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Full text of "Die Zeugkiste - Kurioser Almanach für Buchdrucker, Buchgewerbler und Buchfreunde 1924-25"

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RUDOLF 
ENGEL- HARDT 


DIE 
ZEUGKISTE 
1924-25 


KURIOSER ALMANACH 
FÜR BUCHDRUCKER 
BUCHFREUNDE UND 
BUCHGEWERBLER 


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Alle Rechte, insbeſondere das der Uberfegung, 
Dramatifierung und Verfilmung, vorbehalten. 
Copyright 1924 by JULIUS MASER, Leipzig 


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Künſtlerholzſchnitt von R. Lipus, Leipzig] | 


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BERÜHMTE BUCHDRUCKEP - IHR LEBEN UND WIRKEN 
III. 


Heinrich Quentell 


Von Mufeumsdirektor Profeſſor Dr. ALBERTSCHRAMM, Leipzig 

Der bedeutendſte Buchdrucker der Frühzeit in Köln iſt Heinrich 
Quentell, ein Mann von großem Unternehmungsgeiſt und feltener 
Energie, dem ſich wenig Druckherren ſeiner Zeit gegenüberſtellen 
laſſen. Rund 400 Drucke ſind aus ſeiner Offizin hervorgegangen, 
nicht gerechnet die Drucke, die er in fremden Druckereien auf ſeine 
Koſten hat herſtellen laſſen. Iſt er doch nicht nur Buchdruckerei⸗ 
beſitzer, ſondern auch Verleger geweſen. Wann er geboren, wann 
er geſtorben iſt, können wir nicht mit Sicherheit feſtſtellen. Es iſt 
auch bei ihm, wie bei anderen berühmten Druckherren des fünfzehnten 
Jahrhunderts: wir müſſen faſt alles Biographiſche aus ſeinen Werken 
erſchließen. 

Geboren iſt Heinrich Quentell in Straßburg. In Köln iſt er 
von 1479 ab als Drucker nachweisbar. In dieſem Jahre erſchien 
der erſte datierte Druck von ihm. Er iſt aber zweifellos ſchon vorher 


dort tätig geweſen. Aus Schlußſchriften ſeiner Drucke erfahren wir, 


daß er in dem Haufe „Zum Balaft” gedruckt hat, das „apud sum- 
mum“, alſo auf dem Domhof lag. Sein Schwiegervater hatte ihm 


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• HEINRICH QUENTELL • 


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dieſes Haus zur Einrichtung einer Druckerei zur Verfügung geſtellt, 
ſpäter ging es durch Erbſchaft an ihn als Eigentümer über. 


Gewaltig ſind die Bücher und Werke, die Heinrich Quentell in 
den erſten Jahren ſeiner Druckertätigkeit geſchaffen hat. Schon die 
Summa Astesani ſtellt einen umfangreichen Folianten von über 
500 Blättern, alſo von über 1000 Seiten dar, eine viel größere 
Leiſtung haben wir aber in den Quentell⸗Bibeln vor uns, deren 
Schaffung für immer eine Großtat iſt. Hätte Heinrich Quentell auch 
nur dieſe ſeine Bilderbibeln herausgegeben, ſein Ehrenplatz unter den 
deutſchen Druckern des fünfzehnten Jahrhunderts wäre ihm ſchon da⸗ 
durch geſichert geblieben. Was an Bilderbibeln vor dem Erſcheinen der 
Quentellſchen Folianten, alſo vor 1478, herausgegeben wurde, wurde 
völlig in den Schatten geſtellt von dieſen in niederſächſiſcher Mund⸗ 
art und in einer holländiſch⸗kölniſchen Ausgabe gedruckten Bänden 
der Heiligen Schrift. Keine Bibel vor ihnen hatte ſolch anſehnlichen 
Bilderkreis in ſolch großen Holzſchnitten aufzuweiſen. Ihr Einfluß 
iſt deshalb noch lange Zeit nachweisbar, ја man fpürt ihn noch in 
der Lutherzeit. Nicht weniger wie 113 Holzſchnitte und vier prächtige, 
große Zierleiſten ſchmücken die niederſächſiſche Ausgabe, während die 
holländiſch⸗kölniſche deren 123 aufweiſt. 

Eine große Anzahl Werke hat Heinrich Quentell im Laufe der 
Jahre mit den Typen der Bibel gedruckt, im größten Teil derſelben 
nennt er ſich ausdrücklich als Drucker, was für die nähere Geſchichte 
der Quentellſchen Offizin für uns, die wir heute ſeiner Tätigkeit 
nachgehen, von beſonderer Bedeutung iſt. Daß Quentell neben ſeiner 
Bibeltype auch andere Typen mit verwandt hat, iſt ſelbſtverſtändlich. 
Eine Druckerei von dem Umfang, in der eine ſtattliche Reihe von 
weiteren Publikationen zwiſchen 1483 und 1488 erſchien, konnte 
ſich nicht auf eine Type befchränfen, fie baute ſich raſch aus. 


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Einführungsholzſchnitt zur Offenbarung Johannis 


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Quentell⸗Bibeln: Paradies und Vertreibung 


Nicht nur in ſeinen Bilderbibeln finden ſich Holzſchnitte, ſondern 
auch in einer Reihe anderer Werke, die freilich wenig von Bedeutung 
ſind. Dagegen wäre die Schilderung der Tätigkeit Quentells für 
illuſtrativen Schmuck der Bücher unvollſtändig, würden wir nicht 
auf Quentells Titel⸗Holzſchnitte hinweiſen. In dieſer Beziehung 
hat er in ungewöhnlichem Maße anregend gewirkt. Seine Holz⸗ 
ſchnitttitel, vor allem die Schülerſzenen mit dem Lehrer, ſind bald 
überall bekannt geworden und viel von anderen Druckern über⸗ 
nommen worden. 

Bei der Bedeutung, die Köln in der Frühdruckzeit in religiöſer 
Beziehung hat, iſt es nicht verwunderlich, daß die meiſten Drucke 
Quentells religiöfe Stoffe behandeln, würdig der „hilligen“ Stadt 
Köln. An Köln erinnert auch die Stadtanſicht aus Rolevincks 


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Quentell⸗Bibeln: Arche Noah 


Fasciculus temporum, ein Buch, das Heinrich Quentell dreimal 
aufgelegt hat. | 

Uberblidt man das Werden und Wirken von Heinrich Quentell, 
ſo muß man dieſem kölniſchen Druckherrn der Frühdruckzeit unein⸗ 
geſchränkte Anerkennung zollen und auch ſeine Bedeutung für den 
kölniſchen Buchhandel der erſten Jahre der gedruckten Bücher be⸗ 
ſonders hervorheben. Heinrich Quentell wird in der Geſchichte des 
Buchdrucks und des Buchhandels als beachtenswerte Größe immer 
genannt werden müſſen. Mit dem Tode Quentells im Jahre 1501 
hört ſeine Offizin keineswegs auf. Quentells Erben führen die Firma 
weiter, im ganzen blühte die Offizin anderthalb Jahrhunderte, und 
auch dann noch blieb bis Ende des achtzehnten Jahrhunderts der 
Name Quentell eng mit Köln verknüpft. 


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DER 
VERTAUSCHTE BUCHEINBAND 


Kin Buchbinder in Paris hatte von einem bedeutenden Verlags- 
| 21 hause, das sich der Herausgabe klassischer Werke widmet, 

Ee den Auftrag erhalten, eine Reihe von Exemplaren der „Pen- 
sées“ von Blaise Pascal zu binden. Durch ein technisches Versehen 
jedoch wurde in den für dieses Werk bestimmten Buchdeckel — es 
handelte sich um einen Packen von 500 Stück —- ein Buch von gleichem 
Format, aber ziemlich leichtfertigen, ja man kann sagen, anstößigen 
Inhalts eingebunden. Und da der Irrtum nicht gleich bemerkt wurde, 
kam auf diese Weise, gewissermaßen unter der würdigen Protektion 
des französischen Philosophen, das untergeschobene Buch zahlreichen 
Jünglingen und jungen Mädchen vor die Augen, die den „Pascal“ 
zur Vorbereitung aufs Examen erstanden hatten und die nun die äußerst 
lockeren Liebesgeschichten daraus mit Erstaunen und nicht ohne Ent- 
zücken verschlangen. Das Amiisanteste an dem Falle aber kommt 
noch: Als nämlich der Verleger, der alsbald auf den fatalen Irrtum auf- 
merksam geworden war, um Reklamationen zu vermeiden, schleunigst 
bei den Buchhandlungen herumschickte und sich zum Umtausch dieser 
verkehrten Bände erbot, machte er die unerwartete Entdeckung, daß 
sämtliche Exemplare des falschen „Pascal“, und zwar in unglaublich 
kurzer Zeit, verkauft worden waren, und daß merkwürdigerweise 


nicht ein einziger Käufer das richtige Werk reklamiert hatte. 


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ch dem Original von Walter Roſch, L 
„Leipzig 


VON BUCHERN 
іп Menſchenhaut gebunden und anderen kurioſen 
Einbandftoffen 
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Es ift [Фоп immer ein beſonderer Ehrgeiz der Bücherfreunde und 
Biicherfammler gewefen, Werke zu beſitzen, die in fehr feltenes oder 
recht Ruriofes Einband-Überzugmaterial gebunden wurden. In Leinen, 
Seide, Samt, Schwanleder, Bockleder, Kalb- oder Schweinsleder band 
man früher fchon Bücher ein, während man in neuerer Zeit auch an- 
deres hierzu verwendet. So berichtet der Kunſtbuchbinder Paul Kerffen 
in der „Heftlade“, daß er bereits 5 Bücher in Menſchenhaut (іп Eichen- 
lohe gegerbt), einige in Affenleder (vom Pavian, Langfchwanz-Affen, 
Makak und Vari), in Haififchhaut, Krokodilleder, Schlangenhaut, Haut 
der indiſchen Riefeneidechfe und des indifchen Riefenfrofchs, in Klipp- 
fiſchhaut (getrockneter Kabeljau), die fehr haltbar fein foll, Kaninchen- 
haut, Hunde-(Dogg-)Leder, Dachsleder u. a. gebunden habe. Daß 
diese Einbandftoffe eine „ſtilgerechte Verwendung fanden, geht 
daraus hervor, daß die Art des Einbandſtoffes in einen gewiſſen Zu- 
fammenhang zum Werke felbft gebracht wurde. Folgende Aufftellung 
beweift es. 

Es wurden eingebunden: „Darwins Werke“ in Affenhaut; Pierre 
Lotis „Islandfifcher“ in Haififch- und Klippfiſchhaut; Gerftäckers „Unter 
dem Aquator“ in Alligatorenhaut; „Die Eidechfe”, Gefchichte eines 
Pariſer Modells, in Eidechfenhaut uſw. 

Dies ift zweifellos finngemäß und nachahmenswert. Format, Farbe, 
Schrift und nicht zuletzt Einbandſtoff vermögen fehr ftark zur „Шајо~ 
nierung eines Buches beizutragen. Man hat früher [hon Anfänge 
nach diefer Richtung hin gelehen, So war eine Broſchüre, die Buch- 
druckerlieder enthielt, mit einer alten wahrhaftigen Kolumnenfchnur 
zufammengehalten. Gelegenheitsdruckfachen, z. B. Hochzeitslieder hat 
man wiederholt {chon auf kleine Felle, Stoffe ufw. gedruckt. Vielleicht 
ließe fich aber der von Kerften gewiefene Weg weiter verfolgen: fo 


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* VON BUCHERN ІМ MENSCHENHAUT GEBUNDEN = 


könnte man etwa den Fliegerroman in Flugzeugleinen, die galanten 
Memoiren des Herrn X in feidene Unterwäfche, den Aufftieg der 
Tochter einer Wafchfrau in Scheuerhader binden. Aber auch damit 
wäre nicht grundfäßlich Neues aufgebracht, foll fich doch in der vati- 
kanifchen Bibliothek in Rom eine lateiniſche Bibel befinden, die in 
ein Stück jenes Mantels gebunden ІП, der сіп | vom König Abgarus, 
einem „Freunde Jefu“, getragen wurde. Diefer Legende gegenüber 
zeigt ein anderer Einband im Britijchen Mufeum zu London. héchft 
reale Wirklichkeit: eine griechifche Kopie des antiken Romans „Der 
goldene Efel” ift nämlich in die mit den Haaren gegerbte Haut eines 
Efels gebunden. Ein Buch, das die Lebensbefchreibung des berühmten 
Zwerges Jefferg Hudfon enthält, ift in ein Stück einer feidenen Wefte 
gefaßt, die ehemals Karl I. von England getragen; diefes Buch galt als 
große Seltenheit der Bibliothek George Napiers. Mordaunt Cracherode 
umfegelte die Welt in einem und demfelben Paar ziegenlederner Bein- 
kleider. Sein Sohn, ein bekannter Bücherfammler, ließ eines feiner 
Lieblingsbücher in ein Stück diefer denkwürdigen, weitgereiften Hofen 
einbinden; es wird im Britiſchen Mufeum aufbewahrt. 

So könnte man noch zahlreiche Beifpiele mehr oder weniger 
„origineller und ungewöhnlicher Einbandſtoffe aufzählen. Eine Um- 
frage in den Bibliotheken würde hier eine reiche und intereſſante Aus- 
beute verfprechen. Es würde fih aber auch manches Werk finden, 
das empfindfame Menfchen voll Abfcheu, ja voll Grauen fehr bald 
wieder aus der Hand legen würden: Bücher in Menfchenhautgebunden. 

Neben Trinkgefäßen oder Streufandbehältern aus Totenfchädeln, 
Dekorationen aus Menfchenknochen (wie ғи бе еб in Böhmen) oder 
Sätteln aus Menfchenleder verwenden nicht bloß die Tibetaner Men- 
ſchenhaut zum Überfpannen von Tamburinen, ſondern das in gegerbtem 
Zuftande von Kalbleder ſchwer zu unterſcheidende Menſchenleder 
wird gar nicht fo felten, als man denkt, zur Buchausftattung verwendet. 

Bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts wurden mehrere Bücher 
mit Einbänden aus Menfchenhaut ausgeftattet und es wird kaum ein 
Märchen fein, wenn es heißt, vor einigen hundert Jahren habe ein 
thüringifcher Fürſt, anſcheinend ein ausgefprochener Gemiitsmenfch, 
einen Handwerksburſchen wegen Vagabundierens hinrichten und fich 


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+ VON BUCHERN IN MENSCHENHAUT GEBUNDEN e 


in deſſen Haut Bücher binden laffen. In einer Bibliothek befindet fich 
logar die Lebensbefchreibung eines Mörders, die in die eigene Haut 
des Verbrechers gebunden ift. 

Auch die Göttinger Bibliothek weift einen in Menfchenleder ge- 
bundenen „Hippokrates“ auf. Der Bibliomane Askew ließ William 
Robertfons „Gefchichte Kaifer Karls У.“ in Menfchenhaut einbinden. 
Prinz Eugen von Savoyen („der edle Ritter“) war auch ein großer 
Bücherfreund, hatte aber nur Prachtausgaben in feinen Schränken. 
Zwei Buchbinder aus Peru mußten alles in roten Maroquin binden 
und reich vergolden; Bonneval behauptete von ihm, er ließe alles in 
Leder aus Spahi- und Janitfcharen-Häuten binden. 

Die franzöfilhe Revolution machte fdliefli eine {chauerliche 
Mode aus den in Menfchenhaut gebundenen Einbänden. Im Musée 
Carnevalet in Paris befindet (idi beiſpielsweiſe ein Werk, das die 
Konftitution von 1793 umfaßt, in Menfchenleder. Der franzöfifche 
Nationalkonvent foll die Gerberinduftrie von Menſchenhaut befonders 
gefördert haben (0. 

Zumeiſt verwendete man die Haut hingerichteter Verbrecher, zu- 
weilen auch die Haut amputierter Gliedmaßen. Seltener dürfte der 
Fall zu verzeichnen fein, daß jemand feine Haut „ letztwillig zum 
Bucheinbinden beftimmte. Und doch ifl auch das [hon dagewefen. 
Der Aftronom Camille Flammarion befitst angeblich einen Band feines 
Werkes „Les terres du ciel”, zu dem ihm eine fchöne, ihn verehrende 
Gräfin ihre Haut lebtwillig vermachte. 

Im allgemeinen wird man auf folche Einbände mit Dank verzichten; 
überhaupt fcheint die Nachfrage nach in Menfchenhaut gebundenen 
Büchern in Deutfchland eine recht geringe zu fein, denn Раш! Kerfien 
erhebt immer mit einigem Nachdruck Anſpruch darauf, der einzige 
Buchbinder zu fein, der eine kleine Anzahl Bücher in Menfchenleder 
gebunden habe; es wird ihm freilich auch kaum jemand diefen Ruhm 
ftreitig machen wollen. Oder follte neuerdings doch noch ein anderer 
mit ihm in Wettbewerb treten wollen? Im „Berliner Tageblatt“ wurde 
nämlich folgender geheimnisvolle Brief veröffentlicht, den der Dichter 
Walter Mefiríng, der ein Buch „In, aus und um Menfchenhaut herum“ 
herausgab, bekommen haben foll: „Ich weiß nicht, ob es Ihnen be- 


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* VON BUCHERN IN MENSCHENHAUT GEBUNDEN + 


—— — 


kannt ift, daß ich in Deutſchland der erfte und einzige bin, der Men- 
ſchenhaut zu etwa fechs bis ſieben Bucheinbänden als Einbanddecken 
verwendet hat. Ich habe die erhaltene friſche Haut felbft gerben laſſen 
und bin wohl ein genauer Kenner folcher. Es ift ſchade, daß ich nicht 
(Фоп früher von der Herausgabe obigen Werkes erfahren habe, hätte 
ich doch einiges Intereſſante darüber Ihnen mitteilen können, was 
vielleicht in dem Werke hätte veröffentlicht werden können. Zurzeit 
habe ich noch ein Stück Menfchenhaut da, und zwar das intereſſan- 
tefte Stück, das es überhaupt gibt: ein Stück Haut einer Frau mit den 
beiden Brüften (folgt Zeichnung)... Es wäre famos gewefen, wenn 
diefes Stück auf dem Brofchürenumfchlag obigen Werkes abgebildet 
worden wäre. Der Dichter und die Schriftleitung hatten ernftlich ge- 
dacht, ein geiftesgeftörter Buchbinder habe dies gefchrieben. Es ſcheint 
aber faft, als wäre der Schreiber der nämliche, der nun einmal feinen 
Ehrgeiz darein fett, als Einziger Menfchenhaut zu verarbeiten. Neger- 
tänze, Kehrichtkunft, Menfchenledereinbände — auch Zeichen der 
Kultur unferes Jahrhunderts. R. E.-H. 


