingſtkurs im Volksbhochſchul⸗ 
beim auf dem Darß 


Vom 21. bis3J. Mai des Jahres findet 
im Volkshochſchulheim auf dem Darß 
in Prerow (Endſtation der Bahn von 
Berlin über Stralſund, von Samburg 
über Roſtock, Velgaſt, Barth) ein 


Pfingſtłurs ſtatt. Wie auch im vorigen 


Jahr haben ihre Teilnahme als Baft- 
lehrer zugeſagt Profeſſor Itten, Frau 
von Proſch und Profeſſor Schreyer. 

De m Geiſt der Jahreszeit entſprechend 
und dem Sinn des Feſtes gemäß, das 
in dieſe Jahreszeit fällt, wird auch in 
dieſem Jahr das Jiel der Veranſtaltung 
ſein, zu verſuchen, den gemeinſamen 
Grundzůugen des Lebenswillens unferes 
Jeitalters naͤherzukommen. In der 
Form von Vortrag und Rundgeſpraͤch 
ſollen die verſchiedenen Verſuche ein⸗ 
heitlicher Weltanſchauung, die von 
Seite des Glaubens wie von Seite der 
Wiſſenſchaft unternommen werden, 
neben · und miteinander betrachtet wer- 
den. Die Verſuche der Verlebendigung 
des Chriſtentums und der deutſchen My⸗ 
ſtik, das Eindringen öoͤſtlicher Seilslehre 
und amerikaniſierender Praktik, An- 
thropoſophbie, Masdasnan, ſowie die 
wiſſenſchaftlichen Verſuche von medi⸗ 
ziniſcher Seite (Pſychoanalyſe) follen 
von denen, die dieſe verſchiedenen Welt⸗ 
anſchauungsformen kennen oder be- 
kennen, dargeſtellt werden. Wie auch 
ſchon im vorigen Jahr, wird Profeſſor 
Itten praktiſche Übungen zur Börper- 
kunde leiten. 

Nicht um Anhänger und Nachbeter 
dieſer verſchiedenen Anſchauungen und 
Cehren zu werben, findet dieſe Veran⸗ 
ſtaltung ſtatt, ſondern um vorurteils- 
frei in gemeinſamen Denken und Tun 
dieſe Gedanken wirken zu laſſen, ihre 
Verſchieden heit, mehr noch ihre Ver⸗ 


Aulturpolitiſcher Arbeitsbericht 


wandtſchaft aufzufinden, allein beſeelt 
von dem Wunſch, zu wiſſen, was der 
heutige MRenſch an Mitteln braucht 
und ſich erwerben muß, um frei zu 
werden fur ſein Leben und ſtark zu feiner 
Arbeit. 

Wie auch im vorigen Jahr werdendie 
Aurſe ſoweit es moglich iſt, ſchon drau⸗ 
ßen am Strand oder im Dünengelände 
ſtatt finden. 

Der Gymnaſtik unterricht am morgen 
wird von Fraͤulein Traͤnckner (Schule 
Coheland) geleitet werden. 

Die Arbeits ge meinſchaft wird, wie es 
in unferem Seim üblich iſt, nur fo viel 
Jeit in Anſpruch nehmen, daß genug 
uͤbrig bleibt, um auch allein zu ſein und 
die weiten Räume von Meer und Land ⸗ 
ſchaft wirken zu laſſen. 

Naͤheres über die Bedingungen der 
Aufnahme, ſowie Auskunft erteilt (dop⸗ 
peltes Porto iſt beizulegen) die Leitung 
des Volks hochſchulheim auf dem Darß, 
Dr. Fritz Blatt, Prerow (Oſtſee) Kreis 
Franzburg. 


J wei Sechzigjahr⸗ Jubiläen 
Georg Stein hauſen, der bekannte 
kulturhiſtoriſche Schriftſteller, begeht 
am 2. Juni feinen 60. Geburtstag. Mit 
dem Verlag iſt er eng verbunden durch 
die Seraus gabe der „Monographien zur 
deutfchen Aulturgeſchichte“, an der Tat 
bat er öfters, fo auch in dieſem Sefte 
mitgearbeitet. Aber auch als Erzaͤbler 
bat er ſich mit Erfolg betätigt. Mone 
im naͤchſten Jahrzehnt die Reife des 
Alters noch manchem Werk und man- 
chem Aufſatz zugute kommen. 

Auch zum 60. Geburtstag ihres Mit⸗ 
arbeiters Paul Ernſt am 7. März 
bringt mit dem gleichen Wunſch die Tat 
noch nachtraͤglich Erinnerungen eines 
Jugenöfreundes. E. D. 


Dem Sefte liegen Proſpekte der Firmen 5. Saeſſel, Verlag, Ceipzig, Verlag 
Max Nie meyer in Salle und vom Verlag Julius Springer in Wien, bei, die einer 
beſonderen Beachtung empfohlen ſeien. 


Schriftleiter: Dr. h. e. Eugen Diederichs, Jena, Carl-Jeiß- Platz 5. Bei unverlangter Zuſendung 
von Manuftripten iR Porto für Rüdfendung beizufügen. — Verlegt bei un Br in Des 
Druck von Aadelli & Sille in Leipzig 


iet ſa 


für die Zufunft 


Monatsſchri 
deutscher Rultur 


Is. Jahrgang Heft 3 Juni 1926 
— — — IT u =, 


Paul Ernſt / Doſtojewſki und wir 


E. wird von Doſtojewſki ein Ausſpruch berichtet: „Wir Ruſſen lägen 


alle. Aber wir werden uns noch zur wahrheit durchlugen.“ Viel · 
% leicht iſt der Ausſpruch nicht wahr oder iſt mir nicht ganz richtig in 
der Erinnerung: aber dann koͤnnte er wahr fein, und er würde das Le 
bensgefuͤhl Doſtojewſkis ausdrucken. | 
Die Ruſſen ſuchen immer nach der „Wahrheit“; aber die „Wahrheit“ 
gibt es gar nicht. Es gibt nur für die verſchiedenen Aufgaben des Lebens, 
Denkens, Süblens mehr oder weniger angemeſſene Löfungen. Aus Irr 
tum und Sünde beftebt nach den religioͤſen Lehren unfer Leben; in dem 
religiͤöſen Mythus, welcher für uns die Vorſtellung des Jenſeits bildet, 
wird gelehrt, daß nach dem Tode eine Exklaͤrung kommen wird. Als ein 
„Glauben“ wird die Erklaͤrung bezeichnet, die wir im Diesſeits haben koͤn⸗ 
nen, nicht als ein Wiſſen: als ein Zuſtand, in den man ſich hineinlebt; nicht 
als eine Einſicht, die mitgeteilt werden kann, eine Wahrheit. Der Lehrſatz 
des Pythagoras iſt wahr: aber wir koͤnnen den Begriff „Wahrheit“ nicht 
etwa auf das Daſein Gottes oder die menſchliche Freiheit anwenden, wir 
geraten vielmehr, wenn wir von der Wahrheit des Jenſeitigen ſprechen, 
in Widerfpruch mit unſerer Vernunft, welche die Wahrheit des Pytha⸗; 
goraͤiſchen Lehrſatzes einſieht. 
was Menſchen hoherer Art, die religiͤſen Menſchen, mit dem Wort 
„Wahrheit“ bezeichnen, das iſt alſo etwas anderes als die mathematiſche 
wahrheit. Man kann ſagen, daß ein Mißbrauch mit dem Wort „Wahrheit“ 
getrieben wird, oder man kann ſagen, daß die Menſchen erſt ſpaͤt dazu ge- 
kommen ſind, die jenſeitige „Wahrheit“ von den diesſeitigen Wahrheiten 
abzuſpalten, und daß ſie deshalb noch kein Wort fuͤr ſie gefunden haben. 
wir haben nur einen Glauben, und dieſer Glauben iſt nicht ein Fuͤrwahr⸗ 
halten gewiſſer Lehren oder Einſichten, ſondern ein Sineinleben in das 
Jenſeits: er iſt alſo ein Vorgang. BE 
Cat vm WMI 
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Ges. d. Fr. d. 
vaterländ Schul- & 
I Erziehungswesens 


12 


1 


362 Paul rnſt 


was Doſtojewſki „luͤgen“ nennt, das iſt nicht das harmloſe Lügen, das 
ein, meiſtens unſauberes, Mittel im Rampf ums Daſein iſt, ſondern das iſt 
die Selbſtluͤge. Wie kann ein Menſch, der ſich ſelbſt belugt, in das Jenſeits 
bineinleben? Doſtojewſki ſagt, daß er es kann, daß der Ruſſe es kann. Fuͤr 
den Deutſchen faͤngt das Sineinleben in das Jenſeits immer mit der Kritik 
der Selbftläge an, welche mit der gerade herrſchenden Zebenslüge eng zu⸗ 
ſammenzuhaͤngen pflegt. 

wenn ich nach meinem Gefuͤhl gehen ſoll, dann erſcheint mir die ruſſiſche 
Art veraͤchtlich. Sie iſt feig und ſklaviſch. Aber damit iſt es nicht getan: ſie 
Mt nun einmal wirklich, und man muß fie verſtehen. Denn die Menſchheit 
iſt gebildet aus verſchiedenen Voͤlkern mit verſchiedenen Trieben; und der 
Kampf dieſer Voͤlker untereinander iſt das Ziel der Menſchheit, nicht das 
einzelne Volk. Ich muß immer wiſſen, daß der Kuſſe ſeinerſeits die deutſche 
Kritik verachtet. Er kann ihr vorwerfen, was man dem Grundſatz des 
Proteſtantismus vorwerfen kann: Trotz des Einzelnen auf feine notwen⸗ 
dig beſchraͤnkte Perfoͤnlichkeit und damit Vernichtung der geſellſchaftlichen 
Bande. 

Das im eigentlichen Sinn deutſche Grundgefuͤhl, das man das proteſtan ; 
tiſche nennen kann, mythiſch ausgedruckt: unmittelbar feinem Gott gegen; 
uͤberzuſtehen, hat als Gegenſatz nicht nur das ruſſiſche, ſondern auch das 
katholiſche Grundgefůhl. Der Katholik nimmt eine geſellſchaftliche Form, 
die Kirche, als vermittelnde Gnadenanſtalt zwiſchen Gott und Menſchen 
an. Durch fie iſt es moglich, das ganze Volk, auch die ſchwaͤcheren und 
ſchwaͤchſten Menſchen zu Gott zu führen ; dieſe Form iſt Serrſchaft. 

Mit neueren Worten ausgedruckt: Der Katholizismus iſt ein ariſtokra⸗ 
tiſches Serrſchaftsgebilde zugunſten der Beherrſchten. Der Proteftantis- 
mus iſt herrſchaftsloſer Ariſtokratismus, bei dem der Menſchen garnicht 
gedacht wird, die notwendig die Serrſchaft gebrauchen; die alſo ſich ſelbſt 
uͤberlaſſen irgend eine Sorm zu finden haben, in der fie leben koͤnnen: das iſt 
der Vulgaͤrproteſtantismus; dieſer hat mit dem wirklichen Proteſtantismus 
nichts zu tun, waͤhrend der Vulgaͤrkatholizismus eng mit dem wirklichen 
Katholizismus verbunden iſt. Der Katholizismus iſt immer eine politiſche 
Macht, eine bedeutende oder unbedeutende, je nachdem die Kirche aus den 
bedeutenden oder aus den unbedeutenden Maͤnnern der Zeit beſteht. Er wird 
immer geſellſchaftser haltende Wirkungen ausůͤben. Was von Proteftantis- 
mus etwa politiſch etwa wirken kann, das wird immer der Vulgaͤrprote⸗ 
ſtantismus ſein, der denn notwendig eine geſellſchaftszerſtoͤrende Macht 
ſein muß, wenn er nach außen wirkt. Der eigentliche Proteſtantismus hat 
keine geſellſchaftliche Sorm: er iſt Geſinnung Einzelner. Dieſe Einzelnen 
koͤnnen vielleicht fo weit kommen, daß fie die Notwendigkeit einer objek 
tiven kirchlichen Macht fuͤr die Geſellſchaft einſehen, innerhalb deren ſie ſich 
perfönlih ihre geiſtige Freiheit bewahren: ich koͤnnte mir einen Sebaſtian 
Franck als einen ſolchen Mann denken. Gder fie bleiben auf ihrem berr- 


Doftojewfli und wir 163 


ſchaftslos ariſtokratiſchem Standpunkt wie Zuther, der immer fein perfön- 
liches Erleben für genügend hielt, und nehmen etwa die Möglichkeit an, 
daß alle Menſchen „Adelsmenſchen“ fein Binnen und follen, oder daß die 
Andern massa perditionis ſind, wo ſie denn notwendig ungeſellſchaftlich 
werden muͤſſen, oder bewegen ſich unklar zwiſchen dieſen beiden Anſchau⸗ 
ungen. Der Proteſtantismus, wie er hier gefaßt iſt, muß auf jeden Fall 
tragiſch werden; er muß zum Untergang fuͤhren; denn der Menſch kann 
nun eben einmal nicht in der Vereinzelung leben. Natuͤrlich iſt damit nur 
etwas über ihn als geſellſchaftliche Macht ausgeſagt; und im Weltplan 
Gottes wird ja wohl auch die Tragoͤdie vorgeſehen fein in Verbindung mit 
dem übrigen, wie das notwendig immer tragiſche Schickſal des deutſchen 
Volkes zur Entwicklung der europaͤiſchen Geſchichte gehort. 

Das iſt uns alles Har. Was aber iſt denn die ruſſiſche Art? 

Doſtojewſki hat den Proteſtantismus nie verſtanden; der iſt ja nur in 
wenigen Einzelmenſchen Wirklichkeit geworden; er haͤlt ihn für bloße Kri⸗ 
tik. Aber Über den roͤmiſchen Katholizismus hat er viel und gründlich nach» 
gedacht. Aus dem, was er über dieſen ſagt, müßten wir verſtehen koͤnnen, 
was der ruſſiſche Glaube denn eigentlich iſt, der ruſſiſche Glaube, der heute 
mit dem Glauben Doſtojewſkis gleichgeſetzt wird. 

Die Legende vom Großinquiſitor enthält die religioͤſen Gedanken Dofto- 
jewſkis am deutlichſten. Sier muͤſſen wir ſuchen. 

Nur muͤſſen wir uns zuerſt ſagen: Faſt alle theologiſchen Denker ſind ſo 
vorgegangen wie die Philoſophen, daß fie unerfchättert an die Wahrheit 
ihrer gefundenen Gedanken glauben und die nun verſtandesmaͤßig aus ⸗ 
einanderſetzen. Doſtojewſki iſt ein Dichter und weiß als ſolcher, daß es die 
wahrheit, wie dieſe Maͤnner ſie meinen, nicht gibt: daß es ſich um einen 
Vorgang in uns handelt, um einen Rampf ums Leben. Er läßt deshalb 
ſchon ſeine Legende von einem meuternden Gottloſen verfaßt ſein, von 
Iwan Karamaſow. Und er gibt nicht eine wiſſenſchaftliche Auseinander⸗ 
ſetzung, ſondern erzaͤhlt eine Legende. Chriſtus iſt zur Erde niedergeſtie · 
gen. Er wird vom geiſtlichen Gericht gefangen und vor den Großinquiſi⸗ 
tor geführt. Dieſer erklaͤrt ihm: „Du haſt den Menſchen die Freiheit brin- 
gen wollen. Aber die Menſchen koͤnnen die Freiheit nicht gebrauchen, denn 
fie wollen Gluck. Deshalb haben wir, die Prieſter, eine Serrſchaftsordnung 
geſchaffen, die Kirche, in welcher wir die Menſchen fuͤhren, daß ſie gluͤcklich 
werden. Das ftörft du, deshalb werde ich dich morgen verbrennen laſſen.“ 
Chriſtus erwiderte nichts auf dieſe Saͤtze, er kůßt den Großinquiſitor nur 
ſchweigend auf die Stirn da oͤffnet der das Gefaͤngnis und ſagt: „Geh.“ 

In feinen übrigen Schriften ſteht Doſtojewſki im direkten Gegenſatz zur 
roͤmiſchen Kirche, von der er, mit Recht, annimmt, daß ihre letzte Folge; 
rung Sozialismus und Rommunismus ſind; die veraͤchtliche Verbindung 
von Zentrum und Sozialdemokratie bei uns mit dem Zweck einer paziſiſti⸗ 
ſchen Demokratie iſt durchaus natuͤrlich. Doſtojewſki ſelber will frei ſein, 


I» 


164 Paul Ernſt 


und gewiß ſchwebt ihm ein hoͤheres Ideal der Menſchheit vor, als der 
Kaninchenſtall. Aber fein Chriſtus widerlegt den Großinquiſitor nicht, er 
kann ihn offenbar nicht widerlegen. Er kuͤßt ihn nur, und der Großinqui⸗ 
ſitor offnet ihm das Befängnis. Und das iſt eine Legende, die von einem 
Atheiſten gedichtet iſt, der in der Auflöfung alles Menſchlichen und Bötr- 
lichen ſoweit geht, daß ihm nichts verboten iſt und alles erlaubt: er iſt das 
Gehirn, welches die Sand des ZLakaien zum Vatermord fuͤhrt. 

Mit anderen Worten: auf dem Soͤhepunkt feiner geiſtigen Entwicklung 
hat Doſtojewſ ki gefuͤhlt, daß wir in allem, was das Jenſeitige betrifft, im · 
mer auf Antinomieen kommen: ſo muß man doch annehmen. 

Wir wollen aber doch im einzelnen betrachten; dann werden wir einen 
tieferen Einblick in ihn ſelber und die ruſſiſche Seele gewinnen; denn jenes 
Gefuͤhl iſt ja weder neu noch ſelten: freilich hat es nur in Ausnahmefaͤllen 
Folgen gehabt. 

Im Großinquiſitor iſt eine politiſche Macht, wenn auch mißverſtanden, 
wuͤrdig dargeſtellt, die eine große geſchichtliche Erſcheinung war. Aber ſein 
Begenfpieler Chriſtus iſt keine geſchichtliche Erſcheinung. Er iſt nur die 
Idee Doſtojewſkis. 

Was iſt denn der Chriſtus der Evangelien? Er iſt doch nicht eine geſchicht · 
liche Perſon, wie einer der Paͤpſte. Auf dem Höhepunkt der Entwicklung 
ihres Geiſtes kamen die Griechen zu der Idee des Gottes, der leidet. In 
irgendeiner Weiſe floß dieſe Idee mit urtuͤmlichen Vorſtellungen eines ge- 
töteten Fruͤhlingsgottes zuſammen, die in den Urzeiten unklar aus dem ⸗ 
ſelben Erlebnis geſchaffen war. Ein Menſch oder mehrere von der aller- 
hoͤchſten Art bildeten eine religioͤſe Dichtung aus, welche für einen Myſte · 
riendienſt verwendet wurde. Dichtung und Idee gelangten irgendwie in die 
Tiefe des Volkes, teilten ſich auch den helleniſierten Juden mit. Durch Miß⸗ 
verſtaͤndniſſe, Zufaͤlligkeiten aller Art wurde das vorhanden Gebildete zer / 
truͤmmert und neu zuſammengeſetzt nach Beduͤrfniſſen und Einſichten des 
niederen Volkes, und wurde hier mit allerhand Wuͤnſchen, Soffnungen und 
Glaubensſaͤtzen fremder Art vereinigt, vielleicht auch mit der Erinnerung 
an einen wundertuenden Rabbi, der hingerichtet wurde. Es ſetzte die Kir⸗ 
chenbildung ein, und das neue, wirre Gebilde wurde von den offenkundig 
bedenklichſten Zuͤgen geſaͤubert: das iſt denn nun die Chriſtusgeſtalt unferer 
Evangelien. | 
 Sür einen Mann wie Doſtojewſki, der in die letzten Geheimniſſe der Keli⸗ 
gion eindringen will, darf von ihr weſentlich nichts ſein, als die Idee des 
Gottes am Kreuz: ein religiöͤſer Mythos alſo; er mag ſich noch aus den 
uͤbel zuſammengemauerten Truͤmmern den einen oder anderen Ausſpruch 
herausſuchen, wenn es nötig iſt, reinigen, und ſich um fein Verſtaͤndnis be- 
muͤhen; aber eine Geſtalt, die als Menſch auf Erden wandelnd denkbar 
wäre, auch als ein Menſch der Dichtung, wie etwa Ödipus auf Kolonos, 
kommt da nie heraus; Chriſtus iſt eine religiöfe Idee. 


Doftojewffi und wir 165 


Die Legende vom Großinquiſitor iſt eine Dichtung. Man darf fie alfo 
techniſch kritiſieren. Nun: es iſt offenkundiger Unſinn, daß eine Geſtalt, die 
als Menſch charakteriſiert iſt, mit einer religiöfen Idee einen Dialog führen 
ſoll. Es kann nur ein Monolog herauskommen, denn antworten kann nur 
ein Menſch, nicht eine Idee. 

Ein ruſſiſcher Philoſoph namens Berdjajew, der ein Buch über Doſto⸗ 
jewſki geſchrieben bat, ſagt bewundernd über die Legende: „Erxſtaunlich 
iſt der Kunſtgriff, deſſen ſich Doſtojewſki bedient. Chriſtus ſchweigt die 
ganze Zeit über, er bleibt im Schatten. Die poſitive religiöfe Idee findet 
ihren Ausdruck nicht im Wort. Die Wahrheit uͤber die Freiheit iſt unaus- 
ſprechlich. Leicht ausdruͤckbar iſt nur die Idee der Noͤtigung. Die wahr⸗ 
heit über die Freiheit erſchließt ſich allein aus dem Gegenſatz zu den Ideen 
des Großinquiſitors, fie ſtrahlt hell durch die Ausführungen des Groß ⸗ 
inquiſitors gegen fie hindurch.“ 

Ein Dichter muß dichten koͤnnen, follte man meinen. Seute aber nennen 
ſich viele Leute Dichter, welche nicht dichten koͤnnen; und die Menſchheit 
glaubt ihnen ihre Behauptung, ja, haͤlt ſie fuͤr um ſo groͤßere Dichter, je 
weiter ihre Faͤhigkeiten von den Gaͤhigkeiten des Dichters entfernt find. 
Ein Philoſoph muß denken koͤnnen, ſollte man meinen; aber nicht nur 
Berdjajew haͤlt ſich fuͤr einen Philoſophen, ſondern viele andere aͤhnliche 
Männer auch noch, und die Menſchen heute glauben ihnen ihr Vorgeben. 
Was Serr Berdjajew fagt, das erinnert an das, was man in Amerika als 
philoſophie bezeichnet; er haͤlt Wiederholung und Beteuerung für Be⸗ 
weiſe. Doſtojewſki iſt ein bedeutender Mann; ich glaube, daß feine Lehren 
eine furchtbare Gefahr fuͤr die Menſchheit bedeuten, ſie waren es jahr⸗ 
zehntelang für mich ſelber; und es iſt noͤtig, daß man ihm alle Kräfte ent- 
gegenſetzt, welche verfügbar find. 

Was iſt Freiheit? Freiheit iſt eine Beziehung und nicht ein Ding. Es gibt 
nicht Freiheit an ſich; es gibt nur Freiheit fuͤr etwas und von etwas. Ein 
Philoſoph muß das wiſſen. Die beſte Beſtimmung des Begriffs iſt von 
Sobbes: die Macht, das zu tun, was man nach feinen Faͤhigkeiten tun 
kann. 

Doſtojewſki ift ein Dichter: und jeder Dichter muß auf die Frage der 
menſchlichen Freiheit kommen. Die Frage ift philoſophiſch nicht zu beant- 
worten; die menſchliche Freiheit ift ein religioͤſer Glaube, alſo Zebensvor- 
gang; fie erſcheint nur als verſtandesmaͤßig aufzufaſſender Begriff, aber 
fie hat gar Nichts mit unſerem Denken zu tun. Als Dichter fühlt das Doſto⸗ 
jewſki auch, und feine Dichtungen ſtellen Bämpfe um die Freiheit in dichte⸗ 
riſcher Weiſe dar. Aber es muß wohl bei ihm fo fein, daß ſich das, was über 
die Freiheit in ihm iſt, nicht voͤllig im Dichteriſchen ausdrucken kann; 
mit anderen Worten: daß ſein Talent ſich nicht mit ſeinem innerſten Stre⸗ 
ben deckt, daß er unharmoniſch gebaut iſt. So gelangt er denn zu Werken 
wie der Großinquiſitor. 


166 | paul Ernſt 


Nun konnte aber fein, daß man gerade in dieſem Werk den Schluͤſſel für 
ihn fände. Der Fehler ift hier: er hat ein Geſchehnis, wie es in der wirklich; 
keit möglich iſt, daß ein Mann vom geiſtlichen Gericht gefangen wird. Das 
geiſtliche Gericht und der Großinquiſitor gehören der empiriſchen Welt an. 
Chriſtus iſt eine Idee und gehoͤrt der jenſeitigen Welt an. Diesſeits und 
Jenſeits aber koͤnnen nicht zuſammenkommen in einer Sandlung, welche 
gaͤnzlich der empiriſchen Welt angehoͤrt. Man muß eine andere Art Talent 
haben als Doſtojewſki, wenn man derartiges dichten will: man muß die 
Saͤhigkeit haben, das Diesfeitige als Bild des Jenſeitigen erſcheinen zu 
laſſen. Doſtojewſki hat ein darſtelleriſches Talent und verſteht, Spannung 
zu erzeugen; aber das andere kann er nicht. 

Man mache ſich nur klar, daß er den Charakter ſeines Großinquiſitors 
nicht durchhaͤlt und nur durch den Mangel an Solgerichtigkeit zu feinem 
Schluß kommt. Der Großinquiſitor iſt ein Mann in ſeiner Art, den man 
achten muß, ſolange er ſpricht. Er ſpricht ja hohl und nicht glaubhaft; denn 
er ſpricht nicht mit den Worten, die ſeinem Weſen entſprechen, ſondern mit 
den Worten, die Doſtojewſki ihm leiht, der bürgerlich denkt, der durch Rouſ · 
ſeau gegangen iſt oder durch Denker des wohlmeinenden Polizeiſtaats im 
18. Jahrhundert. Er müßte eigentlich ſagen: „Es gibt zwei Arten von 
Menſchen: die einen find zum Serrſchen geboren und die andern zum Be⸗ 
herrſchtwerden. Ich gehoͤre zu den erſteren, ich herrſche mit der Technik 
des Serrfchers, wie fie etwa der ehrliche und freie Macchiavell lehrt; und es 
iſt auch fuͤr die andern am beſten, wenn ſie ihre richtigen Serrſcher haben, 
und nicht etwa Narren und Schwindler fie beherrſchen. Serrſcher und Be⸗ 
herrſchte zuſammen ſind die nun einmal von Gott gewollte Geſellſchaft. 
Solche Idealiſten wie du ſchaffen das größte Ungluͤck, fie bewirken naͤmlich 
ſchließlich die Serrſchaft des Narren und Schwindlers, und deshalb muͤſſen 
ſie verbrannt werden. Sie wiſſen uͤberhaupt nur von Einzelnen und nicht 
von der Geſellſchaft. Nun, er ſpricht nicht fo, er ſpricht alſo in dem emp; 
findfamen Ton, der ſeit dem I8. Jahrhundert aufkam, wo man das Gluͤck 
des Beherrſchten in den Vordergrund ſtellte, wo man alſo das Gewicht 
vom Serrſcher, der eben der ganze Menſch iſt und in ſich ſelber ruht, auf 
den armen Teufel von Beherrſchtem legt, fuͤr den nun der Serrſcher mit 
einem Male Mittel wird, ſtatt daß der Serrſcher Zweck für den Beherrſch ; 
ten iſt. Das kann Redeweiſe fein; und jedenfalls ſpricht man heute nun 
einmal ſo, man muß dieſe demokratiſchen Phraſen nicht zu ernſt nehmen; 
das iſt, wie wenn die Englaͤnder oder Franzoſen davon ſprechen, daß der 
Krieg ein großes Ungluͤck iſt und verhůtet werden muß. 

Nun, der Fremde kuͤßt den Großinquiſitor auf die Stirn. Was bedeutet 
das für dieſen? Iſt das etwa eine Widerlegung? Er hat ja vorher gewußt, 
daß der Fremde ein guter Kerl iſt, der das Beſte will, bei dem nur Verſtand 
und Einſicht nicht ausreichte. Er muß ihm antworten: „Lieber Freund, 
auf mich macht dergleichen keinen Eindruck. Denn wenn ich ein Menſch 


Doſtojewſti und wir 167 


wäre, der ſich durch Empfindſamkeit beeinfluſſen läßt, ſtatt feine Sand⸗ 
lungen nach ſeiner ordentlich gehandhabten Vernunft einzurichten, dann 
wäre ich ja ein nichtswuͤrdiger Schurke, dann haͤtte ich ja doch nicht fruher 
Sunderte von Menſchen verbrennen laſſen dürfen.” 

Der Großinquiſitor Doſtojewſkis iſt nach dem Großinquiſitor Schillers 
geſchaffen. Doſtojewſki hat viel von Schiller geholt — ſoweit er holen 
konnte; und ich denke mir, weil er das Letzte nicht von ihm holen konnte, 
fo hatte er Urſache, gelegentlich ſpoͤttiſch uͤber Schiller zu ſprechen. Schil- 
lers Großinquiſitor ſagt zum Roͤnig, der in derſelben Cage ſchwach wird, 
wie Doſtojewſkis Großinquiſitor, naͤmlich, nachdem Poſa zu ihm ge⸗ 
ſprochen hat: 

Was ſollte Ihnen dieſer Menſch? Was konnte 
Er Neues Ihnen vorzuzeigen haben, 

Worauf Sie nicht bereitet waren? Kennen 
Sie Schwaͤrmerſinn und Neuerung fo wenig? 
Der Welt verbeſſerer prahleriſche Sprache 
Alang Ihrem Ohr fo ungewohnt? Wenn das 
Gebaͤude Ihrer Überzeugung ſchon 

Von Worten fällt — mit welcher Stirne, muß 
Ich fragen, ſchrieben Sie das Bluturteil 

Der hunderttauſend ſchwachen Seelen, die 
Den Solzſtoß für nichts Schlimmeres beſtiegen ? 


Schiller war ein Deutſcher und Doſtojewſki ein Ruſſe. Ein Freund, der 
weder Deutſcher noch Ruſſe iſt, erzählte mir aus dem Rußland vor der 
Revolution einmal folgende Geſchichte: Ein Großfuͤrſt ſoll ermordet wer · 
den. Der Mörder ſteht mit der Bombe da, das Tor offnet ſich und der 
wagen des Großfuͤrſten rollt heraus. Da wird dem Mörder klar, daß der 
Kutſcher mit getötet werden würde, und er wirft die Bombe nicht. Mein 
Freund ſagte ganz richtig: „Ein Deutſcher wuͤrde ja nicht ſo leicht die 
Bombe in die Sand nehmen. Aber wenn er da nun einmal geſtanden haͤtte, 
dann haͤtte der Nutſcher eben auch mit ſterben muͤſſen.“ Ich antwortete 
ihm: „Sie haben recht. Und ich kann als Deutſcher dieſen meuternden 
Sklaven nur als empfindſamen Schurken auffaſſen; haͤtte er geworfen, ſo 
war er ein geld, dann war er auch kein meuternder Sklave.“ 

Ich möchte unter Deutſchen umfragen: ich glaube, fie werden alle ant · 
worten, daß Doſtojewſkis Großinquiſitor ein empfindfamer Schurke if. 

Spiel und Gegenſpiel haͤngen in einem Gedicht immer zuſammen. In der 
Seele des Dichters find fie Eines. Wenn der Großinquiſitor ein empfind- 
ſamer Schurke iſt, was iſt dann der Fremde, der ihm gegenůberſteht, der 
Chriſtus Doſtojewſkis? Es iſt diejenige religioͤſe Idee, welche mit dem emp; 
findfamen Schurken als ihrem Gegenſpieler zuſammen eine Einheit bildet. 
Aber dieſe religioͤſe Idee, dieſen Fremden ſtellt Doſtojewſki nun als das 
chriſtliche ruſſiſche Volk hin. 


168 paul Ernſt 


Der Philoſoph Berdjajew ſagt: „Das Chriſtentum Doſtojewſ kis iſt nicht 
das hiſtoriſche, ſondern ein apokalyptiſches Chriſtentum. Er wirft ein apo; 
kalyptiſches Thema auf. Und die Löfung diefes Themas laͤßt ſich nicht in 
den Rahmen des geſchichtlichen Chriſtentums zwingen.” 

Schoͤn. Das iſt etwa dasſelbe, was ich ſelber vorhin ausfuͤhrte, daß eine 
geſchichtliche Perſon und ein Mythos kein Zwiegeſpraͤch miteinander fuͤh· 
ren koͤnnen. Berdjajew geht ſogar ſoweit, daß er Schluͤſſe aus dieſer Ein⸗ 
ſicht zieht: „Doſtojewſki war der Verkuͤnder einer eigenartigen orthodox⸗ 
ruſſiſchen theokratiſchen Idee. Eine Theokratie iſt immer mit Zwang 
verknuͤpft, eine freie Theokratie iſt ein contradictio in adjecto .. . Diefe 
Idee verbleibt bei dem falſchen judaiftifch-römifchen Anſpruch der Kirche, 
ein Reich von dieſer welt zu fein, verbleibt bei der verhaͤngnisvollen Auf- 
faſſung des heiligen Auguſtin, die zum Reich des Großinquiſitors führen 
muß.“ 

Man ſieht: da iſt ein Anaͤuel von falſchen Gedanken. Erſtens, der ge- 
ſchichtlichen Tatſache der katholiſchen Kirche wird die religiöfe Idee ent · 
gegengeſtellt, eine Erſcheinung auf einer ganz anderen Ebene. Dieſe wird 
auf den Boden der Wirklichkeit gezogen; der „Fremde!“ iſt nicht Gott oder 
Gottes Sohn, ſondern iſt ein gutartiger Schwaͤrmer, der zu dumm iſt, um 
einzuſehen, was er mit ſeinem Geſchwaͤtz anrichtet. Sagen wir, ein Eisner, 
der nicht politiſch ſalbadert, ſondern religiös ; und wenn einer gelogen und 
Vaterlandsverrat getrieben und eine Urkunde gefaͤlſcht hat, ſo iſt er eben 
nur der Schwaͤrmer, den man nicht rechtzeitig nach Goethes Rat ans Kreuz 
geſchlagen und dadurch zum Betrüger hat werden laſſen. Zweitens: dieſe 
pſeudomorphoſe des zum Schurken ſich entwickelnden Schwaͤtzers ais 
Gottes Sohn wird nun mit dem empiriſchen ruſſiſchen Volk gleichgeſetzt, 
welches aus dem Oſten dem verfaulenden Weften das Licht bringen wird, 
indem es RNonſtantinopel erobert und drittens das Kunſtſtuͤck fertig bringt, 
die Welt zu beherrſchen, ohne die Technik des Serrfchens auszuuͤben. 

Dieſer Knaͤuel iſt aber eine ruſſiſche Erſcheinung. 

Als Dichter mag Doſtojewſki Dialektiker fein; fobald er denkt, iſt er 
Ruſſe: das heißt, er iſt Gberzeugt, daß die „Wahrheit“ irgendwo in einem 
Schrank liegt, zu dem man nur den Schluͤſſel haben muß. Man kann ihn 
auch ſtehlen. Und er möchte die Ware erhalten, ohne den Preis dafür zu be- 
zahlen, er ſetzt ſeinen Wunſch einfach als Wirklichkeit. Fuͤr uns Deutſche 
wird das Charakterbild der Ruſſen beſtimmt durch Faulheit und Zucht⸗ 
loſigkeit. Man mag Bedenken haben gegen die Faͤhigkeiten des Deutſchen 
Charakters, das Soͤchſte zu erreichen — daß der ruſſiſche es nicht erreichen 
wird, das ſcheint mir durchaus ſicher zu ſein. 

Und wo iſt Doſtojewſki eigentlich über das Lutheriſche Chriſtentum 
hinausgegangen? Mir ſcheint nur, daß Zuther ehrlicher war: er wußte, 


daß Gottes Reich nicht von dieſer Welt iſt; und er gab zu, daß er nichts da⸗ 


von verſtand, wie die Welt nun fuͤr und zu Gott geleitet werden ſoll; und 


— — —— — 


Doftojewfli und wir 169 


er nahm nicht an, daß fein Volk auserwaͤhlt fei, ſondern meinte, daß vor 
Gott alle Voͤlker gleich ſind. 

Doſtojewſki iſt ein religiͤſer Denker. Gewiß. Er denkt über Gott, Frei; 
beit, Sünde, Schickſal nach. Aber Religion und Religion konnen zwei ganz 
verſchiedene Erſcheinungen ſein, die nur wenig miteinander zu tun haben. 
Wenn Religion das ſchlechthinige Abhaͤngigkeitsgefuͤhl von Gott iſt, 
dann kommt es immer darauf an, wer fuͤhlt, und von welchem Gott er ſich 
abhängig fühlt. Religion iſt Form, wie Freiheit Form iſt oder Wahrheit. 

Wir koͤnnen am leichteſten klar werden, wenn wir uns die Tatſache vor- 
halten, daß die Menſchen auf verſchiedenen Ebenen leben, und daß auf den 
verſchiedenen menſchlichen Ebenen Vorgaͤnge geſchehen, die nichte mit⸗ 
einander zu tun haben. 

Etwa auf der buͤrgerlichen Ebene gibt es Menſchen mit Beſitz und ohne 
Beſitz. Moͤglicherweiſe der Beſitzloſe ein Lump iſt, und der Mann mit Be- 
ſitz hat Ehre. Aber da der Menſch frei iſt, ſo braucht er ſeinen ſeeliſchen Ge⸗ 
halt nicht durch ſeine geſellſchaftliche Lage beſtimmen zu laſſen. Dieſe be⸗ 
ſtimmt nur die Form; der beſitzloſe Anecht kann durch Treue gegen feinen 
Seren Ehre haben und fo nach feinem ſeeliſchen Gehalt dem Beſitzenden 
gleich fein. Auf der Ebene der hoͤchſten Menſchlichkeit muß alles vermieden 
werden, was den Menſchen feſſeln kann. Buddha verzichtet auf Serrſchaft 
und Beſitz und zieht als Bettler durch die Welt. Aber der beſitzloſe Buddha 
hat mit dem beſitzloſen Sauhirten Eumaͤos, der durch Treue feinem Serrn 
gleich wird, nicht das geringſte gemein. 

Auf der Ebene des ſinnlichen Lebens gibt es eine große Menge, welche 
überhaupt keine Ahnung davon hat, daß der Einzelne nicht für ſich da iſt, 
ſondern als Ergebnis von andern Maͤchten und fuͤr Zwecke, die außerhalb 
von ihm find. Einige Wenige gibt es, welche dumpf ahnen, daß hoͤhere 
maͤchte uͤber ihnen ſind. Im Evangelium wird von der blutfluͤſſigen Frau 
erzaͤhlt, welche heimlich den Mantel des Seren beruͤhrt; der Serr ſagt: 
„Dein Glaube hat dir geholfen.“ Die ganz rohe Menge glaubt ſolche Moͤg⸗ 
lichkeiten nicht, ſie ſagt: „Laſſet uns eſſen und trinken, denn morgen ſind 
wir tot.“ Das iſt ſchon ein hoͤherer Zuſtand, wo uͤberlegene Menſchen und 
Kraͤfte anerkannt werden, wenn auch nur zu dem ſelbſtſuͤchtigen Zweck, 
daß eine Krankheit geheilt wird, an welcher der Betreffende gerade leidet. 
Der Zuſtand iſt nicht fo ſehr verſchieden von dem Zuſtand des Rohen, der 
etwa ſieht: „Ich habe kein Geld, dort geht ein Mann mit einem Beld- 
beutel, ich will den Mann beſtehlen. Etwas anderes hat ja doch das Weib 
nicht getan, als daß fie dem Herrn Seilkraft ſtahl. Aber fie mußte da doch 
an etwas Soͤheres glauben: die Seſtalt des Serrn muß da doch irgendeinen 
Eindruck auf fie gemacht haben. Sie hat ſchon Religion, fie Fable ſich ſchon, 
und iſt das Fuͤhlen auch noch ſo dumpf, mit dem Jenſeitigen verbunden. 

Aber was hat dieſe Frau denn nun mit dem Gottmenſchen gemein, der 
fi laͤchelnd ans Kreuz ſchlagen läßt und ſagt: „err vergib ihnen, denn 


170 paul Ernſt 


fie wiſſen nicht, was fie tun? / Jene Frau iſt gänzlich in das ſinnliche Leben 
eingeſpannt: fie iſt krank und will gefund werden. Sur Chriſtus bedeutet 
das ſinnliche Leben nur den Stoff, der an ſich gleichguͤltig iſt, an welchem 
das vor ſich geht, das ihm weſentlich iſt, nennen wir es etwa „die Seele”. 
Wenn das ſinnliche Leben nur ein belanglofer Stoff geworden iſt, der nur 
dadurch Wichtigkeit hat, daß von ihm aus die Beziehung zum Jenſeits vor 
ſich geht und wenn dieſe Beziehung das Wichtige geworden iſt, dann haben 
wir reine Religion vor uns. Chriſtus lebt ganz auf der Ebene der Religion. 

Doſtojewſki iſt ein religiöſer Denker. Das iſt ſchon ungeheuer viel, wenn 

man ihn mit der ſtumpfen Maſſe vergleicht, wenn man etwa an ZJola denkt. 
Aber die blutfluͤſſige Frau hat Religion, und Chriſtus hat Religion. Wenn 
ich Doſtojewſki als Lehrer und Fuͤhrer bewerten will, dann muß ich erſt 
wiſſen, auf welcher Ebene der Religion er ſteht. 
Das iſt nun im allgemeinen ſehr ſchwer zu erkunden. Die religiöfe Dich⸗ 
tung betont dieſe Schwierigkeit ganz beſonders, denn die macht ſich ja im⸗ 
mer geltend, wo man ſich im Leben nun zu anderen Menſchen zu verhalten 
bat. Sie hat unter den zwoͤlf Juͤngern des Seren den Judas dargeſtellt 
und unter den Moͤnchen Buddhas den Moͤnch, der nach dem Tod des Er⸗ 
leuchteten erleichtert aufſeufzt und ſagt: „Gottlob, daß er tot iſt; nun wird 
doch nicht mehr immer an Einem herum geſchulmeiſtert.“ 

Bei einem Dichter iſt die Erkundung etwas leichter als bei den meiſten 
Menſchen; man braucht nur ſeine Geſtalten daraufhin zu betrachten, 
welche am meiſten gegluͤckt ſind. Ein Dichter iſt immer ein Menſch auf der 
Ebene ſeiner dichteriſch vollendeten Geſtalten. Die Gelehrten, welche die 
Werke der bildenden Kunſt unterfuchen, haben gefunden, daß ein Maler 
feinen Geſtalten feine eigenen Verhaͤltniſſe gibt, daß er ihnen beſtimmte 
koͤrperliche Merkmale verleiht, welche zu feinem eigenen Körper in Be- 
ziehung ſtehen; ja, noch mehr, daß er ſeinen ganz beſonderen weiblichen 
Typus hat, den er immer wieder malt, angeblich ſogar, wie es bei Rubens 
geſchehen fein ſoll, ehe er ihn im Leben vollkommen traf. 

So muß man die Geſtalten der Dichter aus den Dichtern ſelber verſtehen. 

Doſtojewſki hat den religioͤſen Idealmenſchen darzuſtellen verſucht: im 
Fuͤrſten Myſchkin, in Aljoſcha Raramaſow und im Staretz. Der Staretz iſt 
nur eine Nebenſigur und keine Geſtalt. Es bleiben nur die beiden anderen 
uͤbrig. Die ſind aber offenbar nicht gegluͤckt. 

welche Geſtalten find ihm am meiſten geglůckt? Stawrogin, Assfolni- 
kow und Jwan Karamaſow, daneben Dmitry und der alte Raramaſow. 
Die dazu gehörigen Frauen find Sonja, Nataſſſa Filippowna und Gru ⸗ 
ſchenka. Es iſt nicht neu beobachtet, wenn ich hervorhebe, daß die Be⸗ 
ziehung von Mann und Frau bei Doſtojewſki entweder niedrige Sinnlich; 
keit oder hyſteriſche Quaͤlerei iſt. Ich möchte noch darauf hinweiſen, daß 
die jungen Menſchen bei ihm durchweg Gedanken und Befühle ausdrucken, 


Doftojewfli und wir | 171 


die nicht naturlich bei ihnen gewachſen ſind; ſondern viel mehr Anpaſſungs⸗; 
ergebniſſe an ihre gegebene oder aufgeſuchte Umwelt. 

Wir müflen mit Raskolnikow beginnen, weil dieſe Geſtalt die einfachſte iſt. 

Berdjajew ſagt ganz ausgezeichnet: „Doſtojewſki nimmt den Menſchen 
in Freiheit geſetzt, dem Geſetz entbrochen, aus der kosmiſchen Ordnung ge⸗ 
loͤſt, und unterſucht fein Schickſal in der Freiheit, deckt die unabwehrbaren 
Ergebniſſe der Freiheitswege auf.“ Der Philoſoph berichtet dann einige 
Ausſpruͤche, welche Doſtojewſ kis innerſtes Weſen darſtellen, von denen ich 
nur folgenden wiedergeben will: „Wenn Sie behaupten wollen, daß man 
auch all das nach Taͤfelchen berechnen koͤnne, Chaos und Sinfternis und 
Fluch, fo daß ſchon die Möglichkeit allein, es im voraus berechnen zu koͤn⸗ 
nen, allem Einhalt gebieten werde und die Vernunft ſo zu ihrem Recht 
kommen werde, fo wird der Menſch für dieſen Fall abſichtlich verruͤckt wer⸗ 
den, um ohne Vernunft zu ſein und ſeinen Willen durchzuſetzen. Ich 
glaube daran, ich verantworte dafür, weil ja die ganze Sache des Men; 
ſchen, wie es ſcheint, in der Tat nur darin beſteht, daß der Menſch ſich alle 
Augenblicke beweiſe, daß er ein Menſch und kein Stift iſt.“ Der ruſſiſche 
Philoſoph ſchließt ſeine Zitate mit den Worten: „In dieſem durch ihre 
Schaͤrfe, ihre Genialitaͤt erſchuͤtternden Gedanken muß man die Urquelle 
aller Entdeckungen ſuchen, die Doſtojewſki uͤber den Menſchen macht.“ 
Der Dichter iſt ein Ruſſe und ſein Philoſoph auch. Beide ſprechen vom 
„Menſchen “. Der Philoſoph nimmt eine Linie Dante Shakeſpeare — Do⸗ 
ſtojewſki an und hat die Vorſtellung, daß Doſtojewſki ausgeſprochen hat, 
was die heutigen Menſchen über den Menſchen denken. Wenn andere Voͤl⸗ 
ker aber dieſe Gedanken Doſtojewſ kis ablehnen ſollten, dann müßte ſich 
doch wohl ergeben, daß Doſtojewſki und fein Philoſoph eine befondere Art 
von Menſchen meinen, von der ſie allein Genaueres wiſſen, naͤmlich den 
Auffen. Und diefer Ruſſe wäre denn eben der Menſch einer beſtimmten 
Ebene, die wir erkennen koͤnnen und dann notwendig bewerten muͤſſen. 

Dieſer Menſch iſt aus der kosmiſchen Ordnung gelöft und in Freiheit ge⸗ 
ſetzt; und ſeine Tat beſteht darin, ſich alle Augenblicke zu beweiſen, daß er 
ein Menſch und kein Stift iſt. 

Nun iſt der Menſch in der Dichtung aber gar nicht aus der kosmiſchen 
Ordnung zu löfen, fo wenig wie eine Pflanze, folange fie lebt, von ihrem 
Boden und aus ihrer Luft zu loͤſen iſt. Wir machen die Abziehung von 
Boden und Luft für wiſſenſchaftliche Jwecke; wir betrachten für eine be 
ſtimmte Art Wiſſenſchaft, naͤmlich fuͤr die Syſtematik, die Pflanze, als ob 
fie losgelöft waͤre; aber das iſt nur ein Kunſtgriff, der uns die Einſicht er⸗ 
leichtern ſoll. Wenn die Pflanze waͤchſt, dann nimmt ſie Stoffe aus dem 
Boden, muß alfo einen Boden haben; ihr Leben geht nicht in einem Cehr⸗; 
buch der Botanik vor ſich, ſondern auf der Wieſe und in der Luft. Die Los- 
loͤſung Doſtojewſkis iſt eine unſtatthafte Übertragung der wiflenfchaft- 
lichen Technik auf ein Gebiet, wo dieſe Technik gar nichts zu tun hat. Ich 


172 Paul Ernſt 


kann die Menſchen in Klaſſen und Arten einteilen. Fuͤr eine ſolche wiſſen⸗ 
ſchaftliche Arbeit wird es vorteilhaft ſein, wenn ich ſie ſo betrachte, als ob 
fie losgelöft werden koͤnnten. Wenn ich aber dichte, dann ſtelle ich Leben 
dar, und das Leben iſt nur moglich in den Ordnungen, die nun einmal 
find. Der losgelöfte Menſch, den Doſtojewſki darzuſtellen glaubt, kann alſo 
tatſaͤchlich gar nicht losgeloͤſt fein. 

Er iſt es auch nicht. Er ſieht nur die Ordnung nicht. 

Jeder Menſch iſt mit ſeinem Gegner eine Einheit. Doſtojewſki ſagt: „Je⸗ 
der Ruffe iſt ein Nihiliſt. Er bekaͤmpft den Nihilismus. Aber er iſt ſelber 
Ruſſe und felber Nihiliſt. Die Vorſtellung der nach Taͤfelchen zu beberr- 
ſchenden Welt iſt die nihiliſtiſche Vorftellung. Gegen fie kaͤmpft er. Was er; 
gibt ſich? Der Lebensinhalt iſt, daß man kein Stift iſt, kein nihiliſtiſches 
Ergebnis. Das iſt man alſo nicht. Was iſt man? Darüber ergibt ſich nichts. 
Das Ergebnis des Kampfes iſt nur ein Negatives, die Verneinung des 
Nihilismus. 

Doſtojewſki ſelber, der Dichter, iſt ein Stawrogin, Raskolnikow, Iwan. 
Er ſtellt in dieſen Geſtalten dar, was werden muß, wenn er ſich ſeinen 
Trieben Gberläßt. Dieſe Geſtalten leben in der ruſſiſchen Geſellſchaft, 
welche vollſtaͤndig aufgelöft war, welche die Vorſtellung hatte, daß man 
das ganze Leben nach Taͤfelchen berechnen koͤnne. Sie find die Ergebniſſe 
der Geſellſchaft und meutern gegen ſie. Aber ſie meutern, indem ſie dabei 
auf dem Boden dieſer Geſellſchaft ſtehen. Sie gleichen den Sozialiſten und 
Bommuniften, welche ſich für Gegner der buͤrgerlichen Geſellſchaft halten, 
und nichts find, als ihre letzten Erfuͤller. Nicht das Schickſal des Men⸗ 
ſchen in der Freiheit wird in ihnen dargeſtellt, ſondern das Schickſal der 
buͤrgerlichen Menſchen, welcher die aͤußerſten Folgerungen der bürgerlichen 
Geſellſchaft ziehen und fie dadurch aufheben. Sie heben die bürgerliche Ge · 
ſellſchaft auf, aber ſie bauen nichts Neues. 

Man kann das Gewiſſen bezeichnen als den im Einzelnen zum Bewußt 
ſein kommenden Geſellſchaftsinſtinkt; wir befinden uns dabei auf der 
Ebene der diesſeitigen Wirklichkeit. Die buͤrgerliche Geſellſchaft iſt ein 
Vorgang, naͤmlich das Verfallen der geſellſchaftlichen Ordnung, welche vor 
ihr beſtand. Der Geſellſchaftsinſtinkt verbietet fuͤr gewoͤhnlich den Mord; 
er erlaubt ihn im Krieg, er erlaubt ihn alſo fuͤr den Mann, der den Krieg 
anfacht, ſagen wir Napoleon. Napoleon darf morden, nicht, weil er ein 
beſonders hervorragender Mann iſt, ſondern weil er an einer beſtimmten 
geſellſchaftlichen Stelle ſteht. Raskolnikow iſt ganz Bürger, in der ruſſi⸗ 
ſchen Art, welche nun jede Tendenz ſofort auf die Spitze treibt. Er lebt in 
der Geſellſchaftsaufloͤſung, er ſieht nichts davon, daß Geſellſchaft iſt, ſon 
dern er ſieht nur Einzelweſen, das Einzelweſen Napoleon und das Ein⸗ 
zelweſen Raskolnikow. Er muß annehmen, daß Napoleon töten durfte, 
weil er ein hervorragender Mann war; er zieht aus dieſer falſchen An · 
nahme den falſchen Schluß: „Wenn ich auch töten darf, dann bin ich alſo 


Doſtojewſti und wir 173 


auch ein hervorragender Mann“; und um ſich den Beweis zu führen, daß 
er ein bedeutender Mann iſt, toͤtet er. Er iſt aber bloß ein Menſch, wie ſo 
viele andere Menſchen auch, ein guter Kerl, mit ſehr empfindlichen Ner⸗ 
ven, ſcharſſinnig, von jenem Scharfſinn, der mit Inſtinktloſigkeit verbun⸗ 
den iſt, empfindſam, und ſo ziemlich das Gegenteil von dem, was man als 
Serrennatur bezeichnet. Naturlich brechen nach der Tat feine Nerven 3u- 
ſammen; das Gewiſſen zeigt ſich als Derfagen feiner Nerven; und daraus 
entwickelt ſich denn, als Rettung aus der Angſt, der Glaube an Gott. 

Ich uͤbergehe Stawrogin, der zwiſchen den drei in der Mitte ſteht. 

Iwan iſt die merkwuͤrdigſte Geſtalt von den dreien. Er iſt der kluͤgſte von 
ihnen. Er hat den ſtaͤrkſten Willen, und er hat das verletzlichſte Befübl. 

Nehmen wir an, daß im Menſchen verſchiedene Schichten uͤbereinander 
find, dann iſt die tiefſte Schicht in Doſtojewſki die, in welcher Jwan lebt. 
Iwan muß man verſtehen aus einem Geſpraͤch mit Aljoſcha, in dem ſich 
auch die tiefe Derwandtſchaft mit Aljoſcha zeigt. Er fragt den Bruder, ob 
er eimvilligen würde, „den Bau des menſchlichen Schickſals in dem Be⸗ 
ſtreben zu errichten, um als Endergebnis die Menſchen zu begluͤcken, ihnen 
endlich Ruhe und Frieden zu geben“, wenn „dazu unumgaͤnglich erforder⸗ 
lich wäre, auch nur ein einziges, allein nur ein einziges winziges Befchöpf- 
chen zu Tode zu quälen, etwa jenes Kindchen, das ſich mit feiner Kleinen 
Fauſt an die Bruſt ſchlug — ob er einwilligen würde, auf jenen ungefühn- 
ten Tränlein dieſen Bau zu gründen?“ Aljoſcha erwidert: „Nein, ich 
würde nicht ein willigen.“ | 

Als Knabe beobachtete ich einmal, wie jener Käfer, den wir „Bold- 
ſchmied! nennen (Carabus auratus L.) einen Maikaͤfer ausfraß. Er hatte 
ſich auf dem Rüden des Gpfers feſtgeklammert, hatte da, wo die zwei 
Fluͤgeldecken oben zuſammenſtoßen, durchgebiſſen, und weidete das lebende 
Tier nun von dorther aus; er hatte ſich ſchon ganz tief hineingefreſſen und 
wohl ein Drittel der Weichteile verzehrt; der Maikaͤfer lebte aber noch und 
kroch vorwärts, indem er feinen Peiniger auf dem Rüden mit ſich ſchleppte. 

Ich hatte damals den fuͤrchterlichſten Eindruck von den Leiden des ge- 
quaͤlten Tieres; es war das erſtemal, daß mir durch dieſen Vorgang in der 
Natur, der ſich ja in jeder Sekunde millionenfach ereignet, ein Blick auf die 
uns für gewöhnlich gluͤcklich verborgene Nachtſeite des Lebens wurde, — 
wir wuͤrden ja wahnſinnig werden, wenn alle gequaͤlten Maikaͤfer eine 
Stimme haͤtten und ihr Leid ausdruͤcken konnten. 

Nun, heute weiß ich, daß der Knabe ſich ſelbſt in den Maikaͤfer hinein; 
fuͤhlte, daß alle Vorgänge ſolcher Art ganz anders find, als der Mitfuͤhlen⸗ 
de meint. Der Knabe unterliegt wehrlos feinem Gefuͤhl. Der Mann, wel- 
cher Zucht hat, muß fein Gefuͤhl durch feine Einſicht berichtigen. 

was zwiſchen den beiden Kaͤfern geſchah, iſt dasſelbe, was geſchieht, 
wenn Schwefelſaͤure auf kohlenſauren Kalk gegoſſen wird. Die Atome bil- 
den neue Gruppen. Bei den Kaͤfern iſt der Vorgang mit Schmerz verbun- 


174 paul Ernſt 


den, weil fie Nerven haben, welche die Empfindungen in das Gehirn lei 
ten. Aber bedeutet dieſer Schmerz denn etwas, das dem aͤhnlich iſt, was 
wir in unſerem Mitleid meinen? Der Käfer fůhlt ſich doch nicht als ein 
ſelbſtaͤndiges Weſen; es iſt nur Schmerz da; iſt dieſer Schmerz etwas an⸗ 
deres als das Ziſchen des kohlenſauren Kalks? 

Je höher das Lebewefen ſteht, deſto bewußter iſt es, deſto mehr kommt 
der Schmerz zum Bewußtſein, und auf der Höhe der Stufenleiter wird er 
zum Zeid. 

Wie? Aber wenn er zum Leid geworden iſt, dann findet ja doch ſchon 
eine Umſetzung ſtatt: dann iſt eine Taͤtigkeit des Menſchen vorhanden, 
welche mit dem Schmerz etwas Neues macht. Schmerz und Leid ſind im 
Weltzufammenbang ; die Würde des Menſchen beſteht darin, daß ſich ihm 
Schmerz in Leid verwandelt, daß er dadurch ſeeliſch etwas Soͤheres wird 
als das Weſen, welches nur Schmerzen empfindet. 

Es gibt ſchon Tiere, welche Leiden empfinden konnen, und die Menſchen 
ſtufen ſich danach ab, in welchem Maß ſich ihnen Schmerzen in Zeiden 
verwandeln, bis ſchließlich die Schmerzen bedeutungslos, ja, nach manchen 
Behauptungen, ungefůhlt werden und nur noch die Leiden bleiben. 

Was iſt das nun für ein Ziel, die Menſchen zu „beglůcken und ihnen Ruhe 
und Frieden zu geben”, die Schmerzen auszulöͤſchen und die Leiden zu ver- 
nichten? Es iſt das Ziel, welches Sozialismus und Kommunismus haben, 
die nur Folgerungen der bürgerlichen Geſellſchaft find, welche ohne den 
Gedanken an Gott nur die einzelnen Menſchen ſieht und als deren Zweck 
ſich nur das Gluͤck denken kann; das iſt auch das Ziel des Großinquiſitors 
fuͤr ſeine Menſchenherde. 

Wir kommen nicht heraus aus einem Kreis: Doſtojewſki lebt in der ent- 
gotteten buͤrgerlichen Geſellſchaft, und denkt und fuͤhlt, wie Einer denken 
und fuͤhlen muß, wenn er in ihr lebt; wie er ſogar den Großinquiſitor 
denken und fuͤhlen laͤßt, trotzdem er in der Schillerſchen Geſtalt ein ganz 
unbuͤrgerliches Bild vor ſich hatte. 

Das iſt alſo ſein dichteriſches Erlebnis: er hat die letzte Schlußfolgerung 
der bürgerlichen Geſellſchaft gezogen, bis er zur völligen Zerſtoͤrung der 
Geſellſchaft uberhaupt kam. Er iſt der Nihiliſt, der, indem er den Nihilis⸗ 
mus bekaͤmpft, ihn nur aus feiner Plattheit heraus hebt und feine tiefften 
Wurzeln zeigt: die Vereinzelung der Menſchen, die Gottloſigkeit und den 
Gluͤcks hunger. 

Das hat er erlebt. Und nur was einer erlebt hat, das kann er als Dichter 
darſtellen. Dargeftellt hat Doſtojewſki nur den vertieften Nihilismus. 

Aber er hat etwas anderes erſehnt. wenn wir dialektiſch ſpielend 
ſprechen wollen: im volligen Zuſammenbruch der alten Geſellſchaft muͤſſen 
fich die erſten Grundlagen der neuen zeigen. Das Sehnen Doſtojewſkis nach 
diefen wird von unſerer Zeit, die nun heute mit ihrem Erleben fo weit iſt, 
daß fie den bedeutenden Dichter verſtehen kann, inbruůͤnſtig aufgenommen 


Doftojewfli und wir 175 


und als eine Erfuͤllung betrachtet. Und das iſt die furchtbare Gefahr Doſto⸗ 
ſewſkis: er kann uns auf falſche Bahnen leiten. 

Ich ſpreche nun als Dichter, der weiß, wie der Vorgang des Dichtens iſt. 
Alles, was aus der Sehnſucht geſchaffen wird, bleibt ſubjektiv, druckt im- 
mer nur den geiſtigen Gehalt des Dichters aus und niemals etwas außer 
ihm Vorhandenes, auch wenn es ſich als ſolches verkleidet. Dichtung aus 
Sehnſucht iſt Romantik. Die Darſtellung des alten Raramaſow iſt klaſſiſch; 
die Aljoſchas und Myſchkins iſt romantiſch; und wie die Romantiker am 
Anfang des 19. Jahrhunderts, die ins Mittelalter flüchteten, nur ein kon⸗ 
ventionell verſchoͤnertes Kleinbuͤrgertum darſtellten, fo ſtellt der apoka⸗ 
lyptiſche Romantiker der Untergangszeit nichts weiter dar, als ein ver⸗ 
ſchoͤnertes Verfallsergebnis. Wobei natuͤrlich nicht vergeſſen werden muß, 
daß dieſe Darſtellung dichteriſch ſchwaͤcher fein wird, als die klaſſiſche Dar⸗ 
ſtellung; denn dieſe „Verſchoͤnerung“ iſt eben nur Verfaͤlſchung. 

Nun mache man ſich vor allem klar, daß beide Helden, Myſchkin und Al- 
joſcha, außerhalb der menſchlichen Beduͤrftigkeits beziehungen ſtehen. Der 
eine iſt geiſtig nicht vollwertig und iſt vermoͤgend; er wird nicht ganz ernſtge⸗ 
nommen, er hat kein bürgerliches Ziel, und kann immer einen Scheck auf 
ſeine Bank ausſchreiben, braucht alſo nicht eine Arbeit zu leiſten, durch 
welche er das Leben anderer durchquert. Und der andere iſt ein junger 
Mann, gleichfalls ohne geſellſchaftliche Ronſequenzen, der einmal Moͤnch 
werden will und die Süße unter feines Vaters Tiſch ſtreckt. Sie brauchen 
nicht zu handeln, ſondern fie muͤſſen nur reden und fühlen. 

Das iſt aber nun ſchon der erſte Saken. 

Bekanntlich hat die katholiſche Kirche einen ſcharfen Schnitt gemacht: 
der eigentliche Chriſt iſt der Moͤnch, deſſen Weſen darin beſteht, daß er aus 
den Verbindungen der bürgerlichen Geſellſchaft losgeloͤſt iſt. Wer „in der 
Welt” lebt, der kann unmöglich die Gebote des Chriſtentums erfüllen. Das 
iſt, wie immer im Katholizismus, richtig gedacht. Der Proteſtantismus 
wollte bekanntlich die Askeſe in die buͤrgerliche Welt verlegen und glaubte, 
daß jedes Mitglied der bürgerlichen Geſellſchaft ein Seiliger werden koͤnne; 
das Ergebnis war die kapitaliſtiſche Geſellſchaftsordnung. 

Sier liegt nun aber die Aufgabe: eine richtigere Löfung zu finden, als der 
Proteſtantismus ſie gegeben hat. 

Dieſe Aufgabe ſtellt ſich Doſtojewſki, wie wir ſahen, nicht. Er kann alſo 
auf keinen Fall über die katholiſche Froͤmmigkeit hinauskommen. Die 
haben wir ſchon laͤngſt, und fie iſt in ausgezeichneter Welſe durch vorzuͤg · 
liche Menſchen vertreten. Aber was kann ſie uns bedeuten, die wir in einer 
wilden Welt leben muͤſſen und in ihr Bott behalten wollen? 

Es iſt aber ſchon angedeutet, daß auch in dieſer Beſchraͤnkung: daß Do- 
ſtojewsſki nichts gibt, was die katholiſche Kirche nicht ſchon laͤngſt ge- 
geben hat, Doſtojewſkis Gedanken daher ſehr zweifelhaften Wertes ſind. 

Aljoſcha gibt ſeinem Bruder recht in der Bewertung der Traͤnen eines 


176 - Paul Een 


Kindes. Er gibt alfo Gott unrecht, der die Kindertraͤnen mit in die Dor- 
ausſetzungen ſeiner Welt einbezieht. Er iſt alſo kein Glaͤubiger, denn der 
Glaͤubige hat erlebt, daß Gottes Wille richtig iſt. Er iſt ein empfindſamer 
Wihlüiſ, wie ſein Bruder, wie der Großinquiſitor. 

Wir wollen bei Myſchkin einmal nur betrachten, was er eigentlich tut. 
Denn das Handeln eines Menſchen offenbart fein Weſen, nicht feine Worte. 
Er iſt bemuͤht um die „Seelenrettung” der Naſtaßja. 

Was ift aber Naſtaßja? Naſtaßja iſt von einem Schurken in unwiſſen⸗ 
den Jahren verführt. Das iſt ein Schickſal, welches ihr Leben beſtimmen 
muß. Aber wie es ihr Leben beſtimmt, das iſt nun ihre Sache. Der Schurke 
ſtellt ſich als ganz laͤppiſcher, platter Menſch heraus. Was er ihr angetan, 
das iſt grundſaͤtzlich nichts anderes, als was ein Ziegel ihr antun wuͤrde, der 
ihr auf den Kopf fälle, wenn fie auf der Straße vorbeigeht. Es iſt ihre 
Sache, was fie mit der Krankheit beginnen wird, welche ihr von dem all 
des Ziegels zuruͤckbleibt. Sie gefaͤllt ſich darin, durch dieſes Schickſal zer⸗ 
ftört zu werden. Gut. Das mag fie. Aber das iſt dann ihre Sache. 

Es kommt ja ſehr ſelten vor, daß man einmal einem anderen Menſchen 
helfen kann. Der Gottglaͤubige wird helfen. Aber ein ſolcher ſeltener Fall 
liegt hier nicht vor. Der Naſtaßja iſt nicht zu helfen; denn ſie will ja nun 
eben das ſein, was ſie iſt; und gegen ſeinen Willen kann man die „Seele“ 
eines Menſchen nicht „retten“. Naſtaßjas Fall iſt ganz Har; fie gehoͤrt zu 
jenen ſeeliſch Kranken, welche immer andere erniedrigen muͤſſen, weil fie 
ſich ſelber beweiſen wollen, daß fie einen Wert haben; fie iſt ein Dirnen; 
typus; und zwar ein richtig beobachteter und dargeſtellter, waͤhrend mir die 
Sonja des Raskolnikow nicht glaubwuͤrdiger erſcheint, als die Camelien ; 
dame. Die Bemuͤhungen Myſchkins find ganz zwecklos und muͤſſen zweck⸗ 
los ſein. Soll ich die Sinnloſigkeit als Löfung für die Kaͤtſel des Lebens 
annehmen? 

Wie die Kindertraͤnen Jwans nur empfindſam oberflaͤchliche Vorſtellun⸗ 
gen ſind, ſo iſt auch das Schickſal der Naſtaßja oberflaͤchlich aufgefaßt. Es 
muß immer eine Oberflaͤchlichkeit herauskommen bei der Einſtellung Do- 
ſtojewſkis. Das Wefentliche iſt nicht das zufällige aͤußere Erlebnis, ſondern 
die Gegenwirkung des Erlebenden. In Naſtaßja ſteckte die Dirne; ſie 
wurde durch die Tat ihres Verfuͤhrers bloß frei gemacht; und Rindertränen 
find denn doch wohl nicht das Soͤchſte von Leid; das wird bezeichnet durch 
den Ausſpruch Chriſti am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, weshalb haſt 
du mich verlaffen.” Doſtojewſki ſteht einfach auf dem Standpunkt des bür- 
gerlichen Nihilismus, der nur die Dinge und die Erſcheinungen ſieht, aber 
nicht ihre Bedeutung fuͤr den Menſchen: die Dinge und die Erſcheinungen, 
wie man fie allein ſehen kann: ſubjektiv, als Empfindungen und Wahr⸗ 
nehmungen des Sehenden. 


Doſtojewſti und wir 177 


enn die poſitiven Geſtalten Doſtojewſ kis nichts find, als bürgerlich 
eingeſtellte Menſchen, die denn noch dazu an die eigentlich geſtellte 
Aufgabe gar nicht gehen: den Alltag religiös zu machen; iſt die Loͤſung der 
Aufgabe auf dem Boden der bürgerlichen Geſellſchaft uͤberhaupt moͤglich? 

Aus dem Geſagten ſcheint mir her vorzugehen, daß die Aufgabe, die Do⸗ 
ſtojewſki ſich ſtellt, gar nicht ruſſiſch iſt und feine Loͤſung auch nicht. Es 
handelt ſich lediglich um die Aufgabe, welche der Proteſtantismus geſtellt 
und ſchlecht geloͤſt hat; der Proteſtantismus, der im Weſentlichen germa ; 
niſch, jedenfalls nicht ruſſiſch iſt. 

Der Proteſtantismus iſt die bürgerliche Form der chriſtlichen Religion. 
Er iſt mit dem Buͤrgertum entſtanden und druͤckt ſeine Triebe aus: die 
Triebe auf Vereinzelung. Wie, wenn auf dem Boden der bürgerlichen Ge⸗ 
ſellſchaftsordnung uͤberhaupt keine andere Löfung möglich iſt, als die des 
Proteſtantismus; und wenn die Kriſis des Proteſtantismus bloß die reli · 
giöfe Form für die Kriſis der bürgerlichen Geſellſchaft iſt? Wie, wenn die 
Aufgabe auch nur eine Aufgabe der buͤrgerlichen Geſellſchaft iſt; und gar 
keine Loͤſung kommen kann, ſondern mit neuen Grundtrieben der Menſch⸗ 
heit eine neue Form der Geſellſchaft und eine neue Form des religiöfen Le⸗ 
bens moglich werden wird? Wie, wenn Doſtojewſki alſo nicht der erſte der 
Zukunft, ſondern der letzte der Vergangenheit iſt? 

Es wird heute vielleicht Manchem klar, daß das Proletariat nichts 
Neues zu geben bat, ſondern nur die abgelegten Gedanken des Buͤrger⸗ 
tums gewiſſenhaft auftraͤgt. Wie, wenn die Sendung des heiligen Ruß⸗ 
land nicht wäre, ein neues Licht aus dem Oſten zu bringen, wie glaͤubige 
Gemuͤter annehmen, fondern nur, gewiſſenhaft die letzten Schluͤſſe aus 
den Vorausſetzungen des faulen Weftens zu ziehen? 

Wir fanden am Anfang unſerer Unterſuchung, daß Doſtojewſki glaubt, 
er kann „die Wahrheit“ finden und offenbar die Vorſtellung hat, daß eine 
abſolute religidfe Wahrheit irgendwo ſteckt. Es wurde ſchon gefagt: „Die 
wahrheit“ gibt es nicht. Wir haben das Diesſeits, das in das Jenſeits ein⸗ 
gebettet iſt. Unſer Leben hat nur dadurch einen Sinn, daß es mit dem Jen; 
ſeits zuſammenhaͤngt, daß es — bildlich ausgedruckt — das ſekundenlange 
Auf blitzen einer Welle iſt, deren Anfang und Ende uns ewig dunkel fein 
wird. Nur dieſe Tatſache: daß das Diesſeits ins Jenſeits eingebettet iſt, iſt 
abſolut. Alles andere iſt ewig wechſelnder geſchichtlicher Vorgang. Der 
vorchriſtliche Chriſtus und der Chriſtus der Evangelien, das Chriſtentum 
der katholiſchen Kirche in den aufeinander folgenden Jahrhunderten, und 
der Proteſtantismus: fie find nicht „die Wahrheit“, ſondern find geſchicht · 
liche Erſcheinungen. Wenn wir heute, in der Kriſis der Menſchheit und 
im Zuſammenbrechen aller hoͤchſten Guͤter, nach Religion ſuchen, fo dürfen 
wir nicht etwas Abſolutes erwarten, ſondern eine Form fuͤr unſeren Glau⸗ 
ben, welche den neu ſich bildenden Juſtaͤnden der Menſchheit angemeſſen iſt. 
Dieſe kennen wir nicht. Deshalb koͤnnen wir auch von der neuen Religion 
Cat Vm 13 


178 paul Sernft 


nichts wiſſen. Der Glaube an einen ſogenannten Religionsſtifter iſt Un- 
ſinn. Eine Religion wird nicht geſtiftet, ſondern fie bildet ſich aus der 
menſchheit; wenn man den Ausdruck richtig verſtehen will: Gott offen- 
bart ſich nicht einmalig, ſondern dauernd; er offenbart ſich in Propheten 
und Zehrern, in feinen Söhnen : aber nicht fo, daß er da als eine greifbare 
Wirklichkeit erſcheint, wie es Stuhl oder Tiſch iſt; denn was wir Wirklich; 
keit nennen, Stuhl oder Tiſch, das iſt ja nur unſere Erſcheinungswelt; 
ſondern fo, wie die Zeit ſich ihn vorſtellen kann und wie fie ihn für ihre Auf 
gaben braucht. 

Wie ſie ihn fuͤr ihre Aufgaben braucht: das muß man feſthalten, wenn 
man etwas Greif bareres haben will, als dieſe allgemeinen Worte. 

Da wir die kommenden Aufgaben noch nicht kennen, ſo vermoͤgen wir 
nichts Poſitives über den kommenden Glauben zu fagen. Aber wir koͤnnen 
jedenfalls ſagen, was er nicht iſt: er iſt jedenfalls unbuͤrgerlich. 

Aber das Fuͤhlen Doſtojewſkis iſt ganz buͤrgerlich. 

Iwan Raramaſow, welcher die tiefſte Schicht von Doſtojewſki verkoͤr · 
pert, dreht ſich mit feinen Gedanken um das Leiden und findet hier keine 
oͤſung. Die Theodicee iſt tatſaͤchlich auch unmöglich, denn es liegt bei ihr 
einfach eine falſche Srageftellung vor. Wenn das Gluͤck des einzelnen nicht 
der Zweck der Welt iſt, fo hat die Frage nach feiner Luft und feinem Leid 
offenbar gar nichts mit der Religion zu tun. Gott iſt nicht gerecht. Er iſt 
auch nicht ungerecht. Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit liegen außerhalb 
feines Kreiſes. Wenn ein Menſch leidet, fo handelt es ſich religids nur 
darum, was er für ſich mit feinen Leiden anfaͤngt; und wenn man fo fragt, 
dann ſieht man wohl ein, daß die Luſt ſchließlich denn gefaͤhrlicher iſt, als 
das Leid. 

Raskolnikow iſt die Derförperung von Doſtojewſkis oberſter Schicht. Er 
will ſich beweiſen, daß er „dein Stift“ iſt, und bildet ſich ein, daß kann er 
durch den Nachweis, daß er ein „Napoleon“ iſt. Aber den „Napoleon“ 
Raskolnikows gibt es nicht: es gibt nur den Mann, der mit genialem Ver⸗ 
ſtand, außerordentlichem Willen und ungeheurer ſeeliſchen Plattheit in 
einem gewiſſen geſchichtlichen Zuſtand geſtellte Aufgaben löfte. Napoleon 
hätte ſich ſelber auch als „Stift“ auffaſſen konnen, und bei feinem nuͤchter⸗ 
nen Verſtand hat er es wahrſcheinlich oft getan. Ob man ein „Stift“ iſt, 
oder ob man „frei“ iſt, das iſt Sache des Glaubens, und nichts weiter. Des- 
halb iſt die Aufgabe falſch geſtellt, daß man ſich da etwas beweiſen koͤnne. 

‚Wenn die Gedanken der Theodicee und die Verſchiebung der Freiheit aus 
dem Glauben und Fuͤhlen auf ein inhaltlich beſtimmtes Gebiet Ergebniſſe 
des bürgerlichen Denkens find, die denn ſchließlich zu dem angeblich gegen ; 
buͤrgerlichen Rommunismus führen, fo find auch die anderen Vorſtellun⸗ 
gen, die, welche ſich um „das Volk“ drehen, buͤrgerlicher Art. 

In fruͤheren Zeiten meinte man mit dem Wort „Volk“ denjenigen, zah⸗ 
lenmaͤßig ganz kleinen Teil der Menſchen eines beſtimmten Landes, welche 


Doſtojewſti und wir 179 


den Verſtand, die Erfahrung und die Stellung hatten, um beſtimmen zu 
koͤnnen, was geſchehen ſollte. Was im Volk vorging, das waren Vorgaͤnge 
in dieſem Kreis. Das Wort deckt heute zwei ganz andere Begriffe: es meint 
entweder die ganze Maſſe der Menſchen eines Landes, oder den zahlen⸗ 
mäßig größten Teil, die Leute, welche mehr oder weniger unſelbſtaͤndig 
mit der Sand arbeiten. Es kommen viele Irrtümer daher, daß man ſich 
dieſen Begriffs wandel nicht klar gemacht hat. 

Das Chriſtentum iſt nicht eine Hare und eindeutige Lehre, ſondern ein 
geſchichtlicher Vorgang. Wir ſahen ſchon, daß die erſten Ideen auf den 
Soͤhen des Geiſtes lebten, daß dann eine Bildung im unteren Volk vor ſich 
ging, und daß dann, indem ſich die Kirche entwickelte, eine Reinigung von 
volksmaͤßigen Beſtandteilen vorgenommen wurde; es kam ja denn bis zur 
Aufgipfelung, ſagen wir 950— 1250, wo ein geiſtliches Serrſchaftsgebilde 
entſtand. In den alten Urkunden, welche das Chriſtentum, wie jede Reli» 
gion, konſervativ mit ſich ſchleppt, find naturlich Uberbleibſel aus der Zeit 
vorhanden, in welcher das Chriſtentum Glaube des niederen Volkes war. 
Wenn in feiner Geſchichte wieder Zeiten kommen, wo das niedere Volk vor- 
herrſcht, fo werden dieſe hervorgeholt. So geſchah es in der Reformations ; 
zeit. So geſchieht es auch heute, wo die Pſeudo ⸗Serrſchaft des Buͤrgertums 
ſich auflöft und die unterſten Schichten vorbrechen. 

Es entſteht dann immer eine Idealiſierung dieſer unterſten Schichten. 
Sie beginnt in Europa mit der Romantik; und die panſlawiſtiſche Be⸗ 
wegung, die Volksidealiſierung Doſtojewſkis iſt lediglich Ergebnis der 
europaͤiſchen, zuletzt in den deutſchen Erlebniſſen in der Napoleoniſchen Zeit 
geſtalteten Romantik, wie auch die Sochſchaͤtzung des Proletariats bei der 
Sozialdemokratie hier ihre Anfaͤnge hat. 

So muß man die Verbindung von Religion und Volk, von der dann die Ver⸗ 
bindung von Religion und Jugend eine Folge iſt, bei Doſtojewſki verſtehen. 

Ihre Art wird deutlich durch ein kleines Beiſpiel. 

Die Kriminaliſten wiſſen, daß Leute aus dem Volk, wenn fie unſchuldig 
angeklagt find, unter der Wucht der ſcheinbaren Beweiſe oft zufammen- 
brechen und ein Verbrechen geſtehen, das ſie gar nicht begangen haben. 
Das kommt daher, daß Ausdauer und Kraft in den unteren Schichten na⸗ 
turgemäß geringer find, als in den hoheren. 

Bei einem Volk wie das ruſſiſche, wo von hoͤheren Ideen lediglich die von 
der Kirche verbreiteten vorhanden ſind, geht ein ſolcher Zuſammenbruch 
denn natuͤrlich unter der Begleiterſcheinung eines religiöfen Gedankens vor 
ſich: „Ich will das Leid auf mich nehmen“ oder derartiges. 

Das faßt Doſtojewſ ki nun wörtlich auf und betrachtet ſolche Vorkomm⸗ 
niſſe als Zeichen der tiefen Religioſitaͤt des ruſſiſchen Volks; ohne zu wiſ⸗ 
ſen, daß dergleichen uͤberall beobachtet wird. 

Naturlich iſt die hoͤhere Geiſtigkeit nicht an die hoͤheren Stände gebun- 
den. Aber wenn ein Mann aus dem Volk höhere Geiſtigkeit hat, fo gehoͤrt 

13 


180 Paul Ernſt, Doftojewffi und wir 


er eben nicht mehr zum niederen Volk. Jakob Böhme war Schuſter. Aber 
nicht alle Schuſter find Jakob Böhme. Wenn Doſtojewſki im handarbei 
tenden Volk die Kraft zur Wiedergeburt ſieht, dann meint er nicht Jakob 
Boͤhme, ſondern er meint die anderen. 

Auch in Deutſchland iſt ja die Romantik von der beſonderen religiöfen 
Begabung des niederen Volks anzutreffen. Ein Theologe, Univerfitäts- 
lehrer, erzählte mir einmal ſchwaͤrmeriſch, welchen Troft es ihm gewährt 
habe, als ihm bei einer Gelegenheit „ein ſchlichter Mann aus dem Volk“ 
die Strophe vorgeſagt habe, welche beginnt: 

„In allen meinen Taten laß ich den Soͤchſten raten.“ 

Ich haͤtte ihm antworten koͤnnen, daß ein Mann in feiner Stellung frei 
lich ſolche Troͤſtungen nicht noͤtig haben duͤrfte: aber ſo etwas ſagt man 
ja denn wohl aus Soͤflichkeit nicht. 

Es iſt mit dieſen Dingen, wie mit allem Geiſtigen: wenn ſie ins Volk 
dringen, dann werden ſie mit einer gewiſſen Gefuͤhlsinbrunſt aufgefaßt, 
die ſich aus der geringen Staͤrke von Verſtand und Willen ergibt; fie wer- 
den vereinfacht, vor allem fuͤr die perſoͤnlichen Beduͤrfniſſe des einzelnen; 
und dann kann es geſchehen, wenn die oberen Schichten im Lauf der Zeit 
nichtig werden, daß der eine oder andere aus ihnen ſchließlich erſtaunt iſt, im 
einfachen Volk lebendigen Geiſt zu ſinden. Das ſagt nichts fuͤr das Volk, 
ſondern nur alles gegen die derzeitigen oberen Staͤnde. 

Schoͤpferiſche Begabung hat nur der einzelne. Wie die ſogenannte 

Volksdichtung ein Unſinn iſt, fo iſt es ein Unſinn, aus dem niederen Volk 
eine neue Religioſitaͤt zu erhoffen. 
Und wie mit dem niederen Volk, ſo iſt es auch mit der Jugend. Welcher 
Unſinn, daß ein Juͤngling wie Aljoſcha nun als Vertreter der neuen Reli⸗ 
gion gelten ſoll! Er iſt ein Schüler ; der Schüler eines Moͤnchs; fo etwas 
hat es immer gegeben und wird es ja wohl auch immer geben; aber ein 
neuer Glaube wird von anderen Zeuten geſchaffen: von den Männern und 
den Alten. 

Was Doſtojewſki im niederen Volk ſieht, was durchaus ſchoͤn und ach 
tungswert iſt, das iſt denn doch alles mit bürgerlicher Empfindſamkeit ge- 
ſehen. Moͤglich, daß es fo iſt: die bürgerliche Mechaniſierung, welche den 
menſchen, der ihr unterliegt, zu einem „Stift“ macht, bewirkt naturgemäß 
eine ſolche Empfindſamkeit. Denn der Stift, wenn er denn nun einen le ⸗ 
bendigen Bauern vor ſich hat, der zwar eben nur ein Bauer iſt, aber immer · 
hin doch ein Menſch und kein „Stift“ — muß er nicht den Schluß ziehen: 
„alſo liegt im Volk die eigentliche Kraft der Menſchheit, muß aus dem Volk 
die Rettung kommen?“ 

Ach nein: ſo einfach, ſo idylliſch harmlos ſind die großen Geſchehniſſe der 
Menſchheit nicht. 

Im Großinquiſitor glaubt Doſtojewſki einen Mann dargeſtellt zu haben 
etwa wie Gregor VII. war. Er hat aber nur einen Vertreter des wohl⸗ 


Eliſabeth Buffe-Wilfon, Zur National - Pſvchologie des Bolſchewismus 181 


wollenden Polizeiſtaats dargeſtellt, etwa einen Mann wie Friedrich den 
Großen: ein großer Mann in ſeiner Art, aber ein Mann, der ganz in den 
Grenzen der Buͤrgerlichkeit lebt; der eben „der erſte Beamte feines Staates“ 
iſt. Doſtojewſki kann mit feiner Vorſtellungskraft nicht über die Grenzen 
des Bürgertums hinausgehen. 

Von Gregor VII. ſagt Petrus Damiani „Du biſt ein heiliger Satan“. 
Der bedeutende Mann hatte woͤrtlich recht: Gregor war ein Seiliger und 
ein Teufel. An das Ausmaß eines ſolchen Mannes reicht auch ein Friedrich 
nicht hinan. Und ſolche gewaltige Naturen ſind es, welche Gott ſchickt, 
wenn feine großen Pläne verwirklicht werden ſollen: ſolche Naturen fin 
den ſich in dem gedichteten Lebenswerk Doftojewffis nicht. 


Eliſabeth Buſſe⸗Wilſon 
Zur National⸗Pſychologie des 
Bolſchewismus 


Die Staats moral 


er Geſchichtsſchreiber hat wohl zu unterſcheiden, ob man den vor- 
Deren oder den gemeinten Sinn eines Ereigniſſes deuten will. 

Voͤlker, parteien und Stände kaͤmpfen oft jahrhundertelang um 
eindeutige Ziele und bewirken am Ende ein ganz anderes Ergebnis, als ſie 
es ſich geſtellt hatten. Der geheime Wille, der den Kaͤmpfern unbewußt ans 
Licht drängte, benutzte ihre Leidenſchaften und Zielſetzungen beinahe nur. 
Alle Kämpfe der Menſchheit find unbewußte Diverfionsgefechte. 

Am Feldzuge des Bolſchewismus ſtoͤrt den Weſtlaͤnder vor allem der 
innere taktiſche Widerſpruch, daß eine ſoziale Revolution mit radikaler 
Wandlung der Sozial ⸗ und Beſitzverhaͤltniſſe die Maſſe des werktaͤtigen 
Volkes nicht etwa autonom machte, ſondern in die Rolle dauernd bevor- 
mundeter Untertanen brachte. Er fuͤhlt ſich vor allem befremdet, daß die 
Sübrer der ruſſiſchen Revolution, die vorgeben, ihr Land, ja ganz Europa 
in einen welthiſtoriſchen Umwandlungsprozeß zu verſetzen, mit flachen 
intellektualiſtiſchen Ideologien ihr Volk zu einer Weltmiſſion zu erziehen 
trachten. Ein weſtliches Lehngut von ganz jungem geiftigen Alter, der 
Marxismus, wird als Auf klaͤrungszauber auf die Maſſen des geiſtig leeren 
und ungebildeten Bauernvolkes ausgeůbt. Den einzigen moraliſchen und 
ſeeliſchen Salt, den es hatte, feine primitive baͤuerliche Religiofität, nahm 
man ihm mit ruͤckſichtsloſer Gewalt. Welch eine Inſtinktloſigkeit, welch 
ein Mangel ſchoͤpferiſcher ſtaats · und volksbildender Vorausſicht ſchien 
dieſe Politik zu verraten! 


182 Eliſabeth Buſſe · Wilſon 


An die Stelle der chriſtlichen ruſſiſchen Theokratie wurde die marxiſtiſche 
ehre geſetzt, die beſagt, daß es oberſtes Gebot und erſte Aufgabe fei, die 
wirtſchaftlichen Umſtaͤnde des Einzelnen, der Geſellſchaft, des Staates zu 
geſtalten, umzuwandeln und zu meiſtern. Die geiſtigen und ſittlichen Le⸗ 
bensformen (alſo die eigentliche Rultur) würden organiſch aus der vernunft 
gemäß organifierten Wirtſchaft herauswachſen. Diefer unbefangene Ratio- 
nalismus, der in Sorm der ſozialiſtiſchen Theorie zur Staatsreligion er- 
klaͤrt wurde, wird in der Stadt und im Dorfe, in der Armee und im Be⸗ 
amtentum durch Wanderprediger und Studenten, vor allem durch Bild und 
plakat den Untertanen eingepraͤgt. Es ſcheint, daß der Marxismus für die 
naͤchſte Zeitſpanne die geiſtige Vorſtellungswelt der Ruſſen ausfüllen werde. 
Die Jugend beſonders lernt keinen anderen Katechismus als den des kommu⸗ 
niſtiſchen Manifeſtes. 

Der wuͤtende und in den erſten Jahren nach der Revolution auch band- 
greiflich brutal gefuͤhrte Rampf gegen die Religion und gegen die Kirche iſt 
zunaͤchſt begründet in der raſſenmaͤßigen Feindſchaft zwiſchen Revolution 
und Religion ſchlechthin. Denn jede Staats · und Geſellſchaftsordnung 
nimmt, um ſich moraliſch zu rechtfertigen und zu halten, die Protektion 
Gottes und der jeweiligen Landesreligion in Anſpruch. Wenn nun mit 
einer Revolutionswelle ein neuer Staats ⸗ und Geſellſchaftswille empor ; 
kommt, fo muß er mit innerer Notwendigkeit religions · und kirchenfeind⸗ 
lich ſein. Der Geiſt jeder Revolution ſieht aber inſonderheit die chriſtliche 
Kirche als Todfeindin an, weil ſie den Ausuͤbern der ſtaatlichen Gewalt und 
der geſellſchaftlichen Machtſtellungen das gute Gewiſſen verleiht, die ſozia⸗ 
len Ungerechtigkeiten, die Gott ja ſelbſt ſchuͤtzt, weiter beſtehen zu laſſen. 
Das Chriſtentum hat, trotz feiner Lehre von der Gleichheit aller Menſchen 
das Rechtsbewußtſein der jeweils beſitzenden Klaſſen geſtaͤrkt. Da die berr- 
ſchenden Schichten zugleich auch im Beſitze der ſtaͤrkſten Machtmittel ſind 
und Gott immer mit den ſtaͤrkſten Bataillonen iſt (denn noch nie hat ein 
ſtarker Gott auf Seiten der ſchwachen Parteien geſtanden), mußte in den 
jungen Eroberergenerationen, die mit einer Revolution emporkommen, ein 
Urhaß gegen die furchtbare Symbioſe von Staat und Kirche entſtehen. 
Denn die unter dem Schutze Gottes gefaͤllten politiſchen Entſcheidungen 
und Kriege find ja die teufliſchſten, weil unangreif barſten Machtausuͤbun⸗ 
gen einer Staatsgewalt. Religion verdirbt allzu haͤufig den Charakter des 
Einzelmenſchen, wieviel mehr ſollte fie nicht den Charakter eines Kollek; 
tivwillens, wie es der Staat darſtellt, verbiegen. Jede Religionslehre er- 
zeugt in ihren Anhaͤngern das Bewußtſein, daß ſie als die Gehorſamen 
und Getreuen auch die Gerechten und Erwaͤhlten find. Der Glaͤubige iſt 
immer auch der von ſeinem Gott Beſchuͤtzte und Ausgezeichnete. Gott iſt mit 
denen, die ſeine Gebote tun. Mit denen von der anderen Partei iſt er nicht. 

Das Bewußtſein des Glaͤubigen, daß Gott fuͤr ihn iſt, erſchließt einmal 
den tiefſten Quell · und Seinspunkt der Religion und gleichzeitig eine große 


Zur National · Pſychologie des Bolſchewis mus 183 


moraliſche Gefaͤhrlichkeit. Wenn die große Religiofität das göttliche Selbſt⸗ 
bewußtſein des Menſchen erzeugt und die nur dem Begnadeten zugaͤngliche 
Verbundenheit mit Gott, fo führt die Erlöͤſungsgewißheit ebenſo leicht zur 
ethiſchen Selbſtgenuͤgſamkeit. Denn jede Religionsausuͤbung ſchlaͤfert 
wenn ſie zur Gewohnheit wird das Gewiſſen ein. Gott aber iſt ja, ſeiner 
ethiſchen Funktion nach auf Seiten des beſtehenden Staates und der be⸗ 
ſte henden Geſellſchaftsordnung (fie würde ja ſonſt trotz einem Wald von 
Bajonetten nicht beſtehen !) und darum iſt dieſe auch gut. 

Wenn alſo in der großen franzoͤſiſchen, wie jetzt in der ruſſiſchen Revolu⸗ 
tion die Kirchen in Klubhaͤuſer verwandelt wurden, hier in der Kapelle des 
Jakobinerkloſters die radikalſte franzoͤſiſche Revolutionsgruppe tagte, dort 
die ruſſiſchen Kirchen in bolſchewiſtiſche Debattierſaͤle verwandelt werden, 
fo find das zunaͤchſt die naturgeſetzlichen Feindſchaftsaͤußerungen zwiſchen 
Religion und Revolution. In Rußland jedoch hat die große Feindſchaft an- 
gehalten, während damals in Frankreich mit dem 9. Thermidor die Ruͤck⸗ 
kehr der alten Goͤtter einſetzte. Zwar fuͤhrt man ſchon lange keinen aggreſ⸗ 
ſiven Feldzug mehr gegen fie. Die Bedrohungen und Erſchießungen der 
höheren Geiſtlichkeit, die Schließung der Kirchen und Klöfter hat ausgeſetzt 
und die oͤffentlichen Verhoͤhnungen kultiſcher Sandlungen werden nicht mehr 
erlaubt. Aber an die innere Verdrängung des alten Religions und welt 
bildes ſetzt der bolſchewiſtiſche Staat immer noch einen guten Teil ſeiner 
ganzen Macht und ſeine nicht geringe propagandiſtiſche Aufklaͤrungsarbeit. 
— Anfangs trieb die bolſchewiſtiſchen Fuhrer die Urfeindſchaft zwiſchen 
Religion und Revolution zum Kampf gegen die chriſtliche Staatsreligion. 
Aber die Fortſetzung dieſes Kampfes iſt eine Arbeit im Dienſte einer reli ⸗ 
gionsloſen Ethik. Wenn auch unbewußt, will Sowjet⸗Rußland den 
Verſuch wagen, einen Staat aufzubauen ohne die Ruͤckverſicherung eines 
moraliſchen Gutſcheines bei Gott. Die Schoͤpfer dieſes neuen Staates ſind 
wie alle Staatengruͤnder durch Stroͤme von Blut gegangen, aber ſie haben 
nicht hinterher den Segen der Kirche auf ihr blutiges Werk herabgefleht, 
wie andere Eroberergenerationen. Trotzdem der neu⸗ ruſſiſche Staat auf Ge⸗ 
walttaten aufgerichtet wurde und feine Geſchaͤftspraxis einen nuͤchtern ⸗mac⸗ 
chiavelliſtiſchen Zug traͤgt, iſt die Staatsmoral ſeiner Gruͤnder in dieſem 
Sinne doch fauberer, wie die der alten Rulturnationen. 


Die Arbeitsethik 

An einem der bedeutendſten offentlichen Gebaͤude des alten Petersburg 
leuchten heute in großen ZCettern die Worte der bolſchewiſtiſchen Neu⸗ 
taufe: „Religion iſt Opium fürs Volk“. Der europaͤiſche Beobachter wird 
dieſe Deviſe ſehr flach und auf klaͤreriſch finden, aber die Wappenſchilder und 
Kampf deviſen der Menſchen find auch hier, wie fo oft, nur Ablenkungen 

vom verborgenen Sinne. 
Wenn die ruſſiſche Regierung immer und immer wieder den einen Grundſatz 


189 Eliſabeth Buſſe ⸗Wilſon 


verkuͤndet und durch die Volks erziehung dem heran wachſenden Geſchlechte 
einimpft, daß die Bewaͤltigung der wirtſchaftlichen Aufgaben oberſtes Ge⸗ 
bot des Genoſſen, daß es wichtiger fei, die Induſtrie und die Landwirtſchaft 
zweckmaͤßig zu geſtalten, als in die Kirche zu laufen und als ideelle Weltan- 
ſchauungskaͤmpfe auszufechten, wie das das Buͤrgertum tut, wenn ihr gebei- 
ligtes Oberhaupt den Grundſatz verkuͤndete „Freiheit iſt ein Vorurteil der 
Intellektuellen“, ſo hat ſich der Geſchichtsſchreiber zu fragen, welche innere 
Abſicht ſich unter der vorgegebenen verberge. Er wird dann finden, daß der 
Marxis mus für den Entwicklungsſtand, in dem das ruſſiſche Volk ſich be⸗ 
findet keine weſtliche rationaliſtiſche Flachheit iſt, ſondern eine, den Ver⸗ 
kuͤndern ſelbſtverſtaͤndlich unbewußte, im ruſſiſchen Volkscharakter 
begründete, notwendige Erziehungsmethode. 

Dem Ruſſen, dem Intellektuellen ſowohl wie dem Bauern iſt die diſzipli⸗ 
nierte und konzentrierte europaͤiſche Arbeitsmethode voͤllig fremd. Eine fuͤr 
weſtliche Begriffe voͤllig unſachliche Art des Verkehrs und Wandels herrſcht 
in den Miniſterien ebenſo, wie in den Werkſtaͤtten der Fabriken. Jeder Ruſſe 
hat das Recht, jedem Volksgenoſſen ſeine Zeit zu nehmen. Der Arbeiter 
ſchwatzt, lacht und ſingt bei der Arbeit, die Arbeitsintenſitaͤt ſeines weſt⸗ 
lichen Genoſſen koͤnnte er fi ſchwer vorſtellen. Der Kaufmann, auch der 
fuͤhrende Großkaufmann und Induſtrielle, braucht zur Abſchließung eines 
Geſchaͤftes Zeitraͤume, die den Europaͤer an die ſeltſam unſachliche Form 
orientaliſchen Sandelns erinnert. Der Gebildete, der Politiker durchredet 
die Naͤchte und die Tage, um felten zur Realiſirung einer zielſtrebigen 
Sandlung zu gelangen. Nach dem Urteil von Zandeskundigen kann der 
Ruſſe von Natur ſich noch weniger zu den europaͤiſchen exakten und ſach⸗ 
lichen Arbeitsmethoden trainieren, wie der Suͤditaliener. Der Lebensrhytb- 
mus des Ruſſen iſt kurzum der eines Volkes, das noch nicht in das Stadium 
der Arbeitsdifziplin und in die Verſachlichung aller Lebensinhalte, die das 
kapitaliſtiſche Jeitalter den weſteuropaͤiſchen Voͤlkern auferlegte, eingetre⸗ 
ten iſt. Auch die duͤnne Oberſchicht von Kaufleuten, Beamten und Intellek⸗ 
tuellen iſt befangen in Lebensformen, die ſich bei uns nur noch in rein 
baͤuerlichen Kreiſen abſpielen. 

Die natuͤrliche Unſachlichkeit und Undiſzipliniertheit des primitiven ſo⸗ 
wohl wie des gebildeten Ruffen erhaͤlt von feiner nationalen und ſozialen 
Schickſalsbeſtimmtheit her wiederum eine tragiſche Verſtaͤrkung. Das ruffi- 
ſche Volk iſt ein Volk von Zeibeigenen. Zwar beſteht fie juriſtiſch ſeit einem 
Menſchenalter nicht mehr, aber faktiſch iſt ſie nie unterbrochen worden. 
Dieſes leibeigene Volk iſt nun auch der eigenen wirtſchaftlichen Initiative 
nie faͤhig geworden. Stets beſitzlos, immer am Rande des Exiſtenzmini⸗ 
mums, war die Verantwortungsloſigkeit gegeniiber dem Werk der eigenen 
Hände, die grenzenloſe Gleichguͤltigkeit gegenüber dem eigenen Leben, das 
ja keine Emanzipationsausſichten bot, ihm zur zweiten Natur geworden. 
Der Reſt an Vitalitaͤt und Verſtandeswachheit, den die allgemeine Zebens- 


Zur National · Pſychologie des Bolſchewis mus 185 


ſtumpfheit, der Schlaf und der Branntwein uͤbrig ließen, wurde abſorbiert 
durch die Stunden dumpfen Eingelulltſeins im weihrauchdaͤmmer der 
dunklen, goldſtrahlenden Kirchen. Der halbheidniſche Bilder ⸗ und Reli⸗ 
quienkult der griechiſch ⸗ katholiſchen Kirche war der moraliſche Sörderer und 
Vollender der dumpfen paſſiviſtiſchen Nichtstuerei der großen Maſſe des 
laͤndlichen Volkes. 

Die ſer Unerzogenheit zur zielſtrebigen Cebenstaͤtigkeit, dieſer furchtbaren 
Vergeudung von Natur und Menſchenkraft ſtellt ſich im bol ſche wiſti⸗ 
ſchen Staatsprinzip ein neuer Imperativ entgegen: Denke und Ar⸗ 
beite. Immer wieder haͤmmert die Regierung ihren Volksgenoſſen ein — 
uͤbt die rationelle Bewirtſchaftung eures Bodens, eurer Bergwerke und 
Forſten, laßt die bourgeoiſe Sorge um Geiſt und Religion beifeite. Labo- 
rare necesse est, vivere non necesse est. Eine gewaltige ethiſche Loſung 
hat hier der Bolſchewismus aufgeſtellt, eine Arbeitsethik, fuͤr die der 
Marxismus, den er ſelber mit Wort und Schrift propagiert, wie ſo oft in 
der Geſchichte der Menſchen, nur Deckmantel, Vorwand, Überliftung iſt. 
Das ruſſiſche Volk iſt mit ihm in fein Reformationszeitalter eingetreten, 
100 Jahre ſpaͤter wie Deutſchland. 

Keine moraliſche Ruͤckendeckung für die dumpfe Traͤgheit und tatenloſe 
Verantwortungsloſigkeit bietet nun die Rirche mehr. „Euer Gottesdienſt ſei 
die aufs beſte erfüllte Berufspflicht / — das iſt das unausgeſprochene Sitten- 
gebot der marxiſtiſchen Staatsreligion. In einem Riefenreich, wo die Land- 
wirtſchaft teilweiſe noch nach Methoden betrieben wird, wie ſie in Europa 
im Mittelalter uͤblich waren, wo die Sochoͤfen mit Holz beſchickt werden 
und wo alle Bodenſchaͤtze der Erde der Sebung harren, tut in Wahrheit 
nur eines not: Wirtſchaft, Wirtſchaftlichkeit nach europaͤiſchen difziplinier- 
ten und bewußten Arbeitsmethoden. Was alſo dem Angehoͤrigen der Weſt⸗ 
ſtaaten als parteipolitiſches Dogma erſcheint, iſt in Wahrheit die Auße⸗ 
rung eines geheimen, ſtaatsbildenden Inſtinktes und was ſich als flach ⸗oͤko⸗ 
nomiſche Doktrin ausgibt, iſt moraliſcher Imperativ. 

„Religion iſt Opium fürs Volk“, bedeutet alfo nichts anderes als dies: 
Rußland bereitet ſich vor, aus einem Volk Zeibeigner zu einem Volke 
werktaͤtiger zu werden, aus einem feudaliſtiſchen Agrarſtaat mit halb⸗ 
orientaliſcher Unwirtſchaftlichkeit zur Lebens ⸗ und Wirtfchaftspraris des 
weſteuropaͤiſchen Fruͤh kapitalismus uͤberzugehen. Der Ruſſe iſt durch die 
bolſchewiſtiſche Revolution zum freien Bauern gemacht worden. Er ſitzt 
auf eigener Scholle (wenn auch nicht formal · juriſtiſch, fo doch faktiſch). Er 
genießt die Verwirklichung eines jahrhundertelang genaͤhrten politiſchen 
Traumes. Aber dieſe endlich erreichte Erfuͤllung muß er hart genug be ; 
zahlen durch eine Umſtellung des geſamten Zebensſtiles. Aus allen alten 
Lebensgewohnbeiten wird er durch die bolſchewiſtiſche Loſung grauſam 
herausgeriſſen. Dom Gfen ſoll er herunter, auf dem er ſonſt die Winter zu 
verſchlafen pflegte, er ſoll arbeiten, was er doch fruher den Weibern über- 


186 Eliſabeth Buſſe · Wilſon 


ließ; andauernd wird er zu Verbeſſerungen ſeines Betriebes angeſpornt. 
Er ſoll duͤngen und berieſeln und fremdartige neue Maſchinen anwenden, 
wo er ehemals in aller Selbſtgenuͤgſamkeit mit einem hoͤlzernen Pflug den 
Boden kratzte. Und wo einſt der daͤmmernde Frieden der Kirchen winkte und 
die endloſe Litanei des „Herr, erbarme dich unſer“ ihn mildtaͤtig einlullte, 
wird er jetzt zu guterletzt zum Erlernen von Lefen und Schreiben angehal⸗ 
ten und zum Beſuch von politiſchen Derfammlungen. In den alten Zeiten 
hatte der Ruſſe aus dem Volke auf alle Fragen immer dieſelbe Antwort 
„Gott mag es willen”. Dieſe Antwort befriedigte ihn, fei es, daß man ihn 
nach feinem Alter fragte, nach der Soͤhe feines Verdienſtes oder nach der 
naͤchſten Station und der Tageszeit. Jetzt ſoll er ſelber alles wiſſen und ſo⸗ 
gar felber alles beſtimmen. Gott und die Heiligen nehmen einem nichts, 
aber auch gar nichts mehr ab. Eine neue Form von Grauſamkeit, eine eu⸗ 
ropaͤiſche Grauſamkeit — von fruͤh bis ſpaͤt zu ſchaffen, zu denken und zu 
ordnen — legt das neue Regime mit feiner marxiſtiſchen Parole dem ruffi- 
ſchen Menſchen auf. 

So enthuͤllt ſich der ruſſiſche Marxismus als der zweite große Euro · 
paͤiſierungsverſuch Rußlands ſeit Peter dem Großen. Er iſt die Rund⸗ 
machung eines Selbſterhaltungsgeſetzes, das dem ruſſiſchen Volkstum zu 
dieſer Stunde ſeiner Entwicklung das ihm Gemaͤße und Notwendige iſt. 
Die einfeitige Beeinfluſſung des ganzen ruſſiſchen Volkes mit den oͤkono⸗ 
miſchen Lehren des Marxismus erweiſt ſich alſo als eine Schutz · und Seil ⸗ 
re des in ſchweren Übergangsnöten liegenden ruſſiſchen Volks⸗ 
körpers. — 

Wer aber nun bereit wäre, das geheime Ethos der ruſſiſchen marxiſtiſchen 
Propaganda zuzugeben, wird doch einwenden, daß fuͤr die Stufe des baͤuer⸗ 
lich naiven Menſchen, auf der ſich 75% der ruſſiſchen Bevölkerung be⸗ 
finden, eine religionsloſe rationaliſtiſche Volksbelehrung und Volksauf⸗ 
klaͤrung niemals genuͤge, um den noch unbewußten Inſtinkten und Lebens ⸗ 
noͤten eine übermaterielle Zeitung zu geben. 

Nun iſt aber der Ruſſe von I9J8 keineswegs religionslos. Eben der Mar; 
rxismus iſt feine Religion. Er trat an die Stelle der alten chriſtlichen Goͤtter. 
Sein geiſtiger Charakter mit dem chiliaſtiſchen Kern der kommenden ge- 
rechten Weltordnung und der Verpflichtung zum ſtaͤndigen Glaubenskrieg, 
die fanatiſche Ausſchließlichkeit des zentripetalen Denkens machen ihn zu 
einer Volksreligion catexrochen . Wohl iſt die komplizierte Scholaſtik und 
Propaͤdeutik der marxiſtiſchen Lehre dem einfachen Bauern und Arbeiter 
nicht zugaͤnglich. Aber das religiöfe Weltbild zu bauen und zu wahren, war 
ja immer nur ein Privileg der Theologenſchaft. Dem ruſſiſchen Volk da⸗ 
gegen gaben die bolſchewiſtiſchen Fuhrer als Erſatz für feinen Seiligenkult 
einen primitiven Seroenkult. Die Statuen der Revolutionshelden aller 


» Dal. „Die kommuniſtiſche Volksreligion“ in „Stufen der Jugendbewegung“ von 
Eliſabeth Buſſe⸗Wilſon. (Eugen Diederichs Verlag, Jena, 1925.) 


Zur National · Pſychologie des Bolſchewis mus 187 


Länder und Zeiten ſtellen fie ihnen vor Augen auf die Plaͤtze der Städte und 
den Dorfanger. Allen voran der Eine, Gewaltige, Unſterbliche, der Gruͤn⸗ 
der des Reiches, Lenin. Schon zu Lebzeiten und erſt recht nach feinem Tode 
entſtand eine nationale Myftsgogie um ihn. Die Leninbůſte in der rot aus; 
geſchlagenen Ecke der Stube wird durch Abnehmen des Sutes, beim Bauer 
durch Bekreuzigen begrüßt. Der Serrgotts winkel der Bauernſtuben iſt nicht 
verwaiſt. 


Die Umwertungen 


om national - ꝓſychologiſchen Standort aus gewinnt auch der Rampf 

Sowjetrußlands gegen die Familie eine andere Bedeutung als die 
eines flachen Deſtruktivismus. Die energiſchen Maßnahmen der Regie · 
rung, die Menſchen zu entfamilieren und ihr Leben in die Offentlichkeit zu 
verlegen, die Frauen und Männer, vor allem aber die Kinder in Klubs, 
Gemeinſchaftshaͤuſern und Schulen zu ſammeln, wird auch von wohl: 
wollenden Rußlandkritikern als eine monomaniſch uͤberſpitzte Aufleh 
nungsraſerei gedeutet. Aber was für einen Menſchen will denn der Bolſche ; 
wismus entfamilieren? — 

Der Ruſſe — darin ſtimmen alle Kenner des Volkes überein — nament⸗ 
lich der gebildete, iſt ein völlig unerzogener und undiſziplinierter Menſch. 
Er iſt gaͤnzlich unfaͤhig, ſich und andere zu erziehen. Die ſtarke Samilien- 
haftigkeit des Ruſſen förderte nur fein Caſter des Sichgehenlaſſens und des 
naiven Subjektivismus. Der Familienſinn des Ruffen uͤbertrifft noch den 
beruͤhmten Blutzuſammenhalt des Juden und mag hier wie dort dieſelbe 
Urſache haben: das völlige Ausgeſchloſſenſein von politifcher Wirkfam- 
keit. Sier die Staatenloſigkeit des Juden und dort das politiſche Entmuͤn⸗ 
digtſein in einem abſol utiſtiſchen Staatsweſen. Beide Ausfallserſcheinun ; 
gen warfen den Menſchen auf ſich und ſeine Anverwandten zuruͤck und 
zwangen ihn, vorzugsweiſe in der Welt der Familie ſein Gluͤck und ſeinen 
Salt zu ſuchen. Aber die zwangsmaͤßige Beſcheidung auf den Samilien- 
kreis erzeugte im Ruſſen nicht den großartigen und ſtrengen Patriarchalis · 
mus des klaſſiſchen Juden. Ruſſiſche Eltern erziehen ihre Kinder nicht, 
ſondern ſind ausſchließlich vernarrt in ihre Sproͤßlinge. Den Nichtruſſen 
berührt die Familienkluckerei und die Unerzogenheit der Kinder, wie fie 
beim ruſſiſchen Gebildeten die Regel find, abſtoßend. Die Verſtaat ⸗ 
lichung der Kindererziehung und die Bekaͤmpfung aller familialen 
Abgeſchloſſenheit, wie ſie Sowjetrußland ausuͤbt, uͤberhaupt die ganze 
Neigung, das wirken der Menſchen in eine dem alten Sparta aͤhnliche 
Verpflichtung zum Gemeinleben zu bringen, erweiſt ſich ſo nicht als ſitt · 
liche Derwilderung, fondern gerade als ein geſunder, ſtaats · und men⸗ 
ſchen bildender Inſtinkt. Strebſamkeit, Arbeitſamkeit und Gemeinſinn iſt 
dem Ruſſen wahrſcheinlich nur durch eine Verſtaatlichung der gefamten 
Tugend» und Kindererziehung und eine Zuruͤckdraͤngung der Familie — 


188 Eliſabeth Bufle-Wilfon 


wenigſtens für ein bis zwei Generationen — beizubringen. Darüber hinaus 
bat der Kampf gegen die Familienerziehung den geheimen Zweck, die Volks⸗ 
genoſſen, die von der Geſtaltung des Staats ⸗ und Gemeindelebens unter 
dem Zarismus völlig ausgeſchloſſen waren, uberhaupt erſt zur Teilnahme 
am oͤffentlichen Leben anzuleiten. — Die Breſche ins Privatleben, die 
der Bolſchewismus ſich zu ſchlagen bemüht, mag außerdem auch einen me · 
chaniſch⸗ſtaatserhaltenden Antrieb haben. Die durch Gattenband und 
Blutsverwandtſchaft verbundenen Menſchen, die auf engſtem Raume zu⸗ 
ſammen leben, find die natürlichen kleinſten Gppoſitionszellen und Unzu⸗ 
frieden heitsherde gegen eine ſtaatliche Zwangs herrſchaft. Die Zuſammen⸗ 
ruͤckung von Menſchen zu vermeiden, iſt daher immer einer der hauptſaͤch⸗ 
lichſten machtdynamiſchen Grundſaͤtze einer Diktaturgewalt geweſen. — 
Natuͤrlich wird auch dieſe Maßnahme des allgemeinen Staatskindertums 
— die nur eine national ⸗paͤdagogiſche iſt — von den bolſchewiſtiſchen 
Fuͤhrern mit ideellen ſozialiſtiſchen Grundſaͤtzen ůberhangen. Aber die 
bolſchewiſtiſchen Fuhrer dienen mit allen Neuerungen, durch die fie Euro⸗ 
pa befremden, weder dem Sozialismus noch der Menſchheit; aber ſie dienen 
mit ihnen, mit ihrer Auswahl, die einen guten politiſchen Inſtinkt verraͤt, 
vor allem und in erſter Linie ihrem ruſſiſchen Volke. 

Aber die Mittel! Die Setzpropaganda, mit der die bolſchewiſtiſche Regie- 
rung gegen die alte welt vorgeht, die gotteslaͤſterlichen Umzuͤge, die auf 
rohe Weiſe den chriſtlichen Kult verhoͤhnen ! Beraubt ſich nicht ein ethiſches 
Wollen, das mit politiſch⸗agitatoriſchen Mitteln betrieben wird feiner 
beſten Werbungs kraft? Richtet das neue Rußland ſich nicht ſelbſt, wenn es 
die alte Praxis des politiſchen RAlaſſen kampfes ausuͤbt? Stadt und Dorf 
wird uͤberſchwemmt mit lugſchriften und Plakaten, mit Bildern, die immer 
nur die eine Zweiheit darſtellen: einſt und jetzt. Sier Popen und Fronarbeit, 
dort Wohlſtand und Freiheit. Warum hetzt und wuͤhlt das neue Regime 
fo plump gegen die alten Mächte, wenn es feiner guten Sache ſicher ift? 

Warum greifen uͤberhaupt politiſche Machtgruppen ebenſo wie politiſche 
Minderheitsgruppen zu dem GBiftmittel der Volksverhetzung, das die 
Menſchen mehr verdirbt, wie ſaͤmtliche Seuchen der Natur ihr leibliches 
Leben? Der individuelle Selbſterhaltungstrieb iſt in jedem Menſchen zu⸗ 
naͤchſt ſtaͤrker als die uͤberperſoͤnlichen Gemeinſchaftsverpflichtungen. Wie- 
viel ſtaͤrker iſt aber das Verlangen nach der perfönlichen Selbſtbefriedigung 
bei denjenigen Volksteilen, die hart um ihr Exiſtenzminimum ringen muͤſ⸗ 
fen. Diefe zermuͤrbten und durch den Krieg verbrauchten Männer Europas 
reagieren ſchwer und langſam auf Anſtoͤße von außen. Naturgemaͤß muß 
daher eine Partei, die zum aktiven politiſchen Sandeln, zum Außenkrieg 
oder zum Innenkrieg aufrufen will, wie die nationaliſtiſchen und kommu⸗ 
niſtiſchen Parteien aller Länder mit den ſtaͤrkſten Mitteln der Aufpeitſchung 
und der Übertreibung arbeiten; um nur ein Sundert muͤder Proletarier, 
Männer und Frauen auf die Straße zu bringen, muß tauſendmal zum Der- 


Zur National · Pſychologie des Bolſchewismus 189 


nichtungs⸗ und Endkampf aufgerufen werden. Das Kampfmittel des 
Setzens, dieſes zweiſchneidige Schwert, das die Seelen der Menſchen inſi⸗ 
ziert und ihren Verſtand ſchwaͤcht, iſt das naturgeſetzliche Werbemittel von 
Minderheitsgruppen, die an ſich ſtumpfe Menſchenmengen für eine Aktion 
intereſſieren wollen. Es iſt uͤberdies zu erwarten, daß eine um Proletarier 
werbende Partei grober und ſchreiender auftragen muß als eine andere. 

Sind nun ſchon die Menſchen in Weſteuropa, die intellektualiſierten und 
wachen Einwohner der Induſtrie · Staaten ſchwer zu uͤberperſoͤnlichen, 
großen Gemeinſchaftsaktionen, gleichviel ob zu ſozialen oder zu natio⸗ 
nalen Aufſtaͤnden zu gewinnen, ſo iſt nun der ruſſiſche Menſch und das 
heißt der ſchwere, ſtumpfe, unbewegliche Bauer, noch viel weniger geneigt, 
ſich aktiv fuͤr ein neues politiſches Syſtem einzuſetzen. Er iſt froh, den 
alten Nöten entronnen zu fein, dem Krieg und dem Zarismus. Die bolſche · 
wiſtiſche Regierung mußte daher mit den marktſchreieriſchſten Mitteln 
dieſem Menſchen, deſſen Vorſtellungsleben viel langſamer funktioniert als 
das eines Weſteuropaͤers, die Richtigkeit des neuen Syſtems einleuchtend 
machen. So betrieb und betreibt ſie einen mit großer Klugheit eingeleiteten 
politiſchen Anſchauungsunterricht. Man veranſtaltet 3. B. oͤffent⸗ 
liche, jedermann zugängliche Ausſtellungen, etwa mit der inſtruktiven Bei ⸗ 
ſpielſammlung: „Wie wohnt ein armer Bauer und wie wohnt ein reicher 
Gutsbeſitzer . Dort findet man die Übertragung einerelenden, ungeheizten 
Suͤtte und ihres armen, ſchmutzigen Sausrates und dicht daneben das 
Gegenbeiſpiel: ein vollſtaͤndig und komfortabel eingerichtetes Serrenhaus, 
von der behaglich erwaͤrmten Bibliothek bis zum Waſſerkloſett alle Wohn ; 
kultur in ſich vereinigend. — Die ruffifche Bühne wurde gleich zu Anfang 
der Revolution in den Dienſt der Propaganda geſtellt. Sie ſchuf panto- 
mimiſche Verſinnbildlichungen der ſozialen Klaſſen mit ihren Beſitzunter⸗ 
ſchieden. Sie ließ die kapitaliſtiſchen Urheber des Weltkrieges auftreten in 
einer fo überzeugenden Praͤgnanz, daß auch bürgerliche Nunſtkritiker die 
improviſatoriſche Kraft dieſes Volkstheaters bewundern mußten. 

Alle dieſe ſinnenfaͤlligen Aufforderungen zum Klaſſenkampf, die den 
Nichtruſſen als Zeugniſſe einer raffiniert berechneten VDerhetzungskunſt er⸗ 
ſcheinen, ſind aber die fuͤr die Pſyche des einfachen, ungebildeten, ruſſiſchen 
Menſchen aus dem Volke gemäßen Lehrmittel. Sein Apperzeptionsvermoͤ⸗ 
gen iſt von Natur aus gering. Die intellektuellen Funktionen, der Ablauf von 
Eindruck — Vorſtellung — Abſtraktion — Willens entſchluß verlaufen bei 
einem einfachen und kindlichen Menſchen, und das iſt der ruſſiſche Bauer, 
langſam und ſtockend. Der Ruffe, der diefen propagandiſtiſchen Eindruͤcken 
ausgeſetzt wird, iſt außerdem Analphabet. In den erſten Jahren nach der 
Revolution fuhren Eiſenbahnzuͤge mit grellen Plakatierungen ins Land 
hinein. Alle dieſe ſchreienden Plakate, die aufdringlichen Bilder und 
Plaſtiken, die man dem Volke überall vor Augen ſtellt, find in Wahrheit 
fein Zeſebuch. Europaͤiſche Runſtgelehrte haben darauf hingewieſen, 


190 Eliſabeth Buffe-Wilfon 


daß unſere romaniſchen und gotiſchen Kathedralen · Portale, die mit 
plaſtiſchem Bildwerk und ſkulpturalen Einzelheiten gleichſam überzogen 
ſind, die Bilderbibel des leſensunkundigen chriſtlichen Volkes geweſen 
ſeien. Wie dort nun Paſſion, Seilsgeſchichte, Begebenheiten aus dem Alten 
und Neuen Teſtament in Plaſtik und Relief dem jungen, ungebildeten 
Chriſtenvolt vorerzaͤhlt wurden, fo bemuͤht ſich heute die bolſchewiſtiſche 
Regierung Rußlands, ihre neue Lehre und Lebenspraxis einem Volke von 
Analphabeten und Bauern durch Bild und Spiel in Hirn und Serz zu 
pflanzen. 

Auch eine pſychologiſch · paͤdagogiſche Beeinfluſſungsabſicht welter bei 
folgender Profanierung altgeheiligter Wallfahrtsplaͤtze: Eines der größ- 
ten und reichſten Kloͤſter Riews war in der Zarenzeit das Ziel Tauſen⸗ 
der von Pilgern aus ganz Rußland, die dort die wunderbar konſervierten 
Leichname von Seiligen verehrten. Die neue Regierung verlegte hierher, 
an den Sammelpunkt altruſſiſcher Religionsausuͤbung ihren Aufklaͤrungs 
feldzug. Ein aͤgyptologiſches Muſeum wurde im Klofter eröffnet, das alle 
Wallfahrer paffieren mußten. Sier waren beſonders aͤgyptiſche Mumien 
zur Schauſtellung gebracht und der Vorgang der Einbalſamierung und Er⸗ 
haltung von Leichen wurde auf hoͤchſt inſtruktive Weiſe verſtaͤndlich ge- 
macht. Das Wunder wurde naturwiſſenſchaftlich erklaͤrt. Erſt dann werden 
die Pilger zur Befriedigung ihres religiöfen Beduͤrfniſſes zugelaſſen. 

„Auf llaͤrungsmaͤtzchen wird der Europaͤer ſagen. Aber nur der mit 
Rationalismus uͤberſaͤttigte Weſteuropaͤer kann dieſen handgreiflichen Ent ⸗ 
goͤtterungsunterricht mißachten, denn Rußland ſchickt ſich eben erſt an, ins 
Zeitalter der Auf klaͤrung einzutreten, das in Frankreich und Deutſchland 
vor 200 Jahren anhub. Der Ruſſe iſt im Begriffe zu werden, was wir 
waren. Die rationalen Entdeckungen, die fuͤr uns jetzt nebenſaͤchlich ſind, 
koͤnnen fuͤr ihn erſchuͤtternde Erkenntnisakte ſein; wir haben ja laͤngſt 
durchlaufen, was bei jenen eben erſt anklopft. Was uns platt erſcheint, kann 
dort weiſe ſein. Denn der Rationalismus und die Aufklaͤrung, auf die wir 
Weſtler jetzt herabſehen, waren auch einmal für uns Großtaten des Geiſtes. 


Der Altersunterſchied Rußlands und Europas 


as ganze geiſtige Gepraͤge des ruſſiſchen Volkes iſt das der Jugend ⸗ 

lichkeit. Die ruſſiſche Kultur beſitzt keine eigene Philoſophie und erft 
ſeit 200 Jahren eine Citeratur. Nicht einmal eine ſelbſtaͤndige Volkswirt 
ſchaftslehre hat fie aufzuweiſen. Vor allem aber erweiſen ſich beſtimmte, 
bei jedem Ruſſen immer wiederkehrende Charakterzůge — feine Abneigung 
gegen das wiſſenſchaftliche, „weſtliche“ Denken, fein ſchrankenloſer Subjek⸗ 
tivismus und naiver Dogmatismus, ſeine Unfaͤhigkeit zur Selbſtkritik als 
die Merkmale geiſtiger Unerwachſenheit“. 


Aarl Mogel, der bedeutendſte Renner des ruffifchen Volkes, hat in einer glaͤnzen · 
den Analyſe (Die Grundlagen des geiſtigen Rußland. Eugen Diederichs Verlag) 


Zur National - Pſychologie des Bolſchewismus 191 


Der europaͤiſche Beobachter glaubt bei der Betrachtung Sowjet ⸗Ruß⸗ 
lands in erſter Linie die Welt des Oſtens gegenüber der des Weſtens wahr ⸗ 
zunehmen. Es iſt aber ebenſo ſehr der Altersunterſchied der Voͤlker, der die 
Vorgaͤnge in Rußland verſtaͤndlich macht. Dieſen entwicklungsmaͤßigen 
Altersabſtand empfindet auch das Objekt der Betrachtung felber, ohne es 
zu wiſſen. 

Das ungeheure Selbſtbewußtſein Sowjet⸗ Rußlands auf feine neuartige 
ſozialiſtiſche Geſellſchafts · und Lebensgeſtaltung, die Verachtung der kapi⸗ 
taliſtiſchen Länder mit ihrer entarteten „bürgerlichen“ Kultur iſt zunaͤchſt 
die eingeborene Saltung jedes Ruſſen gegenüber Weſteuropa. In einem 
find ſich die aͤußerſte politiſche Rechte und die aͤußerſte politiſche Linke Ruß ; 
lands einig: in dem Bewußtſein der Überlegenheit Rußlands Über die ver · 
rottete weſtliche Rultur. Das neue Rußland kleidet dieſen Anſpruch in das 
Gewand des internationalen Sozialismus, zu dem es die Weſtſtaaten zu be⸗ 
kehren hofft. Die Begruͤndung dieſer Weltmiſſion deckt ſich mit den 
nationalen Dorzugsanfprüchen des konſervativen Urruſſen — nur mit aus; 
gewechſeltem Wappenſchild. — Der konſervative Danilewſ ki, der geiſtige 
Vater des Panſlawismus, ebenſo wie Lenin und Trotzki ſehen ſich in ihren 
Ausführungen über Rußlands Stellung zu den europaͤiſchen Staaten ſehr 
aͤhnlich. Man muß nur anſtatt dem Weſten oder „weſteuropaͤiſche Staaten“ 
das Wort kapitaliſtiſche Staaten einfügen. 

Aber wohl dem gluͤcklichen Neurußland, in dem ſich nationale und ſozial⸗ 
revolutionaͤre Intereſſen decken. Den freſſenden Zwieſpalt der weſteuropaͤ⸗ 
iſchen Staaten kennt es nicht. Der nationale Imperialismus Auß- 
lands iſt in dem Imperialismus der dritten Internationale auf- 
gegangen. 

Das nationale Selbſtbewußtſein des Auffen (gegen das die National- 
gefühle der weſteuropaͤiſchen Voͤlker hyſteriſche Schwaͤchezuſtaͤnde find) 
hat ein doppeltes Geſicht. Es iſt einmal das biologiſche Uberlegenheits · 
gefühl des jungen Volkes über das alte, des Volkes mit unerſchoͤpflichen 
Referven der Natur, mit unendlichen Möglichkeiten der Kultur ⸗ und Men ⸗ 
ſchenbildung. Die ruſſiſchen politiſchen Fuͤhrer fuͤhlen ſich trotz der unge · 
heuren Schwierigkeiten der Neuerziehung eines Bauernvolkes, trotz aller 
Kriſen und Sungersnoͤte als unerſchuͤtterlich überlegen, mit der Inſtinkt⸗ 
ſicherheit von Menſchen, die die biologiſch kraͤftigeren ſind. 
die ſe Charaktereigenſchaften des Ruſſen als die tragiſchen Folgen des gewohnbeits- 
mäßigen und ſchrankenloſen Serrſchenkoͤnnens, als eine Erbſchaft des ruſſiſchen 
Seelenbeſitzertums erklaͤrt. Fuͤr beſtimmte Typen des ruſſiſchen Volkes, vor allem 
für einen Tolſtoi, iſt dieſe Analyſe ſicher richtig. Als naturkundliche Eigenart, wie 
fie auch jetzt wieder beim Bolſchewis mus und feiner Lehre zutage tritt, iſt 
fie aber wohl in erſter Linie der Beweis einer jungen geiſtigen Kultur. — In der 
„Sozialen Bewegung in Rußland“ (Muſarion- Verlag, 1923), das die Geſchichte, 


Struktur und Beſchaffenheit der ruſſiſchen revolutionaͤren Bewegungen umfaſſend 
ſchildert, wird der ausgezeichnete Rußlandkenner dem Bolſchewis mus nicht gerecht. 


192 Eliſabeth Buffe-Wilfon 


Aber in dies uͤberbetonte nationale Selbſtgefuͤhl miſcht ſich ein wenig 
Minderwertigkeitsgefuͤhl. Der Ruſſe beſorgt mit Recht, daß die weſtlichen 
Voͤlker ihn als nicht ganz voll, als nicht ganz „erwachſen“ anſehen. Die 
Furcht, man koͤnne in Rußland eine unkultivierte Waldwildnis und eine 
Bevölkerung mit rohen Sitten ſehen, erfüllt den Sowjetfuͤhrer von heute 
ebenſo wie den zariſtiſchen Auffen. 

In ſcheinbar zielſtrebigen, aber darum doch ſeltſam unangebrachten 
Sandlungen der bolſchewiſtiſchen Regierung tritt das Bewußtſein als 
Schwaͤchegefuͤhl zutage, nicht oder vielmehr noch nicht zu den kapita⸗ 
liſtiſchen, induſtrialiſierten, arbeitstuͤchtigen Voͤlkern Europas zu gebören. 
Die bolſchewiſtiſche Regierung zeigte von Anfang an einen lebhaften 
Eifer, die weſtlichen Staaten von dem bluͤhenden Stande feiner Induſtrie 
zu überzeugen. Der berechtigte Wunſch, den kapitaliſtiſchen Staaten Euro⸗ 
pas, die nur auf den wirtſchaftlichen Zuſammenbruch Sowjet⸗ Rußlands 
warteten, den Nachweis der Lebensfaͤhigkeit einer ſozialiſtiſchen Volks ⸗ 
wirtſchaft zu bringen, mochte der aktuelle und berechtigte Anlaß ſein. 
Aber daruͤber hinaus zeigt die außenpolitiſche Propaganda Rußlands fuͤr 
ſeine induſtriellen Erfolge, die Wichtigkeit, mit dem jedes Pud gefoͤrderte 
Kohle der welt verkuͤndet wird, eine Verſchiedenheit der Wertmaßſtaͤbe, die 
ſich nur aus dem Alters unterſchied der Wirtſchafts⸗ und Kulturſtufen er- 
klaͤren laͤßt. Der Ruſſe will mit etwas imponieren, was doch den weſt⸗ 
ſtaaten, bei denen ſeit Generationen die Schlote rauchen und die mechani⸗ 
ſchen Webſtuͤhle ſurren, keinen beſonderen Eindruck machen kann. — Der 
bolſchewiſtiſchen Regierung kann man einen zielbewußten Machiavellis· 
mus nicht abſprechen. Sie iſt durch Stroͤme von Blut gegangen und alle 
menſchlichen Bedenken über den viel zu hohen Preis, mit dem die Errich⸗ 
tung der ſozialiſtiſchen Republik bezahlt wurde, find ihren Sübrern „buͤr⸗ 
gerliche Vorurteile“. Einen ſeltſamen Gegenſatz zu dieſer grandioſen amo⸗ 
raliſchen Staatsauffaſſung bilden die kindlichen Bemühungen Rußlands, 
Europa zu gefallen, Europa, das es doch andererſeits ſo unendlich verachtet. 
Durch feine neuen, ſozial⸗charitativen Maßnahmen glaubt Sowjet⸗Ruß ⸗ 
land Europa in Staunen zu ſetzen. Da werden große Berichte in die 
welt geſandt über die Errichtung von Kinderheimen, Kinderaſylen, Fro. 
belſchulen und woͤchnerinnenheimen. Daß die Palais der Großfuͤrſten und 
die Villen der Großkauf leute beſchlagnahmt und zu proletariſchen Heimen 
umgewandelt wurden, lohnt ſich immerhin, den kapitaliſtiſchen Voͤlkern zu 
verkuͤnden. Aber die Tatſache der ſozialen Wohlfahrts einrichtungen 
als ſolcher iſt dem Ruſſen ſchon das Wunderbare, ja er ſieht in ihnen eine 
fozial-revolutiondre Maßnahme. In einem Zeitalter, wo Deutſchland feit 
Jahrzehnten Sozialpolitił treibt und faſt alle Staaten außer Amerika 
Arbeiter und Jugendſchutzgeſetze kennen und eingeführt haben, fühlt ſich 
das bolſchewiſtiſche Rußland veranlaßt, dem aufhorchenden Europa mit⸗ 
zuteilen, daß es proletariſche Kinder · und woͤchnerinnenheime einrichtet. 


Zur National · Pſychologie des Bolſchewismus 193 


Die ſtaatlich organifierte Wohlfahrtspflege und der geſetzmaͤßige Volks 
ſchulunterricht find dem Ruſſen ſozial · revolutionaͤre Neuerungen! Nir⸗ 
gends wird der Altersunterſchied zwiſchen den ſeit langem demokratiſchen 
Weſtſtaaten und dem deſpotiſch regierten und unerwachten Bauernvolke ſo 
deutlich, als bei dem Charakter der kulturpolitiſchen Maßnahmen und 
Neuerungen, die Rußland der Revolution folgen ließ. 

Denn das zariſtiſche Rußland ſah weder das Aufdaͤmmern ſozialer Ge⸗ 
ſetze noch auch eine großzügige private Wohltaͤtigkeit, wie fie beiſpielsweiſe 
das europaͤiſche Mittelalter in fo eigenartig · genoſſenſchaftlicher Weife voll- 
bracht hatte. Dabei übertraf die Elends fuͤlle des ruſſiſchen Volkes, nament · 
lich des Großſtadtproletariates alles, was die weſtlichen induſtrialiſierten 
Staaten an Armut und Verkommenheit bergen. Heere von Bettlern, Maſſen 
verwaiſter Rinder und Kinderproftitution auf den Straßen der Großſtaͤdte 
und die ganze hoffnungsloſe Verkommenheit eines beiſpiellos elenden Cum⸗ 
penproletariates waren die „normalen“ ſozialen Erſcheinungen Rußlands 
vor dem Kriege. Daß dieſer Elenden nun uberhaupt gedacht wird, daß der 
Staat es verſucht, wenigſtens die Kinder in Seimen zu bergen und zu retten, 
bedeutet für Rußland bereits eine radikale Umwandlung des politiſchen 
Denkens. — Alles was Sowjet ⸗ Rußland ſchafft und leiſtet oder noch mehr, 
was es entwirft und als ſozial⸗politiſches Ziel aufſtellt, It immer wieder nur 
bedeutungsvoll auf dem Sintergrunde eines von der weſtlichen Sochzivili⸗ 
fation unberührt geweſenen und unmuͤndigen Bauernvolkes, das jahr 
bundertelang das bloße Ausbeutungsobjekt einer deſpotiſchen Regierung 
war. Rußland iſt ſtolz auf feine Weltmiffion und macht mit der Errichtung 
der ſozialiſtiſchen foͤderativen Republik nur einen kuͤhnen Verſuch, ſich 
ſelbſt zu erloͤſen. 

Was in Rußland vorgegangen iſt feit Io Is und was gerade durch feine 
widerſpruͤche gegen Freiheit und Gleichheit die Europaͤer aller Klaffen und 
Staͤnde befremdete, bedeutet in Wahrheit nur, daß Rußland aus dem Sta⸗ 
dium des zariſtiſchen (mittelalterlichen) Deſpotismus eben erſt in die Staats⸗ 
und Regierungsform des aufgeklaͤrten Abſolutis mus eingetreten 
iſt. So unerbittlich iſt das Entwicklungs geſetz des organiſchen Lebens, daß 
keine Stufe der Lebensreifung uͤberſprungen werden kann, wobei ſich aber 
ebenfalls die revolutionäre Theorie bewahrheitete, daß der Übergang zu 
einer anderen Staatsform nie durch Evolution erfolgen kann. Zur bürger- 
lichen Demokratie jſt jedoch das Volk, das vor zwei Generationen noch aus 
Leibeigenen beſtand, nicht bereit. Daher wurde hier der mittelalterliche De⸗ 
ſpotismus abgeloͤſt durch die ſtaatliche Vormundſchaft des bolſchewiſtiſchen 
Regimentes. Der Militaͤrſtaat iſt erſetzt worden durch den Erzieherſtaat 
oder wenigſtens durch den Gbrigkeitsſtaat in feiner aufgeklaͤrten Form, der 
Untertan durch das Landeskind. Rußland trat im Oktober 19 Is in den 
Stand der europaͤiſchen Staatsentwicklung ein, den die europaͤiſchen Laͤn⸗ 
der bereits im 18. Jahrhundert durchlaufen hatten. Die Ankunft auf dieſem 
Tat Xvn 11 


194 selifabetb Buffe-Wilfon, Zur National · Pſychologie des Bolſchewis mus 


Entwicklungsſtand bezeichnet auch LZenins mißverſtaͤndlicher (unter an- 
deren Umſtaͤnden machiavelliſtiſcher) Ausſpruch „Freiheit iſt ein Vorurteil 
der Intellektuellen“. 

Die ganze Fuͤlle von Verordnungen, Vorſchriften, Anordnungen, die der 
bolſchewiſtiſche Staat ſeit Jahren in wechſelnder Aufeinanderfolge auf 
feine getreuen Candeskinder niedergehen läßt, die zahlreichen Ermahnun ; 
gen und Vorſchriften über alles und jenes — ſo ſollt ihr ſaͤen und ackern, 
dieſe und jene Geraͤte ſollt ihr anwenden und jene nicht, ihr ſollt Schulen 
einrichten und Lefebütten — dieſer Auf klaͤrungs ⸗ und Beeinfluſſungseifer, 
der ſich auf Alkoholmißbrauch ebenſo erſtreckt wie auf Rohlenfoͤrderung, 
laͤßt den Schluß zu, daß ſich die ruſſiſche Obrigkeit in einem wahrhaften 
Rauſch des Schulmeiſterns befindet. Es fehlt bloß der Nruͤckſtock Fried; 
rich wilhelm des Erſten oder die hauswirtſchaftlichen Ermahnungen 
Maria Thereſias bei dieſen fortgeſetzten Ermunterungen und Aufforde⸗ 
rungen zur Arbeitſamkeit, nicht minder wie zum Beſuch von Schule und 
Kirche (d. h. von Schule und bolſchewiſtiſchem Klub). 

Die Natur iſt fo reich an Rombinationsmòͤglichkeiten und ÜUberraſchun⸗ 
gen, daß es immer muͤßig bleiben wird, aus dem Aufeinandertreffen von 
Kultur · und Naturformen, wie fie ſich eben jetzt in Rußland vollzieht, be- 
ſtimmt geformte feſte Ergebniſſe zu erwarten. Daß aus der Paarung zwi⸗ 
ſchen den roͤmiſchen Rulturformen, der roͤmiſch⸗chriſtlichen Kirche und dem 
roͤmiſchen Recht mit dem Germanentum gerade nur dieſer eine mittelalter 
liche europaͤiſche Staat hervorgehen mußte, war eine ebenſo wunderbare 
und unwahrſcheinliche Variationsmoͤglichkeit der Natur, wie es diejenige 
des Ruſſentums mit dem europaͤiſchen Geiſte fein koͤnnte, deren Srüchte die 
jetzt lebenden wohl kaum noch erblicken werden. Der menſchliche Geiſt iſt 
unvermögend die Wege der Natur vorauszuwiſſen. Was fie hervorgehen 
laſſen wird aus dem ruſſiſchen Volke, das dem Geiſte nach ein Kind und der 
Seele nach ein Juͤngling iſt, iſt ein ebenſo unberechenbares Wunder, wie 
die abgelaufenen Schickſale der Menſchen und Voͤlker, die wir hinterher als 
notwendig und kauſal begründet anſehen. 

Es iſt mit dem Ceben eines Volkes wie mit dem eines einzelnen Menſchen: 
ſeine Freiheit iſt durch ſeine eigene Weſenheit determiniert. Wo er ein neues 
Geſetz aufzuſtellen glaubt, folgt er nur ſeinem eigenen, ihm eingeborenen 
Geſetze. Der Bolſchewismus taͤtigte eine blutige Revolution, um ſchließlich 
nur den Übergang vom abſoluten zum aufgeklaͤrten Deſpotismus zu voll · 
ziehen. Er erklaͤrte einen Ableger des weſtlichen Rationalismus zur Staats · 
religion und ſetzte ſich damit, ohne es zu wiſſen, eine großartige Erziehungs⸗ 
aufgabe. Er ſucht eine neue Staats · und Geſellſchaftsmoral und begruͤndet 
ſein Reich mit Erſchießungen, Verhaftungen und Spitzelweſen. Da, wo 
er den Zarismus abzuſchuͤtteln vermeinte, verhalf er ihm zu einem letzten 
Austoben. 

Sind alle Ziele der Menſchen nur Vorwaͤnde, um ein anderes, rational 


Hermann Gumbel, Dom Wefen des nordiſchen Menſchen 195 


vielleicht gar nicht gewolltes zu erreichen? Wenn es ſo iſt, muß aber das 
wirklich Neue, wenn auch bewußt vielleicht gar nicht genau Vorgeſtellte, 
im Menſchen als Antrieb tätig gewefen fein. Sonſt würden die Neuerer 
und Umſtuͤrzler nicht alle den ſeltſamen Stolz der Auserkorenheit, das Be; 
wußtſein fuͤr die „Ewigkeit“ zu ſchaffen, haben. Daß die Urheber eines 
neuen Syſtems das eigentliche Angeſicht des ſchoͤpferiſch Neuen nicht mehr 
ſehen werden, liegt in der tragiſchen Kürze des Menſchenlebens begründet, 
— eine Kürze, die die ſtaͤrkſte Schranke feiner Erkenntnisfaͤhigkeit ſetzt, die 
er aber durch den Glauben Üüberbrüdt. Ein dunkles Gefuͤhl ſagt den Naͤmp⸗ 
fern, daß auch nicht ein Gederſtrich umſonſt getan fein wird, kein Aufruf 
umſonſt erlaſſen, kein Experiment umſonſt mißlungen. Zu welchem Ende? 
„Vom Winde des Geiſtes darf keiner ahnen, von wannen er kommt, noch 
wohin er geht, ſoll er Segel zu neuen Kuͤſten hin ermutigen; keiner darf 
ahnen, daß die Umſegelung ſeiner Erde ihn nur in den eigenen Safen zu⸗ 
ruͤckfuͤhren kann.“ 


Hermann Gumbel / Vom Werfen 
des nordiſchen Menſchen 


s ſoll in dieſen Zeilen vom nordiſchen Menſchen geſprochen werden. 
Dabei iſt hauptſaͤchlich das Weſen des Schweden ins Auge gefaßt. 
Die gezogenen Linien find mit der entſprechenden Abtoͤnung auf die 
anderen ſkandinaviſchen Charaktere zu uͤbertragen. Nordiſch iſt uns ſomit 
ein Sammelbegriff für eine Große, die in verſchiedene Spielarten zerfällt 
(das Daͤniſche uſw. ). Diefe Unterarten fügen ſich im weſentlichen (in re) 
dem Begriff ein, in der einzelnen Erſcheinungsweiſe dagegen (in modo) 
muͤſſen Unterſchiede und trennende Eigentuͤmlichkeiten anerkannt werden. 
Wir faſſen den Begriff nordiſch fernerhin biologiſch und anthropologiſch 
und beziehen im Einklang mit der biologiſchen Forſchung (vgl. unten das 
Zitat unſeres Gewaͤhrsmannes) die Raſſenfrage ausdruͤcklich und lediglich 
als eine biologiſch⸗ ꝓſychologiſche ein. 

Wenn nun endlich in dieſen Zeilen Orientierung nach dem Norden ge⸗ 
fordert wird, ſo handelt es ſich nicht um eine romantiſche oder ſpießerliche 
Verherrlichung des „ariſchen Menſchen“. Nichts iſt laͤcherlicher als die 
ſportmaͤßige Germanenbegeiſterung, die den nordiſchen Menſchen als den 
Lichtmenſchen hinſtellt und zum blondgelockten Ideal erhebt. Denn nichts 
verkennt den Charakter des Nordlaͤnders gruͤndlicher. Der Nordlaͤnder iſt 
nicht der Menſch des Lichtes, ſondern der Dunkelheit. Nichts iſt fuͤr ſeine 
Saltung entſcheidender als der kurze Sommer und der lange, kalte Winter, 
die ſeine Jahreszeiten ſind, als der jaͤhe Fruͤhling und der faſt fehlende 
J4* 


J96 Seemann Gumbel 


Serbſt. Man muß es ſich vorſtellen, was es für den Menſchen der german. 
ſchen Fruͤhzeit bedeutete, acht bis neun Monate ohne Licht an einem kuͤm ; 
merlichen Serdfeuer zu hauſen. Freilich war dann die beſte, edelſte Sehn; 
ſucht die nach dem Licht und der Sonne. In das Licht verſetzte man das 
beſſere Teil feines Selbſt, alles was man wuͤnſchte zu fein, was man aber 
nicht war. Daͤmonie und gewaltige Truͤbungen der ſeeliſchen Kräfte waren 
— und find — Erzeugnis der Winternacht — und im Sommer bei einer 
ewig kreiſenden Sonne konnte alles andere erwachſen als das ruhige, 
blühende Gleichmaß des Weſens . Die Forſchung bringt heute den Balder; 
mythos weitgehend in Zuſammenhang mit oͤſtlichen, klein · aſiatiſchen Ein 
ſtroͤmungen (Adoniskult, ſ. Neckel: „Balder“ ). Ein Loki, ein Sagen 
find Spiegelbilder der germaniſchen Menſchlichkeit. Siegfried iſt anders: 
kindlich, ſtets heiter, harmoniſch, unbewußt ſicher — aber dadurch auch 
nichtsſagender, unintereſſanter, uns etwas unbegreiflich und fremd, „un⸗ 
menſchlicher“: er iſt ein Gott. Brunhild, Gunther, Sagen, Kriemhild, 
das ſind die Menſchen, die dieſes Gottes Schickſal leben. Ganz andere Be⸗ 
wußtſeinstatſachen beſtimmen nordiſches Weſen, als es romantiſche Aus ⸗ 
deutung einer nur oberflaͤchlich gekannten Mythologie glauben machen 
moͤchte. 
I 

We heute ein offenes Serz voll idealgeſinnter Zuneigung nach dem 

Norden trägt, der kann ſchwer enttaͤuſcht werden und —, feine 
ahnungeloſe Germanenliebe mag leicht ins Gegenteil umſchlagen. Ich habe 
einfachere Leute klagen hoͤren, die Schweden ſeien fo falſch und unwahr 
haftig. 

Der Schwede redet in der Tat oft ganz anders, als er denkt. Er kann ploͤtz · 
lich ſich auf eine Meinung verbeißen, die der total entgegengeſetzt iſt, welche 
man fruͤher von ihm gehoͤrt hat. Oder er wird an einem gewiſſen Punkt des 
Geſpraͤchs, wenn man nun begierig iſt, ihn ſich entſcheiden zu ſehen, ſeine 
Meinung zu hoͤren, wenn man wartet, daß er nun etwas beiträgt, ab; 
brechen, geſchickt auf etwas anderes uͤbergehen oder am liebſten die Sache 
durch einen faulen Witz ins Laͤcherliche ziehen. So wird er uͤber Stimmun ; 
gen anderer oder uͤber eigene Gefuͤhle vielleicht plotzlich einen ſehr aggreſſi · 
ven Scherz machen. Er wird alle möglichen unſachlichen oder ſentimenta⸗ 
len Gründe herbeiziehen, um einen perſoͤnlichen Wunſch zu verkleiden. Er 
nimmt Gaſtfreundſchaft als ziemlich ſelbſtverſtaͤndlich an, nicht als etwas, 
was ihn nun ſeinerſeits innerlich verpflichtet. Er gewährt fie ebenſo ſchoͤn 
und frei, und loͤſt ſich damit gern von jeder Verbindlichkeit dem anderen ge · 
genüber. Er wird kaum durch eine uͤberſchwaͤngliche, endloſe Dankesaͤuße 
rung verraten, wie viel ihm eine Beziehung geholfen hat. Andererſeits hat 
er eine Fulle recht feinſinniger Dankesformeln geſchaffen, die feine Gefuͤhle 
ebenſo liebenswuͤrdig verbüllen wie befreien koͤnnen. Er pflegt Bi 


— —— ee — — — — es — — 


Man vgl hierzu A. Samſuns „Pan“. 


vom Wefen des nordiſchen Menſchen | 197 


Freundſchaften durch ein befonderes Maß von Spott, Jynismus und 
Streitluſt zu belaſten — und zu verzieren, und ſchiebt unangenehme Ent · 
ſcheidungen lieber auf oder umgeht fie ganz, als daß er entſchloſſen geheime 
Unſicher heit klarſtellt. Wenn er hart iſt, wird er ſich nicht im mindeſten mit 
der Umwelt einlaſſen. Iſt er aber weich, ſo wird er ſtets geneigt ſein, zum 
Angriff auf die Umwelt vorzugehen und ſich als Rampfnatur geben. 


III 

ieſen Zügen, die ſich beliebig vermehren ließen, liegt zugrunde ein be- 

ſonders ausgepraͤgtes Gefuͤhl der Einſamkeit, Einmaligkeit, Abge⸗ 
ſchloſſenheit des Ich, deſſen Unentrinnbarkeit wie deſſen Anlagen als eigen; 
ſte Aufgabe und Forderung empfunden werden. Sieraus entwickelt ſich das 
Ideal einer harten, unantaſtbaren und ſelbſtaͤndigen Maͤnnlichkeit, die ohne 
ilfe von außen lediglich auf ſich ruht. Deshalb wird mit jeder Kraftaͤuße⸗ 
rung geſpart, nichts an andere verausgabt, nur an perſoͤnliches Werk. Des · 
halb wird aber auch Silfe, Eingreifen ſeeliſchen Anteilnehmens zunaͤchſt 
ſchroff abgelehnt. Die Wuͤrde und der Stolz verbieten es, einen andern in 
fein Inneres bineinfeben zu laſſen. Sie machen es ſchwer, oft unmoglich, 
die Kämpfe und die Not diefes Innern einem andern mitzuteilen. Es iſt 
ſchwer für den Schweden, ſich aufzuſchließen, hinzugeben, ſich zu oͤffnen. 
wenn er es nicht ſelbſt will, wird ihn der beſte Freund nicht dazu vermögen. 
Und das Merkwuͤrdige iſt, daß er es ſo ſelten will: ſein ganzer Inſtinkt 
ſtraͤubt ſich dagegen. Muß er annehmen, daß der andere etwas von ſeinem 
Inneren geſehen oder erraten hat, ſo faͤngt er an, Verſtecken zu ſpielen, 
ſetzt Masken auf, zieht ſich ſelbſt ins Lächerliche und ſucht den Betreffen⸗ 
den wieder über ſich irrezu machen. Sat er ſich ſelbſt einmal aufgeſchloſſen, 
ſo laͤßt er den andern die Mitwiſſerſchaft durch beſonderen Spott und 
Stichelei entgelten. Er will beweiſen, daß er trotzdem noch über den an; 
dern Serr iſt. Denn wer von feinem innerſten Weſen etwas weiß — fo 
meint er der hat Macht über ihn. Der weiß, wie es um die ſcharfe Selb- 
ſtaͤndigkeit im Grunde beftellt iſt. Dem iſt zuzutrauen, daß er die Grenze des 
Stolzes nicht achten konnte. Aber lieber leidet man darunter, unergaͤnzt, 
unausgeglichen zu ſein, als etwas Weſentliches einem andern zu verdan⸗ 
ken, d. h. abhaͤngig zu werden. 

Eine tiefe Serzlichkeit und Gleichgeſtelltheit kommt fo auf zwiſchen Men; 
ſchen, die ſich naheſtehen (wie ich es faſt ſtets zwiſchen Geſchwiſtern gefunden 
habe). Aber es bleibt auch eine Fremdheit, ein Nebeneinanderher⸗Ceben, ja 
eine ſtumme Wachſamkeit. Man wird im Kampfe mit ſich ſelber eher Egoiſt 
und Individualiſt, als fein Leben anderen hinzugeben oder aus feiner 
(Menſchen⸗) Liebe eine öffentliche Saltung werden zu laſſen. Deshalb mag 
es ſehr ſchwer ſein, im Norden Prieſter und Sozialiſt zu ſein. Sier macht 
weder Selbſtentaͤußerung noch Autorität Eindruck. Nur die ſelbſtaͤndige, 
kraftvolle Eigenart wird geachtet. 


198 Sermann Gumbel 


IV 

elbſtredend ſind im Norden nicht alle Naturen kraftvoll oder hart. 

Der Sinn für kraftvolle, ſtolze Form aber iſt gemeinſam, ein nicht 
weiter abzuleitender Ehrgeiz, ſich ſo zu geben und zu halten, wie es das 
Ideal verlangt. Und fo waͤchſt man allmaͤhlich in eine ſtolze Rüftung hinein. 
Das heißt „Selbſterzie hung“ des nordiſchen Knaben. Dazu iſt freilich Auf⸗ 
merkſamkeit und Rampf nötig. Daher wirken die nordiſchen Menſchen ſtets 
angeſpannt, mit ſich und den Angriffen des Lebens ſtets ringend, und das 
gibt ihnen oft den geheimen Ausdruck von Leiden und Gequaͤltſein. Man 
mag ihnen vorftellen : loͤſe dich doch nun einmal, habe Vertrauen, ſieh, wie- 
viel dich deine ſtolze Selbſtaͤndigkeit koſtet — ſtets werden fie antworten: 
mag es koſten, was es will, wenn es nur geht! Da taucht Kleiſts Guis kard 
vor unſerem Auge auf. 

Noch tiefer: jeder Menſch, der Nordlaͤnder beſonders bohrend, hat die 
Sehnſucht nach dem ganz anderen Sein, nach der „gluͤcklicheren !“, ihm ver⸗ 
fagten Art. So hat der Germane die dunkle Sehnſucht nach Loͤſung und 
einfacher Singabe. Dieſe Sehnſucht — nach „Wärme“ — trieb ihn nach 
Italien. In Siegfried hat ſich dieſe Sehnſucht verkörpert und erfuͤllt. Und 
daher hat alles nordiſche Weſen, alle nordiſche Schoͤnheit, den hinreißen ⸗ 
den Zug von Trauer und herber Wehmut, der Schwermut des Unerloͤſten, 
durch deſſen ſteinharten Trotz der ſcheue Wunſch nach dem kindlichen Zu⸗ 
trauen hindurchblickt. Dieſen Zug der Trauer und Schwermut teilt der 
Menſch mit der Natur um ihn, die arm und karg iſt, und deren herbe Kraft 
ſich nicht leicht und ſofort offenbart, ſondern die ſich in Dunkelheit oder 
ſtolzes, heftiges Licht einhuͤllt. . 

So gilt es, auch jene weniger einnehmenden Zuge zu verſtehen, zu er⸗ 
klaͤren. Es gilt, ſie zu verſtehen als Außerungen einer inſtinktiven, oft ver⸗ 
zweifelten Notwehr, eines Kampfes um das — perfönlidhe — Daſein. 
Wer an ſich weich iſt, braucht nur um ſo ſchaͤrfere Waffen, um geſichert zu 
fein. Man hat um fo tiefere, ſtaͤrkere Gefuͤhle, als man fie bewahrt, keuſch 
und karg haͤlt. Man ſetzt ſich nicht der Gefahr der Verunglimpfung des 
Schoͤnſten aus, was man hat. Denn man liegt im Kampf mit dem Naͤch · 
ſten; wie oft weiß man das Wichtigſte nicht von ihm. (Selbſt wo man ihm 
ganz vertraut iſt, behaͤlt man im Umgang mit ihm noch gern die Form des 
Kampfes bei.) Geteilte Freude empfaͤnde man, iſt es nicht im Kreiſe enger 
Familie, eben als geteilte Freude. Ungeteilter Schmerz mag dann halt dop⸗ 
pelter Schmerz ſein. Ein Mißgeſchick, gar einen Fehler oder Ungeſchicklich⸗ 
keiten wird man moͤglichſt verſchweigen. Durch Erklaͤrungen und Erlaͤute⸗ 
rungen in den Lichtkreis von allgemeiner Beurteilung zu kommen, ſchaͤtzt 
man gar nicht, ja man fügt ſich lieber einer beſchwerlichen und unperſoͤn⸗ 
lichen Form, als daß man durch Sonderſtellung und Abſondern den an- 
dern den Vorteil einraͤumte, einen zu kennen. Sier erklaͤrt es ſich, warum 
dieſe perſoͤnlichen, eigenwilligen Naturen auf Form und Tradition ſo viel 


Vom Weſen des nordiſchen Menſchen 199 


wert legen. Der ſchwediſche Sof gilt als der zeremoniellſte des Abendlandes. 
Dieſe Form iſt ein wohltuender, unverbindlicher Schutz. Sie gewaͤhrleiſtet 
die eigentliche Unnahbarkeit. Alle opfern ihr Selbſtaͤndigkeit, ſo iſt das kein 
Opfer, keine Abhaͤngigkeit von Autoritaͤt, ſondern freie Anerkennung 
einer willkommenen Grenze, die den Verkehr leichter, kunſtvoller und „un⸗ 
gefaͤhrlicher macht. 


V 

ieſe Einſtellung von Perſoͤnlichkeit und Selbſtzucht laͤßt ſich in allen 

Gebieten, allen Außerungen des Lebens und der Kultur als irgend⸗ 
wie verborgen beſtimmend wiederfinden. Die Eigenart ſolcher Erſchei⸗ 
nungsweiſe wird erſt recht deutlich, wenn man fie mit einer anderen pfy- 
chologiſchen Saltung vergleicht. Da bietet ſich das franzoͤſiſche Weſen nicht 
nur deshalb zum Vergleich an, weil es das entgegengeſetzte iſt, ſondern 
auch weil gerade die Schweden eine große Sympathie und Schwäche für 
franzoͤſiſches Weſen haben. Naturlich, das iſt eben der Zug jedes weſens 
nach ſeinem Gegenſatz. Und ſo ahmt man nach, entdeckt Ahnlichkeiten bei 
den anderen. Es darf aber nicht uͤberſehen werden, daß die Wurzeln, aus 
denen Gleiches entſpringt, doch jeweils die allerverſchiedenſten ſind. 


vI 

ie franzoͤſiſche Form und Zeremonie fällt mit dem Außerungswillen 
zuſammen, ja, fie iſt aus der Freude geſchaffen, die Menſchen zufam- 
menzubringen. Sie muß lebhaft, witzig, geiſtreich ſein, damit Lebhaftig⸗ 
keit, Witz und Geiſt in ihr angebracht werden koͤnnen. Sie iſt ein Anſporn 
zu Außerung als Leiftung und verlangt den Einſatz des Gefuͤhls. Im 
Norden iſt fie gerade geſchaͤtzt, weil fie den Einſatz des ganzen Gefuͤhls er- 
ſpart. Es bleibt die Frage, wozu mehr Vermoͤgen und Takt gehoͤrt. An 
Formen hat der Suͤdlaͤnder eine bewußte, ſpieleriſche Freude, der Nord⸗ 
laͤnder eine unbewußte Zuflucht. Ich zweifle nicht, daß man die nordiſchen 
voͤlker als politiſch ſehr begabt anſehen muß. Man preiſt die Diplomatie 
der Franzoſen und ihre aalglatte Gewandheit in der Politik. Demgegen- 
über ſcheint mir die Runſt der Diplomatie ihrem Weſensgeſetz nach eher zu 
nordiſcher Seelenlage zu paflen. Sier iſt es ein tief eingewurzelter Trieb, ſich 
verbergen zu muͤſſen, zunaͤchſt ganz, ohne ſchaden zu wollen. In gewiſſem 
Sinn iſt die Intrigue des Suͤdlaͤnders harmloſer, weil man leicht voraus ⸗ 
ſetzt, daß ſeine Gefuͤhle und ihr Schwerpunkt ſchnell und unwillkuͤrlich mit 
umſchlagen und beteiligt find. Diplomatie iſt ein Vorſchuͤtzen von Formen, um 
das innere Weſen nicht ſichtbar werden zu laſſen. Richtige Intrigue des 
Nordlaͤnders iſt faſt unentrinnbar. Ein engliſcher König war der voll · 
endete Meiſter der Einkreiſungspolitik. An Sagen, Kriemhild, in den Sa⸗ 

gas und der Edda ſehen wir Zuge meiſterhafter Diplomatie. 
Nordiſche Diplomatie iſt Derbüllung des Weſentlichſten und viel Tradi- 


200 Z3Zermann Gumbel 


tionsſinn und Biederkeit im Gebrauch der Mittel. Franzoͤſiſche Staats⸗ 
kunſt fordert ůberlegene Beweglichkeit der Mittel und vermag es ſchwerer, 
dauernd die großen Grundlinien zu verbergen. Wir Deutſche nehmen hier 
(wie man 3. B. an Bismarck zeigen koͤnnte) eine Mittelſtellung ein. Abhilfe 
gegen die Unpolitiſchkeit des Volkes, die man ſo oft beklagt, koͤnnte auf 
zweierlei Weiſe geſchehen. Skrupelloſigkeit in der Wahl der Mittel liegt uns 
nicht. Eher koͤnnten wir etwas mehr Sicherheit im Bewußtſein, Geſchick 
im Schutze, Sartnaͤckigkeit im Feſthalten unſerer großen politiſchen Saupt · 
punkte gebrauchen. 


vn 5 
ie Schweden haben in Anders Zorn einen Maler freier, ſtarker, aber 
erfriſchend ſauberer Sinnlichkeit gefunden. Er offenbart die ganze ge⸗ 

ſunde Leiblichkeit des Nordens und ſeine kraftvolle, traͤumende Schoͤnheit. 

Es iſt bezeichnend, daß Zorn in Paris gelernt und lange Jahre, auch ſpaͤter 

immer wieder, dort zugebracht hat. Er holte ſich dort die Můheloſigkeit und 

Unbefangenheit, feinen Trieb auszuſprechen, und es gelang ihm, zu Auße- 

rung deſſen zu ſchreiten, was für den Nordlaͤnder das Elementarſte, Intimſte 

und darum am meiſten Gehůtetſte iſt, unverhuͤllte Sinnlichkeit. Da, wo er er 
ſelbſt und vom Franzoͤſiſchen unbeeinflußt iſt (was durchaus nicht immer 
der Fall iſt), hat er auch den Stoff rein nordiſch gefaßt und feinen Leibern 
bei allem Elementaren doch eben den Glanz von Unnahbarkeit, ſtolzer 
Selbſtbeſtimmung und herrlicher Eindeutigkeit gegeben. (Dieſe Perſoͤnlich⸗ 
keitsgrundlage macht Nacktbaden uͤberhaupt erſt möglich.) Trotzdem iſt er 
bei dem Durchſchnittsſchweden (ſoweit ich urteilen kann) etwas drunter 
durch. Ein klein wenig ſcheint man ſich feiner zu ſchaͤmen, nicht feiner Bil- 
der, ſondern feiner als Kerl. Man entruͤſtet ſich nicht (moraliſch), aber man 
verdenkt es ihm etwas, daß er fo viel von nordiſchem weſen ent⸗qaͤußert hat. 

— Eine Dirne in Paris mag etwas viel Offentlicheres, Belangloferes fein 

als eine Dirne in Stockholm. Bekannt iſt die harmloſe Offenheit, mit der 

Suͤdlaͤnder ſich erotiſchen Abenteuern hingeben und mit der ſie ſie erzaͤhlen. 

Selbſtredend gibt es im Norden ebenfalls Dirnenunweſen, aber das iſt 

etwas, woruͤber man ſchweigt. Man hat darum noch nicht mehr Gefuͤhl 

für Sünde und Moral, aber für Entaͤußerung und Sinſchmeißen der Per; 
ſoͤnlichkeit. Es iſt Raſimir Edſchmid eine freilich etwas draſtiſche und bedenk⸗ 
liche Charakteriſtik der deutſchen Dirne ſehr verdacht worden. Im Sach⸗ 
lichen hat er nicht unrecht. Gerade auf dieſem Gebiet mag die Miſchung von 
zwei entgegengeſetzten Typen beſonders peinlich und charakterlos wirken. In 

Frankreich find alle dieſe Dinge liebenswuͤrdiger, kindlicher, ſelbſtverſtaͤnd 

licher. Im Norden waltet etwas von letzter Daͤmonie dabei. Man muß 

nur denken, wie vulkanartig ſolche Tiefen und ſolche Triebe aus Strind- 
berg hervorbrachen. Es iſt erſchůtternd, zu ſehen, wie er, ganz von nordi⸗ 
ſcher Saltung beſtimmt, mit feinem ganzen Leben ſich ſelbſt das abbuͤßen 


vom Welten des nördifchen Menſchen 201 


ließ, was in ihm war und was er geſtalten mußte. Kleiſt aber ſtellte neben 
pentheſilea das Kaͤthchen. | 

Faſſen wir weitere Rumft ins Auge, fo erPlärt ſich hier, warum der Nor ⸗ 
den (befonders aber Schweden), fo vergleichsweiſe wenig Romponiſten und 
Muſiker, aber hervorragende Schaufpieler hervorgebracht hat. Man ver- 
ſteht, wie in Frankreich die Luft der Malerei, die Aufloͤſung in Licht und 
Dunſt am erſten und einzigſten gelang. Blicken wir von hier auf Deutſch · 
land, ſo begreifen wir es wieder als Land der Mitte. Dann wird aber auch 
klar, wie die Muſik bei uns ſtets religioͤſe, ſakrale Sandlung war und Sym ; 
bol der Singabe und Löfung, die ſich nicht von ſelbſt verſteht, ſondern mit 
Ernſt und Frömmigkeit errungen fein muß. Seute trifft bei uns die „un⸗ 
heilige“, wirkungslůſterne, veraͤußerlichte Muſik (wie Tanz) vom weſten 
her, von Amerika, zuſammen mit der ſchwermuͤtigen, ſcheuen Kunft des 
Nordens, in der ſich die Erde traumhaft nach Erhebung, Erloͤſung ſehnt. 

Und uͤberhaupt — in ganz tiefem Betracht ſcheint uns unſer Seimatland 
wieder, wie im 30 jaͤhrigen Krieg, Schlachtfeld und Tummelboden zweier 
ſeeliſcher Mächte zu fein, die um den Beſitz des alten Europa ringen, doch 
noch unentſchieden ringen, fo ſehr weſtlicher Geiſt zu ſiegen ſcheint. Sier · 
von noch ein Wort. 

VIII 
Err ſchwediſcher Biologe aus Finnland“, auf dem diefer Aufſatz weit ⸗ 
gehend fußt, ſtellt ſehr ſchoͤn dar, wie der nordiſche Menſch vor allem 

auf das reagiert, was fein perſoͤnliches Leben angeht, fördert oder hemmt. 
Er ſchildert den Schweden als Typus einer individualiſtiſchen Reaktions. 
weiſe. Andere Voͤlker gibt es, er nennt vor allem die ſlaviſchen, die Finnen, 
aber auch die Romanen find hierher zu rechnen, denen ein größerer Serden ; 
inſtinkt innewohnt. Der einzelne fuͤhlt ſich erſt ſicher, wenn er von der 
Maſſe gehoben und getragen iſt, und die Maſſen als ſolche reagieren kollek 
tiv. Der einzelne baut wenig auf feine Befühle und Triebe, ſondern ſtellt 
ſich ein auf die Lebenstriebe der Gemeinſchaft. Sier finden wir kollektiviſti⸗ 
ſche Reaktionsweiſe. In uns Deutſchen iſt die nordiſche Art gemiſcht mit 
den Reaktionsweiſen romaniſcher, ſuͤdlicher Art, mit kollektiviſtiſchen Ten- 
denzen. Stimmen wir Ringbom zu, daß der Typus der Zukunft, auch der 
der wahren ſozialen Saltung, der eines Ausgleichs und einer Verſchmelzung 
der beiden pſychiſchen Saltungen fein muß, dann zeigt ſich, daß wir — wie 
auch Finnland — durch unſere Zuſammenſetzung ſchon vorbeſtimmt ſind, 
dieſen Typus zu erzeugen. Dieſes Ziel enthaͤlt aber eine hohe Forderung und 
fällt uns nicht im Schlaf zu. In dem vergangenen Entwicklungsabſchnitt 
iſt unſer Volk von ſtarker kollektiviſtiſcher Einſeitigkeit ergriffen worden. 

Lars Ringbom: J. Streitende Mächte und ſtrittige Ziele. Selſingfors 1921. 


2. Die Erneuerung der Aultur. Stockholm 1925, beide leider noch unüberſetzt ins 
Deutſche. 


202 Sermann Gumbel 


wir haben Maſſenpſychoſen und lÜberſchaͤtzung der Zahlen und Mehr⸗ 
heiten erlebt; ja, man wirft der Republik nicht zu Unrecht den Einſchlag 
rein weſtlicher, formal demokratiſcher Formen vor. Die Einzellaͤnder Ha⸗ 
gen, daß die Weimarer Verfaſſung zu wenig den Charakter der Glied ; 
ſtaaten beruͤckſichtige. Ein noch lehrreicheres Beiſpiel iſt die Art der Praͤſi⸗ 
denten wahl. Sier ſtoͤßt individualiſtiſches Prinzip mit kollektiviſtiſchem zu ⸗ 
fammen. Die Maſſe ſoll unmittelbar einen Einzelnen wählen, und zwar den 
Beſten. Das ſieht ſo aus, als ob man auf die Baſis einer Pyramide direkt 
den Spitzenſtein ſetzen würde, das iſt ſchlagender Ausdruck eines Fonfe- 
quenten Rompromiſſes. Die Perſoͤnlichkeit und ihr wertanſpruch wird fo 
zur Quelle immer anwachſender Kollektivierung, und man hat ja ge⸗ 
ſehen, wie die letzte Wahl die Individualitaͤten der vielen Partei ⸗Schattie⸗ 
rungen verſchwinden ließ und im weſentlichen zwei große Lager ſchuf, 
welche Entwicklung natürlich zu begrüßen iſt. Was wir hieraus folgern, 
ohne es aus Raummangel weiter ableiten zu koͤnnen, iſt größeres Recht 
der Perſoͤnlichkeit, Serausbildung einer Fuͤhrerſchicht von mehr individu⸗ 
aliſtiſcher Reaktionsweiſe und Moͤglichkeit und Beguͤnſtigung dieſer Ser⸗ 
anbildung. Wir haben hierin einen anſehnlichen Kronbeiſtand an Oswald 
Spengler, ohne uns mit ihm, der ſich in den Typ des amerikaniſchen Unter⸗ 
nehmers zu ſehr verliebt hat, decken zu wollen. 


IX 

pengler hat den Norden als Provinz bezeichnet, als für die Weltent 

wicklung nicht mehr von Bedeutung. Spenglers gewaltiges Buch hat 
unter der Geiſtigkeit Skandinaviens nachhaltig gewirkt. Mit neuer Stoß ⸗ 
kraft aber hat der Norden einen Beruf, eine Eigenbeſtimmung, eine Welt ⸗ 
bedeutung erkannt und zum Zielpunkt aufbluͤhender Kraͤfte genommen. 
Das wird bezeugen, wer Gelegenheit hatte, im letzten Jahr den Aufſchwung 
des innernordiſchen Rulturaustauſches zu beobachten. Auf Tagungen, 
Kongreſſen, in der Gruͤndung von Geſellſchaften, Arbeitsgemeinſchaften 
allſkandinaviſchen Charakters zeigte ſich, wie lebendig die nordiſchen voͤl⸗ 
ker auf allen Lebensgebieten einander befruchten. Stolz der Zuſammen⸗ 
gehoͤrigkeit, Achtung vor der Ab⸗ art des Nachbarvolkes und freudiges 
meſſen der Kräfte traten dabei nicht nur in den Reden hervor, und auf die 
Kinder des begeiftert geliebten IJsland, die treuen Bewahrer urnordiſcher 
Saltung, blickt man wie auf den verhaͤtſchelten Liebling. Sogar die finni⸗ 
ſche Nation begab fi auf den Weg des Anſchluſſes an dieſe ſtarke, zu ⸗ 
kunftsbewußte, große nordiſche Rulturgemeinſchaft. Sier iſt kein ſtaat · 
licher, geheime Machtehrgeize bergender Unitarismus und Imperialismus 
mehr zu befuͤrchten. welches Beiſpiel gibt die bruͤderliche Zuſammenarbeit 
nordiſcher Voͤlker uns, die wir uͤber politiſche Streitigkeiten und die alten, 
muͤßig geſchuͤrten Stammesantipathien noch immer nicht zum Reich Pom- 
men koͤnnen ! Wenn auch hierzu die Eigenbeſtimmung des territorialen Gr · 


Dom wWeſen des nordiſchen Menſchen 203 


ganismus unerlaͤßlich iſt, fo wird doch zur Stärkung deutſcher Kulturein⸗ 
heit gerade die engere Beruͤhrung und Spiegelung der geiſtig⸗ kulturellen 
Unterſchiede und Eigenarten viel beitragen koͤnnen. Konzentration auf 
dieſe Aufgabe wird die Volkskunde vor muſeenhafter Einſeitigkeit be- 
wahren. Eine nur entfernt wertende und durch Raſſenhygiene oder -biolo- 
gie trennende Ausleſe wird die Gegenſaͤtze eher verſchaͤrfen als ůberwinden. 
Wenn überhaupt die Raſſenfrage neben der Blutsfrage auch eine Frage der 
bewußten Gefuͤhlszugehoͤrigkeit, der Entſcheidung für wahlverwandt⸗ 
ſchaften, der „Suggeſtionen“ iſt (wie Ringbom ſagt), dann wird nur per- 
ſoͤnliche Auseinanderſetzung, eigene Weſenserkenntnis und Geſtaltung der 
inneren Saltung das an Kulturfräften lebendig werden laſſen, was noch 
vom Norden in uns ſteckt. Und hierauf kommt freilich viel an. Schon weil 
für uns die Frage, Perſoͤnlichkeit und Gemeinſchaft in einer ganz andern 
Weiſe zentral iſt, darf es ſich nicht um romantiſches oder fanatiſches Nach⸗ 
machen und Anhimmeln, ſondern nur um erkannte Geſtaltung nach unſe⸗ 
rer Weſensmiſchung handeln. Gelegenheit, die nordiſche Art kennen und 
lieben zu lernen, muß freilich geſchaffen werden, und nicht nach den Be 
ſichts punkten der Mode und der Konjunktur, fondern im obigen Sinn ſoll · 
ten die Vermittler des Geiſteslebens dieſe Moͤglichkeiten ſchaffen und ſie in 
weiten Schichten unſeres Volkes fruchtbar werden laſſen. 


X 

ber auch im Sinblick auf die Weltpolitik birgt dieſe nordiſche Zuſammen⸗ 

arbeit die guͤnſtigſten VDorausſetzungen für die Zukunftsgeſtaltung Eu · 
ropas. Deutet der Sinn der Entwicklung uͤberhaupt in die Richtung einer 
Art Staatenbund in Europa, fo kann der Weg dazu nur allmaͤhlich über 
Annaͤherung und Juſammenſchluß weltgeographiſch und volklich ange⸗ 
naͤherter Gruppen gehen. Der weltkrieg iſt die Kriſis ſolcher ſtaatlicher 
Gruppenbildung geweſen, die in erſter Linie ein machtpolitiſches Intereſſe 
bedingte. Deutſchland ſtand allein, denn fein macht ⸗ wie kulturpolitiſch un- 
möglicher Dreibund fiel wie ein Rartenhaus. Die weſtliche Gruppe hat ſich 
behauptet. Es gibt heute kein Mitteleuropa mehr. Der Kulturſituation 
nach gibt es heute in Mitteleuropa nur Deutſchland, oder beſſer nur Deut ; 
ſche. Der Ausgang des Krieges hat uns draſtiſch fühlen laſſen, daß wir von 
der Wefgruppe geſchieden find. Man faſſe dies nicht als eine Stuͤtzung der 
Fiktion von der Erbfeindſchaft zwiſchen Deutſchland und Frankreich auf. 
Deutſchland ſcheint das einzige Land zu ſein, das ſich heute der aͤußeren 
wie der viel tieferen, irrational inneren Notwendigkeit der Bruppenbil- 
dung nicht bewußt iſt. Trotz der individualiſtiſch⸗ariſtokratiſchen Einſtel⸗ 
lung des Nordlaͤnders iſt der Rulturgemeinſchaftsgedanke im Norden ſchon 
in der relativ reinſten Form moglich. Das ſollte uns zu denken geben. 
weichliche Pazifiſten zwar möchten die Gebote und Tatſachen von Ahnlich 
keiten innerer Saltung verwiſchen oder durch Intereſſengemeinſchaft und 


203 


Gleichmacherei erſetzen. Groͤßere Sproͤdigkeit und Selbſtbewußtſein dem 
weſten gegenüber iſt der Geſundheit und Eigenart unferer Kultur (wie 
unſerer ZJiviliſation) dringendes Bedürfnis. Deutſchland wird immer der 
Schauplatz der Auseinanderſetzung und des Kampfes entgegengeſetzter 
Kulturen fein. Dieſe große und weltgeſchichtliche Beſtimmung harrt feiner 
dann, wenn es einmal nur noch Weſten und Oſten geben wird. Vielleicht 
wird dann Tod oder Zeugung in feine Sand gegeben fein. Die weſtliche und 
die ſuͤdoͤſtliche Gruppe in Europa ſchaut heute ſchon mit ahnungevollen 
Blicken nach dem Oſten. Deutſchland allein wird von dieſer Konftellation 
der Zukunft glatt zerrieben werden, wenn es ſich nicht darauf beſinnt, daß 
der Norden dem gleichen Schickſal entgegenſieht und daß Samburg und 
Sammerfeſt die Angelpunkte kůnftiger Aulturfronten find*. Deutſchland 
follte die Entwicklung erkennen, daß immer größere Gruppen die kleineren 
aufſaugen werden. Paneuropa wird nicht entſtehen wie Athene, die ge- 
panzert dem Saupte des Zeus entſprang. Der Norden bereitet ſich ſchon 
heute mehr oder weniger bewußt auf die Aufgabe, als dritter, ſtarker, inten- 
ſiwſter, kulturell unerſchuͤtterlicher Faktor die kommenden Antitheſen euro⸗ 
paͤiſcher Entwicklung uͤberdauern, ja beſtimmen und prägen zu konnen. 
Seine Volkskraft iſt nicht mehr jung, aber noch unerſchoͤpft und hochent ; 
wickelt. Unſere Vergangenheit iſt mit der des Nordens verwachſen. Wird 
es auch unſere Zukunft ſein? 


Martin Gleisner 


Martin Gleisner 


Elemente des Laienſpiels 


| enn man heute von wertvoller Laienkunft fpricht, meint man 
w faſt immer nur das Theaterſpiel von Jugendgruppen und Schu ; 

len. (Wobei man mit Recht die zahlenmäßig fo ſtarke und ver · 
breitete Tätigkeit der Theatervereine als kulturell hoffnungslos unbeachtet 
laͤßt.) Man ſieht die ſchoͤnen Anſaͤtze dieſes Laienſpielens, aber auch feinen 
Stillſtand und feine augenblickliche Not (die Sans Tuͤgel hier kurzlich ein- 
gehend geſchildert hat), man macht von allen Seiten Vorſchlaͤge zur 
Weiterführung, die ſich aber faſt nur auf Einfuͤgung neuer Literatur in 
den Spielplan und die geiſtige Einſtellung der Spielergruppen beziehen, 
man denkt aber nicht an die Materials ⸗, die techniſchen Grundlagen. Man 
uͤderſieht im allgemeinen, daß das Theaterſpiel als Geſamtkunſtwerk ein 
Ineinanderarbeiten der einzelnen Künfte, des Wortes, des Tones und der 
Bewegung iſt. Dieſe drei Materialien, die in ihm verarbeitet ſind, ſind 
wieder, jedes für ſich, eine ſtarke und mächtige Kunft mit großen Moͤglich⸗ 
Vgl. bierzu K. v. Boed mann : Vom Bulturreich des Meeres. Frank Thieß : Das 
Seſicht des Jahrhunderts: Politik. 


Elemente des Laienſpiels 205 


keiten und ſelbſtaͤndigen Runſtwerken verſchiedenſter Axt und ausgebildeten 
Techniken. Nun iſt es vielleicht zweckmaͤßig, bevor man Beſſerungever · 
ſuche an der Zuſammenſetzung macht, ſich erſt nach der Laienkunſt auf 
dieſen drei Einzelgebieten umzuſehen und man wird da viel und Erfreu⸗; 
liches in lebendiger Entwicklung finden, fo daß man den Begriff und das 
Bild des heutigen Laienſpiels über das Theaterſpielen hinaus auf das 
choriſche ZLaienkunſtwerk auf allen Gebieten erweitern muß, da es die 
Muſikpflege, die Sprechdichtung und den Tanz umfaßt. 

Zweierlei iſt allem Caienſpiel gemeinſam, das eben den Laien vom Dilet ⸗ 
tanten trennt: die Gruppe ſtudiert ſich nicht ab und zu für ein Seft, auf gut 
Gluck, irgend etwas einzeln und zuſammenhanglos ein, ſondern fie arbeitet 
erſt einmal, macht ſich mit den Grundgeſetzen und der Technik der von ihr 
geliebten und gepflegten Kunſt vertraut, fest ſich mit ihnen auseinander; 
dann verſucht fie mit ihrem fo erworbenen Können, das im einzelnen 
natürlich geringer fein muß als das des Berufskůnſtlers, nicht deſſen Pro- 
gramm ſklaviſch nachzuahmen, das heute notwendigerweiſe Individuelles 
ausdruͤcken, Individualleiſtungen enthalten, und dem Geſchmack eines 
zweifelhaften Publikums entgegenkommen muß. Die Gruppe wird ſich 
vielmehr zu ihrer Darſtellung Kunſtwerke ausſuchen, die Allgemeines aus; 
drucken, eine Gruppe zu ihrer Darſtellung verlangen und aus ihrem Er 
lebnis uns auch heute Tieferes zu ſagen haben. So wird ſie auch in ihren 
Programmen Neuland finden und — vielleicht — auch anregen und 
ſchaſſen konnen. 