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Drehbares Schreibpult aus dem 15. Jahrhundert 


LEGENDE 


GEGEN DAS BÜCHERVERLEIBEN 


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ATS (D 7 Jahrhundert 
nach Christi lebte in einem irischen Kloster ein 
Mönch namens Kilianus, der weitberähmt war 
wegen der hohen Kunst, mit der er Bücher zu 
schreiben und wundervoll auszumalen wußte. 
Als er nun eines Cages fleißig an den Verzie- 
rungen einer Bibel arbeitete, die die schönste 
von seiner Папа werden sollte, vernahm ег 


den mahnenden Ruf des Codes. So fromm und 


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gottergeben Kilianus auch war, so wollte er 
sich doch oon dem köstlichen Schatz nicht tren⸗ 
nen, dessen farbig-goldene Seiten in den letzten 
Sonnenstrahlen vor ihm aufglähten. Er barg 
das Buch in einer versteckten Falte seiner Kutte, 
in der er dann auch nach seinem Code, wie 
es die Ordensregel befahl, bestattet wurde. 
(Dan fand das Buch nicht bei ihm, und so wur: 
de es denn mit ihm zugleich begraben. Als 
nach drei Jahrhunderten die Gruft des Reiligen 
geöffnet wurde, da fand man das kostbare 
Buch von seiner Папа umklammert, und trot 
allen (Nähen gelang es nicht, den Band aus 
den steifen Knochenfingern zu lösen. Erst als 
ein feierliches Gelöbnis getan wurde, daß diese 
Bibel niemals verkauft, verliehen, verpfändet 
oder verschenkt werden solle, willfahrte der 
tote Kilianus dem Ulunsche seiner lebenden 
Brüder, und so wurde das Buchwunder nun.in 
der Bibliothek seines Klosters aufbewahrt. « 


Die Legende, die hier zu аб und Frommen 
des echten Búcherfreundes wiedererzählt wird, 
enthält eine qute Lehre: Wenn einmal der böse 
Feind mit drohenden und verlockenden Qor- 
ten den echten Bücherliebhaber zu zwingen 
sucht, ihm ein Buch zu leihen, dann denke er 
an diese Legende und an das feierliche Gelöb- 
nis, das allein das Wunder bewirken konnte, 
den heiligen Kilianus zum Derausgeben seiner 
Bibel zu bewegen. 


Aus dem „Inseischiff“ 
Gesetzt aus Unzialfiguren der ErbarsMediaeval I der SchriftgieBereí Ludwig & Mayer 
Frankfurt am Maín 


Das Buch дег Wahrheit 


Eine abfonderlihe Gefchichhte von ANNIE FRANCE - HARRAR 


— — 


Schon die Art, wie id) den alten Mann kennen lernte, be, 
rührte mich wunderlich und geheimnisvoll. Es war auf einer 
Ferienreiſe in die fränkiſchen Wälder, und die Stadt, die ich 
nicht nennen will, war klein und alt und weltverſchollen. Greiſen⸗ 
haft in ſich zuſammengeſchrumpft ſchien mir auch die Handvoll 
menſchlichen Lebens und kleinbürgerlich dumpfer Schickſale, die 
ſie enthielt. Ich fand keinen Zugang zu der altväteriſchen 
Weſensart ihrer Bewohner. Ich ſelber empfand mich als ſo 
weit hergekommen, als ſo fremd und wiſſentlich anders, daß ich 
mich plötzlich ſehr einſam und verlaſſen fühlte. And da der 
Abend lang und regendunkel auf den ſtummen Gaſſen ſtand, 
machte ich mich auf und ging in die kleine Weinſtube der Stadt, 
die einzige, die es gab, um wenigſtens die verräteriſche Freund- 
ſchaft des Alkohols zu ſuchen und meine Einſamkeit damit zu 
tröſten. 

Man beſchrieb mir eine der übernächſten Gaſſen als dieſes 
Ziel. Aber als ich hinaustrat, war es unter einem plötzlich ein- 
brechenden Regenſchauer fo finſter geworden, daß ich, der ich mit 
verzweifelter Angeduld dahinlief, mich wohl irgendwo verirrt 
haben muß. Im ſtrömenden Naß klirrte einmal ein unſichtbares 
Wirtshausſchild bedrohlich über meinem Kopfe. Da und dort 
dämmerten düſtere Hausecken mir ungewiß entgegen. Aber es 
brannte keine Laterne. Nur von ferne ſah ich in einer ganz 
menſchenleeren und mir unbekannten Gaſſe ein trübes und win- 
ziges Lichtlein ſchimmern. 


С, оо AN 


* DAS BUCH DER WAHRHEIT + 


— 


~ 


In meiner Hilfloſigkeit, von Nacht und Regen bedroht, eilte 
ich darauf zu. Es glomm aus einer Stube zu ebener Erde. Es 
ſchien ins Fenſter geſtellt worden zu ſein, um irgend jemandem als 
Wegweiſer zu dienen. Ich wagte es, an der Scheibe zu klopfen. 

Einen Augenblick tauchte die ſchattenhafte Kontur eines alten 
Mannes hinter dem Lichtlein auf. Sie winkte mich herein, ohne 
ein Wort zu ſprechen. Ich, in dem Glauben, durch einen un- 
begreiflich glücklichen Zufall vielleicht doch noch die Weinſtube 
gefunden zu haben, folgte ohne Bedenken, denn ich war überaus 
froh, der naſſen und finſteren Gaſſe, die ſich in einziges unficht- 
bares Fließen und Raufchen verwandelt batte, entronnen zu fein. 

Der Flur war ſo dunkel, daß, während ich wie ein Blinder 
um mich taſtete, mich plötzlich eine jähe und ſchreckhafte Angſt 
befiel. Da kam mir, ich wußte nicht wie, mit einmal eine hagere 
und kühle Hand entgegen, die mich faßte und in die Stube lenkte. 

Die war das Wunderlichſte, was ich je von Stuben geſehen 
babe. Wie hoch fie eigentlich hinaufreichte, konnte ich nicht feft- 
ſtellen. Verdämmernd ſtiegen die Wände empor. Ich ſah 
keine Decke, nur vom oberſten Bord mächtiger Geſtelle herab 
noch tief verſchattete Bücherreihen. Auch unten, wohin der Licht- 
kreis der niedergedämpften Lampe noch fiel, waren Bücher an 
allen Wänden. Sonſt nichts, als ein nicht allzu großer Tiſch, 
ein paar Stühle von uralter Form, ein geſchweiftes Stehpult, 
das mit Folianten belaſtet war. 

Vor ihm ſtand, wie ein dunkler Schemen der alte Mann, 
den ich auch jetzt noch nicht deutlich erkennen konnte. 

„Setzen Sie fih!” fagte er leiſe ſtatt einer Begrüßung. „Sie 
find ſehr durchnäßt. Sie müſſen fid) erfi trocknen. Inzwiſchen 
können wir ja plaudern.“ 

Ich muß geſtehen, daß vor dem alles beherrſchenden Trieb, 
die Straße zu verlaſſen, bis jetzt jedes andere Gefühl geſchwie⸗ 
gen hatte. Nun erft empfand ich etwas wie VBeſchämung unb 


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• DASBUCH БЕР WAHRHEIT • 


Verlegenheit, fo in ein fremdes Haus eingedrungen zu fein, 
das, wie ich ja auf den егеп Blick ſehen konnte, das Zimmer 
eines Gelehrten und keine Weinſtube war. 

Ich wollte aufſtehen, meinen Namen nennen, mich entſchul⸗ 
digen und bitten, wenigſtens ſo lange hier bleiben zu dürfen, bis 
der Regen etwas nachgelaſſen hatte. Aber ehe ich noch etwas 
ſagen konnte, winkte die hagere Hand aus dem Dämmerſchatten 
mir gegenüber ſchon ab. Ich gehorchte — ich ſtand unter einem 
lähmend dumpfen Bann, gehorchen zu müſſen, ſo ſchien es mir 
wenigſtens —, ſetzte mich abermals und ſchwieg. 

„Ich kann mir denken, daß Sie nicht mutwillig an mein 
Fenſter geklopft haben“, ſagte die leiſe Greiſenſtimme wieder. 
„Bleiben Sie nur! Wahrſcheinlich trieb Langeweile Sie auf 
die Straße.“ 

„Nicht Langeweile gerade — aber ich fühlte mich hier ſo 
allein — ich wollte 

„Sie wollen morgen weiter wandern?” 

„Mein Zug von der nächſten Bahnſtation fährt erſt Mittags. 
Aber man hat wohl noch drei Stunden bis dorthin zu gehen 

„And Sie haben keinen Gefährten?“ 

„Ich mag nicht plaudern, wenn ich manbre." 

Der Alte ſchien zu nicken. Andeutlich bewegte fid) der Siber- 
ſchein ſeines weißen Bartes. Einen Augenblick ſah ich auch ſeine 
Augen aufbligen, dunkle Augen in febr tiefen Höhlen. Dann 
ſaß er wieder ganz ſtill, ein Schatten in einem Schattenwinkel. 

Wir ſchwiegen. 

Mir war ſeltſam zu Mute. Ich fröſtelte in meinen feuchten 
Kleidern und hätte gerne etwas Heißes getrunken. Aber wie 
konnte ich den alten Mann darum bitten! Einen Augenblick 
überlegte ich, ob ich mich nicht ſofort aufmachen und in meinen 
Gaſthof zurückkehren ſollte. Aber der Regen draußen rauſchte 
mit ungemilderter Wucht und Fülle. Geſtehe ich es ehrlich, ſo 


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• DAS BUCH DER WAHRHEIT + 


fühlte ich ein ſolches Unbehagen, mich dem von neuem aus- 
zuſetzen, daß mir jedes Obdach dagegen wie ein Paradies erſchien. 

„Wenn Sie leſen wollen, hier ſind Bücher genug!“ lud mich 
abermals nach einer Weile die Stimme ein. 

„Wenn es erlaubt iſt.“ Ich ſtand auf und empfand die Be- 
wegung wohltätig. Das Grófteln ließ nach. Ich begann mich 
etwas wie heimiſch hier zu fühlen. 

Hatte der Alte die Lampe, die ſich nun in meinem Rücken be⸗ 
fand, etwas in die Höhe geſchraubt, oder hatte er nur den Schirm 
verſchoben — mit einem Male ſchien es auch heller zu werden. 
Oben über der Decke lagerten freilich noch immer Schatten wie 
ein undurchdringliches ſchwarzes Tuch. Aber in der Höhe meiner 
Augen unterſchied ich doch Buchtitel neben Buchtitel und den 
trüben Glanz alter, rötlich gebeizter Geſtelle, die alle Wände 
ausfüllten. Es ſchienen mir lauter ſehr ſchöne Bücher zu ſein, 
gut gepflegt, alle einheitlich in Biedermeiereinbänden, mit hib- 
ſchen, zierlichen Goldbuchſtaben. Bekannte und unbekannte 
Namen miſchten ſich durcheinander. Ich griff endlich entſchloſſen 
hinein und holte mir einen Schopenhauer „Die Welt als Wille 
und Vorſtellung“ heraus, eine frühe und offenbar feltene Aus- 
gabe, denn ich hatte ſie bis dahin noch nie geſehen. 

Mit dem Buch kam ich wieder an den Tiſch, ſetzte mich und 
begann zu leſen. 

Die lautloſe und dunkle Stille, aus der ich nicht einmal das 
Atmen des alten Mannes vernahm, ließ mich ganz in die mir 
wohlvertraute Gedankenwelt verſinken. Ich empfand wieder 
jenes tiefe Ausgelöſchtſein der Dinge um mich, das ich ſo ſehr 
liebe, und das die laute und heftige Alltäglichkeit meines Lebens 
mir ſo ſelten gewährt. 


Mit einmal erwachte ich wiederum gleichſam aus mir ſelber, 


denn die unbewegte Stimme drang zu mir: 
„Was lieben Sie an Schopenhauer?“ 


C24 AN 


* DAS BUCH DER WAHRHEIT + 


Ich fab etwas verwirrt auf. | 

„Ich? ... Was ich an Schopenhauer ...? Ich glaube, feine 
große Klarheit, mit der er das Aberſinnliche durchſchaut. And 
vielleicht ſeine ſchmerzliche Leidenſchaft, mit der er alles Sicht⸗ 
bare in Stücke ſchlägt, um es als Anſichtbares neu aufzubauen. 
And dann 

„Sie glauben alſo, daß er die Wahrheit ſagt?“ 

„Wie kann man daran zweifeln? Er erklärt bod) das Welt- 
rätſel, indem er die Welturſache in den Willen verlegt.“ 

Mir war, als lächle der Alte, obgleich ich nichts ſah und 
hörte. 

„Er iſt alſo das Buch der Wahrheit für Sie? 

„Das kann ich wohl ſagen.“ 

Irgendwie empfand ich plötzlich wieder Angſt. Mein Herz 
klopfte. Meine Augen ſchienen ſich zu trüben. Von der unerkenn⸗ 
baren Decke des Zimmers ſank Dämmerung wie ein düſterer 
Schleier. Die Lampe ſchien, ohne daß ihre Flamme ſich irgend⸗ 
wie bewegte, langſam verlöſchen zu wollen. Ich ſah beſtürzt 
um mich und wollte mich erheben, wollte flüchten aus einem 
dumpfen und ſinnverwirrten Inſtinkt heraus. Da empfand ich 
den Alten hinter meinem Rücken. 

Ich wandte mich um und ſtarrte ihm ins Geſicht. Auch jetzt 
noch ſchien es ſchattenhaft und auf eine unbegreifliche Weiſe in 
ſich ſelber zu zerfließen. Einen Augenblick glaubte ich das ver⸗ 
ſonnene, ehrwürdige Antlitz meines Großonkels zu ſehen, ſo 
wie er ſich manchmal über mich, den ganz kleinen Knaben, neigte. 
Dann war alles wieder fort und nur ein unbeſtimmtes Wogen 
und Gleiten blieb, das ſich nicht erkennen ließ. 

„Haben Sie keine Furcht!“ ſagte die Stimme über meinem 
Haupt. „Aber ich will Ihnen etwas zeigen, etwas von jenen 
Dingen, die Sie „Wahrheiten nennen. Vielleicht nützt es 
Ihnen, vielleicht nicht. Doch kann es auch nicht ſchaden.“ 


PA 25 22% 


• DASBUCH DER WAHRHEIT • 


Ich wurde mit einem Male ſchwach und willenlos, jo daß 
meine erhobenen Hände auf den Tiſch zurückſanken und ich ganz 
ſtill ſaß, nicht mehr von Angſt gequält, vielmehr von einem 
tiefen und ſchmerzloſen Traum befangen, in dem man noch weiß, 
daß man träumt, und doch nicht den Wunſch des Erwachens 
fühlt. 

In demſelben Augenblick legten ſich die zwei kühlen und 
hageren Greiſenhände über meine Augen, die ſich gehorſam unter 
der Berührung von ſelber ſchloſſen. And die Stimme, die von 
ferne her wie über ein ſchweres, ſchwarzes Waſſer zu meinem 
Ohre ſchwamm, ſprach: 

„Hier iſt das Buch der Wahrheit! Erkenne es und urteile!“ 

Langſam erhellte ſich die Finſternis meiner geſchloſſenen 
Augen zu einem unbeſtimmten Zwielicht, das zuletzt wie eine 
abgrenzende Wand, körperhaft und doch eigentlich körperlos, vor 
mir ſtehen blieb. | 

Amriſſe formten fih davor, wurden fefter und ficherer. Auf 
einmal ſah ich meinen Vater, ſo wie ich ihn ehedem vor zwanzig 
Jahren, in den letzten Monaten ſeines Lebens, geſehen hatte. 
Er ruhte in ſeinem bequemen Stuhl, ſtützte die Stirn in die 
Hand, während die Linke wächſernbleich mit der Brille zwiſchen 
den Fingern auf einem halb aufgeſchlagenen Buch lag, auf dem 
mit ſteifen, ſchwarzen Buchſtaben ſtand: „Büchner, Kraft und 
Stoff.“ Mein Vater hob den Blick, auf ſeinem grübelnden 
Antlitz rang ſich eine feſte und zuſammengeraffte Aberzeugung 
frei, und ohne daß ich einer Aufklärung bedurfte, wußte ich, daß 
für ihn dieſes Buch „das Buch der Wahrheit“ geweſen war. 

Dann war alles wie fortgewiſcht, und mein Großvater ſtand 
an derſelben Stelle. Sein Geſicht hatte eine heitere Ruhe, hinter 
der verkämpfte Irrungen noch leiſe zitterten. Unter feinem Arm 
lugte ein Buch hervor, das er ſorgfältig wie ein Heiligtum trug. 
„Kant“, las ich darauf, „Kritik der reinen Vernunft.“ 


C26 279 


* DAS BUCH DER WAHRHEIT + 


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Einen Augenblick ſchwindelte mir. Meine Zähne biffen fid 
übereinander, der Atem wurde mir eng. Dann kam wieder die 
große Demut eines unbedingten Gehorchenmüſſens über mich. 
Ich ſah die Geſtalt meines Großvaters in einer grauen Nebel⸗ 
wolke zerrinnen und einen rotwangigen Mann mit üppigem 
Mund und breiter Stirn an ſeinen Platz treten. Das reiche 
Spitzenjabot floß über ſeine damaſtene Weſte, der dunkle Atlas 
ſeiner Kniehoſen gleißte, an ſeinem Finger prunkte ein ſchwerer, 
goldener Siegelring. Dieſer ganze freundliche und wohlgeklei⸗ 
dete Herr, der munter und lächelnd unter feiner ſchneeweiß gepu- 
derten Perücke hervorſah, zog ebenfalls ein Büchlein aus der 
Taſche. Es war in roten Saffian gebunden, zierlich und mit 
breitem Goldſchnitt. Da er es aufzuſchlagen begann, ſah ich den 
Autor. Er hieß Leibniz und darunter ſtand „Theodizee“ 

Wieder ein Schwanken, Zerfließen und von neuem Körper⸗ 
gewinnen. Ich fürchtete mich nicht mehr, ich fühlte weder 
Schmerz noch Freude. Ich war wie eine Tafel, auf die eine 
unbekannte Hand Zeichen ſchrieb. Aber ich wußte mit voll. 
kommener Sicherheit, daß die Väter meines Geſchlechtes da vor 
mir auftauchten, alle jene, denen auch ich mein Leben verdankte. 

Der Mann, der nun vor mir in die ſteife Tracht des Barock 
gekleidet erſchien, hatte ein hageres, gelbes Geſicht und ſein 
düſterer Blick flackerte zwiſchen geröteten Lidern. Seine Hände 
dünkten mir von Ruß geſchwärzt, јап Anzug läſſig. Als er 
den Arm erhob, glitten aus einem zerleſenen Buch loſe Blätter, 
die er, ängſtlich um ſich blickend, ſofort wieder zuſammenraffte. 
Aber dennoch vermochte ich zu erkennen, daß auf einem ſtand: 
„Die preiswürdige Alchemia vnd Kunſt / Goldt zu machen“. 

Der ihm folgte, war ein Reitersmann im ſchwediſchen 
Spitzenkragen und Lederkoller. And hinter ihm reichte einer ihm 
ein Buch über die Schulter, das er demütig empfing, und mit 
bärtigen Lippen küßte. „Des Martinus Lutherus teutſche 


Rs 27 A) 


DAS BUCH DER WAHRHEIT + 


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Bibel“ war in mächtigen, geſchwungenen Lettern darauf ge⸗ 
ſchrieben, und der ſie zuerſt in Händen hielt, hatte das ſchwarze 
Kleid und eifervolle Geſicht eines Predigers der neuen Lehre 
Chriſti. 