Die Muſik, die ja im Kunſtempfinden des Europa der kan Jahrbun⸗ 
derte als Gegenpol der zunehmenden Intellektualiſierung vorherrſchend 
war, iſt ja immer ſchon von einzelnen und auch von in Gruppen (Choͤren) 
zuſammengeſchloſſenen Caien gepflegt worden. Nur war im großen Gan ⸗ 
zen dieſe Muſikbetaͤtigung entweder Einzelluxus oder rein gefuͤhlsmaͤßig 
auf das Lied konzentriert und ziemlich akademiſch Pübl geworden. Sier iR 
durch die Jugendbewegung, mit ihrem Ausgraben und Lebendigmaden 
des Volkeliederſchatzes ein Anſtoß zu neuem Leben gegeben worden, der ja 
an und fuͤr ſich im romantiſch Sentimentalen und unter der Grenze der 
Aunſtuͤbung ſtecken geblieben iſt. Nun find aber auch hier — ein Vorgang, 
den man überall beobachten kann, wo wirklich ſtarke Kraͤfte in dieſer Be 
wegung waren — an vielen Orten muſikaliſche Arbeitskreiſe, Freiſcharen, 
Bilden entſtanden. Zuerſt wohl um Gritz Joͤde herum. Die Thüringer 
Muſikantengilde 3. B., die Walter Rein leitet, hat ein wirklich zufammen- 
geſpieltes Orcheſter aus Laien, das ſich wohl mit Berufsorcheſtern meſſen 
kann, und einen Singechor, der wirklich eins iſt. Sie arbeitet dauernd an 
techniſcher Vervollkommnung und uͤbt vorwiegend alte bisher in Archiven 
vergrabene Wiufif*. Wunderfchöne a-capella-Chöre, Serenaden, Madrigale 


en. ö ae = 2 


206 martin Gleis ner 


Ranons, Maͤrſche blühen da aus der Verwunſchenheit auf und haben, ge⸗ 
konnt wiedergegeben, ihren Verkuͤndern und Soͤrern mehr zu ſagen als die 
Salonmuſik des Bürgertums. Es haͤngt wohl mit der ganzen Problematik 
der heutigen Cage der Muſik zuſammen, daß dieſe Bewegung bis jetzt ſich 
immer alter Muſik bedient und, wenn fie neues formt, es im alten Stil 
klingen laſſen muß (doch taſtet man auch ſchon weiter); es ſpiegelt ſich eben 
die allgemeine Lage dieſer Kunſt auch in ihrer Laienausuͤbung; fo wie 
heute wieder die modernſten Romponiſten ſich in die alten Formen fluͤchten d. 
Das zweite Element, das geſprochene, lebendige Wort, iſt bisher bewußt 
faſt nur vom Schauſpieler oder Rezitator gepflegt worden. Soͤchſtens, daß 
der Prediger oder Politiker ſich zu Gebrauchszwecken etwas im Sprechen 
uͤbte. Auch hier entwickelt ſich ſeit kurzem gemeinſame Nunſtuͤbung von 
Caiengruppen. Sprechchoͤre entſtehen überall, vornehmlich an den Univerſi⸗ 
taͤten und in den proletariſchen Jugendgruppen. Der ſchoͤnſte und wirklich 
kuͤnſtleriſches Inſtrument gewordene unter den mir bekannten iſt der, den 
Vilma Moͤnckeberg im Umkreis der SamburgerUlniverfität ins Leben gerufen 
hat. Er gibt, uber das rein vernünftige Sprechen hinaus, Worterlebnis und 
rhythmiſche Formung und iſt faͤhig, große Sprechoratorien aufzufuͤhren. 
Dabei iſt auf einen Grundſatz hinzuweiſen, den Frau Moͤnckeberg ſtreng 
durchfuͤhrt: wer in ihren Chor eintreten will, muß ſchon die grundlegende 
Sprechtechnik geuͤbt haben. Dieſer Sinweis iſt nötig, denn überall werden 
jetzt Derfuche zur Sprechchorbildung gemacht, die notwendig ſcheitern 
muͤſſen, weil mit dem choriſchen Sprechen begonnen wird, ehe die einzelnen 
Teilnehmer auch nur das primitivſte Sprechkoͤnnen beſitzen. Ein Verſuch, 
der beiſpiels halber in der Muſikpflege undenkbar wäre: es würde doch 
keiner einem Grcheſter beitreten wollen, ehe er, wenn auch noch fo an; 
faͤngerhaft, ein Inſtrument beherrſcht, oder an einer Geſangsauffuͤhrung 
teilnehmen wollen, ehe er die Tonleiter einwandfrei ſingen kann. Aber da 
das Sprechen taͤgliches Verkehrsmittel iſt, denkt jeder, er beherrſche es auch 
als Kunſtmittel, und iſt ſich gar nicht der Schwierigkeiten und Bildungs ⸗ 
moͤglichkeiten bewußt. Auch hier gilt der Grundſatz jeder Kunſtuͤbung: 
Kein Können, kein werk wird einem geſchenkt, man muß ſich die Mittel 
erſt erarbeiten. Es erhellt natuͤrlich ohne weiteres, wie wichtig der Sprech 
chor fuͤr die Ausgeſtaltung unſerer Feiern und das wachſen einer neuen 
Kultur — nicht nur der Laien · , ſondern auch der Berufsbuͤhne — iſt. 
Und auch auf dem dritten Gebiet, dem der Bewegung, gibt es ſchon 
Laienkunſt. Die Kunſt der Bewegung iſt der Tanz. Und da werden die 
einen uberhaupt die Berechtigung, dieſe Muſikausdeutung eine Eigenkunſt 
zu nennen, ablehnen. Die anderen, die an einzelnen Taͤnzerperſoͤnlichkeiten 
und Tanzgruppen in den letzten Jahren die Möglichkeit, ja Stärke und 
Macht des kuͤnſtleriſchen Tanzes erlebt haben, werden bei dem wort 


An den meiſten Volks bochſchulen gibt es Sing · und Inſtrumentalgruppen, die 
in dieſem Sinne arbeiten. 


Elemente des Laienſpiels 207 


„Laientanz“ mit Grauen an die Noſtuͤmtaͤnze der jungen Damen auf 
Familienfeſtlichkeiten und Baͤllen denken; oder an die grazioͤſen „Aus 
drucksbewegungen ! von Turnerinnen oder Gymnaſtikmaͤdchen zu Muſik; 
auch dieſe anderen werden den Laientanz nach ſolchen Erfahrungen für 
kuͤnſtleriſch unmöglich halten. 

Aber das Erwachen des Rörpergefühls ſeit ooo etwa, das als Proteſt 
gegen die „Derkopftheit ! (Paul OGeſtreich) der letzten Generationen fo ſtark 
auftritt und in allem Sport, Wandern, Roͤrperſchulen fi äußert, gipfelt 
in der Entwicklung der Kunſt der menſchlichen Bewegung von der Muſik⸗ 
illuſtration zum freien, abſoluten Tanz. Es dürfte den Leſern dieſer Zeit 
ſchrift bekannt fein, daß dieſe Entwicklung an den Namen Rudolf von 
Labans geknuͤpft iſt. Es iſt hier nicht der Ort, den ganzen Umfang feines 
bisherigen Schaffens zu ſchildern, nur ſchlagwortartig kann ich das fuͤr 
unſer Thema Noͤtige andeuten: Laban hat nicht nur Tänze und Tanzſpiele 
geſchaffen und die Grundlagen der taͤnzeriſchen Weltauffaſſung dargelegt, 
er hat die Grundgeſetze der Raumharmonie und Bewegunge dynamik ent- 
deckt, ſie in ſeiner Bewegungslehre auf einfachſte Formeln gebracht und da⸗ 
mit die Möglichkeit geſchaffen, jede Bewegung und Bewegungsfolge auf- 
zufchreiben** ; fo erſt iſt es möglich, Klarheit in ihr verwirrend reichhaltiges 
Durcheinanderwogen zu bringen, einen Tanz von ſeinem Schoͤpfer zu loͤſen, 
ihn reproduzierbar zu machen. Die Wichtigkeit dieſer Geſetzfſindung und der 
Schreibmoͤglichkeit erhellt klar, wenn man ſich die Lage der Muſik vor Geſt 
legung der Tonleiter, der Sarmoniebegriffe und der ſich daraus ergebenden 
Notenſchrift vorſtellt: — ohne eigene Geſetze, immer nur mit dem Wort 
verkoppelt, traditionslos. So war bis jetzt noch die Lage des Tanzes. Nun 
iſt durch Laban die Moͤglichkeit gegeben, feine Geſetze aus feinem Material 
Bewegung des menſchlichen Körpers im Raum heraus uͤbend zu er · 
leben, weiterzugeben und klare Bewegungsbegriffe zu ſchaffen. So hat er 
feine taͤnzeriſche Gymnaſtik herausgebildet, die von Anfang an — auch 
den Laien — mit und neben der primitiven Lockerung und Durcharbeitung 
des ganzen Roͤrpers die Macht und Kraft der freien Eigenbewegung emp- 
finden, die taͤnzeriſche Freude an ihr erleben laͤßt. Dieſe Bewegungsfreude 
läßt er nun aber nicht im gefuͤhlvollen Augenblickseinfall verflattern, 
ſondern er macht fie bewußt und formt fie, eben durch das Üben dieſer ge⸗ 
ſetzmaͤßigen Grundformen der Raumharmonie. Da dieſe gemeinſamen 
Ubungen immer auch zwanglos zum taͤnzeriſchen Gruppenſpiel fuͤhren, iſt 
es nur noch ein Schritt bis zum Entſtehen des choriſchen Gruppentanzes. 
So waͤchſt der Bewegungschor Laban, der, geführt von Taͤnzern, in Feiern 
choriſche Bewegungswerke darſtellt, die gemeinſames Erleben und gemein; 
ſame Tanzfreude der Gruppe geſtalten. 

So hat Laban den Kunſttanz nicht nur für den Berufstaͤnzer erneuert, 
erſchienen bei Eugen Diederichs, Jena. 


208 Martin Bleisner 


ſondern auch den kuͤnſtleriſchen Laientanz geſchaffen. Damit hat er das 
allfeitig verbreitete Beſtreben nach Roͤrperbildung (und damit die Bym- 
naſtik) aus der Ebene des bloß geſundheitlich Nuͤtzlichen und Individuellen 
gehoben, es zum Mittel des Gemeinſchaftslebens gemacht, mit der Möglich 
keit, choriſche Kunſtwerke zu geſtalten, in denen nun nicht mehr nur eine 
Teileigenſchaft und Fertigkeit, ſondern der ganze leibhaftige Menſch 
wirkt, ſich und ſein Gemeinſchaftsgefuͤhl erlebt und ausdruͤckt. Und, daß er 
das in der Sprache der Bewegung tut, iſt heut wohl wichtiger als das gleiche 
Geſchehen im Ton ⸗ und Worterleben; denn dieſe Sprache hat fo viel neues 
zu fagen. Der freie Tanz geſtaltet Erlebniſſe, die in Ton und Wort nicht 
ſagbar ſind, fuͤhrt zu Erfahrungen an uns ſelbſt, die uns jahrhundertelang 
verſchůttet waren. Das iſt das wichtige an dem Erſtarken der Tanzkunſt 
überhaupt für unſere Zeit und „darin liegt die Rernaufgabe der Bewe- 
gungschoͤre: Einen Sinn mehr, einen grundlegenden Sinn für die eigent ; 
liche Menſchwerdung wach zu erhalten und immer ſtaͤrker leuchten zu laflen“, 
und „Aulturbiftorifch betrachtet gelangen wir in eine Periode, in welcher 
der von Laien ausgeübte Kunfttanz den fruͤheren Volks ⸗ und Geſellſchafts · 
tanz zu verdrängen beginnt, oder wo vielleicht die beiden Gattungen neben- 
einander beſtehen werden, wie 3. B. auch heute noch neben der allgemein 
gepflegten Tonkunſt die Volkes muſit weiterlebt d.“ 

So ſehen wir in der Muſikſchar, dem Sprechchor, dem Bewegungschor, 
einen lebendigen Strom der Zaienausuͤbung in den Einzelkuͤnſten wirken. 
Überall die Gruppenkunſt als Seierarbeit, den berufstätigen Menſchen 
Ausgleich, Entſpannung, Löfung, Erhohung ihres Ichs in der Gemein; 
ſchaft geben. Und wie ſteht es mit dem Theaterſpiel? Da das Buͤhnenwerk 
eine gleichgewichtige Syntheſe von mindeſtens Wort und Bewegung ſein 
muß, iſt ſeine Reinheit und Vollendung ſelten zu finden. Ebenſowenig auf 
der Berufs · wie der Caienbuͤhne. Es iſt die Frage, wie weit dieſe Syntheſe 
heute möglich if. wie weit dieſe Vermaͤhlung aller Kuͤnſte zum Geſamt · 
kunſtwerk kuͤnſtleriſch rein berhaupt zu ſchaffen iſt. Nun iſt die Sehnſucht 
nach dieſem, das Arbeiten an ihm von jeher das Streben vieler geweſen. 
Die Verlockung, das Zeben in feiner ganzen Sülle und Wirklichkeit mit 
Wort, Ton, Menſchenkoͤrper ſcheinbar zu reproduzieren, iſt zu groß. Sein 
halbwegs Gelingen zu weit (ob auch tief?) greifend. Es erfaßt ja alle Ty⸗ 


»Aus der Kugſchrift Labans „Vom Sinn der Bewegungshöre” (zu beziehen 
von der Jentralſtelle der Labanſchulen, Samburg 24, Schwanenwik 38). Die 
Arbeit der Labanſchulen hat bereits zu ſelbſtaͤndigen Bewegungshor-Auffüh- 
rungen geführt, in Samburg und Berlin (Schulleitung Sertha Feiſt) unter Lei⸗ 
tung von Rudolf von Laban und Albrecht Anuſt und in Gera unter Leitung 
von Martin Gleis ner. Ein Bewegungschor Laban iſt angegliedert dem Theater 
in Redlingbaufen (doppelt erfreulich, da es eine reine Schaufpielbähne iſt). Natuͤr⸗ 
lich gibt es auch Bühnen, die dieſen Namen, der einem großen und fhönen kunſt ⸗ 
erzie heriſchen Gedanken Labans gehort, als . . um 2 ei 
i bre Opern billige Statiſtiker zu beſchaffen. ö 


Elemente des Laienſpiels 209 


pen, den Derftandes-, den Ohren · , den Bewegungsmenſchen, iſt darum das 
verſtaͤndlichſte Runſtwerk, bietet jedem etwas; fo wird man es immer für 
große Seiern haben wollen. Und es gibt ja fo viel herrliche Dichtwerke, 
wundervolle Partituren fuͤr dieſes, nicht aus Inſtrumenten, ſondern aus 
allen Ruͤnſten zuſammengeſetzte Grcheſter. Aber ſchon bei der Auswahl 
der Stucke ergeben ſich für die Laienbübne beſondere Gefahren. Einſeitige 
Verſtandesmenſchen halten da für Drama, was bloßes Wort · und Soͤrſpiel 
iſt. Dagegen raͤt Sans Brandenburg: „So hat ſich die Jugend, wenn ſie 
Theater fpielt, in erſter Linie daruber klar zu werden, was fie kann und 
was ſie nicht kann. Das Charakterſpiel und die eigentliche Sprechkunſt ſind 
ihr im allgemeinen verſagt. Dagegen beſitzt ſie, weit mehr als das reifere 
Alter und das verbildete Berufsſchauſpielertum, die Faͤhigkeit zur Korper ⸗ 
bewegung. Um die Bemeinfchaftsbühne als Zelebration nun auch kuͤnſt⸗ 
leriſch zu verwirklichen, muß die Jugend ihr Bewegungs · und Raumgefuͤhl 
auf alle Weiſe ausbilden, muß ſie das Spiel vom Tanz, von der bewegten 
Gruppe, vom feierlichen oder heiteren Reigen aufzufaſſen und zu geſtalten 
ſuchen /. Dieſen Weg iſt, nicht nur für das primitive Myſterienſpiel, 
ſondern für das feſtlich heitere Luftfpiel Shakeſpeares, ſeit Jahren in der 
Schulgemeinde Wickersdorf Martin Luferke** gegangen. In feinen Auffüb- 
rungen hat er, auch fuͤr die Berufsbuͤhne vorbildlich, den Charakter 
dieſer wirklich großen Buͤhnenwerke als Bewegungskunſtwerke wieder ent · 
deckt und ihren Darſtellungsſtil vom Reigen aus erneuert. Wer ſolch eine Auf 
führung gefeben, weiß, wie ſchoͤn fie das innerſte Weſen dieſer Stuͤcke trifft. 
Aber wie kommt nun eine Gemeinſchaft ohne die guͤnſtigen Vorbedin · 
gungen einer Schulgemeinde zu ſolchen Leiftungen wirklich kuͤnſtleriſcher 
Art? Nicht, indem fie Spielgruppen für dieſe ſeltenen Feierſtunden gruͤn 
det, denn wie die Caienkunſterziehung den Laien zum Muſiker, Sprecher, 
Taͤnzer je nach Veranlagung bilden darf und ſoll, ſo wenig darf ſie ihn 
zum Schauſpieler bilden und einbilden. Das Weſen des Berufsſchauſpielers 
iſt dauernde Verwandlung. Eine innerlich, ſchickſalsmaͤßig auferlegte aber 
auch ſtaͤndig geuͤbte Kraft, geſtuͤtzt von einer umfangreichen virtuoſen 
Technik in kunſt ⸗ und handwerklichen Silfsmitteln. Dinge, die nur durch 
dauerndes Leben auf der Buͤhne zu erreichen und miteinander zu ver⸗ 
»Aus dem Aufſatz „Aufgaben des Jugendſpiels“ aus dem Sammelband des 
Jentralinſtituts für Erziehung und Unterricht „Jugend und Bühne“ bei Sirt, 
Breslau. Man kann nicht genug auf die ubrigen Schriften und uberall erſchienenen 
Auffäge von Sans Brandenburg über die Entwicklung des Tanzes und des neuen 
Buͤhnenſtils binweiſen, die für das Laienſpiel ganz ſtarke Anregungen enthalten; 
grundlegend für das gegenwärtige Theaterproblem uberhaupt iſt fein Aufruf „Das 
Theater und das neue Deutſchland“, Diederichs, Jena 1919, der merkwuͤrdig un⸗ 
beachtet geblieben iſt. Wenn dieſe Gedanken 3. B. aus Rußland gekommen wären, 
batten unfere Zeitungen Reihen von Feuilletons daruber geſchrieben, es wäre ein 
Modebuch geworden. „Shakeſpeare Aufführungen als Bewegungsſpiele “, Sei- 
fert, Seilbronn. Cuſerke leitet ſeit Oſtern 1925 die „Schule am Meer“ in Juiſt, 
in der er auch dem Bühnenfpiel noch größere Beachtung geben will. 
Tat xv 15 


210 martin Gleisner, Elemente des Laienſpiels 


ſchmelzen ſind; die der Laie nicht erreichen kann, aber auch nicht erreichen 
ſoll, denn er ſoll ſich ja nicht wie der Schauſpieler verwandeln, er will und 
ſoll nur ſich ſelbſt erhoͤht oder erheitert ſpielen. Das heißt, aufs Praktiſche 
angewandt: man muß aus der großen Gemeinſchaft, die man hat, die 
mMenſchen herausſuchen, die dem Charakterbild der Rolle ungefaͤhr ent ; 
ſprechen, und fie dann ſpielen laſſen. Sie werden es unter vernänftiger 
Leitung auch koͤnnen. Unter der einen Vorausſetzung, daß ihre Sprache im 
Sprechchor und — vor allem — (weil fie, wie oben gezeigt, das Sauptele⸗ 
ment des Laienſpiels iſt) ihre Bewegung im Bewegungschor fo weit ge- 
ſchult find, daß fie gefuͤgiges, ungehemmtes Mittel des Selbſtau drucke 
geworden ſind. So wird beim Einzelſpieler aus der Beherrſchung der Mittel 
eine kuͤnſtleriſch moͤgliche Einzelleiſtung erwachſen. Dazu wird die Geſamt ; 
auffuͤhrung weſentlich dadurch mitbeſtimmt, daß die Muſikgruppe die 
Begleitmuſik macht; und anſtatt der uͤblen toten Statiſterie der Bewe⸗ 
gungschor als Volk und Gefolge, dem Grundcharakter des neuen Buhnen; 
ſtils entſprechend, das die ganze Aufführung beſtimmende Reigengeflecht 
des Buͤhnenſpiels traͤgt. So wahrt man die Eigenart des laienhaften 
Theaterſpiels als ſeltene feſtliche Zuſammenfaſſung aller Rünfte und zuͤch⸗ 
tet nicht dadurch, daß immer dieſelben alle großen Rollen ſpielen, falſche 
Routine und kleine Stars mit Schauſpielereinbildung. 

Eins iſt noch zu bemerken: meiner Meinung nach kann nur unter der 
Fuͤhrung eines Künfllers — natürlich eines paͤdagogiſch und uͤberindivi⸗ 
duell eingeſtellten — ſolche Chorbildung entſtehen. Noch fo gut gemeinter 
Dilettantismus kann nur zu Salbheiten führen. Der Kuͤnſtler muß die 
Elemente der Kunſterziehung weitergeben, denn nur dann werden fie aus 
der Totalität des Runſterlebens und nicht aus der Theorie kommen. Nur 
er kann der Fuͤhrer zum Nunſtwerk fein; was ja beim Gruppentanz ganz 
klar iſt, wo es noch keine gedruckten Werke gibt, ſondern jedesmal aus den 
Gegebenheiten die Form zu ſchaffen iſt. (Abgeſehen von dem vielfältigen 
Nutzen, den ein ſolches allgemeines Juſammenarbeiten von Rünfllern und 
Laien für unſere geſamte Rulturentwicklung haben würde. Es würde den 
Nuͤnſtler und die Kunft aus ihrer lebensfernen Vereinzelung loͤſen, den 
Laien durch Erarbeiten der Grundelemente der Runſt und der Renntnis 
ihres Materials ein viel tieferes Eindringen und uberhaupt erſt das Der- 
ſtaͤndnis abſoluter Runſtwerke ermöglichen.) 

Wer dann beim Theaterſpiel Regie führen ſoll, iſt natuͤrlich Sache der 
Derfönlichkeit, die in dieſem Falle moͤglichſt mit allen Techniken vertraut 
fein und wenigſtens etwas fpezififches „Theaterblut“ beſttzen muß. Ob das 
nun das eine Mal der Tänzer, das andere Mal der Sprachmeiſter hat, jeden- 
falls dürfte es nicht der nur geiſtig Geſchulte fein. Der Regiſſeur muß alles 
vormachen koͤnnen. Zuferfe der „Paͤdagoge“ iſt kein Gegenbeiſpiel. Denn 
erſtens iſt er eine der wenigen wirklich ſtarken Regiebegabungen und dann 
laͤngſt kein Dilettant mehr. Denn er hat in fuͤnfzehn Jahren in Wickers⸗ 


Umſchau 211 


dorf jährlich etwa dreimal inſzeniert. Nicht jeder Beruferegiſſeur in Groß 
ſtaͤdten dürfte eine ſolche Regiepraxis haben. 

Billiger iſt m. E. ein wirklich kůnſtleriſches Jugend ⸗Buͤhnenſpiel nicht 
zu haben: — Ohne daß vorher die Einzelkuͤnſte gepflegt worden find, iſt 
das Geſamtkunſtwerk nicht möglich. Es gibt keine Spielkultur, ohne daß 
vorher Sprech ⸗ und Bewegungskultur da find. Die aber mehr find als 
Mittel zum Zweck des Geſamtkunſtwerks, aus denen in den einzelnen 
Kuͤnſten ſtarke und eigene ZLaienkunſtwerke entſtehen konnen, die kuͤnſtle⸗ 
riſch reiner ſein und tiefer und bildender wirken koͤnnen, als es heute das 
Sprech ⸗Buͤhnenſpiel kann. 


Umſchau 
Stufen der Jugendbewegung V»iĩ 


bewegung zum Gegenſtand genommen haͤtte. Die hiſtoriſchen Selbſtanalyſen aus 
den Reihen der Bewegung ſelbſt ſind zumeiſt recht hilflos und ohne hiſtoriſche 
Maß ſtaͤbe, die Geſchichte von Prof. Meſſer iſt eine gute, heute unentbehrliche Chro⸗ 
nik, aber nicht mehr. Blühers Geſchichte des Wandervogels war ſebr wahrſchein⸗ 
lich eine große Geſchichtsfaͤlſchung, aber dafur war fie ſelbſt eine Tat, die der Be- 
ſchichtsſchreibung wuͤrdig iſt. (Auf ihr beruhen z. T. die falſchen Soffnungen, die 
Wyneken auf den Wandervogel geſetzt hatte, und die der Wandervogel als Geſamt⸗ 
beit auch niemals erfüllt hat.) Sie wurde ja auch geſchrieben, als es noch keine Ge⸗ 
ſchichte der Jugendbewegung geben konnte, als noch alles im Kuß und in anfaͤng · 
lichem Werden war. 

Seute kann man die erſte Phafe der Jugendbewegung als abgeſchloſſen be⸗ 
trachten. Sie liegt hinter uns und kann, muß biſtoriſch gewürdigt werden. Eine 
ſolche Wuͤrdigung kann aber nur von jemandem kommen, der alle entſcheidenden 
Entwicklungs ſtufen dieſer Bewegung miterlebt hat, und der ſelbſt dennoch nicht 
aus den Bämpferreiben dieſer Bewegung ſtammt. Der Geſchichts ſchreiber die ſes 
Jugenbkampfes muß von außen an die Generation herangetreten fein, muß ſelbſt 
einer etwas fruheren Generation angeboren, um jene par distance zu ſehen. An⸗ 
dererſeits muß er ſelbſt hiſtoriſch geſchult fein, biſtoriſche Maßſtaͤbe mitbringen. 
Eine ſolche hiſtoriſche Wuͤrdigung der Jugendbewegung liegt in dem Werk von 
Eliſabeth Buſſe⸗Wilſon vor. 

Die Menſchen der Jugendbewegung waren, dachten und handelten ganz bewußt 
unhiſtoriſch. So wie das Leben in jedem Neugeborenen immer wieder von vorn 
beginnt, ohne Rüͤckſicht auf Traditionen und Gewordenes (die erſt durch die Er⸗ 
ziehung an den jungen Menſchen herangebracht werden) neu „anfängt“, fo wollte 
einmal eine ganze Generation Jugend einen neuen Anfang machen. Es war der 
Sinn des Meißner · Gelůbdes von der inneren Wahrhaftigkeit und eigenen Ver⸗ 
antwortung, nicht nach dem Gewordenen, ſondern immer nur nach dem Sein- 
Sollenden zu fragen. Das Jiel war ein hoͤchſtes: auf dieſem Wege follte die ge · 
» Blifabetb Buſſe⸗Wilſon, Stufen der Jugendbewegung. Ein Abſchnitt aus 
der ungeſchriebenen Geſchichte Deutſchlands. (Bei Eugen Diederichs, Jena 1925.) 

155 


212 | umſchau 


ſamte europaͤiſche Bultur erneuert, verjüngt werden. Damit war die Jugendbe ; 
wegung eine gute, wahrhaft europäifche Angelegenheit. So kam es, daß dieſer 
Generation die leib volle, herrliche Gnade zuteil wurde, eine Geſchichte zu haben. 

Heute iſt nach einem mehr als zehnjaͤhrigen, geiſtigen Kriege die Elite dieſer 
Generation gefallen, der Reſt iſt todwund, erfhöpft und ſogar kriegs müde. Wur 
ganz wenige harren auf einſamſten Poſten aus, buten das alte Feuer und hoffen 
auf eine neue, große Welle Jugendbewegung. Sie haben auf ein Privatleben 
verzichtet, ſind Soldaten des Geiſtes, der Jugendrevolution geworden. Andere 
baben ihrer Seimat den Rüden gekehrt. Der Reſt hat feine Exiſtenz durch Bürger- 
werdung ſaniert. Tauſende einer ganz neuen Jugendgeneration aber haben das 
Erbe der Jugendbewegung angetreten, ohne noch etwas zu wiſſen vom ohen 
Meißner, vom „Anfang“ und feinen Kämpfen, die Eliſabeth Buffe-Wilfon fo 
feinſinnig deutet, nichts mehr von jenem Verwirklichungsrauſch, der mit dem No⸗ 
vember J9J8 der deutſchen Jugend aufleuchtete, nichts vom Rampf um die Schule. 

Da iſt es erlaubt, zuruͤckzublicken und die Bilanz dieſer erſten zehn Jahre Jugend · 
bewegung zu ziehen. 

„Baben dieſe Menſchen (der Jugendbewegung) es fertiggebracht, ſich die geiſtige 
Unabhaͤngigkeit und Selbſtaͤndigkeit, das Leben ohne Autorität und ohne Vor⸗ 
bilder zu bewahren? “/. Das iſt die Generalfrage, die Eliſabeth Buſſe - Wilſon 
mit ihrem geſchichtlichen Rückblick beantworten will. Und fie erteilt den Menſchen 
der Jugendbewegung die Jenſur: „die Betrachtung kommt zu dem Schluß, 
daß die Jugendbewegung zu den ſicher nicht häufigen Vertretern des Menſchen⸗ 
geſchlechtes gehort, die ein großes Maß von Freiheit und Wichtbindung ertragen 
konnen, ohne einer der Erlöſung verheißenden Sekten zu verfallen. — Es ſcheint 
aber, daß dieſer moraliſche Sieg nur ein Pyrrhusſieg war, der durch die Wirkungs · 
und Bebeutungelofigfeit dieſer Menſchengruppe innerhalb des Volksganzen er: 
kauft wurde 

Doch es kommt hier weniger auf dieſes Urteil ſelber als auf ſeine Begründung 
an. Wir haben uns beute bereits zu ſehr daran gewohnt, in den jetzigen Maſſen 
des Jugendbewegungs volkes nur Verfall der alten, agreſſiven Jugendbewegung 
und einen Serd von Infantilismus zu ſehen. Jene Paſſivitaͤt und Lethargie, das 
Nichtreagieren und Sich · nicht · entſcheiden ⸗ konnen, jener Mangel an Form und Ge · 
ſchmack, die die heutige Jugendbewegung zu einem großen Sammelpunkt der 
Jukurzgekommenen, der Muͤbſamen und Beladenen gemacht haben, — bier wird 
dieſe Tatſache der Jugendbewegung als Refugium ſoziologiſch gedeutet, und ihre 
Träger werden ethiſch gerechtfertigt. | 

Das muß um fo mehr beachtet werden, als es von einem Betrachter geſchieht, 
der ein Recht auf ein ſolches pofitives Urteil hat, da er felber kein Rechtfertigungs · 
bedärfnis hat, und außerdem Flaffenmäßig zu dieſem Jugendbewegungsvolk nicht 
gehort. Eliſabeth Buſſe⸗Wilſon, die ſelbſt aus einer alten Gele hrtenfamilie ſtammt, 
die eine der erſten Frauen iſt, die von dem noch nicht ſehr alten Recht des Frauen ; 
ſtudiums den Gebrauch zweckfreien Forſchertums gemacht haben, die aus der hiſto⸗ 
riſchen Schule Lamprechts hervorgegangen iſt, wendet ihr allgemein kultur ; 
geſchichtliches Wiſſen auf ihre Betrachtung der Jugendbewegung an, auf deren 
engerem Gebiet fie aber ebenſo zu Haufe iſt wie in den Fragen der Franzoͤſiſchen 
Revolution, des deutſchen Idealismus oder des mobernen Kapitalismus und feiner 
Gegenbewegung des Kommunismus. In keiner Weiſe dilettantiſch, ſondern mit 


umſchau | 213 


der ſicheren, geſchulten Urteilskraft einer diſziplinierten, fpftematifchen, vergleichen- 
den Geſchichtsbetrachtung werden bier die einzelnen Entwicklungsſtufen der deut⸗ 
ſchen Jugendbewegung umfaſſend dargeſtellt. Die neue Jugend wird gemeſſen „an 
ihren Vorgängern und Nachbarn: am Verbindungsſtudententum der offiziellen 
wilhelminifhen Jugend, an der Untiefe und Leiden ſchaftsloſigkeit des Journa⸗ 
lismus und Literatentums “. In dieſer Darſtellung ſelbſt herrſcht weder Wander⸗ 
vogelromantik noch politiſche Tendenz, weder ſnobiſtiſches Literatentum noch jene 
Eunuchenobjektivitaͤt beamteter Wiſſenſchaftler, ſondern eine beſcheidene „intellek⸗ 
tuelle Rechtſchaffen heit“ wahren Forſchertumes. 

In einem erſten Aufſatz wird die Wahlverwandtſchaft der Jugendbewegung 
mit der Urburſchenſchaft aufgezeigt. Die Urburſchenſchaft iſt undenkbar ohne 
die große Franzoͤſiſche Revolution, wenn ihre Träger dies auch nicht recht zugeben 
wollten und konnten. Sie war ein Teil des Emanzipationskampfes des dritten 
Standes, des Buͤrgertums, und als ſolcher revolutionaͤr im ſozialen Sinne. Doch 
yeigentuͤmlich wirkt nur das Verhalten der Nachfahren und Siſtoriker, die die 
ehemaligen Umſtuͤrzler verklaͤren, ihre Verfolgungen beklagen, nicht bedenkend, 
daß ihre eigene Generation ſich den empordraͤngenden Bräften ihrer Jeit gegenüber 
ebenſo verhält”. Doch der Weg der Urburſchenſchaft war „trotz allen Märtyrer: 
tums ein leichter im Vergleich zu dem der heutigen Generation. Sie kaͤmpfte ja für 
ihre eigene Bafte, fie handelte nicht gegen ihr „Klaſſenintereſſe“. 

Die Abhandlung „Vom Weſen der Schulrevolution“ ſtellt die Geſchichte 
der Breife um Wyneken und den „Anfang“ dar. Der alte, unüberbrüädbare Begen- 
ſatz zwiſchen Freideutſchen · und Anfangkreiſen wird ſoziologiſch gedeutet. Die 
Freideutſchen waren eine Generation in Schoͤnheit, fie konnten daher nicht wahr ⸗ 
baft revolutionde fein. „Es gehort nun einmal zum Charakter der geiſtigen Be⸗ 
wegungen, die den Kampf gegen die ungerechte Weltordnung führen, daß die 
Saͤßlichen und die körperlichen ſowie ſeeliſchen Sinkefüͤße die Fahne tragen.” 
Doch weiter darüber hinaus wird bier dieſer Gedanke zu einer Art „Ethik des 
Saſſes ausgebaut. Denn immer ſind es in der Geſchichte die „ſchlecht Behandelten“, 
fie „Zwerge und die Unzufriedenen“, die die Entwicklung weitertreiben. Sie 
dämpfen nicht für „eigene Wohlfahrt und Erloſung“, ſondern fie befreien „mit 
ihrem Werk die anderen, Wichtkaͤmpfenden“ mit. 

Der Bericht über die freideutſche Tagung in Jena 1921s iſt inzwiſchen 
geradezu Haſſiſch geworden, einige treffende Ausdrucke gehen ſchon lange als ge; 
fluͤgelte Worte um. Die Verfaſſerin ſchildert, wie in dieſer deutſchen Jugendver⸗ 
ſammlung die deutſche Grundſtimmung jener Tage in hoͤchſter Potenz zum Aus; 
druck kam. Man verfiel einer Pſychoſe, die formal der von 1914 ahnlich war. Die 
voͤllige Silfloſigkeit gegenüber den Ereigniſſen ließ man ſich aber nicht ins Bewußt- 
fein kommen, ſondern verbarg fie hinter der Bejahung eines radikalen Nihilismus, 
hinter dem Gedanken des Abbaues bis zum Minimum. Sier waren ſchon die Reime 
jener — ewigen — Problematik ſichtbar, die die Freideutſchen ſpaͤter zu politiſcher 
Unfruchtbarkeit verurteilte und den Reſt jenem Fatalis mus zufuͤhrte, der in der 
tebula rasa des Bolſchewismus, in einem „Ragnarök“ das einzige Seil fab. Chi- 
lias mus, Apokalypſe und Utopis mus beherrſchten in hoͤchſter, metaphyſiſcher, welt⸗ 
ferner Problematik dieſe Jugend, die in ihren Inſtinkten empfaͤnglich war für die ſe 
erſcheinungen, die, wie Eliſabeth Buſſe · Wilſon tiefſchauend zeigt, immer in der 
Geſchichte derartige Rataſtrophen wie die von 1918s begleitet haben. 


211 umſchau 


In der Serbſttagung von 1920 in Hofgeismar fiebt die Verfaſſerin in die · 
ſem letzten, heftigen Juſammenprall der Freideutſchen mit den Rommuniſten das 
Ende der freideutſchen Jugend. In einer glänzenden Analyſe wird dargeftellt, wie · 
weit die freideutſche Ethik im Sinne der materialiſtiſchen Geſchichtsauffaſſung 
Haſſenbedingt iſt, wie aber dennoch ein bedeutſamer Reſt mit dieſer Lehre nicht 
zu deuten iſt. Andrerſeits wird nachgewieſen, daß die Bommuniften, die für 
ſich die „Rolle von Vollſtreckern des Weltwillens“ in Anſpruch nehmen, ihre 
eigene, materialiſtiſche Lehre nicht auf ſich ſelbſt und ihre Theorien anwenden. 
Es werden ſomit ganz allgemein die objektiven wie pſychologiſch⸗ſubjektiven 
Grenzen der materialiſtiſchen Geſchichtsauffaſſung aufgezeigt. Die Freideutſchen 
baben gegenuber dem kommuniſtiſchen Generalangriff von Softeis mar ihre gei- 
ſtige Freiheit gewahrt, trotzdem die Bommuniften dußerlich das Feld beherrſchten. 

In dem Aufſatz „Rax Scheler und der homo capitalisticus“ ſowie dem 

Nachſpiel „Max Scheler und feine Schuler“ ſetzt ſich die Verfaſſerin mit der ent · 
gegengeſetzten Wertung des kapitaliſtiſchen Jeitalters ſowie wiederum mit den 
Grenzen der materialiſtiſchen Geſchichtsauffaſſung auseinander. Es iſt zugleich der 
Bericht über eine Tagung, auf der die „akapitaliſtiſche“ (nicht antikapitaliſtiſche) 
Jugendbewegung ſich mit dem antiproteſtantiſchen und dennoch philokapitaliſti 
ſchen Neokatholizis mus Schelers auseinandergefeut hat. Ferner wendet fie ſich 
gegen die „Fuͤhrerhyſterie in der Jugendbewegung, gegen jüngerbaftes Verfallen⸗ 
fein an Propheten, das zur Sektenbildung fuͤhet und der geiſtigen Selbſtaͤndigkeit 
widerſpricht. 
„Vom heroiſchen Leben“ heißt die Abhandlung, die erklart, worin die — für 
Wyneken tragiſche Tatſache beruht, daß die heutige Jugendbewegung fo gar nicht 
auf Wyneken reagiert, gar nichts mit ihm anzufangen weiß.“ Dieſe Menſchen, die 
er jahrelang geſucht hat, ſind wohl die ſeines Blutes, aber nicht zugleich die ſeiner 
Serkunft, feiner Vergangenheit und feiner Überlieferungen.” Und die Jugend ⸗ 
bewegung „ftebt außerdem noch unter der Serrſchaft des blutigen, gekreuzigten 
Gottes, deſſen Jeiten Wyneken ſchon vorbei waͤhnt“. Nietzſche als Führer hinzu · 
ſtellen, „muͤſſe verhaͤngnis voll fein bei Menſchen, die das Kulturerbe dieſes Jeit 
alters nicht ſelber ſchon durchlaufen haben.“ 

„Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf“ iſt der aͤlteſte aus der Reihe 
dieſer Aufſaͤtze, mit dem Eliſabeth Buſſe · Wilſon an die Öffentlichkeit getreten iſt. 
Selten, ja, man kann wohl ſagen niemals hat Wyneken das Gluͤck gehabt, hier 
wie dort eine derartig fachliche Kritik zu erfahren. Noch heute glaubt man ja 
in den Breifen der ehemals Freideutſchen, Wyneken vernichten zu können, wenn 
man alte, laͤngſt erledigte, unſachliche Angriffe gegen ihn wieder aufwaͤrmt. Doch 
dauernder und wertvoller als derartige Pampblete iſt eine einzige ſolche Aritik an 
Wyneken und feinem Werk, wie ſie hier verſucht worden iſt. Gewiß, fie iſt mit 
Achtung zu ſeinem Werk geſchrieben, aber ſie iſt darum nicht blind, nicht devot. Das 
Wickers dorfer Gemeinſchaftsleben der Jugend wird in feiner ganzen Problematik 
bier enthüllt. 

„Liebe und Aameradſchaft“ iſt ein Abſchnitt aus dem ſoziologiſchen 
Buche der Verfaſſerin „Die Frau und die Jugendbewegung“.“ Es iſt das 
Wichtigſte, was bisher uberhaupt über eine Bultivierung des Geſchlechtlichen in 
der Jugendbewegung geſagt wurde. Die ſogenannte Bameradfchaft iſt, biſtoriſch 
» Verlag A. Saal, Lauenburg a. d. Elbe. 


Umfbau 215 


betrachtet, ein ungeheurer Sieg die ſer Jugendbewegungsgeneration gegenüber 
der buͤrgerlichen Trennung der Geſchlechter. All die Tauſende, die heute in diefer 
merkwuͤrdigen, dem Bürger un verſtaͤndlichen Aameradſchaft leben, wiſſen aber 
gar nicht mehr, wie groß das errungene Gut iſt, deſſen ſie teilhaftig werden. An 
dem, was vorher war, erſcheint die neue Aameradſchaft als eine große poſitive 
Schoͤpfung der Jugendbewegung, — waͤhrend ſie letztlich jedoch auch Verzicht, ein 
Pyrrhusſieg, keine Löfung iſt. Wichtig find die beiläufigen Bemerkungen über die 
In verſion. Eine echte Inverſion bält die Verfaſſerin für ſehr ſelten und ſchaltet 
fie als ſoziologiſch unproblematiſch aus der Diskuſſion aus. (Während z. B. Blůher 
ſich gerade die echte Inverſion zum Thema gemacht hat; er ſteht damit auf einer 
ganz anderen Ebene; das eine widerſpricht nicht dem anderen.) Die Teil · oder Not ; 
invertierten dagegen find oft zu einer aferuellen Aameradſchaft mit den „ge⸗ 
ſchlechtsloſen Arbeitsbienen“ fo gut wie praͤ disponiert. So wird ein guter Teil 
die ſer Aameradſchaft als Geſellſchafts form ſoziologiſch erklart, der Reſt wird zu⸗ 
naͤchſt poſitiv als ſchͤöpferiſche Leiſt ung gewertet, um ſchließlich in den Augen 
einer überlegenen Frau manchmal „komiſch“ zu wirken. Doch muß man dieſe dop⸗ 
pelpolige Wertung der Verfaflerin verſtehen: rein hiſt oriſch wertend muß fie zu 
einem poſitiven Urteil kommen, aber unter dem Geſichtspunkt des Abſoluten, des 
Sein ſollenden erſcheint ja eine ſolche Löſung dann doch wieder als unsuläng- 
lich. Das iſt kein innerer Widerſpruch, ſondern es ſpricht nur fuͤr die Qualitaͤt eines 
Siſtorikers, daß er neben dem hiſtoriſchen Denken zugleich noch unhiſtoriſch er · 
kennen kann. Ohne ins Jyniſche zu verfallen, herrſcht in dieſem Aapitel ein Geiſt 
der intellektuellen Sauberkeit, an dem Nietzſche feine Freude haben würde. 
Waren die bisher erwähnten Kapitel als Aufſaͤtze ſchon fruͤher hier und dort ver⸗ 
ffentlicht, fo iſt völlig neu und nicht nur im bibliographiſchen Sinn das letzte 
Drittel des geſamten Buches über „Die Religionen des zwanzigſten Jahr⸗ 
hunderts und ihre Wirkung auf die Jugendbewegung“. Mit einer wahr: 
paft heiteren und überlegenen Aampfeinſtellung gegen jegliche „Arypto · Religion“, 
gegen alle Kirchen · und Sektenbildung, gegen jedes Juͤngertum oder Verfallenſein 
an irgendwelche Propheten und Meſſiaſſe entlarvt die Verfaſſerin die „ko mmuni ⸗ 
ſtiſche Volkskirche“, die Sektenbildung um George, um Wyneken und um 
Dr. Rudolf Steiner als „Falſchſehen“, als „fehlerhafte Optik zu allen Dingen“, 
wie Nietzſche ſagen würde. Daß Kommunismus eine Glaubens ſache iſt, waͤhrend 
er ſich ſelbſt vortaͤuſcht Wiſſenſchaft zu fein, wird ausfuhrlich nachgewieſen. Seine 
gebaßteften Feinde find nicht die eigentlichen Gegner, ſondern die Schis matiker und 
Saͤretiker, und vor allem die Objektiven und NMeutralen. Und um dieſen Glauben 
bat ſich eine richtige ecelesle militans gebildet. Es gibt ein gelobtes Land, eine 
Stadt Zion, eine Sierarchie, eine richtige Scholaſtik und einen Index librorum 
prohibiiorum. Aber es wird auch nachgewieſen, warum der Bommunismus bie 
Volksreligion unſeres Jahrhunderts geworden iſt, waͤhrend die anderen Sekten 
von Heineren Schichten zehren. „Als krypto⸗ religidſe Gemeinſchaftsbildungen er- 
weiſen ſich fo mannigfache, ſcheinbar rein geiſtige Stroͤmungen. Bei ihnen finden 
ſich alle Merkmale echter Religionen wieder. Das zentripetrale Denken, der An · 
ſpruch auf Ausſchließlichkeit und die Unduldſamkeit gegen andere Bekenntniſſe.“ 
Von George ſpricht die Verfaſſerin mit gebuͤhrender Sochachtungz, nur meint fie 
— entgegen der Theſe feiner Junger —, Georges Daſein könnte unſer Jahrhun ⸗ 
dert rechtfertigen und gerade Menſchen, die nicht an ihn heranreichen und ſelbſt un; 


216 | umſchau 


produktiv find, hatten nicht das Recht, unter Sinweis auf George über unſere 
Zeit den Stab zu brechen. Schuld daran ſei falſche Anbetung, Religionsbildung 
wo die Geſetze der Vernunft nicht gelten“. „Geiſtigen Dunkel und egozentriſchen 
SZochmut teilt der George · Glaͤubige mit allen Sektierern. Denn das auszeichnende 
Geheimnis iſt es, das den Auchangehoͤrigen von Chriſtengemeinſchaften und Volks · 
religionen dasfelbe ſtarke Selbſtbewußtſein vertritt, wie den vornehmen und ge- 
bildeten Verehrern des Dichters George. Es iſt das Beſte, was bis her zum The⸗ 
ma George von Außenſtehenden geſagt worden iſt. 

Die Jugendbewegung iſt in ibrer Geſamtheit weder der heutigen Volksreligion 
noch den Sekten verfallen. Das iſt die Saupterkenntnis die ſes Werkes und die hiſto⸗ 
riſche Leiſtung dieſer Bewegung. Eliſabeth Buſſe⸗Wilſon ſieht darin einen hohen 
Grad von „geiſtiger Unbeſtechlichkeit und ruhiger Selbſtſicherheit“ . Die Jugend 
„konnte die ungeheure Freiheit, die fie ſich ebemals nahm, vertragen. Das iſt eine 
Probe, die die Menſchen nicht allzuoft beſtehen “. Uns ſchien es, als ob dieſe Un ⸗ 
beſtechlichkeit nur ein wenig nach Silfloſigkeit aus ſaͤhe. Doch es fällt ſchwer in die 
Wagſchale, wenn ein Menſch wie Eliſabeth Buſſe⸗Wilſon nach einer derartig 
eingehenden Prüfung zu einem ſolchen Ergebnis kommt. Möoͤge fie recht behalten 
und möge die Jugendbewegung ſich durch dieſes Urteil nicht geſchmeichelt fühlen. 
Die geiſtige Unbeſtechlichkeit, die Eliſabeth Buſſe · Wilſon verlangt und mit der 
fie ſelbſt ihre geſchichtliche Betrachtung geſchrieben hat, iſt dem Geiſte Wietzſches 
wahl verwandt, wenn auch nicht von ihm entlehnt. Er kaͤmpfte gegen die letzte 
große Religion, beute gilt der Rampf den Krypto⸗ Religionen: „Man bat jeden 
Schritt breit Wahrheit ſich abringen muͤſſen, man hat faſt alles dagegen preisgeben 
muͤſſen, woran ſonſt das Serz, woran unſere Liebe, unſer Vertrauen zum Leben 
paͤngt. Es bedarf Groͤße der Seele dazu: der Dienſt der Wahrheit iſt der haͤrteſte 
Dienſt. — Was heißt denn rechtſchaffen fein in geiftigen Dingen? Daß man ſtreng 
gegen fein Serz ift, daß man die „ſchoͤnen Gefuͤhle“ verachtet, daß man ſich aus je · 
dem Ja und Nein ein Gewiſſen macht! —“ Dieſes Nietzſche Wort konnte als 
Motto über dieſem Werke von Eliſabeth Buſſe ⸗Wilſon ſtehen. Richard Peters 


€ Wenn Dichter zur Politik, zur Erörterung von 
Runder dee Weges Gegenwarts fragen ihre Stimme erheben, ſo er⸗ 
wartet fie leicht ein nachſichtiges, etwas verlegenes Laͤcheln. Man findet, daß ihre 
Maßftäbe, die aus den jenfeitigen Gefüuͤden reinen Schoͤpfertums ſtammen, nicht 
zulangen auf die harte und „reale Wirklichkeit und daß man ihre Stellungnahme 
des halb nicht recht ernſt zu nehmen braucht. 

R. G. Binding aͤußert ſich zum letzten Krieg („Aus dem Kriege“ bei Rütten und 
Coening Srkf.). Man kennt B. als den Geſtalter ganz reiner, ſtiller Linien, einer 
kultivierteſten Welt von vornehmer Ausſchließlichkeit. Vielleicht ſieht ibn mancher 
auch als Vertreter einer Oberſchicht, die vor dem Kriege als die vornehmſte, ent⸗ 
wickeltſte galt. Andere werden um des Dichters Stellung zu den großen Lagern der 
Richtungen und Parteien wiſſen und auf dieſe Weiſe — voreingenommen ſein. 
Aber in all das läßt ſich fein neueſtes Buch nicht einordnen. Man wird es weithin 
als zuſammenhanglos und etwas verfehlt betrachten. Dennoch enthält dies 29 
eine wefentliche Erkenntnis über das Schickſal unferer Jeit. 

Es gibt ſicher Kriegstagebücher, die kuͤnſtleriſch böber zu bewerten find. Daß 
man an einigen Stellen die hohe Sprachkunſt mehr ahnt als ſpuͤrt, das iſt zu wenig 


umſchau 217 


für eine aͤſthetiſche Leiſtung. Aber das Buch darf auch nicht dichteriſch gewertet 
werden. Andere vermiſſen dann ibrerfeits jede aktuelle Richtung. Es ſteht wohl 
oft vom Widerſinn die ſes Schlachtens geſchrieben, aber nirgends hört man die 
logiſche Folgerung, die zum Paziſis mus führen wurde. Dagegen iſt zuweilen 
richtige Luft am edlen Leben des Reiters zu erkennen. Und dennoch: kein ent ; 
ſchiedenes Eintreten für „Bott, Aöðnig und Vaterland“; kein Schmaͤhwort gegen 
die Elſäſſer, die überlaufen, gegen die „Vaterlandsverraͤter“; kein „Gott ſtrafe 
England”. Alſo weder klare Entſcheidung für „links“ oder „rechts“, noch Stellung · 
nahme zum Kriege uberhaupt, noch Worte vom hohen Beruf des Deutſchen und 
von ſeiner Seele. 

Ja, was iſt denn das Buch eigentlich, wenn es alles dieſes nicht iſt? 

Es iſt zunaͤchſt etwas ſehr Beſcheidenes: ein Menſch erzählt, nicht nur, was er 
im Brieg und wie er's erlebt hat, ſondern, was ihm der Brieg bedeutet hat. Das 
brauchte noch nicht allgemein zu intere ſſieren. Anderen hat der Krieg auch etwas 
bedeutet. Jedoch: daß er ſol che Deutung fand, iſt Ausfluß, Wirkung, Erſcheinung 
einer neuen Saltung zum Leben, ja, um es etwas anſpruchs voller und zugleich 
vorgreifend zu bezeichnen: einer „neuen“ Religioſitaͤt. Und darauf kommt es uns 
bei dem Buche an. 

Die ſe innere Linie gilt es beraussufchälen. 

Das iſt nicht leicht. Man muß das Augenmerk auf ſummariſche Saͤtze und kurze 
Abſchnitte, den Berichten und Erzaͤhlungen angefuͤgt, lenken, die nach dem Sinn 
der Dinge und Ereigniſſe fragen. B. iſt der harten Wirklichkeit des Krieges ganz 
hingegeben und kann doch nicht von ihr erdrückt werden, kann „oben hinaus⸗ 
fliegen und mich in allerhand Gegenden bewegen, aus denen man einen Schimmer 
mit nach Sauſe bringt“ (S. 238). Unbewußt liegt auch in ihm das Soffen auf den 
Sieg. Als Offizier füllt er den Platz aus, an den er geſtellt iſt, plant er noch im 
September 1917 (Denkſchrift) Silfe gegen die moraliſche Jerruͤttung der Armee, 
fühle er ſich ganz Glied des Volkes, das ſich behaupten will, noch lange, nachdem 
er ſchon „Dinge und Zeichen” gefeben hat. Seine Ahnungen, feine tiefen Voraus⸗ 
ſichten, daß wir den Krieg nicht befteben werden, feine Erkenntniſſe, daß wir uns 
verzettelten, keine Feldherrn hatten uſw., fie konnen ihm nicht das Gefühl innerer 
Verkettung mit dem Geſchehen zerftören. Es iſt reizvoll zu ſehen, wie jene Stim⸗ 
men mit ſolchen im Streit liegen, wo er energiſchere Kriegs fuͤhrung fordert 
(vgl. die Stelle vom Sieg als Gottesgericht und der Rechtsfrage S. 285). Sier iſt 
jemand, der ſich nicht durch Glanz und Taumel des Augenblicks darüber blenden 
und täufchen ließ, was die Dinge bedeuteten (3. B. Ubootkrieg, Kriegs propaganda, 
Ciebes gaben, ſerbiſche Aktion S. Jo), der nüchtern abſchaͤtzte. Und dann taucht 
er wieder heißen Serzens ins Geſchehen; in feinem eigenen Inneren ſteht Soff- 
nung gegen Einſicht, Anteil gegen Vernunft. 

Man mag es merkwürdig inkonſequent finden, daß ſich der Dichter, da er den 
Ausgang wußte und die Faͤulnis fab, nicht Gehör verſchaffte, ſondern ſchwieg und 
trug. Daß er das Buch jetzt noch veroffentlicht.) Man verkennt gerade die er- 
greifende Menſchlichkeit in dieſen Blättern, wenn man das ſagt. Was ſich bier in 
einem Menſchen anbahnte, iſt zugleich der Aampf der ſich wandelnden Jeit geweſen. 
Einem einzelnen (gewiß nicht dem einzigſten damals) war das Geheimnis der Jeit, 
die Abſicht der Vorfehung geoffenbart worden. Er trägt dieſe Bunde, ſelbſt da ; 
gegen anrennend, fie in Zweifel ziehend, darum hadernd, durch die Jahre: „Und 


218 umſchau 


immer wieder gerate ich, in einer Art Abkehr in mir, auf jenen Berg, auf den 
Moſes ſtieg. Daß man auf ihn beraufgeswungen wird, das iſt das Fuͤrchterliche 
(S. 203), bis er zuletzt einſieht, daß die Botſchaft wahr iſt, daß das Sinnloſeſte 
Sinn und Segen bat. Da richtet er den Blick vertrauend auf das Rommende. Ihm 
it auch dieſer Krieg zu ungeheuerlich, als daß er um Land/ und Machtgewinn, um 
Lüge und Phraſe willen heraufgekommen fein kann. Er weiß vor allem, daß die 
Blutopfer nicht um eines aͤußerlichen Sieges willen gebracht werden muͤſſen, „um 
nachher in die gleichen unklaren Waͤſſer zuruͤckzuverſinken, in denen man ehedem 
gelebt hat (S. 71). 

Seute ertönt ſein Mahnruf, da er jenes Volk wieder „in die gleichen unklaren 
waͤſſer“ verſinken ſieht. Er ſpricht dies Schickſal und feinen Sinn, deſſen deut · 
lichſte Mahnung der Krieg war, wieder aus. Bedenkt man, daß all dies damals 
ge ſchrieben und bewahrt wurde (denn wer haͤtte ihn nicht verlacht) und daß der 
Schreiber ſich nicht abſonderte, dann kommt einem die Geſtalt des Sagen in Erinne⸗ 
rung und jene hinreißende Szene beim Übergang der Nibelungen uͤber die Donau. 
Die Schwanen jungfrauen haben Sagen den Untergang des ganzen Seeres, mit Aus · 
nahme des Raplans, geweis ſagt. Sagen erprobt die Wahrheit und wirft den Raplan 
ins Waſſer, der zuruͤckſchwimmt. Da ſagt Sagen kein Wort, er bekennt ſich zum Schick ⸗ 
fal und bekraͤftigt es: er zerſtoͤrt die Fähre und ſendet einen ſtummen Blick über die 
dem Tode Geweihten. Wahrlich, über dieſem Buche Bindings ik etwas Sagenſches. 

Sier ift der Punkt, an dem wir, von einer anderen Seite ber weiter aus holend, 
die Betrachtung jenes eigentlichen Wertes des Buches anſchließen müſſen, des 
Wertes für das religidfe Werden. Wicht mit Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, Opfer⸗ 
finn iſt das neue Ethos genügend gewürdigt, das Ergebnis der Wandlung iſt 
(vgl. S. 54). Der Bern der religidfen Einſtellung, die aus jener Katharſis ent · 
ſprang, iſt Achtung (ich wähle das Wort für ſowohl Glaube wie Gehorſam wie 
Gefühl für . .) gegen das Schickſal. Man wird den Dichter fragen, was denn 
Schickſal ſei. Das kann von ihm weder inhaltlich analyſiert noch begrifflich for · 
muliert werden. Sicher aber fühlten wir nicht, wohin un ſer Schickſal wollte, als 
wir uns nach dem 18. November binfegten und jammerten: das haben wir nicht 
verdient, das iſt ungerecht, ungerecht von Gott, roh von den Feinden; als wir 
untereinander in Hader gerieten und jeder feine — vielleicht nicht nur feine — 
abe aus dem brennenden Sauſe „rettete“ und dabei den Naͤchſten ruͤckſichtslos 
niedertrat. In der Politik wurde am meiſten bingepfufcht. Man dachte nicht 
weiter, als diefen Tag am Leben zu bleiben, kein Fuhrer war da, der eine Linie 
und Jucht im Geſchehen fand. Fur Schickſal muß man freilich ein inneres Organ 
haben — das macht den großen Staatsmann —, muß berufen fein, einen Weg zu 
geben und ihn geben, ohne daß er logiſch vor den Vielen darzulegen iſt. Eine Er⸗ 
ſcheinungsweiſe dieſer wahren Gott · Verlaſſenheit iſt der Mangel an nationaler 
Wuͤrde geweſen, der oft beklagt wird. Selbſtredend kann ein Volk, das ſich hintaſtet 
und keine Ahnung hat, was es ſoll, wohin es ſoll, wozu es beſtimmt iſt, keine 
wahre, d. b. angemeſſene, Wurde und Form haben, und hat es fie, fo kann es nur 
leere Phraſeologie und beſchraͤnkte Traditions verherrlichung ſein. So blaͤſt man 
jetzt allſeits die nationale Wurde auf. Saben die, die das tun, etwa mehr Ahnung 
von dem Schickſals weg, den dieſes Volk zu geben bat? oder legen fie ſich s nach 
ihrem Wollen aus? Wenn wir etwa die Zähne zufammengebiflen, kein Wort des 
Jammers, des Bettelns, der Anklage (Schuldigen ⸗ Frage l) verloren hätten, uns 


umſchau 219 


auf Not und Verſchuldung drakoniſch eingeſtellt und in erſter Linie das Ge · 
ſchehene anerkannt haͤtten (ohne freilich erſt die Rriegsſchuldlüͤge zu unterſchrei · 
ben), dann hätten wir Gefuͤhl für das Schickſal gezeigt. Das Schickſals Wille ſchien 
es nicht, es noch laͤnger mit dem Serois mus der Schlacht zu verſuchen. Aber den 
Seroismus der Haltung, des Schweigens und der Einkehr, den hatten wir nicht. 
Den kann kein Volk im Sandumdrehen bekommen. Doch nicht einmal eine Ober⸗ 
ſchicht beſann ſich auf eine maͤnnlich · herbe, beiſpiels hafte Saltung (außer den alten 
Rentnern, die man verhungern ließ !). 

Aeligidfe Erneuerung wird ſehr viel von dieſem heroiſchen Schickſalsge horſam 
bringen müſſen, der ſchwerer iſt als die Leidenſchaft des Widerſtandes. Sie wird, 
was damit zufammengebört, einen Impuls zu ſtarker Perſoͤnlichkeitsbildung ent- 
halten müſſen. Es ift kein Zweifel, daß vor allem die Kirche verſagt hat in den 
letzten Jahren der Pruͤfungen. Die Lehre von der Demut und der Gnade haben 
zu einem bequemen, gedankenloſen Soffen auf Gott geführt. Die Gnade trifft den 
Seher, den tätig Frommen dann, wenn ſich ihm Gottes Wille als Ziel und Forde · 
zung offenbart, wenn er fühlt, was „Gott“ mit ihm vor hat. Und aus dem Bebor- 
ſam gegen dieſe Offenbarung kommen dann von ſelbſt Wege, Kraft und Möglich; 
keit. Die Chriſten aber haben ſich gewöhnt um Gnade zu beten, d. b. zu bitten 
darum, daß Gott das Schickſal abwenden, andern möge, daß er's ihnen nicht fo 
ſchwer mache. Das Beten iſt zum Bitten und Betteln geworden, und man „wirft“ 
feine Leiden „auf Gott“, wie es treffend heißt. Aber das führte oft zu einfachem 
Sich · Treibenlaſſen. Geht man hier nicht an eine Erneuerung der Kirche aus 
beroiſchem Geiſte, aus dem Geiſte der Perſoͤnlichkeit, fo wird auch eine „Welt ⸗ 
konferenz für praktiſches Cheiftentum” nur an den Symptomen herumbeſſern. 
Dieſer unſerer nordiſcheren Auffaſſung entſpricht die Geſtalt Cpriſti durchaus. Die 
Szene im Garten Betbfemane, der Einzug in Jeruſalem iſt das Gegenſtuͤck zu 
jenem Verhalten Sagens an ber Donau, von dem oben die Rede war. In Chriſtus 
war ein heroiſcher Jug. Und neben dieſe beiden Weltſymbole gehört der Luther in 
Worms, der junge Lutber im Auguſtinerkloſter. 

Die Weltkonferenz für praktiſches Chriſtentum bat im Worden, in Stockholm, 
ſtattgefunden. Im Norden tritt uns die ſelbſtbewußte und geſunde Art eines 
handelnden Individualismus entgegen. Unſere Volks maſſen mit ihren kollektivi 
ſtiſchen Neigungen brauchen dringend die Führung einer Oberſchicht von Perfön- 
lichkeiten. Sierzu kann es uns nur helfen, wenn wir mehr auf die ſtolze, harte und 
ſichere Art des Nordlaͤnders ſchauen, der vor allem Perfönlichkeit iſt und fein will. 
In die alte nordiſche Überlieferung hinunterzugreifen fängt man heute zum Gluck 
ſchon an. Es iſt hier alles andere als der laͤcherliche germaniſche „Lichtglaube“ 
gemeint, romantiſche Schwaͤrmerei, ſondern wir reden in yſychologiſchem und 
biologiſchem Betracht. Im nordiſchen Weſen finden wir das nötige Gegengewicht 
und die Ergänzung unferer Art gegen weſtlichen Geiſt der Typiſierung und Auf: 
Iöfung. Von nordiſchem Weſen möge unfere ſeeliſche Saltung und religioͤſe For · 
mung etwas annehmen. 

Sierzu iſt Bindings Buch ein Anſatz, und es gibt fo mittelbar zu all dieſen Ge · 
dankengaͤngen den Anſtoß. Denn in feiner Grundhaltung liegt ein Reim nordiſchen 
Wefens, es bringt etwas von nordiſcher Reaktionsweiſe in die letzten Fragen und das 
tiefe Suchen nach dem Sinn der Zeit hinein. Dieſe Bedeutung letztlich fur die religioͤſe 
Erneuerung herauszuſtellen, war die Abſicht dieſer Jeilen. Sermann Gumbel 


220 | Umfhau 


L'art pour l’art und proletariſche Dichtung . Ach 


Bunft willen) ift ſtets das ſichere Jeichen der Verzweiflung einer Klaſſe an ihrer 
eigenen Exiſtenz, an der Möglichkeit im Rahmen, den die ihr zugrunde liegende 
Skonomiſche Struktur der Geſellſchaft, die daraus entſtehenden Formen und In⸗ 
halte des ſozialen Lebens sieben, ein menſchenwuͤrdiges Daſein ſinnvoll zu ge⸗ 
ſtalten. 

Jeder, der die großen und ehrlichen Vertreter der Feri pour Fart kennt (bier fei 
vor allem auf Guſtav Aaubert, ſpeziell auf feine Briefe hingewieſen) weiß, wie 
ſtark dieſe Verzweiflung in ihnen gearbeitet hat. Weiß, wie ſehr ihre „rein kuͤnſt⸗ 
leriſche Befinnung nur eine Maske war, die den wuͤtenden und verachtungs vollen 
aß gegen ihre eigene Alaſſe, gegen die Bourgeoiſie ſehr durchſichtig verbarg. 

Trotzdem konnten ſelbſt die ehrlichſten und ſchaͤrfſtdenkenden Vertreter dieſer 
Richtung über die wahren Urſachen ihrer Verzweiflung nicht ins Klare kommen, 
gefchweige denn einen rettenden Ausweg für den Sinn ihres Lebens als Kuͤnſtler 
finden. Dies hat aber feinen Grund nicht nur darin, daß fie als Burger nicht über 
ihren Schatten zu fpringen, nicht den Zorizont ihrer Blaffeneriftenz zu uͤber⸗ 
ſchreiten vermochten. Denn mancher ihrer Klaſſengenoſſen iſt ja gedanklich und 
praktiſch über die Schranken feines bürgerlihen Daſeins hinausgekommen: hat 
den Weg zum Proletariat, zur richtigen Kritik — der Kritik in Theorie und 
Praxis — ber bürgerlichen Geſellſchaft gefunden. Die Schranke liegt neben dieſer 
Schwierigkeit für jeden bürgerlich Geborenen, mit feiner Klaſſe volltänbig 
zu brechen, in ihrer Kuͤnſtlerſchaft felbft. 

Denn der Rünftler nimmt das Leben ſtets unmittelbar. Je echter er Bünft- 
ler, er iſt umſo unmittelbarer. Er mag an Menſchen, Gruppen, Inſtitutionen uſw. 
eine noch fo derbe Kritik ausuͤben, zu den grundlegenden Gegenſtaͤndlichkeits⸗ 
formen, in denen ihm ſich das Leben feiner Zeit darbietet, muß er, um Kuͤnſtler 
bleiben zu konnen, ſtets in ſinnlich · naiver Unmittelbarkeit ſtehen. (Dante ſteht 
in dieſer Sinſicht auf einer Linie mit Sommer, Cervantes mit Shakeſpeare.) 
Die Tragik des Büänftlers in der buͤrgerlichen Geſellſchaft, aus welcher Tragik 
die ganze ert pour l’art-Bewegung entſteht, liegt nun, darin, daß gerade biefes 
Unmittelbarkeitsverhaͤltnis, die Grundlage der kuͤnſtleriſchen Einſtellung zur 
Wirklichkeit, geftört, ja unmoglich gemacht wird. Erſtens, indem die Entwick⸗ 
lung der bürgerlichen Geſellſchaft, bedingt durch die Entwicklung des Bapitalis- 
mus als einer die ganze Geſellſchaft beherrſchenden Produktions weiſe, die menſch⸗ 
liſchen Betaͤtigungen, die Beziehungen der Menſchen zueinander (den Stoff 
der Dichtung) in unertraͤglicher Weife abſtrakt, unſinnlich, ungeſtaltbar macht. 
Die geſellſchaftliche Arbeitsteilung des Kapitalismus, die Serrſchaft der Waren⸗ 
beziehung Aber alle Erſcheinungen des menſchlichen Lebens, der mit ihr un; 
lösbar verknüpfte Fetiſchismus aller Lebensformen uſw. umgeben den Bünft 
ler mit einer Umwelt, zu der er ſich, weil er Bünftlee — alſo von heftiger, an · 
ſpruchs voller und waͤhleriſcher Sinnlichkeit — iſt, unmoglich naiv = unmib 
telbar, freudig wenießens und freudig ſchaffend verhalten kann; zu der er ſich 
jedoch — wenn er noch Bänftler bleiben will — ebenſo unmoglich rein kritiſch, 
alſo intellektuell, uber die Unmittelbarkeit hinausgehend, verhalten darf. 

Und dieſes unldsbare Dilemma verfchärft ſich weiter für den modernen Rünft- 
ler. Da jede echte und große Runſt eine Geſtaltung des Lebens in feinen höch⸗ 


— ——— . — — ͤ b̃— —äöüä—pẽ¹ —— — — ͤ — ne] 
Umſchau 221 


ſten Möglichkeiten iſt, geht fie ſtets über die naͤchſtliegende, oberflaͤchliche Wirk. 
lichkeit des flachen Alltages hinaus. Sie ſucht das Geſamtleben ihrer Zeit in 
feinen böchften Außerungen zu geſtalten; fie verläßt den Naturalismus, um bie 
Natur lebendig aufzufinden; fie kuͤndigt die platt vorgefundene Unmittelbar: 
keit, um bei einer alles Weſentliche umfaſſenden ſinnlichen Geſtaltung des Lebens 
zu landen. In dieſem Sinne iſt jede echte Dichtung: Kritik der Zeit. Der moderne 
Dichter muß aber, wenn er zum Beitifer feiner Jeit wird, in der bloßen, ab⸗ 
ſtrakten, unſinnlichen und kuͤnſtleriſch unerfreulichen Kritik ſteckenbleiben. 
Denn für das buͤrgerliche Bewußtſein iſt die ganze Geſellſchaft hoͤchſtens als 
abſtrakter Begriff gegeben. Und wendet er ſich — aus kuͤnſtleriſchen Grunden — 
von dieſer abſtrakten Ganzheit ab, wendet er ſich ausſchließlich den „konkreten“ 
unkritiſch ſinnlich aufgenommenen Einzelerſcheinungen zu, fo wird er Fünf 
leriſch in der grauen und oͤden Trivialitaͤt des buͤrgerlichen Alltagsleben erſticken. 
Sein kuͤnſtleriſches Gewiſſen fordert Unmögliches von ihm; die Vereinigung 
von unvereinbaren Verhaltungsweiſen. (Es ſei bier nur auf Sebbel, Ibſen, 
Tolftoi, Sauptmann uſw. verwiefen.) 

Schon dies wurde ausreichen, um den verzweiflungs vollen untergrund des 
Fart pour l’art zu erklaren. Die Entwicklung der bürgerliden Geſellſchaft macht 
aber zweitens auch die Exiſtenz des Dichters in einer Weiſe problematiſch, wie 
fie es vorher nie gewefen iſt. Und zwar ſowohl innerlich wie außerlich. 1 18 
lich, weil die zunehmende Bapitalifierung der Geſellſchaft das wirkliche, leben 
dige Beduͤrfnis nach Dichtung, nach Bunft immer geringer macht, die Beziehung 
von Dichter und Publikum immer ſtaͤrker in ein abſtraktes, dem Wertgeſetz der 
Warenbezie hung unterworfenes Verhaltnis verwandelt. Der Dichter weiß im · 
mer weniger, fuͤr wen er dichtet. Und wenn er nun dieſe ſeine ſoziale Wurzel⸗ 
loſigkeit als bochmätige Theorie von der Bunft um der Bunt willen ausdrückt, 
fo iſt dies im günftigften Fall eine verzweifelte Selbſtbetaͤubungz, die die ehelichen 
Bünftler in ibren Haren Augenblicken ſtets als ſolche durchfaben (ich verweise 
wieder auf Slaubert), ſteigert ſich aber bei den Kleineren und weniger Ehrlichen 
zu einem den Charakter — auch als Bünftler — korrumpierenden Selbftbetrug 
(man denke an Bünftler vom Schlage Wildes, D' Annunzios, Sofmannsthals 
uſw. ). 

. Diefes ſoziale Entwurzeltſein des Rünſtlers gebt Sand in Sand mit der ee 
ren Wurzelloſigkeit der Bunft. Die Fünftlerifhen Formen, wie dies Goethe und 
Schiller ganz Har erkannt haben, entſtehen aus beſtimmten Bedärfniffen des 
Erlebens, wobei die typiſchen Möglichkeiten der ſtaͤrkſten ſinnlichen Erfuͤllung 
ſich zu den kuͤnſtleriſchen Formen (Epos, Drama uſw.) verdichten. Die kapita⸗; 
liſtiſche Entwicklung mit ibrer die menſchlichen Beziehungen abſtrahierenden 
Arbeitsteilung uſw. vernichtet aber nicht bloß, wie bereits gezeigt wurde, den 
Stoff der Dichtung, ſondern zerreibt auch ihre Formen, indem fie in den ab- 
ſtrakt gewordenen geſellſchaftlich atomiſierten Menſchen fo chaotiſche Beduͤrf 
niſſe nach geſteigertem Erleben des Lebens erzeugt, daß dieſe, von welcher Form 
immer, aber von keiner in angemeſſener, in wirklich kuͤnſtleriſcher Weiſe erfüͤll 
bar find. Der Dichter muß rein von ſich aus feine Formen finden: er muß zum 
Aſtheten, zum Anbänger des ert, pour fert werden. Eine große Bunft, eine 
wirklich formvollendete Runft iſt aber ſtets nur als Erfuͤllung eines eindeutigen 
und klaren Jeitbeduͤrfniſſes entſtanden. Die aͤſtheten haften Formſucher, mögen 


222 Umſchau 


fie NWeuromantiker oder Expreſſioniſten beißen, muͤſſen notwendig innerlich 
formlos bleiben. 

Es gibt freilich, wird man fagen, auch eine Tendenzkunſt. Dieſe zeigt aber 
keineswegs einen kuͤnſtleriſchen Ausweg aus dem Labyrinth des Fort pour Fert. 
Sie iſt vielmehr — ſozial angeſehen und zugleich vom kuͤnſtleriſchen Be 
ſichts punkt — ihr genaues Gegenſpiel. Denn jene „Tendenzen“, die Stoff und 
Sorm der Dichtungen beſtimmen ſollen und die im bürgerlichen Leben vom bür- 
gerlichen Geſichtspunkt aus möglich find, ſchweben entweder als abſtrakt⸗ roman · 
tiſche Utopien fo boch über dem ſinnlich geſtalteten Leben, daß fie mit 
ihm niemals kuͤnſtleriſch · organiſch vereinigt werden (der ſpaͤte Ibſen, aber auch 
G. Baifer, Toller uſw.) oder enthalten derart abſtrakte, triviale Alltags pro⸗ 
bleme des banalen bärgerliden Lebens, daß fie ſich niemals zur kuͤnſtleriſchen 
Höhe erheben konnen. 

Auch dieſes Dilemma iſt nicht zufällig. Es ſpiegelt das ſoziale Daſein der 
buͤrgerlichen Klaſſe, die — ſeit dem geſchichtlichen Auftreten des Proletariats 
in ſtets zunehmendem Maße — immer unfäbiger wird, die Grundlagen ihrer 
geſellſchaftlichen Exiſtenz unbefangen zu betrachten. Da es ihr gleich unmög- 
lich iſt, dieſe ehrlich zu bejahen wie unbefangen zu kritiſieren. Sie iſt gezwungen 
entweder zu einer verzweifelten Seuchelei (die „Themenloſigkeit“ des Fart pour 
Yart, die Alleinberrſchaft der Form) ihre Zuflucht zu nehmen, oder zu jener 
trivialen Seuchelei, als ob jene Probleme, deren Vorbandenfein fie ſelbſt ſpuͤrt, 
durch oberflaͤchliche „Reformen“ aus der Welt zu ſchaffen wären. 

So offenbart ſich im l’art pour fert, von welchem Standpunkt immer wir 
dieſe Richtung betrachten, immer klarer die Auswegsloſigkeit des bürgerlichen 
Daſeins; auch vom Standpunkt der Nunſt. Was kann aber dagegen die prole 
tariſche Revolution für die Entwicklung der Aunſt bieten? Junachſt ſehr wenig. 
Und für den proletariſchen Revolutiondͤr, für den Marriften ziemt es nicht, die 
wirklich vorhandenen Moglichkeiten utopiſch zu Aberfteigern. 

Er darf vor allem nicht vergeſſen, daß die proletariſch · revolutionaͤre Runſt 
ſich ſozial in einer weit ungänftigeren Lage befindet, als ſich die Runft des revo; 
lutionaͤren Buͤrgertums im XVI. —- XVII. Jahrbundert befand. Denn damals ent- 
wickelten ſich bereits innerhalb der feudalen Welt die öͤkonomiſch - ſozialen 
Daſeins formen des bürgerlichen Lebens. Die bürgerliden Dichter waren alfo 
in der Lage, dieſes Daſein, an deſſen welterlöfensen Beruf fie noch einen wirk⸗ 
lichen Glauben haben konnten, unmittelbar - ſinnlich zu geſtalten (Der engliſche 
Roman des XVIIl. Jahrhunderts, Diderot, Keifing ufw.). Dagegen lebt das Pro · 
letariat, nicht nur, ſolange es den Kapitalismus nicht geftürst hat, ſondern, 
wie dies Marx in der Kritik des Gothaer Programmes unvergleichlich gezeigt 
bat, auch in der erſten, niedrigeren Phbaſe des Kommunismus in einer Welt, 
deren Grundſtruktur (Serrſchen des Wertgeſetzes, Arbeitsteilung, gleiches und 
abſtraktes Recht uſw.) trotz allen Umwaͤlzungen doch Strukturformen des Aa · 
pitalis mus beibehaͤlt. Die ungeheure Umwaͤlzung, die wir erleben, die das revo; 
lutionaͤre Proletariat vollzieht, waͤlzt an der unmittelbar ⸗ſinnlichen Wirk. 
lichkeit (an Stoff und Form der Dichtung) zunaͤchſt weniger um, als man es 
oberflaͤchlich glauben wurde. Dies erklart die „Enttaͤuſchung“ jener Intellek⸗ 
tuellen an der ruſſiſchen Revolution, die von ihr die ſofortige Adfung ihrer 
ſpeziellen Lebens note erwartet haben. 


umſchau | 223 


Dennoch iſt hier ſchon ſehr viel geſchehen. Auch für die Dichter des noch kapi⸗ 
taliſtiſchen Weſteuropas. Denn für jene Dichter, die ſich innerlich der proleta ; 
riſchen Revolution angeſchloſſen haben, die die revolutionaͤre Entwicklung bes 
Proletariats wirklich mit erleben, zeigt dieſes Erleben einen Weg aus den An⸗ 
tinomien des Fart pour Feri. Bei allen Fehlern erhebt ſich Leonhard Franks 
„Bürger“ turmhoch über die „Tendenzdichtungen“. Eben weil die Größe feiner 
„Tendenz“ eine lebendige kuͤnſtleriſche Verquickung mit dem konkreten Stoff 
geſtattet, weil der in ihr lebende klar und bewußt gewordene Saß gegen die buͤr⸗ 
gerliche Geſellſchaft ihn über die Formloſigkeit der reinen Formenkunſt binaus- 
fuͤhrt. Und Anderſen ⸗Mexs gelingt es, das Erwachen des Alaſſenbewußtſeins 
in einem baͤuerlichen Arbeiter mit einem Reichtum des Details und einer Weite 
der Welt zu ſchildern, wie dies — für ihre Stoffe — nur den Dichtern der beſten 
Zeit des Bürgertums gelungen ift. 

Und wahrend im übrigen Europa allgemein und mit Recht über den Still⸗ 
fand der Dichtung, uͤber Mangel an begabten jüngeren Dichtern geklagt wird, 
entſteht in Rußland eine ganze Reihe von neuen hochbegabten jungen Dich · 
tern, in deren Werken — mögen fie oft taſtend und ſtammelnd fein — man be⸗ 
reits Sen feften Boden fpürt, auf dem fie als Menſchen und Dichter ſtehen. Nicht 
als ob nun plötzlich eine von jeder früheren Entwicklung verſchiedene, uner⸗ 
hoͤrte Dichtung entſtehen würde. Die dies erwarten und wollen, find gerade die 
buͤrgerlichſten, der europaͤiſch · verzweifelten, uͤberformt · formloſen Dichtung Eu⸗ 
ropas am naͤchſten (über dieſe Literatur vgl. das Buch des Genoſſen Trotzki: 
Citeratur und Revolution). Man ſpuͤrt nur, daß die Dichter wieder ſozial einen 
feſten Boden unter ihren Füßen zu ſpüren beginnen — und dies auf Stoff 
und Form ihrer Dichtung zuruckwirkt. Und es ſcheint mir keineswegs zufällig, 
daß das feſteſt geformte Werk, das mir bis jetzt aus dieſer Entwicklung bekannt 
geworben ift, Libedinſkis „Eine Woche“ das Werk des bewußteſten Prole ; 
tariers und Bommuniften unter dieſen Dichtern geweſen iſt. Denn im Pro⸗ 
letarier und Bommuniften vollzieht ſich eben jener Prozeß, der die bürgerlide 
Geſellſchaft (und mit ihr die Problematik ihrer Aunſt) zu uͤberwinden berufen 
iſt. Freilich: fo wie nach Marx Worten das Recht nie böher fein kann als die 
Skonomiſche Geſtaltung der Geſellſchaft, fo kann es auch die Dichtung nicht fein! 
Aber eben, wenn wir keine ploͤtzlichen Wunder, keine Loͤſung aller Probleme 
auf einen Schlag erwarten, kann uns der unge beure Fortſchritt, der in der 
proletariſchen Revolution auch für die Dichtung möglich wird, ſichtbar und er- 
kennbar werden. Georg Lufäcs 


Alle wahrhaft befreiende Tat richtet 

Über die rechte Gefolg Ichaft ſich gegen die Feſſel der Traͤgheit, alle 

ſchoͤpferiſche Große wird von der „befangenen“ Welt als Quell der Freiheit emp⸗ 

funden und erhofft, einerlei ob der Promethide ein umſtuͤrzendes Werk der Technik 

geſchaffen, ein wichtiges Problem der Wiſſenſchaft geloͤſt oder ein erſchůtterndes 
Bild der Bunft in die Sersen der Menſchen gebannt bat. 

Aber der ewige, ſanktgeorgiſche Rampf gegen den Drachen der Traͤgheit (den der 
überwinder erſt in ſich ſelbſt niederringen mußte) ſpielt ſich kaum je im Bewußtſein 
der Angegriffenen ab, auch dann nicht, wenn die befreiende Tat Har vor aller 
Augen liegt; meiſt ſind es erſt Jeit und Nachwelt, die bewußt den Befreier erkennen. 


224 umſchau 


Wenn das ſchon für handgreifliche Errungenſchaften der Technik, für deutliche 
Erfolge der Wiſſenſchaft gilt, um wieviel mehr iſt es das Kennzeichen der rein 
innerlichen Siege, wie ſie das Aunſtwerk N daß die große Tat der Befreiung 
die Seele im Traum erreicht! 

Deshalb hat es von allen auf Schöpfung BEER Menſchen der Bünftler am 

ſchwerſten, Gefolgſchaft zu finden, fein Werk iſt ja keine ſtaͤhlerne Bruͤcke, die den 
Fluß überfpannt und ihren Nutzen von Tag zu Tag überzeugend darlegt, fein 
Werk iſt kein Waſſer aus der Retorte, das mit feinem Strahl die Fieberflamme des 
Kranken ſichtbar niederſchlaͤgt! Und wenn er ſich wenigſtens mit dem einmal be · 
ſiegten Drachen beruhigte, ſich wie Siegfried aus dem träg fließenden Blut gegen 
alle anderen Gefahren und Bämpfe horn haͤutete l Aber nein, der weſenhaft von 
feinem Beruf erfüllte Aüůnſtler wirft keinen Blick mehr auf den Platz feines Sieges, 
raſtlos eilt er, von feinem Damon gepeitſcht, zu der noch ſchwereren Aufgabe, die 
er ſich geſetzt hat, unbekümmert auch um die Jurufe derer, denen dieſe Tat des 
Verweilens wert erſchiene. Satte er dieſe Sehnſucht nicht, nutzte er gemaͤchlich und 
Hug das Gewonnene, preßte er Stoff um Stoff in die einmal geglädte Form, fo 
wäre er ja kein Auͤnſtler, ſondern ein ganz gewöhnlicher Menſch mit einer zufälli- 
gen Fertigkeit in dem von ihm ergriffenen Gewerbe. 
. Über dieſes heilige Leben des ſelbſtgetreuen Auͤnſtlers möge ſich Har werden, 
wer mit der Zeit das eine oder andere feiner Werke als einen befreienden Sieg Aber 
die widerſtrebende Seele empfindet. Die entfeſſelte Jungfrau erwarte nicht als 
Cohn für das offene Ja, das fie aus ſpricht, Hochzeit und Gluck der Wiederholung 
von dem gepanzerten Uberwinder; es wäre ein leeres Schaufpiel, das fie ſelbſt bald 
ſchmerzlicher enttaͤuſchte als fein Ausbleiben. Der echte Dichter beifpielsweife wird, 
ſelbſt wenn eines ſeiner Werke noch ſo ſtark gezuͤndet hat, ein neues Werk derſelben 
Gattung nicht wieder erzeugen, mögen alle es als ſelbſtverſtaͤndlich von ihm er · 
warten, und mag er ſich durch feine Weigerung um den ſchoͤnſten. Ausbau feines 
Erfolges bringen. Läßt er ſich doch dazu verleiten, fo bezahlt er dieſe Selbſtent · 
aͤußerung nur mit Selbſtentkraͤftung, mit einem ſtets zunehmenden Verluſt der nur 
im Bampf mit dem Neuen erweckbaren ſchoͤpferiſchen Kraft. Alle wahrhafte 
Bunft iſt Benialität, und alle Tat der Benialität ein einmaliger Schöͤpfungsakt; 
nicht einmal die Natur kann und mag ſich wiederholen, es gibt nicht zweimal den · 
ſelben Menſchen auf der Welt! Deshalb find alle Verſuche einer Fortſetzung vom 
Geiſt des Erſtlings aus betrachtet eben „Sortfegungen” und zum Scheitern vor- 
verurteilt, ſelbſt der Schöpfer des Fauſt büßte feine Nachgiebigkeit gegen die wohl ⸗ 
meinenden Anreger mit einem Fauſt 2. 

Das eine Beiſpiel wird genuͤgen, um die Forderung zu verſtehen, die jeder echte 
Bünftler an feine Freunde zu richten bat. Wicht träge wuͤnſchen, das einmal Er⸗ 
lebte noch einmal in anderer Geſtalt erleichtert zu erleben, nicht hoffen und erwar⸗ 
ten, ſondern mitgehen ſei die Lofung! Je vielſeitiger und größer ein Rünſtler ift, 
deſto mehr wird er beſtrebt ſein, immer neue Gebiete in ſich zu entdecken, immer 
böber über die bisher erreichten hin auszukommen. Sat man aber beſtimmte Er 
wartungen gehegt, dem Fuhrer in der Stille nicht ganz ſelbſtloſe Bahnen vor · 
geſchrieben, ſo wird man enttaͤuſcht ſein, wenn er ſich anderswohin wendet, und 
vermag feine Werke nicht mehr mit derſelben Freude zu genießen, die man in dem 
noch keuſchen Augenblick der erſten Begegnung empfunden hat. 

Berl Lieblich 


Umſchau 225 


Die zweiundeine halbe Million Mor- 
Der Sprachſtreir in Norwegen eee ee 


hängenden Gebiete von 262000 akm wohnen (davon 3 Proz. Ackerland und Wieſen, 
Zo Proz. Wald, im ubrigen Felsgebirge, Odland und Waſſer) find gewiß ein zahlen⸗ 
mäßig Hleines Volk. Aber es hat feine innere Kraft und Bedeutung in Schickſals ⸗ 
zeiten der europaͤiſchen Kultur in großem Sinne erwieſen. Wie es ja Beiſpiele ge- 
nug in der Geſchichte gibt, welche uns lehren, wie zahlenmäßig Heine Volker ent- 
ſcheidungsſchwere geiftige und leibliche Einſaͤtze geben Fönnen innerhalb eines 
großeren Aulturzuſammenhangs. Man denke etwa an die Bedeutung der Sol ⸗ 
länder für das Schickſal des Proteſtantismus und für die uͤberſeeiſche Bolenifa- 
tion. Norwegen war von alters in ſeiner gebirgigen Abgeſchloſſenheit und durch 
die eigentuͤmlich ſchauenshaft geſammelte Kraft feiner Volksart, große geiſtige 
Aonſtellationen lange und rein zu bewahren, eine hohe Burg für das geiſtige 
Weſen germaniſcher Volksgaben. Gier hatte ſich in urlaͤndiſcher Vorzeit die ſtaͤrkſte, 
zaͤheſte, dauerhafteſte Verdichtung mythiſchen Wahrbildens ereignet, hier liegt es 
immer von neuem im Weſen der Volksart begründet, die Wandlungen in den 
großen, geiſtigen Grundverhaͤltniſſen, alſo letzten Endes die Wandlungen der Re⸗ 
ligion radikal und in reiner Strenge durchzukaͤmpfen. Selbſt in dem fo furchtbar 
fragwürdigen 19. Jahrhundert wurde das deutlich genug. Ibſens kaltglühende 
Ge ſellſchaftskritik mit ibrer mehr als europaͤiſchen Wirkung war norwegiſch ; 
geiſtig, innerlichſt⸗ radikal auf Wahrheit dringend, auf das unerbittliche Faktum. 
Und bei naͤberem Auffaſſen der heutigen Bewegung im norwegiſchen Volkstum, 
ſo national, ja nationaliſtiſch begrenzt da manches auf den erſten Blick zu ſein 
ſcheint, bat man den Eindruck: bier wird ſich wieder ein geiſtig radikaler Wille 
Bahn brechen, deſſen reinigende, fordernde Kraft für ein weiteres Europa, ins · 
beſondere für die Menſchheit Mittel · Europas von großer Bedeutung werden kann. 

Im Juſammenhang mit dieſen ſtarken Jukunftskraͤften, die ſich im norwegiſchen 
Volkstum regen, wird eine Tatſache bedeutſam, die ſich dem, der ſich tiefer in die 
volklichen Juſtaͤnde der Norweger einlebt, bald genug aufdraͤngt: der Sprach⸗ 
ſtreit, der das ganze Land in zwei geiftige Lager zu teilen ſcheint. Ein europäifches 
Volk germaniſcher Abkunft, das um das Ganze ſeiner Sprache kaͤmpft mit ſich 
ſelbſt — fuͤrwahr ein ungewoͤhnlicher Fall heute. Für Menſchen des deutſchen 
Sprachbereiches, die ihr eigenes Volkstum als in großen Wandlungen begriffen 
erleben, doppelt merkwüuͤrdig und anziehend. Seit langem haben berufene Menſchen 
auf die gefaͤhrliche Tatſache hingezeigt, daß die europaͤiſchen Sprachen einen Grad 
der „Erleichterung“, der inneren Entwertung aufweiſen, der gleichbedeutend iſt 
mit einer Erlahmung des wahrhaft Lebendigen und der geiſtigen Ausſagekraͤfte 
in unſeren Sprachen. Fichte hat vor Joo Jahren jenen macht vollen Sinweis ge · 
geben, daß die Sprache als rein geiſtiges Element die wahre CLebensluft fei, in der 
ein Volkstum atmet. Erkrankt die Sprache, wird fie innerlich entwertet, unter 
Preisgabe ihres echteſten Wort- und Formgutes erleichtert und zerſetzt, jo bedeutet 
dies eine Todesbedrohung des Volkslebens. Ohne Zweifel ift auch die deutſche 
Sprache heute in tiefer, großer Bewegung, um wieder zu geiſtes wirklichen Aus · 
ſagekraͤften zu kommen. Aber dieſe geiftige Erneuerung und Verjuͤngung des 
deutſchen Sprechens weiß ſich doch ſtets eines Stammgutes von Woͤrtern und 
Formen ſicher, das nie ganz verloren ging und ſich in gerader Entwicklung, den 
WMetamorpbofen des Menſchen im deutſchen Sprachgebiet folgend, aus den ver- 
Zar XV 16 


226 umſchan 


gangenen Stadien der Sprache berleitet. Die geſchichtlichen Verhaͤltniſſe in Nor ⸗ 
wegen liegen von Grund aus anders. Es handelt ſich da um eine germaniſche 
Sprache, deren gerade Entwicklung aus dem Altnordiſchen abgebrochen und im 
Kerne geſpalten wurde. 

Wer auch nur eine Ahnung bat von altnordiſchem oder auch althochdeutſchem 
Sprachgeiſt, der wird doch einen unverlierbaren Einbeuck von der Serrlichkeit 
die er urlaͤndiſchen Sprachen haben. Im heutigen Jaolaͤndiſchen, das Volkstum 
der Inſel wurde durch norwegiſche Auswanderungszuͤge begruͤndet, hat ſich eine 
lebendige Spur davon erhalten. Der mächtige Jauber der altertuůͤmlichen Formen 
und Lautbunde zeugt noch heute von den großen Wirklichkeiten des Geiſtes, die 
in fie eingingen. Wirklichkeiten, die waͤhrend des bochnordiſchen Mittelalters in 
höherem Grade latent fortbeſtanden als in ſuͤdlicheren Gegenden. Erſt gegen Aus⸗ 
gang des Mittelalters ereignet ſich im ſkandinaviſchen Sochnorden der endgültige 
Juſammenbruch der urlaͤndiſch⸗germaniſchen Welt mit der Araft ihrer im Mythos 
feſtge haltenen Schauungen. Er bedeutet bier eine ſehr viel gefaͤhrlichere Meta⸗ 
morpbofe des ganzen Volkslebens als im deutſchen Bereiche, wo das Urlaͤndiſche 
ſehr viel früher der Auflöſung durch neue Weltkraͤfte ausgeſetzt war. Im God» 
norden werden innere Stadien laͤnger und reiner bewahrt als im mittleren Europa. 
Anderſeits treffen die großen geiſtigen Bewegungen, die bier entſchieden werden 
mußten in langen Bämpfen, im Sochnorden meift wie verfpätet ein, dann aber 
ſchon in voll gereifter Form. Und die Seftigkeit der Wandlung, zu der es dann bei 
der ebenbuͤrtigen Kraft des rein bewahrten Alten und des reif entſchiedenen 
Treuen kommt, kann an den Lebensnerv des Volkstums rühren. Allerdings 
gleichen das die ſkandinaviſchen Volker aus mit einer eigenen Gabe des Sich ⸗ 
ruhen - laſſens, die dem Menſchentum Mitteleuropas zum Verhängnis würde, 
waste es desgleichen. Jean Paul ſpricht es einmal aus: „Tiefnördliche Volker, wie 
Schweden, oder ſonſt abgeſonderte dürfen Jahrhunderte auf der Löwen haut 
ruhen und fie richten ſich doch als Löwen auf. Aber das waͤrmere Deutſchland, dem 
nicht die Saͤrte des Eiſens beiſteht, und an welches überall heiße Jungen lecken, 
dies bedarf eigener Regſamkeit gegen jede fremde, wenn nicht ſeine Eisberge an 
dem umgebenden Suden ſchmelzen ſollen. Der Teich Bethesda heilte nur bewegt; 
zarte Früchte erfrieren nicht auf Zweigen, die ſich regen — die Jeit hat uns bewegt.“ 

In einen ſolchen Loͤwenſchlaf fielen die Norweger gegen Ende des Mittel · 
alters jahrhundertelang. Das nordiſche Mittelalter war eine glanzvolle Durch ; 
deingung des jugendlich ⸗ feurigen Chriſtuskultes mit altheidniſchen, durch Sippen; 
heiligung bewahrten Schauenskraͤften. Und das Eindringen der Chriftusreligion 
war von Anbeginn tief verbunden mit dem norwegiſchen Aöͤnigswerk, gipfelnd 
in dem Maͤrtyrtod und Kult des fpäter heilig geſprochenen Aoͤnigs Olav, dem zu 
Ehren die herrliche Domkirche zu NMidaros (Trondhjem) erbaut wurde. Der Ju · 
ſammenbruch der mittelalterlichen Welt hatte zunaͤchſt verheerende Folgen für das 
Norwegertum. Nach innen ein ſcheinbares Erloͤſchen, eine Lethargie der eigenen 
kulturſchaffenden Volkskraͤfte. Nach außen hin politiſche Ohnmacht. Die 400. jaͤh· 
rige Oberherrſchaft der Dänen über die Norweger begann. Und zugleich damit als 
geiftige Bedrohung des Volkstums: die Brechung der Sprache. Außerlich bewirkt 
durch das Eindringen der daͤniſchen Sprache mit den Beamten und bald auch mit 
der pyroteſtantiſchen Geiſtlichkeit des daͤniſchen Koͤnigs. Ein keineswegs nur nach · 
teiliger Vorgang, denn es drangen mit dem daͤniſchen Element auch neue kulturelle 


Unſchau 227 


Schick ſalskraͤfte in das burgartig abgeſchloſſene nordiſche Alpenland ein. Bis da- 
bin war das Bauerntum der Saupttraͤger des Landes geweſen. Jetzt wurde es 
allmählich von einem neuen ſtaͤbtiſchen Element uͤberſchichtet. Neuzeitliches Aauf · 
mannstum, banfeatifche Unternehmer (Bergen), proteſtantiſcher Lehreifer, euro» 
paͤiſch ⸗ akabemiſche Wiſſenſchaft finden ihren Eingang und fördern die Staͤdte, 
züchten ein Buͤrgerherrentum, einen neuen Stand in dem Bauernlande. Der nor- 
wegiſche Bauer iſt freilich ſchwer mit dem Bauer anderer Länder zu vergleichen, 
am eheſten noch mit dem ſchweizeriſchen. Er iſt immer frei geweſen, von Urzeiten 
ber, ein Bauerntum mit adligen Jügen, alte Bönigsgefchledhter in ſich tragend, je 
der einzelne err auf eigenem of und Land. Und während die Bauern ihre alter · 
tuͤmlichen Dialekte weiter ſprechen, gebraucht der neue bůrgerliche Gebildetenſtand 
die Sprache der daͤniſchen Serren. Die Pfarrer predigen daͤniſch, die amtlichen Do · 
kumente werden auf daͤniſch verfaßt. Ja auch die Bauern ſchreiben daͤniſch, ihre 
Umgangsſprache erfährt keinerlei Pflege als Schriftſprache. 

Damit waren die Urſachen zu dem heutigen Sprachſtreit gegeben. Auch noch als 
das Erwachen der Norweger aus ihrem Tiefſchlaf begann — in der Jeit der 
kla ſſiſch⸗ romantiſchen Doppelbewegung (1814, nach den napoleoniſchen Kriegen 
loͤſten ſich die Norweger aus der Serrſchaft der Dänen) — dichteten ihre großen 
Dichter in einer Sprache, die der Daͤniſchen nahezu gleichbedeutend war. So vor 
allem der große Senrik Wergeland, wohl der wahre Genius der MWorweger, ihr 
Novalis, aber im Grunde mit niemandem vergleichbar. Erſt in der Mitte des 
19. Jahrhunderts ſpielte ſich jene neue Rulturlage ein, die fo bezeichnend werden 
ſollte für das neuere Norwegertum. Auf der einen Seite das Entſtehen einer 
geiſtigen Bewegung aus dem Bauerntum, mit dem Sauptziel: Erneuerung der 
Sprache auf der Grundlage des in den Dialekten noch bewahrten altnorwegiſchen 
Wort und Sormgutes (Ivar Aaſen wurde der Begründer dieſer neunorwegiſchen 
Schriftſprache, dem Lands maal, Landſprache). Ein genialer Bauer und Lehrer, 
der in den So er Jahren das noch lebendige alte Sprachgut aus den Dialekten ſam · 
melte. Er ſchrieb — ein norwegiſcher „Bruder Grimm“ — fein grundlegendes 
Woͤrterbuch und zeigte in eigenen Dichtungen die Kraft der bodenſtaͤndigen 
Sprache. Bald folgten andere Dichter feinem Beiſpiel, Vinje, Garborg, heute 
Olav Aukruſt. Die Volks hochſchul ⸗Seime, die ſeit 1864 nach dem Muſter der durch 
Grundtvig inſpirierten daͤniſchen Volks hochſchule auch in Norwegen entſtanden, 
wurden das erzie heriſche Werkzeug der Spracherneuerung durch Lands maal und 
die Lebensſtaͤtten der Jugend, insbeſondere der Bauernjugend. Eine ſtarke, wun ; 
dervoll beſchwingte Geiſtigkeit hat dieſe Schulen geſchaffen mitten in dem finfteren 
Jahrhundert: Man ſpuͤrt fie in den programmatiſchen Worten eines ihrer erſten 
Sübrer, des Chriſtopher Bruun: „Die Volkshochſchule will eine Jugendſchule 
fein, insbeſondere für junge Bauern beſtimmt. Sie will ihnen eine Stätte bieten, 
wo fie in der Jeit, während fie frei find von körperlicher Arbeit, ein echtes Jugend» 
leben führen koͤnnen, und Ruhe finden zu betrachtſamen Leben im Gedanken und 
im Traum. Eine Sauptſache gilt uns an dieſen Schulen: den Jungen Begegnung 
zu ſchaffen mit dem Adler der Begeiſterung, der um uns ſauſet auf breiten Schwin · 
gen. Ju dieſem Ziele fuhren wir fie hin zu den böchften Dichtern, die wir kennen“. 
Wan verſteht ſchon aus dieſen wenigen Worten, warum das Jugendleben an den 
Volks bochſchulen Norwegens unmittelbar und organiſch binüberführen konnte 
in die um J900 erwachende eigentliche norwegiſche Jugendbewegung. 

16° 


228 Umſchau 


Parallel mit dieſer geiſtigen Bewegung im Bauerntum ereignete ſich die ganz 
anders geartete, mehr auf das bürgerliche ſtaͤdtiſche Bulturelement geftägte kuͤnſt 
leriſche Bewegung von europaͤiſcher Jielweite. Die Szene der Sauptſtadt Ariſtiania 
wurde ihr Sammelpunkt. Unter dem Einfluß der beiden großen Dichter, Senrik 
Ibſen und Byͤrnſtjerne Bjoͤrnſon, wurde auch die auf dem Daͤniſchen fußende 
Stadt ſprache norwegiſcher (Riksmaal, Reichs ſprache). Beide Dichter ſchrieben 
Riksmaal. Aber in ihren Dichtungen gluͤht der ang eſtammte Volksgeiſt das 
daͤniſche Sprachelement innerlich um. Auch ein Schatz bodenſtaͤndiger Wörter 
wird eingegliedert. Und gleichzeitig ſetzt ſich auch die norwegiſche Ausſprache, die 
fruher verleugnet wurde, durch. Weuere Dichter haben dieſe Umpraͤgung des daͤ⸗ 
niſchen Sprachelements in die norwegiſche Art weiter zu foͤrdern geſucht: Anut 
Samfun, Sigrid Undſet. Aber es bleibt bei alledem doch bei der daͤniſchen Formen ⸗ 
le hre und gegenüber Lands maal und den oft ſehr ſchoͤnen Dialekten bei der drme- 
ren Wortkraft. Judem eignet dem Riksmaal als der Umgangsſprache der Staͤdter 
gern jene fatale Erleichterung des modernen Sprechens, jenes Juſchnell · und Ju⸗ 
vielſagen des im Grunde kulturarm gewordenen Jiviliſations · Gebildeten. Es zeigt 
deutlich die noch nicht uͤberwundene Schwaͤche aller europaͤiſchen Spaͤtſprachen 
— den Mangel an geiſtigender Wortkraft, die Überwucd erung durch Fremdworte, 
das bürgerliche Konventionelle. 

Zier ftebt heute der Rampf um die lebendige Sprache in Norwegen. Lands maal 
hat heute durch die Jaͤhigkeit ſeiner politiſchen Beauftragten an Einfluß gewon⸗ 
nen, auch in den Städten. Es ift heute als Pflichtfach in allen Schulen eingeführt. 
Sat dabei aber als ſprachſchoͤpferiſche Bewegung zunaͤchſt an innerer, geiſtiger 
Kraft eingebüßt. Zumal es ein Teil feiner Anhaͤnger mit einem zu engen, zu blut⸗ 
glaͤubigen „volklichen Nationalismus“ verknüpft, woraus leicht eine verhaͤngnis · 
volle Semmung tieferer geiftiger Entwicklungen entſtehen Könnte. Die Riksmaals · 
leute werfen ihre großzuͤgigere europaͤiſche Einſtellung in die Wagſchale, haben 
aber eine Mitlaͤuferſchaft, welche der Sache der Stadtſprache einen unverkennbar 
buͤrgerlich reaktionaͤren Anflug gibt. Es ift bezeichnend, daß die ungewöhnlich 
zahlreichen und tätigen norwegiſchen Bommuniften neuerdings auch Intereſſe 
zeigen für die doch fo betont nationale Lands maalſache. 

Die Norweger hoffen auf eine gegenſeitige Annäherung der beiden ſtreitenden 
Sprachgruppen, auf eine Juſammenſchmelzung der beiden Spracharten. Daran 
mag ein wahrer Bern fein. Soll man aber, obſchon auslaͤndiſcher Beurteiler, 
glauben, daß geiſtige Lebens fragen anders als durch geniale Einſeitigkeit ent; 
ſchieden werden? Es ſind in der norwegiſchen Bauernjugend, wenn man ihr auf 
den Kern gebt, fo reine, ſtarke, religiòs tiefſchwingende, wahrhaft geiſtige Bräfte 
am Werke, es iſt in dieſer Jugend ein dem Volksgeiſt fo empfaͤnglicher Boden be- 
reitet, waͤhrend anderſeits auch in der ſtaͤdtiſchen, insbeſondere der ſtudierenden 
Jugend ſich ſtarke, friſche und einſichts volle Elemente regen, daß man glauben 
mochte: Der Jukunftswille, der ſich aus der Bauernjugend zu regen beginnt, wird 
einmal aufgenommen werden von den beften Bräften der ſtaͤdtiſchen und iſt ſomit 
gewiß, das ganze Volkstum geiſtig zu ergreifen. 

man hat den Eindruck, daß ſich hinter den Gewaltſamkeiten und oft ſeltſamen 
Erſcheinungen des norwegiſchen Sprachſtreites eine tiefere Tatſache verbirgt: 
Die Sprache eines ganzen Volkes macht ſich bereit, zu friſchen, geiſtig verjüngten 
Kräften zu kommen, um — „wenn es an der Jeit iſt“ — vollguͤltig kuͤnden zu 


umſchau 229 


konnen von einer großen Verwandlung im Menſcheninneren, von dem großen 
Schauenskampfe des kommenden Menſchentums. Denn ſchauensſeeliſch im tiefſten, 
im Chriſtus · Sinne, iſt die Gabe der norwegiſchen Volksart. Erich Trummler 


. g Als ich als junger Arzt vor 20 Jahren in 
Die . Couciemus Piychofe der Naͤhe von St. Gallen in einem Sa ; 
natorium taͤtig war, da ſprachen die Bauern am Bodenſee veraͤchtlich von dem 
Grafen, der in der Luft über den Bodenſee fliegen wolle. 21 Jahre fpäter erlebte 
ich in der Schweiz eine Jeppelinpſychoſe, als jung und alt auf die Straße eilte, um 
den letzten großen „Jeppelin“ zu bewundern und zu begrüßen, der vor feiner Ab⸗ 
fahrt nach Amerika der Schweiz einen Beſuch abſtattete; was wurde da nicht alles 
geredet, vernünftiges und unvernuͤnftiges. Das ſtolze Cuftſchiff flog aber ruhig 
dahin und ließ ſich durch das Gerede der Menſchen nicht irre machen. Wie lang hat 
es gedauert, bis auch Couè ſich durchgeſetzt hat. Seute, wo die Methode Couè von 
Nancy aus ihren Siegeszug angetreten hat, wo gewiſſermaßen alle Welt zu einem 
Urteil herausgefordert wird, ift es erklaͤrlich, daß ſowohl von ſeiten der Anhaͤnger 
wie der Gegner mancherlei Übertreibungen ſich geltend machen. 

Junaͤchſt darf man nicht vergeſſen, daß der Apotheker Eoue hervorgegangen iſt 
aus der Nancyer Schule, welche ganz auf Suggeſtion eingeſtellt war. So iſt es er- 
fHaͤrlich, daß Coue bei feinem offentlichen Auftreten und bei feiner Behandlung zu⸗ 
erſt unbewußt wieder von der Suggeſtion aus geht, um zur Autoſuggeſtion über- 
zuleiten. Die bei den öffentlichen Vorträgen erzielten Seilerfolge find ſelbſtverſtaͤnd⸗ 
lich auf Suggeſtion und nicht auf Autoſuggeſtion zuruckzufuhren. Das Geniale 
in der Methode Coueès beſteht aber darin, daß er nicht bei der Suggeſtion ſtehen 
bleibt, ſondern die Aranken immer wieder anleitet und auffordert, zu Sauſe ſofort 
zur Autoſuggeſtion uͤberzugehen. Man darf alfo nicht die offentlichen Vorträge 
zugrunde legen, um nun die Methode Couè zu kritiſieren und zu analyſieren. Man 
muß mit Menſchen ſprechen, die jahrelang krank und hilflos waren und die durch 
ſeine Methode zu ganz neuen Menſchen wurden. Sie ſind nicht bloß geſund 
geworden, fondern fie haben ihre ganze Lebensweife und Lebens- 
führung umgeſtellt. Es hat eine völlige Wiedergeburt ſtattgefun⸗ 
den, die zu einer Erneuerung von Börper, Seele und Geiſt führte! 

Geiſtige Seilweife hat es ſchon immer gegeben, verbläffend iſt nur die Einfach · 
heit der Technik in der Methode Toue, welche ſpielend von der Suggeſtion zur 
Autoſuggeſtion überleitet. Seilerfolge, wie fie Coue erzielt, haben auch andere in 
aͤhnlicher Weiſe aufzuweiſen. Ich erinnere nur an Seilpaͤdagogen Engel in Bonn, 
deſſen Erfolge kaum hinter denen Toutes zuruͤckbleiben. Engel war urfpränglid 
Cehrer und entdeckte erſt ſpaͤter feine Begabung zur geiftigen Seilweiſe. Er hat 
auch feine eigene Methode und nennt ſich Seilpaͤdagoge. Im Gegenſatz zu Coue 
ging Engel vom Sypnotismus aus. Er iſt völliger Autodidakt und hatte nicht den 
Wunſch, feine Art der Behandlung zu einem Syſtem, zu einer „Methode "auszur 
arbeiten. Dagegen bei Coue, welcher zuerſt ganz im Banne der Schule von Nancy 
ſtand, lag es nahe, gleichzeitig von der Theorie zur Praxis und von der Praxis zur 
Theorie uͤberzugehen oder, beſſer geſagt, beide zu verbinden. 

Ein wirklicher Einklang von Theorie und Praxis iſt aber meines Erachtens bis 
jetzt nicht erzielt worden, bier liegt die Schwaͤche des ſogenannten Couéèismus. 
Vielleicht iſt es den Deutſchen vorbehalten (Schweizern wie Reichsdeutſchen), die 


230 Umfbau 


methode Couè auch theoretiſch zu vertiefen, damit fie allen Anforderungen ge · 
nügt. Es gilt immer mehr von der Suggeſtion loszukommen und die Autoſugge · 
ſtion rein zu entwickeln. Bei der Suggeſtion beſteht zu ſehr die Gefahr, naturliche 
Semmungen zu überfpringen. Man will Seilerfolge und uͤberrumpelt gewiſſer ; 
maßen den Kranken. Dagegen bei der Autoſuggeſtion kommen die naturlichen 
Semmungen im Menſchen ungeſtöͤrt zu Wort. Dann aber werden wir entdecken, 
daß die Semmungen bei den Menſchen verſchieden find, der Eine iſt mehr auf die 
Vernunft, der andere mehr auf das Gewiſſen eingeſtellt. Bei einem dritten iſt der 
Inſtinkt ſo ſtark entwickelt, daß er ſich von ſelbſt gegen jede Suggeſtion auflehnt, 
die feinem Weſen nicht entſpricht. In der Suggeſtion überwiegt der Wille des 
Seilers, in der Autoſuggeſtion dagegen kommt mehr das Weſen desjenigen zur 
Geltung, der geſundheitlich⸗koͤrperlich oder ſeeliſch⸗geiſtig umgeſtellt fein will. Mit 
anderen Worten: In der Suggeſtion wie in der Autoſuggeſtion kann auf die 
Dauer nichts unternommen werden, was gegen die eigene Vernunft, das eigene 
Gewiſſen und gegen den eigenen Inſtinkt verftößt. Solche Verſtöͤße werden bei 
der ſuggeſtiven Methode viel leichter vorkommen als bei der Autoſuggeſtion. Sie 
kommen auch viel ſpaͤter zum Bewußtſein, ſchon aus dieſem Grunde iſt es wün- 
ſchenswert, daß der heutige Coueis mus, bildlich geſprochen, von den Eierſchalen 
der Mancper Schule, aus der er hervorgegangen iſt, gänzlich befreit wird. Ge · 
ſchieht es nicht, fo beſteht allerdings die große Gefahr, daß ein recht zeitiges Ein · 
greifen des Fachmannes verhindert wird. Man braucht ja nun nicht gleich den 
Staatsanwalt herbeizurufen, es iſt ſchon von ſelbſt dafuͤr geſorgt, daß „die Baͤume 
nicht in den Simmel wachſen“ ! Schon das Entſtehen der Vereinigung der Freunde 
der Methode Coues, die Herausgabe der Jeitſchrift für angewandte Pſychologie, 
das ernfte Beſtreben, die Methode Coueè zu vertiefen, wiſſenſchaftlich auszubauen, 
find deutliche Beweiſe dafur, daß der nüchtern abwaͤgende geſunde Menſchenver⸗ 
ſtand im ſtillen tätig iſt, um das Befunde und wertvolle der Methode Toue in 
die Seilkunſt, in die Paͤdagogik und andere Gebiete der geiſtigen Welt aufzu- 
nehmen. 

Wenn man ganz objektiv den Coueismus betrachtet, wenn man „sine ire et 
studio”, d. h. ohne Voreingenommenheit und ohne Enthuſiasmus Vorteile und 
Nachteile abwägt, fo kann man folgende Tatſachen feſtſtellen: Wie fo oft in der 
Geſchichte der Seilkunſt, der Erziehung, der Seelenlehre uſw. war es wiederum ein 
Outſider, der eine große Entdeckung gemacht hat, die erſt bekaͤmpft wird, dann 
übertrieben Soffnungen erweckt, bis ſchließlich nach längerem Sür und Wider das 
Wertvolle und Dauerhafte in den geiſtigen Schatz der Menſchheit aufgenommen 
wird. Was die Fachgelehrten nicht entdecken konnten, das fand ein Laie. Gewoͤhn · 
lich ſpricht aber der Laie eine einfachere, verſtaͤndlichere Sprache, als die Fachleute. 
So kommt es, daß die neue Entdeckung viel ſchneller in die breiten Maſſen ein- 
dringt, als es der Fall iſt, wenn ein Wiſſenſchaftler eine Entdeckung macht. Man 
würdigt noch viel zu wenig die Tatſache, von welcher Bedeutung für die zukunftige 
Entwicklung der Menſchheit die Entdeckung Coues iſt, daß bewußter Wille und 
Unterbewußtfein ſich gegenůberſtehen wie Feuer und Waſſer. Man ſtaunt heute, 
daß ſo eine einfache Tatſache ſo lange verborgen bleiben konnte. Wenn das, was 
Couè gefunden bat, erſt einmal Gemeingut der Wiſſenſchaft geworden fein wird, 
dann werden Seilkunſt, Erziehung und andere geiftige Diſziplinen eine noch nicht 
abſehbare Bereicherung der Wiſſenſchaft herbeifuͤhren. 


Umfben 231 


Auf der anderen Seite iR die Methode Coueꝰ ſelbſtverſtaͤndlich nicht der Weis ⸗ 
beit letzter Schluß. Sie iſt ſelbſtverſtaͤndlich nichts anderes, als ein Glied in einer 
großen Kette. Einige Glieder dieſer Kette will ich nur kurz andeuten: Sypnoſe, 
Suggeftion, Autoſuggeſtion. Die naͤchſten Glieder kennen wir jetzt noch nicht. 
Aber das Eine kann man heute bereits fagen, immer deutlicher kommt den Men ⸗ 
ſchen die „Macht des Geiſtes“ zum Bewußtfein. Damit iſt aber auch gleich ⸗ 
zeitig angedeutet, daß die Welt des Wollens, des Machens im Schwinden begriffen 
iſt, daß wir auf allen Gebieten immer mehr von der Dreſſur, von der willens ⸗ 
mäßigen Beeinfluſſung des Menſchen übergeben werden zum ſtillen Entfalten der 
inneren Anlagen, die wir dann nur noch geiſtig zu hegen und zu pflegen brauchen. 

Aarl Strünckmann 


€ ; Die Medizin be; 
Sans Bluͤber, Eine mediziniſche Streitfchrift” 5 


ner ſchweren Beifis. Seit jener bedeutende deutſche Chirurg fein Bekenntnis 
zu Paracelſus abgelegt bat, iſt die Sache publik, und das Verhaͤngnis nicht mehr 
aufzuhalten. In kurzer Jeit wird man ſich über die mediziniſchen Grundprobleme 
fo aufregen, wie vor 25 Jahren (als wir anfingen, die Jugendbewegung in Bang 
zu bringen) bis kurz vor heute über die Pädagogik. Die Medizin iſt die Wiſſenſchaft, 
die heute mit ihrer Kriſis ſichtbarlich dran iſt. Da dieſe aus dem Tiefſten und Ur⸗ 
ſpruͤnglichen ſtammt, in welchem ſich die Anhänger nicht mehr zurechtfanden, fo 
beginne ich mein Buch mit dem „Abfall des Sippokrates von der Prieſtermedizin 
der Asklepiaden“. Da aus allem, was die Brifen jedweder Wiſſenſchaft nicht be- 
ftebt, die katholiſche Airche heute ihren größten Nutzen zieht, fo beſchließe ich den 
Traktat mit der „katholiſchen Medizin des Emile Coué“ und zeige dabei, was ein 
Proteſtant iſt. Die Mitte nimmt die „heilige Arankheit“, oder die NWeuroſen, ein. 
meine Schlußabrechnung gibt jedweder Pſychologie, beſonders aber der Pſycho⸗; 
analyſe. Der Anwurf, ich fei ein Pbilofopb und verſtuͤnde daher nichts von der 
medizin, wird bier nicht mehr ſitzen, denn ob gleich die Philoſophie alles regiert, 
fo ſtammt dieſes Mitteltäd doch durchaus aus der Praxis; ich meine das woͤrtlich 
und verſte he darunter eben das, was die Mediziner unter einer Praxis verſtehen. 
Ein reichliches Jahrzehnt der Behandlung von Nervenkranken (Weurotikern) 
lehrte mich, daß alle Weuroſenlehren, die beute im Schwange find, trotz ihrer 
Plauſibilitaͤt an entſcheidender Stelle ein empfindliches Manko haben. Ich babe 
in den Kapiteln über die „Seilige Krankheit“, über „Metaphyſik und Ethik“, ſowie 
über den „Patbologifden Ort“ den Charakter dieſes letzten zu zeigen verſucht. 
Ich weiß, daß dieſes Buch denjenigen Medizinern, die auf Grund der Berufs · 
ſtatiſtik Arzte wurden, ebenſo unverſtaͤndlich bleiben wird, wie die Berufung 
Auguſt Biers auf Paracelſus; mit den anderen aber, die von der Natur zum Arzte 
beſtimmt ſind, werde ich mich leicht verſtaͤndigen. Sans Blüber 


Charakterologie Hingt vielleicht man- 
Moderne Charakterforſchung VV Be 
oder wie Phyſiognomik, bei denen dilettantiſche Offenbarungen und Konſtruk · 


Einzelheiten erfaͤhrt man am beften aus der einzigen von Coue veröffentlich · 
ten Arbeit: Die „Selbftbemeifterung”, m. Benno Schwabe in Baſel. 
** Biüber, Traktat über die Seilkunde, Leinen m 6.—. Verlag Diederichs, Jena. 


232 umſchau 


tionen die ernſthaften Bemuͤhungen und Beobachtungen noch erheblich überwiegen. 
Und nicht zu leugnen iſt, daß auch auf dem Gebiete der Charakterologie allerlei 
bloßes Gerede und Getue ſich breit macht. Um fo mehr iſt es zu begrüßen, daß jetzt 
die wirklich wiſſenſchaftlichen Beſtrebungen in einem fortlaufenden Jahrbuch von 
vielen Mitarbeitern zuſammengefaßt werden. Denn biefe Disziplin iſt von ſehr 
praktiſchem Wert, nicht nur für allerlei Wiſſenſchaften, wie Geſchichte, Literar / 
hiſtorie uſw., auch der Arzt, der Seelenarzt vor allem, der Richter, der Lehrer 
konnen fie gebrauchen. Die ſeit Dilthey aufgebaute pſychologiſche Typenlehre und 
Strukturpſychologie, die ſeither von bedeutenden Forſchern (in Sprangers „Lebens ⸗ 
formen“, Jaſpers „Pſychologie der Weltanſchauungen“ ufw.) weitergeführt wor ; 
den iſt, hat das Intereſſe fuͤr die Probleme der Individualitaͤt ſehr belebt, und alle 
dieſe Unterſuchungsweiſen konnen den Sinn und das Verſtaͤndnis für die Perſoͤn⸗ 
lichkeit und ihren Wert erhohen. 

Zur Einfuhrung dieſes Jahrbuches der Charakterologie, das im Pan · Verlag von 
Rolf Seife in Charlottenburg erſcheint, hat der Herausgeber, der Sallenſer Pſycho⸗ 
loge Emil Utig, gleichzeitig mit dem erſten Band eine ſyſtematiſche und breite Dar⸗ 
ſtellung des ganzen Wiſſensfeldes vorgelegt, die im ſelben Verlag unter dem Titel 
„Charakterologie“ erſchienen iſt. Er beſtimmt da zuerſt die Grundbegriffe, darunter 
fo moderne Vorſtellungen wie die charakterologiſche Bedeutung des Körperlichen, 
der Kleidung, der Umwelt, zeigt auch die Vieldeutigkeit all dieſer Erſcheinungen 
und ihrer Wirkungen und bengemäß die Grenzen der Charakterologie; in einem 
zweiten Teil wird ein geſchichtlicher Überblick uͤber den bis herigen Weg der For⸗ 
ſchung gegeben, von den Anfängen der Phyſiognomik an, und dabei werden fo 
intereſſante Themen wie die Tierphyſiognomik, die experimentelle Phyſiognomik, 
die Verbindungen zwiſchen der Phyſiognomik mit der Vererbung einerſeits, mit 
der Umwelt andererſeits, auch die Beziehungen der Phyſiognomik zum Börperbau 
erörtert ; die Phrenologie, die Schaͤdellehre Balls und anderer kommt zur Sprache, 
weiter die Temperamentenlehre der Antike und die der Neuzeit; es iſt die Rede von 
kirchlicher und hoͤſiſcher Charakterologie, von kuͤnſtleriſcher Charakterlehre, ſchließ · 
lich von den modernen Stroͤmungen der Pſychographik, der Pſychoanalyſe und der 
Berufspſychologie. Der letzte Teil behandelt die verſchiedenen Arten menſchlicher 
Charaktere, alſo Berufscharaktere, weltanſchauliche, ethiſche, Volks und Jeit- 
charaktere uſw. Man ſieht, es iſt nicht nur ein weites Feld, das hier beackert wird, 
es find auch Fragen, die keineswegs bloß den Gelehrten angeben. Und die Art, 
wie der Autor die Dinge anfaßt und fie dem Leſer handlich macht, iſt durchaus ge- 
eignet, den gebildeten Laien anzuziehen. Die Sprache iſt allgemein verſtaͤndlich und 
fläffig, der Verfaſſer iſt gewohnt, auch zu Leſern außerhalb der vier Fakultaͤten zu 
ſprechen, er hat die Gabe, abſtrakte Dinge konkret auszudrucken. Er ſelbſt gehort zu 
einem wiſſenſchaftlichen Typus, der nicht einige wenige Sauptlinien ſcharf heraus · 
arbeitet, die vielleicht neu gefunden oder neu betont ſind, ſondern der die ganze 
Breite der Erfahrung auch in feiner Darſtellung beruͤckſichtigt und durch Beiſpiele 
immer in FHühlung mit dem Leben bleibt. Eine Fulle von Welt- und Menſchen · 
kenntnis iſt in dieſem Werke niedergelegt, und die Ruhe und Geduld der uͤberſchau, 
die das Bewußtſein dieſes Reichtums ſtets erneuert, ohne doch verwirrend zu 
wirken, iſt ein beſonderer Wert des Buches. 

Der erſte Band des Jahrbuches der Charakterologie enthält u. a. einen Aufſatz 
von K. Klages über die pſychologiſchen Errungenſchaften Nietzſches, eine Arbeit 


Umfdau | 233 


von A. Liebert über Bants geiftige Beftalt, eine weitere von Gerhard Geſemann 
über die Grundlagen einer Charakterologie Gogols — Charakterologie eines Dich. 
ters iſt etwas anderes als Charakteriſtik feines Bünftlertums, jene geht immer auf 
das Menſchliche, Perſoͤnliche. J. Cindworsky ſchreibt über die charakterologiſche 
Bedeutung der Exerzitien des heiligen Ignaz von Loyola, Burt Sildebrandt, der 
aus dem Georgekreiſe kommt und u. a. zwei gehaltreiche Baͤnde über Norm und 
Entartung des Menſchen und Worm und Verfall des Staates geſchrieben hat 
(Sybillen · Verlag Dresden), handelt über den Gelehrten, $. Walter über die koͤrper⸗ 
lichen Grundlagen der geiſtigen Perſoͤnlichkeit. Auch dieſes Werk umſpannt eine 
Fulle von Geiſt und ganz modernen Forſchungsergebniſſen. Der zweite und der 
dritte Band erſcheinen ſoeben, der vierte iſt in Vorbereitung. Er ich Evertb 


Das iſt der Titel eines umfangreichen 
Der Venſchen ſuchende Gert Drebistbandes von D. Dr. Chriſtian 
Geyer, der im Greifen verlag erſchien. Bann der heutige Menſch noch Predigten 
lefen? Iſt es nicht ſchrecklich, wenn in unſerem papierenen Zeitalter, das jahrlich 
viele Tauſende von neuen Büchern bringt, auch das Geſprochene, das Wort der 
Verkuͤndigung, das Unmittelbarfte von Menſch zu Menſch, noch aufs Papier ge · 
bannt wird? 
Auch angeſichts des Geyerſchen Buches kann ich nicht mit einem ungehemmten 
„Ja“ antworten. Bei ihm wie bei Barthſchen oder Dehnſchen Predigten (um nur 
ſolche zu nennen, die wirklich etwas zu ſagen haben) iſt eben die Brechung durch 
das „Papier“ verheerend, ebenſo wie bei dem „Worte Gottes“ felbft, das dieſe 
irdiſche Not tragen muß! Aber jene Brechung und Einſchraͤnkung vorausgeſetzt, 
darf man doch mit beſonderer Freude auf dies nun einmal erſchienene Buch bin · 
weiſen; denn: 

I. Es iſt eine geiſtige Mächtigkeit und Durchdringung der geiſtigen und realen 
Gegenwartsnoͤte darin, die ſich nicht fo leicht wieder findet. So ſchlicht die Predigten 
jeden anmuten, ſo ſehr erkennt der, welcher dem Pulsſchlag der Jeit lauſcht, daß 
bier wirklich gearbeitet worden iſt, ehe geredet wird. Das faͤllt im Vergleich zu der 
vielen andersartigen Predigtliteratur naturlich auff 

2. Der Verfaſſer ſelber verdient dadurch beſondere Aufmerkſamkeit, daß er lange 
Jahre mit Rittelmeyer zuſammenging, mit ihm die beiden vielbeachteten Predigt⸗ 
baͤnde „Gott und die Seele“, „Leben aus Gott“ vor etwa 20 Jahren ſchuf, dann 
aber den Weg Rittelmepers nicht mitging, obwohl er mit einem Ernſt, den nur 
wenige Theologen aufbrachten, den in der Anthropoſopbie geſtellten Fragen ins 
Angeſicht fab. 

3. Geyer weiß um den tiefſten Motſchrei der Jeit. „Das iſt das Charakteriſtiſche 
unſerer Jeit“, heißt es in der Predigt über Cukas 9, 5562, einem der wichtigſten 
Bibeltexte, die es gibt, „daß wir alle fo geteilten Serzens find”. Geyer wagt es, 
gegen dieſe Geteiltheit und Jerriſſen heit wenigſtens das Wort der Predigt zu ſtellen. 
Wir würden vielleicht nicht einmal das wagen, ſondern nur in abfoluter Semmung 
predigen, daß wir dieſe Jerriſſenheit zu tragen, auszutragen haben nach ihrer 
ganzen Tiefe und darin ſelig geprieſen find — wenn wir nur um die Möglichkeit 
der Erloſung wiſſen. Aber wir freuen uns, wenn einer, der doch wohl dazu berufen 
iſt, das Wagnis des Glaubens ſo voll Weisheit und Mut darzuſtellen wagt. Denn 
das darf man ſagen: das Poſitive tritt bei Geyer in beſonders inniger und zarter 


234 umſchau 


Weiſe zutage. Nicht das überlebte, intellektuell ⸗ kalte Poſitive der „Poſitiven“, 
auch nicht das Poſitive derer, denen doch wieder ihre kirchliche ober politiſche Partei 
die Sauptſache iſt, ſondern das Poſitive, das da fein follte und deſſen wir alle 
warten. 

Der Geyerſche Predigtband bedarf einer Erganzung und wird fie (im gleichen 
Verlage) erhalten. Geyer wird ſelbſt mitarbeiten, aber es foll der Ruf eines oder 
beſſer mehrerer Breife von Predigern fein. Über den Sinn dieſer Ergänzung wird 
dann nach Erſcheinen des Bandes noch zu handeln ſein. Sans Sart mann 


: Nicht nur auf wirtſchaft · 
Die neue Sachlichkeit in der Schule 5 


Gebiete ſpuͤren wir etwas von dem Anbruch einer neuen Sachlichkeit, ſondern ſie 
greift auch ins Auͤnſtleriſche und Geiſtige über. Es mag erinnert werden an den 
„Sachſtil“ des Aunſtgewerbes, an die ſtrenge Saltung der neuen Induſtrie ⸗, Sallen- 
und Siedlungsbauten etwa von Behrens, Mutbefius, Teſſenow. Und es iſt eine 
merkwuͤrdige Tatſache, daß die großen Meiſter der Baukunſt gleichzeitig die Ver⸗ 
treter einer bedeutenden Sachlichkeit ſind. Ahnliche Beobachtungen ſind bereits in 
der Muſik zu machen: die im ⸗ und expreſſioniſtiſchen Individualiſten verlieren an 
Boden, und die Hlaſſiſche Sachlichkeit Paleſtrinas und Bachs weiſt aufs neue die 
Richtung: Symptome dafuͤr finden ſich ſchon bei Reger, Buſoni, Pfitzner, ſelbſt 
bei den modernen Verfechtern des rigoroſen Rontrapunktes, deutlicher aber wird 
der Verlauf in der von Auguſt Salm und Fritz Joͤde geführten Muſikbewegung 
der Jugend. Es iſt eine deutliche Abſage an den Rauſch. Wenn man in der Freien 
Schulgemeinde zu Wickersdorf taͤglich mit Praͤludium und Fuge von Bach den 
Morgen einleitet, fo darf an ein Motto gedacht werden im Sinne von Georges: 
„Und heilig nuͤchtern hebt der Taglauf an“; 

und dies „beilignüchtern” Hingt uns ſchon bei Soͤlderlin“ entgegen, es iſt das Leit - 
motiv der neuen Sachlichkeit, wobei der Begriff des „Seiligen“ weniger religiös 
als im Sinne von Wert und Wurde gemeint iſt. 

Schon nach dieſem Einblick wird man gewahr, wie ſchief und innerlich unzu- 

laͤnglich die Idealiſtik des ſog. Perſoͤnlichkeitszeitalters war. Es war eine außer⸗ 
ordentlich flache und nicht einmal zutreffende Lehre, daß jeder Menſch zu einer 
Heinen oder großen Perſoͤnlichkeit erzogen werden konnte. Es war eine Pbilifter- 
weis beit ohne Maßftab, die dem einzelnen ſchmeichelte, aber dabei uͤberſah, daß 
„ Perſoͤnlichkeit“ ein Geſchenk der Gnade iſt. Daran ändert auch ein falſch ge- 
deutetes, viel zitiertes Goethewort vom „Glück der Erdenkinder“ nichts. Erſt mit 
der ſozialen Wendung der neueren Paͤdagogik entdeckte man, daß alles auf Singabe 
an die Sache, Aktivität des Ichs nicht für ſich ſelber, ſondern für die objektiven 
Werte ankam. Und ſo ergibt ſich, daß die paͤdagogiſche Wendung zur Sachlichkeit 
zugleich eine ſoziale Wendung war, die ebenfalls gleichzeitig der Erkenntnis vom 
Wefen der Perſoͤnlichkeit viel naher kam als jede vorige Periode. 
Es wird noch einer Verdeutlichung deſſen bedürfen, was hier mit der Sachlich · 
keit in der Paͤdagogik gemeint iſt. Klingt der Begriff nicht etwas erfältend in einer 
Zeit, da von den menſchlichen Beziehungen zwiſchen Lehrer und Schüler, von der 
pgl. E. Troß, Die neue Sachlichkeit, Frankfurter Itg. Nr. 659; A. Ehrentreich, 
Die Sachlichkeit der Myſtik, Fr. Itg. Nr. 697. (1925). In dem ſpaͤten Gedicht 
„Saͤlfte des Lebens“. 


umſchau 235 


Schulgemeinſchaft fo viel geſprochen wird? Demgegenüber muß geſagt werben, 
daß die neue Sachlichkeit nur die eine Seite eines Vorganges iſt, der vom entgegen: 
geſetzten Ende gefeben als die Wendung zu einer neuen Menſchlichkeit zu um- 
ſchreiben iſt. 

Um kurz auf die Erſcheinungs formen der neuen Sachlichkeit in der Schule zu 
weifen: gemeint ift hier naturlich nicht jene ſog. ſachliche Behandlung von Ge 
ſinnungsfaͤchern, die unter einem neutralen, „objektiven “ Mantel lebentötend und 
auslaugend wirkt. Eher konnte zunaͤchſt „ſachlich“ in einem ganz materiellen und 
praktiſchen Sinne verſtanden werden: das Gewicht der Sachfaͤcher, wie der Natur⸗ 
wiſſenſchaften (Aerſchenſteiners Sorberung des techniſchen Gymnaſiums ), des 
Turnens und Sportes nimmt dauernd zu, und dem entſpricht eine ſtaͤrkere Ab⸗ 
wendung von der nur theoretiſchen, abſtrakten Geiſtigkeit. Doch iſt das mehr eine 
Parallele zur Technik und Sygiene, während uns gerade die Parallele zur neuen 
menſchlichen Geſinnung von Wichtigkeit iſt. 

Ganz hierher gehoͤrt aber Wynekens Lehre vom „objektiven Geiſt“, der Verſuch 
einer Kebensftätte für eine objektive Kultur in der Wickersdorfer Schulgemeinde. 
Auch hier zeigt ſich als Korrelat zu einem neuen menſchlichen Daſein der Jugend 
eine neue Sachlichkeit, die ſich nun auf den Bulturgebalt bezieht und aus dem 
wahlloſen Ablauf der Geſchichte brſtimmte normative Werte aus waͤhlt. Das Leben 
wird von ſeiner geiſtigen Seite aus unter einer beſonderen Wertigkeit, nach einem 
vereinbarten großen Maß betrachtet. 

Man hat dieſem Verſuch eines neuen hohen Sachin halts der Erziehung ent- 
gegengehalten, daß die Norm dieſer „objektiven Aultur“ ſchließlich doch von 
einem einzelnen (oder von wenigen einzelnen) kuͤnſtlich geſetzt wurde, daß fie an 
ſich nicht da iſt. Unſere Zeit iſt ja durch ihre Normloſigkeit charakteriſiert, „unſre“ 
Aultur iſt wahrſcheinlich erſt im Werden, fo wie die neue Geſellſchaft erſt im 
werden it (Fritz Barfen). So hat eine beſtimmte Erziehungsrichtung auf inbalt- 
liche Strierungen verzichtet und die Sachlichkeit lediglich durch die Methodik, durch 
die Arbeits weiſe zu gewinnen geſucht. Das wäre der zweite bedeutende Weg, den 
die Arbeit der Gemeinſchaftsſchulen und der Schulreform darſtellt. Die Abkehr 
vom Dozententum des Lehrers und die Aufnahme der kooperativen Arbeits ſchul · 
weife war das Ergebnis. Jedenfalls, in dieſem wie in jenem Falle, zieht ein neuer 
Sachſtil in die Schule ein. Alfred Ebrentreich 


Der Menſch will lieber nicht leben, als ohne Sinn 
Deutfche Schickſale ſeines Lebens zu leben, meinte Doſtojewski. Ja, 
aber für die meiſten Menſchen iſt der Weg zu ſolchem Sinn des Lebens nicht der des 
Denkens und Gruͤbelns. Sie wollen ſchauen: im Bilde beifpielbafter Menſchen 
feben fie die Simmel und Sollen der eigenen Bruſt. In der Aunſt, die ſolche Ge⸗ 
ſtalten ſchafft, leben wir ein zweites, erhöhtes Leben: Was unſer eigenes Daſein 
nur verworren, bruchſtuͤckhaft und noch unuͤberſchaubar zeigt, das lebt hier als 
Ganzes, fügt ſich zum Bild, ſchließt Beginn und Sende irgendwie ſinnhaft zuſammen. 
Ceben helfen — gibt es eine ſchoͤnere Rechtfertigung aller Bunft? Und drum bleibt 
der Menſch dem menſchen immer das Intereſſanteſte. Und nie wird die Luft er · 
ſterben, beim Dichter: Menſchenſchickſale zu geftalten, und bei uns allen: uns ſelbſt 
in dieſem Spiegel zu feben. 
Aber es iſt ein Unterſchied, welche Art Menſchen uns der Spiegel zeigt. Sicher · 


236 umſchau 


lich: der echte Dichter vermag uns Fremdeſtes nahe zu bringen; noch unter der Mas; 
ke fernſter Zeiten und fremdeſter Volker erkennen wir dasſelbe Menſchenantlitz. 
Aber fo unmittelbar und ohne alle bildungs maͤßige Reflexion zuganglich — oder 
gar zu kuͤnftigen Weggenoſſen werden uns im Grunde doch nur die Geſtalten, 
denen wir uns bluts verwandt fuͤhlen, die zur Familie gehoren. Das iſt mir ſelten 
fo unmittelbar aufgegangen wie bei den beiden Romanen: „Seinrich Budſchigk““ 
von 9. Ch. Aaergel und „Leberecht Ritt“ von Ernſt Schmitt. Denn, was uns 
hier entgegentritt und irgendwie erhellendes Licht auch auf die verſchlungenen, 
ungewiſſen Pfade des eigenen Lebens wirft, das ſind nicht Menſchen ſchlechthin, 
es ſind deutſche Menſchen mit Schickſalen, die im Grunde wohl nur als deutſche 
Schickſale moglich find. Ja noch tiefer geht dieſe Beſonderung: dieſer Heinrich 
Bubdſchigk kann keinem andern Boden entſtammen als dem der ſchleſiſchen Gott⸗ 
ſucher — und waͤchſt doch, nicht trotz, ſondern gerade wegen dieſer erdhaften Be- 
ſonderung, hinauf ins Ewig · Menſchliche. Aber nicht uͤberredet werden wir hier: 
Von der erſten Seite an umwebt uns in der Sprache und dem Stil Baergels eine 
geheime, daͤmoniſche Gewalt, die uns hineinbannt in das Schickſal die ſes einfachen 
und armen ſchleſiſchen Bauernknaben, der uns aber die Tragödie feines Ringens 
um die eigene Seele mit erfchätternder Gewalt mitzuerleben zwingt. 

Wie anders und doch ebenſo deutſch das Schickſal Leberecht Kitts, des reitenden 
Soͤrſters im Dachsloch! Auch er der „ewige Deutſche“: Voll gläubigen Serzens 
hoͤrt er die Botſchaft der Menſchheitsbegluͤckung, die von Paris in der großen 
franzoͤſiſchen Revolution hinausgeht. Und für dieſen Glauben iſt ee — wie deutſch 
wiederum! — zu jedem Einſatz bereit. Um fo größer die Enttaͤuſchung, als er in 
Paris ſelbſt inmitten des Brodelns der Revolution ſteht. Er erkennt: Nicht das 
Reden und nicht die Geſetze bringen Freiheit und Gerechtigkeit, ſondern daß jeder 
das Rechte tue und ein Beiſpiel ſeil Wie Fauſt wird ihm der Sinn der Freiheit und 
des Lebens die rettende Mannestat, da er ein Stuck Seimat und heimatliches 
Menſchentum aus Verkommenheit emporreißt zu Fruchtbarkeit und Gedeihen. 
Aber der Wirbel, dem er in Paris den Rüden gekehrt, folgt ihm: unter den Bajo⸗ 
netten Napoleons wird die neue Freiheit zur Anechtſchaft. Leberecht Kitt geht 
feinen geraden Weg zu Ende: im Winter 1805 / o7 ſtirbt er an der Spitze einer 
Heinen Freiſchar, die den Kampf gegen den Unterdrücker gewagt. Noch war der 
Morgen fern. Aber daß er einſt kommen mußte, des war ein ſolcher Opfertod 
buͤndigſtes Zeugnis. Für uns aber wird Leberecht Ritt zum Mahner, da es auch in 
der Not der Gegenwart nicht um Reden geht und nicht um Geſetzesmacherei, 
ſondern um das Tun und daß jeder ein Beiſpiel ſei. Pbilipp Sôòrdt 


%% I Diefe Worte find nicht etwa nur ein Beitrag zur 

W. Wilſone Worte Re viſion des Verſailler Vertrags, fie umſchreiben 

geradezu die Grundlage, auf welcher jene Reviſion aufgenommen und aufgebaut 
werden muß. 


» Raergel: „Seinrich Budſchigk“ (Jena, Eugen Diederichs, 282 S., Ganzleinen 
8.50 M). Ernſt Schmitt: „Leberecht Kitt, der reitende Jörfter im Dachsloch“. 
(Jena, Eugen Diederichs, 174 S., Keinen 6.— m) “ Woodrow Wilfons 
Worte als Rechtfertigung der Reviſion des Verſailler Vertrags. Ins Deutſche 
übertragen und mit einem kurzen Geleitwort .. von Theodor Sahn, Seil- 
bronn a. Neckar. Erſchienen im Selbſtverlag. Ju beziehen durch alle Buchband⸗ 
lungen. Preis geb. Goldmark 8.—. 


umſchau | 237 


Gerne glaube ich, daß es uns Deutſchen sunädft ſchwer fallen wird, ruhigen 
Blutes das Buch zu leſen, insbeſondere jene Stellen, da Wilſon eben ſo gar nicht 
zweifelt an der Lammfrommheit feiner lieben Verbündeten, während er in den 
Deutſchen, d. h. in der deutſchen Regierung nur den Friedensſtörer erblickt. Allein, 
wer ſich durchlieſt — und dies muß jeder tun — wird am Schluſſe ein gewiſſes 
Staunen über die Klarheit, mit welcher Wilſon ein neues Weltverbältnis der 
Völker, im beſonderen derjenigen Europas, erſchaut und erwartet, nicht unter⸗ 
druͤcken konnen. Und jeder hochherzige CLeſer wird zuſammen mit Wilſon den un; 
geheuren Schmerz der Enttaͤuſchung erleben, der ſich in Wilſons erſter und zweiter 
Adrianote und vielen feiner ſpaͤteren Worte ausſpricht. Wilſon war von der Rich; 
tigkeit und Seiligkeit feiner Idee ebenſoſehr überzeugt, als er enttaͤuſcht fein 
mußte, da in dem ſchaͤndlichen Brei der Verſailler Verhandlungen ſich bald heraus · 
ſtellte, wo die wahren Stoͤrer des europaͤiſchen Friedens und des Friedens der Welt 
ſitzen. Ich vermute, Wilſon iſt an dieſer Einſicht und an der Erkenntnis, daß er 
ſich in ſeiner Taktik verſehen hatte, zuſammengebrochen. 

Doch es handelt ſich nicht um eine Ehrenrettung Wilſons, dieſe wird wohl einer 
fpäteren Jeit vorbehalten fein, ſondern um die Einleitung eines durchgehenden 
Umdenkungs - und Umſtellungsvorgangs, um dem Antritt einer allein des Men; 
ſchen wuͤrdigen Demokratie, deren Folge unter anderem eben jene Vertragsreviſion 
fein und werden muß. Jur Grundlegung dieſer neuen Denkart ſcheint mir die CLek⸗ 
tuͤre der Worte Wilſons ganz befonders geeignet. Sie dürfen in keiner deutſchen 
Buͤcherei fehlen. Den Wilſonſchen Gedanken muͤſſen wir ſchon deshalb aufnehmen, 
weil er uns das moraliſche Anrecht auf eine Reviſion des Verſailler Ver⸗ 
trags ſichert, indem Wilſon ſelbſt dieſen Vertrag als einen vorläufigen darſtellt, 
der gegebenenfalls wieder geändert werden muͤſſe. 

Die Überfegung iſt moͤglichſt wortgetreu, läßt die vornehme und ſeltene Sprech⸗ 
weiſe Wilſons vortrefflich erkennen und iſt trotzdem gut deutſch. G. Grau 


0 s Der Menſch iſt hinein; 
Zur Metaphyſit des kuͤnſtleriſchen Tanzes 55 


Unfaßbarkeit: die der Unendlichkeit außerhalb und die des Abgrundes nach innen 
zu, in feinem Selbſt. Der Menſch iſt noch nicht, ſolange er ſich nicht die ſer chao⸗ 
tiſchen Unfaßbarkeit lebend entrungen, ſich daraus zuſammengeballt bat und fo 
durch Geſtaltwerdung zur Klarheit über ſich ſelbſt und die Welt kam. 

Im Material feines Lebens, feines Daſeins, geſtaltet der Menſch den Abgrund 
der Welt außerhalb und den Abgrund Gottes in ſich und beide begegnen ſich in der 
Haren Geſtalt feines Lebens, deutlich werdend, fo wie er ſelbſt denkend zur Deut⸗ 
lichkeit ſeines Daſeins kommt. ö 

Alles Gelebte, Geſtaltete iſt Organ, durch welches mir die Welt und ich in der 
Welt zur Deutlichkeit kommen. Ob ich mich ſelbſt lebendig forme in Gedanken, ob in 
Farbe oder Marmor zum Ausdruck meines Weſens gelange in der Welt und zur 
Erkenntnis der Welt in mir: Alle Weltanſchauung, alle Geiſtesgeſtaltung iſt 
Organ, wodurch die Welt mir Deutlichkeit wird und ich ſelbſt in ein beſtimmtes, 
Hares Verhaͤltnnis zu ihr mich ſetzte. 

Die Welt um mich ber, das Unfaßbare, in das ich hineingeſtellt bin, iſt Lebendig; 
keit, und zwar nur ſofern ich ſelbſt lebendig bin, ſofern ich mich bewege, denkend, 
Vgl. die Plauderei „5-· Uhr ⸗Tee in einem Jenaer Profeſſorenhauſe“, Tat XVII, 2. 


238 Aulturpolitiſcher Arbeitsbericht 
bandelnd, freuend, leidend, verſtehe ich die Welt in den Kategorien meines eigenen 
Daſeins und formender Bewegtheit, denn ich bin Geiſt von ihrem Geiſte. Denn nur 
Cebendiges, Bewegtes verſteht Lebendiges, Bewegtes. Wie nun mein Leben zu 
den Geſtaltungs moͤglichkeiten, zu den aktiven Bewegungsmoͤglichkeiten des Den · 
kens (in der Pbilofopbie) des Bildens in der Farbe, Marmor, Wort (in der Aunſt) 
greift, fo kann es auch zu der Totalität des beſeelten und bewegten Korpers als 
Material greifen, in deſſen beſeelt⸗kuͤnſtleriſchem Material, in Ausdrucksbewe⸗ 
gungen beſtimmten ſeeliſchen Gehalts, ſich der Drang nach Ausdruck und Welt; 
Harbeit nur eine bewegte Geſtalt, ein Organ ſchafft. In ihm begegnen nun Welt 
und Selbſt einander und verſte hen ſich, weil fie geſtalteten Bezug aufeinander 
baben. Die Unfaßbarkeit und chaotiſche Daͤmonie des beziehungsloſen Ausein- 
ander ⸗ und Unverbundenſeins, hat fo damit aufgeboͤrt. Die Welt in mir zur Klar · 
beit bringen und mich zur Deutlichkeit in der Welt, damit eins im anderen lebendig 
gegenwartig ſei und ein Strom beziehungsreichen und bedeutungsvollen Lebens 
durch alles polar getrennte hindurchgehe: das iſt Sinn geiſtiger Geſtaltung, die wir 
aus den Mitteln unferes Lebens aufbauen, damit daraus Organe großen verſtehen⸗ 
den Ineinanderlebens von Welt und Menſch werden. Denn das iſt der Sinn des 
Wortes Weltanſchauung, daß der Menſch durch Geſtaltung zur Klarheit und Wirk: 
lichkeit in der Welt gelangen und dieſe in ſich lebendig empfinden will. Ob das aber 
im Material der Gedanken ober bewegter Aoͤrperlichkeit, von Tönen oder Farben 
erreicht wird, iſt gleichgältig. 

man kann auch eine „Weltanſchauung“ in dieſem umfaſſenden Sinn ſich er- 
tanzen wollen, und Tanz kann ebenſo Klarheit, Bekenntnis und Einſicht über 
Welt und Leben enthalten, ebenſo eine legte metaphyſiſche „Erkenntnisfunktion“ 
und Geiſtesgeſtaltung, ein letztes Wirklichwerden von Menſch und Welt einander 
bedeuten, wie Muſik, Malerei, Philofopbie. 

Sind doch verſchiedene Organe nur verſchiedene Mittel, auf verſchiedene Men⸗ 
ſchenkraͤfte aufgebaute Geſtaltungen, durch welche ein metaphyſiſch Letztes erreicht 
wird. Otto Sartmann 


Kulturpolitiſcher Arbeitsbericht 


Ae die gymnaſtiſche 
Bewegung bat im Verlaufe weniger 
Jahre eine beinahe beiſpielloſe Steige · 
rung erfahren. Dennoch wird es unter 
den vorurteilsloſen Bämpfern für dieſe 
Bewegung kaum jemanden geben, der 
dieſes Erfolges ſo ganz froh zu werden 
vermochte. Iſt doch auch bier mit der 
Eroberung einer rieſig verbreiterten 
Grundlage zweifellos eine Einbuße an 
innerem Gehalt verbunden geweſen. 
. . auch das meifte Treiben der Gym; 
naſtikſchulen, die jetzt ſchon mehr zirkus · 
haft auftreten, iſt bloße Verkopfung 


neuer Mode . , fo gloſſiert mit be⸗ 
rechtigter Ironie Paul ich die 
völlige Verkehrung der berechtigten 
Bewegung in ihr Gegenteil. Gym⸗ 
naſtik, die anderes will, als verbildete 
oder uͤberhaupt nicht gebildete Korper 
zur Soͤchſtform ihrer Leiſtungsfaͤhig · 
keit zu führen, anderes, als das Erleb⸗ 
nis der koͤrperſeeliſchen Einheit, iſt be ⸗ 
reits irgendwelchen Sonderbeſtrebun⸗ 
gen erlegen, die zur neuen Aufrichtung 
des Intellekts als herrſchendes Prinzip 
im Menſchen führen muͤſſen. Einfuͤh⸗ 
lung in das körperliche Sein und Der: 
knuͤpfung der gefundenen Fahigkeiten 


Aulturyolitiſcher Arbeitsbericht 


mit dem Totalitätsbewußtfein, in diefer 
Iweipoligkeit liegen Weg und Jiel des 
Birkenheider Arbeitskreiſes. In der 
Jugendbewegung entſtanden, hat er in 
langſamer, aber ſtetiger Arbeit ſein Sy⸗ 
ſtem einer neuzeitlichen Aörperkultur 
herausgebildet, das mehr und mehr die 
Gymnaſtik der Jugendbewegung (die 
Wandervogelgymnaſtik hat mal einer 
geſagt), geworden iſt. Mehr als ein an⸗ 
deres Syſtem wurzelt es in unſerer 
Zeit, dem Jeitalter der kollektiven Lei⸗ 
ſtung. Seine Ubungen ſind hart, vom 
Tempo beherrſcht, feine Ausdrucksmit ; 
tel frei von kitſchiger Poſe und ſchwaͤr ; 
meriſcher individualiſtiſcher Empfin⸗ 
dungs ſeeligkeit. 

Unbekuͤmmert um Modeſtroͤmungen 
entwickelt es eine reine Gymnaſtikform, 
die bewußten Abſtand haͤlt von ab⸗ 
ſeits liegender Ausdruckskunſt. Mögen 
auch beſondere Umſtaͤnde der Seraus · 
bildung einer ſo eigenen Faſſung be⸗ 
ſonders forderlich geweſen fein — der 
Beſitz eines herrlichen Gelaͤndes an 
einem ſtillen maͤrkiſchen See, das prak⸗ 
tiſche Arbeit in völliger Nacktheit ge⸗ 
ſtattet, die Schüler, die ausnahmslos 
der Jugendbewegung entſtammen, und 
einen wundervollen Beift der Gemein; 
ſchaft in die Lehrſtunden trugen, — fo 
haben doch vor allem die beiden Be- 
gründer des Birkenbeider Arbeits⸗ 
kreiſes, Ella und Charlie Straeßer, die 
eigentliche ſchoͤpferiſche Tat vollbracht. 

In aller Stille vermochten fie Zun⸗ 
derte von Menſchen in ihren Burfen 
und Gemeinſchaften in ihre Arbeit ein- 
zuführen, und haben damit einen Bern 
begeiſterter Anhaͤnger geſchaffen. Der 
fo entſtandene Birken heider Bund iſt 
heute eine der taͤtigſten Gruppen inner⸗ 
balb der Jugendbewegung. Er iſt der 
eigentliche Traͤger der Birkenheider 
Aòͤrperſchulungskurſe, die in Berlin 
weit über 300 Menſchen umfaſſen. In 
dieſem Jahre ift waͤhrend der Pfingft- 
ferien eine Aoͤrperſchulungswoche in 
der Birkenheide geplant, die weitere 
Breife, vor allem Freunde der Be⸗ 
wegung im Reich, einführen ſoll in die 
Arbeitsweiſe der Birkenheider. Auch 


239 


Nichtwandervoͤgel konnen daran teil ⸗ 
nehmen, wenn ſie auf dem Boden der 
Cebens reform fteben und bereit find, 
ſich in die Arbeitsgeſtaltung ruͤckhalts 
los einzuleben. Die Geſchaͤftsſtelle hat 
Fritz Beyes, Berlin · Lichtenberg, Ire; 
nenſtr. 21. Seidel Aupke 

Es war 


geſundheits woche zweifel · 
los ein gluͤcklicher Gedanke, der koͤrper⸗ 
lichen Geſundheit unſeres Volkes da⸗ 
durch zu dienen, daß der Wille zum ge⸗ 
ſunden Börper dem Maſſenbewußtſein 
in jeder Weiſe eingepraͤgt wird. 

Man kann jeden Weg bejahen, der 
zur Geſundheit führt und ſich jedes koͤr⸗ 
perlichen Lebensgefůͤhls freuen, aber 
dabei doch empfindlich gegen das nur 
koͤrperliche Lebensgefuͤhl fein, und es 
ſcheint, daß wir ſtaͤrkſten Anlaß haben, 
daran zu denken, daß die außerordent⸗ 
liche Ausdehnung des Sports nur dann 
zur ſinnvollen Lebens - und Aultur⸗ 
erſcheinung wird, wenn die griechiſche 
Gleichung vom ſchoͤnen und guten 
Menſchen wieder mehr wird als ein ge- 
dankenlos gebrauchtes Wort. 

Goethe ſagt, man ſoll ſich beim Ver 
kehrten nicht allzulange aufhalten, ſich 
dadurch gar nicht ſtoͤren laſſen, ſondern 
unentwegt das Gute beſtreben. So ſei 
auch an die Erſcheinungen, die wei⸗ 
ten kultivierten Areiſen den Sport ver ; 
leiden koͤnnen, 3. B. blutiges Boxen 
mit tobendem Publikum, halbwüuͤchſige 
„Fußballer“, deren geſteigertes Bör- 
pergefuͤhl ſich in laͤſtigem Radau Luft 
macht, nur kurz erinnert und das ge- 
fagt, was zur Reichsgeſundheits woche 
dem Maſſenbewußtſein einzuhaͤmmern 
not getan haͤtte. 

Kießen die erſten Jahre nach dem 
Kriege erwarten, daß ein verſtaͤrkter 
Sang zum Myſtiſchen das Zentrum des 
Cebensgefuhls fein wurde, fo kann man 
heute glauben, daß das Gerichtetſein 
aufs Diesfeits, eine ungeahnt maͤch⸗ 
tige ſtark körperlich gerichtete Lebens⸗ 
bejabung das Weſen der jungen und 
kommenden Generation ſein wird. Mag 
auch rein koͤrperliche Geſundheit einen 


250 


außerordentlichen Gewinn für ein Volk 
darſtellen, von dauernder und kultur; 
geſtaltender Araft wird ein Lebens- 
gefühl immer nur dann ſein, wenn es 
auf die Verwirklichung geiſtiger Werte 
gerichtet iſt; und hier fehlt den Sport 
treibenden Maſſen ſehr viel, vor allem 
ein Perſoͤnlichkeitsideal, das den Rör- 
perkultur und Sport treibenden Men- 
ſchen vorausſetzt. Freilich wird vielfach 
hervorgehoben, was der Sport an 
mut, Selbſtbeherrſchung, Enthalt⸗ 
ſamkeit, Einordnungsfaͤhigkeit, Ent⸗ 
ſchlußfreudigkeit erziehen kann; in den 
Programmen der Reichsgeſundheits · 
woche waren aber wenig Sinweiſe auf 
dieſe geiſtigen Auswirkungen zu ver⸗ 
nehmen. 

Solange es aber nicht beſſer verſucht 
wird, die geiſtigen Moglichkeiten in 
Sport und Körperkultur dem Volks- 
bewußtſein einzuprägen, ſolange wird 
man hinter der Sportbegeiſterung im; 
mer Schreie hoͤren, die ſchon vor Jahr⸗ 
tauſenden erklangen: Circenses! Und 
vom Standpunkte feinerer kultur⸗ 
bewußter Menſchlichkeit wird das fport- 
liche inferior erſcheinen. 

Es waͤre denkbar, daß die tieferen 
Geiſter wieder naͤher an die mittelalter; 
lichen Menſchen heranzukommen ver⸗ 
ſuchen würden, die ihren Börper ver⸗ 
nachlaͤſſigten, um fo ihrer Seele zu 
dienen. 

Gerade das aber kann und muß bei 
der dringenden Notwendigkeit, geſunde 
menſchen zu bilden, vermieden werden, 
und das geſchieht, wenn Börperpflege 
und Sport ethiſch fundiert werden, 
nicht nur raſſenbiologiſch, wie es ge ⸗ 
legentlich geſchie ht. Möglich iſt dies da; 
durch, daß alle die ſchon genannten Tu⸗ 
genden zu einem neuen Bildungsideal 
zuſammengefaßt werden. Dieſe Forde⸗ 
rung muß aber in einer Weiſe ausge⸗ 
ſprochen werden, die gerade die ergreift, 
die ſie am meiſten angeht. 

Wer ſeine Muskeln beim Wettſpiel 
be herrſcht und ſich der Mannſchaft ein⸗ 


Aulturpolitiſcher Arbeitsbericht 


ordnet, ſich aber ſonſt im Verkehr mit 
menſchen maßlos gehen laͤßt und 
nichts von verſtehender Ruͤckſicht weiß, 
wer nur im Spiel für den andern ein 
tritt und der Gruppe Opfer bringt, 
ſonſt aber keinen Blick und keine Sand 
für den andern hat; wer wohl feine 
Sehnen ſtraffen kann, aber ſeine Ge⸗ 
danken haltlos flattern läßt; wer nur 
ſehen kann, wie hoch einer ſpringt und 
kein Auge hat für den Sochflug des 
Geiſtes: der iſt kein Sportsmann und 
kein moderner Menſch. 

Dem alten ritterlichen Ideal ſei dies 
neue an die Seite geſtellt. Schutz den 
Frauen, den Schwachen und den bödy- 
ſten Werten der Menſchheit, dieſe alten 
Rittergelübde in eine moderne Form zu 
prägen für den Menſchen, der wie einſt 
feinen Korper beherrſchen und zu 
Sochleiſtungen bilden will, das wäre 
ein Aulturziel für den deutſchen Sport. 
Den Sinn dafür allen zu öffnen, das 
wäre auch eine Aufgabe der Reichs; 
geſundheitswoche geweſen. 

Freilich kann man einwenden, daß 
ein derartiges Perſoͤnlichkeitsideal ſich 
nur in einer geſchloſſenen Oberſchicht 
herausgeſtalten, nicht aber maſſenfor⸗ 
mend fein konne. 

Das würde aber nie ein Einwand 
gegen das Beſtreben fein konnen, ein 
menſchenideal aufzuſtellen, das allen 
koͤrperlichen Gewinn in den Dienſt ver⸗ 
edelter Menſchlichkeit ſtellt. Wie weit 
deſſen formende Kraft reichen wird, 
kann niemand ſagen. Es iſt jedenfalls 
immer ſo geweſen, daß das, was eine 
Oberſchicht geftaltet hat, auf lange rich; 
tunggebend für die Maſſen geweſen iſt. 

Eine Maſſenbewegung aber, die wie 
Sport und Körperpflege alle Kreiſe er- 
griffen hat, kann ſehr wohl der Boden 
fein, auf dem ein Menſchentyp waͤchſt, 
der feinen koͤrperlichen Gewinn mit 
einer geiſtigen Geſamthaltung ver⸗ 
einigt, ſo daß die alte griechiſche Glei⸗ 
chung ſchoͤn und gut wieder erfüllt 
wird. Aarl Werner 


Schriftleiter: Dr. h. e. Eugen Diederichs, Jena, Carl-Jeiß-Platz 5. Bei unverlangter Zuſendung 
von Manuſkripten it Porto für Rückfendung beizufügen. — Verlegt dei Eugen Diederichs in Jena 
Druck von Radelli & Sille in Zeipzig 


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Monatsſchri für die Jułunſt 
deut ſcher Rultur 


18. Jahrgang Heft 4 Juli 1926 
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Valtin Hartig 
Arbeiterbildung 


eben der materiellen Not, in der ſich das Induſtrieproletariat be⸗ 

findet, ſteht eine nicht minder große geiſtig⸗ſeeliſche Not. Sie iſt 

wirtſchaftlich bedingt und kann gründlich geloͤſt werden nur zu; 
ſammen mit einer Anderung der wirtſchaftlichen Lage des Arbeiters. Auf⸗ 
gabe der Arbeiterbildung iſt es, die geiſtig⸗ſeeliſche Not des Induſtrie⸗ 
proletariats zu beheben, ſoweit die wirtſchaftlichen Saftoren dazu nicht ge- 
nuͤgen. Die Not beſteht in I. kultureller Entwurzelung, 2. kultureller Ar- 
mut und 3. in ſeeliſcher Verkuͤmmerung. 

Die raſche induſtrielle Entwicklung des letzten Jahrhunderts hat in den 
Städten eine neue Bevoͤlkerungsſchicht zufammenftrömen laſſen. Das In⸗ 
duſtrieproletariat, das einen in ſich ungeordneten, aus allen bis jetzt be- 
ſtehenden Kulturbindungen geriſſenen Saufen darſtellte. Zum Teil ſtammt 
es aus dem verarmenden, ſich durch die neue induſtrielle Konkurrenz auf⸗ 
voͤſenden Sandwerkertum. So weit ſteht es noch in aͤlteren Aulturbindun- 
gen, die das Handwerk geſchaffen und die noch nachwirken auch in der ver- 
groͤßerten Werkſtatt und Fabrik. Zum andern Teil aber iſt jener Saufe vom 
Land gekommen. Er ſieht ſich nun in eine ganz andere Umgebung, in an- 
dere Wohn- und Arbeitsverhaͤltniſſe verſetzt. Dieſe neue Maſſe hat keine 
Seimat, hat keine heimatlichen Gefuͤhle 0 der neuen Stadt wie fruͤher zu 
dem Dorf. Die Wohn- und Arbeitsverhaͤltniſſe find zudem. ſo ſchlecht und 
die in der neuen Lage zu erduldende Not iſt fo groß und abſtumpfend, daß 
der Proletarier die Stadt, ſeinen Stadtteil, ſein Wohnviertel nicht lieben 
kann, daß Gefuͤhlsbeziehungen und bindungen zu der Umgebung nicht 
entſtehen koͤnnen. Der ſein gehetztes Daſein ausſchließlich beherrſchende 
Gedanke iſt der Lohn, und nach deſſen Geſtaltung wechſelt er Arbeits ⸗ und 
wohnſtelle. — Seute ſcheinen wir bereits vergeſſen zu haben, wie häufig 
Wohnungswechſel vor dem Krieg gerade im Proletariat geweſen if. — 
Dies und die lange Arbeitszeit entfernen voͤllig von der Natur. Ohne Ver⸗ 
Cat XVII J7 


272 Valtin Sartig 


bundenheit mit ihr verbringt der Arbeiter feine Frei ⸗ und Feſtzeit auf einem 
Rummelplatz mit Vergnuͤgungsmaſchinen und Automaten und beim Al⸗ 
kohol oder im Tanzſaal. Das alte Sandwerk hat ſeine Arbeitsgebraͤuche, 
Feſttraditionen. Im Ablauf des Jahres empfindet es ſich durch ſie als eigene 
Gemeinſchaft mit beſonderer Sorm, jedes Mitglied fühlt dadurch den Zu⸗ 
ſammenhang mit den andern, iſt ſtolz darauf, und in der Erhebung des 
Ganzen, der Zunft uſw. fuͤhlt es ſich ſelbſt gehoben. Der Induſtriearbeiter 
dagegen ſteht als einzelner, vereinzelter in ſeiner mechaniſchen Arbeit, die 
er nicht uͤberblickt und mit der er keinen inneren Juſammenhang hat. Und wie 
die Arbeit, der Beruf noch keine Gebraͤuche und Kultur ⸗ oder Gemeinſchafts · 
formen noch Traditionen geſchaffen hat, ebenſowenig beſteht ein innerer 
Zufammenbang mit wohnung, Saus und Sausrat. Bauer und Sandwerk 
formten ſich ihre Stube nach ihrem eigenen Charakter — nicht individuell, 
fo doch als Gruppe, und nach der Gegend — lebten alſo darin ihre Grup⸗ 
penindividualitaͤt aus und ſchufen ſomit Rulturformen von 5 Wert. 
Die wohnungsverhaͤltniſſe, ganz beſonders aber die Beſchaͤftigung der 
Frau in der Induſtrie führen zur Lockerung der Samilie, damit zur Locke⸗ 
rung des Verantwortungsgefuͤhls und der Anſchauungen gegenüber 
Liebes beziehungen, gegenuber dem Verhaͤltnis von Kind und Eltern. 
Und wie das Befüge dieſer Kulturzelle Familie ſich loͤſt, fo verliert die 
große Kulturbindung, die dem Mittelalter fein geiſtiges Gepraͤge gegeben, 
die den folgenden Jahrhunderten für die Volksmaſſen die geiſtige Lebens ⸗ 
form geboten, die Kirche, ihre haltende Kraft auf das Induſtrieproletariat 
der Stadt. Lange Arbeitszeit, ſchwere Beſchaͤftigung, karger Lohn und 
deshalb ſtaͤndiges Erfuͤlltſein mit Rechnen um Pfennige, mit ewiger Angft: 
wird es reichen, die aͤrgſte Not zu befriedigen, den Sunger zu ſtillen, die 
Miete zu zahlen? — das muß den Gedanken der Kirche gegenuͤber ab ⸗ 
ftumpfen*. Dies in Not dahinvegetierende Induſtrieproletariat der Stadt 
loͤſt ſich alſo von der Kirche, die Kirchen ſtehen in den Städten leer. Es er⸗ 
hebt fi ſogar Animoſitaͤt gegen fie. Die Maſſen ſehen, daß die Kirche 
mit den Serren, Reichen, Mächtigen, Beſitzenden zuſammengeht, ihre Ver⸗ 
treter die Anſichten jener teilen, mit jenen verkehren, ſie ſehen den Gegen⸗ 
ſatz, der zwiſchen den Worten des Evangeliums der Liebe und Entſagung 
und zwiſchen der gegenwärtigen Wirklichkeit klafft. Etwas tiefer geſehen, 
die Kirche, aus Zeiten anderer Geſellſchafts · und Produktionsformen 
ſtammend, hat nicht — vielleicht noch nicht — die Anpaſſung an das neue 
Proletariat gefunden. So ſcheinen zunaͤchſt tiefere Beziehungen zwiſchen 
beiden noch gar nicht moglich. Und wieder iſt der Induſtrieproletarier von 


* (Es wird von fo vielen „Geiſtigen“ über den Materialismus der Maſſen geklagt. 
Sie ſollen einmal an die ſo raſch dem Gedaͤchtnis entſchwundene Inflationszeit 
und an die Kriegszeit denken, und ſich daran erinnern, wie ſie ſelbſt im gleichen 
maße, als ſie wirtſchaftlich ſchlechter denn jetzt geſtellt waren, an die Befriedigun 
materieller Beduͤrfniſſe dachten. Sat einer von ihnen ſchon einmal i 
Dann wird er ſich erinnern, wie der Gedanke an Eſſen ſich immer wieder bervor- 
drängte, auch wenn der Sungernde ihn zuruͤckgedraͤngt haben wollte und ſich mit 
Bauen Dingen zu beſchaͤftigen ſucht. So ſehr nun mit materiellen Dingen und 
Wüͤͤnſchen die Gedankenwelt der Maſſe erfüllt fein mag, potentiell find die Maſſen 
idealiſtiſcher, opfernder, ſelbſtloſer als die Beſitzenden. 


Avbeiterbildung 243 


einer Rulturbindung mehr entblößt, feine geiſtige Entwurzelung um fo- 
viel größer. 

Wie die Maſſe keine reale Seimat mehr hat, fo hat fie auch keine geiſtige. 
Wir haben einen aus allen Teilen des Reichs durch den Zufall zuſammen⸗ 
gewehten Saufen, der ſich abſchuftet und von der aͤrgſten Not gehetzt, 
keinen anderen Gedanken als Befriedigung groͤbſter Beduͤrfniſſe hat. 
Nichts verbindet dieſe Menſchen innerlich miteinander, zunaͤchſt ſtehen ſie 
ſich im Wettlauf um den Arbeitsplatz eher feindlich gegenuͤber und doch 
ſchon durch die Not aneinandergeſchmiedet, von einander abhaͤngig. Das 
Angebot beſtimmt den Preis der Arbeitskraft, damit die Zebenshaltung. 
Vielleicht wird aus der Erkenntnis dieſes Aneinandergebundenſeins und 
dieſer gemeinſamen Not eine geiſtige Welt wachſen. Noch iſt die Ideologie 
der neuen Wirtſchaftsweiſe des Induſtriezeitalters nicht gefunden. 

Dieſe Entwurzelten leben dahin ohne Kenntnis ſeitheriger Rulturguͤter. 
Was die Volksſchule gibt, iſt ſelbſtverſtaͤndlich zu wenig. Zur weiterbil⸗ 
dung gebricht es an Jeit und Mitteln, gebricht es infolge der Not an dem 
Schwung, der Aufnahmefaͤhigkeit. Buͤcher findet man in den Arbeiter⸗ 
wohnungen faſt gar keine oder uͤbeln Schund. Die Benutzung der Biblio⸗ 
theken iſt verſchwindend gering gegenuͤber der Maſſe derer, die ſie aufſuchen 
ſollten und koͤnnten. In den Muſeen ſind unſere Schaͤtze an Bildern auf⸗ 
gehaͤuft. Aber den Arbeiter als Betrachter findet man ſehr ſpaͤrlich darin. 
Sein Empfinden für das Runſtwerk iſt nicht entwickelt. Zwar freut er ſich 
am Sarbigen ; zwar hat er gemeinhin Sinn für Bilder; jedoch, was er ſich 
in der Regel auswaͤhlt, um feine Stube damit zu ſchmuͤcken, iſt jaͤmmer⸗ 
lichſter Kitſch. Freilich nicht durch feine Schuld. Die Kitſchinduſtrie drängt 
ihm das Zeug auf, der Sauſierer ſchwatzt ihm den Gldruck mit dem pom⸗ 
poͤſen Rahmen auf Abzahlung auf. Wäre aber dieſe Nitſchinduſtrie und 
Schunddruckerei moͤglich ohne weite Schichten, die in ihrem Empfinden 
durch ihre Lebensverbältniffe entwurzelt, rettungslos verkitſcht worden 
find? Was kennen die Maſſen von Literatur? Was kennen fie von dem, 
worin ſich am ſtaͤrkſten die geiſtige Eigenart und Kultur einer Nation aus- 
praͤgt, von dem Schrifttum? Ein paar Namen von Dichtern, deren Werke 
man verwechſelt. Es wird hier von der großen Maſſe geſprochen, nicht von 
den in der Arbeiterbewegung taͤtigen Funktionaͤren. Dem Theater ſtehen 
die Maſſen ebenſo fremd gegenüber. Selbſt heute kommt im Durchſchnitt 
in den gutorganifierten Volksbuͤhnenſtaͤdten auf 3 Arbeiter nur ein 
Theaterbeſuch im ganzen Jahr! Getroſt kann man ſagen, daß die Mehr⸗ 
zahl des geſamten deutſchen Volkes überhaupt noch in keinem Theater war. 
Der „Bebildete” hat feine geiſtige Welt, die ihm die deutſche Literatur in 
der Sauptſache geſchaffen hat. Das Land hat feine aus der Kirche und der 
Bibel ſtammende. Der Arbeiter hat keine von beiden. Noch ſchlimmer iſt 
fein Verhaͤltnis zur Muſik. Das vielgeſtaltige, ausgedehnte Muſikleben in 
den Konzertfälen, Symphonie, Rammermuſik, Chorwerk iſt ihm ganz 
fremd. Dieſe Muſikpflege iſt nur fuͤr einen ſehr kleinen Kreis im Volk vor⸗ 
handen — damit iſt eben geſagt, daß unſere Kultur eine exkluſive geworden 
iſt, daß trotz unſerer hohen Spitzenleiſtungen die Maſſen kulturell dahin⸗ 
vegetieren in einem nüchternen platten Daſein. 

17* 


244 Valtin Sartig 


Zu dieſer kulturellen Armut der Maſſen kommt eine ſeeliſche Verkuͤmme⸗ 
rung. Es iſt ohne weiteres klar, daß die elenden wohnungsverhaͤltniſſe, 
das graue Arbeiterviertel mit feinen Sinterhoͤfen ohne Licht und Luft, der 
ſtaubgeſchwaͤngerte haͤßliche, laͤrmerfuͤllte Arbeitsſaal, der ohne jede aͤſthe⸗ 
tiſche Ruͤckſicht errichtete Backſteinbau der Fabrik, die lange Arbeitszeit mit 
ihrer Ermuͤdung, das ſtete ſich Genuͤgenmuͤſſen mit den billigſten und kit⸗ 
ſchigſten Erzeugniſſen und Maſſenartikeln auf allen Gebieten den Geiſt ab⸗ 
ſtumpft, das Schoͤnheits ⸗ und Naturempfinden tötet, Anſpruchsloſigkeit 
erzeugt, Qualitaͤtsbewußtſein verloren gehen laͤßt und aus dem Gegenſatz 
zu der Lage des Reicheren, aus dem Empfinden der eigenen Abhaͤngigkeit 
minderwertigkeitsgefuͤhle entſtehen laͤßt. Dies letztere wird ganz beſonders 
noch verſtaͤrkt durch die geſellſchaftliche Geringſchaͤtzung der koͤrperlichen 
Arbeit. So fühlt ſich der Arbeiter als Menſch zweiter Klaſſe, minderen 
wertes und minderen Rechts. Bezeichnend dafür iſt die Achtung und Ehr ⸗ 
furcht, die man dem Beſſergekleideten, forſch Auftretenden ohne weiteres zu 
zollen bereit iſt, das raſche Entgegenkommen, das der Vornehme, Feine an- 
trifft, wenn die Maſſe nicht gerade gegen ihn aufgeregt iſt. Seeliſche Ver⸗ 
kuͤmmerung erwaͤchſt im beſonderen aber aus der Arbeitsart der großen 
Betriebe. Der Arbeiter iſt mit der immer ſtaͤrker ſich entwickelnden Technik 
zu einem Diener der Maſchine geworden. Ebenſogut koͤnnte er ja auch ihr 
Serr ſein. Dem widerſpricht aber allzuſehr das Empfinden des Arbeiters, 
jederzeit aus der Stelle gejagt, durch einen anderen erſetzt werden zu koͤn⸗ 
nen. Vom Diener wird er in vielen Faͤllen nur ein Beſtandteil der Maſchine 
ſelbſt. Ein Mechanismus ſelbſt mit ein klein bißchen Intelligenz, der ſchließ⸗ 
lich durch weitere Teilung und Vervollkommnung der Maſchine auch noch 
überfläffig werden wird. Und die Arbeit, die er nun verrichtet, iſt ewig die- 
ſelbe, den ganzen Tag die gleiche Bewegung, die ganze Woche, das ganze 
Jahr! Selbſtverſtaͤndlich wird ſolche Arbeit ohne jeglichen inneren Anteil 
getan und wird ſomit ſelbſt zur ſeeliſchen Qual, wenn ſie nicht voͤllige gei⸗ 
ſtige Abſtumpfung erzeugt. Wie anders iſt demgegenuͤber die geiſtige Taͤtig⸗ 
keit des Lehrers! Wie verſchieden die Arbeit des Sandwerkers oder Bauern. 
Gewiß, der letztere arbeitet alles zuſammengenommen in der Regel ſchwerer 
als der Mann in der Fabrik. Seine Arbeit iſt aber nicht jene mechaniſche 
und geteilte. Doch nicht nur die Arbeitsart und · methode laͤhmt. Ebenſo 
druͤckend iſt die Tatſache, daß der Arbeiter nicht für ſich arbeitet, daß er für 
einen anderen ſchuftet, der den Profit davon hat. Der Sandwerker mag in 
Wirklichkeit ebenſo ausgebeutet werden wie der Fabrikarbeiter und ſich 
ebenſo plagen muͤſſen. Aber hat er die Illuſion, fein eigener Serr zu fein. 
Und das muß doch von ganz beſonderem Wert fuͤr die Saltung und das 
Bewußtſein eines Menſchen fein, ſonſt würden ſich die Handwerker nicht 
mit Saͤnden und Fuͤßen gegen die Aufgabe ihres Geſchaͤfts wehren. Es 
find im Leben doch nicht bloß Erwaͤgungen materieller Art maßgebend. 
Der Arbeiter aber kennt ſeine hoffnungsloſe Abhaͤngigkeit von einem 
Fremden, der an ihm verdient. Zwiſchen beiden beſteht kein anderes als das 
nüchternfte Geldverhaͤltnis. Und der Arbeiter weiß, daß fein Arbeitgeber 
ihn bei naͤchſtbeſter Gelegenheit entlaſſen wird, ſofern ein kleiner Vorteil 
dabei herausſpringt. Und das iſt noch ein guͤnſtiger Sell! wie häufig iſt der 


Arbeiterbildung 245 


err des Betriebes nicht einmal eine ſichtbare Perſon, wie häufig iſt's eine 
anonyme Geſellſchaft, von der man keinen Menſchen kennt. Der Arbeiter 
ſchuftet alſo fuͤr die zinſen eines Papiers, das an der Boͤrſe gehandelt wird. 
Wer ſoll ſich da noch wundern, wenn der im Betrieb Stehende einfach 
ſeinen Tag herunterreißt, abſchuftet, wenn er nur den Gedanken hat, 
wann iſt der Arbeitstag zu Ende. Dieſe entſeelte Arbeit mechaniſiert 
den Arbeiter, laͤßt ihn ſeeliſch verkuͤmmern. Noch eins iſt zu beachten. Die 
Arbeitsaufgabe iſt immer die gleiche, die vorgeſchriebene. Willensbetaͤti⸗ 
gung findet der Arbeiter nicht an ihr. So wird feine Willens ⸗ und Tatkraft 
geſchwaͤcht, ebenſo wie durch die mechaniſche Taͤtigkeit alle ſchoͤpferiſche 
Kraft in ihm verkuͤmmert. So iſt es zu begreifen, daß er ſich mit Kitſch 
und Surrogaten abfindet. Ihm gefällt, was Anregung gibt und Glanz 
vorſpiegelt, ohne daß er dazu Stellung zu nehmen braucht, ohne daß er 
aktiv dabei wird, was er alſo rein paſſiv auf ⸗ und hinnehmen kann — das 
Kit ſchig · Sentimentale, die verlogene Traum⸗ und Wunfchwelt des Kinos; 
anſpruchslos tobt er ſich aus auf dem Tanzſaal, auf dem Rummelplatz, 
beim Alkohol. 

So war die kulturelle Lage der Arbeiterſchaft, bevor die Arbeiterbewe⸗ 
gung breitere Maſſen erfaßte. Gewiß, die Lage iſt auch heute noch troſtlos, 
nachdem die Bewegung ſelbſt ſchon ſehr viel getan hat zur Behebung der 
Not. Wir laſſen uns nur zu leicht, oberflächlich ſehend, in einem Kultur; 
dunkel lebend, über die wirkliche Lage hinwegtaͤuſchen. Was hat nun zur 
Abhilfe zu geſchehen? 

Bei allem Verwurzeltſein im Materiellen, das von der ſozialiſtiſchen 
und freigewerkſchaftlichen Arbeiterbewegung ſo ſtark betont wird, iſt der 
menſch auch ein Geiſtesweſen. Als ſolches hat er das Bedürfnis nach 
geiſtiger Durchdringung feiner Lage. Um nicht wie ein Spielball der 
Verhaͤltniſſe, hin · und hergeſchleudert zu werden, hoffnungslos und rat- 
los, um deshalb nicht dem Glauben an wirkungsloſe, geheimnisvolle 
myſtiſche Kräfte zu verfallen, braucht er Erkenntnis feiner geſellſchaft ⸗ 
lichen Situation, Erkenntnis der in ihr waltenden, ſie beſtimmenden ſo⸗ 
zialen, wirtſchaftlichen und kulturellen Kräfte. Damit erfaßt er feine 
eigene Bedeutung als Einzelner und im Juſammenhang mit feiner Klaſſe. 
Notwendig iſt ein neues einheitliches Weltbild, das dem Induſtriezeitalter 
entſpricht. Notwendig iſt eine neue wWeltanſchauung, eine einheitliche 
Ideologie, der neue, aus den Verhaͤltniſſen der Maſchinenzeit und des In⸗ 
duſtrieproletariats herauswachſende geiſtige, ihm gemaͤße Überbau. Not⸗ 
wendig iſt ein neues, alles umfaſſendes Ideal, ein neues letztes Werterleb⸗ 
nis. Das heißt mit anderen Worten, es iſt Aufgabe der Zeit, Aufgabe der 
Arbeiterbildung, das Chaos, das ſich dem entwurzelten Broßftadt- und 
Induſtrieproletarier darbietet, nach einer zuſammen faſſenden Einheit 
zu ordnen, einen neuen Rosmos in den Wirrwarr und das Aufgelöfte 
hineinzuſehen. Das kann freilich nur geſchehen, indem man von einem 
Ideal im Innerſten ſelbſt beſeelt iſt, wenn man das Werterlebnis ſelbſt ge⸗ 
habt hat. Es handelt ſich hier nicht nur um Erkenntnis und Wiſſenſchaft, 
um wiſſenſchaftliches Ordnungsprinzip, es handelt ſich hier um Lebens⸗ 
geſtaltung, die die Arbeiterbildung zu zeigen hat. Das neue Ideal heißt Ge; 


246 VvVuoltin Sartig 


meinſchaft. Aus dem aus allen Kulturbindungen geriſſenen, zuſammen⸗ 
hangsloſen und zuſammengewuͤrfelten Saufen waͤchſt dieſes Ideal als 
Sehnſucht heraus. In ihm hebt ſich der Saufen der vielen Iſolierten 
und Einzelnen auf. Innerer Juſammenhang wird damit hergeſtellt. Dieſes 
Ideal iſt nun mit Inhalt zu füllen, iſt von den Maſſen mit religiöfer In; 
brunſt zu erfaſſen, von der Bewegung als ſtrenge Forderung aufzuſtellen, 
von der Arbeiterbildung als das Fundament zum werden des neuen, der 
Maſchinenzeit entſprechenden Menſchen zu zeigen und zu ihm zu erziehen. 
Dieſes Ideal iſt keine verſtandesmaͤßig erkannte Notwendigkeit. Es iſt 
lebensecht. Die Wirtſchaft hat den Arbeiter im Betrieb gleichgeordnet und 
jederzeit durch jeden erſetzbar neben den anderen an die Maſchine geſtellt. 
Er iſt der Willkuͤr des Unternehmers als Einzelner voͤllig preisgegeben. 
Da erwacht in ihm die Erkenntnis der abſoluten wirtſchaftlichen Gleich; 
heit mit den Arbeitsgenoſſen und zugleich die Erkenntnis, im Zuſammen⸗ 
ſchluß mit den anderen wird er ſelbſt ſtaͤrker. Mit dem Einzelnen wird 
der Unternehmer jeden Augenblick fertig. Mit der geſamten Belegſchaft 
des werks kann er nicht fo verfahren. Alſo gebiert der Gedanke der wirt- 
ſchaftlichen Schutzloſigkeit den Gedanken der Solidaritaͤt im Betrieb. Und 
der greift vom Beruflichen uͤber auf alle Gebiete des Lebens. So kommt 
mit dieſem Gedanken Solidaritaͤt, mit dem Ideal Gemeinſchaft Richtung 
in den Saufen, wird aus ihm ein geordnetes Seer mit hohem Ziel. Zu⸗ 
naͤchſt geht es nur gegen die eigene Ausbeutung, geht es für die Sebung 
des Induſtrieproletariats, das ſich als eine neue Schicht erkennt, als eine 
beſondere Klaſſe. Und nur inſofern es ſich als die eigenartige Klaſſe der 
neuen Wirtſchaft erfaßt, kann es die gemaͤße Lebensform und Geſtal⸗ 
tung finden. Klaſſenbewußtſein wird fo zur Vorausſetzung der neuen 
Lebensform des Proletariats. Aber das Ideal greift weiter, will die Ge⸗ 
ſellſchaft der Gemeinſchaft, die Abſchaffung aller Ausbeutung und Knecht⸗ 
Schaft. Darum iſt die Aufhebung aller Klaſſen nötig, heißt das Ziel die von 
Intereſſengegenſaͤtzen nicht mehr zerriſſene klaſſenloſe Geſellſchaft — ein 
hohes letztes Ideal, das alle Glaubenskraͤfte religioͤſer Menſchen beſchaͤf⸗ 
tigen kann. — Serausarbeitung des Klaſſenſtandpunktes und Alafien- 
intereſſes liegt auf dem Weg zur endgültigen Klaſſenbeſeitigung. Das iſt 
die Ideologie, die noͤtig iſt, die Maſſen zu einer Einheit zuſammenzufaſſen, 
uͤber das Chaos der Zeit eine geiſtige Welt zu ſtellen. 

Sobald dieſe Grundvorausſetzung zur Sebung der geiſtigen und ſee⸗ 
liſchen Not des Proletariats gegeben iſt, erſcheint als naͤchſte Forderung 
der Arbeiterbildung Teilnahme an den ſeitherigen Nulturguͤtern. 

Sier ſcheint es notwendig, auf die Beſtimmung unſeres Bildungsbegriffs 
uͤberhaupt einzugehen. Bildung iſt fuͤr uns Formung des ganzen Menſchen 
nach einem Ideal. Wir betonen, den ganzen Menſchen, alſo Serz und 
Sirn. Das erſcheint, ſo ſelbſtverſtaͤndlich es an ſich iſt, doch notwendig, 
weil in der ſeitherigen Arbeiterbildung etwas einſeitig das intellektuell⸗ 
rationale bevorzugt worden iſt. Und wir ſtellen Bildung nach einem inhalt; 
lichen Ideal als Forderung. Es beſteht ja ein Erziehungsideal, das fordert, 
das im Menſchen Angelegte, das Individuelle zu entwickeln und dadurch 
die große kraftvolle Perſoͤnlich keit werden zu laſſen. Wir glauben zwar 


Arbeiterbildung 247 


auch, daß das, was wir bilden und erziehen wollen, im Menſchen angelegt 
iſt, und zwar in jedem, naͤmlich der Gemeinſchaftsmenſch. Wir wiſſen aber 
auch, daß im Menſchen Aſſoziales, Antiſoziales außerdem noch vorhan⸗ 
den iſt, auf deſſen Entfaltung wir keinen Wert legen, das im Gegenteil 
zuruͤckzuhalten wir als Aufgabe unferer Erziehung ſehen. Was wir wollen, 
iſt alſo der Menſch, deſſen ganzes Tun getragen iſt von dem Gedanken, 
daß er als Geſellſchaftsweſen in allem dem Sozialen verhaftet und dem 
Sozialen verſchuldet, ſich ſelbſt am meiſten foͤrdert, wenn ſein Tun den an⸗ 
deren mitfördert, und daß er in feinem eigenſten, individuellſten Handeln 
Verantwortung trägt gegenüber der Gemeinſchaft. Wenn wir die Pflege 
des Bewußtſeins in der Verantwortung vor dem Sozialen ſo ſtark be⸗ 
tonen, ſo verlangen wir nichts Neues. Wir ſind der Meinung, daß es 
Wefens- und Grundeigenſchaft des Menſchen ift, Sozialweſen zu fein, daß 
er es immer war und ewig ſein wird. Doch eben ſo richtig iſt, daß er ſich als 
Individuum verwirklicht. Wir ſprechen zwar von individualiſtiſchen Zei⸗ 
ten. In ihnen exiſtierte der Menſch ſelbſtverſtaͤndlich auch als Sozialweſen. 
Nur hat man in ihnen in der einen Eigenſchaft ſeiner Beſonderung, ſeines 
Unterſchiedes vom anderen den Sauptwert geſehen. Gegen die Überfpan- 
nung dieſer Wertung wendet ſich die Betonung des Sozialen. 

Wir verlangen in der Arbeiterbildung, wir verlangen in aller Erziehung 
Bildung zum bewußten Menſchen der Gemeinſchaft. Das iſt das große, 
tragende, allesumfaſſende Ideal. Bildung nun iſt ein langſamer und muͤhe⸗ 
voller Prozeß. Man muß um ſie ringen, ſie ſich erarbeiten. In dieſem Sinne 
gilt heute noch, gilt immer das Wort 6 u) q agel Aydownos od naudev- 
ex. Der Bildungs prozeß iſt formale Schulung wie Aufnahme von In⸗ 
haltlichem. Er iſt Bereicherung und Übung des Sirns, wie Formung des 
Serzens im Bewußtſein ſozialer Verpflichtung. Dabei erſcheint uns die Ge⸗ 
můts · und Willensbildung noch wichtiger als die des Gehirns. Es kann 
einer mit ſozialen Erkenntniſſen angefüllt und doch ein gemeinſchaftsſchaͤ⸗ 
digender Egoiſt fein, ein Geiſtesakrobat und doch ein Ausbeuter. Das Wiſ⸗ 
fen, das in der Arbeiterbildung zu vermitteln iſt, umfaßt alles, was zur Er⸗ 
kenntnis feiner kulturellen, wirtſchaftlichen und politiſchen Lage dem Ar- 
beiter noͤtig iſt, und das ihn befaͤhigt, fie nach den Beduͤrfniſſen und Erfor⸗ 
derniſſen feiner ſelbſt, wie feiner KAlaſſe umzugeſtalten. Damit geht einher 
die Erhöhung der formalen Denk ⸗ und Urteilsfaͤhigkeit. Mittel dazu find 
Anleitung zum Selbſtſtudium in der Form der Beratung, ſind Vortraͤge 
und Kurſe, find Bibliotheken. Es handelt ſich aber nicht nur um Vermitt ; 
lung des Willens, ſondern ebenſoſehr um Weckung des willens, das 
wiſſen anzuwenden zur Umgeſtaltung der Geſellſchaft. Sier ſtoßen wir auf 
ein ſchweres Problem. Arbeiterbildung will Maſſenbildung. Es liegt im 
Weſen des Kurſus, der nur in Form der Arbeitsgemeinſchaft gehalten wer- 
den darf, daß ſeine Teilnehmerzahl ſehr beſchraͤnkt iſt. Mit ihm werden wir 
alſo ſchwerlich die Maſſen erfaſſen. Wir haben ja ſchon darauf hingewieſen, 
daß der Kurſus von bildendem Wert nur fein kann, ſofern er nicht bloß 
Wiſſens aufnahme iſt, ſondern ſofern die Teilnehmer an ihm mit dem dar⸗ 
gebotenen Stoff ringen, ſich ihn erarbeiten. Zu dieſer Beſchwerlichkeit und 
der erforderlichen Ausdauer ſind aber nur die Wenigſten bereit, zumal die 


248 Valtin Sartig 


Kurſe doch in der Regel nach geleiſteter Tageslohnarbeit gehalten wer- 
den koͤnnen, die Teilnehmer dadurch alſo ſchon ermuͤdet ſind, ihre Auf⸗ 
nahmefaͤhigkeit und geiſtige Spannkraft vermindert iſt. Wir muͤſſen uns 
daruͤber klar fein, Maſſenbildung durch Nurſe allein und direkt iſt unmoͤg⸗ 
lich. In ihnen bilden wir die dazu Bereiten, Wenigen, aber nicht, damit ſie 
für ſich gebildet ſeien, ſondern damit fie ihr Wiſſen in der Arbeiterbewegung 
verwerten. Sie find Funktionaͤre in der Maſſe, find Fuhrer im kulturellen, 
politiſchen und wirtſchaftlichen Rampf. Ihr Willen läßt fie den Rampf 
beſſer führen. Der Erfolg kommt der Maſſe zugute. Und fei er nur ein wirt- 
ſchaftlicher — wirtſchaftliche Sebung der Maſſe hat Erhoͤhung des kultu⸗ 
rellen Niveaus im Gefolge. So wirken Kurſe nur indirekt maſſenbildend. 

Alle Arbeiterbildung iſt aktiviſtiſch, zweckbeſtimmt im Sinn der Foͤrde⸗ 
rung der Bewegung. Zur Behebung der ſeeliſch⸗geiſtigen Not des Prole⸗ 
tariats iſt auch wirtſchaftliche Anderung im Geſellſchaftsgefuͤge noͤtig. 
Alſo liegt in der Aufgabe der Arbeiterbildung Erhoͤhung der Befaͤhigung 
zum politiſchen und wirtſchaftlichen Rampf. Solche Zweckbeſtimmtheit iſt 
bereits ausgeſprochen in der Forderung nach einem alles Tun durchdringen⸗ 
den Ideal der Gemeinſchaft, nach Gemeinſchaftsgeſinnung, denn ſelbſt⸗ 
verſtaͤndlich iſt, daß ſie betaͤtigt werden ſoll. 

Es iſt am Platz, darauf hinzuweiſen, daß Aufklaͤrung über alles und je 
des — was in Form von Vortraͤgen zumeiſt fo bäufig in der Arbeiterbil⸗ 
dung geſchieht — mit Bildung ſehr wenig zu tun hat. Das dadurch erwor⸗ 
bene Wiſſen iſt hoͤchſt oberflaͤchlich. Es kann gut ſein, um Maſſen zu dieſem 
oder jenem naheliegenden Zweck zu begeiſtern, zum Handeln zu veranlaſſen. 
Das iſt Agitation und Propaganda, die mit Arbeiterbildung wenig zu tun 
hat. Gewoͤhnlich leicht angeflogen, iſt dieſes Wiſſen ebenſo raſch wieder 
verſchwunden. Zur Bildung iſt eben Wiſſensaneignung noͤtig durch Ringen 
mit und Arbeiten an dem Stoff. Es ſei hier darauf hingewieſen, weil mit 
ſolchen aufklaͤrenden Vortraͤgen ohne Wirkung viel Geld und Muͤhe in Ar- 
beiterorganiſationen vertan und das Gewiſſen beruhigt wird. 

Eigene Beurteilung verlangt die Unterrichtung in Kurſen zu beſtimm⸗ 
ten naheliegenden Jwecken, Schulung von Funktionaͤren zu beſtimmten 
Aufgaben des Taͤtigkeitsbereichs der Organiſationen. Das iſt die beſonders 
notwendige und wichtige Aufgabe innerhalb der Verbaͤnde, der Partei, 
der Gewerkſchaften und anderer Arbeiterorganiſationen. Sier handelt es 
ſich oft um einfaches Aufnehmen, feſtes Lernen beſtimmten Stoffes, 
Übung von Faͤhig⸗ und Fertigkeiten, 3. B. Redetechnik, Verſammlungs⸗ 
leitung. Man hat das immer unter die Aufgaben der Arbeiterbildung ge⸗ 
rechnet. Mit gutem Grund. Aber doch nur inſofern und weil es ſelbſtver⸗ 
ſtaͤndlich vom Gemeinſchaftsideal getragen iſt und indirekt zur Behebung der 
geiſtig⸗ſeeliſchen Not der Arbeiterklaſſe in feiner Auswirkung beiträgt. Es 
kann ſich fuͤr Arbeiterbildung nur darum handeln, die Arbeiterſchaft in 
ihrer Geſamtheit zu heben. Der Einzelne, der aus ihr herausgehoben wer⸗ 
den ſoll, wird ſeiner Klaſſe nicht entfremdet. Dadurch tritt eine ſtetige 
geiſtige Entblutung der Arbeitermaſſen ein. Die Verhaͤltniſſe für die 
Zuruͤckbleibenden dauern fort, ſtatt daß fie durch das Arbeiten des beſſer 
Gebildeten, mehr Wiflenden umgeſtaltet werden. Er ſoll nicht zu dem 


Arbeiterbildung 249 


heutigen arbeiterfremden „Gebildeten“ gemacht, deklaſſiert werden. Als 
Tůchtiger ſoll er innerhalb der Arbeiterbewegung hochſteigen. Unter „freie 
Bahn dem Tuͤchtigen ! verſteht der Bürger fuͤr den Arbeiter Sinuͤberwechſeln 
und Aufſteigen in die andere „gehobene“ buͤrgerliche Klaſſe. Daß damit der 
Arbeiterſchaft nicht gedient, ja geſchadet wird, iſt klar. 

In den Kurſen ſoll der Arbeiter auch nicht zum Wiſſenſchaftler gemacht 
und nicht zum „wiſſenſchaftlichen Denken“ erzogen werden. Wer das for⸗ 
dert, weiß nicht, was er fordert. Es beſteht geradezu eine Strukturverſchie⸗ 
denheit zwiſchen dem wiſſenſchaftlichen Denken und dem des einfachen 
mannes — nicht nur des Arbeiters. Deshalb gilt das hier zu Sagende fuͤr 
die geſamte Volksbildung. Wiſſenſchaftliches Denken iſt in allererſter Linie 
kritiſch, ſkeptiſch, vorausſetzungslos. Der Wiſſenſchaftler muß jederzeit be⸗ 
reit ſein, was er geſtern als richtig angeſehen, heute auf Grund einer neuen 
Tatſache zu verwerfen, neu umzudeuten. Kriterium wiſſenſchaftlicher Sal · 
tung iſt es geradezu, nichts als endguͤltig richtig zu betrachten. Wiſſenſchaft · 
liches Denken iſt funktional — abſtrakt — allgemein. Das Denken des ein · 
fachen Mannes, das des geſunden Menſchenverſtandes will keine Theorien 
und Sypotheſen. Er will Eindeutiges, mit dem man praktiſch etwas an⸗ 
fangen kann. Er denkt epiſodiſch⸗anſchaulich. Eine Rantſche Idee als Auf- 
gabe begreift er einfach nicht. Eine Theorie wird ihm zu einer Tatſache und 
zu einem Dogma. Ein Begriff als Ordnungsprinzip zu einer Wahrheit. 
Statt kritiſch iſt er dogmatiſch. Der Wiſſenſchaftler iſt zweifelnd, der ein⸗ 
fache Mann glaͤubig. Das abſtreifen zu koͤnnen, dazu gehoͤrt lange formale 
Denkſchulung. So kommt es, daß von den Maſſen der Intellektuelle Ver⸗ 
raͤter geſcholten wird, der die ihm als ſelbſtverſtaͤndlich erſcheinende Auf⸗ 
faſſung vom Sozialismus als eine Idee, als eine ewige Aufgabe, der man 
ſich naͤhert, die man nie ganz erfuͤllt, darlegt. So kommt es, daß die Maſſen 
„Entwicklung“ als eine Naturtatſache und abſolute Wahrheit auffaſſen, die 
der Wiſſenſchaftler als Ordnungsprinzip bei der Naturbetrachtung nimmt. 
Solche wiſſenſchaftliche Betrachtungsweiſe wird von gewiſſen Leuten als 
die Verfallserſcheinung der Wiſſenſchaft einer untergehenden Klaſſe hin⸗ 
geſtellt. Es iſt darum eine der ſonderbarſten Erſcheinungen, daß eine Be⸗ 
wegung der Maſſen ſich auf ihre Wiſſenſchaftlichkeit ſoviel zugute getan hat. 
Und es iſt ein Zeichen für die Gberflaͤchlichkeit des Denkens einer Zeit, des 
Denkens des letzten halben Jahrhunderts, daß in den Naturwiſſenſchaften 
nicht nur bei den Maſſen ſolches Denken allgemeiner war, und es zeugt von 
der mangelhaften philoſophiſchen Bildung jener Zeit — ein Zuſtand, der 
ſich gruͤndlich zu wandeln beginnt, im gleichen Maße, in dem Philoſophie 
wieder an Geltung gewinnt. 

Was der Arbeiter alſo braucht, iſt feſtes Wiſſen, das er praktiſch verwer⸗ 
ten kann in feiner Lage. Er braucht keine Wiſſenſchaft an ſich. Die iſt Auf- 
gabe des Gelehrten. Der Arbeiter lernt fürs Leben, zur Behebung feiner 
Not, zur Deutung feiner Lage, zum Aufbau einer Weltanſchauung. Auch 
hier taucht das Problem der Maſſenbildung auf. Und hier ſcheint es loͤsbar. 
Mit kuͤnſtleriſchen Veranſtaltungen und Darbietungen kommen wir an 
Maſſen heran, rein zahlenmaͤßig betrachtet. Zwar koͤnnen wir das auch 
durch große Verſammlungen und Einzel vortraͤge. Während das hier Auf⸗ 


250 Valtin Sartig 


genommene jedoch raſch zu verblaſſen pflegt, und mühelos aufgenommen 
keinen Bildungswert hat, liegt es in der Art des kuͤnſtleriſchen Erlebniſſes 
zu erſchuͤttern, aufzuwuͤhlen. Das Kunſtwerk, das zu einem Erlebnis wird, 
hat die Kraft innerlich zu formen. Das Mittel der Maſſenbildung iſt die 
Einwirkung auf Serz und Gemuͤt durch das Kunſtwerk. 

Freilich darf den Maſſen nicht alles wahllos dargeboten werden. Aus⸗ 
wahl iſt noͤtig und zwar zunaͤchſt nach Maßgabe der Aufnahmefaͤhigkeit 
des Arbeiters. Dabei heißt ſyſtematiſches Vorgehen durchaus nicht etwa 
werke darbieten in der Reihenfolge ihrer zeitlichen Entſtehung. Beſonders 
bei der Muſik macht man dieſe Erfahrung. Es iſt ja keine Runſt den Maſſen 
ſo fremd 5 als gute Muſtik. Nun gibt es für den muſtkaliſch Unge⸗ 
bildeten uberhaupt keinen anderen weg zum Verſtaͤndnis als haͤufiges 
Sören guter Werke, neben muſikaliſchen Lektionen mit Demonſtrationen. 
Dieſe letzteren kommen wieder nur für eine kleine Jahl in Frage. Es bleibt 
praktiſch im weſentlichen alſo beim Anhoͤren guter Werke. Dabei macht 
man oft den Fehler, die Syſtematik des Aufbaues aufeinander folgender 
Konzerte darin zu ſehen, daß man zuerſt fruͤhe und dann immer modernere 
Werke auffuͤhrt. Dem Arbeiter aber iſt alte wie moderne Muſitk gleicher⸗ 
maßen fremd. Alſo muß nach anderen Geſichtspunkten ausgewaͤhlt wer⸗ 
den. Nach welchen, muͤßte erſt eine ſorgfaͤltige Beobachtung muſikgenie⸗ 
ßender Maſſen und eine Befragung nach ihren Eindruͤcken feſtſtellen. Aber 
daran fehlt es noch — wie uͤberhaupt ſo ziemlich auf allen Gebieten der 
Arbeiterbildung. Die Unterſuchungen zu einer Erwachſenenpaͤdagogik und 
Didaktik fehlen. Die Aufgabe der Auswahl iſt nicht ganz leicht. Auszuleſen 
iſt nach dem bildenden Wert des Kunſtwerkes und feiner Eignung, eine 
geiſtige Welt des Arbeiters aufbauen zu helfen. Nur aͤſthetiſche Wertungen 
muͤſſen ausſcheiden, und doch darf hier kein Rompromiß geſchloſſen wer- 
den mit Richtungen und Beſtrebungen, die in der aktiviſtiſchen Arbeiter⸗ 
bewegung haͤufig anzutreffen find — zugunſten der Tendenz des Inhalts 
uͤberſteht man deſſen unkuͤnſtleriſche Geſtaltung. Allerdings iſt das Prole · 
tariat auch meiſt nicht in der Lage, den formalen Kunſtwert zu erfaſſen. 
Der erlebnisnahe Inhalt des Kunſtwerkes erleichtert dem Arbeiter die 
Aufnahme. Das iſt jedoch nur ein Moment! Der Arbeiter uͤberſieht das 
Formale durchaus nicht, er iſt im Gegenteil ſehr feſt eingeſtellt — auf ſuͤße, 
ſentimentale, kitſchige Form. Deren Wertloſigkeit erfaſſen zu laſſen, iſt 
eben die Aufgabe. 

Arbeiterbildung hat aber nicht nur die Rulturarmut zu beheben, fie hat 
auch die ſeeliſche Verkuͤmmerung der Maſſen zu bekaͤmpfen. Ihre Aufgabe 
iſt nicht bloß Ermoͤglichung der Teilnahme an ſeitherigen Nulturguͤtern, 
die Arbeiterſchaft ſoll ſich ſelbſt kulturſchoͤpferiſch betaͤtigen. Arbeiterbil⸗ 
dung will das Schöpferifche im Arbeiter wieder erwecken, kunſtleriſche Ak⸗ 
tivitaͤt in ihm entfalten, und fo die Möglichkeit ſchaffen zum Werden einer 
wirklichen Kultur der breiten arbeitenden Volksmaſſen. Die erſten Reime 
zeigen ſich bereits in der Arbeiterjugendbewegung. Es handelt ſich hier 
nicht um Proletkult, noch um proletariſche Kultur. Es handelt ſich nicht 
einmal um eine Arbeiterkultur, die neben eine bürgerliche treten ſollte. Es 
handelt ſich vielmehr um eine allmaͤhliche, durch tauſendfaͤltige von allen 


Arbeiterbildung 251 


Seiten, auf allen Gebieten geſchehende Umwandlung der jetzigen in eine 
andere. Es kann immer nur eine Kultur in einer Epoche geben, die der 
herrſchenden, das Geſicht der Zeit beſtimmenden Schicht. Und weil es im⸗ 
mer nur eine geben kann, die langſam waͤchſt, deren Wachstum und wer⸗ 
den die allmaͤhliche Umbildung des Alten in Neues bedeutet, die alſo immer 
auf dem Boden des Alten ruht, ſind alle Beſtrebungen des ſich Abſchließens 
falſch, eine Methode, die in ſozialiſtiſchen Kreiſen nur zu haͤuſig gebt wird. 
Die Saltung, die uns fuͤr einen Sozialiſten die richtige zu ſein ſcheint, heißt, 
ſich einreihen in den allgemeinen Kulturſtrom der Zeit, der durch Beteili⸗ 
gung von innen heraus zu beeinfluſſen iſt, weil der Sinn, in dem er beein- 
flußt werden ſoll, ſchon in ſeiner Richtung angelegt iſt. Wie aus der feu⸗ 
dalen Kultur auf dem weg tauſendfaͤltiger Einwirkung im Materiellen 
wie im Geiſtigen die buͤrgerliche wurde, ſo ſoll aus der buͤrgerlichen die neue 
werden, fuͤr die wir keinen feſten Namen noch haben, die wir als eine der 
ſchaffenden Maſſen kennzeichnen wollen, und die deshalb wohl eine demo · 
kratiſche genannt werden kann. Der Rulturbeftimmende bis jetzt war der be · 
ſitzende . weil er der Zahlende, die Werke abnehmende war. Eine 
verhaͤltnismaͤßig kleine Schicht. Dieſe Exkluſivitaͤt führt zu der Spitzen; 
kultur, wie wir fie kennen, die ſich vom Volk fo entfremdet hat, daß ihre 
Werke einfach nicht aufgenommen werden koͤnnen. Zu ihrer Aufnahme iſt 
eine intenſive Beſchaͤftigung mit aͤſthetiſchen Dingen, ein langes und koſt⸗ 
ſpieliges Studium noͤtig, wofuͤr dem arbeitenden Volk Zeit und Geld fehlt 
und immer fehlen wird. Alſo muß etwas ſtruktural Verſchiedenes kommen, 
da doch die Maſſen nicht weiterhin in dieſer Verkůmmerung und Armut 
bleiben duͤrfen. 

Die kuͤnſtleriſch gewiß ſehr hochſtehende bürgerliche Kultur wurde ge- 
ſchaffen von Wenigen und genoſſen von nicht Vielen. Letztere verhielten ſich 
dabei rein paſſiv, aufnehmend. QAualitaͤt und Exkluſivitaͤt gingen Sand in 
and. Neben dieſer hohen Kunſt ging zu allen Zeiten eine andere, Volks⸗ 
kunſt, die zu ſchaͤtzen iſt, nicht wegen ihrer Leiſtung, ſondern als Ausdruck 
und Zeugnis der Schoͤpferkraft und des Kunftlebens breiter Maſſen. Wäb- 
rend der induſtriellen Entwicklung iſt ſie aus dem Kreis des Arbeiters ge⸗ 
flohen. Die aͤußeren Verhaͤltniſſe des Arbeitsſklaven machten ſie unmoͤglich, 
fie verſchuͤtteten feinen Schoͤnheitsſinn, laͤhmten feine kuͤnſtleriſche Aktivi⸗ 
tät, ertöteten das in jedem Menſchen, wenn auch noch fo minimal, angelegte 
Schoͤpferiſche. Das gilt es wieder erwachen zu laſſen. Nicht gewaltſam. Der 
ſchoͤpferiſche Drang, die eigene Betaͤtigungsluſt wacht auf mit der Beſſerung 
der aͤußeren Verhaͤltniſſe, wird gefördert durch die Arbeiterbildungs⸗ 
beſtrebungen. Sierher gehoͤrt das Wirken der Arbeitergeſangvereine und 
ahnlicher Organiſationen. Nicht mißverſtanden werden darf dies als Sör- 
derung des Dilettantismus. Dilettantismus heißt mit CLaienkraͤften Berufes; 
leiſtungen erzielen wollen. Das Neue, das wir meinen, hat ja gerade als 
Charakteriſtikum, niemals etwas Berufliches zu fein. 

Was not tut, iſt die Wertſchaͤtzung koͤrperlicher Arbeit, die Steigerung der 
Achtung vor der Beſchaͤftigung der arbeitenden Maſſen. In 
Epoche war angeſehen und wuͤrdig: Serrſchen, regieren, kriegfuͤhren. In 
der buͤrgerlichen Kultur iſt geachtet die Betätigung der herrſchenden 


252 Daltin Sartig 


Schicht: geiftige Arbeit. Nun iſt freilich gewiß, die ſtaͤrkſte Forderung einer 
hoheren Einſchaͤtzung des Arbeiters und der koͤrperlichen Arbeit überhaupt 
kommt durch die wachſende politiſche und wirtſchaftliche Macht der Arbeiter; 
maſſen. Sobald ſie auf dieſem Gebiete nicht mehr Spielball anderer Gruppen 
oder quantitẽ nẽglige able find, ſobald man ſtark mit ihnen rechnen muß, wird 
man fie ernſt und wichtig nehmen und ebenfo ihre koͤrperliche Betätigung 
werten. Doch neben den politiſchen und wirtſchaftlichen Faktoren ſtehen 
immer auch geiſtige Einfluͤſſe, und hier ſind gerade dieſe zu betonen. 
Notwendig iſt vor allem, daß der Arbeiter ſich ſelbſt wichtig nimmt. Der 
Arbeiter muß ſich als den Schoͤpfer aller Werte und Traͤger der Geſellſchaft 
erfaſſen. Er muß wiſſen, daß feine Klaſſe eine Zukunfts · und Menſchheits⸗ 
miſſion zu erfüllen hat. Gerade daraus zieht ja die Maſſenbewegung ihren 
Schwung. Jede große Bewegung braucht dieſen Glauben an ihre Auf ⸗ 
gabe, einen Glauben, der fie über die Ruͤckſchlaͤge der Gegenwart immer 
wieder hinweg nach vorwärts ſtuͤrmen läßt. Ohne ſolches Bewußtſein iſt 
der Arbeiter nur verhinderter Buͤrger, der neidiſch zu dem Beſitzenden hin⸗ 
blickt, ihm gleichkommen möchte und im Streben danach die Klaſſe verrät. 
Zwar ift es eine allgemein wahrnehmbare ſoziologiſche Tatſache, daß die 
aufſtrebenden Schichten die Caſter und Gebraͤuche der zu uͤberwindenden 
Schicht ubernehmen. Sie ahmen nach, und da ihnen die Kultur wie die 
Mittel der anderen fehlen, iſt dieſe Nachahmung ſchlimmſte Verkitſchung 
des Nachgeahmten ſiehe die gute Stube des gutgeſtellten Arbeiters uſw. 
Dies waͤchſt aus Minderwertigkeitsgefuͤhlen empor. Wie ſollte die mit ihren 
Folgen ausgeſchaltet werden außer durch Foͤrderung des Selbſtbewußt ; 
ſeins, das im guten und zukunftstraͤchtigen Sinn eben Klaſſenbewußtſein, 
Bewußtſein der Klaſſenmiſſion iſt? Zu dieſem Sichſelbſtwichtignehmen 
gehoͤrt, daß man in feinen Gebraͤuchen und feiner geſamten Lebensgeftal- 
tung nicht nach den „Beſſergeſtellten“ ſchielt. Dazu gebört, daß man nicht 
feine Erholung ſucht durch Flucht in die Wunſch ⸗ und Traumwelt des Kit; 
ſches, wie wirs im Kino ſehen. Dort geht der Arbeiter hin, weil er den 
Auxus und den Glanz der Reichen ſehen kann. Er ſchaut in eine andere 
welt, ſtatt in der eigenen zu bleiben. In der bildenden Kunſt finden Dar⸗ 
ſtellungen aus dem Zeben des Arbeiters gerade bei den Arbeitern am we⸗ 
nigſten Anklang. weil fie ihre eigene Schönheit noch nicht erfaßt haben, 
weil fie von der Kunſt Schönes verlangen und das Schöne außerhalb 
der eigenen Sphaͤre ſuchen. Die Entwicklung draͤngt zu ſteigender Bedeu⸗ 
tung der Maſſen im Wirtſchaftlichen und Politiſchen. Im gleichen Maße 
wenden ſich die geiſtig, kuͤnſtleriſch Schoͤpferiſchen der Behandlung von 
Problemen zu, die in den Maſſen liegen. Fur deren Geſtaltung müßten die 
Maſſen das erſte Publikum ſein, ſie ſind es aber leider nicht aus ihrem 
Sluchtbedärfnis in eine „ſchoͤnere“ Welt aus dem Gefuͤhl eigener Minder⸗ 
wertigkeit. So beſteht die Gefahr, daß gerade die Maſſen Hindernis werden 
der Entfaltung dieſer ihr entſprechenden Rulturerfcheinung. Sier kann nur 
Arbeiterbildung helfen, und darin liegt ein weſentlicher Moment ihrer 
großen Bedeutung. Im en Maße, in dem fie weiterhin das Kultur⸗ 
bewußtſein weckt, vergrößert fie den Markt für jene Schoͤpfungen. Die 
ſteigende Aufnahmefaͤhigkeit der Arbeiterſchaft iſt die beſte Vorausſetzung 


Arbeiterbildung Ä 253 


dafuͤr, daß im Kunftfchaffen ihre Belange zur Geltung kommen. Und wir 
ſehen ja auch, daß Dichter wie Anderſen · Nexo, Zeichner wie Käthe Voll · 
witz, 3ille in die Wertung der Zeit einbrechen. ö 

Die ſeeliſche Verkuͤmmerung der Maſſen, ſoweit fie durch ihr Arbeits⸗ 
ſchickſal bedingt it — Maſchinen⸗ und Teilarbeit im Lohnverhaͤltnis — 
kann naturlich nicht durch das Arbeiterbildungsweſen weſentlich behoben 
werden. Das hat durch wirtſchaftliche und politifche Geſellſchaftsaͤnderung 
zu geſchehen — Verkuͤrzung der Arbeitszeit, Erhoͤhung des Lohnes, So⸗ 
zialiſierung, Wirtſchaftsdemokratie. Aber Arbeiterbildung hat beizutragen, 
den politiſchen und wirtſchaftlichen Rampf darum erfolgreicher zu machen 
durch Vermittlung des Wiſſens dazu und durch Erkenntnis der Lage, durch 
weckung der Sehnſucht, ihr abzuhelfen und durch Aufzeigung der Wege. 
Sier wird am deutlichſten erkannt, daß Arbeiterbildung aus der tiefſten 
ſeeliſchen Not des Induſtrieproletariats heraus aktiviſtiſch, kaͤmpferiſch 
eingeſtellt fein muß. Arbeiterbildung in dem weiten Sinn, wie wir fie auf- 

eſtellt haben, verlangt alſo politiſche und wirtſchaftliche Geſellſchafts⸗ 
1 Und damit wird deutlich, wie ſehr die ganze Arbeiterbewegung, 
die fo materialiſtiſch den Geiſtigen erſcheint, eine große Rulturbewegung 
iſt. Der Gebildete, der Rulturmenſch iſt unmoͤglich bei der ſeeliſchen Ver⸗ 
kuͤmmerung durch die Maſchinenlohnarbeit des kapitaliſtiſchen Syſtems. 
Dies zu aͤndern, und den Arbeiter wieder zu einem Vollmenſchen zu machen, 
iſt Aufgabe der geſamten Arbeiterbewegung. Und nicht bloß ihre. Sie iſt 
die Aufgabe des gefamten Volkes, iſt das Problem der Zeit. Zwar macht 
ſich an ſeine Loͤſung die Arbeiterbewegung zunaͤchſt daran. Aber zur 
gründlichen Löfung muß das ganze Volk mitwirken, Staat und Ge⸗ 
meinde můſſen Mittel dazu bereitſtellen, Mittel, die man der Maſſe ſchul⸗ 
det fur die große Vernachlaͤſſigung, die man an ihr geuͤbt. Und im weiteren 
ergibt ſich eine Anderung, Weitung unferes geſamten Bildungsweſens, 
insbeſondere aber der Volksſchule. Denn die muͤhſame Exwachſenenbil⸗ 
dung, die Arbeiterbildung bedeutet, iſt doch zum großen Teil deshalb 
noͤtig, weil der Unterricht des Jugendlichen zu eng begrenzt war. Demo⸗ 
kratiſierung unſerer geſamten Kultur, unſeres ganzen Bildungsweſens 
muß die Forderung der Zeit ſein. Nicht in dem Sinn, daß man dem Arbei⸗ 
ter von oben etwas gibt. Sondern mit der Einſtellung: die weitaus groͤßte 
Mehrzahl unſeres Volkes ſind Arbeiter, ſie ſind die Traͤger unſerer Geſell⸗ 
ſchaft. Der Arbeiter hat das Recht, zu fordern, er braucht ſich nicht mit 
einer Gnade zufrieden zu geben. Arbeiterbildung treiben heißt, unſer Volk 
endlich zu einem Kulturvolk machen. 


254 Ernſt Niekiſch 


Ernſt Niekiſch 
Geiſtige Elemente und geiſtige 
Arbeit der freien Gewerkſchaften 


ie gewerkſchaftlichen Organiſationen ſtehen in geſchichtlichem und 

auch weſensbeſtimmtem Zuſammenhang mit den alten beruflichen 

Gebilden, mit den Zünften, Innungen, Geſellen · und Bruder⸗ 
ſchaften; einen großen Raum der zum Teil recht wertvollen Verbands⸗ 
geſchichten nimmt in der Regel die Darſtellung des mittelalterlichen Be⸗ 
rufs- und Junftlebens ein. Das berufliche Element war eine der entſchei⸗ 
denden Triebkraͤfte, die zur Entſtehung gewerkſchaftlicher Organiſationen 
hinfuͤhrten. Der Beruf iſt die Summe jenes beſonderen Könnens, durch 
das ſich der Menſch als Geſtalter der Dinge erlebt, durch das er ſich aus 
ſeiner Umwelt hervorhebt, durch das ihm ein ausgepraͤgtes Bedeutſam⸗ 
Peitsgefühl zuwaͤchſt. Arbeit wird Beruf, wenn fie ſinnvoll iſt; die tieffte 
Sinngebung, die ihr zuteil werden kann, iſt die: daß ſie als naturgemaͤße 
Erfuͤllung des menſchlichen Daſeinszwecks anerkannt und vollbracht wird. 
So wird der Beruf zu einer Lebensform, mittels deren der Menſch ſich dar⸗ 
ſtellt, ſein Weſen vergegenſtaͤndlicht. 

Berufliches Können iſt ein geiſtig⸗ſeeliſches Gut; gleiches berufliches 
Koͤnnen ſtiftet infolge der gemeinſamen Teilhaberſchaft an dieſem Gut 
zwiſchen den Menſchen Einverſtaͤndniſſe, knuͤpft ſeeliſche Beziehungen 
zwiſchen ihnen. Das Geltungsbeduͤrfnis des Einzelnen erfaͤhrt verſtaͤrkte 
Befriedigung, wenn er Mitglied einer Berufsgruppe iſt; er nimmt an der 
Wertſchaͤtzung teil, die ihr innerhalb des ſozialen Körpers zukommt, er 
fühle ſich als Träger des ſozialen Gewichtes, das ihr innewohnt. Indem 
berufliche Organiſationsgebilde in ſolch einfachen menſchlichen Grund⸗ 
trieben, wie dem Geltunge drang, wurzeln, gewinnen fie den Charakter des 
Elementaren und Irrationalen; fo ſehr ihr Handeln auch auf nuͤtzliche 
Zwecke gerichtet ſein mag, ſo werden ſie doch durch tiefere und dunklere 
Kräfte zuſammengehalten, als es bloße Zweckmaͤßigkeitserwaͤgungen find. 
Noch heute tragen die Gewerkſchaften zahlreiche Zuge ſolch elementar⸗ 
irrationaler Art an ſich. 

Nun hat freilich die moderne kapitaliſtiſch⸗ induſtrielle Entwicklung die 
ſachlichen Vorausſetzungen des Berufstums zerſtoͤrt. Indem die Arbeit 
mechaniſiert, ſpezialiſiert, monotoniſiert und rationalifiert wurde, war es 
das Schickſal des arbeitenden Menſchen, nur noch als bloßer Maſchinen⸗ 
hebel verwendet zu werden; ob einer etwas gelernt hatte, und welch befon- 
deres Können er beſaß, wurde durchaus unweſentlich; in fünf Minuten 
konnte er ſchließlich in dieſem oder jenem Induſtriezweige angelernt wer⸗ 
den. Tempo und Rhythmus ſeiner Arbeit wurden ihm von der Maſchine 
oder gar dem fließenden Band aufgezwungen; ein paar mechaniſche, ſich 
ewig wiederholende Sandgriffe waren feine taͤgliche Leiſtung; der Inhalt 


Geiſtige Elemente und geiftige Arbeit der freien Gewerkſchaften 255 


ſeines Tagewerkes bezog ſich nur auf eine eng begrenzte Stufe des geſam⸗ 
5 Arbeitsprozeſſes, den er in feinem Juſammenhang nicht mehr uͤber⸗ 
lickte. 

So geſtaltete Arbeit ließ ſich mit dem Zweck menſchlichen Daſeins wahr⸗ 
baftig in kein Verhältnis mehr ſetzen; fie wurde ſchlechthin Erwerbs⸗ 
arbeit. 

Was der eine Induſtriearbeiter konnte, konnte jeder andere auch; er war 
durch jeden beliebig anderen erſetzbar; er wurde bloße kalte, abſtrakte, in 
ihrem Preis rechneriſch erfaßbare Ware „Arbeitskraft“ — ſtatt einzigartige, 
eigen wertige Perſoͤnlichkeit zu fein. Da lag es in feinem Intereſſe, daß 
die ſer Preis, fein Cohn, moͤglichſt hoch getrieben wurde. Der Zuſammen⸗ 
ſchluß der Arbeitenden wurde unter ſolchen Umſtaͤnden ein Mittel, auf die 
Preisgeſtaltung der Ware „Arbeit“ einzu wirken. So wurde die Beeinfluſſung 
der Arbeitsmarktlage das entſcheidende Ziel der V? 
es ließ ſich dabei nicht umgehen, daß fie in wilde Wirtſchaftskaͤmpfe, unver- 
meidliche Erſcheinungsformen des kapitaliſtiſchen Weſens dieſer Zeit, 
hineingeriſſen wurden. Die beruflichen Elemente und ihre ZLebensgemein⸗ 
ſchaft erzeugenden Ausſtrahlungen traten unter dieſen Umſtaͤnden inner 
halb der gewerkſchaftlichen Organiſationen mehr und mehr in den Sinter⸗ 
grund. 

Nicht in allen Zweigen unſerer Produktion iſt die Entwicklung ſo weit 
fortgeſchritten, nicht uberall iſt das Berufstum durchwegs aufgeloͤſt; Buch⸗ 
drucker etwa und Zimmerer, Kupferſchmiede, Maſchiniſten und Zeizer 
haben es ſich noch bis zu dieſen Tagen bewahrt. Indes gerade in den 
großen Induſtriezweigen hat es ſich zerſetzt. In dem Maße, in dem das ge⸗ 
ſchah, entfremdeten ſich die Gewerkſchaften dem beruflichen Organiſations⸗ 
prinzip; das induſtrieverbandliche Organiſationsprinzip trachtet ſeit Jah⸗ 
ren danach, ſich an deſſen Stelle zu ſetzen. 

Die Grganiſationszugehoͤrigkeit fol im Induſtrie verband fernerhin 
nicht mehr davon abhaͤngig ſein, was einer gelernt hat und was er kann, 
fondern davon, in welchem Produktionszweig er zufällig mit irgend wel- 
chen Verrichtungen beſchaͤftigt iſt. Der Tiſchler, der in einer Maſchinen⸗ 
fabrik tätig iſt, ſoll 3. B. nicht mehr vom Solzarbeiter ⸗ Verband, ſondern 
vom Induſtrieverband der Metallarbeiter erfaßt werden. Im Mittelpunkt 
der Organiſation ſoll nicht mehr der gelernte Arbeiter, ſondern der unge⸗ 
lernte Arbeiter ſtehen; der Grganiſations aufbau ſoll ſich unter einem 
aͤußerlich ⸗ konſtitutiven Geſichtspunkt, naͤmlich dem raͤumlichen der Zu⸗ 
gehoͤrigkeit zu einem Induſtriebetriebe, vollziehen, ſtatt wie bisher durch 
den geiftig-feelifchen Tatbeſtand des beruflichen Noͤnnens beſtimmt zu wer⸗ 
den. Infolge dieſer Wandlung, die freilich nicht willkuͤrlich iſt, ſondern von 
dem Fortgang der technifch-induftriellen Entwicklung unaufhaltſam vor- 
waͤrts getrieben wird, werden die Gewerkſchaften rationaler und zweck 
betonter, verlieren damit allerdings einen Teil der Unerſchuͤtterlich keit 
ee unmittelbar in ſich beruhenden, fraglos feines ſelbſt gewiſſen Da⸗ 

eins. 

Damit werden ſie vor die praktiſche Aufgabe geſtellt: durch beſondere 
wohluͤberlegte Veranſtaltungen jene einheitliche Atmoſphaͤre, jenes innere 


256 Ernſt Wiekiſch 


alle umfaſſende Gleichgerichtetſein zu erzeugen, ohne die eine Organiſation 
nicht beſtehen kann, die aber beide bisher, ſolange die Gemeinſchaft beruf. 
lichen Noͤnnens verbindend wirkte, ſich ganz von ſelbſt eingeſtellt hatten. 
So ſehr in einem Befamtüberblid uber das Organiſationsleben unferer 
Gegenwart geſagt werden darf, daß mit Ausnahme der kirchlichen Gemein⸗ 
ſchaften die Gewerkſchaften verhaͤltnismaͤßig noch die meiſten elementaren 
Kuͤckſtaͤnde in ſich bergen, fo ſehr bedarf es aber doch ſchon befonderer Ein⸗ 
richtungen, um ihre Binde ⸗ und Anziehungskraͤfte zu ſteigern. Paͤdago⸗ 
giſche Maßnahmen, zu denen eine Organiſation greift, koͤnnen Ausdrucks 
formen einer ſprudelnden, vollen, ſich verausgabenden Lebendigkeit ſein, 
Ausdrucksformen, die Zeugnis von der Fuͤlle vorhandener Energien ab⸗ 
legen; fie koͤnnen aber auch Notbehelfe, Silfsmittel darſtellen, deren ſich 
die Organiſation bedienen muß, um ihr Daſein ſicherzuſtellen, ihrer Sort- 
exiſtenz neue anregende Impulſe einzuimpfen, und um die Kraft des alle 
durchdringenden Korpsgeiftes bewußt zu fördern. Die paͤdagogiſchen Maß⸗ 
nahmen der Gewerkſchaften bedeuten bereits lebensnotwendige Exiſtenz⸗ 
bedingungen. Aus der Empfindung eines wachſenden Notſtandes heraus 
regt ſich in ihnen das immer ſtaͤrker werdende Beduͤrfnis, der Belehrung 
und Aufklaͤrung ihrer Mitglieder in wachſendem Maße Gewicht beizu⸗ 
meſſen. Fur die Juͤnfte brauchte man nicht zu agitieren; der Einzelne ſtrebte 
aus ſich heraus danach, in die Zunft aufgenommen zu werden. Dem ge⸗ 
lernten Arbeiter war der Beitritt zu ſeiner Berufsgruppe naturgemaͤßer 
als dem ungelernten Arbeiter der Anſchluß an einen Induſtrieverband iſt. 
Die Berufsſolidaritaͤt erlebte man; zur Klaſſenſolidaritaͤt muß man ſich 
entſchließen, nachdem mit vernuͤnftigen Gruͤnden ihre Erforderlichkeit ein⸗ 
leuchtend gemacht wurde. Die Berufsgruppe warb durch ihr bloßes Da⸗ 
ſein, der Induſtrie verband dagegen muß ſeinen Zweck erlaͤutern und ſeine 
Nůtzlichkeit beweiſen. 


2 

Grabe paͤdagogiſche Auswirkungen erſtrebte ſchon immer die Gewerk⸗ 

ſchaftsbewegung durch ihre Verſammlungstaͤtigkeit. Die Derfamm- 
lungen waren keineswegs geſellige Juſammenkuͤnfte; fie verfolgten in der 
Regel praktiſche Erziehungsabſichten. Angekuͤndigte Berichte uͤber Lohn; 
bewegungen und Tarifverhandlungen lockten die Mitglieder herbei; hier 
ging es um Dinge, die die materiellen Daſeinsgrundlagen jedes Einzelnen 
fühlbar beruͤhrten. Aber ſolche Berichte waren verknuͤpft mit allgemeinen 
Darlegungen über den Nutzen der Gewerkſchaften, die Notwendigkeit or- 
ganiſatoriſcher Fortſchritte; das Selbſtvertrauen der Zuhoͤrer wurde ge- 
ſtaͤrkt, Soffnungen wurden entzündet, Außerungen vorhandener Entmuti⸗ 
gung wurde entgegengearbeitet. wichtige Werthaltungen wurden ver⸗ 
breitet: der Abſcheu vor dem Streikbrecher wurde genaͤhrt; wie ehedem den 
Boͤnhaſen, der dem zuͤnftigen Sandwerksmeiſter in den Kundenkreis ein- 
brach, die Verachtung der Geſchaͤdigten traf, ſo wehrte ſich jetzt der Selbſt⸗ 
ee e der Gewerkſchafter gegen den Streikbrecher, indem dieſer 
vor der offentlichen Meinung als ehrlos gebrandmarkt wurde. Die An⸗ 
haͤnglichkeit an die Gewerkſchaften wurde gepflegt durch immer wieder auf⸗ 


Geiſtige Elemente und geiſtige Arbeit der freien Gewerkſchaften 257 


gefriſchte Erinnerungen an ſtolze Ereigniſſe; große Streiks, die der Ver⸗ 
band durchgefochten hatte, dienten dazu, der Treue, der OGpferwilligkeit, 
der Zaͤhigkeit und Ausdauer der Kämpfer Lob zu ſpenden; es bildete fic, 
hier eine Art Ideal des klaſſenbewußten und wuͤrdeſtolzen Arbeiters heraus, 
dem der Einzelne nachſtrebte, dem er gleich zu werden ſuchte; der „gute Ge⸗ 
werkſchafter! galt als Inbegriff ſolider Tuͤchtigkeit, feſter Uberzeugungs⸗ 
treue, lauterer Charakterſtaͤrke und unerſchuͤtterlicher Singabebereitſchaft. 
Verſchiedene Verbaͤnde griffen die Ubung der alten Sandwerkevereinigun⸗ 
gen auf: fie ſtifteten Ehrenurkunden für langjaͤhrige Mitgliedſchaft, ver- 
teilten Seftfchriften an Jubilaͤumstagen, kurz, fie waren beſtrebt, perſoͤnlich 
gefärbte 5 zwiſchen der Organiſation und ihren Mitgliedern unter Zu⸗ 
5 alt erprobter Methoden erfolgreicher Menſchenbehandlung an- 
zuſpinnen. 

Nun liegt es in der menſchlichen Natur, daß fie alles, was fie wert- 
ſchaͤtzt, mit letzten Sinnzuſammenhaͤngen in Verbindung zu bringen trach⸗ 
tet, daß ſie das, wovon ſie tiefer bewegt wird, unter weltanſchaulichen Ge⸗ 
ſichtspunkten deuten möchte. So genügt es dem organifierten Arbeiter 
nicht, daß die Gewerkſchaften, die Geld ⸗ und Zeitopfer beanſpruchen, nur 
nützlich find; irgendein Sinn, der weit uͤber das Alltaͤgliche hinausweiſt, 
ſoll aus ihnen hervorleuchten. e 

Die chriſtlichen Gewerkſchaften uͤbernahmen kirchlich religiöfe Elemente, 
um dem Bedürfnis ihrer Mitglieder nach Ideenhaftem Genuͤge zu leiſten. 
Die Gefolgſchaft der freien Gewerkſchaften verhielt ſich gegenuber chriſt⸗ 
lich religiͤſen Glaubens vorſtellungen mehr oder weniger kritiſch; fo eig · 
neten ſie ſich nicht dazu, ideeller Gehalt dieſer Organiſationen zu werden. 
Da holte denn nun die freie Gewerkſchaftsbewegung ihre Glaubens vor⸗ 
ſtellungen aus dem Gedankengut des Sozialismus. Das Sein der Gewerk⸗ 
ſchaften wollte ſich im letzten Grunde dergeſtalt rechtfertigen, daß es ſich 
als ein Mittel darbot, die ſozialiſtiſche Geſellſchaft zu verwirklichen. 

Wie ſehr nun allerdings ſolche ſozialiſtiſchen Glaubensbeſtandteile den 
gewerkſchaftlichen Gedankenkreis durchſetzten, fo wurden fie doch keines; 
wegs wirklich beſtimmende Kräfte des praktiſchen gewerkſchaftlichen San⸗ 
delns; das ſozialiſtiſche Endziel blieb für die Gewerkſchaften doch nur ein 
ſchoͤner Traum für Geierſtunden, eine troͤſtliche Beſeligung für feſtliche 
Augenblicke. Ihre Tagesarbeit war: die Lebenslage der Arbeiter zu beſ⸗ 
fern, eine Pürzere Arbeitszeit und hoͤhere Löhne zu erkaͤmpfen. Dabei 
mußten ſie zu ihren Worten ſtehen; ſtets raͤchte ſich an ihnen bitter, wenn 
fie mehr verſprochen hatten, als fie ſpaͤter halten konnten. Das Erreich⸗ 
bare und Moͤgliche lag vor allem in ihrem Geſichtskreis; der Geiſt der 
Sachlichkeit und wirklichkeitsnaͤhe war ihnen gemäß; die ſozialiſtiſchen 
Glaubensvorſtellungen betrachteten fie nicht als Verheißungen, die über 
kurz oder lang zu verwirklichen ſeien, ſondern als ganz ferne Ausblicke und 
Richtpunkte eines «allmählich ſich vollziehenden Entwicklungsprozeſſes. 
Sie nahmen die Gegenwart wichtiger als jene Zukunft, und ſchließlich 
wandten ſie nur deshalb nicht den Blick von ihr, weil der Glaube an ſie 
Mißerfolge und Bedruͤckendes des Augenblicks als Übergangspunfte zu 
höheren Zuſtaͤnden begreifen und damit leichter ertragen ließ. In Anbe⸗ 
Zar xVm 18 


258 Ernſt Vriefifch 


tracht ſolcher Einſtellung nimmt es nicht Wunder, daß die Gewerkſchaften 
zum Träger des Reviſtonismus wurden; eine zu ſtarke Betonung des End⸗ 
zieles ſtoͤrte ſie; ihnen war die Bewegung alles. So waren die geiſtigen 
Elemente, mit denen der Sozialismus die Gewerkſchaftsbewegung ſpeiſte, 
auf dieſem Boden doch nie recht lebendig; ihre weſentliche Aufgabe war 
da, ſo koͤnnte man etwas deſpektierlich ſagen, lediglich fuͤr den Bedarfsfall 
vorhanden zu fein. Die Gewerkſchaften erzogen nicht eigentlich zu ſoziali⸗ 
ſtiſcher Geſinnung — das mochte die Partei tun — es genügte ihnen, ſich 
auf den Sozialismus berufen zu koͤnnen, wenn die Frage an ſie gerichtet 
wurde, aus welchem umfaſſenden Zuſammenhang fie Kraft und Recht auf 
Daſein ſchoͤpften. Berufsverbände, wie die Buchdrucker, die durch die 
Pflege der Berufsgeſinnung in Bezirke des Weltanſchaulichen hinein⸗ 
gehoben wurden, find zeitweiſe geradezu Schmerzenskinder der ſozialiſti⸗ 
ſchen Bewegung geweſen. 

Die geiſtige Natur der Gewerkſchaften, ihre inneren Tendenzen, ihr 
Charakter kam in ihrer Preſſe zur Ausprägung. Saft alle Derbände geben 
woͤchentlich einmal erſcheinende Blaͤtter heraus. Sie ſind nuͤchtern und 
ſachlich in Sinſicht auf Stoffauswahl und Ton der Darſtellung; die Be⸗ 
handlung gewerkſchaftlicher Probleme füllt den größten Teil der Spalten. 
Die Stellungnahme zu großen politiſchen Angelegenheiten iſt vorſichtig; 
hier tritt das Beſtreben hervor, ſich nicht bindend und verantwortlich in 
Angelegenheiten feſtzulegen, die uͤber den Umkreis uͤblicher Gewerkſchafts⸗ 
arbeit hinausgehen. Die Zeitungen ſind Organe der Sammlung; woͤchent⸗ 
lich erinnern fie das Mitglied an feine gewerkſchaftlichen Pflichten, woͤ⸗ 
chentlich bringen fie ihm, indem fie von Erfolgen, Bewaͤhrungen, aber 
auch zuweilen von Ruͤckſchlaͤgen erzählen, zum Bewußtſein, wie die Orga⸗ 
niſation ſich regt. Wie ſehr die Bewerkfchaftszeitungen einer Vertiefung 
und Vervollkommnung ihres Gehalts noch faͤhig ſein moͤgen, ſo tragen ſie 
doch durch den belehrenden Charakter und wiſſensbereichernden Inhalt 
vieler Veroͤffentlichungen zur geiſtigen Belebung ihrer Leſer bei; insbeſon⸗ 
dere kultivieren fie das volkswirtſchaftliche und ſozialpolitiſche Gebiet. 
Beobachtungen beſtaͤtigen, daß die Gewerkſchaftsblaͤtter eifrig und mit 
Sorgfalt geleſen werden; tauſende von Menſchen unterliegen Woche für 
Woche ihrer ſuggeſtiven Kraft. Sie ſind zweifellos wirkungsvolle Mittel. 
der Maſſenſchulung; gerade weil ſie das Gebiet, das ſie beackern, ſich eng 
ſtecken, iſt ihre Wirkung um fo ſtaͤrker. Sie ziehen ihre Lefer um fo mehr in 
den Bann beſtimmter Betrachtungsweiſen, als dieſe Betrachtungsweiſen 
mehr oder weniger einfoͤrmig immer wieder zur Geltung gebracht werden. 


| 3 

In den letzten Jahren tauchten, hier als Beilagen der eigentlichen Ver ⸗ 

bandsblaͤtter, dort als ſelbſtaͤndige Erſcheinungen, gewerkſchaftliche 
Jugendzeitungen und ſchriften auf. Darin kuͤndete ſich ein bemerkens⸗ 
werter Wandel der gewerkſchaftlichen Stellungnahme zum Problem der 
Jugend an. Vor dem Krieg war die Auffaſſung herrſchend geweſen, daß. 
die Intereſſen der Jugend ohne ihre unmittelbar aktive Mitarbeit von den 
alten erprobten Gewerkſchaften vertreten werden ſollten. Nach I9I8 hatte 


Geiſtige Elemente und geiftige Arbeit der freien Gewerkſchaften 259 


ſich aber doch die Situation verſchoben. Die Jugendbewegung, die ſich von 
der buͤrgerlichen Seite her freie Bahn geſchaffen hatte, erfaßte auch die pro⸗ 
letariſche Jugend. Die Jugend gab ſich ſelbſtbewußter; ſie meldete An⸗ 
ſpruͤche an, ihre Autoritaͤtsglaͤubigkeit zeigte ſich erſchuͤttert. Die jugend⸗ 
lichen Arbeiter erhoben auch auf dem Gebiet, das die Gewerkſchaften als 
ihr Kampffeld betrachteten, ihre beſonderen Forderungen: fie wollten Vor⸗ 
rechte im Sinblick auf die Dauer der Arbeitszeit, ſie verlangten Ferien, 
freien Sonnabendnachmittag, Schulſtunden, die in die Arbeitszeit verlegt 
wurden. Die Gewerkſchaften konnten uͤber das jugendliche Selbſtgefuͤhl 
nicht hinwegſehen; fie mußten damit rechnen. Sie taten es auch. 1921, 
1922, 1925 riefen fie Konferenzen zur Behandlung jugendlicher Fragen zu⸗ 
ſammen; ſie richteten Jugendſekretariate ein, gaben der Jugend zum Teil 
eine eigene Preſſe, gründeten geſonderte gewerkſchaftliche Jugendabtei⸗ 
lungen, veranſtalteten, wie 3. B. der Deutſche Tertilarbeiter-Derband 1925 
es tat, eigene Jugendtage, in Jugendabenden wurden wiſſenſchaftliche 
Probleme erörtert. Durch Jugendleiterkurſe wurden eigene Fuhrer für die 
Jugendarbeit herangebildet. 

Freilich war dieſe gewerkſchaftliche Jugendarbeit doch nie ein eigentlicher 
Zweig der Jugendbewegung geweſen; ſie war nur ein Zugeſtaͤndnis an ſie. 
Die Gewerkſchaften fuͤhlten, wie hier die Frage der Nachwuchsbeſchaffung 
auf dem Spiele ſtehe. Nichts durfte geſchehen, um die Jugend zuruͤckzu⸗ 
ſtoßen; nichts durfte verſaͤumt werden, um ſie zu gewinnen. Auch ſie ſteht 
im Arbeitsprozeß und iſt da, genau beſehen, der Punkt des geringſten Wi⸗ 
derſtandes; die Arbeits bedingungen, unter denen fie lebt, find immer, wenn 
nicht unmittelbar, ſo doch mittelbar, von Einfluß auf die Arbeitsbedingun⸗ 
gen der Erwachſenen. So gewaͤhrten die Gewerkſchaften den Jugend⸗ 
lichen, um ſie anzuziehen und feſtzuhalten, eigenen Bewegungsſpielraum. 

Die Bemuͤhungen, die die Gewerkſchaften dabei entfalteten, ſind nicht 
gering zu ſchaͤtzen. Sie regten das Intereſſe für geiſtige Fragen an; fie ver ⸗ 
ſuchten, den Jugendlichen einen Begriff der Geſamtheit des Arbeitspro⸗ 
zeſſes zu vermitteln, in den ſie, ohne mehr als einen kleinen Abſchnitt davon 
zu erleben, hinein verflochten find, fie ſpornten die Jugend an, ſich im be⸗ 
ruflichen Können zu vervollkommnen, vorwärts zu ſtreben, Fachſchulen 
zu beſuchen, ſich der verflachenden Wirkungen eines oͤden Wirtshaus · und 
Vergnuͤgungslebens zu entziehen. Sie leiſteten hier Erziehungsarbeit im 
beſten Sinne; nicht ſelten erfahren geradezu, gewiſſermaßen ruͤckwirkend, 
die gewerkſchaftlichen Mitgliederverſammlungen eine befruchtende Be⸗ 
5 von dieſer in eigenen Abteilungen ſich ruͤhrenden und entfaltenden 

ugend. 


f | 
Di Beduͤrfniſſe des Organiſationskoͤrpers hatten allmaͤhlich eine durch⸗ 
gegliederte Beamtenhierarchie hervorgebracht. In den Induſtrieorten, 

im unmittelbaren Zuſammenhang mit der taͤtigen Arbeiterſchaft, ſitzen die 
Geſchaͤftsfuͤhrer der Verbaͤnde; fie haben die oͤrtliche Organiſationsarbeit 
zu leiſten; fie find, vom Standpunkt des Arbeiters aus geſehen, Fuhrer, 
vom Standpunkt der Verbandsleitung aus betrachtet, Vollzugsorgane, 
185 


260 Ernſt Niekiſch 


mittels deren ſich der Verbandswille durchſetzt. Gebiets weiſe werden dieſe 
Unterfuͤhrer zuſammengefaßt; die Bezirks ⸗ oder Gauleitungen erheben fi 
über ihnen. Die Spitze des Aufbaues iſt der von der Verbandsgeneralver⸗ 
fammlung gewaͤhlte Sauptvorſtand. Dieſer Beamtenkoͤrper hat Verwal⸗ 
tungsarbeit zu leiſten, ſtatiſtiſches und anders geartetes Beobachtungs⸗ 
material für die fozial- und wirtſchaftspolitiſche Tätigkeit der leitenden 
Stellen heranzuſchaffen; Direktiven find auszuführen. Eine gewiſſe Syſte⸗ 
matik der Ausleſe und der Ausbildung wurde angeſichts ſolcher Aufgaben 
unvermeidlich; man konnte es nicht dem Zufall uͤberlaſſen, ob die angeſtell⸗ 
ten Beamten ihren Aufgaben gewachſen waren und ob ſie aus ſich ſelbſt 
beraus etwa ſuchten, ſich das mangelnde geiſtige Ruͤſtzeug anzueignen. Oft 
fehlte es ja bei ihnen, die nur Volksſchulbildung und ein hartes Arbeiter⸗ 
daſein hinter ſich hatten, an einfachſter Beherrſchung der Rechtſchreib⸗ 
Sprach · und Stilregeln. Im ſchriftlichen Verkehr mit Behörden und Arbeit- 
gebern ſchaͤdigten derartige Bildungsmaͤngel zweifellos das Preſtige der 
GOrganiſation. | | | 
Zuerſt hatten die Gewerkſchaften ihre Funktionaͤre auf die Parteiſchule 
geſchickt; ſie ſaßen dort neben den Parteifunktionaͤren. Aber in dem Grade, 
in dem ſich die Gewerkſchaften ihres beſonderen Weſens bewußt wurden, 
in dem fie es dann zur Geltung brachten, und in dem ſich die Gewerkſchaf · 
ten gegenüber dem Agitatorentum der Partei als ein zur Geſtaltung ver- 
pflichtetes Element begriffen und behaupteten — Legien fühlte den Gegen · 
ſatz bereits 1891 — empfanden fie die Unzweckmaͤßigkeit ſolcher Bil⸗ 
dungsgemeinſchaft. Sie richteten nunmehr eigene Gewerkſchaftskurſe ein, 
deren Lehrplan ſich in enger Anlehnung an den gewerkſchaftlichen Auf⸗ 
gabenkreis aufbaute und der die Übermittlung eines beſtimmten Maßes 
praktiſchen Koͤnnens bezweckte, eines praktiſchen Koͤnnens, das die An- 
geſtellten befaͤhigte, in Lohn verhandlungen ihren Mann zu ſtehen, die 
Durchfuͤhrung der Arbeiterſchutzgeſetzgebung zu beobachten, Rechtsaus- 
Fünfte zu erteilen, an der Rechtſprechung der Gewerbegerichte mitzu⸗ 
en. 

Mehr als je aber mußten die Gewerkſchaften nach dem Kriege Anſtalten 
treffen, um ſich einen Stab geſchulter Kraͤfte heranzubilden. Die Tarifver- 
handlungen brachen zeitweilig uͤberhaupt nicht ab. Der Angeſtellte hatte ſich 
geriſſenen akademiſch gebildeten Syndizis gegenüber durchzuſetzen; Ge⸗ 
werkſchaftsfuͤhrer hatten den Arbeitern an die Hand zu gehen, damit das 
Betriebsraͤtegeſetz lebendig werden koͤnne. Der Zuſammenbruch der deut- 
ſchen Weltſtellung enthuͤllte die Fragwuͤrdigkeit der politiſchen und wirt⸗ 
ſchaftlichen Fundamente des deutſchen Reichsbaues, mit deſſen Schickſal 
auch das Schickſal der Arbeiterſchaft auf Gedeih und Verderb verbunden 
iſt. Die gewerkſchaftliche Arbeit ließ ſich nicht mehr in der Iſolierzelle ver⸗ 
richten, nachdem ſich die machtvolle Exiſtenz des Staates und ſeiner Wirt⸗ 
ſchaft nicht mehr gewiſſermaßen wie von ſelbſt verſtand; ſie war nur 
fruchtbar, wenn fie unter Beachtung ihrer allgemein ⸗politiſchen und wirt- 
ſchaftlichen Vorausſetzungen geſchah. Die Bedingtheit aller Sozialpolitik, 
der gewerkſchaftlichen Domäne, durch den Stand und Lauf der wirtſchaft⸗ 
lichen Dinge wurde tatſaͤchlich ſpuͤrbar; ſozialpolitiſche Auseinanderſetzun · 


Geiſtige Elemente und geiſtige Arbeit der freien Gewerkſchaften 261 


gen muͤndeten jetzt immer, ehe man es ſich verſah, in wirtſchaftspolitiſche 
ein. Der Gewerkſchaftsangeſtellte muß in zunehmendem Umfange Wirt ⸗ 
ſchaftskenner ſein, einerſeits um die Beweiskraft der wirtſchaftlichen Argu⸗ 
mente, die ihm bei dieſer Tätigkeit nunmehr auf Schritt und Tritt begeg- 
nen, ſachkundig beurteilen zu konnen, andererſeits um ſich ſelbſt als prak⸗ 
tiſcher Wirtſchaftspolitiker zu bewähren. Er kann nur erfolgreicher Sach⸗ 
walter der ihm anvertrauten Arbeiterintereſſen ſein, wenn er in Geld⸗ 
marktverhaͤltniſſen, privatwirtſchaftlichen Geſetzlichkeiten, weltwirtſchaft 
lichen Vorgängen Beſcheid weiß. Sier nuͤtzt keine Bildung, die nur be ⸗ 
ſtimmte Geſinnungen hervorbringen ſoll, und der es nicht auf die Aneig⸗ 
nung notwendigen wiſſensſtoffes und Anleitung zu ſachlichem, an den 
Dingen ſelbſt ſich orientierenden Denken, ſondern nur auf die Übung partei 
maͤßig gebundener, traditionell hochgehaltener Denkweiſen ankommt. Die 
Gewerk ſchaften fühlten das Beduͤrfnis nach Fachleuten, die ſich auf ihr 
Gebiet verfteben ; fie litten unter dem Mangel an Spezialiſten; das Erleb⸗ 
nis vorhandener Unzulaͤnglichkeiten, aus denen ſie Auswege ſuchten, trieb 
fie zum Sandeln; fie wollten ſich dieſe Sachmaͤnner ſchaffen. Wo fie jetzt 
Bildungseinrichtungen ſtifteten oder foͤrderten, dachten ſie an beſtimmte 
praktiſche Zwecke; zu begrenzter 3Zwedbildung, die einer erleſenen Fuhrer ⸗ 
ſchar zugedacht iſt, bekannten ſie ſich. | 
Die Meinung war vorwaltend, die ehemaligen Gewerkſchaftskurſe feien 
weit hinter dem zuruͤckgeblieben, was man mit ihnen beabfichtigt hatte. 
So wollte man ſie denn nicht eigentlich wieder aufnehmen; neue Wege 
ſuchte man aufzuſpuͤren. Da war es von Bedeutung, daß gleich nach dem 
Novemberzuſammenbruch eine maͤchtige Bildungsſehnſucht die Arbeiter⸗ 
ſchaft ergriffen hatte; es war erſchuͤtternd zu ſehen, wie die Maſſen nach 
Wiſſen draͤngten; fie handelten aus der Empfindung ihrer geiſtigen Enge 
heraus, die ſie ſelbſt nicht fuͤr erlaubt hielten, wenn man ſchon eine neue 
Weltordnung verwirklichen wollte. Im revolutionaͤren Rußland iſt dieſe 
Bildungsſehnſucht, im Gegenſatz zu Deutſchland, bis zu dieſem Tage noch 
nicht verebbt. I 3 

Dieſer Bildungshunger ſuchte anfänglich in den Volkshochſchulen feine 
Befriedigung. Überall erfolgten Neugruͤndungen; oft phantaſtiſche Lebr- 
plaͤne wurden mit jungem optimiſtiſchem Eifer feſtgeſetzt. In dieſem all 
gemeinen Zug der Dinge vollzog ſich auch eine Annaͤherung der Gewerk⸗ 
ſchaften an die Volkshochſchulbewegung; die Frage tauchte auf, ob nicht 
die Volks hochſchule als gewerkſchaftliche Beamtenſchule zu verwenden ſei; 
vielleicht am engſten knuͤpften ſich ſolche Beziehungen zwiſchen Gewerk⸗ 
ſchaften und Volkshochſchulen in Köln und Breslau. | | 

Zu gleicher Zeit ließen die Gewerkſchaften den ſtaatlichen Wirtſchafts⸗ 
ſchulen, die in Berlin, Jena und Duͤſſeldorf entſtanden, ihre Foͤrderung zu⸗ 
teil werden. Die ſachliche Neutralitaͤt, zu der dieſe Wirtſchaftsſchulen durch 
Entſtehung, Lehrkörper und Zielſetzung verpflichtet waren, entſprach den 
Abſichten der Gewerkſchaften. Die Gewerkſchaften gaben ZJuſchuͤſſe und 
delegierten Schüler, die durch ihre gleichfalls aus Gewerkſchaftskaſſen 
ſtammenden Schulgelder zum Unterhalte der Schuleinrichtungen bei⸗ 
trugen. | | 


262 Ernſt Wiekiſch 


Ahnlich geſtaltete ſich das Verhaltnis zur Akademie der Arbeit in Frank⸗ 
furt a. M. Sicherlich gehoͤrt dieſe Akademie zu den erfreulichſten kulturellen 
Gebilden der nachrevolutionaͤren Zeit; außer ſtaatlichen und gemeind- 
lichen Geldleiſtungen verdankt ſie der gewerkſchaftlichen Gpferfreudigkeit 
ihren Fortbeſtand. Cehrer der verſchiedenſten politiſchen Strömungen 
wirken dort. Das Schuͤlermaterial iſt nicht weniger gemiſcht. Neun Mo⸗ 
nate hindurch dauert ein Ausbildungsabſchnitt. Die Gewerkſchaften er- 
möglichen es dem Schüler, dort auszuharren; fie zeigen ſich beſtrebt, ihre 
beſten Leute hinzuſenden; die Auswahl erfolgt hier bewußt, dort nur in⸗ 
ſtinktiv nach dem Geſichtspunkt, ob der Auserwaͤhlte Anlagen beſitzt, in 
den oberen Stufen der Gewerkſchaftsbureaukratie dereinſt ſeinen Mann zu 
ſtellen. 

Eine ganz eigentùmliche Erſcheinung iſt die Gewerkſchaftsſchule in Ber⸗ 
lin. Sie verdankt ihr Daſein allein der Initiative des Berliner ortlichen Be- 
werkſchaftskartells. Es wird dort ein ſyſtematiſcher, auf eine laͤngere Dauer 
berechneter Lehrplan aufgeſtellt; freilich kann er nur in Kurſen, die nach 
Arbeitsſchluß ſtattfinden, zur Durchfuhrung gelangen. 

Ganz und gar gewerkſchaftliche Bildungsunternehmungen ſind auch die 
Betriebsraͤtekurſe. Durch das Betriebsraͤtegeſetz waren der Arbeiterſchaft 
ganz neue Aufgaben zugewieſen worden; ihr kommt Einfluß zu auf die 
Geſtaltung der Arbeitsbedingungen, fie kann bei Entlaſſungen mitwirken, 
fie hat außerdem eine gewiſſe Verantwortung für alles, was die Produk 
tion fördert oder einſchraͤnkt; Betriebsraͤten ſteht ſogar der Aufſichtsrat 
offen. Die Betriebsräte hatten mannigfache Pflichten und Möglichkeiten 
des Wirkens, zu denen ſie ſich nicht ohne weiteres befaͤhigt zeigten. 

In Betriebsraͤtekurſen und konferenzen, in Betriebsraͤtezeitſchriften 
wurde hier entſprechende Schulungsarbeit geleiſtet. Alle Verbaͤnde be⸗ 
griffen die Aufgabe. Servorragende Wiſſenſchaftler wurden zu deren Zoͤ⸗ 
ſung herangezogen. 

Wenn man auf die Geſamtheit dieſer gewerkſchaftlichen Bildungsarbeit 
blickt, fo bietet ſich ein mannigfaches Bild dar. Was man vermiſſen Fönnte, 
iſt vielleicht dies: daß doch noch kein einheitlicher organiſcher Gedanke dieſes 
reiche bildneriſche Bemühen durchdringt. Noch fehlt die ſinn volle ſyſtema; 
tiſche Gliederung. Die geiſtigen Tendenzen jeder einzelnen Bildungseinrich⸗ 
tung ſind gut; ſie wollen zu ſachlichem Denken fuͤhren und notwendige 
Wiſſensſtoffe darbieten. Aber dieſe Bildungs veranſtaltungen find nicht 
ſtufenweiſe aneinandergefügt. Es iſt hier kein Fortſchreiten von elemen- 
tarer Schulung zur hoͤheren Anforderung; der Ausleſeprozeß wird nicht 
ſachkundig genug erledigt. Sier liegen noch Aufgaben. Ein Plan iſt aufzu⸗ 
ſtellen und innezuhalten, der mit oͤrtlichen Kurfen beginnt, leiftungsfäbigere 
bezirksweiſe Kurſe anſchließt, dann über die Wirtſchafts - und Gewerk⸗ 
ſchaftsſchulen hinwegſchreitet zur Krone des Ganzen, zur Frankfurter Aka⸗ 
demie. Die Lehrpläne find hierbei durch Vermittlung der zentralen In⸗ 
ſtanzen alleſamt aufeinander abzuſtimmen. 

Gerade ſolchen Mißlichkeiten gegenüber fehlt es nicht an Verſuchen, fie 
zu bewaͤltigen. Eigene Bildungszentralen der einzelnen Verbaͤnde haben 
da und dort ſchon den Aufba ueines ſyſtematiſchen Bildungsweſens in An⸗ 


Geiſtige Elemente und geiftige Arbeit der freien Gewerkſchaften 263 


griff genommen. Am entwickeltſten iſt bisher die Bildungszentrale des 
Deutſchen Metallarbeiter ⸗ Verbandes. Sie ordnet ihre Bildungsarbeit von 
der Zentralſtelle aus uͤber das ganze Verbandsgebiet hin; der Leiter iſt zu ⸗ 
gleich auch Lehrer an der Akademie in Frankfurt. Er hat es damit in der 
Hand, feine Bildungsarbeit von unten an auf den Akademiebeſuch hin ein- 
zuſtellen. In einigen anderen Verbaͤnden iſt der Aufbau einer zentraliſier · 
ten Bildungsarbeit in Angriff genommen. 


| 5 
Ä dem Maße, in dem die Gewerkſchaften durch die Zerſetzung des Be⸗ 
rufstums an elementarer Wurzelhaftigkeit verloren, wurde es für ihre 

Exiſtenz immer bedeutſamer, inwieweit ſie unmittelbar praktiſche Erfolge 
zu erringen vermochten. Der Nachweis, daß ſie infolge ihres Daſeins und 
ihrer Taͤtigkeit die Lebenshaltung der Induſtriearbeiterſchaft verbeſſerten, 
wirkte werbend und feſthaltend. Die geiſtige Arbeit, die die Gewerkſchaften 
auf ſich nahmen, verfolgt eine doppelte Abſicht. Einmal ſoll dieſe geiſtige 
Arbeit einen Funktionaͤrkoͤrper ſchaffen, der durch feine Tuͤchtigkeit und 
Faͤhigkeit imſtande iſt, die erforderlichen organiſationserhaltenden Erfolge 
zu erzielen. Wertvolle Unterſtuͤtzung gewaͤhren hierbei die Monatsſchriften 
„Die Arbeit“ und „Das Gewerkſchaftsarchiv“, die ſich der vertiefenden Be- 
handlung aller gewerkſchaftstheoretiſchen Fragen widmen. Zum anderen 
fol fie in ihrer Sinwendung auf die Maſſen mittels Derfammlungen, 
Preſſeweſen, Anleitung zur Bibliothekbenutzung, Jugendarbeit den Wil⸗ 
len zu gewerkſchaftlicher Treue ſtaͤrken und durch Aufklaͤrung uͤber die 
Zwecke und den ſichtbaren Nutzen der Grganiſation fuͤr den Eintritt in ſie 
gewinnen. ; | 

Es iſt eine beträchtliche geiſtige Zeiftung, die hierbei die Gewerkſchaften 
vollbringen. Es tut ihr keinen Eintrag, daß ſie auf praktiſche Abſichten 
eingeſtellt iſt; daß ſich die Gewerkſchaften des Beiftes als eines Mittels be- 
dienen, erniedrigt nicht den Geiſt, ſondern erhoͤht nur den geſellſchaftlichen 
wert gewerkſchaftlicher Tätigkeit. 
Aber neben jener auf praktiſche Zwecke hintreibenden geiſtigen Lebendig- 
keit ſind auch ſtark entwickelte Anſaͤtze zu freier ungebundener kultureller 
Wirkſamkeit zu beobachten. Die Unterſtuͤtzung der Volksbuͤhnenbewegung, 
die Gruͤndung von oͤrtlichen Arbeiterkulturkartellen durch die Gewerkſchaf⸗ 
ten gebören dazu. Dieſes rein kulturelle Wirken hebt nur mit großer Deut · 
lichkeit die Tatſache hervor, an der an ſich nicht zu zweifeln iſt: daß die ge⸗ 
werkſchaftliche Geſamtarbeit uͤber die wirtſchaftspolitiſchen und ſozial⸗ 
politiſchen Gebiete hinaus in den Bereich des kulturellen Schaffens hinein⸗ 
ragt. 


264 Erich Winkler 


Erich Winkler / Bildungsfragen 
der Sozialdemokratie 


ie Theoretiker der ſozialdemokratiſchen Bewegung haben ihre 

Partei nie als eine Partei im gewöhnlichen Sinne bezeichnet, als 

die Grganiſation, der lediglich die Funktion obliegt, das ſtaatliche 
und politiſche Leben zu beeinfluſſen zum Zwecke der Machteroberung. Die 
Sozialdemokratie ſoll Partei in einem weiteren Sinne fein, eine Welt; 
anſchauungsorganiſation, die nicht nur ihre tragende Idee im ſtaatlichen 
Machtkampf zur Durchſetzung bringen will, ſondern die in ihrer Ideologie 
die Ideologie aller anderen Parteien mitzuenthalten glaubt und eine letzte 
Partei, den klaſſenloſen Staat erſtrebt. Sie iſt nicht Intereſſen verband, der 
ſich am Einzelintereſſe orientiert und ſtets auch nie mehr als die Inter · 
eſſenten erfaſſen will, ſie vertritt nicht lediglich die Intereſſen eines Standes 
oder einer Klaſſe, ſondern fie baut ihre Ideologie — wie allerdings einige 
andere Parteien auch — aus einem einheitlichen, geſchloſſenen Prinzip 
auf, ſpricht ihren Poſtulaten Allgemeinguͤltigkeit zu und wendet ſich mit 
ihnen an die Geſamtheit der Staatsbuͤrger oder des Volkes. Trotz ſolcher 
Unterſcheidungs merkmale von anderen Parteien unterliegt fie natuͤrlich 
den allgemeinen Geſetzen der Parteiſoziologie und der Maſſenpſychologie, 
bleibt ſie organiſatoriſch Partei wie jede andere Partei. Das heißt: Sie iſt 
dem Geſetz der Beharrung und der Ausſchließlichkeit des Programms 
unterworfen, der Tendenz der Transgreſſion; ſie wird zum „Apparat“ wie 
jede andere Partei, der zur Gefahr werden kann, wenn zu ſchwache Nor⸗ 
rektive eingeſetzt werden. | 

Das hängt fo zufammen : In der politifchen Partei muß ſich der Kin» 
zelne der Geſamtidee unterordnen, muß er ſich um der Befamtidee willen 
in die Schablone preſſen laſſen. Alle Mitglieder ſind gleichberechtigt, alle 
find wählbar, fie verwalten ſich ſelbſt durch ihre Beauftragten, die Voll; 
ſtreckungsorgane ihres Maſſenwillens ſind und unter ihrer ſtaͤndigen Ab⸗ 
haͤngigkeit und Kontrolle ſtehen ſollen. Je mehr freilich die Partei waͤchſt, 
deſto weniger iſt ſchon aus verwaltungstechniſchen Grunden das Prinzip 
der Selbſtverwaltung rein durchfuͤhrbar; es muͤſſen Angeſtellte gewiſſe 
Dauerfunktionen übernehmen, die ihnen mit der Zeit eine Überlegenheit 
verſchaffen; es entwickelt ſich das Berufsfuͤhrertum und damit die Voraus⸗ 
ſetzungen fuͤr die Bildung einer Fuͤhreroligarchie. 

Dieſe ſoziologiſche Zwieſpaͤltigkeit der Sozialdemokratiſchen Partei in der 
heutigen Geſellſchaftsform muß man von vornherein ſehen, wenn man 
die Problematik ihrer Bildungsarbeit begreifen will. Von hier aus muß 
man unterſcheiden und abgrenzen. 

Gewoͤhnlich wird in der Arbeiterbewegung von der „Arbeiterbildung“ 
ſchlechthin geſprochen. Aber ſchon aus den oben angedeuteten Gruͤnden 
find 3. B. Gewerkſchaften und Partei funktionsverſchieden. Die Gewerk⸗ 
ſchaften wollen nur Intereſſenorganiſation ſein (ein intereſſanter Wandel 
dieſer Auffaſſung bahnt ſich in den letzten Jahren an); ſie halten es fuͤr 


Bildungsfragen der Sozialdemokratie 265 


ſelbſtverſtaͤndlich, daß die Träger anderer Intereſſen ſich in anderen Grga⸗ 
niſationen zufammenfinden. Die Partei dagegen würde ſich aufgeben 
muͤſſen, wollte ſie ſich mit einer Intereſſengruppe, auch wenn es eine 
Klaſſe iſt, identifizieren und ſich letzten Endes nicht auf das Wohl der Be- 
ſamtheit beziehen. Die Gewerkſchaften ſind nach innen gewendet, ſie ſuchen 
wie jeder Intereſſen verband dem Einzelnen zu beweiſen, daß ſein Intereſſe 
an das des Verbandes gebunden iſt, waͤhrenddem ſie nach außen hin dartun 
muͤſſen, daß die Verwirklichung ihrer Forderungen im Intereſſe des Be- 
meinwohls liegt, ohne daß ſie innerlich mit ihm verbunden waͤren, denn 
fie beabſichtigen nie, die Geſamtheit zu umfaſſen. Auch fie koͤnnen aber 
ihre Forderungen nur durchſetzen auf politiſchem Wege mit politiſchen 
Mitteln. Sie ſtreben daher genau ſo nach Einfluß und Beeinfluſſung wie 
die politiſche Partei, die ihrem Weſen nach aber ganz anders iſt. Dieſes 
gleiche äußere Verhalten des Intereſſen verbandes und der Partei führt 
dazu, ſie auch ihrer Funktion nach miteinander zu verwechſeln, entſprechend 
auch ihre Erziehungsaufgaben; es fuͤhrt dazu, daß man ſchlechthin von 
„Arbeiterbildung“ ſpricht. | | 

Aus der organifatorifch-politifchen Aufgabe der Partei läßt ſich die eine 
ſpezielle Aufgabe der Parteibildung ableiten, auf die weiter unten ein- 
gegangen wird. Die größere, beſondere Aufgabe ſtellt ſich die Sozial ⸗ 
demokratie auf Grund der Aulturlage, auf Grund ihres Kulturzieles. Die 
große Maſſe der ZLohnarbeiterſchaft ſteht heute außerhalb jeden Anteils 
an der nationalen Kultur, iſt wurzellos und ſchwach, Objekt der Induſtriali 
fierung, allen Einfluͤſſen einer wirtſchaftlichen Übermacht preisgegeben. 
Sie iſt kulturell, oͤkonomiſch und phyſiologiſch das ſchwaͤchſte Glied der 
Geſellſchaft und braucht ſchon aus Selbſterhaltung die Örganifation. Die 
Sozialdemokratie hat ſich die gewaltige Kulturaufgabe geſtellt, an der 
Schaffung einer neuen Kultur mitzuwirken, was bedeutet, daß ſie ihre 
Anhaͤnger auch mit ihrer ganzen Perſoͤnlichkeit zu erfaſſen ſuchen muß, 
weil jede Kultur nur über den Einzelnen geht. Dieſe Aufgabe enthaͤlt das 
ſchwerwiegendſte Problem der Gegenwart, das eigentliche Problem der 
Bildungsarbeit, an der auch jeder Nichtſozialdemokrat Intereſſe nehmen 
muß, weil auch feine Kultur zugrunde geht, wenn es nicht gelingt, dieſes 
Problem bald zu loͤſen. Dieſe Seite der Bildungsarbeit ſei hier Sorm- 
bildung sarbeit genannt. | 

Die organiſatoriſch⸗politiſche Aufgabe erfordert nicht den ganzen Men⸗ 
ſchen. Die Partei als Mittel zur Machtdurchſetzung im Staate braucht eine 
militaͤriſche Armee mit ſtreng diſziplinierten Soldaten. Dieſe Armee Partei; 
ſoldaten muß ſchlagfertig und demzufolge hierarchiſch gegliedert, zentrali⸗ 
ſtiſch aufgebaut ſein. Sie braucht nicht die Perſoͤnlichkeit, ſondern den 
Funktionaͤr; fie braucht nicht die ſeeliſche Kraft, ſondern das Gewicht der 
Zahl, die Zahl repraͤſentiert die Groͤße und Bedeutung der Partei. Dieſe 
Aufgabe, eine gewiſſe politiſche Erziehung, die ſchlagfertige Erhaltung 
und Vergroͤßerung des Parteiapparates mit dem Ziel der Machterlangung 
mag bier im Gegenſatz zu jener Bildungsarbeit als Rampfſchulungs ⸗ 
arbeit bezeichnet werden. Die Erziehung des politiſchen Naͤmpfers auf das 
unmittelbare Ziel der Machteroberung iſt ebenſo notwendig wie die des 


266 Erich Winkler 


ſozialiſtiſchen Menſchen, der die Vorausſetzung für die eigentliche Aul- 
turneugeſtaltung iſt, ohne deren bewußte Vorbereitung zudem jede Macht; 


eroberung zwecklos bleibt. 

Was die Sozialde mokratiſche Partei bis zum Jahre 1914 getrieben hat, das war 
im weſentlichen die Schulungsarbeit für den politiſchen Aampf, die geleiſtet 
worden iſt unter unerbörten Schwierigkeiten und oft mit großen perſoͤnlichen 
Einzelopfern der Mitglieder. Dieſe ſtark auf die Agitation und den unmittelbaren 
Bampf gerichtete Schulung war in der Jielrichtung gegeben durch die ſtaatsfeind⸗ 
liche Stellung, in die man die Partei ſeit Jahrzehnten getrieben hatte. Im Jahre 
1907 wurde die „Bildungsfrage“ das erſte Mal auf dem Parteitage behandelt, 
und zwar weil eine Parteiſchule in Berlin gegründet worden war. Als deren Auf⸗ 
gabe wurde bezeichnet, eine „Schule für parteigendffifche Agitatoren in Wort und 
Schrift zu fein, die aber wohl mehr geworden iſt als eine „Dreſſuranſtalt“ für 
Parteiredner. Das Jiel der Aufklaͤrungsarbeit war damals die „Bildung im Die nſte 
des politiſchen und ſozialen Emanzipationskampfes, zur politiſchen und ſoziali⸗ 
ſtiſchen Agitation“. Aus dem ſtarken, dauernden Wachstum und dem Mangel an 
geſchulten Bräften ergab ſich die ſtaͤndige Erweiterung dieſer Tätigkeit. Im Jahre 
1912 / I3 wurden von 331 berichtenden Ortsgruppen für Bildungsswede die ſer Art 
M. 740000 ausgegeben; es wurden in 215 Orten 420 Vortragskurſe mit 2951 Vor⸗ 
trägen vor 44146 Teilnehmern gehalten. Die Verteilung ergibt folgende Tabelle: 


Wiſſensgebiet a Teilnehmer 


Wationalòko nomie 
Wirtſchaftsgeſchi chte 
Geſchichte (allgemein -». - .» . .» 
Darteigefbidhte - - - - - 22... 
Citeratur und Bunftgefchichte 
Sozialismus 
Erfurter Programm 
Politik, Verfaſſunn ung 
uͤrgerliche Parteien 
Gewerkſchaftsbewegunun - - - - - 
Genoſſenſchaftsbe wegung 
Sozialpolitik 
Rechts · und Geſetzesk unde 
Maturwiſſenſchaftenn 
Erziehung 
Rede und Stille hre 
Elementarfaͤ chert 
Technik 


insgeſamt 420 


Die Themen der von den Wanderrednern waͤhrend des ganzen Jahres abgehaltenen 
Burfe waren: J. Die wirtſchaftlichen Grundlagen des Sozialismus. 2. Entwick⸗ 
lungsſtufen des Wirtſchaftslebens. 3. Volkswirtſchaftliche Grundbegriffe, Marx 
Skonomiſche Lehren. 4. Geſchichte des Sozialismus bis um Beginn des J9. Jahr⸗ 
bunderts. S. Geſchichte des Sozialismus im 9. Jahrhundert (Lehrer Dr. Duncker).— 
J. Entwicklungsſtufen des Wirtſchaftslebens; 2. Aarl Marx oͤͤkonomiſche Lehren; 
3. Die Geſchichte der deutſchen Sozialdemokratie; 4. Das Erfurter Programm; 
S. Die Sozialdemokratie, was fie iſt und was fie will; 6. Grundfragen der Er⸗ 
ziehung (Cebrer: Otto Rühle). — J. Einfuͤhrung in den wiſſenſchaftlichen So⸗ 
zialismus (Erfurter Programm); 2. Der praktiſche Teil des Erfurter Programms; 
3. Die Theorien und Programme der bürgerlichen Parteien in Deutſchland; 4. Der 
biſtoriſche Materialismus; S. Einfuhrung in die politiſche Öfonomie; 6. Die 
kapitaliſtiſche Jirkulation; 7. Deutſche Wirtſchaftsgeſchichte (Lehrer: Julian 
Borchardt). — I. Geſchichte des Entwicklungsgedankens in der Naturwiſſen⸗ 


Bildungsfragen der Sozialdemokratie 267 


ſchaft; 2. Entwicklungsgeſchichte der Erde; 3. Deutſchlands Schickſale in den 
verſchiedenen Perioden der Erdgeſchichte; 4. Vom Urtier zum Menſchen; 5. Der 
Menſch der Vorzeit (Lehrer: Engelbert Graf). — I. Einfuhrung in die Bio⸗ 
logie; 2. Menſchenkunde; 3. Arankheit und Proletariat (Lehrer: Dr. Drucker). — 
I. Die Entwicklung zur Induſtrieherrſchaft; 2. Technik und Arbeiterbewegung; 
3. Der moderne Induſtrie betrieb; 4. Techniſche Wanderungen durch die deutſche Groß⸗ 
induſtrie (Lehrer: Richard Woldt). — I. Technik der Rede und des Vortrages; 
2. Die deutſche Literatur im J8. Jahrhundert; 3. Die deutſche KLiteraturim J9. Jahr⸗ 
hundert; 4. Die Sauptſtile in der bildenden Aunſt (Cehrer: Dr. Poensgen · Alberty). 

Die Formbildungsarbeit, die Entfaltung des ſozialiſtiſchen Menſchen, 
die Freilegung feiner kulturgeſtaltenden Kraͤfte it — von Anſaͤtzen ab- 
geſehen — als bewußte Aufgabe vor dem Kriege faſt nicht in Erſcheinung 
getreten, wenngleich ein großer Teil der oben aufgeführten Bildungs 
gebiete uͤber den Rahmen der politiſchen Schulung weit hinausgeht. Um 
ſo mehr bedruͤckt in der Nachkriegszeit dieſe Frage alle ſehenden Menſchen. 
Dazu kommt, daß ſeitdem die politiſche Schulung des Parteikaͤmpfers einen 


Inhaltswechſel erfahren hat. 

Die Sozialde mokratie hat ſich in ibrer praktiſch⸗politiſchen Saltung umgeſtellt 
als Bonfequenz aus dem Juſammenbruch von 1918 und aus der Anerken- 
nung der Verfaſſung. Die Demokratie zwingt zur Auseinanderſetzung mit dem 
Gegner, fie lehrt die eigenen Schwaͤchen und Leiſtungen richtig einſchaͤtzen und 
führt zur E inſetzung der beſten Kraͤfte, weil nur dieſe die Gewinnung der Mehrheit 
des Volkes auf die Dauer am ſicherſten gewaͤhrleiſten. Die Bonfequenz aus der ge · 
änderten politiſchen Struktur für den inneren Aufbau der Partei muß ein Fuͤhrer⸗ 
Auswahlſyſtem fein, das den beſten Kraͤften den Aufſtieg innerhalb der Partei 
tatſaͤchlich moͤglich macht. Die Partei · und teilweiſe auch die Gewerkſchaftsbetriebe 
befinden ſich oft noch auf der Stufe des Sand ⸗ und Kleinbetriebes, gar manche 
Beamte ſte hen auf falſchem Poſten, das Verhaltnis zu den Intellektuellen iſt noch 
problematiſch. Der Apparat war teilweiſe zu ſchwerfaͤllig, um der Umgeſtaltung 
gewachſen zu fein. — Die Verfaſſung reicht aus, um juriſtiſch eine ſozialiſtiſche 
Gemeinwirtſchaft zu begründen, um die ſoziale Gerechtigkeit in der Wirtſchaft 
endlich durchzuführen. Schon bei der politiſchen Juſammenarbeit alle Republi- 
kaner auf die Konſequenzen ihrer Anerkennung der Verfaſſung ſyſtematiſch bim 
zuzwingen, iſt eine der wichtigſten Schulungsaufgaben, der ſich vor allem die 
ſozialiſtiſche Bampfprefle annehmen müßte. Die ganze Frage wird aber proble- 
matiſch, wo es ſich um die Vorbereitung der Machteroberung handelt. Die Er⸗ 
fahrungen ſeit 1918 find da Anſchauungsunterricht genug dafur: die Zahl derer 
iſt verhaͤltnis maͤßig gering, die das Jufallen der Macht vom „dialektiſchen Um⸗ 
ſchlag“ erwarten. Macht iſt ſcharf zu ſcheiden von Gewalt; Macht iſt geiſtige 
Serrſchaft, iſt eine von Willen und Intellekt beſtimmte, durch Ju⸗ 
ſammenwirkung entſtehende geſellſchaftliche Fähigkeit, keine pby- 
ſiſche Araftleiſt ung. In dieſem Punkte gehen Rampfſchulungsarbeit und Form ⸗ 
bildungsarbeit ineinander. 

Der militaͤriſche Zuſammenbruch des Jahres Jo Is bedeutet zwar, daß die 
alten Gewalten auch innerlich nicht mehr anerkannt wurden, jede Revo⸗ 
lution muß aber von einer Idee getragen ſein, die in der Lage iſt, die ge⸗ 
ſellſchaftlichen Kräfte zu ihr hinzureißen. Dieſe geſellſchaftsgeſtaltende 
Macht, die Kräfte mobilifieren kann, iſt heute wohl nur der Sozialismus. 
Seine Idee iſt groß, iſt weltbewegend. Aber heute ebenſowenig wie 1918 
ſind die Vorausſetzungen dafuͤr geſchaffen, daß er die Maſſen innerlich 
ergreift und mit Mitteln der Macht und der Gewalt praktiſch verwirklicht 
wird. Denn heute noch ebenſo wie 1918 fehlt die wichtige kultur- 
produktive Schicht der Intellektuellen, deren Zeidenſchaft darauf 
gerichtet iſt, den Moment der Umwaͤlzung herbeizufuͤhren, auf daß die Re⸗ 


268 Erich Winkler 


volution nicht in der Gewaltanwendung ſtecken bleibt, ſondern nach kon; 
kreten Einzelzielen Schritt fuͤr Schritt die Geſellſchaft formt. Auch dieſe 
konkreten Einzelziele, die bildhaften Parolen, die ſozialen Forderungen — 
alles fehlte 19 Is und zum Teil noch heute. Solange aber die Ideen 
der nächſten Revolution nicht von der Intellektuellenſchicht 
vorgeformt find, ſolange unter ihnen keine ideologiſche 
Einheit ift, ja, ſolange fie noch nicht einmal die Proble- 
matik dieſer Umgeſtaltung erfaßt hat, kann die Glut der 
Zeidenſchaft ſich nicht in den Maſſen zur Kealiſierung der 
Forderungen formen. Auf die Bildungsaufgaben angewandt, be⸗ 
deutet das: auch die beſte Rampfſchulungsarbeit bleibt wirkungslos ohne 
ſolcherart zielgerichtete Formbildungspolitik! | 

Die Bampffhulungsarbeit wird zuweilen in Widerſpruch geraten zur 
Sormbildungsarbeit, weil es immer Nurparteimenſchen gibt, die nur dieſe 
eine Seite ſehen und die Schulung einſeitig auf das eine Ziel richten. Aber 
auch bei den Bildnern, die auf weite Sicht arbeiten, iſt die Entſcheidung 
zwiſchen beiden bzw. das Vereinen der beiden Aufgaben nicht leicht, es 
führt nicht felten zu inneren Konflikten. Da muß zunaͤchſt eins betont wer- 
den: die Kampfſchulungsarbeit kann heute nicht auf den nahen 
Zuſammenbruch, auf die be vorſtehende Kataſtrophe abgerichtet 
fein. Auch jede Rampfſchulung muß daher heute theoretiſch und philoſo⸗ 
phiſch fundiert ſein, denn alle Sandlungen und Entſcheidungen gehen auf 
einige wenige letzte Grundentſcheidungen zuruͤck. Der Nurparteimann neigt 
allzuſehr dazu, den Bildungsſtoff als Mittel feinen hoͤheren Zwecken unter; 
zuordnen, wichtige Erkenntniſſe aus parteitaktiſchen Gruͤnden umzubiegen 
oder zu verſchweigen, beiſpielsweiſe einen Angriff auf den Marxismus als 
einen Angriff auf die Arbeiterbewegung zu betrachten und zu parieren, 
auch wenn die Angriffe vielleicht berechtigt waren. Die Vertreter diefer 
einſeitigen Saltung argumentieren etwa ſo: der moderne Maſſenmenſch des 
Kapitalismus braucht eine feſte dogmatiſche Bindung, um e xiſtieren zu 
koͤnnen, denn bei ihm komme es nur auf die Gefuͤhlswirkung des uͤber⸗ 
lieferten Bildungsſtoffes an. Darum ſei es zulaͤſſig, bei der Darſtellung 
beliebig auszulaſſen oder zu vereinfachen, je nachdem, wie es der politiſche 
Zweck gerade erfordert. ö 
Die Formbildungsarbeit muß ſich entſchieden gegen dieſe gefährliche Ein ⸗ 
ſeitigkeit wenden, weil ſie dem letzten Sinn der Bildungsarbeit zuwider⸗ 
laͤuft. Dieſer letzte Sinn iſt die Geſtaltwerdung jedes einzelnen Men⸗ 
ſchen im Dienſte Aller. Daher muß die Formbildungsarbeit die erkannte 
Linie ohne Ruͤckſicht auf die taktiſchen Erforderniſſe den Teilnehmern 
in ſyſtematiſcher Schulung uͤbermitteln, ſie muß der Auswirkung der 
Gegenſaͤtze freien Lauf laſſen und muß den Vertretern jener falſchver⸗ 
ſtandenen Kampfſchulung entgegenhalten: Ihr macht aus der Not 
eine Tugend. Ihr nehmt eine verhaͤngnisvolle kapitaliſtiſche Erſchei⸗ 
nung, die mechaniſche Verſachlichung des Menſchen und feine Tberindi- 
vidualiſierung für ein unabaͤnderliches Prinzip. Ihr verwechſelt die 
Tatſache, daß es in der Wiſſenſchaft verſchiedene Geſichtspunkte gibt, 
mit der Tatſache der Standpunkte in der Paͤdagogik, die ein Ergebnis 


Bildungsfragen der Sozialdemokratie 269 


der geſellſchaftlich⸗geſchichtlichen Entwicklung der einzelnen Schichten 
ſind. Zwiſchen dieſen verſchiedenen wiſſenſchaftlichen Methoden und den 
verhaͤltnismaͤßig wenigen weltanſchaulich verankerten paͤdagogiſchen 
Standpunkten und Zielen gibt es aber keine Parallelitaͤt, und jede Ein⸗ 
ſeitigkeit, jede Verzerrung, jeder Aufklaͤricht iſt darum leichtfertige Täu- 
ſchung, die nicht kulturgeſtaltend wirken kann! 

Es konnte hier eingewendet werden, daß dieſe Forderung der Anpaſſung 
an den Erkenntnisſtand der Wiſſenſchaft und die Belaſtung mit der Gegen⸗ 
wartseinzelproblematik den Arbeiter in ein heilloſes Chaos führt, ihn er- 
ſchuͤttert und kampfunfaͤhig macht, weil die wiſſenſchaft ſelbſt ſich in 
einem heilloſen Chaos befindet. Sicher iſt es richtig, daß die wiſſenſchaft 
auf Grund ihrer Zerteilung felber den Überblick verloren hat, und daß es 
auch unmoͤglich iſt, den Bildungsſtoff dem Arbeiter in der Form darzu⸗ 
reichen, in der er auf den Univerſitaͤten geboten wird. Sier hat aber eine 
gewaltige Vorarbeit die Volkshochſchule geleiſtet. Daß für eine dem Ar⸗ 
beiter und feinem Ziel entſprechende Formbildung heute ſchon die objek⸗ 
tiven Maßſtaͤbe da find, und daß es hier Wege der Vereinfachung der Dar; 
ſtellung gibt, die mit dem wiſſenſchaftlichen Gewiſſen vereinbar find, Feine 
Sälfhungen und Verzerrungen bedeuten, hat Sermann Seller in feinem 
Buche „Zwei Jahre freie Volksbildung“, Verlag Werkgemeinſchaft Leip- 
zig, dargelegt und bewieſen. Dieſe Vereinfachung geſchieht auf Grund 
neuer, von Seller aufgeſtellter Geſichtspunkte, die von einer Einheit her⸗ 
kommen und auf die Darſtellung des Sinnzuſammenhanges der Kultur in 
moͤglichſt anſchaulicher Form hinzielen. Es iſt ſicher nicht zu viel, wenn be⸗ 
hauptet wird, daß dieſe Geſichtspunkte geeignet ſind, den ganzen Wiſſen⸗ 
ſchaftsbetrieb von der Bildungsſeite her in den naͤchſten Jahren zu re⸗ 
volutionieren. N 

Dieſer Zwieſpalt zwiſchen Rampfſchulung und Formbildung erklaͤrt 
außerdem die Tatſache, daß die ernſten und beſten Arbeiterbildner heute 
innerhalb der Partei keinen rechten Boden finden, daß ſie von ihr be⸗ 
fehdet werden, und daß die Partei von ſich aus dieſe brennenden Fragen 
der Arbeiterbildung grundſaͤtzlich und ſyſtematiſch noch nicht aufgerollt 
hat. Damit beweiſt ſie aber zugleich, daß ſie den Sinn und die Aufgabe der 
Parteiorganiſation noch in dieſem engen Sinne faßt, ſo wie es jede andere 
Partei von ſich in Anſpruch nimmt, nicht mit dem weiteren Ziel, wie es ein- 
gangs gezeigt wurde. Damit gibt ſie aber den Arbeiterbildnern, die auf 
weite Sicht arbeiten und die Formbildung in den Vordergrund ſtellen, das 
Recht zur Klärung dieſer Frage außerhalb des offiziellen Rahmens. 

Die ideale und einzige Loͤſung iſt natuͤrlich, Rampfſchulungs · und Sorm- 
bildungsarbeit miteinander zu verbinden von einer fundierten Grund · 
anſchauung aus, beides einheitlich innerhalb der geſamten organiſierten 
Arbeiterbewegung. Dieſes Ziel wird aber ſo lange Wunſch bleiben, als die 
zwei Seiten der Rampfſchulungsarbeit nicht erkannt find: Die eine Auf⸗ 
gabe iſt die Willensbildung, die Formung eines einheitlichen Bewußt⸗ 
ſeins auf ein konkretes Ziel hin mit gleichzeitiger wiſſensmaͤßiger ſyſtema ; 
tiſcher Vorbereitung einer kleinen Schicht von Vertrauensleuten. Das iſt 
heute nicht moͤglich durch die Wiederholung alter Agitationsſchlagworte, 


270 Erich Winkler, Bildungsfragen der Sozialdemokratie 


weil die Gegenwartskriſe zum Teil Ausdruck von e zum Teil 
eine Vertrauenkriſis iſt, weil die Beiſeiteſtehenden Enttaͤuſchte find. 


Es liegt im Weſen jeder Organiſation, daß fie ſich Organe ſchaffen muß, 
die die Geſamtheit vertreten und deren Sandeln der Geſamtmitgliedſchaft 


zugerechnet wird. Auch in der vollendetſten Demokratie muß das ſo ſein. 
Das gibt die Berufspolitiker und die Parteibeamten, den Parteiapparat 
mit den Gefahren, die in den erſten Abſaͤtzen angedeutet wurden. Nicht, 


daß den Parteibeamten der Idealismus beſtritten werden ſoll, aber wenn 


jemand bezahlt wird, Gber Statuten und Grganiſation zu wachen, kann 


leicht Beamtengeiſt einziehen und die Uberlegenheit der Fuͤhrung kann 
zur Fůhreroligarchie führen. Denn die Rolle, die die Mitglieder in der Or⸗ 


„ ſpielen, iſt die von Zuſchauern. Sie erlangen nie den vollen 


berblick, koͤnnen nie handelnd eingreifen, ſondern haben nur noch die 
Freiheit der Beurteilung abgelaufener Ereigniſſe. Beſtehen außerdem noch 


recht große Bildungs unterſchiede zwiſchen der handelnden und der kon⸗ 
templativen Schicht, dann iſt die Gefahr, daß nicht der Sähige und Be- 


waͤhrte für das Sandeln auserwaͤhlt wird, beſonders groß. Gegen diefe 
Gefahr der paffiven Demokratie find KNorrektive zu ſchaffen, die hier als 
zweite Aufgabe der Nampfſchulungsarbeit nur angedeutet werden koͤn 


nen. Angedeutet nur deswegen, weil ſonſt eine ausführliche Auseinander · 


ſetzung zwiſchen der Organiſationsform der KPD und der SPD not ⸗ 
wendig wäre, wozu der Raum nicht ausreicht. Dieſe Norrektive koͤnnen 
nicht nur in der Entwicklung von Fahigkeit zur Selbſtkritik 
und Toleranz — Bildungsaufgaben! — liegen, ſondern dort, wo die 
Reife ſich zeigt, in der Faͤhigkeit, Erkenntniſſe jederzeit in Sandlung um 


zuſetzen vermittelſt der Mittlerin zwiſchen Einſicht und Sandeln: der 


Organiſations form. Sierher gehoͤrt der Rampf um das Organiſations 


ſtatut, hier muß die wichtige Frage erörtert werden, wie ſehr das einzelne 


Mitglied zur aktiven Mitarbeit verpflichtet, vielleicht befohlen werden darf, 


auf daß die ganze Perſoͤnlichkeit in den Dienſt der Sache geſtellt werde. 


Doch da ſind wir am Ausgangspunkt angelangt: Die Perſoͤnlichkeit des 
Menſchen kann auch nicht voll erfaßt werden durch zwingende Verpflich · 


tung. Die Rampfſchulung bleibt Technik, wenn keine tragende Idee, kein 
ſittlich hoͤheres Ziel dahinter ſteht, wenn die Formbildung fehlt, die an den 
innerſten Menſchen herangeht, ihn packt, ihn aufſchließt und ihm ſeine 


Aufgaben zeigt. Hier wurde in den letzten Jahren das Wort vom ſozia⸗ 
liſtiſchen Menſchen gepraͤgt, der bei ſich beginnt und bei ſich verwirklicht, 


was er von ſeinen Mitmenſchen fordert. Auf dieſer ethiſchen Grundlage 
find die Fragen einer Kulturgeſtaltung aufzurichten und auf die Syntheſe 


hinzuarbeiten, die da lautet: Faßt die Partei, faßt die Arbeiterbewegung 
als den Zukunftsſtaat auf, der ſchon heute zu geſtalten iſt, verwirklicht und 


lebt ſchon heute den Sozialismus innerhalb der eigenen Organiſationen! 
Nur wenn die Sozialdemokratie von ihren eigenen Anhaͤngern als Partei 
in dieſem weiten Sinne aufgefaßt und gefuͤhrt wird, wenn ein ſozialiſtiſcher 
Staat im Staate errichtet und wenn in ihm Kampfſchulungs⸗ und Form⸗ 
bildungsarbeit vereint werden, wird die Sozialdemokratie das Recht und 
die Kraft haben, die Zukunft zu geſtalten! (Januar 1926) 


— ——— — — — — — — —— 


— 


Walter Sofmann, Zur Arbeiterbildung 271. 


Walter Hofmann 
Zur Arbeiterbildung 


ach drei verſchiedenen Seiten muß jede Betrachtung der Bildungs; 

frage gehen. Zunaͤchſt: keine fruchtbare Bildungsbewegung ohne 

die Richtung auf ein objektives Bildungsziel, ohne die Grien⸗; 
tierung an einem inhaltlichen Bildungsideal. Zudem: keine fruchtbare 
Bildungs bewegung ohne Einſicht in den eigentlichen Prozeß der Bildung, 
den Bildungs vorgang. Und endlich: keine fruchtbare Bildungsbewegung 
ohne Kenntnis der geiſtigen · ſeeliſchen Kraͤfte, die in dem, dem Bildung 
werden ſoll, lebendig ſind. 

Dieſe drei Großen: Bildungsideal, Bildungs vorgang und tatſaͤchlichen 
Kraͤftebeſtand in einen lebendigen Zuſammenhang zu bringen iſt die Auf- 
gabe der praktiſchen Bildungsarbeit. Eine Methodik der Bildungsarbeit, 
die eine dieſer drei Groͤßen außer acht ließe, muͤßte immer in irgend einer 
Sackgaſſe enden. 

Die erneute und vertiefte Diskuſſion des Arbeiterbildunge problems, die 
ſeit einigen Jahren eingeſetzt hat, geht nun zunaͤchſt, wenn ich recht ſehe, 
ganz vorwiegend nach einer Seite. Das eigene Bildungsziel, das eigene in · 
haltliche Bildungsideal der Arbeiterbildung ſteht zur Diskuſſion. Mit der 
jahrzehntelang geuͤbten Anlehnung an die Bildungsmethoden der allge ⸗ 
meinen buͤrgerlichen Volksbildungs arbeit hielt auch die Ideologie dieſer 
Bildungsarbeit ihren Einzug in das Arbeiterbildungsweſen. Dieſes vor 
allem wird von den neuen Fuͤhrern der Arbeiterbildung als eine Unmoͤglich⸗ 
keit erkannt. „Eine Gruppe von Menſchen — fo lautet, aller Parteiphraſeo⸗ 
logie entkleidet, etwa das Sauptargument — eine Gruppe von Menſchen, 
die ſich zu einer anderen Gruppe von Menſchen in einem, das Ganze der 
menſchlichen Lebensführung beruͤhrenden Gegenſatz befindet, kann in ihrer 
Bildungsarbeit ſich nicht an den Idealen orientieren, die auf dem ſozialen 
und geiſtigen Boden jener anderen Gruppe erwachſen ſind.“ Und das duͤrfte, 
vor aller Anwendung auf beſtimmte Gruppen, eine fundamentale fozio-- 
logiſche Erkenntnis ſein. Der Anwendungen dieſer Grunderkenntnis gibt 
es nun ſo viele, als es ſolche Gruppen gibt, — Gruppen, die von einer be⸗ 
ſtimmten Weltdeutung und ZLebensanſchauung aus ſich zur Weltdentung 
und Zebensanſchauung anderer Gruppen im Gegenſatz befinden. Von un. 
beſtochener ſoziologiſcher Betrachtungsweiſe aus beſteht daher ein Anſpruch 
auf das ſelbſtaͤndige Bildungsleben etwa der katholiſchen oder der evange⸗ 
liſchen oder der volkhaft nationalen Gruppe in unſerem Volke. Gb dieſe 
geiftige Selbſtaͤndigkeit in einer gemeinſamen Rahmenorganiſation prak⸗ 
tiſcher Volksbildungs · und Volksbuͤchereiarbeit zuſammengefaßt werden 
kann, wie das geſchehen kann, das ſteht auf einem anderen Blatte, das wir 
hier nicht aufſchlagen koͤnnen. b 

Wenn aber dieſe Erkenntnis von der Bedeutung der Ideologie der 
Gruppe für das Bildungsleben der Gruppe überhaupt der Wirklichkeit 


272 walter Hofmann 


geiſtigen Lebens entſpricht, dann gilt fie nicht nur für die einzelnen Welt- 
anſchauungsgruppen innerhalb der buͤrgerlichen Welt, ſondern ebenſo 
zwingend für die Gruppe der ſozialiſtiſchen Arbeiterſchaft. Don hier aus 
muß auch der, der keiner der beſtehenden ſozialiſtiſchen Gruppe zugehoͤrig 
iſt, die Berechtigung jener Beſtrebungen der ſozialiſtiſchen Arbeiterſchaft, 
ihr Bildungsweſen vom Zentrum eines eigenen Bildungsideals aufzu⸗ 
bauen, anerkennen. 

Gegen dieſe Auffaſſung erhebt ſich nun freilich an manchen Stellen der 
bisherigen „neutralen bürgerlichen Bildungsarbeit ein heftiger wider 
ſpruch. Solche Anerkennung der Gruppenbildung trage zur Zerreißung der 
Volksgemeinſchaft bei, während es Aufgabe der Volksbildungsarbeit fei, 
an welcher Stelle fie auch getrieben werde, die Volksgemeinſchaft bilden zu 
helfen. Als ich im vergangenen Sommer im „Archiv für Erwachſenen⸗ 
bildung” im Sinne der ſoeben gemachten Ausführungen über „Menſchen ⸗ 
bildung, Volksbildung, Arbeiterbildung in der volkstuͤmlichen Bücherei“ 
ſchrieb, meldete die von Joh. Tews, dem Geſchaͤftsfuͤhrer der liberalen 
Geſellſchaft für Volksbildung geleitete Jeitſchrift „Volksbildung“ ihren 
entſchiedenen Einſpruch an. 

Sier ſtehen wir zweifelsohne an einem der ſchwierigſten Punkte der ge⸗ 
ſamten Volksbildungsdiskuſſion. Ich ſelbſt habe allen meinen Veroͤffent⸗ 
lichungen, ſoweit in ihnen das Grundſaͤtzliche der Volksbildungsfrage er- 
oͤrtert wird, den Satz vorangeſtellt: Volksbildung iſt Bildung zur geiſtig 
ſeeliſchen Gemeinſchaft des Volkes. Und ich halte an dieſem Satze feſt. Ich 

auch gern ganz einfach das Wort „Volksgemeinſchaft“ ſetzen, wenn 
dieſes nicht ſchon durch politiſche Propagandareden zu ſehr abgebraucht, zu 
haͤufig mißbraucht worden waͤre. 

Der Unterſchied zwiſchen der, ſagen wir Tewsſchen Anſchauung — ſo⸗ 
weit fie ſachlich fundiert iſt — und der von mir vertretenen liegt nun wohl 
darin, daß das, was ich als letztes Ergebnis einer Entwicklung von Gene⸗ 
rationen ſehe, daß das Joh. Tews heute, morgen ſchon durch Bildungs ⸗ 
arbeit realiſieren moͤchte und glaubt realiſieren zu koͤnnen. Und dem liegt 


» „it das die Aufgabe der Volksbüchereien?“ Volksbildung. 55. Jahrgang, 

eft 6. — Bedauerlich iſt, daß die „Volksbildung“ nicht in eine wirkliche fachliche 
Diskuſſion meiner Darlegungen eintritt, ſondern nur eine Gruppe von Saͤtzen aus 
dem Juſammenhang geriſſen zitiert, — trotzdem ich im Vorwort ausdruͤcklich ge⸗ 
beten hatte, den Aufſatz im Juſammenhang zu lefen und zu würdigen. Durch dieſe 
tendenzioͤſe Jitierung, durch reichlich verwendeten Sperrdruck im Zitat und durch 
die Behauptung, daß das eigentliche — das „gemeinſchaͤdliche“ ! — Ziel hinter 
„vielen verhuͤllenden Worten“ verſteckt werde, — durch alles wird meine paͤdagogi⸗ 
ſche Betrachtung in die Sphaͤre des politiſchen Rampfes gezogen. Ja die „Volks⸗ 
bildung“, von dem freiſinnigen Joh. Tews geleitet, ſcheut ſich ſogar nicht, der 
Stadt Leipzig und dem preußiſchen Aultusminiſterium, auf deren Verftändnis 
meine praktiſche Volksbildungsarbeit angewieſen iſt, öffentlich eine Warnung vor 
„dieſen Anſchauungen“ zukommen zu laffen! Auch ein Beweis für die Sachlichkeit 
dieſer angeblich neutralen Bildungsarbeit. W. » Ich verweiſe insbeſondere 
auf meinen „Weg zum Schriftum“ (Verlag der Arbeitsgemeinſchaft 1922) und 
auf „Volksbuͤcherei und Volkswerdung“ (Verlag Quelle & Meper 1925). — Übri⸗ 
gens ſteht dieſer Grundgedanke auch in dem, in der „Volksbildung“ fo tendenziös 
zitierten Aufſatz „Menſchenbildung, Volksbildung, Arbeiterbildung“ im Mittel ⸗ 
punkt der Betrachtung! W. 5. | 


Jur Arbeiterbildung 273 


letzten Endes ſicher eine verſchiedene Vorſtellung vom eigentlichen Wefen 
der Bildung zugrunde. Betrachtet man die Bildung als etwas vom Leben 
und feinen weſentlichen Bezuͤgen losgeloͤſtes, als das Reich des ſchoͤnen 
Scheins, das ſich uͤber der Wirklichkeit erhebt, fo iſt es heute ſchon und jeder- 
zeit möglich, daß ſich Rommuniſt und Voͤlkiſcher, Ratholik und Evangeli⸗ 
ſcher im Reiche der Bildung friedvoll umarmen. Dieſe Vorſtellung von dem 
Reich des ſchoͤnen Scheins, in dem alle Gegenſaͤtze des wirklichen Lebens 
aufgehoben find, iſt aber ganz ſicher eine Fehl vorſtellung. Sie iſt die aͤußerſte 
verwaͤſſerung eines Bildungs humanismus, der das Produkt einer ganz 
beſtimmten einmaligen hiſtoriſchen, politiſchen und geiſtesgeſchichtlichen 
Situation war. Die Unkraft der in dieſem Sinn an den Volksgenoſſen von 
heute betriebenen Bildungsarbeit iſt praktiſch der ſtaͤrkſte Einwand gegen 
dieſe Auffaſſung. 

Die eigentliche Schwierigkeit liegt nun aber nicht in der Abweiſung der 
Forderungen des alten mancheſterlichen Bildungsliberalismus, ſondern 
eben in der Verknuͤpfung der Idee weltanſchaulich fundierter und zentrier⸗ 
ter, in Gruppen ſich vollziehender Bildungsarbeit mit der Idee der geiſtig 
ſeeliſchen Volksgemeinſchaft. Daß dieſe Gemeinſchaft nicht, durch keinerlei 
Maßnahmen, von heute auf morgen „hergeſtellt“ werden kann, daran muß 
jeder klar Sehende und nüchtern Denkende feſthalten. Und doch ergibt ſich für 
den tiefer Sehenden und umfaſſend Denkenden die Notwendigkeit, auch die 
weltanſchaulich gebundene Volksbildungsarbeit der Gruppe in den Kreis 
und in die Bindungen des Volkes hineinzuſtellen. Auch die Volksbildungs 
arbeit der ſozialiſtiſchen Arbeiterſchaft. Es ergibt ſich dieſe Notwendigkeit 
von zwei ganz verſchiedenen Seiten. Sie ergibt ſich von der Seite des ſo⸗ 
naliſtiſchen Bildungspolitikers ſelbſt. Dieſer weiß zwar, daß er für be⸗ 
ſtimmte Aufgaben ſeiner Gruppe beſtimmt diſziplinierte Soldaten der 
Gruppe und des Gruppen kampfes braucht. Er weiß aber auch, ſofern er zu 
den tiefer Sehenden und umfaſſend Denkenden gehoͤrt, daß er hinter den 
eigentlichen „Soldaten der Revolution“ den Menſchen der neuen Zeit be⸗ 
reithalten muß, wenn dieſe neue Zeit nicht ein Jerrbild der Zeit fein ſoll, 
deren Überwindung das Ziel der Gruppe iſt. Er weiß aber auch, daß die 
Menſchenbildung in der Gruppe der ſozialiſtiſchen Arbeiterſchaft aus den 
Kulturreſerven der ſozialiſtiſchen Arbeiterſchaft allein nicht beſtritten wer⸗ 
den kann. Selbſt wenn man theoretiſch die Moͤglichkeit einer ſozialiſtiſchen 
Kunſt, Muſik, Literatur, ja ſelbſt, in beſtimmten Sinne, einer ſozialiſtiſchen 
Wiſſenſchaft zugibt, fo muß man doch in demſelben Atemzuge zugeben, daß 
dieſe ſozialiſtiſche Kulturwelt heute erſt in ſehr duͤrftigen Anfängen vor- 
handen iſt. Entweder muß ſich alſo der ſozialiſtiſche Lebenskreis mit der 
Barbarei als dem Zuſtand des neuen Anfanges begnuͤgen — und dann 
wäre der neue Anfang ſicher das Ende der abendlaͤndiſchen Kultur über- 
haupt oder aber er muß um der vorbereitenden Menſchenbildung willen 
den Anſchluß an die wirklichen Schaͤtze und Kräfte der bisherigen Kultur 
entwicklung ſuchen. Und ſchon rein praktiſch iſt es dabei unerlaͤßlich, daß 
— auf deutſchem Boden — die echten Kräfte und Schöpfungen der Kultur 
in ihrer deutſchen Auspraͤgung den Angehoͤrigen der ſozialiſtiſchen Gruppe 
geboten werden. Eine echte und tiefe Bildung in Deutſchland, fuͤr deutſch⸗ 
Tat x vil ö 19 


27% walter Sofmann 


ſprechende Menſchen, iſt gar nicht möglich ohne die Ernaͤhrung aus den 
beſten Kräften der deutſchen Kulturwelt, ganz gleich ob es ſich dabei um 
Menſchen der ſozialiſtiſchen oder irgendeiner anderen Gruppe handelt. 
wenn man nur tief genug graͤbt, kommt man von jedem Punkte aus zu den 
Strömen, aus denen das Leben der Menſchen geſpeiſt wird, und tief zu 
graben in ihrer Bildungsarbeit iſt Lebensnotwendigkeit auch der ſozialiſti⸗ 
ſchen Gruppe. 

Und dazu der Volksbildungsmenſch, der der einzelnen ſolchen Gruppe, 
auch der ſozialiſtiſchen, nicht verhaftet iſt. Das, was dem in der Gruppe 
ſtehenden, mit der Weltanſchauung der Gruppe verbundenen Bildungs- 
mann, ſofern er einer iſt, unvermeidlicher Zwang iſt — dieſes Arbeiten mit 
Werten, die nicht im geiſtigen Umkreis der Gruppe, ſondern im größeren 
des Volkes gewachſen ſind —, das iſt dem gruppenmaͤßig nicht gebundenen 
Volksbildungsmann gůtiges Geſchick. Er glaubt, daß die Voͤlkerindivi⸗ 
dualitaͤten auf unabſehbare Zeit die koͤſtlichen Gehaͤuſe menſchlicher Kultur 
find und daß es Voͤlkerindividualitaͤten nicht zu zerſtoͤren, ſondern zu er- 
halten gilt. (Daß internationale Bindungen und Verbindungen dabei der 
Erhaltung der Voͤlkerindividualitaͤten dienen koͤnnen, daß ein abſchließen⸗ 
der Nationalismus Voͤlkerindividualitaͤten vernichten kann, iſt dabei eine 
Binſen wahrheit, aber vielleicht eine von denen, die bei ſolchen Betrach⸗ 
tungen immer wieder ausgeſprochen werden muͤſſen.) Und fo kann vor ihm 
grundſaͤtzlich nur eine Gruppenbildungsarbeit beſtehen, die die Mitglieder 
der Gruppe weſentlich aus den Kräften der Voͤlkerindividualitaͤt ernaͤhrt, 
der fie angehoͤren. 

Wie aber ift diefe Haltung, werde fie aus Not, werde fie freiwillig, aus 
grundſaͤtzlicher Bejahung eingenommen, — wie iſt diefe Saltung praktiſch 
durchzufuͤhren? Wie iſt es moͤglich, den Menſchen der Gruppe, alſo in un⸗ 
ſerem Falle den ſozialiſtiſchen Arbeiter, geiſtig, weitanſchaulich, nicht zu 
entwurzeln und ihn doch mit den Kraͤften zu erfüllen, die ihn — oder feine 
Enkel — einſtmals befaͤhigen werden, echtes Glied einer echten geiſtig · ſee⸗ 
liſchen deutſchen Volksgemeinſchaft zu fein? Wie iſt es möglich, den ſo⸗ 
zialiſtiſchen Arbeiter bei ſich ſelbſt zu belaſſen und ihn doch nicht von dem 
abzuſchneiden, was die Beſten aller Zeiten und Volker und was vor allem 
die Beſten feines Volkes, die „Burger“ waren, auch für ihn geſchaffen 
haben? Ihn nicht abzuſchneiden von dem, in deſſen Beſitz auch er, der Ar⸗ 
beiter, heute ſchon in eine geiſtig⸗ſeeliſche Beziehung zum Nichtſozialiſten, 
vielleicht zu ſeinen evangeliſchen oder katholiſchen Volksgenoſſen tritt? 

Die Frage kann hier nur geſtellt, nicht beantwortet werden. Sie iſt aber 
eine der großen Schickſalsfragen ſowohl der Arbeiterbildung, als auch der 
deutſchen Volksbildung uͤberhaupt. In welcher Richtung die Beantwor ; 
tung der Frage vielleicht erfolgen kann, habe ich verſucht anzudeuten in dem 
ſchon oben erwaͤhnten Aufſatz uͤber „Menſchenbildung, Volksbildung, 
Arbeiterbildung in der volkstuͤmlichen Bücherei” *. 


»Archiv für Erwachſenenbildung, II. Jahrgang 1925, Seft 2. 


Zur Arbeiterbildung 275 


2 ; ; 

DD das Bildungsziel etwas durch die Exiſtenz der einzelnen welt- 

anſchaulichen Gruppe notwendigerweiſe Beſtimmtes iſt, beſteht eine 
ſolche notwendige Abhaͤngigkeit fuͤr den Bildungs begriff nicht. Dieſer muß 
ſich aus der Natur geiſtigen CTebens ergeben: der eigentliche Vorgang der 
Bildung muß bei dem Sozialiſten wie bei dem Katholiken, bei dem Seiden 
wie bei dem Chriſten, bei dem Deutſchen wie bei dem Franzoſen im Ent ⸗ 
ſcheidenden derſelbe ſein. So wie der Vorgang des Wachſens und Sich⸗ 
Entfaltens im Entſcheidenden derſelbe iſt bei der Roſe wie bei der Lilie, bei 
der Eiche wie bei der Buche. Wenigſtens gilt das von dem Begriff der orga- 
niſchen Bildung, unter welcher wir verſtehen die Entfaltung des eigent- 
lichen Wefensternes des ſich Bildenden, die Geſtaltung einer eigenen geiſti⸗ 
gen Sormenwelt eben aus dieſem Weſenskern und eim heraus. „Vor 
jedem ſteht das Bild, des was er werden ſoll, ſolang er dies nicht hat, iſt 
nicht fein Friede voll“. Dieſer Bildungsprozeß, „nach dem Geſetz, wonach 
du angetreten“, iſt alſo etwas von der Gruppe prinzipiell Unabhaͤngiges. 
Aber eben dieſer Bildungsgedanke kommt mit dem Gedanken weltanſchau⸗ 
lich fundierter und zentrierter Bildung in einen tiefen und, ſei es gleich ge⸗ 
ſagt, reſtlos niemals zu loͤſenden Konflikt. Zwei Idealbilder eben ſich gegen- 
über : das Bild, das aufſteigt aus der Tiefe der eigenen einzelnen Perſoͤnlich⸗ 
keit, und das Bild, das die Gruppe aus ſich heraus gebiert und ihren Ange⸗ 
hoͤrigen als verpflichtendes Idealbild vor die Seele ſtellt. Dem erſten Bilde, 
das unferer eigenen Bruſt entſteigt, muͤſſen wir folgen, weil wir den lebens; 
echten organiſchen Bildungs vorgang wollen, das Bild des Seinfollenden, 
das die Gruppe vor uns aufrichtet, muͤſſen wir wollen, weil menſchliche Ge⸗ 
meinſchaft ohne ſolche regulierenden Idealbilder uͤberhaupt nicht möglich iſt. 

Dieſer Konflikt iſt nicht durch die tatſaͤchliche hiſtoriſche Gruppenbildung 
in unferem Volke gegeben, — er iſt vielmehr ein ewiger Konflikt. Uberall 
dort, wo eine Gemeinſchaft von Menſchen — auch das ganze, geiſtig ge⸗ 
einigte Volk — nach letzten Leitlinien ihr Leben zu führen unternimmt, 
uͤberall dort werden die hierauf beruhenden Idealbilder der Bildung in 
Konflikte treten mit dem Bilde, das vor jedem Einzelnen ſteht, als Symbol 
des Geſetzes, nach dem er angetreten. 

Aber weil ſowohl der Gedanke der organiſchen Bildung ein von allen 
Gruppen unabhaͤngiger iſt und weil ebenfo der Konflikt diefes ee 
gedankens mit dem Bildungsgedanken des Bemeinfchaftsidesis unabbän- 
gig von jeder befonderen Gruppenſituation beſteht, eben deswegen ift im 
Rahmen diefer Betrachtung eine weitere Eroͤrterung der hier vorliegen; 
den Problematik nicht am Platze. 


3 
wm: aber ſteht es mit der dritten Vorausſetzung einer jeden begruͤnde⸗ 
ten Bildungsarbeit, wie ſteht es mit der Kenntnis des geiſtig⸗ſee⸗ 
liſchen Seins, das einem Sein ſollenden zugeführt werden ſoll? So wie es 
Eine Darſtellung dieſes Bildungsgedankens, im Juſammenhang mit der Situa⸗ 
tion der außerſchulmaͤßigen Bildungsarbeit, babe ich in dem Seftchen „Geſtaltende 
Volksbildung“ (Verlag der Deutſchen Jentralſtelle für volkstuͤmliches Buͤcherei⸗ 

weſen, Leipzig 1925) zu geben verſucht. 
EN 


276 Walter Hofmann 


damit in der geſamten außerſchulmaͤßigen Volksbildungsarbeit noch ſeh 
ſchlecht beſtellt iſt, ſo auch in der Arbeiterbildungsbewegung. | 

Eine ſehr geſcheite Frau, die Sozialiſtin und Mathematikerin Dr. Silda 
Geiringer, hat einmal von der fuͤnfprozentigen Wiſſenſchaft geſprochen, die 
im Umkreis unſeres offiziellen Wiſſenſchaftsbetriebes gepflegt werde. Da⸗ 
mit ſollte wohl geſagt ſein, daß eine beſtimmte Schicht des Volkes, einer 
beſtimmten geiſtigen Züchtung und einem beſtimmten Training unter⸗ 
worfen, in einer ganz beſtimmten geiſtigen Saltung ſich einem ganz Heinen 
beſtimmten Ausſchnitt der Fragen zuwendet, die dem betrachtenden, finnen- 
den und forſchenden Menſchengeiſte uberhaupt zugänglich find. Die uͤbrigen 
95 Proz. der Gegenſtaͤnde und Fragen liegen außerhalb des Intereſſenkreiſes 
dieſer Wiſſenſchaft, aber ſie liegen im Intereſſenkreiſe der ungeheuren 
Mehrheit des Volkes, welches nicht in dieſe fünfprozentige Wiſſenſchaft 
hineingezuͤchtet worden iſt. 

wenn damit auch ein Tatbeſtand uͤberſpitzt wiedergegeben worden iſt, ſo 
ſteckt hinter der überfpissten Darſtellung doch eine große Wahrheit, — eine 
Wahrheit, die ſich jedem Volksbildungsmenſchen, der fein Auge auf die 
wirklichkeit des Lebens gerichtet haͤlt, mit zwingender Gewalt aufdrängt. 
In der konkreten paͤdagogiſchen Situation, in die er geſtellt iſt, empfindet 
der Volksbildungsmenſch die Sachlage ſo: der Wiſſenſchaft, wie ſie heute 
getrieben wird — und der hoͤchſte Achtung als menſchlicher Geiſtesleiſtung 
entgegenzubringen er ſich nicht wird verſagen koͤnnen —, dieſer wiſſen⸗ 
ſchaft kommen aus der breiten Maſſe des Volkes keine Kebensantriebe ent; 
gegen. Und das gilt nicht einmal nur fuͤr die Wiſſenſchaft, ſondern faſt eben⸗ 
fo für das, was heute in den Bezirken der Kunft, vor allem auch in den Be⸗ 
zirken der Literatur produziert wird. Es beſteht ein ſchreiendes Mißver⸗ 
haͤltnis zwiſchen dem, was in der oberen Geiſtesſchicht des Volkes erlebt 
und dargeſtellt wird, und den Lebenserfabrungen, den Aufnahmeorganen, 
den innerſten Antrieben des Volkes. Ganz praktiſch genommen bedeutet das 
notwendig das Scheitern jener Bildungsarbeit, die mit einer gewiſſen 
Naivitaͤt — auch wiſſenſchaftlich ſehr kritiſche Gemuͤter konnen dieſer 
Naivitaͤt verfallen — geiſtige Erfahrungen, die in der intellektualiſierten 
Schicht des Volkes in beſtimmter Züchtung gewonnen wurden, in die 
großen breiten Maſſen des Volkes verpflanzen wollen. 

Das allermeiſte, was in Deutſchland unter der Flagge der „Volksbil⸗ 
dungsarbeit“ geſchieht, krankt an dieſem fundamentalen Fehler. Und das 
gilt in ſehr weitem Umfange auch fuͤr das Arbeiterbildungsweſen. Ja, es 
hat ſogar den Anſchein, als ob dieſes in den tragiſchen Irrtum, der hier vor; 
liegt, beſonders tief verſtrickt waͤre, als ob hier die Diskrepanz zwiſchen dem 
geiſtig ſeeliſchen Sein der Menſchen, für die gearbeitet wird, und der Struk⸗ 
tur der geiſtigen Guͤter, welche ihnen gebracht werden, weniger ſtark emp⸗ 
funden würde, als in der „buͤrgerlichen“ Bildungsarbeit. Ein klaſſiſches 
Beiſpiel fuͤr die allgemeine Erfahrungstatſache, daß man einem Gegen⸗ 
ſtand ſehr nahe ſtehen kann, ohne zu einer unbefangenen und illufions- 
loſen Betrachtung des Gegenſtandes kommen zu koͤnnen. Oder auch ein 


Silda Beiringer, Gedanken zur Lebrweife an Volkshochſchulen. Die Arbeits⸗ 
gemeinſchaft. 2. Jahrgang, Seft J. 


Zur Arbeiterbildung 277 


Ausdruck für die Tatſache, daß das Arbeiterbildungsweſen zwar zahlreiche 
hervorragende Organiſatoren und nicht weniger vorzůͤgliche theoretiſche 
Koͤpfe hat, die Bedeutendes über das Ziel einer ſelbſtaͤndigen Arbeiterbil- 
dung zu ſagen haben, aber recht wenige mit dem Inſtinkt der Cebenserfaſ⸗ 
ſung ausgeſtattete Paͤdagogen. 

Nun darf hier vielleicht folgende Anmerkung gemacht werden. Die Gr⸗ 
ganiſation des Arbeiterbildungsweſens wird im weiteſten Umfange immer 
Sache der Arbeiterſchaft und ihrer Organiſationen ſelbſt ſein. Und ebenſo 
iſt die Direktion der Arbeiterbildung auf letzte Ziele eigenſte Angelegenheit 
der Arbeiterſchaft und ihrer verantwortlichen führenden Köpfe. Daß dieſe 
Direktion ſich freilich nicht vollziehen kann ohne die Auseinanderſetzung 
mit der parteimaͤßig nicht gebundenen Volksbildungsarbeit, ſoweit diefe 
ihre Kraft zieht aus dem Boden des deutſchen Volkslebens, aus dem Bo⸗ 
den der deutſchen Kultur und aus dem Boden der gewaltigen 3eitbewe- 
gung, in der wir ſtehen, das iſt fuͤr den Unbefangenen eine Selbſtverſtaͤnd⸗ 
lichkeit. Die Arbeiterbildung muß ſelbſtaͤndig bleiben, aber ſelbſtaͤndig nur 
in der Auseinanderſetzung mit allen guten und ſtarken Kräften, die heute 
in Deutſchland um die Geſtaltung unſeres Volkstums auf dem Wege orga⸗ 
niſcher Bildungsarbeit ringen. Eine Selbſtaͤndigkeit, die dieſe Auseinan⸗ 
derſetzung meidet, muß zur Verholzung und Verkapſelung, zum Bonzen ⸗ 
duͤnkel führen, dem ein gewiſſer Zeiterfolg, aber keine Wirkung von Dauer 
und Tiefe beſchieden ſein wird. 

Noch anders aber liegen die Dinge bei dem, was wir die Volkskunde der 
Volksbildungsarbeit nennen moͤchten, und bei der praktiſchen Methodik 
der Bildungsarbeit, die ſich aus folder Runde ergibt. Eine ungeheure Auf- 
gabe iſt hier geſtellt: die tatſaͤchlichen Stroͤme an geiſtigen und ſeeliſchen 
Kraͤften, die durch unſer Volk gehen, die eigentuͤmliche Form, in der ſich 
geiſtig⸗ſeeliſches Leben hier vollzieht, die Möglichkeiten oder Unmoͤglich⸗ 
keiten der Beziehung dieſes Lebens zu der Welt objektiver Kultur, — dieſe 
Tatſachenkomplexe ſind es, die zur Erkenntnis gebracht werden muͤſſen. 
Ohne ſolche Erkenntnis muß jede Volksbildungsarbeit ſcheitern, muß ins⸗ 
beſondere auch jede Volksbildungsarbeit ſcheitern, die ſich vornimmt, das 
Sein zu einem beſtimmten Seinſollenden hinzuleiten. Ohne dieſe Erkennt; 
nis muß alſo auch die ſozialiſtiſche Volksbildungsarbeit ſcheitern, die an 
einem beſtimmten Bildungsideal orientiert iſt. 

Von der Groͤße und der Eigenart dieſer fundamentalen Aufgabe aus er- 
geben ſich aber zwei wichtige Konfequenzen. Erſtens: die Aufgabe kann 
ſchon dem Umfange nach nicht vom Arbeiterbildungsweſen allein geloͤſt 
werden: Zweitens: nach dem Charakter der hier vorliegenden Aufgabe 
kann auch das Arbeiterbildungsweſen an dieſer Stelle in eine enge Ar⸗ 
beitsbeziehung zur „buͤrgerlichen “ Volksbildungsarbeit treten, ſoweit fie 
dieſe Aufgabe geſehen hat und ſoweit ſie ehrlich und mit ausreichenden 
Mitteln an ihrer Löfung arbeitet. Es wird auch hier nicht ausbleiben, daß 
beſorgte Parteifuͤhrer und Parteibildungsleute vor einer ſolchen Beruͤh⸗ 
rung mit der parteimaͤßig · weltanſchaulich nicht gebundenen Volksbildungs⸗ 
arbeit — wie wir an Stelle von „bürgerlicher” Bildungsarbeit beſſer ſagen 
duͤrfen — warnen. Aufgeſchloſſene Menſchen des Arbeiterbildungsweſens 


278 Walter Hofmann, Zur Arbeiterbildung 


werden eine ſolche Bereicherung, ein ſolches Lernen vom anderen, gerade 
an dieſer Stelle nicht nur nicht ſcheuen, ſondern ſie werden dieſe Bereiche⸗ 
Bu e und werden ſich in dieſer Bereicherung fuͤr ihre eigene Arbeit 
geſtaͤrkt finden. Die Lehrgänge, die die Deutſche Zentralſtelle für volkstuͤm⸗ 
liches Buͤchereiweſen feit einem halben Jahrzehnt in allen Teilen des deut ⸗ 
ſchen 5 veranſtaltet, ſind hierfuͤr erfreulichſter Beweis. An 
dieſen Lehrgängen, beſonders auch an den großen allgemeinen, wie fie all⸗ 
jaͤhrlich in Leipzig veranſtaltet werden, nehmen in der Regel Menſchen aus 
all den großen weltanſchaulichen Lagern teil, in die heute die deutſche Welt 
zerfällt. Vom überzeugten Katholiken, vom evangeliſchen Chriſten bis 
zum entſchiedenen Sozialiſten. Sier werden dann auch erſte Einſichten ge- 
geben in die Methoden und Ergebniſſe einer vom Intereſſe und Beobach ; 
tungsplatz der volkstuͤmlichen Buͤcherei aus betriebenen „Leſerkunde“. 
Und jedesmal ſtehen die Kursteilnehmer gerade bei dieſen Darbietungen 
in hellen Flammen des Intereſſes, jedesmal bekundet der Chriſt, der Natio⸗ 
nal · Voͤlkiſche und der Sozialiſt, daß hier Entſcheidendes für die praktiſche 
Volksbildungsarbeit angebahnt ſei. Daß in ſolchem gemein ſamen Er⸗ 
oͤrtern und Aufnehmen der gemeinſamen Grundlagen allerdings auch ein 
Stuͤck gemeindebildende Kraft liegt, daß hier in einer ſtarken geiſtigen Be⸗ 
wegung Bruͤcken vom Menſchen zum Menſchen verſchiedenſter Lager ge⸗ 
ſchlagen werden, das ſoll nicht geleugnet werden. Und verdammen wird 
ſolcherart begründete Bemeinfchaft nur der, dem die klaſſenmaͤßige und 
weltanſchauliche Jerreißung unſeres Volkes nicht nur eine hiſtoriſch ge⸗ 
wordene und heute im ganzen unaufhebbare tragiſche Tatſache, ſondern 
auch ein erwuͤnſchter Dauerzuſtand iſt. Die praktiſche Bildungsarbeit muß 
jenen Zuſtand der Zerkluͤftung anerkennen, fie wird ſofort zur Ohnmacht 
verurteilt, wenn ſie verſucht, unter Negierung deſſen, was den einzelnen 
Gruppen im Volke als das Sein ſollende erſcheint, die „Bildungs harmonie“ 
herzuſtellen. Aber die wahrhaft freien Geiſter der Volksbildungsarbeit 
aller Lager ſollten daruͤber nicht die gemeinſamen Aufgaben aller Volks⸗ 
bildungsarbeit verkennen und den Mut haben, dort, wo es möglich, ja der 
geſtellten Aufgabe nach notwendig iſt, die Gemeinſchaft der Forſchenden 
und Suchenden auch heute ſchon zu verwirklichen. In dem Maße, in dem 
auch im Arbeiterbildungsweſen dieſer Mut vorhanden iſt, wird auch die 
Arbeit an der neuen Volkskunde der Volksbildungsarbeit voranſchreiten 
und in dem Maße werden auch die anderwaͤrts gewonnenen Ergebniſſe 
dieſer Volkskunde für das Arbeiterbildungsweſen fruchtbar werden konnen. 
Und dann erſt werden wir ein im wirklichen Ceben verwurzeltes, nicht nur 
„ ſelbſtaͤndiges “, ſondern in der Selbſtaͤndigkeit auch kraftvolles und in die 
geiſtige und zeitliche Tiefe wirkendes Arbeiterbildungsweſen haben. 

»Es darf bier darauf bingewiefen werden, daß auch das auslaͤndiſche Volks⸗ 
bildungs · und Volksbuͤchereiweſen in ſteigendem Maße die Bedeutung dieſer Fun⸗ 
dierungsarbeiten erkennt. So bekannte erſt kurzlich der J. Sekretär der ruſſiſchen 
Staatsbibliothek in Leningrad, die jetzt auch in den Dienſt der Arbeiterbildung ge- 
ſtellt iſt, daß er in den leſerkundlichen Studien der Staͤdtiſchen Bucher hallen zu 
Ceipzig endlich das gefunden habe, was er ſuche, und was er für die Loͤſung der Auf⸗ 
gabe der Arbeiterbildung in feiner Bibliothek vor allem brauche. W. 5. Vom 
Verfaſſer dieſer Betrachtung erſcheint in dieſem Jahr noch eine Studie , CLeſerkunde “, 
als erſter Beitrag zu der Volkskunde der Volksbildungsarbeit. Die Schriftleitung 


Georg Engelbert Graf, Aus der Praxis der Arbeiterbildung 279 


Georg Engelbert Graf 
Aus der Praxis der Arbeiterbildung 


ie geſamte Arbeiterbildung iſt noch auf abſehbare Zeit hin ein Not 
behelf. ae die Vorbildung in Kindheit und Jugend noch ſo 
mangel ⸗ und luͤckenhaft iſt, ſolange die Sorge um das tägliche Brot, 
das Geſpenſt der e de fi) immer wieder von neuem in den Dor- 
dergrund drängt und den Lötwenanteil der Denkarbeit für ſich in Anſpruch 
nimmt, ſolange das proletariſche Seim in den meiſten Faͤllen eher einem 
Notlager als einer Wohnſtaͤtte gleicht, ſolange eine übermäßig lange Ar⸗ 
beitszeit die Freizeit auf ein Minimum beſchraͤnkt, ſolange der Staat für 
Pferdezucht und Rennſport mehr Geld uͤbrig hat als für die Erfuͤllung der 
einfachſten Verpflichtungen gegenüber der arbeitenden Bevoͤlkerung ſo⸗ 
lange wird auch der beſte Wille und die zweckmaͤßigſte Methode nicht das an 
Arbeiterbildungs einrichtungen ſchaffen koͤnnen, was notwendig wäre, 
Das find gewiß Binſenwahrheiten; aber fie muͤſſen immer wieder voran ⸗ 
geſtellt werden, wenn man das Problem der Arbeiterbildung beruͤhrt. 

Es waͤre auch durchaus falſch, die Arbeiterbildungseinrichtungen unter 
dem Geſichtswinkel des Bildungs beduͤrfniſſes des einzelnen Arbeiters zu 
faſſen. Einmal trifft es nicht zu, fo ganz allgemein von dem „Bildungs; 
hunger der Maſſen! zu ſprechen. Das gibt es nicht. Die Maſſe it nicht bil⸗ 
dungs hungrig; die Maſſe will Unterhaltung, Senfation; fie will Sinne 
und Nerven, aber nicht das Gehirn beſchaͤftigt wiſſen. Nur bei einem ganz 
geringen Teil der Bevölkerung koͤnnen wir von einem wirklichen Bildungs 
beduͤrfnis ſprechen. Von einem wirklichen Intereſſe an Weiterbildung. 
Und vielfach find das Leute entweder mit Sonderbegabungen oder wenig ⸗ 
ſtens mit Sonderanſpruͤchen. Ihrer nimmt ſich in erſter Linie die Volks ⸗ 
hochſchule an. Mit ihrer Vielheit von Diſziplinen nach dem Grundſatz: 
„Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen!” — und mit ihrem liebe; 
voll gepflegten Ideal: Entwicklung der „Perſoͤnlichkeit“. 

Die Ziele der Arbeiterbildung find anders. Müflen anders fein; wenig 
ſtens ſolange die proletariſche Klaſſe noch darin begriffen iſt, ſich zuſam · 
menzuſchließen und zu formieren. Die Grganiſationen der Arbeiterſchaft 
werden ihre Bildungsarbeit nicht nach den zufaͤlligen Intereſſen oder zu⸗ 
faͤlligen Begabungen Einzelner zu orientieren haben; Ausgangspunkt 
werden und muͤſſen vielmehr fein die durch den Klaſſenaufſtieg und den 
Klaſſenkampf gegebenen Aufgaben der Klaſſe und der einzelnen Klaſſen ; 
organiſationen. Moͤglich, daß dabei manche Sonderbegabung unterdruͤckt 
oder abgebogen wird — die Klaſſe ſteht hoͤher als das Individuum, und 
auch ſolche Opfer und Verzichte muͤſſen gebracht werden. 

An die breiten Maſſen wird man vorläufig nicht herankommen. Um fo 
wichtiger iſt es, Fuhrer und Unterfuͤhrer, Angeſtellte und Funktionaͤre der 
Bewegung ſyſtematiſch mit den Problemen der Klaſſe vertraut zu machen. 
Iſt das erſt geſchehen, dann darf man hoffen, daß von hier aus langſam 
auch die Maſſe in Fluß gebracht wird. 


280 | Georg Engelbert Graf 


Aber ſelbſt wo die Bildungsarbeit ſich an die proletariſche Elite wandte, 
blieben Enttaͤuſchungen nicht aus. „Die intereſſanteſten Themen ziehen 
nicht mehr.” „Es find immer diefelben paar Leute, die zu Bildungs veran⸗ 
ſtaltungen erſcheinen.“ — Das find Klagen, die man immer wieder hoͤrt 
und deren Richtigkeit jeder Redner und Zehrer beſtaͤtigen kann. 

Man darf nun die Urſache dieſer Erſcheinung nicht einzig und allein in 
der Indolenz der Maſſe ſuchen, ſondern muß ſich fragen, ob die übliche 
Methode der Erwachſenenbildung immer die richtige war. Vielerorts iſt 
man über den bildenden Einzelvortrag mit nachfolgender Diskuſſion oder 
Fragebeantwortung noch nicht hinausgekommen; auf dem Lande und in 
kleineren Orten oder bei Mitgliederverſammlungen iſt er das Gegebene. 
Großen, vor allem anhaltenden Erfolg darf man von ihm nicht erwarten — 
zumal nicht in dem Milien, an das er meiſtens gebunden iſt: in dem Wirts⸗ 
hausſaal mit feinem Rauch ⸗ und Alkoholdunſt. Aktuelle Probleme, Einzel 
fragen, werden am eheſten Aufmerkſamkeit finden ; iſt auch nur ein geringer 
Teil der Zuhoͤrer zum Nachdenken angeregt worden, zu einem Nachdenken, 
das uͤber die eigentliche Deranftaltung hinausreicht, dann kann man ſchon 
zufrieden ſein. | 

Ein umfaſſenderes wiſſenſchaftliches Problem, ein ganzes Wiſſensgebiet 
laͤßt ſich natuͤrlich in einem Einzelvortrag nicht behandeln. In der Regel 
hilft man ſich hier damit, daß man den Stoff auf einen Kurſus, auf eine 
zuſammenhaͤngende Vortragsreihe verteilt; die Vortraͤge koͤnnen durch⸗ 
gaͤngig nur in den Abendſtunden ſtattfinden und pflegen ſo gelegt zu wer⸗ 
den, daß allwoͤchentlich ein Abend, hoͤchſtens zwei dem Thema gewidmet 
werden. Meiſt melden ſich die Hörer freiwillig zu ſolchen Kurfen, bzw. es 
wird fuͤr den Beſuch agitiert, Eintrittskarten werden vertrieben; nur in 
ſeltenen Sällen findet eine Delegation ſtatt. 

Selbſt da, wo tuͤchtige Kebrer mit lebendiger Vortragsweiſe tätig find 
und wo die Zahl der Soͤreranmeldungen durchaus nichts zu wuͤnſchen übrig 
laͤßt, macht ſich ſchon ſehr bald ein Übelftand bemerkbar, für den man meiſt 
entweder die Hörer oder den Lehrer verantwortlich macht: die Anzahl der 
Soͤrer nimmt ſichtlich ab. Bei Kurfen von 6 Abenden kann man normaler; 
weiſe mit 30—$0 Proz., bei ſolchen von mehr Abenden mit 50 —60 Proz. 
Abfall rechnen. 

Vielfach liegt es daran, daß fo manche Hörer, vor allem ſolche mit Sonder⸗ 
intereſſen, ſich etwas ganz anderes vorgeſtellt hatten; der Vortrag iſt ihnen 
zu leicht oder zu ſchwer — fie find enttaͤuſcht und bleiben fort. Der Fehler 
dieſes Syſtems ſcheint mir jedoch in der Verteilung eines Rurfus auf allzu⸗ 
lange Zeit und in der freiwilligen Meldung der Soͤrer zu liegen. Gerade die 
beweglicheren Kraͤfte in der Arbeiterſchaft werden von den Organiſationen 
ſtark in Anſpruch genommen und koͤnnen ſich nicht Wochen und Monate hin⸗ 
durch immer einen beſtimmten Abend frei halten; hat man aber erſt einmal 
gefehlt und ſo den Zuſammenhang verloren, dann wird der Beſuch voͤllig 
aufgegeben. Je ausgedehnter ein Kurſus iſt, um fo mehr macht ſich dieſe 
Störung bemerkbar. Dazu kommt, daß der Arbeiter in einer ganz anderen 
pſychiſchen Verfaſſung abends den Soͤrſaal betritt als etwa der Buͤrgerliche 
aus gebildeten Kreiſen. Er hat tagsuͤber und oft recht ſchwer koͤrperlich ar⸗ 


Aus der Praxis der Arbeiterbildung 281 


beiten muͤſſen; der Rhythmus der Maſchinen, die Setze von und zur Arbeit, 
das unzulaͤngliche Seim, von Sorgen und ſonſtigen Affekten ganz abge⸗ 
ſehen, all das muß er zunaͤchſt abſchuͤtteln, muß er verdrängen, ehe ein 
Vortrag feine Wirkung entfalten, bleibende Eindruͤcke hervorrufen kann. 
Dem Gebildeten, dem Nicht · Proletarier fällt eine derartige Umſtellung 
leicht; und er empfindet die Schwierigkeiten nicht mehr, die für den Prole- 
tarier damit verbunden ſind. Nach dem Vortrag wieder ein Zuruͤckſinken 
in den Alltag, bis zur naͤchſten Woche, wo der naͤchſte Vortrag erſt einmal 
dieſelbe Anſtrengung wie bei dem vorhergehenden erfordert. Rommt noch 
hinzu, daß derjenige, dem geiſtige Arbeit etwas Ungewohntes iſt, den Ge⸗ 
dankengaͤngen des Lehrers, dem es oft mehr auf Bewaͤltigung ſeines Pen⸗ 
ſums als auf das Verſtanden werden ankommt, nur ſchwer zu folgen und 
den Inhalt zweier durch mehrere Tage von einander getrennter Vortraͤge 
nicht in Zuſammenhang zu bringen vermag. Gerade unter ſolchen Um⸗ 
ſtaͤnden wird der Arbeiter, der etwa in Volks hochſchulkurſen neben Bürger- 
liche zu ſitzen kommt, viel eher die Mängel feiner Bildung und feine Schwaͤ⸗ 
chen gegenuͤber dem Angehoͤrigen einer bevorzugten Schicht erkennen; die 
Minderwertigkeitsgefuͤhle, dieſes große Hindernis des proletariſchen Auf ⸗ 
ſtiegs, ſtellen ſich im verſtaͤrkten Maße ein und laͤhmen den Trieb zur Wel- 
terarbeit. Der freiwillige Teilnehmer ſteht obendrein, pſychologiſch ge⸗ 
ſehen, in einem derartigen Kurſus unbewußt unter dem Eindruck der 
freien Konkurrenz”, des Wettkampfes um einen Rekord, bei dem fo und 
ſo viele auf der Strecke bleiben. Dieſes Bild aͤndert ſich ſchon, wenn die 
KAurſusteilnehmer von ihren Grganiſationen delegiert und zum regel- 
maͤßigen Beſuch „im Intereſſe der Grganiſation“ verpflichtet werden. 
Dann hoͤrt von vornherein das unwillkuͤrliche gegenſeitige Mißtrauen auf, 
eine gemeinſame Plattform, eine gemeinſame Arbeit, ein gemein ſames Ziel 
ſchafft eine Art geiſtiger Solidarität, die auch den Unbeholfenen nicht aus; 
ſcheidet, ſondern eingliedert und die „im Intereſſe der Organiſation “ die 
Aufmerkſamkeit bis zuletzt wachhaͤlt. 

Daß in dieſer Sinſicht in einem zielbewußt geleiteten Internat die ſtaͤrk⸗ 
ſten Erfolge didaktiſch und paͤdagogiſch zu erzielen ſind, daruͤber waͤre man 
viel mehr einig, wenn die individualiſtiſche Zerſetzung auch in den Kreiſen 
der Arbeiterbewegung nicht ſchon zu ſtark fortgeſchritten waͤre und wenn 
ſich nicht vielfach die irrige Anſicht feſtgeſetzt hätte, daß jede Bildungs⸗ 
arbeit ſich ſofort ſichtbar bezahlt machen můſſe. Jedenfalls muß es doch zu 
denken geben, daß die katholiſche Kirche, dieſe Meiſterin auf dem Gebiete 
der Paͤdagogik, auf Internatserziehung für heranwachſende und erwach⸗ 
ſene Fuhrer den größten Wert legt. Immerhin iſt zu bemerken, daß ſich die 
Internatsidee in dem letzten Jahrzehnt in der Arbeiterbewegung in allen 
Kulturlaͤndern durchzuſetzen beginnt. Die Sochſchule bürgerlicher Prägung 
verliert, von einigen unverbeſſerlichen Ideologen abgeſehen, in der Ar⸗ 
beiterſchaft immer mehr an Kredit. 

Auf der Linie zum Internat liegen bereits die Ferienkurſe, die 3. B. der 
Reichsausſchuß für ſozialiſtiſche Bildungsarbeit alljährlich in den Sommer; 
monaten in den verſchiedenſten Gegenden Deutſchlands veranſtaltet. Sie 
dauern in der Regel eine Woche, vereinigen eine nicht allzugroße Soͤrer⸗ 


282 Georg Engelbert Graf, Aus der Praxis der Arbeiterbildung 


zahl in Landheimen, Penſionen u. dgl. und pflegen unter der Leitung eines 
Lehrers ein mehr oder minder umfaſſendes Problem zu bearbeiten. Da die 
Soͤrer nicht delegiert werden und vielfach aus äußeren Grunden — Gegend, 
Zeitpunkt der Serien u. dgl. — einen beſtimmten Kurſus waͤhlen, iſt es, be- 
fonders bei größerer Soͤrerzahl, nicht leicht, alle auf einen gemeinſamen 
Nenner zu bringen. Und wenn das ſchließlich gelungen iſt, iſt die Woche 
herum. Ein aͤhnliches Nomadenprinzip beherrſchte bisher die Bildungs ⸗ 
arbeit des Deutſchen Metallarbeiter ⸗ und des Fabrikarbeiterverbandes. 
Nur daß hier die Hörer aus den jeweiligen Bezirken delegiert und auf Ver⸗ 
bands koſten von der Arbeit freigeſtellt wurden. Selbſtverſtaͤndlich mußte 
der Stoff dabei aufs aͤußerſte beſchraͤnkt werden; in der Regel kam in den 
Betriebsraͤtekurſen des D. M. V. auf jede Arbeitswoche ein beſtimmtes 
Wiſſensgebiet. Dieſe Wanderinternate ſind recht koſtſpielig, mit allerhand 
Unzutraͤglichkeiten verbunden und bedeuten vor allem auch fuͤr die Lehr⸗ 
kraͤfte Strapazen, die man auf die Dauer niemandem zumuten darf. Man 
wird auch nur in Ausnahmefaͤllen, zumal in ſo kritiſchen Zeiten wie gegen⸗ 
waͤrtig, die Sörer aus den Betrieben herausziehen koͤnnen, ohne daß die 
Gefahr beſteht, daß der Unternehmer dies als willkommenen Entlaſſungs⸗ 
grund benutzt. 

Man wird alſo — ſoweit man noch nicht, wie neuerdings der Deutſche 
Metallarbeiterverband, ein eigenes Schulungsheim ſich hat einrichten 
koͤnnen — zu anderen Notbehelfen, zumal für das Seer der Funktionaͤre, 
greifen muͤſſen. Fuͤr nicht allzu große Bezirke empfehlen ſich die ſog. 
Wochenendkurſe. Sie koͤnnen am Sonnabend ſpaͤtnachmittags beginnen 
und bis Sonntagabend durchgeführt werden. Eine Naturfreundehuͤtte, 
eine Jugendherberge, ein Landheim, im Notfall auch ein größerer Gaſt⸗ 
hof in einer kleinen Stadt oder dgl. eignen ſich am beſten dazu. In den 
8—9 Stunden eines Wochenendkurſes kann man mehr leiſten als in einem 
allwoͤchentlichen Abendkurſus von 2 Monaten Dauer. 

Auch Abendkurſe koͤnnen einen nachhaltigen Erfolg darſtellen, wenn die 
Hörer delegiert und kontingentiert werden und wenn die einzelnen Rurſus · 
abende unmittelbar aufeinander folgen. Über 5 Abende hintereinander 
hinauszugehen empfiehlt ſich jedoch nicht; auch iſt es zweckmaͤßig, durch 
Vereinbarung der in Frage kommenden Grganiſationen die fraglichen 
Abende von ſonſtigen Veranſtaltungen frei zu halten. Ganz unwillkuͤrlich 
gibt eine derartige Ronzentration den Soͤrern den Eindruck, daß ein ſolcher 
Kurſus für fie von beſonderer Bedeutung iſt, ſpornt fie an und haͤlt dauernd 
ihr Intereſſe wach. Der Soͤrerabfall bei derartigen Kurfen iſt demgemaͤß 
ganz minimal. 

Dieſe verſchiedenen Kurſusarten in Verbindung mit der Eigenart des 
proletariſchen Soͤrermaterials und mit dem durch das Beduͤrfnis der Klaſſe 
und der Klaſſenorganiſationen gegebenen Zweck erfordern eine ſpezifiſche 
Wahl und Gliederung des Stoffes und eine beſondere Unterrichts⸗ und Ar⸗ 
beitsmethode. Die Volks hochſchulbehaglichkeit und ⸗Gemaͤchlichkeit iſt in 
der Arbeiterbildung ausgeſchloſſen. Es iſt wenig Zeit vorhanden, viel Ver⸗ 
ſaͤumtes nachzuholen, in Eile notdürftig ein Fundament zu legen — und 
der Beduͤrftigen ſind ſo viele. Das gibt der Arbeiterbildung etwas Gehetztes; 


Seinrich Schulz, Phaſen der Arbeiterbildung 283 


die handwerkliche Gemuͤtlichkeit iſt dem Arbeiterbildner fremd. Den Stoff 
diktiert nicht feine perſoͤnliche Vorliebe, fein „Spezialſtudium“ — er wird 
ihm vorgeſchrieben von den Beduͤrfniſſen der Schicht, für die er arbeitet — 
und dieſe Beduͤrfniſſe muß er ſelbſt erſt erfuͤhlen; denn die proletariſche 
Schicht ſelbſt hat nur ein unklares Bewußtſein davon. 


Heinrich Schulz 
Phaſen der Arbeiterbildung 


ie Anfaͤnge der Arbeiterbildung tragen noch die Eierſchalen der 

bürgerlichen individualiſtiſch · demokratiſchen Epoche, der fie ent- 

ſtammen. Eine beſtimmte Zielſetzung beſtand nicht, man ſchaͤtzte das 
wWiſſen als einen Vorzug ſchlechthin gegenüber dem Nichtwiſſen in der 
grundſaͤtzlichen Uberſchaͤtzung des Intellektualismus, wie ſie der zweiten 
Saͤlfte des 19. Jahrhunderts eigen war. Die emporſtrebende bürgerliche 
Klaſſe ſtuͤtzte ihre Anſpruͤche wirtſchaftlich auf ihre kapitaliſtiſche Über- 
legenheit, in geiſtiger Beziehung war fie im Bunde mit Wiſſenſchaft und 
Kunſt der Klaſſe der Junker feit langem über den Kopf gewachſen. 
„Wiſſen iſt Macht“ war die liberale Loſung, mit der der Einzelne im freien 
Spiel der Kräfte voran zu kommen trachtete; in den uͤberall auffprießen- 
den Volksbildungsvereinen ſuchte er ſich ein freiwilliges Plus über das be · 
ſcheidene geiſtige Exiſtenzminimum der Volksſchulbildung hinaus anzu⸗ 
eignen. Politiſch pflegten dieſe Vereine einen wohltemperierten Libera⸗ 
lismus. 

Es lag nahe, daß auch die uͤber Demokratie und Liberalismus zum Sozia⸗ 
lismus gelangenden Arbeiter dieſes wertvolle Mittel zur geiſtigen Befrei⸗ 
ung an wandten. In den Auseinanderſetzungen des jugendlichen Sozialis⸗ 
mus mit dem Liberalismus unter der temperamentvoll ſtuͤrmenden Fuͤh⸗ 
rung Laſſalles loͤſten ſich die erſten Arbeiterbildungs vereine von der libera⸗ 
len Bevormundung los und ſuchten ſich in den weiten Räumen der ſozia⸗ 
liſtiſchen Ideologie zurechtzufinden. Dem wirtſchaftlichen Machtfaktor des 
kapitaliſtiſchen Buͤrgertums hatten fie ihre Zahl und die planmaͤßige Gr⸗ 
ganiſation entgegenzuſtellen. 

Aber noch fehlte der Arbeiterbildung ein beſtimmtes und feſtes Ziel. Wil⸗ 
helm Liebknecht griff das Schlagwort von der Macht des Wiſſens auf; er 
gab ihm zwar teilweiſe einen neuen Inhalt, aber die eigentliche Aufgabe 
ſah er noch nicht, die politiſchen Zeitverhaͤltniſſe und draͤngenden Pflichten 
ließen ihm keine Zeit zu eindringender Beſchaͤftigung mit dem Problem. 
Außerdem brach bald die Schreckenszeit des Sozialiſtengeſetzes uͤber die 
deutſche Arbeiterbewegung herein. Waͤhrend dieſer Zeit waren politiſche 
Vereine unmoglich. An ihre Stelle traten geheime Vereinigungen oder 
Vereine, bei denen eine aͤußerlich harmlos ⸗ neutrale Flagge die politiſche 
Konterbande decken mußte. Dazu gehoͤrten neben Befang-, Vergnuͤgungs⸗ 
und Turnvereinen beſonders Arbeiterbildungsvereine, in denen fuͤr die 
Augen und Ohren der offenen und geheimen Polizei alle möglichen unge; 


284 Seinrich Schulz 


faͤhrlichen Belehrungsvortraͤge gehalten wurden, um den politiſchen 
Zweck unauffaͤllig nebenbei zu erreichen. 

Die von Wilhelm Liebknecht 189] veranlaßte Gruͤndung der Arbeiter⸗ 
bildungsſchule in Berlin and auch noch in dieſem Zeichen. Zwar kam in ihr 
bereits in ſtarker Weiſe die durch den Fall des Sozialiſtengeſetzes geſteigerte 
Selbſtbeſinnung der Arbeiter auf ihre eigene Kraft und Macht zum Aus ⸗ 
druck; aber in geiſtiger Beziehung ſtand die Neugruͤndung noch unſicher 
auf ihren Süßen. Es fehlte an brauchbaren Lehrern und an geeigneter 
Literatur. Wohl wurden die Arbeiter in einem eigenen Verein mit fchul- 
maͤßigem Charakter zuſammengefaßt; aber die Lebrmetbode war unpaͤ⸗ 
dagogiſch. Der Lehrſtoff wurde ziemlich wahllos allen moͤglichen Gebieten 
entnommen; man ſah ihn wohl mit ſozialiſtiſchen Augen an, wußte ihn 
aber noch nicht ſozialiſtiſch zu bezwingen. Dazu füllten Unterrichtsgegen⸗ 
ſtaͤnde elementarer Art, die mit dem Sozialismus an ſich nichts zu tun bat- 
ten, wie Schreiben, Rechnen, Buchführung, Stenographie den Hauptteil 
des Lehrplans. Dieſe Unterrichtsfaͤcher hatten bezeichnender Weiſe gerade 
den groͤßten Zulauf, was wohl auf einen allgemeinen Bildungswillen der 
Arbeiter ſchließen ließ, aber doch auch gleichzeitig verriet, daß die Maſſen 
der Arbeiter das eigentliche Ziel der ſozialiſtiſchen Arbeiterbildung noch 
nicht erkannt hatten. Alles in allem: viel ehrlicher und guter Wille, aber 
noch unſicher im Ziel und unzureichend im Erfolg. 

Ahnlich ſtand es um die kuͤnſtleriſchen Veranſtaltungen. Während des 
Sozialiſtengeſetzes hatten die verfolgten und gehetzten Sozialdemokraten 
genug mit der Erhaltung ihrer nackten politiſchen Exiſtenz, in vielen Säl- 
len ſogar mit dem Schutz ihres Lebens zu tun. Da blieb für kuͤnſtleriſche 
Geſtaltung des Lebens weder Zeit, noch Kraft, noch Stimmung. Das Be⸗ 
duͤrfnis war zwar auch da und ſetzte ſich hier und da naiv · unkuͤnſtleriſch 
durch. Duͤrftige Photographien oder Bilderkliſchees der Fuhrer ſchmuckten 
die Wände. Das bekannte Bild, auf dem Laſſalle in heldenhafter Saltung 
eine Fahne ſchwingt, konnte man in vielen Arbeiterhaͤuſern ſehen, links 
und rechts daneben hingen ſozialiſtiſche Sinnſpruͤche und geſtickte Sausſegen. 

In den Arbeitergeſangvereinen, die ausſchließlich Maͤnnerchoͤre waren, 
berrfchte die Tendenz unumſchraͤnkt auf Koften der kuͤnſtleriſchen Leiſtung. 
Die Dichtkunſt kam gleichfalls faſt nur als Tendenzpoefle zur Geltung, gute 
Dichtungen von Seine und Freiligrath wechſelten mit grundſatzfeſten, aber 
kuͤnſtleriſch maͤßigen Gelegenheitsgedichten und gereimten Leitartikeln. 
Vorgetragen wurden ſie von den Arbeitern ſelber, wobei guter Wille und 
innere Empfindung einſpringen mußten, wenn die kuͤnſtleriſche Leiſtung 
verſagte. Theaterauffuͤhrungen ſahen die Arbeiter faſt nur bei feſtlichen 
Gelegenheiten und hier wiederum nur in Form von dichteriſch wertloſen 
Tendenzſtuͤcken. Alles in allem auch in kuͤnſtleriſcher Beziehung der gute 
Wille, mit der Kultur gute Beziehungen herzuſtellen, aber mangels ur⸗ 
ſpruͤnglicher Kraft und ſachverſtaͤndiger Silfe nur gutgemeinte, unzulaͤng⸗ 
liche Anfänge. 


ie zweite Phaſe der Arbeiterbildung reicht vom Ende des Sozialiſten⸗ 
geſetzes bis zum Ausbruch des Krieges. Sie wird beſtimmt durch das 


Dhafen der Arbeiterbildung | 285 


gewaltige Wachstum der deutſchen Arbeiterbewegung während dieſes 
Zeitraumes auf gewerkſchaftlichem und politiſchem Gebiet. Die Behand⸗ 
lung der Partei durch die bürgerliche Geſellſchaft zwang fie zu einer Politik 
negativer Gppoſition. Aber mehr und mehr erſtarkten die Erkenntnis und 
der Wille, als größte Partei des deutſchen Volkes mit Millionen von 
Reichstagswaͤhlern nicht nur negativ in der Gppoſition tätig zu fein, ſon⸗ 
dern Kraft und Können der organifierten Arbeiterſchaft auch pofttiv und 
aufbauend einzuſetzen. 

Dieſer Zwieſpalt zwiſchen der klar erkannten Notwendigkeit zu ſachlicher 
Mitarbeit und der hindernden Saltung der herrſchenden Klaſſen führte in- 
nerhalb der Sozialdemokratie zu dem jahrelangen Kampf zwifchen Kadika⸗ 
lismus und Revifionismus. Leider mußten dieſe Kämpfe praktiſch un⸗ 
fruchtbar bleiben, weil trotz aller theoretiſchen Richtigkeit der reviſtoniſti⸗ 
ſchen Gedankengaͤnge die ſtaatsrechtlichen und politiſchen Verhaͤltniſſe in 
Deutſchland und der Geiſt der herrſchenden Parteien praktiſch dem Radika- 
lismus immer wieder Recht gaben. Aber die Kämpfe führten doch zu einer 
ſtarken geiſtigen Aufruͤttelung der Arbeiter, zu eingehender Beſchaͤftigung 
mit den theoretiſchen Grundſaͤtzen und den programmatiſchen Forderungen 
des Sozialismus. Die Erfolge der Partei bei den Wahlen und der Vor⸗ 
marſch der Gewerkſchaftsbewegung ſowie die vielen ſiegreichen gewerk⸗ 
ſchaftlichen Kämpfe ſtaͤrkten immer mehr das Selbſtgefuͤhl und das Kraft ⸗ 
bewußtſein der ſozialiſtiſchen Arbeitermaſſen. Alle ihre Energien ſammel⸗ 
ten ſich wie in einem ungeheuren Staubecken in den großen politiſchen und 
gewerkſchaftlichen Organiſationen, die die ſcharfſichtigeren bürgerlichen 
Politiker teils mit Bewunderung, teils mit geheimer Sorge erfüllten. 
Daraus erklaͤrt ſich auch die Angſt der herrſchenden Schichten bei Ausbruch 
des Krieges, wohin ſich in jener Schickſalsſtunde des deutſchen Volkes die 
bisher gebaͤndigten Kraͤfte des Sozialismus wohl wenden wuͤrden. 

Die Bildungsarbeit der Arbeiter loͤſte ſich in dieſem ZJeitabſchnitt ſowohl 
in organiſatoriſcher als auch in geiſtiger Beziehung von der bisherigen 
buͤrgerlichen Bevormundung. Man gruͤndete nicht mehr Arbeiterbildungs⸗ 
„vereine“, in denen wohlmeinende buͤrgerliche Ideologen wohlmeinend 
und bereitwillig von dem Überfhuß ihres Wiſſens an Arbeiter abgaben. 
Man ſah in der „Bildung“ nicht mehr eine Vereins angelegenheit und eine 
pflicht von Vereins mitgliedern, ſondern eine ſelbſtverſtaͤndliche Pflicht 
aller organifierten Arbeiter. So entſtanden die „Bildungsausſchuͤſſe“ als 
die berufenen Organe zur weckung des Bildungsbeduͤrfniſſes der Arbeiter 
und zu ſeiner Befriedigung. Das innere Leitmotiv war, daß die Arbeiter 
ſich nicht laͤnger mehr mit den Broſamen von den Tiſchen der geiſtig beſſer 
Situierten begnügen dürften. Man beſann ſich auf den Reichtum der ſo⸗ 
zialiſtiſchen Literatur, auf die hinreißenden Propagandaſchriften Laſſal⸗ 
les, auf die grundlegenden wiſſenſchaftlichen Werke von Marx und Engels. 
Dabei wurde zugleich eine planmaͤßige Übermittlung angeſtrebt, die den 
Nachdruck weniger auf die Maſſe des zu erlernenden Stoffes als auf die Er⸗ 
ziehung zum logiſchen Denken, auf die ſozialiſtiſche Betrachtungsweiſe und 
auf die Achtung vor der wiſſenſchaftlichen Arbeit uͤberhaupt legte. In 
ſtofflicher Beziehung wurden die Wiſſensgebiete bevorzugt, die die unmittel⸗ 


286 Seinrich Schulz 


baren Naͤhrquellen des wiſſenſchaftlichen Sozialismus waren: National · 
oͤkonomie, Geſchichte, Soziologie ſowie vor allem die Theorie des Sozialis⸗ 
mus ſelber. Die übrigen Wiſſensgebiete, Naturwiſſenſchaften, Literatur, 
Philoſophie, das Erziehungsweſen, wurden dabei nicht uͤberſehen. In 
kuͤnſtleriſcher Beziehung bemuͤhte man ſich, den Anſchluß an die kuͤnſtle⸗ 
riſche Kultur im allgemeinen, an die unferer Zeit im beſonderen, zu gewin⸗ 
nen. Die Geſangvereine ſchloſſen ſich zu größeren leiſtungsfaͤhigen Kör- 
pern zuſammen und verſchafften ſich ſachkundige kuͤnſtleriſche Leitung, ſo 
daß ſehr bald achtbare Leiſtungen zuſtande kamen. In den Anfang der 
neunziger Jahre fällt auch die Gruͤndung der Volksbühne, dieſes außer⸗ 
ordentlich bedeutſamen Faktors für die kuͤnſtleriſche Volkserziehung. Wenn 
auch eines der Sauptziele bei der Gruͤndung der Volksbuͤhne, die Anregung 
und Belebung des dramatiſchen Schaffens, nicht erreicht wurde, ſo hat doch 
die Volksbuͤhne von Anfang an für Spielplan und Darſtellung die ſtreng⸗ 
ſten kritiſchen Maßſtaͤbe gewahrt. Neben der Volksbuͤhne, die in den erſten 
20 Jahren faſt nur in Berlin eine lebensfaͤhige Form gefunden hatte, ſuch⸗ 
ten im übrigen Deutſchland die Bildungsausſchuͤſſe durch kuͤnſtleriſch wert⸗ 
volle Volke vorſtellungen in den ſtaͤndigen Theatern den Wunſch der Ar- 
beiter nach guter Buͤhnenkunſt zu befriedigen. 

Mit Kunſtabenden machte die Arbeiterbildungsſchule in Berlin Mitte 
der neunziger Jahre den Anfang. 1896 begann fie mit einer kuͤnſtleriſchen 
Peſtalozzifeier zur Erinnerung an den 150. Geburtstag Peſtalozzis. Ihr 
folgte bald darauf ein Goetheabend, der auf hoher kuͤnſtleriſcher Warte 
ſtand. Im Jahre 1897 ließ fie einen modernen Dichter ⸗ und Romponiſten ; 
abend folgen, in dem lebende Dichter und Muſiker, zum Teil mit bis dahin 
unveröffentlichten Werken, zu Wort kamen. Ahnliche Abende wurden bald 
darauf auch in anderen Grten veranſtaltet. Fur alle kuͤnſtleriſchen Deran- 
ſtaltungen galt der Grundſatz: Feine dilettantiſche Spielerei, ſondern im- 
mer und in jedem Falle eine einwandfreie kuͤnſtleriſche Leiſtung. Es war 
nicht einfach, dieſen Grundſatz durchzufuͤhren, da ſelbſt die ausuͤbenden 
Künftler anfangs mit der allgemeinen Scheu des Buͤrgertums vor der Zu; 
ſammenarbeit mit der Sozialdemokratie ſelbſt auf völlig unpolitiſchen Ge⸗ 
bieten zu kaͤmpfen hatten; mehr als einmal wurde ein Kunftabend in 
Frage geftellt, weil ein Künftler oder eine Nuͤnſtlerin im letzten Augenblick 
abſagten. Der Vorwand war dabei meiſtens fo durchſichtig, daß man da- 
hinter leicht die Sorge des Kuͤnſtlers vor der drohenden Verfemung durch 
feine bürgerlichen Brotgeber erkannte. 

Noch ſchwieriger war es, fuͤr die wiſſenſchaftliche Bildungsarbeit die ge⸗ 
nuͤgende Zahl geeigneter wiſſenſchaftlicher Perſoͤnlichkeiten zu finden. Die 
wenigen ſozialiſtiſchen wiſſenſchaftler waren faſt alle durch andere Taͤtig · 
keit gebunden, nichtſozialiſtiſche aber faſt ausſchließlich gleichzeitig anti⸗ 
ſozialiſtiſch geſinnt. Die erſte Aufgabe der ſich neu organifierenden Bil- 
dungsarbeit war deshalb die Gewinnung und Seranbildung wiſſenſchaft⸗ 
licher Perſoͤnlichkeiten mit ſozialiſtiſcher Überzeugung, wie ſie fuͤr die eigent · 
liche und wichtigſte ſozialiſtiſche Bildungsarbeit: fuͤr die Schulung der Ar⸗ 
beiter zu ſozialiſtiſchem Denken zum Eindringen in die ſozialiſtiſche Theorie 
und zum Erkennen der geſchichtlichen Juſammenhaͤnge vom Standpunkt 


Phaſen der Arbeiterbildung 287 


der materialiſtiſchen Geſchichtsauffaſſung aus unbedingt nötig waren. Fuͤr 
die anderen Wiſſenszweige, fo für die Naturwiſſenſchaften, war eine fo: 
zialiſtiſche Uberzeugung des Lehrers keine unbedingte Vorbedingung, aber 
fie war doch erwuͤnſcht, nicht etwa, um die Naturwiſſenſchaften nach fo- 
we sa Bedärfniffen zurecht zu biegen, wohl aber um das Gegenteil zu 
verhůͤten 

Die ſozialiſtiſche Bildungsarbeit war demgemaͤß im weſentlichen auf So⸗ 
zialdemokraten als Lehrer und Soͤrer beſchraͤnkt. Da das geſellſchaftliche 
Ghetto, in dem die Sozialdemokratie nach wie vor gefangen gehalten wur- 
de, verhinderte, daß die Arbeiter unmittelbar an die Quellen des kulturellen 
Lebens heran konnten, mußte die Kultur gewiſſermaßen von außen her 
mit Eimern in das Ghetto getragen werden. Wenn die Bildungsarbeit 
jener Zeit dadurch einen ſtark politiſchen Einſchlag erhalten hat, fo lag 
Schuld daran nicht an der Sozialdemokratie, ſondern an den gefellfchaft- 
lichen und politiſchen Zuſtaͤnden in Deutſchland, die die Sozialdemokratie 
zu ſtarker Einſeitigkeit zwangen. 


hrend des Krieges begann die dritte Phaſe der Arbeiterbildung. 
Bis dahin hatte die Bildungsarbeit aus der Not ihrer Iſolierung 
eine Tugend gemacht: fie hatte ſich auf ihr eigentliches Weſen beſonnen, 
ihre eigenen Ziele aufgeſtellt und eigene Wege zu dieſen Zielen eingeſchla⸗ 
gen. Zu der buͤrgerlichen Bildungsarbeit beſtanden keinerlei Beziehungen; 
wo fie von buͤrgerlicher Seite her verſucht wurden, waren die Arbeiter 
mißtrauiſch aus der berechtigten Sorge heraus, es koͤnnten politiſche Ne⸗ 
benabſichten dahinter ſtecken. Daß die ſozialiſtiſche Bildungsarbeit die Me⸗ 
thoden der bürgerlichen Bildungsarbeit dabei nicht unterſchaͤtzte und aus 
den Augen verlor und das Gute darin zu erkennen und fuͤr ſich zu verwen⸗ 
den ſuchte, iſt ſelbſtverſtaͤndlich. 