Schneller drehte ſich der Reigen der kommenden und fchwin- 
denden Geſtalten. Ein hochmütiger Prälat im reichgeſtickten 
Sammetmantel, ein Vogt mit hartem Geſicht und zweifarbigem 
Wams, ein Handelsherr mit gefiedertem Barett und pelgver- 
brämter Schaube. Sie alle trugen die Bibel in verſchiedenen 
ſchweren Folianten wie einen Schild vor ſich her. Da⸗ 
zwiſchen drängte ſich ein kleiner Handwerksmeiſter mit lahmem 
Fuß, wirrem Haar und ſchreckhaft verzücktem Antlitz. Der 
hielt die Offenbarungen des heiligen Johannes empor, ſein 
Mund öffnete ſich, ſeine Augen rollten. Aber durch die 
Jahrhunderte drang ſeine längſt erloſchene Stimme nicht mehr 
zu mir, und er verſank in dem Strudel des Geweſenen, der noch 
einmal vor meinem verſchloſſenen und innen geſenktem Blick em- 
porſtieg und wie ein Narrentanz meines eigenen Blutes war. 

Als auch ſie vorbeigeweht waren, erſtand ein Mönch, fahl⸗ 
wangig, mit weltvergeſſenem Blick, der düſter unter überhängen- 
den Brauen hervorſpähte, mit bleichen, knochigen Fingern, die 
mühevoll die Laſt eines gewaltigen Bücherſtoßes heranſchlepp⸗ 
ten. Da die Rücken an mir vorbeigetragen wurden, las ich auf 
kunſtvoll beſchriebenen Pergamentſchildern den Namen Thomas 
von Aquino, und ich wußte mir mit einem wehmütig lächelnden 
Mitleid die fahle Wange, das lebensabgekehrte Auge und die 
bleichen Hände zu deuten. 

And immer noch war kein Ende derer, die, ſtumm wie Hel- 
den, verwirrt wie Toren, verſtört wie Beſeſſene, ihr Buch der 
Wahrheit mir entgegenhielten. Dem Mönch folgte ein Mann 
in wallendem, ſaliſchem Gewande, das ihm purpurn bis auf die 
Füße fiel. Das lichte Lockenhaar ſchimmerte in glattem Scheitel, 


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aber unter der ſcheinbaren Fröhlichkeit feines Mundes lag eine 
ſchwermütige und unbegriffene Trauer. Dann ſenkte fid) das 
blondbewimperte Lid, und geſittet ſchritt er vorbei, halb Prie⸗ 
ſter, halb Fürſt, und dennoch wie einer, der irgendwie heraus⸗ 
geriſſen wurde aus ſich ſelber und nun nie mehr den verſchütteten 
Weg zu ſeiner einſam klagenden Seele finden kann. Er hielt 
ein Bündel mit krauſem, fremdartigem Griechiſch beſchriebener 
Blätter und oben darauf, in einer bunt und zierlich geſchweiften 
Miniatur, glänzte ein Wort: Ariſtoteles. 

Wieder wogten Nebel, zogen Schatten. Aus der geheimnis 
vollen Wolke formte ſich eine Geſtalt, halb von einem Tierfell 
umgürtet, die Streitaxt an der Seite, rieſig, mit den ſtarken 
Schultern eines Bären. Sie trat wie aus Waldesdunkel in eine 
beſonnte Lichtung, warf ſich ins Gras und knüpfte von einer 
Faſerſchnur ein Bündel roh geſchnittener Runenſtäbe los. 
Mächtige Hände ordneten ſie auf dem weichen Moosraſen und 
eine Stirne neigte ſich aufmerkſam über ſie, gebräunt, aber eng 
und unregelmäßig, wie ein mit Buckeln beſchlagenes Schild. 

Lange blieb es ſo, und mir ſchien, als müſſe dieſes Bild das 
letzte ſein, dem keines mehr folgen könne. And eine dumpfe 
Troſtloſigkeit ergriff von mir Beſitz, während ich dieſen verſchol⸗ 
lenen Arahn betrachtete, der aus der Aberfülle ſeiner Leibeskraft 
doch mit dem ſchwachen Lichtlein ſeines Verſtandes bereits an 
die eherne Pforte des Ewigen und Niegewußten herantrat. Ach, 
alle ſchienen ſie mir Verirrte, die den rechten Weg verloren, nein, 
die ihn vielleicht niemals gefunden hatten! Das Leid der jahr⸗ 
tauſendelang Suchenden und zuletzt von einem Blendwerk ihrer 
eigenen Einbildungen Amſtrickten überfiel mich wie ein unge⸗ 
heurer Schmerz. Mein Blick verdunkelte ſich und in dieſer 
Dunkelheit verſchwand alles. Selbſt die zwielichtbeſchienene 
Wand war fort, und ich hatte das Empfinden, mit dem, was 
ich Erkenntnis nannte, und was mir in dieſem Augenblick nicht 


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* DAS BUCH DER WAHRHEIT + 


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minder ſinnlos als das eben Geſehene ſchien, ganz allein und 
verlaffen zu fein. Doch da wuchs es noch einmal vor mir auf, 
groß, einfach, dunkel vor einem dunklen Himmel. Einen Augen- 
blick war es mir, als fei es der alte Mann, deffen Hände ich big- 
her über meinem Auge gefühlt hatte, und der nun andachtsvoll 
auf den ſprühenden Glanz der wolkenloſen Sternbilder blickte, 
zu denen er das Haupt erhob. Die Finſternis kam wie Rauſchen 
auf mich zu, langſam wanderten die Geſtirne, und der Mann 
ſtand immer noch und reckte den erhobenen Arm feierlich zu den 
ewigen Lichtern der Natur empor. 

Aber plötzlich war mein Blick befreit, ich erkannte die bisher 
unſichtbare Zimmerdecke — nein, es war ja keine Zimmerdecke, 
denn leiſe zog der Nachtwind über mich fort, und um mich ſtan⸗ 
den Bäume, und die Sterne glitzerten lieblich auf dem naſſen 
Pflaſter der Straße. 

Mit unausſprechlicher Verwirrung ſah ich um mich. Aber 
ehe mein Auge ſich zurechtfand, hörte ich Schritte. Ein Mann 
kam mir entgegen, die Gaſſe herab und wollte harmlos an mir 
vorbeigehen. | 

Sch rief ihn an. 

Gr blieb Steben, betrachtete mich prüfend und ſagte freund- 
lih: „Der Herr ijt wohl der Fremde, der heute im roten Rop 
zu Abend gegeffen bat, nicht wahr? Dann wärs aber beffer, 
heimzugehen, ſonſt ſchließt der Wirt. And bie Totenweth da 
heraußen iſt gefährlich. Hat ſich ſchon mancher das Fieber hier 
geholt.“ 

„За... aber... wo ijf denn das Haus? Ich war dod...” 

Der Mann lachte. „Haus? ... Mir ſcheint, der Herr hat 
ein Schöpple zuviel erwiſcht! Haus iſt da überhaupt keins, nur 
Gärten und die Stadtmauer. Das letzte Haus haben ſie vor 
ſiebzig Jahren hier abgeriſſen und es war nicht ſchade darum, 
denn es hat einem alten, verrückten Sonderling gehört.“ 


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DAS BUCH DER WAHRHEIT • 


Am mich ſchwankte der Himmel unb die Dunkelheit. Hatte 
ich geträumt? Oder fieberte ich wirklich? 

„Wem hat das Haus gehört?“ 

„Mein Großvater ſelig hat ihn noch gut gekannt. Der alte 
Andreas Krantz hat er geheißen.“ 

Ich ſchrie auf. „Der alte Andreas Krantz.“ 

„Ja, warum 

„Weil ich auch Andreas Krantz heiße... und weil ich 

Der Mann trat näher an mich heran. Trotz des Aufruhrs 
in allen meinen Sinnen vernahm ich den veränderten Ton ſeiner 
Stimme: „Wenn der Herr... vielleicht... etwas... gefeben 
bat... fo ift es beffer, nicht davon zu reden. Vielleicht war der 
Alte einer von feinem Blut... und hat ihn vor etwas warnen 
wollen. Aber jetzt ſoll der Herr heimgehen. Es iſt Zeit!“ 

And ohne Amſtände nahm er mich unter den Arm und zog 
mich fort. Ich brachte keinen Widerſtand mehr auf. Mein 
Herz zitterte, meine Füße waren ungewiß, mein ganzer Körper 
von einer merkwürdig ſchlaffen Starrheit. And nichts iſt mir 
von dieſem Heimweg, der mich wieder in den Alltag zurückführte, 
in Erinnerung geblieben, als daß die Sterne, die ewigen Lichter 
der Natur, langſam und tröſtlich mitzuwandern ſchienen. 


Künſtlerholzſchnitt von R. Lipus, Leipzig 


„ LETTISCHE MARKEN-KURIOSITATEN e 


zurückgelaffen worden waren. Eine philateliſtiſche Autorität, 
die die verſchiedenen Abarten diefer Marken unterfuchte, 
konnte auf der Rückfeite nicht weniger als 78 verjchiedene 
Kartenfragmente von ebenſo vielen verjchiedenen Kriegs- 
ſchauplätzen feſtſtellen. Die Papierjchwierigkeiten kommen 
auch in den folgenden Ausgaben lettifcher Marken zum Aus- 
druck. Nur die rote 5-Kopeken-Marke war auf folches Zand- 
Капепраргег gedruckt; zu den fpáteren drei Wertbezeich- 
nungen war Papier ron Schulbüchern benubt worden, und 
eine weitere Serie von 9 Werten war dann gar auf Zigaretten- 
papier gedruckt worden. Zu mehreren der Ausgaben von 
1919 und 1920 war wiederum Papier genommen worden, 
das auf der anderen Seite [hon einmal benubt worden war. 
Man kann Мег 5-Rubel-Noten des Soldaten- und Arbeiter- 
rats von Riga erkennen, Banknoten der Bermondt-Avalow- 
(теп Verwaltung und 5- und 10-Rubel-Banknoten der 
Sowjetregierung. 


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Holländifhes Satzkunſtſtückchen 


Ein gewisser General-Pachter namens Bourvalais hatte sich 


kraft der Millionen, die er im Dienste des Königs und der 
Nation gewann, ein prächtiges Haus gebaut, und der Baumeister 
hatte nicht ermangelt, l Appartement de Monsieur auch mit einem 
sehr schönen Büchersaal zu versehen. Einen Büchersaal? sagte 
Herr v. Bourvalais: was will der Herr, daß ich mit einem Bücher- 
saal anfange? Um Vergebung, antwortete der Baumeister, 
ein Büchersaal ist eine ebenso notwendige Piece in dem Hotel 
eines Mannes wie Sie, als ein Boudoir in dem Appartement 
einer Dame, Sie werden sehen, was für eine prächtige Tapisserie 
diese Tabletten machen werden, wenn sie mit schön eingebun- 
denen Büchern angefüllt sind. Gegen dieses Argument war 
nichts einzuwenden. Herr v. Bourvalais ließ also seinen Tape- 
zıerer herbeikommen. Meß’ er die Höhe und Länge dieser 
Tabletten, sagte Herr v. Bourvalais, und bestell’ er mir so viel 
Ellen Bücher als er nötig hat; aber daß sie alle aufs magnifikste 


und nach der neusten Mode eingebunden seyen! Versteht er 


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* BUCHER NACH MARA = 


mich? — Der Tapezierer nahm sein Maß und ging zum nächsten 
Buchhändler und verlangte für die Bibliothek des Herrn General- 
pachters soundso viel hundert Ellen Bücher von allen Formaten. 
Der Buchhändler sah sogleich, mit wem ers zu tun hatte; und 
weil er eben mit einer neuen Auflage der Andachtsübungen für 
die heilige Charwoche (Ja Semaine sainte genannt), die keinen 
sonderlichen Abzug hatten, beladen war, so lieferte er dem 
Tapezierer unter anderen auch ein paar Schock Ellen Semaines 
saintes ab. Die Bücher machten in ihrem vergoldeten Band eine 
so gute Figur, daß Herr v. Bourvalais ganz stolz auf seine Biblio- 
thek war, und nichts Angelegeneres hatte, als jedermann in seine 
Bibliothek zu führen, Der Buchbinder wurde sehr bewundert; 
wie man aber genau hinsah, so waren die Oktav-Bücher mit 


lauter Heiligen Wochen angefüllt. 


„Teutscher Merkur“ von 1780 


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„Seid Idealiften bis ins Greifenalter, 
Idealiften, die eine Idee verfolgen, 
dann ег? habt ihr gelebt und die 
Welt fchreitet vorwärts.“ 

Раша Moderfofin. 


HEINRICH VOGELER 


Er allein blieb in Worpswede zurück von jenen fünf Malern, 
die man feit mehr denn einem Vierteliahrhundert die, Worps~ 
weder" nennt. Er fafi das Dorf wachfen und wuchs ſelbſt hinein, 
immer tiefer, und baute fich draußen, am Fuße des Weyerberges 
fein Heim nach feinen Wünfchen inmitten eines großen, [chönen 
Gartens. Bis der Krieg kam und Vogeler hinaus mußte. Auf- 
und wachgerüttelt hat ihn der Sturm, innerlich und äußerlich 
gewandelt ќебгіе er nach vier Jahren zurück. 


A 39 AM 


2. HEINRICH VOGELER + 


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„Wir brauchen Keine Träumer mehr, nur noch werktätig 
Schaffende!” Wie ег ſelbſt fich änderte, fo ändern fich auch die 
Wege feiner Kunfí. An unzähligen fohwarzen und farbigen 
Zeichnungen aus den Kriegsjaficen, die den Künftler nach Süd- 
rußland und der Bukowina brachten, läßt fich die AbKebr vom 
Alten genau verfolgen. Die Linie wird groß und ecig zu- 
fammenfaffend, mit der Rofirfeder еп еВеп von nun ab feine 
Zeichnungen. In den Gemälden werden die Farben immer in- 
lensiver und erinnern an die Arbeiten eines van Gogh. 


„Barkenhoff“, fein Heim, muß fidh eine Säuberung gefallen 
laffen, nach der nicht mehr viel als die weiß gekalkten Wände 
übrig bleiben. Aller Luxus der Vorkriegsjahre ift verfchwunden, 
der Hof wird zur kommuniffifchen Arbeitsgemeinfchaft aus- 
gebaut, ihm angegliedert eine Arbeitsífule der І R. H, in 
welcher dem Kinde, bei der größtmöglichften Einfachheit, ge- 
zeigt werden foll, zu einem neuen дет zu gelangen. 

In der Diele des Wohnhaufes entfteht eine große, farbige 
Котројшоп „Das Werden des Menfdien im Kosmos", die den 
Raum febr ftark belebt. 

Vogelers einfaches Arbeitszimmer liegt im Bienenhaus, dort 
zeichnet und malt er in der Nähe feiner Bienen, deren Leben 
und Treiben zu beobachten, er nicht müde wird, 


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• HEINRICH VOGELER • 


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Im Frühjahr 1923 wurde der Maler nach Rußland gerufen, 
um als künfllerifcher Organifator und Illuftrator in Moskau zu 
wirken. Dort wurden diefes Jahr in einer von der I. R. H. ot- 
ganifierten großen Ausftellung feine Arbeiten gezeigt, die einen 
duferft intereffanten Überblick über den Werdegang Vogelers, 
fowoßhl als Maler, wie auch als Graphiker gewährten. In Ruß- 
land еп апаеп neue Gemälde und Kompofitionen; fie ver- 
Јисбеп uns einen Einblick in das ruffifche Volksleben zu ver- 
mitteln. 

Wir Hoffen, daß es dem Menfchen, wie dem Künftler möglich 
fei, nun er wieder nach Deutfchland zurückgekehrt iff, noch 


manche feiner Ideen in die Wirklichkeit umzufetzen. 
P. Н. Schulthes. 


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R.ENGELHÄRDT. 


Eine hiſtoriſche Erzählung aus der freien Reichsſtadt Nürnberg 
Von RUDOLF ENGEL-HARDT, Leipzig 


Eine ſtürmiſche, ſchwarze Novembernacht. Am die Türme 
und Mauern der wehrhaften Stadt Nürnberg brauſte der Herbjt- 
ſturm. Die Luft war erfüllt von einem Stöhnen, Achzen und 
Heulen, als wenn die Verdammten der Hölle losgelaſſen wären, 
um die Menſchen zu ſchrecken und zu ängſtigen. Durch die langen 
Wehrgänge der Stadtmauer jagte der Sturm, fuhr durch die 
Schießſcharten, rüttelte an den ſtarken, eiſenbeſchlagenen Toren, 
daß die Schlöſſer krachten und die Türen ſich kreiſchend in den 
Angeln drehten. Er pfiff ſchneidend um die trotzigen Türme, 
ſchüttelte die letzten welken Blätter von den Bäumen, die ſich 
unter dem Angeſtüm des Sturmes beugten und ächzten. Ziegel 


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• PASSAUERZETTEL + 


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fauften auf die Straße und zerbarſten oder verſanken klatſchend 
im Kot. Hoch oben am Himmel jagten ſchwarze Wolkenmaſſen. 
Sekundenlang zeigte ſich der Mond inmitten zerflatternder heller 
Wolkenſäume, dann war die Nacht um ſo finſterer. Drohend 
und ſchrecklich klang das Höllengewinſel, das Rauſchen und 
Brauſen. Zuweilen erhob ſich das Heulen des Sturmes zum 
Getöſe, dann rüttelte es um ſo heftiger an den Fenſtern, als 
wollte der Orkan die hölzernen Laden abreißen. Es ſchlug an 
Türen und Tore, und über die Dächer jagte es wie eine Meute 
von Unbolden, die ihren Hexenſabbat feierten. Hin und wieder 
zuckte ein Blitz. Sekundenlang war alles tageshell in weißlich⸗ 
grünes Licht getaucht, dann ſchmetterte das Krachen des Don- 
ners kurz hinterdrein, wolkenbruchartig rauſchte der Regen her⸗ 
nieder, praſſelte auf die Dächer und verſtärkte den nächtlichen 
Spuk zu einem ungeheuerlichen Tanz des Satans und aller Böſen. 

Die Stadt war wie ausgeſtorben, nur ſelten hörte man den 
Schritt bewaffneter Natsdiener, die ihre Runde machten. Nir- 
gends eine Leuchte vor den Häuſern. Manch ehrſamer Bürger 
mochte bei ſolchem Aufruhr der wütenden Elemente nicht die 
erſehnte Ruhe finden, und manches Gebet ſtieg auf, um den 
Böſen zu bannen. 