Im ſogenannten „Burgfrieden“ während der ſchweren Kriegszeit wurde 
auch eine Annaͤherung der verſchiedenen Bildungsorganiſationen ver⸗ 
ſucht. In Weimar fand im Jahre 1916 eine Konferenz ſtatt, die von den 
zentralen Bildungsorganiſationen der verſchiedenen Richtungen, den ka⸗ 
tholiſchen, evangeliſchen, liberalen, interkonfeſſionellen und ſozialiſtiſchen 
Organiſationen beſchickt war. Ich legte in jener Konferenz Wert darauf, 
daß Feine Verwiſchung des eigentlichen Wefens der einzelnen Organiſa⸗ 
tionen angeſtrebt werden duͤrfe; man koͤnne in Fragen der Bildungstechnif 
weite Strecken gemeinſam gehen und ſich gegenſeitig helfen, duͤrfe dabei 
aber nicht die eigene Selbſtaͤndigkeit aufgeben, beſonders in der inneren 
Zielſetzung und Geſtaltung muͤſſe den Verbaͤnden die vollſte Unabbängig- 
keit verbleiben, einer Majoriſierung in dieſen Fragen würde die ſozialiſtiſche 
Bildungsarbeit ſich unter keinen Umſtaͤnden unterwerfen. Der „Ausſchuß 
der deutſchen Volksbildungsverbaͤnde!, der auf dieſer Grundlage zuſtande 
kam, hat etwa ſechs Jahre lang beſtanden, eine rechte Wirkſamkeit aber 
nicht entfalten konnen, weil die Gegenſaͤtze über Weſen und Aufgaben der 
Volksbildung zu groß waren, und zwar ſtets zu langen und gelegentlich auch 
anregenden Debatten führten, aber praktiſch unfruchtbar blieben. 

Der Grundſatz, der den Ausſchuß zunaͤchſt zuſammen gehalten hatte, 


288 Seinrich Schulz 


ſetzte ſich indeß doch durch, nachdem mit der Beendigung des Krieges und 
mit den neuen volksſtaatlichen Verhaͤltniſſen andere Bedingungen für die 
politiſchen und gewerkſchaftlichen Arbeiterorganiſationen geſchaffen wor⸗ 
den waren. In vielen Freiſtaaten und in zahlloſen Gemeinden hatten die 
Sozialdemokraten die Mehrheit in Geſetzgebung und Verwaltung erbal- 
ten. Zu den Sauptſchlagwoͤrtern während der Revolutions monate gehoͤrte 
die Forderung der „Volkshochſchule“, unter der organiſatoriſch die ver⸗ 
ſchiedenſten Dinge verſtanden wurden, die aber doch ſchließlich uberall ma⸗ 
terielle und ideelle Kräfte für die Volksbildung in Bewegung ſetzte. Dazu 
trat die Notwendigkeit der Koalition der Parteien auf dem viel ſchwierige⸗ 
ren politiſchen Gebiete und ein Zuſammenwirken der weltanſchauungen 
mannigfaltiger Art. Ein Zuſammenarbeiten in der Volksbildungs arbeit 
ergab ſich daher um ſo leichter, beſonders in den Staͤdten und Gemeinden, 
in denen vielfach die Volksbildungsarbeit — mit Recht! — zur offentlichen 
Angelegenheit gemacht wurde. Die Gemeinde ſtellt Räume und Geldmittel 
zur Verfugung, in die die verſchiedenen oͤrtlichen Bildungsorganiſationen 
ſich zu teilen hatten, oder die oͤrtlichen Verbaͤnde ſetzten gemeinſame Aus ⸗ 
ſchuͤſſe ein, die im Juſammenwirken mit der gemeindlichen Verwaltung be- 
lehrende und kuͤnſtleriſche Veranſtaltungen einrichteten. 

Dabei verblieb den Bildungsorganiſationen ihr weltanſchauliches Son- 
derziel zur eigenen Pflege. Die Arbeiterbildung ſieht dieſes Ziel in der Schu · 
lung der Arbeiter zur theoretiſchen Erkenntnis und zur praktiſchen An- 
wendung des Sozialismus. Können die Arbeiterbildungsausſchuͤſſe in an- 
deren Fragen, in kuͤnſtleriſchen Feiern, in naturwiſſenſchaftlicher Beleb- 
rung, im Buͤchereiweſen, mit den buͤrgerlichen Bildungs vereinen zufam- 
mengehen, in der Pflege des Sozialismus konnen fie nur allein marſchieren. 
Je weniger fie genötigt find, wie einſt einen großen Teil ihrer Kraft den 
unpolitiſchen Aufgaben zuzuwenden, um ſo mehr koͤnnen ſie ihre Mittel und 
Kraͤfte auf ihr Sauptziel konzentrieren. 

In organiſatoriſcher Beziehung konnten die Bildungsausſchuͤſſe bei ⸗ 
behalten werden. Sie haben ſich bewaͤhrt und ſind elaſtiſch genug, um auch 
allen Anſpruͤchen der neuen Aufgaben und Methoden zu dienen. Auch die 
Gliederung der Arbeiterbildung nach den beſonderen Beduͤrfniſſen der ge⸗ 
werkſchaftlichen und der politiſchen Arbeit, die ſich ſchon vor dem Krieg 
zwanglos gebildet hatte, wobei ein Juſammenwirken beider von den oͤrt⸗ 
lichen Ausfchüffen an bis zu den Zentralen eine Selbſtverſtaͤndlichkeit war, 
hat ſich erhalten und bewaͤhrt ſich auch weiterhin auf das Beſte. 

Neuerdings ſetzt ſich eine Bewegung zu weiterer kraftvoller ZJuſammen ; 
faſſung und Staͤrkung der Arbeiterbildung durch. Alle kulturell taͤtigen 
Verbaͤnde der Arbeiterbewegung ſind bemuͤht, ſich zu gemeinſamer Arbeit 
zuſammenzuſchließen. Seute wirken die kulturellen Beſtrebungen der Ar⸗ 
beiterklaſſe, die Bildungsbewegung, die Jugendbewegung, die paͤdagogi⸗ 
ſchen Einrichtungen, die kuͤnſtleriſchen Verbände für Theater, Konzerte 
und Feiern, die Geſangspflege, die Koͤrperkultur, der Jungſozialismus, die 
ſozialiſtiſchen Studenten und aͤhnliche Beſtrebungen, nebeneinander, oft 
durcheinander und gelegentlich auch gegeneinander. Sie alle wollen auf 
einen gemeinſamen Nenner gebracht und zu einer Geſamtbewegung zu 


Pbaſen der Arbeiterbildung 289 


ſammengefaßt werden. Dieſe Juſammenfaſſung ſoll aber nicht zu einer 
ſchematiſchen Zentraliſierung und Schablonifierung führen. Auch durch 
ein Machtwort kann hier nichts erreicht werden. Die verſchiedenen Ver⸗ 
einigungen ſuchen zunaͤchſt, in der Regel unter Fuͤhrung der Bildungs⸗ 
organiſation, fuͤhlung zu nehmen und zu prüfen, ob fie ſich zu einem Zweck 
verband oder zu einer Arbeitsgemeinſchaft, wenn auch vorläufig nur zu 
loſer Zuſammenarbeit, verbinden koͤnnen. Es wird ſich bald ergeben, daß 
es zahlreiche Angelegenheiten kultureller Art gibt, in denen gemein ſames 
Handeln notwendig iſt. In anderen Fragen wird man ſich auf gegenſeitige 
Beratung und Unterſtuͤtzung beſchraͤnken. 

Es iſt zu erwarten, daß auf dieſe Weiſe eine Fulle von Kraft zufammen- 

gefaßt wird, die in gegebenen Sällen als bedeutſamer Machtfaktor nach in- 
nen wie nach außen eingeſetzt werden kann. Nach innen inſofern, als auch 
der Partei ⸗ und Gewerkſchaftsbewegung gegenüber in beſtimmten Faͤllen 
eine einheitliche Vertretung ſozialiſtiſcher Rulturintereffen notwendig und 
erwuͤnſcht ſein kann. Nicht um eine ſelbſtaͤndige Politik auf kulturellem 
Gebiet handelt es ſich dabei, denn die Vertretung der politiſchen Intereſſen 
der Arbeiter bleibt nach wie vor Sache der politiſchen Arbeiterbewegung, 
der ſozialdemokratiſchen Partei, wie die Vertretung der wirtſchaftlichen 
Arbeiterintereſſen Sache der Gewerkſchafts · und Genoſſenſchaftsbewegung 
bleiben muß. Um aber im Parlament die kulturellen Intereſſen richtig und 
ſachkundig zu vertreten, um ihnen in vielen Faͤllen uberhaupt erſt den rich; 
tigen Nachdruck zu geben, kann und wird ein ſozialiſtiſcher Kulturbund, in 
dem ſich Sach verſtand mit Kraft verbindet, vortreffliche Vorarbeit leiſten. 
Wenn die „Kultur“ in ihrer allgemeinen Bedeutung ſchon eine ſinnvolle 
Zufammenfaflung der Menſchen zu beſtimmtem Zweck darſtellt, fo iſt mit 
Sicherheit zu erwarten, daß der freiwillige Juſammenſchluß der erwaͤhn⸗ 
ten Organiſationen unter dem Zeichen der gemeinſamen ſozialiſtiſchen 
Kulturintereſſen ſehr bald die gemeinſame Ideologie und die aus ihr 
berauswachſenden inneren Werte für Geiſt, Gerz und Willen, ebenſo die 
beſondere kulturſozialiſtiſche Gedanken · und Gefuͤhlswelt erſtehen laſſen 
wird. 
Eine ſolche innere Beſinnung und aͤußere Vereinigung aller Mitarbeiter 
an der ſozialiſtiſchen Kultur und die Kraft ihres vereinigten Willens wird 
fuͤr den Sozialismus einen wertvollen neuen Machtfaktor und einen 
neuen Antrieb fuͤr ſeine raſchere Verwirklichung bedeuten. Es werden da⸗ 
durch viele noch unerſchloſſene und ungelöfte Kraͤfte im Mutterboden Volk 
freigemacht und dem Sozialismus zugefuͤhrt werden. Einrichtungen und 
Menſchen, die ſich der reinen politiſchen oder gewerkſchaftlichen Werbung 
und Arbeit verſchließen, weil ſie unpolitiſch ſind oder vom Standpunkt 
ihrer wiſſenſchaftlichen oder kuͤnſtleriſchen Arbeit bis heute keine Bruͤcke 
zu der politiſchen Arbeit der Sozialdemokratie ſahen, werden durch die ſo⸗ 
zialiſtiſche Kulturarbeit leichter zu gewinnen fein. 

Über die tiefere Bedeutung des Sozialismus, über feine Wirkungen auf 
die Seele des Menſchen wiſſen wir noch verhaͤltnismaͤßig wenig. Die älte- 
ren Sozialdemokraten haben davon noch eher einen Sauch verſpuͤrt, da fuͤr 
fie das Bekenntnis zum Sozialismus ſehr oft zugleich ein ſchweres Opfer 
Tat xv 20 


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war und Maͤrtyrertum und Entſagung bedeutete. Aber bei den jüngeren 
Generationen und in der Gegenwart bedeutet das Bekenntnis zum So⸗ 
zialismus laͤngſt kein Opfer mehr, die ſtarke ſeeliſche Anregung, die ſolche 
Opferbereitſchaft einſt bedeutet, kommt heute kaum noch zur Geltung. Un⸗ 
f = ua waͤchſt in den Sozialismus wie in eine Selbſtverſtaͤndlichkeit 
hinein. 

Da iſt es eine hohe Aufgabe für die kulturſozialiſtiſche Bewegung, über 
das engere Gebiet der Politik hinaus das weite Feld des Sozialismus immer 
wieder neu zu durchforſchen und neue Gebiete zu entdecken und zu beftellen. 
Moͤge dieſe neueſte Phaſe der Arbeiterbildung den Arbeitern und dem So⸗ 
zialismus ebenfo zum Segen gereichen, wie dies die fruheren Stufen der 
Arbeiterbildung im Einklang mit den damaligen wirtſchaftlichen politi⸗ 
5 . und Verhaͤltniſſen in fo reichem Maße zu tun ver⸗ 
mochten | 


Hendrik de Man 
Arbeiterbildung in der Welt 


uch die Arbeiterbildung hat ihre Internationale. Ein erſter Ver⸗ 

ſuch, die Vertreter der wichtigſten nationalen Arbeiterbildungs- 

entralen zu einer mehrtaͤgigen Konferenz zuſammenzubringen, die 
den Teilnehmern einen Überblick über die Ceiſtungen in den andern Laͤn⸗ 
dern bot, gluͤckte der belgiſchen Arbeiterbildungszentrale im Dezember 
1913. Der weltkrieg zerriß den da angeknuͤpften Faden. Er wurde 1922, 
wiederum auf belgiſche Einladung, erneut aufgenommen. Eine Konferenz 
der wichtigſten Landeszentralen — 35 Delegierte aus JJ Ländern — tagte 
mehrere Tage in den Räumen der Bruͤſſeler Arbeiterhochſchule. Ein ſtaͤn⸗ 
diges Bureau zur Vorbereitung weiterer Konferenzen wurde beſchloſſen; 
ſeine Einrichtung wurde dem Amſterdamer Internationalen Gewerk⸗ 
ſchaftsbund übertragen, der einen feiner Sekretaͤre, J. W. Brown, mit der 
Geſchaͤftsleitung beauftragte. Die zweite Konferenz, die 1924 in Oxford — 
im „Ruskin College der engliſchen Gewerkſchaften — abgehalten wurde, 
war bereits viel umfaſſender: 61 Vertreter aus 20 Ländern. Über die 
Brüffeler und Orforder Konferenzen find im Verlag des Amſterdamer Ge⸗ 
werkſchaftsbundes in Broſchuͤrenform ausfuͤhrliche Berichte erſchienen, 
die auch eine gedraͤngte Schilderung der Arbeiterbildungseinrichtungen in 
den vertretenen Ländern enthalten. 

Es iſt nicht leicht, in dem Chaos der Einzelheiten, die bei alledem her⸗ 
vortreten, die weſentlich differenzierenden Geſichtspunkte zu entdecken. 
Das Bild, das auf einer Konferenz der A.⸗B.⸗ Internationale geboten wird, 
iſt noch bunter als das einer gewerkſchaftlichen oder politiſchen Arbeiter⸗ 
internationale. Denn die Organiſationen für Erwachſenenerziehung im 
Dienſte der Arbeiterbewegung unterſtehen hier einer ſozialdemokratiſchen 
Partei, dort einem politiſch neutralen Gewerkſchaftsbunde, anderswo 
einem Genoſſenſchafts verband; alle Geiſtesſtroͤmungen, die in irgend einem 


Arbeiterbildung in der Welt 291 


Sluͤgel der Arbeiterbewegung eines Landes vorhanden find, finden in ihnen 
einen Ausdruck. Obwohl Rußland und die Parteien der dritten Interna⸗ 
tionale in der A.- B.⸗ Internationale nicht aufgenommen find, um die be- 
ſtehende Verwirrung nicht noch durch Sineintragen politiſch⸗propagan ; 
diſtiſcher Streitfragen zu vermehren, iſt der Kommunismus aus ihr doch 
nicht ganz abweſend, denn fein Standpunkt findet auf dem linken Fluͤgel 
der engliſchen Bewegung beredte und aggreſſive Vertreter. 

Es iſt an dieſer Stelle wohl am wichtigſten, ſtatt die organiſatoriſchen 
Einzelheiten aus aller Serren Länder zu erörtern, die der Intereſſent in 
den erwähnten Konferenzberichten finden kann, einen Einblick in die gei« 
ſtige Eigenart der allgemeinen Sauptſtroͤmungen zu gewinnen. 

Da treten vor allem vier typiſche Grundanſchauungen hervor, die ich 
nach ihren hervorragendſten Vertretern die deutſche, die amerikaniſche, die 
engliſche und die belgiſche nennen möchte. So ſehe ich wenigſtens die Dinge 
— auf Grund meiner nahen perſoͤnlichen Teilnahme an den geſchilderten 
internationalen Beſtrebungen bis Ende 1922 und meiner praktiſchen Taͤ⸗ 
tigkeit im Arbeiterbildungsweſen Belgiens, Deutſchlands, Englands und 
Amerikas, was meiner Betrachtungsweiſe zugleich die objektiven Vorzüge 
und die ſubjektiven Nachteile des perſoͤnlich Miterlebten verleihen dürfte. 

Den deutſchen Typ moͤchte ich politiſch⸗dogmatiſch, den amerikaniſchen 
gewerkſchaftlich⸗ utilitariſch, den engliſchen eklektiſch und den belgiſchen 
ſynthetiſch nennen. 

Der deutſche Typ iſt neben Deutſchland auch fuͤr die deutſchſprechenden 
und germaniſchen Länder Europas (Deutſch⸗Oſterreich, die deutſche 
Schweiz, Holland, die ſkandinaviſchen Länder) maßgebend, wie die So⸗ 
zialdemokratie und die „freien Gewerkſchaften“ für die Arbeiterbewegung 
dieſer Länder ů berhaupt. Am beſten kommt er in der Taͤtigkeit des Reichs; 
ausſchuſſes für ſoz. Bildungsarbeit und der Seimvolkshochſchule Tinz 
zum Ausdruck. Ich weiß wohl, daß in den letzten Jahren manche dem 
Geiſte nach davon abweichende Neuerungen zutage getreten ſind: die ſtaͤr⸗ 
kere Neigung einzelner oͤrtlicher Bildungsausſchuͤſſe vom politiſch⸗auf⸗ 
Plärerifchen hinweg auf das kulturell · bildende zu, die vom foztal-PonftruP- 
tiven Geiſte der jungen Republik getragene Akademie der Arbeit und die 
Wirtſchaftsſchulen, wohl auch manche mehr oder weniger vom traditionel⸗ 
len Gehalt der politiſchen Ideologie emanzipierte gewerkſchaftliche Be⸗ 
ſtrebung. Ich weiß auch, daß ſogar die politiſchen und gewerkſchaftlichen 
Berliner Reichszentralen in letzter Zeit angefangen haben, die Schwen⸗ 
kung mitzumachen, die ſich in der Gruͤndung von Kulturkartellen und der- 
gleichen dokumentiert. Jedoch dieſe Abweichungen von dem fruͤheren Ty- 
pus aͤndern nichts an der Tatſache, daß Deutſchland beſonders in ſeiner 
Wirkung auf die Nachbarlaͤnder die Norm geſtellt hat, die ſich aus der aus⸗ 
geſprochen marpiſtiſchen Särbung der deutſchen ſozialiſtiſchen Ideologie er⸗ 
gibt. Das bedeutet nicht nur: die Arbeiterbildung im Dienſte des Klaſſen⸗ 
kampfes — ſondern darüber hinaus: die Arbeiterbildung als Vermittlerin 
jenes beſonderen theoretiſchen Wiſſensinhalts, der dem marxiſtiſchen Be⸗ 
griff des Klaſſenbewußtſeins zugrunde liegt. Die Theorie ſteht hier am An⸗ 
fang. Ein fertiges Syſtem von ſozialwiſſenſchaftlichen Glaubensſaͤtzen iſt 

20° 


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ſchon da, und nun gilt es, dieſes Wiſſen den Maſſen, oder wenigſtens ihrer 
theoretiſch intereſſierten Minderheit, zu vermitteln. Die geiſtige Solgerich- 
tigkeit und organiſatoriſche Tuͤchtigkeit, womit beſonders ſeit I906 in 
Deutſchland an dieſem Programm gearbeitet wird, laͤßt fuͤr den Weſteuro⸗ 
paͤer ſowohl die Vorzuͤge wie die Schwächen dieſer Einſtellung beſonders 
deutlich hervortreten. Als Vorzug erſcheint dabei die ſcharfe Serausarbei ; 
tung des Geſichtspunktes, daß die Arbeitermaſſen nicht wie bei der her⸗ 
koͤmmlichen bürgerlichen Bildungsphilanthropie Objekte, ſondern Sub⸗ 
jekte der Erziehung ſein ſollen: ihre Bildungsinſtitute ſollen an die be⸗ 
ſtehende Klaſſenlage, an die Klaſſenintereſſen, an die ſozialen und politi⸗ 
ſchen Klaſſenzielſetzungen anknuͤpfen. Die Art, wie zum Beiſpiel Seinrich 
Schulz ſchon vor zwei Jahrzehnten dieſen Geſichtspunkt herausgearbeitet 
hat, hat im Ausland — auch weſtlich vom Rhein — vielfach ſtarken Wider⸗ 
hall gefunden und auch dort bei den kritiſchen Auseinanderſetzungen mit 
den „bürgerlichen“ “ Erziehungstheoretikern entwicklungsfoͤrdernd gewirkt. 
Weniger anziehend erſchien den Sozialiſten des demokratiſchen und in⸗ 
dividualiſtiſchen Weſtens die Tatſache, daß die deutſche Anſchauung die 
Forderung des Subjekt ⸗Werdens in ihrer paͤdagogiſchen Tatigkeit auf die 
Klaſſe beſchraͤnkte, ſtatt ſie auf den Arbeiter als Einzelmenſchen auszu⸗ 
dehnen. Daher — vom weſten aus geſehen — eine Beſchraͤnkung auf den 
Aufklaͤrungsſtandpunkt (die Erweckung zum Klaſſenbewußtſein als Ge⸗ 
winnung der rationellen Erkenntnis geſellſchaftlicher Entwicklungs⸗ 
geſetze) auf Koften der individuellen Charakterbildung; daher auch eine ge⸗ 
wiſſe Geringſchaͤtzung der ethiſchen und aͤſthetiſchen, kurzum der kulturel⸗ 
len Aufgaben, die nicht mit dieſem Erkenntnisſtandpunkt begruͤndet wer⸗ 
den konnten; daher endlich der autoritative, oft gar an die Schule des Gbrig⸗ 
keitsſtaates gemahnende Charakter der Lehrmethoden. Dieſe ſetzen eben 
beim Lehrenden den Beſitz eines abgeſchloſſenen Syſtems von Schlußfolge⸗ 
rungen voraus, das dem Lernenden nur noch „mitgeteilt“ und „begreif- 
lich gemacht“ werden ſoll. 

Daraus erklaͤrt ſich wohl, daß auf die Zeit — beſonders das letzte Jahr⸗ 
zehnt vor dem Kriege —, wo die Deutſchen eigentlich die Cehrmeiſter der 
„Arbeiterbildungs internationale“ zum mindeſten auf dem europaͤiſchen 
Feſtland waren, eine Reaktion folgte, die bis auf den heutigen Tag an⸗ 
dauert. Während dieſer Zeit richtete man weſtlich vom Rhein die Blicke 
vielmehr auf die angelſaͤchſiſchen Laͤnder, wo — insbeſondere dank dem 
Aufſchwung der gewerkſchaftlichen Arbeiterpartei Englands — allerlei ge⸗ 
leiſtet wurde, das zwar auch autochthone Arbeiterbildung im Dienſte einer 
Klaſſenbewegung war, aber weniger doktrinaͤr⸗aufklaͤreriſch, mehr auf die 
vielſeitigen praktiſchen Beduͤrfniſſe der individuellen Taͤtigkeit zugeſchnit⸗ 
ten. In der allerjuͤngſten Zeit macht ſich zwar wieder eine gefteigerte Be⸗ 
wunderung für deutſche Leiſtungen bemerkbar: das Suchen der Jugend⸗ 
bewegung nach einer neuen Lebensform, wenigſtens im Seiertäglichen, die 
neue Feſtkultur bei gewiſſen Maſſendemonſtrationen, die jungſozialiſtiſchen 
Verſuche zur Verjuͤngung der ſozialiſtiſchen Geſinnung vom etbifch-reli- 
gioͤſen Erleben her, und die Leiſtungen einiger lokalen Bildungsaus 
ſchuͤſſe, die — wie vor allem die Leipziger mit ihrem „Rulturwillen” — 


Arbeiterbildung in der Welt 293 


die „Klaſſenkampfaufgabe“ bewußt zur „KNulturaufgabe“ zu erweitern 
ſuchen. Die Keichsarbeiterjugendtage ſeit Weimar und die Frankfurter 
Arbeiter ⸗ Olympiade haben in der Sinſicht einen tiefen Eindruck auf die 
Auslaͤnder gemacht, die dieſe Tagungen als Teilnehmer oder durch Be⸗ 
richte miterlebt haben. Jedoch man hat bisher im weſtlichen Auslande von 
den dort empfangenen Anregungen erſt wenig in die Praxis umzuſetzen 
verſucht: nur in Solland hat man das „deutſche Muſter“ der Kulturbe⸗ 
wegung der Arbeiterjugend erfolgreich — hier und da, wie mir ſcheint, ſo⸗ 
gar Überlegen — nachgeſtaltet, in Belgien find erſt im vlaͤmiſchen Landes ⸗ 
teil lokale Anfänge gemacht, und in England iſt kaum eine ſchwache Wir⸗ 
kung zu verſpuͤren. Wie dem auch ſei: Deutſchlands Arbeiterbildung wirkt 
in letzter Zeit nur gerade in dem Maße international anregend und befruch- 
tend, wie fie ſich in ihrer Praxis von dem vorhin geſchilderten „klaſſiſchen“ 
Typ der marxiſtiſch⸗aufklaͤreriſchen Tätigkeit, wie fie zwiſchen Joos und 
1914 ihren Soͤhepunkt erreichte, wieder abwendet. Das Bild, das man ſich 
im Auslande insbeſondere von den zentralen, „Berliner“ Beſtrebungen 
der Partei ⸗ und Gewerkſchaftsorganiſationen in Bildungsſachen macht, 
entſpricht — zu Recht oder zu Unrecht — in feinen großen Jugen noch im; 
mer jenem Bilde der Vorkriegszeit; und die Grunde, die es weniger an⸗ 
ziehend machen, fallen letzten Endes mit den hiſtoriſchen und national⸗ 
pſychologiſchen Urſachen zuſammen, die den Weſteuropaͤer und Angelſach⸗ 
ſen ſchon rein gefuͤhlsmaͤßig gegen den Marxismus einnehmen: er erſcheint 
ihnen zu trocken und ſtarr, zu abſtrakt · doktrinaͤr, zu zyniſch ⸗materialiſtiſch, 
zu autoritaͤr in ſeinen Zielſetzungen, zu pedantiſch in ſeinen Methoden. 
Im aͤußerſten Gegenſatz zu dem deutſch⸗marxiſtiſchen Typ ſteht der ameri- 
raniſche. Die große Mehrzahl der Arbeiterbildungseinrichtungen in den 
Vereinigten Staaten, die dem Workers Education Bureau und damit der 
A.⸗B.⸗ Internationale angehören, ſtehen im Dienſte und unter Aufficht der 
Gewerkſchaften der American Federation of Labor. Diefe — oder viel ; 
mehr der größte Teil ihrer Berufsverbände, die etwa / der Geſamtmit ; 
gliedſchaft vertreten — tragen das Bureau finanziell mit einer jaͤhrlichen 
Sonderkopfſteuer. Die drei ſtaͤndigen Arbeiterhochſchulen mit Internat — 
die wichtigſte davon Brookwood in Katoonab im Staate New Nork — 
und die etwa 25 Schulen ohne Internat werden in der Sauptfache von den 
Gewerkſchaften mit Beiträgen unterſtuͤtzt und mit Schülern und Schuͤle⸗ 
rinnen beſchickt. In den Staaten gibt es bekanntlich keine ſozialiſtiſche Par⸗ 
tei, die eine irgendwie erhebliche politiſche Rolle ſpielte; die Gewerkſchaften 
aber halten mit aͤußerſter Energie an ihrem politiſch neutralen Stand⸗ 
punkte feſt. Das gilt ſogar für ſolche Verbaͤnde, die, wie etwa die Konfek 
tionsarbeiter (die an der Bildungsarbeit hervorragend beteiligt ſind), in 
Mitgliedſchaft und Fuͤhrung uͤberwiegend aus ſozialiſtiſchen oder ſonſt po⸗ 
litiſch⸗ radikal gerichteten Elementen beſtehen. Die Gewerkſchaft vertritt 
Berufsintereſſen — nichts weiter; allerdings mit allen Mitteln, auch mit 
Silfe der Geſetzgebung und der Verwaltungstaͤtigkeit, aber dann nicht 
durch Anſchluß an eine Klaſſenpartei. Dieſe praktiſch · utilitariſche Ein⸗ 
ſtellung (die übrigens einen gewiſſen idealiſtiſchen Schwung nicht aus- 
ſchließt, freilich im Rahmen der Berufsſolidaritaͤt und der nationalen 


294 Sendrik de Man 


„Volksgemeinſchaft ⸗ Ideologie“, nicht in der europaͤiſchen Ausdrucksweiſe 
des politiſchen Klaſſenkampfes) kommt auch in den Bildungseinrichtungen 
zum Ausdruck. Dieſe gehen von der Frage aus: was braucht der Arbeiter 
fuͤr ſeine Taͤtigkeit als Organiſationsmitglied, insbeſondere als Grganiſa⸗ 
tionsführer? Die Antwort iſt natuͤrlich: vor allem praktiſche Nenntniſſe, 
wie Grganiſationstechnik, Verwaltung, Buchführung, praktiſche Natio⸗ 
naloͤkonomie zunaͤchſt vom Standpunkte des eigenen Berufes; dazu Poli 
tik als Verfaſſungskunde und Geſchichte der Parteien und der Tages⸗ 
fragen, Sozialwiſſenſchaft als konkretes Material zur eigenen Urteilsbil⸗ 
dung. Unter ſolchen Umſtaͤnden ſtellt ſich die Frage nach „bürgerlicher“ 
oder „proletariſcher“ wWiſſenſchaft gar nicht erſt; die allermeiſten Cehr⸗ 
kraͤfte ſind denn auch Akademiker und Lehrer, die den verſchiedenſten poli⸗ 
tiſchen Richtungen (natuͤrlich einſchließlich der ſozialiſtiſchen) angehoͤren; 
der „Arbeiter“ Charakter des Unterrichts ergibt ſich bloß aus der gewerk⸗ 
ſchaftlichen Initiative, aus der Schuͤlerauswahl und aus der praktiſch · or⸗ 
ganiſatoriſchen Zweckſetzung. Charakteriſtiſch iſt dabei, daß die wichtigſten 
Einrichtungen (mit Ausnahme des erwähnten Brookwood College) nach 
Berufs verbaͤnden gegliedert find. Charakteriſtiſch iſt ferner, daß die einzige 
amerikaniſche Arbeiterhochſchule, die der Socialist Party unterſteht, die 
New Norker Rand School, dieſer Geſamtbewegung fernbleibt, und ihre 
Schüler hauptſaͤchlich aus den internationalpolitiſch intereſſterten, zumeiſt 
juͤdiſchen europaͤiſchen Einwanderern des East End rekrutiert. 

Viel weniger einheitlich iſt das Bild, das Großbritannien bietet. Die Ar⸗ 
beiterbildungsbewegung iſt hier, wie die Arbeiterbewegung uberhaupt, 
älter (übrigens auch der quantitativen Leiſtung nach bedeutender) als an- 
ders wo; es gibt noch Bildungsorganiſationen, deren Anfänge bis in das 
erſte Viertel des neunzehnten Jahrhunderts zuruͤckreichen. Jede Strömung 
in der Gedankenwelt der britiſchen Arbeiterbewegung der letzten hundert 
Jahre, vom liberalen Trade ⸗Unionismus bis zum Syndmanſchen Anglo⸗ 
Marxismus, des genoſſenſchaftlichen Sozialutopismus und des betriebs- 
raͤtlichen Syndikalismus nicht zu vergeſſen, hat ihre Spuren hinterlaſſen. 
Es iſt ein weiter weg von dem aͤußerſten rechten Fluͤgel der W. E. A. 
(Workers Educational Association), in deren Ehrenausſchuß die ange · 
ſehenſten Fuhrer aller Parteien und die führenden Beamten des Unter 
richtsminiſteriums vertreten ſind, bis zu der Plebs League, die in ihren 
Londoner und Glasgower Internatſchulen den rechtglaͤubigen kommu⸗ 
niſtiſchen Marxismus verkuͤndet. Das merkwuͤrdige iſt nun, daß die Ge; 
werkſchaftsbewegung und die Arbeiterpartei als Ganzes ſich ſehr wohl mit 
dieſem ZJuſtande abfinden: die foͤderaliſtiſche Organiſationsform und vor 
allem die dem praktiſchen Kompromiß zu-, der theoretiſchen Prinzipien; 
ſpalterei abgeneigte engliſche Mentalitaͤt ermoͤglicht ein Nebeneinander, 
wo in jedem kontinentalen Lande nur ein Gegeneinander denkbar waͤre. 
Nicht als ob dieſe verſchiedenen Organiſationen ſich der Unterſchiede in 
ihrem Charakter nicht bewußt waͤren. Die kommuniſtiſche Plebs League 
zumal nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn fie der W. E. A. „geiſtige 
Lakaiendienſte an die Bourgeoiſie“ oder dem Ruskin College „Pleinbürger- 
lichen Befinnungsbrei” vorwirft; und als Vorſitzender der zwei erſten in⸗ 


Arbeiterbildung in der Welt 295 


ternationalen A.⸗B.⸗ Konferenzen weiß ich, daß es auch bei ſolchen ZJu⸗ 
ſammenkuͤnften nicht immer leicht iſt, die Klippe dieſer „innerengliſchen“ 
grundſaͤtzlichen Rontroverſen zu umſteuern. Jedoch im allgemeinen regen 
ſich nur die unmittelbar Beteiligten daruͤber auf. Die zahlloſen kleinen und 
großen Gewerk ſchaftsorganiſationen, die von den ebenfalls zahlloſen 
Colleges, Classes und Vortrags vermittlungsorganiſationen um Beiträge 
oder Schülerdelegationen angegangen werden, wäblen einfach diejenige 
Anſtalt aus, die ihnen nach Lage der Umſtaͤnde am meiſten gefällt. Oft 
richtet ſich die Wahl nach den perſoͤnlichen Sympathien eines in Ausſicht 
genommenen Schuͤlers, am haͤufigſten natuͤrlich nach denen der Mehrheit 
der jeweiligen Grganiſationsleitung, wobei zumeiſt in jedem Berufsver ; 
bande die Grts · oder Bezirksgruppen ohne Ruͤckſicht auf die Jentralleitung 
die Stellung einnehmen koͤnnen, die ihrer Geſchmacksrichtung entſpricht. 
Es iſt durchaus gewoͤhnlich, daß von demſelben Berufsverband ein Teil 
der Schüler — und der Beiträge — etwa an das „radikale“ London La- 
bour College, ein anderer an das „gemaͤßigte “ Ruskin College oder an die 
W. E. A. gehen. Dieſen eklektiſchen Standpunkt hat ſich ſogar, nach jahre⸗ 
langen Bemuͤhungen, die Frage anders zu loͤſen, der Gewerkſchaftskon ⸗ 
greß im Jahre 1925 zu eigen gemacht. Von Bildungs organiſationen aller 
Richtungen — einſchließlich der kommuniſtiſch⸗marxiſtiſchen — um mora ; 
liſche und finanzielle Unterſtuͤtzung gebeten, hat er alle einfach miteinander 
unter ſeine Fittiche genommen. Das war bis zu einem gewiſſen Grade von 
jeher der Grundſatz der W. E. A. geweſen. Dieſe hat ſich nur dadurch zur 
größten und leiſtungsfaͤhigſten Arbeiterbildungsorganiſation der welt 
(wenigftens zur Einrichtung von Abendkurſen) entwickeln koͤnnen, daß fie 
von vornherein jeder ſie angehenden Grtsorganiſation das vermittelte, 
was fie ſelber ſich aus einem reichhaltigen Programm wuͤnſchte. Es war da; 
bei ganz gleich, ob es ſich um einen Kurs über CLokalverwaltung durch 
einen Fortbildungsſchullehrer, oder um einen über ſozialiſtiſche Theorien 
durch einen Marxiſten handelte. Ein jeder nach feinem Geſchmack, das 
Taugliche wird ſich dann als das Brauchbare von ſelbſt behaupten, das 
Untaugliche von ſelbſt untergehen; nach dem engliſchen Sprichwort „der 
Beweis des Puddings ergibt ſich beim Eſſen“ ſoll zuletzt die Erfahrung 
entſcheiden, und die Entſcheidung iſt dann um ſo ſicherer, je ungehinderter 
und allſeitiger das Experiment war. Das iſt der Standpunkt, den ſich der 
britiſche Gewerkſchaftskongreß zu eigen gemacht hat, indem er allen darum 
werbenden Arbeiter ⸗Colleges und anderen Grganiſationen den Anſchluß 
an den Allgemeinen gewerkſchaftlichen Bildungsausſchuß gewaͤhrte, der 
der gewerkſchaftlichen Unterſtuͤtzung und Kontrolle ſeit vorigem Jahre 
verallgemeinerte Wirkſamkeit zu ſichern beſtrebt iſt. 

Inzwiſchen ift ein aͤußerer Anreiz zur Jentraliſierung dadurch ent: 
ſtanden, daß der allgemeine Arbeiterbildungsausſchuß von der Graͤfin 
warwick, einer langjaͤhrigen Sozialiſtin, das Schloß Easton Lodge ge- 
ſchenkt erhielt. Sier koͤnnten alle beſtehenden Internatſchulen unter⸗ 
gebracht werden. Dabei ergeben ſich allerdings Schwierigkeiten, die bis 
zur Stunde nicht behoben worden find. Junaͤchſt in finanzieller Sinſicht: 
Zur Inſtandhaltung des Schloſſes wären etwa 50000 Pfund notwendig. 


296 Zendrik de Man 


Überdies zeigen ſich die beſtehenden Internatſchulen — vor allem Ruskin 
College — bis jetzt ſehr abgeneigt, nach Easton Lodge überzufiedeln. 
Auch wenn es gelingen ſollte, dieſe Wiederſtaͤnde zu überwinden, müßte 
der Aufbau der zentralen Schule auf einer ſo eklektiſch⸗foͤderaliſtiſchen 
Grundlage geſichert werden etwa mit nebeneinanderſtehenden Colleges 
zur freien Wahl der Schüler — daß auch in dieſer Form an der Mannig⸗ 
faltigkeit des engliſchen Arbeiterbildungsweſens grundſaͤtzlich nichts ge⸗ 
ändert wäre. | 

Noch anders iſt die Löfung, die man in Belgien gefunden hat. Sier iſt die 
age inſofern der britiſchen aͤhnlich, als die Arbeiterbewegung — im Ge⸗ 
genſatz zu Deutſchland — von vornherein eine pragmatiſche, foͤderaliſtiſche 
Faͤrbung gehabt hat; mit anderen Worten, ihre Einheit beruhte und beruht 
noch auf ihrem Charakter als Intereſſen vertretung, nicht aufdem Bekenntnis 
zu einer beſtimmten Lehre. Die belgiſche Arbeiterpartei iſt, wie die britiſche 
V allerdings ſchon ſeit vierzig Jahren — eine politiſche Söderation von Ges 
werkſchaften, Genoſſenſchaften, Wahlvereinen und Arbeiterorganiſationen 
der verſchiedenſten Art. Zum Unterſchied von England beſteht jedoch — 
eben auf Grund diefer fruͤhzeitigen Nriſtalliſation und der Gedraͤngtheit 
und Einheitlichkeit der Verhaͤltniſſe — eine ſtarke organiſatoriſche Ein⸗ 
heit. Bekanntlich iſt die belgiſche Arbeiterbewegung die einheitlichſte der 
welt; Partei, Gewerkſchaften und Genoſſenſchaften ſind tatſaͤchlich von 
jeher nur drei Slügel derſelben Bewegung, und fo konnte dieſem Körper der 
vierte Slügel — die Bildungsbewegung verhaͤltnismaͤßig leicht anwach⸗; 
fen. Allerdings war der geiftige Gehalt der A.⸗B.⸗ Bewegung von vorn⸗ 
herein (in zentraliſierter nationaler Form ſeit 1911) ein Kompromiß zwi⸗ 
ſchen zwei Willensſtroͤmungen verſchiedenen Urſprungs: ein utilitariſches 
Motiv, das ſich aus dem unmittelbaren Bedürfnis der Organifationen nach 
praktiſch geſchulten Fuͤhrern und aus dem unbeſtimmten und etwas wahl⸗ 
loſen Bildungs hunger der intelligenteren Arbeiterkreiſe ergab — und ein 
theoretiſch⸗propagandiſtiſches Motiv, das gewiſſermaßen von außen, von 
Fuͤhrern, die ein Gegengewicht gegen die materialiſtiſche Verflachung und 
„Verbuͤrgerlichung“ der Bewegung ſchaffen wollten, in dieſe hineingetra⸗ 
gen wurde. Das erſte Motiv war autochthon belgiſch und proletariſch, das 
zweite nicht nur inſofern „fremd“, als es von marxiſtiſch geſchulten Intel⸗ 
lektuellen vertreten wurde, ſondern auch darin, daß es bewußt die deutſche 
ſozialdemokratiſche Bildungszentrale und ihre Ideologie zum Muſter nahm. 
Im Laufe der Zeit hat ſich dann jene mehr oder weniger organiſche Inte⸗ 
grierung herausgebildet, die ich den ſynthetiſchen Typ der Arbeiterbildung 
(wenigſtens im Verhaͤltnis zu den heutzutage in der Welt praktiſch vorhan⸗ 
denen Stroͤmungen) nennen moͤchte. (Vielleicht bin ich in dieſem Urteil 
nicht unbefangen, da die Entwicklung des belgiſchen Arbeiterbildungs⸗ 
weſens, deſſen Leiter ich von 1911 bis I922 war, zu einem erheblichen Teil 
mit meiner eigenen inneren Entwicklung zuſammenfaͤllt, ſo daß ich das ge⸗ 
wordene zum Teil nur als eigenes empfinden kann; ich habe aber dem Zefer 
ja ſchon geſagt, daß auch dieſer Bericht, wie jeder, der in gedraͤngter Form 
wählen und herausſchaͤlen muß, als ſubjektiv hinzunehmen iſt.) Der ſyn · 
thetiſche Charakter des belgiſchen A.⸗B.⸗Weſens kommt ſchon im organiſa⸗ 


Arbeiterbildung in der Welt 297 


toriſchen zum Ausdruck: nicht nur die etwa 220 Orts- und 25 Bezirksaus⸗ 
ſchuͤſſe, ſondern auch die Landeszentrale iſt gemeinſam durch Partei, Ge⸗ 
werkſchaften und Genoſſenſchaften gebildet und finanziell unterſtuͤtzt, ſeit 
1921 mit Silfe einer Ropfſteuer für jeden gewerkſchaftlich, politiſch oder ge- 
noſſenſchaftlich Organiſierten, was eine Geſamtzahl von etwa anderthalb 
Millionen Beitraͤgen ergibt. Die Arbeit iſt infolgedeſſen viel vielſeitiger 
zentraliſiert, als foger in Deutſchland: auch die Betriebsraͤteſchulen (hier 
nach Induſtrieverbaͤnden gegliedert), die Rurſe für Genoſſenſchaftsverwal⸗ 
ter, die Jugendleiter, Frauen -, Rommunalvertreter- und ſonſtigen Spe⸗ 
zialkurſe unterſtehen direkt der Landeszentrale. Dasſelbe gilt für die Arbei ⸗ 
terhochſchule (mit vlaͤmiſcher und walloniſcher Abteilung) in Uccle bei 
Bruͤſſel, die ſeit 1921 Jahreskurſe mit Internat und zweimonatigen Spe · 
zialiſierungskurſen im zweiten Jahrgang abhaͤlt. In dieſer Arbeiterhoch⸗ 
ſchule, die naturlich beſſere Moglichkeiten bietet, eine eigene paͤdagogiſche 
Methode auszubilden, als die (etwa 160) lokalen „Schulen“ (eigentlich nur 
Abend ⸗ oder Sonntagskurſe), zeigt ſich die Eigenart der belgiſchen Methode 
am deutlichſten. Sie iſt „angelſaͤchſiſch“ inſofern, als ſie die gegebenen 
praktiſchen Beduͤrfniſſe der Organiſationen zum Ausgangspunkt nimmt. 
Ein vorbereitender Kurs ſorgt für das „Auffriſchen“ bzw. Kichtigſtellen 
der allgemeinen Vorbildung, beſonders in bezug auf Sprache, Geſchichte, 
Geographie und elementare Staatskunde; dann kommt die Sauptſache: 
induſtrielle Organiſation und praktiſche Nationalökonomie, Geſchichte 
und Aufbau der verſchiedenen Grganiſationsformen der Arbeiterbewe⸗ 
gung, Sozialgeſchichte Belgiens (insbefondere Geſchichte der Induſtrie und 
der Arbeiterſchaft), Geſchichte der internationalen Arbeiterbewegung, Ge⸗ 
ſchichte der Neuzeit, Hygiene, praktiſche Sozialpſychologie, praktiſches 
Recht. Theorien, auch die ſozialiſtiſchen Lehren, werden nur gelehrt im 
Rahmen dieſer geſchichtlichen Betrachtungsweiſe, alſo nicht dogmatiſch, 
nur hiſtoriſch, und zwar ſtets im Zuſammenhang mit der Geſchichte der 
Bewegung. Aufſchlußreicher als die Aufzaͤhlung dieſer Lehrſtoffe iſt die 
Methode, die ſtark von der uͤblichen „akademiſchen“ Paͤdagogik abweicht, 
und daher auch nur zu einem ſehr geringen Teil Akademikern anvertraut 
iR; die allermeiſten Cehrer find Praktiker, ehemalige Arbeiter, die aus der 
Bewegung ſelbſt hervorgegangen ſind. Auf eine Stunde Unterricht (der 
Jahreslehrplan umfaßt etwa 500) entfallen ungefähr 21/, Stunden „prak ; 
tiſche Arbeit: Beſprechungen mit den ſtaͤndigen Silfslehrern (3 an der 
Zahl), Seminararbeiten (jeder Schüler muß eine ſelbſtaͤndige Forſchungs⸗ 
arbeit liefern, vorzugsweiſe auf dem Gebiete feiner eigenen Berufs ⸗ oder 
Organiſationstaͤtigkeit), Beſuche von Betrieben und Einrichtungen (min- 
deſtens SO im Jahre, außerdem einwoͤchige Studienreiſe) mit anſchließen⸗ 
der Berichterſtattung und Beſprechung uſw. Kurzum, es wird nicht ver⸗ 
ſucht, Wiflen in Form von „Gedaͤchtnisſtoff“, noch weniger in Sorm von 
fertigen theoretiſch begruͤndeten Urteilen zu vermitteln, ſondern nur Wege 
zur perfönlichen Urteilsbildung und zum weiteren Selbſtſtudium zu eröff- 
nen. Alſo Willens ⸗ und Gewohnheitsbildung mehr als Belehrung; was 
durch das Gemeinſchaftsleben in einem Internat (in einem großen Park 
außerhalb der Stadt gelegen), das zu dem Zwecke in hygieniſcher und aͤſthe⸗ 


298 Sendrik de Man, Arbeiterbildung in der Welt 


tiſcher Sinficht beſonders ſorgfaͤltig ausgeſtattet iſt, mit täglichen Körper: 
uͤbungen, Spielen uſw. noch weiter gefoͤrdert werden ſoll. 

Die paͤdagogiſchen Grundſaͤtze, die alledem zugrunde liegen, habe ich ein⸗ 
mal in folgenden ſieben Punkten zuſammengefaßt: I. Nichts unterrichten, 
was der Arbeiter im täglichen Leben und in feiner Grganiſationstaͤtigkeit 
nicht brauchen kann; 2. immer von Bekanntem und Konfretem ausgehen, 
alſo etwa in der Nationalökonomie von der Kenntnis des eigenen Betriebs, 
in der Geſchichte von den miterlebten Ereigniſſen der neueſten Zeit; 
3. nichts unterrichten, was außerhalb des Gebietes liegt, wo der Schuͤler 
die Wahrheit des Geſagten prüfen koͤnnte — alſo 3. B. keine Naturwiſſen⸗ 
ſchaft, weil fie hier nicht experimentell betrieben werden kann; 4. Tat⸗ 
ſachen mitteilen, die zur ſelbſtaͤndigen Urteilsbildung fuͤhren koͤnnen, keine 
fertigen Urteile in ſyſtematiſcher und theoretiſcher Form; 5. der Zweck des 
Unterrichts iſt nicht der Wiſſensſtoff, ſondern die Vorbereitung zur Auto⸗ 
didaxie als der einzigen allgemein brauchbaren Art, das ganze Leben zum 
Erziehungsprozeß zu geſtalten, alfo die Bildung der Gewohnheit des Ler⸗ 
nens und der dazu gehörenden Technik der Geiſtesarbeit; 6. der Lehrer ſoll 
fuͤr das, was er ſagt, kein Anſehen in Anſpruch nehmen uͤber den inneren 
Wahrheitswert des Geſagten hinaus, wie er in freier kritiſcher Auseinan⸗ 
derſetzung geprüft werden kann; alfo keine „Autoritaͤten“; ein Lehrer mit 
30 Schuͤlern ſoll gleich fein 31 Schülern und 31 Lehrern; 7. der eigentliche 
wert jeder Arbeiterbildungseinrichtung ergibt ſich aus der Methode; es 
kommt weniger auf das an, was ſie lehrt, als darauf, wie ſie lehrt; ſchließ⸗ 
lich lernt ein jeder nur das wirklich, was er ſelbſt gefunden hat, und der 
Unterricht ſoll ihm bloß helfen, das ihm Weſensgemaͤße zu finden — oder 
zum mindeſten ihn anregen, es zu ſuchen. 

Das Merkwöͤrdige iſt nun, daß trotz dieſes utilitariſchen — oder ſagen 
wir: des pragmatiſchen — Ausgangspunktes, der ſynthetiſche, im Sinne 
eines ſozialiſtiſchen Kulturideals allgemeinbildende Charakter dieſer Me 
thode ſich in gewiſſem Sinne von ſelbſt ergibt, und zwar einfach auf Grund 
der Vielſeitigkeit eben dieſes Ausgangspunktes. Dadurch, daß man den 
Leuten das gibt, was ſie brauchen (nicht was irgend eine Theorie von ihnen 
verlangt), iſt man — wenigſtens bei einer Einrichtung, die nicht auf eine 
beſondere, etwa die politiſche oder die gewerkſchaftliche Zielſetzung be⸗ 
ſchraͤnkt iſt — einfach gezwungen, ihnen alles zu geben, was zu einer 
menſchlichen Kultur gehoͤrt. Oder, wenn auch nicht alles, fo doch eine Kich⸗ 
tung auf Alles, und zwar eine Richtung, die der Stellung des Arbeiters im 
eben und beſonders in der Arbeiterbewegung entſpricht, ihm die Welt von 
dem Geſichtswinkel erſchließt, der ſich aus ſeinem urſpruͤnglichen ſozialen 
Standort ergibt. 

Allerdings: das „von ſelbſt“, das ich oben hinſchrieb, hat ſeine Grenzen, 
und bei dieſen Grenzen wird auch die ſchwache Stelle der belgiſchen Methode 
ſichtbar. Auch die Arbeiterhochſchule iſt nicht das werk der Schüler: was 
fie tut, iſt zunaͤchſt von ihren Schoͤpfern und Leitern gewollt — von den 
Schuͤlern erwartet man nur die Bereitſchaft, daß fie mitwollen. Wenn man 
dreißig Schüler ohne Zeitung und ohne von fruͤherer Leitung geſchaffene 
Tradition ſich ſelbſt uͤberließe, fo wuͤrde der Ronſervatismus der normalen 


Ernſt Michel, Die Akademie der Arbeit 299 


menſchennatur hoͤchſtwahrſcheinlich bewirken, daß fie ihr Leben dort 
ihren fruheren Lebensgewohnheiten und ſchon erreichten Beduͤrfnisſtufe 
gemaͤß einrichten wuͤrden, ſtatt eine Andersgeſtaltung zu verſuchen; ein 
materielles Symbol dafuͤr iſt der moraliſche Druck, der erfahrungsgemaͤß 
ausgehbt werden muß, bevor ſich alle Schüler eines neuen Jahrgangs in 
Uccle das taͤgliche Brauſebad angewoͤhnen. Die Erziehung „nur aus dem 
Beduͤrfnis des zu Erziehenden heraus“ iſt eine Fiktion; die Wirklichkeit iſt 
ſtets ein Spannungsverhaͤltnis zwiſchen dieſem Beduͤrfnis und dem Wol- 
len von Erziehern, die auf eine Erhoͤhung der Beduͤrfnisſtufe abzielen. Das 
problem wird dann, dieſes Spannungsverbältnis dadurch moͤglichſt frucht · 
bringend zu geſtalten, daß ſich das Wollen der Erzieher auf eine Sublimie⸗ 
rung der ſchon beſtehenden Beduͤrfniſſe richtet; und das wird am beſten 
dann gelingen, wenn die paͤdagogiſche Zielſetzung ſtatt aus Buͤcherſtudium 
aus dem fuͤhlenden und forſchenden Miterleben eben jenes ſozialen Schick⸗ 
ſals abgeleitet iſt, das den Beduͤrfniſſen der Maſſen die Richtung gibt. In⸗ 
deſſen — das iſt ein anderes Kapitel; ich mochte hier nur andeuten, daß die 
Löſung dieſer Frage dort am leichteſten iſt, wo man die theoretiſche Auf⸗ 
faſſung des Sozialismus am engſten mit dem inſtitutionellen Gegenwarts 
charakter der Arbeiterbewegung als fitte- und rechtsumwaͤlzende Kraft 
verknuͤpft. wichtig iſt hier zunaͤchſt nur die Feſtſtellung, daß auch die bel ⸗ 
giſche Methode eine dauernde Spannung zwiſchen dem, was die Maſſe iſt, 
und dem, was ihre fuͤhrenden Elemente wollen, vorausſetzt. Das zeigt ſich 
am meiſten in der Maſſenerziehung durch Srtliche Nurſe, Vortraͤge uſw. 
Hier hat die Bildungszentrale die groͤßte Mühe, der Verſuchung zu ent 
geben, um der quantitativen Leiſtung willen die Qualitaͤt ihrer Darbie ; 
tungen dem Maſſengeſchmack zu opfern, der keineswegs „von ſelbſt“ auf 
das kulturell hoͤherſtehende gerichtet iſt. Je mehr eine derartige Bewegung 
die Maſſen ergreift, um fo mehr ſetzt fie ſich der Gefahr der bequemen Gber⸗; 
flaͤchlichkeit, der allzu leicht ůberzeugenden Salbwiſſenſchaft, des allzu leicht 
sührenden Kitſches, der allzu leicht entſpannenden „Jerſtreuung“, kurzum 
der Gefahr der Verſpießerung aus. Siermit iſt freilich eine Frage beruͤhrt, 
die aus dem Rahmen diefer Betrachtung herausfaͤllt, denn fie iſt eine 
grundſaͤtzlich · univerſelle, die man meiner Anſicht nach noch in keinem Lande 
ganz befriedigend geloͤſt hat. I 


Ernſt Michel 
Die Akademie der Arbeit 


De Akademie der Arbeit in der Univerſitaͤt Frankfurt a. M. iſt als 


erſte und bisher einzige deutſche Sochſchule für das „Volk der Ar⸗ 
beit“ am I. Mai 1921 ins Leben getreten. Sie hat ſoeben ihren 
fünften Lehrgang abgeſchloſſen. 
Der Gedanke einer Sochſchule für die Arbeiterſchaft in Verbindung mit 
der Univerſitaͤt Frankfurt a. M. wurde von Arbeitervertretern aufgewor⸗ 
fen, als es im Jahre 1920 galt, die Stiftungs · Univerſitaͤt Frankfurt durch 


300 Ernſt Michel 


ſtaatliche Unterſtuͤtzung aus ihrer Sinanznot zu retten. Die Rettungsaktion 
für die Univerſitaͤt wurde damals durch die Arbeiterſchaft ermöglicht, aber 
an die Bedingung geknuͤpft, der zukunftigen Arbeiterhochſchule Sausrecht 
in der Univerſitaͤt einzuraͤumen. 

Fuͤr den Aufbau der Akademie wurde eine Expoſé des vorläufigen Ar⸗ 
beitsausſchuſſes und eine Denkſchrift des bekannten Profeſſors für Arbeits; 
recht Sugo Sinzheimer grundlegend. 

Die Denkſchrift Profeſſor Sinzheimers ging von den tragenden Kraͤften 
des neuen demokratiſchen Deutſchland aus, die Lehraufgabe, Lehrmethode 
und Lehrziel der Sochſchule beſtimmen müßten. Profeſſor Sinzheimer er⸗ 
blickte die tragenden Pfeiler der neuen Inſtitution: I. im demokratiſchen 
Gedanken. Dieſer rufe alle Volkskreiſe zur verantwortlichen Mitarbeit und 
Mitbeſtimmung an den politiſchen, wirtſchaftlichen und ſozialen Aufgaben 
des neuen Staatsweſens auf, verleihe den Verbaͤnden eine wichtige Mit- 
beteiligung bei der Geſtaltung des ſozialen Lebens und knuͤpfe die wirt; 
ſchaftlichen Entſcheidungen mehr und mehr an die Mitbeſtimmung wirt; 
ſchaftlicher Vertretungsorgane. Die Faͤhigreit zu dieſer Mitarbeit im 
offentlichen Leben zu entwickeln, ſei die eine Aufgabe der Akademie. 
2. Den zweiten Stuͤtzpunkt der Akademie ſah Profeſſor Sinzheimer in der 
Berufung der abhängigen Arbeit zu neuen geſellſchaftlichen Daſeins⸗ 
formen, die zur Grundlage einer neuen europaͤiſchen Volksordnung wür- 
den. Dieſe neue Aufgabe aber verlange eine neue Lehre, — eine Lehre, die 
von der Arbeit ausgeht und den arbeitenden Menſchen im Mittelpunkt der 
kommenden wWirtſchafts ⸗ und Geſellſchaftsordnung ſieht. Dieſe neue Lehre 
zu entwickeln ſei die zweite Aufgabe der Akademie. N 

Die ſe Gedanken wurden der Gruͤndungsurkunde der Akademie der Arbeit, 
dem ee zwiſchen dem preußiſchen Unterrichtsminiſterium und den 
Spitzen verbaͤnden der Arbeiter, Angeftellten und Beamten zugrunde gelegt. 

Mit der ſchwierigen, weil erſtmaligen und vorbildloſen Aufgabe des 
paͤdagogiſchen Aufbaus und mit der Leitung der Akademie wurde im 
Fruͤhjahr 1921 Dr. Eugen Roſenſtock betraut, der mit drei hauptamtlichen 
Mitarbeitern ans werk ging. Die paͤdagogiſche Idee, von der Roſenſtock 
ausging, und die Cehrform, die er ſchuf, haben ſich in den Erfahrungen der 
fünf Lehrgaͤnge bewaͤhrt. | Ä 


Die äußere Verfaſſung 

Do Beſtand der Akademie der Arbeit wird auf Grund eines Vertrages 

garantiert durch den Staat (Preußifches Rultusminiſterium mit finan- 
zieller Unterſtuͤtzung des Reiches) und durch die Gewerkſchaften. Die 
Univerſitaͤt ſtellt die Räume und trägt die Verwaltungs koſten. Der 
Staat ermöglicht es, daß — zur Zeit — drei Dozenten hauptamtlich die 
Lehrtätigkeit an der Akademie ausüben, und daß nebenamtliche Dozenten, 
Profeſſoren der Univerfitäten und techniſchen Sochſchulen und Maͤnner 
aus der Praxis, ihre Fachgebiete lehren. Sür die Auswahl der nebenamt⸗ 
lichen Dozenten iſt der wiſſenſchaftliche Ruf und die Eignung fuͤr die be⸗ 
ſondere paͤdagogiſche Aufgabe, nicht aber die weltanſchauliche oder poli- 
tiſche Richtung maßgebend. Bei der Behandlung grundſaͤtzlich wichtiger 


Die Akademie der Arbeit 301 


wirtſchaftspolitiſcher und ſozialer Fragen wird jedoch auf die Weltanſchau⸗ 
ung der Soͤrer in der Wahl der Dozenten gebührend Ruͤckſicht genommen. 
Die hauptamtlichen Dozenten beruft nach Anhoͤrung des Lehrerkollegiums 
das Miniſterium, die nebenamtlichen werden durch den Leiter der Akademie 
im Auftrag des Dozentenkollegiums aufgefordert. Die Behandlung der 
n Fragen ſteht dem Lehrerkollegium zu. Bei Ausarbeitung 
des jährlich neu aufzuſtellenden Lehrplans, der die Erfahrungen des vor⸗ 
ausgegangenen Cehrgangs verwertet und veränderten Aufgaben Rechnung 
trägt, wird der Derwaltungsausfchuß und der Soͤrerrat gutachtlich gehoͤrt. 
Im uͤbrigen iſt das Dozentenkollegium in paͤdagogiſchen Fragen ſelbſtaͤndig 
und frei. Die Tätigkeit des Leiters der Akademie wird von einem haupt⸗ 
„ Dozenten ausgeuͤbt und wechſelt für jedes Lehrjahr turnus⸗ 
ßig. 

Die großen Verbaͤnde wählen nach eigenem Ermeſſen die Hörer der Aka⸗ 
demie aus ihren Reihen aus und beſtreiten ihren Lebensunterhalt fuͤr die 
Dauer eines Jahres. Der am ſtaͤrkſten beteiligte Spitzenverband, der All ⸗ 
gemeine Deutſche Gewerkſchaftsbund erhebt ſeit einem Jahr von ſaͤmt⸗ 
18 Mitgliedern einen Kulturbeitrag, aus deſſen Ertrag die delegierten 

rer — es find in dieſem Jahr allein aus dieſem Verbande 41 — und auch 
deren Familien erhalten werden. Neben den Verbaͤnden beſchicken auch 
Städte, z. B. Frankfurt, Offenbach, Sannover, Kiel, die Akademie, ferner 
ſtellen die einzelnen Provinzen, fo die Provinz Seſſen⸗Naſſau und Schles⸗ 
wig ⸗SHolſtein, Stipendien für Soͤrer zur Verfügung. Daneben werden 
Soͤrer, die auf eigene Roſten kommen wollen, auf Grund befonderer Eig⸗ 
nung zugelaſſen. Auch Auslaͤnder ſind zugelaſſen: ſo nahmen 3. B. am 
zweiten Lehrgang 9 Schweizer teil, die der Schweizer Ausſchuß für Ar- 
beiterbildung delegiert hatte. Ein „Verein der Freunde und Sörderer der 
Akademie!“ nimmt ſich befaͤhigter, aber beduͤrftiger Hörer an. Die Soͤrer⸗ 
ſchaft beſteht alfo — und das iſt für alle Dorausſetzung — aus Männern 
und Frauen, die ſich mit einer reifen Lebens ⸗ und Berufserfahrung einer 
geiſtigen Arbeit für 9 Monate vollkommen frei zuwenden. Der Unterricht, 
der ganztaͤgig iſt und woͤchentlich etwa 30 Stunden beanſprucht, verlangt 
die ganze Kraft der Teilnehmer. Die Zahl der Teilnehmer ſchwankte bisher 
zwiſchen Jo und 70, im laufenden Lehrgang betrug fie 61, darunter 
5 Frauen. 

Die Bildungsaufgabe u 
ie Akademie der Arbeit ſteht als eine ſelbſtaͤndige Inſtitution in der 
Univerſitaͤt. Obwohl vom Staat und den Gewerkſchaften geſtuͤtzt und 

durch fie ermöglicht, iſt fie in ihrer paͤdagogiſchen Entfaltung und in ihrer 
Lehre doch von beiden Maͤchten unabhaͤngig, ſie iſt darin ſo ſelbſtaͤndig wie 
in ihrer weiſe die Univerſitaͤt. Aber von der Univerſitaͤt unterſcheidet ſie 
eindeutig, daß fie eine Sochſchule für den erwachſenen berufstätigen Men; 
ſchen iſt, daß dieſer erwachſene Berufstätige für ihren Lehrinhalt, für ihre 
Lehrmethode und ihr Lehrziel beſtimmend iſt. Die Akademie iſt nicht be- 
gründet auf einem Rompromiß zwifchen den beiden Parteien der Akade⸗ 
miker und Arbeiter, etwa in der Weife, daß fie die wiſſensfuͤlle der Fakul⸗ 
täten auf die Beduͤrfniſſe der Arbeiter zuſchneidet und vereinfacht und dann 


302 Ernſt Michel 


dieſes Wiffen mit Silfe geeigneter paͤdagogiſcher Methoden in die Arbeiter- 
ſchaft hinein verfloͤßt. Traͤfe dies zu, dann wäre die Akademie eine mecha⸗ 
niſche Verbindung der beiden Lehrhaͤuſer der Univerſitaͤt und der Volks⸗ 
hochſchule, ein aͤußerlicher Ausgleich im Bildungskampf zwiſchen Ober⸗ 
ſchicht und Unterſchicht. Im Ergebnis würde die Univerſitaͤt in ihrem 
Eigenleben dadurch nur geſchwaͤcht werden, ohne daß die echte Bildungs 
not der Arbeiterſchaft auf dieſe Weiſe wirklich behoben wuͤrde. 

Die Vorgeſchichte der Bründung der Akademie der Arbeit läßt erkennen, 
daß es ſich bei dieſer Inſtitution nicht um einen vorgeſchobenen Poſten der 
Univerſitaͤt in die Arbeiterſchaft hinein handelt, ſondern um eine Baſtion, 
die die politiſche Kraft der Arbeiterſchaft in die alte Bildungswelt hinein 
errichtet hat. Eine der Sauptſchwierigkeiten, die die Traͤger des Akademie⸗ 
gedankens in den Reihen der Gewerkſchaften zu uͤberwinden hatten, war 
gerade das Bedenken, es koͤnnte die Akademie ein bloßes Populariſierungs⸗ 
inſtitut der Univerſitaͤt werden. Und es war deshalb eine der Sauptſorgen 
der Begruͤnder, der Akademie nicht nur die aͤußere Selbſtaͤndigkeit zu 
wahren, ſondern vor allem auch die ihr eigentuͤmliche Bildungsaufgabe 
ſicherzuſtellen. Die Akademie ſollte einen Bildungsweg einſchlagen, auf 
dem die Arbeiter nicht halbe Akademiker würden, ſondern Arbeiter und 
Arbeiterfuͤhrer blieben, ja dies immer beſſer wuͤrden: ſie ſollte eine ſelbſt⸗ 
ſtaͤndige und urſpruͤngliche Kenntnis vermitteln, von keiner anderen hohen 
Schule abgeleitet, ſondern aus der Kraft und den Beduͤrfniſſen der Arbeit 
geboren. Mit dieſen Grundgedanken: Einbau der Arbeiterbildung als ſelbſt⸗ 
ſtaͤndigen Bildungszweig in das Sochſchulweſen des Volkes, Aufbau dieſer 
Bildung aus den Kraͤften und den Beduͤrfniſſen der Arbeit — mit dieſen 
Grundgedanken war der Typus einer proletariſchen Klaſſenhochſchule und 
einer Klaſſenbildung abgelehnt. Wie es der neuen Epoche Europas auf⸗ 
gegeben iſt, eine neue, allen Völkern gemeinſame Volksordnung auf die 
Ordnung der Arbeitswelt aufzubauen, ſo ſollte die Akademie der Arbeit 
die dieſer Aufgabe gemaͤße Volksbildungsform fein. Die Akademie der 
Arbeit liegt auf dem Wege, den die deutſche Arbeiterſchaft nach dem Zu⸗ 
ſammenbruch Deutſchlands im Jahre I9I8 eingeſchlagen hat. Der Rat der 
Volksbeauftragten hat im November 1918s die proletariſche Revolution 
und die Räterepublit nach ruſſiſchem Vorbild abgelehnt zugunſten einer 
allmaͤhlichen Durchdringung und Neuordnung des Volkskoͤrpers aus den 
ſozialen und politiſchen Kraͤften des ganzen Volkes, vor allem des Volkes 
der Arbeit. Die Arbeiterſchaft in Deutſchland hat alſo die alte Welt nicht 
durch Vernichtung, ſondern durch 5 von innen heraus und 
unter Schonung des noch lebendigen Erbes zu überwinden geſucht. Auch 
die Akademie iſt von ihren Mittraͤgern aus der Arbeiterſchaft auf dieſe 
Grundlage baſiert worden. Man wollte nicht auf den Trümmern der alten 
Welt ganz von vorne anfangen, ſondern man wollte das beſte, was die 
Arbeiterſchaft zu geben hat, den Gedanken der Arbeit, in die Univerſitaͤt 
des Geiſtes hineintragen und mit ihm die alten Gebiete des Wiſſens durch⸗ 
dringen und durchſaͤuern. Deshalb wurde auch nicht der Name „Arbeiter⸗ 
Akademie“ gewählt, ſondern „Akademie der Arbeit“. Der Name be⸗ 
deutet hier ein geiſtiges Programm. 


Die Akademie der Arbeit 303 


Es verſteht ſich nun, daß die Akademie der Arbeit nicht auf „Perſoͤnlich⸗ 
keitsbildung“ im üblichen Sinne abzielt, nicht den Arbeiter als Indivi⸗ 
duum im Auge hat, ſondern als notleidendes Glied kranker Inſtitutionen, 
eben der ſozial ungeordneten, nur techniſch geordneten Arbeitswelt. Wenn 
Perſoͤnlichkeitsbildung doch auch Aufgabe der Akademie iſt, dann nur im 
Sinne der Bildung politiſch verantwortungsbewußter und verantwor⸗ 
tungsfaͤhiger Perſoͤnlichkeiten. Die Bildung individueller Perſoͤnlichkeiten 
— das Ideal des Jo. Jahrhunderts — nuͤtzt in einer Zeit nichts mehr, deren 
Öffentliche Einrichtungen und Grdnungen verdorben find. Der wahr⸗ 
haftigſte Menſch muß objektiv luͤgen und in die Irre gehen, wenn die 
Zebensordnungen des Volkes, die fein geiftiges Leben tragen und beſtim · 
men, fehlen oder kraftlos geworden ſind. 

Unſere Inſtitution wendet ſich mit ihrer Bildungsaufgabe alſo an den 
taͤtigen Mann, an die taͤtige Frau, die Verantwortung ſpuͤren und Ver⸗ 
antwortung zu tragen bereit ſind. Erfahrungsgemaͤß iſt aber in dieſen 
nicht Wiſſen und wiſſenſchaftliche Bildung der zentrale Trieb, um deſſent⸗ 
willen ſie die Muͤhſeligkeiten eines anſtrengenden Bildungsgangs auf ſich 
nehmen. Die theoretiſche Frage und der Wille zur geiſtigen Beſinnung ent- 
ſpringen beim Menſchen des politiſchen Lebens an derſelben Quelle wie 
ſein politiſches Sandeln, naͤmlich mit der Frage: „Wie kann der Not ab⸗ 
geholfen werden?“ Dieſe Frage iſt darum auch der Ausgangspunkt des 
inhaltlichen Denkens und der Stoffordnung der Lehrgaͤnge der Akademie. 
Die Kenntniſſe aller Art, die zur Loͤſung dieſer Frage notwendig find, geben 
die Wiſſenſchaften, deren Pflegeſtaͤtten die Univerſitaͤt und die techniſche 
Sochſchule find. Aber geordnet, beurteilt, ineinandergefuͤgt Fönnen dieſe 
Kenntniſſe hier nicht wie für den Studenten aus einer logiſchen Syſte⸗ 
matik werden, ſondern von dem politiſchen Seiltrieb des taͤtigen Mannes her. 


Zehrmethode und Lehrinhalt. 
ie CLehrmethode der Akademie der Arbeit war originaͤr aus ihrer inſti · 
tutionellen Geſamtaufgabe zu entwickeln: naͤmlich Erwachſenen, 
die aus dem Arbeitsleben kommen und in es zuruͤckkehren, eine hochſchul⸗ 
maͤßige Ausbildung zu geben. 

Der erwachſene Menſch lernt nun aber anders als das Kind und der 
Student: I. Er kommt aus dem öffentlichen Leben mit feinen Nöten und 
Fragen, er bringt ſelbſt bereits eine, wenn auch meiſt ungeordnete und un⸗ 
gepruͤfte Welt von Vorſtellungen, Begriffen und Bildungselementen mit. 
2. Das Element des maͤnnlichen Geiſtes iſt der Rampf. Die Form aber, in 
der ſich dieſer geiſtige Rampf Erwachſener naturgemaͤß vollzieht, iſt die 
Kritik, die Diskuſſton, der Widerſtand. Das Forum geiſtigen Kampfes der 
Maͤnner des Volkes, das Parlament, kann dies bezeugen, wo es noch nicht 
verdorben iſt. 3. Es iſt eine damit zuſammenhaͤngende grundlegende Er⸗ 
fahrung, daß der Erwachſene nur aufzunehmen vermag, wenn er zu⸗ 
gleich ausſcheidet, wenn ſeine Bildung ſich in der Form eines lebendigen 
geiſtigen Stoffwechſels vollzieht. Von dieſen paͤdagogiſchen Fundamental; 
ſaͤtzen aus war die Methode des Unterrichts auszubilden. 

Es iſt dem Lehrgang die Aufgabe geſtellt, in neun Monaten Ordnung zu 


304 Ernſt Michel 


bringen I. in die Fuͤlle der ſozialen Erſcheinungen, vor der ein Arbeiter⸗ 
vertreter oder Gewerkſchaftsfuͤhrer oder Beamter heute ſteht und 2. in die 
Maſſe von Kenntniſſen, die er ſich im Laufe feines Lebens geſammelt bat. 
Dazu dienen die drei Lehrformen: I. der Gruppenarbeit, 2. der Vorleſung 
und 3. des Seminars. Es gilt zunaͤchſt, den geiſtigen Stoffwechſel in den 
Hören in Gang zu bringen. Das geſchieht fo, daß an den Beſitz, an die 
Begriffs · und Vorſtellungswelt, die der Arbeiter mitbringt, angeknuͤpft 
und von hier aus ein Klaͤrungs · und Laͤuterungsprozeß eingeleitet wird. 
Es geht dabei jedoch nicht um logiſche Begriffsreviſion, ſondern vor allem 
um Prüfung der Echtheit und Tragfaͤhigkeit der mitgebrachten Erkennt · 
niſſe, Begriffe und Vorſtellungen: um ihre Wirklichkeit im Gedankentraͤger 
und ihre Pruͤfung an den Tatbeſtaͤnden. Sier liegt fuͤr den erwachſenen 
Menſchen die Stelle der Erſchuͤtterung: er muß den Mut haben, feinen 
geiſtigen Beſtand in dieſen Pruͤfungs · und Schmelzprozeß, an dem er doch 
ſelbſt aktiv teilnimmt, hineinzugeben auf die Gefahr hin, ihn preisgeben 
zu muͤſſen. Erſt auf Grund dieſes Prozeſſes wird die Aufnahme neuer In⸗ 
halte mannigfaltigſter Art, wie fie vor allem die Dorlefungen bieten und 
die gewußt werden muͤſſen, fuͤr den Erwachſenen fruchtbar. 

Gilt dieſer methodiſche Grundſatz fuͤr die geſamten Lehrformen der 
Akademie der Arbeit fo in beſonderem Maße für die Gruppenarbeit, die 
denn auch im Zentrum ſteht. Die Soͤrerſchaft iſt nach rein aͤußerlichen 
Geſichtspunkten in drei Gruppen eingeteilt, die von den drei bauptamt- 
lichen Dozenten in parallel laufenden Kurſen durch das erſte Halbjahr des 
Lehrgangs geführt werden. Dieſe Gruppenarbeit nimmt woͤchentlich 
8 Stunden in Anſpruch. Aufgabe der Gruppenarbeit iſt es, von den Tat- 
ſachengebieten eigener Lebenserfahrung und eigenen Lebensſchickſals aus⸗ 
zugehen und ſie in ſelbſtaͤndiger Geſtaltung geiſtig durchzubilden. Damit 
verbunden werden aber nacheinander die Gebiete materiellen Wiflens: 
Wirtſchaft, Geſellſchaft, Recht und Staat. Deren Behandlung aber darf 
ſich nicht mit der nackten Erkenntnis begnuͤgen, ſondern ſoll dieſe in die 
verpflichtende Erkenntnis, die auf Wirken und Geſtaltung hindraͤngt, uͤber⸗ 
fuͤhren. Dieſe Aufgabe iſt in jedem Kurs neu geſtellt, und ihr Gelingen 
haͤngt zum großen Teil auch von den Soͤrern ab: nämlich davon, ob fie 
aus ſich herausgehen, ſich mit den Dozenten auf der Ebene ruͤckhaltloſer 
männlicher Auseinanderſetzung begegnen und fo zu wirklichen Mit- 
arbeitern werden. Nur dann iſt das Ziel zu erreichen, daß der Erkenntnis 
prozeß des Jahres die Erkenntniſſe fo in die Individualität des Soͤrers ein · 
baut, daß dieſer fie im Leben verantwortlich vertreten kann. Im uͤbrigen 
iſt jede Arbeitsgruppe frei in ihrer Entfaltung. Die Vorleſungen werden, 
ſoweit dies moͤglich iſt, in der Gruppe zur ſyſtematiſchen Frageſtellung 
verwendet. 

Schon von Anfang an laufen neben der Gruppenarbeit die Vorleſungen, 
die nacheinander Geſamtbilder des Rechts, der Wirtſchaft, des Staates 
und der Politik, der Arbeitswiſſenſchaft, der Soziallehren, der volkswirt⸗ 
ſchaftlichen Theorien und der Geſchichte uſw. entrollen und die jeweils 
durch Spezialvorleſungen beſonders dringlicher Fragengebiete ergaͤnzt 
werden. Sie werden von den haupt ⸗ und nebenamtlichen Dozenten ge⸗ 


Die Akademie der Arbeit Ä 305 


halten und von ſaͤmtlichen Mitarbeitern gemeinfam befucht. Eine Tren; 
nung nach Fachintereſſen findet nicht ſtatt. 

Im zweiten Abſchnitt des Lehrgangs ſetzen dann die Seminare ein, in 
denen einzelne Fragen oder einzelne hervorragende Schriften bewaͤltigt 
werden. Sier beſteht für die Hörer die Möglichkeit, ſich je nach ihren be- 
ſonderen Intereſſen fuͤr das eine oder andere Seminar zu entſcheiden und 
einem Gebiete oder einer Frage ſich beſonders zu widmen. 7 


ie die Lehrmethode, iſt auch der Lehrplan an die Aufgabe gebun⸗ 
den, berufstaͤtigen Menſchen in einem Jahre der Muße eine geiſtige 
Bildung zu geben, aus der fie die nachhaltige ſchoͤpferiſche Araft zur Be⸗ 
meiſterung des Alltags gewinnen. 
Fauͤr den Lehrinhalt des Bildungsganges iſt daher maßgebend, daß der 
arbeitende Menſch die Kenntnis eines Berufes, einer Technik, eines Be⸗ 
triebes, einer arbeitsteiligen Umwelt mit ihren Regeln und ihren Formen 
ſein eigen nennt. Außerdem hat er meiſt ſoviel Lebenszeit hinter ſich, 
um auch für die Geſetze eines Lebenslaufs Erfahrungen mitzubringen. 
Der Stoff der Wirklichkeit, auf den wiſſen und Lehre ſich erſtrecken muß, 
laͤßt ſich ihm alſo von der Welt der Arbeit her und von ſeinem Lebenslauf 
her erſchließen und begrenzen. 

Die „Lehre von den offentlichen Ordnungen“ geht 3. B. bei dem Lohn⸗ 
arbeiter aus von ſeinem Arbeitsfeld: dem Betrieb, der Fabrik. Von hier 
bringt er einen Erfahrungskomplex mit, an den unmittelbar techniſche, wirt- 
ſchaftliche, rechtliche und ſoziologiſche Betrachtungen anknuͤpfen koͤnnen. Die 
Rechtslehre knuͤpft an die Erfahrungen und die Gedanken des Arbeiters 
über die Fabrikordnung, Arbeitsordnung, Verſicherungsweſen und Ar⸗ 
beitsrecht an; die Wirtſchaftslehre an die Anſchauung vom Tarif, von 
Lohn, Gebuͤhren, Steuern uſw., die Technik an das Verhaͤltnis zwiſchen 
Menſch und Werkzeug, Arbeit und Maſchine; die Soziologie an die Pro⸗ 
bleme der Mitarbeiterſchaft, der Fuͤhrung, der Arbeitsteilung und der 
Derftändigung in der werkſtatt und in der Organiſation. Die Fabrik iſt fo 
der Lebenskreis, aus dem heraus das Verſtaͤndnis der größeren Lebens · 
kreiſe zu entwickeln iſt. Der leibliche Lebenslauf geht auf Sygiene und 
Medizin, auf Geſchlecht und Krankheit. Schulbeſuch und Berufswahl 
liefern den Schlüffel zur Erkenntnis der Familiengeſchichte, der Induſtrie, 
55 der Kultur, der Kirche und bilden die Grundlagen der Pſycho⸗ 
logie. 

So kann von den Lebenserfabrungen des Arbeiters aus aufgeſtiegen 
werden zu einer wirklichen Erkenntnis aller Zebensgeſetze, zu einer Er⸗ 
kenntnis, die nicht an fremden Stoffen demonſtriert wird, ſondern die dem 
Arbeiter aus dem lebendigen Zuſammenhang ſeines Lebens mit dem Volks⸗ 
und Menſchheitsleben ſich erſchließt. 

Aber bei der Erkenntnis der Ordnungen bleibt der Lehrplan nicht ſtehen. 
Die Arbeit als das geſellſchaftliche Problem war ja nicht nur der Aus⸗ 
gangspunkt der Bildungsarbeit der Akademie der Arbeit, ſondern auch ihr 
Zielpunkt. Es ergab ſich uns ja als Aufgabe der Gegenwart und Zukunft, 
von der welt der Arbeit aus alle Gliedordnungen des europaͤiſchen Zu⸗ 
Zar xVnl 2] 


306 | Ernſt Michel 


ſammenlebens, Recht, Staat, Wirtſchaft, Geſellſchaft uſw. neu zu er- 
faſſen und zu geſtalten. In dieſen politiſchen Aufgabenkreis muͤndet die 
Bildungs aufgabe der Akademie. Die ſachliche Orientierung in den Wiffen- 
ſchaftsgebieten von Wirtſchaft, Recht, Staat, Geſellſchaft, Pſychologie, 
Arbeitskunde uſw. iſt ja ſchon im Grunde mitbeſtimmt von der Frage und 
geht ſchließlich in ſie uͤber: Was ſoll ſein? Und was vermag von den er⸗ 
kannten Grdnungen und ZJuſtaͤnden Aufbauelement zu fein und was nicht? 
Um dieſe Frage aufwerfen und in ihre Beantwortung eintreten zu koͤnnen, 
mußte der Lehrgang die Elemente liefern: die Kenntnis der Geſetze der 
menſchlichen Ordnungen und die Kenntnis ihrer Tatbeſtaͤnde. 

So beherrſchen den letzten Teil des Lehrgangs ſtaats ⸗ und rechts⸗ 
politiſche, wirtſchafts · und geſellſchaftspolitiſche Srageftellungen. Und ge 
rade bei dieſen politiſchen Fragen draͤngt die Tatſache, daß die Frage⸗ 
ſtellungen von heute die alte wiſſenſchaftliche Gebietsteilung überfchneiden 
und wie die verſchiedenen Berufe fo auch die Fakultaͤten zu einem Zu⸗ 
ſammenarbeiten an derſelben Frage zwingen, zu entſcheidenden Folge ⸗ 
rungen. Die Dozenten ſind naͤmlich untereinander auf ſtaͤndigen lebendigen 
Austauſch ihrer Fachgebiete angewieſen und fuͤr manche Fragen iſt das 
gleichzeitige Zuſammenwirken von Dozenten verſchiedener Fakultaͤten un⸗ 
entbehrlich: fo 3. B. des Nationalöͤkonomen, Juriſten, Betriebstechnikers, 
in Sragen der Betriebspolitił und des Sozialrechts, des Mediziners, Pſycho · 
logen und Soziologen in Fragen der Arbeitswiſſenſchaft und Arbeits⸗ 
politik. Doch ſteht die Akademie hier vorerſt noch in den Anfängen. Dieſe 
fo notwendige Aufgabe der wiſſenſchaftlichen Kooperation iſt ein lang⸗ 
wieriger und ſchwerer Prozeß. 


Hörer und Lehrer 

er Bildungsgang der Akademie der Arbeit zielt darauf ab, den Arbeiter 

tauglich zu machen fuͤr ein oͤffentliches Leben und Wirken, ihn zur 
geiſtigen Mannwerdung zu führen. Was iſt aber das geiſtige Ziel des 
Mannes? Verantwortlicher Mitarbeiter zu werden. Dieſe Qualitaͤt kann 
jedoch nicht durch Kechtsſatz erzwungen, ſondern nur durch die geiſtigen 
Mittel der Bildung erworben werden. Mitarbeiter iſt deshalb der Bildungs ⸗ 
grad, den die Akademie der Arbeit als Saus der Arbeitsgemeinſchaft von 
Erwachſenen zu verleihen oder deſſen Erwerb ſie wenigſtens anzubahnen 
vermag. Mitarbeiterſchaft erweiſt ſich daran, daß der Hörer für das, was 
er hoͤrt, was er annimmt, und was er ablehnt, Verantwortung zu uͤber⸗ 
nehmen gelernt hat. 

Dazu bedarf es aber nicht nur der Aktivität des Soͤrers, des ruͤckhaltloſen 
Einſatzes feiner Perſon, es bedarf auch einer Solidarität der Zoͤrerſchaft, 
einer legten menſchlichen Verbundenheit, ohne die wahrhaft politiſche Bil⸗ 
dung, Bildung von Gewiſſen, Beſinnung und Verantwortung, beim 
beſten Willen nicht möglich iſt. Nur in einer ſolchen Gemeinſchaft, ge⸗ 
wiſſermaßen als Urform des offentlichen Lebens, kann der Arbeiter aus 
ſeinem privaten Daſein fuͤr das oͤffentliche Wirken herangebildet werden. 

Damit eine Gemeinſchaft in dieſem Sinne entſtehen kann — im Sinne 
von „Volkheit“ naͤmlich—, iſt gerade die Mannigfaltigkeit der Schuler 


Die Akademie der Arbeit | 307 


Vorausſetzung: fie follen in der Differenz des Alters, der Berufe, der Ver⸗ 
anlagung, Vorbildung, weltanſchauung und Strebungen den ZJuſtand 
unſeres „Volkes“ repraͤſentieren. Als Beiſpiel ſei eine beliebige der drei 
Arbeitsgruppen der Akademie der Arbeit mit je 21 Mitgliedern (Io Männer, 
2 frauen) herausgegriffen. Die aͤußerſte Altersſpanne iſt 2] und 40 Jahre. 
Den Berufen nach ſetzt ſich die Gruppe zuſammen aus 3 Metallarbeitern, 
2 Buchdruckern, J Buchbinder, 3 Schreibern, I Lackierer, J Bergmann, 
Lagerarbeiter, J Eiſenbahner, I Bauarbeiter, alſo 14 Arbeitern, ferner 
3 kaufmaͤnniſchen Angeſtellten, J Betriebsratvorſitzenden, 2 Gewerk⸗ 
ſchaftsbeamten, I Rommunalbeamten; 17 Mitglieder dieſer Gruppe ge- 
hoͤren der ſozialiſtiſchen und 3 der chriſtlichen Richtung an. Gerade dieſe 
Verſchiedenheit der Juſammenſetzung hat fi für den Bildungsgang der 
Akademie der Arbeit als lebensnotwendig erwiefen. 

Denn nur wenn die verſchiedenen Berufe und Anſchauungen des arbei⸗ 
tenden Volkes in lebendigen Vertretern zuſammengebracht werden, kann 
die Lehre aus dem Ganzen und fuͤr das Ganze der Volksordnung entwickelt 
werden. 


ls die Akademie der Arbeit ins Leben trat, war der Typ des hauptamt⸗ 

lichen Lehrers für Erwachſenenbildung noch nicht geprägt. Auch die 
bisherige Volksbildung lieferte dafuͤr keine brauchbaren Erfahrungen. 
Inzwiſchen freilich iſt auch in der freien Volksbildung das Problem des 
hauptamtlichen Volksbildners in den Mittelpunkt geruͤckt. 

Der hauptamtliche Lehrer an der Akademie der Arbeit mußte fein Ge⸗ 
praͤge von den Aufgaben erhalten, Hörer im Mannesalter zu bilden. Das 
beſagt: es iſt von ihm die Faͤhigkeit und Kraft verlangt, den „Schuͤler“ 
als Mitarbeiter anzuerkennen und ihn bei der Mitarbeit zu erhalten. An- 
ders als bei dem Univerſitaͤtsdozenten und dem Schullehrer alſo, ruͤckt für 
den Lehrer an der Akademie in den Mittelpunkt die Aufgabe zu verhuͤten, 
daß der Erwachſene die Maske des Knaben im Lernen anlegt, um von 
der Verantwortung fuͤr das Gelernte frei zu bleiben. Statt deſſen gilt es, 
eine Serausſtellung des ganzen Menſchen, fo wie er bereits im Leben 
handelt und wirkt, zu bewirken. 

Wie es fuͤr die Akademie, ſoll fie eine wirklich uͤberparteiliche Bildungs; 
ſtaͤtte für das arbeitende Volk fein, wichtig iſt, daß die Mitarbeiter die 
ganze Mannigfaltigkeit der Berufe, Anſchauungen, Strebungen uſw. im 
Volke repraͤſentieren: fo iſt es für fie notwendig, daß auch in der geiſtigen 
Fuͤhrung die parteiiſchen Kräfte des Volkes lebendig wirkſam find. Eine 
Somogenitaͤt der hauptamtlichen Dozenten von vornherein, würde gerade 
die erſt im Geiſteskampfe und in ruͤckhaltloſer maͤnnlichen Begegnung zu 
begruͤndende Gemeinſchaft, die neue „Volkheit“ unmoglich machen. Denn 
dies iſt ja die Aufgabe: die Lehrer, die Mitarbeiter ausbilden ſollen, muͤſſen 
ſelbſt in die Lage kommen, ſich vor ihren Schuͤlern als Mitarbeiter zu 
zeigen. Das kann nur geſchehen in einer echten Gemeinſchaft von Lehren⸗ 
den, nicht nur in der Form einer humanen Zollegialität. Die Dozenten⸗ 
gemeinſchaft muß das Miteinanderarbeiten felbft] beiſpielhaft verwirk⸗ 
lichen: durch Ausſprache, ſtaͤndige Auseinanderſetzung und Verſtaͤndigung. 

210 


308 Ernſt Michel, Akademie der Arbeit 


Von der bloßen geiſtreichen Unterhaltung unterſcheidet ſich dieſe Ausein⸗ 
anderſetzung durch ihre Verantwortlichkeit. Aber auch der Lehrinhalt der 
Akademie der Arbeit verlangt dieſe Gemeinſchaft. Denn die Lehre, wie ſie 
hier gefordert iſt, iſt ja in ſelbſtaͤndiger Forſchung aus dem Robftoff des 
Fakultaͤtswiſſens herauszubilden. Das kann kein Dozent für ſich allein 
leiſten, dazu bedarf er des lebendigen Austauſches mit den Dozenten der 
anderen Faͤcher. In dieſen Ausſprachen kann ſich dann die Sprengung 
eben jener Abkapſelung der Fachſprachen vollziehen, die ſich heute, wo 
faſt jeder Forſcher ſeine eigene Terminologie hat, in einer kataſtrophalen 
Sprachenverwirrung auswirkt. was die Dozenten von ihren Schülern 
verlangen, die geiſtige Umwandlung, das muͤſſen ſie alſo unter ſich ſelbſt 
auch vollbringen. 

Beſteht aber die Rerngemeinſchaft der Sauptdozenten, dann iſt es moͤg 
lich, nebenamtliche Dozenten jeder Serkunft und Richtung für beſtimmte 
Gebiete heranzuziehen. Der Einbau der Vorleſungen dieſer Dozenten wird 
reine grundſaͤtzlichen Schwierigkeiten mehr bieten. 


Kuͤckblick und Ausblick 
M.. dieſer neuen Bildungsform, die aus der Not und den Beduͤrfniſſen 
der Arbeit Aufgabe und Kraft empfaͤngt, iſt nun der Grund zu einer 
neuen Volksbildung uberhaupt gelegt. 

Die Volksbildungsbewegung des ausgehenden Jo. und beginnenden 
20. Jahrhunderts war eine kuͤnſtliche Reaktion auf die Tatſache, daß die 
echte Volksbildung zerſtoͤrt iſt: naͤmlich als Formung des Volkes durch 
Gemeingeiſt, beſſer: durch die verbindlichen Lebensordnungen und die 
Sprachgebilde, in denen dieſer Gemeingeiſt Geſtalt und Ausdruck gewann. 
Die Neuzeit, vorzuͤglich das Io. Jahrhundert, war aber gekennzeichnet 
durch den Ruͤckzug des Geiſtes und mit ihm der Bildung aus den Niede⸗ 
rungen des Volkslebens und feiner Ordnungen auf ideale ohen. Sie war 
gekennzeichnet durch die Scheidung des Volkes in „Gebildete“ und „Un⸗ 
gebildete”. Träger dieſer neuzeitlichen Bildung war der dritte Stand, das 
Buͤrgertum. Sie war liberal und individualiſtiſch und zerſetzte, wo ſie ein⸗ 
drang, die Volkskultur. Dieſen Weſenszug behielt ſie auch — ſie konnte 
ja aus ihrer Saut nicht heraus — in der Verduͤnnungsform der „Volks⸗ 
bildung”. 

An der Arbeiterſchaft — als Proletariat ein Endprodukt des Auf: 
loͤſungsprozeſſes der europaͤiſchen Volksordnungen — wurde der Kriſen⸗ 
zuſtand dieſer neuzeitlichen Bildung immer deutlicher: ſie verſagte vor 
feinen ſozialen Noͤten, fie widerlegte ſich im Lebensgefühl des Arbeiters, 
wo dieſes originaͤr durchbrach. Und die faktiſche Sinwendung der Arbeiter⸗ 
ſchaft zur bürgerlichen Bildung und wiſſenſchaft hat fie immer ſtaͤrker in 
den Widerfpruch hineingetrieben zwiſchen der Relativitaͤt, Unverbindlich⸗ 
keit und Vorausſetzungsloſigkeit der modernen Wiſſenſchaft und Bildung 
und dem Lebensgefühl des Arbeiters, das auf eine neue bindende ſoziale 
Grdnung und damit auf eine bindende Gedankenwelt hindraͤngt. wenn 
dem Proletarier es auch ſelbſt nicht bewußt wurde, ſo wurde es doch an 
ihm klar, daß er eines Denkens beduͤrfe, das auf ſeine wirklichen Noͤte ant⸗ 


umſchau 309 


wortet und verpflichtende Kraft beſitzt. Solange die Arbeiterſchaft in die 
radikale Gppoſition gedrängt war, war das ſozialiſtiſche Ethos zwar ſtark 
genug, dieſe nachteiligen Wirkungen zu parieren. Heute aber iſt die Situa⸗ 
tion veraͤndert, heute iſt gefordert, daß die Arbeiterſchaft ihre errungene 
Stellung im Volksganzen, ihren Auftrag, zu neuen bindenden Ordnungen 
durchzuſtoßen, auch als aktive Trägerin neuen geiſtigen Lebens bewahre. 
Es iſt ihr aufgetragen, auch in der Geiſtesbildung durchzuſtoßen, durch die 
individualiſierende Bildung der modernen welt zu einer neuen Gemein⸗ 
ſchaftsbildung. Dieſe muß als originaͤre Bildung von der volkspolitiſchen 
Berufung der Arbeiterſchaft Aufgabe und Inhalt empfangen. Denn mit 
der Induſtrialiſierung hub die Entformung der Voͤlker Europas an, mit 
der von der Arbeiterſchaft mitgetragenen Induſtrie ⸗ und Arbeitsordnung 
muß das ſoziale Chaos uͤberwunden werden. 

So wird es von der Arbeiterſchaft, als der Grundſchicht der neuen 
Volksordnung, abhaͤngen, ob der Stoffwechſel zwiſchen Volk und Bildung 
wieder in Taͤtigkeit tritt. Es geht darum, gerade im Arbeiter den un- 
gebundenen, willkuͤrlich freien Geiſtesmenſchen zu überwinden durch den 
oͤffentlich· verantwortlichen Geiſtesmenſchen, im Arbeiter den Geiſt, der 
bloß feinen eigenen Geſetzen folgt, abzuloͤſen durch den Geiſt, der den 
Noͤten des Lebens zugewandt iſt und ihnen helfend antwortet. 

Denn die neue Bildung kennt ja nicht mehr die idealiſtiſche Freiheit des 
Geiſtes wie die alte, und infolgedeſſen auch nicht mehr die Spaltung des 
Lebens in Theorie und Praxis, in „Wille und Vorſtellung“, an welcher 
Spaltung Europa zugrunde gegangen iſt. Die neue Bildung gruͤndet ſich 
auf den gebundenen Geiſt, der den Lebenserſcheinungen zugewandt iſt und 
in ſie eingeht. An notwendige Dinge hat dieſe Bildung anzuknuͤpfen, auf 
notwendige Fragen zu antworten; denn ſie will ja nicht aufklaͤren, ſondern 
retten und wirken, das Chaos durch die Bereitſchaft für die werdende Grd⸗ 


nung überwinden. 
Umſchau 


Grundfragen der Örganifation der Staatlichen „ 
Fach ſchulen für Wirt ſchaft und Verwaltung a 


liches Bild der Staatlichen Wirtſchaftsſchulen zu geben, fie wollen in der Saupt ; 
ſache weſentliche Fragen aufwerfen, die für die Organiſation der Wirtſchafts · 
ſchulen von Bedeutung find. Ihre Vorgeſchichte, Verfaſſung, ſowie Aufgaben, 
Arbeits weiſe und Bedeutung find in einer Reihe von Artikeln ſchon öfters zur 
Darſtellung gekommen“. Einzelheiten über die Einrichtung der Wirtſchaftsſchulen 
bringen außerdem ausfuhrliche Proſpekte und die Wirtſchaftsſchulblaͤtter, die von 
der Wirtſchaftsſchule Däfleldorf ſelbſt herausgegeben werden und weſentliche Bei⸗ 
träge aus der taglichen Arbeit enthalten. 


Reichsarbeitsblatt Nr. 40/4], 5. Jahrgang 1925. Organiſation und Bedeutung 
der Staatlichen Fachſchulen für Wirtſchaft und Verwaltung. Die Arbeit. Nr. 5, 
J. Jahrgang 1924. Staat und Arbeiterbildung. Soziale Praxis. Nr. 32/33, 
32. Jahrgang 1923. Aufgaben, Arbeitsweiſe und Bedeutung der Staatlichen 
Fachſchulen für Wirtſchaft und Verwaltung. Deutſche Arbeit, Nr. 3, Grund⸗ 
zuͤge der Arbeiterbildung im Rahmen der ſtaatlichen Wirtſchaftsſchulen. 


310 un ſchau 


Fuͤr jede Schulart iſt es von Bedeutung, zu wiſſen, ob ein Bedarf für fie vor 
banden iſt, und von wem er ausgeht, unter welchen Vorausſetzungen die Arbeit 
durchgeführt werden kann, und in welcher Weiſe eine Eingliederung der neuen 
Bildungsſtaͤtte in das Geſamtſyſtem der ſtaatlichen Bildungs einrichtungen möglich 
iſt. Das Beduͤrfnis nach Wirtſchafts ſchulen ift nun aus der Arbeiterbewegung ge- 
kommen. Die Notwendigkeit eines geeigneten neuen Bildungsweſens kam einzel ⸗ 
nen Fuͤhrern der Arbeiterſchaft um fo mehr zur Erkenntnis, je mehr die politiſche 
und wirtſchaftliche Mitverantwortung größere Anſpruͤche an fe ſtellte. Ohne 
gründliche Schulung war die Arbeiterſchaft den größeren Aufgaben einfach nicht 
gewachſen, die politiſcher Wille und nationales Schickſal ihr geſtellt hatten. Die 
Beſucher der Wirtſchaftsſchulen kommen deshalb in der Sauptſache aus der Ar- 
beiterbewegung. Angeſtellte find weniger unter ihnen. Die Angeſtelltenorganiſa · 
tionen haben ſich im Kuratorium der Wirtſchaftsſchulen beteiligt, ſich im übrigen 
aber von der Beſchickung zuruͤckge halten. Die Angeſtellten mögen ſich politiſch mit 
den Arbeiterorganiſationen auf einer Linie finden, ſoziologiſch geſeben fühlen fie 
ſich faſt ausnahmslos als eine beſondere Gruppe. Sie haben ihre eigenen Bildungs; 
ziele und mitunter auch ihre eignen Einrichtungen. Eher find Arbeiter verſchiede⸗ 
ner politiſcher Parteien auf eine Schulbank zu bringen als Arbeiter und An ⸗ 
geftellte der gleichen Richtung. Aus dieſer ſoziologiſchen Verſchiedenheit ergibt ſich 
die andere Bildungsaufgabe der Angeſtellten, die ſich mehr auf Berufsbildung, 
Allgemeinbildung und Pflege der Geſelligkeit erſtreckt. Die Bildungsbeſtrebungen 
als Ausdruck der ſozialen Bewegung treten in dem Maße zuruͤck, als ſie ſich bei der 
Arbeiterſchaft verſtaͤrkt zeigen. Die Arbeiterſchaft iſt gewerkſchaftlich und wohl 
auch politiſch ſtaͤrker bewegt als die Angeſtellten ſchaft es bisher war. Unter den 
5 Einwirkungen der letzten Jahrzehnte hat ſich auch bei den Ange⸗ 
ſtellten eine Wandlung vollzogen. Die Organiſationen der Arbeiter ſind aͤlter und 
infolge ihrer Große, die in der elementaren Arbeit begruͤndet liegt, die fie zuſam⸗ 
menfaſſen, für ein Staatsweſen von beſonderer Bedeutung. Deshalb iſt das Be ⸗ 
duͤrfnis nach Bildung innerhalb der Arbeiterſchaft auch ſeitens der Staats: und 
Rommunal verwaltung als durchaus beachtlich aufgenommen worden. Es find 
alſo in der Sauptſache Arbeiter die Beſucher der Wirtſchaftsſchulen. Dennoch 
dürfte es vielleicht eine lohnende Aufgabe fein, auch mit den Angeftelltenorgani- 
fationen eine ihnen entſprechende Form der Bildungsarbeit zu finden, wie fie 3. B. 
mit dem Deutſchen Werkmeiſterverband Duͤſſeldorf oder den Angeſtellten der Abei- 
niſchen Arankenkaſſen bereits geſchaffen worden iſt. Vorläufig macht allerdings 
die Organiſation der Arbeiterbildung Muͤhe genug, und wir beſchaͤftigen uns im 
folgenden auch nur mit ihr. 

Wer die Wirtſchaftsſchulen beſucht, kommt in den ſeltenſten Fallen als Einzel · 
weſen um ſeiner perſoͤnlichen Ausbildung willen. Er kommt gleich im Rahmen 
eines größeren Verbandes, einer beſtimmten Richtung und Weltanf 3 und 
mit einer beſtimmten politiſchen Jielſetzung. Die Beteiligung am ſozialen Leben 
iſt die Urſache feines Bildungseifers. Deshalb trägt dieſer Schuͤlerkreis, der Er 
wachſene von 22 bis 35 Jahren umfaßt, eine beſondere eigengeartete Bildungs⸗ 
aufgabe in fi, die an bisherigen Bildungsſtaͤtten ſchwerlich in Angriff genommen 
werden kann. Es iſt nun das Neue in der Geſchichte der Paͤdagogik, daß der Staat 
ſich bemuͤht, den Bildungsbeſtrebungen dieſes Schuͤlerkreiſes Rechnung zu tragen. 
In dieſem Bemuͤhen kommt die Fortentwicklung unſerer Geſchichte zum Ausdruck, 
die unter gewiſſen Vorausſetzungen dieſe Juſammenarbeit von Staat und Ar⸗ 
beitern ermöglicht. Dieſe hat ihre Probe noch nicht völlig beſtanden und wird vor- 
laͤufig auch noch längere Zeit um allgemeine Anerkennung ringen muͤſſen, aber wir 
dürfen vorläufig feſtſtellen, ein Anfang auf dem Gebiete der Bildungsarbeit iſt da, 
und es iſt ſicher ein Erfolg, abgeſehen von allen Einzelheiten, daß er da iſt. 

Vorausſetzung für die Durchfuhrung der Wirtſchaftsſchulen iſt die andere Ein · 
ſtellung der Arbeiterſchaft, ins beſondere der freigewerkſchaftlich organiſierten Ar⸗ 
beiterſchaft zum Staate und andererſeits die andere Einſtellung des Staates zur 
Arbeiterſchaft aller Richtungen. Dieſer Wandel feit 1918, im Kriege bereits 
weſentlich eingeleitet, iſt naturlich noch nicht vollig geklaͤrt. Es gibt noch große 
Arbeiterſchichten, die den Weg zum Staate nicht finden können, und es gibt auch 


Umſchau 311 


Vertreter der Staatsverwaltung, deren Entwicklungsgang ein tieferes Verſtaͤnd⸗ 
nis für Arbeiterbeſtrebungen unmoglich gemacht hat, obſchon bier ausdrücklich 
bervorgeboben werden ſoll, daß im allgemeinen die Verwaltungen gerade für 
Bildungsbeſtrebungen der Arbeiterſchaft größtes Verſtaͤndnis hatten und tatkräftig 

ebolfen haben. Gewiß, eine Klarung in den gegenfeitigen Beziehungen er⸗ 
Torten Zeit. Die Ausſichten ſeitens der Organiſationen der Arbeiterſchaft werden 

uͤr eine Juſammenarbeit immer guͤnſtiger. Dafur iſt der Gewerkſchaftskongreß 
in Breslau 1925 ein Beweis. Nuͤchterne Naturen hatten die Führung auf 
dieſem Rongreſſe, die ihre Krafte richtig einſchaͤtzten und die revolutionaͤre Taf: 
ti? ablehnten. Die Enttaͤuſchung über den Bang der Entwicklung in den Maſſen 
ift von dem Willen zur poſitiven Arbeit durch politiſche und Wirtſchaftsde mokratie 
abgelöft worden. Dieſe poſitive Einſtellung iſt eigentlich nur eine Rlärung der 
bis her geäbten Praxis, die ſich jetzt einheitliche Richtlinien ſchafft. Man will nicht 
mehr zuruͤck in die bloße ohnmaͤchtige Oppoſition, man will mitarbeiten und 
mitbeſtimmen und braucht zu dieſem Zwede die Ausbildung der Funktionaͤre und 
Fuͤbrer ſowohl auf techniſchen wie wirtſchaftlichen e Auf Grund 
dieſer feſtentſchloſſenen Abſicht iſt die Vorausſetzung für die Mitarbeit der Ar⸗ 
beiterorganiſationen an den ſtaatlichen Wirtſchaftsſchulen durchaus gegeben, auch 
wenn es in einzelnen Fallen Organiſationen gibt, die dieſen Haren Willen des 
Gewerkſchafts kongreſſes nicht teilen. Aber auch die Organiſationen follten bei 
den ſtaatlichen Bildungsanſtalten weniger Wert auf eine beſondere Weltanſchau ; 
ung legen, ſondern mehr auf die praktiſche Arbeit achten, auf die poſitiven Kei- 
ſtungen und wenigſtens durch einen Verſuch die Beſucher der Wirtſchafts ſchulen 
über ihre weitere Beteiligung entſcheiden laſſen. 

Man kann aber wohl ſagen, daß bei einer Reihe von Organiſationen und bei 
dem Geſamtverband der Freien Gewerkſchaften die groͤßten Bedenken uͤberwunden 
ſind. Bei ihnen iſt der Weg zu einer Ausbildung ihrer Mitglieder an ſtaatlichen 
Inſtitutionen frei geworden, wenn man auch vielleicht noch zoͤgernd die Erfolge 
des Experimentes abwartet. Beim Deutſchen Gewerkſchaftsbund haben Sem ⸗ 
mungen der Art wie bei den freien Gewerkſchaften nicht beſtanden. Die Be⸗ 
dingungen für ibre Mitarbeit an den Wirtſchaftsſchulen iſt im weſentlichen die 
Bereitſchaft, trotz aller Betonung ihrer eigenen Weltanſchauung dennoch in praf: 
tiſchen Fragen mit den übrigen Organiſationen der Arbeiterſchaft zuſammenzu⸗ 
gehen, alſo auch eine beſtimmte Fachſchulbildung ibren Mitgliedern mit den An⸗ 
ge hoͤrigen anderer Organiſationen zuteil werden zu laſſen. Aus den Erklaͤrungen 
des Generalſekretaͤrs der chriſtlichen Gewerkſchaften Otte iſt dieſe Juſammen⸗ 
arbeit wohl ohne Zweifel geſichert. Tatſaͤchlich iſt auch bereits ein Juſammengehen 
in Wirtſchafts ſchulfragen trotz einiger Bedenken im Anfang erfolgt. Aber auch bei 
den chriſtlichen Gewerkſchaften gibt es trotz dieſer Geſamteinſtellung noch Organi · 
ſationen, die ſich aus dem einen oder anderen Grunde fernhalten. Ein Organi⸗ 
ſationsweſen, auf Selbſtverwaltung aufgebaut, iſt eben nicht ſo leicht zu ge⸗ 
winnen. Bei den Sirſch⸗Dunkerſchen Gewerkſchaften find Zweifel grundſaͤtzlicher 
Art Aber ihre Mitwirkung nie laut geworden, fie haben ſich im Rahmen ihrer 
Bräfte ſtets gerne beteiligt. Dieſe neue Einſtellung ſeitens der Arbeiterbewegung 
in ihrer ganzen Breite iſt die erſte Fee e die Einrichtung ſtaatlicher 
Wiriſchaftsſchulen. Die neue Einſtellung des Staates iſt die andere Voraus- 
fegung. Dieſe Einſtellung muß durch die Verpflichtung gekennzeichnet fein, ohne 
Enge irgendeiner Parteiauffaſſung wirklichem Bildungs verlangen der Arbeiter⸗ 
ſchaft nachzukommen. Der Staat darf ſeine Silfsbereitſchaft nicht in den Dienſt 
beſtimmter Intereſſen oder politiſcher Auffaſſungen ſtellen wollen, er muß ſich von 
reiner Sachlichkeit leiten laſſen; fuͤr ihn kein anderes Jiel maßgebend ſein als 
das ernſte Be muͤhen, dem Willen der Arbeiterſchaft nach Vertiefung ihrer Bildung 
entgegenzukommen, damit ſie von ihrer Eigenwelt und ihrem Eigenwillen aus 


Protokoll der Verhandlungen des 12. Bongrefles der Gewerkſchaften Deutſch · 
lands 1925, Seite 36 ff. Entſchließung Nr. 13, IL Abſatz 5, 6 und Jo. Die 
Deutſche Arbeit. Nr. 9, Jahrgang 1925. B. Otte: „Das Verhaltnis zwiſchen chriſt⸗ 
lichen und freien Gewerkſchaften.“ 


312 umſchau 


ſich weitere Erkenntnis verſchaffen kann. Der Staat muß allen die Moglichkeit 
geben, auch denen, die abſeits der vorhin gekennzeichneten poſitiven Einſtellung zu 
ihm ſtehen, wenn nur der Wille zu wirklichem Studium vorhanden iſt. Das Mini ⸗ 
ſterium für Sandel und Gewerbe, dem die Wirtſchafts ſchulen unterfteben, hat dieſe 
liberale Auffaſſung in der Arbeiterbildungsfrage bisher nicht vermiſſen laſſen, ſo 
daß Be hoͤrden und Gewerkſchaften — alle beteiligten Organiſationen werden das 
zugeben — ohne die geringſten Reibungen im Buratorium zuſammen gearbeitet 
haben. Nur unter dieſen Vorausſetzungen kann ein der Arbeiterſchaft nottuendes 
weitergebendes Bildungsweſen uberhaupt geſchaffen werden. Alle freie Bildungs; 
arbeit, fo durchaus begründet und notwendig fie iſt, muß naturgemäß in den An⸗ 
faͤngen ſtecken bleiben, wenn dieſe Arbeit nicht zu irgendeinem Jeitpunkte dem 
Staate übertragen wird. 

Wenn Staatsverwaltung und Gewerkſchaft entſchloſſen ſind, unter gegenſeitiger 
Beachtung ihrer Stellung und unter weſentlicher Unterftügung der offentlichen 
Meinung, Bildungsmoͤglichkeiten zu ſchaffen, ergibt ſich die weitere Frage, welcher 
Art dieſe Bildung fein ſoll, und in welcher Weiſe dieſe neuen Anſtalten dem übrigen 
Bildungsweſen eingereiht werden ſollen. Nun iſt in Deutſchland uns ein durchaus 
reichhaltiges Bildungs weſen von der Geſchichte her uͤberliefert worden. Es iſt Aus; 
druck der bis herigen fůͤhrenden Schichten. Die Arbeiterſchaft war weder wirtſchaft · 
lich, noch politiſch, noch kulturell bisher eine Macht, die ſtark genug geweſen wäre, 
ſich ein bedeutſames Bildungsweſen zu ſchaffen, wie es die Kirche in den Kloſter⸗ 
ſchulen, Sandwerk und Baufmannfdaft in den Stadtſchulen, der Adel in der 

itterbildung und vor allem das Bürgertum in dem heutigen hoheren Schulweſen 
und Sochſchulweſen ſich geſchaffen und in Jahrhunderten ausgeſtaltet hat. Alle 
Aufflärung, alle Ausbildung, die geſamte geiſtige Formung geſchah nicht von der 
Arbeiterſchaft aus, ſondern wurde von außen her in ſie hineingetragen. Das war 
bei aller Volksbildungsarbeit, ja faſt ſogar bei aller parteipolitiſchen Bildung 
ebenſo der Fall wie bei der ſtaatlichen Ausbildung für die Arbeiterkinder in Volks; 
ſchulen und Berufsſchulen. Dieſe Ausbildung geſchah nicht um der Arbeiterſchaft 
willen, oft im Gegenſatz zu ihren politiſchen Zielen, oft aus beſtimmten Staats · 
und Parteizwecken der führenden Kreiſe heraus. Ohne daß man fo weit zu 
gehen braucht, dieſes ganze Bildungsweſen nur als ein Inſtrument der beſitzenden 
und führenden Klaſſe hinzuſtellen — viel Arbeit iſt in Volksſchulen und Berufs- 
ſchulen um der Jugend ſelbſt willen geſchehen, ohne Jweckgedanken und mitunter 
ſogar im Gegenſatz zur behördlichen Auffaſſung — oder ohne die freie Bildungs ⸗ 
arbeit nur als Fangnetz für beſtimmte Richtungen hinzuſtellen — manche Bil⸗ 
dungsarbeit war, wenn auch der Arbeiterſchaft fremd, durchaus in ihrem Inter ; 
eſſe — fo bleibt doch die Tatſache befteben, daß die Arbeiterſchaft aus ſich heraus 
nur ſchwache Bräfte hervorbrachte, wegweiſend die Bildungsbeſtrebungen zu be⸗ 
einfluſſen und auszugeſtalten. Bei einem Juſammengehen von Staat und Gewerk⸗ 
ſchaft wird in dieſer Beziehung ſich recht bald ein merklicher Fortſchritt zeigen. 

Das bisherige Bildungsweſen ſieht nun im Anfang immer einen gewiſſen Grad 
von Allgemeinbildung vor; Volksſchule, Gymnaſien, Oberrealſchule ſind die 
Staͤtten dieſer Allgemeinbildung, die dann zum großen Teil für die Beſucher der 
letzteren Anſtalten auch an den Sochſchulen noch erweitert wird. Dieſe Allgemein ⸗ 
bildung begann mit der Freude am Stoff in recht vielen Faͤchern. Sie wurde vom 
Wiſſensſtolz geleitet und wandte ſich dann von der Wiſſens vermittlung als der 
bedeutendſten Aufgabe ab, um die geiſtigen Krafte zu ſtaͤrken, um an Stelle der 
Stoff bildung Fefe zu erreichen. Dieſe Bräfte waren zunaͤchſt intellek⸗ 
tueller Art, erſt ſpaͤter verſuchte man unter der Reaktion gegen dieſe intellektuelle 
Bildung mehr den ganzen Menſchen zu erfaſſen, ſein Gefuͤhl, — Willen, ſeinen 
Glauben, fein ganzes Leben zu entfalten. Dieſe neueſte Aufgabe hielt ſich meiſt 
in den Grenzen eines allgemeinen Menſchentums; der Unterſchied in der ſozialen 
Cage, die Gruppenpſpche, die das Menſchſein ſtark beeinflußt, fand dabei weniger 
Beachtung. Man ſah den Menſchen, den deutſchen Menſchen, ohne ſtaͤrkere Diffe · 
renzierung. Neben dieſer Allgemeinbildung entwickelte ſich die Berufsbildung, 
allerdings aus der idealiſtiſchen Auffaſſung des 19. Jahrhunderts heraus wenig 
geſchaͤtzt, vernachlaͤſſigt und oft ſogar verachtet. Sie wurde als Jweckbildung, als 


umſchau 313 


e und Technik nicht für voll angeſehen. Es mag fein, daß dieſes Urteil 
ber fie zeitweiſe berechtigt war, zum Teil aber verkannte man doch auch die bilden ; 
den Kraͤfte, die in dieſer Berufsſchulung ſteckten und von Maͤnnern des Berufs; 
ſchulweſens auch weſentlich gefordert worden find. Die Berufsſchulbildung war 
eben nicht bloße Technik, ſie vermochte die intellektuelle Bildung ebenſo gut zu 
vermitteln und in Verbindung mit der praktiſchen Arbeit den ganzen Menſchen 
noch viel tiefer zu erfaſſen, da fie ibm aus einem beſtimmten Breife und Berufe 
und aus einer beſtimmten ſozialen Cage heraus Klarheit und Sicherheit der 
Lebensführung gab. Wenn Bildung geiſtige Überlegenheit über die Lage eines 
menſchen und Einführung in die Juſammenhänge eines geiſtigen und ſozialen 
Geſchehens bedeutet, dann kann auch eine Bildung, die lebenswahr vom Berufe 
ausgeht, ohne Zweifel als ſolche angeſprochen werden. Leider ift das bis her noch 
zu wenig geſchehen. Die Berufsbildung leidet immer noch unter der Tatſache, daß 
man fie als bloße Technik der FHachſchulen einer wahren Geiſtesbildung der Soch · 
ſchule gegenüberftellt. Es ift wichtig, das feſtzuſtellen, da auch die Wirtſchafts 
ſchulen in das Berufsſchulweſen eingereiht, ſofort die ubliche Beurteilung er- 
fahren haben, indem man die Arbeit der Wirtſchaftsſchulen als Vermittlung von 
Techniken für tägliche und praktiſche Jwecke der Akademie der Arbeit als Soch⸗ 
ſchule des Geiſtes gegenuber un Die Wirtſchaftsſchulen betonen den Ausgang 
von der praktiſchen Arbeit, aber fie laſſen ſich nicht entſeelen, auch fie haben ihren 
geiſtigen und erzieberifhen Gehalt und ihre innere Verbundenheit mit dem Ganzen 
der ſozialen Lage der Arbeiterſchaft, wenn fie auch nicht verſuchen, eine Sosial- 
pbilofopbie der Arbeiterbewegung wiſſenſchaftlich fo auszugeſtalten, wie es bei der 
Akademie der Arbeit der Fall iſt. Die Wirtſchaftsſchulen pflegen nicht eine be⸗ 
ſtimmte Weltanſchauung, ſie glauben, daß eine geſchloſſene Weltanſchauung aus 
bildneriſchen Grunden auch nicht notwendig iſt, ganz abgeſehen davon, daß fie als 
ſtaatliche Bildungsanſtalten nicht das Recht haben, in die innere Einſtellung ihrer 
Hörer Se 

Die Wirtſchaftsſchulen haben im Rahmen des Fachſchulweſens ihren Platz ge⸗ 
funden, das vom preußiſchen Sandels miniſterium betreut wird. Sie haben infolge · 
deſſen Abnliche Aufnahmebedingungen wie dieſe und arbeiten nach aͤhnlichen Me⸗ 
thoden, allerdings nicht von der Technik, ſondern von der ſozialen Seite des Berufes, 
von der ſozialen Bewegung und Verwaltung ausgehend. Sie meſſen eben der 
ſozialen Seite des Berufes beim Arbeiter eine beſondere Bedeutung bei. Dieſe 
Sonderaufgabe im Berufsſchulweſen iſt neu, aber ſie entſpricht den Erforderniſſen 
unferer Zeit, indem fie den Menſchen nicht als Einzelweſen, ſondern als Gemein ⸗ 
ſchaftsweſen, als politiſches Weſen im Berufsverband oder in der ſozialen Be⸗ 
wegung erfaßt. In dieſer Betonung der ſozialen Ausbildung liegt durchaus keine 
Verkennung der Technik, noch eine Verkennung der Allgemeinbildung. Die Arbeiter 
ſchaft braucht Maͤnner mit ebenſo tuͤchtiger Berufs · wie Allgemeinbildung, ſondern 
in dieſer Bildungsaufgabe liegt nur eine notwendige Spezialiſierung, die be⸗ 
deutungs voll genug iſt, daß fie eine eigene Schulart ausfüllt. Die Eingliederung in 
das Fachſchulweſen geſtattet außerdem etatmaͤßig akademiſch gebildete Krafte, wie 
fie an den übrigen techniſchen Lehranſtalten tätig find, die mit einer gruͤndlichen 
Fachbildung ſoziale Erfahrungen verbinden, und die andererſeits durch ein Spezia⸗ 
liſtentum ſich nicht fo weit verloren haben, daß fie den einfachen Bedurfniſſen der 
Wirtſchaftsſchuͤler kein Verſtaͤndnis mehr entgegenbringen konnten. Die Wirt- 
ſchaftsſchulen find ein Fortſchritt über Volks und Berufsſchule hinaus. Sie ge 
waͤhrleiſten, ohne gleich die Anforderungen einer Sochſchule an ihren Schuͤlerkreis 
zu ſtellen, eine gruͤndliche Schulung und damit die innere Sicherheit der Wirt⸗ 
ſchafts ſchuͤler, eine ibnen nahe liegende Aufgabe praktiſch in Angriff zu nehmen. 
Was geboten wird, ift vom Standpunkte der Lernenden aus nuͤtzlich und gleich 
zeitig Bildung, die über ihre Böpfe nicht hinweg geht. Das Verlangen mancher 
Arbeiter, insbeſondere der jungen, geht natürlich weiter. Man möchte zum Soͤchſten 
greifen, uber die Anfaͤnge aller Schulung gleich hinaus, bis an die Sochſchulen, und 
zwar aus inneren und ganz berechtigten Gruͤnden heraus. Wie oft legt die taͤgliche 
Arbeit uns Fragen vor, auf die ein Univerſitaͤtsſtudium nur eine befriedigende 
Antwort geben kann. Dieſe großen Fragen ſind nicht das Ergebnis eines laͤngeren 


314 umſchau 


Denkprozeſſes unſerer Schüler, fie find ihnen ganz elementar zu eigen, fie tragen fie 
als ein Stuck ibres Lebens und ihrer Bewegung in fi. Es iſt des halb erklaͤrlich, 
wie man ſich nach „großen Aanonen“ ſehnt, daß man als Stürmer formlos, ge · 
ſchichtslos über die Anfange im Deutſchen und uber beſcheidenſte Begriffsbildung 
hinwegſtolpernd gleich ins Weite bis zu den letzten Quellen draͤngt. Dieſes Sehnen 
iſt berechtigt und kann doch fo raſch nicht erfüllt werden. Notwendig iſt vielmehr, 
daß es auf beſtimmten Vorſtufen nun zunaͤchſt eine innere Feſtigung und Ausleſe 
ermöglicht. Es gibt Bräfte unter den Schuͤlern, die weiter können und wollen, und 
für die ein Weg gefunden werden muß, der fie für großere Aufgaben der Arbeiter⸗ 
organifationen vorbereitet. Aber dieſe Weiterbildung iſt nicht moglich, bevor nicht 
der erſte Schritt geſichert iſt, naͤmlich die Ausbildung im Rahmen des Fachſchul⸗ 
weſens zunaͤchſt einmal durchzufuͤhren. Nicht der Ausbau nach oben, ſondern nach 
unten, mit dem Iwecke die Wirtſchaftsſchulen in den breiten Schichten der Arbeiter; 
ſchaft zu fundamentieren, hat deshalb bisher die ganze Braft der Wirtſchafts · 
ſchulen beanſprucht. Im Fernunterricht, in Studienzirkeln und kurzen Burfen 
ſollten die beſten Anrege⸗ und Auslöſe möglichkeiten geſchaffen werden. Es follte 
das Bildungs verlangen zunaͤchſt einmal in feinen Quellen erfaßt werden, um es 
dann an den Daͤmmen der Wirtſchaftsſchulen in einem einjaͤhrigen Lehrgang bei 
vollem Tages unterricht zu ordnen und zu klaͤren. Vier Jahre find mit dieſem Auf; 
bau der Arbeit vergangen. Jahre werden noch notwendig ſein, die bisherige Arbeit 
zu vollenden. Sie iſt die grundlegende Arbeit für jede Weiterentwicklung und er- 
1 180 uns vom Standpunkt der Arbeiterbewegung aus als die brennendſte. Es 
ehlt nicht in den Spitzen der Verwaltung, es fehlt in den breiten Maſſen an Män- 
nern, die dort Selfer und Fuhrer fein konnen, die in den lokalen Organiſationen, 
die im Betrieb oder in der Jugendbewegung Krafte darſtellen, die geiſtig rege und 
gelenkig genug find, Verbindungen und Verantwortung zwiſchen Führung und 
Maſſen herzuſtellen. 

Die Arbeit in den Wirtſchaftsſchulen iſt ohne weſentliche Vorbilder und zwar im 
Sinblick auf die ganze Organiſation ſowohl wie auf den Unterricht. Der Befamt- 
le hrplan, jedes Fach und jede einzelne Unterrichtsſtunde muͤſſen neu geftaltet werden, 
und zwar von dem Ausgangspunkt her, der ja auch Urſache der Einrichtung der 
Wirtſchaftsſchulen war. Das Problem, an dem ſich die Arbeit der Wirtſchafts 
ſchulen alſo orientiert, iſt die Beziehung zwiſchen Wirtſchaft und Gewerkſchaft. 
Dieſe Tatſache macht die Tätigkeit der Wirtſchaftsſchule vielleicht umſtritten, 5 
ihr aber auch die beſondere Bedeutung. Es iſt wichtig, dieſem Problem zunaͤchſt 
einmal nicht auszuweichen, ſondern den Standpunkt des Arbeiters innerhalb der 
Wirtſchaft zu erfaſſen, wie er in ſeinen Organiſationen zum Ausdruck kommt, um 
von ihm aus die Wege der Ausbildung einzuſchlagen. 

Nun iſt das Problem Wirtſchaft und Gewerkſchaft nicht fo einfach. Die Wirt · 
ſchaft iſt ein weiter Begriff. Sie greift in alle Lebensgebiete hinein und iſt ihrer; 
ſeits wieder durch außerwirtſchaftliche Grunde beeinflußt. Die Macht des Staates, 
die geiſtige Einſtellung der Nation, Sitten, Organiſationen uſw. üben ihren Ein ⸗ 
fluß aus. Auch die Gewerkſchaft iſt ein weiter Begriff, der ſich dauernd wandelt, 
auch fie greift in alle Lebensgebiete. Während fie bisher nur ganz beſtimmte 
„ hatte, nur ſozialpolitiſch eingeſtellt war, iſt fie nach dem Kriege in jeder 

ffentlichen Angelegenheit ftärfer hervorgetreten und bat ſich in weiteſtem Um⸗ 
fange auf dem Gebiete der Wirtſchaft betätigen wollen und muſſen. Infolgedeſſen 
muß die Bildung, die von dieſer Einſtellung ausgeht, groß und mannigfaltig ſein 
und andererſeits wieder Ruͤckſicht auf die Auszubildenden nehmen. Eine mangel ⸗ 
hafte Allgemeinbildung muß überwunden werden, wenigſtens in manchen Fällen, 
auch iſt zu beruͤckſichtigen, daß es im Anfang jedenfalls ſchwierig ift, all das Neue 
raſch und gründlich zu erfaſſen, wie es die doch immer begrenzte Ausbildungszeit 
erfordert. twendig ſind des halb ſowohl Allgemeinbildung wie Fachbildung. 
Die Allgemeinbildung ergibt ſich nicht zum geringſten Teile durch die ſchulmaͤßige 
Arbeit im Fachunterricht. Es find aber auch Faͤcher wie Deutſch, Engliſch vor⸗ 
gefeben, deren Beſuch nach drei Monaten fakultiv iſt. Die geſamte Fachbildung iſt 
obligatoriſch, alſo Betriebswirtſchaft, Volkswirtſchaft, Sozialpolitik und Recht. 
Sinter jedem Fach ftebt nun eine Perfönlichkeit, die dieſem Gebiete ihr Bepräge 


umſchau | 315 


gibt. Für den Lehrer iſt es ſchwierig, den Übergang vom Fachmann zum Paͤdago⸗ 
gen zu finden. Die ſchwierigſte Aufgabe an unſerer Anſtalt iſt die methodiſche Auf- 
gabe, weshalb ſich die Wirtſchaftsſchulblaͤtter immer wieder mit ihr beſchaͤftigen. 
Aufgabe des Leiters iſt es, in gemeinſamen Bonferenzen zunächſt mit den Do- 
zenten, und wenn die Schüler ſich eingelebt haben, auch mit ihnen, ſich um die 
Abſtimmung der einzelnen Gebiete untereinander und die notwendige Ronzentra- 
tion der Arbeit zu bemuͤhen und andererſeits in feinen eigenen Lehrgebieten wie 
Arbeiterpaͤdagogik, allgemeine Volkswirtſchaftslehre und Sozialpolitik immer wie · 
der den Blick der Lernenden auf den Juſammenhang der Faͤcher zu richten. Bei 
den Beſprechungen mit den Schülern über Plan und Arbeitsweiſe tauchen jedes · 
mal die verſchiedenartigſten Wuͤnſche auf; es laſſen ſich bei aller Verſchiede nartigkeit 
zwei Gruppen von Schülern unterſcheiden, die aber auch wieder in ſich durchaus 
die mannigfachſten N zeigen: ſie laſſen ſich im Extrem als Praktiker und 
Problematiker kennzeichnen. Die Praktiker wollen Fachunterricht, eine Einfuhrung 
in beſtimmte Praktiken, Anweiſungen, moͤglichſt mit ſchriftlichen Unterlagen. Sie 
wollen das, was ein Funktionaͤr in der Arbeiterbewegung braucht, was unerläß- 
lich für ihn iſt, Arbeitsrecht und Sozialpolitik in erſter Linie, Wirtſchafts⸗ und 
Staatslehre, ſoweit darin Nützliches enthalten ift. In der Theorie wollen fie 
moͤglichſt Begruͤndungen für fertige Meinungen, Argumente, die ihre Anſichten 
unterftügen und ſetzen Erörterungen, die den feſten Beſtand ihrer Auffaſſungen 
gefaͤhrden konnten, einen inneren Widerſtand gegenuber. Ihr Ziel iſt, innerlich 
ſicher mit Fertigkeiten ausgerüftet in die Arbeiterbewegung zuruͤckzukehren. Das 
Begenftäd zu dieſen Schülern find die Problematiker. Sie fordern nicht nur das, 
was die anderen Schuͤler wollen, ſie fordern eine Bildung, die mehr iſt als Aus⸗ 
druck der Arbeiterbewegung. Sie wollen eine Anteilnahme an den Kulturguͤtern, 
an Geſchichte, Philoſophie, am geſamten Bildungsweſen. Sie find im Geſamt⸗ 
vlan nicht immer zu halten, ſie folgen ſehr ſtark inneren Neigungen und zeigen ein 
brennendes Verlangen, die Problematik, welche die anderen vermeiden, gerade zu 
feben. Sie ringen mit ſich, fie hungern um ein neues Buch, fie wollen in die Tiefe 
alles ſozialen Geſchehens dringen. So ſehen die beiden Richtungen im Extrem 
aus. In Wirklichkeit finden wir bei den einzelnen Schülern mehr oder weniger 
ſtarke Übergänge. Das Verhaltnis beider Gruppen zueinander ift in den verſchie⸗ 
denen Jahrgaͤngen verſchieden. Es iſt auch ſchwer, in jedem Jahrgang feſtzuſtellen, 
zumal mancher Schüler erſt ſpaͤter ſich ſelbſt entdeckt. Man kann aber wohl ſagen, 
das Verhaltnis der Problematiker zu den Praktikern iſt im allgemeinen J :5. Je 
nach der Neigung der Schüler iſt die Einſtellung zu den einzelnen Faͤchern und 
ihren Dozenten, iſt die Beurteilung der geſamten Piäne und der Arbeits weiſe ver- 
ſchieden. Eine volle Befriedigung jedes einzelnen Schülers iſt der Wirtſchaftsſchule 
des halb nicht moglich. Sie muß auf einen Ausgleich der verſchiedenen Beftre- 
bungen achten, ſie muß eine Geſamtausbildung garantieren, die andererſeits auch 
im erſten Jahre bereits Raum für eine mehr oder weniger begrenzte Spezialiſierung 
laßt. Es gibt eine Reihe von Schülern, die ſich ſpezialiſieren können und obendrein 
der Geſamtarbeit ohne Muͤhe folgen, gerade dieſe durch die Spezialiſierung erft 
recht in ibrer tieferen Bedeutung erfaſſen. Ich darf in dieſer Beziehung wohl auf 
die Arbeit von Sans Otto, Nr. 3 der Wirtſchaftsſchulblaͤtter, über „Die Still ⸗ 
legungsaktion in der KRaliinduſtrie“ hinweiſen, die nach einem halben Jahr be⸗ 
8 entſtanden iſt und wertvolle Betrachtungen über die Entſtehung der Arbeit 
ngt. 
mit der Eigenart der Schüler hängt auch die Arbeitsweiſe weſentlich zu ⸗ 
fammen*. Im Anfang aller Bildung muß die Anſchauung fleben. Die Arbeiter⸗ 
ſchaft iſt durchaus theoretiſch eingeſtellt, fie hat nur hoͤchſt allgemeine Vor; 
ſtellungen von dem, was in Wirtſchaft und Staat vorgeht. Das iſt ganz erklaͤrlich. 
Der Arbeiter iſt auf einen beſtimmten Platz geſtellt, er kann die großen Aufgaben 
des Betriebes nicht feben und noch weniger das ganze Woher und Wohin der Be- 
wegung der Volkswirtſchaft. Übrigens wie wenige in anderen Kreiſen wiſſen 


» Siehe Deutſche Werkmeiſter⸗Jeitung Nr. 9, 1925. Die Bedeutung der Wirt 
ſchafts ſchulen für Wirtſchaft und Gewerkſchaft. | 


316 umſchau 


daruber Beſcheid, nur iſt das bei ihnen nicht immer wichtig. Sie find mit ihrer Lage 
durchaus zufrieden und wollen nichts anderes. Beim Arbeiter verbindet ſich jedoch 
mit feinem Denken die ganze Unzufriedenheit mit feiner Lage, die ſich bis zur 
revolutionaͤren Bundgebung ſteigert. Deshalb iſt Wiſſen für ibn nicht nur Macht, 
ſondern vor allen Dingen auch Pflicht. Die tägliche Arbeit geſtattet ihm den wei ⸗ 
teren Blick nicht, die Männer der Wirtſchaft ſtellen ſich ibm nicht zur Verfügung, 
ſo bleibt es eben bei einigen allgemeinen Saͤtzen aus der politiſchen Diskuſſion und 
einem ſtarken Gefühl für feine Lage. Auch unſere Schuler bringen oft nicht mehr 
mit, auch wenn ſie ſich bereits auf eigene Weiſe eine weitergehende Bildung ver⸗ 
ſchafft haben. Am Anfang aller Bildung muß deshalb die Anſchauung von der 
Wirtſchaft ſtehen, die in den verſchiedenſten Formen, in Wort, Bild und Beſichti⸗ 
gung und Studienfahrt gepflegt wird. Dieſe Anſchauung muß durch Einführung 
in beſtimmte Techniken, in die Buchhaltung, Fabrikorganiſation, Statiſtiłk und 
durch eigene Wirtſchaftsbeobachtungen noch ergaͤnzt werden, die eine weiter⸗ 
gehende Information geftatten. Erſt auf Grund wirklicher Anſchauung kann eine 
tiefere Erkenntnis vorbereitet werden, um den Schüler in die Lage zu verſetzen, 
durch eine theoretiſche Ausbildung dem Leben 0 gerecht zu werden. Es gilt 
alſo aus der 1 1 heraus das Weſentliche aufzuſuchen, ſich zu einem Syſtem 
durchzuringen und insbeſondere mit den verſchiedenſten Wirtſchafts ſyſtemen aus · 
einanderzuſetzen, um dann fo vorbereitet an die Aufgaben der Wirtſchafts politik 
zu geben, d. b. planvoll in den Gang der Wirtſchaft einzugreifen. Iwar liegen die 
Schwierigkeiten bei der Wirtſchaftspolitik nicht nur in der Erkenntnis, ſondern 
auch in der Bewertung, in der Weltanſchauung uſw. Wenn alſo die Schule an 
dieſer Stelle nicht das letzte bieten kann — wir kommen auf dieſen Punkt im 
Schlußwort noch einmal zuruck — fo vermag fie durch ihre ganze Arbeit und nicht 
nur durch die Lehre, ſondern durch die Atmoſphaͤre, immerhin zu erreichen, daß 
über die Vergeiſtigung hinaus eine Weſensvertiefung erfolgt. Die geiſtige Schu: 
lung ſoll an Stelle eines ſtarken Trieblebens, eines aufbrauſenden Gefühls, einer 
mangelnden geiſtigen Energie und Diſziplin ohne Sinn für Maß und Jahlen eine 
geiſtig bewegte Initiative ſetzen. Sie ſoll nicht nur die großen Linien zeigen, fon- 
dern auch zu einem poſitiven Wiſſen und Koͤnnen fuhren. Die Weſensvertiefung 
wird aber ein Jahr harter Arbeit und Entbehrung von ſelber bringen, indem 
dieſes Jahr ihnen nahe legt, daß aller Aufſtieg nicht die Möglichkeit eines größeren 
Cebensgenuſſes als bisher bedeutet, ſondern Überwindung erfordert, Pflicht iſt 
und die Faͤhigkeit, für eine größere Sache Opfer zu bringen. 

Ein Jahr der Ausbildung iſt zu kurz, ein zweites Jahr war von vornherein 
geplant aber zuruͤckgeſtellt worden, um zunaͤchſt Erfahrungen zu ſammeln. Not ; 
wendig iſt es; Bildung will Jeit, um reifen zu koͤnnen. Der Erfolg der Arbeit 
bängt aber nicht nur von der richtigen Durchführung des Studienjahres ab, für 
ihn iſt die Auswahl der Schüler von vornherein von groͤßter Bedeutung. Es muß 
einmal Wert darauf gelegt werden, daß der Kreis, aus dem ſich die Wirtſchafts · 
ſchuler rekrutieren, ſoweit wie moglich iſt, und daß ſich andererſeits in den Be⸗ 
mäbungen, die Wirtſchaftsſchule zu erreichen, bereits beſondere geiſtige Energien 
offenbaren. Die erfolgreiche Teilnahme am Fernunterricht von einem Jahre iſt 
des halb Vorausfegung für die Aufnahme. Über die Art des Fernunterrichts 
ſchreibt Dr. Schluͤnz, Vr. 2 der Wirtſchaftsſchulblaͤtter, „Methoden und Ziele des 
5 in Wirtſchafts fragen“, ſehr ausfuhrlich. Er geht hier auf die 

ußeren und inneren Schwierigkeiten der vorbereitenden Arbeit ein, zeigt den 
ganzen Gang der Arbeit von der Beobachtung uͤber das Studium leichter Werke 
zur volkswirtſchaftlichen Begriffsbildung. An den letzten Arbeiten, die bereits 
einige geiftige Braft vorausſetzen, entſcheidet ſich dann die Julaſſung. Eine 
aͤhnliche Ausbildung erfolgt vorher bereits in Geſchichte und allgemeiner Staats · 
lehre. Dieſer Vorkurſus macht der Schule ſelbſt viel Muͤhe, trägt aber jeden- 
falls mit dazu bei, ihr gute Bräfte zuzuführen, die den Aufwand an Arbeit, 
der vorher getan werden mußte, nachher lohnen. Mit der Weiteefübrung im 
zweiten Jahre ergibt ſich nun die ſchwierige Aufgabe einer neuen Ausleſe und 
Differenzierung. Fur fie muͤſſen erſt Erfahrungen geſammelt werden. Ein Teil der 
Schüler wird nach einem Jahre von ſelbſt an die Arbeit zuruͤckkehren, perſoͤnliche 


umſchau 317 


Verhaͤltniſſe laſſen mitunter ein weiteres Studium nicht zu, mitunter genügt ihnen 
aber auch die erhaltene Belehrung. Die Neugierde an der Wi enſchaft iſt be⸗ 
friedigt. Sie ſind dort angekommen, wo das eigentliche Studium beginnt und wo 
immer Studierende ſich ſcheiden. Sie wollen nicht weiter und koͤnnten auch kaum 
über gewiſſe Grenzen hinaus. Sie werden ſich im praktiſchen Leben mitunter 
durchaus bewähren. Sehr gerne bleibt ein anderer Teil der Schüler, der eine 
ßere Freude am Studium erhalten hat. Die Problematiker ue Freude an 
eſtimmten Fachgebieten gewonnen, die Praktiker haben eine Neigung bei fi 
ſelbſt entdeckt, den geiſtigen Grundlagen ihrer Facharbeit nachzugehen. Ein Teil 
der Schuler hat wirklich die Gabe der eigenen Arbeit. Eine Weiterfuͤhrung im zwei ⸗ 
ten Jahre wuͤrde die geſamte Keiftung der Schule ganz weſentlich heben. Die 
Alteren konnen den Neuankommenden behilflich fein und dabei ihr Wiſſen und ihre 
paͤdagogiſchen Fahigkeiten erſt recht entwickeln. Die Tätigkeit der Schule konnte 
ſich im zweiten Jahre auf weniger Vorträge beſchraͤnken, um im übrigen Zeit zu 
Ubungen und ſelbſtaͤndigen Arbeiten der Schuͤler zu gewinnen. Es iſt nicht zuviel 
erwartet, wenn dieſe Weiterarbeit im zweiten Jahr mit der Saͤlfte der Schüler des 
erſten Jahrganges als beſonders ausſichtsvoll hingeſtellt wird. Dieſe Schuler 
werden mehr als Funktionaͤre fein, fie konnten geiſtige Kraft in die Arbeiter; 
bewegung tragen und wabrſcheinlich auch an verantwortlicher Stelle das Beſte 
leiſten. Ob fie ſich zum Fuhrer eignen werden, das haͤngt nicht nur von ihren 
KAenntniſſen ab, das kann eine Schule nicht erwirken, aber fie konnten Führern 
weſentliche Silfe leiſten. Man konnte an dieſer Stelle die Differenzierung der 
Schule noch weiter ausdenken, naͤmlich überlegen, welche Wege darüber hinaus 
noch einen Teil der Wirtſchaftsſchuͤler zur Sochſchule führen. Über dieſe weiteren 
Abſichten wird Sfters geſchrieben“, aber es handelt ſich bei dem gegenwärtigen 
Stande der Dinge doch wohl mehr um Jukunftsbetrachtungen, um nicht mehr als 
Skizzen von Syſtemen. Ohne Reifeprüfung wird der Weg zur Univerfität nicht frei. 
Die jetzigen Gymnaſialkurſe find Umwege, insbeſondere für den Gewerkſchaftler. 
Fuͤr ihn müßte der Weg über Berufs · und Wirtſchaftsſchulen weitergefuͤhrt werden 
koͤnnen, wie aber, darüber möchte ich in dieſem Rahmen nicht viel Poſitives fagen. 
Jedenfalls iſt auch die andere Aufgabe viel wichtiger, zunaͤchſt einmal Grund- 
legendes zu ſchaffen, und in dieſem Beſtreben haben die Wirtſchaftsſchulen ſich 
einen feſten Platz erworben. Ju erwaͤgen waͤre hier noch die Verbindung mit der 
Akademie der Arbeit als mögliche Fortſetzung der Wirtſchaftsſchulen. Da die Aka⸗ 
demie der Arbeit keine Fachausbildung weiterführen will, ſondern eine grund⸗ 
legende Geiſtesbildung vermittelt, duͤrfte ſie bei den guͤnſtigen Bedingungen, unter 
denen fie arbeitet, auch unſeren fruheren Schülern nach der Seite ihrer Geiſtes 
bildung hin Wertvolles bieten konnen. Es würde ſich aber immer nur um einen 
1 Teil von Schülern handeln, die meiften fordern eine Fortſetzung der Fach⸗ 
ildung. 

So beenden wir unfere Arbeit in dem Gefühl, zwar in den Anfängen zu fteben, 
aber immerhin Grundlegendes getan zu haben. Die erſten ſicheren Schritte ſind 
eingeleitet. Es ergibt ſich zum Schluſſe noch einmal die Frage, die immer wieder 
bei jeder Einzelaufgabe ſich von ſelber regt, die zentrale Frage nach den treibenden 
A n diefer geſamten Arbeit, nach den letzten Beweggründen und den letzten 
Zielen. Bei der Beantwortung dieſer Frage ergeben ſich die größten Schwierig ⸗ 
keiten, wenn man eine Löfung erwartet, die eine Antwort auf die ſchweren Fragen 
unſerer Jeit und insbeſondere der Arbeiterſchaft gibt. Eine ſolche Loͤſung uͤber⸗ 
ſteigt die Krafte einer Schule und nicht nur einer Wirtſchafts ſchule, wir find der 
meinung, auch einer Sochſchule, fo beachtenswert auch deren Loͤſungsverſuche 
fein mögen. Worauf es bei unſerer Arbeit ankommt, das iſt dies, eine Bildungs · 
ſtaͤtte zu ſchaffen, in der die Arbeiterſchaft ſich heimiſch fühlt, um ibnen die ge- 
waltigen Probleme zu zeigen, die heute der Loͤſung harren und den Willen zur 
praktiſchen Mitarbeit und auch ein gewiſſes Rönnen bei ihnen zu pflegen. Die 
letzten Entſcheidungen muͤſſen den Schülern ſelbſt uͤberlaſſen bleiben. Das deutſche 


Dr. Caſſau, Gewerkſchaftsarchiv, Seft 1/3, 2. Jahrgang 25, Gewerkſchaften 
und Arbeiterbildung. 


318 umſchau 


Volk ſteht vor großen nationalen und internationalen Aufgaben, an denen auch 
die Arbeiterorganiſationen nicht voruͤber koͤnnen, vor nationalen Aufgaben der 
Sanierung unſerer Wirtſchaft, Aredit , Export · und Organiſationsfragen und 
Aufgaben der Bräftigung und Organiſation unferes Volkes zum Zwede der 
größten Leiſtungen und andererſeits vor internationalen Aufgaben, die durch die 
internationale Wirtſchaftskonferenz, die europaͤiſche Jollunion, die Zufammen- 
arbeit Deutſchlands mit anderen Landern und durch die Juſammenarbeit der 
Volker und ihre Freiheit nur andeutungsweiſe geſtellt find. Wir haben das Ge 
fuͤhl, die großen Aufgaben zu feben, aus denen der Wille gekommen ift, Bildungs · 
ftätten wie die Wirtſchaftsſchule zu ſchaffen, wir haben die Gewißheit, Schritte 
getan zu haben, die im Anfang getan werden mußten, wir freuen uns, im Leben 
zu ſtehen und unſere Sauptforge iſt, dieſe Beziehung zum Leben zu erhalten, und 
uns innerhalb der Bewegung unſerer Jeit zu ſammeln und — auszuwirken. 

Dr. 5. Seelbach, Leiter der ſtaatlichen Wirtſchaftsſchule Däffeldorf 


ie HGeimvolksho ule Linz ] Die revolutionäre Welle, die über das 
— 2 b hi T 3 alte Deutſchland dahinbrauſte und die 
in ihrem Schoß auch die Welle der Volks hochſchulbewegung trug, gebar im kleinen, 
aber kulturell hochſtehenden Reuß die Seimvolkshochſchule Tinz. Einige weit⸗ 
blickende Führer der reußiſchen Arbeiterbewegung, die über materieller Not und 
Zielen der Arbeiterſchaft ihre kulturelle Not und die grundlegende Notwendigkeit 
der kulturell · wiſſenſchaftlichen Vertiefung der Arbeiterbewegung nicht vergaßen, 
beſtimmten den revolutionaͤren „Arbeiter ⸗ und Soldatenrat“ von Reuß, aus einem 
Teil des vom Sürften abgetretenen Vermögens eine Stiftung „Volks hochſchule 
Reuß“ zu gründen, in derem Mittelpunkte eine Seimvolkshochſchule im alten 
Fuͤrſtenſchloſſe Tinz ſtehen ſollte. Tinz wurde nach dem Muſter der daͤniſchen 
Seimvolkshochſchulen aufgebaut, aber feine ſtark ausgeprägte proletariſche JIweck⸗ 
beſtimmung und fein ſozialiſtiſcher Charakter zwang von Anfang an zu gewiſſen 
Abweichungen vom nordiſchen Vorbilde. Die weitere, zeitweiſe recht bewegte Be- 
ſchichte der Schule drängte fie mit innerer Wotwendigkeit zu einer immer tieferen 
Verwurzelung in den Geiſt der ſozialiſtiſchen Bewegung, die in zwei Richtungen 
ihren ſtaͤrkſten ſichtbaren Ausdruck fand : in inniger Juſammenarbeit mit den Organi ; 
fationen der Arbeiterſchaft, die einen Teil der Schüler ſtellen und die Boften für 
ſie aufbringen, und in einem planmaͤßigen Ausbau der ſozialwiſſenſchaftlichen 
Unterrichtsgebiete und dem Wegfall aller anderen allgemein ⸗ bildenden Stoffe. 

Dennoch waͤre es falſch, Tinz als eine Parteiſchule oder gar als eine dogmatiſch 
gebundene Schule anzuſehen, wenn es auch vielfach als ſolche verſchrieen iſt. Tinz 
bezeichnet ſich und weiß ſich als ſozialiſtiſche Weltanſchauungsſchule. Die paͤdagogi⸗ 
ſche Berechtigung, als Weltanſchauungsſchule zu wirken, leitet die Tinzer Lehrer · 
ſchaft von ihrer Überzeugung ab, daß — wie es in einer Denk chrift der Schule an 
die Thüringiſche Regierung beißt — „jede Betrachtung der Weltzuſammenhaͤnge, 
insbeſondere der Vorgänge der ſozialen Welt ſich von vornherein nach gewiſſen 
ethiſch · philoſophiſchen Zielen orientiert“. Damit iſt auch im Grunde genommen 
die Scheidung zwiſchen Partei und Weltanſchauung ausgeſprochen. Die angeführte 
Denkſchrift fiebt den Unterſchied weiter darin, daß die Partei „ein politiſches Jweck⸗ 
gebilde, die Weltanſchauung Urgrund r Weſens iſt“. Und die der Schule 
bäufig vorgeworfene ſtarre Feſtlegung auf eine beſtimmte Doktrin weiſt die Denk ⸗ 
ſchrift mit folgenden Feſtſtellungen über den Charakter der Tinzer Arbeit ab: 
„Weltanſchauliche Einſtellung bedeutet nicht Feſtlegung auf beſtimmte Lehrſaͤtze. 
Die marxiſtiſche Theorie iſt bisher der Gedankenwelt des Sozialismus am meiſten 
gerecht geworden. Aber als wiſſenſchaftliche Theorie darf fie nicht eine unantaſt · 
bare Vorausſetzung des Unterrichtes fein, ſondern ſteht nur im Mittelpunkt der 
wiſſenſchaftlichen Diskuſſion und Arbeit. Sie iſt in Tinz kein Dogma, das erklaͤrt 
wird, ſondern eine Theorie, um die gerungen wird.“ 

man wird einwenden, daß dieſe Unterſcheidungen für die Arbeit des Tages zu 
ſpitzſindig, daß in ihr die Grenzen ſehr ſchwer abzuſtecken ſeien, zumal ja natürlich 
Lehrer wie Schuͤler gewohnlich beiden Sphaͤren des Lebens, einer Weltanſchau ; 
ung und einer Partei, zugleich anzugehoͤren pflegen. Damit wird aber zugegeben, 


umſchau | 319 


daß die Schwierigkeit nur eine paͤdagogiſch · pſychologiſche ſei. Sie iſt jedoch nicht 
unuͤberwindlich, auf dem Boden, auf dem fie entſteht, kann fie auch geloͤſt werden: 
auf paͤdagogiſchem. Der Lehrer muß natürlich als wiſſenſchaftlicher Menſch jede 
Erſcheinung vom Standpunkt einer gewiſſen Theorie feben. Will er ibre dogma⸗; 
tiſche Dekretierung vermeiden, ſo muß er nach Methoden der gemeinſamen Er⸗ 
forſchung der Erſcheinungen durch Lehrer und Schüler ſuchen. Die Seimvolks⸗ 
bochſchule Tinz fand bis jetzt als erfolgreichſte Methoden zur Erreichung dieſes 
Jieles: den arbeitsgemeinſchaftlichen Unterricht, Ubungsabende mit Referaten und 
Diskuſſionen, ſelbſtaͤndige ſchriftliche Arbeiten. Die Selbſttaͤtigkeit und das ſelb 
ſtaͤndige, von vorgefaßten oder vermittelten Meinungen ſich emanzipierende Denken, 
das durch dieſe Methoden gefordert werden ſoll, bleibt in Tinz kein leeres Wort. In 
lebhaften Auseinanderſetzungen innerhalb und außerhalb der Unterrichts · und 
Ubungsftunden zwiſchen Lehrern und Schülern und den Schülern untereinander 
ſpielt ſich der Rampf und die Rlärung der Meinungen ab. Um irgendein beliebiges 
Beiſpiel aus dem letzten Burfus herauszugreifen: Es wird die Arbeitszeitfrage er- 
oͤrtert. Der Lehrer wirft die Frage nach der Berechtigung und Bedeutung der Beſtre · 
bungen zur Verkürzung der Arbeitszeit auf. Man einigt ſich nach langer Debatte, in 
der, meiſt aus der Mitte der Schůlerſchaft heraus, die Frage von den verſchiedenſten 
Seiten — der volkswirtſchaftlichen, privatwirtſchaftlichen, fanitären, familiaͤren, 
kulturellen — beleuchtet wird, darauf, daß der Schwerpunkt des Problems auf der 
kulturellen Seite liegt. Aber die L&ſung befriedigt noch nicht ganz. Die Schüler 
wuͤnſchen eine weitere Rlärung der Arbeitszeitfrage im Seminar. Ein Schöler hält 
dort ein kurzes Referat, das er auf die Frageſtellung: Starrer oder elaſtiſcher Acht 
ſtundentag? zuſpitzt. Und nun ſetzt eine Diskuſſion ein, bei der — von 30 Seminar: 
teilnehmern — etwa 20 Schuler zu Worte kommen, von denen jeder einzelne die 
Frage von neuen Geſichtspunkten beleuchtet, Beiſpiele aus ſeiner Berufsſphaͤre 
anführt und neue Probleme aufwirft. Allmählich rundet ſich das Bild, und der 
Cehrer kann abſchließend, nachdem alle Argumente für und wider zur Sprache 
gekommen und gegeneinander abgewogen worden waren, die großen Geſichtspunkte, 
unter denen die Frage letztlich geſehen werden kann, zuſammenfaſſen. 

So wichtig aber das Jiel der Denkſchulung iſt, Tinz würde feinen Iweck ver⸗ 
fehlen, wenn es ſich keine anderen Jiele ſteckte. Es muß ſeine Aufgabe auch darin 
ſehen, den ungeheuren Stoffhunger zu ſtillen, der vor allem in den Organiſationen 
der Arbeiterſchaft lebendig iſt. Die gewaltigen Aufgaben, die heute dieſen Organi⸗ 
ſationen in Stadt und Staat, in Betrieb und Geſellſchaft geſtellt ſind, ſchreien nach 
menſchen mit ausgedehnten und ſpezialiſierten ſozialwiſſenſchaftlichen Kennt⸗ 
niſſen. Aber auch die jungen, vorwaͤrtsdraͤngenden Menſchen ſelbſt, die nach Tinz 
kommen, dürften nach theoretiſchen und praktiſchen Kenntniſſen, die ihnen ihre 
bisherige kaͤrgliche Elementarbildung vorenthalten hat, und deren Mangel fie auf 
Schritt und Tritt in ihrem Leben und in ibrer Arbeit bemmt. Daher muß der 
Tinzer Schule ein Lehrplan zugrunde liegen, der die wichtigſten ſozialwiſſenſchaft⸗ 
lichen Stoffgebiete, angepaßt an die Schranken eines Fuͤnfmonatskurſes, umfaßt. 
Es find im Einzelnen die Gebiete: Wirtſchaftslehre, Geſchichte, Rulturlehre (diefe 
Unterrichtsſtoffe werden von den drei hauptamtlichen Lehrern behandelt), und von 
Gaſtlehrern werden die Grundelemente des Verfaſſungsweſens, der Verwaltungs · 
kunde, des Arbeitsrechts, der Gewerkſchafts probleme und des Erzie bungsweſens 
behandelt. In Frauenkurſen, die getrennt von den Maͤnnerkurſen abgehalten 
werden, ſtehen neben den Sauptfaͤchern andere Probleme, wie Frauenfrage, Wohl. 
fahrtsfragen, Schulweſen, mehr im Vordergrunde. Überhaupt ift der Lehrplan in 
Tinz nicht ſtarr vorgeſchrieben und ein für allemal feſtgelegt, ſondern ändert ſich 
im großen wie bis in die Heinften Einzelheiten von Kurs zu Kurs je nach dem 
wechſelnden Bild des ſozialen Lebens. Die Lehrerſchaft hat ein gutes Barometer 
cn nicht nur in ihrer wiſſenſchaftlichen und ſozialen Fühlung mit der gefell- 
ſchaftlichen Umwelt, ſondern auch in den wechſelnden Beduͤrfniſſen der mit ihr in 
enger Fuͤhlung ſtehenden Organiſationen und vor allem in den Stimmungen und 
wuͤnſchen der Schälerf chaft, für die ein wichtiges Ventil in der Schulgemeinde ge · 


ſchaffen iſt. 
Die Schulgemeinde iſt naturlich mehr als ein Ventil. Sie it auch eines der wich⸗ 


320 umſchau 


tigſten Organe des Gemeinſchaftslebens. Es würde zu weit führen, an dieſer Stelle 
auf die Organiſation und die mannigfaltigen Probleme des Gemeinſchaftslebens 
in Tinz einzugehen, zumal da fie nicht allzu ſehr von denen anderer Seimvolks hoch; 
ſchulen abweichen. Wur find dieſe Fragen für eine ſozialiſtiſche Seimvolkshoch · 
ſchule des halb beſonders intereſſant und aufſchlußreich, da natuͤrlich auch in Tinz 
immer wieder Spannungen zwiſchen — ſozialiſtiſcher — Theorie und — menſch⸗ 
licher — Praxis auftreten, deren konkretes Studium am eigenen Schulleben einen 
lebendigen Anſchauungsunterricht über die pſychologiſchen Probleme des Sozia⸗ 
lis mus ermöglicht. Im großen und ganzen aber darf feſtgeſtellt werden, daß die 
ſoziale Einſicht, das ſtarke Solidaritaͤtsgefühl, die Selbſtdisziplin — die in Tinz in 
weitgehendſtem Maße die autoritäre Diſziplin erſetzt — und die pſychiſchen Ge⸗ 
meinſchaftsbande, die ſich um die Schulgemeinſchaft ſchlingen, alle Spannungen 
überwinden. 

Die SO jungen, im Alter von JS—30 Jahren ftebenden Menſchen, die aus allen 
Teilen Deutſchlands zu den Fünfmonatskurſen nach Tinz firdmen, ſetzen ſich aus- 
ſchließlich aus den Kreiſen der werktaͤtigen Bevölkerung zuſammen. Da die Be⸗ 
ſchraͤnkung auf Volksſchulbildung — allerdings zumeiſt durch die verſchiedenſten 
Bildungskurſe erweitert — zur Bedingung geſtellt iſt, ſind im allgemeinen nur 
Arbeiter — diefe bei den Maͤnnerkurſen in uͤberwiegender Jahl —, Angeſtellte und 
untere Beamte in Tinz vertreten. Sie werden ungefähr zur Saͤlfte von der Lehrer⸗ 
ſchaft ausgewaͤhlt, zur andern Saͤlfte auf Roſten der Arbeiterorganiſationen nach 
Tinz geſchickt. Trotz dieſes ſtarken und — wie ſich aus dem Geiſt der Schule und 
der Juſammenſetzung der Schuͤlerſchaft ergibt — begreiflichen und berechtigten 
Intereſſes der Arbeiterorganiſationen für Tinz wäre es aber verfehlt, anzu- 
nehmen, daß die Bedeutung von Tinz in der Seranbildung von Funktionären — 
im engeren Sinne des Wortes — für dieſe Organiſationen liegt. Tinz ſieht viel- 
mehr feine Sauptaufgabe und Sauptbedeutung darin, daß es der bildungsfaͤbigſten 
Jugend der Arbeiterſchaft den Blick zu oͤffnen, den Sorizont zu erweitern und fie 
vertraut zu machen ſucht mit den geſellſchaftlichen und kulturellen Problemen 
unſerer Jeit und der Arbeiterbewegung. Die Tinzer Schule ſteht in recht regem 
Verkehr mit einem großen Teil ihrer fruheren Schuler. Sie vermag daher am 
weiteren Verhalten und an den weiteren Schickſalen ihrer Schüler feſtzuſtellen, 
wie weit ihre Beſtrebungen von Erfolg gekrönt find. Und die Ergebniſſe dieſer 
Feſtſtellungen find im großen und ganzen durchaus erfreulich. Wenn auch naturlich 
nicht bei allen Schülern dieſe Erfolge ſichtbar — nach außen zumindeſt — ſind, 
der größere Teil von ihnen iſt anders geworden, ihr Blickfeld weiter und tiefer. Sie 
ſehen ihre Aufgabe klarer. Sie zie hen ſich nicht gruͤbleriſch in ſich ſelbſt zurück, fo 
groß auch die Verſuchung dazu nach der Fülle der in Tinz empfangenen An- 
regungen iſt, ſondern trachten weiterzuwirken, auszuſtrahlen. Und es iſt be- 
zeichnend, daß ſie zum großen Teil e Aufgabe in erzieheriſcher und bild⸗ 
neriſcher Arbeit ſehen, welchen Wirkungskreis auch immer ſie ſich außerhalb ihrer 
Berufsarbeit ſuchen, ſei es die Arbeiterbildung als ganze, ſei es die Jugend von 
Partei oder Gewerkſchaften, die Jungſozialiſten, die Kinderfreunde oder die Ar- 
beiterbewegung. So gliedert ſich Tinz nicht nur als Arbeiterbildungsſtaͤtte, ſondern 
auch als Schulungsorgan zur Arbeiterbildung in die große, für die Entwicklung 
der Arbeiterſchaft ausſchlaggebende Arbeit der Arbeiterbildungsorganiſationen ein. 

Dr. Alfred Braunthal, Leiter der Seimvolkshochſchule Tinz 


f i Die Berliner G b 
Die Berliner Gewerkſchaftsſchule f x N 55 . 


Beſtehens hinter fi. Sie war urſpruͤnglich als ein Internat gedacht, in dem 
jugendliche Arbeiter einen Studiengang bis zu drei Jahren durchmachen ſollten. 
Sehr bald zeigte ſich, daß die dazu notwendigen und anfaͤnglich in Ausſicht ge ⸗ 
ſtellten ſtaatlichen Mittel und Unterftügungen nicht hergegeben wurden. Wenn 
man nun das ganze Projekt nicht ins Waſſer fallen laſſen wollte, fo mußte in be- 
ſcheidenerer Weiſe angefangen werden. Im Fruͤhjahr 1919 begannen die erſten 
Rurfe unter dem Namen „Freie Sochſchulgemeinde für Proletarier“. Man ſuchte 
und fand Anſchluß bei dem damaligen Vollzugsrat der Arbeiter ⸗ und Soldaten ; 


umſchau | 321 


raͤte, weil er die einzige Börperfchaft war, die eine gewiſſe Uberparteilichkeit garan⸗ 

tieren konnte, da er ſich aus den Vertretern aller drei Arbeiterparteien zuſammen ; 

ſetzte. Die Anfangsſchwierigkeiten waren ſehr groß. Sie lagen nicht etwa in der 
bevollen Aufgabe, einen genügend 5 Hörerfreis zu gewinnen, der in den 

Arbeiterraͤten und fpäteren Betriebsräten bereits gegeben war. Tauſende von 
Mitgliedern dieſer Koͤrperſchaften, damals noch voll hochgeſpannter Erwartungen 
an den neuen Staat und ſeine Jukunft, warteten geradezu auf eine Schule, die 
ihnen das Sineinfinden in den neuen Aufgabenkreis erleichtern ſollte. Die Schwie⸗ 
rigkeiten lagen vornehmlich auf dem Gebiete der Stoffauswahl und der Methode. 
Es galt ein völlig neues paͤdagogiſches Gebiet zu bearbeiten. Die alten Volks ⸗ 
bildung veranſtaltungen, aber auch die fruheren Arbeiterbildungseinrichtungen, 
konnten nicht zum Vorbild genommen werden. Es kam weder darauf an, ſchoͤn⸗ 
geiſtige und philoſophiſche Probleme zu waͤlzen, noch darauf (was die Tätigkeit 
der alten Berliner Arbeiterbildungsſchule der Vorkriegszeit hauptſaͤchlich in An ; 
ſpruch genommen hatte), ausſchließlich Geſellſchaftskritik zu betreiben. Die neuen 
Aufgaben der Betriebsraͤte und der 555 erforderten konſtruktive poli- 
tiſche Fahigkeiten. Konnte man die Aufgabe, die Arbeiterſchaft zum politiſchen 
Denken zu bewegen — wenn auch nur bis zu einem gewiſſen Grade — als geloͤſt 
betrachten, ſo galt es jetzt, ſie politiſch handeln zu lehren. Dieſe Aufgabe war eine 
draͤngende geworden. Die Arbeiterraͤte 1 einen großen, ihnen noch un⸗ 
bekannten Wirkungskreis uͤbernommen. In manchen Betrieben hatten ſie damals 
ſogar ein ziemlich hohes Maß von Dispoſitionsbefugniſſen, denen fie völlig un- 
vorbereitet gegenäberftanden. Jeder Mißgriff aber mußte ſich — nicht nur in ihrer 
politiſchen Poſition, ſondern in der wirtſchaftlichen Lage der Arbeiter und An⸗ 
geſtellten ihrer Werke — nachtetlig auswirken. 

ö Von ihrer Gruͤndung bis zum Inkrafttreten des Betriebsraͤtegeſetzes und noch 
ein Jahr daruber hinaus, mußte ſich die Schule mit nur geringen finanziellen 
Beihilfen, erſt des er und ſpaͤter der ſogenannten Vereinigten Be⸗ 

triebsrätezentrale, hauptſaͤchlich aus eigenen Mitteln erhalten. Erſt nach dem 

I. Betriebsraͤtekongreß des Allgemeinen Deutſchen Gewerkſchaftsbundes im 

Jahre 1920 wurde u. a. auch in Berlin eine Freigewerkſchaftliche Betriebsraͤte · 

zentrale geſchaffen, als deren Glied die Schule endlich ein feſtes Fundament bekam. 
Bis kurz vor dem Übergang in die freigewerkſchaftliche Betriebsraͤtebewegung 

Hat die Schule noch ohne ſyſtematiſche Gliederung ihres Lehrplanes gearbeitet. 
Das bei den Vorberatungen im Winter J9J8 aufgeftellte Jiel: Proletariſche Men ⸗ 
ſchen mit den Qualitäten von Wirt ſchaftsfuͤbrern und Staats maͤnnern auszu⸗ 
ſtatten, war zu weit geſteckt, als daß es mit den gegebenen Mitteln in abſehbarer 
Jeit batte erreicht werden Fönnen. Außerdem find nicht alle Schuler gleichbegabt, 
und nicht alle haben die gleichen hohen Abſichten. Man mußte aus praktiſchen 
Gruͤnden dafür ſorgen, daß auch diejenigen, die naͤherliegende Ziele verfolgten, das 
fuͤr ihre Spesialaufgaben notwendige Ruͤſtzeug ſich in unſeren Auen erwerben 
konnten. Der aus diefen Erwägungen im Sommer 1920 aufgeftellte Lehrplan, der 
ſich in zwei Sauptgruppen, „kapitaliſtiſche“ und „ſozialiſtiſche Wirtſchafts kunde“ 
gliederte, reichte in dieſer allgemeinen Anordnung jedoch nicht aus. Deshalb ord- 
nete man ihn ſpaͤter folgendermaßen um: 


L Einfübhrungskurſe 
Soziologie des Arbeiters und der Arbeiterklaſſe. (Die Stellung des Arbeit ⸗ 
nehmers als Individuum und als Blaffe zur Geſellſchaft. Das Weſen der Befell- 
Schaft. Der Staat. Staats formen.) 


II. wirtſchaftsleben 
J. Geſtalt und Praxis der modernen Volks und Weltwirtſchaft. (Soweit zum 
Verſtaͤndnis notwendig, auch Wirtſchaftsgeſchichte, Wirtſchafts geographie und 
volkswirtſchaftliche Theorien.) 
2. Privatwirtſchaft (mit Einſchluß des Sandelsrehts und der Unternehmungs · 
formen). Betriebslehre und Arbeits wiſſenſchaft. 


Lat N Vn 22 


322 Umſchau 


IL Recht 


I. Die Stellung des Rechtes im modernen Geſellſchaftsleben an Sand der wich 
tigſten gegenwärtigen Rechtsprobleme. Rechtsbildung und Rechtsentwicklung. 

2. Das moderne Arbeitsrecht (ein ſchließlich der Juſammenhaͤnge mit dem burger ⸗ 
lichen Recht) im Sinblid auf die Anwendung in der Praxis des Betriebes und der 
Organiſation. 

3. Betriebsraͤteweſen und Betriebsraͤtegeſetz. 


IV. Ge werkſchafts we ſen 


Die Gewerkſchaft als Berufs · und Alaſſenorganiſation. Ihre Stellung zum 
Staat und zur Wirtſchaft, Gewerkſchaften als ſozialpolitiſches Inſtrument der 
Arbeiterſchaft. Gewerkſchaftliche Jeit⸗ und Streitfragen. 


v. Rulturprobleme der Arbeiterſchaft 


Die Arbeiterklaſſe als Aulturfaktor. Ihr Aufſtieg und die Frage der Beherr⸗ 
Be und Überwindung gegenwaͤrtiger Bulturinbalte. Rulturelle Gegenwarts · 

agen und Arbeiterſchaft. Erziebungsprobleme. 

Gleichzeitig wurde eine Staffelung des Lehrplanes durchgefuͤhrt, deren Unter- 
ſtufe durch eine Reihe parallellaufender Einfuͤhrungskurſe gebildet wurde, und 
deren Mittelſtufe die vorſtehend unter II- aufgefuͤhrten Sachgebiete umfaßte, 
die ſich jeweils in eine Reihe von aufeinanderfolgender Rurfe aufteilte. Die Ober · 
ſtufe wurde durch Seminare dargeſtellt, in denen der Wiſſensſtoff der Mittelſtufe 
durch praktiſche Ubungen wiſſenſchaftlich fundiert und unterbaut werden ſollte. 
Tabe llariſch ſtellte ſich dieſer Plan, in einem beſtimmten Unterrichtsabſchnitt — Srüäb- 
jahr 1924 — fo dar, wie nebenſtehende Tabelle zeigt. 

In dieſer Form wurde die Arbeit der Schule mit gewiſſen Modifikationen an- 
naͤhernd über drei Jahre hinweg durchgefuͤhrt. Die dem wirtſchaftlichen Ju⸗ 
ſammenbruch des Jahres 1923 folgenden, z. T. pſychologiſch begruͤndeten Ereigniſſe 
in der Arbeiterbewegung zeigten aber mit aller Deutlichkeit, daß auch die ſe Gliede ; 
rung noch nicht endgültig fein durfte. Es ſtellte ſich heraus, daß die Arbeiterſchaft 
im allgemeinen, aber auch ein großer Teil unſerer Schüler im beſonderen, weit 
gehende Ermuͤdungserſcheinungen und deshalb Neigung zeigten, allen Lehr · und 
Arbeitsgebieten aus dem Wege zu geben, die eine ſtarke geiſtige Konzentration 
und eine enge Einſtellung auf konkrete Ziele verlangten. Sie beſchaͤftigte ſich lieber 
mit Fragen, die vSllig abfeits von den ſchwer zu meiſternden Problemen der Jeit 
lagen. Dies machte ſich bei uns u. a. dadurch bemerkbar, daß alle volkswirtſchaft 
lichen und betriebswirtſchaftlichen auch arbeitsrechtlichen BRurfe einen ſtarken 
Sörerrüdgang erlitten, wohingegen die kulturpolitiſchen Lehrgaͤnge einen ſtarken 
Aufſchwung nahmen. Darüber hinaus charakteriſierte ſich der geiſtige Jug jener 
Jeit wohl am beſten dadurch, daß allerhand Afterwiſſenſchaften, Spiritismus, 
. und aͤhnliche Dinge, zu keiner Zeit eine ſolche Blute erlebt haben, 

damals. 

Andererſeits ergab ſich gerade aus den politiſ "de und wirtſchaftlichen Derpält- 
niſſen für die Arbeiterorganiſationen die Aufgabe, nun erſt recht und in noch viel 
ſtaͤrkerem Maße als bisher, die Mitglieder und Funktionaͤre zu einer Fühlen, ver- 
ſtandesmaͤßigen Beurteilung der Jeitereigniſſe und ihres Ablaufes zu erziehen. 
Sinzu kam ferner die Notwendigkeit, für die kommende kriſenſchwangere Jukunft 
Menſchen mit 8 politiſchem und gewerkſchaftlichem Ruͤckgrat zur Verfuͤgung 
zu haben. Im Strudel des Serbſtes 1923 und in den erften Monaten der Stabili- 
ſierungskriſe war natürlich nicht daran zu denken, durchgreifende Anderungen zu 
vollfuͤhren. Sobald aber die Verhaͤltniſſe durchſichtig genug geworden waren, 
mußte hieraus die Bonfequenz gezogen werden. Es galt erſtens, das verloren 
gegangene Intereſſe für die der Arbeiterſchaft naheliegenden Wirtſchaftsfragen 
wieder zu erwecken und zweitens den Lehrplan der Schule ſo zu geſtalten, daß ein 
bloßes Serumnaſchen an dieſen oder jenen Wiſſensgebieten unmdglih gemacht 
wurde, alfo eine gewiſſe Iwangslaͤuſigkeit des Studiums zu erreichen. Andererſeits 
durfte man nicht vergeſſen, daß ein verhaͤltnismaͤßig großer Teil der Funktionaͤre 
und Mitglieder der Gewerkſchaften, ſich für ein ſyſtematiſches und langfriſtiges 


323 


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Umſchau 


324 umſchau 


geiſtiges Arbeiten uberhaupt nicht eignet und zum anderen Teile auch infolge 
der Belaſtung mit praktiſcher Organiſationsarbeit zeitlich an der regelmäßigen 
Wahrnehmung von Unterrichtsabenden behindert iſt. Unter grundſaͤtzlicher Bei⸗ 
bebaltung des Dreiſtufenſyſtems wurde nunmehr eine weitere Neuordnung vor- 
genommen. Die Einfuͤhrungskurſe blieben beſtehen, ebenſo die Seminare. Die 
Mittelſtufe wurde von nun ab nicht mehr in fuͤnf oder ſechs aufeinanderfolgende, 
oder parallel geſchaltete Burfe zerlegt, ſondern zu einer einzigen Arbeitsgruppe zu⸗ 
ſammengefaßt. Schüler, die beiſpielsweiſe im Oktober 1924 in eine Arbeitsgruppe 
der Mittelſtufe eintraten, arbeiteten, möglihft ohne Lehrerwechſel, bis zum Ein ; 
tritt der allgemeinen Urlaubsperiode, d. b. bis Ende Juni, wobei der Kurs nur 
durch die notwendigſten Weihnachts · , Oſter⸗ und Pfingſtferien unterbrochen wird. 
Bis dahin wird die Gruppe als Anfaͤngergruppe geführt. Im Oktober desſelben 
Jahres tritt die Arbeitsgruppe nunmehr als Fortſchrittsgruppe erneut zuſammen. 
Sie kann unter Umſtaͤnden durch neue, bereits vorgebildete Hörer ergänzt werden 
und arbeitet noch einmal von Oktober bis Juni weiter. Auf dieſe Weiſe wird, mit 
einer Unterbrechung von rund drei Monaten, ein etwa 20 Monate waͤhrender ge⸗ 
ſchloſſener und ſyſtematiſch aufgebauter Lehrgang geſchaffen, der immerhin ſchon 
eine ziemlich weitgehende wiſſenſchaftliche Durcharbeitung des in Frage ſte henden 
Cehrgebietes geſtattet. Die befaͤhigſten Schüler einer ſolchen Fortſchritts · Arbeits 
geuppe werden am Schluß des zweiten Lehrganges in die Oberſtufe, in das Semi- 
nar uͤbergefthrt, um dort noch einmal ein bis zwei Jahre hindurch an Sand von 
praktiſchen Ubungen und eigenen ſchriftlichen und mündlichen Arbeiten einer ge⸗ 
wiſſen Schlußausbildung entgegengefübrt zu werden. 

Aber auch für die oben bezeichnete zweite, für ſyſtematiſche, langfriſtige Arbeit 
nicht geeignete Gruppe von Schülern mußte geforgt werden. Dies geſchieht jetzt 
durch die ſogenannten „Verbandskurſe“ der Berliner Gewerkſchaftsſchule. Wir 
hatten die Beobachtung gemacht, daß ein großer Teil von ehrenamtlich und haupt ; 
amtlich tätigen Funktionaͤren nicht nur aus Jeitmangel die dargebotene Bildungs; 
möglichkeit ignorierten, ſondern auch einfach des halb, weil fie zwar einen engen per- 
ſoͤnlichen Kontakt zu ihrer eigenen Organiſation, jedoch nicht zu den ihr Abergeorb- 
neten ortlichen Jentralen befaßen. Es war uns klar, daß dieſer Teil der Gewerk · 
ſchafter einem direkten Rufe des eigenen Verbandes viel eher Folge leiſten wurden 
als den Proſpekten, die ihnen von uns ins Saus flatterten. Es zeigte ſich, daß dieſe 
Überlegung richtig war. Wir haben für die einzelnen Verbände eine Reihe von 
Aurſen veranftaltet, die jeweils nach Cage der Verhaͤltniſſe nur für eine be 
ſtimmte Gruppe von Funktiondͤren oder für den geſamten Areis der Vertrauens 
leute oder auch für beſtimmte Mitglieder ⸗Sektionen abgehalten wurden. Natur · 
gemäß umfaßten diefe Lehrgaͤnge vorwiegend gewerkſchaftliche Fragen der ver- 
ſchiedenſten Art, aus denen folgende drei Themen hervorgehoben ſein moͤgen: 

J. Gewerkſchaftliche Organiſations probleme. Unternehmerverbaͤnde 
und Arbeiterorganiſationen. — Grganiſationsformen der Arbeitnehmer: In ; 
duſtrie Verband, Berufs ⸗ Verband. — Einheits organiſation. — Horizontale und 
al Gliederung der Wirtſchaft und die Gliederung der Gewerkſchafts · 

ewegung. 

2. Die Praxis des Gewerkſchaftsfunktionärs. Der Funktionär im Be⸗ 
triebe und in der Organiſation. Gewerkſchaftliche Außenarbeit. — Berichterſtat · 
tung. Redetechnik. — Schrift · und Protokollfuͤhrung. — Verſammlungsleitung. 

3. Die geiſtigen Grundlagen der gewerkſchaftlichen Agitation und 
Aufklärung. Die geiſtig · ſeeliſche Verfaſſung der modernen Lohnarbeiter · und 
Angeſtelltenſchaft und ihre Bedingungen. — Gewerkſchaftliches Leben und ge 

E Innenpolitik. — Agitation. 

Darüber hinaus wurden allerdings auch noch nationalokonomiſche und ſozial⸗ 
politiſche Fragen behandelt. 

Die Berliner Gewerkſchaftsſchule umfaßt ſomit jetzt zwei Abteilungen: 

J. Die Gewerkſchaftsſchule im engeren Sinne, mit ihrem auf weite Sicht ab- 
geſtellten Lehrplan und 

2. Die Verbands ⸗Sonderkurſe. . 

Nach dieſem Syſtem wird zur Zeit im zweiten Jahre gearbeitet. Dabei hat ſich 


umſchau 325 


vor allem gezeigt, daß die dreimonatige Unterbrechung der Arbeitsgruppen der 
Mittelftufe keineswegs zu der von manchen Mitarbeitern befürchteten Schüler- 
ab wanderung gefuhrt hat. Bis auf wenige Ausnahmen find faſt alle Arbeits ⸗ 
ge meinſchaften ziemlich vollzaͤhlig wieder zuſammengetreten, um ihr zweites Se⸗ 
meſter zu abſol vieren. Die zahlreichen Verbandskurſe ftellen zugleich ein gutes Re · 
ſervoir dar, aus welchem den Einfuͤhrungskurſen und Arbeitsgruppen ftändig 
neue, ſchon vorbereitete Schüler zugeführt werden koͤnnen. 

Die beſondere Bedeutung der Berliner Gewerkſchaftsſchule und ihre Rolle im 
Rahmen des Arbeiterbildungsweſens kann ungefähr folgendermaßen umriſſen 
werden: Sie iſt der erſte ernſthafte und bisher gelungene Verſuch, das ſchmale 
Silfsmittel des Abendkurſes zu einem ernſthaften Bildungsinſtrument auszu- 
geſtalten. Ernſthaft inſofern, als ſie durch ihren ganzen Aufbau und durch die 
Staffelung ihres Lehrplanes eine allerdings langfriſtige aber gruͤndliche und ge- 
haltvolle nationalòtfonomiſche, ſozialpolitiſche und gewerkſchaftliche Durchbildung 
ermöglicht. Dabei mag noch hervorgehoben werden, daß die dem Abendunterricht 
vielfach nachgeſagte Gefahr der Zalbbildung durch eine aus der langen Dauer der 
Ausbildung ſich ergebende Ausleſe der Schüler faſt völlig ausge ſchaltet wird. Ihre 
beſondere Note wird auch noch dadurch betont, daß ſie eine ausgeſprochen ſoziali⸗ 
ſtiſche Schule iſt und ſowohl finanziell als auch ideell nur von den beiden gewerk⸗ 
ſchaftlichen Spitzenkoͤrperſchaften, dem Ortsausſchuß Berlin des Allgemeinen 
Deutſchen Gewerkſchaftsbundes und dem Ortskartell Berlin des Allgemeinen 
freien Angeſtelltenbundes, erhalten wird. Sie lehnt eine Verbindung mit den an- 
deren Gewerkſchaftsrichtungen bewußt ab und würde auch jede ſtaatliche Unter⸗ 
ſtůͤtzung, ſelbſt wenn ſie ihr erteilt würde, ablehnen, ſobald ſich daraus irgend- 
welche richtungs maͤßigen Bonzeffionen ergeben koͤnnten. 

Jede ernſthafte Wiſſenſchaftlichkeit wird immer, ganz gleich von welchen welt⸗ 
anſchaulichen Geſichtspunkten ſie auch ausgeht, ein Söchſtmaß von parteipolitiſcher 
Vorausſetzungsloſigkeit beſitzen. Sie darf weder in der Forſchungs ⸗ noch in der 
Cehrtaͤtigkeit den Wunſch zum Vater des Gedankens machen. Aber jede gewollte 
und zur Schau getragene weltanſchauliche Neutralitaͤt verhindert den Lehrer, 
fein Beſtes zu geben: feine Überzeugung. Solche „Neutralität“ gibt es nicht. Wo 
fie zur Schau getragen wird, bedeutet fie entweder nur eine Seuchelei oder aber 
— vorausgefegt, fie 1 ehrlichem Beſtreben — fie führt eine Entgeiſti⸗ 
gung der Erziebung herbei, weil ſie ihr die wichtigſte paͤdagogiſche Grundlage 
raubt, den innigen ſeeliſchen Kontakt zwiſchen Lehrer und Hörer. 

Die Erfahrungen der Schule ſind, ſoweit ſie ſich bis heute überblicken laſſen, 
ausſichtsreich. Sie hat in den Jahren 1921 bis Juni 1925 rund J5500 Schüler ge- 
habt, die im ganzen mehr als 500 Burfe beſuchten. Doppelzaͤhlungen von Soͤrern, die 
mehrere Burfe zur gleichen Jeit beſuchten, fallen bei dieſer Angabe nicht beſonders 
ins Gewicht, weil die Schuler von jeher angehalten wurden, ſich mit dem grund; 
lichen Studium nur eines Lehrganges zu begnügen. Wur ausnahmsweiſe iſt der 
Beſuch eines zweiten oder gar eines dritten Lehrganges empfohlen und geftattet 
worden. Der Durchſchnittsbeſuch der Kurſe beträgt ungefaͤhr 30, der Mindeſt · 
beſuch J5. Unter J5 Teilnehmern werden Lehrgänge nur in Ausnahmefaͤllen 
durchgeführt. Abgeſehen von dieſen aͤußeren Dingen laſſen ſich die Ergebniſſe der 
Arbeit natuͤrlich ſchwer feftftellen, weil ein Prufungsſyſtem von uns grundſaͤtzlich 
abgelehnt wird. Es zeigt ſich aber, daß der Funktionaͤrkoͤrper der Berliner Ge⸗ 
werkſchaften, trotz aller Schwierigkeiten und trotz mancher politiſchen Verſtim⸗ 
mung in den letzten Jahren ſich qualitativ im ſtaͤndigen Aufſtieg befindet. Daß 
dazu nicht allein die ee beigetragen hat, mag als felbftverftändli voraus · 
geſetzt werden, andererſeits beftätigen uns die Mitteilungen der Organiſations · 
leitungen und die perſoͤnlichen Beobachtungen einer ganzen Reihe ehemaliger 
Schuͤler, daß die von uns geleiſtete Bildungsarbeit ihre guten und weitreichenden 
Erfolge zeitigt. Fritz Fricke, Leiter der Berliner Gewerkſchaftsſchule 


1 i Waͤhrend bis zum Kriege die Frage 
Die Wirtſchafteſchule Leipzig der Ausbildung der Bräfte, denen 


Fuͤhrung und Organiſation der in die Wirtſchaft einbezogenen Menſchen an⸗ 


326 Umſchan 


vertraut war, nur dieſe Menſchenkreiſe ſelbſt beräbrte und die große Jahl der 
ſtaatlichen Bildungsinſtitute aus e e und geſellſchaftlichen Gruͤnden 
den Führern der breiten Schicht der arbeitenden Bevoͤlkerung in der Regel ver- 
ſchloſſen blieb, begannen nach der Revolution ſowohl der Staat wie faft alle an · 
deren öffentlichen Geſellſchafts körper ihr Intereſſe der Frage der Ausbildung 
dieſer „Funktionaͤre“ zuzuwenden. Naturgemäß fehlte es nicht an Stimmen, die 
von Anfang an jede Mitwirkung des Staates an der Ausbildung von „Intereſſen ; 
vertretern“ ablehnten. Aber dieſe engſtirnige Auffaſſung konnte der nüchternen 
Erkenntnis nicht ſtandhalten, daß nun einmal tatſaͤchlich eine ganze Reihe von 
„Funktionären“ des arbeitenden Volkes teils durch Geſetz, teils infolge der poli- 
tiſchen Machtverteilung zur Mitarbeit an öffentlichen und halböffentlichen An⸗ 
gelegen heiten berufen wurde. Die notwendige Folgerung aus dieſer Erkenntnis, 
daß wenn dieſe Menſchen oͤffentliche Funktionen zu vollziehen hatten, es auch im 
offentlichen Intereſſe lag, fie dafuͤr zu ſchulen, mußte gezogen werden. So ent ⸗ 
ſtanden unter Mitwirkung von Reich, Ländern und Gemeinden neue Bildungs ⸗ 
ftätten, die ihrem ganzen Charakter nach in der Mitte ſtehen mußten zwiſchen alten 
sun chafts · und Parteiſchulen und rein ſtaatlichen Bildungsinſtitutionen alten 

t es. 

Es bleibt ein dauerndes Verdienſt des ehemaligen preußiſchen Sinanzminifters 
Cuͤde mann, zunaͤchſt die Errichtung der Frankfurter Arbeiterakademie im weſent · 
Lo geſichert und ſpaͤterhin die Errichtung der Wirtſchaftsſchulen in Berlin und 
Duͤſſeldorf durchgeſetzt zu haben. In engem Anſchluß an Lehrplan und Lehr ⸗ 
methode der ſtaatlichen Schulen, vor allem der Berliner, deren Lehrplan als der 
ältefte direkt oder indirekt die Ausgangsform faft aller anderen Lehrplaͤne wurde, 
entſtanden in einer Reihe von Städten Einrichtungen, die ahnliche Ziele ver ⸗ 
folgten. Nach dem Muſter der Berliner Wirtſchaftsſchule wurde insbeſondere die 
Wirtſchaftsſchule Leipzig ausgebaut. Allerdings beſteht ein grundlegender Unter; 
ſchied. Während die Schuͤler der ſtaatlichen Schulen für die Dauer des Lehr ⸗ 
ganges, der ſich gewohnlich auf ein Jahr erſtreckt, aus dem Berufsleben heraus · 
genommen werden, fo daß fie ganz ihrer eigenen Ausbildung leben konnen, da 
zumeiſt Gewerkſchaften, Staat und Gemeinden für ihren Unterhalt Sorge tragen, 
bleiben die Schüler der Leipziger Wirtſchaftsſchule in ihrer Berufsarbeit und 
treten nur dreimal in der Woche entweder am früben Morgen oder am Abend 
zwei Stunden zu gemeinſamer geiſtiger Arbeit zuſammen. Ihr Lehrgang dehnt ſich 
dadurch auf drei Jahre aus. Es liegt auf der Sand, daß beide Formen ihre Vorteile 
und ihre Nachteile haben. Wenn es auch vor allem wirtſchaftliche Erwaͤgungen 
waren, die Leipzig auf die Errichtung einer Ganztagsſchule verzichten ließen, ſo 
ſprechen doch auch wichtige innere Grunde für dieſe Schulform. Seller, der im 

erbſt 1922 die Schule ins Leben rief, ſagt darüber: „Paͤdagogiſch ... iſt der Vor⸗ 
teil der hier beſchriebenen Einrichtung darin zu fuchen, daß der der Denkarbeit un ; 
gewohnte Soͤrer nicht mit Stoff überlaftet wird, Zeit zur Verdauung zwiſchen den 
einzelnen Stunden und uͤberdies die Möglichkeit hat, die durch reine geiſtige Durch · 
bildung notwendig und immer entſtehende Spannung zwiſchen ihm und feinen 
Berufsgenoſſen jeden Tag an feinem Arbeitsplatz wieder auszugleichen.“! Das hat 
ſich fuͤr die 5 durchaus bewahrheitet, waͤhrend die Abendkurſe, vor 
allem nach Verlängerung der Arbeitszeit, unter manchen Unregelmaͤßigkeiten zu 
leiden haben. Wach den Erfahrungen, die der Verfaſſer ſelbſt als Leiter der Ber⸗ 
liner und der Leipziger Wirſchafts ſchule machte, muß im ganzen aus paͤdagogiſchen 
Grunden doch der Form der Ganztagsſchulen der Vorzug gegeben werden, da ſie 
ſchaͤrfere Bonzentration und eingehendere eigene Arbeit auch außerhalb der 
Unterrichtsſtunden moglich macht, wenn auch aus wirtſchaftlichen Grunden nur 
die Leipziger Form mit einer großeren Verbreitung rechnen kann. Sehr erſchwerend 
fällt für die praktiſche Durchfuhrung die Wotwendigkeit ins Gewicht, den Lehr⸗ 
gang Aber drei Jahre auszudehnen. Mancher, der ſonſt ſehr wohl die Voraus · 
ſetzungen für den Schulbeſuch erfüllte, wird durch die Bindung für diefe lange 
Je it abgeſchreckt. 


* Sermann Seller: Freie Volksbildungsarbeit. Leipzig 1924. S. 42. 


umſchau 327 


Im Lehrplan iſt die Leipziger Schule nicht ſehr weſentlich von der Berliner 
Fachſchule für Wirtſchaft und Verwaltung unterſchieden. Nur iſt die ſtaͤrkere Ju⸗ 
ſammenziehung auf wenige Facher, die ſich auch in Berlin am Ende des zweiten 
Schuljahres immer deutlicher als notwendig erwies“, in Leipzig folgerichtig durch · 
gefuhrt. Der Lehrplan für den ſich über drei Jahre erſtreckenden Lehrgang hat 
beute etwa folgendes Ausſehen: 
I. Salbjabr: Wirtſchaftslehre, Arbeitsrecht, Betriebslehre. 
2. Salbjahr: Wirtſchaftslehre, Arbeitsrecht, Geſchichte der Gewerkſchaften. 
3. Salbjahr: Wirtſchaftslehre, Arbeitsrecht, Staatslehre (Verfaſſung des 
Reiches und Sachſens). 

4. Salbjahr: Wirtſ lehre, Arbeitsrecht, Rommunal politik. 

S. Salbjahr: n lehre, Einfuhrung in die Rechtswiſſenſchaft, Bilanz 
u 


nde. 

6. Salbjabr: Juſammenfaſſende, wiederholende Beſprechungen. 

Die Leipziger Wirtſchaftsſchule unterſteht einem Vorſtand, der ſich zuſammen⸗ 
ſetzt aus Vertretern der Stadt, des Landes Sachſen, der Univerſitaͤt, des Ge · 
werkſchaftskartells, der Angeſtelltenorganiſationen, der Lehrer und der Schüler 
der Wirtſchaftsſchule. Die Leitung liegt in der Sand des Leiters der Volks hoch; 
ſchule, der zugleich das Volksbildungsamt der Stadt führt. Als Schüler kann jeder 
Wienf aufgenommen werden, der den ernſten Willen und die Fähigkeit zu plan ⸗ 
mäßiger mehrjaͤhriger Bildungsarbeit hat. Die Schule hat im Sommer 1925 ihren 
erſten dreijaͤbrigen Lehrgang beendet, der durch aͤußere Umſtaͤnde, durch Wechſel der 
Ceitung und der Lehrer die Anfangs ſchwierigkeiten, die jedem neuen Verſuch ent- 
gegenſtehen, beſonders hart zu ſpuͤren bekam. Von den 44 Schülern des Morgen · 
lehrganges, die bei Beginn aufgenommen wurden, waren am Ende des 3. Salb ; 
jahres noch 12, am Ende des Lehrganges noch JO als regelmäßige Teilnehmer 
übrig geblieben. Der Abendlehrgang, der anfangs 47 Teilnehmer umfaßte, ſ 1 
bis zum Ende des 3. Salbjahres auf Is und bis zum Ende des 3. Jahres au 
8 Schüler zufammen. Die Teilnehmer beider Rurfe, die bis zum Schluß mit ⸗ 
gearbeitet haben, treffen ſich auch weiterhin alle 14 Tage zu einem Ausſprache⸗ 
abend. Ein im Movember 1925 neu erdffneter Abendlehrgang wird von 34 Teil ⸗ 
nehmern befucht, die Eröffnung eines neuen Morgenlehrganges iſt für den Som ⸗ 
mer 1926 geplant. 

Die Leipziger Wirtſchafts ſchule iſt ebenſo wie die anderen Wirtſchaftsſchulen 
eine ausgeſprochene Jweckſchule. Als die Aufgabe der Berliner Fachſchule für Wirt- 
f und Verwaltung wurde feinerzeit feftgelegt: „Perſonen beiderlei Ge⸗ 
ſchlechts, die mindeſtens eine abgeſchloſſene Volksſchulbildung genoſſen und bereits 
längere Zeit im Berufsleben geſtanden haben, die Grundlagen einer wirtſchaft 
lichen, rechtlichen und ſozialen Bildung zu vermitteln, um ſie für die Verwaltung 
wirtſchaftlicher und ſozialer Angelegenheiten im öffentlichen und privaten Dienſt 
vorzubereiten.“ Die Leipziger Schule wendet ſich nicht nur an „Funktionaͤre“ ſon⸗ 
dern an noch weitere Areiſe der Arbeiter, Angeſtellten und Beamten, da fie von 
der Erkenntnis ausgeht, daß die Beauftragten dieſer Gruppen nur dann ihren 
Aufgaben gerecht werden konnen, wenn fie innerhalb ihrer Gruppe Ruͤckhalt und 
Verſtaͤndnis finden bei Menſchen, die in ahnlicher Weiſe wie fie Einblick in die ge · 
Ec dem 8 Juſammenhaͤnge haben. 

n dem Bericht an das Kuratorium der Fachſchule, in dem der Keiter beim 
Scheiden aus dem Amt die Erfahrungen der erſten beiden Schuljahre zuſammen ; 
faßt, beißt es: „Es iſt unmoglich, das geſamte Wiſſen unſerer Jiviliſation auch nur 
auf dem Gebiet der Geſellſchaftswiſſenſchaft in einem Jahr auf den Schuͤler zu 
uͤbertragen und ſinnlos, aus dieſem Geſamtwiſſen eine bunte Auswahl zu geben. 
Das Ziel der Schule kann nur die Vermittlung eines geſchloſſenen Bildes der be ⸗ 
ſtehenden Wirtſchaft und des herrſchenden Arbeitsrechtes fein. In bewußter Be⸗ 
ſchraͤnkung darauf ift alles andere als Webenſache zu behandeln. — Die Erfah⸗ 
rungen der zwei Schuljahre haben gezeigt, daß bei ſtraffer Juſammenfaſſung auch 
mit ſehr verſchiedenartigen, ungleich begabten Schuͤlern Gutes erreicht werden 
kann. Bei einem weiteren Ausbau der Schule erſcheint noch ſtaͤrkere Ronzentra- 
tion auf die beiden Sauptfaͤcher und in den beiden Sauptfaͤchern wüͤnſchenswert. 


328 umſchau 


Es ſei ganz beſonders unterſtrichen, daß der Lehrgegenſtand der Wirtſchafts · 
ſchule das Wiſſen um dieſe Geſamtzuſammenhaͤnge iſt. In engem Anſchluß an 
eine ganz falſche Vorſtellung von der Auswirkungsmoͤglichkeit des Betriebsraͤte⸗ 
geſetzes iſt in weiten Kreiſen die Anſchauung herrſchend geworden, daß die naͤchſte 
und dringendſte Au Babe der Bildung des Arbeiters dahin gebt, ihn mit den Auf- 
gaben der Betriebsfuͤhrung, inſonderheit ihrer kaufmaͤnniſchen Seite, vertraut zu 
machen. Auch der Betriebsrat hat indeſſen praktiſch weder die Aufgabe noch die 
möglichkeit, ſich mit der Betriebsführung zu befaſſen. Er iſt der Vertreter der 
Arbeiterintereſſen im Betrieb, und um dieſe richtig zu vertreten, braucht er viel 
notwendiger ein geſchloſſenes Flares Geſamtbild von der Wirtſchaft als die Rennt- 
niſſe eines „bilanzſicheren Buchhalters “. Der Betriebslehre und der Bilanzkunde 
iſt daher 2 in dem une Lehrplan nur ein beſcheidener Platz eingeräumt®. 
Dagegen follen nach den KLeitfägen der Wirtſchaftsſchule „die Teilnehmer ein ge- 
ſchloſſenes Geſamtbild von unſerer Wirtſchaft, dem herrſchenden Arbeitsrecht und 
der ſtaatlichen Organiſation in Reich, Landern und Gemeinden gewinnen”. Im 
Vordergrunde ſteht alſo die Ubermittelung eines beſtimmten Wiſſens. Dahinter 
ftebt naturgemäß wie im ganzen Schulbetrieb der Gegenwart die Abſicht der 
Schulung des ne Die Schule verzichtet dagegen ganz bewußt auf alle 
Verſuche der „Perſönlichkeitsbildung“ und Entfaltung der Schüler zu „Voll⸗ 
menſchen “. Ganz abgefeben davon, daß bierfür Zeit und Kraft nicht ausreichen 
und es ſinnlos erſcheinen muß, erwachſene Menſchen, die das Leben bereits in 
ſeine Jange genommen hat, durch eine Schule umformen zu wollen, kann als 
boͤchſtes Ziel, das binter allem aͤußeren Iweck ſteht, für eine Schule, die ſich in 
erſter Linie an die Intereſſen vertreter des arbeitenden Volkes der Großſtadt wen · 
det, niemals Entfaltung von Einzelmenſchen fteben. Das leitende Ziel kann nur 
ein geſellſchaftliches ſein. Auch die mit großer Gebaͤrde vorgetragene Behauptung, 
daß nur der „Vollmenſch“ der Geſellſchaft und auch ſeiner Geſellſchaftsſchicht 
wertvolle Dienſte leiſten konne, und daß darum eine Schule die Ausbildung von 
Vollmenſchen ſich zum Ziel ſetzen muͤſſe, kann nicht darüber hinwegtaͤuſchen, daß 
tatſaͤchlich in Arbeiterſchulen dieſes hohe Ziel nur ein Verlegenheitsvorwand iſt, 
weil man ein geſellſchaftliches Ziel nicht ſetzen will oder kann. In Wahrheit bleibt 
dann die Arbeiterſchule uberhaupt ohne Ziel, das letzten Endes doch hinter dem 
naͤchſten praktiſchen Jweck die Auswahl des Wiſſensſtoffes beherrſchen und vor 
allem den Willen der Teilnehmer auf ſich ziehen und damit an Bräfte ruͤhren ſoll, 
die viel entſcheidender als alle intellektuelle Ausbildung die Lebensrichtung der 
Menſchen beſtimmen. Es iſt eine ganz falſche Anſchauung von Neutralitaͤt, wenn 
verlangt wird, daß Einrichtungen, an denen Staat oder Gemeinde beteiligt ſind, 
überhaupt nicht unter einem einheitlichen Jielgedanken fteben durfen, ſondern ihre 
Schüler dem Einfluß jeder Jielſetzung entziehen, d. b. praktiſch alle beliebigen 
Willensrichtungen auf ſie wirken laſſen ſollen. Mit gutem Recht ſteht vor allem der 
Arbeiter ſolchen ganz zu unrecht als „neutral“ bezeichneten Bildungseinrichtungen 
ſehr zuruͤckhaltend gegenüber. Erſte Forderung an alle Bildungsarbeit iſt da, wo 
fie ib an Erwachſene wendet, noch viel gebieteriſcher als da, wo fie dem Rinde 
gilt, alle die ſchoͤpferiſchen Krafte, die ſich regen, nicht unter einen fremden Willen 
zu ſtellen und dadurch zu verbiegen, ſondern Sorge zu tragen, daß ſie in ihrer 
eigenen Willensrichtung ungeſtoͤrt wachſen konnen. Darum muß ſich jede Bildungs; 
einrichtung, die einer Volksſchicht wahrhaft dienen will, der Grundrichtung des 
Willens dieſer Schicht einfügen und fremde Einfluͤſſe fern halten. Nicht durch 
fremde Brille, ſondern mit eigenen Augen, vom eigenen Standpunkt aus ſoll der 
Arbeiter, der Angeſtellte, der Beamte Wirtſchaft, Recht und Staat ſehen lernen. 
Die Schule ſorgt nur dafur, daß fein Blick gend end frei und ſein Standpunkt 
genuͤgend hoch werde, damit er das Ganze uͤberſchauen kann. 


Prof. Dr. P. Ser mberg, Leiter des Volksbildungsamtes der Stadt Leipzig 


Der Verf. bat dieſe Anſicht näber begründet im „Aulturwillen“, J. Sept. 1925, 
S. J88 ff. „Die wirtſchaftliche Schulung der Betriebsräte.” 


Umſchau 329 


3 
Die Leipziger Volkshochſchulheime In . 49 3 a 


beime, deren aͤußere Geſtalt mit wenigen Worten durch folgendes ie 
wird: In einer Vier ⸗ bis Sechs · Zimmerwohnung leben acht bis zwoͤlf junge Sand ⸗ 
arbeiter im Alter von uber achtzehn Jahren durch zehn Monate hindurch mit zwei 
Ropfarbeitern zuſammen. Untertags gehen die Zandarbeiter ihrer Berufsarbeit 
nach und beſtreiten die Roften des Seimes im weſentlichen aus ihrem eigenen 
Arbeits verdienſt. Iwei oder drei Abende find der 5 Bildungsarbeit ge 
widmet, an welcher auch einige Außenſchuͤler teilnehmen. Die Bildungsſtoffe ge · 
bören dem Gebiete der Volkswirtſchaftslehre, Politik und allgemeinen Kultur- 
lehre eg der engen Lebensgemeinſchaft erwaͤchſt eine umfaſſende Bildungs · 
gemeinſcha 

Dieſe zum Teil zwei bis drei Jahre beſtehenden Volkshochſchulheime haben den 
Erwartungen, die wir an fie geknüpft hatten, mehr entſprochen als alle ſonſtigen 
Volksbildungs einrichtungen“. Wenn im folgenden der hohe paͤdagogiſche Wert 
die ſer Seime kurz begründet wird, fo rechtfertigen ſich dieſe Jeilen in unſerer ſchreib · 
ſeligen Volksbildnerei, deren Literatur umgekehrt proportional zu ihren Taten iſt, 
lediglich dadurch, daß Erfahrungen mitgeteilt werden ſollen, die ohne größeren 
Aufwand ſich auch anderwaͤrts als fruchtbar erweiſen konnen. 

In unferen Leipziger Volks hochſchulheimen lebt der Großſtadtarbeiter wirkliche 
Gemeinſchaft. Diefer Vorausſetzung jeder Weſensbildung entbehrt er ſonſt in der 
heutigen Geſellſchaftsſtruktur. Ju ſeiner mechaniſierten Teilarbeit ebenſo wie zu 
Staat, Nation, Partei, Gewerkſchaft und ſonſtigen Verbaͤnden ſteht er faſt aus; 
ſchließlich in rationaler e Die Kirche hat ihm — wenigſtens in prote- 
ſtantiſchen Gegenden — religidfe Bindungen nicht zu bieten. Selbſt die Familie bat 
infolge der Frauenarbeit, der fuͤrchterlichen Wohnungsverhaͤltniſſe uſw. bei wei ; 
tem nicht den Charakter weſensbildender Gemeinſchaft, der ihr in buͤrgerlichen 
Reeifen oft zukommt. In der Seele der beſten unter dieſen intellektualiſierten, 
naturentbundenen Maſchinenarbeitern ſpielt aber gerade deshalb, weil ſie die 
bildende Gemeinſchaft in der Erlebniswirklichkeit ſo ſehr entbehren, das Ideal 
der Gemeinſchaft eine faſt religioͤſe Rolle. Mit allen Bräften eines ehrfurcht⸗ 
gebietenden Glaubens, von dem der hiſtoriſche Relativismus unſerer buͤrgerlichen 
Bildungsſchicht keine Ahnung hat, hangt der junge Proletarier an dem ſoziali⸗ 
ſtiſchen Jukunftstraum einer ſolidariſchen, „gegenſatzloſen“ Gemeinſchaft, die er 
von der Aufhebung der okonomiſchen Klaſſengegenſaͤtze erwartet. Eine weſentliche 
Verſtaͤrkung hat diefer „Traum eines lächerlichen Menſchen“ durch die roſarote 
Gemeinſchafts · Ideologie der bürgerlihen Jugendbewegung erfahren. 

Im Volks hochſchulheim erlebt der junge Arbeiter eine oft erſchütternde, aber 
überaus geſunde Ernuͤchterung durch die Wirklichkeit, einer auf Gemeinſamkeit 
der Wohnung, der Wirtſchaft und ideeller 7 eruhenden und durch dieſe 
Wirklichkeit hoͤchſt konfliktreichen Gemeinſchaft. Ohne jede Theorie und ohne 
Moralpauken wird ihm an den banalſten Alltagsaufgaben, wie Jimmer reinigen, 
Wirtſchaftsrechnungen fuͤhren, Ordnung halten, Kartoffel ſchaͤlen uſw., mit der 

anzen Eindringlichkeit der lebendigen Praxis Har, daß jede Art von Gemein; 

chaftsleben tägliches Opfer, guͤtige Nachſicht und dauernden Kampf gegen eigenes 
Sich geben · laſſen bedeutet. Der letzte Reſt ſentimental · anarchiſcher Gemeinſchafts · 
duſelei verfliegt, wenn eines Tages alle Seimgenoſſen zur Einſicht gelangen, daß 
die Gemeinſchaftsordnung nicht der ſtündlichen Willkür und Geneigtheit jedes 
einzelnen ausgeliefert werden darf, ſondern in ihrer oft hoͤchſt unbequemen Gel⸗ 
tung unabhangig und gegebenenfalls zwangsweiſe durchſetzbar fein muß. Die 
Selbſterziehung dieſer nichts weniger als gegen ſatzfreien und doch ſolidariſchen 
Gemeinſchaft bedeutet ein oft ſchmerzliches, für die reale Umgeſtaltung des kapita · 
liſtiſchen Atomis mus aber unentbehrliches Ernuͤchterungs erlebnis; ein Erlebnis, 


das dem jungen Proletarier in feiner ganzen ſozial · ſittlichen und ſozial· organiſa· 
beine ins einzelne gehende Beſchreibung des Seimlebens findet ſich in dem von 


mir mit zahlreichen Mitarbeitern herausgegebenen Buche „Freie Volksbildungs · 
arbeit“, Verlag der Werkgemeinſchaft, Leipzig, Roßſtr. 14. 


330 umſchau 


toriſchen Bedeutung nur in dieſer Enge des menen Volks pochſchulbeimes 
entſcheidend zum Bewußtſein kommen kann. Denn hier iſt er nicht in der ge⸗ 
obenen, die individuellen Aanten und Schaͤrfen glättenden Stimmung des Land- 
olkshochſchulheimes, das inſofern eine ideale und irreale Lebensgemeinſchaft 
bleibt, als der von ſeiner Sandarbeit befreite und aus feiner Drabt- und Afpbalt- 
heimat in die freie Natur entlaſſene Großſtadtproletarier bier für vier bis ſechs 
Feſtmonate dem Alltag entlaufen darf. 
m großſtaͤdtiſchen Volks hochſchulheim muß der junge Arbeiter ſich innerhalb 
der gegebenen geſellſchaftlichen Verhaͤltniſſe innerhalb feiner Arbeits · und Lohn · 
bedingungen, in den Räumen der großſtaͤdtiſ 15 miets wohnung ſich durchkaͤmpfen 
lernen. Dabei gelangt er dazu, auch feine naͤchſte Umgebung, die Mietwohnung, 
als den feinem Menſchentum entſprechenden Lebensausdruck all maͤhlich zu ge- 
ſtalten. Er wird zum Revolutionaͤr gegen die allgemeine Wohnungsunkultur un- 
ſerer Jeit und gegen das proletariſche Wohnungselend im beſonderen. Namen 
und Beſtrebungen eines Walter Gropius, Bruno Taut u. a. ſind ihm tatſaͤchlich 
viel vertrauter als vielen Gebildeten. Schon das Jerſtoͤrende dieſer Revolution, 
das Ausraͤumen all des luͤgen haften, ornamentalen Miſtes bedeutet hier eine Tat. 
Der junge Proletarier lernt die Schoͤnheit der reinen Wandfarbe, den Wert einer 
ehrlichen, auch durch die Maſchine hergeſtellten Geraͤteform und den aͤſthetiſchen 
wie ökonomiſchen Unwert der zahlloſen heutigen „Dekorationen“ ſchaͤtzen, die 
meiſtens auch noch fein Eltern haus verunziert haben. Die ernuͤchternde Wahr · 
baftigkeit iſt auch in dieſem Falle der erſte Schritt zu einer wirklichen Arbeiter⸗ 
tur. 

Zur ſittlichen und aͤſthetiſchen Erziehung, welche ſich durch die wechſelſeitige 
Ruͤckſichtnahme, durch Anregung und Kritik innerhalb und durch die CLebens⸗ 
gemeinſchaft von ſelbſt vollzieht, ſowie in dem alltaͤglichen Einfluß des Beiftes- 
arbeiters beim Ausflug, bei der gemeinſamen Mahlzeit, beim Schlafengehen und 
Aufſtehen, im kameradſchaftlichen Austauſch zur Wirkung gelangt, tritt noch 

inzu die planmößipe intellektuelle Bildungsarbeit. ÖFonomie, Verwaltung und 

olitik des Seimes bieten die lebensnahen Bezugspunkte fuͤr die theoretiſchen Er⸗ 

rterungen. Als ſelbſtverſtaͤndliche Anknuͤpfungspunkte treten hinzu der ver⸗ 
ſchiedenartige Beruf der einzelnen Seimgenoſſen, fowie feine Partei · und Gewerk ⸗ 
ſchaftszugehoͤrigkeit. Auch hier iſt die Selbſterziehung der Gemeinſchaft allein 
ſchon dadurch in ihrer Wirkung geſichert, daß regelmaͤßig ſowohl ſozialiſtiſche, wie 
kommuniſtiſche, wie ſchließlich parteiloſe Gemeinſchafts mitglieder, daneben aber 
auch voͤllig unpolitiſche Naturen vorhanden ſind. Alle dieſe Bezugspunkte muß 
die Bildungsarbeit planmäßig zu verarbeiten ſuchen. Nach nichts verlangt der 
junge Proletarier fo ſehr, nichts iſt ihm aber auch fo notwendig, wie die Ordnung 
ſeiner durchaus chaotiſchen, geifi en Welt. In feinem Bewußtfein find ver- 
knaͤuelt die ſpaͤrlichen Bruchſtücke feiner Volksſchulkenntniſſe mit einem Bunter- 
bunt an naturaliſtiſchen und ganz wenigen hiſtoriſchen Daten, die ihm der Zufall 
der Erfahrung und einige Broſchuͤren vermittelt haben. Mit dieſem FHlickwerk ſucht 
er wie jeder Menſch in fein Sandeln eine feiner Individualität entſprechende Ein ⸗ 
heit und Folgerichtigkeit zu bringen. In keiner Geſellſchaftsſchicht habe ich dieſes 
Streben nach Einheit von Wollen und Denken fo ſtark und ernſt gefunden, wie 
gerade beim jungen Proletarier. Und in keiner Geſellſchaftsſchicht ſind die Mittel 
zur Befriedigung dieſes wahrhaftigſten Bildungsbedüurfniſſes derart unzureichend. 
Die ſchematiſche Geſchichtskonſtruktion: Am Anfang war die kommuniſtiſche 
Gemeinſchaft, jetzt iſt die kapitaliſtiſche Geſellſchaft, auf ſie folgt naturnotwendig 
der Sozialismus, befriedigte jenes Einheits - und Ordnungsbedürfnis fo lange, 
als die Geſamtkraft der Arbeiterbewegung auf die Erkaͤmpfung der allernaͤchſten 
und allerdringlichſten oͤkonomiſch · politiſchen Selbſterhaltungs bedingungen ge ; 
richtet ſein mußte. Sobald dieſe auch nur in geringem Maße gegeben waren, 
machte ſich die Eigengeſetzlichkeit der perſoͤnlichen Selbſtentfaltungsbedingungen 
geltend. Wicht als ob der geiftig lebendige Großſtadtarbeiter von heute weniger 


Vgl. die ausgezeichnete Urbeiterpfycbologie, die demnachſt im Verlag Mobr, 
Tubingen erſcheint. 


umſchau | 331 


Sozialiſt wäre als vor zehn Jahren; er iſt es wahrſcheinlich ſogar in hoͤherem, 
eben weil perſoͤnlicherem Grade. Gerade na wird aber fein Bildungsbeduͤrfnis 
nicht mehr durch die ſoziologiſchen Blaubensfäge eines dogmatiſchen Maffen- 
programms . Es drängen ſich ihm ſelbſtaͤndige Srageftellungen auf, er 
wird zu einer ſelbſtaͤndigeren Auseinanderſetzung mit Kultur und Geſchichte ge: 
zwungen. Und in dieſer nicht ungefährlichen geiſtigen Situation wird ibm die 
Lebensgemeinſchaft auch intellektuell zur Unentbehrlichkeit; denn fie allein er- 
moͤglicht ibm dann, wenn die Stunde innerer Bewegtheit und problematiſcher 
Aufgeſchloſſenheit gekommen iſt, die Unterredung unter vier Augen mit dem 
gleichgeſtimmten Altersgenoſſen oder dem geiſtigen Fuhrer. In der Volkshoch ⸗ 
ſchule, ſelbſt wenn dieſe, was felten genug geſchieht, dem Ideal der Arbeits: 
gemeinſchaft moͤglichſt nabe kommt, kann dieſe intime Perſoͤnlichkeit des jungen 
Arbeiters ſich nie ganz aufſchließen. Die ſeeliſche Scham ebenſo wie die geiſtige 
Eitelkeit verhindern ihn, eine „laͤcherliche“ Frage zu ſtellen; die zwei oder drei feft- 
gelegten Abendſtunden in der Woche können nicht den individuellen Augenblick der 
inneren Spannung abpaſſen, in welchem die Empfaͤngnisbereitſchaft vorhanden 
iſt. Im engſten Juſammenleben hingegen iſt es ſchon die Gemeinſamkeit von 
Raum und Jeit, die den dauernden geiſtigen Austauſch bei der Lektuͤre eines Buches 
beim Leſen der verſchiedenen Jeitungen, die im Seim gehalten werden, bei jeder 
zufälligen Diskuſſion nicht nur ermöglicht, ſondern faſt erzwingt. 

Es genügt aber keineswegs, dieſe ſubjektiven Erlebniſſe der jungen Seim ; 
genoſſen jeweilig nach Zufall und Willkür zu verarbeiten. Die Ordnung feiner 
geiſtigen Welt bedarf einer objektiveren Orientierung, der Seim -⸗Unterricht bedarf 
eines objektiven Lehrplanes (ohne den ubrigens auch die Volks hochſchule auf die 
Dauer nicht auskommen wird). Im vollſten Bewußtſein davon, wie unzulaͤnglich 
jeder Lehrplan iſt und bleibt, muß doch der großen Verlockung eines anarchiſchen 
Unterrichts widerſtanden und aus den Forderungen der ſubjektiven Erlebniswelt 
des Sandarbeiters ein Lehrplan aufgeftellt werden, der von Jahr zu Jahr einer 
Vreugeftaltung zu unterziehen iſt. 

Was ſich in einigen duͤrren Sägen von dieſer planmäßigen intellektuellen Bil; 
dungsarbeit des Zeimes zuſammenfaſſen läßt, ſollen die folgenden Zeilen wieder · 
geben, die eine Überſicht darſtellen über den Unterricht im aͤlteſten, von Gertrud 
Sermes zuſammen mit Dr. Dietrich geleiteten Seime. 

Den Ausgangspunkt des Seimunterrichts bildete die Frage: Was iſt Kultur? 
Durch Darbietung von verſchiedenen Außerungen des Geiſtes der Barockzeit als 
anſchaulichem Material wurde auf dieſe Frage die Antwort erarbeitet, daß Bultur 
da gegeben ſei, wo ſaͤmtliche Lebensgebiete aus einheitlichem Geiſte heraus 
einheitlich geſtaltet find. Eine Prufung der Gegenwart an der Sand dieſes Maß; 
ſtabes ließ die Fragwuͤrdigkeit der gegenwärtigen Aulturlage klar heraustreten und 
führte damit hin zu der hinter aller Bildungsarbeit richtungweiſend ſtehenden 
Aufgabe der Umgeſtaltung und Neugeſtaltung unferer Kultur. Nach dieſem Vor⸗ 
ſpiel ſetzte ſofort eine fo breit als nur irgend moglich ausgebaute Behandlung von 
Wirtſchafts fragen ein. Junaͤchſt wurden die verſchiedenen Erſcheinungsformen 
des modernen Kapitalismus beſprochen: Das Finanzkapital, das Bankweſen, die 
Aktiengeſellſchaft, die Bartellierung und Vertruſtung. Darauf war ein Abend der 
Feſtlegung einiger volkswirtſchaftlicher Grundbegriffe gewidmet; gleichzeitig 
wurde gezeigt, wie die Volkwirtſchaftslehre in der Gegenwart durchaus allgemein 
anerkannter, oberſter Grundſaͤtze entbehre. Es folgten Arbeits ge meinſchaften über 
die Bedeutung des Geldes und des Jinſes; die letztere war zugleich zu einer Aus 
einanderſetzung mit der Freiland Freigeld · Bewegung geſtaltet. Mit der Be⸗ 
ſprechung des Taylorſyſtems und des Fordismus ſchloß die Betrachtung deſſen, 
was auf dem wirtſ ichen Gebiete heute iſt, und der Unterricht wandte ſich den 
Problemen der Sozialiſierung Fi mit deren ausgiebiger Eròͤrterung die Beband- 
lung der Gegen warts fragen abgeſchloſſen wurde 

Neben dieſen wirtſchaftlichen Unterricht war ſchon ſehr bald die Beſchaͤftigung 
mit der politiſchen Wirklichkeit getreten. Sierbei wurde ausgegangen von gemein ⸗ 
ſamer Lektuͤre von Parteiprogrammen, die jeweils auf die verſchiedenſten poli- 
tiſchen Gegenwartsfragen hinfuͤhrte. An ſozialiſtiſchen Programmen kamen bier · 


332 umſchau 


bei ausfuͤhrlichſt das Erfurter und das Görlitzer Programm zur Beſprechung. 
SZinzu trat das Spartakusprogramm von 1918 und ein neueres kommuniſtiſches 
Programm. Iwei Abende wurden endlich auch dem Leipziger Programm der 
Deutſchen Volkspartei gewidmet. Auf dieſe Auseinanderſetzung mit den Partei · 
bildungen folgte ſodann ein eingehendes Studium der Reichs verfaſſung, das felbft- 
verſtaͤndlich auch immer wieder Anlaß gab zur Behandlung aktueller politiſcher 
Fragen. Ein Gegenbild bekam die Weimarer Verfaſſung durch die Verfaſſung von 
Sowjet⸗Rußland; ihre Erörterung ſchloß die unterrichtliche Beſchaͤftigung mit 
dem politiſchen Gebiet. 

Die genannten Stoffe nahmen die ganze erſte Saͤlfte des Lehrgangs in Anſpruch. 
Vieles wird darin vermißt werden; der Grund des Fehlens it immer derſelbe: die 
Anappheit der zur Verfügung ftebenden Jeit. Bam dieſe ganze Bearbeitung der 
gegenwaͤrtigen Wirklichkeit dem unmittelbaren Intereſſe des Arbeiters entgegen, 
ſo war die Jeit des Unterrichts doch nicht bloß die Befriedigung V 
gewidmet; es ſtand hinter ihm vielmehr noch das andere Ziel, in den Seimſaſſen 
ein Verſtaͤndnis für die Bedingtheit der Gegenwart durch die geſchichtliche Ver · 
gangenheit zu wecken; es ſollte immer und immer wieder ein lebendiges Fragen 
nach dem Warum und Woher der heutigen Verhaͤltniſſe wachgerufen werden. 
Dieſe Abſicht iſt zwar nicht ganz in dem „ Umfange erreicht worden; 
aber es war doch moͤglich, ein ſtarkes . für die in der zweiten Saͤlfte des 
Cehrganges erfolgende unterrichtliche Behandlung des 19. Jahrhunderts zu ge ⸗ 
winnen. Auf ein Jurückgeben hinter das J9. Jahrhundert wurde ſchon aus Jeit⸗ 
mangel, aber auch aus grundſaͤtzlichen Bedenken verzichtet. Wer in der Arbeiter 
bewegung Träger eines Weuen zu ſehen glaubt, wird ſich wohl huͤten muͤſſen, die 
V menſchen durch den Druck umfaſſender hiſtoriſcher Bil⸗ 

ung zu en. 

Das Eingangstor in das J9. Jahrhundert bildete Marx. Es wurden bier nach⸗ 
einander beſprochen die materialiſtiſche Geſchichtsauffaſſung, das Rommuniſtiſche 
Manifeſt und die Mehrwertstheorie. Je ein weiterer Abend wurde auf Segels 
Geſchichtsphiloſophie, auf Fichtes „Geſchloſſenen Sanbdelsftaat”, feine „Reden an 
die Deutſche Nation“, auf die Romantik und auf Bants Schrift „Zum ewigen 
Erieden“ verwandt. Dieſe Abende follten in das U ndnis der großen geiſtigen 
Bewegung zu Beginn des Jahrhunderts einfuͤhren. In einigen wenigen Abenden 
wurde ſodann die politiſche und wirtſchaftliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts 
geſchildert: dabei wurde vor allem auch der Entwicklungsgang, den das Bürger 
tum nach 1848 gegangen iſt und die Bedeutung Bismarcks für dieſen Entwicklungs; 
gang herausgehoben. Eine ſehr eingehende Behandlung erfuhr die Geſchichte der 
ſozialiſtiſchen Bewegung: Engels, Laſſalle, Gothaer Programm, Bebel, Kautskp, 
Candauer, Lenin bezeichnen die verſchiedenen Etappen und Perſoͤnlichkeiten, die 
der Betrachtung zugrunde gelegt wurden. Jur Charakteriſierung der geiſtigen Ode 
in der zweiten Si e des Jahrhunderts diente die Beſprechung des Materialismus, 
Poſitivismus und Monis mus. Als Ergänzung wurde daneben der Realismus in 
der Bunft geſtellt. Den Schluß dieſer kulturellen Linie, die neben der ſozialiſtiſchen 
ber verfolgt wurde, bildete die Bekanntmachung mit Nietzſche, Strindberg und 
van Gogh. Die Auflehnung gegen den entleerten Geiſt der zweiten Jahrhundert⸗ 
hälfte war damit ans Ende der Betrachtung geftellt und fo noch einmal ein Aus ⸗ 
blick auf die kulturelle Lage der Gegenwart und die durch fie geſtellten Aufgaben 
gewonnen. 

Eine wichtige Ergaͤnzung des im Vorangehenden in feinen Grundzügen ge- 
ſchilderten Lehrganges bildeten i geb Fahrten, die z. B. nach der 
Rudelsburg (Rittertum), nach Schulpforta (Mönchtum und mittelalterliche Kirche) 
und Weimar (Schiller und Goethe) führten. Die alle vierzehn Tage ſtattſindenden 
Offenen Abende, an denen an der Sand von Werken der Literatur durch Monate 
hindurch das Problem Schuld und Suͤhne beſprochen wurde, diente der Behand⸗ 
lung von allen innerſeeliſchen Kragen, die ja fo gut wie alleſamt nicht in den 
eigentlichen Lehrgang eingeordnet waren. Werke der Literatur wurden auf man ; 
chen Fahrten, aber auch bei vielen ſonſtigen Gelegenheiten nahegebracht. Außer ⸗ 
dem erfuhr der Lehrgang wertvolle Bereicherung durch von Gaͤſten geleitete Be- 


umſchau | 333 


ſprechungsabende: fo wurde an je einem Abend die Frage Sozialismus und Na⸗ 
tion und die Grundidee eines religidfen Sozialismus beſprochen, an drei Abenden 
kam die Entwicklungslehre nach dem heutigen Stand der Forſchung zur Bebanb- 
lung. Dr. Sermann Seller 


Die Wirt ſchafts ſchule des Deutſchen Me⸗ 5 no 
tallarbeiterverbandes in Bad Dürrenberg | ebemaligeRurbaus des 
Heinen mitteldeutſchen 


Badeſtaͤdtchens Dürrenberg feiner neuen Beſtimmung übergeben worden ift. Iwei 
bundert Arbeiter aus den Betrieben der Metallinduſtrie haben inzwiſchen in dem 
geräumigen zweckmaͤßigen Bau — vollkommen losgeldöft von der bedruͤckenden 
Enge und Mot ibres Alltags — Anregung und Belehrung empfangen dürfen. 

Eine Schule der Arbeiterſchaft! Beine „Sochſchule“ oder „Akademie“ | Der Vor; 
ſtand des Deutſchen Metallarbeiterverbandes, insbeſondere fein um das Bildungs · 
weſen beſonders intereſſierter und beſorgter Vorſitzender, Robert Dißmann, haben 
ſich bei der Errichtung und Ausgeſtaltung der Schule davon leiten laſſen, den der⸗ 
zeitigen geiſtigen Entwicklungsgrad der Arbeiterſchaft zum Ausgangspunkt zu 
nehmen, die ſchrittweiſe Erziehung zum Iweck der Bewältigung ihrer geſellſchaft⸗ 
lichen Aufgaben als Ziel zu ſetzen. Das erſcheint eine Selbſtverſtaͤndlichkeit. Doch 
iſt der Nachdruck auf das Wort „Arbeiterſchaft“ zu legen. Teilnahme am Unter ⸗ 
richt in Duͤrrenberg foll für den Schüler nicht — oder doch nur als Mittel zu einem 
hoheren IJweck — zur Entfaltung feiner „Perſoͤnlichkeit“, dieſem hoͤchſten Glück 
der Erdenkinder einer vergangenen individualiſtiſchen Epoche, führen. Nicht um 
ihrer ſelbſt willen, ſondern um der Sache der Arbeiterſchaft zu dienen, werden die 
Hörer der Wirtſchaftsſchule nach Duͤrrenberg geſandt. Daraus ergibt ſich, daß das 
Ziel der Schule nicht die Seranzuͤchtung einiger weniger außergewöhnlich ver- 
anlagter Sübrernaturen fein kann, vielmehr die Seranbildung eines Stammes 
von Menſchen, die imſtande find, den geiſtigen und geſellſchaftlichen Emanzipa ; 
tionskampf des Proletariats durch taͤtige Mitarbeit zu beſchleunigen. So Auf 
denn auch der Unterrichtsſtoff auf das Verſtaͤndnis und die Erkenntnis der Auf- 
gaben e ſein, die der Arbeiterſchaft heute entgegentreten, Aufgaben, 
deren Bewältigung die derzeitige hiſtoriſche Miſſion der Arbeiterſchaft iſt. 

War ſo das Jiel allgemein geſteckt, ſo tauchen als erſte Frage auf, welchen 
Raum im Lehrbetrieb allgemeine weltanſchauliche und theoretiſch ⸗ſoziologiſche 
Fragen einnehmen ſollten. Der Leiter der Schule, Georg Engelbert Graf — in voller 
Ubereinſtimmung mit feinen Mitarbeitern, Ingenieur Richter und dem Schreiber 
dieſer Jeilen — ſtellen im Unterricht dieſe Dinge bewußt in den Sintergrund. In 
Dürrenberg werden die für die Arbeiterſchaft akuten Probleme der Welt · und Volks · 
wirtſchaft, des Rechtslebens, der Betriebs kunde und ee an De Tauden 
dabei Fragen allgemeiner Natur auf, fo werden fie nicht etwa uͤbergangen, viel; 
mehr wird am konkreten Beiſpiel gezeigt, wie notwendig fuͤr jeden einzelnen eine 
feſtbegruͤndete Lebensanſchauung iſt, wie die Entſcheidung und Stellungnahme 
zu den konkreteſten Fragen des Alltags von der grundſaͤtzlichen Einſtellung zu dem 
geſellſchaftlichen Entwicklungsprozeß abbängig iſt. Dieſe paͤdagogiſche Methode 
entſpringt der Erkenntnis, daß für. die Arbeiterſchaft die Weltanſchauung keine 
Angelegenheit ſpekulativen Suchens iſt, ſondern ſich ihr durch ihre Stellung im 
Produktions prozeß notwendig aufdraͤngt. 

Wird ſomit Weltanſchauung nicht gelehrt, ſo liegt dem geſamten Schulbetrieb 
in Důrrenberg dennoch eine feſte Lebens anſchauung zugrunde. Der geſamte Unter⸗ 
richt iſt auf die Denkformen der marxiſtiſchen Lehre eingeſtellt, das Jiel des Unter⸗ 
richts iſt es, Gegenwartsfragen unter Anwendung der Marxſchen Methode ver⸗ 
ſtaͤndlich zu machen. 

Die Schule iſt eine bewußte Pflegſtaͤtte des ſozialiſtiſchen Gedankens. Jedoch in 
dem Sinne, daß als das Wertvollſte der Marxſchen Gedankenarbeit nicht die Er⸗ 
gebniffe feines Forſchens, vielmehr die Methode feines Denkens für die Arbeiter⸗ 

chtbar gemacht werden ſoll. 

Die Schule ſoll aber andererſeits ein Vorbild fuͤr die Arbeiterbewegung ſein be⸗ 


334 umſchau 


zuͤglich der Solidarität und Aamerabſchaftlichkeit aller an ihr Beteiligten. Wenn 
daher in der Schule der Gemeinſchaftsgedanke gepflegt und gelebt wird, ſo iſt dies 
nicht nur ein Mittel der paͤdagogiſchen Ausgeftaltung, ſondern foll feine Aus⸗ 
wirkungen über Schulraum und Schulzeit erſtrecken. Da die Wirtſchaftsſchule ein 
Internat ift, find Lehrer und Sörer den ganzen Tag zuſammen, ſpielen und eſſen 
gemeinſchaftlich, verbringen den Sonntag zuſammen auf naturwiſſenſchaftlichen 
und kuͤnſtleriſchen Exkurſionen, erfreuen ſich als eine große geiftige Familie in den 
Abendſtunden an muſikaliſchen Darbietungen, guten Novellen oder CLichtbildern. 

Dieſes intenſive Juſammenleben von Lehrern und Schülern ermöglicht es auch, 
die relativ kurze Jeit von drei bis vier Wochen, die für jeden Aurs zur Verfügung 
ſtehen, nutzbringend auszugeſtalten. Der Verkehr außerhalb der Unterrichts; 
Runden ſchafft jene Atmoſphaͤre gegenfeitigen Vertrauens, die die notwendige 
Voraus ſetzung eines jeden Unterrichts im Wege der i in ldatt A 

Der Unterrichtsſtoff erleichtert es außerdem, die Hörer zu taͤtiger Mitarbeit während 
des Unterrichts heranzuziehen. Auf allen Unterrichtsgebieten liegen praktiſche Er⸗ 
fahrungen zum mindeſten eines erheblichen Areiſes der Soͤrer vor. Alle haben 
durch Jeitungsartikel und Verſammlungen von den Problemen des Unterrichts 
gehört. Die erſte Pflicht des Lehrers iſt es, die durch Phraſen und falſch ver 
ſtandene Schlagwörter ſchiefen Vorftellungen der Hörer richtigzuſtellen. „Kampf 
der Phraſe !“ ſteht mit unſichtbaren Buchſtaben über dem geſamten Lehrbetrieb. 

Sodann aber müflen die vielen Einzelheiten, die der einzelne erlebt und erleſen 

t, zu einem ſyſtematiſchen Geſamtbild zuſammengefaßt werden. Sier liegt eine 

eſonders wichtige Aufgabe der Schule, dem Arbeiter den rechten Mittelweg zu 
zeigen, zwiſchen dem ſich in Einzelheiten verlierenden Spezialiſtentum der alteren 
Funktionaͤre und dem ungehemmten durch keine Sachkenntnis beſchwerten Phil“ 
fopbieren der Jungen aus der Jugendbewegung. Dieſe Aufgabe wird durch die 
Tatſache beſonders erleichtert, daß die Schule von Soͤrern im Alter von 20—15 

ahren beſucht wird, fo daß die verſchiedenen Betrachtungsweiſen des Geſell⸗ 
chaftsprozeſſes ſich gegenſeitig ergänzen und abſchleifen. 

Ju einem Kurs werden ſtets etwa SO Funktionaͤre des Verbandes — alſo Ver; 
trauensleute und Betriebsräte — aus einem Induſtriezweig zuſammengefaßt. 
Gerade diejenigen Aurſe, deren Induſtrien über das ganze Reich verftreut find 
( Elełtrowerke und Automobilbau) ergaben bisher wohl nicht zuletzt infolge der 
Buntheit der lands mannſchaftlichen Juſammenſetzung die lebendigſten und an; 
geregteſten Arbeitsgemeinſchaften. Die Juſammenfaſſung nach Branchen er 
Eiger 2: Anknuͤpfung an die praktiſchen Erfahrungen, namentlich im techniſchen 

n t. 

Waͤbrend bei allem akademiſchen ſozialwiſſenſchaftlichen Unterricht von den 
biſtoriſchen Vorkommniſſen ausgegangen werden kann, fällt dies im Arbeiter ; 
unterricht fort. Der geſchichtliche Sinn wird in Duͤrrenberg durch kunſthiſtoriſche 
Exkurſionen erzeugt und gefördert, da der Arbeiter durch Eindruͤcke des Au 
am erſten für einen ihm innerlich fremden Stoff gewonnen werden kann. Iſt ab 
der hiſtoriſche Sinn erſt einmal erweckt, fo beſteht die Möglichkeit, als notwendige 
. der akuten Gegenwartsprobleme die geſchichtliche Entwicklung beran- 
zuziehen. 

Das Beſtreben, den Unterricht moͤglichſt anſchaulich zu geſtalten, greift auch auf 
andere Rechtsgebiete uͤber, fo daß 3. B. im Rechts unterricht den Soͤrern eine voll ⸗ 
ſtaͤndige Gerichtsſitzung vorgeführt, Blagen entworfen werden ufw. f 

Sicherlich iſt ein Beteiligter, wie der Verfaſſer, nicht berechtigt, uͤber das bis · 
berige Ergebnis der Arbeit in Duͤrrenberg ein Urteil abzugeben. Er darf jedoch 
den Wunſch ausſprechen, daß bei der Kritik der anderen der Wille der Schul⸗ 
leitung anerkannt wird, Wege zu beſchreiten, die in ihrer Art vielfach neu ſind, 
daß das Beſtreben aller Beteiligten beruͤckſichtigt wird, uͤber den Rahmen der 
Schule hinaus auf die geſamte Arbeiterbewegung foͤrdernd zu wirken. 

Dr. fur. E n ſt Fraenkel 


umſchau 335 


Die Funktionaͤr ſchule des Arbeiter⸗ 5 „ 
j ' Arbeit ifati ift der 
Bildungs · Inſtituts in Leipsig „ a. 5 ser 


onaͤrkoͤrper, 
Geſamtheit der e tätigen Vertrauensleute an einem Bet. Sie ſind die 
Unteroffiziere des großen Seeres, ſtehen zwiſchen den Fuͤhrern und der großen 
Maſſe. Sie leiſten die Kleinarbeit in der unablaͤſſig noͤtigen Agitation und Be⸗ 
einfluſſung der Mitgliedſchaft. Sie verteilen die Neues. Werbeſchriften und 
Mitteilungsblätter. Durch fie weiß die Fuͤhrung ſtets Beſcheid Aber die Stimmung 
der Maſſe, auch ohne daß große Verſammlungen abgehalten werden. Mit ihr beraͤt 
fie ſich vor allen Aktionen. Aus dieſer Gruppe kommen die Anwärter für die wich; 
tigeren Poſten, aus ihr ſteigen die großen Fuhrer empor, die alle erſt ſich in der 
Kleinarbeit bewaͤhrt haben muͤſſen. 

Funktionaͤrausbildung iſt denn auch die erſte und dringendſte Aufgabe der, Bil 
dungstaͤtigkeit der zentralen Verbaͤnde wie der lokalen Bildungsausſchuͤſſe. Ihr 
dienen unzählige Rurfe und Arbeitsgemeinſchaften. Weben fie bat der bedeut⸗ 
ſamſte lokale Bildungsausſchuß der Arbeiterſchaft in Deutſchland, das allgemeine 
Arbeiter ⸗Bildungsinſtitut in Leipzig eine beſondere Einrichtung geſtellt, die 
Kunktionaͤrſchule, die gerade ihren dritten Lehrgang beſchließt. 

Die Schule dauert drei Jahre. Unterrichtet wird an zwei Wochentagen abends 
nn Stunden und im Winter jahr zwei Stunden am Sonntagvormittag. 

ie e werden von ihrem erein oder ihrer Gewerkſchaft 5 
Sie mäflen ſich ſchon in der Organiſation betätigt und ſollen das 32. Lebensjahr 
nicht ůͤberſchritten haben. Roſten erwachſen ihnen aus dem Lehrgang nicht, dafur 
beſteht für fie die moraliſche Verpflichtung, nach der Schule ſich der Arbeit in der 
Organiſation intenſiv zu widmen. Es werden ziemlich große Anſpruͤche an die 
Schuler geſtellt. Ju dem Beſuch der zwei Abende in der Woche kommt das Stu- 
dium zu Sauſe, ſchriftliche Arbeiten follen angefertigt werden. Deshalb muß mit 
dem Eintritt in die Schule jede andere Funktion in den Verbaͤnden niedergelegt 
werden. Die Schüler ſollen ihre ganze Zeit und Araft dem Studium widmen konnen. 
Den Kontakt mit ihrer Gewerkſchaft und der Parteiorganiſation dürfen fie natuͤr⸗ 
lich nicht verlieren, deshalb follen fie einen Abend in der Woche für deren Ver ⸗ 
anſtaltungen freihalten. Fur dieſe Beſchraͤnkung während der Schulzeit werden 
fie ſich um fo erfolgreicher nachher betätigen konnen. 

Der Lehrplan wird natürlich durch den Schulzweck beſtimmt. Deshalb ſtehen 
theoretiſche Faͤcher neben praktiſchen Ubungen und Aneignung organifations- 
techniſcher Fertigkeiten. Sie verteilen ſich folgendermaßen: 

Der eine Abend behandelt die drei Jahre hindurch Aultur · und politiſche Ge · 
ſchichte und ſchließt mit eingehender Parteigeſchichte. Der zweite Abend iſt vom 
zweiten Semeſter ab der Volkswirtſchaft gewidmet. Er endet mit der Behandlung 
aktueller Wirtſchafts probleme. Im erſten Semeſter gibt er eine Einfuhrung in 
philoſophiſche Gedankengaͤnge. n 

Die Sonntagvormittage bringen im erſten Jahre Ubungen im ſchriftlichen Aus; 
druck, im Reden und in Verſammlungsleitung, im zweiten behandeln ſie Werden 
und Wirken der Gewerkſchaften und Sozialpolitik, im dritten werden fie wieder zu 
Übungen verwandt. Die Schuͤler muͤſſen nun ſelbſtaͤndig Referate Aber aktuelle 
Fragen ausarbeiten, die in den Organiſationen behandelt werden. Bei dieſem Plan 
iſt zu beachten, daß die Schule für Partei und Gewerkſchaftsbetaͤtigung zugleich 
ausbildet. Eine Trennung ließe eine größere Spezialiſierung zu. Überrafchen 
dürfte der Lehrgegenſtand „Einführung in philoſophiſche Gedankengaͤnge “. Be- 
geben wurde eine Darlegung des Syſtems Kants, Segels, Feuerbachs. Damit ſchien 
die Voraus ſetzung zu einer tieferen Eroͤrterung des Problems „Siſtoriſcher Ma⸗ 
terialismus“ geſchaffen zu ſein. 

Dieſer gewagte Verſuch, 729 5 Arbeitern Rant uſw. vorzutragen, um ſie zu 
Funktionaͤren auszubilden, ſcheint glänzend gelungen. Mancher wird darüber den 
Kopf ſchuͤtteln. Der Zwed ſollte zunaͤchſt reine formale Denkſchulung fein, und der 
wurde erreicht. Für den Lehrenden waren dieſe Abende koͤſtliche Stunden. Ihm 
mußte es darauf ankommen, die Schüler die für fie gewiß neuartigen und ſchwie 


336 umſchau 


rigen Gedankengaͤnge mitdenken, ſie aus den Problemen denkend entwickeln zu 
laſſen. So ſaßen die Schuler da, ins Denken verſunken, man ſah die Muͤhe auf den 
ſchweren Stirnen, und es war eine Freude, zu ſehen, wie die Geſichter aufblitzten, 
wenn die Entdeckung kam, der Begriff erfaßt war. Mag das Inhaltliche des . 
getragenen auch wieder verlorengegangen fein, die Vertiefung und Schaͤrfung 
des Denkens ift erreicht worden, iſt geblieben und hat ſich vorteilhaft bei dem ge- 
ſamten übrigen Unterricht ausgewirkt. Valtin Sartig 


e ; Die in dieſem behandelten 

des Arbeiterbildungsweſens der Fuͤhreraus bildung. Das leuch · 

tet ohne weiteres ein, wenn man 

ihre geringe Jahl mit dem Rieſenheer der organiſierten Arbeiters ft vergleicht. 

Freilich, wer fie beſucht, hat damit durchaus keinen Anſpruch auf irgendeine be · 

ſondere Stelle. Aber ſoweit die Schüler delegiert find, verurſachen ſie erhebliche 

Roften — in den meiſten Fallen muͤſſen ja außer den Schülern noch deren Familien 

bei Ganztagesſchulen unterhalten werden. Diefe Ausgaben wird man ſich natür- 

lich nur für ſolche Mitglieder machen, auf die man große Soffnungen ſetzt, und die 
ſich ſchon irgendwie hervorragend betaͤtigt haben. 

Akademie der Arbeit in Frankfurt, Wirtſchaftsſchule in Duͤſſeldorf und naͤchſtens 
auch Berlin, Seimvolkshochſchule Tinz find ſtaatliche Schulen. Die Gewerkſchaften 
find in deren Auratorium vertreten, fie delegieren die Schuler. Der Beſuch iſt aber 
auch nicht Delegierten geftattet. Rekrutierungsgebiet iſt ganz Deutſchland und 
außer für Tinz die Arbeiterſchaft aller Richtungen. Letzteres gilt auch für die 
re und Volkshochſchulheime des ſtaͤdtiſchen Volksbildungs · 
amtes Leipzig. 

Dürrenberg iſt die Jentralſchule einer einzelnen freien Gewerkſchaft, die anderen 
dagegen ſind allen Verbaͤnden zugaͤnglich. Gewerkſchaftsſchule Berlin und die 
Schulen in Leipzig find rein lokale Einrichtungen. Der größte Teil der Bildungs» 
taͤtigkeit in der Arbeiterſchaft fpielt ſich naturlich außerhalb dieſer Schulen ab. 
Jentrale und lokale Organiſation uͤberſchneidet ſich dabei. Die Spitze der freien 
Gewerkſchaften, der Allgemeine Deutſche Gewerkſchaftsbund (ADB. ) hat einen 
feiner Sekretaͤre Alexander Anoll neben anderen Arbeiten auch mit der Wahr⸗ 
nehmung der Intereſſen des gewerkſchaftlichen Bildungsweſens beauftragt. Not ⸗ 
wendig wäre aber bei der Große und Wichtigkeit der Bildungs ⸗ und Schulungs- 
arbeit dafür ein ſpezielles Sekretariat. Weben den vom AGB. getragenen 
Schulen Frankfurt, Duͤſſeldorf, Tinz befteben noch geſondert Einrichtungen ein ⸗ 
zelner Verbaͤnde. An erſter Stelle ſteht der Metallarbeiterverband, der ſogar eine 
eigene Schule, Dürrenberg, errichtet hat. Andere Verbaͤnde veranſtalten von der 
Zentrale aus Rurfe für ibre beſonderen Bedhrfniffe, wie der Tertil- und der 
Fabrikarbeiterverband. Ein eigenes Bildungsſekretariat hat außer dem Metall⸗ 
arbeiterverband jetzt nur noch der Verband der Gemeinde und Staatsarbeiter. 

Über diefe Einrichtungen treten die lokalen Bildungsausſchuͤſſe. Gewerkſchaften, 
Parteien und die ſpeziellen Arbeiterkulturvereine wirken in mn 1 a 

altin Sartig 


Dieſem Seft liegt ein Proſpekt der Verlags buchhandlung von Ernſt 
Hofmann & Co., Darmſtadt, bei, der der Beachtung empfohlen fei. 


Schriftleiter: Dr. h. e. Eugen Diederichs, Jena, Cari⸗Jeiſ-Platz 5. — Zeitung diefes Seftes: 

Daltin Sartig, Berlin 80 33, Schleſiſche Straße 42. Bei un verlangter Juſendung von Manuſkripten 

it Porto für Ruck ſendung beizufügen. — V Diederichs in Jena. — Druck von Radelli 
e in Leipzig 


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Monatsſchri für die Sukunſt ° 
deut ſcher Kultur 


18. Jahrgang Heft 5 Auguſt 1826 

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Richard Wilhelm V 
And Som!-& 

uzielsungswustng 


Spaniſche Eindruͤcke [E 
I | . 


E; iſt ein alter Spruch, daß alle Taten, die von uns ausgeh 0 


fie den Kreislauf der Wirkungen vollendet, bei uns wieder end 
Man wird an dieſen Spruch erinnert, wenn man Spanien be⸗ 
trachtet: Spanien, das einſt die neue Welt entdeckt hat, muß es ſich heute 
gefallen laſſen, von Europa aus aufs neue entdeckt zu werden. Das iſt ein 
hartes Los. Aber es iſt unvermeidlich. Beſonders ſeit Muſſolinis Un- 
freundlichkeiten die deutſchen Erholungsreiſenden von dem alten Ziel ihrer 
Dilgerfabrten abhalten und der Strom ſich deshalb weiter nach Weſten 
wendet. Ich habe im einſamſten Winkel von Spanien, in Bobadilla, das 
nur Eiſenbahnknotenpunkt iſt und wo man unterwegs von Madrid nach 
Sevilla oder Granada zu Mittag ißt (gut und billig und unter Anwefen- 
heit eines engliſchen Kellners, der eine „Eingeborene geheiratet hat, aber 
ſich dennoch gern zu den „Weſteuropaͤern“ rechnet), eine ganze Geſellſchaft 
von deutſchen Vergnuͤgungsreiſenden getroffen, die lebhaft nach Speiſe 
und Trank riefen. So aͤndern ſich die Zeiten: fruͤher waren es Weſtgoten 
und Vandalen und heute find es Sachſen und Schleſier ... (Die Ameri- 
kaner und die Englaͤnder ſind bei ſolchen Gelegenheiten uͤbrigens auch 
nicht leichter zu ertragen, namentlich wenn ſie in Maſſen auftreten. Es 
tut einem nur weher wenn es Deutſche find. Aber das gehort in ein an; 
deres Kapitel.) 

Alſo Spanien wird entdeckt. Man revidiert raſch, was man von Spa- 
nien gelernt hat. Die Schule beliefert den Menſchen ja mit dem notwen · 
digen Grundſtock der Allgemeinbildung. Alſo Spanien: Tafelland mit den 
bekannten ſechs Slüffen, hinter den Pyrenden... fern im Sid. bezaubernde 
Augen aus Mantilla vorblickend, Dolchſtoͤße im naͤchtlichen Dunkel, wenn 
Tar xv | 23 


338 Richard Wilhelm 


man ſich betoͤren laͤßt, Stierkaͤmpfe, Inquiſition, finſteres Mittelalter, 
erſtarrtes Beiftesleben, Don Quichote, die Philipps II. IV., der finftere 
Escurial, die ſchoͤnen Tage von Aranjuez, die aber vorüber ſind, etwas 
mauriſcher Kitſch: Alhambra, Alcazar und wie die Nachtlokale ſonſt noch 
heißen, der Jude von Toledo und dann: Sevilla, natuͤrlich Sevilla, wo 
Carmen zu Sauſe war und Don Juan, wo am Guadalquivir das Leben 
bluͤht. Der Gebildete hat auch Echegarays wahnſinn oder Seiligkeit ge- 
leſen, er kennt das ſchoͤne Buch von Kurt Sielſcher „Das unbekannte 
Spanien“, das die Keiſeluſt erweckt. Und wenn er ganz modern iſt, fo 
weiß er etwas von Ibanez und Unamuno, deren Werke man kurzlich in 
Dollenfa auf der Inſel Mallorca bei einem Autodafé verbrannt hat. 
Mehr weiß man nicht. (Die Weine und die Orangen find billig, das kommt 
vom Sandelsvertrag, aber das gehoͤrt kaum noch zum weſentlichen uͤber 
Spanien.) Nur naturlich noch die Maler: Fruͤher war es Velasques, 
geſtern war es der Greco und morgen wird es Murillo fein. Wenn man fo 
fort macht, da fällt einem doch noch manches ein. Die Erinnerungen, die 
Eindruͤcke, die Ahnungen ziehen heran wie nebelhafte Geiſter bei der 
Evokation. 
II 

Wen man bei Port Bou die ſpaniſche Grenze uͤberſchreitet, fo fällt 

zunaͤchſt auf, wie hier in dieſem meerumſpuͤlten Selswinfel der 
Dyrenden fo plögli Spanien anfängt. Die Soldaten mit ihren bunten 
Vorkriegsuniformen, die Candjaͤger mit ihren lackierten Dreiſpitzen, die 
Mädchen, die ſich den Zug und feine Inſaſſen betrachten: alles iſt ein voll · 
kommen verſchiedenes Bild von dem, was man Jo Minuten zuvor ge 
ſehen. Und nun geht es durch den daͤmmernden Abend, durch weite ge- 
wellte Flaͤchen: Wälder von Kiefern, Saine von Gliven wechſeln mit 
gruͤnen Geldern und Wiefen, wenig Dörfer, das Land it einſam, ganz 
ſelten ein Sof mit flachem Ziegeldach, eine Ruine, ein Kirchturm. Der 
Abend iſt ruhig und ohne Aufregung, leiſe ſteigt der Rauch in die Daͤmme⸗ 
rung empor. 

Spanien ſchlaͤft. Schlaͤft es wirklich? Es ſcheint anerkannte Wahrheit 
zu ſein. Selbſt die Spanier ſagen es entſchuldigend dem Fremden, daß ſie 
50 oder Joo Jahre hinter Europa zuruͤckgeblieben ſeien. Das iſt ihre 
Soͤflichkeit. Und es wirkt unſagbar grotesk, wenn dann ausgerechnet einer 
von uns Deutſchen, die wir durch den Weltkrieg mehr als irgend ein Volk 
den Kontaft mit Europa und feinem Leben verloren haben, mitleidig 
ſtolzen Laͤchelns deutſche Silfe und deutſches Weſen für Spaniens Ge⸗ 
neſung anbietet — Spanien ſchlaͤft nicht. Das Plus ultra des Carlos V. iſt 
neu erwacht. Der Pulsſchlag Europas iſt in feinen Adern deutlich fuͤhlbar, 
und nie iſt mir die Einheit unferes Kontinents unmittelbarer deutlich ge 
worden, als in dieſem weſtlichſten Ausläufer, der fo merkwuͤrdig ſich mit 
vielem beruͤhrt, das wir als oͤſtlich zu empfinden gewohnt find. 


Spaniſche Eindruͤcke 339 


Spanien iſt ein Bauernland. Darin liegt feine Große und Sonderart, 
aber auch feine Begrenzung gegenüber der Zaf der Ztvilifation und dem 
Kauſch des Sortfchritts. Der Fortſchrittgedanke, der in Nordeuropa wie 
eine Windebraut durch die Luft fährt und immer wieder alle Faͤden zer ⸗ 
reißt, jede Woche faſt eine neue Lebensanſchauung und jedes Jahr einen 
neuen Kunſtſtil verbraucht und jede Art von Tradition, von ſtillem Wachs · 
tum durch feine nervoͤs bewußte Selbſtzergliederung immer wieder zer · 
ſtoͤrt, noch ehe fie orm und Fertigkeit geſchaffen, iſt dem Spanier ſelbſt 
nicht als Ideal willkommen. Es iſt nicht alles Fortſchritt, was ſich von 
der Stelle bewegt. Und namentlich wo dieſe Bewegung dem Außen ⸗ 
ſtehenden als die Kreis wanderung eines im Wald Verirrten erſcheint, 
dürfen wir nicht erwarten, daß er ohne weiteres mitwandert. Dem Spa⸗ 
nier kommen gerade wir Deutſchen luftartig, nebelhaft verſchwommen vor. 
Es fehlt ihm an uns die gepraͤgte Form. Sier tritt uns das Problem der 
Klaſſik in merkwuͤrdig deutlicher Formulierung von außen entgegen und 
beftätigt uns, daß Goethe wirklich nach dem Suden mußte, um deutſcher 
Seele den hoͤchſten Ausdruck prägen zu koͤnnen. Der Spanier iſt nicht ohne 
Bewegung, aber dieſe ſeeliſche Bewegtheit iſt, wie Ortega y Gaſſet ein- 
mal ſagte, die in ſich vibrierende Bewegtheit der Flamme, die leuchtet und 
wirkt durch die Ruhe im Außeren bei der hoͤchſten Spannung in ſich. 

Nirgends erlebt man die ſpaniſche Landſchaft ſtaͤrker, als wenn man 
von Madrid nach Toledo faͤhrt auf jener eigenſinnig geraden Straße, auf 
der man fruher tagelang zu reifen hatte. Diefe Straße führt vorüber an 
dem kleinen Sügel, auf deſſen Spitze ein Areuz den Mittelpunkt Spaniens 
bezeichnet. Sier ſieht man die Naturgrundlagen des ſpaniſchen Weſens: 
oben der Simmel mit ſtrenger Sitze und geſetzmaͤßigem Regen, unten die 
Erde, Nalkboden, nicht uͤppig, mit ihren Geldern und Oliven. In diefen 
Notwendigkeiten der Natur bewegt ſich das Leben in ſtrengem Dienſt. 
Sier iſt der Menſch den letzten Realitäten gegenuͤbergeſtellt und hier muß 
er arbeiten, um fein Leben zu erhalten. Und aus dieſem Verhaͤltnis heraus 
bekommt das Leben des Spaniers den großen Ernſt, die Gemeſſenheit 
und auch die Wuͤrde. Das Leben des Kaſtiliers iſt nicht heiter, nicht leicht. 
Er liebt es nicht übermäßig. Es iſt weit mehr Pflicht als Genuß. Darum 
findet man ſo wenig Autobiographien in Spanien. Das Leben iſt ernſt 
genug, um es einmal zu leben. Man hat nicht das Beduͤrfnis, es ruck 
erinnernd noch einmal durchzukoſten. Aus dieſer Auffaſſung des Lebens 
als Pflicht entwickelt ſich dann der furchtbar ernſte und große Gedanke 
vom Leben als Dienſt. Sier hoͤrt man im Geiſt die harten Tritte der Sol · 
daten Albas droͤhnen, die Europa erſchuͤttert haben. Und aus dieſen Zu; 
ſammenhaͤngen wird auch der faſzinierende Gedanke des Soldaten Jeſu, 
Inigo von Zoyola, verſtaͤndlich, der den ſtrengen Pflichtgedanken des 
Dienſtes auf geiſtige Sphaͤren uͤbertrug. Merkwuͤrdig wie unter fo ganz 
anderen Bedingungen in dem armen Bauernlande Preußen aͤhnliche Be- 

230 


340 Richard Wilhelm 


danken erwuchſen: auch hier die ſtaͤhlerne Zucht des Seeres und — aufs 
Geiſtige uͤbertragen der erhabene Gedanke der Pflicht, wie ihn der 
Königsberger unter nicht geringerer Selbſtverleugnung ſchuf, als der 
Baske ſein Ideal des Gehorſams. Merkwuͤrdig nur: der preußiſche Drill 
iſt weit mehr zwangsweiſe Sormung einer fluͤſſigen Seelenſubſtanz durch 
den Willen der Zerren (die Friederizianiſchen Soldaten find bei Gelegen · 
heit von Kuͤckſchlaͤgen oft davon gelaufen), waͤhrend beim Spanier die 
Beherrſchtheit aus dem tiefen Bauernernſt jedes Einzelnen kommt und 
jene Phalanx bilder, die in dem Bild des Velasquez von der Ubergabe 
Bredas den ſtarken Unterſchied zu der individualiſtiſch ſchwankenden 
Lanze der einde hervortreten läßt. In merkwuͤrdigem Gegenſatz dazu 
das Geiſtige: Die Pflicht bei Rant als autonome Freiheit des Einzelnen, 
bei Zoyola als willenloſe Hingabe an den Oberen. Dieſe merkwuͤrdige 
Verſchraͤnkung gewinnt einen Sinn, wenn wir fagen, daß das Leben dem 
Spanier eine Aufgabe für das Sandeln, dem Deutſchen ein Problem für 
das Denken iſt. 


III 

M. ſpricht fo viel davon, daß Kirche und Inquiſition in Spanien das 
| geiſtige Leben gehemmt und finftere Freudloſigkeit verbreitet haben. 
Wie? wenn umgekehrt die ſpaniſche Seele ſich auch ihre Kirche geformt 
haͤtte, wie fie fie brauchte? Die katholiſche Kirche zeigt die allerverſchieden 
ſten Ausprägungen und keine Religion verſteht ſich fo lebendig den ſee⸗ 
liſchen Verhaͤltniſſen der einzelnen Anhaͤnger anzupaſſen wie ſie. Nichts 
iſt bezeichnender als ein Vergleich der ſpaniſchen und der nordiſchen Bor 
tik. (Italien hat es ja eigentlich überhaupt nie zur „Gotik“ gebracht.) 
Im Norden das ſteile Emporſtreben, das Überfliegen der Wirklichkeit, das 
Schweben in immer luftigere Höhen. Wenn man mit ſolchen Vorſtellungen 
zum erſtenmal in die Kathedrale von Barcelona eintritt, iſt man über- 
raſcht und ſteht vor tauſend Fragen. Man befindet ſich in dunkler angſt⸗ 
voller Nacht. Man ſieht nicht den Boden vor den Süßen ; man iſt wie ge 
blendet. In dieſer angſtvoll naͤchtigen Soͤhle, die in ihrer hohen Geſchloſſen ; 
heit auf die, Seele druckt und die noch lebendiger wird, wenn man den 
Schatten einer Frau unterſcheidet, die auf den Steinen des Bodens kniend 
ſich im Gebete windet oder wenn verzweifelte Seelen die Laſt ihrer Suͤn⸗ 
den leiſe und furchtſam durchs Gitter des Beichtſtuhls fluͤſtern, und wenn 
das Auge ſich ans Dunkel gewoͤhnt, die Schar der Glaͤubigen ſich aus dem 
Schatten loͤſt: ſtumm, erwartungsvoll lauſchend bis das Große ſich offen · 
bart. Und nun ertoͤnen Blänge der Orgel zauberhaft durch die Kirche, die 
Stimmen der Prieſter klingen ernſt und beruhigend durch die Nacht. Und 
es geſchieht das Wunder. In der Mitte der finfteren Sohle, am Sochaltar 
ſpielt es ſich ab. Dort wird das erloͤſende Opfer vollzogen. Weihrauch · 
wolken dampfen auf vom gelben Licht der Kerzen durchgluͤht. Ploͤtzlich 


Spaniſche Eindrücke 341 


wird der weiße ſeldene Vorhang, der die heilige Sandlung während der 
heiligen Woche faſt verdeckt, von uͤberirdiſchem Licht getroffen. Ein 
blauer Strahl aus einem der Senfter hoch droben in der Kuppel fällt 
ſchraͤg herunter und ſein Reflex erleuchtet die myſtiſche Tiefe, wo ernſt der 
prächtige Prieſter das heilige Opfer darbringt. Ein Glöckchen klingt. Das 
große Schweigen kommt und die Gemeinde ſinkt andaͤchtig in die Anie. — 
Nur einen Augenblick dauert das Bild, dann wandelt es ſich mit dem 
Bang der Sandlung drinnen und der Sonne droben. Aber wenn der Vor⸗ 
hang ſich wieder zuzieht, hat man etwas erlebt von der ſpaniſchen Seele. 
Die ſpaniſche Seele iſt zu Sauſe in dieſem Dunkel der weltangſt, fie kennt 
die ſinſtere Höhle des Lebens und fie iſt bekannt mit dem Licht, das im 
tiefften Innern glübt. 

Es iſt kein Wunder, daß in diefer Umgebung der Mont Serrat ſich er- 
hebt, der Bralsberg mit feinen Wiyfterien und dem Nimbus von Sagen, 
der ihn umgibt. Steil ſteigt er aus der Ebene empor, von den Nachbar⸗ 
hoͤhen getrennt durch das tiefeingefchnittene Bett des Llobregat. Und 
anders als die Berge in der Runde: Felſen wie Zacken, wie Säulen, wie 
Pfeiler, wie Tuͤrme, drängen ſich als eine feſte Burg um den Mittelgipfel, 
ins Bodenloſe ſinken die Selswände ab, an denen ſich mäbfeme wege 
emporwinden. Schon im Altertum war dieſer Ort geheiligt, ein Venus; 
heiligtum ſtand hier, das Chriſtentum hat das geheimnisvolle ſchwarze 
Bild, das der heilige Lukas geformt, hierher gebracht und ein Kloſter ge⸗ 
gründet. Die Sage hat die Stelle umſponnen und der Mont Sal vatſch, 
wie ihn die Parzifalſage nennt, wurde zum Ausgangspunkt der gebeim- 
nisvollen Ritter vom Gral. Wenn man um die Ecke biegt und den Kloſter 
hof betritt, der von den vielen hochragenden Pilgerherbergen und Sotels 
umgeben iſt, fo iſt man äberrafcht, man ſieht zu viele Menſchen und zu 
viele Autos. Aber wenn man in die Kapelle tritt mit ihren dunklen Ge⸗ 
heimniſſen, wenn man durch das Kloſter geht, wo fromme Benediktiner 
hauſen, da fühlt man etwas von der Luft, die Menſchheitshoͤhen um- 
weht, und da kann man verſtehen, wenn je und je dort heilige Entſchluͤſſe 
gefaßt und Gelůbde abgelegt wurden von Maͤnnern, die bereit waren zum 
Seil der Menſchen auszuziehen und im geweihten Dienſt ſich zu verzehren. 
Der Berg mit ſeinen Schluchten, in denen die regnenden Gewitter ſich 
ſammeln, durch die das Land fo fruchtbar wird, er wahrt dieſe Bebeim- 
niſſe und gibt ihnen Kraft und Feſtigkeit. Noch jetzt gibt es in Spanien 
heilige Ritterorden, die im Zeichen geheimnisvoller Breuzblumen fi. um 
den Thron verſammeln und 3. B. in der Karwoche ihre Gottesdienſte in 
liturgiſch wůrdiger Weiſe feiern, umdraͤngt von einer großen Menge, die 
ʒuſchauend teilnimmt an der heiligen Sandlung der Ritter. Und die Idee 
des Dienſtes an den Bruͤdern, die echt chriſtliche Idee der Demut lebt noch 
in der Sitte, die den König und die Königin jeden Gruͤndonnerstag zwoͤlf 
arme Maͤnner und Frauen bei ſich verſammeln laͤßt, denen fie die Süße 


342 Richard Wilhelm 


waſchen und die ſie bei Tiſch bedienen, nach dem Vorbild des Seilands. 
Gewiß: das find heute bloße Formen geworden. Aber in dieſen Formen 
liegt noch die Erinnerung an etwas Großes, liegt die Verpflichtung, die 
aus der Gnade Gottes entſpringt, der Gedanke, daß das Dienen ein not- 
wendiges Korrelat des Serrſchens iſt. 


IV 

Woern wir die ſpaniſche Seele mit der deutſchen vergleichen, ſo finden 

wir als weſentlichen Unterſchied den, daß fie eine ſtarke innere Ge⸗ 
formtheit beſitzt, waͤhrend die deutſche Seele innerlich unbeſtimmter, an- 
paſſungsfaͤhiger, beweglicher iſt und ſich die Form erſt aͤußerlich aufprägen 
und anerziehen muß. Von hier aus verſtehen wir die kirchliche Auffaſſung 
von der Welt als Sohle, wie fie in den ſpaniſchen Kirchen mit ihren Myſte 
rien vor uns tritt. Don hier aus verſtehen wir auch die Angſt, die der 
ſpaniſchen Seele innewohnt — die ganz verſchieden iſt von Furcht vor 
aͤußeren Dingen — die weltangſt die daraus entſpringt, daß etwas 
Ewiges, Unendliches umſchloſſen iſt von der Form, die als ſolche ſtets Be; 
grenzung, Endlichkeit bedeutet. Aus dieſem Zwieſpalt erklären ſich auch 
die ſtrengen, faſt grauſamen Züge, die uns am ſpaniſchen Leben auffallen: 
die Inquiſition fruͤherer Jahrhunderte, die Stierkaͤmpfe von heute. Man 
hat ſich in Deutſchland angewoͤhnt dieſe Zuge als etwas Perverſes, 
Schreckliches zu betrachten. (Wohl gemerkt, dies ſei in Klammern geſagt, 
benutzt der deutfche Reiſende gerne die Gelegenheit einmal, eine ſolche 
grauſame Sache ſich gruͤndlich anzuſehen: ganz ebenſo wie die chineſiſchen 
„Grauſamkeiten“ von niemand fo gruͤndlich ſtudiert und fo gewiſſenhaft 
abgebildet wurden, wie von ſcheinheiligen Europaͤern, die voll Abſcheu 
ůͤber dieſe Dinge fi zu äußern pflegen.) Im Allgemeinen kann man wohl 
ſagen, daß kein Volk einem andern in dieſer Beziehung viel vorwerfen 
kann; wir haben unſere Seren verbrennungen gehabt, wie die Spanier 
ihre Autodafés und die alten deutſchen Burgen und Schloͤſſer zeigen in 
ihren Verließen und Folterwerkzeugen, daß man es auch bei uns ganz gut 
verſtand, die Leute zu quaͤlen. Der Sauptunterſchied iſt der, daß es den 
Spaniern vielleicht mehr Ernſt war mit der Sache. Und wenn wir uns 
ůber die Grauſamkeit gegen Tiere entrüften, die uns begegnet, fo vergeſſen 
wir dabei, wieviele Grauſamkeit gegen Menſchen in unſeren Einrich⸗ 
tungen und Sitten noch lebt. Wir duͤrfen doch nie vergeſſen, daß in dem 
freien Amerika noch heute von Zeit zu Zeit Neger und andere mißliebige 
Perſonen ſtraflos umgebracht werden und in dem fortgeſchrittenen Deutſch⸗ 
land Rommuniſten und ſolche, die man dafür ausgibt, um fie im Bewußt ⸗ 
fein des Seldentums morden zu konnen. Wenn wir alſo im Bewußtſein 
deſſen uns vor allem Verurteilen bäten wollen und nur zu verſtehen 
ſuchen, was in den Stiergefechten und aͤhnlichen Volksſitten ſich in der 
Seele regt, fo durfte es eben dieſes verhaltene Gefuͤhl der ſeeliſchen Ein · 


Spaniſche Eindrůcke 343 


geſchloſſenheit fein, das in ſolchem Blutvergießen vulkaniſch hervor 
bricht. Auch in der ſpaniſchen Geſchichte laͤßt ſich manches Graͤßliche und 
manches Große dadurch erklaͤren, daß ein lange eingeſchloſſenes und zu- 
růckgedraͤngtes Gefuͤhl ſich endlich gewaltſam Luft macht. Vielleicht iſt 
hier auch die Erklaͤrung für jenen Wahlſpruch „Plus ultra“ unter dem 
Amerika entdeckt und erobert wurde — und die Entdeckung Amerikas iſt 
ja ganz weſentlich eine ſpaniſche Tat, ganz einerlei ob Criſtobal Colon fuͤr 
Spanien in Anſpruch genommen werden kann oder nicht. Die Syſtole der 
ſpaniſchen Pſyche, wie fie unter den Reyes Chriſtianos (Ferdinand und 
Iſabella) ſich vollzog und den mauriſchen Gegenpol vernichtete, ging 
voran, ehe die Diaſtole zur Zeit Carlos V. das Weltreich ſchuf, in dem die 
Sonne nicht unterging. Man kann dieſe Exploſion nicht hoch genug ein; 
ſchaͤtzen; denn fie gibt der ganzen Menſchheitsgeſchichte eine neue Wen- 
dung. Denn fie durchſtieß den Kulturraum, den innerlich durchſeelten 
Raum, der alten europaͤiſch · vorderaſtatiſchen Kulturen, der ja weſentlich 
begrenzt war. Und fo entſtand die Grenzenloſigkeit, die im Begriff iſt, alle 
noch beſtehenden Kulturen in einer großen Gottesdaͤmmerung einzu⸗ 
ſchmelzen. Denn die Erweiterung des Simmels zum kalten unendlichen 
weltraum war nur die Ronſequenz diefer Zertruͤmmerung des alten Erd ⸗ 
raums. Und es iſt bezeichnend, daß dieſe Durchbrechung des europaͤiſchen 
Kulturraums grade von dem Volk ausging, das die geformteſte, begrenzteſte 
Seele hatte: den Spaniern. Die Wikinger waren laͤngſt in Amerika geweſen. 
Aber das hatte für die europaͤiſche Kultur Feine Ronſequenzen; denn ihr 
Unendlich keit drang war ohnehin nebelhaft unbegrenzt. Aber als die Spanier 
nach Amerika tamen, da wurde daraus eine Tatſache, eine harte wirkliche 
Tatſache mit harten, wirklichen Nonſequenzen für die ganze Menſchheit. 

Die Geformtheit der ſpaniſchen Pſyche bedingt noch andere Unter ⸗ 
ſchiede gegenůber unſerer nordiſchen „Unendlichkeit“. Einmal die ſtaͤrkere 
kuͤnſtleriſche Beherrſchung des Raums. Seit wir Deutſchen die mittel 
alterliche Tradition verloren, ſtehen wir ja — bis in die neueſte Zeit 
hinein — der architektoniſchen Geſtaltung des Raums ganz hilflos gegen; 
über. Wenn wir in unſeren modernen Städten einen Platz haben, fo iſt er 
einfach ein Loch in der Gegend, eine Leere und es iſt kein Wunder, daß 
nervoͤs empfindliche Menſchen vor ſolchen gaͤhnenden Raumloͤchern Platz⸗ 
angſt bekommen. In Spanien iſt ein Platz eine Raumgeſtalt. Selbſt 
ůͤber den großen Dlägen in Barcelona woͤlbt ſich unſichtbar und doch Be · 
deutung gebend etwas wie eine Kuppel in die Luft. Der Platz iſt fo an · 
gelegt, daß er eine Geſchloſſenheit bildet, die man ganz deutlich empfindet, 
auch wenn man ſich nicht Rechenſchaft daruber geben kann, warum das ſo iſt. 

Der andere Unterſchied iſt der auffallende Mangel an unſerer Leiden · 
(haft für das Reflektieren. Das reflektierende Denken, das Abſtrahieren 
und Gedankenſpinnen iſt nichts, das dem Spanier am Serzen liegt. Das 
Sin · und Serwenden der Begriffe um zu feben, was fie an Erkenntniſſen 


347 Richard Wilhelm 


dadurch hergeben konnen, duͤnkt dem Spanier muͤßiges Spiel. Er bat 
feine Kirche, feine feſten laren Vorſtellungen von der ſichtbaren und un · 
ſichtbaren welt. Er wuͤrde die dünne Luft der Abſtraktion, die Unent · 
ſchiedenheit und Unentſchloſſenheit die daraus entſteht, als etwas GQuaͤlen⸗ 
des empfinden. Und auf der anderen Seite bedarf er der Geſetzgebung 
durch das Denken nicht fo ſehr, weil feine Seele viel ſtaͤrker von immanen- 
ten Geſetzen geformt und regiert iſt, als die vagere und unbeſtimmtere des 
Nordens. Dem Spanier iſt vieles in Sleifch und Blut übergegangen, was für 
uns noch Problem iſt. Das Alter der Kultur und die Stärke der Tradition 
kommt in dieſem Stuͤck zu der ſeeliſchen Struktur als ſteigernde Kraft hinzu. 

Vieles von dem, was wir hier zur Sprache gebracht, iſt allgemein roma⸗ 
niſch. Aber wir werden das ſpeziſiſch Spaniſche erſt ganz verſtehen, wenn wir 
es 3. B. mit dem Italieniſchen vergleichen. Auch in Italien iſt Geformtheit. 
In der LCandſchaft und bei den Menſchen: ůberall begegnet uns die ſchoͤne 
Form. Aber die italieniſche Form iſt nach außen gewendet. Der Italiener 
iſt geſpraͤchig, freundlich, leicht erregbar, aber auch leicht wieder beruhigt. 
Alle Schoͤnheit zeigt ſich dem Blick und Verſtaͤndnis ſofort, ſie bietet ſich 
dem Verſtehen dar. Das ganze Leben iſt außerhalb der Saͤuſer, auf der 
Straße ſpielt es ſich ab oder in den Kirchen, in denen Stelldicheins ver · 
abredet werden, durch die Saͤndler und Marktweiber mit Rörben ſchreiten 
und deren Gottes dienſte auch nicht geſtoͤrt werden, wenn wißbegierige 
Fremde die Kirche ſtudieren und auf den Sochaltaͤren herumklettern. Der 
Italiener iſt ſeinem Weſen nach meiſt nach außen gekehrt, extravertiert. 

Sier liegt nun der Sauptunterſchied zu dem ernſten Spanier. Die ſpa⸗ 
niſche Seele iſt in ſich zuruͤckgezogen, introvertiert. Das zeigt ſich ſchon in 
der Sprache. Die italieniſchen Woͤrter ſind voll und vokaliſch, die ſpaniſchen 
konzentriert und enden auf Ronfonanten. Und auch in der Grammatik 
ließen ſich dieſe Unterſchiede verfolgen. Darum iſt es auch ſo ſchwer, 
gleichzeitig Spaniſch und Italieniſch gut zu ſprechen. Bei aller aͤußeren 
Ahnlichkeit iſt die ſeeliſche Saltung, die den beiden Sprachen zugrunde 
liegt, eine direkt entgegengeſetzte. Das gleiche gilt vom Charakter der 
menſchen. Der Spanier iſt reſerviert, von einer faſt mimoſenhaften Zu; 
ruͤckhaltung, ehe er einen Schritt zu weit geht, zieht er ſich lieber drei 
Schritte zuruck. Er iſt weniger zugaͤnglich im erſten Moment, aber zu- 
verlaͤſſig und ſein Stolz iſt die Buͤrgſchaft, daß er fuͤr ſein Wort und ſeine 
Verpflichtung eintritt. Das Leben der Familie ſpielt ſich wohl auch im 
Freien ab, doch nicht ſo ſehr auf der Straße wie im Patio, dem inneren 
Sof des Sauſes. In der Kirche benimmt das Volk ſich gemeſſen und wuͤr 
dig und auch von den Fremden erwartet man Ruͤckſicht und Zuruͤckhaltung. 


V N 
ei dieſen ſeeliſchen Eigenſchaften iſt es verſtaͤndlich, daß in Spanien 
die Tradition eine ſtaͤrkere Kraft iſt, als im übrigen Europa. Italien 


Spaniſche Eindrücke 345 


hatte feine Renaiſſance, Deutſchland hatte feine Reformation. Und auch 
durch die übrigen Länder des Nordens und der Mitte Europas geht dieſer 
Bruch, der das Mittelalter von der Neuzeit trennt. In Spanien zeigt ſich 
eine viel größere Rontinuitaͤt. Es hat an dem Exlebnis Europas teil- 
genommen, aber dieſes iſt erſt ſpaͤter in feinen Wellenzugen dorthin ge⸗ 
kommen und hat ſich daher viel inniger mit dem amalgamiert, was vorher 
ſchon vorhanden war. Es iſt 3. B. kein Zufall, daß es oft ſehr ſchwer fällt 
zu beſtimmen, aus welcher Zeit eine Kirche iſt, da man eigentlich nie auf⸗ 
gehoͤrt hat daran zu bauen und noch heute an ihr geſtaltet und umgeſtaltet 
wird. So finden wir auch in der bildenden Runſt, daß die Einfluͤſſe des 
ubrigen Europas nicht revolutionaͤr, ſondern hoͤchſtens anregend wirken. 
Über zwei Kriſen Europas iſt Spanien ohne Bruch der Tradition hinuͤber · 
gekommen: Über die Kriſe des 16. Jahrhunderts, die die neue Zeit herauf ⸗ 
fůhrte und über die Kriſe des Weltkriegs. Das bedeutet auf der einen Seite 
entſchieden eine Staͤrke. Die Außerungen von Duͤrftigkeit, die haͤßlichen 
lecken, die ſeit dem Weltkrieg in unſeren betroffenen Ländern fo ſchreiend 
hervortreten, finden ſich in Spanien nicht. Es iſt noch in Vorkriegsver⸗ 
haͤltniſſen. 

Manchmal empfindet man das auch als Grenze. Wenn man im Muſeum 
de Prado die Sale durchſchreitet, fo findet man eine ungeheure Sülle der 
größten Meiſterwerke. Nicht nur ſpaniſche, ſondern auch andere. Von 
Rubens 3. B. finden wir fo Vieles und fo Gutes, wie kaum irgendwo an- 
ders. Aber wenn man nach Rembrandt fragt, ſo kennen die Aufſeher nicht 
einmal ſeinen Namen. Sier zeigt ſich der Punkt, an dem Spanien ſich 
aus der europaͤiſchen Geſchichte zuruͤckzuziehen begonnen hat. Aber auch 
hier muß man ſich vor allzu raſchen Urteilen huͤten. Eine Kunſt, die aus 
ſich einen Velasquez, Murillo und vor allem den Greco hervorgebracht 
hat — um nur wahllos ein paar Namen herauszugreifen — zeigt was 
Spanien an Eigengut beſaß. 

Ich nannte auch Greco unter den ſpaniſchen Malern, obwohl ja in 
dieſem Beinamen ſchon ausgeſprochen iſt, daß er Grieche und kein Spanier 
war. Aber Spanien darf ihn mit Recht beanſpruchen. Nicht nur weil er 
mit ſeinen Freunden unter den bedeutendſten ſpaniſchen Literaten in den 
Zikadengaͤrten von Toledo zuſammenkam und mit ihnen den beruͤhmten 
Kreis bildete, den Lope de Vega in feinem „Cigarrales“ geſchildert, ſon⸗ 
dern ſchon deshalb, weil er ſo lange in Spanien gelebt hat. Denn eben 
jene ſtarke Bontinuitdt der ſpaniſchen Tradition, kurz geſagt das Alter 
der ſpaniſchen Kultur, bewirkt es, daß Fremde ſich unglaublich raſch dem 
ſpaniſchen Wefen angleichen. Wie viele Kirchen und ſonſtigen Gebaͤude 
ſind von deutſchen oder niederlaͤndiſchen Architekten erbaut, aber alle ſind 
rein ſpaniſch im Stil und Geiſt. So ſtark wirkt die Kulturſeele auf die 
Saͤſte, die hier weilen. 

SGewiß zeigt die ſpaniſche Kultur gewiſſe Züge, die jeder alten Kultur 


346 Richard Wilhelm 


eigentuͤmlich find. Man lebt in gewiſſen feſten Geleiſen, man macht die 
Dinge auf eine beſtimmte Art. Man ſchaͤtzt das Neue nicht ſchon deshalb, 
weil es anders iſt; und man iſt nicht ein Freund von allzuviel Betrieb. 
Dieſe Ruhe erſcheint dem Angehörigen jůngerer Nationen oft wie Indo; 
lenz. Er möchte eingreifen, etwas machen, Leben und Fortſchritt in die 
Geſellſchaft bringen. Solche Gefuͤhle find kindliche Sarmloſigkeiten des 
modernen Mitteleuropaͤers, der uͤberzeugt iſt, daß mit ihm eine neue 
Menſchheitsperiode beginnt. Es iſt aber wirklich fo, wie mein Gaſtfreund, 
der deutſche Energie mit ſchwaͤbiſcher Ruhe und ſpaniſcher Gelaſſenheit 
aufs gluͤcklich ſte vereinigte, bemerkte: „Man konnte denken, wenn zwanzig 
betriebſame Deutſche ins Land kaͤmen, fo wurden fie ſich durchſetzen und 
in ein paar Jahren alles veraͤndern. In Wirklichkeit aber waͤre es ſo, daß 
fie — fe intelligenter fie wären, um fo ſicherer — in ein paar Jahren ſich 
dem ſpaniſchen Welen angeglichen haͤtten und uͤber ihre fräbere Betrieb · 
ſamkeit laͤchelten. Diefe Dinge gehoͤren eben zu der unſichtbaren und doch 
unuͤberwindlichen Stärke alter Kulturen. Es geht den Europaͤern in 
China ja auch nicht anders und Zaotſe behaͤlt recht wenn er ſagt: 

„Der Weſen zahlloſe Menge entwickelt ſich, 

Doch jedes wendet ſich zuruck zu feiner Wurzel. 

Juruͤckgewandt fein zur Wurzel: das iſt Stille, 

Die Ewigkeit erkennen: das iſt Weisheit.“ 

wenn fo im allgemeinen die Grundzuͤge des ſpaniſchen Charakters feſt 

gelegt werden koͤnnen, ſo muß man doch bedenken, daß innerhalb dieſer 
Einheit eine große Mannigfaltigkeit angelegt il. Wenn Caſtilien im 
weſentlichen Bauernland iſt, fo iſt La Mancha, die Zeimat von Don Qui⸗ 
jote, das Land des Weins, der meiſtens nach dem Namen des Grtes Valde⸗ 
peñas als Tiſchwein bekannt iſt, und wenn man die Sierra Morena durch; 
quert hat, ſo kommt man in Granada und Andalucia in Gebiete, die ihre 
deutliche Sonderart haben. Auch hier hoͤrt man die Mandolinen und 
Lauten und die Maͤdchen auf der Straße ihre Mollmelodien fingen, die 
dem ſpaniſchen Charakter ſo ſehr entſprechen. Aber innerhalb des Moll 
iſt mehr Bewegtheit, mehr Aufſchwung, das Dunkle der Stimmung iſt 
hier mehr ſchwebender Sintergrund. Freilich, wenn man wiſſen will, wie 
eigentlich die Mandolinen klingen, fo darf man fie nicht als Tiſchmuſik in 
einem der großen internationalen Sotels hoͤren, ſondern man muß 3u- 
faͤllig dazu kommen, wie an einem Tordurchgang der Alhambra ein paar 
Blinde zuſammen ſpielen. Wenn dann gerade die Sonne im klaren Simmel 
verſunken iſt und die Orangenblůten duften und die Waſſer rauſchen, die 
aus dem Schnee der Sierra Nevada auf der alten mauriſchen Waſſer⸗ 
leitung herunter kommen und das Land hier oben in einen Garten ver⸗ 
wandeln — dann weiß man was ſpaniſche Muſik iſt, und dann tauchen 
auch die Märchen auf von den wie mit Stickereimuſtern verzierten Räu- 
men der Alhambra, wo beim Plaͤtſchern der Brunnen die ſchoͤnen Frauen 


Spaniſche Eindrücke 347 


badeten, während oben auf der Galerie die blinden Muſiker ihre Weifen 
fpielten. berhaupt Granada ! Sier leben noch die letzten Seufzer der uͤber⸗ 
feinen arabiſchen Kultur, die vor dem Vordringen der „Reyes“ (die hier 
in ihren Metallfärgen, die wie dünne dunkle Riften ausſehen, in der Gruft 
unter der Kathedrale ſtehen), zuruͤckweichen mußte. Aus dem Grun ragen 
noch die Tůrme des alten Palaſtes mit ihren Sagen und Maͤrchen, druͤben 
hinter dem Darro leben in Erdloͤchern und duͤrftigen Zutten am Suͤgel · 
hang die Zigeuner noch wie einſt. Und das alles unterbrochen von dem 
Neuen, das die chriſtlichen Könige darin herum gebaut haben. Nirgends 
wirkt Karl der Sünfte fo hoffnungslos borniert wie hier, wo er feinen be · 
ſchraͤnkten Geiſt austoben konnte, wo er mitten in die mauriſchen Ara⸗ 
besten hinein feine Plus · Ultra ⸗Majolikaplatten an die Wände leimen ließ 
und ganze Bezirke der alten Gebaͤude niederreißen ließ, um fein Renaiffance- 
ſchloß, das ausſieht wie eine Arena, quer in die Gegend ſtellen zu konnen. 
Ein guͤtiges Geſchick hat es verhindert, daß es fertig wurde; ein Erd⸗ 
beben ſtoͤrte den Bau und ſo war er Ruine noch ehe er fertig war: ein 
Symbol des Wirkens ſeines Erbauers. Aber auch dieſe Dinge liegen heute 
jen ſeits von Saß und Liebe. Der Efeu der Jahrhunderte hat ſich um alles 
geſchlungen und bedeckt gleichmaͤßig mit feinem Grun, was Araber und 
was Spanier hier erbaut. Und wir lernen hiſtoriſch als notwendig ver; 
ſtehen, was uns menſchlich betrachtet mit Wehmut erfüllt: den Unter 
gang einer feinen, aber ůͤberzart gewordenen Kultur unter den ehernen 
Schritten des beſchraͤnkten, aber ſtarken Einheitswillens des Könige- 
paars, das durch feine Ehe Spanien geſchaffen hat. Über Andalucien und 
Sevilla wäre vieles zu ſagen. Man iſt zunaͤchſt enttaͤuſcht, weil das Land 
mit feinen weiten Seiden und binſenartigen Zwergpalmen durchaus nicht 
ſo romantiſch ausſieht, wie man es ſich gedacht hatte. Und wenn man nach 
Sevilla kommt, im Lärm und Gedraͤnge der Semana Santa (Karwoche), 
die traditionsgemaͤß halb Spanien hier verſammelt, fo iſt das Bewähl in 
den Straßen fo laͤrmend, daß man eine Zeit lang braucht, bis man das 
Spaniſche in dieſem Getriebe wieder entdeckt hat. Aber es iſt da und man 
findet es. Es iſt bewegter als anderswo und weniger ſchwermuͤtig. Der 
Andaluſter iſt lebhaft, geſchmackvoll, und was er macht hat Stil und An; 
mut, und wenn im Innern des Landes der ingenioſe Ritter Don Quijote 
lebte, der gegen die moderne Technik der windmuͤhlen kaͤmpfte und nach 
einem Zeben ſtrenger Enthaltſamkeit im Schutze des Dunkels feine Dul⸗ 
cinea Ehßte, fo war Sevilla die Wirkungsſtaͤtte von Don Juan — und 
Carmen. Aber auch hier iſt die ſpaniſche Sinnlichkeit nicht frivol und 
laſterhaft, ſondern gluͤht aus dem dunkeln Schatten des drohenden Ge · 
richts hervor, das ihr auf dem Fuße folgt. Auch auf dem erotiſchen Gebiet 
zeigt ſich im ſpaniſchen Charakter das Verhaltene, Beherrſchte — gerade 
im Gegenſatz zu der leichteren und bequemeren Art, wie ſie Italien zeigt. 


398 Richard Wilhelm, Spaniſche Eindruͤcke 


VI 
S hebt ſich Spanien in ſeiner Eigenart ſehr deutlich als ein eigener 
Bezirk innerhalb der europaͤiſchen Einheit ab. Aber wir důrfen Aber 
dem Trennenden das Gemeinſame nicht vergeſſen. Der Geiſt der Zeit weht 
auch hier, und heute empfindet Spanien ſo gut wie wir die weſentliche 
Bedeutung, die in der jetzigen Weltwende liegt. 

Nirgends tritt das deutlicher zu Tage, als in dem literariſchen Leben des 
modernen Spaniens. Wohl find auch hier die Ritter von der alten Garde 
noch da, ein Ricardo Leon, ein Palacio Valdez und wie fie alle heißen, 
die beliebten Meiſter der etwas ſentimentalen, aber hoͤchſt moraliſchen 
Romane. Aber eine neue Generation iſt herangewachſen. Neue Gedanken 
werden ausgeſprochen. Und Spanien iſt keineswegs das Land geiſtiger 
Unduldſamkeit, als das es häufig von ſchlecht unterrichteter Seite be⸗ 
zeichnet wird. Die Preſſe beginnt ſich zu entwickeln und ein Blatt, wie das 
bekannte ABC* kann fi vor feinen mitteleuropaͤiſchen Bruͤdern ohne 
Scheu ſehen laſſen. 

Das geiſtige Leben Spaniens konzentriert ſich heute in Madrid. (Die 
Katalanier find zwar auch rege, aber fie vertreten zentrifugale Prinzipien 
und beſtreben ſich, eine katalaniſche Schriftſprache aus dem alten Volks⸗ 
dialekt, der dem ſuͤdfranzoͤſiſchen in mancher Sinſicht nahe ſteht, zu ent⸗ 
wickeln.) Der Kreis der geiſtigen Fuhrer der neuen Bewegung iſt nicht 
groß. Aber das hat wieder das Gute, daß man ſich untereinander kennt 
und miteinander Verkehr hat“. Dadurch bekommt das geiſtige Leben 
etwas Perſoͤnliches und Intimes. Man wird an die Gemeinſchaften lite⸗ 
rariſcher Freunde in den Cigarrales von Toledo erinnert, wenn man in 
den ſchoͤnen, von hoher Kunſt belebten Räumen der Madrider Salons 
mit den Fůhrern der neuen Zeit in Spanien zuſammentrifft. Und auf der 
anderen Seite gewinnt man hier einen ganz tiefen Eindruck davon, wie 
ſehr Spanien zu Europa gehoͤrt und wie ſehr trotz aller Sonderentwick⸗ 
lung und Eigenart der gemeinſame Geiſt dort weht. Dem tiefer Blickenden 
iſt es beſonders reizvoll, die rhythmiſche Spannung zu beobachten, durch 
die das ſpaniſche Geiſtesleben in Schwingung erhalten wird. Spanien, 
der aͤußerſte Weſten Europas, hat, ſo ſeltſam es klingt, entſchieden manchen 
Zug von Oſten her in feiner Kultur. Ob das mauriſches Erbe iſt oder aus 
der Gemeinſamkeit der Naturverhaͤltniſſe hervorgeht, ſoll hier nicht ent · 
ſchieden werden. Aber es iſt eine merkwuͤrdige Perſpektive, die ſich bei 
naͤherer Betrachtung aus dieſer Tatſache eröffnet: Spanien, das Land, 
»Der Redakteur, Herr Sta. Maria, bat übrigens auch für den Fernen Oſten Inter⸗ 
eſſe und beſitzt ſelbſt eine anſehnliche oſtaſiatiſche RAunſtſammlung. Auch von 
deutſcher Seite hat man mit dem ſpaniſchen Geiſtesleben Sühlung genommen 
und eine wiſſenſchaftliche Austauſchſtelle geſchaffen, an der Serr Dr. Molden; 
bauer ſehr umſichtige und erfreuliche Arbeit leiſtet. Eine ſpaniſche wiſſenſchaft · 
liche Austauſchſtelle von internationaler Spannweite iſt die Residencia de los 
Estudiantes, deren Leiter Profeſſor A. Jimenez iſt. 


Jelir Braun, Frankreich und Deutſchland 349 


von wo Europa zuerſt feine Expanſion nach dem aͤußerſten Welten be- 
gann, auf der anderen Seite artverwandt mit dem Oſten, von dem die 
mMenſchheits kultur ihren Anfang nahm. was das Gemeinſame iſt, läßt 
ſich mehr fuͤhlen als erklaͤren: es iſt letzten Endes das Parfum einer alten 
Kultur, die eine ununterbrochene Tradition hinter ſich hat und dadurch 
weiſe geworden iſt und zurůͤckhaltend. Und dasſelbe Spanien iſt durch; 
drungen von den letzten und weiteſten Zukunftsgedanken, die in Europa 
die Geiſter mit ihrer Flamme entzünden. So ſchließt ſich der Ring des 
weltgeſchehens auf merkwürdige Weiſe. Und die Säulen des Serkules, die 
frůher die Welt abſchloſſen, eröffnen noch einmal den Weg zu dem Plus 
Ultra einer neuen Weit. 

Der Fuhrer des ſpaniſchen geiſtigen Lebens iſt heute Ortega y Gaſſet. 
Er iſt im deutſchen Geiſtesleben vollkommen bewandert und hat eine 
Reihe wichtiger deutſcher Werke ins Spaniſche uͤberſetzt. Aber was weit 
daruber hinausgeht: er gehoͤrt mit zu den Ruͤndern unſerer Zukunft. Und 
er liebt unſer Europa, deshalb verſteht er es. Und er weiß, daß Europa im 
Aufſtieg und nicht im Untergang begriffen iſt. Darum iſt er jung und 
glaͤubig und hilft uns zu befreien von den alten Eulen, die unſeren weg 
mit Unheilsrufen begleiten. 

Es fehlt ihm nicht an Nadikalismus. Ex weiß, daß wir einen ganz 
neuen Weg gehen muͤſſen und daß nicht ein verſchiedener Geſichtopunkt 
dem Objekt gegenüber uns helfen kann. Die Objekte haben wir genügend 
vor unſerem Okular hin · und hergeſchoben. Seute vollzieht ſich ein Wechſel 
im lebenden und ſchauenden Subjekt. Und dieſer Wechſel ſchafft die neue 
welt. Die Sachlichkeiten, die Zunft, die Arbeit, die politiſchen Werte: fie 
alle muͤſſen es ſich gefallen laſſen, daß fie an eine andere Stelle verſetzt 
werden. Sie bleiben Werte, aber fie muͤſſen an die Peripherie; denn ein 
neuer Wert iſt im Aufſteigen: das Leben ſelbſt, das durch feine bloße 
Gegenwart die übrigen Werte in ihrer Geltung herabdruͤckt. 

So zeigt das alte Spanien ein neues Geſicht, und es wird für uns wich · 
tig und wertvoll fein, wenn wir ruͤckhaltlos uns dieſen Einfluͤſſen oͤffnen 
und unſeren Reigen dadurch bereichern um einen wertvollen und tächtigen 
Genoſſen bei dem Geſt des Lebens. 


Selir Braun 
Frankreich und Deutſchland 
Vi Jahr 253 nach Chriſtus 1 die erſten Germanen, darunter 


die Franken, uber den Limes in Gallien ein; im fünften Jahr · 
hundert hatte der Stamm der Salier die Ardennen erreicht. Chlojo, 


350 Felix Braun 


der erſte Merowinger, eroberte um 430 Cambrai und das Land bis zur 
Somme. Unter feinen Nachfolgern wird um das ganze „Frankreich“ ge⸗ 
rungen, 487 der letzte roͤmiſche Statthalter, Syagrius, von dem jungen 
Chlodowech geſchlagen, das Gebiet zwiſchen Zoire und Somme erobert. 
Dieſer Sieg bei Soiſſons bedeutete — wir folgen hier dem ſchoͤnen Werk: 
„Das Frankenreich“ von Johannes Bühler (Inſelverlag) — „die eigentliche 
Beburtsftunde” des merkwuͤrdigen, dunklen, uns Seutige urfremd duͤnken⸗ 
den Reiches der Franken, das faſt vier Jahrhunderte durch gewaͤhrt hat. 
Karl der Große reſidiert in Aachen, doch auch in Paris; in Rom aber 
war er gekrönt worden. Noch gibt es kein Deutſchland, kein Frankreich — 
nur ein Neuſtrien und ein Auſtraſien. Karl beſitzt das Imperium, das iſt 
damals wahrhaft „Europa oder die Chriſtenheit“. Erſt der Verduner Ver · 
trag (843) teilt das Reich in Reiche, die noch immer bloß Serrſchgebiete des 
weſtens, Oftens und Südens find, bis 870 die ergänzenden Abmachungen 
von Merſen zu der endguͤltigen Scheidung Deutſchlands von Frankreich 
führen — 1000 Jahre vor dem Krieg Bismarcks und Moltkes gegen 
Napoleon. Ein Jahr vor Verdun waren in Straßburg Treueide zwiſchen 
den Fuͤrſten gewechſelt worden, wobei der Serr des Weſtlandes in der ger- 
maniſchen, der des Oſtlandes in der romaniſchen Mundart redete. Dieſer 
Tauſch der Eide war das letzte Zeichen dafuͤr, daß Bruͤder ſich voneinander 
trennten. „Wie viele Male habe ich unter meinen Freunden, die mir aus 
Deutſchland gekommen find“, ſagt Romain Rolland in feiner ſchoͤnen Er ⸗ 
innerung an Malwida von Meyſenbug, die man in dem ihm gewidmeten 
Almanach feiner deutſchen Verleger leſen kann, „franzoͤſiſchen Urſprung 
entdeckt, der unzerſtoͤrlich iſt .. O barbares de la politique, qui ruinez 
l’equilibre merveilleux de l' union des deux familles d’occident!“ 


II 

Der „ fraͤnkiſche Beift Frankreichs bleibt lange noch ſichtbar. Die großen 

gotiſchen Kathedralen find feine verwandelten Geſtaltungen, und wie 
auch die deutſche von der franzoͤſiſchen Gotik ſcheidbar iſt: ůber dem Grabe 
des erſten Capet war die erſte gotiſche Kirche Europas erſtanden, bis weit 
nach Oſten wirkten die franzoͤſiſchen Bauhuͤtten über, Straßburg und 
Köln find von ihnen mitgepraͤgt, ſelbſt noch an der Front des Ulmer Muͤn⸗ 
ſters fpielt ein Sau ſolchen ruhevoll⸗ weiten, Flareren Geiſtes. Der Be- 
bildete weiß, daß Wolfram von Eſchenbach ohne Chrestien de Troyes, daß 
unſer Minneſang ohne die Kunft der Trouvères nicht denkbar wäre. Ein 
mit Ziebe und Fleiß beforgtes Buch: „Alt- und neufranzoͤfiſche Lyrik" 
in Nachdichtungen von Alfred Neumann (Münden, Allgemeine Verlags · 
anſtalt) laßt den langwaͤhrenden Zuſammenhang beſonders in der Volks⸗ 
lyrik und in den anonymen geiſtlichen und epiſchen Geſaͤngen wahrnehmen. 
Namentlich find es die bretoniſchen Balladen und Lieder, die uns, keines 
wegs bloß durch den innigen Ton der deutſchen Ubertragung, als ſehr 


Frankreich und Deutſchland 351 


verwandt anmuten. Dieſer — nennen wir ihn nur — germaniſche Ton 
halt im Volkslied an bis in das achtzehnte Jahrhundert, normanniſche, ja 
ſogar provencalifche Lieder haben ihn unverſehrt bewahrt. Noch zur Zeit 
der Jeanne d Arc beſeelt dieſe Muſik die Dichter, auch die hoͤſiſchen. Erſt 
mit Villon und Marot beginnt die neufranzoͤſiſche Lyrik. In eben dieſer 
Zeit bricht der politiſche Zwiſt aus: Sranz der Erſte bekriegt Karl den Suͤnf⸗ 
ten, und von nun an find die beiden Nationen des Nordens einander feind; 
gefinnt, deutſches und franzoͤſiſches Weſen ſchroff voneinander geſchieden. 

Die kulturgeſchichtlich zuhoͤchſt intereſſierende Frage: was in Frankreich 
vorgegangen iſt, daß es wie mit einem Schlag ſein germaniſches Erbteil 
verleugnete, ſein romaniſches und galliſches aber als ſein eigentliches 
und ausſchließliches darwies, iſt bisher nicht beantwortet (oder noch gar 
nicht geſtellt?) worden. Wohl war in der franzoͤſiſchen Gotik dem ger- 
maniſchen Vertikalismus die Sorizontale des romaniſch Haſſiſchen Ge⸗ 
dankens entgegengehalten und eine Syntheſe zwiſchen den beiden Prinzi⸗ 
pien vollzogen worden. Aber um die Mitte des ſechzehnten Jahrhunderts 
hatte offenbar ein Willensakt — des Königs? eines einzelnen Geiſtes? der 
Nation? — Frankreich das Angeſicht gegeben, das uns heute noch ent; 
gegenblickt, darin kaum ein germaniſcher Zug mehr vorherrſcht, ſondern 
jene fremde, oft geliebte, oft befehdete, faſt lets bewunderte und doch ſelten 
das Serz ganz treffende Schoͤnheit, die der Diamant, das Eis und der Geiſt 
des Menſchen beſitzt; die dann bezaubernd wirkt, wenn das milde Sonnen 
licht der Golfſtromkuͤſte durch das Laub der hohen Baͤume — Claude 
Lorrain und Corot haben fie gemalt — hinſchwebt; jene Schoͤnheit, 
die das Zierende und Blendende vermag, die ſtreng iſt, aber auch zärtlich 
ſchmeicheln kann, die alles zur Geſtalt formen will, ſelbſt die Ciebe, und 
nicht zulaͤßt, daß das Zerz die große Ordnung der Welt und die Heine der 
menſchendinge allzuſehr ſtoͤre. Das Frankreich Racines — wann iſt es 
entſtanden, und wie kommt es aus dem Frankreich der Kathedralen? Wie 
haͤngt Voltaire mit der Sainte Chapelle, Mirabeau mit dem Maͤdchen von 
Orléans zuſammen ? In der Epiſode der Romantik entſannen ſich Dichter 
und Maler wohl diefer Ahnenſchaft; etwas vom deutſchen Lied war in 
Verlaines Muſitk verirrt; und heute —- leuchtet nicht in Elaudels Myſterien 
das lichte Blau der Glasfenſter von Chartres mit? 


III 
ie Kriege Karls des Fuͤnften mit Franz dem Erſten waren Renaiſſance⸗ 
Streite: die Voͤlker führten fie noch nicht, Soldner fochten gegen · 
einander. Erſt als nach den Raubkriegen Ludwigs des Vierzehnten das 
Elſaß an Srankreich fiel, war nationaler Saß erwacht, jedoch durch die Zeit 
bald wieder beruhigt; ſelbſt Friedrichs Feldzuͤge erregten ihn nicht allzu tief. 
Goethe erwaͤhnt aus Straßburg nichts, was darauf zu beziehen waͤre. An 
der großen Revolution nahm der deutſche Geiſt lange mit Leidenſchaft teil. 


352 Selig Braun 


Die napoleoniſche Ubergewalt erſt ſchuf den Zuſtand der Seindfchaft, der 
über 1870/71 zu 1914 / Is gedieh und nach jener letzten Übertreibung durch 
die rohe Siegausnuͤtzung Poincarès in ein Stadium beginnender Ent⸗ 
ſpannung getreten iſt, auf das wir nun viele Zoffnungen ſetzen. 

In geiſtigen Bereichen wechſelten die Strömungen. Leſſing war es, der, 
ein anderer Friedrich, das große kritiſche Roßbach gegen Voltaire gewann. 
Aber ſchon Goethe neigte ſich liebend weftäber. Frankreich blieb für 
Deutſchland ein Kriterium. So oft es Vorbild wurde, bekaͤmpften es 
Wiffende und Fuͤhrer; aber immer blieb es Wertmaß. Frankreich hin ; 
gegen glaubte Deutſchland nichts zu ſchulden, ſogar es, ſofern es nicht in 
waffen ſtand, außer acht laſſen zu dürfen. Romain Rolland war der erſte 
Sranzoſe, der Deutſchland für feine Muſik dankte. Sein „Johann Chri⸗ 
ſtoph“ td — lange vor dem Kriege — als großes Sriedensmanifeft ge- 
plant geweſen, und als dieſes begrüßte das vollendete Werk 1912 Stefan 
Zweig, deſſen wirken — gleichfalls lange vor dem Kriege — der Ver⸗ 
ſoͤhnung der beiden Volker geweiht geweſen war. Aber dem Symbol des 
Eidtauſches von Straßburg folgte — tauſendein hundert Jahre nach 
Karls des Großen Tod — ein zweites: zwei Freunde, ein deutſcher und 
ein franzoͤſiſcher Dichter, lagen einander in feindlichen Seerfronten gegen; 
über: Charles Peguy und Ernſt Stadler. Und fie fielen beide 1914 in den 
erſten Gefechten. 


IV 

domain Rollands heroiſche Tat: die Liebe zum Vaterland, die un⸗ 
ermindert in feinem Serzen blieb, der hoͤheren Liebe zu der Idee einer 
geeinigten Menſchheit zum Opfer zu bringen, hat vielleicht in keinem 
Lande reichere Wirkung erzielt als in Deutſchland. Edle Geiſter haben ihm 
hier mit Dank und Liebe erwidert. Zu dieſen gehoͤrte immer ſchon der junge 
̊ſterreichiſche Dichter Erwin Rieger, deſſen Liebe zu Frankreich — dem 
Land, der Sprache, den Menſchen, den Dichtern — zu innig war, als daß fie 
durch politiſche Seindfchaft der Völker hätte beeinträchtigt werden Finnen. 
Seine eben im Verlag Der Neue Geiſt, Leipzig, erſchienene Sammlung von 
Eſſays: „Frankreich und wir. Notizen eines Oſterreichers ! it mit ein Anlaß 
zu der Niederſchrift vorſtehender Zeilen geworden. Nach den Schriften von 
Ernſt Robert Curtius wird dies neue Buch nunmehr zu nennen ſein, das 
im ſtrengen Dienſt einer Idee werbend, kaͤmpfend, liebend das Erlebnis 

Srankreichs in ſchoͤnen, herzvollen Worten mutig offenbart. 
von der mittelalterlichen Ciebesdichtung „Aucaſſin und Nicolette“ über 
Ronſard, Port ⸗Royal, Beaumarchais, Merimée, Théophile Gautier, die 
Operette Offenbachs, Mallarmẽé, bis zu Rolland und Duhamel wird durch 
die franzoͤſiſche Literatur eine Linie gezogen, die, ſo willkuͤrlich fie ſcheinen 
mag, doch an jeder Biegung das Einſetzen einer neuen Generation, eines 
neuen Stilwillens, anzeigt. Auf „Aucaſſin und Nicolette! folgt, uͤber Jahr⸗ 


Frankreich und Deutſchland | 353 


hunderte hinweg, Ronfard, und vielleicht haben wir bier die Antwort auf 
unſere Frage nach der Geburtsſtunde des franzoͤſiſchen Frankreichs. Der 
janſeniſtiſche Geiſt von Port ⸗Royal kann als eine Reaktion des aͤlteren, 
gotiſchen Frankreichs wohl gedeutet werden, aber ſchon tritt der Vor⸗ 
laͤufer der Revolution kaͤmpferiſch und herzgewinnend auf, und nun haben 
die vielen Generationen, die für das neunzehnte und auch das zwanzigſte 
Jahrhundert charakteriſtiſch ſind, je einen Vertreter in dem Buche: Gautier 
ſtellt die Romantik, Offenbach das Bürgertum, Mallarmé das Fin de 
siècle, Rolland und Duhamel unfere Zeit dar. Wer dieſe ſchoͤnen Eſſays 
gelefen hat, weiß um die franzoͤſiſche Literatur oder doch um ihren Glanz, 
der die anderen Nationen ſo ſehr zu ihr hinzieht. Natuͤrlich konnte nur ein 
Durchſchnitt gegeben werden, aber wie ſehr iſt nicht der Teſer bewogen, 
fortan ſelber weiter zu forſchen und zu lernen! 

Der zweite Teil des Buches führt nach Paris und in das Land. Eine ent; 
zůͤckende „Kleine Pariſer Suite“ ſchildert den unſterblichen Reiz der ein- 
zigen Stadt von vielen Seiten her. Man ſieht den zauberiſchen Vorfruͤh⸗ 
ling, der ſein mildes Licht durch die Baͤume von St. Cloud und Verſailles 
fpielen läßt, man ſieht die Seine glänzen und die Buͤcherruͤcken in den 
Kaͤſten der Bouquiniſten leuchten. Die vielen Theater oͤffnen ſich, exotiſche 
Schauſpielerinnen erſcheinen, aber eine wird als die hoͤchſte geprieſen: 
udmilla Pitoeff, die, ſeit die Duſe vergangen iſt, für die größte, ſicherlich 
die ergreifendſte der welt erklärt werden darf. Die Revuen, die Varietés, 
die Tänze koͤnnen nicht in einem Bilde von Paris fehlen — und kraft 
dieſes Sinns für den Wert auch der leichten Künfte, der den Aufſatz über 
die Geſchichte der Operette ſo leſenswert macht, war der Verfaſſer, wie 
wenige, befaͤhigt, ſich an die Darſtellung der grazioͤſeſten unter den Städten 
zu wagen. Ein Bild des Paris der Nachkriegszeit iſt hier fuͤr immer feſt⸗ 
gehalten. Nicht minder ſchoͤn aber find auch die Landſchaften, das noͤrd⸗ 
liche Frankreich der Borinage, der wundervolle „Blick in die Normandie“ 
mit der Beſchreibung Rouens und des Meeres: „Vor dem Savre, vor 
Sonflene und den Bädern drüben, Trouville und Deauville, liegt es riefen- 
groß, unvergleichlich, ewig. Im gewaltigen Rhythmus von Ebbe und 
Flut wirft es ſeine Wogen wie vor tauſend Jahren rauſchend an dieſe 
Kuͤſten. Segel ziehen über fein Grau, fein Blau, fein Gruͤn, Dampfer 
gleiten in der Ferne fo lange gleichſam über feine Kante, bis fie ſich fchließ- 
lich aufloͤſen in ein Nichts, in einen Streifen Rauchs, in ein verſchwinden⸗; 
des dunkles Puͤnktchen. Zoch in der Luft kreiſen die ſilbernen Moͤwen. 
wenn die Sonne verſinkt, fo verwandelt fie das Gewaͤſſer in eine faſzi⸗ 
nierende Palette, in ein ſchimmerndes Email, in tauſendfach ſchillernde 
und irifierende Seide. Über den Sand aber werfen die Wellen unaufhoͤr⸗ 
lich ihre weißen Kaͤmme, die fi wie Buchel ungeheurer Straußfedern 
uͤberſtuͤrzen. 

„Frankreich und wir“ ift die hochherzige Rede genannt, die noch einmal 
Cat XVIII 24 


351 Felix Braun, Srankreich und Deutſchland 


alle Liebe zu Frankreich in einer leidenſchaftlichen Beſchwoͤrung zur Ver⸗ 
ſoͤhnung aufbietet. Sache des Öfterreichers muͤſſe es fein, auch hier die 
pflicht des Mittleramtes zu verſehen — um Europas, um der Menſchheit 
willen. „Richtig zu reifen — darauf kommt es an.“ Sehr zutreffende Worte 
werden uͤber die Notwendigkeit tieferer Einfuͤhlung in das Fremdnationale 
im fremden Land geſagt und obſchon es durchaus zu den lobenswerten 
Eigenſchaften des Deutſchen zaͤhlt, dem Fremden treu nachzuforſchen: eine 
noch intenſivere Vertiefung muß gefordert werden, wenn das boͤſe Prinzip 
der Grenzen, nicht nur der ſtaatlichen und nationalen, endlich gebrochen 
werden ſoll. Die „Vereinigten Staaten von Europa“ ſcheinen dem Ver⸗ 
faſſer dieſer Zeilen nicht wuͤnſchenswert: es iſt genug amerikaniſiert wor ⸗ 
den, es wird ja auch hinreichend aflstifiert, Europa aber ſoll Europa, das 
heißt: eine Buntheit von Staaten ⸗ und Voͤlkerperſoͤnlichkeiten bleiben. 
Aber jene oͤſterreichiſche Aufgabe, an der unſere Generation geſcheitert iſt 
— die Nationen unter einer gemeinſam verbindenden Idee zu Brüdern 
zu machen —, ſcheint wohl lösbar, ihr nachzuſtreben, wuͤrdigſtes Ziel. 
Und da muß der Anfang in der Laͤuterung der Gefuͤhle zwiſchen Deutſch 
land und Frankreich gemacht werden. Die glaͤubigen Worte des jungen 
Dichters, möchten fie den kuͤnftigen Generationen, deren Tat dieſe hohe 
fein muß, vorleuchten ! 


V 

ier ſei auch die Gelegenheit benutzt, um auf einige neue Uberſetzungen 
franzoͤſiſcher Literatur zu verweiſen. Victor Sugo ſcheint jetzt für 
Deutſchland entdeckt zu werden. Der Verlag Erich Reiß gibt feine gefammel- 
ten Werke in der Übertragung von Carl Johann Perl heraus; in dem aus⸗ 
gezeichneten „Epikon! des Verlages Paul Liſt iſt fein „1793“ in der edlen 
Nachgeſtaltung von Alfred Wolfenſtein erſchienen. Ganz vorzuͤglich find 
Ernſt Sanders Verdeutſchungen von Murgers „Boheme“, Flauberts 
„Ein ſchlichtes erz“ und Voltaires „Candide“ (in der Reclam' ſchen 
Univerſalbibliothek); Erzaͤhlungen von Voltaire danken wir auch dem 
Fleiß und der Singabe Alf Freiherrn v. Tzibulkas, deſſen Band „Die Prin⸗ 
zeſſin von Babylon“ im Drei Eulen ⸗Verlag in Muͤnchen herauskam. 
Rollands Dramen, zuletzt der „Triumph der Vernunft“ find, von Erwin 
Rieger trefflich übertragen, im Zuͤricher Notapfel⸗Verlag, die Jugend- 
erinnerungen von Erneſt Renan mit einer prachtvollen Einleitung Stefan 
Zweigs in der Frankfurter Verlagsanſtalt erſchienen. Als eine franzoͤſiſche 
Gegengabe ſei Georges Duhamels „Anthologie de la Poesie Lyrique 
Francaise de la fin du XV® siècle & la fin du XIX“ siècle“ (Inſel⸗ 

verlag) beſonders erwaͤhnt. 
„Nicht die Gewalt der Arme noch die Tuͤchtigkeit der Waffen, ſondern 
die Kraft des Gemuͤts iſt es, welche Siege erkaͤmpft“, ſagt Fichte in feiner 
herrlichen achten Rede an die deutſche Nation, in der auch das bemerkens⸗ 


Sans Sartmann, Reiſeeindruͤcke aus Frankreich 355 


werte Wort ſteht, daß der Menſch nicht einmal ſich ſelbſt zu lieben ver- 
möge, „es ſei denn, daß er ſich als Ewiges erfaſſe “. Betrachten wir Men⸗ 
ſchen und Voͤlker auch in ſolchem Bezug auf das Ewige, ſo wird der Wille, 
der Feindſchaft zu ſetzen und auszudauern entſchloſſen iſt, von ſelbſt 
ſchmelzen. Paziſismus, der vermeint, es ſei der kriegeriſche Inſtinkt der 
Menfchen zerſtoͤrbar oder Überhaupt aus der Natur zu merzen, irrt. Erſt 
dort, wo auf Zeitliches ein ewiger Blick faͤllt, wird es verwandelt, wie ſich 
das Menſchliche dem Goͤttlichen ohne Gegenwehr, vielmehr mit Liebe, 
hingibt. Rein Programm der Menſchen wird wahre Verſoͤhnung ſtiften: 
allein wo der Eigenwille verzichtet, von ſelbſt zu loͤſen, was einzig Gottes 
iſt, die Seele aber bereit iſt, mitzudienen, kann ſich erfüllen, was ſeit je die 
beſten Serzen erſehnt haben. 


Hans Hartmann 


Reifeeindrüde aus Frankreich 


s fahren ſchon wieder viele Deutſche nach Frankreich. In Paris, in 

Nizza hoͤrt man deutſch ſprechen und in den induſtriellen Norden 

find ganze Kolonien von deutfchen Arbeitern wiedergekehrt. Aber 
Land und Volk lernt man fo nicht kennen, und es hat daher einen eigenen 
Reiz, abſeits der großen Seerſtraße des Fremdenverkehrs zu reiſen und in 
die eigentuͤmliche franzoͤſiſche Landſchaft und die Seele des Volkes einzu- 
dringen. 

Durch das liebliche und immer romantiſchere Nahetal geht es ins in⸗ 
duſtriereiche Saargebiet. Man hoͤrt in der Bahn nur deutſch und iſt erfreut 
über die ruhige Sicherheit, mit der die Saarlaͤnder dem allmaͤhlichen Ab- 
bau aller franzoͤſiſchen Unannehmlichkeiten, um nicht zu ſagen Schikanen, 
bis zum endgültigen Befreiungstage in zehn Jahren — hoffentlich fruher 
— entgegenſehen. Auch in Frankreich hofft dein Menſch, daß ſich das Saar⸗ 
gebiet politiſch werde von Deutſchland trennen laſſen. Was die Wirtſchafts 
großen alles unternehmen, um das auf ihrem Gebiet zweifellos sorban- 
dene Saarproblem zu loͤſen, ſteht auf einem anderen Blatte. 

Man iſt geſpannt auf die Einreiſe in Lothringen, aber ſiehe da, der Zug 
haͤlt erſt einmal 11 / Stunde in Saarbrůcken, um den Unterſchied zwiſchen 
der mittel ⸗ und weſteuropaͤiſchen Zeit hereinzuholen ! Die Eiſenbahnver⸗ 
waltungen konnten ſich naͤmlich nur bei den Cuxuszuͤgen über den Fort ⸗ 
fall der Wartezeit verſtaͤndigen ! Nun, man freut ſich ſchon, auf der Ruͤck⸗ 
reife den langen Aufenthalt nicht zu haben. Aber . . nach drei Wochen, 
in Zauterburg, iſt der gleiche Aufenthalt! Mittlerweile war naͤmlich in 
Frankreich die Sommerzeit eingeführt worden. Und wiederum hatten ſich 
nur die Zuxuszuͤge bewogen gefuͤhlt, „mit der Zeit“ zu geben. 


24° 


356 Sans Hartmann 


Endlich gluͤckt es und man ift in Metz. In huͤbſchen Gaſſen findet man 
verſchwiegene Winkel und vertraͤumte Kirchen, wie 3. B. St. Martin. 
Aber dann gibt es das induſtrielle Metz, Tauſende von Arbeitern ſieht 
man und ſpuͤrt den Sauch des Ubergangsgebietes zwiſchen deutſchem und 
franzoͤſiſchem Land. Auf den Straßen hoͤrt man viel, vielleicht uͤber⸗ 
wiegend deutſch. Schließlich gibt es noch das „wiedereroberte Metz: mit 
auffallenden Denkmaͤlern und Tafeln. Ein glänzendes, kuͤnſtleriſch wert⸗ 
volles Denkmal iſt Deroulè de gewidmet, der 1871 vor allem proteſtierte, 
davor ein Poilu, eine Trompete blaſend. Nicht weit davon ein Monu⸗ 
ment: ein Adler, der tot daliegt, gewidmet den „Raͤmpfern für Recht und 
Freiheit. 27. Io. 70 und 19. II. IS“. 

Daneben ſteht das lebendige Denkmal der Metzer Geſchichte, die porte 
Serpenoiſe, das alte Saupttor der Seftung, und man lieft darauf: 1473 er⸗ 
folgte ein Überfall auf Metz, das durch den Bäder Sarelle gerettet wurde. 
1552 wird der Sauptangriff Karls V. durch den Serzog von Guiſe ab- 
gefchlagen. 1561: das Tor zerftört. 1851: wieder aufgebaut. Unter deut; 
ſcher Serrſchaft 1892— 1902 verändert. Dann ſteht zu leſen: Am 29. Ok⸗ 
tober 1870 iſt Metz durch Verrat Bazaines an die Deutſchen ausgeliefert 
worden. Einzug der deutſchen Fuͤhrer 3. Oktober. Am 19. November 
J918 „befreien die franzoͤſiſchen Truppen Metz vom deutſchen Joch und 
are nach 48 Jahren eee een durch dieſes Tor wieder 
3 ck“. - 

So ſteht man bier an An hiſtoriſchen Stätte erſten Ranges und fo 
ſpiegelt ſich da die deutſch⸗franzoͤſiſche, ewig wechſelvolle Geſchichte wieder, 
von der jeder Elſaß⸗ Lothringer hofft, daß fie in einen Frieden muͤnde, der 
ihr Land für immer von dem Kluche befreit, ſtets nur der Zankapfel 
zwiſchen zwei Großmaͤchten zu ſein. 

Da wohl faſt jeder Deutſche uͤber die geographiſche Einteilung ganz im 
Unklaren iſt, ſei hier angemerkt, daß I870 Lothringen aus zwei Departe⸗ 
ments, Meurthe und Moſelle beſtand. Jedes derſelben verlor etwa die 
Hälfte an Deutſchland („Deutfch- Lothringen”) und die beiden Reſte, alſo 
Franzoͤſiſch⸗Cothringen, wurden zu dem einen Departement Meurthe · et · 
Moſelle zuſammengezogen. Dieſes beſteht jetzt noch, da bei der Wieder⸗ 
eroberung die urſpruͤngliche Abgrenzung nicht wieder hergeſtellt wurde, 
ſondern Deutſch⸗ Lothringen als beſonderes Departement Moſelle er⸗ 
ſcheint. So beſteht alſo Elſaß ⸗Cothringen jetzt aus drei franzoͤſiſchen De⸗ 
partements: Saut Rhin (Oberelſaß, auch noch nicht wieder vereinigt mit 
feinem ftets franzoͤſiſch verbliebenen Reſt Belfort, das wie Nizza nicht ein 
Departement, ſondern nur eine Art freie Stadt bildet), Bas ⸗Rhin (Unter⸗ 
elſaß), Moſelle (Deutfch- Lothringen). Diefe drei Departements haben eine 
Anzahl Sonderrechte aus der deutſchen Zeit behalten: Staatsbahn, So⸗ 
zialverſicherung, deutſcher Unterricht als Pflichtfach in den Volksſchulen u. a. 

Aber noch eines fiel mir in Metz auf: ein Zeichen der wirtſchaftlichen 


Reiſeeindruͤcke aus Frankreich 357 


Not Frankreichs. Im Warteſaal hing ein Plakat mit den Worten: „Der 
geudet nicht das Brot. Die Getreideeinfuhr bringt das Gold ins Ausland. 
Sparſamkeit mit Brot wird den Kredit Frankreichs erhoͤhen “. Wie ein 
Damoklesſchwert haͤngt ja die Valuta Über Frankreich, und gelingt es 
nicht, dieſe Frage zu loͤſen — der einzige Weg: Abruͤſtung! — fo wird 
Frankreich unermeßlichen wirtſchaftlichen Schwierigkeiten entgegengehen. 
Jetzt gibt es keine Arbeitsloſen und alle Schornſteine rauchen, aber die 
Stabiliſierung muß kommen, die franzoͤſiſche Pſyche wird die Unſicherheit 
nicht aushalten, und dann ſind die Folgeerſcheinungen, Exportkriſe, Ver⸗ 
minderungen des verhaͤltnismaͤßig hohen Zebenoniveaus und Unzu⸗ 
friedenbeit, unausbleiblich. 

Die aͤußeren Reſte der deutſchen ziviliſation, der unglaublich große 
Bahnhof, eines der Prunkſtuͤcke aus der wilhelminiſchen Zeit oder die 
blauen preußiſchen Brief kaͤſten, ſollen uns nicht ſentimental ſtimmen. 
Die innere deutſche Kultur wird den Elſaß⸗Cothringern nicht verloren 
gehen, und ehe die darauf zielenden Beſtrebungen gewiſſer franzoͤſiſcher 
Kreiſe Erfolg haben, wird fie ſich hoffentlich zu einem feſten Gebilde ent- 
wickelt haben, das allen politiſchen Stuͤrmen trotzt. 


Sr: am Abend fuhr ich die Strecke nach Verdun, in ſchnurgerader 
Linie über Conflans⸗Jarny. Wie zwei drohende Ungeheuer ſtanden 
ſich im Kriege die beiden Seftungen Metz und Verdun gegenüber, keines 
konnte das andere bezwingen. Der Zug ſteigt und fällt und man befindet 
ſich in dem hůgeligen Gelaͤnde, das Verdun ſchuͤtzt — fo ſehr ſchuͤtzt, daß 
es den Deutſchen waͤhrend der furchtbaren Verdunſchlacht 1916 ſelbſt am 
vorgeſchobenſten Punkte nie glüdte, nach Verdun hineinzuſehen. Im 
Dunkel der Nacht ſehe ich noch die Schuttplaͤtze der zerſchoſſenen Saͤuſer. 
War doch die Saͤlfte der Saͤuſer total zerfiört, die andere Saͤlfte beſchaͤdigt, 
einige wenige blieben durch Zufall ganz. Jetzt iſt das Meiſte wieder auf. 
gebaut, in hellen und weißen Tönen, aber leider ohne jede Griginalitaͤt 
des Stiles. Und wie haͤtten gerade dieſe zerſchoſſenen Staͤdte (von denen ich 
weiterhin Reims, Douai, Senin-Lietard, Lens, Amiens ſah) Gelegenheit 
geboten, etwas wirklich Neues zu ſchaffen! Gerade in der Architektur 
haftet der franzöfifche Geiſt zu ſehr am Prunk der alten klaſſiſchen Zeit, 
und es iſt ihm hier noch keine neue Idee, kein neuer Schwung gegluͤckt. 

Wie klein mutet neben den Rieſenausmaßen der Verdunſchlacht, die 
allein eine Million Tote koſtete (/; Deutfche, / Franzoſen), die Erinne⸗ 
rung an 1870 ſtatt, wo der Stadt Verdun 6 Ehrenkanonen geſchenkt 
wurden. Das am Bahnhof aufgeſtellte Kriegerdenkmal, deſſen Erz⸗ 
figuren teilweiſe durchloͤchert find, verzeichnet, daß damals die Verteidiger 
Verduns (im Gegenſatz zu denen von Metz) von Gambetta ein beſonderes 
Zob wegen ihrer Tapferkeit geſpendet bekamen. 

Ich war der einzige Beſucher Derduns, das in der Sochſaiſon von 


358 Sans Sartmann 


Menſchen aller Nationen uͤberlaufen wird. Ehe ich ein Auto bekam (das 
mich für II Mark zwei Stunden lang durch das Gelaͤnde fuhr !), fab ich 
die Stadt genauer an. Zwei Inſchriften fielen mir auf: Eine engliſche auf 
dem neuen großen Waſſerturm und eine hollaͤndiſche auf dem Monument 
an der Zitadelle, das einen zu Tode getroffenen Krieger, darüber eine Sar · 
pye mit entſetzlichem Angeſicht, ein Symbol des Krieges, zeigt. Die eng ⸗ 
liſche lautet: „Am 13. Dez. 1920 hat das Komitee von Stadt und Graf ⸗ 
ſchaft London beſchloſſen, unter Mac Kenne, für Verdun den Turm zu 
ſtiften. Wir wollen unſere Sympathie ganz Frankreich aus ſprechen und 
wir, das Serz und Zentrum des britiſchen Reiches, wählen das Ser; und 
Zentrum des franzoͤſiſchen Kampfes, um England und Frankreich zu- 
ſammenzuſchließen, ganz England und ganz Frankreich in der engſten und 
dauerhafteſten Verbindung“. Dieſer Zuſammenſchluß ſteht nur auf dem 
Papier des Verſailler Vertrages. In den Serzen der beiden Voͤlker iſt er 
ſchon laͤngſt nicht mehr vorhanden. Durch die Erinnerung an das ge⸗ 
meinſam vergoſſene Blut kann er noch eine Zeitlang aufrecht erhalten 
werden. Aber lange haͤlt es nicht vor; dann wird auch dies vergeſſen. Die 
Diplomaten ſtehen ſich ſchon fo kuůͤhl wie je gegenüber, und die beiden Zän- 
der haben ſich infolge der weltpolitiſchen Gegenſaͤtze wieder gegenſeitig 
iſoliert. Ja, man kann fagen, daß ſich insgeheim beide Volker um eine 
Annaͤherung an die Deutfchen bemuͤhen. Das tritt kaum oͤffentlich her⸗ 
vor; aber man hoͤrt doch häufig ſowohl von Sranzofen wie von Eng ; 
laͤndern, daß ihr Volk eigentlich dem deutſchen Volke verwandter ſei, als 
dem „verbündeten”. Die Engländer berufen ſich dann auf das gemein- 
ſam Germaniſche, die Franzoſen auf die uralte kontinentale Kulturver⸗ 
bundenheit, auf gewiſſe philoſophiſche Richtlinien und eine Stellung zum 
Leben, wie fie ſich bei den Angelſachſen beider Rontinente nicht finden. 
Jedenfalls hat hier der deutſche Geiſt noch die große Aufgabe vor ſich, 
die beiden Kulturen in Verwandtſchaft und Verſchiedenheit immer tiefer 
zu begreifen — eine Aufgabe, der natuͤrlich mit Schlagworten irgend- 
welcher Art abſolut nicht beizukommen iſt, ſondern nur mit Verſenkung. 
Die zweite Inſchrift lautet: Zum Ruhm des ewigen Frankreich der un- 
befiegbaren lothringiſchen Stadt Verdun die treuen Freunde aus Solland, 
welche niemals am Triumph des Rechts und der Gerechtigkeit verzweifelt 
find. Dezember 1916, Auguſt 1920. 

Auch dieſe Inſchrift macht nachdenklich. Das ewige Frankreich? Vielen 
Ohren find ſolche Worte angenehme Muſik. Aber es iſt ſicher, daß man 
allein durch das Gewinnen eines Krieges noch nicht Anſpruch auf ewige 
Bedeutung erlangt. Da entſcheidet nur die innere Qualitaͤt, und es haͤngt 
alles davon ab, ob in Frankreich der gute, aufopfernde, ritterliche Geiſt 
zum Siege gelangt oder ein boͤſer, Heinlicher und gehaͤſſiger. Jedes Volk 
hat Veranlaſſung, an dieſem inneren Kampfe, der über feinen Wert und 
Beſtand letztlich entſcheidet, mit aller Kraft zu arbeiten. 


Reiſeeindruͤcke aus Frankreich 359 


Der Fuhrer des Autos erklärte mir die Schlachtfelder bei Verdun aufs 
genaueſte. Die weitanſteigenden Berge, fruͤher bewaldet, jetzt kahl und 
mit nachwachſendem Geſtruͤpp bedeckt, find Gefahrzone; fie find noch voll 
von Blindgaͤngern. Das Gelaͤnde war im Kriege in 54 Sektoren eingeteilt. 
Die bekannten Forts Vaux und Douaumont beſichtigt man unter Fuͤhrung 
eines Soldaten. Man ſieht die maſſiven Gewoͤlbe, man ſieht die Maſchi⸗ 
nengewehrfallen, die, ſobald ſich eine Tuͤr oͤffnete, von ſelbſt in Taͤtigkeit 
traten, man ſieht die Zimmer der Kommandanten, primitiv bis zum 
Außerſten; man bört, daß der Rampf um Vaurx 7 Tage und Naͤchte 
dauerte, kompagnienweiſe in kraſſem Gegenſatz zu den Millionen 
verluſten auf den durch Sperrfeuer belegten Anmarſchfeldern; man hoͤrt, 
daß die Deutſchen uͤber das Dorf Fleury mit Joo Saͤuſern, das jetzt durch 
eine Tafel „hier ſtand das Dorf Fleury“ angezeigt wird, vordrangen und 
beinahe den entſcheidenden Sang eroberten, als General Mangin zum 
Gegenangriff vorging, der Verdun rettete — des zum Zeichen ein ſchoͤnes 
Monument von Rene Paris, einen faſt toten Löwen darſtellend, der ſich 
doch wieder zum Sprunge erheben wird. Man hoͤrt, daß die von den 
Deutſchen unter unſaͤglichen Verluſten in 7 Monaten eroberten Sek⸗ 
toren einſchließlich der beiden Sorts in drei Tagen von den Franzoſen 
unter Anwendung kuͤnſtlichen Nebels wiedergenommen wurden. Man 
bört, daß die Franzoſen glauben, der Kronprinz habe befohlen, Verdun 
muͤſſe bis I. Juli 1916 erobert fein, und man hat nicht die Moͤglichkeit 
das nachzupräfen. Schließlich ſieht man die Bajonette, die aus der Erde 
herausſtarren, und die zu den 170 Soldaten gehoͤren, die während des 
Kampfes plotzlich verſchuͤttet wurden. 47 von ihnen hat man nachher 
wiedererkannt. Ein reicher Amerikaner hat eine Totenhalle daruͤber er⸗ 
richten laſſen. Man ſieht im Bau das große ossnaire, wo die Sranzofen 
nach ihrer Sitte die Knochen der Gefallenen in Saͤrgen ſammeln. Aber 
fie konnten von 400 ooo Soldaten nur etwa Joo ooo zuſammenbekommen, 
die andern waren voͤllig mit dem Erdboden vermiſcht. Man erfaͤhrt, daß 
alle Eiſenbahnlinien zerſtoͤrt waren und daß die Franzoſen 8 Monate lang 
von Bar: le⸗Duc mit Caſtautos ununterbrochen auf der voie sacrde, der 
„eiligen Spur“ fuhren. 

Jetzt liegt das alles in ſchweigender Vergangenheit. 


urch die Argonnen geht es nach Reims, der großen zerſchoſſenen 

Stadt, mit der herrlich in die Lüfte ſteigenden Kathedrale, die fo un⸗ 
endlich gelitten hat. Lange vertieft man ſich in ihren Anblick und ent⸗ 
flieht dann traurig dem kleinen Seitenſchiff, das dem Publikum zugaͤng · 
lich iſt und das gegen die in Schutt liegende Sauptkirche mit einer Bretter ⸗ 
wand abgedeckt iſt. Draußen kann man ſich vom Anblick dieſer wichtigſten 
Kathedrale Frankreichs, vor der die feine Statue der heiligen Johanna 
ſteht, gar nicht trennen. 8 Saͤuſer waren in Reims ganz geblieben bei der 


360 Sans Sartmann 


Beſchießung, I000 Zivilperſonen wurden getötet und verwundet. Das 
Theater iſt grauenhaft zerſchoſſen, man ſieht in die Ruinen des Foyers 
hinein, aber man kann noch die Engelskoͤpfe mit den für den franzoͤſiſchen 
Geſchmack charakteriſtiſchen Namen feben: Auber, Corneille, moliere 
Racine, Mozart. 

Über Laon geht es ins Rohlengebiet, dann uber Zens mit feinem 
ſchauerlichen Barackenbahnhof, Arras, Amiens mit der „ſchoͤnſten Kathe ⸗ 
drale Frankreichs“, bei der wirklich jede Einzelheit ſehenswert iſt, nach 
paris. Aber von den unendlichen Schoͤnheiten von Paris ſei hier nicht die 
Rede, da die Erfahrungen im Suͤden Srankreichs nicht zu kurz kommen 
ſollen. 

Durch wieſenreiche Flußtaͤler fährt der Zug nach Dijon, nach Lyon und 
dann das Rhonetal entlang nach Marſeille. In Vielem erinnert die Fahrt 
an das Rheintal von Mainz bis Baſel, teils iſt es weite Ebene, teils treten 
die Soͤhen der Cevennen und Voralpen näher heran, zahlreiche Burgen 
ſchmuͤcken die Berge, die nach dem Sorizonte zu hoch anſteigen und in 
wolken verſchwinden. Nur ein Unterſchied iſt da: Es gibt keine waͤlder 
mehr, ſondern nur eine weiße felſige Landſchaft, gelegentlich mit nied⸗ 
rigen Wuchs beſtanden. Die ſuͤdliche Sonne zaubert nie geſehene Bilder 
vor das Auge; Pinien und Jypreſſen heben ſich mit ihrem dunklen Grun 
inmitten der weißen Felſen oder Gartenmauern von dem tiefblauen 
Simmel ab, man uͤberſchreitet die Olbaumgrenze, die etwas noͤrdlich von 
Avignon und Grange Gber die Stadt Nyons geht, es wird dunkel, und 
aufs Freudigſte ůberraſcht wacht man am naͤchſten Tage unter den Palmen 
der Mittelmeerkuͤſte auf. 

Ob man vom Tourmagne bei Nimes, einem ungeheuren alten Turm, 
in die palaͤſtinenſiſche Landſchaft der Olivengaͤrten ſieht oder von Notre 
Dame de la Garde auf das wunderſchoͤn gelegene Marſeille, die „Königin 
der Städte”, ob man von dem Campanile (freiftebender Airchtum) bei 
Cannes auf dies Seebad der Weltariſtokratie oder vom Donjon auf Nizza 
la bella, die genießeriſchſte Stadt der Welt und auf das unbeſchreibliche 
Meeresblau ſieht, das dem FKuͤſteuſtrich den Namen Cöôte d Azur ein- 
brachte, immer ſtaunt Auge und Serz von neuem. Das merkwuͤrdige Meer⸗ 
kaſtell bei Antibes mutet wie aus uralten Zeiten an, dann kommt eine 
Stelle, wo man die Sochalpen fiebt, welche in Nizza und Cannes durch 
das Küftengebirge verdeckt find, dann wieder ſtreckt ſich das Vorgebirge 
bei Monte Carlo weit und dunkel ins Meer hinein. OGrientaliſch ſteigt das 
Dorf Cagnes mit feinen weißen Saͤuſern bis zur alles uͤberragenden Kirche 
an, an der Vegetation, 3.3. an den glockenblumenartigen, uͤber die Saͤuſer 
rankenden Pflanzen, kann man ſich nicht ſatt ſehen, man weiß nicht: iſt 
man in Afrika oder in Aſien oder noch in Europa? 

Eine Kultur beſonderer Art hat die Riviera nicht; ſie iſt international, 
und dies mehr im ſchlechten Sinn des Wortes. Aber es gibt eine boden · 


Reiſeeindruͤcke aus Frankreich 361 


ſtaͤndige ſůͤdfranzoͤſiſche Kultur, die zwei Pole hat: die alten proteſtan⸗ 
tiſchen Zentren Nimes und Montpellier und die auf dem Römertum der 
Städte Arles und Nimes erwachſene provencaliſche Sprache und Runft 
Dichter Miſtral), die in dem einzigartigen Schloß der Paͤpſte in Avignon Aus- 
druck gewinnt und in Marſeille zu ſelbſtaͤndiger geiſtiger Bedeutung gelangt. 

Wenn die kleinen Eidechſen in den Ruinen des roͤmiſchen Theaters von 
Arles ſpielen und der ſůdliche Simmel ſich uͤber der ſtillen Stadt woͤlbt, fo 
traͤumt man von vergangenen Dingen. Jedes Saus in Arles iſt mit einem 
ſchoͤnen alten Ornament geſchmuͤckt und hat dadurch hiſtoriſchen Wert. 
Der Kaiſer Konftantin machte 330 Konſtantinopel zu feiner neuen Saupt⸗ 
ſtadt, aber er hatte geſchwankt, ob es nicht Arles werden ſollte, das kleine 
Städtchen in der Provence. Dann wäre die weltgeſchichte anders ver · 
laufen, Voͤlkerwanderung, Aultur des Abendlandes, Kirche, alles haͤtte 
ein anderes Geſicht bekommen. Im Geiſt ſieht man die Kämpfe der wilden 
Tiere untereinander und mit Gladiatoren und kann nachdenken uͤber das 
unruͤhmliche Ende einer großen Weltkultur, wie es die roͤmiſche war 
In Nimes, deſſen Bevoͤlkerung ſich ſtolz als Salbroͤmer bezeichnet, iſt 
dann alles noch viel großartiger, die ungeheure Arena faſt ganz erhalten, 
und ſeine beiden Tempel, der zerſtoͤrte der Diana und das voͤllig erhaltene 
maiſon Carre, zeugen von dem religiöfen Sinn der alten Römer, den 
der franzoͤſiſche Forſcher Lejay ſchildert: „Alles in den Stuͤcken des roͤmi⸗ 
ſchen Dichters Plautus laͤßt uns die Römer als religioͤs erſcheinen, tief 
überzeugt von der Rolle der Bötter in ihrem Leben und der Notwendig; 
keit, fie ſich zu verföhnen.” 

Es iſt eine beſondere Kunſt da in der Provence, aber auch eine beſondere 
leichtere Art zu leben. Die Stierkaͤmpfe ſammeln das Volk in der Arena 
zu Nimes, im Ganzen kümmert man ſich nicht viel um das, was in der 
welt vorgeht, und doch findet man eine Anzahl Menſchen, die mit ganzem 
Ernſt den Problemen des Friedens und des Voͤlkerbundes, der neuen 
Menſchlichkeit und des Reiches Gottes nachgehen. Es gibt eine große 
franzoͤſiſche Organiſation „Friede durch Recht“, deren Leitung in Nimes 
ſich befindet. Überhaupt iſt es nicht wahr, daß Paris Frankreich fei, der 
Suden darf nicht nur ſprachlich und landſchaftlich, ſondern auch geiſtig 
und kulturell ſelbſtaͤndige Bedeutung beanſpruchen. 

Daß auch einzelne Suͤdfranzoſen ſich durchaus Gedanken Aber die 
ſchwebenden Fragen machen, zeigte mir das Geſpraͤch mit einem jungen 
Arzt der Rolonialarmee im Zuge von Toulon nach Nizza. Er gehoͤrt einer 
paziſtſtiſchen Arzte · Organiſation an und bält die Arbeit am Voͤlkerbund 
für abſolut notwendig für den Frieden, aber er glaubt zu feinem Leid; 
weſen, daß nach dem phyſikaliſchen Geſetz des Kraͤfteausgleichs ein Zu⸗ 
ſammenſtoß des großen Deutſchland mit dem menſchenarmen Erankreich 
unvermeidlich fein wird. Eine etwas troſtloſe Philoſophie ! Und doch tut 
man gut, die Dinge ganz realiſtiſch anzuſehen, freilich um dann mit deſto 


362 Sans Sartmann 


größerer Kraft an der Schaffung eines wirklichen und aufrichtigen 
Voͤlkerbundes zu arbeiten. Ferner meinte der junge Arzt, Frankreich konnte 
ſich ſelbſt ernaͤhren, nur die 2 Millionen Auslaͤnder machten das unmoͤglich 
und das Auslaͤnderproblem ſei für die Zukunft eines der ſchwerſten. 

Es gibt ein provenzaliſches geflügeltes Wort: Die drei Geißeln der Pro- 
vence find der Miſtral, jener trockene, ausdoͤrrende, zerſtoͤrende Sturm; 
wind des Rhonetals, die Durance, die von den Alpen kommend furcht⸗ 
bare Verheerungen anrichtet, und das Parlament zu Aix, der ehemaligen 
Sauptſtadt der Provence. Dies Parlament iſt aber nicht, wie mancher in 
voreiliger Freude meinen koͤnnte, ein Abgeordnetenhaus, ſondern der 
fruͤhere oberſte Gerichtshof, der oft furchtbar gegen die Bevoͤlkerung 
wuͤtete. So hat er im 16. Jahrhundert zwei Waldenferftädte vernichten 
laſſen. Die Waldenſer ſind die „Proteſtanten des Mittelalters“, die unter 
Fuͤhrung des Lyoner Kaufmanns Petrus waldus die Bibel laſen und 
verbreiteten, oft verfolgt wurden und dann in den Sochtaͤlern Savoyens 
ihr religioͤſes Leben führten, das jetzt den Sauptteil des italieniſchen Pro; 
teſtantismus bildet. Der innerlich ſtarke und hervorragende ſuͤdfranzoͤ⸗ 
ſiſche Proteſtantismus, der in Aigues⸗Mortes feinen Wallfahrtsort hat, 
iſt nicht fo ſehr auf Calvin als auf die Waldenſer zuruͤckzufuͤhren. Jener 
Wallfahrtsort iſt der „Turm der Standhaftigkeit“, in dem ich einen tiefen 
Eindruck von dem Mut der Sugenotten empfing, die ſich dort unter Zud⸗ 
wig XIV. und XV. bis zu 34 Jahren gefangen halten ließen, um ihrer 
Überzeugung willen. 


n verſchiedenen provenzaliſchen Dörfern hatte ich noch in Derfamm- 

lungen der evangeliſchen Gemeinden geſprochen, in Vezenobres, das 
ganz wie Nazareth in reiner Weiße leuchtend und weithin ſichtbar am 
Berge liegt, in dem lieblichen St. Fortunat in einem Seitental der Rhone, 
wo kurz zuvor eine Deutſche über Voͤlkerbund und Frieden geſprochen 
hatte, in Chatillon · en · Diois in den Voralpen. Nun verließ ich den Süden 
und kam über Grenoble, die „Aoͤnigin der Alpen“, nach Aix⸗ les ⸗Bains, 
dem großen engliſchen Modebad mit ſeinen Denkmaͤlern hervorragender 
Englaͤnder und ſeinem praͤchtigen langgeſtreckten Alpenſee, dem „Lac du 
Bourget“, wo die früheren Jollſchiffe der Könige von Savoyen (bis das 
and 1859 an Frankreich kam) jetzt noch fahren. Dann ging es weiter 
durch eine ſchoͤne Juragegend von Culoz nach Amberieu auf der „Voͤlker 
bundsſtrecke Genf Paris, und über Befancon an dem herrlichen 
traͤumeriſchen Doubs ⸗Fluſſe entlang über Belfort nach Muͤlhauſen. Dieſer 
Fluß leuchtete noch, als die Nacht bereits hereingebrochen war, in feinem 
Gruͤn, und unbeſchreiblich iſt die Ruhe, die uͤber dieſer weltabgeſchiedenen, 
induſtriellen Außlandſchaft liegt. Von Zeit zu Zeit läuft der Rhein · Rhone; 
Kanal neben dem Doubs, ebenfalls ſtill und grün, um ſich dann wieder 
für eine kurze Strecke mit dem Fluß zu vereinigen. 


Reiſeeindruͤcke aus Frankreich 363 


Muͤlhauſen, die fleißige Tertilftadt, brachte mich mit italieniſchen und 
franzoͤſiſchen faſchiſtiſchen Kreiſen zuſammen. Es kommen naͤmlich viele 
junge, italieniſche Textil · Induſtrielle auf die Textilſchule, die als eine der 
beſten Europas gilt. Die intereſſante Bekanntſchaft mit dieſen Kreiſen 
zeigte mir, daß es tatſaͤchlich eine große Anzahl idealer Faſchiſten gibt, die 
Muſſolini fůr einen wirklichen Erneuerer auch auf ſozialem Gebiete halten. 
Sie ſind ihm leidenſchaftlich ergeben und bekaͤmpfen in jeder weiſe den 
Parlamentarismus. 

Voruͤber am Sartmannsweilerkopf mit feinen 60000 Toten, den ich im 
vorigen Jahre beftiegen hatte, ging die Fahrt nach Nolmar, wo ich im 
Kreiſe des Verſoͤhnungsbundes uͤber die deutſche Jugendbewegung 
ſprach. Bolmar iſt die Sauptſtadt von Saut ⸗Rhin (Oberelſaß) und hat 
ſehr viel intereſſante Gebaͤude, auch aus dem Mittelalter, beſonders den 
Gerichtshof, der unter Ludwig XIV. ſtets den Elſaͤſſern ſehr freundlich 
Recht ſprach, um fie für Frankreich zu gewinnen, und der dann deutſches 
Gberlandesgericht wurde. Trotzdem iſt es nicht gelungen und wird nicht 
gelingen, die Elſaͤſſer in der homogenen Maſſe der Franzoſen aufgehen zu 
laſſen, ſondern ſie werden ſich ihr kulturelles Eigendaſein auf Grund 
ihres Deutſchtums bewahren. Freilich wollen fie es ſelbſt mit ihren 
Mitteln verteidigen und nie etwa mit Silfe einer deutſchen Armee. 

In Straßburg ſprach ich dann mit Nuͤckſicht auf die Franzoſen aus dem 
„Inneren“ franzoͤſiſch im Kreiſe der ſtark wachſenden Bewegung der 
Chevaliers de la Paix (Kreuzritter), die von dem fruheren aktiven fran- 
zoͤſiſchen Sauptmann Etienne Bach geleitet werden. Es war dort, be ⸗ 
ſonders infolge der warmherzigen Teilnahme von Profeſſoren, Studen; 
ten und des Konſiſtorialpraͤſidenten, eine fo ſtarke Sehnſucht nach Srie- 
den, zumal für das „Bruckenland“ Elſaß, ein fo ſtarker Wille auf Er⸗ 
neuerung der Welt im Geiſte Chriſti, daß ich dieſen Abend als Krönung 
der franzoͤſiſchen Reife empfand. 

Über die ziemlich oͤden Zandſtriche von Zauterburg, woͤrth, Speyer 
ging es dann heim. Ich hatte nicht nur ſelbſt unendliche Bereicherung er- 
fahren und viel neue Beziehungen gewonnen, ſondern ich glaube auch der 
Sache des Friedens gedient zu haben, die auf Nongreſſen, im Voͤlkerbund, 
in internationalen, wirtſchaftlichen, wiſſenſchaftlichen und anderen Ver⸗ 
einigungen nur dann voranſchreiten kann, wenn ihr das Wichtigſte voran; 
gegangen iſt: Perſoͤnliches Ins ⸗ Auge · Schauen von Menſch zu Menſch 
und von Volk zu Volk und Anbahnung eines Vertrauensverhaͤltniſſes, 
das langſam wachſen und wirken muß und ſo die Atmoſphaͤre von Saß, 
Verleumdung, Mißtrauen und Nationalduͤnkel allmaͤhlich entgiftet. 


36% Meyrick Booth 


Meyrid Booth / Das England von 
heute Kine kultur⸗pſychologiſche Betrachtung 


an kann ruhig behaupten, daß der Schwerpunkt des engliſchen 

Lebens im Begriff der Perſoͤnlichkeit liegt. Lebensideale, die eine 

Beſchraͤnkung oder Aufgeben dieſes bedingen (wie der Begriff 
des Staates u. a.) haben in England niemals durchdringen koͤnnen. 

Im Grunde genommen beſteht das Ziel der Kulturentwicklung in Eng; 
land (aber nicht in Amerika) darin, moͤglichſt viele unabhängige, Har aus 
gepraͤgte und moraliſch hochſtehende Einzelperſoͤnlichkeiten auszubilden. 
(In Amerika tritt die Perſoͤnlichkeitskultur hinter den Gedanken des 
„good American — alfo eine Art Staatskultur — weit zuruͤck.) 

Die Kultur als ein intellektueller Romplex, als ein Gedanken ſyſtem (etwa 
nach der Art Segels) oder als ein Staatsgebaͤude iſt für das engliſche Wefen 
ein beinahe unfaßbarer Begriff. 

In den beſten engliſchen Schulen (wie 3.3. den beruͤhmten Internaten 
Eton, Sarrow oder Winchefter) wird das Schwergewicht der paͤdagogiſchen 
Arbeit auf die Charakterbildung gelegt. Daß der Schüler ein ſolides Wiſſen 
erwirbt, kommt in dieſen Schulen erſt in zweiter Linie in Betracht. Un- 
bedingt notwendig iſt vor allem, daß er „gentleman“ fein muß und ge- 
wiſſe Charaktereigenſchaften — wie Ehrlichkeit, ein ſicheres ſoziales Auf ⸗ 
treten, Ritterlichkeit — in ſich ausbildet. In keinem Land iſt die intellek⸗ 
tuelle Kultur uberhaupt fo gering geſchaͤtzt wie in England. Es liegt in 
dem engliſchen Erzieh ungsideal etwas Spartaniſches, mit feiner Soch⸗ 
ſchaͤtzung des Rörperlihen. Die Beherrſchung des Körpers durch den Geiſt 
iſt eigentlich das Weſen der engliſchen Bildung. 


Einfluß des franzoͤſiſchen Rittertums in England 


iſtoriſch betrachtet erkennen wir hier den Einfluß verſchiedener Aul- 

turkreiſe. Zu den grundlegenden germaniſchen Tendenzen geſellt ſich 
eine ſtarke normaͤnniſch⸗franzoͤſiſche Stroͤmung. Vergeſſen wir nicht, daß 
durch mehrere Jahrhunderte (ca. Iooo— 1400 A. D.) England auf das 
engſte mit Frankreich verbunden war — fo eng, daß der König von Eng; 
land ſich zu gleicher Zeit König von Frankreich nannte; und daß infolge 
deſſen die Ideale des franzoͤſiſchen Rittertums und des ganzen Seudalfyftems 
nach England drangen und in den hoͤheren Schichten der Bevoͤlkerung feſte 
Wurzel faßten — was franzöfifch war, galt als vornehm, das Germaniſche 
als plebejiſch (lieſt man 3. B. Scotts Roman „Ivanhoe“). Dadurch erklaͤrt 
ſich, meiner Anſicht nach, wenigſtens teilweiſe, die ausgepraͤgte Vorliebe 
des gebildeten Englaͤnders für die Außerlichkeiten des Lebens (verfeinerte 
Lebensformen, Stil, ſchoͤne Kleider, vornehme Manieren, luxuriös ein- 


Das England von heute 365 


gerichtete Saͤuſer uſw. ) — alles Dinge, die nirgends auf der Welt fo hoch 
geſchaͤtzt werden wie in England. Sehr typiſch iſt die Tatſache, daß dieſe 
Liebe zum Außerlichen (hier wohl im ſtarken Unterſchied von Frankreich) 
normalerweiſe innerhalb der Grenzen eines gewiſſen Asketizismus, einer 
ſittlichen und oft direkt puritaniſchen Lebensführung bleibt. Der typiſche 
Englaͤnder iſt nie „Lebemann“. Das England von heute kann am beften 
charakteriſtert werden mit dem Schlagwort „das Land des perſoͤnlichen 
Lebensſtils“. Damit haͤngt eine weitere, ſehr charakteriſtiſche Eigenſchaft 
des Durchſchnitts ⸗Englaͤnders zuſammen, die ein deutſcher Freund einmal 
mir gegenüber als „feine unglaubliche Unaufdringlichkeit und ſcheinbare 
Intereſſeloſigkeit / bezeichnet hat, und die man auch als eine Art asketiſchen 
Sichfernhaltens von der Welt beſchreiben konnte. Auch dieſe Eigenſchaf.⸗ 
ten find zum Teil aus den Idealen des Rittertums hervorgeholt (wie 3. T. 
vom Puritanismus). Eines der wichtigſten Gebote fuͤr den vollkommenen 
Kavalier war die „Meſure“; das Maßhalten. Er mußte maßhalten in 
allem und jedem — maßhalten in Speiſe und Trank, in Gebaͤrde und Rede, 
und in den Suldigungen an feine Dame (man leſe 3. B. die hoͤſiſchen Ro⸗ 
mane von Chriſtien de Troyes.) Es iſt nun eine ſehr merkwuͤrdige Tat · 
ſache, daß dieſes alte Ideal des Maßhaltens ſich bei den Englaͤndern wie 
ſonſt nirgendwo eingebürgert hat, bis es jetzt die erſte Vorausſetzung 
des gebildeten Englaͤnders geworden iſt. Aus dieſen Gruͤnden (wie auch 
aus dem Puritanismus) verabſcheut der typiſche Englaͤnder alles, was 
irgendwie uͤberſchwenglich und impulfiv erſcheinen koͤnnte. Das Ideal iſt 
das der vollkommen ſich ſelbſt beherrſchenden und charakterfeſten Perſoͤn · 
lichkeit. (Ein Vergleich mit den ſehr ähnlichen Idealen des alten Roͤmers 
iſt hier von Intereſſe.) 


Der Freiheitsbegriff 


ill man das Wefen des engliſchen Volkes verſtehen, fo iſt nichts wich: 

tiger als eine Erklaͤrung des engliſchen Freiheitsbegriffs, der ſich in 
hoͤchſt weſentlichen Punkten vom deutſchen unterſcheidet. Unter Freiheit 
verſteht man in England in erſter Linie nur perſoͤnliche und politifche 
Freiheit; erſt an zweiter Stelle eine intellektuelle, religiöfe oder ethiſche 
Freiheit, wie ſie viel mehr in Deutſchland erſtrebt wird. 

Der ſehr ſtark entwickelte Perſoͤnlichkeitsſinn des Englaͤnders, fein pro- 
nonciertes Ichgefuͤhl empoͤren ſich gegen jeden aͤußerlichen Zwang. Als 
hoͤchſtes Gut erſcheint ihm die Entwicklung der Perſoͤnlichkeit, und zwar 
nicht nur für ſich ſelbſt, ſondern für jeden einzelnen feiner Mitbuͤrger; da⸗ 
her haͤlt er es fuͤr ſtaatsgefaͤhrlich, wenn die Freiheit des Einzelnen auch 
nur angetaſtet wird. Viele Ausländer koͤnnen eine ſolche Denkungsweiſe 
nur als Egoismus deuten — fie vergeſſen aber gänzlich, daß die beſten Eng · 
länder dieſe Freiheit nicht nur fir ſich beanſpruchen, ſondern ganz befon- 
ders für die Schwaͤcheren —, fo find die Bewegungen für die Sklaven⸗ 


366 meyrick Booth 


befreiung und fuͤr den Schutz der Eingeborenen faſt ausſchließlich von 
England ausgegangen; ſowie die ſtark von Männern geſtuͤtzte Frauen ⸗ 
emanzipationsbeſtrebungen, die Tierſchutzbewegung und der Vegetarianis⸗ 
mus. Es ſollte auch (und ganz beſonders in Deutſchland) nicht vergeſſen 
werden, daß der fo oft als „Egoiſt“ bezeichnete Englaͤnder der einzige war 
(inkluſive einiger Amerikaner), der in hilfsbereiter Weiſe dem deutſchen 
Volke in den ſchweren Zeidensjahren nach dem Kriege entgegengekommen 
iſt; die Rinderſpeiſungen in Köln, Leipzig, Frankfurt, Berlin, Wien, Inne 
bruck, Eſſen und vielen anderen deutſchen Städten waren nur möglich ge 
weſen durch eine ſehr weitgehende philanthropiſche Tätigkeit, die in faſt 
jeder engliſchen Stadt Gelder fuͤr das notleidende deutſche Volk geſammelt 
hat. Soweit ich weiß, war in Frankreich, Italien und Belgien keine Spur 
von einer ſolchen Sympathie zu merken — trotzdem glaubt man immer 
noch in Deutſchland, daß der Englaͤnder Egoiſt iſt, und die Sranzofen, 
Italiener und Belgier ſcheinbar nicht! 

Nichts iſt mehr bezeichnend fuͤr den Charakter des engliſchen Volkes, als 
gerade dieſer Trieb nach unmittelbarer Freiheit. Schon der Schuljunge 
will von elterlicher Kontrolle wenig wiſſen, während er dem unperſoͤn 
lichen Einfluß der „Public- Schools“ ſich eifrig unterordnet; ebenſo wie 
die Eltern nur ungern die Erziehung der Kinder in die Sand nehmen, weil 
in ihnen eine inſtinktive Abneigung gegen Strenge und Zwang ſtaͤrker iſt 
als alle paͤdagogiſchen Prinzipien, auch weil die Eltern glauben, daß die 
Kinder anderswo unabhaͤngiger und abgehaͤrteter werden als zu Sauſe. 
Ebenſo widerſtrebt die engliſche Frau jedem von außen kommenden 
Zwang, und der Buͤrger verbittet ſich mit Entruͤſtung jede Einmiſchung 
des Staates in ſein Tun und Laſſen. 

Daß eine ſolche Lebensſtellung notwendigerweiſe ſtarke Nachteile mit 
ſich bringt, braucht man nicht zu betonen. Die damit verbundene Zuruck 
draͤngung des Gemeinſchaftsgedankens kann ſtaatsgefaͤhrlich werden. In 
England iſt es faſt unmoͤglich, kooperative landwirtſchaftliche Unterneb- 
mungen durchzufuͤhren (wie in Daͤnemark mit fo großem Erfolg geſchehen 
iſt), gerade weil der engliſche „Farmer“ viel zu ſehr Individualiſt iſt. Die 
Betonung des Perſoͤnlichen auf Noſten der mehr zuſammenbringenden 
pſychologiſchen Faktoren kann dem Familienleben oft in bedenklicher Weiſe 
ſchaden; das Auseinandergehen von Mann und Frau in ſo vielen Ehen 
(auch wenn fie — aus traditionellen Gruͤnden — ſich nicht ſcheiden laſſen) 
5 aus dem einſeitig entwickelten Unabhaͤngigkeitsdrang zu er⸗ 
klaͤren. 

Die Frauenbewegung in England iſt weit mehr als in Deutſchland faſt 
ausſchließlich von dem Freiheitstrieb aus inſpiriert und durchgefuͤhrt wor · 
den. Und bei aller Kritik darf man nicht unterſchaͤtzen, was die Bewegung 
Gutes hervorgebracht hat. Sie hat vor allem eine hoͤhere Wertung der 
Srau als Menſch bewirkt, ſowie die Stellung der unverheirateten Frau ge⸗ 


== Ei — — — — 


Das England von heute 367 


hoben und ihren Wirkungskreis ſtark erweitert. Aber gerade durch den 
Freiheitstrieb iſt die ganze Stellung der Frau in England in eine gefaͤhr⸗ 
liche Einſeitigkeit hineingeraten. Es kommen dabei die Gemeinſchafts⸗ 
motive nicht genugend in Betracht. Die Frau iſt nicht nur ein freies Weſen. 
Sie tft immer zu gleicher Zeit Mitglied der Geſellſchaft, und dieſer Befell- 
ſchaft iſt ſie gewiſſe unentbehrliche Pflichten ſchuldig. Als Gegengewicht 
zum Freiheitsideal muß man auch das Ideal der Frau als Zebenstraͤgerin 
und Dienerin der Menſchheit keineswegs aus dem Auge laſſen — auch aus 
rein pſychologiſchen Gruͤnden, weil bei den meiſten Frauen das Beduͤrfnis 
nach hilfsbereiter Taͤtigkeit viel ſtaͤrker iſt, als das nach perſoͤnlicher Frei⸗ 
heit. Es gibt in England eine Unmaſſe Frauen, die eine unbegrenzte Frei⸗ 
heit beſitzen, aber keine Ahnung haben, was ſie damit anfangen ſollen. 
Mehr als rein perſoͤnliche Freiheit braucht die Frau inſpirierende poſitive 
Zebens aufgaben. 

England iſt noch viel zu ſehr von dem alten feudalen Ideal der Frau als 
„lady“ eingenommen. Wie andere Überbleibfel des Mittelalters, iſt dieſes 
Ideal jetzt vollkommen inhaltsleer geworden, und vermag daher keines ⸗ 
wegs, die Seele der modernen Frau zu befriedigen. Einmal hieß eine „lady“ 
eine Frau, der ganz beſtimmte und kulturell wertvolle Aufgaben zukamen. 
Sie ſpielte innerhalb des Feudalſyſtems eine unentbehrliche Rolle, die der 
des Mannes gleich wertvoll war. Der zaͤhe Ronſervatismus des Englaͤn 
ders hat die aͤußere Stellung der „lady“ aufrechterhalten. Aber die Auf- 
gaben, die ihrem Leben Wert und Sinn gegeben haben, gehoͤren jetzt nicht 
mehr zu ihrem Wirkungskreis. 

Die Folgen dieſes Zuſtandes find, daß die Frau entweder als „lady“ ein 
leeres Daſein friſtet, oder ſie geht in irgendeinem maͤnnlichen Beruf auf, 
der ihren angeborenen Faͤhigkeiten nicht entſpricht. Daher iſt England in 
ganz beſonderem Maße ein Land der ungluͤcklichen Frauen geworden. 
(Von der ganz ſonderbaren Stellung der Frau in Amerika werde ich hier 
nicht ſprechen — in den oberen Klaſſen gibt es da einen Typ, der uͤber 
haupt nur Rechte und keine Pflichten oder Aufgaben beſitzt.) 

Die wirkliche Aufgabe der Frauenbewegung — die darin beſtehen muß, 
pofitive Cebensmoͤglichkeiten für die Frau zu ſchaffen, die der des Mannes 
ebenbuͤrtig ſind — iſt in England noch weniger als in Deutſchland, bis⸗ 
her in Erfuͤllung gegangen. 


Sorm und Freiheit 
oͤchſt paradorerweiſe iſt aber dieſes England, das fo ſehr die Freiheit 
ſchaͤtzt, gerade das Land, wo die Freiheit der Sitten am allerwenigſten 
praktiziert wird. Nirgends iſt die Macht der Ron vention, der guten Manie⸗ 
ren, der traditionellen Sittlichkeit ſo feſt gegruͤndet, ſo tief verankert, wie 
in England. 
In der Wirklichkeit iſt das aber gar nicht fo paradox. Weil der Freiheits · 


368 meyrick Booth 


trieb des Englaͤnders außergewöhnlich ſtark if, fühlt er inſtinktiv, daß er 
unbedingt ein Gegengewicht braucht, ein feſtes Syſtem von Konventionen 
und Sitten, wenn das ganze Leben durch den ungezuͤgelten Freiheitsdrang 
nicht auseinandergehen ſollte. 

Nach engliſcher Meinung (wie auch Fr. w. Soerfter fo kraͤftig in feinen 
moralpaͤdagogiſchen Büchern betont hat) ſchafft die feſte orm erſt recht 
die Moͤglichkeit der Freiheit — der wahren kulturellen Freiheit, die die 
Rechte des Anderen auch achtet und die nicht in „licence ausartet. Und 
nur diejenigen Menſchen, die ſich erſt durch Gehorſam den Normen der 
Geſellſchaft gegenüber diſzipliniert haben, koͤnnen ohne Gefahr die Srei- 
heit genießen. 

Nichts iſt für England mehr charakteriſtiſch, als die ſehr ſtarke Typifie- 
rung des Lebens. Alles wird auf wenige, ganz klare, allgemein anerkannte 
Brundfäge zuruͤckgefuͤhrt, und es wird von jedem Individuum verlangt, 
daß es ſich dieſen Normen unbedingt unterwirft. Die Kinder der beſten 
Familien gehen alle in die „public- schools“, wo fie nach dem Typ des 
„gentleman“ geformt werden; ein Typ, der überall der gleiche iſt und der 
das ganze engliſche Leben reſtlos dominiert. Wenn man von einem Eng⸗ 
länder ſagt „Er iſt kein gentleman !“, fo iſt er erledigt! Es iſt, als ob 
ar von einem preußiſchen Offizier ſagte, daß er der Fahne nicht treu 
waͤre. 