Inmitten der Stadt überbrücken zwei ſteinerne Bögen die 
Pegnitz. Hinter einem der winzigen Fenſter des ſeltſamen 
Gebäudes brannte noch Licht. Schrecken und Grauen waren 
unlösbar mit dieſer einſamen, gemiedenen Behauſung und ihrem 
einzigen Bewohner verbunden, denn der in dieſem gedeckten 
Steg mit dem maſſigen Turm nach der einen Seite zu wohnte, 
war der Nürnberger Henker Caſpar Neidhardt. Aber die ſtei⸗ 
nernen Bögen des „Henkerſtegs“, des Wahrzeichens einer 
ſchauerlichen Tätigkeit, war der Scharfrichter manchmal zu ſeiner 
blutigen Arbeit vor das Frauentor, nach bem Nabenſtein hinaus 
gewandert. Er war ein häßlicher, rothaariger, langer Kerl, der 


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• PASSAUER ZETTEL • 


„dürre Caſpar“. Mit niedriger Stirn, breiten 93adenfnoden 
und unregelmäßigem Gebiß ſchien er in abſcheulicher Groteskheit 
wie aus Holz zurechtgehauen zu ſein. Beim Flackerſchein eines 
kleinen Lämpchens ſaß er an einem klobigen Holztiſch und ſtierte 
verbiſſen vor ſich hin. War er auch ein harter, blutgewohnter 
Mann, ſo war ſein Beruf ihm doch nachgerade zuwider geworden. 
Hatte „Franntzn Schmidt“, ſein berühmter Vorgänger, 43 Jahre 
lang fein Amt als Scharfrichter ausgeübt und Hunderte (oft Un- 
ſchuldige) mit teufliſcher Luſt, ſpäter gleichmütig mit verhärtetem 
Herzen ins Jenſeits befördert: er haßte ſein gräßliches Gewerbe, 
wäre viel lieber „Gaſtgeb“ gemejen. Als Nachrichter zählte 
er zu den Anehrlichen, jeder mied ihn, in der Kirche hatte er 
ſeinen abgeſonderten Platz, genau wie in der Trinkſtube, wo 
ſein Becher mit einer Kette an der Wand befeſtigt war. Als 
Scharfrichter war er ein Ausgeſtoßener, mußte jid) vor dem Ein- 
treten zu erkennen geben, durfte nicht murren, wenn die Gäſte 
ihm Eintritt verſagten. Kein Weib hatte ihn gemocht, die Kin- 
der flohen vor ihm, die Bürger wichen ſcheu vor ihm aus. 

Seufzend ſtand er auf, um ſein hartes Lager aufzuſuchen. 
Aber gerade, als er ſein Lämpchen löſchen will, klopft es, erſt 
leiſe, dann derber, ſchließlich mit Angeſtüm an das Tor. 

Was will man von ihm zu ſo nachtſchlafender Zeit? Soll er 
ein geheimes Urteil vollſtrecken, eine Anholdin, der Hexerei über- 
führt, in der Pegnitz ertränken? Fluchend öffnete er das Fenſter⸗ 
chen und ſchaute hinab. Beim jähen Aufleuchten des Blitzes er⸗ 
kannte er einen Landsknecht, der draußen ſtand, ganz durchnäßt. 

„Wer ſeid Ihr und was wollt Ihr?“ 

„Kennſt' mich nicht mehr, Caſpar, deinen Bengelmeyſter 
Balthaſar, als du noch drüben in Hersbruck das ehrſambe Hand- 
werk der edlen Druckerey übteſt? Komm herab, alter Kumpan, 
möcht' mit dir reden!“ 


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Das пијете Geſicht Neidhardts überflog flüchtig ein Auf- 
leuchten. Er ſtolperte die finſtere Treppe herab und gab dem 
Draußenſtehenden die Hand. „Ach, Ihr ſeid der Balthaſar, 
wie mir ſcheint, Profoß vom Landsknechtsfähnli? Scheint's, 
als frumber Landsknecht zufriedener denn als rechtſchaffener 
Druckergeſell? Kommt herein — wenn Ihr zu einem Anehrlichen 
kommen mögt. ..!“ 

Bald ſaßen die beiden Jugendkumpane in eifrigem Geſpräch, 
und der alte Buchdrucker⸗Wandſpruch in der Hersbrucker Offizin 


„Wenn die Geſellen nicht täglich netzen“ 
„So können ſie nicht drucken noch ſetzen!“ 


wurde alsbald zur Tat. Beim Trunk ward manch derber Spaß 
mit den Kornuten, den Hörnerträgern* aus der Vergangenheit 
ausgegraben, die Zunftſpäße und Narreteyen, Zechgelage und 
vieles andere aus einer glücklicheren Zeit des Caſpar Neidhardt. 

„Wie aber kommſt du zu mir und umb ſolche Zeyt?“ 

Balthaſar Alrich rückte näher an den Henker heran und Бе: 
gann geheimnisvoll: „Hab' ein Erlebnis gehabt, das mir vieler⸗ 
ley Gedanken gemacht. Wußt' ſchon lange, daß manche der 
frumben Landsknechte unterm „Krebs“ oder als Skapulier 
ein Zettleyn tragen, umb ,bieb- und ſtichfeſt' zu fein. Haben 
gläubig ein Papier unterm Wams auf der bloßen Bruſt, mit 
Bibelſprüchen und frumben Wünſchen. Hatt' auch einer in einem 
Federkiel, ein andrer in einer güldengefaßten hohlen Haſelnuß 
ein Papierſtreifleyn mit dem Evangelium Johannis in kleinſter 
Gſchrifft. Macht ihn ebenſo feſt wie anderer Zauber.“ 

Neidhardt horchte erſtaunt auf. „Müßt' nicht ſolch ein Pa⸗ 
pier geweiht ſein?“ 


Kornuten (von cornutus = Hörnerträger) find junge, ausgelernte Buchdrucker⸗ 
wo die ner nicht die Ehren und Rechte eines zünftigen Geſellen beſaßen. 
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Der Henferfteg zu Nürnberg 


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„Freilich! Solch einen Zettel legen fie heimlich unter die 
Altardecke und wenn der Prieſter dreymal die Meſſe darüber 
geleſen, dann iſt's geweiht.“ | 

Der Henker lachte. „Dacht' mir's doch. Muß wahrhafftig 
immer ein Pfaff im Spiel fein, wann's helfen foll!” 

„Gewiß Caſpar“, ſchob eifrig der Landsknecht ein, darumb 
nehmen auch etlich' andere beym Abendmahl die Hoſtie heimlich 
auß dem Munde, ſtecken die Oblade in eine Wunde unter die 
Haut und laſſen's zuheylen. Sind feſt, bei Gott!“ 

„Ich hörte von Münzen und Kräuterbeutelchen, ſo auff der 
Bruſt getragen, aber von ſolcher Sauberey? Was ſoll über. 
haupt ich mit ſolch weibiſchem Geplärr? Meine Leute ſind nicht 
Jet, ſelbſt wenn fie fold ein Blättleyn hätten; gehen alle 
hinüber in Satans Reich”, lachte roh der Henker und ſchlug auf 
den Tiſch, daß die Holzbecher erſchreckt hochſprangen. And wie 
das Hohngelächter der Höllengeiſter klang von draußen das 
Heulen des Sturmes zu ihnen herein. 

Der Profoß blickte [deu um fid) und lauſchte dem Raufchen 
der Waſſermaſſen, die die Pegnitz unter dem Henkerſteg hindurch 
wälzte. „Gebt nur erſt acht, Caſpar. Hatt' alſo ein Gered' mit 
einem auß einem fremden Hauffen, der wollt' Jett" fein, тері er 
am linken Arm ein Zettleyn trug mit einem frumben Spruch und 
einem Tropfen Blut von einem Gerichteten. Wenn ber Würg⸗ 
engel des Todes in den Lüften ſchwebete, dann ſey er gefeyt. 
Hätt' viele Schlachten und Gefechte mitgemacht, ſey ihm nie 
auch nur ein Härleyn gekrümbt worden... Dacht' gleich an 
dich, Caſpar, könnteſt dir ein wenig Gſchrifft beſorgen und 
ſolche Zettleyn drucken. Dann ein wenig Blut dran geben; es 
ließe ſich manch guter Batzen verdienen. Hier hab' ich etlich 
Zettleyn abgeſchrieben.“ 

Anter der eckigen Hirnſchale des Henkers blitzte ein Gedanke 
auf. Die unklaren, vielfach zuſammenhangloſen Worte und ab- 


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• PASSAUER ZETTEL • 


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geriſſenen Sätze des Landsknechts nahmen greifbare Formen an. 
Blutfleck von einem Hingerichteten? Bah, mußte ja nicht gerad' 
das ſein. Wo das Volk ſo ſchon oft für den Hinzurichtenden 
Partei nahm, ihm den Kopf hielt, wenn einer zum Richtplatz 
geſchleift wurde. Würde man ihn nicht zerreißen, wenn er ſich 
noch am Gerichteten zu ſchaffen machte? Blut iſt Blut, ein 
Hähnchen tuts auch. Neidhardt hatte zudem arge Scheu vor 
den Gerichteten. Aber eine undeutliche Vorſtellung von einem 
großangelegten Betrug wuchs in ihm hoch, ein Betrug, der ihn 
zum wohlhabenden und vielleicht wieder zum redlichen Manne 
machen konnte. Gewaltſam meiſterte er den Aufruhr in ſeinem 
Innern und meinte gleichmütig: „'s iſt immerhin ein Plan. 
Müßteſt mir [don Lettern, Papier, Kienruß und eine kleine 
Preſſe verſchaffen; s müßt aber unter uns geheymb bleiben. 
Gebt auch Euer Geld mit dazu, wir teilen den Gewinnft.... 
Wer aber ſoll dieſe Zettel verkauffen?“ | 

„Da wüßt' id) Rat. Der Jude Samuel albie, der kau 
gantz ſicher welche, auch der Süßheymer; ſind in jedem Lager zu 
treffen, feilſchen und machen große Geſchäft. Die werden ſie 
vertreyben; beſtimmt auch fahrende Scholaren und Magiſter.“ 

„And wann die Zettel nicht helffen? Wird man uns nicht 
heranziehen und ſtäupen?“ 

„Es muß eben geheimb bleiben. An dir wird ſich auch ſo 
leicht keiner vergreiffen, Caſpar, denn du biſt geächtet. Darumb 
aber kannſt du auch in Ruhe die Zettel drucken und ich werde 
dir helffen, wann ich nur immer frey bin.“ 

Noch lange beſprachen ſich die beiden Männer in dieſer 
dunklen, ſtürmiſchen Nacht. Die abergläubiſchen Vorſtellungen, 
die ſich von der einen Seite an ſolch ſeltſame Talismane knüpften, 
die Gier nach Gewinn und Gold auf ſeiten des andern, die 
Pläne, die ihnen großen Reichtum verſprachen, alles dies ge⸗ 
wann Herrſchaft über die beiden, und der ſeltſame Aufruhr frob- 


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• PASSAUER ZETTEL + 


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lodender Erregung zeichnete fid) auf ihren, vom fladernden 
Scheine des Lichts geſpenſtiſch überſtrahlten Geſichtern ab. 
Der Sturm hatte ausgetobt. Ein gleichmäßiger Regen ging 
in Strömen hernieder, weichte Wege und Straßen zum Moraſt 
auf. Schon brach die Morgendämmerung herein, bläuliches 
Zwielicht verbreitete ſich und vertrieb die Nacht mit ihren 
Schatten und Schrecken in die Winkel: da erſt trennten ſich die 
beiden Männer, der Profoß und der Henker, einſtens beide 
„ehrſambe“ Geſellen der ſchwarzen Kunſt zu Hersbruck. 


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Ein eifiger Dezemberwind pfiff frühmorgens durch die 
Gaſſen und Straßen Nürnbergs. Die dünne Eisdecke der 
Pfützen krachte unter den Tritten der Vorübergehenden. An 
der Pegnitz entlang ſtrebte ein Landsknecht eilig dem Henkerſteg 
zu: Balthaſar Alrich. Haſtig ſtürmte der Profoß die Treppe 
hinauf nach dem Wohnraum des Scharfrichters; fand den Naum 
jedoch leer. Aber aus der geöffneten Falltür, die zum Keller 
im Turm führte, drang jetzt deutlich ein Rollen und Knarren 
herauf, welches beſagte, daß Neidhardt ſchon früh am Tage am 
Werk war. Vorſichtig taſtete ſich Balthaſar die ſteile, ausgetre⸗ 
tene Steintreppe hinunter. Während draußen ein ſcharfer Froſt 
herrſchte und unfreundliche Kälte Tor und Wohnraum erfüllte, 
ſchlug ihm aus dem Keller eine angenehme Wärme entgegen. 

„Ich bin's, Caſpar, Euer Kumpan!“ Damit betrat Alrich 
jenen unterirdiſchen, düſteren, gewölbten Raum mit zwei kleinen 
ſtark vergitterten Fenſtern nach der Pegnitz zu, von denen das 
eine den Blick auf den mächtigen Mittelpfeiler des Stegs frei⸗ 
ließ. Im Sommer mochte der jetzt dürre entlaubte Baum vor 
dem zweiten verhängten Fenſter mit ſeinem Grün den Ausblick 
erheblich verſchönen. Bei dem ſpärlichen Licht arbeitete Neid- 
hardt an der mächtigen alten Druckerpreſſe, die mitten vorm 


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» PASSAUER ZETTEL • 


Сеп ет ffanb und bie verſteifenden Schrägſtangen nach der Dede 
des runden Gelaſſes ſtreckte. 

„Ach du biſt's, Balthaſar? Sey gegrüßt!“ 

„Möchteſt aber doch lieber das Tor verſchloſſen halten, 
Caſpar. Es würde viel Gered' und ärgerliche Befragung 
geben, merkte man, daß Nürnbergs Henker der edlen Druckerey 
kundig. Könnt' auch einen böſen Prozeß wegen Zauberey geben.“ 

„Haft ſchon recht, Balthaſar, doch glaub mir's, es wird 
kaum jemand in dies finſtre Loch gehen, den Henker zu ſuchen.“ 

„Haſt dir ja deine Werkſtatt ganz fürtrefflich hergerichtet. 
Ich hätt' ſelbſt gleich Luſt, mit zu ſchaffen.“ Der Profoß ſchaute 


um. 

Auf einem ſelbſtgefertigten rohen Geſtell ein alter Setzkaſten, 
auf einem anderen, niedrigeren, eine Wanne zum Feuchten des 
Papiers und in der Mitte des Raumes die alte, notdürftig ber, 
gerichtete Holzpreſſe. An einer Seite des Kellers waren zwei 
eiſerne Ringe in die Wand eingelaſſen. Welchem Zwecke 
mochte wohl dieſes unheimliche Gelaß einſtens gedient haben? 
Daß es jetzt einen faſt freundlichen Eindruck machte, war wohl 
in der Hauptſache dem Feuer zuzuſchreiben, das unter einem 
kleinen Herd luſtig kniſterte und praſſelte und wohltuende 
Wärme verbreitete. 

Balthaſar rieb ſich die ſteifen Hände. „Mit der Weinpreſſe 
wär's wohl nichts geworden, Caſpar? Ich war froh, als ich 
durch den Trödler Pfinzing dieſe alte Preſſe für zwo Gulden 
bekam. Sie hatte ſchon viele Jahre außgedient, ſtand auf dem 
Speycher, gantz verſtaubt, ſoll übrigens noch auß der Offizin Ko⸗ 
bergers ſtammen.“ 

Das ſpärliche Licht, das durch das vergitterte Fenſter herein⸗ 
fiel, ſchien auf die Form, zwei kleine Sätze, die Neidhardt mit 
einem ledernen Ballen einfärbte und dann auf gefeuchtetes Papier 
abdruckte. „In Hersbruck war freilich leichter Hantieren. Der 


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Karren geht arg ſchwer und zieh’ ich den Bengel herüber, fo 
meynt man ſchier, das gantze Gerüſt wollt' berſten. Die Blätt⸗ 
leyn ſchau'n aber auch darnach auß.“ Caſpar lachte. „Na, 
das Sprüchleyn wird auch ſo wirken.“ 

Der Profoß betrachtete mit ſichtlichem Intereſſe, während 
ein Lächeln der Befriedigung ſeine Lippen umſpielte, einen der 
gedruckten Zettel. „Ach ſo, richtig, weshalb ich komme, Caſpar, 
ich brauche an 300 Blättleyn. 's iſt große Nachfrage beym 
Hauffen geweſen, hab auch ſchon einen Magiſter und zwo fah⸗ 
rende Scholaren gedungen — außer den Juden. Iſt manch 
guter Batzen abgeſprungen ... Da, fhau her!“ Triumphierend 
hob er einen anſehnlichen Beutel hoch und ließ ihn auf den 
Tiſch fallen. Ein metalliſches Klirren verriet, daß kein ſchlechter 
Inhalt den Beutel füllte. 

„Potz Teufel!“ Neidhardt ließ den Bengel fahren und griff 
gierig nach dem Beutel. „Gut, wollen ſogleych den Gewinnſt 
teilen; es bleibt dabei: halbpart. Ich druck' die Zettel und du 
vertreybſt fiel” Es war ein anſehnlicher Betrag, den Caſpar zu⸗ 
nächſt einmal unter einem Brett der Diele in Sicherheit brachte. 

„Weißt' denn ſchon, wie die Blättleyn heißen?“ 

Caſpar blickte fragend auf. 

„Wir heißen ſie, „Paſſauer Zettel'. Die Paſſauer Kunſt iſt 
wohlgeſchätzt unter den Landsknechten, dieweyl ſie feſtzumachen 
weiß, weshalb ich unſere Zettel ſo nannte. Was meinſt du wohl, 
wie neulich der Jude Samuel im Lager ſeinen Stand aufmachte 
mit den Folianten und ‚wahrhafftigen Beſchreybungen großer 
und ſchrecklicher Wunderzeychen', den Blättleyn, fo vom Fluch⸗ 
teufel’, und ,Sofenteufe und vom Eheteufel' berichten und 
ſchließlich unſere „Paſſauer Zettel' anbot? Hatt' kaum die erſten 
verkaufft, ſo wollt' alles „Paſſauer Zettel' haben. Wir müſſen 
aber etlich Sprüchleyn wählen. Die frumben ſind ja die beſten, 
es frugen aber einige alte vom Fähnli, die weit herumgekommen 


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• PASSAUER ZETTEL • 


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waren, nad) ſolchen, wo man den Teufel зиђ е rufet. Hab' 
überall herumbgefragt, bis ich die Wörtleyn wußt'. Hier ſind 
zwo, möchteſt auch ſolche drucken.“ Er faltete ein Blatt Papier 
auseinander und las: 


€ Seegen zum Feſtmachen. 
„Teufel hilf mir, Leib und Seele geb ich Dir“. 
+t Tf Satan, Gott, Juva’, 
„permitteure, песе) е eft, oportet". 
„Ragel der evfte it mein Schuß”. 


„Darunter müßt’ links das Blut kommen und rechts foll der 
Namen eingeſchrieben werden können.“ Er reichte dem Henker 
den Zettel. „Hier iſt dann noch einer“: 


4 Seegen zum Feſtmachen. 


„0 Satan, ich will Dir dienen, ја ich will Dich auch 
lieben bis in den Todt, gib mir, бар ich meine Feinde 
überwinden möge, hiermit haſt Du mich ſelbſt, mache 
mich һа", fefle und unüberwindlich”. 