Es liegt auf der Sand, daß in einer ſolchen Kultur individuelle Initia⸗ 
tive, wie jede geiſtige Eigenart ſchwerlich zur Geltung kommen konnen. 
Das engliſche Leben iſt uͤberhaupt wenig elaſtiſch. Neue Ideen dringen 
ſehr ſchwer durch. Es herrſcht ein faſt unglaublicher Ronſervatismus im 
ſozialen und geiſtigen Leben. Selbſtverſtaͤndlich ſchreibe ich immer vom eng- 
liſchen Leben, wie es im ganzen it — es gibt kleinere Kreiſe (3. B. unter 
den linksgerichteten Sozialiſten), wo ein anderer Geiſt herrſcht; ſie ſind 
aber nicht typiſch engliſch. | 

Dagegen find im engliſchen Kulturſyſtem große Vorteile. Die feſte Sorm 
uͤbt eine große ſuggeſtive Kraft; die ſchwaͤcheren Naturen werden dabei 
gehoben. Sie koͤnnen ſich nicht auf einem niederen Niveau ausleben. Das 
unbedingte Sichhineinfůgenmůſſen iſt ein nicht zu unterſchaͤtzender mora- 
liſcher Faktor. Wenn ein junger Student z. B. weiß, daß die Geſellſchaft, 
worin er lebt, gebieteriſch von ihm ein beſtimmtes Maß Selbfidifziplin ver- 
langt, wird er ſich viel ener giſcher in Zucht nehmen, als wenn er in einer 
Geſellſchaft lebt, wo jeder ſich frei ausleben kann. Eine ſo große Freiheit 
der Sitten, wie es in den ſkandinaviſchen Ländern und (teilweiſe) auch 
jetzt in Deutſchland gibt, iſt für die Jugend insbeſondere eine große mora ; 
liſche Gefahr. Daß ein engliſcher Student 3. B. in einem „Verhaͤltnis“ mit 
irgendeinem Ladenfräulein oder Tippmaͤdel leben ſollte, it von vornherein 
ausgeſchloſſen. Er koͤnnte dann unmöglich an der Univerſitaͤt weiterftudie- 
ren. (Es kann fein, ſelbſtverſtaͤndlich, daß einzelne Wenige auch in Eng; 


Das England von heute 369 


land ſolche Beziehungen haben; fie muͤſſen dann verheimlicht werden, und 
es entſteht die bekannte „Seuchelei“ des Englaͤnders. Es muß aber nicht 
vergeſſen werden, daß dieſe Faͤlle ein ſo verſchwindend kleiner Bruchteil 
des ganzen Studententums bilden, daß ſie eigentlich gar nicht in Betracht 
kommen. Man kann ſich über den großen Wert der engliſchen feſten Form 
nicht hinwegſetzen, indem man auf ein paar Ausnahmen hindeutet. 
Gerade auf dem Gebiet der feruellen Moral find die pſychologiſchen und 
rein hygieniſchen Vorteile der unbedingten moraliſchen Normen von un⸗ 
berechenbarer Tragweite fuͤr das engliſche Volk.) 


puritanismus 


Obe den Puritanismus richtig einzuſchaͤtzen, iſt ein Verſtaͤndnis des 
England von heute kaum möglich. Seit mehreren Generationen hat 
dieſe Tendenz große Schichten des engliſchen Volkes (vor allem die Mittel 
klaſſe) aufs tiefſte beeinflußt. Im Grunde genommen iſt der Puritanismus 
eine ſehr einſeitige Ausprägung des Chriſtentums; wobei das Saupt⸗ 
gewicht auf die rein · perſoͤnliche Stellung des Individuums zu Gott gelegt 
wird. Das Ethiſche wird ſtark betont, dagegen das Soziale ſowie das mehr 
Subjektive (etwa Schleiermacherſche Art) ſehr vernachlaͤſſigt. Sehr charak⸗ 
teriſtiſch iſt hier die Angſt vor dem Fleiſch; eine tiefe Abneigung vor allem, 
was nur im geringſten tieriſch, ſinnlich, brutal iſt; vor allem, was zur un- 
gebaͤndigten Natur gehoͤrt. Einer der ſchaͤrfſten und objektivſten Kritiker 
des engliſchen Lebens — der bekannte Nietzſche ⸗Gelehrte Anthony Ludo⸗ 
vici (ein Englaͤnder aus italieniſcher Familie), hat dieſe Tendenz als mo⸗ 
dernen Manichaͤismus charakteriſtert; fie trennt die Welt in Boͤſe und 
Gute; der Geiſt iſt gut im Gegenſatz zum Sleifch, wo die Wurzel des Übels 
liegt. Alle menſchlichen ZLeidenſchaften find eigentlich ſchlecht; gut iſt nur 
das, was von oben kommt, von der jenſeitigen Welt des rein Geiſtigen. 
Es kommt hier zum Ausdruck ein im hoͤchſten Grade tranſzendentaler Got · 
tesbegriff — Gott wird als uͤber · irdiſcher Sittenrichter betrachtet. Er iſt 
kein „lieber Gott“, ſondern der ſtrenge Serr. 

Daß das ganze Volk bei weitem nicht unter dieſem Einfluß ſteht, iſt ja 
wahr — aber die eigentuͤmlichen Wirkungen des Puritanismus find in 
England überall zu finden. 

Daß er das Ideal des Maßhaltens, von dem fruͤher die Rede war, noch 
weiter beſtaͤrkt hat, iſt klar. Was der Auslaͤnder oft als „Nuͤchternheit“ 
oder „Kaltbluͤtigkeit“ bei den Englaͤndern wahrnimmt und als eine ange: 
borene Charaktereigenſchaft betrachtet, iſt in Wahrheit etwas muͤhſam Er⸗ 
worbenes. Sie iſt das in Fleiſch und Blut uͤbergegangene Refultat einer 
prinzipiellen Diſziplinierung des natürlichen Lebens — erſt unter dem Ein; 
fluß des „Maßhaltens ! (welcher eigentlich nur die oberen Klaſſen berührt 
hat); und dann durch den viel tiefergebenden Einfluß des Puritanismus. 
Man braucht nur Shakeſpeare zu leſen, um klar zu werden, wie ſehr wenig 
Cat m 25 


370 meyrick Booth 


„ kaltbluͤtig“ der ganz naturliche Englaͤnder in feinem Zeitalter wirklich 
war — alſo vor der Zeit des Puritanismus (der zum Teil eine bewußte 
Reaktion gegen die erſchreckende Sittenloſigkeit und rohe ö 
des damaligen engliſchen Volkslebens war). 


Deutſchland und England 


| wr man nun den Sauptunterſchied zwiſchen deutſchem und eng; 

liſchem Weſen herausfinden will, fo wäre es der folgende: Keiner 
ſchaͤtzt die äußere Sorm fo hoch wie der Englaͤnder; keiner verachtet fie fo 
ſehr wie der Deutſche. Die Form iſt die tatſaͤchliche regierende Goͤttin des 
engliſchen Lebens; und der Kern der engliſchen Kultur liegt in der eigen- 
artigen Wechſelwirkung von Freiheit und Form. 

Die Schwäche des engliſchen Wefens liegt in der Unterſchaͤtzung des 
lebendigen Inhalts. Der Gefahr, daß die aͤußere Form einen erſtarrenden 
Einfluß auf das Leben ausüben koͤnnte, iſt England zweifellos nicht ent- 
gangen. Das iſt 3. B. der Fall mit dem Begriff „gentleman“. In feinem 
tieferen Sinne enthaͤlt dieſer Begriff hohe ethiſche Werte; und vermag 
eine kraͤftige erzieheriſche Wirkung auszuloͤſen. Aber wie oft iſt der „gentle 
man“ nur angeflogen! 

Wie nun Prof. Rudolf Eucken in ſeinem Buche „Geiſtige Stroͤmungen 
der Gegenwart“ fo klar dargeſtellt hat, iſt der Sinn der Religion unmöglich 
durch die rein tranſzendentale Stellungnahme zu erſchoͤpfen. Die imma⸗ 
nente pantheiſtiſche Seite der Religion hat auch ihre Rechte; und in 
Deutſchland, wo der Dualismus noch lange nicht fo ſchroff it wie in Eng; 
land, kommen dieſe eben zu entſprechend reicherer Geltung. Das Schoͤnſte 
und Beſte in Deutſchland iſt und bleibt, daß der Deutſche, im Grunde ge- 
nommen, der Natur und alles was natürlich und ſchlicht iſt, unvergleich⸗ 
lich viel naͤher ſteht, wie der Englaͤnder oder der Franzoſe. In Deutſchland 
quillt das Urſpruͤngliche, das rein un verdorben Menſchliche ſozuſagen aus 
dem Boden heraus. Und gerade der Mangel an feſten Formen in Deutſch⸗ 
land ermöglicht deſto leichter den Aufbau neuerer und tieferer Formen — 
weil das Alte nicht feſt kriſtalliſiert iſt. 

Der Englaͤnder dagegen haͤngt mit ſo viel Jaͤhigkeit an allen traditio⸗ 
nellen Konventionen und Formen — auch wenn fie inhaltlich überlebt 
find —, daß es unendlich ſchwierig für ihn iſt, die neuen Formen, die die 
Zukunft doch brauchen muß, herauszuarbeiten. Sierin liegt die größte Ge⸗ 
fahr fuͤr die Zukunft Englands, naͤmlich der widerſtand Englands allen 

modernen Gedanken gegenuͤber. 

Die Schwaͤche des Deutſchtums dagegen, ſoweit ich objektiv urteilen 
kann, liegt in der obenerwaͤhnten Verachtung der Form. Der typiſche 
Deutſche unterſchaͤtzt ſehr die erzieheriſche Wirkung der feſten Form. wo 
keine feſtgepraͤgten aͤußeren Formen anerkannt ſind, entſteht viel zu leicht 
eine vage, bloß ſubjektive, gefuͤhlsmaͤßige Stellung zum Leben, eine Diſzi⸗ 


t - 


Das England von heute 371 


plinloſigkeit im inneren Leben (im Gegenſatz zu der deutſchen Diſziplin in 
äußeren Dingen). 

Profeſſor Sorneffer (Gießen) hat vor kurzer Zeit behauptet, daß das 
deutſche Volk die preußiſche Diſziplin als „Selbſterhaltungsnotwendig⸗ 
keit“ geſchaffen hat, um dem naturlichen Subjektivismus des Deutfchen 
entgegenzuwirken. 

Durch engliſche Augen geſehen, zeigt das deutſche Leben einen faſt gren⸗ 
zenloſen Subjektivismus. Es ſcheinen gar keine Normen zu ſein, die all⸗ 
gemein anerkannt find. Jeder lebt für ſich, nach feinen eigenen ſelbſt erfun- 
denen Grundſaͤtzen; ohne jede Rorrektur von ſeiten irgendeiner anerkann⸗ 
ten religiöfen oder ethiſchen Autoritaͤt. 

Der Deutſche gruͤbelt über alles nach. Er ſtellt überall ein Fragezeichen 
auf. Er gehorcht keiner ethiſchen oder religioͤſen Autorität und glaubt 
von innen heraus alles ſchaffen zu koͤnnen. Dadurch entſteht eine unend⸗ 
liche 3erfplitterung der Meinungen und Parteien. Die deutſche Verach⸗ 
tung der Form auf religiös · ethiſchem Gebiet haͤngt eng zuſammen mit dem 
Mangel an innerer Einheit im Volk, mit all ſeinen tragiſchen politiſchen 
Konfequenzen. Wenn ich das ſchreibe, ſage ich nur, was viele von den ein · 
ſichtsvollſten Deutſchen auch ſelber ſagen. Prof. Rudolf Eucken weiſt immer 
wieder hin auf die Gefahren des alles zerſetzenden deutſchen Subjektivis⸗ 
mus, mit feiner Auflöfung der geiſtigen Normen, die als Baſis einer ge- 
ſunden Geſellſchaft anzuſehen ſind. 

Der Deutſche hat den Begriff des Staates geſchaffen, um ſich irgendwo 
einen feſten Salt zu geben. Aber weil die Menſchen, die in dieſem Staate 
bohnen, objektive Normen nicht anerkennen, muß es auch an innerer 
Einheit im Staate fehlen; und man ſieht ſich noch einmal vor das 
Problem der geiſtig⸗ſittlichen Autorität geſtellt, das man durch die Staats⸗ 
idee noch nicht losgeworden iſt. So ſcheint die Sache, aus der Ferne be⸗ 
trachtet. 


Die politiſche Einheit in England 
n Deutſchland bringen die tiefen Gegenſaͤtze der Weltanſchauungen die 
menſchen tatſaͤchlich vollkommen auseinander. Zwiſchen einem Gſt⸗ 
preußen 3.3. und einem Berliner Sozialdemokraten gaͤhnt eine Kluft, wie 
man ſie ſich in England zwiſchen verſchiedenen Parteien gar nicht vor⸗ 
ſtellen kann. 

Der typiſche deutſche Sozialiſt ſteht auf religions feindlichem Boden und 
iſt in feiner ganzen Lebensanſchauung meilenweit von den orthodox den; 
kenden Kreiſen entfernt. In England exiſtieren dieſe ungeheueren Anti⸗ 
theſen nicht. Das durchſchnittliche Mitglied der ſozialiſtiſchen Partei iſt oft 
zu gleicher Zeit Mitglied der Staatskirche, und in feinen letzten Überzen- 
gungen ſteht er auf demſelben Boden, wie ſeine politiſchen Gegner. Die 
Streitfragen ſind eigentlich nur praktiſch⸗politiſcher Natur. Wenn man 

25° 


372 F. Stäbler 


ein wenig tiefer ſchuͤrft, findet man die uͤberraſchende Tatſache, daß im 
Prinzip die Parteien gar nicht weit auseinander liegen. 

Nicht zu vergeſſen iſt hier auch die behagliche Art des engliſchen poli⸗ 
tiſchen Lebens. Scharfe politiſche Gegner find im privaten Zeben oft eng 
befreundet. Es kann leicht paſſieren, daß 3. B. im Parlament ein Arbeiter- 
fuͤhrer die Regierungspartei mit den ſchaͤrfſten Mitteln angreift, und dann 
den naͤchſten Tag, als intimer Freund, in dem Sauſe desſelben Miniſters 
verbringt, den er ein paar Stunden vorher heftig angegriffen hat; und 
daß bei einem „whisky and soda“ die Angelegenheit unter vier Augen 
weiter diskutiert wird. ä 

Das „weekend Leben in den großen Landhaͤuſern ſpielt eine ſehr be⸗ 
deutende Rolle in unſerem politiſchen Leben. Beim Golfſpiel, auf Spa⸗ 
ziergaͤngen und bei den Mahlzeiten finden ſich Ronſervative, Liberale und 
Sozialiſten zuſammen, alle als eingeladene Freunde irgendeiner leitenden 
perſoͤnlichkeit aus politiſchen reifen. Und die aktuellen Fragen des Tages 
werden da ungezwungen, ruhig und leidenſchaftslos miteinander durch · 
geſprochen. 


JE" internationales, geiftiges Juſammenarbeiten der Doͤlker iſt nur 
nn fruchtbar, wenn jede Nation bereit iſt von der anderen etwas 
zu lernen. 

Jeder denkende Englaͤnder wird zugeben, daß die engliſche Aultur von 
Deutſchland unendlich viel lernen kann. In der ſozialen Organiſation, in 
der wiſſenſchaftlichen Durchdringung des Zebens, in der Ausbildung eines 
großzügigen Erziehungsſyſtems, in der Entwicklung des Theaterweſens, 
ſowie in vielen pſychologiſchen und moraliſchen Beziehungen iſt die deut · 
ſche Kultur der engliſchen bei weitem voraus. 

Auf der anderen Seite möchte ich dagegen die unvergleichlich größere 
Einheit und Konzentration des engliſchen Lebens betonen. Die engliſche 
Kultur iſt weniger reichhaltig, weniger umfangreich als die deutſche, aber 
dafür zielbewußter. Die engliſche Kultur iſt auf einer ganz engen Baſis 
aufgebaut. Aber auf dieſer Baſis vereinigen ſich faſt alle Volksgenoſſen 
zu einer ſcharfausgepraͤgten kulturellen Einheit. 


§. Staͤbler / Chriſtoph Schrempf 


n der Geſchichte der Philoſophie iſt es kein ſeltener Fall, daß bedeu⸗ 
tende Vertreter erſtmals durch ein in jungen Jahren genial bin- 
geworfenes Werk bekannt und beruͤhmt wurden. Chriſtoph Schrempf 

iſt nicht dadurch bekannt geworden. Vor feinem 3]. Lebensjahr wußte man 

auch in ſeiner engeren Seimat Wuͤrttemberg ſo gut wie gar nichts von ihm. 


Chriſtoph Schremyf 373 


Wohl hatte er, ſiebenundzwanzigjaͤhrig, ein Pamphlet veröffentlicht: „Sören 
Kierkegaard und fein neueſter Beurteiler in der theologiſchen Literatur- 
zeitung“, und ein Zeſer dieſes Pamphlets ſoll, wenn ich mich nicht irre, 
geſagt haben, er wuͤnſchte von dem Verfaſſer dieſer Erſtlingsſchrift deſſen 
letzte Schrift einmal leſen zu koͤnnen. Wohl veröffentlichte er, dreißig ⸗ 
jaͤhrig, eine zweite Schrift: „Die chriſtliche Weltanſchauung und Kante 
ſittlicher Glaube, eine religioͤſe Unterſuchung“. — Aber dieſe Schriften 
haben die Öffentlichkeit fo wenig bewegt, daß auch Leute, die Schrempfs 
Schriften „alle“ geleſen zu haben behaupten, von der Exiſtenz dieſer 
Schriften kaum etwas wiſſen. 

Erſt 1891, alſo einunddreißigjaͤhrig, IK Schrempf bekannt, oder ſagen 
wir beſſer berüchtigt geworden, und zwar charakteriſtiſcherweiſe durch eine 
Tat, eine Tat, durch die er feine berufliche Exiſtenz und fein buͤrgerliches 
Anſehen riskierte und dann auch wirklich verlor. 

Man ſpricht in wuͤrttemberg, wo Schrempf feine „Tat“ getan hat, 
nicht gerne von ihr. Die einen halten es fuͤr eine große Ubertreibung und 
wichtigtuerei, wenn man fo alte Geſchichten wieder „aufwaͤrmt“, die 
andern ſind froh, daß die Angelegenheit, um die es ſich handelte, dadurch 
am ſicherſten erledigt und aus der welt geſchafft wurde, daß man fie tot; 
ſchwieg. Wenn ich entgegen dieſer Gepflogenheit dieſe Tat zum Aus⸗ 
gangspunkt meiner Darſtellung Schrempfs mache, fo tue ich es weder, 
weil ich Altes aufwaͤrmen, noch Totgeſchwiegenes wieder lebendig machen 
möchte — ich moͤchte vielmehr nur Schrempfs Entwicklung, das Charak⸗ 
teriſtiſche feines Denkens erfaſſen und darſtellen. Und je länger ich darüber 
nachdenke, um ſo deutlicher wird mir, wie entſcheidend dabei gerade dieſe 
Tatſache iſt, daß Schrempfs eigentliche Entwicklung durch eine Tat ber- 
vorgerufen wurde. 

Schrempf war 1891 Pfarrer in einer kleinen ſchwaͤbiſchen Zand⸗ 
gemeinde. Aus aͤußerſt einfachen Verhaͤltniſſen ſtammend, war er zuerſt 
Volksſchullehrer geworden, hatte als Unterlehrer das Maturum nach⸗ 
gemacht und kam dann als Theologieſtudent in das evangeliſch⸗theo⸗ 
logiſche Seminar nach Tübingen (das ſogenannte Stift). Dort war er 
„im Verlauf von vier Jahren von der aͤußerſten Rechten“ — noch als 
Unterlehrer war er eifriger Pietiſt — „auf die aͤußerſte Linke hinuͤber⸗ 
geglitten”. Da er das Geld zu einem Berufswechſel nicht hatte, innere 
Neigung zum Pfarrberuf beſaß, als „verlobt“ die Pflicht hatte, ſich eine 
bürgerliche Exiſtenz zu gründen und endlich von der Kirchenbehoͤrde ob 
ſeiner Gewiſſenszweifel beruhigt wurde, entſchloß er ſich doch, ins Pfarr⸗ 
amt zu gehen, wurde alſo „liberaler Pfarrer“. 

was konnte er, auf der aͤußerſten Linken ſtehend, von ſich aus mit 
innerer Wahrhaftigkeit ſeinen Gemeindegliedern ſagen, auf welche reli⸗ 
giöfe Deutung ihres Lebens konnte er fie hinfuͤhren? Wir benutzen zur 
Beantwortung die oben erwaͤhnte zweite Schrift, die nicht ganz ein Jahr 


374 F. Stäbler 


vor Beginn feines Kirchenkampfes erſchien. Sie gewährt vielleicht noch 
einen beſſeren, unbefangeneren Einblick als die „Akten zu meiner Ent⸗ 
laſſung aus dem wuͤrttembergiſchen Kirchendienſt“, die 1892 heraus⸗ 
kamen und in denen Schrempf feine damalige religioͤſe Stellung eben- 
falls Harlegt. 

Pfarrer Schrempf ſucht, wohl unter dem Eindruck Kierkegaards, nach 
einem Geſetz, „das ihn noͤtigt und ihm fo ermöglicht, feinem ganzen Leben 
und allen einzelnen Teilen desſelben un bedingt ſittlich notwendigen 
Gehalt zu geben“. Was er für ſich als Lebensgrund feines Lebens 
ſucht, ſcheint ihm auch wuͤnſchenswert fuͤr jeden andern Menſchen. Doch 
hat er erkannt, daß nicht jeder Menſch in feiner geiftigen Reife gleich 
weit fortgeſchritten iſt. Jeder Menſch muß gewiſſe Stadien feiner Ent⸗ 
wicklung durchlaufen. Um es mit einem ſpaͤteren Ausdruck Schrempfs zu 
charakteriſieren: Wenn jemand das Einmaleins noch nicht gelernt hat, ſo 
hat es keinen Sinn, ihn in die hoͤhere Mathematik einzufuͤhren. Und ein 
Lebrer, der in die hoͤhere Mathematik einführt, iſt kein Lehrer zum Lernen 
des Einmaleins. Die hoͤhere Mathematik aber iſt das Chriſtentum, der 
Lehrer der hoͤheren Mathematik iſt Jeſus. wer noch das Einmaleins zu 
lernen hat, fuͤr den kommt ein Lernen von Jeſus noch nicht in Frage. 
Oder wie es Schrempf ſchon in dieſer Schrift ausdruͤckt: „Es legt ſich 
die Frage nahe, ob man nicht zunaͤchſt verſuchen ſolle, wieweit man 
oh ne Religion zu reichen vermoͤge.“ Ein ſolcher Verſuch iſt allein eines 
Menſchen würdig. 

Die durch das Suchen nach einem unbedingt verpflichtenden Geſetz 
aufs aͤußerſte geſteigerte und empfindliche Selbſtachtung und Würde 
eines Menſchen ſtraͤubt ſich nun unwillkuͤrlich gegen die ſittlichen Forde⸗ 
rungen, die Jeſus ſtellt: „Sich dem Feinde und Unwuͤrdigen zum Dienſte 
der Liebe verpflichtet zu fuͤhlen und ſo mit Menſchen eine ſittliche Ver⸗ 
bindung innerlich feſtzuhalten und womoͤglich auch aͤußerlich wiederherzu⸗ 
ſtellen, welche die Achtung verwirkt haben und von denen man ſelbſt viel- 
leicht nicht geachtet wird: das ſcheint der Selbſtachtung wirklich zuwider 
zu laufen, ſo daß der Menſch, der auf ſittliche Wuͤrde haͤlt, ein inneres 
Widerſtreben uͤberwinden muß, um diefer Pflicht zu genügen.” 

Dieſe Sproͤdigkeit, die der Menſch Schrempf in ſeinem Verlangen nach 
Selbſtachtung gegenuͤber der Lehre Jeſu empfindet, hat aber eben durch 
Jeſus ſchon einen empfindlichen Stoß erhalten. Er hat von der Perſoͤn⸗ 
lichkeit Jeſu einen ſolch ſtarken Eindruck, daß er ſich ſeinem Einfluß nicht 
entziehen kann und nicht entziehen will. Was aber macht ihm dieſen Ein⸗ 
druck? Nicht, daß Jeſus dies oder das mehr oder weniger zwingend be⸗ 
weiſt, ſondern daß er „fur ſeine Auffaſſung feine Perfon einſetzt“. 

„Siermit hat Chriſtus zugleich auf die einzig mögliche Weiſe andere für 
eine wirklich ſittliche Aneignung ſeiner Ausſagen vorbereitet. Indem er 
feine Perſon einſetzte, zeigte er, daß feine Anſchauungen in ihm wahr⸗ 


Cbriſtoph Schrempf 375 


heit ſeien.“ Dadurch muß ſich jeder, dem es im Ernſt um Wahrheit und 
Sittlichkeit zu tun iſt, „durch Chriſtus in ſteigendem Grade gedemuͤtigt 
fühlen.” Aber auch inhaltlich wird der Menſch, deſſen Sinn für eine un- 
bedingte ſittliche Verpflichtung (etwa durch Kant) geſchaͤrft iſt, auf Chriſtus 
hingewieſen: denn „wer feinem Leben wirklich un bedingt ſittlich not⸗ 
wendigen Gehalt geben will, braucht ein Geſetz, das ihm Sandlungen 
poſitiv vorſchreibt. Ein ſolches poſitives Geſetz bietet die theonome 
Moral Chriſti.“ | 

Pfarrer Schrempf ſucht alfo für ſich nach einem ihn unbedingt ver- 
pflichtenden, fein ganzes Leben und alle einzelnen Teile desſelben beſtim - 
menden ſittlichen Geſetz, dem er ſich ohne Aufgabe feiner Würde unter · 
werfen kann. Uberwaͤltigt von der ſittlichen Groͤße Jeſu, erkennt er unter 
Überwindung einer ſtarken naturlichen Sproͤdigkeit in deſſen Forderungen 
dieſes unbedingt verpflichtende Geſetz, erkennt er in ihm den ihm un ⸗ 
bedingt überlegenen Lehrer. Die Aufgabe feines Pfarramts konnte als · 
dann nur die ſein, in ſeinen Gemeindegliedern als Vorſtufe, als großes 
Einmaleins den Sinn dafür, daß das Leben eines unbedingt ſittlich 
verpflichtenden Gehalts bedarf, zu wecken und ſie dann ſo zu Jeſus hin⸗ 
zuführen, daß auch fie unter die Macht feiner ůberwaͤltigenden und des 
muͤtigenden Perſoͤnlichkeit kommen konnten. 

Dafuͤr aber war eines ſelbſtverſtaͤndliche Vorausſetzung, daß nämlich 
pfarrer Schrempf ſelbſt fo unter dem Eindruck der Perſoͤnlichkeit Jeſu 
ſtand, daß man ihm das anmerkte. War das Überwältigende bei Jeſus, 
daß er auf feinem Zeidensgang zeigte, daß feine Anſchauungen in ihm 
Wahrheit waren, fo mußte fein Schüler, wollte er Zeugnis ablegen 
für die ſittlich umgeſtaltende Kraft Jeſu, in feinem Teil ebenfalls zeigen, 
daß was er als ſeine Anſchauung ausſpreche, auch in ihm wahrheit 
ſe i. Die ſchlichte Pflicht innerer und aͤußerer Wahrhaftigkeit war ſelbſt⸗ 
verſtaͤndliche Vorausſetzung. 

Aber nun war ja die Situation des Pfarrers Schrempf eine ganz andere. 
Es genügte nicht, daß er, ſelbſt in der Schule Jeſu ſtehend, feine Gemeinde⸗ 
glieder zu dieſer Schule hinfuͤhrte. Er war auf ein Glaubensbekenntnis 
verpflichtet, das viel mehr enthielt als die Uberzeugung, dauernd von 
Jeſus lernen zu wollen und lernen zu koͤnnen, das Dinge enthielt, die nun 
einmal ein durch die moderne Theologie hindurchgegangener Theologe 
einfach nicht mehr glaubte, die vielleicht ſogar uberhaupt niemand mehr 
glaubt. Iſt es aber für einen Schüler Jeſu möglich, bei feierlichen kirch⸗ 
lichen Sandlungen zu bekennen: „Wir (alfo ich und du und du) glauben, 
wenn er eben nicht alles glaubt und den Verdacht in ſich hegt, daß Ge⸗ 
meindeglieder ſoundſoviele einzelne Punkte auch nicht glauben? 

Dieſe Situation der Unehrlichkeit hat Pfarrer Schrempf auf die Dauer 
nicht ausgehalten. Nun haͤtte er ſtillſchweigend gehen koͤnnen, wie er ja 
nachher doch gehen mußte. Weshalb tat er das nicht? 


376 F. Staͤbler 


Schrempf wollte zunaͤchſt fuͤr ſich Ernſt machen, ſagen wir es kurz und 
ſchlagwortartig mit dem kategoriſchen Imperativ. Er ging zu Jeſus in 
die Schule, um bei ihm einen pofitiven Inhalt für feinen kategoriſchen 
Imperativ zu bekommen. Die Durchfuhrung des kategoriſchen Imperativs 
lernt aber nur, wer ihn in die Praxis feines Lebens umſetzt, d. h. 
die ſittlichen Ronſequenzen feines Lebens zieht. Pfarrer Schrempf hatte 
mit feinem Amtsantritt die Verpflichtung eingegangen, feine Gemeinde 
glieder zu Jeſus hinzufuͤhren, er konnte, innerlich an ſeine Verpflichtung 
gebunden, nicht einfach Jeſus dieſen Dienſt kuͤndigen. Das konnte er um 
ſo weniger, als er ja, wenn er den Kampf mit der Kirche aufnahm, 
gerade für die Sache Jeſu Fämpfte. 

Wie nun der ganze Rampf mit der Kirche verlief, hören wir am beſten 
von Schrempf ſelbſt. Er hat ſich darüber in der Einleitung zu Band 4 
von Frommanns philoſophiſchen Taſchenbuͤchern 1922 ausgeſprochen: 
„Ein Konflikt war unvermeidlich. Alſo bereitete ich mich auf den Ron⸗ 
flikt vor. Dazu glaubte ich mir die noͤtige Zeit nehmen zu duͤrfen. Sollte 
der Konflikt richtig durchgefochten werden, fo durfte ich nicht als ertappter 
Verbrecher daſtehen. Alſo trug ich in Predigt und Katecheſe meine ketze⸗ 
riſchen Anſichten ſo offen vor, daß ich bei jeder Anklage haͤtte ſagen koͤnnen, 
ich habe fie ja ſelbſt provoziert. Das war ubrigens ganz ungefaͤhrlich. Man 
kann von der Kanzel jede Ketzerei predigen: wenn man nur nicht ſelbſt 
ſagt, das ſei Ketzerei, was man predige. Was verſtehen denn die Glaͤu⸗ 
bigen von Rechtglaͤubigkeit? Sie find ja ſelbſt zumeiſt auch Ketzer, Geiſt⸗ 
liche und Laien. Sie haben nur den guten willen, für rechtglaͤubig zu 
gelten; und den hatte ich boͤſer Menſch boshafterweiſe nicht mehr. Ich 
offenbarte aber auch meinen Unglauben einem pietiſtiſchen Pfarrgemeinde⸗ 
rat, ohne von ihm Schweigen zu verlangen. Der gute Mann ſchwieg doch. 
Er war ſelbſt auch Ketzer, wie ſich's faſt von ſelbſt verſteht. Nur wußte 
er's nicht. 

Sodann ſtudierte ich zur Vorbereitung auf den Konflikt die kirchlichen 
Bekenntniſſe. Und ich ſtudierte insbeſondere Sören Rierkegaard . 

„Ich erkannte, daß ich zunaͤchſt den Rampf allein aufnehmen muͤſſe. 
Denn daß ich gegen den Feind ſtandhalte, das konnte ich mir noch zu⸗ 
trauen; ob ich auch gegen die Bedenken und den guten Rat von Genoſſen 
feſtbleiben wuͤrde, war mir zweifelhaft. Ich erkannte ferner, daß ich nicht 
mit Vorſtellungen und Bitten beginnen dürfe, ſondern den Rampf mit 
einer Tat eroͤffnen muͤſſe. Denn fuͤr Verhandlungen fuͤhlte ich mich zu 
ſchwach; daß ich, zum Angriff vorgegangen, nicht mehr zuruͤckgehen 
werde, durfte ich mir eher zutrauen. Immerhin mußte ich, vorſichts halber, 
den erſten Schritt fo groß nehmen, daß ich ihn ſchanden⸗ und ehrenhalber 
nicht zuruͤcknehmen konnte. Das geſchah, wenn ich gegen meine Amts⸗ 
pflicht das Apoſtolikum, das ich nicht bekennen konnte, bei der Taufe auch 
nicht als Bekenntnis verwendete, mich ſelbſt denunzierte und zugleich er⸗ 


Chriſtoph Schrempf 377 


Harte, ich werde es immer fo halten. Wurde der Konflikt ſodann, was nicht 
zu vermeiden war, oͤffentlich bekannt, fo wurden dadurch die Kollegen, 
die ſich in gleicher Verdammnis befanden, vor die Frage geſtellt, ob fie 
nicht ebenfalls ſich ſelbſt denunzieren und erklaͤren wollten, daß ſie das 
Apoſtoliłum nicht mehr verwenden werden. Und die Univerſitaͤtstheologen 
waren dann vor die Frage geſtellt, ob ſie noch ferner die veraͤchtliche Rolle 
weiter ſpielen wollen, junge Maͤnner fuͤr ein Amt vorzubereiten, worin 
fie die von ihnen übernommene Wiſſenſchaft verhehlen und verleugnen 
mußten. Und dann konnte auch das Kirchenregiment, Konſiſtorium und 
Synode, die freilich ſehr heikle Pfarrersfrage nicht mehr ignorieren und 
vertuſchen. Dann war der Stein ins Rollen gebracht. 

Ich tat alſo meinen Schritt. 

Nun waͤre ich in große Verlegenheit gekommen, wenn das Konfiftorium, 
zugleich klug und ehrlich, mir geantwortet haͤtte, ich ſolle ohne Apoſtoli⸗ 
kum taufen, ſo lange ſich die Gemeinde nicht beſchwere. Denn das KRon⸗ 
ſiſtorium — vielmehr: jeder Ronſiſtorialrat wußte wohl fo gut wie ich, 
daß das in Württemberg keine ganz ungewöhnliche Praxis war. Die Ge⸗ 
meinde aber hatte das Verbrechen, das ich vor ihren glaͤubigen Ohren be- 
ging, nicht bemerkt. Sie haͤtte auch ſeine Wiederholung nie bemerkt. 

Doch das Konſiſtorium ging zum Gluck in die Falle. Es verbot mir, 
ohne Apoſtolikum zu taufen. Nun mußte die Sache bei der naͤchſten Taufe 
der Gemeinde bekannt werden. Naturlich gab ich dieſer bei der naͤchſten 
Taufe ſelbſt die nötige Aufklärung; und natürlich von der Kanzel aus. 
Damit war auch das noͤtige oͤffentliche Argernis da, das meine Auflehnung 
gegen die Kirchenordnung zu einem ernſten „Fall“ machte. 

Das Kirchenregiment hat ſodann meinen Fall mit bureaukratiſcher Ge⸗ 
wiſſenhaftigkeit und chriſtlicher Gewiſſenloſigkeit korrekt erledigt: ich 
wurde erſt ſuspendiert, dann abgeſetzt. Die Kollegen verfagten nach einem 
matten Anlauf. Sie gingen nicht einzeln vor (wenn nacheinander nur 
zwoͤlf, nur ſechs Pfarrer wegen des Verbrechens der Wahrhaftigkeit 
hätten abgeſetzt werden muͤſſen, wäre die Schlacht gewonnen geweſen), 
ſondern ließen ſich mit vereinten Kraͤften beſchwichtigen. Ein einziger 
(Friedrich Steudel) trieb es bis zur Abſetzung. 

Noch klaͤglicher verſagten die Univerſitaͤtstheologen. Sie entdeckten 
nicht, daß ſie ihre Ehre zu wahren haͤtten, und fanden ſich durch den „Fall 
Schrempf! nur zu ebenſo gründlichen wie uͤberfluͤſſigen Unterſuchungen 
uͤber Alter und Wert des Apoſtolikums veranlaßt. 

Und das evangeliſche Volk? Nun, es handelte fi ja nicht um die Be- 
ſoldung des Pfarrers, nicht um kirchliche Wahlen und Steuern, nicht um 
den Kampf gegen den Ultramontanismus und derartige wichtige Baga⸗ 
tellen. Es handelte ſich nur um die Seele des Pfarrers. Was geht aber 
die Seele des Pfarrers das chriſtliche Volk an? Wenn ihm der Pfarrer 
ein paar zerſtreute Fettaugen auf die magere Suppe ſeines chriſtlichen 


378 F. Stäbler 


Lebens beſorgt ... Was die Seele des Pfarrers betrifft, fo ruft das chriſt⸗ 
liche Volk (Kirchenregiment und Univerſitaͤtstheologen eingeſchloſſen) 
uniſono dem Pfarrer zu: „da ſiehe du zu!“ 

Ich hatte den Kampf nicht bloß für mich aufgenommen, fondern auch 
fir andere; vielleicht darf ich ſogar ſagen: weniger für mich, als fuͤr andere. 
Denn für mich allein hätte ſich wohl auch eine bequemere Löfung der 
Schwierigkeit finden laſſen. Doch entſprach nur dieſe Art von dem Kirchen; 
dienſt wegzukommen der Art, wie ich in den Kirchendienſt hineingekommen 
war. Was dabei von mir und dem Kirchenregiment gefehlt worden war, 
hatte ſich nun an mir und dem Kirchenregiment geraͤcht. Und an mir 
wenigſtens zu meinem Seil.“ 


II 


Daß Schrempf in dieſe fatale Situation als Pfarrer hineingeraten 
war, dadurch zu ſeiner Tat gedraͤngt und dann mit dieſem aͤußeren 
Mißerfolg aus dieſer Situation herausgeworfen wurde, iſt für feine Ent⸗ 
wicklung von ausſchlaggebender Bedeutung geworden. Er haͤtte naͤm ; 
lich alles zeug zu einem tuͤchtigen Gelehrten gehabt: einen ungewoͤhnlichen 
Verſtand, einen unbeſtechlichen Sinn, ein vorzuͤgliches Gedaͤchtnis. Dieſe 
Kriſis hat in ihm den Gelehrten zerſtoͤrt. Denn ſie hat ihn in große per · 
ſoͤnliche geiſtige Not gebracht. Das hat fein Nachdenken über ſich und 
das Leben aufs aͤußerſte geſteigert, aber doch eben immer in der Richtung 
auf die Noͤte, in die er als Menſch hineingeraten war und fortlaufend 
hineingeriet. In dieſer Not hat man keine Zeit und keine Ruhe Gbjek⸗ 
tives, das eigene Ich nicht Beruͤhrendes leidenſchaftslos zu unterſuchen 
und zu erforſchen. Man wird, wenn man das Zeug dazu hat, zum ſub⸗ 
jektiven Denker. Das ſchließt nicht aus, daß der ſubjektive Denker, ja 
gerade er, weſentliche Einblicke in die objektiven Geſetze des menſchlichen 
Lebens gewinnen kann. Und die Verdienſte, die ſich Schrempf um die 
wWiſſenſchaft erworben hat, find, obgleich fie nirgends anerkannt wurden, 
keineswegs gering. So iſt feine Uberſetzung des ganzen Rierkegaards in der 
großen Diederichsſchen Ausgabe eine wirkliche gelehrte Ceiſtung, denn feine 
Uberſetzung iſt zugleich ein Verſuch, die oft faſt unverſtaͤndliche Schreib; 
weiſe Kierkegaards verſtaͤndlich zu machen. Und aus feinen Schriften uͤber 
Luther, Leſſing, Goethe, Nietzſche, Jeſus kann auch der Gelehrte Ge⸗ 
winn ziehen. Aber bezeichnenderweiſe iſt das, was der Gelehrte bei 
Schrempf lernen kann, immer etwas Menſchliches. Um es ſofort am be⸗ 
deutendſten Beiſpiel zu verdeutlichen. Die Wiſſenſchaft muͤht ſich um das 
Erkennen der echten Überlieferung von Jeſus. Schrempf will von Jeſus 
lernen, als Menſch vom Menſchen fuͤr die praktiſche Geſtaltung des Lebens. 
Dabei fällt ihm wie dem Gelehrten die Verworrenheit der Überlieferung 
von Jeſus auf. Will er von ihm lernen, ſo muß er wie der Gelehrte den 
echten Jeſus fo gut wie moͤglich aus der Überlieferung erſt herausſchaͤlen. 


Cbriſtoph Schtemyf 379 


Dazu benutzt er aber ein anſcheinend völlig unwiſſenſchaftliches Mittel. 
Er uͤberlegt ſich: kann ein Menſch, der dies geſagt hat, gleichzeitig auch 
jenes geſagt haben. Er geht alſo aus von der Einheit der Perſoͤnlichkeit 
und dem Stil der Perſoͤnlichkeit und findet in dieſer Stilreinheit das 
ſicherſte Kriterium zur Beurteilung, ob die betreffende Perſoͤnlichkeit einen 
Gedanken ausgeſprochen haben kann oder nicht. Aber das ſetzt voraus, 
daß ein Menſch von dem Sinn ausgeſprochener Worte, von der Einheit 
einer Perſoͤnlichkeit, von ſich aus weiß. Wie will ein Menſch etwas von 
einer Perſoͤnlichkeit, die geſagt hat, eure Rede ſei ja, ja, nein, nein von 
innen her verſtehen, der ſelbſt mit einem ſolchen Wort noch nie wirklich 
Ernſt gemacht hat? Wie will ein Menſch eine Perſoͤnlichkeit, die als wich; 
tigſtes die Sorge um die Seele bezeichnet hat, von innen her verſtehen, 
dem diefe Sorge nicht ſelbſt Mittelpunkt feines Lebens geworden iſt? 
Solche Gelehrſamkeit kann man ſich nicht anſtudieren. Sie kann einem 
hoͤchſtens ſo nebenbei zufallen. Und Schrempfs Gelehrſamkeit iſt ihm 
nebenbei zugefallen, weil er durch ſein Schickſal in dieſe Not hinein⸗ 
gezogen wurde und ſich hat hineinziehen laſſen. 

Dadurch wurde fie ihm zum Seil. Aber damit haben wir ſchon vor- 
gegriffen. | 

Das, daß Schrempf aus feiner Arbeit entlaſſen wurde, hatte zunaͤchſt 
eine ganz andere Wirkung. Er war jetzt frei, frei wie der Vogel. Aber 
dieſe Freiheit auf geiſtigem Gebiet kann ſehr gefaͤhrlich ſein. Es kann 
auch der Salt, den die Denkweiſe der Gemeinſchaft dem Denken eines 
menſchen unwillkuͤrlich gewaͤhrt, genommen werden und dadurch koͤnnen 
die Zweifel, die in einem Menſchen ſind, ſich ins Bodenloſe erweitern. 
was iſt es denn mit dieſem Suchen nach einem unbedingt verpflichtenden 
Geſetz, was iſt es mit dieſer Wuͤrde des Menſchen, was iſt es mit dieſem 
Glauben, daß hinter allem eine Macht der Liebe ſteht? Iſt es nicht Wahn? 
Iſt die Wahrheit, die Wirklichkeit nicht etwas ganz anderes? — — 

Wir verlaſſen den abgeſetzten Pfarrer, in dem die wirtſchaftliche Not, 
die bittere Enttaͤuſchung eines aus edlen Motiven aufgenommenen 
Kampfes, die große Einſamkeit, in die er dadurch hineingeſtoßen wurde, 
den Reſt an Glauben anzufreſſen und zu zerſtoͤren droht. Wir uͤberſchlagen, 
was er an kleineren Schriften in dieſer Zeit veroffentlicht und ſpringen 
ſofort über zu der erſten großen Schrift, die er neun Jahre ſpaͤter (vierzig · 
jaͤhrig) veröffentlichte und die den Niederſchlag all dieſer Kämpfe bildet. 
Es iſt die Schrift: Menſchenlos. Siob, Ödipus, Jeſus, homo sum (Ver- 
lag Frommann, Stuttgart). 

Das Buch beginnt mit einer ganz anderen Stimmung als wir ſie aus 
der Schrift uͤber die chriſtliche Weltanſchauung und Kants ſittlichen 
Glauben kennengelernt haben. Wir koͤnnen dieſe Stimmung, das Reſultat 
eines langen ZJerſetzungsprozeſſes, nicht beſſer deutlich machen als durch 
wiedergabe eines kleinen Abſchnittes aus dem Praͤludium. (In der Art, 


380 S. Staͤbler 


wie wir einzelnes durch Sperrdruck hervorheben, folgen wir weder hier 
noch an anderer Stelle den Griginalen, da die Zitate ja aus ihrem Zu⸗ 
ſammenhang herausgeriſſen ſind.) 

„IR mir ein Leben aufgedraͤngt (in dem ſchrecklichen Maße a d 
daß ich ſogar leben wollen muß), ein Leben, das mich als Ganzes ab⸗ 

oͤßt: fo kann und will ich mich keinem einzelnen Reiz, den es hat, inner⸗ 
lich hingeben. Und daß ich die einzelnen Reize doch fühlen muß, als 
Reize, die mir ſchmeicheln, die mich taͤuſchen, das wirkt auf mich in meinem 
allgemeinen Elend nur als bitterer Sohn. So verſtehe ich mich in den 
Einzelgenuͤſſen des im ganzen ſchweren, aͤngſtigenden, haͤßlichen Lebens.“ 

„Aber daß ich nicht bloß leben, ſondern leben wollen muß, daß mir, 
bei meiner gruͤndlichen Verſtimmung gegen das Daſein, doch vor dem 
Tode graut: ſollte dieſe peinliche Paradoxie nicht darauf hindeuten, darauf 
beruhen, daß das Leben gerade als Ganzes gut iſt? Daß es mir des⸗ 
halb aufgedraͤngt werden durfte, weil es unbedingt lebenswert iſt? So 
daß man ſich auch dem Einzelreize des Lebens hingeben duͤrfte ohne ſich 
zu beſchimpfen, weil auch er nicht luͤgt, weil er nicht ein Schoͤnpflaͤſterchen 
iſt auf einem haͤßlichen Ganzen, ſondern nur ein beſonderer, leichter ins 
Auge fallender Zug in der allgemeinen Schoͤnheit des Lebens! 

O, wie mich dieſe Ahnung ſchon befeligte! Und wie es mich ſchon 
aͤngſtete, daß ich doch ihre Wahrheit einmal erproben muß — bewähren 
oder zerſtoͤren! Daß ich einmal niederſteigen muß in die tiefſten, 
ſchrecklichſten Tiefen menſchlichen Daſeins, um dort meine in⸗ 
ſtinktive Anhaͤnglichkeit an das Leben, deren ich mich jetzt faſt ſchaͤme, 
entweder entſchloſſen abzutoͤten, oder zu einer ihres Sinnes bewußten 
Freude am Leben zu ſteigern n“ 

Begleiten wir Schrempf auf dieſer Entdeckungsreiſe, auf der er Tat- 
ſachen feſtſtellt und über fie reflektiert. Er beginnt fie bei Siob. 

Siob iſt als ſchuldlos gottesfuͤrchtiger Mann uͤber Nacht in graͤßliches 
Elend geſtuͤrzt worden. Mit dieſer furchtbaren Tatſache muß er ſich aus 
einanderſetzen. Sie tut auch ſofort ihre wirkung. Denn dieſes Elend gibt 
Siobs „urſpruͤnglich empfindendem, durch eine fromme Dreſſur unter ⸗ 
druͤcktem Serzen die Serrſchaft über ihn zuruͤck“. 

Siob entdeckt nun, daß es mit ſeiner fruͤheren Anſchauung von Gott 
nichts iſt. Gottesfurcht ſchuͤtzt nicht vor hoffnungsloſem Elend. Ein 
ſolches Leiden kann er aber nicht als Strafe auffaſſen; er weiß doch, daß 
er ſtets ohne Falſch gegen Gott war, jedenfalls nichts getan hat, was eine 
ſo grauſame Behandlung durch Gott rechtfertigte. Ubrigens ſelbſt, wenn 
er das getan haͤtte: rechtfertigte das dann „diefe raffinierte Quaͤlerei“? 
„Das Verhaͤltnis zwiſchen Gott und Menſch iſt alſo gar nicht der Art, daß 
die Begriffe Recht und Macht, Schuld und Strafe, Empoͤrung und Unter⸗ 
werfung darin einen Sinn hätten.” „Aneinem unbedingt uͤbergeordneten 
Wefen kann ſich ein unbedingt untergeordnetes Weſen nicht verſchulden.“ 


Ehriftopb Schrempf 381 


Aber worin ſoll dann der Sinn des Verhaͤltniſſes zwiſchen Gott und 
dem Menſchen, das in dieſem ſchrecklichen Leiden zum Ausdruck kommt, 
liegen? Menſchen koͤnnen Siob keine Antwort geben, alſo muß er Gott 
ſelbſt fragen. Darf er das? „Darf das Gebilde den Bildner fragen: warum 
haſt du mich gerade fo gemacht? — Ja! das empfindende Gebilde, für das 
es eigene, ernſte Cebensfrage iſt, wie es gemacht, behandelt, ob und wie 
es in dem Leben, das es leben wollen muß, erhalten wird — es muß 
ſo fragen.“ „Sagen wir es, aller Schweifwedelei gegen Gott zum Trotz 
keck heraus: ſicherer als das Recht des Schöpfers an das Geſchoͤpf, das 
ja nicht leben wollte, das zum Zeben einfach beſtimmt wurde, ſteht das 
Recht des Geſchoͤpfes an den Schöpfer, der es in feiner Willkůr leben hieß. 

Das Schickſal Siobs draͤngt zur Frage: „aus welchem guten Gedanken 
heraus konnte Gott, indem er Siob zu ſchaffen beſchloß, zugleich beſchließen, 
daß er ihn dieſer Qual ausliefere?“ 

Eine Antwort auf dieſe Frage gibt und kann der Dichter des Siob nicht 
geben. Nur das iſt aus Siobs Geſchick noch deutlich, daß Siob erſt durch 
fein Leiden von dem Gott der Tradition zu dem wirklichen Gott ge 
führt wurde. Sollte darin der Sinn feines Leidens liegen? — — 

Siob war „unſchuldig “. Aber gibt es uberhaupt ſchuldloſe Menſchen? 
Wie iſt es mit den Schuldigen und weil ſchuldig Leidenden? Sophokles 
hat dem ſchuldig Leidenden in „Odipus“ zum wort verholfen, der, ob⸗ 
gleich vom Grakel gewarnt, feinen Vater, den er nicht kannte, erſchlug, 
feine Mutter, die er nicht kannte, heiratete, vier Binder von ihr bekam, 
ſeine Verbrechen entdeckte, vor Entſetzen daruͤber ſich ſelbſt die Augen 
ausſtach und als blinder Bettler ſtarb. 

„Bis zu dem Punkt, da Odipus in ſelbſtmoͤrderiſcher Leidenſchaft ſich 
blendet, iſt er der Typus dafür, wie der Menſch ins Leben hineingefuͤhrt 
wird.“ Er, der Menſch muß, das iſt der Schickſalsbeſchluß, der uͤber dem 
Menſchen ſteht, ſchuldig werden. Denn „der Menſch muß leben. Und für 
den einen Menſchen iſt der andere ganz objektiv, unabhaͤngig von ſeinem 
Sinn und Willen, einerſeits Sindernis, andererſeits Mittel, ſich auszu⸗ 
leben. Als Sindernis und Mittel fremden Lebens behandelt zu werden, 
empfindet aber die menſchliche Perſoͤnlichkeit als Mißhandlung. Alſo: der 
Menfch muß den Menſchen miß handeln.“ Das iſt feine Schuld. Denn der 
Menſch vollzieht dieſe Verſuͤndigung, das iſt wieder Schickſalsbeſchluß, 
mit dem Bewußtſein der Freiheit. Er erkennt ſtets aus der durch die Tat 
geſchaffenen Wirklichkeit heraus, daß er eine andere Möglichkeit wählte, 
als die er waͤhlen ſollte, alſo auch waͤhlen konnte. Die von ihm begangene 
Schuld muß er endlich, das iſt wieder Schickſalsbeſchluß, auch an ſich 
ſelbſt raͤchen: er zerfleiſcht ſich ob dieſer Schuld ſelbſt. „Der ganze Apparat 
des menſchlichen Süblens, Denkens, Wollens iſt hoͤchſt ſinnreich darauf 
eingerichtet: daß der Menſch ſich ſelbſt quaͤlen ſoll.“ 

Aber der Dichter des Odipus zeigt nicht nur, wie der Menſch, jeder 


382 Fe. Stäbler 


menſch, ins Leben hineingefuͤhrt wird. Er zeigt uns auch einen Odipus, 
der ſich aus dem Leben herausgearbeitet hat. Wie gelangt der mit ſich 
ſelbſt, mit den Menſchen, mit den goͤttlichen Maͤchten zerfallene Odipus 
zur inneren Ruhe? 

Odipus gewinnt feine Unſchuld wieder zurück. „Nicht durch Reue, nicht 
durch Buße, nein, dadurch, daß er die Reue als eine Unwahrheit 
abwies“, daß er die Verantwortung für fein Leben ablehnt. Denn um 
die Verantwortung für fein Leben ubernehmen zu konnen, „müßte des 
Lebens Gang dem wirklichen gerade entgegengeſetzt verlaufen: es müßte 
mit der Klarheit, dem Wiſſen, der Freiheit beginnen.“ Aber es beginnt 
im Traum, mit der Bewußtloſigkeit, Unwiſſenheit und Unfreiheit, keine 
Entſcheidung hat je die Bedeutung eines ganz neuen Anfangs. Der 
Menſch lebt in Wirklichkeit nicht, ſondern wird gelebt. 

Aber ſelbſt, wenn Siob in feiner Unterredung mit Gott, wenn Ödipus 
in feiner. Unterredung mit den Erinnyen zu einer pofitiven Erklaͤrung 
uͤber den Sinn ihrer Leiden gekommen waͤren, voͤllig unklar bliebe doch: 
„was ihres ferneren Lebens Inhalt fein wird.“ Dieſe Frage führt 
zu Jeſus. Jeſus iſt in der Bußtaufe, der er ſich natuͤrlich nicht nur pro 
forma unterzog — ein Jeſus tut nichts pro forma — die Offenbarung 
zuteil geworden, daß er ja ſchon der liebe Sohn iſt, an dem Gott ſein 
Wohlgefallen hat. Damit hat er ſich und den Menſchen uberhaupt den 
Frohſinn, die Unſchuld wiedererobert. Alſo war die einzig mögliche Auf⸗ 
gabe für ihn von da ab: „Die andern zu neuem Leben in Frohſinn und 
Unſchuld zu führen.“ Sein Evangelium aber iſt: „Seil euch, die i hr 
leidet, denn gerade ihr ſollt ſelig werden.“ „Beſteht die Seligkeit darin, 
daß der Menſch die Sorge fuͤr ſich ſelbſt dem Vater uͤberlaͤßt, ſo muß der 
menſch, um ſelig zu werden, es erſt verlernen, daß er für ſich ſelbſt ſorgen 
will.“ Das lernt er aber eben dadurch, daß alles Sorgen ihn immer nur 
in Leiden und Verſchuldung hineinverſtrickt. 

Sat der Vater die Sorge für den Menſchen, fein Kind, ſich vorbehalten, 
ſo iſt alles, was geſchieht, Gottes Tat. Damit iſt die Sorge als Motiv 
der Arbeit außer Kraft geſetzt und die Moͤglichkeit geſchaffen, daß ſich 
der natürliche Zug des Menſchen zum Menſchen als feinem Blutsver⸗ 
wandten geltend macht. Zwiſchen Gott und dem Menſchen, dem Vater 
und dem Kind, kann aber auch kein Vertragsverhaͤltnis beſtehen. Damit 
faͤllt, wie aus dem Verhaͤltnis des Menſchen zu Gott, ſo auch aus dem 
Verhaͤltnis des Menſchen zum Menſchen der Gedanke der Schuld aus. 
Der Sinn der Suͤnde kann dann nur noch ſein, daß ſie „zum peinlichen, 
inneren Zwieſpalt geworden, die maͤchtigſte Triebkraft in der Ent⸗ 
wicklung der Menſchen iſt.“ 

Aber Jeſus konnte das Leiden nicht aus der welt ſchaffen. Er konnte 
nicht Befreiung vom Druck geben, ſondern nur frohen Sinn unter dem 
Druck. Dadurch trat bald eine Scheidung unter ſeinen Bewunderern ein. 


Chriftopb Schzempf 383 


Sie wurde verſchaͤrft dadurch, daß auch feine naͤchſten Freunde ihre Rech; 
nung darauf ſtellten, er werde das uͤberlieferte Ideal eines Königs nach 
der Weiſe Davids erfuͤllen. Das aber, daß „das Leben, das er darbietet, 
das echte goͤttliche Leben, von den Menſchen, die feiner fo dringend be⸗ 
duͤrfen, zum Teil als bloße Unterhaltung genommen, zum Teil kuͤhl ab⸗ 
gelehnt, zum Teil geradezu bekaͤmpft und verhoͤhnt wurde, das hatte er 
ſich nicht in Rechnung genommen.“ 

Der entſetzliche Druck, der für Jeſus darin lag, daß er ein Leiden durch⸗ 
leiden mußte, das weder Siob noch Odipus kennengelernt hatten: das 
Leiden um der Serechtigkeit willen, daß er alſo dafür, daß er 
den Menſchen Evangelium, das beſte und hoͤchſte, was es gibt, brachte, 
daß er gerade dafuͤr leiden mußte, das noͤtigte ihn am Kreuz „Gott 
wieder herauszufordern, ihm Rechenſchaft abzuverlangen über die Ab⸗ 
ſurditaͤt des Weltlaufs “. Und es wurde ihm eine Antwort „wie jedem, der 
ſich durch Gott drängen läßt, Gott zur Rede zu ſtellen “. Aber „welche Ant ⸗ 
wort Jeſu auf fein ſchreckliches: Warum? fein „Warum haſt du mich ver⸗ 
laſſen? wurde,“ wiſſen wir nicht. „Er hat ſie mit ſich ins Grab ge⸗ 
nommen.“ 

Im vierten Abſchnitt des Buches homo sum, „ein Schema, zu paſſen⸗ 
der Ausfuͤllung mit dem Material des eigenen Lebens jedermann dar- 
geboten“, nimmt Schrempf die an Siob, Ödipus, Jeſus illuſtrierten 
Probleme des menſchlichen Lebens noch einmal auf, um fie mehr im Zu⸗ 
ſammenhang darzuſtellen und zu erweitern. 

„Ich lebe nicht, ich werde gelebt.“ Und es iſt ein hoͤchſt ſonderbares 
Leben, das der Menſch gelebt wird, ein Leben, das weſentlich Leiden 
iſt, ein Leben, das unausweichlich den Menſchen ſchuldig macht. 

Wem diefe feine Situation als Menſch zum Bewußtſein kommt, dem 
verändert ſich langſam der Anblick des Lebens. 

„Die Wahrnehmung, daß ich unwiderſtehlich gelebt werde, hat mich 
mein Leben erſt recht als mein Leben empfinden laſſen.“ „Zugleich aber 
loͤſte mich die Wahrnehmung, daß ich doch nur gelebt werde, von mir los, 
ſtellte mir mein Leben als etwas Gbjektives gegenüber.” „So wurde 
ich zugleich ganz ſubjektiv und hoͤchſt objektiv — zugleich ein Ich und ein 
Ding.“ 

Die daraus entſtehende Spannung aber draͤngt immer mehr dazu, ſich 
der Macht, von der der Menſch gelebt wird mit der ſcharfen Frage gegen⸗ 
uͤberzuſtellen: was denn das alles heißen folle. 

„Ich habe bis jetzt keine Antwort erhalten“, „aber kann ſie mit der 
Antwort warten, ſo kann ich auf meiner Frage beharren.“ Inzwiſchen 
aber hat man zeit, ſich zu beſinnen. 

Da faͤllt erſtens einmal der „ungeheure Verſtand“ auf, der in der Ein⸗ 
richtung des Lebens ſteckt. Rönnte nicht die „von mir unmittelbar emp⸗ 
fundene Unbehaglichkeit des Daſeins im 3 ufammenbange des 


384 F. Staͤbler, Chriſtoph Schrempf 


Zebens, den ich freilich nicht ſehe, einen anderen, ja gerade den entgegen⸗ 
geſetzten Sinn haben?“ 

„Sodann konnte ich mit dem Neſultat meiner bisherigen Entwicklung, 
ſeltſamerweiſe, eigentlich nicht unzufrieden ſein. Die geſperrte Stellung 
zum Daſein, die ich einzunehmen gezwungen worden war, gewaͤhrt eine 
eigentuͤmliche Ruhe, einen ſeltſamen Genuß feiner ſelbſt. Behaglich iſt 
ſie nicht; das iſt wahr: es friert mich manchmal. Trotzdem moͤchte, koͤnnte 
ich mit keinem Zeugen menſchlicher Behaglichkeit, auch nicht mit der Un⸗ 
ſchuld kleiner und großer Kinder tauſchen. Nein! Ich bin, der ich binn 
Auch dieſe ſeltſame Stimmung verſtehe ich eigentlich nicht; aber ſie iſt 
eine Wirklichkeit in mir.“ 

„Indem ich dieſe konſtatierte, kam mir die alte Sage in Erinnerung, 
daß die Macht, von der der Menſch mit der ganzen welt gelebt werde, 
Liebe ſei. Eine ſonderbare Liebe; denn fie entſpricht gar nicht meinem 
gefuͤhlsmaͤßigen Bedürfnis nach Liebe. Wenn aber dies Refultst meines 
Lebens, das ich doch nicht verwuͤnſchen kann, ein Ziel dieſer Liebe 
geweſen ſein ſollte? “ „Alſo muͤßte ich mich zunaͤchſt nur darein finden, 
mit einer Liebe geliebt zu werden, die ich nicht verſtehe. Alſo dürfte ich 
nur den Gedanken wagen, daß die Unverſtaͤndlichkeit dieſer Liebe aus 
ihrer Groͤße fließe, in der Höhe ihrer Abſichten begründet ſei. Alſo müßte 
ich, um mein Leben zu verſtehen, es von der Vorausſetzung aus be⸗ 
trachten, daß es gerade fo, wie es wurde, von der Liebe beſtimmt wor- 
den ſei.“ 

Unter dieſer Idee als einem Schluͤſſel zum Verſtaͤndnis des raͤtſelhaften 
Lebens ruckt alles wieder in neue Beleuchtung. Erſt durch die durch das 
Leben hervorgerufene Sproͤdigkeit gegen die Macht, die einen lebt, bin- 
durch kann die „rechte, große Liebesleidenſchaft“ ſich losringen. Nur 
unter dem Ernſt, in den einen das raͤtſelhafte Leben hineinſtoͤßt, kann 
ſich im Menſchen das langſame Seranwachſen eines zweiten Ichs 
durchſetzen. Nur wer in allem Sandeln der Menſchen untereinander und 
gegeneinander das Gelebtwerden entdeckt hat, dringt erſt zur wahren 
Schoͤnheit menſchlicher Beziehungen vor, denn er erkennt, daß die Men⸗ 
ſchen gegenſeitig ib Schick ſal find. „So lange die Menſchen ihren Wert 
füreinander nach ihren Zeiſtungen gegeneinander beſtimmen zu muͤſſen 
glauben, behaͤlt ihr Verhaͤltnis zueinander etwas Geſchaͤftliches, Unfeines, 
Schmutziges. Anders, wenn fie ſich in Luft und Schmerz, als ihr Schickſal 
erkennen, als die zeitliche Form ihres Gelebtwerdens. 

Was kann nun für den Menſchen, der gelebt wird, der Inhalt feines 
Wollens werden, da er doch gar nicht anders, denn als wollend leben kann? 
Er ſoll ſich leben laſſen. Das Leben ſorgt ſchon dafür, — fo iſt es ja 
in feiner Kaͤtſelhaftigkeit eingerichtet —, daß der Menſch immer etwas zu 
verarbeiten bekommt. Dem ſoll er ſich hingeben: „Ich habe nie mehr zu 
denken, zu tun, als wenn ich keine Vorſaͤtze habe. Der Anreiz, mir Vor. 


Sermann Seller, Arbeit und Bildung in der Arbeiterbewegung 385 


ſaͤtze zu machen, ſtellt ſich immer nur dann ein, wenn der echte Wille zur 
Tat mir ſpaͤrlicher zufließt. Statt mich der Muße zu erfreuen, die mir ſo 
gewaͤhrt wird, glaube ich dann ſelbſtherrlich handeln zu ſollen —, um 
meine ſelbſtherrlichen Beſtimmungen, als untauglich, nachher regelmaͤßig 
wieder aufgeben zu muͤſſen. (sin abſchließ. Auffatz folgt im naͤchſten Sefte) 


Hermann Heller / Arbeit und 
Bildung i in der Arbeiterbewegung* 


-I Grundſaͤtzliches 

nſere volkshochſ chulbildungs literatur hat in zahlloſen mehr oder 
minder geiſtreichen Aufſaͤtzen jenes Wort Wilhelm von Sumboldts 
einer Paraphraſierung und Interpretierung unterzogen, wonach 
Bildung etwas fein muͤſſe, was „den ganzen Menſchen in allen feinen 
Nraͤften und allen feinen Außerungen umfaßt“. Daß ein ungemein we 
ſentlicher Beſtandteil in der Erlebnistotalitaͤt des Arbeiters ſeine Arbeit iſt, 
daß alſo Arbeit und Bildung in einer ernſten Arbeiterbildung irgendwie 
und irgendwo in Bezug geſetzt werden muͤſſen, haben eben jene Volksbild⸗ 
ner ausnahmslos mit dem Sinweis auf die Bildungsunwirkſamkeit des 
mechaniſierten Arbeiterberufes endgültig erledigen zu konnen gemeint. Zu; 
gleich waren es aber eben dieſelben Bildungsſchriftſteller, die ſchneidige 
Attacken gegen den Waren hauscharakter der traditionellen „allgemeinen 
Bildung“ ritten. Man will alfo weder eine berufsbezogene, noch eine All 
gemein ⸗Bildung und erſt recht will man keine weltanſchaulich gebundene 
oder gar parteibezogene Bildung. Nachdem man alſo immer nur geſagt 
hatte, was man nicht wolle, hilft man ſich heute über das Manko pofitiver 
Jielſetzungen mit der theoretiſch nichtsſagenden und praktiſch noch belang- 

loſeren, dekorativen Sentenz: Volksbildung muͤſſe Volk ⸗ Bildung fein, 
Die Ablehnung einer notwendig verflachenden intellektuellen Univerſali⸗ 
tät iſt ſelbſtwerſtaͤndlich berechtigt. Ebenſo iſt die Ablehnung eines berufs. 
ſpezialiſtiſchen Bildungszieles fuͤr die Arbeiterbildung noch weit begrün- 
deter, als für alle anderen Berufszweige. Die von der bolſchewiſtiſchen Ar⸗ 
beiterbildung oft geaͤußerte Meinung, der Proletarier muͤſſe deswegen in 
ein tieferes Verſtaͤndnis feiner Spezialarbeit eingeführt werden, um ſich fo 
als notwendiges Kaͤdchen im Geſamtmechanismus der Produktion kennen 
und ſchaͤtzen zu lernen, iſt als Zielgedanke innerhalb der kapitaliſtiſchen 
Wirtſchaft (lauch im heutigen Rußland) ſicherlich falſch. Noch unendlich 
viel falſcher iſt es aber, die Arbeit neben der Arbeiterbildung beziehungslos 
einherlaufen zu laſſen. Solange dieſe grundſaͤtzliche Ignorierung ſtatthat, 
wird der Proletarier mit Recht von einer „bürgerlichen“ Volksbildung 
» Diefer Aufſatz mußte wegen Platzmangel im letzten Arbeiterbildungs ſonder⸗ 
Heft zuruͤckgeſtellt werden. (Leit.) 
Lat xm ö 2 


386 Sermann Seller 


ſprechen dürfen. Denn genau fo, wie der buͤrgerlich⸗kapitaliſtiſche Staat, 
und zwar gerade als Demokratie, vom Arbeiter nur den abſtrakten Teil- 
inhalt „Staatsbuͤrger“ zur Kenntnis nimmt, den Arbeiter als Arbeiter 
aber ignoriert und bis vor kurzem die Arbeitsordnung gänzlich dem Privat; 
recht uͤberließ, ebenſo will die buͤrgerliche Volksbildung unter Ignorierung 
des beſonderen Arbeiterlebens nur die „allgemeinmenſchlichen Anlagen 
dieſes Arbeiters bilden. Sicherlich darf keine wahre Bildungsarbeit von 
einem unmittelbaren ſozialen Utilitarismus abhaͤngig werden; ſie darf 
aber noch viel weniger ſozial unfruchtbar werden, wie dieſe bürgerliche 
Volksbildungsarbeit. 

Dem gegenuͤber gilt es mit allem Nachdruck feſtzuſtellen: entweder ge⸗ 
lingt es, die beſondere proletariſche Cebenswirklichkeit zu einer eigenftän- 
digen Arbeiterkultur zu entwickeln oder aber man ſchaltet dieſe Berufs⸗ 
und Lebenswirklichkeit aus, fuͤttert den Arbeiter mit den Objektivationen 
einer ihm fremden Kultur und erzeugt Mißgeſtalten. Daß es dieſe prole⸗ 
tariſche Kultur heute nicht gibt, wiſſen wir alle. Daß es aber ohne dieſe 
Geſtaltwerdung des Proletariats, in die auch fein Beruf irgendwie einge 
gangen fein muß, uberhaupt keine Zukunftskultur geben kann, vermögen 
ſich nur wenige klar zu machen. 

Die Einbeziehung des Berufes in die Arbeiterbildung dat auezugehen 
von der (übrigens in den verſchiedenen Berufen in ſehr verſchiedenem 
Maße) gegebenen Mechaniſierung der Handarbeit einerfeits und von dem 
im Arbeiter lebendigen Umgeftaltungswillen feiner Arbeitsordnung an- 
dererſeits. Sie wird nicht Spezialiſten ausbildung, ſondern Weſensbildung 
anſtreben, indem fie an die bildungs wirkſamen Elemente des Arbeitserleb⸗ 
niſſes anknuͤpfend, dieſe als Bezugspunkte verwertet zum Aufbau der ber 
ſonderen geiſtigen Welt des Proletariers. Daß es ſolche Bezugspunkte im 
heutigen Arbeitserlebnis uberhaupt nicht gäbe, iſt unrichtig und darf zu⸗ 
mindeſt ſo lange nicht behauptet werden, als noch nicht der geringſte Ver⸗ 
ſuch gemacht wurde, fie in einer Arbeitsſchule des erwachſenen Sandarbei⸗; 
ters auch nur zu ſuchen, geſchweige denn praktiſch zu verwerten. Gerade 
weil heute der größte Teil der wirtſchaftlichen Guͤterherſtellung mechani 
ſiert iſt, geht er durch die Sand des Proletariers und vermittelt ihm ge⸗ 
nuͤgende, wenn auch zunaͤchſt nur intellektuelle Erlebniſſe, die als An⸗ 
knuͤpfungspunkte für eine geſellſchafts · und kulturkundliche Bildungs 
arbeit dienen konnen und dienen muͤſſen. Dieſe Schule der Arbeit haͤtte fo- 
mit als ihre vornehmſte Aufgabe das berufliche Arbeitserlebnis im Betrieb 
auszuwerten zum allgemeinen Verſtaͤndnis des geſellſchaftlichen Zuſam ; 
menlebens und feiner Zultur. Vom Mikrokosmos des Betriebes aus- 
gehend ſoll fie zum Makrokosmos der Geſellſchaft führen. Wenn in der 
ſubjektiven Erlebniswirklichkeit des Proletariers die objektive Kultur er⸗ 
halten, umgeſtaltet und neugeſchaffen werden foll, fo darf die Arbeiter- 
bildung nicht wie bisher, ausſchließlich von der beſonderen Erlebniswelt 


Arbeit und Bildung in der Arbeiterbewegung 387 


des Beiftesarbeiters ausgehen, ſondern muß ſich auch auf der fpezififchen 
Erlebnisgrundlage des Sandarbeiters aufbauen. 

Im engſten Anſchluß an den Betrieb würde das Berufserlebnis zunaͤchſt 
einmal für die Erkenntnis der Wirtſchaft auszuwerten fein. Die Fragen 
nach der Herkunft der verſchiedenen Rohſtoffe, ihrer wirtſchaftlichen und 
politiſchen Bedeutung, nach dem Abſatz der Fertigfabrikate, nach der man⸗ 
nigfachen Bedeutung der jetzigen Arbeitsordnung ſind allein in einer 
ſolchen, dem Betrieb angegliederten Arbeitsſchule anſchaulich und erleb⸗ 
nisnah zu erörtern. Das Zuſammenleben im Betrieb wirft aber auch alle 
anderen Probleme der Vergeſellſchaftung auf, angefangen von der Fami⸗ 
lie über Gewerkſchaft und Partei zum Staat und uͤberſtaatlichen Leben. 
Notwendigkeiten und Möglichkeiten einer heutigen und kůͤnftigen Ger ell- 
ſchaftsordnung werden fo am Berufserlebnis lebendig. 

Utopiſtiſcher Radikalismus wird an dieſen praktiſchen Erlebniſſen feine 
ſicherſte Korrektur erfahren. Zugleich muß ſich aber dieſe Schule der Arbeit 
es angelegen ſein laſſen, die unumgaͤnglichen Forderungen der heutigen 
Wirtſchaft in Einklang zu bringen mit der Forderung, die kulturſchoͤpfe⸗ 
riſchen Kräfte im Arbeiter zu erhalten. Die Schule wird den gewiß ſehr 
ſchwierigen Verſuch machen muͤſſen, die ſteigende Rationaliſierung der Be⸗ 
triebsfuͤhrung zur Erzielung techniſcher Soͤchſtleiſtungen in Einklang zu 
bringen mit den Forderungen einer rationalen Menſchenoͤkonomie. Der 
ſozialiſtiſche Umgeſtaltungswille des Arbeiters wird auf dieſem praktiſchen 
Wege am eheſten zu einer neuen Arbeits form und Arbeitsordnung erzogen 
werden. 

Das Zuſammenwirken von Betrieb und Schule kann und muß aber auch 
in einer Neugeſtaltung der allgemeinen Lebensform fruchtbar werden. 
Den handgearbeiteten Geraͤten nachzutrauern, iſt eine Sentimentalitaͤt, die 
der Vergangenheit angehören muß. Die Gegenwart hat die zweckrational 
und aͤſthetiſch unzulaͤngliche Maſchinenarbeit zu betrauern. Aufgabe der 
Jukunft iſt eine neue Formgebung, die der Maſchinenarbeit angepaßt, ihre 
Serkunft nicht verleugnet, ſondern zum buͤndigſten Ausdruck bringt. Dieſes 
aͤſthetiſche Erziehungsziel, dem die Erfahrungen des Deſſauer Bauhauſes 
zugute kommen werden, iſt ebenſowohl in einer Schule, die einer Automo⸗ 
bil, oder Maſchinenfabrik angegliedert iſt, zu erreichen, wie in der Arbeits 
ſchule einer Fabrik, die Kleider, Möbel, Saushaltungsgegenſtaͤnde uſw. 
herſtellt. Von hier aus wird das Kunſterlebnis des Arbeiters auf viel ech ⸗ 
terem und produktiverem Wege geweckt werden, als es heute durch Vor⸗ 
träge und Lichtbilder geſchieht. Weil an jedem Punkte um das Ganze ge- 
kaͤmpft wird, muß das Zuſammenleben in der Fabrik und im Seim der Ar⸗ 
beitsſchule, ausgehend von den berufsethiſchen Problemen, auch zu den 
letzten Fragen des Geiſtes und der Seele fuͤhren. 5 

Der Plan einer ſolchen Schule der Arbeit, die der deſonderen Berufs ⸗ und 
Bildungs ⸗ Situation des Großſtadtarbeiters Rechnung trägt, war bereits 

26 


388 Sermann Seller 


im Jahre 1922 vom Volksbildungsamt der Stadt Leipzig erörtert wor- 
den“. Im Srübjabr 1923 waren die Beſprechungen fo weit gediehen, daß 
die Moglichkeit der Verwirklichung nahegeruͤckt ſchien. Der völlige Ju⸗ 
ſammenbruch unſerer Währung, der damals eintrat, machte dieſen ſowie 
viele andere Plaͤne zu nichte. So traurig auch unſere gegenwaͤrtige Wirt; 
ſchaftslage ſein mag, dieſe Form der Arbeiterbildung erſcheint uns doch ſo 
wichtig und dringend, daß nicht nur gegenwaͤrtig ein neuer Verſuch ge⸗ 
macht wird, eine ſolche Schule der Arbeit in Sachſen zu verwirklichen, 
fondern der Plan auch einer weiteren Gffentlichkeit unterbreitet werden 
ſoll. Wie eine Schule der Arbeit, die einer Fabrik für Saushaltungsgegen⸗ 
ſtaͤnde angegliedert wäre, im einzelnen ausſehen ſoll, wird auf den folgen- 
den Seiten gezeigt, die einer von Gertrud Hermes ausgearbeiteten Denk⸗ 
ſchrift entnommen find. Selbſtwerſtaͤndlich laͤßt ſich der Verſuch auch in 
kleinerem Umfange unternehmen, z. B. durch Angliederung der Schule an 
die Reparaturwerkſtaͤtte eines Großunternehmens. 


II Die Grganiſation des Ganzen 

Nie Schule der Arbeit beſteht aus einer Fabrik von mindeſtens Joo Ar- 

beitern und einem Seim. Die Fabrik arbeitet als ein in ſich feſt ge⸗ 
ſchloſſener Betrieb. Etwa / der Belegſchaft keftebt aus ſtaͤndigen Arbei- 
tern, die 8 Stunden arbeiten und für dieſe 8 Stunden den tariflichen Stun; 
denlohn bekommen. / der Belegſchaft wechſelt alljaͤhrlich. Dieſes Drittel 
bildet die Schuͤlerſchaft (Alter 20—25 Jahre). Die Schüler arbeiten nur 
6 Stunden und erhalten fuͤr dieſe 6 Stunden ebenfalls den tariflichen 
Stundenlohn, fo daß Leiſtung und Entlohnung bei allen Arbeitern der 
Fabrik in gleichem Verhaͤltnis ſteht und nicht etwa die Vollarbeiter irgend⸗ 
ein Opfer für das Ganze zu bringen haben. Aus ihrem Lohneinkommen 
beſtreiten die Schüler gemeinſam ihren Unterhalt in einem zu errichtenden 
Seime. Die Geſchaͤftsfuͤhrung des Seimes iſt von derjenigen der Fabrik 
vollkommen getrennt. 

Die Schule der Arbeit, alſo Fabrik und Seim als gemeinſames Unter⸗ 
nehmen, wird gegründet in der Form der G. m. b. 5. Das Unternehmen 
wird nach den Normen einer G. m. b. 5. organiſiert und verwaltet, fo daß 
den Geſellſchaftern, alſo den Kapitalgebern, der maßgebende Einfluß auf 
die Fuͤhrung des Ganzen rechtlich geſichert iſt. Das Unternehmen hat 2 lei⸗ 
tende Organe: 

I. den Aufſichtsrat 
2. den Vorſtand. 

In dem Aufſichtsrat wird den Geſellſchaftern der entſcheidende Einfluß 
zahlenmäßig ſichergeſtellt (etwa ;/ der Mitglieder). Daneben haben An- 
geſtellte, Schuͤler und Vollarbeiter ihre Vertretung. Die Mitglieder des 


Vgl. Seller u. a. Freie Volksbildungsarbeit, Verlag der Werkgemeinſchaft Leip⸗ 
zig, Roßſtr. 18. 


Arbeit und Bildung in der Arbeiterbewegung 389 


Aufſichtsrates find zur einen Hälfte aus den Kreiſen der Sachverſtaͤndigen 
der Induſtrie oder ſonſtiger im Wirtſchaftsleben erfahrener Perſonen, wie 
ſie in jedem Aufſichtsrat vertreten ſind, zu entnehmen; die andere Saͤlfte 
ſetzt fi) aus Männern oder Frauen der volksbildneriſchen Praxis zuſam · 
men. Den Vorſitz führt eine in der Volksbildungsarbeit praktiſch erfahrene 
Derfönlichfeit, deren Stimme auch bei Stimmengleichheit den Ausſchlag 
gibt. Die naͤheren Beſtimmungen uͤber wahl, Ausſcheiden und wieder; 
wahl der Mitglieder bleiben offen. 

Der Auffichterat ernennt und entlaͤßt die Geſchaͤfts führer, die ihm ver⸗ 
antwortlich find, ihre Geſchaͤftsfuͤhrung jedoch ſelbſtaͤndig ausuͤben. Er 
hat in ſtaͤndiger Fuͤhlung mit dem Unternehmen zu bleiben, es durch Rat 
und Tat zu fördern. Ihm ſtehen noch weiter zu beſtimmende Rontroll 
rechte zu. Fuͤr ſeine Muͤhewaltung wird er in einem zum Reingewinn an⸗ 
gemeſſenen Verhaͤltnis entſchaͤdigt. 

Der Vorſtand beſteht zu gleichen Teilen aus den Geſchaͤftsfuͤhrern, welche 
die Fabrik leiten, und den Lehrern der Schule. Letztere werden von den 
öffentlichen Rörperfchaften ernannt, die die Gehaͤlter zahlen. Die Geſchaͤfts · 
fuͤhrer ſind kaufmaͤnniſch und techniſch gebildete und erfahrene Fachleute. 
Sie fuͤhren den Betrieb in techniſcher und kaufmaͤnniſcher Sinſicht ſelb⸗ 
ſtaͤndig. Der techniſche Zeiter muß ein Mann von volkepaͤdagogiſcher Ein · 
ſicht fein. Er muß die Bildungsarbeit aufbauen helfen, deren Zeitung je; 
doch in den Saͤnden der Lehrer liegt. Die Lehrer genießen hinſichtlich der 
Schulleitung dieſelbe Selbſtaͤndigkeit wie die Geſchaͤftsfuͤhrer im Fabrik 
betrieb, unbeſchadet des Selbſtverwaltungsrechtes der Schüler (vgl. Seim). 
Über die Ein⸗ und Angliederung der Bildungsarbeit in die Fabrik entſchei⸗ 
det der Vorſtand im Ganzen. Den Vorſitz im Vorſtand hat der paͤdagogiſche 
Leiter; bei Stimmengleichheit gibt feine Stimme den Ausſchlag. Diefe 
Vorzugsſtellung der paͤdagogiſchen Fuͤhrer in Vorſtand und Aufſichtsrat 
ergibt ſich aus dem Zweck des geſamten Unternehmens. Denn der Zweck der 
Anſtalt, die Bildungsarbeit, muß unter allen Umſtaͤnden fuͤr die Leitung 
des Ganzen entſcheidend ſein. Unſere heutige Bildungsarbeit krankt zum 
überwiegenden Teile daran, daß fie letzten Endes an anderen, als an Bil⸗ 
dungszwecken orientiert iſt. Soll dieſes Mißverhaͤltnis in der Schule der 
Arbeit vermieden werden, fo muß der Wirtſchaftsbetrieb, der in dieſem 
Salle nicht um ſeiner ſelbſt willen da iſt, den Bildungszwecken dienen und 
nicht umgekehrt. Von den paͤdagogiſchen Fuͤhrern aber muß erwartet wer⸗ 
den, daß fie Einſicht und Verantwortung genug beſitzen, um nicht die wirt 
ſchaftliche Baſis des Ganzen, den Fabrikbetrieb, aus Mangel an Rüdficht 
auf feine Lebensnotwendigkeiten zu gefährden. 


III Die Fabrik 
De Fabrik iſt als normaler Induſtriebetrieb aufzubauen. Sie ſtellt 
Saushaltungsgegenſtaͤnde her, und zwar wenige einfache Maſſenartikel, 


390 Hermann Seller 


der Metallinduſtrie zugehörig. Die Rentabilität des Betriebes, der mit der 
Schule in keiner Weife finanziell belaftet wird, iſt wie bei jedem normalen 
Unternehmen unter allen Umſtaͤnden zu ſichern. Der Betrieb arbeitet ohne 
alle Zuſchuͤſſe, wie jeder andere Induſtriebetrieb. Betriebserweiterung und 
Intenſivierung aus zu erzielenden ÜUberſchuͤſſen find anzuſtreben. Bei der 
Organiſation des Betriebes iſt alles Experimentieren mit unausgebildeten 
Unternehmungsformen (Bommuniftifche Gemeinſchaften uſw.) zu ver ⸗ 
meiden. Der Charakter der Beſitzverhaͤltniſſe ergibt ſich eindeutig aus dem 
Charakter des ganzen Unternehmens als einer G. m. b. 5. Sat ſich der Be⸗ 
trieb als leiftungsfähig erwieſen, fo wird mit Verſuchen in der Richtung 
der Betriebs demokratie langſam und vorſichtig vorzugehen fein. Eine 
Umgeſtaltung der Beſitzverhaͤltniſſe wird hier wie im Ganzen der Wirt- 
ſchaft erſt dann Wirklichkeit werden konnen, wenn die geiſtig⸗ſeeliſche Reife 
für eine Betriebs demokratie erworben iſt und ihre Formen gefunden find. 
Fuͤr die Bearbeitung diefer ſachlichen wie perſoͤnlichen Vorausſetzungen 
kann der Betrieb ſehr weſentliche Vorarbeit leiſten. 

Ebenſo iſt die Auswahl aller Mitarbeitenden durchaus nach den Grund · 
ſaͤtzen der Induſtrie zu treffen. Die Tauglichkeit allein hat zu entſcheiden, 
nicht Einflůſſe anderer Art. Der Betrieb kann Feine Verſorgungsanſtalt 
für verdiente Männer und Frauen aus den reifen der das Unternehmen 
finanzierenden Organiſationen ſein. Die leitenden Angeſtellten ſind nach 
den in der Privatinduſtrie ublichen Saͤtzen, die übrigen Angeſtellten und 
die Arbeiter nach den von den Grganiſationen vereinbarten Tarifloͤhnen 
zu bezahlen. 

Mit befonderem Nachdruck iſt zu betonen, daß die Aufpfropfung der 
Schule auf einen derartig kapitaliſtiſch aufgezogenen Fabrikbetrieb nicht Not ⸗ 
behelf, ſondern bewußte Abſicht iſt. Wir erſtreben keine Experimente, die 
das Vorhandene ſeinen eigenen Geſetzen entgegen umbiegen. Der Weg 
geht für uns durch die kapitaliſtiſche Wirtſchaft hindurch. Nur die Ent⸗ 
faltung des Vorhandenen zu immer hoͤheren Formen, nicht wirklichkeits⸗ 
fremde Weltverbeſſerungeplaͤne kommen für uns in Frage. Das gilt auch 
fuͤr dieſen Verſuch einer neuartigen Arbeiterbildung. Er iſt dem modernen 
induſtriellen Großbetrieb ein / und anzugliedern. Nur auf dieſem Wege 
kommen wir dem Problem der Maſſenbildung, das wir bejahen, langſam 
naͤher. Laßt uns daher nicht unausgereifte wirtſchaftliche Experimente 
machen, die von der Entfaltung der modernen Induſtrie abfuͤhren, fon- 
dern laßt uns eine Form herausſtellen, die auch bei hoͤchſter Betriebskon⸗ 
zentration, bei hoͤchſter Entfaltung der Maſſenarbeit anwendbar iſt. 
Schaffen wir einen Typus, der ein Prototyp werden kann, d. h. der faͤhig 
iſt zur Aus · und Weiterbildung innerhalb der gegebenen wirtſchaftlichen 
Sormen, um dann mit dieſen Formen in langſamem wachstum neuen 
Moglichkeiten entgegenzureifen. 


Arbeit und Bildung in der Arbeiterbewegung 391 


IV Das Seim 

as Seim beruht auf dem Grundſatz der Selbſtverwaltung. Da die 

Seimſaſſen das Seim aus ihrem ZLohneinkommen finanzieren, haben 
fie in allen Angelegenheiten des Seimes ſelbſtaͤndig zu entſcheiden. Sie ver⸗ 
walten ihre Einkuͤnfte, ſie geben ſich ihre Ordnung, ſie berufen und beſol⸗ 
den die Sausangeſtellten. Die Lehrer ſtehen ihnen beratend und helfend 
zur Seite, haben jedoch im Rat der Seimſaſſen nur Sitz und Stimme wie 
die Schuler. — Saus und Inventar werden den Seimſaſſen von der Geſell⸗ 
ſchaft oder von einer anderen Stelle zur Verfuͤgung geſtellt. Das darin an; 
gelegte Kapital iſt von den Seimſaſſen zu normalem Zinsfuß zu verzinſen, 
ſo daß dem Geſamtunternehmen aus dem Seim keinerlei Unkoſten er⸗ 
wachſen und die oben erwaͤhnte reinliche Scheidung in der Geſchaͤftsfuͤh⸗ 
rung ſich ermöglicht. Wenn der Plan eines ſolchen autonomen Schuͤler⸗ 
beimes Bedenken erregen follte, fo ſei darauf hingewieſen, daß die Erfah⸗ 
rungen der Leipziger Volkshochſchulheime in jeder Sinſicht fuͤr ihn 
ſprechen. 
Als einzige Laft, die dem Geſamtunternehmen aus der Schule erwaͤchſt 
und die nicht aus ſeinen eigenen Mitteln zu begleichen iſt, verbleiben die 
Boften für die Beſoldung der Lehrer. Sie muͤſſen aus Zuſchuͤſſen von 
Staat und Gemeinde gedeckt werden. Fuͤr einen Schuͤlerkreis von etwa 30 
Mann wurden 2 vollamtlich beſchaͤftigte Lehrer oder entſprechend viele 
halbe Kräfte erforderlich fein, deren Gehalt ſich den Sägen der ſtaatlich 
angeſtellten Lehrer an hoͤheren Schulen anzupaſſen hat. Akademiſche Dor- 
bildung iſt für den wiſſenſchaftlichen Unterricht erforderlich. 
Die aͤußeren Bedingungen des Unterrichts würden etwa folgende fein: 
Die Seimſaſſen haben morgens einige Stunden fuͤr geiſtige Arbeit frei. 
Sie arbeiten dann 6 Stunden im Betrieb. Die Abendſtunden ſtehen wieder; 
um der Bildungsarbeit in mannigfachen Formen zur Verfuͤgung. Die ſo 
erzielten 145 Stunden für geiſtige Taͤtigkeit wuͤrden im Vergleich zu der 
heutigen Zage einen außerordentlichen Gewinn bedeuten. Denn die Ver⸗ 
kuͤrzung der Arbeitszeit bringt einen ſehr viel größeren Kraftgewinn mit 
ſich als dem Zeitgewinn entſpricht. 6 Stunden koͤrperliche Arbeit und etwa 
4 Stunden geiſtige Arbeit ergeben für einen gefunden Menſchen ein Gleich⸗ 
maß, das zu hoher Produktivität koͤrperlicher und geiſtiger Art befähigt, 
jedenfalls ein ſehr viel beſſeres Gleichmaß, als etwa der Arbeitsrhythmus 
des heutigen geiſtigen Arbeiters es ermöglicht. Der Unterricht wuͤrde uͤber⸗ 
wiegend im Seim ſtattfinden, das feinen Eßraum dafuͤr zur Verfuͤgung 
ſtellen kann, wenn andere Naͤume aus Mangel an Mitteln nicht zu be⸗ 
ſchaffen find. Je nach der Art der zu behandelnden Probleme kann der Un⸗ 
terricht auch in der Fabrik ftattfinden und muß dann fo eingeordnet wer · 
den, daß er keine A mit ſich bringt. 


392 umſchau 


Umſchau 
Taine hat Balzac mit Shakeſpeare ver⸗ 
Bemerkungen zu Balzac] lichen. Die „menschliche Komödie“ fei 


neben dem Werk Shakeſpeares die größte Sammlung von Dokumenten über das 
menſchliche Weſen. Sugo v. Sof mannsthal nennt Balzac die größte ſubſtanziellſte 
ſchoͤpferiſche Phantaſie ſeit Shakeſpeare. Gewiß ift bei beiden die gleiche unendliche 
empiriſche Weltbreite und wimmelnde Geſtaltenfuͤlle. Gewiß muß man an Balzac 
die Opferung ſeines Lebens an ſein Werk ebenſo bewundern wie die faſt an Be⸗ 
ſeſſenheit grenzende Energie, mit der er nicht Romane ſchrieb, ſondern in Romanen 
eine ganze Welt aufbaute, eine Welt, die, wie er in der Vorrede zur „Menſchlichen 
KNomòdie “ ſagt, ihre eigene Geographie und Genealogie, ihre Familien, Orte und 
Dinge, Perfonen und Tatſachen, ihre Adligen und Bürger, Sandwerker und 
Bauern, Politiker und Dandys hat, kurz: Die feine eigene und eine ganze Welt iſt. 
Und dennoch hat man das Gefuͤhl, auch wenn man alle Romane nacheinander 
lieft — man muß alles leſen, kein Werk enthält ihn in der Eſſenz, heißt es an der · 
ſelben Stelle bei 3. v. Sofmannsthal — daß dies nicht die ganze Welt iſt. Dieſe 
Einſchraͤnkung ſoll dem wahrhaft ungeheuerlichen Werk keinen Abbruch tun; aber 
man muß die Grenzen ſehen oder man hat nichts geſehen. 

Gewiß hat auch Shakeſpeare die gleiche unendliche Weltbreite. Aber das iſt nicht 
alles. Nicht durch ungeheure Addition iſt ſein Werk ſo groß. Plötzlich bricht bei 
ibm der Boden, und wir verſinken aus dem realſten Alltag, aus politiſcher oder 
menſchlicher Aktion, in die Tiefe, in der alle Dinge zuſammenhaͤngen, unter ſich 
und mit Gott; es gibt wahrhaft myſtiſche Augenblicke, wo Geſchehnis mit dunk . 
lem Schatten weltverbundenen Schickſals ſichtbar wird, wo die Dinge der Welt 
plotzlich das Geſicht einer anderen Welt bekommen, wo ein Wort, eine Szene die 
Begebenheiten in ein geradezu metaphyſiſches Licht huͤllt, wo das Spiel ſchwer 
wird von Ernſt, Beziehung, Symbolik und das Wort geſaͤttigt mit unausdenk⸗ 
barem Sinn. Solche Augenblicke fehlen in Balzacs Werk: es hat nur zwei Dimen⸗ 
ſionen, nicht dieſe dritte der Tiefe ins innerſte Jentrum der Welt. Dies als Tadel zu 
nehmen, wäre, wie geſagt, dem gigantiſchen Werk gegenüber eine Anmaßung. 
Es iſt aber ein Sinweis, was man von Balzac, im ganzen geſehen, zu gewaͤrtigen 
babe und was nicht. Man muß das, was man bei einigen deutſchen Dichtern 
fand und vielleicht als ſehr deutſch ſehr liebt, deren Werk faſt ausſchließlich in dieſer 
dritten Dimenſion lebt (Jean Paul, Novalis, Hölderlin) bei Balzac nicht ſuchen. Er 
bat mit einer Glut an ſeiner Welt gehangen, fie mit einer mon omaniſchen Wut 
aus feinem Sirn geſtaltet, die, wenn fein Gegenſtand ein religidfer geweſen wäre, 
ihn zum tanzenden Derwiſch, zum verzückten Stigmatiſierten gemacht haͤtte. Dieſes 
perſoͤnlich Ungeheuere und faſt Titaniſche muß man zur Realität feines Werkes 
binzunehmen: auch dies als eine Art dritter Dimenſion, aber nicht in die Tiefe der 
Welt, ſondern in den Grund und Abgrund eines der Welt vollkommen verfallenen 
Zerzens. 

Man hat auf das Symboliſche der Wirkung Napoleons auf Balzac bingewiefen. 
Man kennt fein Wort von der Feder, die Mapoleons Werk fortfegen ſollte. Beider 
Realitaͤts hunger und Machttrieb iſt der gleiche. Sollte nicht aber auch dies eine 
Parallele ſein: Daß Napoleon den Werther mit ſich herumtrug, iſt nicht ein 


umſchau 393 


Zeichen, daß er in ſich ein Ahnliches getragen haͤtte — oder es müßte in Schichten 
der Seele geweſen fein, die heute die Pſychoanalyſe aufgraͤbt —, ſondern daß er 
aus einem Gefuͤhl des Mangels ſeine Sphaͤre mit jener kompenſi eren wollte. Ge⸗ 
nau fo iſt Balzacs Myſtizismus nicht aus feinem eigenen Blut und Weſen geboren; 
deshalb wirft fein Louis Lambert, fein Seraphitus nicht ganz echt; des halb 
ſchlaͤgt fein Gefuͤhl leicht in Sentimentalität um; des halb iſt feine Stellung zur Reli 
gion fo rationaliſtiſch und unreligiòs wie moglich, da er in ihr nur die geſellſchafts · 
und ſtaats erhaltende Macht ſieht, ein Mittel, die ſtarke Beſtie zu zaͤhmen; daher 
wird in ſeinen Romanen ohne Seele geliebt oder mit zu viel Seele (Die Lilie im Tal). 

Balzac ſchafft nicht Menſchen im eigentlichen Sinne, trotz ſeiner großen Ge⸗ 
ſtaltungs kraft, ſondern er ſtellt immer wieder die heißeſten menſchlichen Affekte, 
Triebe, Begierden dar — zu ihnen hat er ein Verhaltnis, nicht zu feinen Geſtal⸗ 
ten —, ferner die menſchlichen Beziehungen, die durch dieſe Triebe geſchaffen wer⸗ 
den, ja dieſe ſind ihm faſt das Weſentliche. So wird die Geſellſchaft, dieſes wilde 
Meer menſchlicher Bindungen und Zufammenftöße ſichtbarer als die Menſchen 
dieſer Geſellſchaft, es wird als furchtbares Bräftefpiel grandios ſichtbar; alle 
feine Romane find „Scenes“ dieſes Spiels; er hat, wie er im Vorwort eines Romans 
ſagt, „Die unermeßliche Phyſiognomie eines Jahrhunderts nachgezeichnet. Eine 
Geſtalt wie die Vautrius, unvergeßlich (vielleicht weil fie der negative Exponent 
dieſer Geſellſchaft iſt), gepraͤgt, rund, daͤmoniſch wie die Lears (mit dem man den 
Vater Goriot nicht vergleichen ſollte), wie die des Biſchofs Nikolas in den Aron⸗ 
praͤtenden, iſt im Werk Balzacs eine Seltenheit. Seine anderen Menſchen find 
einander in weitgehendem Maße aͤhnlich, nicht nur wie alle Geſtalten Kellers 
oder Stifters eine Familienaͤhnlichkeit aufweiſen. Man vergleiche Eſther Gobſeck, 
das Madchen mit den Goldaugen, und Coralie; den alten Sechard (Verlorene 
Illuſionen), Gobſeck und Eugenie Grandets Vater, und man konnte einige 
Dutzend ahnlicher Reihen aufweifen. Das macht, daß die Triebe das Weſentliche 
dieſer Figuren ſind, nicht ihre Figuration, ihre Menſchlichkeit, ihre Seele. Und 
die Triebe find eintönig immer die gleichen: Gier nach Ruhm, Gold, Liebe, Macht. 

Auch Doſtojewski, der Balzacs Charaktere Schöpfungen eines weltumfaſſenden 
Geiſtes nennt, der die „Eugenie Grandet“ uͤberſetzt und der ſich wohl in einigem mit 
Balzac innerlich verwandt fühlte, hat nur den Menſchen der Geſellſchaft dargeſtellt; 
auch bei ihm finden wir kein Verhaltnis zur Natur, zur Landfchaft, zum aͤußeren 
Kosmos; auch dort eine Welt zuͤgelloſer Triebe, ſchrankenloſen Begehrens. Und 
dennoch iſt der Geſamteindruck anders. Dieſe Welt iſt weiter und tiefer; weiter, denn 
fie umfaßt alle ſozialen Schichten, auch die der Armen, Blenden, Erniedrigten und 
Beleidigten mit der gleichen Inbrunſt glühender Menſchlichkeit; tiefer, denn fie ſtoͤßt 
in Schaͤchte und Schichten der Seele vor, wo alles Menſchliche als Schickſalhaftes 
als kosmiſche und religidfe Verbundenheit ſichtbar wird. Wie geradlinig, felbft- 
ſicher, einfach ſind in dieſer Beziehung Balzacs Menſchen. Balzac ſchildert in der 
Einleitung zu einem Roman (ſ. Geſchichte der Dreizehn) mit großartiger Anſchau⸗ 
ungskraft das Geſicht von Paris. „Paris iſt die Sölle“; aber ſie brennt ihn nicht; 
iſt ibm nicht ganz wohl in ihrer Wärme? Und er ſucht nicht nach einem Simmel 
in oder über dieſer Welt wie Doſtojewski. Vielleicht ſteht uns darum Doſtojewski 
doch naͤher. Balzac, der Franzoſe, der Romane, der Weſtler; Doſtojewski der 
Slawe, der oͤſtliche NMenſch; und wir —? Vielleicht geht wirklich, wie Frobenius 
fagt, die Grenze zwiſchen Morgen · und Abendland am Rhein? 


394 Umſchau 


Abnliche Vergleiche, die die Groͤße eines Dichters relativieren, aber auch die Phy · 
ſiognomie der Volker im Spiegel ihrer großen epiſchen Schöpfer erkennen laſſen — 
man lieſt ja in einem gewiſſen Alter ſchließlich nicht mehr aus Stoff · und Begeben⸗ 
heits hunger und um des aͤſthetiſchen Reizes willen, ſondern mit dem ſtaͤrkeren oder 
ſchwaͤcheren Tone des Erkennenden — aͤhnliche Betrachtungen werden uns neuer⸗ 
dings ſehr nahe gelegt durch eine wundervolle Sammlung Haſſiſcher Romane der 
Weltliteratur, die der Verlag Paul Hift, Leipzig, unter dem Titel „Epikon“ in 
vornehmer Ausſtattung erſcheinen läßt. Die Reihe ſoll auf 30 ſtreng ausgewählte 
Werke erweitert werden. Jeder Band enthaͤlt ein charakteriſierendes Nachwort 
durch einen unferer lebenden anerkannten Dichter. Thomas Mann ſchrieb über die 
Wablverwandtſchaften, Serm. Seſſe über den Siebenkaͤs, Zugo v. Sofmannsthal 
über den Nachſommer; aus tiefſter innerer Verbundenheit und liebevollſter Bennt- 
nis verſuchen dieſe Epiloge dem Leſer das Werk in zeitlicher Bedingtheit und zeit⸗ 
loſer Größe nabezubringen. Bisher find zehn Bände erſchienen. Wenn die Samm⸗ 
lung in demſelben Geiſte fortgefuͤhrt wird, durfte fie geeignet fein, Europa im Ro⸗ 
man repraͤſentativ zu vereinigen. Die ſoziologiſche Funktion des Romans, dieſes 
breiteſten und aufnahmefaͤhigſten kuͤnſtleriſchen Behälters, in das ſich der Geiſt 
ganzer Zeiten und der verſchiedenſten Voͤlkerindividuen ergießen kann, ſoll ein 
Schluß band aufweiſen. Balzac, deſſen Werk vielleicht nur von dieſem Gedanken aus 
richtig zu werten und einzuordnen iſt, iſt mit dem Vater Goriot vertreten. — Gleich; 
zeitig werden im Jahre des 75. Todestages zwei Balzac · Geſamt ⸗Ausgaben vollſtaͤn · 
dig.“ Über die Ausſtattung der Bucher des Inſel · Verlags iſt kein Wort zu verlieren, 
ſie iſt ruͤhmlichſt bekannt. Sehr wertvoll wird dieſe Ausgabe durch eine (oben 
zitierte) Einleitung von 3. v. Sofmannsthal (das Schönfte, Liebevollſte, was 
über Balzac geſagt worden iſt), durch einen umfangreichen, gruͤndlichen und 
Hugen Eſſay von Wilh. Weigand, fo wie durch Balzacs Vorrede zur „Menſch ⸗ 
lichen Romò die. Die Rowohlt Ausgabe beſitzt den Vorzug dußerfter Sand; 
lichkeit: Heine ſchmucke Taſchenbaͤnde, die man Überall mit hinnehmen kann, 
um aus unſerer Wirklichkeit in die Phantaſiewelt Balzacs zu ſpringen, was — 
wie Sofmannstbal, zur Charakteriſtik Seas bedeutfam, fagt — eigentlich gar 
keines Sprunges bedarf. 

An das wertvolle Drei · Meiſter ⸗ Buch Stefan Iweigs, das befannt genug ift und 
deſſen erſte Arbeit das Weſentliche über Balzac in geradezu meifterbafter, ge; 
draͤngteſter Form tief und ſchoͤn zu fagen weiß, darf wohl nur erinnert werden 
(ebenfalls im Inſel · Verlag). 

Wer ſich nach der Lektuͤre des Werkes von Balzac noch einmal von kundiger 
Sand durch die unermeßliche Welt dieſes Mikrokosmus führen laſſen will, damit 
er alle großen Linien dieſes Gebaͤudes erkennt und aus der verwirrenden Vielfalt 
die Weſenszuͤge Harer erblicken lernt, der ſei auf das große Balzac · Buch von E. R. 
Curtius Friedrich Cohen, Bonn 1925) verwieſen. Dieſer intimſte Renner 
des gegenwaͤrtigen literariſchen Frankreich zeigt Werk und Perſoͤnlichkeit von 
immer neuen Geſichtspunkten aus, in ruhiger, ſachlicher, dennoch menſchlich 
warmer Darſtellung, die nicht den Schwung des Sofmannsthalſchen dichteriſchen 
Worts und die kuͤnſtleriſche Geſchloſſenheit von Stefan Iweigs Eſſay beſitzt, da⸗ 
für aber aͤußerſte philologiſche Gruͤndlichkeit und eine erſtaunliche Kenntnis der 


»Die Inſelausgabe, die das Rieſenwerk in Jo Duͤnndruckbaͤnden (zu je 9. — AT 
ſammelt, und die 47 baͤndige des Verlags Ernſt Rowohlt, Berlin (Leinen je 4. . 


umſchau | 395 


zeitgeſchichtlichen literariſchen und philoſophiſchen Juſammenhaͤnge bekundet, ftets 
bis in den Mittelpunkt führend, fo daß die innere Einheit des Werkes mit dem 
Dichter und beider ſelbſt ſichtbar wird. In dieſem Buche iſt Balzacs Weſen er⸗ 
ſchoͤpft. Paul Wegwig 


| . Bein vlaͤmiſcher Schriftſteller ift in feinem zwei ⸗ 
Confcience Lorſchung ſprachigen Vaterland fo allgemein bekannt und 


beliebt wie Seinrich Conſcience. In den immer zahlreicher werdenden Volksbiblio⸗ 
theken Belgiens find feine Romane und Erzaͤhlungen noch immer die begehrteſten. 
In der vlaͤmiſchen Saͤlfte wird er naturlich hauptſaͤchlich in der Urſprache, in dem 
walloniſchen Teil dagegen in der franzoͤſiſchen Überfegung genoſſen, die bei dem 
bekannten Pariſer Verleger Levy feit dem Jahre 1854 erſcheint und von den Bel⸗ 
giern Wocquier und Coveliers herſtammt. 

Das Leben Conſciences wurde oft, niederlaͤndiſch und franzöſiſch, beſchrieben, 
meiſt von Freunden, die den berühmten Dichter noch perſoͤnlich gekannt, mit ihm 
den herben Aampf für die vlämifche Mutterſprache angebunden hatten. Über 
Confeience beftebt alfo eine ausgedehnte Literatur. Die Forſchung wurde erſt 
wiſſenſchaftlich bei der Jentenarfeier feiner Geburt, um 1912. Ein junger Ant⸗ 
werpener Germaniſt, Dr. Anton Jacob, tat ſich um jene Jeit beſonders hervor mit 
einem Buch, das die allgemeine Beachtung verdient. Dieſes Buch beißt: „Brief- 
wisseling ven, met en over Hendrik Conscience, ul de jJaren 1837 tot 1831, met een 
inleiding en aanieckeningen.”, Gent, W. Siffer. 1913. 

Der erſte Band, alles was bis jetzt erſchien, umfaßt, nach einer dokumentierten 
Abhandlung über die „Zauptſtroͤmungen im vlaͤmiſchen Rampf von feinem Ent⸗ 
ſtehen bis zum Jahre J85J”, bio- und bibliograpbifche Notizen über Conſcience. 
Dieſe disiecte membre zeigen uns, welche Rolle der Dichter, Sohn eines fran- 
zoͤſiſchen Vaters aber eines Antwerpener Volks maͤdchens, in dem Aampf um die 
Rechte der vlaͤmiſchen Sprache geſpielt bat. Wichts iſt fo beredt für die erſten 
Dichterjahre des ſtark beneideten und vielfach geſchmaͤhten Conſcience wie die zahl⸗ 
reichen Auszüge aus längft vergeſſenen Tageblättern, Jeitſchriften, Regiſtern, 
Büchern, die wir hier von der Seite 52 bis zur Seite 422 durchkoſten. 

Im zweiten Band wären die eigentlichen Briefe laͤngſt erſchienen, wenn der 
Arieg nicht dazwiſchen gekommen wäre, Der junge Dr. Jacob wählte, während 
der deutſchen Beſetzung Belgiens, die Partei der ſogenannten Aktiviſten. Er wurde 
Dozent an der vervlaͤmiſchten Genter Sochſchule, blieb nach dem Waffenſtillſtand 
im Lande und wurde zu mehreren Jahren Gefaͤngnis verurteilt. Da feine Con; 
ſcience · Briefe von der Roninkihte Viaamsche Academie voor Taal- en Leiter- 
kunde” herausgegeben wurden, erſchien der zweite Band, obſchon beinahe voll ⸗ 
ſtaͤndig abgedruckt, bis jetzt noch nicht. Und dieſes iſt ſchade. Ich kann es unum ; 
wunden fagen, weil ein Zufall mir ein Exemplar dieſes un veröffentlichten zweiten 
Bandes in die Sande ſpielte und ich die Lektre dieſer 237 Briefe — ſeltenes Vor; 
recht! — genießen durfte. Zwar fehlen hier die gelehrten Motizen und das In 
halts verzeichnis, vielleicht auch ein Vorwort des in Ungnade geratenen Philo; 
logen, aber was macht es ſchließlich aus? Man verſetzt ſich auch fo in längft ver; 
floffene Zeit zuruck und zum Schluß denkt man ſich dabei : „Wie doch die arme Welt 
ſich gleich bleibt! Wie Eiferſucht und Verleumdung vor vielen Jahrzehnten auch 
fo wucherten l Wie feurig fo ein Dichter iſt und wie FHleinlich oft die Welt um ihn “ 


396 umſchau 


Man denke nicht, daß alle Briefe in vlaͤmiſcher Sprache verfaßt find. Viele find 
franzoͤſiſch, u. a. der Brief, den Alexander von Zumboldt den 27. September 1847 
an den Dichter ſchrieb und in dem der alte Naturforſcher unter mehr ſagt: el 
eu le plaisir de lire mol meme au Rol et à la Reine, au haut de la colline historique de 
Sanssouci, quelques-unes des nobles productions de Votre senslbillte, interprètées per 
un Prince de I Eglise diene de Vous comprendre.” Siermit wird der Füuͤrſtbiſchof 
Wor. Melchior von Diepenbrock gemeint, mit feinem 1845 zu Regens burn er 
ſchienenen „Flaͤmiſchen Stilleben“. 

Einige Briefe find in deutſcher Sprache: zwei von Dr. Barl Andree, einer von 
Aarl Baedeker, einer von J. M. Firmenich, zwei von Guſtav Soͤfken, einer von 
Auranda. Ein Brief von dem König von Bayern, den 12. Auguſt 1846 aus 
Aſchaffenburg verſandt, ſcheint nur in vlaͤmiſcher uberſetzung erhalten. Ein 
Schreiben von dem bekannten deutſchen Folkloriſten J. W. Wolf, dem Autor der 
„Niederlaͤndiſchen Sagen“ (Brockhaus 1843), iſt auf vlaͤmiſch verfaßt. 

Gewiß, ſelbſt wenn dieſer für die Kenntnis der Jugend Conſciences und der 
erſten Jahre der vlaͤmiſchen Bewegung fo wichtige Band, endlich mit den unent⸗ 
behrlichen Notizen vervollſtändigt, das Licht der Öffentlichkeit erblickte, fa bliebe 
noch immer die zweite Hälfte des Lebens des Dichters, von 1852—1883, auf aͤhn⸗ 
liche Weiſe zu bearbeiten übrig. Wird Dr. Anton Jacob die Kinte ins Born 
werfen? Er hat, wie mir mitgeteilt wurde, neue Conſcience - Briefe im Laufe der 
letzten Monate entdeckt. Wird die leidige Politik ihn in ihren Blauen behalten? 

Die letzt erſchienene Biographie, „Hendrik Conscience en de opkomst ven de 
Viaamsche Romantiek” von Eugen de Bock (Antwerpen, Verlag „de Sikkel“), 
ſteht im Jeichen der ſtrengen Wiſſenſchaft und fußt ſich auf die von Dr. Jacob zu · 
tage geförderten Bauftoffe und auf zahlreiche Dokumente. Nicht allein iſt keines 
der fruͤher veroͤffentlichten Lebensbilder des Mannes, „der fein Volk leſen lehrte“, fo 
ausführlich und wahr bis in die Einzelheiten, ſondern auch die Wuͤrdigung der Tat · 
ſachen und der Werke ift objektiv, gerecht und begründet. Das Verzeichnis der be⸗ 
nutzten Dokumente iſt ſo lang, daß der Autor vom Drucken desſelben Abſtand hat 
nehmen muͤſſen. Seine Meinung über den behandelten Dichter faßt er in dem fol; 
genden Ausſpruch zuſammen: „Wer kritiklos die niederlaͤndiſche Literatur der 
achtziger und neunziger Jahre durchgemacht hat, wird Conſcience keine Freude 
mehr abgewinnen konnen, aber urſpruͤnglich und kraͤftig gebliebene Naturen er 
kennen ſeinen Glanz und ſeinen Duft an.“ 

Unter den zahlreichen von Eugen de Bock befragten Buͤchern zitiert er die ebenſo 
ausfuhrliche wie vorzuͤgliche Abhandlung des Genter Stadtarchivars Dr. Victor 
Fris : „De Bronnen van de historische romens von Conscience“, worin die Beweiſe 
geliefert werden, daß der vlaͤmiſche Dichter ſich moͤglichſt vollſtaͤndig dokumentierte, 
beſonders für den „Löwen von Kandern“ (1838), den „Jakob van Artevelde“ 
(1849) und den „Bauernkrieg“ (1853). „Die Legende des geſchichtsunkundigen 
Conſcience“, ſagt er, „hat ausgedient. Verſchwunden iſt das Hächeln, das die 
Cippen ſogar gebildeter Dlamen umkraͤuſelte, wenn man des hiſtoriſchen Wertes 
des Löwen von Flandern Erwaͤhnung tat.“ 

Bei der Beſprechung des „Jakob van Artevelde“ ſagt der gelehrte Siſtoriker: 
„Vergleicht man die Menge von Conſcience benutzter urſpruͤnglicher Quellen und 
damals erſchienener Werke über den Genter Volkstribun mit meinem vollſtaͤndigen 
Verzeichnis in der „Bibliographie de l'histoire de Gand“ (Gent, 1907, S. 196 bis 


umſchau 397 


III), fo ſtaunt man über die Gewiſſenhaftigkeit und die Ausführlichkeit der Vor⸗ 
arbeiten Conſciences. Was bleibt nun von der Legende der Unbeleſenheit unſeres 
Dichters übrig?“ 

Auch franzoſiſche Siſtoriker zollten unſerem Schriftſteller ihre Bewunderung. 
¶anzac de Laborie ſagte in feinem Werk: „La domination francalse en Belgique” 
(Paris 1895) uͤber den „Bauernkrieg“: „Das allgemeine Schema dieſer Bauern⸗ 
bewegung bat der vlaͤmiſche Autor Seinrich Conſcience geſchildert.“ Und weiter: 
„Der Leſer, der den urſpruͤnglichen Charakter dieſes Aampfes kennen lernen und 
begreifen will, wodurch er ſich von dieſem oder jenem Aufſtand in Frankreich oder 
in Italien unterſcheidet, wird den Roman Conſciences zu Rate ziehen mäffen. 
Geſtůtzt auf Lokalůberlieferungen hat der große vlaͤmiſche Romanſchriftſteller das 
Ae mpenland von 1708 auferfteben laſſen, wie der Graf Leo Tolſtoi das Rußland 
von 1812.“ 

„Die Quellen der geſchichtlichen Romane Conſciences“ gehören zu einem Banb 
„Kritieken en Studien”, der J9J3 zu Antwerpen (Verlag Bouchery) erſchien und 
noch manches Intereſſante für das Geſamtwerk des großen vlaͤmiſchen Erweckers 
enthalt. Aber über Conſciences Verleger ſchrieb keiner. Auch ein vollſtaͤndiges 
kritiſches Verzeichnis der unzähligen Uberſetzungen ſteht noch aus. 

Conſcience iſt für unſer Volk der vollkommene Erzaͤhler. Ein ſolcher tut uns 
jetzt not. Aeiner der Modernen hat weder ſeine Stelle eingenommen, noch ſeine 
feſſelnde, erziehende Art übernommen. Übrigens, die modernen vlaͤmiſchen Pro⸗ 
ſaiſten Streuvels, Buyſſe, Sabbe, Teirlinck, Timmermans, Vermevlen uſw. wer- 
den hauptſaͤchlich in Holland verlegt, finden daſelbſt die größere Anzahl ihrer Leſer. 
Conſcience hatte das Gluck, den unternehmenden Antwerpener Ernſt Buſchmann 
im Beginn ſeines Aufgangs auf ſeiner Bahn zu treffen. Nachher, ich vermute kurz 
vor Buſchmanns Tode, trat ein anderer Antwerpener, van Dieren, an ſeine Stelle. 
Die erſten Aufgaben find teuere Selten heiten geworden; ſelbſt die große, zweiſpaltig 
gedruckte und von Eduard Dujardin illuſtrierte van Dierenſche Geſamtausgabe in 
zehn großen Bänden kommt felten noch im Antiquariat vor. Nach dem Sin · 
ſcheiden des Dichters erſchienen feine ſaͤmtlichen Werke im Brüͤſſeler Verlag J. N. 
Cebegues, aber ein typographbiſches Meiſterwerk konnen fie ſchwerlich genannt 
werden. 

Über das von Conſcience verherrlichte Aempenland kam neulich ein intereſſantes 
Buch heraus: de Kempen, als erſter Band von Sieden en Landschappen” 
(Antwerpen, de Sikkel). Die Einfuhrung beißt: „Die Kempen unſerer Schrift ⸗ 
ſteller und Bünftlee” und iſt aus der Feder des bejahrten und gewürdigten fran; 
zoͤſiſchſchreibenden Vlamen Georg Eekhoud, der diesmal feine Mutterſprache ge 
braucht hat. Möoͤge dieſes von Spezialiſten verfaßte, reich illuſtrierte, billige Buch 
auch in Deutſchland Leſer finden! Julius Pee 


In der norwegiſchen Landſchaft 
Norwegiſche Volkshochſchule f 


eine norwegiſche Bauern · Jugend ſchule kennen. Ich habe fpäter eine Reihe ſolcher 
Volks hochſchulen in dem ſchoͤnen nordiſchen Lande beſucht. Aber dieſer erſte Ein⸗ 
Der zweite Band handelt über Mecheln, der dritte über Antwerpens Safen, 
der vierte Aber Cowen, der fünfte über Weſt ⸗ Brabant, das ſogenannte Payot⸗ 
tenland, das unſer Dichter Pol de Mont neulich in einem feiner treffendſten Ge ⸗ 
dichte beſungen hat. | " 


398 umſchau 


druck prägte ſich mir ganz beſonders beglüdend ein. In dem heiter · ſchlichten Gym⸗ 
naſtikſaal — alle dieſe Schulen find Solzbauten — ſaß eine baͤuerlich · kraftvolle 
Jugend. Die Mädchen zumeiſt in ihren leuchtend farbigen, beſtickten Trachten, 
buntgewebte Bänder in die Joͤpfe geflochten. Auch unter den Burſchen einzelne in 
der Fleidfamen, enganliegenden Bauerntracht, alle mit friſchen Geſichtern — 
ſchoͤnes junges Volk. | 

Über gebirgsumſchloſſene Seen, durch enge Waſſerarme in Fjorde hinein war 
meine Fahrt gegangen. Es iſt eine fo feierliche Stille und Weihe in dieſer nordi ; 
ſchen Natur. Aus herbſtlichem Walde aufſteigend graues Urgeftein, rein und ſcharf 
geſchnitten ſtehen die Ronturen der Gebirge in dem klaren Abendhimmel. Der 
Menſch legt da all fein Saſtwerk ab. Die Natur mahnt ihn zu ruhigen, ſtarken Be 
fühlen und kraftvollem, reinem Selberſein. Dieſes Land nimmt den Wanderer, 
der aus Europas unruhvoller Mitte kommt, auf wie in eine naturlich ⸗geiſtige 
Pflege. 
Und nun ſtand ich alſo in dieſer baͤuerlichen Schule. Man bat mich, einige Worte 
des Grußes von deutſcher Jugend zu ſagen. Als ich denn zu erzaͤhlen anfing, ge⸗ 
wahrte ich, wie dieſe jungen Menſchen, die mir zunaͤchſt nur kernig in ihren ſtarken 
Sei matkraͤften zu wurzeln ſchienen, voller einfach · großer Fragen waren, durſtig 
nach der weiten Welt. Immer wieder erlebte ich das ſpaͤter an dieſer norwegiſchen 
Jugend: eine ſtarke, geiſtige Fragekraft iſt in ihr, welche die ganze Weite der Welt 
anſchaun moͤchte und innerlich bereit iR, unmittelbar aus engftem, volklich ſtarken 
Seimatgefuͤhl das tiefere Brudertum, die Uberheimat des Mlenfchen zu ſuchen, ſich 
ihe zu oͤffnen. Man fühlt ſogleich, wenn man mit dieſen Volks hochſchulen vertraut 
wird: eine lebendige, religidfe Kraft, die ſtets bereit iſt, den wahrhaft guten Willen 
zu bekunden, hat hier ihre Stätte und gute Burg. Und wie überall, wo ſolche 
Avaͤfte ſich urſpruůͤnglich, ungebrochen und unentmutigt auswirken durfen: etwas 
eigentuůmlich Freies, Offen · Sinniges weht einem entgegen aus dem Areiſe dieſer 
Schuler und Lehrer, der ſich hier Winter um Winter neu zuſammenlebt als freie 
Schulgemeinde. Examina gibt es nicht an dieſen Schulen. Meiſt iſt es Jugend 
zwiſchen 17 und 21, die ſich bier zuſammenfindet, den ganzen Winter hindurch 
vom Oktober bis in die Oſterzeit. Meiſt kommen die Schüler aus den Tälern der 
anbdſchaft, die ſich die betreffende Schule ſchuf. Oft genug kommen fie aus fer- 
neren Gegenden des weitgebauten Landes ber. Der norwegiſchen Jugend iſt 
vieles geſchenkt und in lebendiger Überlieferung bewahrt worden, was in Deutſch· 
land eine Jugend dem älteren Geſchlecht abkaͤmpfen mußte und durch eine Reihe 
von Abſpaltungen hindurch in eigenen Scharungen und Buͤnden ganz neu ge⸗ 
ſtalten mußte. Ums Jahr J900 kann man in faſt allen germaniſchen Völkern den 
Anbruch einer eigenen geiſtigen Bewegung der Jugend feſtſtellen. In Skandi⸗ 
navien hatte fie das Gluck, ihre beſonderen Lebensſtaͤtten ſchon vorzufinden: die 
Volks hochſchulheime. 
Die Volks hochſchule aller ſkandinaviſchen Lander verdankt ihr Entſtehen dem 
großen daͤniſchen Führer Grundtvig, einem Renſchen von großem Ausmaß, 
ſeheriſch und praktiſch ⸗ verwirklichend zugleich. Grundtvig litt tief an der geiſtigen 
Unfruchtbarkeit, womit er das Volkstum des Wordens zu feiner Jeit geſchlagen 
fab. Er ſah ein neues Voͤlkerſahr anbrechen, ein geiſtiges Wiedererwachen der 
germaniſchen Volker. In feinem großen Gedicht „Neujahrs morgen“ rief er feinen 
Weckruf dem ganzen Voͤlkernorden zu. Gier die erſte Strophe: 


umſchau | 399 


Gottes Friede und Morgenruf 
An Sochgebirg und Aue; 
Was mir die grimmen Sorgen ſchuf 
ch nirgendwo mehr ſchaue. 
m Mittnachtsduͤſter, 
Da der Selhahn ſchrie, 
Da Finſterniſſe aufbegehrten 
Und ſich der hbeilgen Sonne wehrten: 
Tagglanz mit der Nacht der Sel, 
mit dem Drachen den Michael 
Um den Norden fabe ich kaͤmpfen. 


Grundtvitz ſah die Volkskraͤfte des Nordens erſtickt durch die falſchen Anſpruͤche 
einer vorgeblich klaſſiſchen Bildung. Ihm ging es um eine Art zweite Reformation. 
Sübrte Luther den Schlag gegen das Roͤmiſche im Kirchentum, fo rief Grundtvig 
zum Aampfe auf gegen das Römiſche im Schulweſen. Univerfität und Katein- 
ſchule waren ihm Schulen des Todes, denen er eine Schule des Lebens entgegen; 
ſtellen wollte, eine in den Volksgeiſt des Wordens gegruͤndete: in Wahrheit eine 
Volke. Sochſchule. Von Grundtvig ſtammt das noch heute denkwuͤrdige Wort: 
„Anders kann ich es mir nicht denken, als daß Revolutionen wie Todeskaͤmpfe 
rund durch die Voͤlkerwelt gehen müffen und aufloͤſen werden die gelehrte wie die 
laien hafte Geſellſchaft, wenn man dem nicht damit vorbeugt, daß man das Schul⸗ 
grab reformiert in eine Pflanzſchule des Lebens.“ Satte ja auch der alte Goethe 
ahnungsvoll geſprochen von einem großen Bampfe „zwiſchen Toten und Leben ; 
digen”. „Er wird auf Leben und Tod gehen, man wird erſchrecken, man wird unter · 
ſuchen, Geſetze geben und nichts ausrichten.“ Auch Goethe verwies nur auf ein 
einziges ſicheres Seilmittel für die Volker: die paͤdagogiſche Provinz. Grundtvig 
bat jahrzehntelang feinen heilenden Schulgedanken gepredigt, erſt nach langen 
Mißerfolgen wurde er gehort. Reiften Bold wurde der eigentliche Begründer der 
Volks hochſchule. Und nachdem ſich der Schulgedanke Grundtvigs, nicht immer 
ganz in ſeinem Sinne, einmal in Daͤnemark durchgeſetzt hatte und insbeſondere in 
der Zeit des nationalen Unglücks feine große, das Land von innen aufbauende 
Kraft erwieſen hatte, griff er bald uber auf die anderen ſkandinaviſchen Länder. 
Die Gründer der norwegiſchen Volkshochſchule waren Schüler Grundtvigs, die 
innerlichſt ergriffen waren von dem geiſtigen Feuer des großen Daͤnen. 

Auch in Norwegen brauchte es feine Zeit, bis das Werk in Bang kam. Der erſte, 
der Grundtvigs Erziehungs werk hier aufnahm, war Ole Dig. Aber er ſtarb ploͤtz⸗ 
lich in jungen Jahren. Und erſt fein Schuler, Olaus Arveſen, zuſammen mit Ser; 
mann Anker konnte 1864 die erſte Schule gründen. Es waren beſcheidenſte An ⸗ 
faͤnge, aber dieſe Menſchen waren beſeelt von einem ſtrahlenden Willen. Woch 
heute leuchten ganz ſeltſam die Augen der Alten, die von den erſten Jeiten der 
Volkshochſchule zu erzaͤhlen wiſſen. Wenige Jahre fpäter trat Chriſtopher Bruun 
auf den Plan, unzweifelhaft die bedeutendſte Geſtalt der norwegiſchen Volkshoch ; 
ſchule. Er begann fein Werk in Bubdbrandsdalen, einem der königlichen Täler 
Norwegens. Anfang der 70 er Jahre hielt er eine Reihe von Vorträgen in der 
Sauptſtadt, in welchen er das geiſtige Programm der neuen Schule entwickelte, 
eine Ariegserklaͤrung nach zwei Seiten hin, die bezeichnend iſt für den Geiſt des 
Grundtvigianismus: einmal wandte er ſich gegen das „unmenſchliche “ Chriſten · 
tum der pietiſtiſchen Stroͤmungen zugunſten einer hoher und freier verſtandenen 


300 umſchau 


Chriſtusnachfolge. Jum anderen wehrte er ſich gegen das Entſeelte des „akade⸗ 
miſchen“ Bildungsgutes. Und er forderte, ganz im Sinne Grundtvigs, vom neuen 
Jugendlehrer, daß er die Macht des „lebendigen Wortes befige. Denn „es iſt uns 
eine Sauptſache bei dieſen Schulen, den Jungen Begegnung zu ſchaffen mit dem 
Adler der Begeiſterung, der um uns ſauſet auf breiten Schwingen“. Nach Chri⸗ 
ſtopher Bruun will „die Volks hochſchule eine Jugendſchule fein, beſonders be⸗ 
ſtimmt für junge Bauern. Sie will ihnen eine Stätte bieten, wo fie in der Zeit, wo 
fie frei find von körperlicher Arbeit, ein echtes Jugendleben fuhren konnen, wo fie 
Ruhe finden konnen für ein nach innen gekehrtes Leben im Gedanken und im 
Traum”. Worte, die uns Mitteleuropaͤern vorwunderlich klingen, zumal wenn 
wir hoͤren, daß fie in den 7oer Jahren des vorigen Jahrhunderts zu der Jugend 
eines germaniſchen Volkes geſprochen wurden. Worte, denen Taten auf dem Suße 
folgten. Denn nun folgte Landſchaft auf CLandſchaft dem Beiſpiel der Pioniere. 
Ohne jede Beihilfe des Staates, mehr oder weniger von der gebildeten Welt ver · 
achtet und beſpottet, wuchſen dieſe Schulen. Seute hat Norwegen 30 Volkshoch ; 
ſchulen, über das ganze Land verteilt, meift in ausgeſucht ſchoͤnen Gegenden. Dazu 
kommen noch etwa 22 Jugendfchulen, die ganz dem Stile der Volks hochſchulen 
entſprechen, jedoch aus mehr pietiſtiſcher Richtung eine Art „ANorrektur“ der 
Grundtvig · Schule beabſichtigen. Doch wirken fie alle als Lebensſtaͤtten der laͤnd 
lichen Jugend, alle dienen der Sache der neu · norwegiſchen Sprachbewegung, 
welche die alte Volks ſprache, wie fie in den reichen Dialekten noch lebendig iſt, 
wieder zur Sprache des ganzen Landes machen mochte. Denn die Stadtſprache iſt 
in fruheren Jahrhunderten ſtark vom Daͤniſchen beeinflußt worden, was zu dem 
merkwürdigen Sprachſtreit geführt hat, den die Norweger. heute unter ſich aus ⸗ 
kaͤmpfen. 

Die Geſchichte der Volks hochſchule in Skandinavien iſt ein muftergältiges Bei 
ſpiel dafur, wie der erzieheriſche Geiſt eines großen Menſchen in den mannig- 
faltigſten Verwandlungen ausſtrahlen kann und die Lebenswirklichkeit ganzer 
Volker zu ergreifen und an entſcheidenden Stellen umzubilden vermag. Immer 
gelingt das dem Genius, wenn er ſich nicht ſcheut, ſich mit den oft genug fo un ; 
ſcheinbaren Forderungen des Alltags zu verbinden. Der geiſtige Impuls Grundt⸗ 
vigs lebt in der ſkandinaviſchen Volks hochſchule noch beute, wenn ſchon abge⸗ 
ſchwaͤcht und nicht immer kongenial weitergeführt. Darum mehren ſich auch die 
Stimmen innerhalb der nordiſchen Schulen, welche die KAriſis nicht länger ver- 
ſchleiert haben wollen, und man kann bereits die Loſung bören: „Wir müſſen 
zuruck zu Grundtvig und muͤſſen in feinem Geiſte die großen Fragen der neuen 
Zeit anſchauen und loͤſen lernen.“ Der Titel einer Volks hochſchule will heute aus 
neuen Vorausſetzungen heraus neu erworben ſein, auch in Skandinavien. Bis in 
die entlegenfte norwegiſche Bauern ⸗Jugendſchule hinein wirkt die tiefe ſoziale Un · 
ruhe des heutigen Voͤlkerlebens. Die Zeit iſt eben gekommen, wo neue, beilfame 
Erziehungskraͤfte nur gewonnen werden konnen aus der illuſionsloſen Erkenntnis 
einer Notlage, welche alle Volker Europas betrifft, und letzten Endes aus einer 
neuen Weisheit vom Menſchen ſelbſt. Bevor Chriſtopher Bruun fein geiſtiges 
Programm der Volkshochſchule entwickelte, bat er um die Erlaubnis „vorerft 
etwas fagen zu dürfen über das Leben des Menſchen “. „Daß wir unſer Leben auf 
eine beſſere und hoͤhere Weiſe leben, dazu allein will uns die Volks hochſchule wie 
jede andere Schule verhelfen. Aus dem Leben des Menſchen heraus ſoll darum 


Umſchau 401 


dieſe Schule erklaͤrt werden. Aus dem Leben des Menſchen l Welche einfache und 
doch immer von neuem geheimnisvolle Loſung! Erich Trummler, Osle 


7 Gewiſſe Wahrheiten über Öfter- 

Dfterreichifche Sentimentalitaͤten VVV 
als Öfterreicher kennt. Wenn fie von einem Reichsdeutſchen geäußert werben, 
dann iſt der Leſer oder Sörer in Gſterreich gleich geneigt, ſie als eine „preußiſche 
Taxtloſigkeitꝰ zu verdaͤchtigen. Wimmt ein Öfterreicher felber das Wort, dann iſt 
der Arger in gewiſſen unentwegten altöfterreichifchen Kreiſen zwar nicht geringer, 
aber ein gern benuͤtzter Vorwand, Unkenntnis und Anmaßung des Kritikers, kann 
nicht mehr erhoben werden. Und ſo erbitte ich als Öfterreicher Raum in dieſem 
Blatte, um ein paar Worte über ein vielleicht geringfuͤgiges, doch bezeichnendes 
und aͤrgerliches Vorkommnis zu ſagen. 

Vor kurzem iſt ein Buch erſchienen, das für jenes in Gſterreich ſehr häufige ſen⸗ 
timentale Gemiſch von Denken und fühlen ſehr bezeichnend iſt, das in Form und 
Inhalt vor einem ſachlichen Urteil nicht beſtehen kann, das in feinen Behaup⸗ 
tungen auf weite Strecken falſch und willkuͤrlich iſt und in feinen daraus gezogenen 
Schluͤſſen von Fehlern wimmelt. Es beißt „Ein Jahrtauſend deutſcher Roman ⸗ 
tik“, erſchien in dem bekannten katholiſchen Verlage Tyrolia in Innsbruck und 
ſtammt von dem bekannten katholiſchen Schriftſteller Joſeph Auguft Kur, der in 
ein paar nicht unerheblichen Romanen und anderen Buͤchern eine nicht erhebliche, 
aber doch ſympathiſche Kraft bewies. Vor kurzem ſchilderte er in einer der katho⸗ 
liſchen Jeitſchriften feines Verlages Tyrolia in fortgeſetzten lyriſierenden Stim- 
mungsbildern, wie er aus einem Unglaͤubigen ein Glaͤubiger wurde. Es gelang 
ihm wohl kaum, einem Menſchen, der nicht ſelbſt ſchon drauf und dran iſt, glaͤubig 
zu werden, über die ſeeliſchen und geiſtigen Vorgänge in feinem Falle eine irgend ⸗ 
wie verſtaͤndliche Auskunft zu geben, weil er über die, ich möchte ſagen, entzuͤckte 
Cobpreiſung der Formen und Formeln feiner „Ronverſio“ hinweg nicht in den 
Bern feiner Wandlung geriet. 

Nun, das iſt ſeine Sache und wenn es den Leſern jenes konfeſſionell gebundenen 
Organes genügt, was er zu offenbaren hat, fo haben wir anderen kein Recht und 
keinen Anlaß, uns darum zu kümmern. Da er aber in dem genannten Buche den 
engen Kreis feiner religiͤſen Bonfeffionen verläßt und Anſpruch auf allgemeines 
Gehoͤr erhebt, hat man das Recht und die Pflicht, ihm zu begegnen. 

err Lux behauptet in feinem Buche mit einer Leiden ſchaft, die wir lieber an 
einer beſſeren Sache ſich bewaͤhrend, als hier verſchwendet fähen, daß fo ziemlich 
alles, was die deutſche Literatur bisher geleiſtet hat, öſterreichiſcher Serkunft, 
öſterreichiſcher Arbeit iſt. Er ſchreckt vor den wunderlichſten Schluͤſſen und Ver⸗ 
zerrungen nicht zuruck, um uns feine Theſe einzureden. Laͤngſt abgetane und ſpur 
los vorhbergegangene Zeiten öſterreichiſchen Dichtens Drama der Jefuiten, 
Schulkomòodien, Balladen und Gedichte der reimenden habsburgiſchen Patrioten 
im Is. und J9. Jahrhundert) entdeckt er als ungemein bedeutende und fortwirkende 
Ceiſtungen. Bümmerlinge und Treibbauspflansen fest er kühn in Vergleich mit 
beeitäftigen Saftbaͤumen, wenn jene habsburgiſcher Zucht, dieſe aber reichs, be⸗ 
ſonders norddeutſcher Erde entſtammen. Das ift der eine Fehler dieſes aͤrgerlichen 
und bedauerlichen Buches, daß es aus Saß / Abſicht oder Sentimentalität hier ver- 
Kleinert, dort vergrößert. N ö 
Lat Vm 27 


402 umſchau 


Der zweite Fehler iſt eine unertraͤgliche und ganz unangebrachte Raunzerei. Ju 
behaupten, daß jene Großen der deutſchen Runſt, die aus den Alpen · oder Donau⸗ 
laͤndern kommen, im „Reich“ ſchnoͤde mißachtet wurden, iſt angeſichts der Ver · 
ebrung, die unſere Grillparzer, Raimund, Neſtroy, Anzengruber, Stifter, Eſchen⸗ 
bach uſw. im „Reich“ genießen, eine große Ungerechtigkeit. Weiß denn Serr Lux 
nichts von den zahlreichen ſchoͤnen Ausgaben öͤſterreichiſcher Dichter bei reichs · 
deutſchen Verlegern, weiß er nichts von den vielen wiſſenſchaftlichen und kritiſchen 
Arbeiten reichsdeutſcher Köpfe uͤber fie? Gibt es denn für ihn nur Kiteratur- 
geſchichten, die von Patern ſtammen und von Biſchoͤfen approbiert find? Glaubt 
er ernſtlich, daß den Öfterreichern, die wirklich etwas zu fingen und zu ſagen hatten, 
von der deutſchen Literaturkritik Unrecht geſchieht? 

Es wäre für ihn ſehr leicht, ſich ein richtiges Bild zu verſchaffen, wenn er wollte. 
Ob er aber will, das iſt freilich eine andere Frage. 

Auch die andere, hoͤchſt unkritiſche und verzerrende Methode ſeines Buches, das 
Totſchweigen, iſt ärgerlich und laͤcherlich. Damit macht man unfere oͤſterreichiſche 
mittelmaͤßigkeit nicht groß, daß man die Brößen des proteſtantiſchen Nordens 
einfach nicht erwähnt und nicht in Vergleich ſetzt. Das kann nicht Überzeugen, 
wenn man dem Norden alle ſeine Sünden wider den deutſchen Geiſt vorrechnet 
und beim Suͤden ruͤckſichts voll verſchweigt. Wenn etwa ein Mecklenburger eine 
mecklenburgiſche Literaturgeſchichte ſchriebe, Fleinfelig und doͤrflich wie Serr Lur 
feine öſterreichiſche, dann kaͤmen wir Oſterreicher ſchoͤn weg! Aber feine Arbeit 
waͤre ſo verwerflich wie die des Oſterreichers Lur. 

Wenn err Lux politiſch wird, dann redet er wie ein Maturant, der vollgeſtopft 
mit dem offiziellen patriotiſchen Phraſengedreſch der alten Monarchie von der k. 
und k. Schulbank auf die Bierbank eines Dorfes uͤberſiedelt iſt, eines Dorfes, das 
im Schatten eines Legitimiſtenſchloſſes der Oſtſteiermark oder Oberoͤſterreichs ruht. 

mir iſt der Mangel an Wiſſen, Ruhe, Würde, Sicherheit in dieſem Buche unbe⸗ 
greiflich. Wur einer, der ſeiner Sache und Art ſehr unſicher iſt, kann von ſich felber 
in fo aufgeregten Aus ſprachen daherreden. Wenn alles, politiſch und literariſch fo 
wäre, wie es Herr Lux fiebt, warum geht es uns heute fo ſpottſchlecht? Warum 
find wir von den Launen und Gnaden naͤherer und fernerer Nachbarn abhaͤngig, 
wenn denn die Sabsburger gar fo tücdhtig, fo ſchlau und fo großzuͤgig geweſen find, 
wie Serr Lur will? Und was hilft fein langwieriges, ſich felber zehnmal wieder⸗ 
holendes Gefaſel von der Große und der Leiſtung in der Vergangenheit, wenn die 
Spuren, die Fruͤchte dieſer Vergangenheit, ein verſtuͤmmelter Staat, eine verrädt 
gewordene Wirtſchaft, ganz anders ausſehen, als fie, wenn err Lux recht haͤtte, 
ausfeben müßten? 

Nein, mit dem raunzeriſchen Selbſtlob des Seren Lux und feiner politiſchen und 
literariſchen Freunde kommen wir Oſterreicher nicht weiter, damit machen wir uns 
nur lächerlich, wie der Ungeiſt uͤberheblicher Kleinſeligkeit ſich immer laͤcherlich 
macht und damit das Gegenteil von dem erreicht, was er will. 

In den gewiſſen altöfterreihifhen Ronventikeln wird dieſem unwiſſenſchaft⸗ 
lichen, gefuͤhlsſeligen und raunzeriſchen Machwerk naturlich begeiſtert zugeſtimmt 
werden. Daruber hinaus kann es aber nicht einmal ſo weit ernſt genommen wer⸗ 
den, daß man ſich eingehend mit ſeiner Widerlegung beſchaͤftigt. 

Wie denn uberhaupt öſterreichiſche Sentimentalitaͤten dieſer und ahnlicher Art 
nicht ernſt genommen werden dürfen. Der Vollzug des Anſchluſſes Öfterreihs an 


umſchau | 403 


Deutſchland wird fo linde und leicht nicht fein, als man gemeinhin glaubt. Sieber, 
Kriſen der Wirtſchaft, des getſtigen und politiſchen Lebens können nicht aus ⸗ 
bleiben. Aber das ſind Fieber nach einer gelungenen Operation und Anzeichen, daß 
ſich ein kraͤftiger und geſunder Rörper zum Leben meldet. Serr Lux aber und die 
bei ibm — die Schar wird freilich immer Hleiner und ſieht immer wunderlicher und 
altertuͤmlicher aus — wollen den Kranken in feiner zerlemperten Stube, in ſeinem 
ſchlechten Bette halten und von Aurpfuſchern zu Tode kummern laſſen. Daß die 
Sache ſo ſteht, hat ſogar, ſo ſcheint es, die ruhige Sachlichkeit eines Seipel laͤngſt 
eingefeben. Aber freilich, bis ſoviel Einſicht nun zu den Unterläufen binunter- 
tröpfelt, das braucht feine Zeit. 

Es ſteht doch fo: nur Gewalt oder Eigenſucht verhindert, daß Oſterreich ſchon 
beute ein Teil des größeren Deutſchland iſt. Der Anſchluß iſt keine Frage der Be- 
ſinnung mehr, ſondern nur noch eine Frage der Zeit und Arbeit. Donaureich, Wie- 
derkunft der Habsburger uſw., das find doch abgetane Dinge. Bis auf ein paar 
Narren und Auͤmmerlinge, auf ein paar, denen der truͤbe Strom der Tatſachen die 
Kronen, Arònchen und Apanagen fortgeſchwemmt hat, denkt doch niemand mehr 
ernſtlich an ſie. 

Und wenn wir nach Deutſchland kommen, wird unſere Arbeit geſchaͤtzt werden, 
unſere Kraft, unſere Begabung, die Möglichkeiten der Wirtſchaft, unſer Anſpruch 
auf Liebe und Freundſchaft wird nach unſeren Leiſtungen beſtimmt werden, nicht 
nach unſerer fragwuͤrdigen Begabung fürs Backhaͤndeleſſen, die wir ja — Gott 
ſei Dank — in dieſem Juſammenhange ſage ich Gott ſei Dank — nun lange genug 
nicht üben konnten. 

Seim müflen wir, beim kommen wir. Natur, Serkommen, Schickſal wollen 
dieſen Weg. Befühlsdufeleien werden diefen Weg nicht verhindern, fie werden ihn 
auch nicht beſchleunigen. Wenn mit bettelbaften Phraſen im Aufzug des feſchen 
KAerls für den Anſchluß gearbeitet wird, fo iſt das Suͤnde wider den Geiſt ebenſo, 
wie wenn man den Seren Lux und Genoſſen das Wort läßt, um aus perſoͤnlichen 
Trieben oder ſachlicher Unkenntnis dem Geiſte zu widerſtreben. Sinn unſeres Da⸗ 
feins — wir find kaum das kleine Zehntel eines großen Volkes — iſt, nach der 
ruhigen, ewigen Einfügung in den Strom deutſchen Lebens zu ſtreben. Mit 
Deutſchland leben, mit Deutſchland ſterben, in der deutſchen Werkſtatt unſer ge · 
rechtes Teil arbeiten, das iſt unſere Aufgabe. Wenn wir das konnen, wollen wir 
von unferen Rechten reden. Seute und vorläufig doch wohl nur von unſeren 
Pflichten. Jedes Wort daruber iſt Sentimentalität. 

Was not tut, iſt die Beſcheidenheit des Mannes, der feiner Art und feines Ver⸗ 
dienſtes gewiß iſt. Was not tut, iſt Araft und Wurde. Was not tut, vor allem, iſt 
Arbeit. Wenn wir ſingen, waͤhrend wir ſchaffen, iſt das unſere Freude. Aber auf 
die Arbeit kommt es an. Joſeph Papeſch 


Dem ſchwäbiſchen Volferum und feiner Pflege] 0, Ser: 


Unter dieſem Leitwort hat man ſich hin und her im deutſchen Vaterland nach dem 
Juſammenbruch nach einer dauerhaften Grundlage zum Wiederaufbau umgeſehen. 
Schwaben, das feit Uhlands Tagen mit unter den erſten daran war, die befon- 
deren volkstůmlichen und ſtammheitlichen Werte zu erfaſſen, durfte dabei unter 
den deutſchen Staͤmmen nicht fehlen. Dieſer Wille kam darin beſonders deutlich 

27° 


308 umſchau 


zum Ausdruck, daß 1920 bei der Umgeſtaltung des Wuͤrttembergiſchen Landes · 
amts für Denkmalpflege dieſem eine beſondere volkskundliche Abteilung eingeglie⸗ 
dert, und Auguſt CLaͤmmle mit ihrer Fuͤhrung betraut wurde. Lämmle bat erneut 
zur Sammlung der volkskundlichen Überlieferungen aufgerufen und inzwiſchen 
ſchon als Probe davon, wie er ſich die Arbeit denkt, zwei Bändchen ſchwaͤbiſch · 
volkskundlichen Stoffs veröffentlicht: „Schwaͤbiſche Volkslieder“ und „Der Volks⸗ 
mund in Schwaben“, beides von Lämmle felbft herausgegeben; ein drittes, über 
ſchwaͤbiſche Geſchlechts namen vom Unterzeichneten, iſt unter der Preſſe, ein weite 
res, wiederum von Lämmles Sand, über ſchwaͤbiſche Ainderlieder, angekündigt. 

Wie ein wuchtiges Vorwort zu dieſer volkskundlichen Sammelarbeit nimmt ſich 
Caͤmmles neues Buch „Unſer Volkstum“ aus. Der Titel iſt: Auguſt Lämmile, 
Unſer Volkstum. Veröôffentlichungen des Wuͤrttembergiſchen Landesamtes für 
Denkmalpflege. 3. Buch. Stuttgart, Verlag Silberburg, 1925. 157 S. 4 m. Es zer; 
faͤllt in zwei aͤußerlich etwa gleiche, in ihrer Bedeutung aber recht verſchiedene Teile. 
Der zweite enthalt ſechs Aufſaͤtze aus unterſchiedlichen Gebieten der ſchwaͤbiſchen 
Volkskunde, über den Schwank, das Kinderlied, die Mundart, die Bedeutung der 
Namen, uber Volkstrachten, endlich über die geiftige Beſonderheit des Schwaben 
gegenuͤber dem Franken, der ja zu einem Heinen Teil noch die Bevoͤlkerung Wuͤrttem ; 
bergs mit ausmacht; von dieſen ſechs Aufſaͤtzen iſt der letzte ganz beſonders treffend 
und leſens wert. Lämmle gewinnt durch Vergleich mit dem Nachbarſtamm der Fran · 
ken die weſen haften Züge des Bildes der ſchwaͤbiſchen Seele: „Der Schwabe iſt, zu: 
mal in der Jugend, raſch, ungeduldig und unduldſam, ſtuͤrmiſch,, ein Sigeblig‘, un- 
uͤberlegt, leidenſchaftlich. Er wird erſt mit vierzig Jahren geſcheit. Er lernt nur 
aus der eigenen Torheit. Der Franke iſt abwartend; fein Grundſatz iſt: „'s langt 
fi' noch l' Er iſt kuͤhl und ſieht zu, bis feine Zeit da iſt. Der Schwabe iſt Fremden 
gegenüber leicht ſcheu, verlegen, ja mißtrauiſch. Es geht ihm das Wort, nament- 
lich das hoͤfliche und liebe, nur ſchwer durch das Gehege der Zähne. Seine Weich; 
heit, feine Gute, feine Froͤmmigkeit ſucht er nach außen hinter kurzangebundenem, 
unfreundlichem Weſen zu verſtecken. Wenn er „nein“ ſagt iſt damit nicht bewieſen, 
daß er nicht eigentlich ‚ja‘ meint. Darum iſt ihm, dem uͤberdeutſchen Deutſchen, 
Grobheit ein Jeichen von Aufrichtigkeit und Maͤnnlichkeit, die er über alles ſtellt. 
Er iſt behlingen zart, beblingen lieb, hehlingen fromm, aber offen luſtig, offen 
brutal, offen derb“. Dieſe Art, die Fragen an der Wurzel zu faſſen, bezeichnet noch 
mehr den erſten Teil des Buches. In dreizehn Abſchnitten wird hier vom Weſen 
und Werk des Volkstümlichen und Volkskundlichen, von feinem künſtleriſchen, 
ſittlichen und religidfen Gehalt, von Entſtehung, Verkuͤmmerung und Pflege des 
Bode nſtaͤndigen gehandelt. Was Lämmle daruͤber fagt, iſt ein Stuck feiner Welt · 
anſchauung, ein Stuck Bekenntnis. Und es geht hier wie mit allem Bekenntnis⸗ 
mäßigen: es iſt nicht bloß zum Leſen da, auch nicht zum gedankenloſen Nach⸗ 
reden; ohne Hare Auseinanderſetzung mit ſolch grundlegenden Bildungsfragen 
bleiben derartige Gedanken tot. Am ſchwierigſten und tiefgreifendſten iſt dieſe Aus · 
einanderſetzung da, wo es um die religidfe Frage geht, dann um die Frage: Seimat · 
kultur und Fremdkultur, da wo geſchichtliche Tatſachen und perſoͤnliche Stimmun⸗ 
gen um ihre Ausgleichung kaͤmpfen. Als Proben von Lämmles Stellung zu dieſen 
Fragen mögen ein paar beſonders ſcharf geſchliffene Säge angeführt fein: „Es 
bat jedes Ding, jeder Menſch, jedes Volk fein Geſetz, feine Art, fein Leben, feine 
Aufgabe, feine Sehnſucht — mit einem Wort: feine Seimat. Und es iſt nicht moͤg⸗ 


Umfchau | 405 


lich, obne diefe Seimat in Frieden zu leben, feine Aufgabe zu erfüllen, fein Leben 
fruchtbar zu geſtalten, zu ſich ſelber zu kommen, fo wenig es moglich iſt, ohne Be- 
rechtigkeit und ohne Gott zu leben.. . Fremdes Volkstum iſt oft herrlich und be · 
wunderns wert. Aber wir konnen nichts daraus lernen, wenn wir nicht feſt im 
eigenen Volkstum verwurzelt find. Es kann überhaupt nur der Meiſter, der fer⸗ 
tige, reife, prufende, bewußte Menſch aus fremder Runft, Sprache und Art, frem⸗ 
dem Recht, Brauch, Volkstum lernen. Fehlt ihm Urteil und Maßſtab, fo wird 
leicht das fremde Bild zum Vorbild, was zur Verworrenheit, Entwurzelung und 
Seimatlofigkeit führt. . . . Das Religidfe und das Auͤnſtleriſche iſt ein Teil des 
menſchlichen Weſens. Es lebt im Volk ein Soͤhberes, Groͤßeres, eine alle Natur und 
alle Welt überragende ſittliche Kraft, der Glaube an ein goͤttliches Weſen . . Aber 
trotzdem hat die Volkskunde wenig rechte Freunde: den Vornehmen iſt die Sache 
zu vulgaͤr, den Sortfchrittleen zu ruͤckſtaͤndig, den Frommen zu weltlich, den Freien 
zu fromm. Der Gebildete geht meiſt geringſchaͤtzig daran vorüber, die Ungelehrten 
erkennen felten ihren Wert, denn die Dinge der Volkskunde find ja nicht weit 
ber. ... Aber es lohnt trotzdem, ſich um das Geheimnis eines Menſchen und 
eines Volkes zu muͤhen.“ 

So faßt Lämmle in dem Buch nicht nur die Grundfragen der ſchwaͤbiſchen 
Volkskunde in ihrer Tiefe an, ſondern die des Volkstümlichen im Verhaltnis zu den 
Fragen des geiftigen Daſeins und feiner Geſtaltung uberhaupt. Und darum wird 
das Buch auch außerhalb der ſchwarz · roten Grenzyfaͤhle verdientermaßen Freunde 
finden. Rudolf Rapff 


Die Fahigkeit des feinnervigen 

Deutſche Myſtik und Romantik VPN 
Schellenberg, ſich in die Welt anderer Seelen einzufuͤhlen, ift gar manchen dankbaren 
Ceſern aus feinen ſchoͤnen Übertragungen franzöfifcher Lyriker bekannt. Wenn er 
es unternimmt, deutſche Myſtik und Romantik darzuſtellen, fo wird man von vorn; 
berein eine edle Gabe erwarten dürfen, weil man aus feinem ſonſtigen Schaffen 
weiß, daß jene beiden Reiche deutſchen Seelenlebens feine eigentliche geiſtige Sei · 
mat find. Sein Buch „Die deutſche Myſtik““ bietet (in ſchoͤnem Druck) eine Ein · 
führung ins Weſen der Myſtik, ſoweit fie ſich in deutſchen Menſchen in immer 
neuen Wellen der Gotterfuͤlltheit bekundet. In der liebewarmen Sprache, die dem 
Verfaſſer eigen iſt, werden nicht fo ſehr die einzelnen myſtiſchen Perſoͤnlichkeiten 
wie die allen gemeinſamen Weſenszuͤge gezeigt, doch wird auch hier Ecke harts uber · 
ragende Meiſtergroͤße fuͤhlbar. Beſonders klar erweiſt ſich, wie die Myſtiker, und 
gerade die deutſchen, wie Ecke hart, Böhme, Fichte und manch anderer als wahre 
Nachfolger Jeſu, als „Anbeter im Geiſt und in der Wahrheit“ aufs neue und im- 
mer wieder die ſtarre juͤdiſche Religionslehre und nicht minder alles „chriſtliche“ 
KAirchentum recht eigentlich überwinden. Die Bildbeigaben des Buches, die trefflich 
ausgewaͤhlt find und ebenſo die angefuͤgte Betrachtung „Bach, der Myſtiker und die 
Gotik“ zeigen, wie auch die Aunſt in ihren machtvollſten Meiſtern mit gewaltigem 
Ton in den „chorus mysticus einſtimmt. Wer eine Verjüngung unſerer Lebens; 
baltung und unferer Lebensformen für den Einzelnen wie fürs ganze Volk erſehnt 
und fühlt, daß dieſe Sehnſucht ſich dort erfüllt, wo das Reich Gottes in den Serzen 


Verlag für Kultur und Menſchenkunde. Berlin · Cichterfelde. Preis geh 2.20 M; 
geb. 3.50 m — 2., überarbeitete Aufl. 


406 umſchau 


wahrhaft maͤchtig iſt, den kann dieſes Buch zu den großen Propheten deutſcher Seele 
führen, die zu allen Zeiten als Sucher und Runder, als liebende, ſorgende Bruder aller 
ringenden und ſehnenden Gemüter erſchienen. Am Anfang, in der Mitte und am 
Schluß hat der Verfaſſer vier feiner ſchoͤnſten Gedichte beigeſteuert. — Während 
Schellenbergs „Myſtik“ ein handliches Buͤchlein Heineren Formats bildet, iſt fein 
„Buch der deutſchen Romantik mit dem Untertitel „Die Sehnſucht nach dem Unend⸗ 
lichen“ ein umfangreiches Werk. Die große geiſtige Bewegung, von der die Genera · 
tion, die etwa ein Menſchenalter jünger war als Goethe, ergriffen wurde, hat in den 
letzten Jahrzehnten — feit Rudolf Sayms erſtem wiſſenſchaftlichen Eindringen — 
von mancherlei Blickpunkten aus verſchiedenartige Beleuchtung erfahren. Ricarda 
Suchs Werk enthält viel liebevolle Darſtellungen, aber auch viel Schiefes, Verzeich⸗ 
netes (Sol derlin l). Gundolf hat in der Einleitung feiner „Romantikerbriefe (Jena, 
Diederichs, leider ſchon lange vergriffen l) ſcharf den Sinn der Bewegung und ihre 
weſentlichſten Träger umriſſen und ſpaͤter im letzten Kapitel feines Meiſterwerkes 
„Shakeſpeare und der deutſche Geiſt“ Aar und knapp Klaſſik und Romantik ein ⸗ 
ander gegenuͤbergeſtellt und ihre tiefe Verwandtſchaft, ibren gemeinſamen Ur⸗ 
ſprung ſowie ihre polare Gegenſaͤtzlichkeit herausgearbeitet. In gleicher Richtung 
iſt dann Fritz Strich weiter vorwärts gegangen. — Was E. C. Schellenberg uns 
darbringt, ſoll nicht in erſter Linie ein wiſſenſchaftliches Werk im Sinne Gundolfs 
oder Strichs fein, es iſt, weit mehr als etwa Ricarda Suchs Arbeit, das Liebes ⸗ und 
Glaubensbekenntnis einer dem romantiſchen Weſen innig verwandten Seele. Da- 
bei zeigt ſich der Verfaſſer nicht etwa kritiklos gegenuber den Gefahren, die die ro⸗ 
mantiſche Saltung in ſich ſchließt oder gegen die Schwaͤchen einzelner Romantiker 
wie etwa Friedrich Schlegels. Aber er ſucht in verſtaͤndnis vollem Eingehen dar⸗ 
zutun, was jene romantiſchen Menſchen eigentlich wollten, von welchen Erleb · 
niſſen fie ausgingen und welche Ziele ihrer Sehnſucht — oft unerreicht und uner · 
reichbar — vorſchwebten und wie ſie dieſen Jielen, ein jeder auf ſeinem Wege, 
nachgingen, als Denker, Dichter, Maler, Toͤner. Demgemaͤß werden zuerſt die all- 
gemeinen Vorausſetzungen der Bewegung erörtert: die „myſtiſche Einſicht“, von 
der jene neue Jugend in bewußtem Gegenſatze zur gealterten und verflachten Auf⸗ 
Flärung ergriffen war, und die Saltung des romantiſchen Bünftlers immer an 
Sand der erſten Urkunden romantiſchen Fuͤhlens, Glaubens und Denkens ge- 
kennzeichnet. Von dem ſo gewonnenen Blickpunkt aus führt das Buch in drei 
gründlichen Kapiteln nacheinander durch die Bereiche romantiſcher Dichtung, 
Malerei und Muſik, vom Biograpbiſchen immer nur ſoviel ausleſend, als zum 
Begreifen der kuͤnſtleriſchen Leiſtung noͤtig iſt. So vermag das Werk eine Fuͤhrung 
durch den weiten bunten Garten der Romantik, der ſonſt manchem als Irrgarten 
erſcheinen mag, zu bieten, und man wird bei dieſer Führung, mag man auch im 
einzelnen manches anders ſehen, beſonders beglückt inne, welch großes und tiefes 
Stuͤck deutſchen Geiſteslebens dieſes romantiſche Reich darſtellt. Es iſt ein Buch 
deutſcher Bildung im beſten Sinne. Wilhelm Willige 


Wir nennen die zweite Hälfte des J8. Jahr⸗ 
Menſch und Ubermenſch hunderts das Zeitalter der Sumanitaͤt. Mit 
vollem Recht: fie tft die humanſte, die menſchlichſte Zeit, von der wir wiſſen, nicht 


Im gleichen Verlage. 1924. — 323 Seiten. Preis: in fteifer Broſchur 15. — M; 
geb. 20.— m — Mit 84 Abbildungen in Offſetdruck. 


Umſchau 107 


nur im gewöhnlichen Sinne, ſondern auch in der eigentlichſten Bedeutung des 
Wortes: eine 3eit, in der man vor allem men ſch fein wollte und darin das Soͤchſte 
ſah. Niemals ſonſt hat das Wort „Menſch“ einen fo vollen, ſtarken, berauſchenden 
Blang gehabt. Selbſt die Muſik ſingt von feiner Serrlichkeit. „Mit Würd' und 
Zoheit angetan, mit Schoͤnheit, Stark und Mut begabt, gen Simmel aufgerichtet, 
ftebt der Menſch, ein Aoͤnig der Natur.“ Noch brauſender klingt der Symnus, mit 
dem Schiller den Menſchen „an des Jahrhunderts Neige“ feiert. Und in der Jau⸗ 
berfloͤte Hören wir: „Er iſt ein Prinz! — Er iſt mehr als das; er iſt ein Menſch!“ 
— zum großen Mißvergnägen von Doktor Überbein (Ch. mann, Königliche 
Soheit). Dieſe begeiſternde Araft hat das Wort im I. Jahrhundert gruͤndlich ver⸗ 
loren und dafür geradezu einen uͤblen Geruch angenommen. Schon Fr. Th. Viſcher 
gebraucht fuͤr das Bedenkliche und Unlautere im Tun der Menſchen die Wendung 
„es menſchelt“, und Nietzſche prägt in demſelben Sinne im Titel eines feiner 
Buͤcher einen Ausdruck, dem ſtarke Flügel gewachſen find: „Menſchliches ⸗Allzu⸗ 
menſchliches. Und fein Jarathuſtra lehrt den Ubermenſchen als den Sinn der 
Erde und ftellt ihm als das Veraͤchtlichſte den „letzten Menſchen“ entgegen. Und 
die folgenden Geſchlechter jubeln ihm begeiſtert zu. 

Nun iſt es ja ſelbſtverſtaͤndlich nicht derſelbe „Menſch“, den Schiller fo enthu⸗ 
ſiaſtiſch preiſt und Wietzſche fo ingrimmig verachtet. Sondern für jene Jeit be 
deutete das Wort ein Ideal, das hoͤchſte, das fie kannte, deſſen Serrlichkeit ihnen 
aus dem Bilde der Beſten widerſtrahlte, während die Gegenwart dabei an die em» 
piriſche Wirklichkeit denkt, die, als Durchſchnitt und Maſſenerſcheinung genommen, 
jenem Ideal wenig ahnlich ſieht, und ihr Ideal im Bilde des Übermenfchen aus 
Beprägt hat. Aber es ſteht doch auch keineswegs fo, daß es ſich ſozuſagen in der 
Sauptſache um einen Unterſchied der Terminologie handelte, daß die neuere Jeit 
mit „ubermenſch“ ungefaͤhr ebendas meinte, was jene fruͤhere ſchlichter „Menſch“ 
genannt habe. Sondern der Wandel des Wortgebrauchs druckt hier zweifellos eine 
innerliche und weſentliche Wandlung im Inhalte des Ideals aus. Es kann ja nicht 
gleichgültig fein, ob wir das hoͤchſte Ziel unſeres Strebens mit dieſem oder jenem 
Namen nennen. Menſch — das ſind wir ſchließlich alle, und wie hoch wir auch 
das werten, was der Name einſchließt, fo iſt uns doch, als ob wir es alle ohne wei⸗ 
teres bätten oder wenigſtens haben konnten. Das Ideal „Menſch“ ſcheint zum 
Greifen nahe und für alle erreichbar, ſoweit nicht ſchon erreicht. Und dieſe Siege 
ſtimmung, „wie wir es fo herrlich weit gebracht“, iſt in der Tat im Js. Jahrbundert 
außerordentlich verbreitet. Sie ſpricht beſonders aus einem großen Teile der Frei⸗ 
maurer · ¶ iteratur mit einer YIaivität, die uns halb zum Lachen reizt, halb Wider⸗ 
willen erregt. Jene Jeit ſchwelgte im Selbſtgenuſſe ihrer Tugend und Vortrefflich · 
keit. Und nicht ohne Grund. Um nur an das bekannteſte und augenfälligfte zu er⸗ 
innern: die Aufhebung der Leibeigenſchaft, die Abſchaffung der Folter, das Auf 
hoͤren der Serenprozeſſe, die Erweichung der ſtarren Standesſchranken, wie fie ſich 
beſonders in der Freimaurerei auswirkte — wann waren je in ſo kurzer Jeit ſo ge⸗ 
waltige und ſegens volle Fortſchritte erreicht? Aber jene Zeit nahm zu leicht Worte 
für Taten; fie berauſchte ſich am hohen Schwunge ihres Gefuͤhls und war ſich 
nicht bewußt, wie groß und ſchwer die Aufgabe iſt, praktiſch dauernd auf der Höhe 
des Ideals zu leben und die Welt ibm gemäß zu geſtalten. Dieſer leichtherzige Opti · 
mis mus hat nicht ſtandgehalten. Schon Kant ſetzt eine herbere, maͤnnlichere Le⸗ 
bensanſchauung an feine Stelle, und bei Kleiſt erleben wir den Umſchlag des 


508 | umſchau 


frohen Fortſchrittsglaubens in radikalen Peſſimis mus. Seute ſind wir vor ſolcher 
Selbſtgerechtigkeit geſchuͤtzt. Ju gründlich haben wir mit Grauen erlebt, wie mäd- 
tig immer noch die Beſtie im Menſchen iſt, und wie wir noch in den Anfängen der 
Menſchwerdung fteben. 

Dem gegenuber ſchaͤrft das u bermenſchen · Ideal mit aller Energie ein, daß 
etwas ganz Neues und Andersartiges verlangt wird, eine neue Geburt — predigt 
dies noch nachdrüͤcklicher als die chriſtliche Idee der Wiedergeburt oder Brands 
„neuer Adam.“ Aber dieſe Sochſpannung bedeutet zugleich mindeſtens die Gefahr 
der Überfpannung. Ein allzu tranſzendent gefaßtes, ohne Beziehung zur gegen · 
waͤrtigen Wirklichkeit entworfenes Ideal kann hoͤchſtens ein Gegenſtand der Sehn · 
ſucht, aber nicht mehr Jiel des Strebens fein und muß daher das Streben ent 
mutigen. Der Übermenfch tft etwas, das wir nicht werden und nicht hervoe⸗ 
bringen, ſondern nur erſehnen, erhoffen, erwarten und allenfalls vorbereiten 

nen. 

Aber noch entſcheidender iſt ein anderes. Das Ubermenſchen · Ideal tft feiner Na⸗ 
tur nach ein Ideal nicht für alle, ſondern für wenige, für eine Auswahl von Aus · 
nahme · Naturen, ein ariſtokratiſches Ideal. Es iſt eine deutliche Reaktion 
gegen den Geiſt des J8. Jahrhunderts und fein Sieg haͤngt zuſammen mit der er⸗ 
boͤhten Bedeutung, die allerlei Trennungen und Beſonderungen auf Boften des 
allgemein Menſchlichen gewinnen. Die Zeit der Aufflärung hatte die Idee des 
Menſchen ſchlechthin mit feinen angeborenen Menſchenrechten geſchaffen und ihn 
über alle Klaſſenſchranken und Gegenſaͤtze erhoht. Ihre praktiſche Auswirkung 
war die franzoͤſiſche Revolution, die Aufhebung der Standes vorrechte, die Gleich; 
ſtellung aller vor dem Geſetz, der Siegeszug des politiſchen Demokratis mus und 
Parlamentarismus. Aber ſehr bald ſetzt die Gegenbewegung ein, die ſich mit ihr 
kreuzt: das Erwachen der ſolange ſchlummernden Nationalitaͤten und ihr Rampf 
um ihre Selbſtaͤndigkeit, das Wiedererſtarken des Katholizismus, der Beginn des 
wirtſchaftlichen Klaſſenkampfes. Damit wird jenes allgemeine Menſchheits ideal 
praktiſch zerſtoͤrt, denn nun fühlen ſich die einen in erſter Linie als Deutſche oder 
Stanzofen, die andern als Arbeiter oder Unternehmer, und der Menſch kommt hoch; 
ſtens an zweiter Stelle. 

Das uber menſchen · Ideal, genauer angefeben, vereinigt in ſich zwei Bonzep 
tionen recht verſchiedener Art. In ihm ift enthalten das Ideal des ſchoͤpferiſchen 
Menſchen, des Genies, des Propheten oder Büänftlers. Das iſt ja freilich ein Aus · 
nahmefall, der von gewohnlichen Menſchen artverſchieden und hoher zu werten iſt. 
Nur iſt dieſer in der Sauptſache ein Glůcksfall der Natur, der daher kein ethiſches 
Ideal abgeben kann. Zur andern Saͤlfte beſteht er in der Übung derſelben Tugen- 
den, die auch für den Durchſchnitts menſchen gelten der Singabe und Treue, des 
geſammelten Willens zum Jiel, nur in erhöhtem Maße. Von innerem Losge⸗ 
ſprochenſein von den allgemein ⸗menſchlichen Pflichten, von einem grund ſäaͤtzlich 
abweichenden Ideal kann mithin keine Rede ſein. Aber damit verquickt ſich dann 
das andere: der Serrenmenſch, der Menſch der ſtarken Fauſt und des rüͤckſichts⸗ 
loſen Willens zur Macht. Schon bei Nietzſche ſteht dies im Vordergrunde, ſobald 
er ſein Ideal nicht in abſtrakter Predigt anpreiſt, ſondern geſchichtliche Beiſpiele 
ſucht und bei den Gewaltmenſchen der Renaiſſance findet. Und nur in dieſem Sinne 
hat ſeine Lehre ins Breite gewirkt. Aber der Ausdruck „die blonde Beſtie“ iſt ver⸗ 
raͤteriſch: er ſagt, und ſagt mit Recht, daß bier nicht der Ubermenſch, ſondern der 


umſchau 409 


Unmenſch, d. b. der Untermenſch vor uns ſteht, die mit Vernunft ausgeſtattete, 
aber dadurch nur böfer und gefährlicher gewordene Beſtie. Dieſer Geiſt der Beſtie, 
der durch keine ſittlichen und Menſchlichkeitsruͤckſichten gehemmte Wille zur Macht 
um jeden Preis bat in der Tat im Laufe des 19. Jahrhunderts in wachſendem 
Maße von der Menſchheit Beſitz ergriffen, hat alle politiſchen und wirtſchaftlichen 
Verhaͤltniſſe durchdrungen und den Bampf aller gegen alle, Volk gegen Volk, 
Stand gegen Stand, entfeſſelt, der Europa zum Juſammenbruche geführt hat und 
an dem es gänzlich zu Grunde gehen wird, wenn es ihn nicht zu überwinden und zu 
bannen weiß. Dies aber kann nur gelingen, wenn wir ihm den Geiſt wahrer 
Menſchlichkeit entgegenſtellen, den uns das 18. Jahrhundert als koſtbarſtes 
Erbe hinterlaſſen hat. Laßt uns wieder Menſchen im vollen Sinne werden, dann 
brauchen wir den ubermenſchen nicht! Laßt uns den menſchen wieder als die 
große, unendliche Aufgabe faſſen, die volle Entfaltung alles deſſen, was in uns an 
ſittlichen Araͤften und ſchoͤpferiſchen Möglichkeiten angelegt iſt! (Wie Kant feine 
Pbiloſophie definiert hat als die Wiſſenſchaft, „die Stelle geziemend zu erfüllen, 
welche den Menſchen in der Schöpfung angewieſen iſt, und aus der er lernen kann, 
was man fein muß, um ein Menſch zu ſein“.) Dann wird ſich auch in den Be 
ziehungen der Menſchen unter einander, der Einzelnen wie der Volker, von ſelbſt 
die wahre Menſchlichkeit herſtellen, denn wir werden uns erkennen und ehren als 
Bruder und Weggenoſſen im Streben nach dem gemeinſamen Jiele. Menſch ſein in 
dieſem Sinne iſt freilich das hoͤchſte Ideal und höher als jedes Teil / und Sonder ; 
Ideal, denn alle Gute und Freiheit, alle Größe und Schoͤnheit, die dem Menſchen 
zu denken möglich iſt, iſt darin eingeſchloſſen. Wir danken der neueſten Dichtung — 
Franz Werfel, Ernſt Toller, Leonhard Frank u. a. —, daß fie das Ideal des Men · 
ſchen wieder ſo energiſch vor uns aufgerichtet hat, aber wir bleiben uns bewußt, 
daß wir damit nur in die Bahn unſerer Haſſiſchen Jeit wieder einlenken; jener Jeit, 
wo Deutſchland, wenn nicht politiſch, fo geiſtig eine Großmacht war und eine Welt 
geltung hatte, die es heute politiſch und geiſtig gleich gründlich verloren hat. 
Seinrich Meyer -⸗Benfey 


D In dieſen Tagen feiert der Dichter und Denker Paul Muͤh · 

Paul Muͤhſam ſam feinen fuͤnfzigſten Geburtstag. Er iſt Rechtsanwalt 
in Börlig. Und muß im angeſtrengten Beruf einen muͤhe vollen Lebensweg voll; 
bringen, um nur in ganz kurzer Urlaubszeit einmal im Jahre zum dichteriſchen 
Schaffen ſich Muße zu gönnen. Mühſam ! Sein Name klingt, als follte er Aus ⸗ 
druck fein für des Menſchen Wandern durch das graue Land der Mühe. Aber feine 
Buͤcher wiſſen nichts von grauer Muͤhe, uͤber ihnen liegt ein Glanz, eine Poeſie, 
ein Klang, als habe ein Vogel aus dem Paradies es dem Dichter ins Serz ge 
fungen, das ganze Wundergeheimnis vom Leben — von dem Leben, wie es 
immer in Gott ruht, von dem Menſchlichen, wie es immer von Gott getragen 
wird, und doch von ihm getrennt ringt, und nicht weiß, daß es um ihn ringt — 
und doch noch zum Jiel kommen wird. In herrlichen rhythmiſchen Geſaͤngen 
rauſcht es auf, voll hoher dichteriſcher Schoͤnheit. „Alingen nicht alle Sonnen zu⸗ 
ſammen zu einer Weltenſymphonie fo wonnedurchflutet, daß noch ihres Wider; 
balles Widerhall als Simmelsmuſik durch die Seelen der Menſchen laͤutet?“ 
Serzens kraft innigſter Innerlichkeit ſtroͤmt wie eine reiche Quelle aus feinen 
Buͤchern in die Jeit. Schauen und Wiſſen iſt in ihm, und verarbeitet das Leben, 


#10 Aulturpolitiſcher Arbeitsbericht 


es umgeſtaltend dem Menſchenblick, voll Geiſtkraft wie die alten Propheten, voll 
Poeſie wie die zarteſten neuen Dichter. Und dann wiederum gibt er praktiſche Rat ⸗ 
ſchlaͤge der Lebenstechnik, jungen Menſchen, ſuchenden Menſchen, und er faßt 
fie alle ins Gerz, und weiß ihnen allen Rat, der Jungfrau und dem Juͤngling, dem 
Binde und dem Sterbenden, dem Traurigen und dem Suchenden, dem Reichen und 
dem Armen, dem Dichter und dem — Schmetterling, und dem Baum; dem Un ⸗ 
erloͤſten, und noch Satan. 

Von ganz beſonderer Bedeutung iſt das Buch „Der ewige Jude“ (Verlag Olden · 
burg, Leipzig, worin er ſich als Jude mit dem Schickſal feines Volkes aus 
einanderſetzt, es zur Erloͤſung weiſend im reinen Menſchentum, das hinter 
aller Trennung iſt. Denn er iſt Jude, dieſer Dichter, einer von den Juden, die mir 
das erfüllen, was ich oft verheißen, wenn ich forderte: „Bämpfen wir doch nicht 
gegen die Juden! Bämpfen wir doch gegen den Materialismus! Im Kampfe mit 
ihm werden wir edle Juden immer auf unferer Seite finden!” Nun, ein Jude wie 
paul mühſam wiegt im Bräftefpiel der Jeit unzählige Materialiſten auf, welcher 
Raſſe auch immer. Moͤgen feine Bucher zu vielen Menſchen kommen und ihnen 
helfen, das Leben mit Augen zu ſchauen, die hinter den bunten bannenden Schein 
der truͤgenden Materie blicken. — Seine andern Bucher find alle im Verlag 
Grunow, Leipzig, erſchienen: Geſpraͤche mit Gott, Aus dem Schickſalsbuch der 
menſchheit, Worte an meine Tochter, Mehr Menſchl, Vom Glück in dir, Auf 
ſtillen Wegen. Gertrud Prellwitz 


5 5 ö I. Die Airche hat die geiſtige 
Kirche und Volksbildung / Leitſaͤtze e 


2. Sie muß darum die Frage der Volksbildung viel ernſter nehmen als bisher. 

3. Mit aͤußerlicher Betriebſamkeit (Gruͤndungen, Organiſationen) iſt nichts ge; 
wonnen. f 

4. Die Airche muß vielmehr die geiſtige Sehnſucht des Volkes verfteben und 
mit erleiden, erſt dann wird ſie zu ihrer Erfuͤllung bereit werden. 

5. Der Begriff einer „Evangeliſchen Volksbildungsarbeit“ iſt daher zu verwerfen. 

6. Vielmehr wird der „Chriſt“, der in irgend einer Weiſe in der Volksbildungs⸗ 
arbeit ſteht, dort an wahrer chriſtlicher Bildung mitſchaffen. 

7. Denn er weiß um den Sinn aller Bildung: Aufgeſchloſſenheit für die leben ⸗ 
ſchaffende Wahrheit. 

8. Um folder Wahrheit willen wendet ſich die Kirche gegen alle parteimäßige, 
nationaliſtiſche, aͤſthetiſche Volksbildung und weift ſtets in Abwehr und Aufbau 
auf die ſchoͤpferiſchen Wahrheiten der Bibel hin. 

(Dieſe Leitſaͤtze lagen einem Vortrag auf der Solinger Kreisſynode zugrunde.) 
ans Hartmann 


Rulturpolitifcher Arbeitsbericht 


Engliſch · deut ſche Seit der CLocar · England nimmt dauernd zu. An den 
Verſtändigung | no.Bonferenz | Univerfitäten in London, Oxford und 
macht ſich im offentlichen Leben Eng⸗ Cambridge finden Sommerkurſe für 
lands ein ſtark fpürbarer Umſchwung auslaͤndiſche Hörer ſtatt. Um aber auch 


zugunſten Deutſchlands be merkbar. Die Nichtſtudierenden Gelegenheit zum Be⸗ 
Zahl der deutſchen Studierenden in Jſuch Englands und der Aurſe zu geben, 


Bulturpolitifcher Arbeitsbericht 


iſt von Mr. F. 5. Cutcliffe (45 Broad 
Street, Oxford) eine Sommerſchule 
ins Leben gerufen worden, die in Ox⸗ 
ford vom 6. bis 30. Juli abgehalten 
wird. Als Lehrer ſind Profeſſoren der 
Univerfitäten Oxford und London taͤ⸗ 
tig. Der Lehrplan umfaßt Gramma⸗ 
tie, Phonetik, Engliſche Literatur und 
Geſchichte. Die Boften für alle Vor⸗ 
leſungen uſw. betragen M 75. —. Alles 
Naͤhere iſt durch den Veranſtalter Mr. 
F. 5. Cutcliffe zu erfahren. 


Eine freigewerkſchaftliche] von 
Religionsgemeinſchaft | deut⸗ 
ſcher Art und Sitte reden wir gern im 
deutſchen Vaterland, aber durch die 
Tat beweiſen wir ſie oft recht wenig. 
Nicht ohne Berechtigung nennt man 
unſer Zeitalter die Zeit der Rompro⸗ 
miſſe. Daher findet man auch den Glau⸗ 
bens kompromiß ſelbſtredend, um nicht 
zu ſagen am ſelbſtverſtaͤndlichſten. Baum 
bedenkt man dabei, daß der Seuchler in 
Glaubensſachen das Allerperſoͤnlichſte 
preisgibt, daß ſolche Menſchen die Ju⸗ 
träger des Untergangs ſind. Niemand 
wird ſich gegen Glaͤubige wenden, die 
in einer wie auch gearteten Glaubens ⸗ 
gemeinfchaft den Ausdruck ihrer Welt; 
anſicht finden. Aber unwahr nehmen 
ſich neben dieſen diejenigen aus, die 
innerlich laͤngſt mit dem Dogma gebro⸗ 
chen haben, und doch weiterhin aus Be; 
quemlichkeit oder geſellſchaftlichen Ruͤck⸗ 
ſichten in der oder jener Birdengemein- 
ſchaft bleiben, die ihrem wahren We ⸗ 
ſen gar nicht entſpricht. 

Fuͤr Manche ſcheint allerdings der 
deutſche Freiſtaat darin zu befteben, daß 
ſie noch unfreier, wie fruͤher, ſich ein⸗ 
bilden, Geſetze konnten die innere Frei⸗ 
beit erſetzen. Unfrei ſind die, die ſitt⸗ 
liches Verantwortungsgefühles ent⸗ 
behrend, im Seiligſten heucheln. 

Auf meiner Suche nach einer reli⸗ 
gidfen Seimſtatt ſtieß ich auf eine ganz 
eigene, leider im Reich recht unbekannte 
Gemeinſchaft in Rheinheſſen zwiſchen 
Worms, Mainz und Bingen. Dort fand 
ich eine ſchlichte Landgemeinde zu Al- 
zey, deren Vorbild im Reich Nachah⸗ 


111 


mung verdiente. Sie wendet ſich gegen 
viele undeutſche Formen offizieller Air⸗ 
chen und Sekten, um in Einfachheit 
und Ehrlichkeit ihre Mitglieder zu er⸗ 
bauen. Tapfere, deutſche Menſchen 
ohne die Enge, die leider oft den ſoge · 
nannten Vaterlaͤndiſchen bei Heinen 
Geiſtern anhaftet. mit Tam - Tam · 
ſtimmung haben dieſe Gemeinden nichts 
zu tun, das widerſtrebt auch im Grunde 
dem deutſchen Volks charakter. Im 
Jahre 1876 find die erſten dieſer Ge⸗ 
meinden erſtanden, in einer Jeit, in der 
man auf den Lorbeeren der deutſchen 
Siege von 1870 / 7 glaubte ausruhen 
zu durfen. Schon vorher regte ſich bei 
den ſtrebſamen, auf eigner Scholle an · 
ſaͤſſigen Bauern eine freiere Auf⸗ 
faſſung der kirchlichen Lehre. Als dann 
1872 die neuorganiſierte heſſiſche Lan · 
deskirche die Abgabe von Steuern an 
den Staat verlangte, und eine Airchen⸗ 
austrittsbewegung einſetzte, begann 
man eine freiproteſtantiſche Religious · 
gemeinſchaft in das Leben zu rufen. 
Die Lebensfaͤhigkeit der Gruͤndung be- 
weiſt ihre Feier des So jaͤhrigen Be⸗ 
ſtehens in dieſem Jahre, in welchem 
fie 2500 Seelen trotz der bald eintreten ⸗ 
den, notwendigen Siebung zählt. 


Seit ihrer Gruͤndung betont die Ge · 
meinſchaft ihre religidfe Einſtellung, 
fie will eine Freie Gemeinſchaft Su- 
chender ſein, die Religion nicht mit 
kirchlicher Bindung gleichſetzen. Unter 
Fuͤhrung ihres tuͤchtigen Seelſorgers, 
pfarrer Walbaum · Alzey, wehrte fie 
ſich gegen das Sereinfließen unreli⸗ 
gidfer Elemente und bewahrte fo ihren 
Charakter. Im Einklang mit dem Geiſt 
der Wiſſenſchaft lehnen dieſe Freiprote 
ſtanten einen einſeitig theiſtiſchen oder 
einen rein deiſtiſchen Gottesbegriff ab, 
wehren ſich aber auch gegen einen 
pantheiſtiſch verſchwommenen Begriff 
eines Gottes, um mehr und mehr die 
Anſchauung eines überſinnlich ſitt⸗ 
lichen Geiſtes zu pflegen, in dem unſer 
Daſein verankert iſt, und deſſen We 
fen in unſerem perſoͤnlich ⸗ individuellen 
Geiſt zur Erſcheinung kommt. Alſo 
eine panantheiſtiſche Gottesanſchau⸗ 


$12 


ung. Dem Einzelnen laſſen fie volle 
Freiheit zu dieſer Frage, wie zur Un⸗ 
ſterblichkeit, Stellung zu nehmen. Ge⸗ 
meinſam iſt allen die Betonung eines 
Glaubens an eine irgendwie zu denken 
de Erhaltung unſeres Lebenswerkes 
und grundes. Eine beſtimmte SErfid- 
rung über die Art unſeres Weiter⸗ 
lebens zu geben, halten fie für un⸗ 
richtig. 

Sie wenden ſich vor allem gegen das 
Apoſtolikum, weil ſie darin eine dem 
heutigen Stande religidfer und wiſſen ⸗ 
ſchaftlicher Erkenntnis nach unmsdg⸗ 
liche Bindung erblicken. Nicht mit Un- 
recht weiſen ſie dabei auf die oft etwas 
oberflaͤchliche Art mancher Kirchen · 
kreiſe bin, die meinen, Jeder dürfe das 
Apoftolitum nach eigenem Gutdünken 
auslegen. Sie halten dies fuͤr ein theo⸗ 
logiſches nicht angaͤngiges Verfahren. 
Der Geiſt des offiziellen, landeskirch⸗ 
lichen Bekenntniſſes kann innert der 
Airche nur nach einem Geſichtspunkt, 
dem der Kirche, ausgelegt werden. 
Dies ſcheint mir für ihre innere Wahr · 
haftigkeit zu ſprechen. Sie verlangen 
auch ein vorbildliches Leben ihrer Mit⸗ 
glieder. Weder Bibel noch geiſtliche 
Autorität foll das Gewiſſen des Ein⸗ 
zelnen binden; er ſoll ſeiner ehrlichen 
überzeugung leben. Die Offenbarung 
des göttlihen Geiſtes im Gewiſſen ſoll 
den Freiproteſtanten leiten, womit er 
nicht die Tages vernunft, ſondern die 
ewige Vernunft meint, die der einzelne 
Wahrheitsſucher in einzelnen, gewiffen- 
haften Genien der Menſchheit bewun ; 
dert. Toleranz iſt eine Selbſtverſtaͤnd⸗ 
lichkeit für den Freiproteſtanten. Daher 
ſtehen die Gemeinden auch in Verbin⸗ 
dung mit den Unitariern aller Laͤnder, 
die die Einheit Gottes gegen den Trini ; 
taͤtsbegriff der vom römifchen Chriſten ; 
tum her geſpeiſten Gemeinſchaften be; 
tonen. Wie fie kirchliche Dogmen ab · 
lehnen, ſo wenden ſie ſich auch gegen 
naturaliſtiſch⸗moniſtiſche Dogmen, die 
ebenſo der Freiheit und Entwicklung 
des Menſchen den Weg verfperren. 

Wir größen dieſe Gemeinden zu 
ihrem 50. Beſtehen als wackere Vor⸗ 


Aulturpolitiſcher Arbeitsbericht 


kaͤmpfer religiöfer Freiheit und Tole⸗ 
ranz. Wie die Sachſen in Siebenbuͤrgen 
halten ſie deutſche Art hoch, das freie 
Bekenntnis, das einſt Ulfilas den Ahnen 
brachte gegen welſchen Iwang und 
Nizaͤnum. Aus deutſchem Geiſte ge⸗ 
boren, deutſchem Empfinden angepaßt 
ſtehen dieſe Gemeinden da. Jeigen wir 
ihnen, daß im deutſchen Volk noch Ver⸗ 
ſtehen herrſcht fur konfeſſionelle Ehr⸗ 
lichkeit, wenn wir vielleicht auch aus 
die ſer gleichen Ehrlichkeit heraus an⸗ 
dere Wege für uns wählen. Wer denkt, 
wie ſie, deſſen Weg muß den ihren 
kreuzen. Man wende ſich mit Bitten um 
evtl. weitere Auskunft recht zahlreich 
an Pfarrer Walbaum in Alzey, der 
gern feine Kraft der Verbindung uni⸗ 
tariſch denkender Menſchen widmen 
wird, um dieſe untereinander bekannt 
zu machen. Otto Maria Saenger 


Im vergan- 
genen Juli beging eine Samburger oöͤf⸗ 
fentliche Einrichtung die Feier ihres 25 
jährigen Beſtehens, die fo eingegangen 
ift in das Leben der Stadt, daß man wie 
bei einer guten Sausfrau nicht das Wir- 
ken merkt, ſondern nur das Fehlen emp⸗ 
finden würde. Im Juli J90J gründete 
der damalige Amtsrichter Dr. W. Sertz, 
jetzt Direktor des ſtaatlichen Jugend 
amtes Samburg, auf Veranlaſſung des 
Senators Dr. Traun mit Walter Elaf- 
fen, Paſtor W. Kießling, Fraͤulein 
Anna Röfter und einer Anzahl juͤnge⸗ 
rer Akademiker der guten bürgerlichen 
Are iſe Samburgs nach dem engliſchen 
Muſter der Settlements das „Zam⸗ 
burger Volksheim“. Juerſt wurden in 
Rothenburgsort mitten im dicht bevoͤl⸗ 
kertſten Arbeiterviertel Räume ge 
mietet, und in ihnen außer offentlichen 
Rechtsauskunftsſtellen Vorträge ge⸗ 
halten und Clubs eröffnet. Gier fanden 
ſich Maͤnner und Frauen der Arbeiter⸗ 
ſchicht in ihren Mußeſtunden zuſam⸗ 
men, und Arbeiter wie Buͤrgerliche 
erſtrebten Aber die wirtſchaftlichen 
Kampfe der Zeit hinweg, ſich verſtehen 
zu lernen, jeder dem anderen nach 
beſten Kraͤften zu dienen. Dr. Jaques, 


Bulturpolitifcher Arbeitsbericht 


jest Regierungsrat im Samburger 
Wohlfahrtsamt, ſammelte auf der 
Straße Lehrlinge um ſich. Bald war 
in dieſem Lehrlingsverein, nach dem 
Vorbild des Paſtor Clemens Schultz 
in St. Pauli lebendiges Treiben, daß 
die gemieteten Raͤume zu eng wurden. 
Stiftungen ermöglichten 1904 den Bau 
des eigenen Volksheims am Bill ⸗ 
boͤrner Muͤblenweg. Inzwiſchen hatte 
die Bewegung auf andere Stadtteile 
übergesriffen. Walter Claſſen wirkte 
in Sammerbroof, Paſtor Kießling in 
Barmbeck. Auch hier erhoben ſich um 
1907 eigene Volksheimhaͤuſer. Was 
dieſe Seime in den ſcharfen Kaͤmpfen 
bei Emporſteigen des Klaſſenkampf⸗ 
Gedankens bedeuteten, erſieht man aus 
der allgemeinen Aufmerkſamkeit des 
damaligen Deutſchlands auf dieſe Ar⸗ 
beit in Samburg. Es kamen junge 
Buͤrgerliche mit ſozialem Fuͤhlen bier- 
ber, um zu lernen und in Wien oder 
Leipzig den dortigen Verhaͤltniſſen an; 
gepaßt Gleiches zu errichten. Es iſt die · 
ſelbe Jeit, wo wir Freien Studenten in 
Charlottenburg die erſten Arbeiter; 
Bildungskurſe von Studenten ins 
Ceben riefen. Winterhude, Eimsbüttel, 
Eppendorf hatten bald auch ihre ge⸗ 
mieteten Heime, und es war in guten 
Beeifen, ſprechen wir es aus, „Mode“, 
im Volksheim ſich als junger Arzt oder 
Referendar zu betätigen. Auch Stif- 
tungsmittel floſſen reichlich. Dann 
kamen Jugendbewegung, Krieg und 
Revolution. Sie pochten an die Pfor- 
ten des Volks heims, und die vertieften 
Gegenſaͤtze zwiſchen Proletariat und 
Bürgertum machten ſich bier gleich · 
falls bemerkbar. Die bürgerlichen 
Breife zogen ſich teilweiſe zuruck, und 
die Arbeiter verſtanden unter Volks; 
heim nur ein Seim fuͤr das Volk der 
Arbeiterſchaft. Gottlob war den leiten · 
den Maͤnnern das Bewußtſein ihrer 
Verpflichtung dem ganzen Volkstum 
gegenuber geblieben, und trotz aller 
Bämpfe vor den Toren des Volks ⸗ 
heims wurde in ihm eine Stätte be- 
wahrt, wo nur der Menſch gewertet 
wird, und wo die Kampfe nicht in der 


113 


Außenſeite des Lebens, ſondern mit 
dem Wunſch Menſchentum zu bilden 
ausgetragen werden. Es gibt etwas 
wie einen Volksbeimgeiſt, der in dieſen 
Heimen berrfcht, wenn man ihn auch 
nicht in Begriffe faſſen kann. Es waͤre 
an der Jeit, daß wie in den erſten 
Jahren mehr der noch heute kultur⸗ 
tragenden Schicht im Volksheim für 
deutſche Volkheit wirkten. Sie wür- 
den hier ſicher mehr lernen als in einſei⸗ 
tig eingeſtellten Parteiverſammlungen. 
Wollen wir in Deutſchland die klein ⸗ 
lichen Parteivorurteile überwinden, 
muͤſſen wir es wie in den Volks heimen 
anfangen. Es handelt ſich bier nicht 
um ein Vertuſchen von Gegenſaͤtzen, 
ſondern Jeder behauptet ſeine Art, 
aber er ſucht Verſtaͤndnis für den 
Eigenwert der Anderen. Aus Ver⸗ 
fteben Vertrauen, das iſt das unſicht⸗ 
bare Leitmotiv aller Volks heimarbeit. 
Das Volksheim beſitzt eine eigene Jeit 
ſchrift „Spiegel“ (Monatliche Mit⸗ 
teilungen). In ihr werden alle das 


Volksheim bewegenden Fragen mit 


Eindringlichkeit, aber im Geiſte der 
Verſoͤhnung behandelt. Ju den Be 
ſchaͤftsfuͤhrern des Volksheims ge⸗ 
börten Dr. Schomerus, jetzt Jeiß⸗ 
Werke, Jena, Profeſſor Dr. Seinz 
Marr, jetzt an der Univerfität Frank⸗ 
furt, Dr. Wilhelm Stapel, Gerhart 
Guͤnther, Serausgeber der Deutſchen 
Bühne in Samburg. 

Jetzt ſoll es mein Beſtreben ſein, 
Vergangenes mit Jukünftigem in bie 
ſem Wirkungskreis zu verbinden. Die 
Arbeit in Jugendbewegung, Ereier 
Studentenſchaft, Volks hochſchulen hat 
mich gelehrt, daß man Bauten der 
Erde nicht in den Wolken beginnen 
kann. Auf Vergangenem muß die Ju⸗ 
kunft fußen, und je mehr ſie im Weſent⸗ 
lichen verankert iſt, um fo hoher läßt 
der Bau ſich in den Simmel des Ideals 
türmen. Neue Kultur waͤchſt auf dem 
Urgrund der Vergangenheit. Wer dies 
weiß, blickt nicht zuruck, ſondern nach 
vorwaͤrts, wo die ewigen Jiele locken. 


Dr. Robert Corweg b 


Aulturpolitiſcher Arbeitsbericht 


111 
l. Birken heider Börper-| Eine 
ſchulungswoche 1926] Veran- 


ſtaltung, die mehr hielt, als fie ver 
ſprach. Vierzig junge MRenſchen bei 
Gymnaſtik, Spiel und Sport auf der 
Seide, auf den Hügeln und im See. 
Nackte Leiber in Sonne, Luft und 
Waſſer. Morgenfeiern am Seeufer, 
Ausſprachen unter Kiefern, Abend 
ſtunden am flackernden Feuer. 

Die Birkenheide wurde zum um⸗ 
faſſenden Erlebnis. 

Aus 20 Madchen und Frauen und 
ebenfo vielen Mannern, die aus Thuͤ⸗ 
ringen, Sachſen, Anhalt, Branden⸗ 
burg und Pommern, aus Berlin und 
ſogar vom Rhein am 22. Mai in dem 
Dorfe Aallinchen zuſammenkamen, ent · 
ſtand unter dem Einfluß einer ziel⸗ 
Haren Bewegung in kaum 8 Tagen 
eine Gemeinſchaft von wundervoller 
Ubereinſtimmung. 

5 Uhr 30 wecken, Waldlauf über die 
betaute Seide, durch naſſe Wieſen, über 
den weißen Sand. Am ſpiegelglatten 
See finden ſich die Gruppen zur Mor⸗ 
genfeier zuſammen. Ein kurzes Wort, 
eine Slötenftimme, ein Lied in Senſels 
Satz. 

Dann knallt das Tamburin, und Ella 
und Charly Straeßer fuhren ein in 
die Börperfhulung der Birkenheider. 
Es iſt etwas Merkwuͤrdiges um ihre 
Gymnaſtik. Sie iſt gruͤndlich und hart 
und doch beſchwingt, ſie iſt tief emp⸗ 
funden und doch nirgends weich oder 
ſentimental. Vielleicht iſt ſie das, was 
ein Teilnehmer von ihr behauptete, 
„sie Syntheſe der gymnaſtiſchen Be 
wegung“. 

Schluß der Gymnaſtik und Baden 
im quellklaren See. 

Nach dem Fruͤhſtüͤck (Vollkornbrot 
mit „dener“ oder „Nuſſana“ und 
milch) kommt die „Geiſtigkeit“ zu 
ihrem Recht. Notwendiges Aber Aoͤr⸗ 
perbildung, Atmung, gymnaſtiſche Sy⸗ 
ſteme, über L(ichtbewegung und Licht⸗ 
verbaͤnde wird beſprochen. 

Von II bis J2 Uhr Gymnaſtik mit 
Mebdizinbällen, Bugeln und Rund- 
gewicht, Speerwerfen, Bugelitoßen, 


Fauſt - und Voͤlkerballſpielen. Wieder 
Schwimmen. Der Nachmittag iſt frei. 
Von 5 bis 6 Uhr rhythmiſche Gym ⸗ 
naſtik nach Muſik im Saal, Schwuͤnge 
und Spränge. 

Der Abend findet uns am lodernden 
Feuer oder auf den Suͤgeln, von denen 
der Blick weit in das maͤrkiſche Land 
hinein ſchweift. Einmal veranſtalteten 
die Birkenheider einen Vorfuͤhrungs· 
abend, der eine Hare Überficht Aber die 
B Arbeit des Arbeitskreiſes 
gab. 

Die vegetariſche Lebens weiſe erwies 
ſich als das einzig Richtige für derartige 
Veranſtaltungen. Auch Fleiſcheſſer fübl- 
ten ſich dabei durchaus wohl und 
blieben voll leiſtungsfaͤhig trotz größter 
körperlicher Inanſpruchnahme. 

Fridel Aupke 


Über Veranſtaltungen des Birken; 
beider Arbeitskreiſes erteilt Auskunft 
die Geſchaͤftsſtelle: Fritz Beyes, Bln.⸗ 
Lichtenberg, Irenenſtr. 21. 

Eine zweite Woche findet vom J. bis 
7. Auguſt ſtatt. 


Deut ſche Richt wochen 


Die „Richtwoche“ will deutſch ; 
eſinnte Menſchen — vor allem 
Jungvolk und vor allem ſolche, 
denen eine Fuͤhrerpflicht ob⸗ 
liegt — zu einer freien Unter⸗ 
richtsgemeinſchaft zuſammen⸗; 
ſchließen, in der die Grund⸗ 
lagen unferes Volkstums be⸗ 
ſprochen werden, ſo daß ſie da⸗ 
bei aus dem Dunſt der Tages⸗ 
meinungen und Schlagworte 
beraustreten und in ihren tiefe⸗ 
ren Juſammenhaͤngen verſtaͤnd⸗ 
lich werden. Der Iweck der 
Woche iſt alſo kurz geſagt: 
Richtung zu geben, und zu⸗ 
gleich das Bewußtſein der per⸗ 
ſoͤnlichen Verantwortlichkeit für 
unſer Volkstum in den Teil 

nehmern zu wecken. 
(Aus dem Unterrichtsplan der 

erſten Richtwoche.) 

Als Teilnehmer der dritten deutſchen 
Richtwoche, die als erſte in Suůͤddeutſch⸗ 
land in dem ſchwaͤbiſchen Staͤdtchen 


Aulturpolitiſcher Arbeitsbericht 


Seubach am Nordoſtabhange der Alb 
ſtattfand, kann ich meine perſoͤnlichen 
Eindrücke und Erlebniſſe ſchildern. 

Georg Stammler, der ſchon in vielen 
Schriften und Büchern voͤlkiſche Auf- 
bauarbeit geleiftet hat, vor allem, in- 
dem er auf Grund eigener Lebenser⸗ 
fahrungen und tiefer Denkarbeit zur 
Seranbildung einer jungen, verant- 
wortungsbewußten Fuͤhrerſchicht bei- 
trug, bat feit letzten Serbſt dieſen neuen 
Erzie hungsweg — die Richtwochen — 
eingeſchlagen. Gelingt es erſt einmal, 
weitere Breife zur Teilnahme und Unter⸗ 
terftägung des Werkes heranzuziehen, 
dann wird damit recht Erſprießliches 
für die deutſche Jukunft geſchaffen fein. 
Denn Fuhrer im ganzen Sinne tun 
uns überall not: im Dorf, in der 
Fabrik, überhaupt in jedem Beruf, ganz 
abgeſehen von der politiſchen Ebene. 

In der Woche nach Pfingſten kamen 
wir zuſammen, Burſchen und Madel, 
etwa 25 Leute, aus allen Berufen und 
Cebenslagen. Ausſprachen, eine mehr 
oder minder kurze Erzaͤhlung des Le⸗ 
benslaufes eines jeden, das tägliche 
Singen, dazu das gemeinſame Leben 
des Tages, ſchufen in kurzer Zeit eine 
innige Gemeinſchaft: die ſeeliſchen 
Werte, die Leuchtkraft und Wärme 
einer ſolchen Gemeinſchaft mußten ja 
die unbedingte Vorausſetzung einer 
fruchtbaren Geiſtesarbeit ſein. Die 
Richtwoche trug eine ſtarke Geſchloſſen⸗ 
beit an ſich, die dadurch bedingt war, 
daß Georg Stammler ſaͤmtliche Vor · 
träge übernommen hatte, die Aus- 
ſprache ſtraff leitete und fo vor Ab- 
wegen bebätete. 

Nach reichlicher Nachtruhe trat man 
morgens zum Turnen und Baden an 
und befreite feine Luft an der Serrlich⸗ 
keit des jungen Maimorgens im Liede. 
Uber haupt war durch Bewegung, 
durch die Mittagspauſe, durch den täg- 
lichen Abendtanz am Dorfbrunnen, bei 
dem die Dorfjugend friſch mittat, und 
durch das Singen für hinreichende 
Aus ſpannung des Geiſtes geſorgt und 
die nötige Friſche die ganze Woche hin⸗ 
durch bewahrt. 


415 


Draußen am Bergeshang ſtand ein 
alter Nußbaum, und dehnte ſich freier 
Raſen um ihn. Dort lagerten wir uns, 
um miteinander unter des Führers 
kundiger Leitung die Runen deutſchen 
Schickſals, deutſcher Not und deutſcher 
Aufgaben zu leſen. Der weite Simmel 
wölbte ſich über uns, rings um uns 
rauſchte der Wald und am Fuße der 
wuchtigen felsgekroͤnten Berge ſpran⸗ 
gen die Quellen zu Tage, das alte Lied 
der geimat raunend. Und wir lauſchten 
dem Liede unferer Urmutter: ein Erbe 
in uns, und ein Erbe um uns, und 
unfer inneres Erbe verkettet mit Tau ; 
ſenden von Brüdern ſeit alters her. 
Dort gruͤßte der Sohenſtaufen beräber ; 
dort ging der Bauer zur Arbeit und 
die Sirenen der Fabriken tönten, oft 
minder ſchoͤn, in unſere Arbeit. Aber 
ſprach das nicht alles zu uns? Das iſt 
alles Wirklichkeit: Romantik und harte 
Arbeit, Ideales und recht Materialiſti⸗ 
ſches, Glück und Leid. Wir leben in 
Notzeit. Was konnen wir tun? Sind 
wir im Berne vergiftet? Wo liegt die 
Schuld? Was konnen wir aus der Be- 
ſchichte, was aus den Bewegungen der 
Nachkriegsjahre lernen? Was iſt der 
Weſens ⸗ und Werdewillen unſeres 
Volkes? welche Löſungen all der 
ſchweren Fragen ſind denkbar? Was 
iſt uns der Staat? Wo haben wir mit⸗ 
zuſchaffen? 

Solcher maßen draͤngten ſich die Fra⸗ 
gen. Es tut zuweilen recht gut, daß 
man ſeine alten, halbſteckengebliebenen 
Adfungsverfuhe und Meinungen ein⸗ 
mal voͤllig aufgibt, ſie abſterben laͤßt, 
um wiedergeboren neu und unberäbrt 
an ſolche Fragen heranzugehen. Was 
Stammler nun gab, das waren nicht 
etwa neue Reformprogramme, neue 
„Wahrheiten“, „neuer Geiſt“. Nein, 
Stammler iſt Feiner jener Markt- 
ſchreier und Anpreiſer, die durch viel 
¶ armen die Leute aufmerkſam machen 
wollen für ihre Ware. Wohl kann auch 
er zuͤrnen, wenn er der Bequemlichen, 
wenn er der Schändung deutſcher Sei⸗ 
ligtůmer denkt. Aber fein Beſtes, was 
er gibt, iſt das: er zeigt in allen Fragen 


416 


die tiefe Wirklichkeit, ihe Weſen, und 
er weift uns die Richtung auf den Nord⸗ 
pol hin, das ewige Jiel. 

Bein Grund zur Verzweiflung l Das 

Weſen des Deutſchen hat ſich nur ver ; 
krochen, atmet nicht mehr nach außen. 
Überall find wir in fremde Formen ein- 
geſchlůpft und das bringt ohne Zweifel 
Gefahren mit ſich fuͤr unſer Blut, un⸗ 
ſere Freiheit, unſere Geſundheit, un⸗ 
feen Beſtand. Stadt und Land, Arbei- 
terſchaft und Bauernſtand, haben eine 
unglückliche Entwicklung genommen 
in ihrer Geſchichte. Eine verbängnis- 
volle Rolle ſpielte das eindringende 
roͤmiſche Recht. Aus dem bei aller ſach ; 
lichen Gebundenheit dennoch freien 
mitſchaffen aller Deutſchen am Staats · 
leben, das noch im Mittelalter vorban- 
den war, wurde das ſchlimme Verbaͤlt⸗ 
nis von Serr und Anecht, von Sürft 
und Untertan, von Ausbeuter und ent- 
rechteter Maſſe. All maͤhlich bildete ſich 
das heutige, volks fremde Staatsbuͤrger⸗ 
tum heraus, die Geſellſchaft an Stelle 
der Gemeinſchaft und der Privatnutzen 
an Stelle des Gemeinnutzens. 
Was wir jetzt brauchen, iſt eine neue 
Fuͤhrerſchaft, die wieder tief im Volke 
wurzelt und die in ihre Verantwortung 
gegen den Gottgedanken kennt, der es 
geſtalte t. Der Fuͤhrergeiſt muß auch in 
den Berufen Einzug halten und an 
Stelle des bloßen Fachgeiſtes treten. 
Und wir brauchen Lebenserneuerung, 
ein Gefühl der Einheit von Leib und 
Seele. Echte Leibeszucht — das heißt 
nicht engherziges Reformertum, fon- 
dern Befreiung der beften Bräfte in 
uns zum Dienſte am Volk! 

Wir wollen uns ſchon jetzt fuͤhlen als 
ein Glied einer zukuͤnftigen Volksge⸗ 
meinſchaft und in dieſem Sinne ſchaffen. 
Wir wollen mit dem, was wir ſind, 
dienen. Vom Opfer lebt das Leben. 
Und wahre Freude beſteht nur, wo 
Jucht iſt. So klangen die Gedanken 
aus. Freilich wird die Not noch größer 
werden, aber ſie wird dazu dienen, das 


Kulturpolitiſcher Arbeitsbericht 


deutſche Volk „lebendig zu ſchlagen , wie 
Emil Gòͤtt ſagt. Deß ſind auch wir gewiß! 

Wer weiteres erfahren will, der 
wende ſich an die Kanzlei der Deutſchen 
Richtwochen in Mählbaufen in Thuͤ⸗ 
ringen. Mithilfe tut einem ſolchen 
Werke dringend not, ſei es, daß man 
den Boden fuͤr eine Woche vorbereitet, 
oder ſei es, daß man die wirtſchaft⸗ 
lichen Grundlagen der Arbeit unter⸗ 
ftögt. Die Richtwochen find ein Er⸗ 
zie hungswerk, das die ernſte Beach⸗ 
tung aller Breife verdient, die ſich für 
ein neues Volkswerden verantwortlich 
fühlen. Tun wir demnach l Otto Schmid 


Sommerfurfe | 1926 veranftalten 
die unten angegebenen Labanſchulen 
Ferienkurſe in der Waldkolonie (Natur⸗ 
park) bei Wurzburg, auf dem Gelaͤnde 
der neu gegründeten Akademie für 
Tanzkunſt. Die Burfe der einzelnen 
Schulen geben eine Einfuhrung in die 
Cabangyvmnaſtik und die Elemente 
der Bewegungslehre. Daruber hinaus 
werden ſaͤmtliche Teilnehmer zu leben- 
diger taͤnzeriſcher Gemeinſchafts arbeit 
zuſammengefuͤhrt durch choriſche 
Gruppe nſpiele unter perſoͤnlicher 
Leitung Rudolf von Labans, Die 
Burfe können in beliebiger Dauer, von 
14 Tagen an, belegt werden. Einheits⸗ 
preis für 14 Tage, bei einer Doppel; 
ſtunde taͤglich M 30.—. Unterkunft 
und Verpflegung, je nach Anſpruͤchen, 
werden bei feſter Anmeldung vermittelt. 
Naͤbere Auskunft und Anmeldungen 
(bis Jo. Mai. Später nur in Ausnahme⸗ 
fällen) bei den Bursleitern. 

El- Corret, München, Mandlſtr. 3b. 

Sertha Fe iſt, Berlin - Salenſee, 
Georg · Wilhelm ⸗Straße 9 —1 1 

Martin Gleisner, Jena, Diet 
richsweg ] Il. 

Albrecht Anuſt, 
Schwanenwik 38, 

Cotte Wedekind, Berlin, Bleift- 
ſtraße Jo. 


Zamburg 24. 


Schriftleiter: Dr. h. e. Eugen Diederichs, Jena, Carl -Jeiß - Platz 5. Bei unverlangter Juſendung 
von Manuſkripten it Porto für Rücfendung beizufügen. — Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 
Druck von Radelli & Sille in Zeipzig 


Monatsſchri 
deutſcher Kultur 


Js. Jahrgang Heft 6 September 1926 
— — — 


8. Stäbler / Chriſtoph Schrempf 


Cortſetzung und Schluß) 
III 

a es ſich in dieſem Artikel nur darum handeln kann, die eigentuͤm⸗ 
| liche Art des Schrempfſchen Denkens moͤglichſt klar wiederzugeben, 

indem wir verſchiedene für fein öffentliches Auftreten weſentliche 
Zeitpunkte herausheben und an ihnen feine Entwicklung, aber auch feine 
gleichbleibende Grundeigenart andeuten, uͤberſpringen wir wieder zwanzig 
Jahre feines Lebens. 1920 veroffentlichte der Sechzigjaͤhrige, der in⸗ 
zwiſchen natuͤrlich mancherlei herausgegeben hatte, fein zweites Saupt- 
werk: Dom offentlichen Geheimnis des Lebens (Verlag From⸗ 
mann, Stuttgart). 

In der erſten von uns beſprochenen Schrift ſuchte Schrempf nach einem 
fein Leben beſtimmenden kategoriſchen Imperativ. In „Menſchenlos“ 
ſehen wir, wie ſich der Wahn der freien Selbſtbeſtimmung in Schrempf 
zerſetzt: der Menſch kann nicht ſein Leben durch ein unbedingtes Wollen 
geſtalten; er wird gelebt. Und kann nichts anderes tun, als ſich leben 
laſſen. „Doch entſpricht ein bloßes Sich⸗leben⸗laſſen meiner Natur durch⸗ 
aus nicht. Ich mußte und muß alſo eine mir entſprechende Form 
aktiven Lebens finden.“ 

Achten wir alſo beim Durchblaͤttern des Buches zunaͤchſt auf dieſe Frage. 

Das Buch gliedert ſich in drei Abſchnitte: Der Heiland, von Gott, vom 
ewigen Leben. 

Im Lauf feiner Darſtellung Jeſu, die ſich gegenüber der in „Menſchen⸗ 
los“ an einigen Punkten ſtark geaͤndert hat, kommt Schrempf auf die 
entſcheidende Frage, zu der Jeſus ihn immer wieder veranlaßt: „Kann 
Jeſus mir wirklich zu etwas verhelfen, was ich mir ſelbſt nicht verſchaffen 
kann?“ Man braucht Jeſus nicht zu allem. „Zur Entlaſtung von, Pflicht“ 
und ‚Schuld‘, von Unzufriedenheit und Neid, von der Wichtigtuerei der 
Lat vin 28 


418 F. Staͤbler 


Sorge brauche ich Jeſus nicht.“ „Die Entlaſtung von „Pflicht und 
‚Schuld‘ aber hat mich auf einen toten Punkt gebracht, über den ich mir 
ſelbſt nicht hinweghelfen kann. Der Druck von Pflicht und Schuld war 
doch auch eine bewegende Kraft; ſeit er weg iſt, ſtehe ich eigentlich ſtill. 
Oder, da mir Stilleſitzen unmoglich iſt: Ich bin ſeither wohl noch taͤtig, 
habe aber ſtreng genommen nichts mehr zu tun.“ „Sier verſagt meine 
eigene Kraft. Kann mir Jeſus weiterhelfen? 

Was iſt in der Verbindung mit Jeſus zu lernen? 

Der Blick auf ihn erſchwert das Klagen. Der Blick auf ihn zeigt, was 
einem eigentlich fehlt. 

Das Geheimnis ſeiner Kraft aber iſt: 

„Daß er unter einem Zwang der Liebe ſteht, die ihm das Dienen zu 
einer Freude macht, worin alle Anſtrengung, die es erfordert, alles Leiden, 
das es nach ſich zieht, untergeht; 

Daß er nicht bloß ins Allgemeine liebt, ſondern ſich mit einem be⸗ 
ſtimmten Auftrag betraut weiß; ſo daß er nicht nur weiß, was er zu tun 
hat, ſondern auch weiß, daß er nicht vergeblich arbeitet; 

Daß er als Geſandter auch weiß: was ihm zuſtoßen mag, Boͤſes wie 
Gutes, ſei auf die Erfuͤllung feiner Sendung abgezweckt, fo daß er auf 
keinen günftigen Zufall zu warten braucht, keinen tuͤckiſchen Zufall zu 
fuͤrchten braucht; 

Daß er in dem Tod kein Ende ſieht, nur die Verſetzung in eine voll⸗ 
kommenere Form des Lebens, das er jetzt ſchon als fein wirkliches Leben 
lebt; wobei alle für ihn wirkliche Freude Freude bleibt, das Leiden aber 
zu einer bloßen Reiſebeſchwerde herabſinkt, die bloß uͤberſtanden werden 
muß.“ 

Aber wie kann von Jeſus gelernt werden? Jeſu Kraft, Glauben, Liebe 
kann nicht durch einen Zauber uͤbergeleitet werden: „Rein Sakrament, 
auch kein Beten, auch kein Glauben hat dieſe Kraft.“ „Es hat auch keinen 
Wert, Jeſus glauben zu wollen.“ „Es iſt unmoglich, von dem wirklich 
uͤberzeugt zu werden, was man glauben will.“ „Man kann nur auf Jeſus 
hoͤren und dann abwarten.“ „Das weitere muß und wird fi von ſelbſt 
ergeben — nicht im Verlauf der naͤchſten fünf Minuten oder fünf Stunden 
oder fünf Tage oder fünf Wochen oder fünf Monate; aber vielleicht im 
Verlauf der naͤchſten fuͤnf Jahre. Es koͤnnen aber auch zehn, zwanzig, 
fuͤnfzig Jahre werden.“ 

„Der wirkliche Fortſchritt in der Schule Jeſu geſchieht dadurch, daß ſich 
im Verkehr mit Jeſus, durch den Einfluß Jeſu, der Sinn wandelt.“ „Dabei 
handelt es ſich weſentlich um das eine: Daß es immer anmaßender, aͤrm⸗ 
licher, unnatuͤrlicher erſcheint, ſich dienen zu laſſen; und daß andererſeits 
zu dienen immer ſelbſtverſtaͤndlicher, natürlicher, auch größer erfcheint.” 
So kann man von Jeſus Liebe lernen. Liebe iſt keine Naturgabe, 
Liebe wird nur gelernt. Wer fie lernt, lernt damit auch, was er in Liebe 


Chriſtoph Shrempf 419 


dem andern als wirklich guten Dienſt leiſten kann, findet alſo in ihr die 
entſprechende Form aktiven Lebens. — — 

Was Schrempf im Abſchnitt „von Gott“ geſchrieben hat, gehoͤrt wohl 
zum bedeutendſten, was er überhaupt geſchrieben hat. Es zeigt am deut⸗ 
lichſten, wie ſtark er ſich weiterentwickelt hat. Aber es gehoͤrt auch zum 
ſchwerſten. Denn dem ganzen Abſchnitt liegt ein beſtimmtes Erlebnis zu- 
grunde, ein beſtimmtes Erleben einer beſtimmten Seite der Wirklichkeit. 
wer dieſes Erlebnis nicht kennt, kann eigentlich nicht verſtehen, was hier 
von Schrempf ausgefuͤhrt iſt. 

Um es gleich zu ſagen: das von Schrempf angedeutete Erlebnis der 
Wirklichkeit „Gott“ kenne ich nicht. 

Ich muß alſo den Leſer in noch viel ſtaͤrkerem Maße als bisher auf das 
Zefen der Schrempfſchen Schriften ſelbſt verweiſen und kann gerade bier, 
wo Ausfuͤhrlichkeit und Anlehnung an den Wortlaut beſonders not; 
wendig waͤren, nur eine kurze Andeutung ohne viele Zitate machen. 

Gibt es etwas, das man mit gutem Sinn als „Gott“ bezeichnen kann, 
ſo muß es die eigentliche Wirklichkeit, die Wirklichkeit, die aller Wirlichkeit 
zugrunde liegt, ſein. Wirklichkeit kann jeder Einzelne aber nur fuͤr ſich 
aus ſeinem Erleben der Wirklichkeit heraus feſtſtellen. Alſo gilt es, und 
darauf laͤuft alles reelle Nachdenken uͤber Gott immer wieder hinaus, in 
ſeinem eigenen Erleben der Wirklichkeit nachzuſehen, ob man auf etwas 
geſtoßen iſt, was man nicht anders bezeichnen kann als etwa „Gott“. 
Naturlich wird man auch bei anderen Menſchen nachſehen, auf welche 
Wirklichkeit fie in ihrem Leben geſtoßen find, was ihren Ausſagen über 
Gott an Wirklichkeit zugrunde liegt. Aber von einem ſelbſt geſchaute 
Wirklichkeit wird fie nur als eigenes Erlebnis. 

An der von Schrempf aus feinem Leben heraus erlebten und geſchauten 
wirklichkeit „Gott“ iſt mir etwa folgendes noch verſtaͤndlich; doch mehr 
logiſch, als aus eigenem Erleben heraus: Im Zeben des Menſchen ſpielt 
der „Zufall“ eine große Kolle. Es iſt ein bedeutſamer „Zufall“, welche 
Eltern man ſich auserleſen hat. Es iſt ein bedeutſamer „Zufall“, in welchem 
Milieu man aufwaͤchſt. Wichtiger iſt, alſo ein umſo bedeutſamerer „Zufall“, 
mit welchen Perſoͤnlichkeiten man in ſeinem Leben zuſammengefuͤhrt 
wird, in welchem Stadium ſeines Lebens man mit ihnen zuſammentrifft; 
es iſt insbeſondere einer der bedeutſamſten „Zufaͤlle“, mit welchem Men · 
ſchen man das innigſte Erlebnis perſoͤnlicher Verbindung erlebt uſw. Nur 
eine andere Form, aber dieſelbe Erſcheinung des Zebens iſt es, daß alles 
„immer anders geht, als man ſich's gedacht“ hat, daß jedes Erlebnis, vor 
dem man ahnend, hoffend, ſehnſuͤchtig ſteht, nachher — durch irgendeinen 
Zufall, aber auch, weil man ſichs falſch vorgeſtellt hatte — anders wird, 
als man glaubte. 

Dieſe „Zufälle” nehmen keine Rüdficht aufeinander. Sie nehmen auch 
keine Ruͤckſicht auf den Menſchen: bald find fie glüdliche, bald zerſtoͤren 

28° 


4209 $. Stäbler 


fie das Glück. Sie ſcheinen, als zufällig, eben willkürlich, unberechenbar 
und weſentlich betrachtet, ſinnlos zu fein. 

Nun kann es aber fein, daß ein Menſch im Verlauf feines Lebens ruck 
waͤrtsblickend immer wieder entdeckt, daß durch alle dieſe Zufaͤlle hindurch, 
mit Silfe dieſer Zufaͤlle das Leben ſich in einer ganz beſtimmten Richtung ent · 
wickelt hat. Nicht ſo, wie man es ſich gedacht hat, nicht ſo, wie man es ſich 
gewuͤnſcht hat, nicht fo, wie man es willentlich geſtalten wollte, aber fo, 
daß man, was dabei herauskommt, doch nicht verwuͤnſchen 
kann. Man ſieht oder ahnt hinter all dieſen Zufaͤllen einen Zuſammen⸗ 
hang. Nicht, daß man dieſen Zuſammenhang in die Zufaͤlle hineindeutet. 
Nein. Er ſpringt einem unwillkuͤrlich, in Augenblicken, wo man deſſen 
gar nicht gewaͤrtig iſt, plotzlich entgegen, als eine Wirklichkeit, der 
man ſich nicht verſchließen kann. 

Doch iſt weſentlich, daß man das immer erſt hinterdrein entdeckt. Und 
dieſe Entdeckung iſt fo, daß fie keine Schluͤſſe auf die Zukunft zulaͤßt. Was 
einem zuftößt, behaͤlt den Charakter des Zufälligen, alſo Unberechen⸗ 
baren. Es kommt nach wie vor immer wieder anders, als man es ſich 
denkt. Es kann ſich in einem nur das Zutrauen, daß auch die neuen Ju⸗ 
faͤlle in ſinnvollem Zuſammenhang mit dem Bisherigen des Lebens ſtehen 
werden, ſteigern. Gewißheit kann es nicht werden. Kiskiert iſt es immer. 
Und worin der Zuſammenhang beſteht, wird einem immer nur ungewollt, 
uͤberraſchend hinterher offenbar. 

So viel etwa verſtehe ich auf Schrempf hoͤrend von dieſer durch die an⸗ 
ſcheinend ſinnloſen Iufälle hindurch ſich offenbarenden Wirklichkeit. Ich 
verſtehe auch, daß, wenn dieſe Wirklichkeit iſt, ihre Offenbarung an keine 
Zeit und an keine Perſon gebunden iſt, daß fie alſo auch Bedeutung für 
mich gewinnen kann. Ich verſtehe endlich noch, daß dieſe Wirklichkeit 
ſicherlich keine Ruͤckſicht nimmt auf die wuͤnſche des Menſchen, daß alſo 
das von ihr ausgehende Leben ein Leben jenfeits von Luſt und Leid iſt, 
daß dieſe Wirklichkeit auch keine Ruͤckſicht nimmt auf das ſittliche Urteil 
des Menſchen — das von ihr ausgehende Leben iſt jenſeits von gut und 
boͤſe —, daß in dieſer Wirklichkeit alle Vorſaͤtzlichkeit und Abſichtlichkeit 
untergeht. Aber kennen tue ich dieſe Wirklichkeit trotzdem nicht! 

Doch haben die in dem Abſchnitt „von Gott“ ausgeführten Gedanken 
Schrempfs fuͤr mich eine andere, mir viel weſentlichere Bedeutung. Er hat 
mir klar gemacht, daß das reelle Nachdenken uͤber Gott ausgehen muß 
von der Frage nach der Wirklichkeit. Sehe ich aus meinem Leben heraus 
eine Wirklichkeit, die ich mit Sinn Gott nennen kann? Das iſt die Frage, 
auf die er mich hindraͤngt. Alſo muß ich beiſeite legen, was mir in Schule 
und Religions unterricht und ſonſt an Meinungen über Gott beige⸗ 
bracht wurde. Stoße ich aber in meinem Leben auf keine ſolche Wirklich 
keit, ſo iſt es das Beſte, ich ſtreiche das Wort Gott aus meinem Leben. 
Nicht fo, daß ich deſſen Wirklichkeit leugne. Wie kann ich eine Wirklich; 


Chriſtoph Schrempf 121 


keit leugnen, von der ſo ſolide Denker wie Schrempf als von etwas wirklich 
Erlebtem reden! Aber ſo, daß ich dieſe Wirklichkeit einfach ignoriere, oder 
beſſer, da ich eigentlich nicht ignorieren kann, was ich nicht kenne, daß ich 
mir einfach meinen Tatbeſtand nüchtern klarmache, und der iſt, daß ich 
mein Leben lebe und leben muß ohne Gott. Auch das läßt ſich bei Schrempf 
lernen. — — 

Verſtaͤndlicher iſt mir wieder, was Schrempf in dem 3. Abſchnitt feines 
Buches ausfuͤhrt: vom ewigen Leben. Wichtig iſt auch hier, Schrempfs 
Tendenz richtig zu erfaſſen. Er bricht keine Lanze fuͤr den Glauben an das 
ewige Leben. Er will gewiß niemand zum Glauben an das ewige Leben 
überreden. Der beſte Beweis dafür, daß ihm das ferne liegt, iſt, daß er ſich 
an feinen eigenen Glauben an das ewige Leben in keiner Weiſe gebunden 
fühlt. Sat er ihn (oder beſſer, hat der Glaube ihn), fo hat er ihn, hat er 
ihn nicht, ſo iſt er der letzte, der ihn zu halten verſucht. 

Alſo kann er auch das ewige Leben nicht poſtulieren. Das ewige Leben 
iſt entweder Wirklichkeit oder es iſt nicht Wirklichkeit. Daran wird nichts 
geändert, ob man an das ewige Leben glaubt oder nicht glaubt, ob man es 
poſtuliert oder nicht poſtuliert. Wer das eingeſehen hat, dem vergeht mit 
der Sinnloſigkeit des Poſtulierens das Poſtulieren. 

Dagegen iſt es möglich, auf Wirklichkeiten im Leben hinzuweiſen, unter 
deren Erleben ſich der Glaube an ewiges Leben unmittelbar und unwill ; 
kuͤrlich und ſinn voll einſtellt. Damit iſt das „ewige Leben” nicht „bewieſen “. 
Es bleibt alſo offene Frage, ob „ewiges Leben” Wirklichkeit iſt oder nicht. 
Aber beweiſen laͤßt ſich hier auch nichts. Die Antwort auf dieſe offene 
Frage iſt, wenn fie überhaupt erlebt wird, nur durch den Tod hindurch zu 
erleben. 

Die Tatbeſtaͤnde des Lebens, die hier in Betracht kommen, ſind etwa 
folgende: | 

Der Menſch wird, entwickelt fi, hat eine Geſchichte. Seine eigentliche 
Geſchichte iſt durch folgende Beſtrebungen beſtimmt: 

„Erſtens babe ich das urſpruͤngliche, unwillkuͤrliche Beſtreben, die Wirk⸗ 
lichkeit, in der ich lebe, kennenzulernen, zu uͤberſchauen und zu durch⸗ 
ſchauen.“ 

„Zweitens habe ich das unwillkuͤrliche, urſpruͤngliche Beſtreben, mich 
mit Meinesgleichen zu verſtaͤndigen und zu verbinden.“ 

„Drittens habe ich das urſpruͤngliche, unwillkuͤrliche Beſtreben, was ich 
im Einzelnen erlebe, zu einer Einheit des Lebens zu verarbeiten, indem 
ich mich über mein Erleben mit mir ſelbſt zu verſtaͤndigen und das mir zu⸗ 
gewobene Gewebe meines Lebens nach dem darin angedeuteten Muſter 
weiterzuweben verfuche.” 

„Dieſes dreifache Beſtreben aber, in deſſen Durchfuͤhrung meine eigent- 
liche Geſchichte beſteht, kann und will ich nicht aufgeben, obgleich ich deut 
lich ſehe, daß ich es bis zu meinem Tode nicht zu Ende fuͤhren kann, alſo 


222 J. Stäbler 


in meinem Tode das Drama meines Lebens nicht vollendet, nur abge 
brochen wird. Und dabei draͤngt ſich mir ſogar, je laͤnger ich lebe, deſto 
mächtiger das Urteil auf, daß an der Länge des Lebens weniger liegt, als 
an dem Stil des Lebens, die Sorge um die Erhaltung des Lebens alſo 
der Sorge um den Stil des Lebens untergeordnet werden muß.“ 

Dieſe Beobachtung der Wirklichkeit des eigenen Lebens ſtimmt mit der 
Beobachtung des wirklichen Lebens der anderen Menſchen überein. 

Es gibt kein Menſchenleben, das nicht den Eindruck eines bloßen Frag · 
ments machte. 

„Es gibt nicht wenige Menſchen, die das Leben aufs Spiel geſetzt haben, 
um dem Drang der Erkenntnis, der Liebe zu genügen ; die ſich das Leben 
lieber nehmen ließen, als daß fie ſich das Leben verpfuſcht hätten — ob- 
gleich fie ja, wenn fie das Leben verloren hatten, an dem Drama ihres 
Lebens nicht mehr weiterarbeiten konnten.“ 

Wie iſt das zu erklaͤren? 

„Daß ich nach Unerreichbarem ſtrebe, und in dem Streben nach Unerreich⸗ 
barem ſogar die Möglichkeit des Strebens aufs Spiel ſetze: das tue ich 
nicht aus Gruͤnden, mit einer Abſicht, ſondern weil ich muß, in einem 
gewiſſen Inſtinkt. Und dieſer Inſtinkt iſt von der Ahnung begleitet, daß 
das nicht fuͤr nichts iſt, daß ich gerade ſo mein Streben durchſetze; daß das 
eben, das mir als mein Leben (als das Leben meines in der Entwicklung 
und SGeſchichte erſt entſtehenden und wachſenden Ichs) im Sinn liegt, 
überhaupt erſt durch den Tod erreicht werden kann. Der Inſtinkt für das 
ewige Leben erzeugt die Ahnung ewigen Lebens. Deshalb erreicht die 
Ahnung ewigen Lebens dann die hoͤchſte Klarheit und Stärke, wenn 
durch Gefaͤhrdung des eigentlichen Lebens, das mir im Sinne liegt, der 
Inſtinkt fuͤr deſſen Erhaltung aufgereizt wird. Verſchwindet die Gefahr, 
ſo tritt der Inſtinkt außer Taͤtigkeit und dann verblaßt auch die Ahnung 
zu einer Meinung, die gerade noch ihre Möglichkeit behauptet. Die Leb; 
haftigkeit der Ahnung ſteht in geradem Verhaͤltnis zu der lebendigen Kraft 
des Inſtinkts; und dieſe ſteht in geradem Verhaͤltnis zu der Dringlichkeit 
der Gefahr.“ | 

„Von diefer Erfahrung aus verftebe ich meine Geſchichte als einen 
Kampf um mein Leben: naͤmlich um das Leben, das ich allein als mein 
Leben anerkenne. Aber ich kaͤmpfe darin, wie ſich von ſelbſt verſteht, nicht 
bloß um deſſen Erhaltung, ſondern auch um deſſen Erweiterung, Stei⸗ 
gerung, Klärung, Konzentration, Abrundung — zu ewigem Leben. Wohl 
gemerkt: als einen Rampf um das ewige Leben; nicht um den Glauben 
an das ewige Zeben. Um den kaͤmpfe ich nicht. wozu auch? Der ſtellt 
ſich mit der Notwendigkeit des Kampfes um das ewige Leben von ſelbſt 
ein.” 

„Wie lange ſich nun diefer Rampf hinziehen mag, kann ich nicht über: 
ſchauen. Das aber iſt mir klar: daß er fur mich mit meinem Tode noch nicht 


Cbriſtoph Schrempf 123 


zu Ende gekämpft iſt. Und nun glaube ich, daß die Stetigkeit meiner Ent⸗ 
wicklung, die ich in dem mir ſichtbaren Teil meines Lebens mit gen ⸗ 
gender Sicherheit erkenne, auch durch den Tod nicht unterbrochen werden 
wird. Ich erwarte alſo nicht, daß ich ſterbend einen Sprung ins ewige 
Leben mache. Vielmehr werde ich den Rampf um das Leben, das ich 
ſchon in dieſem Leben allein als mein Leben erkenne und anerkenne, in 
einem anderen Leben nur fortſetzen. Irgendwie, doch fo, daß ich die 
weſentlichen Kämpfe in der Entwicklung zum ewigen Leben, die ich in 
meinem jetzigen Leben nicht ſiegreich zu Ende gekaͤmpft habe, wieder auf: 
nehmen muß.“ | 

Dann iſt aber ſelbſtverſtaͤndlich, daß die jetzige Stufe nicht nur Ergebnis 
der Entwicklung ſeit der Geburt iſt, ſondern daß die eigentliche Geſchichte 
der einzelnen menſchlichen Perfönlichkeiten ſchon viel älter und länger iſt. 
Die Unterſchiede unter den Menſchen, die unzweifelhaft vorhanden ſind, 
wuͤrden, weſentlich betrachtet, in der Verſchiedenheit ihres Ewigkeits 
alters liegen. 

IV 

ch mußte annehmen, daß die wenigſten Lefer dieſes Artikels Schrempf 

naͤher oder uͤberhaupt kennen. Deshalb habe ich ihn bei der Beſprechung 
feiner Sauptwerke fo ausführlich felbft zu Worte kommen laſſen. Damit 
hoffe ich erreicht zu haben, daß der Leſer einen unmittelbaren Eindruck 
von ſeiner Eigenart bekommen hat. Doch war ich bei dieſer Wiedergabe 
feiner Gedanken genoͤtigt, mich an einen kleinen Ausſchnitt des in dieſen 
Buͤchern Dargeſtellten eng anzuſchließen. Dadurch konnte manches nicht 
deutlich, manches uberhaupt nicht hervortreten, was für das Verſtaͤndnis 
Schrempfs doch weſentlich iſt. Ich muß alſo noch ä in freier Dar; 
ſtellung einiges nachzuholen. 

Schrempf geht bei der Beurteilung des Menſchen von der Frage aus: 
was iſt das Element, in dem der Einzelne ſich wohl und natuͤrlich befindet? 
wenden wir dieſe Frage ſofort auch auf ihn an. 

Offenbar befindet ſich Schrempf in dem, was „dieſe Welt“ an Schaͤtzen 
und Gutem zu geben bat, nicht in feinem Element. Er fuͤhlt ſich nicht 
eben wohl in ſeiner Saut. Die Gruͤnde dafuͤr hat er einmal in einem nicht 
veröffentlichten Entwurf eines Nachwortes angedeutet. Ich muß ſie aus 
dem Gedaͤchtnis wiedergeben. 

Um in „ dieſer welt“ leben zu koͤnnen, muß man über ein gewiſſes maß 
von Robuftizität verfügen. Nun beſitzt Schrempf auch feine Robuſtizitaͤt. 
Er iſt ein, was man ſo heißt, kerngeſunder Menſch, koͤrperlich betrachtet. 
Er iſt 3. B. viel zu robuſt, um „okkulte ! Dinge erleben zu koͤnnen. Auch in 
feinem Denken beſitzt er Robuſtizitaͤt. Er faßt die Probleme des Lebens 
nicht mit Samthandſchuhen an. Was er zerſtoͤren kann — weil es naͤmlich 
unecht, Schein iſt, Echtes läßt ſich nicht zerſtoͤren —, das zerſtoͤrt er, uner- 
bittlich, roh, grob. Aber dann beſitzt er doch in feinem Gemuͤt eine Weich; 


424 F. Stäbler 


beit, eine Empfindſamkeit, die man nicht vermutet. Um es ſofort auf den 
Begriff zu bringen: er empfindet die ZLiebloſigkeit, die in der Welt iſt, 
aufs Schaͤrfſte. Und gerade dafuͤr ſollte ein Menſch Robuſtizitaͤt beſitzen. 
Denn kann ein Menſch, dem es eine innere Qual iſt, mit einem andern um 
irgend welchen Beſitz zu ſtreiten, dem alle Konkurrenz innere Unmoͤglich⸗ 
keit iſt, der aufs aͤußerſte dafuͤr empfindſam iſt, nicht, daß man ihm zu 
nahe tritt, ſondern daß er einem Menſchen zu nahe tritt — kann ein 
menſch das Leben auf „dieſer Welt“ mit Freudigkeit durchleben? Und 
bringt nicht gerade die Liebe, die fern von aller Exkluſivitaͤt jeden, mit 
dem das Schickſal einen ernſthaft zuſammenfuͤhrt, zu umfaſſen ſucht, 
in die ſchwerſten inneren Noͤte, kann nicht gerade der, der in Liebe ſich 
vergißt, in dieſem Vergeſſen die größte Ciebloſigkeit begehen? Das Leiden 
unter den unvermeidlichen Liebloſigkeiten des eigenen Lebens, das Mit⸗ 
leiden unter der Lieblofigkeit, die den Menſchen um einen herum zuftößt, 
die erdrůͤckende Schauerlichkeit, die aus der, faſt möchte man ſagen, aus 
Aiebloſigkeit zuſammengeſetzten Welt einem entgegenſpringt — fie find 
es, die Schrempf in „dieſer Welt“ vor allem nicht heimiſch werden laſſen, 
die; den eigentlichen Stachel in feinem Denken immer wieder bilden. Denn 
daß ein unbedingt lebenswertes Leben nur in einem Zeben felbfiver- 
geſſener Gůte beſtehen kann, daran hat er nie gezweifelt. Aber gibt es das? 
Iſt ein ſolches Leben dem Menſchen uberhaupt möglich? Und gibt es eine 
Macht hinter allem, die aus Liebe die Welt fo geſchaffen hat, wie fie iſt? 
Worin kann dann bei dieſer anſcheinenden Liebloſigkeit die Liebe be⸗ 
ſtehen? 

Schrempf iſt noch mit etwas zweitem behaftet, das das Leben in dieſer 
Welt empfindlich erſchwert. Jeder Menſch hat fein eigenes Maß von Bieg- 
ſamkeit und Sproͤdigkeit. Man muß, um mit den Menſchen zuſammen⸗ 
leben zu konnen, nachgeben koͤnnen. Nun iſt Schrempf durchaus kein recht; 
haberiſcher Menſch. Machtbeſtrebungen gar liegen ihm voͤllig fern. In den 
meiſten Faͤllen gibt er ohne weiteres nach. Sie ſind ihm einen Streit nicht 
wert. Aber dann gibt es Dinge, in denen fuͤr ihn ein Nachgeben gar nicht 
in Frage kommt, wo er unerbittlich, unerweichlich iſt, wo ſeine Natur 
eine unuͤberwindliche Sproͤdigkeit beſitzt. Das hat fi in feinem Pfarr 
amt gezeigt. Das zeigt ſich auch ſonſt in feinem Zuſammenleben mit Men⸗ 
ſchen. Dieſe Unbedingtheit, die, wenn ſie in die Erſcheinung tritt, keine 
Kuͤckſichten kennt, macht das Leben nicht leicht, erſchwert es vielmehr 
außerordentlich. . 

Endlich beſitzt Schrempf eine Leidenſchaft, die es wiederum erſchwert, 
im Leben heimiſch zu werden. Er iſt beherrſcht von der Leidenfchaft des 
Denkens, vom Suchen nach Wahrheit. Dieſe Leidenſchaft führt zur Ke · 
flerion. Reflexion ſteigert die Bewußtheit des Lebens. Bewußtheit aber 
tötet die Unmittelbarkeit, alles Natuͤrlich ⸗ inſtinktive des Lebens. Schrempf 
iſt, um einen vielberuͤchtigten Ausdruck der modernen Pſychologie zu be⸗ 


Cbriſtoph Schrempf 125 


nuͤtzen, voller „emmungen ! Die Bewußtheit und Reflektiertheit unter⸗ 
bricht den Rhythmus des Lebens. 

So iſt es kein Wunder, daß Schrempf ſich nicht heimiſch fuͤhlt auf dieſer 
welt, ſich in ihr nicht in ſeinem Element fuͤhlt. Aber das Merkwuͤrdige 
dabei iſt: er kann dieſe zweifelhafte Mitgift der Natur und feine in dieſer 
Richtung verſchaͤrfend wirkende Entwicklung nicht verneinen, nicht be⸗ 
dauern. Er kann gar nicht wollen, daß er weniger empfindlich fein möge 
für Liebe und Ziebloſigkeit, daß er in wichtigen Dingen des Lebens bieg- 
ſamer, daß ſein Suchen nach Wahrheit ſchwaͤcher ſei. Gerade darin liegt 
ja die Groͤße eines Menſchen, liegt ſeine Wuͤrde. Und wenn dieſe Dinge 
das Zeben erſchweren und hemmen, liegt in ihnen nicht gerade ſtarkes, 
großes Leben? 

Wenn ein Menſch in dieſer Stimmung lebt, leben muß, daß er ſich auf 
der einen Seite nicht heimiſch fuͤhlt, auf der andern Seite darin, was ihm 
das Leben unheimiſch macht gerade das erlebt, was dem Zeben Wert gibt, 
ſo kommt er dem Zeben gegenuͤber in ein merkwuͤrdig geſpaltenes Ver⸗ 
haͤltnis. Er kann es nicht bejahen — dazu birgt es zuviel Leiden — er 
kann es nicht verneinen — dazu hat es zu ſtarke Anſaͤtze, die auf die Moͤg⸗ 
lichkeit unbedingten Lebens hindeuten —, er muß es ſich gefallen laſſen, 
in einer, zwiſchen Bejahung und Verneinung vibrierenden Lebensftim- 
mung bin- und hergeworfen zu werden, muß feine Stimmung dem Leben 
gegenüber in der Schwebe halten. 

Auf etwas aͤhnliches ſtoßen wir beim Denken. 

Schrempf’s beherrſchende Zeidenſchaft iſt die Ceidenſchaft des Denkens, 
das Suchen nach wahrheit. Aber nicht nach der Wahrheit einzelner end- 
licher Dinge. Was er ſucht, iſt die Idee, die über feinem Leben ſteht und 
über der Welt. Nicht als Idee der Santafie, des Wunſches, ſondern als 
Wirklichkeit. 

Nun iſt leicht einzuſehen, daß die letzten Dinge des Lebens, wenn fie 
uͤberhaupt einem Menſchen offenbar werden, doch nicht auf Befehl und 
Wunſch ſich offenbaren. Man kann Gffenbarungen nicht erzwingen, kann 
vielmehr nur abwarten, ob einem Offenbarung wird. In der Zwiſchen⸗ 
zeit kann man nur das, was man bisher an wirklichkeit glaubte erlebt 
zu haben, oder was andere einem von der von ihnen erlebten wirklich 
keit geſagt haben, daraufhin unterſuchen, ob tatſaͤchlich Wirklichkeit iſt, 
was man fuͤr A haͤlt. Es gilt e die Illuſtonen des Lebens 
zu zerſtoͤren. 

Da Schrempf dieſe zern dende Arbeit oft zum Vorwurf gemacht wird, 
muͤſſen wir hier eine Bemerkung einſchalten. Jeder Menſch kann immer 
nur wirken auf Menſchen ſeiner Art oder verwandter Art. Wem die Frage 
nach dem Sinn des Lebens, das Leben als Totalitaͤt genommen, Lebens⸗ 
frage geworden iſt, der kann nur wirken und will nur wirken auf Menſchen, 
denen dieſe Frage ebenfalls Frage ihres Lebens geworden iſt, oder die im 


426 F. Staͤbler 


Begriff ſtehen, die mit dem Aufleben dieſer Frage verbundenen Erſchuͤtte⸗ 
rungen zu durchleben. Wem aber dieſe Frage Zebensfrage geworden iſt, 
der iſt damit aus dem Bannkreis der Sitte und Ronvention, des Denkens 
wie „man“ denkt hinausgetreten. Er will Wahrheit, Wirklichkeit, will 
grundſaͤtzlich fein Leben nicht auf einer Illuſion aufbauen, iſt dank ⸗ 
bar für jedes Zerſtoͤren einer Illuſion. Wer nicht grundſaͤtzlich fo 
denkt, iſt nicht von der Frage nach dem Sinn des Lebens beherrſcht. Doch 
iſt ſolches Zerſtoͤren im Einzelfall immer ſchmerzlich. Es iſt um fo ſchmerz ⸗ 
licher weil es ohne Ruͤckſichtsloſigkeit, ohne Pietaͤtloſigkeit, ohne Ehr ⸗ 
furchtsloſigkeit dabei nicht abgeht. „Grundſaͤtzlich zum Gehorſam gegen 
Gott entſchloſſen, verweigere ich Gott grundſaͤtzlich den Gehorſam.“ „Da 
auch der Satan ſich in einen Engel des Lichts verkleiden kann, reſpektiere 
ich keinen Seiligenſchein. Ich zweifle an, was zum Zweifel irgendwelche 
Veranlaſſung gibt. Stellt mir das Daͤmoniſche die Machtfrage, ſo ſtelle 
ich dem Daͤmoniſchen die Machtfrage. Will Gott mich zwingen, fo ſoll er 
mich zwingen. Sein Recht iſt, daß er mich zwinge; mein Recht iſt, daß ich 
mich nur dem Zwang ergebe. 

welche Mittel gibt es nun, Illuſionen zu zerſtoͤren, Wirklichkeit feſt 
zuſtellen? 

Erſtes Mittel fuͤr Schrempf iſt die einfache Anwendung des geſunden 
Menſchenverſtands. Er iſt ein großer Verehrer des guten Verſtands. Da⸗ 
mit iſt er freilich ſehr unmodern. Er iſt deshalb auch laͤngſt als „Intellekt 
tualiſt“ erledigt. Sein Intellektualismus beſteht aber darin, daß er von 
der Frage nach dem Sinn des Lebens erfaßt, zur Klarlegung feiner 
Situation in erſter Linie einmal feinen Kopf benuͤtzt, rationale Tiber- 
legungen anſtellt, ſolange er ſolche uͤberhaupt anſtellen kann. 

Daß aber mit dem Verſtand nicht alles zu machen iſt, ſieht Schrempf, 
nachdem er ſeinen Verſtand gruͤndlich benuͤtzt hat, mit ſeinem Verſtand 
auch ein. Wirklichkeit laͤßt ſich in letzter Linie nur dadurch feſtſtellen, 
daß man es mit ihr riskiert, ſie dadurch, daß man ſie als Wirklichkeit 
benutzt, auf die Probe ſtellt. Von der wirklichen Geſinnung eines Menſchen 
kann ſich nur uͤberzeugen, wer es auf Grund ſeines Eindrucks von ihm 
mit ihm riskiert; von der Wahrheit der Lehre eines Menſchen kann ſich 
nur überzeugen, wer es mit dieſer ehre ernſthaft verſucht; von der 
Wahrheit, daß Gott immer ſchon fuͤr den Menſchen geſorgt habe, kann 
ſich nur überzeugen, wer feine Sorge in einem Ernſtfall einmal auf Gott 
wirft, das eben riskiert. So fpielt der Gedanke des Riſikos bei Schrempf 
eine große Kolle; es iſt gewiſſermaßen das Gegengewicht gegen den zer⸗ 
ſtoͤrenden Zweifel. | 
Die Arbeit der Zerſtoͤrung der Illuſionen, des Erprobens der Wirklich- 
keit, iſt nun eine Arbeit, die ſich auf lange Jahre, auf ein ganzes Leben 
hin erſtreckt und erſtrecken muß. Wer in ihr drin ſteckt, kommt damit 
wiederum in eine eigentuͤmliche Situation: er kann nicht leugnen, kann 


Cbriſtopb Schrempf 427 


nicht behaupten, kann nicht bejahen, kann nicht verneinen, kann was er 
noch nicht mit Sicherheit durchſchaut, feſtgeſtellt, erprobt hat, nur dahin⸗ 
geſtellt ſein laſſen, nur als offene Frage behandeln. Ahnlich wie wir 
es bei der für Schrempf charakteriſtiſchen Lebensſtimmung geſehen haben, 
kommt hier auch in das Denken dieſes Vibrieren zwiſchen ja und nein, 
dieſes das Denken in der Schwebe halten muͤſſen. So iſt es fuͤr Schrempf 
charakteriſtiſch, daß er nie vom einen Extrem ins andere uͤbergeſprungen 
iſt (als er den Gottesglauben aufgab, wurde er nicht Atheiſt), er hat viel- 
mehr alles Fixierte, das Poſitive und Negative, die Orientierung nach 
rechts oder links gleichzeitig aufgegeben, hat ſich die Moͤglichkeit nach 
jeder Richtung hin freigehalten und geſchaffen. Das konnte er allerdings 
— er hatte ja keinen Glauben mehr offiziell zu vertreten. Wer wehrte 
ihm, heute ſo zu denken, morgen ſo? Dieſe Freiheit des Denkens aber, 
die er ſich durch feine Loͤſung von allen offiziellen Banden erwarb, die 
ihn auch davon freimachte, an ſeine eigene Vergangenheit gebunden zu 
fein, fie hat ihm die Beweglichkeit und Möglichkeit, lernen zu koͤnnen 
geſchaffen. Denn dieſes Vibrieren zwiſchen ja und nein iſt der natuͤrliche 
Juſtand des Werdenden, des ſich Entwickelnden, des Lernenden. 

Iſt der Schwebezuſtand der richtige, natuͤrliche, geſunde Juſtand des 
Werdenden, fo muß er in allen Lebensäußerungen zum Ausdruck kom; 
men, kann ſich alſo nicht nur auf Lebensſtimmung und Denken, muß ſich 
vielmehr auch auf das Wollen eines Menſchen erſtrecken. 

Jeder Menſch iſt beherrſcht von dem Verlangen nach Gluͤck. In wem 
aber dieſes Verlangen ſich zu einem Verlangen nach unbedingtem Gluͤck 
verdichtet hat, wer dadurch erkennt, daß alles Einzelne im Leben feine 
richtige Beleuchtung und ſeinen eigentlichen Wert erſt vom Abſoluten 
bekommt, der kann je länger, je weniger, fein Verlangen nach Gluck auf 
einen einzelnen beſtimmten Wunſch konzentrieren. Er muß auch ſeine 
Wuͤnſche und das daraus entſpringende wollen in der Schwebe halten. 

Das aͤußert ſich darin, daß er nichts mehr erzwingen will. Das hat 
auch ſeinen Grund darin, daß man in dieſer Stimmung einſieht, daß die 
wichtigſten Dinge des Lebens unwillkuͤrlich, frei geſchehen und eintreten 
muͤſſen. Liebe kann nicht erzwungen werden. Man kann fie ſich ſinngemaͤß 
nicht ſelbſt abtrotzen und abringen, man kann ſie von keinem andern er⸗ 
zwingen. Ziebe kann nie und nimmer zur Pflicht gemacht werden, ſonſt 
iſt es keine Liebe mehr. Liebe muß wachſen, reifen, muß einem als Ge⸗ 
ſchenk, als Uberraſchung zufallen. Wer das ſieht, wer auch bei ſich ſelbſt 
die Begrenztheit der Liebe zu ſeinem Entſetzen und Schmerz ſieht, der 
kann doch nichts daran aͤndern und aͤndern wollen: er kann in ſeinem 
Sinn und Gemuͤt daran feſthalten, daß nur ein Zeben der Liebe ein 
lebenswertes Leben iſt, kann aber ein ſolches Leben nicht erzwingen. 
Sonſt iſt es gemacht, forciert, und alles Sorcierte, Gemachte iſt unecht, 
wertlos. 


$28 F. Stäbler 


Diefes Leben in der Schwebe iſt Fein leichtes Leben. Dabei ſcheint das 
Zeben fo eingerichtet zu fein, daß je ſtaͤrker ſich ein Menſch in dieſer 
Situation des ſich Entwickelns und Keifens entwickelt und reift, daß in 
gleichem Maße für ihn das Leben immer ſchwerer wird, daß er ſich im 
Leben immer weniger heimiſch fuͤhlt. 

Was ſoll das bedeuten? 

Diefe ihm aus feinem Leben und dem Leben anderer Menſchen ent- 
gegenſpringende Paradoxie drängt Schrempf unter vielen Schwankungen 
doch auch mit großer Stetigkeit immer wieder darauf hin, gerade in ihr 
den Fingerzeig, die Richtung zu ſehen, in der die Löfung des Raͤtſels 
liegt. 

In dieſen Schwierigkeiten des Lebens naͤmlich wird, waͤchſt, reift die 
menſchliche Perſoͤnlichkeit. Durch fie wird der Menſch in Zwieſpalt mit 
ſich ſelbſt gebracht; durch fie wird er zu bewußtem Leben gedraͤngt, durch 
ſie wird er genoͤtigt, ein bewußtes Verhaͤltnis zu ſich und der welt zu 
bekommen; durch ſie wird er uͤber ſich hinausgeſtoßen, durch ſie waͤchſt 
er auch hinaus über die Einzelheiten des Lebens, erwacht in ihm der 
Anſpruch und das Verlangen nach unbedingtem, abſolutem, ewigem 
Leben. 

„Die hoͤchſte Aufgabe des Menſchen ift, mit ſich ſelbſt, im ſtrengſten 
Sinne des Wortes, ins reine zu kommen. Das iſt die Sauptſache; alles 
andere iſt Nebenſache. Ob es uns beſſer oder ſchlechter geht, iſt Neben⸗ 
ſache. Fur was wir gelten, iſt Nebenſache. Das Leben ſelbſt iſt Neben⸗ 
ſache. Die Hare, ſtarke, in ſich geſchloſſene Perſoͤnlichkeit, die mit ſich ſelbſt 
über ſich ſelbſt völlig ins reine gekommen iſt: Das iſt das Endziel der 
Schule des Lebens, die wir jetzt durchlaufen.“ 


V 

N ſtarke perſoͤnliche Denker zwingt zur perſoͤnlichen Auseinanderſet⸗ 
zung. Perſoͤnliche Auseinanderſetzung iſt in und aus der Diſtanz nicht 
möglich. Wer nie mit einem Menſchen die Diſtanz verloren hat, wird ihn 
nie erkennen. Diſtanz zu verlieren iſt aber immer etwas Riskiertes. Wir 
möchten deshalb zum Schluß in aller Kürze noch auf das Riſiko hin⸗ 
weiſen, das der auf ſich nimmt, der ernſthaft von Schrempf lernen will. 
I. Man läuft bei Schrempf tatſaͤchlich Gefahr, fo in den Bann feiner 
perſoͤnlichkeit zu geraten, daß man ſich an ihn verliert. Wer uͤberhaupt 
ein Organ dafuͤr hat, ſpuͤrt auf jeder Seite von ihm, bei jedem Vortrag: 
Das geht dich an, da handelt es ſich um deine eigenſten Angelegenheiten. 
Nichts feſſelt aber ſo an einen Denker, wirkt anziehender und abſtoßender, 
abſtoßender und anziehender zugleich, wirkt ſuggeſtiver, als wenn er zu 

ſprechen vermag, wie wenn man zu ſich ſelbſt ſpraͤche. 
Auch wird einem bei Schrempf deutlich, daß nur ſolch perſoͤnliches 
Lernen, bei dem man zugleich ſich ſelbſt zu verlieren in Gefahr iſt und 


Chriſtoyh Schremyf 12 


auf ſich ſelbſt zuruͤckgeworfen wird, fruchtbares Lernen iſt. Weshalb man 
heutzutage ſo wenig vom Zernen verſteht, iſt, weil es fuͤr die groͤßte 
Schande gilt, in ſolche innere Abhaͤngigkeit von einem anderen Menſchen 
zu kommen. 

Iſt die Gefahr, ſich zu verlieren, ernſthaft da — darin liegt das Kiſiko —, 
ſo ſorgt doch das Leben, auf das Schrempf hindraͤngt, dafuͤr, daß dieſe 
Gefahr nicht zu groß werde. Muß, wie wir ſahen, das Leben immer 
mehr in der Schwebe gehalten werden, wird ferner das Leben mit fort- 
ſchreitender Entwicklung immer ſchwerer, fo iſt ein ſolches Leben auf 
die Dauer nicht auf die Autoritaͤt eines andern hin zu ertragen. Man 
wird gezwungen, auf eigenen Fuͤßen zu ſtehen oder unterzugehen. 

2. In der Schule Schrempfs wird einem das Zeben zur offenen Frage. 
man verliert den feſten Boden unter den Fuͤßen. was fuͤr ſichere Wahr⸗ 
heit gegolten hat, verflüchtigt ſich. Solange man aber unter der Frage 
ſteht, was das Leben als Ganzes zu bedeuten habe, kann man nicht 
leben. Das Leben in der Schwebe iſt der Tod des unmittelbaren, inſtink⸗ 
tiven, unreflektierten Lebens. Man muß alſo diefen Tod riskieren. 

Doch wird wohl in dieſes Sterben niemand hereingeriſſen werden, in 
dem ſich das Leben nicht ſchon von ſelbſt zu zerſetzen beginnt. Die ſelbſt⸗ 
verſtaͤndliche Ablehnung, die Schrempf allgemein erfaͤhrt, zeigt, wie ſicher 
hier der Selbſterhaltungsinſtinkt des Menſchen reagiert. 

3. Beweiſt nicht ſchon dieſes Abſterben des Lebens, daß man ſich auf 
einer falſchen Bahn bewegt? Iſt es nicht Wahnſinn, wenn der Menſch 
nach einem Generalnenner für fein Leben ſucht? Verfuͤhrt Schrempf 
nicht zu einer falſchen Frageſtellung? Und ſtellt er den Blick, ausgehend 
von diefer Srageftellung, nicht auch noch auf eine falſche Richtung ein, 
ſo daß man natuͤrlich nicht zum Erkennen der wirklichkeit kommen kann? 
Denn er geht ja aus nur vom einzelnen Menſchen, ſein Blick iſt ſtarr 
auf den einzelnen Menſchen gerichtet. Fließt aber nicht die Wahrheit aus 
der Gemeinſchaft, kann nicht erſt im Untertauchen und ſich taͤtig Ver⸗ 
lieren in der Gemeinſchaft der Sinn des Lebens erfaßt werden? 

Ich würde nicht vom „Kiſiko“ ſprechen, wenn mir ſolche Einwendungen 
nicht als ernſthaft zu nehmende Möglichkeiten Eindruck machten. Wes; 
halb fie nicht die Kraft haben, mich von der Torheit meines „Kiſikos“ 
zu uͤberzeugen, iſt, weil ich mich tatſaͤchlich nicht entſinnen kann, von 
einem Menſchen ernſthafteres, echteres Über das Verbundenſein mit an- 
deren Menſchen gebört zu haben, als von Schrempf. Alſo muß er doch 
auch darum wiſſen. Außerdem — haͤtten wir mehr Menſchen, die im 
Schrempfſchen Sinn Einzelne geworden wären, es entſtuͤnde eine andere 
Gemeinſchaft als wir fie jetzt haben. Der Weg Schrempfs iſt für die Ge⸗ 
meinſchaft voͤllig ungefaͤhrlich, denn er macht den Menſchen los von 
Selbſtſucht und dadurch faͤhiger zur Singabe. 

4. Aber wird nicht durch die gewalttaͤtige, pietaͤtloſe, zerſetzende und 


430 F. Stäbler, Chriſtoph Schrempf 


zerſtoͤrende Art des Schrempfſchen Denkens, auch durch das in Vorder ⸗ 
grund rüden des Denkens überhaupt, gerade das Feinſte im Menſchen 
zerſtoͤrt, feine Weſenheit, die nur durch ein im beſten Sinne frommes 
Sin horchen erlebt und zum wachstum gebracht werden kann und in der 
eben erſt die dem Menſchen erfaßbare letzte Wirklichkeit beſchloſſen liegt? 

Auch hier das „Kiſiko“ . Was aber wieder hindert, dieſe Gefahr als un- 
vermeidlich anzuſehen, vielmehr zwingt — darin liegt das Weſen des 
Kiſikos — beide Möglichkeiten, die Möglichkeit des Zerſtoͤrens wie die 
des Wachſens als möglich zu ſetzen, iſt die Beobachtung, daß in Schrempf 
ſelbſt die in ihm liegende Feinheit des Denkens und Empfindens nicht 
zerſtoͤrt wurde. 

5. Mit Sinn riskieren tut nur, wer für das Kiſiko gute Gruͤnde hat, 
und wem durch das KRiſiko hindurch ein Ziel winkt, das des Riſikos 
wert iſt. 

Es iſt nicht zu vermeiden, daß ich in dieſem Punkte perſoͤnlich werde. 

Was mich an Schrempf anzieht, iſt zunaͤchſt die Soliditaͤt feiner Perſoͤn⸗ 

lichkeit. Er nimmt nichts unbeſehen hin, läßt ſich durch keine Wuͤnſche 
beſtechen, durch keine Verſprechungen blenden, durch keine Suggeſtionen be- 
nebeln, durch Mattwerden nicht verleiten, aus dem Schwebezuſtand 
herunterzuſinken. Da er natuͤrlich im Einzelnen gegen Wuͤnſche, Der 
ſprechungen, Suggeſtionen auch kein Allheilmittel hat, iſt er beſtrebt, 
wenn fie ihm den Kopf warm zu machen drohen, dieſe Wärme durch die 
kuͤhle ſcharfe Luft des Denkens abzukuͤhlen, um dadurch ſicherer feſtſtellen 
zu koͤnnen, was echt iſt oder nicht. Das erweckt mir fuͤr das, was bei ihm 
zu lernen iſt, ein guͤnſtiges Vorurteil. 
Was mich weiter an Schrempf anzieht iſt, einen Menſchen, einen Denker, 
einen Philoſophen vor mir zu haben, den nicht gelehrte Dinge intereſſieren, 
ſondern Fragen, wie fie mir in meinem unwiſſenſchaftlichen Leben auch 
aufſtoßen, und daß ich bei ihm Einblick bekommen kann in das Vib⸗ 
rieren einer werdenden Perfönlichkeit. 

Ceſte Reſultate werden mir da allerdings nicht uͤbermittelt. Aber was 
fange ich mit den Lehren eines Menſchen an, in deſſen Werden ich keinen 
Einblick bekommen kann, der mich alſo auch nicht lehren kann, wie man 
Schritt für Schritt einer Wahrheit naͤher kommt; bei dem ich nicht fühle 
und ſpuͤre, daß er aͤhnliche Situationen hat durchleben muͤſſen wie ich und 
bei dem ich nicht nachſehen kann, wie er dieſe Situationen ausgeſchoͤpft 
hat? | Ä 

was mich aber am meiften an Schrempf feſſelt, ift, daß er bei aller feiner 
Menſchlichkeit, die es mir moͤglich macht, von ihm zu lernen, bei all ſeiner 
Uferloſigkeit des Zweifelns ein wenn auch nicht ſicheres Wiſſen von Dingen 
zu haben ſcheint, die ich nicht kenne. Ein Wiſſen oder Ahnen um die Wirk⸗ 
lichkeit Gott, ein Wiſſen um Unbedingtes. Beides iſt mir raͤtſelhaft. Aber 
— gerade dieſes Rätfelbafte zieht in feinen Bann und zieht umſomehr in 


Barl Mödel, Das eilige Reich der Deutſchen 131 


den Bann, je unbeſtechlicher, nuͤchterner, unſchwaͤrmeriſcher die betreffende 
Perſoͤnlichkeit ſonſt iſt. 

Doch iſt es mir mehr als fraglich ob dieſes Raͤtſelhafte mir nicht immer 
ein Raͤtſel bleiben wird. Der Ernſt meines Verhaͤltniſſes zu Schrempf 
liegt deshalb auf anderer Linie. | 

Schrempf bewegt und entwickelt fi zwiſchen zwei Polen. Der eine 
Pol iſt die hoͤchſte Steigerung der Freiheit und Selbſtaͤndigkeit und Un⸗ 
bedingtheit des Ichs, der andere das ſich Vergeſſen des Ichs in der Sür- 
ſorge fuͤr andere. Man redet bei uns nur immer vom letzteren. Man ver⸗ 
gißt, daß erſt ein freigewordenes, ſelbſtaͤndiges, unabhaͤngiges Ich dienen 
kann. Freiwerden muß aber das Ich von der Sucht ſeines Ichs und von 
der Abhaͤngigkeit von Beſitz, Macht, Ehre. Das wird es nur, wenn es 
durch die Unerbittlichkeit des Verlangens nach Wahrheit, nach Wirklichkeit, 
nach Unbedingtheit, nach Freiheit und Selbſtaͤndigkeit Diſtanz gewinnt 
zu ſich ſelbſt. 

So ſcheint es mir wenigſtens. Jedenfalls wird mir auf Schrempf hoͤrend, 
immer wieder deutlich, daß die bedingungsloſe Liebe lebendig werden kann 
nur in einem Menſchen, in deſſen Leben Unbedingtes hereinragt und 
der unter der Zucht dieſes Unbedingten Perſoͤnlichkeit geworden iſt. 


| Karl Mödel | 
Das Heilige Reich der Deutſchen 


s ſcheint einer undurchbrechbaren Geſetzmaͤßigkeit alles pſychiſchen 
Eee zu entſprechen, daß wir unſer durch gewaltſam erlittene 

Derlufte urſpruͤnglichſter ſeeliſcher Gegebenheiten geſtoͤrtes bio» 
logiſches Gleichgewicht kuͤnſtlich, auf imaginaͤrem Wege, durch Phantaſie⸗ 
Erſatz wieder herzuſtellen und auszubalancieren verſuchen. Wenn einmal 
die Zeit erfuͤllt ſein wird, wo die Erkenntniſſe und Einſichten moderner 
Seelenkunde dem Verſtaͤndnis geſchichtlicher Vorgaͤnge und Epochen nutz · 
bar gemacht werden koͤnnen, dann wird uns, das iſt mit hoher Wahrſchein 
lichkeit anzunehmen, manches hiſtoriſche Faktum in ganz neuartigem 
Lichte erſcheinen. Vielleicht, daß wir dann auch jene Epoche unſerer Gei⸗ 
ſtesgeſchichte um 1800, die wir zuſammenfaſſend und vielſagend als 
deutſchen Idealismus! bezeichnen, mehr unter dem Geſichtswinkel einer 
„Verdraͤngung“ von zu tiefſt in der Seele jener Generation eingelagerten 
Erwartungen, Soffnungen, Sehnſuͤchten begreifen und verſtehen werden. 
Denn nachdenklich muß es immer ſtimmen, ob wir, die wir im Sinblick auf 
jene Aufgipfelung deutſcher Geiſtigkeit die ehrende Auszeichnung eines 
Volkes der Denker und der Dichter erfuhren, eben dieſe Leiſtung im Neiche 


432 Barl Möckel 


des Gedankens hätten vollbringen koͤnnen, wenn wir im ſicheren Beſitze 
und im ſatten, behaglichen Genuſſe eines ſtaatlich geeinten Vaterlandes 
freier Bürger und einer geruhſamen und ſich ſelbſt genugſamen Lebens⸗ 
ſtimmung gewefen wären. Viel verſchlungen find die Wege, welche die 
„iſt der Geſchichte“ wandelt. — 

Nun ſcheint mir Leopold Zieglers neueſtes Werk nach eben derſelben 
Richtung hinzuweiſen. Und zwar in einem zweifachen Sinne. Einmal ift 
bier — meines Wiſſens zum erſten Male — der Verſuch gemacht, die Ge⸗ 
ſchichte unſeres Volkes von eben der bezeichneten Seite ausgehoͤhlter, ent · 
leerter, ungeſtillter und darum ſchmerzlich verlangender, titanenhaft wol ⸗ 
lender, unerſaͤttlich hungriger Seelenhaftigkeit zu verſtehen; und zum an- 
dern: dieſes Werk ſelbſt iſt der Niederſchlag enttaͤuſchter Soffnungen, aus 
gebliebener Erwartungen, ſchmerzlicher Reſignation. Wäre das politiſche 
Reich der Deutſchen — wenn auch nicht in feinen aͤußeren, verfaſſungs⸗ 
rechtlichen Formen, fo doch in feinem ideell · irrationalem Gefuͤge ! — nicht 
in jener letzten Rataſtrophe unſeres Feſtlandes zuſammengebrochen, fo 
wäre das „Seilige Reich der Deutſchen“ wohl kaum geſchrieben worden. 

Wenn Ziegler noch nicht die Stellung im Geiſtesleben der Gegenwart 
einnimmt, die ihm gebübrt, fo dürfte einer der Bründe in dem Umſtande zu 
ſuchen ſein, daß wir heute noch gar nicht in der Lage ſind, den Reichtum 
feines Denkens, ſoweit es bis heute vor uns liegt, auch nur annaͤhernd aus · 
zuſchoͤpfen und innerlich zu bewaͤltigen. In ſeiner Geſamteinſtellung zu 
den Grundlagen unſerer ideellen Exiſtenz iſt er von ſo radikaler Abgruͤndig⸗ 
keit und Konfequenz, daß es faſt ein Akt innerer Notwehr, Gebot eines 
geiſtig⸗ſittlichen Selbſterhaltungstriebes iſt, ſich dieſem vernichtenden Trom ; 
melfeuer von Ideen zu verſchließen. 

Um ſich in dieſer fuͤr den Augenblick ſo labyrinthiſch anmutenden Ge⸗ 
danken · und Phantaſiewelt beſſer zurechtzufinden, mag, als methodiſcher 
Notbehelf, die Einführung eines gewiſſen begrifflichen Schematismus ge- 
ſtattet fein, der geeignet fein duͤrfte, den Weg in dieſe neuartige und eigen- 
artige Welt etwas zu erhellen, vielleicht, daß dann die Grientierung in 
dieſem ſteilen Sochgebirge leichter faͤllt, vielleicht auch, daß es dann, befreit 
von der Sorge, den Pfad zu verlieren, eher möglich fein wird, ſich der fon- 
nenbeglaͤnzten Gefilde zu erfreuen, die zu beiden Seiten dieſes Weges uns 
entgegenlachen. 

Zieglers geſamtes Denken ſcheint mir einer zweifachen Wurzel zu ent⸗ 
ſpringen. Sie heißt: Leiden und Aeligion. Aus der Spannung zwiſchen 
beiden erwaͤchſt feine Philoſophie. Sebbel hat einmal geſagt, daß jeder 
tiefer veranlagte Menſch in ſeiner Jugend die „metaphyſiſche Krankheit“ 
zu durchleben und zu durchleiden haͤtte. Die polariſche Gegenſaͤtzlichkeit, die 
fuͤr Zieglers Einſtellung zum All ſo bezeichnend iſt, ſcheint ſich bereits ſei⸗ 
nem jugendlichen Erleben in der Form eines ausgeſprochen doppelſeitigen, 
zwieſpaͤltigen Ergriffenſeins von den Einwirkungen ſeiner Umwelt tief 


Das Seilige Reich der Deutſchen 433 


eingeprägt zu haben. Schon der Pennaͤler ift Peſſimiſt. Er leidet an ſich, 
an den Menſchen, dieſem „Pack, das er aus Serzensgrund verachtete . Er 
leidet nicht weniger an den Kulturzuſtaͤnden eines Deutſchland, in dem er 
ſich nie hatte wohl fuͤhlen koͤnnen. Aus ſolch zwiefach ſchmerzlichem Er⸗ 
leiden erfolgte ſchon früh die Sinwendung zur Religion, als der Erloͤſerin 
von eben dieſem Leid, erwuchſen ſchon fruͤh, im Alter von Is und 21 Jah⸗ 
ren, die beiden erſten Schriften uͤber die „Metaphyſik des Tragiſchen“ und 
„Das weſen der Kultur“, beide im Geiſte Eduard v. Sartmanns ge⸗ 
ſchrieben. In der „Metaphyſik ! wird der Verſuch gemacht, der Gegebenheit 
des Leidens, die ſich ihm vor anderen Gegebenheiten eingedruͤckt zu haben 
ſchien, einen metaphyſiſchen, vielleicht eher noch einen religioͤſen Sinn ab⸗ 
zuringen, im „Weſen der Kultur“ hingegen wird zum erſten Male die Tat ⸗ 
ſache der Rultur metaphyſiſch im Sinne der großen Syſteme des deutſchen 
Idealismus gedeutet, als der geſchichtlich⸗uͤbergeſchichtliche Vorgang der 
Selbſtverwirklichung Gottes. Aus beiden Jugendarbeiten aber geht ber- 
vor, daß es die Gegebenheit des Leidens iſt, die ihn hellſichtig machte fuͤr 
metaphyſiſche Schauungen. Denn Zeiden, und das iſt im Reiche der Er⸗ 
fahrung immer ein Leiden am Dualismus, das Erleben des Wunſches nach 
ungetruͤbter Ganzheit angeſichts erlebnis wirklicher Nicht ⸗Ganzheit, Zwie⸗ 
ſpaͤltigkeit, albheit, iſt immer der Antrieb zu letzter hoͤchſter metaphyſiſcher 
Beſinnung. Zeidend fein und Erloͤſung wuͤnſchen, heißt: ſich als Wiſſen · 
der und Ganzer in Reinheit wuͤnſchen, frei von Zufall, frei von Stoff. 
lichkeit. Dieſe Sinwendung: aus dem Erleiden des Dualismus heraus und 
hin zur Kategorie der Ganzheit, das iſt es, was Zieglers Denken kennzeich 
net und es von der heutigen akademiſchen Philoſophie unterſcheidet. Dieſe 
nämlich identifiziert ſich mit bloßen Teilen, Erſcheinungsformen des Sei- 
enden, zu denen ſogar der Geiſt ſelbſt, die Idee ſelbſt, gehoͤren. Eine Geiſtig · 
keit von Zieglers Art dagegen ſteht in beſtaͤndiger Verflechtung und Aus · 
einanderſetzung mit dem Weltgefamt. Denn was iſt Philoſophie? „Philo; 
ſophie, ſinngemaͤß in deutſches Denken uͤbertragen, heißt Weltverwurzelt⸗ 
beit, der Philoſoph iſt der Weltverwurzelte. Er fuͤhlt ſich mit allem, was 
iſt und was Welt iſt, beſonders aber auch mit allen widerſaͤtzlichen Bebil- 
den, tief verwurzelt, eben darum mit allem, was iſt und Welt iſt, letzthin 
irgendwie identiſch, — mit allem, fag’ ich, und deshalb nicht mit dieſem oder 
jenem, ſei es das Geiſtigſte, ſei es der Geiſt felber.” 

Noch in einem anderen Sinne traͤgt ſein Denken den Charakter der 
„weltverwurzeltheit “. Es tritt nämlich, im Gegenſatze zu anderen Meta⸗ 
phyſikern, herzhaft und unerſchrocken mitten in dieſe uns umgebende, tat- 
fächliche Welt, an deren Rätfeln wir ſinnen, an deren Gebrechen wir leiden. 
Es hat die Scheu (oder auch den Stolz?) gegenüber der Welt von hier und 
jetzt abgelegt. Nicht eine „Welt an ſich“, ſondern unſere, ganz beſtimmt ge⸗ 
artete Welt, die gilt es zu verſtehen, aus ihr ſind die Imperative unſeres 
Wollens abzuleiten. So will dieſe Philoſophie befruchtend auf die Zeit wir⸗ 
Tat XV 2 


434 Karl Mödel 


ken, wie fie umgekehrt fi immer aufs neue aus den Umſchwuͤngen der 
Zeit her befruchten läßt („Zeitloſe Zeitſchriften“ hat er feine großen Werke 
gemeinſam überfchrieben l). 

Schon feit dem Marokko ⸗Ronflikt war ihm bewußt geworden, daß wir 
mitten im Prozeß einer geſellſchaftlichen, geiſtig⸗ſeeliſchen Umſchmelzung 
begriffen waͤren, die unter einem ungeheuren Druck von Atmoſphaͤren 
ſtattfand. Aufſteigende Angſt vor dem Geſpenſte eines europaͤiſchen Arie 
ges paarte ſich mit dem leiden ſchaftlichen Wunſche, der befuͤrchteten Kata⸗ 
ſtrophe wenigſtens gedanklich zuvorzukommen, geiſtig vorzubeugen, fo- 
weit das einem Menſchen möglich wäre. Noch während einer dahinzielen⸗ 
den Arbeit Über „die Kriſis der Ideale! brach die Kataſtrophe herein; hin ⸗ 
geriſſen von dem ungeheuren Erleben, wurden die erſten kurzen Aufſaͤtze, 
Aufrufe, niedergeſchrieben, die ſpaͤter als „Der deutſche Menſch“ in Buch⸗ 
form erſchienen. Ihnen folgten drei Eſſays: „Volk, Staat und Perſoͤnlich· 
keit“. Beide Arbeiten, unmittelbarer Niederſchlag des Kriegserlebniſſes, 
waren nur die Ouverture zu der gewaltig hinbrauſenden Wort ⸗ und Ge⸗ 
dankenoper der nun folgenden monumentalen Werke: dem „Geſtaltwan⸗ 
del der Soͤtter“, dem „Ewigen Buddho“ und dem „Seiligen Reich der 
Deutſchen . Das Gemeinſame aller drei Werke beſteht darin: dieſer welt 
verwurzelte Denker unternimmt es, die Kataſtrophe unſeres Feſtlandes 
von der Religion her, freilich von einer Religion her, wie er fie verſteht, 
philoſophiſch zu begreifen, naͤmlich als den verheerenden Ausbruch bis; 
her gefeſſelter uralt · unewiger Lebens und weltmaͤchte, wobei er erfüllt 
iſt von dem Glauben, daß dieſer Untergang einer alten Welt zugleich 
der Aufgang einer neuen iſt. „Was wir unter Kraͤmpfen und Zuckun⸗ 
gen miterleben, iſt eine der Geburten Gottes. Wo aber Gott geboren wird, 
da iſt er ſtets auch zuvor geſtorben.“ 

Was im „Geſtaltwandel der Goͤtter“ und im „Ewigen Buddho“ ge⸗ 
lehrt, gepredigt wird, weisheitsvoll, hoheitsvoll, prophetiſch⸗ſeherhaft, 
mit apoſtoliſcher Glaubensinnigkeit, das iſt nicht mehr und nicht weniger 
als eine Religion ohne Gott, eine atheiſtiſche Religion, eine Religion, die 
ihm nicht nur moͤglich, ſondern in unſerer gegenwaͤrtigen Weltlage als die 
einzig mögliche, ja mehr, als die einzig notwendige erſcheint. Im Gegen; 
ſatz zur „pofitiven Theologie“ ariſtoteliſcher Definitionen über die Exiſtenz 
und Beſchaffenheit Gottes, iſt ihm die Frage nach der Exiſtenz Gottes für 
alle Religion gleichguͤltig. Wie ſchon Nikolaus von Cues und die „nega⸗ 
tive Theologie der mittelalterlichen Myſtik richtig geſehen haben, iſt 
Gott das ſchlechthin Undefinierbare, das Nichtbeſtimmbare, Nichtab⸗ 
grenzbare, das „Diesſeits⸗Jenſeits aller Differenzen und fo auch aller Ron⸗ 
kordanzen “, die Aufhebung aller Gegenſaͤtze in einer fie uͤberhoͤhenden, fie 
umſchließenden, einſchließenden allerletzten Einheit, einer „coincidentia 
oppositorum‘“. Die zuſtaͤndige Rompetenz aber, die Stelle, wo dieſe Vor; 
ſtellung von Gott eingeloͤſt und erfüllt wird, iſt nicht die Erkenntnis, ſon · 


Das Seilige Reich der Deutſchen — u 435 


dern dieſer Gott kann nur in unſerm Leben verſucht, erprobt, verwirklicht 
werden. Das iſt der einzige Gottesbeweis fuͤr dieſen uralt · neuen Gott. 

Wie aber das? Die moderne Pſychologie, die analytiſche und noch mehr 
die „ſynthetiſche“, hat nach allen Richtungen des Seelenlebens an tauſend 
uͤberraſchenden Erfahrungen erhaͤrtet, daß unſere Gedanken, Gefuͤhle, 
Vorſtellungen, Begriffe Kraͤfte find, die aus dem Zuſtande dynamiſch ⸗ ener 
getiſcher Latenz mit oder ohne unſer Dazutun mächtig hinausdraͤngen. 
Sie hat diefe ſeeliſchen Energien als ſchwaͤngernde, keimende weltkraͤfte 
erkannt, die den Strom urtuͤmlicher Triebe in uns nach wahl und Abſicht 
von feinem Laufe ablenken koͤnnen. Damit ſtimmt der ſeelenaͤrztliche Be- 
fund ůberein, wonach jedes Menſchenleben auf perſoͤnlicher Stufe von 
einer feſten Zeitabſicht geführt erſcheint, die vielleicht noch unbewußt, 
dann und wann aber ſchon bewußt, unſere Maßnahmen, Sandlungen, 
Entſcheidungen beeinflußt, ja hervorruft. Bedenkt man nun, daß dieſe 
mehr oder weniger verbeſſerungsbeduͤrftigen, aber auch verbeſſerungs ; 
fähigen Cebensabſichten der einzelnen Individuen einander aufs ſchroffſte 
widerſtreiten, verneinen, ausſchließen muͤſſen, falls ihnen nicht beizeiten 
ein Ausgleich gelingt in einer ſie insgeſamt umſpannenden Viſion und 
Suggeſtion ſchlechthin univerſen, ſchlechthin mundanen Charakters, worin 
alle einzelnen Zeitabſichten, Lebenspläne eingeſchmolzen, ausgeglichen, 
harmoniſiert ruhen — dann wird man verſtehen, daß die Vorſtellung 
„Gott“, ungeachtet ihres negativen Erkenntniswertes, jetzt in der Tat ein 
ungeheures Gewicht für unſere praktiſche Lebens · und weltgeſtaltung er- 
bäle. Als idée -force ſtellt dieſer Bottesbegriff die weltgeſuchte und welt⸗ 
erſehnte Vereinheitlichung aller in ſich zerſplitterten und zerkluͤfteten Ver · 
wirklichungsabſichten der einzelnen Lebensträger und Zebenskraͤfte dar, 
Gott, der Niemals - und Nirgends ⸗ Wirkliche, er koͤnnte Verwirklichung er- 
fahren als „uͤberwirklicher Schnitt ⸗ und Richtungspunkt aller vereinzelten 
Kraft · und Cebenslinien, die ihre Verſoͤhnung, ihren Ausgleich in einem 
Jenſeits ihrer kreatuͤrlichen Gegebenheit ſuchen !“. Gott iſt nicht mehr das 
„Ding an ſich“, ſondern das projtzierende „Ding zu ſich hin“ (Otto Flake). 
Die Kreatur Menſch, wie elend, wie nichtswuͤrdig es auch heute noch um 
fie beſtellt fein mag, es bleibt ihr gar nichts anderes uͤbrig, als eines Tages 
die ungeheure Zaſt für Gottes Verwirklichung auf Erden auf ihre 
ſchwachen Schultern zu nehmen: das iſt die neue und letzte und groͤßte 
Verantwortung des Menſchen, dieſe Welt, feine Welt menſch · goͤttlich zu 

eſtalten. 

Religion philoſophiſche Überlegungen dieſer Art wird man im Auge 
behalten muͤſſen, wenn man den Juſammenhang zwiſchen den ausge⸗ 
ſprochen religionsgeſchichtlichen Büchern des „Geſtaltwandels“ und des 
„Buddho“ auf der einen und des hiſtoriſchen werkes vom „Seiligen Reich 
der Deutſchen“ auf der anderen Seite verſtehen will. Wenn Ziegler ſelbſt 
alle drei Werte als „Zeitloſe ZJeitſchriften“ zuſammenfaßt, ſo iſt damit ſchon 

29° 


436 Karl Möckel 


angedeutet, daß ſie einer gemeinſamen Intention entſprungen ſind. 
Welche iſt dies? Der „deutſche Gott“ im „Seiligen Reich der Deutſchen“ iſt 
derſelbe Gott wie im „Geſtaltwandel“ und im „Buddho“, nur hat er wie⸗ 
der einmal feine Geſtalt gewandelt, nur iſt er aus den unendlichen Tälern 
und Ebenen des Oſtens weſtwaͤrts gewandert zu den Deutſchen und hat ſich 
ihnen aufs neue offenbart. In dieſem Sinne dürfte es vielleicht geſtattet 
fein, das „Seilige Reich der Deutſchen“ als die Fortſetzung des „Geſtalt⸗ 
wandels“ auf deutſchem Boden zu bezeichnen. 

„Gott“, jene auf univerſelle Nivellierung und Sarmonifierung aller 
Gegenſaͤtzlichkeiten und Widerſaͤtzlichkeiten hinzielende Lebens / und welt; 
geſetzlichkeit, ſtirbt und wird wiedergeboren auf allen Kontinenten, von 
Ewigkeit zu Ewigkeit. Sein Sterben und Geborenwerden iſt es, das den 
Pulsſchlag der Welt, den weltprozeß ausmacht. In den gewaltigen Ge · 
ſittungen des vorchriſtlichen Oſtens, im Taoismus, Brahmanismus, 
Buddhismus wie in der philoſophiſchen Kultur des griechiſchen Suͤdens, 
bei Pythagoras, Seraklit, Plotin ſehen wir einzelne Phaſen jenes Welt- 
prozeſſes Geſtalt werden. Heute nun, in unſerm Weltalter, will Gott aufs 
neue geboren werden: die Deutſchen find von allen Voͤlkern des Kontinents 
das gebenedeite Volk des Seren. Sie find es, in die ſich jener uralte „Gott“ 
aufs neue eingeſenkt hat, damit ſie ihn aufs neue aus ſich herausgebaͤren 
ſollen. Ein neuer Welttag it im Anbruch! Die Zebensgeſchichte des deut ⸗ 
ſchen Volkes iſt die Geſchichte einer neuen Menſchwerdung Gottes 

Ziegler wurde zu dieſem Aſpekt geführt, als er, erſchuͤttert durch den 
Zuſammenbruch unferes Volkes, nach einem Auswege ſuchte, wie wohl 
dieſer Zuſtand, dieſer Notſtand zu ertragen, zu uͤberwinden wäre. Er wäre 
— innerlich zu überwinden, fo argumentierte er, wenn wir unſer Schick 
ſal kennen würden. Wuͤßten wir, was unſer Schickſal iſt, was es mit uns 
vorhat, dann koͤnnten wir uns in Zukunft mit Bewußtſein und Freiheit in 
feinen Dienſt ſtellen, nachdem wir bisher unfrei · zwangslaͤufig dieſen Dienſt 
verrichten mußten. Um die Stimme des deutſchen Schickſals zu vernehmen, 
fragt er das Leben unſeres Volkes, ob es wohl Kunde zu geben vermochte 
von den heimlichen Zeitabſichten unſeres kollektiven Lebens. Die Ant⸗ 
wort, die unſere Geſchichte gibt, heißt: „Immer ſtrebe zur Ganzheit!“ 
Das iſt die Idee unſeres geſchichtlichen Daſeins und Soſeins. Durch alle 
Jahrhunderte, durch alle Bezirke unſeres kollektiven und individuellen 
Lebens drängt der Zug des deutſchen Serzens, der des deutſchen Schickſals 
Stimme iſt, hin zur Überwindung des Gegenſaͤtzlichen, hin zur Vereinheit⸗ 
lichung des Widerſaͤtzlichen. Wo immer dieſe Einheit je in unſerm geſchicht ; 
lichen Daſein verwirklicht wurde, in dieſen fluͤchtigen Stunden, feierlich wie 
die Pauſen einer großen Symphonie, feierlich wie die Glocken des Mittags 
und der Mitternacht, war der „deutſche Gott“ tatſaͤchlich bis zu einem ge- 
wiſſen Grade verwirklicht. Wo dies aber nicht gelang, wo dieſe Einheit 
nur mit Zauterkeit und Beharrlichkeit erſtrebt ward, da wurde dieſem 


Das Seilige Reich der Deutſchen 137 


Gott, dieſem unſern Schickſal, immerhin mit Treue gedient. Noch hat 
dieſes Volk ſeine Beſtimmung nicht erkannt. Noch iſt es ein unvollendetes, 
unfertiges Gebilde, das ſeine angemeſſenen Bindungen in Staat und 
Öffentlichkeit, in Geſellſchaft und Sitte, in wWirtſchaft und Kunſt, in Er⸗ 
kenntnis und Lebensführung noch ſucht. Ein Sucher ⸗ und wandervolk! 
Der Deutſche — ein ewig fahrender Befell, niemals befriedigt, nirgends be⸗ 
hauſt, daͤmoniſch umhergetrieben von Ort zu Ort. Nicht fo, als ob ihm 
jener andere Zuſtand des Fertigſeins, des Vollendetſeins, des In · ſich⸗ge⸗ 
formt · und Abgeſchloſſenſeins fremd wäre! Er liebt ihn aber nicht, will ihn 
nicht. Sat er ihn einmal verwirklicht, gleich zerſtoͤrt er ihn wieder mut; 
willig, um ſich aufs neue in den ruheloſen Strom des Werdens zu ſtuͤrzen. 
So kommt es, daß der Deutſche zwar ein Zeitalter der Klaſſiker kennt, aber 
keins der deutſchen Klaſſik. Niemals iſt die Welt der Klaſſiker ins Volk ge⸗ 
drungen. Stets grauſam eingeklemmt zwiſchen zwei Polaritaͤten, Duali⸗ 
täten, Rontradiktionen, ſtrengt ſich der Deutſche über menſchliche Faͤhig 
keiten hinaus an, den Ausgleich dieſer Begenfäge in einer Art coinciden- 
tia oppositiorum in ſich ſelbſt herzuſtellen. Als Theologe moͤchte er vor 
allem Vater und Sohn, Gnade und Freiheit, Wort und Fleiſch, Katholtizis⸗ 
mus und Proteſtantismus miteinander verſoͤhnen. Als Philoſoph ver ⸗ 
einigt er in immer neuen Syntheſen Weſen und Erſcheinung, Wille und 
Vernunft, welt und Seele, Geſetz und Freiheit. Als Ethiker trachtet er, 
peſſimismus und Optimismus, Seteronomie und Autonomie, Egoismus 
und Altruismus zu verſoͤhnen. Als Politiker iſt er emſig beſchaͤftigt, Uni- 
verſalismus mit Nationalismus, Sozialismus mit Kapitalismus, Groß- 
betrieb mit Kleinhandwerk und was noch zu verbinden. „Andauernd auf 
dem Wege zum Ausgleich, gelangt fo der Deutſche niemals ſelbſt zu wirk⸗ 
licher Ausgeglichenheit; ſein unbaͤndiges Beduͤrfnis nach Syntheſen 
ſchleudert ihn haltlos zwiſchen Extremen hin und wider. Um ſo viele 
Dinge verſchmelzen zu koͤnnen, muß er ſeine ſeeliſche Temperatur immer 
auf den Schmelzpunkt erhohen, — und kein Wunder! in der Naͤhe des re- 
praͤſentatiwen Deutſchen herrſcht eine Sitze wie um einen Sochofen.“ Ein 
laſtender, ja ein laͤſtiger Aberſchuß an Gefuͤhl, heißt die beklagenswerte 
Erbſchaft, mit der wir uns ſeit unſerer frühen Vergangenheit zu ſchleppen 
haben. „In ſchroffen Wechſeln, fiebernd zwiſchen heiß und kalt, bewegt ſich 
der Deutſche zwiſchen euphoriſchen und depreſſiven Zuſtaͤnden des Ge⸗ 
muͤtes faſt rhythmiſch hin und wider und wird hoͤchſt ſelten nur zu gleich- 
ſchwebender Temperatur und Sarmonie begnadet.“ 

In Anlehnung an das sacrum imperium des Mittelalters, hat Ziegler 
das Geſetz unſerer ſpeziſiſchen Menſchlichkeit, jenen Gott der coincidentia 
oppositorum, das „Seilige Reich“ genannt und es aus dem Geiſte der 
Gegenwart und mit allen Mitteln heutiger Erkenntnis philoſophiſch zu 
erneuern verſucht. Dieſes zweibaͤndige Werk ſtellt ſich die Aufgabe, jenen 
ungoͤttlichen „deutſchen Gott“ in der Geſchichte unſeres Volkes aufzu⸗ 


438 Barl Mödel 


ſuchen. Ein Wagnis von grandiofem Ausmaße, ein unerhört Fühnes 
Abenteuer des Gedankens, das ſeinesgleichen in der Gegenwart kaum 
haben duͤrfte. 

Der erſte Band unternimmt es, jene deutſche Lebens ⸗ und Weltmeta- 
phyſik von der coincidentia oppositorum nachzuweiſen im geſchichtlichen 
Leben und Erleben des deutſchen Volkes (J. Buch: Der Wanderer; 
2. Buch: Daͤmonie des Suͤdens). Der zweite Band ſpuͤrt dieſer Geſetz⸗ 
maͤßigkeit im geiſtigen Leben und Erleben des deutſchen Volkes nach 
(3. Buch: Bosmologis = deutſch: Welt ⸗Dienſt). Der erſte Band zeigt, wie 
das deutſche Schickſal von den Deutſchen gelebt und erlebt wird in ſeiner 
politiſchen Geſchichte. Der zweite Band fuͤhrt aus, wie dieſes Schickſal von 
den Deutſchen gedacht und weitergedacht wird in ſeiner Geiſtesgeſchichte, 
um in einem weihevoll feierlichen Finale auszuklingen, wie dieſes Schick⸗ 
ſal von den Deutſchen geglaubt und in Jukunft von einer neuen Menſch⸗ 
heit weiter geglaubt werden wird (Mutter Erde — Vater Simmel). 

Die Geſchichte der Deutſchen iſt die Geſchichte der deutſchen Seele. Dieſe 
Geſchichte verlaͤuft, wie alles Weltgeſchehen, dem ſie eingeboren iſt, in 
zweidimenfionaler, gegenſaͤtzlicher Richtung. Raͤumlich⸗geographiſch ver · 
anſchaulicht iſt es die oͤſt weſtliche Bewegung unſerer politiſchen Geſchichte 
von der Voͤlkerwanderung bis zum Untergange des letzten Kaiſerreichs. Das 
iſt die eine, die horizontale Rurve unſerer „Lebenslinie“ („Schuͤrzungen der 
einen Reihe“). Dieſe Bewegung aber treibt, entſprechend der dualen Struf- 
tur alles Geſchehens, eine gegengerichtete, gegenſinnige Bewegung hervor. 
Kaͤumlich · geographiſch ſtellt fie ſich als die Nord · Sud · Richtung der deut ⸗ 
ſchen Seele dar, wie ſie in den erleſenſten Geiſtern vom Mittelalter bis ins 
18. Jahrhundert als Sehnſucht nach der Welt der Klaſſik zutage tritt 
(„Schůͤrzungen der anderen Reihe“). Auf der erſten Fahrt fischen die Deut⸗ 
ſchen das Reich der Römer, auf der zweiten das Reich der Griechen. In der 
welt der Klaſſik finden beide Lebensſtroͤme ihre Aufhebung, ihren Aus- 
gleich. Das war der geheime Wunſch beider Lebens richtungen durch die 
Jahrhunderte hindurch: den Ort zu finden, wo aus ihren Gegenſaͤtzlich⸗ 
keiten die höhere Einheit, Ganzheit hervorgehen koͤnnte, wo fie Ruhe vor 
ihrer eigenen Unruhe, Raſt von ihrer eigenen Unraſt, Erloͤſung von dem 
Fluche ewigen Umherirrens finden konnten. Sier war der „deutſche Gott“ 
verwirklicht. Das iſt der Sinn der Klaſſik, daß fie „nachweislich ſelbſt aus 
dumpf chaotiſcher Beſeſſenheit eines ahasveriſchen Fluchs geboren, ſich von 
eben dieſer gebaͤreriſchen Beſeſſenheit mild erloͤſen möchte und in wahrheit 
auch erloͤſt. In der Klaſſik ſchlichtet und uͤberwindet ſich, fo kann und muß 
man ſagen, die Daͤmonie des Suͤdens (als welche unverkennbar die Daͤmo⸗ 
nie des Nordens iſt) von innen her: und ſo ſchlichtet und uͤberwindet die 
KAlaſſik uberhaupt jegliche Daͤmonie, die mit der Tatſache des Lebens und 
werdens, wie wir ſahen, feſt verflochten iſt“. 

Drei Reiche hat die deutſche Volkskraft im Laufe ihrer politiſchen Ge⸗ 


Das Seilige Reich der Deutſchen 439 


ſchichte aus ſich herausgeſtellt: das Reich Karls des Großen, das mittel ⸗ 
alterliche sacrum imperium und das Reich Bismarcks. Und dreimal hat 
das deutſche Volk dieſe Staatengebilde wieder zerſtoͤrt! Was andere Volker 
durften, andere Volker mußten: Volk unter Voͤlkern zu fein, heimatlich 
befriedet und behauſt unter eigenem Dach, wir, wir und die Juden — 
wir durftens nicht. Wandern, wandern ohne Raſt und Ziel, das iſt unſer 
ſchickſalhaftes Teil. „Wanderer heiße ich.“ Wanderung heißt die fruͤheſte 
Erſcheinungsform deutſcher Daͤmonie, von der die Geſchichte erzaͤhlt. 
„Denn was jene aufgewirbelten Volker ſuchten, als fie mit immer größerer 
Beſtimmtheit ihre Richtung nach dem roͤmiſchen Suͤden nahmen, wer will 
es ſagen? “ Baum iſt die äußere Seßhaftigkeit im Frankenſtaat erreicht, fo 
beginnt innerhalb des jungen fraͤnkiſchen Staatsgebildes eine vertikale 
Wanderung der einzelnen ſozialen Schichtungen von unten nach oben, die 
bis heute noch nicht zur Ruhe gekommen iſt. Einen neuen Antrieb zu 
weiterer Fortbewegung erfährt der fraͤnkiſche Lehnsſtaat durch feine An ⸗ 
teilnahme an der lebendigen Tendenz der Kirche, die doch katholiſch, d. h. 
univerſal war, der Gegenſatz zwiſchen dem nationalen Staat einerſeits, 
deſſen Träger die Stammesherzoͤge find, und dem univerſalen Staat, dem 
„Imperium“, dem „Reich“ anderſeits, deſſen Saupt der „roͤmiſche Kaiſer 
deutſcher Nation“ iſt, iſt damit gegeben. „Daß der Menſch aus teutoniſchem 
Geblůt zwiſchen dem nationalen Staat und dem univerſalen Reich in ⸗ 
deſſen niemals die eindeutige Wahl getroffen hat; daß er im Gegenteil ſtets 
beides wollte, die Einengung und die Ausweitung, den Aushauch und den 
Ein hauch, die Ganzheit und die Teile, das Unbegrenzte und die Grenze, 
daß er ſeine Stammesart zwar um jeden Preis wahren will, aber die ſchier 
ſchmerzhaft ſpannende Vorſtellung, Gegenſtellung des all⸗einſchließenden 
Reiches nicht opfern kann und mag das iſt Beſtimmung, Schickſal und 
vielleicht Verhaͤngnis dieſes teutoniſchen, dieſes deutſchen Menſchen in 
ſeinem Mittelalter und vielleicht, wer weiß, noch in ſeiner ſpaͤten und 
ſpaͤteſten Zeit. Im Reiche Karls des Großen nimmt der „deutſche Gott“ 
zum erften Male Geſtalt an; fein Reich it wahrhaftig ein „Seiliges Reich“, 
wenn auch nur auf wenige fluͤchtige Stunden des großen Weltentages; 
denn „nur fluͤchtige Stunden des ſchwebenden, nie des ruhenden Gleich⸗ 
gewichtes gönnt die Daͤmonie des Werdens uns daͤmoniſch Umgetriebenen 
und Gehetzten “. Drei Gegenſaͤtze waren in dieſer univerſal ⸗hiſtoriſchen 
coincidentia oppositorum gleichſam ausgewogen: I. ſetzt Karl das ge- 
faͤhrliche Widerfpiel des Bauern · und Priefteradels einigermaßen ins 
Gleiche; 2. bringt er als erſter des Feſtlandes den Oſten und weſten in 
fruchtbare Berührung, und 3. findet er die geſchichtliche Form, die fraͤn⸗ 
kiſche Art feines Staates zu wahren und trotzdem das Reich des di vus 
Augustus in ungeahntem Ausmaße imperial, univerſal, katholiſch neu zu 
gründen — als Franke und Römer, Kaiſer und König, Held und Seiland 
in einer Perſon. 


440 Aarl Möckel 


Wehrverfaſſung und Erbfolgerecht aber tragen den Todeskeim in den 
ſcheinbar fo gefunden, ſtrotzenden Körper dieſes Reiches. 

Das zweite Reich, das sacrum imperium, beginnt als Friedensreich der 
Gttonen. Anders als Karls Gründung, die nur auf dem Umweg uͤber die 
Kirche für heilig galt und von der Kirche Gnaden lebte, übernimmt dieſes 
Reich mit zunehmender Verweltlichung der Kirche deren Seilsfunktion. 
„Fides“, die himmliſch⸗irdiſche Doppelbindung der Seele, iſt die Klammer, 
die das Feſtland Europa, mit Ausſchluß des weſtens, jetzt zuſammenhaͤlt. 
Aber in einer geſchichtlichen Rataſtrophe von hoͤchſtem Ausmaße ſprengt 
das alte Plus ultra des deutſchen Schickſals auch dieſes zweite Reich. Von 
außen geſehen, ging es am Machtrauſche der Staufer zugrunde. Je voll ⸗ 
kommener in den Augenblicken ſtolzeſter Ghibellinentriumphe dem Aſien · 
traum Erfuͤllung winkte — Seinrich VI. und Friedrich II. hatten das Im⸗ 
perium orientaliſiert — deſto verderblicher wirkten ſich die Folgen jenes 
konſtruktiven Fehlers der Stauferpolitik aus, welche, um die Paͤpſte ihren 
Abſichten gefuͤgig zu machen, die Achſen des Imperiums von Donau und 
Rhein ins Mittelmeer verlegt hatten. Die Zeit iſt da, wo ſich die Dialektik 
des univerſalen, imperialen Gedankens mit zerſtoͤrender Wirkung gegen 
ſeine Urheber wendet. 

An Stelle der univerfalen Tendenz tritt ein neues geſtaltendes Prinzip 
in die Geſchichte der naͤchſten ſiebenhundert Jahre ein: der Gedanke der 
„Proteſtantik“, d. h. ganz allgemein der „Inbegriff aller differenzierenden 
und individualiſterenden Kräfte”. Der Staat Friedrichs II. von Preußen 
wird der Grt, wo ſaͤmtliche proteſtantiſchen Tendenzen des Nordens (abſo⸗ 
luter Staat und Nation; Natur-, Vernunft ⸗ und Völkerrecht; moderne 
Wirtſchaft und kapitaliſtiſche Geſinnung; dritter und vierter Stand) zu⸗ 
ſammentreffen. Mit der Verlagerung des deutſchen Kraͤfteſpiels nach dem 
Norden aber geht jetzt, was das Bedeutungevollſte iſt, Sand in Sand eine 
Befamtveränderung der deutſchen Menſchlichkeit. „Von der urſpruͤnglich 
deutſchen Daͤmonie geht viel verloren, . . . das beſte !!“ Jetzt wird dieſe 
Menſchlichkeit „kuͤnſtlich in Zucht genommen, wohlgemerkt in die Zucht 
eines Staates, der ſeine koloniale Abkunft nicht verbergen kann“. „Die 
krampfhafte Konzentration auf das eine Jiel des abſoluten Staates, 
welcher jedoch im Unterſchied zum hochmittelalterlichen Imperium jeder 
religiöfen und oͤkumeniſchen Verankerung entbehrt, wird erkauft durch eine 
allgemeine Depotenzierung der pſychologiſchen und biologiſchen Typik in 
beaͤngſtigenden Graden. Während ſich der Wille, namentlich bei der führen- 
den Schicht, muſterhaft diſzipliniert, geht die geſamte Vitalitaͤt als ſolche 
zweifellos zurůck und mit ihr auch die Produktivitaͤt im hoͤheren Sinne. 
Preußen, das wird der Name der geſchichtlichen Provinz, wo ſich die Depoten- 
zierung der deutſchen Seele, der deutſchen Menſchlichkeit je und je vollzog“. 
Vergebens verſucht Stein, dieſem Staate befruchtende Antriebe zuzu⸗ 
führen und ihn von der Idee her neu zu beleben. Da Preußen auch nach 


Das Heilige Reich der Deutſchen 441 


1848 von feinem feudal ⸗ariſtokratiſchen Anteil nichts abgibt, während es 
gleichzeitig mit den fortgeſchrittenſten größten Weltmächten des Kapitals 
in Wettbewerb tritt, ſo zeigt es von Stund an ein doppeltes Geſicht, ein 
Raͤtſelantlitz, von ihm ſelbſt fo wenig wie von anderen Voͤlkern erraten. 
Mit diefem Januskopfe waͤchſt Preußen immer tiefer in den Körper 
Deutſchlands hinein, bis ihm die Gruͤndung Bismarcks eine Form gibt, die 
ihm Dauer verleihen follte. g 

Das toͤdliche Gift, das dieſem dritten und letzten Reiche von Anfang an 
eingeimpft war, beſtand darin, daß es ausſchließlich auf die Machtſtellung 
des preußiſchen Königs geſtuͤtzt war, während ihm jeder werbende Ge⸗ 
danke fehlte. Wir ſahen nicht die neue rieſengroße Aufgabe, die das Schick⸗ 
ſal dieſem Reiche ſtellte. Wir glaubten ausruhen zu koͤnnen auf den Lor⸗ 
beeren Friedrichs II. und wußten nicht, daß nicht ruhiges Behagen, fon- 
dern Wandern unſer Schickſal war. Und weil wir die uns geſtellte Auf- 
gabe nicht ſahen, nicht ſehen wollten, deshalb ſind wir daran zerſchellt. 

Ein neuer Univerſismus war, wie einſt im Mittelalter, heraufgezogen 
und forderte das junge Reich zu einer Auseinanderſetzung mit feinen Ten- 
denzen heraus. In der geſchichtlichen Tatſache des Sozialismus und der 
ſozialen Demokratie war die katholiſche, die oͤkumeniſche Frage des Mittel ⸗ 
alters in neuer Prägung geſtellt. Ein Rampf von gigantiſchem Aus- 
maße kuͤndigte ſich an. Wo war der Prophet, der hier den Weg zeigte? 
Nietzſche zog ſich in die Einſamkeit zuruͤck. Und Bismarck? O, der wußte, 
dieſen Kampf würde das Reich nicht Überleben. Unfaͤhig, ſich auf den 
neuen Univerfismus einzuſtellen, zerbrach Bismarcks Großpreußen. Die 
Geſchichte, die immer Mittel in Bereitſchaft hat, das freiwillig Ungeleiſtete 
zu erzwingen, gibt das dritte Reich dem Untergange preis, weil es der 
deutſchen Beſtimmung abtruͤnnig geworden war, als es mit Serrn Treitſchke 
waͤhnte, daß es nunmehr ſatt und am Ziele ſei, Volk unter Völkern, um 
in Frieden ſeinen Reichtum zu mehren, ſelbſtgenugſam, einig, deutſch, wo 
doch feine Beſtimmung Sunger war. — 

Gleichzeitig mit den Wanderjahren des deutſchen Volkes, die eine aͤußere 
Seßhaftigkeit, eine Seßhaftigkeit des Leibes erſtrebten, verwoben ſich neue 
Zuſammenhaͤnge im Leben dieſes Volkes, die Anlaß und Ausgang einer 
neuen Lebensunruhe werden ſollten. Das Zebens · und Weltgefuͤhl des 
heidniſchen Germanen war durchaus irrational geweſen: die Welt an 
und für ſich iſt unausdenkbar, unausrechenbar, unergruͤndlich, undurch⸗ 
dringlich, dunkel. Da kommt die Kirche! Sie uͤbernimmt das Befchäft, dieſe 
verworrene, unſinnige Welt dem Verſtande, der Logik zu. unterwerfen: 
das Leben bekommt einen Sinn, ohne daß freilich derartige Bemuͤhungen 
jemals vollſtaͤndig gelungen waͤren. Immerhin: die Folge iſt, daß die Seele 
des mittelalterlichen Europaͤers mehr und mehr zerriſſen wird von einer 
Teilhabe an einem zweifachen Reich von Licht und Finſternis, welches in 
himmliſch · hoͤlliſchem Clair Obscur unentſchieden durcheinander wogt und 


482 Bari Möckel 


flimmert. Der Widerſpruch beherrſcht von jetzt ab die Welt und das Denken 
des deutſchen Menſchen. Eingeſpannt in dieſe harte Gegenſaͤtzlichkeit, ver- 
ſucht er immer von neuem zu vermitteln, zu vereinigen, zu uͤberbrůcken. 
Um aber ſo vieles Gegenſaͤtzliche verſchmelzen zu koͤnnen, bedarf es eines 
überreichen, wuchernden Gefuͤhlslebens. Das iſt die beklagenswerte Erb⸗ 
ſchaft, mit der wir uns ſeit unſerer fruͤheſten Vergangenheit zu ſchleppen 
haben. „Überfüllung der Gefaͤße mit erſtickenden Gefuͤhlen, die fi 
ſchmarotzeriſch zum Selbſtzweck aufgeworfen haben, daraus abgeleitet eine 
zunehmende Truͤbung der vorſtellenden, zunehmende Stauung der wollen; 
den Kräfte, das iſt die Kennzeichnung eines endemiſch deutſchen Krank⸗ 
heitszuſtandes in vergangenen Jahrhunderten“. Das Seilmittel aber, das 
ſich die ſeltenen Deutſchen verſchrieben, wenn fie dieſes Ubel als ihre innerſte 
Bedrohung empfanden, hieß: nach Rom! nach Rom! nach paͤſtum! 
nach Athen! Am lichten Marmorleib antiker Klaſſik ſuchte ſich das erhitzte 
Blut des noͤrdlichen Europaͤers immer aufs neue zu Fühlen. In der Dämo- 
nie des Suͤdens überwindet ſich die Daͤmonie des Nordens. War es nicht 
möglich, auf endloſen Wanderzügen eine Seßhaftigkeit des Leibes zu fin- 
den, fo ſchenkte die Klaſſik wenigſtens dieſer weltauf-, weltabgeſcheuchten 
wandererunraſt eine Seßhaftigkeit der Seele: zwiſchen Gott und Dämon, 
im Reiche des rein Menſchlichen. So geſehen, hat man unter dem Begriff, 
hat man unter dem „Geſicht“ der Klaſſik „eine ſtehende Urform menfch- 
heitlicher Selbſtbindung und Selbſtbeheimatung durchaus zu ver⸗ 
ſtehen.— 

Und doch! Auch in die ſer neuen Seimat leidet es den deutſchen Menſchen 
nicht auf die Dauer. So ſehr die Klaſſik das Ende einer jahrhunderte; 
langen Unraſt bedeutet, ſo wird fie doch zugleich — und damit tritt auch hier 
die polare Struktur alles Lebens in Erſcheinung — der Anfang einer 
neuen Wanderfahrt. Das deutſche Lebens · und weltgefuͤhl erhebt ſich in 
der Klaſſik, um eine ganz neue Welt, feine eigenſte Welt, geiſtigſter, uni⸗ 
verſellſter, originellſter Art zu erobern. Dieſe Entdeckungs fahrt des deut ; 
ſchen Idealismus um 1800 in bisher unbekannte Welträume war heraus; 
geboren aus dem „Geiſt des Widerfpruchs” zu der uns umgebenden Welt 
des Juden ⸗ und Chriſtentums, die gerade auf Grund ihrer Gottgeſchaffen⸗ 
heit, Stoff ⸗ und Koͤrperhaftigkeit, Ungeiſtigkeit, mit dem irdiſchen Makel 
der Zweitrangigkeit, Untergeordnetheit, Minderwertigkeit unausloſchlich 
behaftet, lebendiges „Argument gegen Goͤttliches“ und zeitliche Seimat 
von Übel, Irrtum, Schuld und Tod iſt. Gegenuͤber dieſer Welt des Chriſten⸗ 
gottes und der chriſtlichen Tradition, gegenüber der Welt Roms, Genfs, 
wittenbergs, ſtarr unaͤnderlich, geſchichtslos, das Werk eines Gottes mit 
dem vielſagenden Namen: Ich bin, der ich fein werde, ohne Möglichkeit, 
ohne Freiheit, ſich zu entwickeln und zu vervollkommnen — gegenüber 
dieſer Welt leuchtet ſonniggolden die Welt Jenas und Welmars auf, durch; 
flutet und durchglůht von der Feuerkraft der Idee eines ſelbſtſchoͤpferiſchen, 


Das Seilige Reich der Deutſchen 443 


ſelbſtgeſchaffenen Alls, aufgeſpalten in polariſch ⸗ antithetiſche Ja · und 
Neingegebenheiten, Ja · und Neinwerte, welches Goͤttliches und wider 
goͤttliches zumal in unendlicher Abſtufung umfaͤngt und, in unendlichem 
Fortgang eins am andern, eins mit dem andern immer wieder ůberwin⸗ 
dend, ſich eben dadurch mit immer reiferem, mit immer reicherem Gehalte 
erfuͤllt und in unendlicher Reihung und Staffelung zu immer volllomme- 
nerer Ganzheit und Sarmonie aufgipfelt. zwei Welten, zutiefſt gegenſaͤtz⸗ 
lich ſich verfeindet — der deutſche Menſch um I800 beginnt zu ahnen, daß 
er hier in Sachen Gott ⸗ Welt, in Sachen der Religion, eine „grandioſe Ini ⸗ 
tiative !, eine letzte Entſcheidung zu treffen habe. Furchtlos iſt die Philoſo⸗ 
phie des deutſchen Idealismus dieſen weg gegangen. Der Sinn dieſer 
neuen „welt“ Religion iſt: Sarmoniſierung des Weltganzen. Der be⸗ 
rufene Träger und Täter dieſes Welt ⸗ Sinns iſt der Menſch. Seine Aufgabe, 
ſein „Dienſt an der welt“ iſt es, mitzuarbeiten an der Vervollkommnung 
der Welt. Dieſe Aufgabe allein rechtfertigt fein Auftreten auf dem Schau ⸗; 
platz der Schöpfung. So wie die außer · und untermenſchliche Weſensreihe 
im All unbewußt in dumpfem Mechanismus befangen, Polaritaͤten zu To⸗ 
talitaͤt bindet, fo iſt dem Menſchen von allen weſen der bekannten Schöp- 
fung die Seilandstat anvertraut, dieſelbe Aufgabe mit Bewußtſein und 
Freiheit innerhalb der eigenen Weſensſchichtung zu leiſten. Vorausſetzung 
dieſer Welt · und Zebensmiffion des Menſchen iſt jedoch die Vervollkomm ; 
nung der eigenen Perſoͤnlichkeit. Nur wer ſich ſelbſt, ſeine eigene innere 
Zerriffenbeit und Iwieſpaͤltigkeit ůͤberwunden hat, wird befaͤhigt fein, 
jenen „Dienſt an der welt“ zu vollbringen. Erſt Dienſt am Ich, dann 
Dienſt an der Welt. 

Zwei Verfahrungsweiſen — wiederum polariſch gegenſinnig — hat die 
Philoſophie des Klaſſizismus in Verfolg der Selbſterziehung der Einzel⸗ 
perſoͤnlichkeit aus ſich herausentwickelt. 

Das eine Verfahren („Welt wegauf“), am eindringlichſten entwickelt in 
Schillers „Briefen über die aͤſthetiſche Erziehung“, argumentiert fo: die 
im Menſchen auseinanderſtrebenden Kraͤfte werden dadurch in ihrer Aus ⸗ 
wirkung unterbunden, daß fie auf den ſchoͤnen Gegenſtand abgelenkt wer- 
den. Nicht ohne Liſt werden ſie auf dieſe Weiſe phychologiſch gleichſam 
neutralifiert, ihres eigentlichen Inhaltes entleert und zu einem „Trieb 
überhaupt” herabgeſetzt. So werden fie kuͤnſtlich wieder zuruͤckgebettet in 
den Zuſtand ihrer fruͤheren Einheit, dem fie entwachſen find, aus dem Zu⸗ 
‚fand der Aktualitaͤt in den der „Latenz ⸗ Potenz“. Sarmoniſche Totalitaͤt iſt 
nach der Auffaſſung der Klaffif uberall dort moͤglich, wo aktuell ⸗antagoni⸗ 
ſtiſche Funktionen der Seele in die Catenz · Potenz zuruͤckgenommen werden. 
(Beweis für die Tragfähigkeit dieſes zunaͤchſt pſychologiſchen Geſetzes dürfte 
es fein, daß die heutige Forſchung wieder auf dieſen Sachverhalt zuruck 
gekommen iſt. So wird er von Drieſch unter dem aufſchlußreichen Begriff 
der „proſpektiwen Potenz“ benutzt zur Erklaͤrung der Entſtehung der Gr⸗ 


443 Barl Möckel 


ganismen; und der Begriff der „Energie des Nullpunktes“ in den Unter⸗ 
ſuchungen des Phyſikers w. Nernſt bedeutet nichts anderes als eine Über- 
tragung jenes pſychologiſchen Geſetzes auf aſtrophyſiſche Zuſammenhaͤnge 
im Kosmos.) | 

Zum erften Male nach der mittelalterliden Myſtik hatte damit der Weſten 
der Erde ein ſeeliſches Verfahren entwickelt, wie es aͤhnlich der große Oſten 
vor Jahrtauſenden ſchon in den drei gewaltigen Befittungen und Reli- 
gionen des Taoismus, des Brahmanismus und des Buddhismus ausge⸗ 
tragen hatte. Nachdem das wiſſen davon in dem chriſtlichen Jahrtauſend 
zwar nicht vergeſſen, wohl aber unter die Schwelle des Bewußtſeins herab⸗ 
geſunken war, kuͤndigte es ſich in der deutſchen Klaſſik von neuem an als 
ein Dienſt der Seele an Sein und Sinn der welt, ein Dienſt um der welt 
willen und dennoch heiliger, fordernder und umgebaͤrender als jeder Dienſt 
an bloßen Göttern — „welt ⸗Dienſt!“. 

Der zweite weg, der die beſtehenden Gegenſaͤtzlichkeiten zu ůberbruͤcken 
verſucht, iſt der Weg der Dialektik. Er bettet die polaren Juſtaͤndlichkeiten 
der Seele nicht ruͤckwaͤrts in ihren gemeinſamen neutralen Urzuſtand, 
fondern er uͤberwindet fie fortſchreitenderweiſe, über ſich hinaus („Welt 
wegab“). Die ſogenannte Wirklichkeit, weit entfernt als „Ding an ſich“ ſtill 
zu verharren, ſie braut und ballt und tuͤrmt ſich vielmehr erſt allmaͤhlich 
aus zahlloſen mittleriſchen Setzungen an des Geiſtes ſchimmernden Sori⸗ 
zonten zum hohen Gebaͤude der welt zuſammen. Es gibt in dieſer welt 
des Dialektikers nichts Unmittelbares, Gegebenes, Feſtſtehendes, Geworde⸗ 
nes — alles fließt! Verſteht man, weshalb dem Deutſchen fo ſchwer wird, 
bis zur Wirklichkeit vorzuſtoßen? Warum es ihm bis heute verſagt blieb, 
eine Wirklichkeit zu fein? „Ihm ward von ſaͤmtlichen Völkern zugeteilt, 
die Mittelbarkeit alles Wirklichen zu durchſchauen. Dieſe Offenbarung, ein 
Schickſal wie keine zweite, will und muß abgebüßt werden. Der werbende 
Gedanke auch der Dialektik iſt: Dienſt an der Welt um der welt willen. Iſt 
doch auch diefe Dialektik eine Theorie und Praxis zumal des discors con- 
cors, dient doch auch ſie der Welt in Geſtalt eines anderen Verſuchs, das 
Gegenſaͤtzliche zu verſoͤhnen und das Unvereinbare zu vereinigen. Frei ⸗ 
lich: im Übermaß tragiſch, heroiſch, dramatiſch iſt dieſer Weg, der Welt zu 
dienen. Der Menſch, der feiner Welt auf dieſe Weife dient, iſt, wie Seld Se⸗ 
tables, der dem Tyrannen Erxechtheus diente: jedem vollbrachten Werke 
folgt bereits das naͤchſte; wo ein Zwieſpalt eben ausheilt, klafft beim naͤch⸗ 
ſten Schritte vorwaͤrts ſchon ein neuer, und wie in polaren Regionen zieht 
eine via mala uber abſchuͤſſige Eis ſpalten und Gletſcherſchruͤnde. Weh dir, 
wenn du auf deiner ſchlichten Setzung ſtillſtehſt, ſtatt den Widerſacher in 
dir ſelber aufzuſtacheln und dein eigener Feind zu fein! Wehe des falſchen 
Friedens, der vor der Zeit geſchloſſen und befiegelt wird! Der Menſch, der 
ſich dieſer „Unruhe zu Gott“ verſchrieb, iſt berufener Unruhſtifter, Unruh ; 
ſchuͤrer der Schöpfung. wohl gibt es fo etwas wie eine Sarmonie des Un; 


Das Seilige Reich der Deutſchen 445 


vereinbaren, Gegenſaͤtzlichen, aber dieſe Harmonie iſt eine niemals ruhende, 
immerdar wandernde vom Nein zum Ja, ein Durch ⸗ und Übergang, kein 
Anfang und kein Ende — ein abſchreckendes Ideal bewußt herbeigefuͤhrter 
Unſtetigkeit und Unfriedſamkeit des Geiſtes, ein gotamidiſches Asketen ; 
ideal der Saus · und Seimatloſigkeit auf allen Wegen und Stegen. „Wan ⸗ 
derer heiße ich. Eine Welt ohne Feierabend und Siebenten Tag, mithin 
auch ein weltdienſt ohne Feierabend und Siebenten Tag — man beginnt 
zu ahnen, weshalb es der Menſch in dieſer uͤberſchrittigen „Welt wegab“ 
allein auf die Dauer nicht aushaͤlt. Es entſpricht einer tiefen und unab⸗ 
wendbaren Notwendigkeit, daß der werbende Gedanke der Dialektik an 
dieſer Stelle unvermeidlich in ſein Gegenteil umſchlaͤgt. Dieſe Urbewegung 
weltab, ununterbrochen anſteigendes Gewinde von Setzung, Gegen⸗ 
ſetzung, Soͤherſetzung ſchlichter Gegebenheiten, fie wirbt um die ergaͤnzende 
gegenfinnige Urbewegung „weltauf”, die oben als die Aufhebung der 
Gegenſaͤtze in der Latenz · Potenz bezeichnet wurde. Beide Bewegungen zu⸗ 
ſammen ergeben erſt den vollen, lebendig ausſchwingenden Pulsſchlag der 
Welt. Aus zwei Bewegungen ſetzt ſich dieſe unſere Welt zuſammen, aus 
zwei Bewegungen mithin auch der Dienſt an ihr. „Das heilige Ja laßt uns 
bekennen — das heilige Nein laßt uns bekennen!“ — 

Ju allen Zeiten hat man in dieſen beiden Urbewegungen den letzten Welt- 
Sinn, das alleinige weltgeheimnis geſehen — ſchon die vorgeſchichtliche 
Menſchheit. Es iſt das hohe Verdienſt Schellings, zuerſt bemerkt zu haben, 
daß ſich die religioͤſe Vorſtellungswelt der Menſchheit vorgeſchichtlicher 
Zeit um das Bild der „Großen Mutter“, der Allgebaͤrerin und Allzerſtoͤre · 
rin Erde zuſammenballte, und daß dieſe ganze religiös · mythologiſche Dor- 
ſtellungswelt in dem Myſterium der „Großen Bötter von Samothrake“ 
am reinſten dargeſtellt worden iſt. 

welches it das „Seil“, die hoͤchſte Soffnung dieſer Menſchheit? Im My⸗ 
ſterium der „Seiligen Sochzeit“ hat ſie ihre kultiſche Ausformung ge⸗ 
funden. Es iſt dieſes Myſterium ſchlecht und recht eine Form der ſakramen⸗ 
talen Begattung, die der Einzuweihende mit der Großen Mutter begeht. 
Auch dieſes Myſterium iſt ein doppelſtelliges, doppelſchrittiges: als ero⸗ 
tiſches Myſterium bedeutet die „Heilige Sochzeit“ den Akt des Seraustritts 
der Frucht aus dem Mutterleib (Geburt), als ekſtatiſches iſt es auf die Kuͤck · 
gaͤngigmachung eben dieſes Vorganges gerichtet, indem es die Aufhebung 
dieſer unheiligen, durch die Geburt bewirkten Loslöfung vom Mutterleib 
bezweckt (Tod). Geborenwerden heißt: aus dem Urſtand unmittelbarer 
Lebensgemeinſchaft mit der Großen Mutter heraustreten, Sterben heißt: 
aus dem durch die Geburt bewirkten ZJuſtand der Vereinzelung, Verein; 
ſamung wieder heraus · und zuruͤcktreten in die fruͤhere Lebensgemeinſchaft 
mit der Erdmutter. Die hoͤchſte Hoffnung, die jene Menſchheit an diefe 
ſakral⸗ſakramentale Verſchmelzung knuͤpfte, war der Unſterblichkeits⸗ 
wunſch. Freilich war dieſe Art Unſterblichkeit, welche das Myſterium der 


446 Bari Mockel 


Großen Mutter bieten konnte, Peine Unvergaͤnglichkeit des inzelwefens, 
ſondern eine der floff- und geſtalthaften Wandlungen als ſolcher. Aber der 
Augenblick iſt nicht fern, wo ſich der Menſch mit einer ſolchen Unfterblid- 
keit nicht mehr zufrieden gibt, wo er vielmehr das Auge von der Erde weg 
zum Simmel erhebt nach einer beſſeren, uraniſchen Unſterblichkeit. Als der 
Gott Ryrios Dionyſos die Soͤttin Semele aus der Erdtiefe herausfuͤhrt 
und ſie als Thyone an den Simmel verſetzt, um ihr durch dieſen Akt eine 
neue, eine individuelle Unſterblichkeit zu verleihen, iſt das Zeitalter der Erd⸗ 
mutter abgeſchloſſen, und es bricht — etwa im erſten Jahrtauſend vor un⸗ 
ſerer Zeitrechnung das Zeitalter des Sonnengottes an. Es bedeutet den 
Sieg des Lichtes über die erdhaft · ſtofflichen Gewalten, den Sieg des Geiſtes 
uͤber die Materie. Dieſes Zeitalter hat eine Verwuͤſtung und Veroͤdung 
aller vegetativen und animaliſchen Funktionen im Gefolge — der Geiſt 
triumphiert! Gewiß war dieſes Zeitalter des Sonnengottes die folgen; 
ſchwerſte „Verdraͤngung“, welche die Menſchheit zu erleiden hatte, gleich; 
wohl bedeutete es keine Verirrung der Menſchheit. Vielmehr tritt in dieſer 
Aufeinanderfolge der beiden Zeitalter nur der geſetzmaͤßige Ablauf jener 
beiden Urbewegungen zutage, welcher dieſe Welt im Innerſten zuſammen ; 
haͤlt. Gleichzeitig findet jetzt das Myſterium der Großen Mutter feine Um ⸗ 
kehrung im Myſterium der chriſtlichen Maria. War jene Große Mutter der 
pelasger Trägerin des Myſteriums der „Seiligen Sochzeit “, fo wird Maria 
die Trägerin des Sakraments der Ehe. War ehedem der Vorgang der Be⸗ 
gattung geheiligt, ſo wird er jetzt fuͤr die Dauer von zwei Jahrtauſenden 
mit dem Stempel der Unheiligkeit und Unkeuſchheit gebrandmarkt. Gleich⸗ 
wohl hat auch das neue Myſterium an beiden Urbewegungen teil, nur ge⸗ 
rade im entgegengeſetzten Sinn von ehedem: aus dem alten erotiſch · ekſta⸗ 
tiſchen Myfterium iſt ein asketiſch⸗gnoſtiſches geworden, das in abbauenden 
Akten der Entſinnlichung, Entwirklichung Gott als die Wahrheit ſchaut 
und ſichtet. Was ehemals hereintritt in die unendliche Reihe ſtofflicher Ge⸗ 
burten und Tod hieß, das ſchmachtet jetzt nach Aufhebung, und was ehe 
dem Seraustritt aus der weltabgeſonderten Vereinſamung des Einzelweſens 
war, das fordert jetzt Fortdauer der Perſoͤnlichkeit in einem „ewigen Leben”. 

Über Gebuͤhr vernachlaͤſſigt, rächen ſich heute jene uralten Weltmächte 
einer chthoniſch⸗hyliſchen Weltordnung, die der neue Geiſt ⸗ und Sonnen; 
gott bei Übernahme feiner Serrſchaft gerichtet, verbannt und uns furcht ; 
bar verfeindet hat. Denn alles aus dem Seelenraum der Menſchheit Ver⸗ 
ſtoßene muß, wenn es zum Ewigen in uns gehoͤrig iſt, immer und immer 
wiederkehren. In dieſe Richtung weiſen die Jeichen der Zeit: ein neues 
drittes Reich der Weihe iſt im Anzuge, ein Weltalter, wo Erde und Sim- 
mel einander wieder nahe ſein werden. Wir Deutſchen aber werden die 
froͤmmſten Diener dieſer beiden letzten Goͤtter — der Mutter Erde und des 
Vaters Simmel — fein; dann endlich friedlich beheimatet und IT in 
dem, was unſer ift: im heiligen Reich der Deutfchen. — 


Das Seilige Reich der Deutſchen 447 


In Zieglers Buch hat jener Prozeß der Selbſtbeſinnung, wie er ſich als 
ein Akt geiſtig · ſittlicher Notwehr und Selbſtbehauptung gegenüber dem 
fortſchreitendem Verfall unſerer Lebensgrundlagen nach dem Zuſammen⸗ 
bruch durchſetzte, feinen philoſophiſch tiefften, ſittlich ernſteſten und lite · 
rariſch vollendetſten Ausdruck gefunden. Nur ein Deutſcher ſelbſt, einer 
von den ſeltenen, die in dieſen Jeiten ihres Namens Ehre wahrten, die 
ſelbſt Teil haben an allem Fluch und Segen einer ſchickſalhaft verſchlunge ; 
nen Menſchlichkeit, konnte im Beſitze jenes geheimnisvollen Schlüffels fein, 
der die geheimſten unterirdiſchen Kammern unſerer Geſchichte erſchließt; 
nur ein ſolcher konnte derartig heimliche Zwieſprache halten mit den Gei⸗ 
ſtern der Abgeſchiedenen in einer ZLebensbeichte ohnegleichen, mit einer 
Wahrhaftigkeit ohnegleichen. Weit mehr als eine bloß wiſſenſchaftliche 
Jergliederung des kollektiven Befundes „deutſcher Menſch“ zu fein, zieht 
dieſe deutſche Beichte alles hervor ans Licht des Tages, was wir uns ſelbſt 
am unbewußteſten erſtrebten und verfolgten, welcher Beſtimmung wir, 
geleitet von einer ziel · und ſinngebenden Geſetzlichkeit, heimlich zuſtrebten. 
Daß wir krank find am Ideal, daß in dieſer Krankheit unſer Schickſal, un ⸗ 
ſere geſchichtliche Tragik und die Not unſeres individuellen und kollektiven 
Daſeins liegt, das iſt die ſchmerzliche, aber offenbarungsreiche Erkenntnis 
dieſes Buches. Wir ſind das Volk, das in allem und zu jeder Zeit wie von 
einem ſtillen, bleichen Stern um Mitternacht begleitet, geleitet, geführt und 
verführt wird. Wir find die Argonauten, ewig unterwegs nach dem Gol · 
denen Dließ des Ideals, unruhvoll gepeinigt und gepeitſcht von ungeftill- 
ter Sehnſucht, die das Gluͤck immer nur dort findet, wo ſie ſelbſt nicht iſt. 
Wir ſind das Volk, das nie mit ſich zufrieden iſt, welches ſich ſtets anders, 
ſtets beſſer, feiner, freier, ſchoͤner, vollſtaͤndiger gewollt hat. Wie ſchufen 
wir nicht Voͤlker und Raſſen uns zum Bilde: jo wie wir wären, falls 
wir die Talente und Geſchicklichkeiten der anderen haͤtten, fo, wie die an- 
deren fein koͤnnten, wenn fie unſere reiche Seele haͤtten ! Weil wir uns — 
unbeſcheiden genug — an dem Ideale eines „Volkes ſchlechthin“ meſſen, 
an einem Volke, an dem eines Tages alle berechtigten Eigenheiten der 
übrigen Voͤlker zur Entfaltung kommen ſollen, deshalb, weil wir dieſen 
Maßſtab anlegen, müffen wir uns immer klein, unfertig, bedeutungslos 
vorkommen. Aus dieſem Gefuͤhl des Abſtandes vom Ideal find wir fort- 
während — und das iſt der letzte Grund für unſere Auslaͤnderei — mit 
unſerer Selbſterziehung und Selbſtwervollkommnung beſchaͤftigt. Es war 
der Schmerz, aber auch das hohe Gluck unſerer Geſchichte, daß wir an an- 
deren heranreifen, an anderen in die Soͤhe klettern, daß wir erſt Efen fein 
mußten, wenn wir uns verdienen wollten, Baum oder Säule zu fein. Des- 
halb find wir heute noch weit davon entfernt, ausgeglichen, fertig, aus; 
gewachſen zu ſein. Noch ſind wir immer unterwegs, alles Gute, alles Beſte 
aus aller Welt zuſammenzutragen und hineinzu verarbeiten in unſer 
wunſch ⸗ und Leitbild eines vollendeten geſellſchaftlichen Zuſtandes. Je 


448 i Rudolf von Delius 


mehr wir uns auf das geiſtige Erbe unſerer Vergangenheit befinnen und 
es aufs neue in Verwahrung, in Verwaltung nehmen, nachdem es Gene⸗ 
rationen hindurch vernachlaͤſſigt, verachtet war, um ſo eher muß es uns 
gelingen, von der guten Saat in aller Welt zu ernten und ſie bei uns zur 
Tat werden zu laſſen. Das iſt der Weg, den dies „ſeltſame Buch“ vom My⸗ 
thos des deutſchen Volkes zeigt. 


Rudolf von Delius 
Das Geheimnis Hegels 


an erzaͤhlt ſich eine Anekdote uͤber Segels Tod. In ſeiner letzten 
Stunde habe Segel geſagt: „Von allen meinen Schuͤlern ver⸗ 


ſtand mich doch nur einer. Nach wenigen Minuten habe er aber 
dann hinzugefuͤgt: „Und dieſer eine hat mich auch nicht ganz verſtanden.“ 
Dann ſei Segel geſtorben. 

Dieſe Geſchichte iſt frei erfunden, aber fie gebört zu jenen ſymboliſchen 
Anekdoten, die eine innere Wahrheit enthalten, eine Wahrheit, die oft tie ; 
fer iſt, als es die lachenden Erzaͤhler ſelber ahnen. 

Es iſt auch heute noch den meiſten Menſchen völlig unmöglich, die Ge⸗ 
danken Segels zu verſtehen. Das liegt aber durchaus nicht an ihrer „Dun⸗ 
kelheit / oder gar an dem ſchlechten Stil (Segels Geiſt iſt geradezu von uner- 
börter Schärfe und Klarheit): es liegt daran, daß Segel nicht, wie die an- 
deren Philoſophen, irgendwelche ähnliche neue Gedanken neben die ublichen 
von fruher gewohnten Gedanken ſtellt: Segel verändert die Subſtanz des 
Denkens ſelbſt, er ſchafft eine vollkommen neue Art des Denkens. 

Dies iſt Segels Geheimnis, der Schluͤſſel zu feinem Werk. Sat man diefen 
Schluͤſſel ergriffen und hält ihn feſt in der Sand, fo gibt es kein einfacheres, 
lichtſtrahlenderes Syſtem als das Segelſche. 

wenn man ſich Segel nähert, iſt alſo das Erſte, Wichtigfte, Entſcheiden 
de: dieſe neue Denkart ganz zu verſtehen, ja in ihr denken zu lernen. 


ie iſt die übliche Art des Denkens? Unſer Geiſt hat die Faͤhigkeit zur 
Abſtraktion. Das heißt: der Verſtand trennt von der Fuͤlle des Be- 
gebenen einzelne Momente ab, dieſe fixiert er, verſteinert ſie gleichſam und 
hebt fie fo als ſtarre Abſtraktionen im Gehirn auf. Die Logik und Wiſſen⸗ 
ſchaft beruht nun darauf, dieſe Begriffe zu vergleichen, ſie nebeneinander 
zu ſtellen oder untereinander, daraus neue Konſtruktionen zu errichten. 
Die Welt des Geiſtes iſt fo eine Sammlung losgelöfter und feſtgemachter 
Einzelheiten. Sie laſſen ſich zaͤhlen, ſie laſſen ſich vervielfaͤltigen und teilen, 
aber jeder Teil in ſich iſt eine beſtimmte Große. Manche Stuͤcke widerſprechen 
ſich, dann ſagt man: entweder — oder. Ein Drittes gibt es nicht. Auf dieſe 
Konſequenz iſt der Verſtand ſogar beſonders ſtolz. 


Das Geheimnis Segels 449 


egel verwirft nun diefe Art, zu denken, zwar nicht voͤllig, aber er zeigt, 

daß es eine ganz primitive Art des Denkens iſt, die es ſich ſelber un⸗ 
moglich macht, das Wefen der Dinge zu erfaſſen. Denn das Weſen iſt leben · 
dig, ein Prozeß, ein Fluten und Werden, ein Ubergehen und Sich · Verwan; 
deln. Jedes Moment ſchlaͤgt um und wird ein anderes. Jeder Teil iſt unlös- 
bar und pulſend verkettet mit allen anderen Teilen, er iſt nur verſtaͤndlich 
als mitſchwingend in einem Ganzen. 

Die Methode des Verſtandes, die einzelnen Momente des Prozeſſes ſtarr 
feſtzulegen als Abſtraktionen, verſperrt ſich damit ſelber den weg zur 
Wahrheit. Wir muͤſſen in uns eine neue Stufe des Denkens entwickeln: 
wir muͤſſen fließend, bewegt, organiſch denken; das Lebendige erfaſſen und 
es denken in der Bewegung ſelber. Dann zerſchmelzen jene ſtarren Abſtrak⸗ 
tionen. Wir denken den Prozeß, in dem das Einzelne immer zuruͤckgenom⸗ 
men wird in das Ganze, heraustritt als Offenbarung einer Tiefe, aber 
nicht zu iſolieren iſt, ſofort auch wieder verſchwindet im quellenden Grund. 

Dies iſt Segels neue Denkart: ſo denken, wie das Leben lebt. 


V tiefe Geiſter der Geſchichte haben ja ſchon an dies Problem ge⸗ 
ruͤhrt, beſonders die großen Myſtiker. Segel hat zuerſt mit dieſer Revo; 
lution ganz Ernſt gemacht: das organiſche Denken in den Mittelpunkt 
ſeines Syſtems geruͤckt. Die Abſtraktion und der Verſtand ſind bei ihm aus 
ihrer Serrſcherſtellung endgültig vertrieben. 

Alles bisherige Denken tötete das Leben, zerſchnitt es in Stucke und 
klagte dann uͤber die Ode ringsum. Segel zuerſt laͤßt die Welt heil und ganz. 
Alles iſt Prozeß und fließendes Geſchehen; Subjekt und Gbjekt nicht zu 
trennende Einheit. Alles wird, bewegt ſich, ſpruͤht im Rhythmus des ſich 
felber Geſtaltens und Vorwaͤrtsſtoßens. 

Der Menſch lockere die verkrampfte Sucht des harten Auseinander- 
reißens. Er ſpuͤre, wie die Gegenkraͤfte magnetiſch eins im anderen find. 
wie gar nichts iſoliert it. Wie uberall Totalitaͤten ihre geſunde Ganzheit 
behaupten. 

Das Negative, Bornierte, Enge hat kein Recht mehr und keine Stelle. 
Es iſt aufgelöft als kleines Mittel zu einem großen Zweck. Widerſpruch und 
Schmerz ſind nur Faktoren des Aufwaͤrts · Triebes. Die Wirklichkeit ſteigert 
ſich ſelber immer hoͤher empor. 

Denn: lebendiger Geiſt it erz und Kern jeder Wirklichkeit. Geiſt aber iſt 
Sellerwerden, Freierwerden: Souveränität. Das zeigt der Weg des bis ⸗ 
herigen Weltgeſchehens: ein immer leichteres Sich⸗Durchlichten des Stof · 
fes, ein immer zarteres Schweben und In ſich⸗ Ruhen. Immer klarere 
Macht des Zentrums, immer feineres Spiel der Teile, immer geſchloſſenere 
organiſche Form. 

So ſtroͤmt aus Segels Philoſophie eine Gluͤcksfuͤlle ohnegleichen. Die 
Entwicklung geht aufwaͤrts. Alle Momente, auch die qualvollſten, ſind 
tat xm 30 


450 J. O. Plaßmann 


notwendig eingefügt in das Ganze. Durch Spannung und Gegenſatz er- 
zeugt ſich erſt die wahre Harmonie. 

An dem Sieg des Weltgeiftes kann kein Zweifel fein. In jeder Epoche 
vollkommener tuͤrmt ſich der Bau. Nichts geht verloren, was je da war. 
Es wird aufgehoben und bewahrt als Teil und ZJierat in der ſtets reicher 
ſich entfaltenden Architektur menſchlicher Schoͤpfungen. 

Der Weltgeiſt marſchiert. Welche Seligkeit, mit an der Spitze zu fechten! 


J. O. Plaßmann 
Voͤlkerbuͤnde im Mittelalter 
D Geſchichte Europas, im Großen geſehen, zeigt einen beſtimmten 


Rhythmus, einen in großen Zeitraͤumen ſich auswirkenden Wechſel 
von uͤberſtaatlicher Organifation und Wiederauflöfung ſolcher 
Überordnungen, bei denen das auflöfende Ferment oft genug gerade in 
ůberlebten Einrichtungen und Trägern jener alt und morſch gewordenen 
Organiſationen zu finden iſt. Siſtoriſche Parallelen hinken bekanntlich 
immer; gleichwohl iſt es von Reiz, Analogien zu feben, wenn es ſich um 
Geſtaltungen und Entwicklungen auf demſelben hiſtoriſchen Boden han; 
delt, auf dem uralte Entwicklungstendenzen oft genug in modernem Ge⸗ 
wande wieder auftreten. Vielleicht kann man in dieſem Rhythmus von 
Aufloͤſung und Ordnung, ohne Optimiſt zu fein, doch ein ſchließliches Ziel 
entdecken, dem die geſamte Bewegung in dem dauernden Auf und Nieder 
mit allen Semmungen und Ruͤckſchlaͤgen zuſtrebt. 

Als ein ſolches Ziel erſcheint die Zuſammenfaſſung des geſamten Europa 
zu einer ideellen und praktiſchen Einheit, zu der die bewußten und un; 
bewußten hiſtoriſchen Kraͤfte ſeit dem Siege des roͤmiſchen Reiches und 
ſeiner Mittelmeerkultur im Grunde immer hingeſtrebt haben. Auch die 
durchaus zentripetalen, proteſtierenden Kraͤfte, die jeweils gegen die be 
ſtehende Überordnung ſich auflehnten, haben im Grunde die Forderung 
der Einheit an ſich nie geleugnet, ſondern nur das Uberwuchern einer be- 
ſtimmten Formel, Rörperfchaft oder geiſtigen Prägung bekaͤmpft. Solche 
Reaktionen traten mit Regelmaͤßigkeit ein, wenn die Vertreter einer über- 
ſtaatlichen oder ůͤbernationalen Autorität beſtehende Individualitaͤten leug⸗ 
neten und ignorierten, oder wenn dieſe in einem hoͤhern Maße als bisher 
zum Bewußtſein ihrer eigenen Beſonderheit gelangten. Andentungeweiſe 
ſei hier nur auf die lombardiſchen Städte, die Kriege von Kaiſer und 
Dapft, die Reformation und das Aufkommen des Nationalbewußtſeins 
als beſtimmender politiſcher Faktor hingewieſen. 

Im ganzen kann man ſagen, daß die bisherigen Einigungsverſuche im 
weſentlichen daran geſcheitert find, daß die uͤberwoͤlbenden Mächte ent · 


voͤlrerbuͤnde m Mitt tee — 844851 


weder nicht individuell genug waren, oder die von ihnen vertretenen 
Ideen eben nicht die innere Kraft behielten, um ſich Tendenzen zentri- 
fugaler Art mit eigenen Ideenkomplexen gegenuber zwingend zu behaupten. 
Solche Ideen, die im Mittelalter vorwiegend religioͤſer Art in roͤmiſcher 
praͤgung waren, zerbrachen an der Entdeckung der religisfen Individuali⸗ 
tät, waͤhrend die parallele ſtaatliche Idee ſchließlich an der Entdeckung der 
nationalen Individualität ſcheiterte — nicht ohne dem bisherigen Träger 
dieſer Idee, der deutſchen Nation, die nationale Einheit ſelbſt unwieder⸗ 
bringlich zu rauben. Denn im Grunde ſind wir das einzige Volk in Europa, 
deſſen ſtaatlicher Organismus noch nicht reſtlos auf das nationale Prinzip 
aufgebaut iſt. 

Seit im neueſten Europa Kriege unter den großen Nationen zur Ge⸗ 
wohnheitseinrichtung geworden ſind, hat man ſich wieder auf eine Idee 
beſonnen, deren innere Kraft imſtande waͤre, die auseinanderſtrebenden 
Kraͤfte zu binden und wenigſtens eine Selbſtvernichtung des ungeheuer 
umfangreich und empfindlich gewordenen ziviliſatoriſchen Organismus zu 
verhindern. Da die beiden Leitideen des Mittelalters keine allgemeine 
Gultigkeit mehr haben, und beſonders die letztere im Weltkrieg mit dem 
alten Oſterreich den Reſt einer ſtaatlichen Verkoͤrperung verloren hat, 
blieb keine andere als die abſtrakte Idee des Rechtes. Allerdings eines 
Rechtes, dem hiermit eine Weſensaͤnderung zugemutet wird; denn Rechts⸗ 
normen oder ein ideell begründeter Mechanismus, der grundſaͤtzlich das 
Einſetzen der phyſiſchen Gewalt zu verhindern beſtimmt iſt, beſtand bisher 
nur innerhalb einer geſchloſſenen ſtaatlichen Gemeinſchaft, waͤhrend ſolche 
Normen zwiſchen verſchiedenen Gemeinſchaften wohl auf Grund der Frei ⸗ 
willigkeit und beiderſeitiger Juſtimmung vertragsweife geſchloſſen werden, 
aber doch noch nicht eine über den Parteien ſtehende Unbedingtheit be · 
ſitzen. Eine ſolche Autoritaͤt im eigentlichen Sinne ſollte im Saager 
Schiedsgericht zum erſten Male erſcheinen, hat aber leider die größte Nata⸗ 
ſtrophe, die ſie verhindern ſollte, nicht abwenden koͤnnen. Nach dieſem 
eindruck vollſten Beweis ihrer Notwendigkeit mußte fie aber nur um fo 
ſtaͤrker wieder aufleben und fand dann im Voͤlkerbunde eine vorläufige, 
aber auch nur ſehr vorläufige Löfung. | 

Im Grunde unterſcheidet ſich dieſe ůͤberſtaatliche Rechtsidee weſentlich 
von der mehr ſtaatlich gebundenen roͤmiſchen; ſie iſt im Weſen mehr dem 
germaniſchen Denken entſproſſen; wie auch der reine Voͤlkerbundsgedanke 
feine durchdachteſten Ideen viel mehr aus England als etwa aus Frank; 
reich bezieht. Der Germane war im antiken Europa der erſte, der Staaten · 
gebilde errichtete, die im Weſen uͤbervoͤlkiſch waren. Auch der einzige Staat 
dieſer Art im modernen Europa, die Schweiz, traͤgt in ſeinem ganzen 
Aufbau das Gepraͤge einer germaniſchen Demokratie. Wir werden ſehen, 
wie ſich im Mittelalter unter beſchraͤnkteren, aber ſonſt aͤhnlichen Verhaͤlt 
niſſen wie heute auf dem ureigenſten Boden germaniſcher Rechtstradition 

30 


452 | J. O. Plaßmann 


ein Voͤlkerbund bildete, der feinen Zweck erfůͤllte und auch uber die Grenzen 
ſeines Entſtehungsgebietes werbende Kraft entfaltete. 

Dieſer Boden war Weftfalen, die deutſche Landfchaft, in der ſich aͤlteſter 
germaniſcher Rechtsſinn das ganze Mittelalter hindurch in einzigartigſter 
Weife gehalten hat. Schon die politiſchen Vorbedingungen zeigen hier, 
wie ein theoretiſcher Univerſalismus ſein ſtaatliches Ziel unter Vernichtung 
einer individuell gewachſenen Stammestradition zu erreichen ſuchte und 
damit nur die Aufloͤſung des geſchloſſenen Territoriums erreichte, ohne die 
Organiſterung des Ganzen auf die Dauer durchfuͤhren zu koͤnnen. In 
Barbaroſſa hatte die theoretiſche Univerſalgewalt Aber die nationale 
Stammesgewalt, die durch Seinrich den Loͤwen vertreten war, geſiegt; 
das Ergebnis war aber nur das geweſen, daß der ehemals ſtaͤrkſte ſtaaten · 
bildende Block der Sachſen zerſchlagen war und ſich in eine Menge von 
politiſchen Gewalten aufloͤſte, unter denen Fehden und Kriege in Heinerem 
Maßſtabe nun erſt recht losbrachen. Am meiſten galt dies für den weſt 
lichen Teil Sachſens, fuͤr Weſtfalen und Engern, da hier alte einheimiſche 
Dynaſten mit den von Weſten heruͤbergreifenden geiſtlich - ſtaatlichen Ge⸗ 
walten um den Einfluß ſtritten. So fand auch die zweite der Univerſal⸗ 
maͤchte des Mittelalters Einfluß auf einem Boden, der an ſich die Auelle 
einer ganz anders gearteten Volkstradition demokratiſcher Art war. 

Zugleich mit einem mächtigen Aufſchwunge von Sandel und Verkehr er- 
lebten auf dieſem Boden im Sochmittelalter auch die kriegeriſchen 3er- 
ſtoͤrungen ihre hoͤchſte Steigerung. In eine ſolche Epoche fallen die Be- 
muͤhungen des Kaifers Karl IV., den Landfrieden zu fördern und zu 
ſchuͤtzen. In weſtfalen war dieſen Beſtrebungen ſchon dadurch vor⸗ 
gearbeitet, daß man unabhaͤngig von allen politiſchen Beſtrebungen und 
Verflechtungen das Urteil über Friedensbrecher einer reinen Rechtsein · 
richtung zuwies, die ihre Berechtigung aus uralter Tradition herleitete 
und an die freien Leute als Kern des Volkes und Träger der germaniſchen 
Urdemokratie geknůpft war. Das war das weſtfaͤliſche Freie Gericht, oder 
die Feme, wie ſie meiſtens genannt wird; ein Schiedsgericht, das ſeine Ur⸗ 
teile ohne Anſehen der Perſon oder der politiſchen Macht zu faͤllen hatte. 

137J wurde den weſtfaͤliſchen Landesherren und Städten das erſte Land · 
friedensprivilegium durch Kaiſer Karl IV. erteilt, und zwar auf Grund 
ihres gemeinſchaftlichen Erſuchens, nachdem ſie ſich vorher zu einer Art 
konſtituierender Voͤlkerverſammlung zuſammengetaͤn hatten. Die wefent- 
lichſte Beſtimmung in dieſem Vertrage war der Schutz des perſoͤnlichen 
Eigentums und der perſoͤnlichen Sicherheit aller Bewohner unbeſchadet 
gelegentlicher Fehden und Kriege. Die Kriege ſelbſt gänzlich abzuſchaffen, 
unterfing man ſich ebenſowenig, wie heute noch der Voͤlkerbund; doch 
wurde, wie heute, die Eroͤffnung von Seindfeligkeiten von der Voraus⸗ 
ſetzung abhaͤngig gemacht, daß ſie zur Bewahrung der Ehre geſchehe; 
und auch dann ſollte Fein Angriff ftattfinden, wenn er nicht drei Tage zu; 


voͤlkerbunde im Mittelalter 453 


vor in aller Form angekündigt fei. Damit war immerhin eine ſtarke Moͤg⸗ 
lichkeit gegeben, unuͤberlegte Sebden überhaupt auszuſchalten und auch 
fonft einer friedlichen Vermittlertaͤtigkeit die Wege zu ebnen. Der Friedens 
brecher, der gegen dieſe Satzungen verſtieß, wurde mit der Acht des Reiches 
und aller vertragſchließenden Bundesangehoͤrigen belegt und fiel der Feme 
anheim. Beſonders bedeutſam war die Beſtimmung, daß derjenige, der 
ohne Ankuͤndigung eine Fehde vom Jaune bricht, binnen I$ Tagen ge⸗ 
richtet und zum Schadenerſatz verurteilt werden ſoll. Eine wichtige Ent · 
wicklungsmoͤglichkeit lag ſchließlich darin, daß es der Landfriedens 
verſammlung freiſtand, benachbarte und ſonſt intereffierte Serren und 
Staͤdte in den Bund aufzunehmen. 

Die wichtigſte Frage eines Voͤlkerbundes war nun auch damals ſchon, 
wer über das Vorliegen eines Landfriedensbruches gegebenenfalls zu rich⸗ 
ten hatte. Dazu war auch hier in erſter Linie die Derfammlung des Bundes 
berufen, die aus den Deputierten der beteiligten Fuͤrſten und Städte be- 
ſtand. Fuͤr ſchnelles Eingreifen und in Fallen, an denen mehrere Saupt⸗ 
maͤchte des Bundes direkt intereffiert waren, war dieſe Verſammlung in 
vielen Lagen nicht hinreichend unparteliſch und auch dem Spiel der poli- 
tiſchen Kraͤfte zu ſehr ausgeſetzt. Sier fand man eine Inſtanz, die vermoͤge 
ihrer ganz unpolitiſchen Grundeinſtellung als urſpruͤnglich reine Rechts 
inſtitution in hervorragender Weiſe zu dieſem Schiedsamte berufen war 
und gerade dem weſtfaͤliſchen Landfriedensbunde feine beſondere Prägung 
verlieh: die Freigrafen und Schöffen der weſtfaͤliſchen Semgerichte. Sie 
führten ihr Amt auf die von Karl dem Großen eingeſetzten Freigrafen 
zuruͤck, gingen aber in wirklichkeit wohl auf noch ältere Urſpruͤnge zuruck 
und waren in den Zeiten des Feudalismus ein Sort der aͤlteren germaniſchen 
Freiheit gegen die dynaſtiſchen Anſpruͤche. Sie erkannten auch als oberſten 
Gerichtsherrn nur den Kaiſer an, unter deſſen Banne die Stuhlherren 
Recht zu ſprechen hatten; ja in manchen Dingen behaupteten fie ein Ent 
ſcheidungerecht gegen Kaiſer und Papſt zu beſitzen. Laͤngere Zeit im Ver⸗ 
borgenen geblieben, traten die Gerichte jetzt wieder mit neuen kaiſerlichen 
Privilegien hervor und erhoben ſich bald zu gewaltigem Anſehen, das 
gerade in ihrer voͤlkerrechtlichen Aufgabe begründet war. 

Eine Zeitlang bewährte ſich der Sriedensbund in den Grenzen feiner 
Zwecke und Moͤglichkeiten ausgezeichnet. Es waren vor allem die auf⸗ 
gebluͤhten Städte, die an oͤffentlicher Sicherheit und an friedlichen Zu⸗ 
ſtaͤnden das groͤßte Intereſſe hatten und daher auch in dieſem kleinen 
Voͤlkerbund eine bedeutende Stellung einnahmen. In einem neuen Bunde 
von 1374, in dem die vier weſtfaͤliſchen Sauptſtaͤdte Mänfter, Soeſt, Oena⸗ 
brůck und Dortmund an erſter Stelle ſtehen, ſchloſſen fie mit den urſprůͤng · 
lichen Gruͤndern, den Biſchoͤfen von Paderborn, Muͤnſter und Osnabruͤck 
und dem Grafen von der Mark noch einen engeren Bund, der genaue Be- 
ſtimmungen über die Exekution gegen Friedensbrecher enthielt. Schon da⸗ 


4514 J. O. Plaßmann 


mals findet man die Gepflogenheit, von Bundes wegen ein oder mehrere 
Mitglieder mit der Beſtrafung und Bekaͤmpfung des Friedensbrechers zu 
betrauen. Eine ſolche wurde gegen etliche raͤuberiſche Burggrafen und 
Feudalherren zur Ausfuhrung gebracht. Alle, die an dem Fortbeſtehen un ; 
ſicherer Zuftände ein Intereſſe hatten, haben denn auch bald die Ein⸗ 
richtung als laͤſtige Zwangsanſtalt empfunden, gegen die mit allen Mitteln 
Sturm gelaufen wurde. 

Gleichwohl breitete ſich die Inſtitution und der Gedanke mit ziemlicher 
Schnelligkeit auch ůͤber andere Gegenden Deutſchlands aus, zumal in Gſt⸗ 
ſachſen, Thüringen und am Gberrhein, wo viele Fuͤrſten dem weſtfaͤliſchen 
Friedensbunde beitraten. In den meiſten Bundesländern wurden Friedens ⸗ 
gerichte nach dem Vorbilde der weſtfaͤliſchen errichtet; ja die Einrichtung 
der Feme ſelbſt verbreitete ſich weit über ihr eigentliches Seimatland hinaus 
und gab den eingeſeſſenen weſtfaͤliſchen Freiſchoͤffen Gelegenheit, ihre 
Wirkſamkeit über einen großen Teil des Reiches auszudehnen. Auch 
Batfer Wenzel ließ der Einrichtung zunaͤchſt angelegentliche Forderung an · 
gedeihen. Schon ſeit längerer Zeit tagte auf dem Burghof zu Arnsberg 
das oberſte Freigrafenkapitel, das zugleich der oberſte Schiedsgerichtshof 
für Voͤlkerſtreitigkeiten war. 1385 verſammelten ſich ſaͤmtliche weſtfaͤliſchen 
Stände, Biſchoͤfe, Grafen, Abte und Städte zu Soeſt, um die alten Bundes 
ſatzungen zu bekraͤftigen und zu ergaͤnzen. Als heilig und unverletzlich 
galten fortan Ackerleute, Reiſende und Geiſtliche, ſowie Jaͤger mit ihren 
unden; insbeſondere wurden auch das Muͤnzweſen und der Geldverkehr 
aller Bundesangehoͤrigen als wichtigſter Teil des Wirtſchaftslebens der 
Aufſicht des Zandfriedensrichters unterſtellt. Das war eine ſehr weit⸗ 
gehende Bindung der ſonſt auf ihre Unabhängigkeit bedachten Kontra» 
henten an ein gemeinſames Programm. 

Die Nutznießer der alten Gewaltpolitik empfanden den Zwang dieſes 
Friedensbundes als fo laͤſtig, daß fie ſchließlich 1387 auf dem Reichstage 
zu Würzburg bei Raifer Wenzel feine Aufhebung durchſetzten. Doch hatte 
dieſer Akt nur formale Bedeutung, denn ſchon hatten ſich die Gedanken 
des Bundes ſelbſt als fo nůͤtzlich und wirkſam erwieſen, daß er nach einigen 
Jahren in viel imponierenderem Umfange ſeine Auferſtehung erlebte. 
Dem Bunde der weſtfaͤliſchen Staͤnde ſchloß ſich der Erzbiſchof von Mainz 
als nunmehriger Vorſitzender an; hinzu traten die Serzoͤge von Juͤlich 
und Braunſchweig, die Landgrafen von Seſſen und Thüringen und zabl- 
reiche ſelbſtaͤndige geiſtliche und weltliche Fuͤrſten und Städte in verſchie⸗ 
denen Gegenden Deutſchlands. Außer den überlieferten Satzungen wurden 
jetzt regelmaͤßige Bundestagungen eingefuͤhrt, auf denen uͤber neue 
Bundesverordnungen und laufende Faͤlle beraten wurde. In der Tat 
wurde von den Friedensrichtern, beſonders den Freigrafen, manches Urteil 
in politiſchen Streitigkeiten gefällt; wir ſehen hier das für die Feudalzeit 
außerordentliche Schauſpiel, daß freie Bauern kraft ihrer überlieferten 


voͤlkerbuͤnde im Mittelalter 255 


Rechtsbefugniſſe aus der Vorzeit über die Streitigkeiten von Fuͤrſten und 
Grafen zu Gericht ſitzen. Zu dieſen traten die größeren Städte, die bald 
eine Anzahl der Freiſtuͤhle in ihren Beſitz zu bringen wußten und ſo auch 
auf den Bundestagungen als Teilhaber der Schiedsgerichtsbarkeit einen 
bedeutenden Einfluß aus ůbten. Das Anſehen der oberſten Schiedsgerichte 
in weſtfalen war fo groß, daß von allen Freiſtuͤhlen des ganzen Reiches 
an die Sauptfreiſtuͤhle zu Arnsberg und Dortmund appelliert werden 
konnte. 

Der tatſaͤchliche Einfluß der Friedensbuͤnde iſt daraus zu erſehen, daß 
gerade die Idee des unparteüſchen Schiedsgerichtes, aus aͤlteſter Über · 
lieferung übernommen, in ganz Deutſchland noch einen ſolchen Anklang 
fand, daß die Schiedsgerichte ſelbſt ſich in ihrer urſpruͤnglichen Form in 
ganz Deutſchland einbuͤrgerten. Aus der Verbindung von leidenſchaftlicher 
Steiheitsliebe und leidenſchaftlichem Rechtsgefůͤhl erwachſen, waren die 
Gerichte überall geachtet und gefuͤrchtet, wo fie ihrem eigentlichen Zweck, 
den Frieden zu bewahren, treu blieben. Ceider aber mißbrauchten fie ihre 
Macht bald zur Einmiſchung in allerlei Rechts haͤndel, die außerhalb dieſes 
Berufes lagen; und fo bůßten fie außerhalb Weſtfalens bald ihre Eigen⸗ 
ſchaft als unparteiifche Schiedsrichter in politiſchen Streitigkeiten ein. Die 
Stiedensbünde, die auf der Idee der Schiedsgerichts barkeit aufgebaut 
waren, haben jedoch auf die Entwicklung ſtaatlichen Denkens und die 
Konzentrierung wirtſchaftlicher und ideeller Kräfte trotz aller in der Zeit 
liegenden Maͤngel einen nicht geringen Einfluß gehabt. Zum erſten Male 
ſehen wir hier politiſche Gruppen nicht durch Aber ihnen ſtehende Ge⸗ 
walten phyſiſcher oder ideeller Natur, ſondern durch freie und ſelbſtaͤndige 
Vereinbarung zu groͤßeren Verbaͤnden mit einer Gemeinſchaft der Inter⸗ 
eſſen zuſammengeſchloſſen; gebunden durch eine Autoritaͤt, die ſich nicht 
aus einer mittelalterlich ⸗tranſzendenten Bedeutung, ſondern aus dem 
Rechtsgedanken ſelbſt herleitet. Und auch dieſer ſtammt nicht aus dem for⸗ 
malen Recht in ſtaatlicher Ausprägung, er iſt als ein Teil des natürlichen 
Rechtes auf eigenem Boden erwachſen und beſaß die Faͤhigkeit, einen 
großen Kompler verſchiedenartiger Gebiete zu ůberwoͤlben. Karl IV., den 
man wohl den erſten Monarchen mit modernem ſtaatlichen Denken nennt, 
ſcheint dieſe Ideen in ihrer Tragweite erkannt zu haben. 

Don beſonderem Reiz iſt es, die Anknuͤpfung einer modernen Idee an 
eine altdeutſche Rechtstradition zu beobachten, die durch dieſe Verbindung 
plotzlich aus halber Vergeſſenheit erwacht. Solche Anſaͤtze wurden aller⸗ 
dings bald durch die einſetzende machtſtaatliche Entwicklung im roͤmiſchen 
Sinne uͤberholt, die ſchließlich in Frankreich und England zum Zentralis⸗ 
mus, in Deutſchland aber zu deſſen Gegenteil führte. Man hat Deutſch⸗ 
land wohl ein Klein · Europa genannt, das die inneren Gegenſaͤtze des 
großen Europa auf ſeinem Boden durchzukoſten und auszugleichen be⸗ 
rufen ſei. Bünde ohne machtpolitiſche Spitze, die nur Frieden und Recht 


456 Oskar Schärer 


als oberſte ZLeitgedanken anerkennen, hat es bei uns ſchon gegeben. Wenn 
ſolche immer weitere Kreiſe ziehen, konnten fie ſchließlich das ganze alte 
Europa umfaſſen. Die Idee des Friedensbundes und des Schiedsgerichtes 
iſt an ſich germaniſcher Geiſtesbeſitz und daher auch dem deutſchen Weſen 
im Kerne nicht fremd. Solche hiſtoriſchen Ruͤckblicke in die Vorzeit koͤnnen 
auch praktiſchen Wert gewinnen, wenn ſie geeignet ſind, die Grundideen 
des kommenden europaͤiſchen Friedensbundes zu erläutern und zu klaren. 


Oskar Schuͤrer / Einige Geſichts⸗ 
punkte zur Entwicklung des 
Induſtrialismus 


er Induſtrialismus ſcheint heute zu einem gewiſſen Abſchnitt in 
ſeiner Entwicklung gelangt zu ſein, zu einer Selbſtfindung ſeiner 


7 Dar Dieſer Ablauf erſtreckt ſich über ein Jahrhundert. Man ver · 


1 
gleiche unſere Gegenwart mit dem Beginn des vorigen Jahrhunderts. 
Auch damals ſetzte — angeſichts der Ceiſtungen der jungen, ſich konſolidie⸗ 
8 . 32 renden Induſtrie ein realiſtiſch eingeſtellter Zukunftsoptimismus ein. Den 
ed 2 3 Weologifhen Überbau lieferte die Saint ⸗Simoniſtiſche Bewegung. Den 


4 


 Abnftlerifchen Niederſchlag zeigen Balzacs Werke aus den dreißiger Jah 
ren. „Unſer Jahrhundert wird das Reich der iſolierten Kraft, die ihren 
Reichtum in originale Schoͤpfungen ergießt, verknůpfen mit der Serrfchaft 
der gleichfoͤrmigen, aber nivellierenden Kraft, welche die Produkte egalifiert, 
ſie maſſenweiſe hervorbringt und damit einem unitariſchen Gedanken ge⸗ 
horcht, der letzten Ausdrucksform der Geſellſchaften “ (Balzac). Intelligenz 
und Produktion ſind verſchwiſtert, das iſt der Grundgedanke jener Wirt⸗ 
ſchaftsoptimiſten. Die neue induſtrielle Ara iſt Etappe einer großen Menſch ; 
heits aufgabe: der Beherrſchung der Erde. Der Saint · Simonismus hatte 
die induſtrielle Energie mit den ſittlichen und geiſtigen Kraͤften des ſchaffen · 
den Willens zu verknuͤpfen gewußt. Was ſich durch das Jahrhundert an In; 
duſtrialismusideologie dann weiterſchleppte, das war im Grunde immer nur 
Nachwirkung diefes erſten, im Jahrhundertbeginn aufgebrochenen Im ⸗ 
pulfes. Und genauere Unterſuchung würde zeigen, wie verwaͤſſert und op⸗ 
portunifiert dieſer Nachhall wirkte. 