Der Henker machte ein bedenkliches Geſicht. „Das iſt ja 
ein Bündnis mit dem Teufel. Hierauf Тере zumindeſt Staupen⸗ 
ſchlag und ewige Landesverweiſung. Möcht' bey Gott nicht der 
Zauberey verdächtig werden. Würde als Nachrichter vielleicht 
ſelbſt vom Leben zum Todt gericht' werden, wann's vor die 
Schöppen käme. Wir müſſen hölliſch acht geben.“ 

Balthaſar lachte gepreßt: „Geht's Geſchäft fo wie bisher, 
ſind wir beide über's Jahr reiche Leut. And hab' ich genug 
Geldes, geh' ich ſogleich von hinnen. Aber jetzt heißt's erſt ein- 
mal eifrig ſchaffen. Es ziehen ſchwere Zeyten herauf und manche 


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« PASSAUER ZETTEL + 


Schlacht wird geſchlagen werden, fo jagen die Hauptleute. Da 
blüht unſer Weizen... Für heut' bin ich frey und helf' mit 
ſetzen und drucken.“ Mit dieſen Worten verſchloß der Profoß 
zunächſt ſorgſam Tor und Falltür und begann, die beiden neuen 
Texte aus dem ſpärlichen Typenvorrat abzuſetzen, während der 
„dürre Caſpar“ Zettel um Zettel druckte. Als ſie dann beide 
gemeinſam an der Preſſe hantierten, der eine die Form mit dem 
Ballen einfärbte, während der andere das gefeuchtete Papier 
auflegte, den Karren einſchob und den Bengel herüberzog, als 
manch derber Scherz die Arbeit würzte, da ſchien es den beiden, 
als ſei jene glückliche Zeit zurückgekehrt, da ſie beide noch zünftige 
Druckergeſellen waren. 

Als nach einigen Stunden der Profoß vorſichtig des Henkers 
Haus verließ, trug er bereits ein anſehnliches Paket friſch ge- 
druckter Zettel, wohlverwahrt unter feinem Wams verborgen, 
bei ſich. Mit Schaudern hatte er bemerkt, als er auf die uner⸗ 
läßliche Anbringung von etwas Blut hingewieſen, wie der 
Henker unter einem Mauervorſprung eine mit einer dunkel⸗ 
braunen Flüſſigkeit gefüllte Schale hervorholte und jedes Blätt⸗ 
chen an einer Ecke ein wenig eintauchte. Voll Abſcheu und 
unverhohlenem Entſetzen hatte er hierbei zugeſehen und keinerlei 
Luſt verſpürt, auch bei dieſer Arbeit ſelbſt mit Hand anzulegen. 
Das Lächeln, das des Henkers Mund umſpielte, das richtig zu 
deuten er freilich nicht verſtand, das hatte er eben nur mit des 
Henkers Beluſtigung über ſeine deutlich gezeigte Scheu vor 
dem Blute Gerichteter zu erklären vermocht. 


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Gin halbes Jahr fpáter. Was die beiden Männer einſt in 
jener ſtürmiſchen Novembernacht ausgeſonnen und mit bemer⸗ 


kenswerter Tatkraft in die Wirklichkeit umgeſetzt hatten, das 
hatte beiden ein anſehnliches Vermögen eingebracht. Auch 


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* PASSAUER ZETTEL • 


neuerdings, wo ein ganzes Regiment, fo an die 8 Fähnlein zu 
400 kräftigen Landsknechten, ſchon ſeit einigen Wochen in meh⸗ 
reren Feldlagern vor den Toren der Stadt lagerte, waren viele 
Hundert „Paſſauer Zettel“ zu anſehnlichen Preiſen verkauft 
worden. Als der Profoß geſehen, daß die Juden bis zu 2 Gulden 
für das Stück erhielten, wußte auch er die Preiſe zu ſtellen. 
Nur mit Mühe hatte ſich der Profoß heute vom Lager weg⸗ 
zuſtehlen und den Henker aufzuſuchen vermocht, ſollte doch das 
Feldlager morgen abgebrochen werden. Der unbändige Haufen 
der Landsknechte mit ihrer Trunk, Spiel- und Streitſucht, die 
ſich in gottesläſterlichem Fluchen und nicht ſelten mit blutigen 
Schlägereien kundtat, dazu das Gezänk der Troßweiber und 
-buben, das Gekläff der zahlreichen Hunde, bie ſchreienden Mar- 
ketender und das Gefeilſche der überall herumſchleichenden 
Handelsjuden, alles dies erforderte Tatkraft, unerbittliche 
Strenge und unausgeſetzte Obacht von ſeiten des Profoß', der 
im Landsknechtslager die Ordnung aufrechtzuerhalten hatte. 
Daher wurde in aller Eile die recht anſehnliche Ausbeute aus 
dem Verkauf der letzten „Paſſauer Zettel“ zwiſchen beiden geteilt 
und an die 400 neue Zettel konnte Balthaſar mit fid) nehmen. 
Als er ins Lager zurückkehrte, hörte er ſchon von weitem die 
Stimme des Kaplans erſchallen, der weithin vernehmbar von 
erhöhter Stelle aus den unbändigen Geſellen eine Strafpredigt 
hielt und auf den nahen Tod verwies, dem doch ſo mancher 
vielleicht morgen ſchon ins Auge blicken müſſe. Schweigend und 
ergeben lauſchte nun alles den Worten des frommen Mannes. 
Balthaſar Ulrich hatte die günſtige Gelegenheit benutzt und 
inzwiſchen mit ſeinen jüdiſchen Abnehmern ſein Geſchäft abge⸗ 
wickelt. Kaum löſte ſich der Haufen in eine Schar roh lachender, 
rauh ſingender oder gröhlender Männer auf, ſo ſchoben ſich die 
Juden zwiſchen fie, um ihnen für Geld, Ketten, Ringe und an- 
dere Beuteſtücke „Paſſauer Zettel“ zu verkaufen. Wer mochte 


G57 A 


• PASSAUER ZETTEL + 


wohl in folden Seiten kurz vor ſchweren Kämpfen auf fold 
einen Talisman verzichten? Man riß ſich ſchier um dieſe 
anſpruchsloſen geheimnisvollen Zettel, von denen niemand 
wußte, woher fie kamen, wer fie gedruckt. Auch mancher Fei- 
webel, der Fähnrich, fogar der Hauptmann wollte hieb⸗, ſtich⸗ 
und kugelfeſt fein. — 

Zwei Tage ſpäter entbrannte die Schlacht mit voller Wucht. 
Der Profoß, der nicht direkt am Kampfe teilzunehmen, wohl 
aber das Schlachtfeld mit zu überwachen hatte, ſah von einer 
Anhöhe aus deutlich den Zuſammenprall der feindlichen Maſſen, 
ſah, wie der meiſt aus Freiwilligen und Ausgeloſten beſtehende 
„verlorene Haufen“ in mörderiſchem Nahkampf ſich aufrieb, wie 
der „helle Haufen“, die Hauptmaſſe der Truppe in regelrechtem 
Viereck vorging und wie das furchtbare Handgemenge þin- und 
herwogte. Das entſetzliche Geſchrei und Gebrüll der Kämpfen⸗ 
den und Verwundeten, das Geklirr der Waffen wurde freilich 
vom Donnern der Feuerbüchſen und Feldſchlangen noch übertönt. 

Auch Balthaſar Alrich hatte, wie die meiſten der Lands⸗ 
knechte, nach altem frommen Brauch vor der Schlacht knieend 
gebetet und eine Handvoll Erde rückwärts geworfen. So pflegte 
man ſich dem Tode zu weihen und darzutun, daß man alles Ir⸗ 
diſche hinter ſich laſſen wolle. 

Deutlich ſah man hier und dort im Kampfgewühl einen, ja 
ganze Gruppen umſinken. Dort krümmte ſich einer, da warf 
einer die Arme hoch und fiel lang hin. Verwundete kamen 
blutend und ſchreiend zurückgeeilt; ein unbeſchreibliches Gewirr. 

„Nun zeyget eure Wunderkraft, ihr frumben Zettel!“ ſo 
kommt's über Balthaſars Lippen. Frumbe Zettel? Ja, hatten 
ſich denn nicht die meiſten dem Teufel verſchrieben? Wie, wenn 
ſolche nichts nützten? Wie hatte er's denn gehalten? War's 
richtig geweſen, einen gottesfürchtigen und einen dem Satan 
geweihten zugleich zu nehmen? Hat er ſie auch wohlverwahrt? 


PI 58 “FO 


• PASSAUER ZETTEL • 


~ 


Der Profoß greift nach feinem linken Arm, da fühlt er die 
Papiere kniſtern .. Doch was ijt das? Bringt man da 
nicht den langen Jürg getragen, auf den Tod verwundet — und 
dort den wilden Kunz Amberger? Hatten denn dieſe beiden 
nicht auch „Paſſauer Zettel“ gekauft? Gewiß, er erinnert ſich 
ganz deutlich. 

Mit einem Male befällt ihn mit den Zweifeln, die ihm 
kommen, ein Zittern. Leichenfahl iſt er geworden; er ſieht nicht, 
wie die Schlacht zurückwogt. „Sollte der Zauber dennoch nicht 
wirken?“ murmelt er vor ſich hin. Mit einem Male raſt alles 
zurück in heller Flucht, da beſinnt er ſich auf ſeine Pflicht. Er 
ift plötzlich mitten drin im Gewühl, will welche halten: ver: 
ſtändnislos, mit blutunterlaufenen Augen raft man an ihm vorbei. 

Plötzlich fährt etwas Heißes wie ein glühender Faden blig- 
ſchnell durch ſeine Bruſt, ein Blutſtrom bricht aus ſeinem 
Munde... dann ziehen rötliche Nebel wie ein Tuch vor feine 
Augen und beim Amſinken ſchwinden ihm die Sinne 

Wie der Schleier der Ohnmacht für einige Minuten zerreißt 
und er irr um ſich ſchaut, ſieht er die Schlacht weit vor ſich toben. 
„Alſo haben doch die Anſrigen geſiegt“ kommt es leiſe von ſeinen 
Lippen. Er will ſich erheben: ein ſcharfer Schmerz hindert ihn. 
Alſo ſchaut er um ſich, ſo gut er eben kann. Dort liegt einer, ſo 
ruhig. Sollte der tot ſein? Tot? Sterben? Er ſieht an ſich herab. 
Iſt das alles Blut, Blut von ihm, braunrot geronnen? Heiliger 
Gott! Seine Lippen fangen an zu zittern, ſeine Sinne verwirren 
ſich von neuem. Schatten legen ſich vor ſeine Augen, die Am⸗ 
gebung verſchwimmt in dämmrigen Umriffen... 

Viſionen kommen. Er ſieht den Henker, wie er ſich höhniſch 
lächelnd bückt und die Schale aufhebt. Warum lächelt er nur 
immer ...? Halt! Gerinnt denn Blut nicht? War das bann 
Blut — in jener Schale? Ach fo — ein Betrug... Alſo darum 
helfen die Zettel nicht? Dann muß vielleicht auch er ſterben? 


PIS 59 „две 


* PASSAUER ZETTEL * 


— — 


Der Henker grinſt noch immer. Sein breiter Mund verzerrt 
ſich, das höhniſche Geſicht wird zur Fratze und da — hat er nicht 
einen Pferdefuß und dort — zwei kleine Hörner ....? „Caſpar 
— biſt bu — der Satan ſelbſt . . ..? And id) glaubte doch — 
jo feft — an unſre — Paſſauer Zettel . . . .1" 

Sein Kopf hat ſich zur Seite geneigt. Sein Denken ver- 
wirrt ſich immer mehr. Er iſt in einer hohen Kirche. Anendlich 
wölbt ſich der Raum über ihm. Orgelklänge durchbrauſen die 
Halle; von dort winkt die Schmerzensmutter. Er will die Arme 
ausbreiten... will rufen... Da verſchwimmt das holdſelig 
lächelnde Geſicht der Mutter Gottes — und wieder grinſt ihm 
ein Geſicht entgegen. Aber nicht die ſataniſche Fratze des 
Henkers iſt's, ſondern ein gelblicher Totenſchädel mit dunklen 
Augenhöhlen und blanken Zähnen ſtarrt ihm entgegen. Schau⸗ 
dernd ſchließt er die Augen, ein Stöhnen quält ſich aus der durch⸗ 
ſchoſſenen Bruſt ... Noch einen leiſen letzten Seufzer haucht 
er hinaus — dann ſchwingt fid) feine Seele auf in jene unend- 
lichen Gefilde, von denen es keine Heimkehr gibt. 


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Eine Anfiedlung, deren Bewohner fid ausſchließlich mit der 
Herftellung von Papier beſchäftigen, und die daher von den Curo- 
päern das Papierdorf genannt wird, befindet fih in dem franzöſiſchen 
Protektorat Tongking, eine Fahrſtunde von der Hauptſtadt Hanoi 
entfernt. Die Mutter Natur bietet die zur Papierbearbeitung not⸗ 
wendige Zelluloſe den Bewohnern des Papierdorfes in der leichteſten 
und bequemſten Weiſe dar. Die Waldungen beſtehen naͤmlich zum 
größten Teil aus ſogenannten Papiermaulbeerbäumen und Stroh- 
fráutern, deren Rinde den nötigen Zellſtoff liefert. Kaum betritt 
man das Papierdorf, fo fällt einem auch (боп die eigenartige Taͤtig⸗ 
keit auf, der ſich Männer, Frauen und Kinder mit Eifer hingeben: 
links und rechts von der beſchatteten Dorfſtraße Debt man mit Waſſer 
angefüllte Erdgruben, in denen die Rinden aufgeweicht werden, 
worauf ſie kleine Mädchen und Knaben in naſſem Zuſtande mit 
ihren zarten Fingern ablöſen. Gleich daneben ſtehen hohe Lehmöfen, 
in denen die gelöſten Stücke zum Abkochen gebracht werden. Vorn 
am Wege hantieren unter offenen Hallen Frauen vor Trögen, in 
denen die weißlich⸗graue Maſſe als Zelluloſe ſchwimmt. Die Frauen 
ſchöpfen fie zunächſt in Käſten von 50 cm Lange und 25 cm Breite 


С, бі ~ 22 5 


• DAS PAPIERDORF • 


М.У МУМУ 


und nehmen dann mit fehr feinen, gerahmten, biegfamen Bambus= 
matten einen Teil davon auf, den fie fo lange ununterbrochen fehütteln, 
bis das überſchüſſige Waſſer abgefloſſen iſt. Auf dieſe Weiſe bildet 
ſich eine dünne, gleichmäßige Lage, die vorſichtig abgehoben und ſeit⸗ 
wärts auf einer Steinplatte ausgebreitet wird. Haben die Stöße 
eine Höhe von etwa 20 ст, ſo wird der Reſt der Flüſſigkeit auf 
die primitivſte Weiſe herausgepreßt, indem man Steinplatten mit 
Hebeln und Stricken verwendet. Nun kommen Lagen von etwa 
10 Stück auf heiße, mit Reisſtroh geheizte Kaltwände, auf denen 
nach kurzer Zeit die völlige Austrocknung erfolgt iſt, und dann 
werden die einzelnen Blätter voneinander abgezogen, was ohne 
Schwierigkeiten vor ſich geht. Durch wiederholtes Kochen der Maſſe 
laſſen ſich drei verſchiedene Qualitäten Papier herſtellen, das letzte 
Aufbrühen gibt die geringſte Sorte her. Dieſes Büttenpapier eignet 
ſich nur zum Packen, und man findet es in jedem Laden in Hanoi 
und an der Küſte. Wohl nirgends ſonſt wird noch Papier auf eine 
ſo primitive Weiſe, die an die Zeiten der Anfänge der Papierfabri⸗ 
kation erinnert, hergeſtellt. 


3. €. Martin in „Über Land und Meer”. 


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„In der дтарђ феп Bereinigung” 


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IM KONIGLICHEN GROBBRIIANNISCHEN 
HISTORISCHEN GENEALOGISCHEN CALENDER 


FUR 1792 
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* Eine Kupfer[tichfolge in 12 Blättern: М 
| 1. Der Koenig 7. Die Mutter : 
Y 9. Der Bettler 8. Der General И 
* 3. Der Ahnenftolze 9. Die Koenigin « 
* 4. Das Kind 10. Das Freudenmädchen ж 
* 5. Die Schildwache 11. Das Fifchweib * 
* 6. Der Arzt 12. Der Pabft * 
* * 
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REPRODUKTIONEN 
NACH EINEM UNZERSCHNITTENEN BOGEN 
MIT FREUNDLICHER GENEHMIGUNG DER 
SAMMLUNG ALFRED KLEMENZ IN LEIPZIG 


DER BETTLER 


DER KOENIG 


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DAS KIND 


DER AHNENSTOLZE 


DER ARZT 


DIE SCHILDWACHE 


DER GENERAL 


DIE MUTTER 


DAS FISCHWEIB 


DERPABST 


CHODOWIECKIS TOTENTANZ 


Von Dr.H.H. BOCKWITZ, Leipzig 


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Im Gefpräch ти Eckermann hat Goethe einmal bei Gelegenheit 
eines Vergleiches von Kobebue mit Chodowiechi geäußert, dem Maler- 
Radierer fei es ähnlich ergangen wie dem Dichter: es feien ihm bürger- 
liche Szenen vollkommen gelungen, wenn er aber römifche oder 
griechifche Helden habe zeichnen wollen, fo (еі es nichts geworden. 

Diefer gelegentliche Aus{pruch vom Jahre 1823 deckt {ich mit dem, 
was Goethe bereits früher einmal in der Abhandlung „Antik und 
Modern“ (1818) über Chodowieckis Kunft geäußert hatte. 

„Welcher Liebhaber, fo fragte er hier, befitst nicht mit Vergnügen 
eine wohlgeratene Zeichnung oder Radierung unferes Chodowiecki? 
Hier sehen wir eine solche Unmittelbarkeit an der uns bekannten 
Natur, daß nichts zu wünfchen übrig bleibt. Nur darf er nicht aus feinem 
Kreife, nicht aus feinem Format herausgehen, wenn nicht alle feiner 
Individualität gegönnten Vorteile follen verloren fein.“ 

Und fchon faft 20 Jahre vorher fprach Goethe von ihm als „unferem 
wackern Chodowiecki“, als er ihn in dem Gefprachsftiick „Die guten 
Weiber“, gefchrieben als „gefelliger Scherz“ für das , Tafchenbuch für 
Damen auf das Jahr 1801“, durch Armidoro für fein Können im all- 
gemeinen und für feine Kalenderkupfer im befonderen beloben läßt. 
In diefem Gefpräch dreht es fih um Gefchmacksfragen in Kalender- 
dingen. Die ſatiriſchen Kupfer des neuen Damenhalenders gaben 
Goethe Veranlaflung, der Frage der Auslegung kleiner Bildſchöpfungen 
einen breiten Raum zu gewähren und dabei zu erwägen, inwieweit 
Darftellungen fatirifcher Art, Darftellungen des Verabfcheuungswerten, 
wie fie der Künftler im vorliegenden Falle gegeben hatte, in Damen- 
kalendern zu rechtfertigen feien. 


7 U 65 BFS 


+ CHODOWIECKIS ТОТЕМТАМ 2 + 


Chodowiechi habe zwar in zierlihen Almanachen auch manche 
Szenen der Unnatur, der Verderbnis, der Barbarei und des Abge- 
fchmacks trefflich dargeftellt; allein was tat er? Er ftellte dem Haffens- 
werten fogleich dasLiebenswürdige entgegen — Szenen einer gefunden 
Natur, die fich ruhig entwickelt, einer zweckmäßigen Bildung eines 
treuen Ausdauerns, eines gefühlten Strebens nach Wert und Schön- 
heit. Das fei denn auch das Rechte, wie aber nun einmal die Bildchen 
des vorliegenden Almanadhs feien, fo folle der Schriftfteller die ſatiriſche 
Laune des Künftlers übertrumpfen und ein literarifches Gegenftück in 
meliorem fchaffen und fo einen Ausgleich bewerkftelligen. — So nahe 
es gelegen hätte, hier eines beftimmten KalendersmitChodowieckifchen 
Stichen Erwähnung zu tun, fo fuchen wir doch vergebens bei Goethe 
nach einer Stelle, wo er des Almanachs gedádhte, zu deſſen Illuftrierung 
Chodowiecki fich einen durchweg ſatiriſchen und graufigen Gegen- 
ftand ausgefucht hatte, der große und kleine Künftler feit der Zeit des 
Mittelalters immer wieder gepackt hatte — den Totentanz. 

Wie empfindlich man im 18. Jahrhundert іп Kalenderdingen war, 
das beweift die wichtige Umftändlichkeit, mit der felbft ein Goethe 
fich der Sache annahm und das hat Chodowiechi ſelbſt erfahren теп, 
als er für den „Kgl. Großbritanniſchen Hiſtoriſchen Genealogifchen 
Calender für 1799" (im gemeinſchaftlichen Verlag von Berenberg in 
Lauenburg und der Jaegerifchen Buchhandlung in Frankfurt a. M.) 
eine Folge von Kupferſtichen geſchaffen hatte, die in weiteſten Kreifen 
Anftof erregen follte und die auf 12 Blättern einen Totentanz be- 
handelte, der auch manchen Freunden des Meifters noch lángft nicht 
fo bekannt ift, wie er es feiner künftlerifchen Qualität nach verdiente. 
In der Tat war es gewagt, diefes Thema für einen Almanach des aus- 
gehenden 18. Jahrhunderts zu wählen, und auch Chodowiecki hat es 
nur einer Lift zu verdanken, daß der Verleger diefe, Ше empfindjamen 
Damen der Zeit mit Abfcheu erfüllenden Stiche, in einem Almanach 
herausbrachte: er ſchickte ihm die Arbeit, ohne ihn vorher über das 
Sujet zu informieren, fo daß der bedrängte Verlag zugreifen mußte, 
ob er wollte oder nicht. Er wollte nämlich eigentlich durchaus nicht 
und hatte {chon vor mehr als 10 Jahren, als Chodowiecki einmal mit 
dem Gedanken eines Totentanzes hervorgetreten war,eineabwehrende 


C 66 222% 


• CHODOWIECKIS TOTENTANZ + 
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Gefte gemacht: der Kúnfiler folle ja nicht ein folches Thema wählen, 
hatte ihm damals [hon der Verleger Berenberg gefchrieben, denn 
ein Almanach mit derartigen Darſtellungen würde keinen Abſatz finden, 
beſonders nicht in katholiſchen Ländern, „denn fie wollen abfolute- 
ment nichts darin haben, was ihrer Religion oder den Chatoliken im 
geringften Anftoß fein kann.“ 

Was Berenberg vorausgefehen hatte, das war nun bei dem Ka- 
lender für 1792 richtig eingetroffen: aus Wien war dem Verleger 
Jaeger in Frankfurt a. M. der ganze Transport „mit einem äußerft be- 
leydigenden Brief remittiert” worden, da der dortige Buchhändler 
Wappler fich nicht zu erklären vermochte, „wie man einen folchen 
Gegenſtand habe wählen mögen.“ 

Wir find Raum mehr imftande, den empfindſamen Seelen des 
18. Jahrhunderts folchen Schrecken nachzufühlen, wie ihn damals der 
Chodowieckifche Totentanz auslöfte, und wir finden es nicht mehr 
„revoltant, einer Dame den Todt in fo mancherley Geftalten zum 
Weynachts- oder Neu-Jahrsgefchenk zu machen“, wenn ein Almanach 
der Neuzeit einmal diefen Gegenftand behandeln follte. 

Die Trefflichkeit der Arbeit an fich aber hatte bereits der Verleger 
Jaeger wohl bemerkt und dies in feinem Schreiben an Chodowiechi 
befonders hervorgehoben, und wir finden heute, daß der Totentanz 
mit zu den beſten Arbeiten des Meifters überhaupt gezählt werden muß. 

Die Kühnheit und Lebendigkeit der Darftellung, die Selbftándig- 
keit der Erfindung und die inhaltliche Tiefe find bei Ше(ет Werk 
Chodowieckis befonders ergreifend, fo daß die Frage, ob er vom 
Holbeinfchen Totentanz Kenntnis gehabt habe oder nicht, zurücktritt 
und nur ein nebenfächliches Interefje beanfpruchen darf. Sie mag hier 
dennoch geftreift fein, da Chodowieckis Biograph W. von Oettingen 
fich bereits 1897 die Frage vorlegte und damals meinte, ein gewiſſer 
Einfluß des Holbeinſchen Totentanzes fei unverkennbar, wobei er an 
den Bettler, der fih gegen das Grab ſtrãubt, erinnert, während er 
1907 auf dem Standpunkt fteht, es laffe fich nicht nachweifen, daß 
Chodowiecki Holbeins Blätter gekannt oder gar benubt habe. Ver- 
gleicht man aber die Holbeinfchen Erfindungen mit denen Chodo- 
wieckis, fo wird es bei genauerem Zufehen doch einigermaßen wahr- 


PIS 67 wd 


• CHODOWIECKIS TOTENTANZ • 


— 


ſcheinlich, daß Chodowiecki das Holbeinſche Vorbild gekannt habe. 
So haben wir bei der Szene, in der die Königin vom Tode geholt 
wird, bei beiden die nämliche bezeichnende abwehrende Gefte der 
vom Tode berührten Königin und in beiden Fällen Debt дег Tod im 
Narrengewande da und hält hier wie dort das Stundenglas in der 
Hand; auch beim Edelmanne Holbeins — dem Ahnenftolzen Chodo- 
wieckis — ift bei der gegen den Tod gerichteten Abwehr der Leben- 
den der gezückte Degen nicht wohl zu überfehen, und beim Kaifer 
Holbeins, bzw. dem König Chodowieckis, ift die Kompofition des 
Ganzen beachtlich: Kniefall, Umgebung, Griff des Todes nach der 
Krone find úbereinftimmend vorhanden. Beſonders merkwürdig aber 
it die Papftfzene. Die figurale Kompofition ift hier in den beiden 
Darftellungen völlig die gleiche: Der Papft fibt unter dem Baldachin 
auf dem Thron, vor ihm der Kardinal mit dem Kreuzesftab und ihm 
zu Füßen, den Pantoffelkuß ausführend, die dritte Figur; felbft die 
Seitenlehnen des Thronſeſſels bilden in beiden Fällen kniende geflügelte 
Karyatiden von merkwürdiger Ubereinftimmung. 

Das ſind immerhin recht bedeutſame Anzeichen dafür, daß Chodo- 
wiecki den Holbeinſchen Totentanz doch wohl gekannt haben dürfte, 
ohne daß das auch nur im mindeften feine Darftellungsart [(hmälern 
könnte, die des Originalen genug bietet, wenn man nur an den reiten- 
den oder gar den geflügelten Tod denkt, wie ihn der Kiinftler bei 
den Szenen des Generals und des Kindes mit der пада сеп Wärterin 
völlig neu geftaltet hat. Zu den einzelnen Blättern feines Totentanzes 
hat Chodowiechi felbft knappe Befchreibungen gegeben, die teilweife 
in dem ſatiriſchen Stile gehalten find, der dem Gegenftand (ей den 
früheflen Zeiten eigentümlic ift. Von jeher war der Tod als Trium- 
phator aufgefaßt worden, der Papft und Kaifer fo wenig reſpektiert 
wie den Ackersmann oder den Bettler, der das Kind mit gleicher 
Graufamkeit von der Mutter reißt, wie er den fich firáubenden Greis 
und den Bettler in die Grube zwingt. 

Die ihrer Originalität halber öfter abgedruckten Befchreibungen, 
die Chodowiechi felbft zu feinen Kupfern gegeben hal, feien nach- 
ſtehend im Wortlaut nah Engelmannserfter Darbietung vom Jahre 1857 
wiedergegeben, der noch Ferdinand Meyers [chamhaftes Bedenken 


PI 68 “Fd 


* CHODOWIECKIS TOTENTANZ * 


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nicht gekannt hatte, das den Haupt[dhriftwart des Vereins für die Ge- 
fchichte Berlins dazu drängte, in feinem 1888 erſchienenem Buche 
» Daniel Chodowiecki, der Peintre-Graveur im Lichte feiner und unferer 
Zeit” die Erklärung zu unterdrücken, die Chodowieckizudem Freuden- 
mädchen-Kupfer gegeben hatte, wobei Herr Meyer aber nicht vergaß, 
wenigftens durch verheißungsvolle Punkte anzudeuten, was das Licht 
feiner Zeit zu beleuchten fidi ſcheute. 

Chodowieckis Befchreibungen zu den einzelnen Kupfern aber 
lauten in feiner originellen Schreibweife: 

„Beym König ift’s die Ambition und der Geit, die ihn abrufen im 
augeblick da er von feinen Unterthanen fuffallich angebethet wird.“ 

„Den Bettler ziehet die Armuth fo fehr er fida auch dagegen [регтї 
in die Grube.“ 

„Der Ahnenftolze Edelmann wird von feinem Gegner mit einem 
Knochen feines Stammhalters Todgefchlagen.“ 

„Das Kind das feine Wärterin im Schlaf zu ftark gewiegt worden 
und herausgefallen war hafcht der Tod auf und trägt es davon.“ 

„Die Schildwache wird in einem feindlichen Überfall abgelöft.“ 

„Der Artt hat feinen Kranken das Leben abgefprochen, der Tod 
läßt den Kranken ſitzen und holt den Artzt.“ 

„Die Минег ſtirbt in Wochen. 

„Der General im Krieg.“ 

„Die Königinn vor Eiferſucht.“ 

„Das Freudenmädchen, der Tod geißelt es mit den franz: Lilien 
der Luſtſeuche, die Hausmutter ſucht ihn umſonſt mit dem Mercurius 
Flaſchgen zu verfcheuchen. 

Die Liebhaber laufen lamentirend davon.“ 

„Das Fifchweib flirbt in einer Zänkerey mit ihren Nachbarn vor 

Zorn.“ 

„Dem Pabft tödtet der Aberglaube zur Zeit da einer feiner Unter- 

gebenen ihm den Pantoffel küßt und andere ihm ihre devotion be- 
zeugen. Der ftehende Kardinal freut fih feiner Abfahrth, vielleicht 
kommt er an feine Stelle.“ 


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„Das Gautſchen“, nach zunftgemäßem Gebrauch | 


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„Das Gautfhen”, wie e$ in der Wirklichkeit geübt wird 


Der „brofdierfe" Meiſter vom Rfeifferfopf 


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Die Rbónbewobner Haben іп fo manchen Dingen ihre 

Eigenarf bewahrt und, obwohl fie infolge дег Lage und 
Bodengeſtallung ihres Landes froh Harter Arbeif те зп 
од алд gelangten, fo find fie doch ffefs fuffig und guter 
Dinge, fie verftehen es, fogar im Tode пос zu fHerzen. In 
dem Dorfe Hilders Halle vor einiger Seit ein ehrſamer 
Buchbindermeiſter das Seitfibe gefegnef. Ruf feinem 
Grabe befindet id ein poetifher Nachruf, der an Originali- 
tét gewiß ſeinesgleichen Dicht Die Gnſchriff faufef: 

Der Bücher gut und ſchlecht gebunden, 

«ба? Hier 7еБ? feinen Herrn gefunden, 

Er ruht „brofcdierf“ in feinen Sünden, 

Bis Gott thn einff wird „Halbfranz“ binden. 
Da дег madre Buchbinder те ег in der «Га? fein lebelang 
aus einem fümmerfiden ,brofbíerten” Suſtande nicht 
Serausgetommen iff, darf man es ihm von Herzen wünſchen, 
daß ihm im депјетв das vornehme Halbfranzgewanò be- 
ſchieden ſein möge. Deulſcher Buch- und Steindruder, Suni 1927. 


С, 72 2229 


Die 
geheimnisvolle Bibliothel 


Von RUDOLF ENGEL-HARDT, Leipzig 
% 


Das Abendeſſen näherte fid) feinem Ende. Es hatte an 
Reichhaltigkeit der Speiſen und an Feinheit ihrer Zubereitung 
ſelbſt ſo verwöhnten Gaumen, wie ſie die hier Verſammelten 
beſitzen mochten, nichts zu wünſchen übrig gelaſſen. Darüber 
war man ſich im Stillen einig, daß wahrhafte Vornehmheit in 
dieſem Hauſe eine Stätte hatte. 

Darauf ließ ſchon die Einrichtung des Vorraums und der 
übrigen Zimmer ſchließen. Der Vorraum hatte etwas geradezu 
Ariſtokratiſches an ſich. Die Wände mannshoch mit ſchwarz⸗ 
geadertem hellgrauen Marmor verkleidet, in den Ecken wunder⸗ 
volle Lackmöbel, deren Elfenbeinweiß zuſammen mit der Farbig⸗ 
keit des buntblumigen Wiener Muſters der Polſterung einen 
kontraſtvollen Farbenklang ergab. In der Mitte ein grünmar⸗ 
mornes Becken, aus deſſen bewegtem Waſſerſpiegel ſich die 
Bronzefigur eines nackten Weibes von berückender Schönheit 
erhob, überſprüht von einer Garbe fein zerſtäubten Waſſers. 
Seltene Blattpflanzen von ſaftigem Grün und wundervolle, nie 
geſchaute exotiſche Blumen in den Niſchen ergaben zuſammen 
mit der kühlen Farbe des Marmors einen harmonischen Far- 
benausgleich ſeltenſter Art. 

Auf einen gänzlich anderen Grundton war das Speiſezimmer 
eingeſtellt. Hier bildeten edle Hölzer, feinnarbiges antikes Leder 


C 73 2079 


e DIE GEHEIMNISVOLLE BIBLIOTHEK + 


ee Se — 


und eine vornehme gerippte Seidentapete jene Harmonie in 
ſtofflicher Hinſicht, die durch die herrſchenden Farben eine pracht⸗ 
volle Anterſtreichung erfuhr. Die reich geſchnitzten Möbel in 
wuchtigem Barock, der Kaſſettenplafond mit den bläulich opali⸗ 
ſierenden Glocken der verdeckten Glühbirnen, die ſeidene Wand- 
verkleidung in warmem Ocker, von Paliſanderſtreifen felderartig 
geteilt, die ſtumpfblauen Ledermöbel, die prachtvollen Gemälde, 
das koſtbare Geſchirr, das erleſene, in ſeinen Facetten farbig 
erſtrahlende Kriſtall, kurz, alles ſprach für den reifen Geſchmack 
und den anſcheinend großen Reichtum des Gaſtgebers. 

Die Geſpräche verſickerten. Man begrüßte es im Stillen, 
als die liebenswürdige Gemahlin des Gaſtgebers, Frau Baronin 
von Hoheneck, die Tafel aufhob. Auf den Mienen, beſonders 
jenen der Herren, die ausnahmslos den erſten Kreiſen der Geſell⸗ 
ſchaft angehörten, las man deutlich Erwartung; zum Teil ſchlecht 
verhüllte Neugier ſpiegelte ſich auf den Geſichtern der Damen 
wider, denn jetzt harrte ihrer aller ja eine Aberraſchung, die von 
beſonderer Art zu ſein verſprach. Bei der Eigenart des Barons 
von Hoheneck, eines anerkannten Phyſikers und erklärten Biblio- 
philen, und nach dem bisher Geſehenen durfte man mit Be⸗ 
ſtimmtheit damit rechnen, daß die Bibliothek des Gaſtgebers 
eine Aberraſchung werden würde. 

„Man darf geſpannt ſein, Herr Geheimrat“, wandte ſich ein 
diſtinguiert ausſehender Herr mit tiefſchwarzem Haar und Boll- 
bart und markigen Geſichtszügen an einen alten weißhaarigen 
Herrn, „was für bibliophile Seltenheiten unſer hier harren. 
Ich babe ſchon manche ſogenannte „große Sammlung geſehen 
und bin, offen geſtanden, ſchon mehr als einmal enttäuſcht 
worden.“ 

„Sie ſind eben etwas verwöhnt, verehrter Herr Profeſſor“, 
wurde ihm lächelnd entgegnet. „Als Muſeumsdirektor ſind Sie 
dermaßen an bibliophile Seltenheiten und Bücherkoſtbarkeiten 


C 74 2209 


« DIE GEHEIMNISVOLLE BIBLIOTHEK • 


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erſten Ranges gewöhnt, daß Ihnen die Schätze eines Privat- 
ſammlers unbedeutend, die Liebe und die begreifliche Lobprei- 
ſung der Bücher von ſeiten ihres Beſitzers als etwas übertrieben 
erſcheint. Ich habe aber von gewiſſer Seite gehört, daß der 
Herr Baron auf feinen vielen und weiten Reifen mit bemerkens⸗ 
wertem Geſchick wahrhafte Seltenheiten zuſammengetragen habe. 
Die Schloßbibliothek feiner Vorfahren fol zudem an Reidh- 
haltigkeit und Wert ihresgleichen ſuchen. Abrigens, die Be⸗ 
ſichtigung beginnt!“ | 

Zwei betreßte Diener hatten auf ein Zeichen ihres Herrn 
eine Flügeltür weit geöffnet. Mit Vergnügen leiſtete man der 
Einladung des Barons Folge und ſchickte ſich an, in den Saal 
hinüberzugehen. 

Der Vibliotheksraum war ein großer, runder Saal, geſtützt 
von Marmorſäulen mit bronzenen Kapitälen. Einige Türen 
führten zu angrenzenden kleinen Leſeräumen, dazwiſchen hohe 
Fenſter, durch die das Grün des Parkes hereinſchaute. 

Der Baron hatte ſeinen Gäſten Zeit gelaſſen, ihrem Er- 
ſtaunen und Entzücken in Worten und Ausrufen Ausdruck 
zu geben. Nun aber bat er die Damen und Herren, die ſtaunend 
vor den köſtlichen Gemälden ſtanden, die herrlichen Bronzen auf 
Konſolen und Säulen bewunderten oder in die kleinen Leſezim⸗ 
mer in der Runde geſchaut hatten, zu ſich, um ihnen ſeine Haupt⸗ 
bibliothek und einige ſeiner bibliophilen Glanzſtücke zeigen zu 
dürfen. 