Erſt heute, im neuen Jahrhundertbeginn, bricht wieder eine geiſtige 
Einſtellung dem induſtriellen Schaffen gegenüber auf, die — impulſiv und 
eigen wuͤchſig — es wagen darf, jenen Gedanken ſich an die Seite zu ſtellen. 
Erſtaunlich, wie aͤhnlich heutige Manifeſte der Induſtriebegeiſterten lauten. 
Und dies ohne jede direkte geiſtige Berührung mit jener. Nur aus der 
gleichen Spannung heraus, in der der Geiſt zu der als wirklich empfun- 


Einige Geſichtspunkte zur Entwicklung des Induſtrialismus 357 


denen Sachlage ſich befindet. Der tiefer ſuchende Blick allerdings wird 
Unterſcheidungen treffen muͤſſen: die ſtaͤrkere Betonung von Realismus 
und Bewußtheit im Seute, die ſtaͤrker ans „Menſchliche“ gebundene Stim · 
mung dort. Die Sauptrichtung der Gedanken iſt die gleiche: Erſparnis 
von Kräften durch intelligente Arbeitsmethoden, Anwendung der be 
freiten Kraͤfte fuͤr das Durchgeiſtigung des Lebens. — Und daraus möchte 
man auf ſehr ähnliche Situation auch der ſtofflichen Bedingungen ſchlie⸗ 
ßen. Bedeutet dies: Wiederkehr gleicher Utopien, oder aber Verwirklichung 
von damals nur gewaͤhnten und erhofften Zielen auf höherer Spiralen 
kurve. 

Wir folgen der Entwicklung geiſtiger Syſteme, die uns wichtige Kuͤck⸗ 
ſchluͤſſe auf die materielle Entwicklung des Induſtrialismus geſtattet. Die 
Ausgeſtaltung der Lebre Saint · Simons vor allem durch feine Schuͤler 
zeigt indirekt, die ſpaͤteren Werke Balzacs direkt, wie an die Stelle des anfaͤng ; 
lichen Jukunftsoptimismus immer ſtaͤrker eine Reſignation der Geiſtigen 
in bezug auf Bezwingung der materiellen Gegebenheit Platz greift. Gegen 
den Mammonismus, der der induſtriellen Ara als Baſtard entſteigt, richten 
ſich jetzt alle poſitiv⸗evolutionaͤren und negativ · oppoſitionellen Strebun- 
gen des Zeitalters. Was war aus der jungen, fo hoffnungsvollen Macht des 
Induſtrialismus geworden. An die Stelle des Erfinders war die Selbft- 
geſetzlichkeit der Maſchine getreten. Satte der Menſch zuerſt glauben 
dürfen, mit Silfe feiner ingenioͤſen Mittel den Stoff zu bewältigen, ihn 
unter ſeine Forderungen zu zwingen, ſo trat ihm jetzt das erſtarkte Mittel 
ſelbſt entgegen. Die Maſchine wilderte, die in ihr gebundene Macht raſte 
auf und entzog ſich der Serrſchaft des Menſchen. Schlimmer: fie rief feine 
niederſten Inſtinkte wach. Maſſenerzeugung und Profit waren jetzt die 
Sebel, die ohne verantwortungsbewußte Korrekturen von feiten des 
Geiſtes die Entwicklung beberrfchten. Der Erſinder — wie hatte ihn Bal ; 
zac in allen Variationen verherrlicht! — trat hinter der ausbrechenden 
Maſchinengewalt zuruͤck. Der geriebene Geldmenſch machte ſich die neue 
Situation zunutze. Der Kapitalismus ſtand im Flor. 

So ſpiegelt ſich die Entwicklung in den geiſtigen Schoͤpfungen der 
Zeit. Balzacs Jubel weicht einer tiefen Verzweiflung. Der Saint ⸗Simo⸗ 
nismus wird nur noch geiſtig religiös gefärbter Rommunismus. Doch 
blicken wir auf den Induſtrialismus ſelbſt. Was leiftete er um die Jahr 
hundertmitte und daruͤber hinaus. Er knechtete die Menſchen unter die 
Maſchine, er zwang den Stoff in feine willkuͤrlichen Forderungen. Die 
Monſtren der Fabriken ſchoſſen auf und riſſen den Arbeiter in ihre ent- 
menſchten Schluͤnde. Die Rohſtoffe wurden je nach Faͤhigkeiten der Ma⸗ 
ſchine in Zeiftung und Form gepreßt, die nicht ihrem eigenen Geſetz ent⸗ 
ſprach. Ein Abſolutismus der Maſchine wucherte, verbarg ſich aber hinter 
haͤßlicher Verlogenheit. Nach der ſozialen Seite hin wurde er wirtſchafts 
opportuniſtiſch verbraͤmt — nach der materialen, werkformlichen Seite 


458 Oskar Schärer 


bin wurde feine Unform unter wefensfremde Stilformen verborgen. Sin- 
ter all diefen Lügen aber verduͤſterte fein wahres Geſicht die Zeit: eine rohe 
Naturgewalt ſchien ſich richtungslos zu verſtroͤmen. 

Die weltanſchauliche Reaktion dieſes Entwicklungsſtadiums war der 
Marxismus. Ihm war die Welt auseinandergeborften in Unternehmer und 
Arbeiter, in Bapitaliften und Proletarier. Der Menſch, der von der Maſchi⸗ 
nengewalt bedraͤngt wurde, zerfleiſchte ſich alſo auch noch in ſich ſelbſt. Erſt 
das ausgehende Jahrhundert erkannte die eigentliche Gegnerſchaft, die der 
maſchine zum Menſchen ů berhaupt. Arbeitgeber und Arbeitnehmer ſuchten 
die unter ihnen ausgebrochenen Gegenſaͤtze einander anzugleichen, einen 
gemeinfamen Intereſſenſtandpunkt gegenůber der brutalen Gewalt der 
mMaſchine zu finden. Aber auch dieſes Buͤndnis haͤtte noch wenig gegen 
deren unheimliche Kraͤfte vermocht, wäre nicht zugleich eine viel tiefere 
Einſicht in die Forderungen des Stoffes erwacht, haͤtte dieſer nicht ſeine 
eigentlichen Kraͤfte geoffenbart, die ihrerſeits den Menſchen zu feinerem 
Aufhorchen zwangen, und in den Reſultaten dieſes Aufhorchens neue 
Moͤglichkeiten anboten. 

Dieſe Neueinſtellung dem Stoffe gegenüber, die ſich im Lauf der in- 
duſtriellen Entwicklung durchſetzt, iſt wichtig. Nicht nur die Entdeckung 
ganz neuer Energiequellen ſpricht da hinein. Bezeichnender faſt fuͤr den 
Umſchwung innerhalb der Entwicklung iſt jene immer eindringlichere Be⸗ 
obachtung und ihr folgend: Bewertung der bekannten Stoffbeſtaͤnde 
der Metalle 3.8. — die auf ihre Faͤhigkeiten hin in den verſchiedenen 
Stadien und Gaͤngen beruͤckſichtigt werden. Als Station der Entwicklung 
bedeutet das: Der menſchliche Geiſt draͤngt ſich wieder an die Stoffgeſetze 
heran, richtet ihnen gemäß feine Methoden und zwingt die Maſchine zu⸗ 
ruck in deren Forderungen. Und auch von der anderen Seite her wird die 
Macht der Maſchine eingedaͤmmt: der Taylorismus darf nicht einſeitig als 
Anpaſſung des menſchlichen Organismus an die Maſchinenforderungen 
geſehen werden — in berechtigterem Sinne kann er als Überliftung der 
Maſchine durch den Geiſt gedeutet werden, als Errechnung der geringſten 
Muͤhe zu ihrer Beherrſchung. Die weitgetriebenen Arbeits ⸗ und Zeitſtudien 
unſerer Tage liefern da beredtes Material. Die Maſchine iſt heute wieder 
Werkzeug im induſtriellen Dienſt geworden. Und bier ſteht der Induſtrialis· 
mus heute. 

Caͤßt ſich ſchon die Entfaltung von Kraͤften aus dieſer kurzen Skizzie⸗ 
rung der Entwicklung herausleſen? Der Weg der theoretiſchen Neak⸗ 
tionen dieſer Entwicklung ſcheint nur negative Auskunft zu geben: Von 
weltanſchauung : Saint · Simonismus — über Wirtſchaftsanſchauung 
— : Marxismus — zur Methode —: Taylorismus. — Läuft auch die 
Aktion ſelbſt dieſen kulturfeindlichen weg? Man muß unter beſtimmten 
Geſichts punkten nach Kräften forſchen, die fi hier entfalten. 

IJunaͤchſt nach dem Geſichtopunkt von Menſch und Stoff. Es iſt deut 


Einige Geſichtspunkte zur Entwicklung des Induſtrialis mus 45 


lich, wie ſich in dieſem einen Jahrhundert Induſtrialismus ein immer poſtti⸗ 
veres Verhaltnis zwiſchen beiden herausbildet. Was den Saint ⸗Simonis⸗ 
mus Balzacs 3. B. zur Ideologie ſtempelt, iſt ja zutiefſt in jenem falſchen 
Spannungsverhaͤltnis des Menſchen zur welt begründet, wie es ſich in der 
wilden Eroberungsluſt des beginnenden Induſtrialismus äußert. Seine 
eigentlichen Kraͤfte wildern ins Zeere, er entgleiſt ins wirtſchaftsgetriebe 
des Kapitalismus, verliert fein ſchoͤpferiſches Jentrum, das Balzac ſchon 
richtig geahnt hatte, und findet ſich zu ſich ſelbſt zuruck erſt, als feine auf die 
Realität abzielenden Kraͤfte wieder Boden finden, als der jaͤbe Ausbruch 
ingeniöfer Energie ſich einſchmiegt in die Gegebenheiten des Stoffes, als 
Wille und Werk ehrlichen Rontakt zur Wirklichkeit gefunden haben. 

Mit dieſen Kraͤften, die zur werkgemaͤßen Wahrheit und geiftgemäßen 
Realiſation hindraͤngen, haͤngen andere zuſammen, die wir unter dem Ge⸗ 
ſichtspunkt von Kraft und Richtung erfaſſen. Sür den Beginn der in ⸗ 
duſtriellen Bewegung iſt die Richtungsloſigkeit des Ganzen charakteriſtiſch. 
Wie ein Vampir ſtreckt die junge Macht ihre Fangarme aus, überall hin, 
wo Beute lockt. Und dieſe Richtungeloſigkeit bleibt faſt für das ganze vorige 
Jahrhundert bezeichnend. Wie Verſteinerungen dieſes ungeſchlachten 
Triebes muten uns heute jene brutalen Sabriftomplere an, die labyrinthiſch 
und duͤſter in die Städte hineingeworfen, an die Berge angefangt, in die 
Ebenen hinausgeſchleudert das menſchliche Gefůhl verletzen. Aber dieſer 
Richtungsloſigkeit der dinglichen Erſcheinung entſprach eine Richtungs⸗ 
loſigkeit der ideellen. Schaffen um jeden Preis — das war von Beginn an 
Parole. Aber: Verdienen um jeden Preis — das wurde immer mehr die 
Parole. Damals trieb der Induſtrialismus ins kapitaliſtiſche Fahrwaſſer. 
Seine Leiftungen zerfplitterten ſich in Ronkurenzkaͤmpfen. Seine Pro⸗ 
dukte litten unter der Notwendigkeit des Unterbietens, der verfuͤhreriſchen 
Abſatzmoͤglichkeiten. Der Induſtrielle des vorigen Jahrhunderts, ſoweit 
er ſich Rechenſchaft gab uber feine Stellung, bekannte ſich zum Kapitalis⸗ 
mus. Ja, die Macht des Induſtrialismus als Ganzes ordnete ſich der kapi⸗ 
taliſtiſchen Weltordnung unter. Das Kapital war Serrſcher. Um ſich zu 
vermehren, bedurfte es eines willigen, zu allem bereiten Anechtes. Der im 
Induſtrialismus wirkſame Schaffenstrieb, der ſich noch nicht als ſelbſt⸗ 
ſtaͤndig, als eigenmaͤchtig erkannt hatte, der nach Betätigung ſchrie, ord- 
nete ſich willig unter. Und das bedeutete fuͤr den Induſtrialismus ein ge⸗ 
faͤhrliches Mißverſtehen feiner ſelbſt. Die Definition der Begriffe macht es 
deutlich. Kapital iſt angehaͤufte Macht, die Ausnutzung fordert. Dieſe 
Weſensbeſtimmung ſchließt den Begriff der Ronkurrenz in fi. Induſtri 
alismus iſt taͤtige Macht, die Neuſchaffen fordert. Und das ſchließt den 
Begriff der Konkurrenz nicht nur aus, ſondern verlangt im Gegenteil den 
Zuſammenſchluß aller gleichgerichteten Krafte. wie der Induſtrialismus 
dieſes erſt nur dumpf gefuͤhlten Zieles immer deutlicher ſich bewußt wird, 
iſt intereſſant zu verfolgen. Die Sorizontalſchichtung der Induſtrien, wie 


460 Oskar Schuͤrer 


fie unter dem Einfluß des kapitaliſtiſchen Ronkurrenzſyſtems ſich ausgebaut 
hatte, wich der Vertikalſchichtung. Nicht mehr die gleichartigen Induſtrien 
ſchloſſen ſich zuſammen zur Ausſchaltung oder Unterdruͤckung der Kon ; 
kurrenz, ſondern im Produktionsprozeß aufeinander angewieſene Werke 
ſtaffelten ſich zum werkkompler, innerhalb deſſen die induſtrielle Leitung 
dem gefamten Prozeß vom Rohmaterial bis zum letzten Fertigprodukt be- 
ſorgte. Der Gegenſatz von Schwerinduſtrie zu verarbeitender Induſtrie 3. B. 
faͤllt immer mehr fort. Summierung weicht der Örganifierung. Auch wo 
wie in der jüngften Entwicklung wieder Sorizontalſchichtung auftritt. Aus⸗ 
ſchlaggebend iſt der Zweck, die Zuſammenſchluͤſſe, die ſich zu ůberrationalen 
Syſtemen ausbauen. Alle im Konkurrenzkampf unnötig ausgegebene 
Kraft wird frei für jenen Urwillen des Induſtrialismus, der zum Ganzen 
ſtrebt. | 

Die Etappen des Weltkrieges zeigen dieſe Entwicklung im großen. Die 
ubliche wirtſchaftsgeſchichtliche Betrachtung ſieht im weltkrieg den 
Kampf gegneriſcher Intereſſentengruppen. Sur ſolche Anſchauung mußte 
eine international eingeſtellte Balanceideologie die praktiſche Zöfung er- 
geben. Sie wurde von den Erben des internationalen Kapitalismus vor⸗ 
geſchlagen. Aber die Selbſtfindung des Induſtrialismus trieb ſchon über 
fie hinaus. Seine eigentlichen Kräfte durchſchlugen die Daͤmme kapitaliſti 
ſcher IJdeologieen. Jene zentripetalen Maͤchte, die in ihm trieben, zeigten 
zum erſtenmal ſkrupellos ihr entmenſchtes Antlitz. Im Ausgang des Ruhr⸗ 
krieges zeigte es ſich unausweichlich auf. Man kann im Ruhrkrieg die Fort · 
ſetzung des Weltkriegs mit andern Mitteln ſehen. Wieder — wie im welt⸗ 
krieg hinter nationalverbraͤmten Sorderungen der Anſpruch wirtfchaft- 
licher Intereſſentengruppen. Da plotzlich: die Aktion der Induſtriellen: 
Die ſcheinbaren Gegner — vom nationalen Standpunkt aus — ſchließen 
ſich zuſammen. Die Weltmacht Induſtrialismus diktiert die Beendigung 
des Kampfes. Unter ſolchem Geſichtspunkt bedeutet das Vorgehen der 
Rubrkönige weder Verrat an der nationalen Sache, noch Einſicht in wirt⸗ 
ſchaftliche Unterlegenheit unter den Gegner. Sie bedeutet nichts anderes 
als das offene Bekenntnis des Induſtrialismus zu der im Grunde treiben⸗ 
den Kraft, die alle formalen Scheidungen — auch die nationalen — nieder; 
zwingt und alles Weſensgleiche zuſammenreißt zur einen Weltmacht. 

Jetzt iſt ſich der Induſtrialismus feiner tiefſten Kraͤfte bewußt. Jetzt 
ſchuͤttelt er das Joch des Kapitalismus von ſich. Er befreit ſich nicht nur von 
der nur jenem gemaͤßen Ideologie zu ſeiner eigenen, ſondern er zwingt nun 
ihn in ſeine Botmaͤßigkeit. Er fordert nun die Gelder, er peitſcht nun die 
Banken zu ſtets neuer Auftreibung der Mittel, deren er bedarf zur Befriedi ; 
gung ſeines Produktionshungers. Unter ſeiner Machtentfaltung hat ſich die 
Sunftion des Kapitals entſcheidend gewandelt. Erſchließung neuer Ener 
giequellen, das iſt ihm Anlage und Zins. Immer geſteigerte Produktion iſt 
fein Ziel. Zur Realifierung der im Stoff verborgenen Krafte fügt er deren 


Einige Geſichtspunkte zur Entwicklung des Induſtrialismus 4061 


Sebung ins Produktive. Die beſondere Art der induſtrialiſtiſchen Produk ⸗ 
tivitaͤt wird uns Har, wenn wir nochmal auf den unter dem erſten 
Geſichtspunkt aufgedeckten Realismus zuruͤckblicken. Die im Stoff la⸗ 
tenten Kraͤfte werden befreit und als freie in den Produktionsgang ein- 

geſchaltet. Ihre Eigenenergieen werden nicht mehr umgebogen in dem 
willkuͤrlichen Zweck gefuͤgige, ſondern fie werden in ihrer organiſchen Funk⸗ 
tion belaſſen und fo im werkganzen verwertet. Der ZIweck beſtimmt ſich 
jetzt aus der Kraft, nicht mehr umgekehrt. Die ingenioͤſe Energie fügt ſich 
alſo in eine objektive Wirklichkeit. Die ganze Wucht der Weltenergie formt 
ſich zu dieſer, für den heutigen Induſtrialismus typiſchen objektiven Pro⸗ 
duktivitaͤt ſchaffender Kräfte. 

Bleibt noch die Frage nach Arbeit und Form. Im Verhältnis der Lei; 
ſtung und der Art, wie dieſe Zeiftung zuſtande kommt, ſpricht ſich immer 
eine zum Wefen der Erſcheinung gehoͤrige Kraft aus. Wie iſt das Arbeits ⸗ 
gefuͤge des heutigen Induſtrialismus beſchaffen. Auch hier ließe ſich wieder 
eine Entwicklung zum weſens notwendigen hin innerhalb dieſes Selbſt⸗ 
findungsjahrhunderts aufweiſen. Die oben bezeichnete Richtungeloſigkeit 
des jungen Ungetüms galt zuerſt auch für die Beziehung der Arbeitsgaͤnge 
untereinander. Ein Sich ⸗Einſpielen der verſchiedenen im Komplex zu⸗ 
ſammengefaßten Zeiſtungen ruckt gleichzeitig mit der äußeren Richtungs- 
findung vor. Immer peinlicher richten ſich die Einzelprozeſſe aufeinander, 
ſpringen fuͤr einander ein, ergaͤnzen ſich gegenſeitig. Bis heute dieſer Wun · 
derbau eines modernen Werkkoloſſes vor uns ſteht, in dem die tauſend 
Räder faſzinierend ineinandergreifen. Ja, dieſer peinliche, aufeinander ab- 
geſtimmte Innenorganismus kontraſtiert auch heute noch ſeltſam mit dem 
dumpf vorwaͤrtsdraͤngenden, nur durch feine Zeiſtungsfaͤhigkeit vital re- 
gulierten Außen. Denn was oben vom Kichtungs finden des Induſtrialis⸗ 
mus geſagt wurde, gilt nur fir feine umfaſſenden Tendenzen. Als Einzel; 
erſcheinung mutet er aͤußerlich noch immer undiſzipliniert, naturgewaltig 
roh, ja brutal an. Und diefer zentripetal ſich ſteigernden Richtungsloſigkeit 
der Geſamterſcheinung antwortet nun ein unerhoͤrt praͤzis ineinander ge⸗ 
richtetes Innenwerk, ein relativiſtiſches Gefuͤge in ſich verklammerter Be⸗ 
ziehungen. Gerade dies Ineinander von orm und Unform am gleichen 
Phänomen; dieſe Gegenſaͤtzlichkeit von Innen und Außen, macht die bis 
zum Befremden erſtaunliche Eigenart des Induſtrialismus aus. Doch eben 
dieſe Gegenſaͤtzlichkeit ſcheint auch die Quelle nie verſiegender Kraft für 
ihn zu ſein: Die vorſtoßende Macht des Ganzen iſt nur aus dem peinlich 
ſich ſelbſt erfuͤllenden Innenorganismus zu verſtehen, und umgekehrt ge- 
winnt dieſe ungeheuerliche Innendynamik ihren Schwung und ihre Not⸗ 
wendigkeit an der Sochſpannung des Ganzen. In der vermeintlichen Sinn; 
loſigkeit dieſes Ineinanders von Form und Unform liegt alſo ein zunaͤchſt 
nur ſchwer zu faſſender Sinn. Erſt im inneren Gefuͤge reifte dieſer ſchon 
aus. Sier bedingte er dieſe fachliche Ausgewogenheit, dieſe peinliche Be⸗ 


462 Gskar Schürer, Einige Geſichtspunkte zur Entwicklung des Induſtrialis mus 


dingtheit aller Teilvorgaͤnge durch das Ganze, wie ſie ſonſt eben nur im 
Organismus zu finden ift. Sier waltet eine Stimmigkeit der Mechanismen, 
die faſziniert. Dies Statiſch · Gerichtete des Ganzen, aus dem ſich nicht ein 
einziger Teil herausnehmen läßt, ohne daß das Ganze zerſtoͤrt iſt, dieſe 
ſtreng relativiſtiſche Einheit des Komplexes im Innern, — das iſt wohl 
der bezeichnendſte Weſenszug des Induſtrialismus. Aus eigenen Geſetzen 
heraus erzwang er eine Wahrheit, die ſich der Naturwahrheit an die Seite 
ſtellt. Notwendig wie dieſe, jedes auf ganz andere Kräfte und Geſetze 
zuruckzufuhren: eben auf jenen Zwang zur Sachlichkeit, wie er ſich 
immer eindeutiger im Induſtriegefuͤge bekundet. Das Naturgeſetz groͤßt · 
moͤglicher Entfaltung jeden Einzelweſens wird tranſponiert in das Werk. 
geſetz groͤßtmoͤglichſter Beſtimmtheit jeden Einzeldings. Dieſes Werk. 
geſetz it nur Glied eines Kanons, der alle Einzelbeſtimmtheiten wieder 
fügt und relativiert zum Funktionsſinn für das Ganze. Dieſer Trieb wird 
ſich ſeiner ſelbſt bewußt in der Ronſtruktion. Und dieſe Bewußtheit des 
Machens, des Nonſtruierens an ſich, iſt die typiſche Arbeitsform des Indu ; 
ſtrialismus. 

Die Entwicklung der aus dieſer Arbeitsform reſultierenden Werkform 
gehoͤrt ſchon unter die Botmaͤßigkeit der dieſen Kraͤften entſpringenden, 
geſtaltenden Geſetze, mußte alfo gefondert betrachtet werden. Sier ſei noch 
kurz zuſammengefaßt, was wir aus der Entwicklung dieſes Jahrhunderts 
Induſtrialismus an Grundkraͤften herausgetrieben fanden. Junaͤchſt die ſes 
machtvolle Sinftreben zur Realität, dies immer tiefer ſich Sineinbohren in 
die Forderungen der Wirklichkeit, dieſe Anerkenntnis des Seienden und ſeiner 
Geſetze. Dann die Zuſammenraffung aller Kräfte unter der einen der Pro- 
duktion, und zwar einer Produktion, die ſich aus der objektiven Energie 
der Dinge ſpeiſt. Als drittes die Relativierung aller teilhabenden Prozeſſe 
zur Grundform der Ronſtruktion, die alles Gewachſene ins Reich des 
Gemachten objektiviert. Realismus, Produktivitaͤt, Ronſtruttion das find 
die Grundkraͤfte des Induſtrialismus. Nach dem Geſagten erübrigt es ſich, 
des Zangen feſtzuſtellen, was es mit der Analogie des heutigen und ehemali⸗ 
gen Werkoptimismus auf ſich hat. Erſt heute iſt die Idee des Induſtrialismus 
ihrer Verwirklichung naͤher gekommen. Erſt heute kann ſich auf ihn eine 
Ideologie auf bauen, die nicht mehr wie damals uͤber zuſammenbrechendem 
Unterbau der Tatſachen zur Utopie ſich verfluͤchtigen muß. Materielle 
Grundforderungen find erfüllt, — der Geiſt kann beginnen”. 


* Diefe Bemerkungen entſtammen dem größeren Verſuch einer Jeitanalyſe: 
Induſtrialismus und Kunſt, deſſen Juſammenhang erſt den weſentlichen 
Sinn der aufgeführten Geſichtspunkte erläutert. O. S. 


umſchau 463 


Umſchau 


Geſolei⸗Eindruͤcke Durch mich geht's ein zur Stadt der Qualerkorenen. 


Naͤmlich durch die Pforte der Salle für Soziale 
Sürforge auf der Duͤſſeldorfer Geſole i. Es ſpaziert ſich ſonſt fo buͤbſch zwiſchen 
netten Blumenbeeten von Salle zu Salle, in den Sallen von einem intereſſanten 
Gegenſtand zum andern, und auch die Salle fuͤr Soziale Fuͤrſorge iſt ſo lehrreich 
und anſchaulich aufgebaut, daß man ſeine wahre Freude daran haben kann. Man 
hat auch mehrfach den beruhigenden Eindruck, daß es dank dem vereinten unab ; 
laͤſſigen Bemuͤhen von Behoͤrden und Verbänden privater Art bie und da tat ⸗ 
ſaͤchlich gelingt, den Zundertſatz der Unglädsfälle, der Todesfälle an Tuberkuloſe 
uſw. herabzudruͤcken, und doch muß der kein Serz in der Bruſt haben, der nicht 
tief ergriffen, ja erſchůͤttert dieſe Salle verläßt. Freilich liegen keine Bettler auf den 
Stufen, folgen deinem Schritt weder Aruͤppel noch ſonſt Mißgeſchickte, hat der 
Zeichner ſelbſt Aber die bitterſten Wahrheiten, die beſchaͤmendſten Tatſachen einen 
leiſen Schimmer verſoͤhnenden Zumors gebreitet: wenn er dem Storch bei 
Kriegsbeginn die Pidelbaube, im dritten Ariegsjabr den Stahlhelm, J9J8 die 
Jakobinermuͤtze aufſetzt, und ihn, wie die Kinder, die er bringt, immer weniger und 
immer kuͤmmerlicher werden, endlich hoͤchſt erſtaunt ſagen laͤßt: „Nanu!“ Es iſt 
auf den erſten Blick auch geradezu drollig zu feben, wie auf einer Scheibe kon ⸗ 
zentriſcher Breife ſich aus den Kirchentuͤren rechts dem Mittelpunkt am naͤchſten 
nur ganz wenige Paare heraus und binüber in eine eigene Wohnung drehen, 
während nach außen zu immer mehr Paare teils in die bis berige Wohnung des 
Braͤutigams, oder gar in die bisherige elterliche Wohnung ſich zwaͤngen; wie — 
in einem andern ſolchen Spielzeug zum Aufziehen im Jeitmaß I: JO000 ein 
Brautpaar nach dem andern vorm Altar angerollt kommt, um ſich von einem 
mehr Verkehrs ſchutzmann als Geiſtlichen in raſcher Folge trauen zu laſſen, ſich 
dann in langer Schlange auf der Straße anſtellen, wie aber die Saͤuſerzeile, die für 
fie gebaut wird, immer hoffnungsloſer hinter der raſtlos wachſenden Kolonne 
zuruͤckbleibt. An trefflichen Modellen wird uns Har, wie viel bumaner heute 
namentlich jugendliche Strafgefangene behandelt werden, als in der guten alten 
Zeit, aquarienbaft von hinten oben ſonnig beleuchtete Dioramen landſchaftlich 
beinahe beneidenswert gelegener RAindererholungs heime oder Lungenheilſtaͤtten 
zeigen, was alles heutzutage fuͤr die leidende Menſchheit getan wird, aber ſo oft 
wir aufatmen wollen und meinen, wir brauchten uns alſo nicht weiter darum zu 
kuͤmmern, es werde ſchon von den verantwortlichen Stellen das Menſchenmsdg⸗ 
liche getan, ſchließlich zahlten wir doch eben darum einen guten Teil der Steuern, 
um auch an unferm Teil dieſen Armen zu helfen, die — wer weiß — wohl ſelbſt 
an ihrem Unglüd ſchuld find, ebenſo oft beaͤngſtigt uns fo manche bedrohlich an- 
ſteigende Burve, verfolgen uns überhaupt die jammervollen Blicke derer, die un · 
genannt und ungefeben hinter all dieſen 5, 6, 7 ſtelligen Jahlen fteben. Viel ⸗ 
leicht laſſen wir uns nur verbläffen? Sind's gemeſſen an den Aber · und Aber: 
millionen Menſchen in Deutſchland gar nicht fo ſchrecklich viele? Fällt uns 
nur uberall Ungluͤck und Elend doppelt unangenehm auf, wird von Jeitungen, 
Ainos, Bußpredigern allzu grell an die Wand gemalt, damit nur ja auch uns an · 
dern die Freude am Leben vergällt wird, auch wir Befunden in Gefahr geraten, 


463 umſchau 


angeſteckt zu werden, der Brand, ſtatt eingedaͤmmt zu werden, nur immer neue 
Yrabrung erbält? Wie nüglid wäre es doch, wenn ſowas moglich wäre, wenn wie 
in der guten alten Jeit die Ausſaͤtzigen vor die Tore der Stadt in beſondere Spi- 
täler, oder auch heute noch Seuchenverdaͤchtige in Quarantaͤne kommen, alle dieſe 
Tauſende von Unglädliden in beſtimmte Bezirke, einzelne Gemeinden, in für 
dieſen IJweck zu gruͤndende Siedlungen abgeſondert werden konnten, am beften 
alle zuſammen in einer entlegenen Provinz des Reiches, damit man doch mal eine 
uͤberſicht hätte, wie viel eigentlich einigermaßen gefundes deutſches Volk übrig 
bleibt und ein heimlicher Antrieb beſtünde, die fo nicht an auswärtige Gegner, 
ſondernfan die inneren Feinde der Krankheit und des Laſters ehrlicherweiſe ab- 
getretenen Gebiete durch nicht minder zaͤhen Grenzkampf als ſonſt Polen und 
Tſchechen gegenuber geſchieht, zuruͤckzugewinnen, allzeit Mehrer des Reichs des 
Lichts, der Guͤte und der Freude zu fein. Niemand wird im Ernſt daran denken, 
dieſen Plan auch nur teilweiſe in die Wirklichkeit zu uͤberſetzen. Wurde doch den 
fahrlaͤſſig Leichtfertigen, die fo ſchon ihre Augen zu gern vor der grauſigen Wirk. 
lichkeit verſchließen, ihre Gleichguͤltigkeit gegen die Wot ihrer Mitmenſchen gar 
zu bequem gemacht. Aber gerade je weniger ſich dieſes Verfahren für die Durch ; 
führung in der Welt der Wirklichkeit eignet, weil aber andererſeits große Jahlen die 
Saſſungskraft der bloßen Vorſtellungskraft erfahrungsgemäß überfteigen, darum 
ſollte zunaͤchſt einmal in der Salle der ſozialen Fuͤrſorge auf der Befolei, ſpaͤter in 
moͤglichſt jeder Schule, in jedem Rathausaufgang, ein Modell nicht fehlen, das fo 
wie fonft wohl Städte und Landſchaften auf Schautiſchen dargeſtellt werden, die 
Stadt der Qualerkorenen, das Jammertal unferes Volkes in genau berech · 
netem, von Jahr zu Jahr veraͤnderlichem Großen verhaͤltnis unausweichbar vor 
die Augen führt. Schlägt man etwa die Seiten des inhaltsſchweren ſtatiſtiſchen 
Jahrbuchs für das Deutſche Reich von 1923 auf — der Beſucher der Geſolei wird 
leicht die meiſten Angaben für die Gegenwart richtigſtellen können —, fo würde ſich 
ergeben, daß wir keine Sandvoll, nein, eine ganze Stadt wie Zilden, Wetzlar oder 
Wolfenbüttel voller Ta ub ſt um mer, eine Stadt wie Zittau, Gießen oder Weißen ; 
fels voller Blinder haben. Ganz Bonn wäre voller Epileptiker, eine Groß · 
ſtadt wie Crefeld oder das ſchoͤne Lubeck mußten wir den 20000 Trunk ſuͤch · 
tigen räumen. Für J56000 Krüppel wäre kaum in Augsburg und für J80000 
Geiſtes kranke kaum in Salle Platz. Es würde ſich ferner ergeben, daß jahrlich 
in Deutſchland an Rrebs ſoviel Menſchen ſterben, alſo auch zu gleicherzeit ſchwer 
krank darniederliegen, wie eine ganze Stadt wie Merſeburg oder Eisleben oder 
Wittenberg etwa in ihren vielen Saͤuſern, auf Märkten und Gaſſen betriebſame Ein · 
wohner hat. Magen- und Darmqualen erliegt Jahr für Jahr eine ganze 
Stadt wie Beeftemände, Ronſtanz oder Paderborn, Serzkrankheiten raffen 
ganz Jena, Bamberg oder Salberſtadt hinweg, durch Lungenentzündung 
geht jedes Jahr eine Stadt wie Gottingen, Gotha oder Worms zugrunde und die 
verzehrende Lungentuberkuloſe verſchlingt gar dies Jahr Sildes beim, das 
naͤchſte Trier oder Ulm, im uͤbernaͤchſten Deſſau oder Kaiſerslautern l Unglücks ⸗ 
fälle aller Art vernichten jahrlich die Bevölkerung einer ganzen Stadt wie Lune · 
burg, Söchſt a. M. oder Naumburg a. d. S., Tag für Tag müßten auf dem Fried; 
bof einer dieſer Städte 80 Graber geſchaufelt werden. Für alle fo Verzweifelten, 
daß fie noch dieſes Jahr ſich ſelbſt erhaͤngen, erſchießen oder vergiften, bietet kaum 
ganz Lindau am Bodenſee Raum, ja follte es fo fein, daß in einem ganzen Land⸗ 


Uumſchau 465 


ſtrich, wer ſonſt eines naturlichen Todes ſtirbt, von nun an durch Selbſt mord 
endigt, fo Fäme nur eine Kaͤche wie die beiden Mecklenburgs zuſammen in Be⸗ 
tracht! In ganz Baden wuͤrden nur noch tote Kinder geboren, oder ſoviel 
jahrlich, wie wir durch die Abtretung von Eupen · Malmedy an Belgien an leben · 
den Menſchen uberhaupt einmalig verloren haben ! Alle Binder, die in Oſt. und 
Weſtpreußen, in Pommern und Poſen, in Schleſien und Brandenburg geboren 
werden, find umſonſt geboren, geben mehr oder minder jaͤmmerlich vor Ablauf 
des erſten Lebensjahres zugrunde! Berlin allein könnte mit feinen 
tubertuldfen Aindern ganz Kolberg, mit feinen bedenklich unterernähr : 
ten Rindern ganz Lübeck bevölkern! Die ganze große Stadt Coblenz wäre ein 
einziges Rieſen waiſen baus, in dem Kinder vatermutterliebeleer aufwachſen, 
weil Vater und Mutter durch eigne oder fremde Schuld zu fruͤh ins Grab ſanken. 
Alle Ariegsbeſchäͤdigten brauchten einen Raum wie Anhalt und Braun⸗ 
ſchweig zuſammen, alle Er werbsloſen, alſo Ausgeſtoßenen, Lebens muͤden ganz 
Pommern oder Thüringen oder drei fo volkreiche Städte wie Eſſen, Böln und 
Duͤſſeldorf! Jahr für Jahr gehen uns Staͤdte wie Tilfit, Greifswald und Stral⸗ 
fund durch A us wanderung verloren. Die Dörfer und Städte links und rechts der 
Weſer von den Shen der Rhoͤn und des Thuͤringer Waldes bis zum Meere müßten 
aus lauter Befängniffen beſtehen, an ihren Ufern wohnten nur ſolche, die dieſes 
Jahr zu kuͤrzerer oder laͤngerer Haft verurteilt worden find, im ganzen Saargebiet 
nur gerichtlich belangte und verurteilte Jugendliche! In ganz Bielefeld oder 
im ganzen Lande Coburg nur lauter fo unglückſelige Eheleute, die lebenslang · 
lichem Streit und gader die Schmach der E heſcheidung immer noch vorziehen, 
oder was dasſelbe heißt: alle Ehen, die in der geſamten Provinz Sachſen ge- 
ſchloſſen werden, ſehen fo ungluͤcklich aus, daß fie wieder geſchieden werden mäflen. 
Unfer Sauptwiderſacher aber, der Satan Alkohol verdirbt uns bereits im 
Mutterleibe jahrlich ſoviele Binder, als die Stadt Muͤnſter Einwohner zählt und 
fordert mehr Todesopfer, als uns an Menſchenzahl durch die Abtretung von 
ganz Deutſch · Suͤd⸗Weſt oder NWordſchleswig verloren gegangen find! Vier Mil- 
liarden Mark werden jäbrli in Deutſchland vertrunke n. Davon konnten eine 
Million Familien, könnte ein fo dicht bevoͤlkertes Gebiet wie der Freiſtaat Sachſen 
auskòmmlich leben, koͤnnten 300 Talfperren gebaut, könnte ganz Württemberg 
mit ſeinen ſaͤmtlichen Staͤdten und Doͤrfern noch einmal aufgebaut werden, und 
genau fo jedes folgende Jahr, obne daß ſonſt geſammelt oder geſpart zu werden 
brauchte und es uns an irgend etwas anderem fehlte, als woran es dem tuͤchtigen 
Finnland, dem gluͤcklichen Nordamerika nicht etwa auch fehlt! Was befagen die 
7 Juͤnglinge und 7 Jungfrauen, die Athen alle neun Jahre dem Minotauros auf 
Breta opfern mußte, gegen dieſe Sunderttauſende bluhender Menſchenleben, die 
wir vor der Jeit unſeliger Vernichtung durch noch immer geſundheitswidrige 
Lebens verhaͤltniſſe „normalerweiſe“, „regelmäßig“ opfern? In den vier Briegs- 
jabren haben wir auf dem Schlachtfeld nicht mehr Väter, Bruder, Söhne, Gatten 
verloren, als wir Väter, Mütter, Brüder, Schweſtern, Söhne, Töchter, Männer 
und Frauen allein durch Tuberkuloſe, Lungenentzündung und andere Branf: 
beiten der Atmungswege, durch den Staub und die ſchlechte Luft dumpfer Woh⸗ 
nungen und Straßen alſo, in denen ein großer Teil unſeres Volkes zuſammen⸗ 
gepfercht lebt, ſowie durch Krebs und Magen · und Darmkrankheiten, unver: 
nünftige Lebens · und Ernaͤhrungsweiſe alfo, bereits innerhalb der naͤchſten 
Tat XVII 31 


466 umſchau 


zwoͤlf Jahre ebenfalls unter die Erde gebracht haben werden, nachdem ihr halbes 
Leben kein wahres Leben, wie doch zumeiſt bei jenen in der Jugend dabin ge⸗ 
rafften, ſondern ein ſich von Sprechzimmer zu Sprechzimmer, von Seilanſtalt zu 
Seilanſtalt ſchleppen geweſen iſt! Und wenn dann ſo auf der Ausſtellung all dieſe 
Unglädsftädte, dieſe Jammertaͤler den Beſuchern in ergreifenden Bildern und 
Modellen vorgeführt find, dann erſcheine wie etwa im Planetarium über ihnen 
der geſtirnte Simmel, ſo durch Jauberkraft unter ihnen das Bild ihres Vater⸗ 
landes, ibres Volkes mit Kennzeichnung dieſer von den Erzverderbern beſetzten 
Staͤdte, der Landſtriche und Provinzen, die dieſen ſchlimmſten Erbfeinden aus- 
geliefert erſcheinen. Dann Aberlaffe man den Einzelnen ſtummer Betrachtung und 
ſeinen eigenen Gedanken. Der und jener hat ſichs wohl noch ſchlimmer vorgeſtellt 
und wird von übertriebener Verzagtheit geheilt, einfeben, daß es für Männer, 
ſich zu rühren, noch immer Tag genug iſt. Alle anderen aber, die bis her mit Ver⸗ 
achtung auf fremde Völker und vergangene Jahrhunderte herabſahen, werden 
mit ſich ſelbſt zu Rate gehen, ob ſie ein Recht dazu hatten, ob nicht auch ſie ſtatt 
zu Feſtreden auf Rommerſen, an der Front gebraucht werden, ganz da vorn, wo 
Schritt um Schritt Tod mit dem Leben, Licht mit der Finſternis ringt. Sränzel 


Schloß Elmau und ſeine kulturelle Bedeutung 5 1 


behauptet wird, die Kulturkriſis, in der die Menſchheit ſteht, eine Folge des 
Krieges, dann dürfte man getroſt damit rechnen, daß fie, wie andere Folge⸗ 
erſcheinungen, mit der Jeit überwunden werden wird. Aber es verbält ſich doch 
gerade umgekehrt: Unter andern Symptomen zeigt der an allen moglichen Stellen 
der Erde immer neu aufflammende und, wo die Waffen ruhen, mit politiſchen und 
wirtſchaftlichen Gewaltmitteln geſchuͤrte Weltbrand nur den ungeheuren Ernſt 
und die rieſenhaften Ausmaße dieſer Kriſis, die für die einen Anlaß zur Ver⸗ 
zweiflung, für andere Grund zu der Erwartung iſt, daß nun der Anbruch eines 
neuen Aons ſichtbar wird. 

Daneben aber gibt es eine Weltanſchauung, oder, wie richtiger geſagt werden 
muß, eine Seelen haltung, in der ein eigentliches Verwundern über den nunmehr 
offenbaren Juſtand der Menſchheit darum keinen Raum hat, weil ibr ein grund- 
ſaͤtzlicher Peſſimismus gegenüber „dieſer Welt“ und dem Ablaufe ihrer Geſchichte 
eignet; ein Peſſimis mus, der freilich auf dem Grunde des denkbar tragfaͤhigſten 
Optimismus, naͤmlich des Glaubens, beſteht, der nun und nimmer wirklichen 
Fortſchritt vom Ablauf der Geſchichte erwartet, ſondern ſich einer „neuen Schöp- 
fung“ verfiebt, ſich alſo durch noch fo reiche und koͤſtliche, am Baume der Zivili- 
ſation reifende Fruͤchte nicht beirren laͤßt, ſondern die ganze ſichtbare Geſchichte 
— im Bleinften wie im Allergroͤßten — nicht anders denn als Gleichnis bewertet, 
hinter dem ſich die eigentliche Geſchichte verbirgt. — Mit andern Worten: Der 
Glaube iſt nicht fo ſehr auf die flüchtige Erſcheinung der Dinge, als vielmehr auf 
das Weſentliche aus und nimmt ſeine dementſprechende, nur ihm eigentümliche 
Saltung ein. 

Solange der Glaube im menſchlichen Seelenleben eine Wirklichkeit iſt, und in 
demſelben Maße, in dem er menſchliche Verhaͤltniſſe durchdringt und geſtaltet, 
beſteht Kultur. Ihre gegenwärtige furchtbare Beifis iſt die Kriſis des Glaubens. 

Sie iſt durch zwei eng miteinander zuſammenhaͤngende Momente gekenn⸗ 


umſchau | 467 


zeichnet: Der Menſch dieſer Jeitwende iſt durch und durch Individualiſt, und weil 
er es iſt, durch und durch Intellektualiſt. 

Im engen Rahmen dieſer Ausfuhrungen kann nur angedeutet werden, inwie⸗ 
fern ſich in dieſen beiden Momenten die Bulturkeifis auswirkt, und inwiefern fie 
Glaubens kriſis iſt: 

Die geiſtesgeſchichtliche Entwicklung hat den abendlaͤndiſchen Menſchen aus der 
ſtrengen religidfen Gebundenheit der eigentlichen Blütezeit unſerer Kultur, des 
boben Mittelalters, über Renaiſſance, Sumanismus und Reformation, über Auf⸗ 
Hlaͤrung, franzoͤſiſche Revolution und Serrſchaft des Materialismus in den mo⸗ 
dernen Induſtrialismus, in die Mechaniſierung und Techniſierung des ganzen 
Daſeins geführt. Alle dieſe Emanzipations bewegungen haben unter allmaͤhlicher 
Auflöfung der naturlichen Bindungen an Familie, Seimat, Stamm, Stand, 
Volkstum, Natur, ſowie der uͤbernatuͤrlichen Bindungen an Kirche, Religion, 
Gott die menſchliche Geſellſchaft atomiſiert: Jeder lebt in der Vereinzelung; jeder 
fühlt ih nur als Individuum, als unteilbare Einheit, und in dem Lebensgefühl 
der allerwenigſten hat zugleich das Bewußtſein Raum, daß wir in erſter Linie 
Glieder am großen Ganzen find. — Dieſes verſtuͤmmelte Lebensgefühl iſt das all⸗ 
gemeinfte Übel und die vornehmſte Urſache der ſchlechthin heilloſen Verfaſſung, 
in der ſich die Menſchheit befindet. — Kultur iſt der geiſtig⸗ſeeliſche Juſammen⸗ 
klang der vielen Verſchiedenartigen in Einem, namlich im Weſentlichen, unſer 
Individualismus aber iſt das Gegenteil davon: Jerfall jeglicher Einheit in kleine 
und kleinſte Teile und Splitter, deren jeder, indem er nur ſich fühlt, obne Gefuͤhl 
für das Ganze iſt und darum auch ohne Anteil am Ganzen und der es durchwirken⸗ 
den ſchoͤpferiſchen Kraft. — Kultur iſt Verinnerlichung; unſer Jerfall aber im 
Gegenſatze dazu hemmungsloſe Veraͤußerlichung. Kultur iſt blühendes, frucht; 
bares Leben, unſer Juſtand aber, der den Schein des Lebens hat, der Juſtand 
jedes von feinem Geſamtorganismus losgelöften Gliedes — fei es des Fingers 
einer Sand, ſei es des Aſtes eines Baumes —: Ver- Weſung. — Kultur iſt Geiſt; 
denn in den durch ihren Weſenszuſammenhang mit dem Ganzen lebendigen 
Gliedern wirkt ſich das geiſtige Prinzip des Ganzen aus; in ihnen verwirklicht ſich 
Gott, und ihr durch die Gebundenheit an Gott beſtimmter Juſtand iſt Glaube. — 
Wo hingegen dieſe Gebundenheit, die nicht im Bewußtſein, ſondern im Weſen 
beſteht, geloͤſt iſt, wo fie im Lebensgefuͤhle des Menſchen uberhaupt nicht mehr, 
jedenfalls nicht mehr beſtimmend ſchwingt, wo an die Stelle der Allheit die Ich ⸗ 
heit getreten iſt, alſo an die Stelle goͤttlicher Fuͤhrung ſelbſtiſcher Eigenwille, da 
wird der Glaube, der Kraft und Leben des Ganzen im einzelnen iſt, durch den In⸗ 
tellekt, das aus dem Sumpfe der Vereinzelung aufflackernde Irrlicht, verdraͤngt. 

So bietet die Menſchbeit der Gegenwart in der Tat das Bild vollendeter Un⸗ 
kultur, und wer fie fo ſieht, müßte fie verloren geben, wenn nicht eben trotz alle⸗ 
dem der Glaube im menſchlichen Seelenleben eine Wirklichkeit waͤre. 

Es gibt namlich — Gott fei Dank — auch heute Menſchen, die ſich dem Jeit⸗ 
geifte entgegenſtemmen, indem fie unverruͤckbar auf dem Boden des Wefent- 
lichen ſteben; Menſchen, die dem Drange der zentrifugalen Machte nicht nach · 
geben, ſondern — zentripetal — den Weg der Verinnerlichung geben ; Menſchen, 
die, weil fie gliedhaft dem Ganzen eingeordnet find, nicht wie Spreu von jedem 
Winde aufgehoben und — irgendwohin verweht werden, ſondern, der das Ganze 
durchwaltenden Kraft teilhaftig, ſchoͤpferiſch find; keine Gemaͤchte ihrer Umwelt, 

3]° 


468 Umſchau 


ſondern deren Geſtalter, „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“. — Sie find die 
Keimzellen neuen geſunden Lebens am kranken Geſamtorganismus Menſchheit. 
— Sie leben uberall „in der Jerſtreuung“, in allen geſellſchaftlichen Schichten, in 
allen und außerhalb aller Bekenntnisgemeinſchaften. — Und wo fie find, iſt Aul⸗ 
tur, und was fie find, wirkt Aultur, und weil fie find, wenn auch an Jahl viel ⸗ 
leicht gering, iſt die Frage, ob die Rulturkrifis zum Tode oder zur Geſundung 
führen wird, durchaus keine verzweifelte. Im Gegenteil berechtigt das Vorban- 
denſein folder Menſchen zur Hoffnung auf Neubelebung. 

Denn es gibt nicht nur anſteckende Arankheiten, ſondern auch anſteckende Ge⸗ 
ſundheit, wenigſtens auf geiſtig ⸗ſeeliſchem Gebiete. Und eine ſolche iſt die Aultur. 
Freilich ſcheinen viele gegen innere Geſundung immun zu ſein; unheilbar heillos. 
Andere aber brauchen nur einmal eine Jeitlang unter diaͤtetiſch · hygieniſch guͤnſtige 
Bedingungen gebracht zu werden, und alsbald regen ſich in ihnen die ſchlummern⸗ 
den Araͤfte, quellen auf, erneuern, wirken ſich aus. 

Eine „Seilſtätte“, die dieſen Vorausſetzungen entfpricht, in der „Mumien des 
Seelentums“ ganz unvermerkt zu „lebendigen Leibern“ werden, iſt Schloß 
Elmau. 

Johannes Müller hat es begründet und vor zehn Jahren eröffnet. — Theo⸗ 
loge, den feine innere Berufung frübzeitig von dem gewohnlichen Wege der 
Theologie, der auf Kanzel oder Lehrſtuhl zu führen pflegt, abgedraͤngt bat, war 
er jahrelang ein wortgewaltiger Wanderredner, der in der Sprache des Gegen ⸗ 
warts menſchen die Verkehrtheit der inneren Verfaſſung und die Verderbtheit im 
Einzelleben und im Geſamtleben unnachſichtlich aufdeckte und mit intuitivem 
Blick und prophetiſcher Vollmacht die Urſachen der Seilloſigkeit bloßlegte. Aber 
ſeine Bußpredigt war immer eng mit der Seilspredigt verbunden. Er iſt kein 
Verneiner, ſondern im Gegenteil ein leidenſchaftlicher Bejaher, der in allen und 
im allem die immanenten Moglichkeiten liebt und die göttliche Verheißung gruͤßt 
und verehrt. Wenn er mit kraftvollen Spatenſtichen Scholle um Scholle hebt und 
wirft, und die tauſendfach verfilste kümmerliche Narbe unſerer Oberflaͤchen · 
„Kultur“ damit immer wieder tödlich trifft, fo fahndet er nach Quellen in der 
Tiefe, fo ſucht er die Grundwaſſer bloßzulegen, fo bereitet er den Boden zur Auf ⸗ 
nahme des Samens, den er ausſtreut und den er von dem empfängt, dem er in 
ſtolzer Demut dient, von Jeſus. 

Das iſt Müllers eigentliches Charisma, daß er Jeſus „verdeutſcht und vergegen · 
waͤrtigt “/. Anders ausgedrückt: Er erkennt nicht nur die zeitloſe und entſcheidende 
Bedeutung Jeſu, ſondern indem er fie beſtaͤndig erlebt, laͤßt er fie feinen Soͤrern 
zum Erlebnis werden, mißt er den Menſchen, ohne ihm Gewalt anzutun und ohne 
dogmatiſche Befangenheit am Menſchenſohne. So gegenwaͤrtig iſt ibm und wird 
durch ihn Jeſus, daß er an ihm die im Geiſterreiche ewig gültigen Geſetze auf 
ſolche Weiſe aufleuchten laͤßt, daß ſich vor ihrer lauteren und durchdringenden 
Klarheit die Probleme des Daſeins Idfen und helle Wege ins Leben eröffnen. 

Nachdem nun die Zahl derer, die ſich durch Müllers Wort vor letzte Entſchei⸗ 
dungen geftellt faben, groß geworden war, begann er mit der Herausgabe feiner 
„Gruͤnen Blätter”, mit denen er ein geiſtiges Band um feine in aller Welt zer- 
fireute Gemeinde ſchlang und ſie in lebendiger Verbindung mit ſich hielt. — Aber 
es bedurfte eines engeren Juſammenſchluſſes, den er durch Errichtung der Ge⸗ 
meinſchaftsſtaͤtte Schloß Mainberg in Unterfranken ermöglichte. Da fie ſich nach · 


Umſchau 469 


Jahren gefegneten Beſtandes als zu klein erwies, erbaute er in ©ber-Bayern 
zwiſchen Garmiſch · Partenkirchen und Mittenwald am Fuße der gewaltigen 
Wetterſteinwand das Schloß Elmau. 

Muͤller ſelbſt nennt es bisweilen ein „Sanatorium für Befunde”. Es iſt eine 
Seilſtaͤtte, in der die Geſundheit anſteckend wirkt. — Selbft wer ahnungslos hin · 
kaͤme, würde dort finden, was der von ihm geſuchten Erholung erſt die ſolide 
Grundlage gäbe: die Quellen innerer Araft. 

Müllers ſonntaͤgliche Vorträge und die Frage ⸗Beantwortungen, die er je nach 
Bedarf veranſtaltet, find die vorne hmſten geiſtigen Gaben des Schloſſes. Es dürfte 
kaum vorkommen, daß nicht vielen unter den Gaͤſten zum entſcheidenden Erlebnis 
wurde, was fie dabei empfangen. Denn jede Rede Muͤllers und jede perfönliche 
Beratung, die etwa von ihm erbeten wird, ift mit dem Ernſte hoͤchſten Verant · 
wortungsgefübls belaſtet. Er ſchließt keine Kompromiſſe — weder mit beißen, 
muͤden Sommertagen noch mit dem Unterbaltungsbesürfnis ſolcher, die etwa ihre 
Ferien in ungeftdörtem Behagen verleben moͤchten; ſondern er zeigt immer den 
ganzen Ernſt der Sünde und die unermeßliche Gnade Gottes. 

Andern Bcedärfniffen wird im Schloſſe auf andere Weiſe Rechnung getragen; 
vor allem durch die Pflege edelſter Muſik und durch den Tanz. Beides — gerade 
auch der Tanz — fügt ſich hier harmoniſch dem Sinne des Ganzen ein. Es kann 
nichts Froͤhlicheres geben als ihn, aber es gibt kein Schwatzen und Hirten dabei, 
ſondern es iſt in ihm bei völliger Singabe an den Rhythmus und bei hell auf- 
flammender Freude eine gewiſſe ſtrenge Sachlichkeit. 

Der El mauer Tanz kann geradezu als Symbol den Sinn der Elmau enthüllen: 
Wie der Menſch, indem er ſich dem Tanz ⸗ Rhythmus ergibt, mit froher Bejahung 
in ihm ſchwingt, fo daß er mit feiner ganzen Perſon, mit Seele und Leib, die Me⸗ 
lodie geſtaltet, ſo iſt er beſtimmt, von ſeinen inneren Verkrampfungen und den 
Umklammerungen durch widrige Machte, die in ihm ſelber um ihn ſtreiten, gelöſt, 
erlöft, und dadurch faͤhig zu werden, fein Leben zu erfüllen, indem er deſſen Melo⸗ 
die, fein Schickſal, geftaltet. — Was Johannes Müller unermuͤdlich kündet, was 
ſich durch die Rlänge edler Muſik uͤbermaͤchtig dem Gefühl mitteilt, was den 
Empfaͤnglichen (und die es nicht find, werden es hier) mit ſtummer, doch beredter 
Sprache die große Gebirgswelt ſagt, — das bringt der El mauer Tanz mit ſchmei ; 
chelnden Weiſen an alle Sinne heran: Menſch, werde weſentlich l, erſchließe dich 
der Wirklichkeit, ſchaue in feiner Offenbarung Bott! laß dich aus deinen Ver⸗ 
krampfungen und Umklammerungen Idfen! werde flirt!!! — 

Dieſe Mahnungen aber, die auf Schloß Elmau wunderbar zuſammenklingen, 
fo daß jede die andere unterſtreicht und deutet, ſchließen die dort vereinten Menſchen 
zu einer Erlebnis · Gemein ſchaft zuſammen. Ohne daß fie ſich voreinander ent; 
puͤllen, erkennen fie ſich tiefer, als ſonſt und anders wo. Unter den ſtarken gemein; 
ſam empfangenen Eindruͤcken Hlingt in ihnen das Menſchlich Gemeinſame und 
übertönt die fonft fo ſchrillen Diſſonanzen auseinanderſtrebender Intereſſen. 
Trotz aller Trennung iſt ein Gemeinſames da, und es wird zur Gewißheit, daß 
dies das Weſentliche iſt. 

Die Geſundheit der Seele iſt auf Schloß Elmau fo anſteckend, daß nur ro⸗ 
buſteſte Seilloſigkeit ihr auf die Dauer widerſtehen kann. Der Bazillus, mit dem 
die Atmoſphaͤre dort geſchwaͤngert iſt, heißt Glaube. Und es iſt kein ſchweifender 
Stimmungsglaube, keine verſchwommene Gefuͤhls ⸗Religioſitaͤt, ſondern der 


370 Umſchau 


Glaube als Kontakt mit dem lebendigen Gott, dem Vater unſeres Serrn Jeſus 
Chriſtus. 

Bultur im abſoluten Sinne kann ſich auf Erden nicht verwirklichen. Wir 
konnen nur von Kulturen in der Mehrzahl reden. Jede von ihnen iſt durch Raſſe 
und Volkstum, durch Bodenbeſchaffenheit, Klima und vieles andere beſtimmt und 
bedingt. Sie ſind ſo verſchieden voneinander, wie etwa die Sprachen oder die Re⸗ 
ligionen; bei aller Verſchiedenartigkeit aber doch, wie die ſe, Ausdruck eines Geiſtes. 

Uns handelt es ſich um deutſche Aultur, die durchaus keine andere als chriſtliche 
Rultur fein kann. — Es bedeutet kein herzloſes ſich Verſchließen gegen die Not 
der andern, wenn wir um unſere und nur um unſere Geſundheit beſorgt ſind; 
denn Aultur iſt anſteckende Geſundheit. Wie wir geneſen, geneſen die andern. 
Die Hoffnung aber auf unfere Geneſung zu wahrer Kultur iſt wohlbegründet, 
ſolange es „Seilſtaͤtten“ wie Schloß Elmau gibt. Eduard Le Seur 


Eine urchriſtliche Gemeinde im Jahrhundert 3 


ſtrecke Schluͤchtern Wurzburg, noch eine Stunde zu Fuß mitten hinein in die Rhön, 
liegt in einem Talkeſſel der Hecken Sannerz. Ein wortkarges, hartſtirniges Volk. 
chen ſind die Bewohner des Ortes, genau ſo ſtumm und hart wie die Fichten und 
Eichen, die ringsum von den Bergen grüßen. Aber wenn man ſich über ſteile 
Saͤnge, dichtes Geſtruͤpp hin durchgearbeitet, můhſam den Weg über ſcharfes Ge⸗ 
roͤll überwunden hat, Öffnet ſich der Zauber dieſes herb ⸗ſchoͤnen Rhoͤnlandes und 
von der Höhe herab ſieht man das Tal in dem Sannerz liegt, — wie von weicher 
ſorgender Sand gebettet. Und alle die hierher kommen in das ſchlichte Landheim 
am Eingang des Dorfes und mit ben Menſchen um Eberhard Arnold in Süb- 
lung treten, ſpuͤren etwas von dem befreienden, frohmachenden Geiſt, den dieſe 
menſchen ausſtroͤmen . 

Es bedurfte einer entſcheidenden Veranlaſſung um den feit vielen Jahren rin⸗ 
genden, mit ſich und Bott Sadernden, zum endgültigen, konſequenten Entſchluß 
der Nachfolge Chriſti zu bringen. In den Revolutionstagen von 1921s kam dieſe 
Entſcheidung zum Ausbruch. Blitzartig fielen alle kuͤnſtlichen Buliffen tbeolo- 
giſchen Wiſſens vor der Gewalt inneren Sehens. Wichts vermochte mehr die Lieb⸗ 
loſigkeit des organiſierten Chriſtentums ſchaͤrfer zu zeichnen, als ſie auch hier, an⸗ 
geſichts des Brudermordes, ihre Chriſtusaufgabe verleugnete. Chriſtis heiligſtes 
Vermaͤchtnis aber lautet: Liebet Euch untereinander — liebet Eure Feinde! Und 
das Wiſſen von dem grauſamen: Kreuziget, kreuziget | derjenigen, denen die innere 
Not der Liebeſebnenden ein immerwaͤhrendes Gemahnen an ihre Phariſaͤerſeele 
war — brachte in den Menſchen um Arnold den einen einzigen Wunſch zum Durch ⸗ 
bruch, im immerwaͤhrenden Ringen um Glauben in Gott, die Liebe zu finden, die 
alles trägt, allem dient und ſich verſchenkt. 

Und in dieſem ſtets erneuten Ringen um den Glauben aus der Liebe heraus, 
ſieht Arnold die Aufgaben des Neuen Werks — das neue Werk. — Sie wollen 
nicht beſſeres, nicht religidferes, aber auch nichts Seiligeres oder gar Neues, fon- 
dern einfach und ſchlicht Diener der Liebe ſein, die im unbedingten Glauben an 
dieſe einzigſte Macht in der Welt, ganz aus dieſer Gewißheit heraus, leben. Sie 
fuͤhlen ſich lediglich als das, was fie nur fein koͤnnen — Menſchen. Und dieſe primi- 
tive Einſtellung, die keine kuͤnſtliche oder theoretiſche ift, fuhrt fie zum immer er; 


umſchau 471 


neuten Wagnis, aus dem Lebensgeſetz der Liebe heraus, alles zu wagen, um auf 
praktiſchem Wege zur Brüderlichkeit, zur Haſſenloſen Geſellſchaft, zur Wirtſchafts⸗ 
und Guͤtergemeinſchaft zu finden. Die Gemeinſchaft iſt der echte Ausdruck alles 
Lebendigen. Die Auswirkungen des Geiſtes, der wirtſchaftlichen Entwicklung, 
bringt die Bewegung in die radikale Chriſtengemeinde, die ihr den eruptiven 
Charakter verleiht und fie lebensfaͤhig erhaͤlt. Denn in der gegenſeitigen Überwin- 
dung aus der Jentralſtellung der gemeinſamen Liebe, des gemeinſamen Glaubens, 
liegen die Bräfte, die eine ſolche Gemeinſchaft trägt. Aber dieſe Tatſache iſt es, 
die ihr auch den Mut und die Freude ſchenkt, in harter Arbeit unter Aufgabe aller 
Exiſtenzſicherungen, eine mit ganzer Liebe zur Tat draͤngende Arbeit zu leiſten. 

Exiſtenzwille genügt nicht zu einer erfolgreichen Lebensgemeinſchaft. Dieſe kann 
nur aus dem Geiſte, aus dem Überfluß an Leben, geboren werden. Und Gott ift 
die Quelle. Nur aus der uͤberfließenden Gottesliebe ift eine fruchtbare, „gluͤck⸗ 
felige” Gemeinſchaft Aller möglich. Lieben aber iſt dienen. Und im felbftverftänd- 
lichen Geben liegt die aufbauende Araft, die dem egoiſtiſchen Trieb im Menſchen 
die Spitze nimmt, und ihn als Gemeinſchaftsglied aus Wiſſen um das gemeinſame 
Schickſal, dem Menſchen die inneren Zweifel nimmt. Das iſt der praktiſche Jweck 
der Neuwerkler: Aufheben der Gegenſaͤtze die Vorurteil geſchaffen und an ihrer 
Stelle Einſetzen des Verbindenden, die gottgeborene Liebe. 

Die liebende Gewaltloſigkeit iſt das oberſte „Geſetz“ der Gemeinde. Und die Er⸗ 
kenntnis, daß der Menſch, entkleidet aller Macht, die er ſich auf Boften feiner Mit ⸗ 
menſchen anmaßt, doch nur ein bilflofes Weſen, ganz dem Geſchick der Welt an⸗ 
beimgegeben iſt, — hat fie zu ſchlichten, demuͤtigen Menſchen gemacht, denen Be⸗ 
ſitz, Rang, Titel oder das Recht auf Recht, ſprich Juſtiz, als unberechtigt und un⸗ 
gerecht erſcheint: „Wir fühlen uns gluͤcklich an keine anderen Waffen als an die des 
liebenden Geiſtes zu glauben, wie er in Jeſus Tat geworden iſt. Die beſitzloſe, ge⸗ 
waltloſe und rechtloſe Liebe verſtehen wir als gemeinnuͤtzige, produktive Arbeit 
für ein menſchenwuͤrdiges Leben aller Menſchen.“ 

Und aus dieſer Einſtellung heraus ſteht das Neuwerkhaus in Sannerz im 
Dienfte jener Menſchen, denen die Sehnſucht nach Freiheit und Natürlichkeit, nach 
Gerechtigkeit und innerer Befriedigung Lebensziel iſt. Ob ſie im Chriſtusglauben 
ſtehen oder nicht, ihnen allen ſteht das ſtille Saus in der Rhoͤn offen. Friedens ⸗ 
freunde aller Art treffen fi dort im gemeinſchaftlichen Suchen nach Bruͤderlich 
keit und Lebensgemeinſchaft. 

Praktiſch gehen die Wege der Neuwerkler uͤber Gaſtfreundſchaft ohne Unter⸗ 
ſchied und ohne Geldforderung, Kinderhilfe, Erziehung, Unterricht und Familien ⸗ 
gemeinſchaft ohne Entgelt. 

„Unſer Dienſt iſt Erziehungsarbeit in dem neuen Sinne, daß durch den leben⸗ 
digen Chriſtus von innen her die guten Entſchluͤſſe und Rräfte und Arbeiten wie 
von ſelbſt aufbrechen. Junaͤchſt gehort unſere Arbeit den Kindern. Fuͤr fie find wir 
alle da. Alte und neue Sprachen, Naturleben und Aunſt follen außer den not ⸗ 
wendigſten Realfaͤchern nahe gebracht werden.“ Dazu die praktiſchen Arbeiten auf 
den Gebieten des Saus haltes und Sauswirtſchaft im weiteſten Sinne. „Wir 
kennen keine Aindererziehung, die nicht in erſter Linie eine Erziehung an den Er⸗ 
zie hern iſt, groß wie klein prüft gemeinſam die gemeinſame Erfahrung.“ In dieſer 
Form ſoll ſich die Landſchule und die Lebensſchule entwickeln, die wir heute leider 
noch „Volkshochſchule“ nennen. 


472 Umſchau 


Die Tätigkeit des Neuwerk · und Eberhard Arnold Verlages iſt dem Dienſte 
dieſer Gemeinſchaftsarbeit eingeordnet. Er hilft den Suchenden und Fernſtehenden 
auf dem Wege zur inneren Freiheit und Wahrhaftigkeit. Alle anderen Einrich ; 
tungen der Neuwerkler, wie Sandwerkerftätten, Candwirtſchaft und Bärtnerei, 
Bunftgewerbe, dienen zur Intenſivierung des Willens zur Arbeitsgemeinſchaft. 
Denn „Arbeitsgemeinſchaft ſucht die Wurzeln des gemeinſamen Lebens und wird 
zur Glaubensgemeinſchaft.“ 

Und alles durchſonnt der warme Strom innigen Gottesglaubens. Im raſtloſen 
Eifer der Neuwerkler ſpuͤrt man den lebendigen Liebesgeiſt der ſtaͤndig um Blau- 
ben kaͤmpfend, immer wieder den Willen zur Liebe zeigt, fo daß man nicht anders 
ſagen kann, die Tat Eberhard Arnolds und ſeiner Getreuen bedeutet eine freudige 
Zoffnung aller derjenigen, denen die Lüge um die Geſtalt Jeſus Chriſtus ein Ekel 
wurde. 

Und die „Religion“ dieſer Menſchen? — Ihre Religion iſt Chriſtus. Sie wiſſen, 
ohne feine Araft vermögen fie nichts. Das iſt ihre Religion. 

Das Ganze iſt fo ſchlicht, das „Problematiſche“ fo unweſentlich, daß der „wiſſen ; 
ſchaftlich“ Unterſuchende mit einem verlegenen Lächeln die Machtloſigkeit feiner 
Kunſt einſehen muß, denn das Einfache macht uns ſchweigen vor feiner Einfach⸗ 
beit. 

Und wir ſtehen wieder am Anfang der Tage, als der Seiland ſegnend den Ain⸗ 
dern die Sand auflegte und ſprach: Wenn ihr nicht werdet wie die Rinder, werdet 
ihr das Simmelreich nicht ſchauen 

Das iſt der Bern der Urchriſtengemeinde in Sannerz. Glauben und Lieben unter 
Abſtreifung aller intellektuellen, kulturellen und ſonſtigen Vorurteile, — denn 
alles iſt einfach eingerichtet, aber — um es zu wiederholen — das Einfache macht 
uns Schweigen vor feiner Einfachheit. Das Romplizierte ſchafft ſich der Menſch 
felbft in feiner inneren Not und Ohnmacht gegenüber feinem Schoͤpfer. Aber 
der Glaube an dieſe einzigſte Wahrheitsquelle läßt jene Liebe erſtehen, durch welche 
Kraft das neue Werk lebt! Zeinz Ploum 


Jede Betrachtung der gegenwärtigen 
Don der Alaſſe sum Stand ſtaatlichen und geſellſchaftlichen Verhaͤlt · 
niſſe kommt irgendwie zu dem Ergebnis, daß das Brundübel die völlige Atomi ; 
ſierung des Volkes, die Aufldfung aller naturlichen und gewachſenen Gemein⸗ 
ſchaftsbindungen iſt. Die „Ideen von 1789“ glaubten, die Freiheit zu bringen, in- 
dem fie alle veralteten Bindungen des Einzelnen zerſchlugen und zugleich das Ent · 
ſtehen neuer Bindungen verboten. Die franzoſiſche Revolution verneinte ent · 
ſchieden das Roalitionsrecht, da man darin die Moglichkeit neuer Feſſelung des 
Individuums ſah. Das Volk aber vermag nicht als aufgeloͤſte Maſſe von Einzelnen 
zu wollen und zu entſcheiden. Wur in feſten Gemeinſchaften waͤchſt Urteil, Wille, 
Entſcheidung für Jukuͤnftiges. Indem das Werden und Wachſen neuer organiſcher 
Bindungen bekaͤmpft wurde, verlor das Volk in Wahrheit ſeine Freiheit. Denn 
entſcheidend iſt nicht die Freiheit wovon? (das Jerbrechen überlebter Formen), 
ſondern die Freiheit wozu? (organiſche Willensbildung in neuen, organiſchen Ge ; 
meinſchaften). 
Das ganze J9. Jahrhundert iſt ein Suchen nach neuen, den wirtſchaftlichen, 
politiſchen und kulturellen Verhaͤltniſſen angemeſſenen Gemeinſchaftsformen. Die 


Umſchau | 473 


ſtaatsrechtlichen Beſtimmungen baben diefes neue Werden unbeachtet gelaſſen. 
Im Gegenteil: im ſelben Augenblick, als die Umriſſe der neuen, gewachſenen Ge⸗ 
meinſchafts bildungen ſichtbar wurden, erfuhr der ſtaatsrechtliche Formalis mus in 
der Weimarer Verfaſſung feine letzte Uberſteigerung. 

Aber die immer ungeheuerlicher werdende Wahlenthaltung (Badiſche Landtags; 
wahl 19225 rund 500% ͤ; preußifche Provinziallandtags wahlen 30—50% wahl ⸗ 
beteiligung l) zeigt, daß das Volk den Unfug des Wahlſyſtems, wenn auch nicht 
durchſchaut, ſo doch ablehnt. Nach dem ſehr richtigen Wort Richard Wagners 
braucht ein Volk ja nicht zu wiſſen, was es will, wenn es nur genau weiß und 
merken läßt, was es nicht will! Die Scheinfreiheit des das Volk atomiſierenden 
Millionenwahlrechts aber lehnt das Volk mehr und mehr ab! 

Wie aber ſoll neue Bindung, neue organiſche Gemeinſchaft werden? 

Auch bier haben die letzten Jahre die Überfteigerung eines Grundſatzes gebracht, 
der nun daran zugrundegehen muß: die Alaſſenorganiſation! 

Man kann naͤmlich die Menſchen einteilen und verbinden nach dem Maß von 
Rechten, deſſen ſie teilhaft ſind, oder das ſie miteinander erobern wollen. Dann 
teilt man etwa: in Serrſchende und Beherrſchte, in Befe hlende und Gehorchende, 
Fuͤhrende und Gefuͤhrte. Und vor allem auf wirtſchaftlichem Gebiet: in Beſitzende 
und Nichtbeſitzende, Ausbeuter und Ausgebeutete, Rapitaliften und Proletarier. 
Was nach dem Maß feiner „Rechte“ zuſammengehoͤrt, bildet eine Alaſſe. Und wie 
eine Seuche hat die Sucht nach klaſſenmaͤßiger („horizontaler“) Organiſierung den 
ganzen Volkskörper durchraſt. Was iſt heute nicht alles organiſiert 

Und trägt doch den Namen „Organiſierung“ zu Unrecht! Denn find das lebens ⸗ 
faͤhige, eigenwuͤchſige Glieder eines lebendigen Ganzen? Was find Befehlende für 
ſich, ohne die Gemeinſchaft mit den Gehorchenden? Was find Ausführende allein, 
ohne die Gemeinſchaft mit dem leitenden Kopf? Ihr Daſein erbält ja erſt Sinn 
durch ihre Funktion. Dieſe aber ift nur moglich im Juſammenwirken beider Pole, 
die die Blaffenorganifation auseinanderreißt! 

Ganz anders, wenn die Menſchen ſich gliedern nach der Art der Pflichten, die ſie 
im Leben des Volksganzen zu erfüllen haben. Wie der lebendige Aoͤrper Organe 
braucht für die verſchiedenen Lebens verrichtungen, fo auch der Volkskörper. 
Deſſen Organe aber find die Staͤnde. Stand iſt alſo alles, was dem Ganzen gegen · 
über die ſelbe Pflicht hat; gleichgültig, ob der Beitrag zur Erfüllung dieſer Pflicht 
durch Befehlen oder Gehorchen, durch Angeben oder Ausfuͤhren geleiſtet wird. 
Von der Pflicht aus geſehen gehort deshalb aufs engſte zuſammen, was das 
„Klaſſenrecht“ ſcheidet. Der echte Stand iſt der gerade Gegenpol der Alaſſe. 

Saben wir ſolche Stände? 

Die Erinnerungen der Vergangenheit, die Bitterkeit der Gegenwart, die ſtaats · 
und geſellſchaftsrechtlichen Formulierungen ſind ihrem Wachstum entgegen. Aber 
größer als die wirtſchaftliche Not und ſtaͤrker als die Scheidung nach den Rechten 
iſt der Drang des Menſchen nach einem Sinn für feine Arbeit und für fein Leben. 
Der Sinn der Arbeit liegt aber niemals in ihrem Ertrag für mich, ſondern in ihrer 
lebendigen Beziehung zum Volksganzen. Daher erbält fie ihre Wertbetonung und 
ihre Wuͤrde. Wo darum der Wert des Menſchen ſich an ſeiner Pflicht ermißt, da ver · 
Vgl. die prachtvollen Darſtellungen der Stände, ihrer Entwicklung und ihres 


Ethos in „Die Deutſchen Stände in Einzeldarſtellungen“ (J2 Bände, je 7 m, 
Jena, Eugen Diederichs.) 


474 umſchau 


läuft die Scheidung oft ſehr anders, als wenn mechaniſch nach dem Recht gefragt 
wird. Wie hoch waͤchſt da die Wuͤrde von manchem, deſſen Maß an „Rechten“ ſehr 
gering iſt ! 

So traͤgt die echte Standesgeſinnung vor allem ihren Lohn in ſich ſelbſt. Sie gibt 
dem Menſchen einen Sinn für feine Arbeit uber die bloße Lohnbeziehung hinaus, 
ſie macht ihn zu einem in ſich wertvollen Glied des Volkskoͤrpers und gibt ihm 
darin ſeine Menſchenwuͤrde, die nie eine abſtrakte Satzung, ſondern immer kon⸗ 
kretes Erlebnis ſein muß. 

Und dieſe Geſinnung waͤchſt doch da und dort in allen Staͤnden. Mehr und mehr 
wird es möglich, daß ſich Leiter und Geleitete, Vorgeſetzte und Untergebene auf 
dem Fuße der Gleichheit zuſammenfinden, der Gleichheit, die das Bewußtſein der 
ge meinſam zu erfüllenden ſozialen Aufgabe ſchafft. Der größte Verſuch der Art 
war die „Arbeitsgemeinſchaft“ der Unternehmer und Arbeiter, die Stinnes und 
Cegien im Serbſt 19 1s begruͤndeten und die — in welcher Form auch immer — das 
Jiel der ſozialen Bewegung ſein muß. Abnlichen Beſtrebungen begegnen wir in 
vielen Berufsgruppen (3. B. auch bei den Buchhaͤndlern), wo überall das Gefuͤhl 
gleicher Verpflichtung gegenüber dem Volksganzen gleiche Wurde gibt und damit 
Gemeinſchaft webt zwiſchen Leitenden und Ausfuͤhrenden. 

Beſonders ſichtbar iſt die ſtaͤndiſche Juſammengehoͤrigkeit, das Merkmal Porn 
gleichen Pflicht, bei denjenigen, denen das Werk der Bildung und Erziebung des 
Nachwuchſes der Nation anvertraut iſt. Aber wie hat trotzdem auch den Lehr 
ſtand die Peſt der KAlaſſenſcheidung zerfreſſen. Welche Blüfte zwiſchen oben und 
unten, zwiſchen akademiſchen und Volksſchullehrern, zwiſchen Miniſterial · und 
Aufſichtsbeamten und Klaſſenlehrern, zwiſchen Univerſitaͤt und Dorfſchule ! Be⸗ 
ſteht hier uͤberhaupt noch eine Ahnung gleicher Verpflichtung gegenüber dem 
Volksganzen, ein Beim ſtaͤndiſcher Gemeinſchaft? Auch der Lehrſtand ift — wie 
die Bildung felbft — weithin der klaſſentrennenden 3erfläftung verfallen. Gier 
iſt des halb kein unwichtiger Anſatzpunkt für das Werden neuer, organif cher Volks; 
gemeinſchaft. 

Wir ſind beſcheiden geworden. Aber ſchon, daß ſich die — ſo verſchiedenen 
„Alaſſen“ angehörenden — Gruppen eines Berufsſtandes einmal zu einer gemein; 
ſamen Arbeit zufammenfinden, hat Bedeutung weit über den Wert des dadurch 
zunaͤchſt Geſchaffenen hinaus. In dieſem Sinn, als auf ein Symbol keimhafter 
ſtaͤndiſcher Gemeinſchaft, möchte ich auf das „Jahrbuch badiſcher Cehrer“ hin⸗ 
weiſen, das Beitraͤge aller Gruppen von Lehrenden, von der Volksſchule bis zur 
Sochſchule und zum Unterrichtsminiſterium, enthalt. Sein Erſcheinen allein be- 
weiſt, daß man ſich der Gemeinſamkeit gleicher Dienſtſchaft am Volk bewußt zu 
werden beginnt. 

Aber auch abgeſehen von dieſer ſymboliſchen Bedeutung bietet dieſes Jahrbuch 
ein feſſelndes Bild des Aulturwillens im Lehrſtand der deutſchen Suͤdweſtmark. 
Enthaͤlt es doch u. a. Beiträge von 5. Rickert, dem Saupt der „ſuͤdweſtdeutſchen 
Schule“ („Der Befang der Erzengel in Goethes Fauſt“); Ernſt Krieck („Die Idee 
einer deutſchen Bildungs verfaſſung“); Ernſt Soffmann ⸗Seidelberg („Aarl Witt“); 
Spitz müller („Muſik im Mittelalter“); J. A. Beringer („Der romantiſche Schwarz ⸗ 
zer W. Andreas (Ordinarius in Seidelberg : „Die erzieheriſche Bedeutung der 


Das Jahrbuch der Pa DER Cehrer“ (Verlag G. Braun, Karlsruhe; 260 S. 
14 Bildtafeln; 3 6. — N geb.) 


umſchau 375 


Geſchichte für die Diplomatie”); RA. A. Bergmann („Mittelalterliche Dichterperſoͤn⸗ 
lich keiten der Reichenau“) uſw. Dieſes Jahrbuch darf des halb weit über Badens 
Grenzen hinaus Beachtung beanſpruchen. Sein Wert wird durch 14 Bildtafeln 
nach badiſchen Bänftleen allein ſchon zu einem dauernden gemacht. 

Pbilipp Sördt 


g Programm ⸗ 
An der Schwelle des vierdimenfionalen Feitalters“?] 5 en 


laden mit Überbliden und Ausblicken, getragen von dunklen Energien, bilden ein 
Jeichen unſerer Gegenwart — auf allen Gebieten, wo man denkt und ſchreibt. 
Das Buch Friedrich Kleins verfolgt, wie ſchon fein Titel verrät, die Abſicht, dem 
Ceſer Harzumachen, daß und inwiefern wir mitten in einer Jeitwende ſtehen. Es 
will nicht beſtimmte Forſchungsergebniſſe bringen, vielmehr die Tragweite des 
neuen Schöpfertums erfaſſen (S. 97), das die Gegenwart erfüllt und das berufen 
iſt, einer neuen wahrhaften Bultur den Weg zu bereiten. Ju dieſem Iwecke lieſt 
es aus dem in Suͤlle und Fülle vorliegenden geſchichtlichen und ethnographiſchen 
material das aus, was für die neue Kultur entſcheidenden Wert zu haben ſcheint 
(S. 99) und was der Forderung entgegenkommt, ſich zu großen Linien ſchoͤpferiſch 
geſtalten zu laſſen (S. Joo). — Es iſt unmoglich, dies in einem Referat mit einiger 
Vollſtaͤndigkeit auch nur anzudeuten. Ich will die wichtigſten Leitgedanken heraus · 
beben, indem ich mich zum Teil woͤrtlich an die Ausdrucksweiſe des Verfaſſers halte. 

In Kap. I., überfhrieben „Betrachtungen über die tieferen Urſachen der Welt⸗ 
kataſtropheꝰ, zeichnet der Verfaſſer den Gang der deutſchen Geſchichte nach, wobei er 
— abweichend vom ublichen „Schema! — ben pſychologiſchen und den geographi⸗ 
ſchen Momenten uͤberragende Bedeutung beimißt. — Juerſt gedenkt er der Ur⸗ 
feindſchaft Deutſchlands und Frankreichs, die in einer Art — Bruderhaß gründet 
und mit einem Jwieſpalt innerhalb der deutſchen Seele ſelber zuſammenhaͤngt. 
Die deutſche Seele trägt eine Doppelheit von germaniſchem und romaniſchem Geiſt 
in ſich, die bisher eine Syntheſe noch nicht gefunden, die die Deutſchen verhindert 
hat, ſich ſelbſt zu finden, und fie wiederholt zum Rulturbünger fremder Volker ge⸗ 
macht hat. Die ihnen etwa zugewieſenen „Aufgaben“, z. B. die Aufgabe einer Aul⸗ 
turmiſſion im Oſten (Areuzzuge), wurden mißverſtanden, d. h. als voͤlkiſche nicht 
begriffen (S. 16). — Als Grundeigenſchaften ſpricht Verf. dem Deutſchen u. a. zu: 
einerſeits Geſchaͤftstuͤchtigkeit, Wuͤchternheit; anderſeits Pedanterie, Mangel an 
ele mentarſtem Rechtsgefuͤhl, Luft am Renommieren und (neudeutſche) Prahl · 
ſucht (S. 19). Gerade dieſe guten wie ſchlechten Eigenſchaften mußten bezw. mu · 
fen kraß hervortreten in einer Periode, wie wir fie ſeit der Reichsgruͤndung erlebt 
haben, naͤmlich in einer Periode der Veraͤußerlichung und Materialiſierung. — 
Waͤhrend nun gegenwärtig das Nationalgefuͤhl über alle Maßen uͤberreizt und 
mit Saß durchſetzt iſt (S. 18), bat in Wahrheit die Idee der Nation im alten Sinne 
ihre Rolle feit dem Weltkriege ausge ſpielt. Sie war die Idee des J9. Jahrhunderts. 
Vorher diente alles der Idee der Kirche, und künftig foll es anderen, neuen Soff⸗ 
nungen und Jielen dienen (ſ. unten lh). 

für Kap. 2., uͤberſchrieben „Weſtöoͤſtliche Aultur vermittlung“, iſt grundlegend 
die Unterſcheidung zweier Aulturtypen, eines urſpruͤnglich nordiſchen und eines 


F. Klein, An der Schwelle des vierdimenſionalen Jeitalters. Auriga ⸗Verlag. 
Darmſtadt / Berlin. 1924. 


476 umſchau 


oͤſtlichen. Dem erſten entſpricht eine patriarchaliſch ⸗ telluriſche Kultur (mit den 
Ceitbegriffen der Zeit, der Bewegung, des Schaffens, und mit der „3“ als Jahl · 
fpmbol) ; dem Sftliden Typ entſpricht eine matriarchaliſch⸗ chtoniſche Aultur (mit 
den Leitbegriffen des Raumes, der Ruhe, der Geſtaltung, und mit der „1“ als 
Jahlſymbol). — „Unſere“ eigentliche Wiege iſt die hypothetiſche See · Aultur der 
Nord volker. Dieſe brach ſpaͤter in die matriarchaliſch chtoniſche Aultur ein und 
wurde zwar von ihr befruchtet, ging aber dabei als ſelbſtaͤndige Aultur ein (S. 28). 
Sie iſt ſeitdem auf den Oſten angewieſen als den unverſiegbaren Born zur Er⸗ 
neuerung namentlich in den uͤberſinnlichen Belangen (S. 27). Leiser hat Europa 
bis her einſeitig nur „die intellektuellen Mutterwerte des Oſtens weiter ausgebaut, 
aber die gefüblsmäßigen vernachlaͤſſigt“ . Folge: die europaͤiſche Salbbildung, 
Mangel an kultürlicher Durchdringung aller Bevoͤlkerungsſchichten, und daher 
jene „exzentriſch · wirtſchaftlich ⸗kapitaliſtiſche Einſtellung .. „, die heute Europa 
zum Chaos führt“. (S. 33). — Nach einem Überblid über die oͤſtlichen Völker der 
Chineſen, Japaner, Inder, Perſer, Araber, Agypter werden ſchließlich dem ruſſi⸗ 
ſchen Volke, in dem ſich der Anſturm zweier kultureller Welten zur Syntheſe voll⸗ 
ziehe, die böchften Chancen zugeſprochen, ſowohl in kultuͤrlicher wie politiſcher 
Sinſicht (S. 43). Immerhin nur inſofern, als feine Reimkraft nach des Verfaſſers 
Anſicht die führende Idee einer Weltkultur konzipieren wird, während die vor 
handenen kulturellen Anfäge auf überwiegend deutſchen Anteil hinweiſen (S. 48). 
Die kulturellen Anſaͤtze werden in Aap. 3 behandelt unter der von dem Verf. als 
früherem Militaͤr wohl nicht zufällig gewahlten Überfchrift „Aufmarſch der ver⸗ 
ſchiedenen Disziplinen zur neuen Aultur“. Das Bapitel ſoll vornehmlich die „epo ⸗ 
chale Bedeutung“ aufzeigen, die dem „ungeſtuͤmen Drang der deutſchen Jugend“ 
beizumeſſen iſt (S. 48). (Jugend hier natuͤrlich nicht im Sinne von phyſiologiſcher 
Jugendlichkeit verſtanden !) 
Jch säble die hauptſaͤchlichſten Namen auf, die bier an uns vorüberzieben : Gei⸗ 
len (als Verfechter eines neuen Unendlichkeitsbegriffes), Einſtein, Sörbiger, 
Spengler, Frobenius, Banſe, Steiner, France, Seim, Selmuth Schenck; ſodann 
insbeſondere F. Senning, Adrien Turel, Ferd. Jezek und Fuhrmann als Vertreter 
eines „Quaternismus“, d. h. einer Weltanſchauung, in der die Jahl „1“ grund 
legend wirkt und namentlich auch die Struktur der kommenden Geſellſchaft be⸗ 
ſtimmen ſoll. Von dieſen Namen abgeldft treten folgende Sachthemata in den Ge⸗ 
ſichts kreis: Pſychoanalyſe und allgemeine Medizin, Raſſenkunde, Schul ⸗ und Ju⸗ 
gendbewegung, bildende Bunft, Muſik, Dichtung — und hier, in der Dichtung, er- 
ſcheint der Ruſſe Doſtojewsky als der Titan des Oſtens, als der Chriſtus der neuen 
Jeit. — Nachdem dann noch verſucht iſt, die Marxiſtiſche Bewegung als eine ge; 
ſchichtliche „Stilwidrigkeit“ größten Stiles nachzuweiſen, als einen aus Saß ge- 
borenen Jwiſchenakt, der den ruhigen Strom geſchichtlicher Entwicklung unter- 
brochen hat (der Rezeption des roͤmiſchen Rechts darin vergleichbar), werden ge- 
wiſſe neueſte Errungenſchaften — wie Betriebsräte, Arbeitsgemeinſchaften, Plan- 
wirtſchaft u. a. — als Neuanknuͤpfungen der in der Renaiſſance abgeriſſenen 
Faͤden charakteriſiert. — Einſtweilen, fo Klingt das Kapitel aus, „bat die Prieſter⸗ 
ſchaft das Wort“ — Prieſterſchaft im Sinne einer heute noch unſichtbaren Zunft 
der erkennenden. Deutſchland aber, „des Chaos vielgeliebter Sohn“, wird keine 
andere Wahl haben, als entweder der geiſtige Lieferant der anderen Volker zu wer; 
den, oder aber in Form einer Symbioſe ſich eine neue Weltgeltung zu erringen (S. 94). 


Umſchau 477 


Das leitet über zu den Gedankengaͤngen des letzten Kapitels („Löfungsverfude 
der Jeitprobleme“), die um die Ideen der Gemeinſchaft und des Gpfers kreiſen 
(S. 100) und in die Vorausſchau einer Epoche hoͤherer Kultur auslaufen. Diefe 
denkt der Verf. ſich politiſch mit einer als Ideal geſetzten neuen Allmenſchheit ver⸗ 
bunden, zu der wir vielleicht auf dem Wege über ein Alleuropa (S. Jos), freilich 
nicht mit paziſiſtiſchen Methoden, gelangen, und in die der Deutſche als metaphy · 
ſiſcher Einſchlag und als Opfer eingeht (S. Jos / o7). 


em Verfaſſer ſchien die Aufgabe, die er ſich geſtellt hat, ſo dringlich, daß, wie 

er ſelbſt im Vorwort fagt, „Eile die Feder beflügelte“ und ihn antrieb, zunaͤchſt 
einmal in Bauſch und Bogen auszuſprechen, was ihm auf dem Serzen lag. Wer in 
bezug auf formale Akrurateſſe Anſpruche ſtellt, wird erſt über einige unguͤnſtige 
„Vorzeichen“ hinwegkommen müflen. Der Verf., dem es offenbar leicht fallt, einen 
fläffigen, ja einen recht guten Stil zu ſchreiben, leiſtet ſich unnoͤtigerweiſe — ſicht · 
lich nur aus feinem Eiltempo heraus — im einzelnen ſprachliche Sorgloſigkeiten, 
die durch nochmalige Feilung der Säge muͤhelos zu befeitigen wären. — Eben ſo 
wäre das die Lektuͤre erſchwerende und m. E. zu tadelnde Fehlen jeglichen Inhalts⸗ 
verzeichniſſes ohne große Muͤhe gutzumachen. — Eher Umarbeitung als Nach; 
beſſerung wurde es fein, das unüberſichtliche Durcheinander halb fachlicher, halb 
perſonaler Geſichtspunkte in Kap. 3 durch eine ſtraffe logiſche Gliederung zu er ; 
ſetzen. 

Man verzeiht gern ſolche „Außerlichkeiten“ ‚wo man hinter ihnen ſtarke und 
echte Impulſe vermuten darf; und das iſt hier zweifellos der Fall. Alein teilt mit 
Spengler die Gabe, weite hiſtoriſch · ethnographiſche Juſammenhaͤnge zu über- 
ſehen und fo zur Syntheſe zu bringen, daß es einen Alang gibt. Alein gibt weniger 
als Spengler: naͤmlich nur eine vorläufige Uberſchau, die kaum erkrnnen läßt, was 
in dem Autor an originaler Kraft ſteckt. Aber Alein gibt, nach meinem Geſchmack, 
beſſer als Spengler: weil ihm naͤmlich alles Auffpielerifche und Proteſtſuͤchtige 
(gegenüber der akademiſchen Forſchung) fehlt, trotz feiner Sympathie mit den 
Außenſeitern der Wiſſenſchaft, und feines ſchoͤnen Verantwortlichkeitsgefühls 
gegenüber den unbekannteren „einſamen geiſtigen Vorkaͤmpfern“ der Jeit (S. Joo). 
Ich perſoͤnlich glaube in dem Buche manche guten Qualitaͤten eines deutſchen Offi⸗ 
ziers zu fpären. —- Der Verfaſſer tritt in dem Sauptteile, d. b. in Aap. 3 und 4, gar 
nicht als Wiſſenſchaftler auf; eher wie ein liebenswuͤrdiger Gaſtgeber, der die 
Wiſſenſchaften zu ſich eingeladen hat und fuͤr jeden ſeiner Gaͤſte ein paar anerken · 
nende Worte zu finden weiß. Sinter dem Gaſtgeber aber ſteckt der Aulturingenieur, 
der Mann des Tuns, der Befinnung, des Bauwillens: ein Menſchentyp, wie * 
unſere Jeit wohl braucht. 

Daß der Verf. ganz poſitiv gerichtet iſt und Kritik an feinen „Gaͤſten“ moͤglichſt 
niederhaͤlt, iſt gewiß ein feiner Jug. Aber wir muͤſſen doch fragen: find die „Gaͤſte“ 
nicht zu ſubjektiv ausgewählt, fpiegelt ihre Juſammenſtellung nicht zu ſehr noch 
die „zufällige” Geſchmacksrichtung des Verfaſſers ſtatt der objektiven Vertretung 
unſeres heutigen Befamtgeiftes? War es Abſicht, fo Vieles und Weſentliches zu uͤber · 
geben, was heute von ernſthaften Gelehrten — vielleicht ſchwereren Gewichtes als 
der vom Verf. fo ſehr gelobte Soͤrbiger — geleiſtet wird? Sicher nicht; der Verf. 
hat dafür geſorgt, daß man ihn richtig verſtehen kann, wenn man will: 

„Mein kompilatoriſcher Geiſt und mein Univerſum reichten nicht aus, alle die 


478 Umſchau 


Repraͤſentanten des neuen Lebensſtiles in einem Verſuchsrahmen zu vereinigen, 
oder gar in die wiſſenſchaftlichen Fachgebiete einzudringen.“ (S. 99.) Dies läßt 
hoffen, daß der Verſuchsrahmen ſpaͤter einmal erweitert werden möchte. 

Über die logiſche Durcharbeitung des Aleinſchen Gedankengefuͤges aͤußerte ich 
mich bereits. Im übrigen will ich mit N. nicht daruber rechten, wie weit es ihm ge- 
lungen ift, feine Leitbegriffe überall klar · und namentlich ſicherzuſtellen. Jwiſchen 
manchem Geſchliffenen und Blitzenden findet ſich auch noch genug des Ungelaͤuter 
ten, um nicht zu ſagen: des Vagen. Das Letzte ſcheint mir ganz beſonders von der 
den Buchtitel hergebenden „Vierdimenſionalitaͤt“ zu gelten, die doch die Phyſiog⸗ 
nomie der Fünftigen Geſellſchaft beſtimmen ſoll und daher im Sinne des Buches 
eine zu ſchwer wiegende Bedeutung hat, als daß ſie mit wenigen Bemerkungen 
hier und da (3. B. S. 80 / 81) genugend erflärt wäre. Unter der 4. Dimenſion wird 
naͤmlich nicht etwa die Zeit verſtanden, ſondern etwas Raͤumliches, wobei es ſich, 
fo wie ich es nur zu verfteben vermag, lediglich um raͤumliche Symbole gewiſſer 
tranſzendenter (d. h. denn doch raum · wie zeitloſer l) Verhaͤltniſſe handelt. Die hier 
gemeinten tranſzendenten Verhaͤltniſſe verraten ſich in den zahlreichen Analogien, 
die alle Erſcheinungen der Natur durchſetzen, und find als metaphyſiſche „Korre ; 
ſpondenzen “ (Entſprechungen l) zu denken. Klein fpricht zu dieſem Thema nicht 
etwa nur feine Privatmeinung aus, ſondern macht ſich zum Wortfuͤhrer einer 
Gruppe neuerer, intuitioniſtiſch arbeitender Denker, die ſich als „Quaterniſten“ zu 
einer Arbeitsgemeinſchaft zuſammengetan haben, und zu denen u. a. die oben er⸗ 
waͤhnten Turel und Senning gehoren. Ihnen wie mir war es gleichermaßen Über · 
raſchung, uns in der heiligen Vierzahl zu begegnen, im „Numerus mystficus“, wie 
ich ibn in meinem Werke „Chaotica ac Divina“ proviſoriſch genannt habe. Was 
die „Quaterniſten“ den „neuen Raum“ nennen, ſcheint mir ein neues Weltbild zu 
fein, das die Welt unter Bevorzugung des Geſichtspunktes der Statik als ruben- 
des Gewoͤlbe, als Dom (S. 68) ſpiegelt. Ein ſolches Bild zu ſinden: daran arbeiten 
in Deutſchland heute allerdings viele Böpfe und Serzen. Und bei mancher Ver⸗ 
ſchiedenheit im übrigen weiß ich mich gerade im Bilde eines zu bauenden Domes 
mit dem Verf. einig, und es ſei mir erlaubt, auf S. 8 der „Chaolica ac Divina“ zu 
verweiſen. Aber nicht dieſe formale, ſondern andere „wichtigere“ ubereinſtimmun · 
gen find es, die meine bejahende Grundhaltung gegenüber dem Kleinſchen Buche 
beſtimmen. | 

I. Alein ſagt: alle menſchlichen Wahrheiten find relativ, doch der moderne Rela⸗ 
tivismus beutet dies aus, „um der angefaulten Moral einer dekadenten Kultur die 
Kruͤcken für ihre Geſetzmaͤßigkeit zu leihen“. Glaͤnzend. 

2. Klein fordert eine organiſche Erfaſſung von Welt und Leben, er fordert Be- 
meinſchaftsbetaͤtigung und „Mitatmen mit der Natur“ (S. Jos) im Gegenſatze zu 
analyſierender Jerſetzung. In dieſer Forderung find ſich heute ſchon die Fuͤhrenden 
einig. 

3. Blein bejabt, im Gegenſatze zu Spengler, eine weitgehende Gemeinſamkeit 
aller großen Kulturen (S. 27) und macht fie auch glaubhaft. Nur fie laͤßt die Soff⸗ 
nung wachſen auf dereinſtige Syntheſe der Volker. Doch möchte ich glauben, daß 
dieſe Syntheſe nicht ſich darin erſchoͤpfen kann, „Extrakt aus den Geiſtes · und Be 
fuhls werten der ganzen Erde“ zu fein (S. 40), ſondern daß „Allquid novi“, etwas 
Neues, als zuſammenſchmiedendes Element hinzukommen muß. 

4. KAleins Optimismus geht fo weit, den Gemeinſchaftsgedanken auf die bisher 


Umſchau 479 


unter ſich nicht verbundenen Außenſeiter der Wiſſenſchaft ausdehnen zu wollen. 
Eine Jentralſtelle fol fie, dieſe Repraͤſentanten des unbewußten Schoͤpfertums 
unſeres Geiſtes, zuſammenfaſſen und ſich den Univerfitäten zu Silfsdienſten an- 
bieten (S. 101/102). Wie etwa Senry Ford fragt: „Warum arm fein?!" — fo fragt 
Klein ganz glaͤubig: warum follen ſich große Ideen erſt nach dem Tode ihres Ur⸗ 
bebers durchſetzen? (S. 3). — Ja, warum? — Es hat denn doch wohl einen tiefen 
Grund. Mit dem Serzen wohl, doch mit dem Kopfe kann ich hier mit dem Verf. 
nicht mitgehen. Um einer tieferen Begruͤndung (von der notwendigen Tragik 
ſchoͤpferiſcher Einſamkeit) auszuweichen, ſage ich dies: ich glaube nicht an Univer⸗ 
fitäten, die an ein „grandioſes CLaienſchöͤpfertum glauben konnten und Luft haͤt⸗ 
ten, es wohl noch zu fördern. Sier wird eine Coincidentia oppositorum verſucht, 
eine Juſammenſpannung von Unvertraͤglichkeiten. Wohl laufen Wolkenwaſſer 
und Quellwaſſer zuletzt in einem Gemiſch zuſammen, doch nie werden Wolke und 
Quelle ſich um ihren Rang einigen; jede wird ſich wichtiger vorkommen, jene 
Iffentlich am Simmel haͤngend und legitimiert, diefe heimlich verborgen und nur 
yfaktiſch“ freigegeben, ſoweit fie durch Riſſe und Spalten eben einen Weg zu finden 
vermochte! — Anderſeits werden auch die wahren Schöpfer — einerlei ob Akade ; 
miker oder Laien — unter ſich nicht fo in Gemeinſchaft arbeiten konnen wie die 
Fachgelehrten unter ſich. Wohl geht Wolke mit Wolke zwanglos zuſammen — aber 
Quelle mit Quelle.. . — Zier iſt irgend etwas Weſentliches noch nicht richtig 
gewuͤrdigt — etwas, was uͤberhaupt unſere unter Programmworten ſtehende Jeit 
völlig uͤberſieht. Der Verf. und viele moderne Sucher wurden es zu ihrer Über- 
raſchung und Bereicherung finden in einem Buch des Bölner Philoſophen 5. Pleß 
ner: „Grenzen der Gemeinſchaft“. (Dies Buch — 1924 bei Friedrich Cohen in Bonn 
erſchienen — wird bald von ſich reden machen; vgl. auch Aufſatz des gleichen Titels 
von Ren. Supfeld in „Jeitwende“ 1925, S. 604ff.). 

S. Im Üͤbrigen iſt die optimiſtiſche Grundeinſtellung Kleins das Beſte an ihm 
und ſeinem Werke. Sie vor allem hebt ihn vorteilhaft ab gegen Spengler, deſſen 
Jukunftsbild nicht fo ſehr eine notwendige Zukunft mit angeblichem Caͤſaris mus 
uſw. als vielmehr den Gewaltmenſchen Spengler ſelbſt charakteriſiert, der in 
Monſchen Roßherden fiebt und unter Peitſchenknallen fein Buch ſchreibt. Ein 
großer Teil der heutigen Menſchen iſt fo feminin, daß er gerade dies liebt. Aller- 
dings hat der ausgereiftere Spengler vor dem erſt anfangenden Klein umfpannen- 
dere Blicke voraus, aber auf keinen Fall beſſer ordnende oder gar reinere Blicke. 
Nicht beſſer ordnende: da doch die logiſche Baͤndigung im „Untergang des Abend⸗ 
landes“ ſchlechthin alles zu wuͤnſchen übrig laͤßt. Wicht reinere: da feine Unfaͤhig · 
keit, an ewige Wahrheiten zu glauben, bei der Hlaͤglichen Frage landet und ſtrandet: 
was wird geſchehen? demgegenuͤber vermag ich in der Schrift Rleins ein Schwert 
aufblitzen zu ſehen, das Schwert des Wollens, das die Frage fo ſtellt: was ſoll ge- 
ſchehen? 


uſammenfaſſend möchte ich ſagen: mit den Unvollkommenheiten ſowohl einer 
Erſtlings ⸗ als auch einer Laien Arbeit im bloß theoretiſchen Sinne behaftet, 
bildet das hier beſprochene Werk im praktiſchen Sinne eine intereſſante Skizze, die 
von Berufeneren als mir daraufhin geprüft zu werden verdient, wieweit fie zur 
Grundlegung einer neuen Kultur dienen kann. Sie ift geſund durch ihre Impulſe, 
durch Geradheit und eine freundliche Saltung des Wohlwollens gegenuͤber den 


480 umſchau 


Menſchen, endlich — last not least! durch einen Natur und Geiſt, Geſchichte und 
Gegenwart und Zukunft frei und groß einſchließenden Rahmen, der „richtige An ⸗ 
ſaͤtze für die Einzelprobleme liefert. Friedrich Grave 


Hermann Seſſe hat vor Jahren einer 
Dichtung und Dichter der Zeit Keinen Scheift, die ſic mit dem eufſiſchen, 
vor allem dem Doſtojewſkiſchen Weſen und feiner ſtuͤrmiſchen Aufnahme in die 
deutſche Seele befaßt, einer tief nachdenklichen und melancholiſchen Schrift, den Titel 
„Blick ins Chaos“ gegeben. Uberſchaut man die Literatur des letzten Jahrzehnts, 
fo fragmentariſch immer ihre ungeheure Fulle einem zur Aenntnis gekommen iſt, 
ſo draͤngt ſich dieſe beaͤngſtigende und beklemmende Formel mit aller Staͤrke auf, 
und man ſieht ſich wirklich am Rande eines Araters, in deſſen Tiefen es chaotiſch 
brauſt. Es gab immer in Wendezeiten und in einer gewiſſen gefunden Periodizitaͤt 
ſchon Sturm und Drang, und auch die literariſche Revolution der achtziger Jahre 
war durchaus kein ſanftes Wehen; aber fo ſtuͤrmiſch und draͤngend wie in juͤngſt 
vergangenen Tagen, ſo radikal nicht nur, ſondern ſo entwurzelnd geſchah keine 
kuͤnſtleriſche Bewegung wie dieſe. Warum? Weil fie viel mehr wie jemals der Aus · 
druck einer allgemeinen Geiſtesbewegung, die Spiegelung einer im Tiefften und 
Allgemeinſten aufgewüblten, in ihren politiſchen, wirtſchaftlichen, weltanſchau · 
lichen Grundfeſten wankenden Jeit war. Daß dieſes Chaotiſche fruchtbar ſei, daß 
fi in ihm Untergang, Übergang und Aufgang zunaͤchſt unlösbar, ſpaͤter aber im · 
mer genauer trennbar und erkenntlich verſchlingen, iſt die Soffnung aller, die mit 
dem Glauben an die unverwuͤſtliche Araft des Geiſtes geſegnet find; mit einer, wie 
mir ſcheint, faſt biologiſch fundierten Juverſicht in den Gang und die Fuͤhrung alles 
Geſchehens, ſofern man aus der Biologie die Überzeugung gewinnen kann, daß 
das Lebendige dort, wo es ſich fortpflanzen und neu werden will oder auch nur 
Wiederherſtellungen, „Reſtitutionen“, des verletzten Organismus zu leiſten ſich 
anſchickt, gleichſam heimkehrt in das Undifferenzierte oder Vordifferenzierte, das 
doch einem an Form, Ordnung, Geſtalt gewohnten Auge als das ſchlechthin Form⸗ 
loſe, Ordnungsloſe, Geſtaltloſe, als das Chaotiſche und auch wiſſenſchaftlich im- 
mer ein wenig Unheimliche, in feiner Raͤtſelhaftigkeit einerſeits Erſchreckende, an · 
dererſeits faft Heilige erſcheinen muß. Der Analogieſchluß vom Biologiſchen auf 
das Geiſtige mag nicht zwingend fein, Hoffnungen mögen ſich im eigentlichen Sinne 
nicht begründen laſſen, und Vertrauenswuͤrdigkeit iſt keine mathematiſch beweis · 
bare Tatſache; ſicher iſt, daß der „Blick ins Chaos“ ohne Hoffnung und Vertrauen 
auf ſeine Fruchtbarkeit und Traͤchtigkeit unertraͤglich waͤre und fuͤr den, der beides 
von Innen her nicht aufbringen kann, auch unertraͤglich iſt. 

Wer einen tieferen Blick als den gelegentlichen in das Chaos der Jeit, wie es ſich 
in der Literatur ſpiegelt, tun will, dem ſei Alb. Soergels neue Folge ſeiner „Dich⸗ 
tung und Dichter der Jeit“ ſehr empfohlen. Mit der gleichen Gründlichkeit, die 
ſchon das 191] erſchienene, in 60000 Exemplaren verbreitete, jetzt vergriffene Buch 
gleichen Titels auszeichnete und daß die Jeit von 1880—1 910 umfaßte, iſt bier die 
kuͤrzere aber noch erfülltere und aufregendere Spanne von 1910 bis etwa 1920 
geſchildert. Wenn man zunaͤchſt die Art dieſer Literaturgeſchichtsſchreibung kenn ; 
zeichnen ſoll, fo könnte dies mit dem Wort: liebevolle Kritik oder kritiſche Liebe ge- 
ſchehen. Es laßt ſich eine geiſtreich elegantere, ſozuſagen weltmaͤnniſch · ůberlege · 
» Verlag von R. Voigtländer, Leipzig, 1925, geb. N 24.— 


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umſchau 481 


nere Form, die Geſchichte der Literatur zu buchen ebenſo denken, wie eine ener⸗ 
giſchere, robuſtere Jeichnung der geiſtigen Linie im hiſtoriſchen Geſchehen, aber es 
gibt nicht leicht eine andere Darſtellung, die eine gleiche innere Anteilnahme und 
Singabe mit ſoviel ſchlichter Juruͤckbaltung, wohlwollendem Verſtaͤndnis und un ; 
beſtechlichem Bemuͤhen um Gerechtigkeit im Urteil verbindet. Der Autor nennt 
feine Darſtellung ſelbſt „eine in gewiſſem Sinne dienende“ gegenüber der „an alten 
Stoffen heute mit Recht gehbten königlichen Art, die die Kenntnis aller Werke 
vorausſetzt, die Neudeutung und Neubeleuchtung it“. In dieſem Satz, in dem ſich 
eine unvoreingenommene Selbſterkenntnis und Beſcheidenheit ſympathiſch aus · 
ſpricht, iſt auf die Arbeiten Gundolfs und Bertrams hingedeutet. Von dieſer Art 
nun iſt die Soergelſche allerdings nicht; auch wenn eine ſolche Leiſtung heute ſchon 
moglich wäre, was zu bezweifeln iſt, fo wäre doch mit ihr dem weitaus größten 
Teil der Leſer nicht in dem Maße gedient, wie hier beabſichtigt iſt, wo nicht fo ſehr 
Wertungen und Deutungen gegeben werden ſollen, als die Beiſpiele, die eine ſolche 
ermöglichen. Dieſes Buch traͤgt mit mehr Recht den Namen einer „Schilderung“ 
der deutſchen Literatur als manches andere, weil es wirklich Dichtung der Jeit auch 
zeigt, Wortkunſt zu Worte kommen läßt, nicht nur beredet oder analyſiert und ſyſte⸗ 
matiſiert. Es iſt überreih an Proben, faft eine Anthologie moderner Dichtung. 
Daneben find einzelne Kapitel zu vollſtaͤndigen und geſchloſſenen Eſſays Aber Ein ⸗ 
zelperſoͤnlichkeiten angewachſen, bemerkenswert die größeren Aber Sermann Stehr, 
Strindberg, Paul Ernſt, Georg Baifer, Wilh. v. Scholz, die kleineren über Seym, 
Trakl, Stadler, Werfel, Mombert, Barlach, beſonders erfreulich das Kapitel über 
Rudolf Pannwitz, dem bier das erſtemal in größerer Offentlichkeit Gerechtigkeit 
widerfaͤhrt. Reizvoll iſt es, zu verſpuͤren, an welchen Geſtalten das Gerz des Dar ⸗ 
ſtellers haͤngt, die immanente Kritik und Wertung ohne viel richteriſche und ge⸗ 
ſetzgeberiſche Worte an dem Gefuͤhlston zu erkennen, der an dieſen Stellen die 
Sprache waͤrmer macht. Wenn man merkt, wieviel naher (und hoher) dem Ver 
faſſer Georg Aaiſer ſteht als Sternheim, Sanns Johſt als Saſenclever, Sermann 
Stehr als Seinrich Mann, der Charonkreis als der „Sturm“, fo wird mancher 
Kefer eigene Meinung und Zuneigung zu feiner Freude beftätigt und beſtaͤrkt 
finden. 

Beſonders erwuͤnſcht erſcheint es, daß durch Soergels Darſtellung in die einiger- 
maßen verwirrende Fuͤlle von Richtungen, Dichtern und Werken Ordnung und 
eine gewiſſe Folgerichtigkeit kommt. Das ganze Jahrzehnt wird als im Banne des 
Expreſſionismus ſtehend bezeichnet. Das erſte Buch ſchildert nach einer Charakte ; 
riſtik der allgemeinen Jeitlage um JYJO Vorbereiter und Vorläufer; hierauf folgt 
im zweiten Buch Schilderung des Durchbruchs der neuen Richtung, dieſe nicht als 
Bunftfoem, ſondern als eine Erſcheinungsform der Jeitſeele, die Erſcheinungs · 
form der Jeitſeele erfaßt, als — im Allerallgemeinſten — der Drang vom Bild der 
Welt zum Sinn der Welt (ja, könnte man ſagen, zum Sinterſinn der Welt, zu einem 
Sinn, der ſich nicht in der Welt offenbart, ſondern den die Welt der Dinge, Erſchei⸗ 
nungen, Geſtalten verbällt, verzerrt, verſchuͤttet, verdirbt und den man nur los · 
geloſt und entleibt rein hinſtellen kann unter Abſehung von jeglicher Geſtalt und 
durch Jertrůmmerung derſelben). Es wird letzten Endes die Miſſion des Expreſſio⸗ 
nismus klar: Die Aunſt metaphyſiſch vertieft zu haben. Aber ebenſo Har der Irr 
weg oder Umweg des Verſuchs, den Geiſt, das Metaphyſikum an ſich darſtellen zu 
wollen. Und es wird auch andeutungsweiſe ſichtbar, wohin der Weg gehen dürfte: 
Tat Vn 32 


482 umſchau 


zu einer Bunt, für die die Wirklichkeit wieder in jedem einzelnen Ding Sinnbild, 
im Ganzen, Nos miſchen Mythos werden kann. 

Moch in einer anderen Sinſicht iſt dieſes Buch Beiſpiel ⸗ und Bilderbuch. Über 
dreihundert Abbildungen kommen dem Wort zu Silfe, Bilder und Rarrikaturen 
der Dichter, Illuſtrationen, Buͤhnenbilder, Proben von Revolutionszeitſchriften, 
Dadaiſten · Augſchriften, Sandſchriften proben, Verlags zeichen und Vignetten, fo 
daß man einen ſtarken Eindruck von der Verbundenheit der bildenden Bunft mit 
der Literatur erbält, die ſchließlich ohne Kenntnis der Barlach, Marc, Hofer, Felix; 
mueller, George Groß, Chagall, Archipenko, Maſereel, Meid und ſelbſt Schwitters 
nur halb bekannt und charakteriſiert waͤre. Durch dieſe Beigaben wird das Wort 
doppelt lebendig. 

Alles in allem: kein chaotiſches Werk über eine chaotiſche Zeit, eins, das weder 
die Literatur noch die Zeit zu beeinfluſſen ſucht, das nicht richten will, weder im mo · 
raliſchen noch im aktiviſtiſchen Sinne, das nur zu verſtehen verſucht, das eine 
freundliche Duldſamkeit auch den bizarrſten und ſkurrilſten Erſcheinungen gegenuber 
bewahrt, faft eine heimliche Freude bat auch an den knolligen und mißwüchfigen 
Gebilden im Garten der Literatur und das im Ganzen ein liebenswertes und un⸗ 
gemein kenntnisreiches und erkenntnis bereicherndes Buch iſt, für das wiederum 
viele CLeſer dem Verfaſſer Dank wiſſen werden. 

Wer eine kuͤrzere Darſtellung der Periode zu ſtudieren wünſcht, die bei Soergel 
feine beiden umfangreichen Bände füllt, fei auf das hier ſchon vor Jahren ange⸗ 
zeigte, jetzt in 2. Auflage erſchienene Buch von Sans Naumann: „Die deutſche 
Dichtung der Gegenwart verwieſen, eine aͤußerſt vornehme und feinſinnige 
Schilderung, die ſich ebenſo wie die Soergels im Ganzen freudig bejahend trotz der 
vielen unſympathiſchen Ihge im Antlitz der zeitgenoͤſſiſchen Literatur an das Ju⸗ 
kunftstraͤchtige und Vorwaͤrtsweiſende halt. In drei großen Aapiteln, die Drama, 
Roman und Lyrik geſondert behandeln, werden mit bewunderungswürdiger 
ſeeliſcher Feinfuͤhligkeit die Entwicklungslinien Hlar und uͤberzeugend gezeichnet. 
überraſchende Juſammenhaͤnge erſchließen ſich und man erkennt, wieviel Grund 
vorhanden iſt, dankbar zu fein, daß man in dieſer Epoche leben darf. Das Rilke. 
ſche Motto des Buches charakteriſiert aufs ſchoͤnſte die Haltung des Verfaſſers: 
„Man fuͤhlt den Glanz von einer neuen Seite, auf der noch alles werden kann“. 

Noch gedraͤngter, ſkizzenhaft, iſt eine Darſtellung die Oskar Walzel von der 
„Deutſchen Dichtung der Gegenwart“ gibt. Wenn es das Weſen und den Reiz der 
Skizze ausmacht, daß fie durch Weglaſſen und Andeuten und durch Sinlegen weni · 
ger markanter Züge ein Bild des Ganzen wirkt, fo kann der um die Dinge ſchon 
Wiſſende dieſen Reiz hier genießen. 

Allen drei Schilderungen, fo verſchieden an Umfang und Art, eignet übrigens 
das Gemein ſame, daß fie darauf hinweiſen, die Jeit der Gaͤrung ſei vorüber und 
auch in der Dichtung bahne ſich eine ruhigere und Hlarere fruchtbare Periode an. 
von der noch viel zu erwarten iſt. Paul Wegwig 


(Fünfter Lehrgang, veranſtaltet vom 
Seminar für Sprechkunde Jentralinſtitut für Erziehung und Unter- 
richt, Berlin, vom 26. Oktober bis 5. Dezember 1925, geleitet von Dr. Erich Drach, 


J. B. Metzlerſche Verlags buchhandlung, Stuttgart, 1924, geb. mn 9. — . Ver ; 
lag Quelle & Meyer, Leipzig, 1925, br. M o. so. 


umſchau 483 


Lektor an der Univerſitaͤt Berlin.) Wir müflen heute ganz von vorne anfangen bei 
all unſerm Werk. Lehren kann nicht, wer nicht gelernt hat. Wir alle haben nicht ge; 
lernt. Wir wiſſen, aber wir konnen nicht. Beimendes Leben waͤchſt in Sprache, 
Muſik und Tanz. Waͤchſt im Antlitz der Bilder, im Antlitz der Saͤuſer, in Bruͤcken der 
Technik, in Bauten der Arbeit. Aber es gehort zum Schickſal der Jeit, zum Schick⸗ 
ſal der Großſtadt, daß wir, kaum begonnen, frübreif Gedanken kriſtalliſieren, Wie⸗ 
derentdecktes verphiloſophieren. Wir kranken an der Salbfertigkeit. Rhythmiſche 
Tänze, Jugend ſpiele, Sprechchoͤre und Singabende bringen wir gleich auf das Fo⸗ 
rum, arbeiten halb unbewußt zweckgerichtetet fuͤr die Öffentlichkeit, ſtatt im Stillen zu 
tun und wieder zu tun. Nur fo doch konnen wir neu entdecken, Urfprünge finden und 
all jene Dinge von Linie, Farbe und Klang, von Söͤhe und Weite, Puls ſchlag und 
Atem, Dauer und Raum, Wechſel und Einheit von Körper und Seele, Aral und 
Gegenkraft, Pauſe und Spannung, die heute in vollem Kuſſe find und die wir erſt 
wiedergewinnen müflen. Wicht fo wie wir heute noch „Technik“ treiben: nicht fo wie 
wenn wir Tonleitern üben, auf und ab, ab und auf; nicht fo wie wenn wir Woten 
abſpielen im Dreivierteltakt, vom Willen diktiert. Sondern vom Koͤrperzentrum 
bewegt, indem wir den Ton in uns Hingen bören in rhythmiſcher Bindung mit 
andern; indem wir die „Pauſe“ als Auf- „Takt“ empfinden und ſchwingen und beben 
im Rhythmus. Wicht fo wie wenn wir den Korper „lockern“ im bloßen Wiſſen der 
muskelfunktion, in Arbeit und Training des einzelnen Teils; ſondern in Freude 
des ganzen Menſchen, Schwingung des Ganzen im Meinften Spiel. Wicht fo wie 
man Schauſpieler ſprechen lehrte, nach phyſikaliſchen Grundgeſetzen, ſtreng nach 
den Regeln der Anſatzphonetik. Sondern in Wellen ausftrömenden Atems, fon- 
dern in Hingenden Tönen der Brüder, ſondern verhaltenen Schwunges der Leiber, 
fondern in Spannung und Tiefen und Höhen, Farbe und Freude in „ſinnloſen“ 
Rlängen, leiſem Jubel und hellem Traum, Freude des Rlingens hinein in den 
Raum. Sprache iſt Tanz, Sprache Muſik, Sprache iſt Schwingen und Beben des 
Ceibes. Rein Sichdruͤcken an Grunden des Wiſſens, aber die helle Erkenntnis um 
feine Unzulaͤnglichkeit, wo mehr es fein will als Forſchungsergebnis und ftreng 
nachpruůfende Sicht. Wir wurden ja ſtolpern beim Fleinften Wort, fprächen wir es 
in bewußteſter Übung der Muskelfunktionen. Wir geben im Arampf, wir fteben 
im Krampf, wir konnen nicht ſprechen, noch fingen. Weil all unſer Tun nur mittel · 
und zweckgerichtet iſt. Ja ſelbſt im Geringſten und gerade in ihm ſchwinge der 
ganze Menſchl Das hieß bei uns begnadetes Bünftlertum, wo ein Kind es am 
beſten lehren koͤnnte. Und wenn wir ein Runſtwerk nicht bloß er⸗leben, ſondern in 
uns verlebendigen wollen, ſo wiederholen wir ſeine Geſtalt in uns und durch uns 
in Gemeinſamkeit. Die Lebens · (Erlebnis ·) Schule, die noch mit den Wellen ro⸗ 
mantiſcher Jugendbewegung in Parallele gelaufen war, hatte geglaubt, den 
Iweckapparat der alten Lern · und Nuͤtzlichkeitsſchule dadurch vernichten zu kon ⸗ 
nen, daß fie durch Einfuͤhlung oder die Kraft des Temperaments im jungen Men; 
ſchen Erlebnis und Stimmung beſchwor. Stimmungen aber verflattern wie We; 
bel, und ſelten nur wurde die vom Objekt aus geformte Geſtalt, d. b. eine Wieder⸗ 
gabe im Sinne des Schöpfers gepraͤgt. Im Bonzertfaal iſt es kaum anders; auf 
den Podien unſere Sprecher, unſere Schauſpieler auf der Buͤhne ſpielen ſich ſelber 
und nicht das Werk. Bereits eines Gerber weite Vorausſchau erkannte, daß Wachs · 
tum der Seele aus der Sinnlichkeit ſchreitet. Wie waͤchſt ein Werk? Doch fo, daß 
die Körper ⸗Seele des Schoͤpfers die Kraft dem Stoffe eingraͤbt. Wir muͤſſen alfo, 

32° 


48% umſchau 


wenn wir das Werk des Schöpfers durchleben, vom Schoͤpfungskoͤrper und nicht 
von dem Ich aus ſchreiten, weil ja aus dem Schoͤpfungskoͤrper allein noch der 
Geiſt des Schoͤpfers uns ſtrahlt: Wir müflen von der „Schallform“ der Dichtung, 
wir müflen von dem Sinnenobjekt der Muſik und all feinen unzerlegbaren Teilen 
ausgehen; von all jenen Dingen des Rhythmus, des Raumes, der geordneten Kraft, 
der Sprechmelodie, der Atempauſe, der Linienführung und in der Sprache als 
mitteilbarkeit naturlich auch ihrem geiſtigen Leben, dem Leben, deſſen Geſtalt zu 
uns ſchreitet. Nicht ſo, daß wir dies Alles zerlegen, ſondern es leben gemeinſamen 
Werks. In dieſe Gedanken paſſen die Worte, die einer der Lehrer des Sprechſemi⸗ 
nars, Seinrich Roͤmer, ſprach. Das eine: An unſeren Buhnen nehmen wir keinen 
mehr, der nur noch vom Temperament aus ſpielt. Das andere: „Und Jakob rang 
mit dem Engel Gottes die ganze Nacht. Und er obſiegte ibn. Aber — er lahmte an 
der linken Sufte.” Gewiß, ein Teil der eigenen Braft wird durch die Andersartig · 
keit des Objekts gedaͤmmt. Aber ſelbſt fo geſtalten wir dennoch das Aunſtwerk nur 
nach Möglichkeit „objektiv“, weil das Objekt ja immer noch durch die eigene Aör⸗ 
per · Seele gefärbt und geſtaltet wird. Und nur wenn wir ganz dem Objekt uns 
geben, wenn wir die Richtung kennen, bewahren wir die geſammelte Kraft, an- 
ſonſt zerſtiebt fie in Raumloſigkeit und trägt bei jeder neuen Prägung des Werks 
verſchiedenes Geſicht. — 

Und wie die Kultur und ihre Entwicklung undenkbar wären ohne die Sprache, 
fo greift auch das Sprechenkoͤnnen, Vortragen · „ Erzaͤhlen · und Redenkoͤnnen in 
alle Gebiete des Lebens und damit der Schule hinein. Nicht aus formalen, aͤſthe⸗ 
tiſchen, nicht aus hygieniſchen, zweckgerichteten Gründen ſollen wir ſprechen lernen, 
ſondern weil der Menſch nur fo voll leben kann. 

Es regt ſich ſchon an manchen Orten. Die Sprecherziebung von Vilma Moͤncke⸗ 
berg in Samburg und Münſter und, ſoviel ich vermuten kann, die Muſikerziebung 
der Sochſchule in Charlottenburg ſchreiten in der gezeichneten Richtung oder in 
einer ahnlichen. Auch das Sprechſeminar in Berlin hat eine verheißungs volle Ju⸗ 
kunft. Zwar liegt feine Begrenzung in der knapp bemeſſenen Jeit von ſechs Wochen 
und in der notwendig unorganiſchen Juſammenſetzung der Arbeitskreiſe. Aber die 
Anregungen in wechſelſeitigem Austauſch von Geben und Nehmen zwiſchen 
Lehrern und Schuͤlern fielen bei oft kraſſen Gegenſaͤtzen durchweg auf guten Bo · 
den. Das Ich trat zuruck vor dem ehrlichen Wollen der Arbeit. Nicht zum wenigſten 
trug die Jielſicherheit der Leitung dazu bei. Unter den Jo7 Teilnehmern fab man 
Schillerkragen, Schweſtern in Ordenstracht, Schauſpieler, Berufs ſaͤnger, etwa 
ein Dutzend maͤnnlicher Studienraͤte aus dem ganzen Reich, ſogar zwei Direktoren, 
eine Anzahl Frauen und beſonders Lehrer der Grundſchule. Vertreter der Lern ; 
ſchule, der Erlebnisſchule und der im Sinne der oben gezeichneten Formung tätigen 
Arbeitsſchule. Aber durchweg alle gehalten von der Achtung vor dem andern, der 
Spürbarkeit eigener Unzulänglichkeit, je mehr man in die Dinge hineinſah, der 
Scheu vor fruchtloſen Ausſprachen und dem ſtrengen Willen zu praktiſchem Tun. 
Durchweg getrieben, auch die „Alten“, von einer oft unbewußten Sehnſucht nach 
all jenen Dingen des Lebens und der Gemeinſchaft, die heute irgendwo in der Luft 
liegen und die von den meiſten wenigſtens erahnt werden konnten. Das großzügig 
angelegte Programm des Seminars bot zuviel der Anregungen und verriet 3. T. 
noch die Spuren einer Jeit, in der man gewohnt war, ſich in logiſchen Denkpro⸗ 
zeſſen mit dem Leben auseinanderzuſetzen. 


umſchau 485 


Die ſprachpſychologiſchen und · philoſophiſchen Sorfchungsserundlagen von Dr. 
Mäller- Sreienfels und die buͤhnengeſchichtlichen Vorleſungen von Dr. Sans 
Cebede hätten, trotz feſſelnder, das Weſentliche ſtreng heraus arbeitender Darſtellung 
doch 3. T. auch in den bekannten Büchern der beiden Dozenten erleſen werden 
koͤnnen. Wichtig waren allerdings, auch für dieſen Arbeitskreis, die Behandlung 
des Dramas im Unterricht und die Anknuͤpfung an die neuen Richtlinien, die Ab⸗ 
grenzung von Berufstheater, Dilettantenbühne und Laienſpiel und die Aus⸗ 
ſprache über das Jugendſpiel überhaupt. Prof. Slatau führte an der Sand von 
plaſtiſchen Nachbildungen und Präparaten in die Bau und Lebenserſcheinungen 
der Sprechorgane ein; ſeine Hiniſchen Ubungen gaben einen praktiſchen Einblick 
in die Seilpaͤdagogik der Stimme und Sprache. Dr. Erich Drach gab an Sand des 
Leitfadens „Sprecherziehung“ (Dieſterweg, Frankfurt a. M.) und feines Buches 
„Die redenden Bünfte” (Quelle u. Meyer, Leipzig) eine ſtets anregende und die Ge⸗ 
meinſchaft zu Kritik und Mitarbeit geradezu reißende Einfuͤhrung in die Methodik 
der Sprecherziehung. Seine Aſſiſtenten leiteten mit ſachlichem Verantwortungs⸗ 
bewußtfein die wöchentlich vierſtündigen Ubungen der einzelnen Arbeitskreiſe zu 
einem „gefunden, lautrichtigen, tragfäbigen und wohlklingenden Sprechen”. Dra⸗ 
maturg Seinrich Roͤmer, der in feiner beſondern Eigenart zunaͤchſt von vielen 
mißdeutet wurde, erfüllte die Jielforderungen der neuen Sprecherziehung durch 
ebytbmifche Atem⸗ und Sprechgymnaſtik und durch die ſuggeſtive Kraft zu einer 
Sammlung erzwingenden Konzentration, die weg vom „privaten“ Selbſtgeſpraͤch 
einer Dichtung zur Schwingung in Raum und Gemeinſchaft führte. Dr. Michaelis 
führte an Sand deutſcher Proſameiſter durch praktiſche Übungen, aus eigener In⸗ 
ſtinktſicherheit für die Muſikalitaͤt und den geiſtigen Gehalt der Sprache und aus 
einer gepflegten Sprechbegabung, in die Werkſtatt des vortragenden Sprechers, 
der zaͤh und ausdauernd um letzte Feinheiten der Sprache und ein ſtrenges Seraus ; 
arbeiten der jeweiligen Aunſtform ringen muß. Die unter feiner Regie veranſtal⸗ 
teten Sonntagvormittage von guten Sprechkünſtlern der Gegenwart boten eine 
beſonders wertvolle Erganzung zur Arbeit des Werktags. 

Es ſoll hier nicht Aufgabe fein, alles Gebotene aufzuzaͤhlen, viel weniger noch 
zu deuteln, zu maͤkeln, ſondern mitaufzubauen und in dem Sinne weiterzuhelfen, 
wie eingangs dargeſtellt wurde. Aus der Überfälle gebotener Anregung: der zahl⸗ 
reichen Schulbeſuche zu einem „moͤglichſt vielſeitigen Überblick über die neuen 
Arbeitsweiſen“ des deutſchen Sprachunterrichts, der Probearbeiten von Jugend- 
bühnen und Sprechchoͤren, der koſtenfreien Theaterbeſuche ſeien noch beſonders 
hervorgehoben die paͤdagogiſch geſchickte Sprecherziehung von Dr. Chriſtians in 
der Höheren Schule, von Bäte Stobbe in der Grundſchule und der Einblick in das 
Leben der proletariſchen Arbeitsſchule von Jenſen. 

Der Lehrgang war vom Arbeitsgedanken einer Sprecherziehung geleitet, welche 
„die Mutterſprache als lebendige Perſoͤnlichkeitsleiſtung des Einzelnen“ werten 
und pflegen wollte. Mag fie darüber hinaus zu einem Werk an der Gemeinſchaft, 
für die Gemeinſchaft, durch die Gemeinſchaft werden. Der Wunſch vieler Teil- 
nehmer ging zu einem noch kraͤftigeren Tun in gemeinſamer, vom Takt getragener 
Arbeit aneinander im einzelnen und choriſchen Ausdruck. Lehrer und Schüler 
waren einig in dem Verlangen, den naͤchſten Lehrgang, vielleicht in ſtiller Abge⸗ 
ſchiedenheit von den ſcheinbar zugehorigen, in Wirklichkeit nur ablenkenden Ein ⸗ 
fluͤſſen der Broßftadt, nur der lebendigen Tat und den dazwiſchen liegenden Atem⸗ 


486 umſchau 


pauſen zu weihen. Der Wame „Sylt“ in Verbindung mit choriſcher Bewegungs 
kunſt Hänge verheißungsvoll. 

Das bayriſche Schulweſen iſt dem preußiſchen auf dem Wege der Sprecherziehung 
vorangeſchritten. Wenn wir uns auch klar darüber find, daß die Schule nicht den 
Geiſt eines Volkes baut, ſondern daß jede Kultur ihre Schule ſich felber bildet; 
wenn auch die heutige Staats ſchule nur „reformieren“ kann, fo könnten doch viel⸗ 
leicht mehr, als die neuen preußiſchen Richtlinien zunaͤchſt nur wünſchen, für dieſe 
fo wichtige Angelegenheit einer Lebenserneuerung und eines Eigenſtiles praf- 
tiſche Möglichkeiten geſchaffen werden. Der ganze Weſten Deutſchlands 3. B. iſt bis · 
ber von den Segnungen Berlins auf dieſem Gebiete ſo gut wie verſchont geblieben. 
Bis dahin aber arbeitet jeder an ſeiner Stelle im eigenen Umkreis und freut ſich, 
wenn er wirklich ein Stück erfüllen kann, damit wir am Ende keine Lebens⸗ 
Schule, aber ein neues Schul ⸗ Leben im Aufbau ſehen. Leo JSußhöller 


: j Georg Chriſtoph Lichtenberg, deſſen 
n dringliche Meinungen wahrlich alles 
andere eher enthielten als fortſchritts · 


glaͤubigen Optimismus, hat irgendwo aphoriſtiſch vermerkt, daß man ſich wohl 
irre, wenn man glaube, daß alles Neue der Mode zugehoͤre; es ſei etwas Seſtes 
darunter. Fortgang der Menſchheit dürfe nicht verkannt werden. So verbürgt 
ſchließlich dieſer „Fortgang“ auch — trotz Spenglerſcher Sppotbefen — in den 
großen geiſtesgeſchichtlichen Belangen des Menſchengeſchlechtes heute iſt, ſo 
wenig Tatſaͤchlichkeit ſcheint man ihm in punkto Runſt und KRuͤnſtlertum zuzu⸗ 
ſprechen, der Stelle alfo im Bereich des Menſchlichen, an deren beſonderen ſozio⸗ 
logiſchen Bedeutung die außerordentlichſten paͤdagogiſchen Werte anſchießen, 
foweit man uberhaupt die letzteren als unabſichtliche Verſuche nimmt, die Idee 
einer Wurde des menſchlichen Geſamtbildes konkret zu machen. 

Ein Bemühen darum beweiſt im beſonderen die darſtellende Runft der Gegen⸗ 
wart. Sie hat es fertig gebracht, auch an den Erzeugniſſen des platteſten litera- 
riſchen Snobismus noch die Wichtigkeit menſchlicher Beziehung zu demonſtrieren. 
So anmaßend es waͤre, zu einer Jeit, in der der Menſch nur noch den geſpenſter⸗ 
haften Umriß eines Vakuums vortaͤuſcht, in dem die verſchiedenſten Experimente 
zum Iwecke des Seelenheils durcheinanderſpuken, in ſolchen Dingen apodiktiſch 
urteilen zu wollen, fo mutig muß man fein, wenn es gilt eine poſitive Bereiche 
rung zu dokumentieren: Das Filmtheater beginnt in die Reihe der legitimen 
Bunftftätten einzuruͤcken. 

Freilich müflen dazu zwei notwendige Praͤmiſſen Beruͤckſichtigung finden. Die 
eine liegt beim Publikum. Wer ſich nicht — durch die Tatſache voreingenommen, 
daß der Bildſpieler eigentlich nur vor einer Kamera agiert — der Fiktion zu ent- 
aͤußern vermag, die uͤber ein weißes Laken huſchenden „Schatten“ von Menſchen 
und Dingen ſeien den Vorgängen auf der Sprechbuͤhne gegenüber „unlebendig“, 
dem mangelt das Organ des neuen Verſtaͤndniſſes. Der hat noch nicht begriffen, 
daß das Erlebnis der Stimme des Menſchen — dieſem beſonderen Myſterium der 
Sprechbühne — dem Erlebnis feines Antlitzes — dieſem geheimnis vollen Privi · 
leg des Films — völlig gleichkommt. Beides iſt dasſelbe; naͤmlich Erſcheinung 
(Lautwerdung) menſchlicher Inneneriftenz als Erweis der metaphyſiſchen Situa⸗ 
tion, in der fie ſich im Stande des Schickſals (der Sandlung) befindet. Die zweite 


Umſchau | 487 


Voraus ſetzung liegt beim Darſteller. Mit Emil Jannings ift der Film in diefen 
Tagen auf den ihm adäquaten Typus des darſtellenden Bünftlers geſtoßen, eines 
Typus, der die neue Berufung als folgerichtige Abwandlung alter, beſter Tradi⸗ 
tionen ahnend begriff. Das zufällige Verdienſt liegt hier zweifellos bei den Deut- 
ſchen. Wer fie fo etwa als Vertreter europaͤiſchen „Beiftes” amerikaniſchem Bon» 
frontierte, müßte zu den aufregendſten Schluͤſſen kommen. Erläuterungen konnte 
von Fall zu Fall die monographiſche Betrachtung liefern. 

wenn der Aarrikaturiſt eines letzten Simpliziſſimustitelblattes Jannings „im 
Filmparadies voll Behaͤbigkeit geſicherten Erfolges zu Chaplin ſprechen läßt: 
„Ich ſage dir, in dieſem Augenblicke verkracht in Deutſchland ein Theater“, ſo hat 
er damit nicht nur die Meinung ironiſiert, die Jannings ja von ſich haben oder 
nicht haben mag, ſondern er hat auch, indem er wohl aus un verdorbenem Gefuͤhl 
für das Jweckentſprechende natürlicher Anordnung die Figur des Auͤnſtlers zum 
Mittelpunkt des Bildes und zum devoten Intereſſe der ubrigen machte, fein un⸗ 
beabſichtigt Teil zu unſerem Thema beigetragen. In demſelben Maße naͤmlich, 
in dem heute die deutſche Filminduſtrie an Kapital und Umfang von der den Welt⸗ 
markt beherrſchenden amerikaniſchen übertroffen wird, übertrifft die deutſche 
Produktion an Sinngebung und Geſtaltungs moͤglichkeit des filmkünſtleriſchen 
Phänomens nicht nur dem Grade, ſondern auch der Art nach jede andere. Um 
nicht in den Geruch ignoranter Deutſchtuͤmelei zu geraten, ſei im voraus geſagt: 
Von dem zweckvollen Aufwand an Energie und Jaͤhigkeit, von der geradezu 
glaͤubigen Einſtellung des amerikaniſchen Bünftlers zu feinem Berufe und der 
entſprechenden Diſziplinierung feiner aͤußeren Exiſtenz wiſſen die deutſchen Film; 
ſpieler noch ſo wenig, daß man ihnen eingehende Unterrichtung dringlich an⸗ 
empfehlen darf. Ein zweites Sollywood gibt es nicht. Aber man ſoll fie auch in 
dem Wiſſen darum beſtaͤrken, daß derlei Dinge für die talentierte Keiftung wohl 
eine wichtige, aber untergeordnete Rolle ſpielen; daß fie überall da Beachtung ver⸗ 
dienen, wo wirklich vorauszuſehen tft, daß durch bloßes Wollen Bönnen erreicht 
wird. Iſt dieſe Vorausſicht getruͤbt, fo bewirkt das bekanntlich eine Brenzver- 
wiſchung zwiſchen ſtrebſamem und begnadetem Bänftlertum. In Deutſchland find 
derartige Vorkommniſſe leidige, aber vollkommen uͤberſehbare Affaͤren, in Amerika 
aber bilden ſie ein dauerndes charakterologiſches Malbeur. Den Erweis bietet vor 
allem der Spieler ſelbſt: Sein Beſtreben iſt auf vollendete eigen haͤndige und 
füßige Bewältigung des meiſt dekorativen und monumentalen Ereigniſſes ge- 
richtet, wobei das mimiſche Moment, alſo das einzige, das dem Film Gelegenheit 
gibt, aus der Sphaͤre des Artiſtiſchen in diejenige autonomer Runſt zu ruͤcken, nur 
als ſtereotype, ſeelenferne Funktion einer vSllig von außen ber zugerichteten 
Sandlung auftritt. Auch der gern als „naturlich“ gefeierte Ausdruck bekannter 
Amerikageſichter, jener vermeintliche direktere Weg von innen nach außen, den 
ibr Weſen zu bezeugen ſcheint, iſt nur die Silfloſigkeit eines einſeitig orientierten 
Weltgefuͤhls; für jeden wiſſenden Europaͤer die bedauernswerte Sanswurſtiade 
eines menſchlichen Serzens, dem das geiſtige Nahrungsbeduͤrfnis bereits perver · 
tiert iſt. Wenn der darſtellende Kuͤnſtler tatſaͤchlich das auserleſene Mittel iſt, die 
makelloſeſte Stelle des Menſchenweſens ehrfurchtheiſchend von der perſonellen 
zur ideellen Exiſtenz feines Selbſt hinzuwenden, dann iſt das typiſch amerikaniſche 
Fumſzenarium das untauglichfte Feld der kuͤnſtleriſchen Betätigung. Aber ſchließ · 
lich tut jeder, was er noͤtig hat. Das amerikaniſche Publikum iſt ſchon von einer 


488 Umſchau 


derart wahllos · und ſelbſtgezuůͤchteten Gewoͤhnlichkeit des Geſchmacks infiziert, daß 
es ſauer reagiert, wenn man ihm giftfreie Roſt bietet. Als der Ufa · Exportſilm 
„der Letzte Mann“, der bekanntlich — mit Jannings in der Sauptrolle — eine 
außerordentliche Höhe der Darſtellungskunſt aufwies, ſowie techniſch und kunſt⸗ 
gewerblich vollkommen war, in New Nork aufgeführt wurde, ſollen die Theater 
{don nach dem erſten Teil die Hälfte ihrer Juſchauer verloren haben; die anderen 
hätten nicht mißzuverſtehend gelacht und ihren Beifall — gepfiffen. Immerhin 
konnte die Preſſe nicht umhin, ſich zum Teil ſehr günftig uber den Film zu aͤußern, 
was die deutſche Exportfilminduſtrie veranlaſſen follte, unbeirrt zu bleiben und 
nur da Bonzeffionen zu machen, wo es die Wahrung und Körderung allgemeinen 
deutſchen Einfluſſes ratſam erſcheinen läßt. 

Runft wird nun einmal — wie einiges andere auch — nicht von unten nach 
oben, ſondern umgekehrt gemacht. Der Bünftler, der am hoͤchſten in der Erkennt; 
nis menſchlichen Schickſals geſtiegen iſt, iſt auch zuerſt berufen, es darzuſtellen. 
Deshalb heißt es das Verdienſt großer Mimen ſchmaͤlern, wenn man es bintan- 
haͤlt. Wer das Spiel Jannings, dieſe bewußt geſtaltete Daͤmonie menſchlichen Ge · 
ſchicks, etwa in einem der künſtleriſch geſchloſſenſten Filme, im „Varieté“, erfahren 
bat, muß auch geſpuͤrt haben, daß durch die filmiſche Apparatur mit dem Antlitz 
die ſes Menſchen vielleicht erſtmalig das Antlitz der Bunft leuchtet. Es kann einem 
dabei plotzlich bewußt werden, daß jener techniſche Einfall der Erſindung der Kine · 
matographie, dieſer rühmliche Anlaß zur Spannungsbereicherung heutiger Vita; 
lität, als einer der ſeltſamen, aber unerlaͤßlichen Umwege der modernen Seele zu 
ſich ſelber und zur Kultur entlarvt iſt. Und nur dadurch, daß die filmkünſtleriſche 
miſſion eines Jannings den Menſchen wieder zum Maß der Dinge machte, er⸗ 
halten auch die Fakten, die bis dato nur technologiſcher Plunder waren, mit dem 
man die laͤcherlichſten Maͤtzchen arrangierte, eine gewiß zugewieſene, aber eine um 
fo finnfälligere, eine Bedeutung von Rang. 

Es tft noch keineswegs bewieſen, daß die Große unſerer Zeit in ibren „Er⸗ 
rungenſchaften “ liegt. Dieſe find nämlich nie um ihrer Selbſt willen da, ſondern 
haben immer auch heimliche, auf Menſchenwert und ⸗ weſen bezogene Abſichten. 
Der Film iſt einer ihrer manifeſten Erſcheinungen. Wer ſich ibm gegenuber nicht 
in letzter Stunde zur kritiſchen, unvoreingenommenen Betrachtung entſchließt, 
mag mit Lichtenberg wünſchen: „Ich wollte, daß ich mich alles entwöhnen 
konnte, daß ich von neuem ſehen, von neuem bören, von neuem fühlen konnte.“ 
Denn „Gewohnheit“ verdirbt nicht nur die Philoſophie, ſondern auch die Kunſt. 

Fritz Bühler 


; Es war eini 
Der neue Reichsbund für Lebens: und Seilreform 5 


Ausbruch des Weltkrieges, da wanderten an einem nebligen Serbſtmorgen ein 
paar Dutzend Menſchen, die durch Tracht, Saltung und ihre markanten Böpfe 
auffielen, von der Station Oranienburg nach der Obſtbaukolonie Eden. Der 
bekannte Kebensreformer Guſtav Simons, der im Verein mit feinen Bruͤdern 
das ſog. Simonsbrot in den Sandel gebracht hat, hatte fie zuſammenberufen. 
Seinem Rufe waren außer Lebensreformern auch politiſche Fuhrer, Wirtſchafts · 
reformer und andere Lebenserneuerer gefolgt. Es war eine eigentüämlide Bon- 
ferenz, die damals in Eden tagte. Guſtav Simons ſuchte, wie er es nannte, den 


Umſchau 489 


„Generalnenner“ für die geiftigen Strömungen in Deutſchland. Mit anderen 
Worten, mit Silfe der Ronferenz und mit Silfe der Geladenen, wollte er den 
„Geiſtigen Generalſtab“ ins Leben rufen für das neue, werdende Deutſchland. 
Guſtav Simon ſtarb bald darauf, feine Konferenz war gewiſſermaßen fein Ver⸗ 
maͤchtnis an die Überlebenden. Die Tagung war aber gleichzeitig der Auftakt für 
folgende ahnliche Veranſtaltungen. Ein Jahr fpäter fand in Samburg der erſte 
große Kongreß für biologiſche Hygiene ſtatt. Was Eden vorbereitet hatte, das 
wurde 1912 in Samburg Wirklichkeit. Während in Eden nur einige Dutzend 
fuͤhrender Böpfe auf dem Gebiet der Lebens ⸗ und Seilreform ſich eingefunden 
hatten, war es Hugo Erdmann, dem damaligen Serausgeber des „Allgemeinen 
Beobachters“, gelungen, mehrere hundert Fuhrer des geiſtigen Deutſchlands in 
Samburg zu einem Kongreß zu vereinigen. Das von Dries mans vorgeſchlagene 
„Aulturparlament“, welches das Gewiſſen des deutſchen Volkes in allen Aultur⸗ 
fragen werden ſollte, fand ſchließlich einſtimmige Annahme. Nur wurde auf An⸗ 
trag des alten Prof. Foerſter⸗ Friedenau die Bezeichnung „Volksrat“ angenommen, 
weil dieſes Wort volkstümlicher und allgemein verftändlicher ſei, als der von 
Dries mans geprägte Ausdruck „Bulturparlament”. 

Dieſes Rulturparlament blieb, wie fo vieles andere, auf dem Papier ſtehen. 
Zwar wurden die Vorbereitungen für den Volksrat in die Sand genommen, in 
Bonn war bereits ein zweiter Rongreß vorbereitet, aber da kam der Weltkrieg und 
fegte alles hinweg, was nicht auf die augenblickliche Not der Stunde eingeſtellt 
war. Klaͤgliche Verſuche, in der Schickſalsſtunde unſeres Volkes den Volksrat doch 
noch zu begründen, namentlich im Sinblick auf die drohende Unterernäbrung, 
ſchlugen fehl. Der in Samburg gewaͤhlte Volksrat war alſo noch nicht das Ge⸗ 
wiſſen der deutſchen Volksſeele. 

An Verſuchen, den geſcheiterten Volksrat nach Kriegsende wieder ins Leben zu 
rufen, bat es nicht gefehlt. Schließlich gelang es dem Bund für Lebens erneuerung 
unter Fuͤhrung von Friedr. Scholl in Weimar (Pfingften 1923) ſowie Sugo Erd⸗ 
mann, dem Organiſator des zweiten Bongrefles für biologiſche Hygiene (Dresden 
im Serbſt 1924), die ſeit Samburg (Serbſt 1912) zerriſſenen Jäben wieder aufs neue 
zu knuͤpfen. (Über dieſe Verſuche habe ich in der „Tat“ ſchon bei früheren Ge⸗ 
legenheiten berichtet.) So unermüdlich die beiden Genannten auch tätig waren, 
wieder alle Krafte zu ſammeln, die eine Erneuerung des ganzen deutſchen Volkes 
vom biologiſchen Geſichts punkte aus erſtrebten, ſo ſchien doch das Papſttum und 
die Eigenbroͤdelei in den einzelnen in Frage kommenden Organiſationen unuͤber⸗ 
bruͤckbar zu fein. Nach einem Jahr vergeblicher Verhandlungen und Bemuhungen 
gaben fie den Verſuch auf. Eine Juſammenfaſſung der verſchiedenſten Richtungen 
und Stroͤmungen auf dem Gebiete der Seil · und Lebensreform ſchien augenblick 
lich nicht moͤglich, obwohl man Har erkannt hatte, daß ſich ſehr bald die Mot; 
wendigkeit ergeben würde, im Bampfe gegen die Allopathie, die Repraͤſentantin 
der Vergangenheit auf dem Gebiete der Seilkunſt und Geſundheitspflege, eine ge- 
me inſame, ſtraffe Abwehrfront zu bilden. 

Im letzten Augenblick (wiederum ift im Reichstag ein Geſetz gegen die Burier- 
freiheit eingebracht worden, allerdings unter dem Deckmantel der Bekaͤmpfung der 
Geſchlechtskrankheiten), bat die Wot der Stunde doch endlich eine Juſammen⸗ 
faſſung der Bräfte moglich gemacht. „Im Namen des Gewiſſens der Bewegung“ 
bat der Regierungsrat Engelhardt, Überlingen, zum I. Dezember nach Berlin 


490 Umſchau 


etwa SO führende Kopfe der großen Volksſtroͤmung für biologiſche Lebens · und 
Seilweiſe einberufen, die heute bereits etwa ein Siebentel des Volkstums umfaſſen 
duͤrfte . Was ich nun nach den bisherigen uͤblen Erfahruntzen nicht mehr fuͤr mög» 
lich gehalten hatte, gelang trotzdem. Unter Leitung von Bergmann, Samburg 
(Bund der Naturheilfreunde) und Prof. Verweyen (Univerſitaͤt Bonn) wurde in 
zwei Tagen wertvolle Arbeit geleiſtet. Iwar fehlte es am erſten Tage der Ron ⸗ 
ferenz nicht an den unter Deutſchen ublichen uferlofen Debatten, aber am zweiten 
Tage wurde faſt nach engliſchem Vorbild gearbeitet, Antrag auf Antrag nach 
kurzer Debatte angenommen. 

Nun das Ergebnis. Als notwendige Spitzenorganiſation ſaͤmtlicher Stroͤ⸗ 
mungen auf deutſchem Sprachgebiete, die eine Erneuerung der Seilkunſt, Lebens · 
fuͤhrung und Geſundheitspflege erſtreben, wurde der „Reichsbund für Lebens ⸗ 
und Seilreform“ getzruͤndet, dem ſofort eine Reihe von Verbänden mit einer An ⸗ 
bängerfchaft von ISO OOO organiſierten Mitgliedern beitraten. Den Vorſitz über⸗ 
nahm Prof. Verweyen, Bonn, die Geſchaͤfts führung liegt in Sanden von Seren 
Wergyn, dem Schriftleiter des „Volksbeil“, die Praͤſidentſchaft iſt dem alten Vor⸗ 
kaͤmpfer unſerer Bewegung, Geheimrat Faßbender, angetragen worden. Dem 
engeren Vorſtand, der aus ſieben Köpfen beſteht, iſt ein „Beirat“ angegliedert. 
mitglieder dieſes Beirates find einmal die Delegierten der dem Spitzenverband an · 
geſchloſſenen Organiſationen, ſodann ſolche Perſoͤnlichkeiten, die ſich um die 
Cebens · und Seilreform Verdienſte erworben haben. Letztere werden von dem 
engeren Vorſtand vorgefchlagen, von der Generalverſammlung gewählt. 

Als die wichtigſten naͤchſten Aufgaben wurden feſtgelegt: J. Erkäͤmpfung der 
Gewiſſensklauſel nach engliſchem Muſter, 2. Erhaltung der Burierfreibeit, die zur 
Stunde ſehr gefaͤhrdet iſt, 3. Die Einführung der Parität der Seilmethoden im 
Arankenkaſſenweſen. Bei Punkt J ſoll moͤglichſt Sand in Sand mit dem großen 
Bund der Naturheil vereine gearbeitet werden, welcher in der Frage der Gewiſſens 
Hauſel den Volksentſcheid ins Auge gefaßt hat. Die Abwehrfront gegen den 
letzten Geſetzentwurf im Reichstag ( Punkt 2) ſoll nach Moglichkeit in Gemeinſchaft 
mit der Geſellſchaft für Medizinalpolitik und mit dem biochemiſchen Bunde ge; 
bildet werden. Die Forderung unter Punkt 3 wird zur Reviſion der ganzen ſozialen 
Verſicherung führen, ſowie insbeſondere zur völligen Umgeſtaltung des ganzen 
heutigen Arankenkaſſenweſens. Die aufgeklaͤrten, intelligenteren Böpfe der Ar- 
beiterſchaft wänfden für ſich und ihre Angehoͤrigen, daß auch ihnen die Wohl · 
taten der Lebens ·⸗ und Seilreform zuteil werden, wahrend in den bisherigen 
KArankenkaſſen, Rrankenhaͤuſern und Erholungsheimen fie nur nach den Regeln 
und Anſchauungen der Allopathie behandelt werden koͤnnen. So iſt es kein Wun ; 
der, daß ſich ſchon heute im Stillen Beſtrebungen bemerkbar machen, die darauf 
hinausgehen, daß die einzelnen Arankenkaſſen ſich zuſammentun und ſelbſt Sana⸗ 
torien erwerben follen, in denen die Mitglieder dann völlig freie Sand in bezug 
auf die Behandlung haben. Andere Länder, 3. B. England, find in dieſem 
Punkte ſchon viel weiter. Es iſt ein verhaͤngnis voller Irrtum, zu glauben, daß 
wir Deutſchen wie einſt noch immer an der Spitze des ſozialen Verſicherungs · 
wefens, insbeſondere der Kranken verſorgung, marſchierten. 

Ghne die Abſtinenzbewegung 9 dieſe große Volksſtroͤmung auf deutſchem 


Sprachgebiet über etwa JSO Jeitſchriften, mehr als doppelt ſoviel wie das gefamte 
uͤbrige Ausland aufweiſt! 


umſchau 49] 


Als weitere dringende Aufgaben wurden dann noch die Wohnungsnot und die 
Bekaͤmpfung der Tuberkuloſe bezeichnet. Dieſe beiden Fragen ſind ja nur im Verein 
mit der Bodenreform zu Idfen. Daher tft es erfreulich, daß die große Organiſation 
der Bodenreformer ſich dem Reichsbund ſofort angeſchloſſen bat. 

Herner ſoll in Angriff genommen werden: Irrenweſen, Brotfrage, Volksernaͤh · 
rung, Sauttultur (Luft- und Sonnenbaͤder !), Großſtadtproblem (Gartenſtadt, 
Siedlung, „Kulturgürtel“), Eugenik (vorgeburtliche Erziehung), Aörperkultur 
und Gymnaſtik und andere Fragen. 

Betont wurde ſchließlich, namentlich von einem Vertreter der Jugend (Pfad⸗ 
finder · Bewegung), daß Lebensreform unbedingt der Seilreform vorangehen muͤſſe. 
Erſt müfle und folle man im Sinne der Jugendbewegung ein heiler, ein ganzer 
menſch werden, vorher koͤnne man eigentlich kein richtiger Seiler ſein. Dieſer 
Forderung gemaͤß ſoll die naͤchſte große Fuͤhrertagung der geſamten deutſchen Jugend⸗ 
bewegung von dem Reichs bund für Lebens · und Seilreform einberufen und auf der · 
felben die verſchiedenen Aufgaben und Ziele der Lebensreform dargeſtellt werden. 

Auf der Konferenz in Berlin wurde auch zum erſten Male deutlich zum Ausdruck 
gebracht, daß die Staͤrke der Bewegung in zwei Punkten beruhe, in der Betonung 
der Lebensreform und in der Abwehrfront der Allopathie gegenüber. Über Wefen 
und Aufgaben der Lebensreform berrſchte eine ziemliche Einmütigkeit in der ge- 
famten Bewegung, dagegen auf dem Gebiete der Seilreform ſei es bisher nicht ge ⸗ 
lungen, die Jentralidee einer neuen, deutſchen Seilkunſt herauszuarbeiten. Daß die 
Seiſkunſt der Jukunft den Juſatz „deutſche“ tragen wird, ergibt ſich ſchon aus der 
einfachen Tatſache, daß alle neueren Seilmethoden (Spagyrik, Somòopathie, 
Biochemie, Naturheilverfahren, Aneippkur, Magnetopathie, Felkekur uſw.) deut · 
ſchen Urſprungs ſind. Auf deutſchem Sprachgebiet vollzieht ſich eben ſeit einem 
Jahrhundert eine gewaltige Umgeſtaltung in den Fragen der Krankheitslehre und 
der Seilkunſt. Aber dieſe geiſtige Bewegung iſt heute noch nicht zum Abſchluß ge- 
kommen. In dem Augenblick aber, wo die Idee der Seilreform fo klar umriſſen da- 
ſtehen wird, wie es heute ſchon die Idee der Lebensreform tut, wird die Allopathie 
in deutſchen Landen von der Buͤhne abtreten muͤſſen. Die Stellungnahme von 
Schulze, Arndt, Bier und anderen Forſchern deutet bereits die Aufgabe der erſten 
Poſition ſeitens der Schulmedizin an. Dringend geboten erſcheint daher die baldige 
Einrichtung einer freien Akademie für biologiſche Pathologie, Therapie und Sy- 
giene. Ohne eine ſolche Akademie dürfte die Uridee der Seilreform, beſſer geſagt die 
Uridee der neuen, deutſchen Seillehre kaum zu finden fein. Wie ſtark man in dieſer 
Sinſicht auch auf der Konferenz in Berlin noch im Dunkeln tappte, zeigte die For⸗ 
derung, die ſeltſamer Weiſe der Vertreter der mediz.⸗biolog. Geſellſchaft ftellte* : 
Der Reichsbund ſolle die Ideen Gandhis ubernehmen, der Abwehrkampf gegen 
die Allopathie dürfe nur im Sinne Gandhis geführt werden. Dieſer Reformarzt 
überfab vollſtaͤndig, daß es eine biologiſche Unmoͤglichkeit iſt, auf deutſchen Boden 
zu verpflanzen, was in Indien gewachſen iſt. Seine Forderung wurde von der Ver⸗ 
ſammlung auch einmuͤtig abgelehnt, die deutſche Volksſeele iſt auf Gandhi noch 
nicht eingeſtellt. Erſt generationenlang durchgefuͤhrte Lebensreform und Askeſe 
wären nötig, um in Deutſchland eine Gandhi ⸗ Bewegung ins Leben rufen zu 
Fönnen. Und dann würde fie kein oſtariſch ⸗ brah maniſches, ſondern weſtariſch⸗ 
katholiſches Gepraͤge tragen 
»Die mediziniſch ⸗biologiſche Geſellſchaft umfaßt etwa 200 Reformaͤrzte. 


492 umſchau 


Gelingt es dem Reichsbund für Lebens ⸗ und Seilreform, unter Fuͤhrung von 
Prof. Verweyen, der ja ein Meiſter im geiſtigen Brückenbau iſt, das Siebentel 
unſeres Volkstumes, das bereits Träger der neuen, biologiſchen Ideen tft, in einer 
geſchloſſenen Einheit zu ſammeln, dann wäre allerdings auf biologiſch ⸗ medizi 
niſch · hygieniſchem Gebiet der erſte Schritt getan, der aus der deutſchen Jerriſſen · 
heit der Gegenwart wieder zur Einheit, Geſchloſſen heit und Sarmonie führt. 

Struͤnckmann 


Warg. Naumanns ſchoͤpferiſche, handwerkliche Erziehung 


Auf der „I. Magdeburger Frauenwoche“, gemeinſam veranftaltet vom „Verband 
deutſcher Frauenkleidung und Frauenkultur“ und der Volks hochſchule, erſtritt den 
ſtaͤrkſten Erfolg neben einer großsägigen Geſtaltung des Phänomens „Frauen ⸗ 
bewegung” durch Gertrud Baͤumer und einer uͤberraſchend neu und vertieft ge⸗ 
febenen, fein ausgeformten Begenäberftellung von „Frauenbewegung und Ju⸗ 
gendbewegung “ durch Eliſabeth Buſſe⸗Wilſon der Vortrag von Margarete Nau ; 
mann: „Die Entfaltung der fchöpferifchen Krafte durch handwerkliche Erziehung“. 
m. M. entwickelte in demſelben mit Silfe reichen Lichtbildermaterials und plau · 
ſibler graphiſcher Darſtellung innerer Vorgänge eine neue, von ihr gefundene 
und feit über JO Jahren praktiſch erprobte Geſtaltungslehre. Dieſe erſchien mehr, 
als Worte und Lichtbild es vermochten, vom Leben unmittelbar beglaubigt durch 
eine Ausſtellung von Erziebungsarbeiten 14 — “s jaͤhriger, faſt nur der Volks · 
ſchule entſtammender Schuͤlerinnen M. N. s, eine Ausſtellung von wahrhaft 
uͤberwaͤltigendem Reichtum an neuen Formen, Verſuchen, Geſtaltungen. 

Sachleuten, führenden Bunftersiebern und Kuͤnſtlern iſt M. N. laͤngſt durch 
Werkbund ⸗ und Sonderausſtellungen und die Leipziger Entwurf · und Modell. 
meſſe, in deren Jury fie als einzige Frau wirkt, bekannt als Schöpferin einer 
neuen Textilkunſt. Aber auch unverbildete, ſchoͤpferiſche Menſchen witterten in 
ihrer ſeltſam ſelbſtherrlich, zwecklos, abſeits von jeder herkömmlichen Technik 
und Stiltradition gewachſenen Bunft Yreuland. — So hoch jedoch in unſerer 
chaotiſchen, zergruͤbelten Zeit eine fo eigenſtaͤndige, ſichere, aus innerer Fülle ge- 
ſpeiſte Geſtaltung wie die M. N. s gewertet werden muß — viel weſentlicher für 
unſere lebendige Kultur ift ihre in Magdeburg wieder von allen führenden 
ᷣrauen -;, Fach:, Schul, Runſtperſönlichkeiten unter der zahlreichen, auch von 
auswärts kommenden Beſucherſchaft erkannte Bedeutung als Erzieherin der 
ſchoͤpferiſchen Volkskraͤfte. 

Mm. M. iſt im Vogtlande inmitten einer von jeher mit dem Haden vertrauten 
Bevoͤlkerung geboren. So lag ihr ſelbſt textile Begabung im Blute, vielleicht auch 
ein beſonderes Verſtehen des Schickſals ihrer ebenfalls mit feinfuͤhligen, ſchoͤpfe 
riſchen Sanden begabten Mitſchweſtern, die bei Sungerlöͤhnen von 5 und 6 Pf. 
für die Stunde lebenslang ſchematiſch verarmende, unkuͤnſtleriſche Gebilde zu 
vervielfaͤltigen gezwungen find. M. N. felbft iſt in dem herkömmlichen Aunſt⸗ 
ſchulenbetrieb bei Reißbrett und Stift ausgebildet, alſo in einer vorwiegend nach; 
ſchaffende Krafte entwickelnden Tendenz, die fie in ih rer eigenen Geſtaltungs · 
lehre verwirft und bekaͤmpft. — Trotzdem ruhte ihre ſchoͤpferiſche Natur nicht, 
bevor fie das für fie in der Luft liegende Problem geloͤſt hatte, die Spitze von der 
berkoͤmmlichen Beſchraͤnkung auf die Fläche zu erlöͤſen, fie durch Auswirkung auch 


umſchau 493 


in die dritte Dimenfion — das Raumproblem unferer Zeit auch in der Tertiltunft 
— zu befruchten. Sie erfand eine neue Faden verknotung, Fadenſicherung, die 
Margaretentechnik. Was damit gewonnen war, bezeugte ihre Ausſtellung 1914 auf 
dem Werkbund in Aoln mit einer unerhört vielſeitigen Fulle bald fpinnweb- 
feiner, bald maſſivgewirkter, flaͤchiger und körperlicher Ranken, Sterne, Blüten, 
Gruppen, Szenen aus Spitze. Eine ſpaͤtere Ausſtellung 1919 uͤberraſchte faſt 
noch mehr durch den Beweis, daß dieſe Margaretentechnik nicht bloß Spitzen; 
faͤden, ſondern Wolle, Seide, Baſt, Perlen, Gold ⸗ und Silberfaͤden, Filigran⸗ 
draht zu kuͤnſtleriſchen, dabei aber ingenieurhaft konſtruktiv vollendeten Ge⸗ 
bilden zuſammenzufuͤgen geeignet war. — Es entſtanden jene Perlgeſtaltungen, 
wie in den Maͤrchengaͤrten von Tauſendundeiner Nacht gewachſen, Betten, 
Anhaͤnger wie Jwiſchengebilde von Blute und Frucht, Perlkinder, Perltiere, 
Geſchoͤpfe aus ein paar Perlen und Golddraht, mit dem Weſensausdruck, der 
Geſte des Tieres, kindlich lebendig erlebt. 

Prof. Forkel, der Leiter der Plauener Bunftfchule, erkannte als Erſter die 
paͤbagogiſche Bedeutung M. N. s und ſetzte ihre Berufung an die Plauener 
KAunſtſchule durch, um fie für die Spitzenprovinz Deutſchlands fruchtbar zu 
machen. Vielbewunderte, vielausgeftellte, viel nachgebildete Schälerarbeiten 
m. N. s bezeugten ihre hervorragende, erzieheriſche Fahigkeit. Ihr Juſammen⸗ 
wirken mit Prof. Forkel zeitigte noch bedeutſame andere Verſuche auf dem Ge⸗ 
biete der Maſchinenſpitzeninduſtrie. Satte die Maſchine bis dahin — und noch 
heute — immer nur handgearbeitete Spitze nachgeahmt, alſo Erſatz, Taͤuſchung 
produziert, fo entdeckte M. N. und Prof. Forkel, daß ihr, auf ihre eigenen Mog ⸗ 
lichkeiten geſtellt, ganz neue, wieder der Sandarbeit unmögliche Gewebe vor- 
behalten find, von denen die Föftlichen ſog. „Sommerfaden“ / oder „Forkelſpitzen“ 
nur den Anfang neuer Entwicklungen bedeuten. Leiden wurde dies fruchtbare 
Juſammenwirken durch Prof. Forkels fruhen Tod abgebrochen, M. NM. wurde 
entlaſſen, ihre erzieheriſche Tätigkeit von der Behörde als „ohne Erfolg“ atte⸗ 
ſtiert. 

Ein neuer Wirkungskreis erwuchs ihr mit der ſtaatlichen Umwaͤlzung in 
Sachſen und der damit gegebenen Bereitſchaft zur Umſtellung der Schulen und 
mehr kultureller Fürſorge für den Arbeiter. Der Freiſtaat Sachſen ſchuf M. M. 
ein eigens fuͤr ſie eingerichtetes Seminar zur Ausbildung von Textilarbeitern im 
Spitzen · „ Stickerei , Perl ⸗ und Nahtgewerbe. 

Obſchon dies neue Inſtitut von vornherein neben der Studienabteilung ſofort 
Verwertungsabteilungen vorfab, alſo mit der wirtſchaftlichen Aufgabe, ſich 
moͤglichſt ſelbſt zu erhalten, belaftet war, zeigte gerade der Vortrag und die Aus ⸗ 
ſtellung M. N.s in Magdeburg, in welchem Grade fie dieſe zweite Wirkungs 
periode zu einer Vertiefung ihrer Geſtaltungslehre und fruchtbaren Erweiterung 
ibrer Schaffensgebiete ausgewertet hat. 

Ihre Geſtaltungslehre gruͤndet fi auf einem ſehr eingehenden Studium der 
drei verſchiedenen Kraftzentren im Menſchen und ihrer gegenſeitigen Wirkungen. 
m. MN. ſetzt nach ihren Erfahrungen in jedem Menſchen, wenn auch in verſchie ⸗ 
denem Grade, nachſchaffende, ſchoͤpferiſche und kuͤnſtleriſche Kräfte voraus. Es 
iſt ein Trugſchluß der fruheren Erziehung, die ſchoͤpferiſchen und künſtleriſchen 
Araͤfte vorwiegend zuerſt durch Gebrauch der nachſchaffenden entwickeln zu 
konnen. Im Mittelpunkt einer gefunden Volkswirtſchaft muß der ſchöoͤpferiſche 


39% umſchau 


Menſch ſtehen, im Mittelpunkt einer ſinnvollen Erziehung zum wertvollen, 
gluͤcklichen Menſchen die Entwicklung feiner ſchoͤpferiſchen Krafte. Die nach ⸗ 
ſchaffenden Krafte hemmen die ſchoͤpferiſchen, fie ſtaͤrken das Abhaͤngigkeits⸗ 
bewußtſein, ſtatt des ſchoͤpferiſchen Ichbewußtſeins, in ihnen iſt der horizontal 
gerichtete Wille zur Lagerung von KAenntniſſen mächtig, nicht der Auftrieb zu 
künſtleriſcher Selbſtverwirklichung. 

Urſache der Verarmung unſerer Formenſprache iſt nach M. N., daß zwiſchen 
die ſchoͤpferiſchen Bräfte und die taſtende Sand Reißbrett und Stift geſchoben 
find. Schoͤpferiſches Sandwerk entſteht nicht beim Nachbilden oder gedanklichem 
Vorſatz, als Frucht von Vorſtellung und Entwurf, ſondern beim ſchoͤpferiſchen 
Experiment. Das Weſen des Schoͤpferiſchen liegt ihr im Eindringen beim Ex⸗ 
periment in die Geſetzlichkeit der körperlichen Bewegung und der eigenwilligen 
Natur des Rohſtoffes. Alle Erziehung iſt plan volles Stellen von Aufgaben, die 
durch vergleichendes Experiment zur Beobachtung zwingen und logiſch und kon · 
ſtruktiv die Geſtaltung aus dem Geſetz der Sandgriffe und des Rohſtoffes heraus. 
wachſen laſſen. 

So zeigte die Magdeburger Ausſtellung eine ſehr vielſeitige Reihe von L- 
ſungen einer Geometrieſtundenaufgabe: Darſtellung der ſich verjuͤngenden Wellen · 
linie, und zwar, um gleich den kuͤnſtleriſchen Impuls zu wecken, in Form einer 
Wunderſchlange, die das Simmelstor bewacht. Die Wunderſchlange, das Wolken · 
tor uſw. wird nicht gezeichnet, ſondern ſofort ausgeſchnitten und nach Selldunkel⸗ 
oder Raumwirkung folange im gegebenen Raum hin · und hergeſchoben, bis die 
bildmaͤßige Raumaufteilung erreicht iſt. Es wird den Schülern ein Kicken ge- 
geben mit der Aufgabe, ihn zu beſticken mit der Betonung der Laͤngsachſe, als 
künſtleriſcher Impuls: Märchenwald. Die entſtandenen naiv herzlichen, von quellen; 
der Vegetation uͤberwucherten Wollſtickereien ergeben, zuſammengefuͤgt, einen 
kuͤnſtleriſchen Wandteppich und den Beweis, daß auch heute noch aus einer 
Idee geſchaffene Geſtaltungen noch fo verſchiedener Menſchen geſchloſſene Ein ⸗ 
heiten zu bilden vermögen wie die Werkſtaͤttenbilder alter Meiſter oder orien · 
taliſche Teppiche im Kickenſtil. 

Aus der Fuͤlle von Spitzenſtudien lieſt ein aufmerkſames Auge bald, wie der 
Schuler all maͤhlich vom vielleicht noch zu gedanklichen Überwältigen des Fadens 
zu jenen wundervoll rhythmiſchen letzten Adfungen der „Spannfadenſpitze“ 
kommt, deren ſelbſtverſtaͤndliches Veraͤſteln, Teilen, Quellen und wieder Schließen 
und Verknoten dem Gemüte eine fo heitere, unbefangene Wohltat bereitet wie ge⸗ 
wachſene Pflanzennatur. — Gier hat ſich der ſchoͤpferiſche Menſch in die Eigen⸗ 
geſetzlichkeit des Fadens bineingefühlt und laͤßt fie durch feine ſchaffenden Saͤnde 
ſtroͤmen. — Ein kleines Madchen erhalt die Aufgabe, fein wichtigſtes Ferien ⸗ 
erlebnis darzuſtellen. — Es bringt ein handgroßes Spitzengaͤrtchen, wie aus 
zarteſtem Rauhreif gefeoren, mit Suͤgel, Jaun, Baumgruppe und Bank darunter. 
Auf der Bank ſitzt ein Liebespaͤrchen, hinter ibm im Gebuͤſch verſteckt ſich eine 
Cauſcherin — die Meine Bünftlerin, welche das Stelldichein der Schweſter mit 
dem Urlauber belauſcht hat, ihr wichtigſtes Ferienerlebnis. Aber fie hat es durch; 
aus nicht naturaliſtiſch geſtaltet, ſondern für jedes Gebilde, ob Baum, Terrain 
oder Figur, die fadengeſetzliche Überfegung in eine Spitzenformel gefunden. — 
Letzte kuͤnſtleriſche Moglichkeiten der Faden verknuͤpfung find plaſtiſche Masken, 
groteske Selbſtkarrikaturen in Spitzenkoͤpfen oder rieſige, koſtbar gefund- und 


umſchau 495 


ſtarkfarbige Wollblumen, aus ſchweren Stoffdraperien quellend. — Eine große 
braune Glas perle ergibt, naturaliſtiſch erfaßt, den Rumpf eines braunen Schaͤf⸗ 
chens; ſtreng ſtiliſtiſch in Reihen gebunden, das ſtarre, heilige Kleid der Simmels · 
koͤnigin; zu letztem Ausdruck geſteigert das demuͤtig geneigte Antlitz des pracht⸗ 
vollen, in ritterlicher Einfalt vor ihr knienden Königs — echte, kindliche Aus ⸗ 
druckskunſt, weit über bloß „Dekoratives“ hinausgewachſen. Vor den diskret 
ſchoͤnen, beruͤckenden Schmuckſchoͤpfungen der Naumannſchule, aus unerſchopf 
lich vielartigen Perlen mit Gold / und Silberdraht kuͤnſtlich verknuͤpft, jenen Schluß» 
ſtuͤcken, die an Orchideen, ſeltſame Früchte oder ſchoͤne Tiere gemahnen, erhellt der 
kulturloſe, rein auf den materiellen Tauſchwert des „Edelſteins“ gegründete Cha; 
rakter unſerer Maſſenſchmuckinduſtrie. Da wirkt der geheimnis voll im Heuer aus 
Saͤuren und Salzen zuſammengefloſſene Rohſtoff, das Glas, mindeſtens ſo adlig 
wie der herkoͤmmlich abgeſte mpelte, aus einem raren Zufall im Erdenſchoße ge 
wachſene Edelſtein. Denn kůnſtleriſche Krafte haben feine Schoͤnheit · und Aus⸗ 
drucks werte entbunden. 

Wie unabhängig Geſtaltungs werte von der Koſtbarkeit des Rohſtoffes find, 
lehren die Papierarbeiten der NMaumannſchule. Gier iſt fruchtbar etwas geſchehen, 
was den Selbſttaͤtigkeits ⸗ und Werkunterricht der Grundſchule beeinfluſſen 
müßte, was Gropius für die Begabungsausleſe mit feinen Rohſtoffpeſtaltungs · 
verſuchen in den Ausgangs- und Mittelpunkt feines Bauhauſes geſtellt, aber 
vielleicht wegen des heterogenen oder ſchon von vornherein verbildeten Schäler- 
materials nicht zu dem gewollten Reſultat hat führen koͤnnen. Sier iſt durch koͤrper⸗ 
liche Bewegung, durch Rollen, Abſpalten, Einkniffen, Falten des Papiers die 
eigenwillige Bewegung dieſes Rohſtoffes zuerſt zu einfach logiſchen Verſuchen 
mit feinem Aufbaͤumen, Ausſpringen, Einrollen, dann zu rhythmiſch ornamen⸗ 
talen Geſtaltungen, endlich zur Ausdruckskunſt geſteigert in den tragiſchen Masken, 
aus gefaltetem Papier, CLandſchaften, Burgen, Wundergarten, in dem Chriſtus ; 
ſchrein, aus gerolltem Papier. — Der leitende Architekt der in Magdeburg ge- 
planten großen Theaterausſtellung erblickt in M. N.s („Maske 1926“ Spitzen · 
plaſtik, ibren Baſtmasken fuͤr ein Faſtnachtsſpiel, in ihren Perlkronen fuͤr 
ein Maͤrchenſpiel (das Ganze dieſer Maͤrchenſpielausſtellung iſt ihr genommen 
und an das Plauener Stadttheater verkauft), vor allem aber in ihren Papier⸗ 
geſtaltungen Anſaͤtze für eine neue Theaterkunſt. — Es charakteriſiert unſere 
Jeit, wie viele Beſchauer, gerade auch altere Gewerbe · und Sandarbeitslehre · 
rinnen, mit dem reinen Iweckgedanken an ſolche Erziehbungsausſtellung heran ; 
treten. Sie find beglädt von allem Schmuckhaften darin. Welche Berechtigung 
haben aber Spitzenbaͤumchen, Brautkronen, Perltiere, noch fo beruͤckende gold · 
geknuͤpfte Medicikragen und venetianiſche Sauben, die heute niemand trägt? 
Ihnen antwortet M. N.: Warum muß Spitze flach fein? Warum ſoll fie ſich 
nicht auch plaſtiſch auswirken? Alles, was geſchieht, bat recht. Die Erziehung 
darf nicht ſpekulativ ſein, nur zweckmaͤßige, praktiſche Dinge ſchaffen wollen. 
Die Seele kann an unpraktiſchen, aber ſchoͤpferiſchen Experimenten großen Ent ⸗ 
wicklungsgewinn haben. Wur vor den ganzen Menſchen vom Volkskuͤnſtleriſchen 
ber, nicht bloß den zweckhaft eingeſchienten ergreift, entfaltet ſchoͤpferiſche Araͤfte. 

Fuͤr den ſozialen Menſchen iſt die große Ernte dieſes Frauenwerks, daß faſt nur 
junge, „ungebildete Menſchen zu dieſen Beftaltungen kamen und jede einzelne 
die innere Freude, Singabe und — Anlage! bekundet. Sier iſt der Beweis erbracht, 


9 


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496 uUmſchau 


daß eine neue Volkskunſt, eine Erlöſung des Maſſenmenſchen in beſeelter, 


ſchoͤpferiſcher Arbeit möglich iſt. a 


Man ſollte meinen, von allen Seiten, von paͤdagogiſcher, induſtrieller, ſozialer, 
vor allem volkswirtſchaftlicher her müßte M. N. s Geſtaltungsle hre aufgegriffen, 
geſtůtzt, ausgewertet werden z man müßte ihr ſchaffen, was fie braucht: Ein; 
fluß auf die Arbeitsſchule, den weiblichen Sandarbeits unterricht, Schulen, 
Werkſtaͤtten, bilbſame Saͤnde!l Denn die mit M. N. bezeichneten Erzeugniſſe 
find bereits im Ausland geſchaͤtzt, vorteilhafte Einladungen rufen M. N. nach 
Amerika, bier iſt ein billiger Rohſtoff veredelt zu deutſcher Exportwertarbeit! — 
Aber wann find ſtarke neue Kraͤfte nicht unbequem, unheimlich und verdaͤchtig 
geweſen? Auch ihre zweite Wirkſamkeit, ihr Textilſeminar, iſt M. N. 1924 in 
zwei Tagen bei der politiſchen Umſtellung des Freiſtaats Sachſen abgebrochen als 
„eefultatlos” l In dem Rechtsſtreit um Recht, Patent und Werk wird mit allen 
heute ublichen Mitteln, auch denen perſoͤnlicher Verunglimpfung, für eine Frau 
beſonders fühlbar, gegen fie gearbeitet. Wur dem entſchloſſenen Eingreifen des 
Werkbundes verdankt M. N. die Rettung wenigſtens dieſer äußeren letzten 
Darſtell ung ihrer Geſtaltungslehre, dieſe Ausſtellung. 

Dieſelben Machte, die hinter der Szene unſere Wirtſchaft, unſere politifche 
meinung, unſer Schickſal machen, die wünſchen keine „uberflutung“ der In ⸗ 
duſtrie mit ſchoͤpferiſch gebildeten, naturlich koſtſpieligeren Arbeitskräften. Ihnen 
liegt auch an der durchſichtigen Preiskalkulation, die M. N. infolge vraͤziſer Ar; 
beitsftundenerrechnung auf Grund normalern Jeitaufwandes bei den verſchiedenen 
Techniken und ausgebildeten Bräften einführen konnte, gar nichts. — Bureau⸗ 
und Verwaltungs menſchen alten Stils, wie fie beute noch fo vielfach unſer Schul. 
weſen an ausſchlaggebenden Stellen beberrfchen, iſt ihre Lehre viel zu wenig 
ſchematiſch, zu wenig bildungs · und Haſſenbewußt, zu ſehr auf undiſziplinierbare 
Seelengebiete, Intuition, Phantaſie, naiv Aeligidfes, eingeſtellt und in ihrer 
Anwendung doch wieder zuviel Logik, konſtruktive Planarbeit beanſpruchend. 
Seutige Machthaber wittern ein unberechenbares Annen und die neue Frau. 

So ſcheint es wirklich, als ob der Bulturtat ſolchen volkserzieheriſch ſchoͤpfe⸗ 
riſchen Sandwerks keine Stätte auf deutſchem Boden beſchieden fein ſollte, und 
als ob das reiche, kulturbungrige abnen- und mythosloſe Amerika, in dem die 
Gefahr der Verkitſchung oder geſchaͤftlichen Ausbeutung droht, die Zuflucht 
m. N. s werden ſollte — wieder eine der verpaßten deutſchen Möglichkeiten, 
wenn ſich nicht die entſcheidenden Vollbringer für die andere Bulturtat finden, 
m. W. endlich zu dauernder Arbeit an der Entfaltung unſerer ſchoͤpferiſchen 
Volks kraͤfte zu verhelfen. meta Gerloff 


Anmerkung der Redaktion: Im vorigen Seft, XVIIl. Jahrgang, Seft 5, iſt 
im Aulturpolitiſchen Arbeitsbericht ein ſinnentſtellender Fehler ſtehengeblieben. 
Es muß in der Überſchrift des Aufſatzes Seite 411 „Eine VV Re 
ligionsgemeinſchaft“ und nicht wie gedruckt freigewerkſchaftliche heißen. 


Schriftleiter: Dr. h. e. Eugen Diederichs, Jena, Carl-3eiß-Plag 5. Bei un verlangter Juſendung 
von Manuſkripten it Porto für Rücfendung beizufügen. — Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 
Druck von Radelli & Sille in Leipsig 


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Berkeley 


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