Inmitten des runden Saales ſtand ein Rieſenſchrank von 
ganz beſonderer ungewöhnlicher Beſchaffenheit. Während Bü- 
cherſchränke zumeist einſeitig zu fein pflegen, fih mit ihrer Otüd- 
ſeite an eine Wand anlehnen, hatte dieſer hier die Form eines 
mächtigen Rechtecks und war durch vorgebaute Teile, reichge- 
ſchnitzte Liſenen und köſtliche Aufſätze ſo geſtaltet, daß zwar die 
Wucht des rieſigen Möbelſtücks eher noch eine Anterſtreichung 


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• DIE GEHEIMNISVOLLE BIBLIOTHEK • 
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erfuhr, das Auge jedoch in keiner Hinſicht gelangweilt wurde. 
Denn an jeder der vier Seiten wölbte ſich ein Mittelſtück halb⸗ 
rund vor, immer neue Einzelheiten einer einfach virtuoſen 
Schnitzkunſt feſſelten das Auge und lenkten zunächſt (auch das 
ganz auf Bücher gerichtete Intereſſe der zahlreichen Bibliophilen, 
die ſich unter den Gäſten befanden), von den Büchern ab. Dieſe 
ſtanden in langen Reihen, halb im Schatten, hinter den facettierten 
geſchweiften Glasſcheiben und verbargen beſcheiden ihre lederne, 
goldſtrotzende Pracht. Am die Bibliothek herum einige ſchwere, 
ſymmetriſch angeordnete blumengeſchmückte Tiſche und Seſſel, die 
einluden, Platz zu nehmen und die Bücherſchätze zu genießen. 

Der Baron öffnete eine Tür: welch ein herrlicher Anblick! 
Rote unb grüne Saffian- und Maroquinbände mit reichziſelier⸗ 
tem Goldſchmuck der Rücken, dazwiſchen das kühle Weiß der 
Pergamentbände oder das ſtumpfe Gelb des Schweinsleders. 
Der Baron bat darum, ſich nach Belieben einige der Bände 
herauszunehmen. „Die Maioli- und Grolierbände hier oben 
in der fünften Reihe empfehle ich Ihrer beſonderen Aufmerk⸗ 
ſamkeit und hier einige hervorragend ſchöne Bände, die beweiſen, 
daß unſer Meiſter Jakob Krauſe auch ſein Tach verſtanden.“ 
Rufe unverhohlener Bewunderung wurden laut. Beinahe feier⸗ 
lich griff man in die Reihen, um eines ber koſtbaren Bücher in 
der Nähe betrachten zu können. Ein paar Damen und alte 
Herren, darunter der Geheimrat, hatten in den ſchwellenden 
Polſtern Platz genommen und behutſam, mit ſpitzen Fingern, 
öffneten ſie die koſtbaren Bände, prüften fachmänniſch die 
Meiſterſchaft der Lederbereitung und Einbandtechnik, erfreuten 
ſich an dem reizvollen Linienſpiel der Handvergoldungen Meiſter 
Jean de Groliers, bewunderten die Schönheit des Papiers, den 
tiefen blauſchwarzen Druck der Schrift und die Weichheit der 
entzückenden Abbildungen. Die wenigſten dieſer Bücherfreunde 
ſchenkten aber dem eigentlichen Inhalt der Bücher ihr Intereſſe. 


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Mit brennenden Augen јод ein jüngerer Herr den Anblid 
dieſer Schätze in fid) ein; feine Naſenflügel бе еп vor Erregung. 
Ordentlich gierig ftrich er mit der ſchmalen, edelſteingeſchmückten 
Hand über die Reihen der goldſtrotzenden Bücherrücken, gleich- 
jam als wollte er die Summe dieſer Schönheiten in ſich aufneb- 
men. So leidenſchaftlich mochte mancher jener bedauernswerten 
Bibliomanen die Bücher geliebt und darüber die Pflichten gegen 
ſich ſelbſt und ſeine Familie vergeſſen haben, wie vielleicht dieſer 
Bücherfreund hier. 

„Herrlich, nicht wahr, Herr Marquis de Pierrepont?“ wandte 
ſich der ſonſt ſo kühlblickende Muſeumsdirektor an dieſen Herrn. 
„So viel Schönes hat man noch ſelten beiſammen geſehen; in 
Privathand finde ich ſolche Schätze zum erſtenmal.“ 

„Allerdings, mein Herr... Ich ſtaune und ſtaune.“ Dabei 
ſchweifte ſein Blick über die Reihen der Bände, die ſo gelaſſen in 
dieſem Schranke ſtanden, als hielten ſie es für ſelbſtverſtändlich, 
hier. in dieſem koſtbaren Prunkſchrank zu weilen, als wären ſie 
froh, aus allen Teilen der Welt zuſammengeholt und nun vereint 
worden zu ſein wie eine Geſellſchaft von Ariſtokraten, die unter 
ſich ſein will. 

„And nun, meine febr verehrten Gäſte, noch eine kleine iber- 
raſchung. Darf ich bitten, gnädige Frau, mir einen Augenblick 
dieſen Platz einzuräumen? Der Baron war vor den halbrund 
gewölbten Mittelteil der Hauptfront getreten und lehnte ſich an 
einen der mächtigen Tiſche, auf denen noch einige der herrlichen 
Bücher lagen. „Schauen Sie, ich habe meinen Ehrgeiz darein 
geſetzt, auch wirkliche Seltenheiten zu erwerben, und wie Sie 
gleich ſehen werden, beſitze ich deren einige, die jeder Staats⸗ 
bibliothek Ehre machen würden. Natürlich verwahre ich ſie 
gemäß ihrem Werte in einer Weiſe, die ſie vor Diebeshänden 
ſchützt, aber . . .“ und dabei huſchte ein Lächeln über fein männ⸗ 
lich ſchönes Geſicht „auch wirklich ſchützt. Bitte, geben Sie acht!“ 


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Im |е беп Augenblick hörte man aus der Tiefe oder Höhe 
(wer vermochte es zu ſagen?) ein dumpfes Geräuſch. Ein Rollen 
erklang, wie wenn man auf einem Kirchturm die mächtigen 
Räder der Turmuhr ineinandergreifen hört, nur dumpfer aber 
wuchtiger. And zugleich begann ſich der gerundete Mittelteil 
der Bibliothek zu drehen, die runde geſchliffene Scheibe mit den 
Prunkbänden dahinter verſchwand, an ihrer Stelle erſchien ein 
ſtählernes Gehäuſe, gleichfalls gerundet. Als die Drehung 
vollendet, hörte man ein metalliſches Schnappen, und ohne daß 
der Baron einen Handgriff getan, ging die Stahlwand (übrigens 
eine Platte von Zollſtärke) auf und geſtattete den Einblick in 
ein vollkommen ſtählernes Gehäuſe, deſſen einzelne Fächer eine 
ganze Reihe von Schatullen und Etuis barg. 

Das ſprachloſe Staunen, ja die geradezu atemloſe Stille, die 
ſekundenlang geherrſcht, machte ſich nun in den verſchiedenſten 
Ausrufen Luft. Die vornehme Zurückhaltung und ſelbſtgefällige 
Würde, wie fie Leuten von folder Bildung und Stellung eigen 
zu ſein pflegt, ſchien verſchwunden, man legte ſeinen Gefühlen 
keinen Zwang auf. „Das iſt ja phänomenal, Herr Baron!“ 
„So etwas hat man noch nicht geſehen!“ „Geradezu geiſtreich!“ 
„Wir bewundern Sie!“ uſw., ſo ſcholl es durcheinander. 

„Gewiß Ihre eigene Erfindung, Herr Baron?“ wandte ſich 
der Geheimrat an den Gaſtgeber. „Als Phyſiker iſt es Ihnen 
natürlich ein beſonderes Vergnügen geweſen, eine ſinnreiche 
Konſtruktion dieſer Art zu ſchaffen. Aber — hm — ich ſah gar 
nicht, wie Sie den Mechanismus zur Auslöſung brachten?“ 

Man hatte ſich um den Baron geſchart, fragend hingen die 
Blicke aller an ſeinem Munde. 

„Ich bitte, es mir nicht übel zu vermerken, meine ſehr ver⸗ 
ehrten Gäſte, wenn ich mich darüber nicht äußere, aber das iſt 
eben mein Geheimnis.“ 

„Ich bitte um Verzeihung, Herr Baron.“ 


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• DIE GEHEIMNISVOLLE BIBLIOTHEK • 
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Man ſchaute fid) um: nirgends die Spur von einem Schalter 
oder Hebel. Die umherſchweifenden Blicke blieben ſchließlich 
an einer etwa einen Quadratmeter großen, fein gemuſterten 
Meſſingplatte hängen, die gerade vor dem drehbaren Mittelteil 
am Boden, eigentlich ohne erſichtlichen Zweck, angebracht war. 

„Aha“, rief ein junger Student, der Sohn eines dem Baron 


befreundeten Rittergutsbeſitzers, etwas vorlaut, „die Meſſing⸗ 


platte gibt des Rätſels Löſung!“ 

„Wieſo, lieber Herr von Seeſenheim?“ warf der Baron ein. 

„Nun, ich meine, durch Darauftreten wird der Mechanismus 
in Bewegung geſetzt!“ 

Der Baron lachte. „Wollen Sie es einmal verſuchen?“ 

„Lächerlich“, meinte ein alter ariſtokratiſch ausſehender Herr. 
Der Student errötete und ſchwieg. 

„Abrigens, meine Herrſchaften“, bemerkte der Gaſtgeber, 
„auch dieſe Platte gehört mit zur Sicherung! Doch genug der 
Nebenſächlichkeiten, Sie werden darauf brennen, wahrhaft 
Schönes und wirklich Wertvolles zu ſehen.“ Er öffnete eine 
Schatulle. „Hier habe ich ſechszehn Aldinen, wundervoll er⸗ 
haltene Meiſterdrucke eines Aldus Manutius. Man kann es 
verſtehen, wenn Rufus eines ſolchen typographiſchen Meiſter⸗ 
werkes wegen ſein Haus verkaufte, und wenn ein anderer über 
den Beſitz wie ein Kind vor Freude weinte, als man ihm eine 
Aldine geſchenkt.“ And wirklich, dies beſtätigte der Muſeums⸗ 
direktor, dieſe Aldinen, kleine Bändchen, zum Teil ohne Illuſtra⸗ 
tionen, nur mit dem bekannten Signet des italieniſchen Meiſter⸗ 
typographen, einem Anker, von einem Delphin umſchlungen, ge⸗ 
ſchmückt, waren wohl die ſchönſten, die er je geſehen. Die Scha⸗ 
tulle ging von Hand zu Hand und wurde mit Dank zurückgereicht. 

„Hier habe ich einen iriſchen Band aus der Blütezeit kel⸗ 
tiſcher Miniatorenkunſt. Der mit Initialen und Schmuck reich- 
verzierte Inhalt iſt des koſtbaren Deckels würdig.“ 


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Jahrhundert 


Cod. lat. 4454 der Staatsbibliothek in München 


Ein koſtbarer Buchdeckel aus dem 11 


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Der Gaſtgeber hatte aus einer mit bunten Steinen reidh- 
geſchmückten flachen Truhe einen herrlichen Band genommen, 
der von Gold und Edelſteinen ſtrahlte. In der Mitte das 
wundervolle goldene Relief eines thronenden Chriſtus. Ein 
fremdartiger Geruch ging von dem Bande aus. Im Geiſte ſah 
man den iriſchen Mönch, wie er gewandt die köſtliche Anziale 
ſchrieb, Seite um Seite, und wie er die wundervollen Initialen 
mit der Flechtornamentik und den tierköpfigen Windungen ſorg⸗ 
ſam ſchmückte. 

Der Gaſtgeber hatte die ſchwere Truhe auf einen der mäch⸗ 
tigen Tiſche geſtellt, den nun alles umdrängte. Wahrhaftig, 
dieſer herrliche Band war ein würdiges Gegenſtück zum Book 
of Kells oder zum Durham⸗Book. Wie da die Augen aller 
leuchteten. Der Blick des einen der Herren nahm etwas Gieriges 
an, feine Augen flackerten wie bei einem Raubtier. Als er frei- 
lich den kühl prüfenden Blick des Barons auf ſich gerichtet ſah, 
veränderte ſich ſogleich ſein Mienenſpiel und mit weltmänniſch 
glatten Manieren und einem verbindlichen Lächeln bemerkte er, 
daß dieſes eine Buch doch wohl allein ein Rieſenvermögen dar⸗ 
ſtelle. Na, das ſah ja wohl ein jeder. Das Gold leuchtete, kein 
Stein fehlte, die Miniaturen ſtrahlten in me Farbenglut wie 
byzantiniſcher Zellenſchmelz. 

Nun folgte das Prachtexemplar einer 42-geiligen Bibel 
Gutenbergs, auf Pergament gedruckt und vollendet illuminiert, 
ein „Teuerdank“, ein vollſtändiges Exemplar des berühmten 
„Pſalteriums“ von Peter Schöffer aus dem Jahre 1457 und 
andere Buchſeltenheiten erleſener Art. | 

Zur Abwechſlung wurde eine Mappe herumgezeigt, voll 
ſeltener Manuſkripte mit köſtlichen goldgründigen Miniaturen, 
alter wertvoller Einblatt⸗ und ſeltener Privatdrucke mit Hand» 
folorierten Holzſchnitten, zum Teil verſchollene oder nur noch in 
wenigen Exemplaren vorhandene Drucke. 


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• DIE GEHEIMNISVOLLE BIBLIOTHEK • 


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„Hier babe id) einen Abzug des berühmten „Fialenbüch⸗ 
leins“ des Regensburger Dombaumeiſters Matthäus Roritzer 
aus dem Jahre 1486. Außer meinem Exemplar gibt es nur noch 
zwei unvollſtändige Abzüge. And hier einige Berliner Schloß⸗ 
drucke Friedrichs des Großen mit Verbeſſerungen von Voltaires 
Hand. Anſer Herr Profeſſor wird mir gern gerade dieſe Drucke 
als Buchkoſtbarkeiten erſten Ranges beſtätigen. Hier endlich 
einige Blätter aus „Kaiſer Maximilians Gebetbuch“, von 
Dürers Meiſterhand mit feinſten, ganz unbekannten und noch 
nirgends veröffentlichten Federzeichnungen geſchmückt.“ 

Der Muſeumsdirektor, dem die Erklärungen im beſonderen 

zu gelten ſchienen, war zunächſt ſprachlos, dann meinte er haſtig: 
„Das iſt ja kaum glaublich. Die Münchener Staatsbibliothek 
wähnte den Hauptteil dieſes ungeheuer ſeltenen Buches zu be⸗ 
figen; der in der Stadtbibliothek zu Beſancon befindliche andere 
Teil ſchien weit weniger koſtbar. And der fehlende Reit, den 
man längſt vernichtet wähnte, das ſind dieſe ſelten ſchönen 
Blätter hier! Das iſt ja unglaublich, nein, das iſt ja herrlich, 
das iſt eine Entdeckung! Dieſe Blätter beſitzen unſchätzbaren 
Wert... War Ihnen das bekannt, Herr Baron?“ 
Der Angeredete lächelte freundlich nachſichtig. „Aber gewiß, 
Herr Profeſſor. Ich ſagte Ihnen ja, daß ich hier Schätze aufbe⸗ 
wahre!“ And eine Schatulle, eine Seltenheit nach der anderen, 
Nara und Curioſa ſondergleichen kamen zum Vorſchein. Die 
ganze kleine Geſellſchaft war geradezu aufgeregt, unterhielt ſich 
zwangloſer, als es ſonſt in dieſen Kreiſen üblich ſein mochte; 
die ſtrenge Etikette war in angenehmſter Weiſe gelockert. 

„Ich denke, wir laſſen's nun genug ſein“, meinte ſchließlich 
der Gaſtgeber, „es gibt noch manches andere zu zeigen und mit 
der Zeit erlahmt auch das Intereſſe für die ſchönſten und edelſten 
Dinge.“ Damit hatte er alle die Seltenheiten wieder in ihren 
Fächern untergebracht und er drückte die halbrunde Stahlwand 


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* DIE GEHEIMNISVOLLE BIBLIOTHEK + 


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zu, bis ein Knacken das Einſchnappen der Tür verriet. Im 
ſelben Moment, ohne daß der Baron, der zurückgetreten war, 
auch nur eine Handbewegung gemacht hatte (er war aufmerkſam 
beobachtet worden), drehte ſich unter dem dumpfen Geräuſch 
eines arbeitenden Mechanismus der Mittelteil, bis wieder die 
Glasſcheibe mit den dahinter befindlichen Bänden wie zuvor das 
urſprüngliche Bild der Bibliothek vervollſtändigte. 

Der Geheimrat Dr. Ortmann ſchüttelte den Kopf. „Merk⸗ 
würdig, merkwürdig.“ Jener Herr mit dem fremden Akzent in 
der Sprache wandte ſich ihm zu: „Nicht wahr, mein Herr, Sie 
meinen den Amſtand, daß ohne jeden erſichtbaren äußeren Ein- 
fluß der Mechanismus in Tätigkeit tritt? Ich habe den Herrn 
Baron genau beobachtet: nachdem er den Stahldeckel geſchloſſen, 
lehnte er ſich an den Tiſch, und die Geſchichte drehte ſich. 
Abrigens, ich bin ganz konſterniert! Solche Schätze! Als 
Bücherfreund könnte man den Herrn Baron beneiden, wirklich 
beneiden.“ Ganz haſtig und heißer klang es, als er dies ſagte. 

„Ja, ein ſeltener Sammler von erleſenem Geſchmack und — 
immenſem Vermögen.“ 

Damit waren die beiden als die letzten der Gruppe plaudern- 
der und geſtikulierender Herren und Damen gefolgt, die der 
Varon nun von einem der kleinen Leſezimmer zum andern führte, 
jene kleinen Räume, die ſich um den runden Bücherſaal mit der 
geheimnisvollen Bibliothek herum gruppierten. Dieſe Zimmer 
erhielten nicht wie der Hauptſaal, ihr Licht vornehmlich von 
oben, ſondern ſeitlich durch Fenſter, die reizende Blicke nach dem 
Schloßpark, dem waſſerroſengeſchmückten Schloßteich und nach 
den nahen Bergen mit dem alten zerfallenen Raubſchloß, dem 
einſtigen Ahnenſitze des Gaſtgebers im Vordergrunde, freigaben. 

Einer der Gäſte batte den Blick nochmals nach dem Niefen- 
ſchrank zurückgewandt, gleichſam, als wollte er das Geheimnis 
erſpähen, das dort jene Schätze hütete. Jäh flackerte in ſeinen 


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• DIE GEHEIMNISVOLLE BIBLIOTHEK • 


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Zügen eine Gier auf, die hätte erſchrecken können; aber niemand 
fing dieſen Blick auf, niemand hörte, was dieſer elegante Herr 
zwiſchen den blanken Zähnen in fremder Sprache vor ſich hin 
murmelte. 

Da war alfo zunächſt ein dem allgemeinen Brauche dienen: 
des Leſezimmer, dann das Bibliothekszimmer der Dame, ein 
entzückend licht und farbig ausgeſtatteter Raum mit zierlichen 
Bücherſchränken, buntgeblümten Seſſeln und Tapeten und 
Fragonardmotiven in goldenen Rokokorahmen. Daran ſchloß 
ſich ein Bibliotheksraum für die Freunde abſonderlicher Lite⸗ 
ratur, Aſtronomie, Aſtrologie, Okkultismus uſw. an, mit einem 
ehrwürdigen VBarockſchrank voll zum Teil alter ſchweinslederner 
Folianten, denen man die mittelalterliche Gelehrſamkeit von 
weitem anſah. Die blaue Decke mit golden aufgetragenen Ge⸗ 
ſtirnen bedeckt, auf den Wandbrettern Atlanten, alte Mikroſkope, 
ein Aſtrolabium von dem berühmten Nürnberger Mechaniker 
Hartmann uſw. Dann das Studierzimmer des Herrn, ganz ein⸗ 
fach ausgeſtattet mit den Porträts der großen Phyſiker und 
Chemiker an den Wänden, vielen Bücherreihen mit meiſt ſchmuck⸗ 
loſen Bücherrücken uſw. und daran anſchließend das phyſikaliſche 
Laboratorium mit zahlreichen Inſtrumenten und Apparaten in 
großen Glasſchränken, Induktorien, Vakuumröhren ſeltſamſter 
Art, Schalttafeln an den Wänden uſw. 

„Huh, hier iſt's gefährlich“, meinte eine Dame mit erfünftel- 
ter Furcht, „hier riecht's nach Starkſtrom!“ 

„Gnädige Frau können Recht haben; von hier aus ſind auch 
meine Bücherſchätze geſichert.“ 

„Was ſagte er?“ wiederholte halb zu ſich ſelbſt jener Herr, 
der vielleicht gar nicht in dieſe Geſellſchaft gehörte. „Von hier 
aus ſichert er ſeine Bücherſchätze? Alſo elektriſch geſichert. Hm. 
Beſonders fchwierig..." Scheu jab er um fid)... doch nein, 
niemand hatte es gehört. 


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* DIE GEHEIMNISVOLLE BIBLIOTHEK + 


„Von bier aus geht's dann nad) unſern privaten Apparte- 
ments.“ Das war zugleich das Signal zur Umkehr. Man durch⸗ 
querte den Bibliotheksſaal, überſchaute noch einmal im Vorbei⸗ 
gehen die Herrlichkeiten, die er barg, und bei Zigarren, Likör und 
Eisgetränken beſprach man in zwangloſer Anterhaltung das Ge⸗ 
ſchaute und Erlebte. So fand ein intereſſanter, durch keinen 
Mißton getrübter Abend der Bibliophilen ſeinen Abſchluß. 
Nach einigen freundlichen Worten des Gaſtgebers und perz- 
lichen Dankesworten empfahl ſich die Geſellſchaft. 

Der Baron blieb wie üblich mit ſeiner liebenswürdigen 
und geiſtreichen Gattin noch ein halbes Stündchen in ſeinem 
Arbeitszimmer auf. Ihr Geſpräch galt den Gäſten, beſonders 
denen, die zum erſten Male geladen waren. 

„Eine geiſtvolle reizende Geſellſchaft“, meinte zufrieden der 
Hausherr. 

„Gewiß, im allgemeinen wohl, mein Lieber. Aber haſt du 
den Marquis de Pierrepont beobachtet, iſt dir an ihm nichts 
aufgefallen?“ 

„Nicht, daß ich wüßte; er ſchien ſehr intereſſiert.“ 

„Ja, f e hr intereſſiert. Er verſchlang beinahe mit den Augen 
deine Schätze. Ich fing einen Blick auf, der mir offen geſtanden, 
nicht gefiel. Wenn er überhaupt der iſt, als den er ſich ausgibt, 
ſo iſt er unter Amſtänden ein Bücherfreund, bei dem die Gier 
nach ſeltenen Büchern gegebenenfalls allen moraliſchen Halt 
beſeitigt.“ | 

Der Hausherr lachte beluftigt auf. „Liebling, du weißt, ich 
ſchätze deine Menſchenkenntnis, ſicher ſiehſt du aber hier etwas 
zu ſchwarz. Es ſchien nicht, als ob mein Beſitz bei meinen 
Gäſten Neid ausgelöſt hätte. Die Bewunderung ſchien mir im 
Gegenteil echt und neidlos. Schließlich würde ich es bedauern, 
wenn meine Schätze einen andern unglücklich machten, weil ſein 
eigener bibliophiler Beſitz ihm dagegen vielleicht nichtig er⸗ 


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• DIE GEHEIMNISVOLLE BIBLIOTHEK = 


ideint... Sodann find ja bie wertvollſten Stücke hinreichend 
geſichert. Ich denke, wir geben ſchlafen.“ Er ging nebenan ins 
Laboratorium, ein Schalter knackte, dann löſchte er die Glüh⸗ 
lampe, die von ſeinem Arbeitszimmer aus einen langen Licht⸗ 
ſtreifen durch den dunklen Naum nach der Bibliothek geworfen 
und dort in mildem Glanz den feinen Schmuck der vergoldeten 
Buchrücken aufleuchten ließ. 


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Drei Tage fpäter fam der Baron febr aufgeregt ins Schlaf- 
zimmer feiner Gemahlin, die etwas länger zu ſchlummern pflegte 
als ihr Gatte, denn der Baron widmete ſich bereits ſehr früh am 
Tage in ſeinem, dem Schloßteich zugewandten Arbeitszimmer 
ſeinen Studien und wiſſenſchaftlichen Arbeiten. 

„Gerda, biſt du wach? Entſchuldige, wenn ich dich ſo früh 
ſtöre. Aber, was meinſt du wohl — ich bin einfach außer mir — 
denke doch, heute früh war die elektriſche Vibliotheksſicherung 
abgeſtellt, und ich weiß doch genau, daß ich nicht vergaß, ſie 
geſtern abend einzurücken!“ 

„Aber Rolf, da warſt du eben geſtern abend etwas zerſtreut 
und wollteſt es tun, vergaßeſt es aber“, kam es etwas ſchläfrig 
zurück. 

„Aber Liebling, wo denkſt du hin! Das kommt nicht in 
Frage; ich habe die Starkſtromleitung geſtern eingeſchaltet, be⸗ 
ſtimmt. Es iſt jemand letzte Nacht im Bibliotheksraum geweſen, 
hat vielleicht etwas ſuchen wollen und hat vorher ausgerückt. Ich 
habe vor dem einen Fenſter nach dem Park zu friſche Fußſpuren 
gefunden und oben im Fenſterbrett ſind ſcharfe Eindrücke von 
den Greifern, etwa einer Strickleiter zu ſehen.“ 

Ganz erſchreckt ſchaute ihn ſeine nun völlig ermunterte Gattin 
an. „Entſetzlich, entſetzlich! Rolf, haſt du denn jemand geſagt, 
wie du deine Bibliothek ſicherſt?“ 


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„Aber nein! Doch halt! Am Sonnabend, als wir unfere 
bibliophilen Gäſte da hatten, habe ich beiläufig bemerkt, daß 
vom Laboratorium aus die Bibliothek gefichert wird.“ 

„Na ſiehſt du!“ 

„Ach was“, warf etwas ärgerlich der Baron ein, „Geheim⸗ 
räte und Profeſſoren ſind keine Einbrecher. Aber“, ſo fügte er 
etwas nachdenklich hinzu, „ich werde auf der Hut ſein.“ 

Der Garon konnte tagsüber keine rechte Ruhe finden, dau- 
ernd waren ſeine Gedanken bei dem verſuchten, nein, bei dem 
vollendeten Einbruch. Merkwürdigerweiſe vermißte er aber 
nichts. Welchem Zwecke mochte dann aber der nächtliche Beſuch 
gedient haben? Galt er ſeinen bibliophilen Schätzen? Dann 
aber konnte es eben doch nur jemand aus der Geſellſchaft ſein, 
denen er ſeine Bücher gezeigt. 

Abends lag er auf der Lauer. Vom verdeckten Fenſter eines 
kleinen Nebenraumes aus, deffen unſichtbare Tapetentítre zum 
Laboratorium führte, konnte man genau die Bibliothek und jene 
Seite nach den Fenſtern zu ſehen. Ein mit dem Schlupfwinkel 
verbundenes Mikrophon mit Lautverſtärker, unſichtbar auf der 
Bibliothek angebracht, mußte jedes, auch das geringfte Geräuſch 
deutlich hörbar machen. 

Der Baron und fein Förfter hatten, die Hörer am Ohr, fon 
einige Stunden gewacht. Die Nacht war ziemlich weit vor⸗ 
gerückt, die im Flüſtertone geführte Anterhaltung floß müde 
dahin. Das Leuchtzifferblatt der Taſchenuhr des Barons ließ 
deutlich erkennen, daß es bereits 2 Uhr fet. Der Vollmond 
ſchien bläulich⸗grün ins Zimmer, erhellte Streifen des Raumes 
und warf lange geſpenſtiſche Schatten. Kein Laut regte ſich, 
nur ab und zu hörte man aus weiter Ferne das Anſchlagen eines 
Hundes. 

Da plötzlich traf ein leichtes Geräuſch das Ohr des Barons 
und da — was war das? — vor dem hellen Ausſchnitt eines 


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* DIE GEHEIMNISVOLLE BIBLIOTHEK + 


Fenſters, das den beiden Lauſchern gegenüber lag, erhoben fid) 
langſam ſchwankend, wie zwei geſpenſtiſche Fühler, anſcheinend 
Stangen, die mit einem Mechanismus verbunden ſchienen. Eine 
leichte mehrfache Bewegung, dann mochte etwas eingeſchnappt 
ſein. 

„Man hat eine Strickleiter eingehakt“, flüſterte der Baron; 
jetzt geht's los. Halten Sie Ihren Browning bereit. Alles 
wie verabredet.“ 

Die leichte Müdigkeit, die ſich bleiern über ihre Lider gelegt 
hatte, war wie weggeſcheucht. Alle Sinne waren aufs äußerſte 
geſpannt. Das Herz ſchien hörbar zu ſchlagen. Etwas von 
jenem Aufruhr hatte ſie ergriffen, wie wenn ſie einen kapitalen 
Bock oder einen Sechzehnender vor der Mündung ihrer Ge⸗ 
wehre hatten. Aber im Nu hatten die beiden Männer ihre 
Erregung gemeiſtert. Ihre Augen bohrten ſich förmlich in das 
Zwielicht, um ſoviel als möglich von dem zu erſpähen, das ſich 
da vor ihnen abſpielte. Kaum eine Minute, nachdem die Strid- 
leiter befeſtigt ſchien, wurde ein leiſes, durch den Lautverſtärker 
deutlich wahrnehmbares rhythmiſches Geräuſch hörbar.. бе” 
mand ſchien die Leiter zu erklimmen. Im nächſten Augenblick 
tauchte ein unförmiges Etwas über dem Fenſterbrett auf, dem 
ein plumper Körper folgte. Denn daß es einer ſein mußte, be⸗ 
wieſen die beiden Arme, die das Fenſterkreuz faßten — dann 
glitt lautlos ein Schatten herein und verfloß mit dem Dunkel, 
das den hellen Fenſterausſchnitt umgab. Gleich darauf folgte ein 
zweiter Schatten; geräuſchlos wie ein Schemen huſchte auch er 
durch's Fenſter. 

Jetzt ſchlichen dieſe beiden Geſtalten durch einen vom Monde 
hellerleuchteten Streifen des Zimmers und nun konnte man 
auch gewiſſe Einzelheiten erkennen, die allerdings geeignet waren, 
einen Menſchen mit Schrecken zu erfüllen, ſelbſt wenn die näheren 
Amſtände weniger auf Grauen eingeſtellt waren, wie hier in 


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• DIE GEHEIMNISVOLLE BIBLIOTHEK • 


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dieſer nächtlichen Stille. Zwei unförmig verquollene braune 
Angeheuer waren es, die ſich da langſam und ſchleppend mit 
ſchlapſendem Gang der Bibliothek näherten. Bei einer Bewe⸗ 
gung des einen Angetüms ſah man deutlich zwei grünlich 
ſchillernde viereckige Flecke, die wohl an Stelle der Augen ſein oder 
fie verdecken mochten. Wie ſagenhafte Tiefſeeungeheuer, über- 
natürlich vergrößert, wirkten ſie in der Nacht, wo die Schatten 
ſchreckhaft ins Gigantiſche wachſen. So mochte man fid) Mars- 
menſchen vorſtellen. Bei dieſem rätſelhaft ſchrecklichen Anblick 
ſchien das Blut in den Adern gerinnen zu wollen; dann pulſte es 
mit um ſo größerer Heftigkeit, daß es den beiden Lauſchern eine 
Blutwelle nach dem Kopfe trieb und wie ein Strom in den 
Ohren brauſte. 

„Was ift denn das?“ hatte der Förfter kaum hörbar ge- 
flüſtert, ohne zunächſt eine Antwort zu erhalten. 

„Elektriſche Schutzanzüge gegen Hochſpannung“, flüſterte es 
dann zurück. 

Jetzt ſetzte auch eine leiſe Anterhaltung zwiſchen den beiden 
Schattenweſen ein, die durch den Lautverſtärker deutlich hörbar 
wurde. 

Der Förfter preßte den Hörer an fein Ohr, damit ja kein 
Geräuſch in den Saal bringe; eine unnötige Beſorgnis . 

„Jetzt ſieh nach, ob der Starkſtrom abgeſtellt iſt“, flüſterte 
leiſe der eine und mochte mit einem wahrſcheinlich iſolierten 
Metallſtab der Meſſingplatte nahegekommen ſein, denn plötzlich 
ſprühte es bläulich und weiß mit gelber Aureole allenthalben 
aus der Platte vor dem Rundteil der Bibliothek hoch und be⸗ 
leuchtete geſpenſtiſch den einen, der ſich dort zu ſchaffen machte. 

„Abſtellen“, befahl es dann, und nun ſahen die beiden Lau⸗ 
fher, wie einer ins Laboratorium ſchlich ... für Sekunden zuckte 
ein Licht auf, dann knackte ein Schalter, viel zu laut, als dem 
einen da im Saale lieb fein mochte, denn ein „Pſt“ klang herüber. 


C оо 22079 


* DIE GEHEIMNISVOLLE BIBLIOTHEK * 


And dann machten fid) beide vor der Bibliothek zu ſchaffen. 

„Alſo mit Gewalt drehen läßt ſie ſich nicht, wir müſſen den 
Mechanismus entdecken.“ 

„Wie hatte er denn geſtanden?“ fragte der eine. 

Der andere mochte jetzt eine Stellung nachahmen. 

„So.“ 

„And wie ſtand er denn, als der Mittelteil fid) zurückdrehte?“ 

„Auch ſo.“ 

„Wie hatte er denn die Hände?“ 

„So aufgeſtützt.“ 

Wieder mochte einer von beiden eine Stellung ausprobieren, 
denn er апр mitten vor dem Rundteil der Bibliothek und ftüßte 
ſich mit beiden Armen auf den hinter ihm ſtehenden Tiſch, wie 
ſich etwa der Baron aufgeſtützt haben mochte, als er ſeinen 
Gäſten ſeine bibliophilen Schätze gezeigt. 

„Alſo müſſen hier an dieſem Tiſche Kontakte ſein“, flüſterte 
es abermals. 

„Die Schurken ſind bei Gott ſcharfſinnig“, dachte der Baron, 
„die reinſten Detektive.“ 

Bei einem bleichen, ſeitlich abgeblendeten Lichte hantierten 
jetzt die beiden Einbrecher. Gewiſſenhaft unterſuchten ſie den 
mit Einkerbungen verſehenen und mit geſchnitztem Blattwerk 
verzierten Rand der Tiſchplatte und fanden bald drei Stellen, 
die ſich wie elektriſche Kontakte eindrücken ließen. 

„So, jetzt haben wir's gleich“, hörte der Baron noch flüſtern, 
da tönte bereits dumpfes Rollen und Dröhnen aus der Tiefe 
Die Räuber mochten die Knöpfe in richtiger Folge gedrückt 
haben, denn ſchon drehte ſich das wuchtige Mittelſtück. 

Der Baron hing die Hörer ab: „So, jetzt Achtung! Sie 
den, der flüchtet, ich den vor der Bibliothek.“ 

Lautlos wich die Tapetentür vor dem Drucke der etwas 
zitternden Hand des Barons. Ein Blick überzeugte ihn, daß die 


Rs 91 2079 


DIE GEHEIMNISVOLLE BIBLIOTHEK = 


Einbrecher begannen, den foffbaren Inhalt der Bibliothek zu- 
ſammenzuraffen ... Da knackte ein Schalter, ein Flammenſtrom 
ſchoß an dem einen der Einbrecher hoch, ein entſetzlicher Schrei 
durchſchnitt die nächtliche Stille — und im ſelben Augenblick 
war das Bibliothekszimmer hell erleuchtet. 

Der eine der Verbrecher, der vor der Bibliothek geſtanden 
und eben nach einer der koſtbaren Schatullen greifen wollte, 
ſtand ſtarr, rührte kein Glied. Der zweite, der den erſten Schreck 
im Nu überwunden, hatte ſogleich die Flucht ergriffen und war 
eben dabei, ſich zum Fenſter hinauszuſchwingen, als ein don⸗ 
nerndes „Halt“ und ein drohend auf ihn gerichteter Browning 
ſeine Eile hemmte. 

„Halt, Hände hoch, oder ich ſchieße!“ 

Da mochte der Einbrecher wohl fühlen, daß er unter ſolchen 
Amſtänden nur noch zwiſchen einem Schuß oder dem Abſturz in 
die Tiefe zu rechnen hatte und hob die Arme. In einer Minute 
war das braune Angetüm von der herbeigeeilten Dienerſchaft 
gefeſſelt. 

Ohne allzuviel Eile hatte ſich der Baron in ſein Labora⸗ 
torium zurückbegeben und den Starkſtrom ausgeſchaltet. Schwer 
wie ein Sack fiel der andere Bücherräuber zur Seite 

Es konnte den Baron nicht ſonderlich überraſchen, in dem 
Bewußtloſen den „Marquis“ wiederzufinden. Aber ſeine Hal⸗ 
tung, die er bei dieſem peinlichen Vorfalle einzunehmen hatte, 
entſchied das Bekenntnis dieſes Mannes, deffen Bewußtloſig⸗ 
keit und Lähmung bald gewichen war. Was dieſer elegante Herr 
mit zerbrochener Stimme enthüllte, war freilich das Bild einer 
grenzenloſen krankhaften Leidenſchaft für ſeltene Bücher, wie ſie 
Flaubert ſo überzeugend geſchildert und wie ſie nicht ſelten ſolch 
unglückliche Bibliomanen zu Diebſtahl, Brandſtiftung, ja Mord 
getrieben hatte. Auch hier ſchien ein Fall vorzuliegen, der 
zweifellos den Nervenarzt mehr anging als den Strafrichter. 


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+ DIE GEHEIMNISVOLLE BIBLIOTHEK + 


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Auch ſchien diefer Mann völlig unter dem Einfluß des anderen 
geſtanden zu haben, denn er entſann ſich nur noch dunkel einer 
Anterhaltung mit ſeinem Landsmann, von da ab fehlte ihm jede 
Erinnerung. Daher auch ſeine Beſtürzung über ſeine Amgebung 
bei ſeinem Erwachen; der Baron mußte ihm den ganzen Vor⸗ 
gang wiederholt ſchildern, ehe der Marquis alles zu begreifen 
ſchien. Der ganze verhängnisvolle Einfluß des anderen, unter 
deſſen hypnotiſchem Zwange er handeln mußte, ſchien dem 
Marquis erft nach und nach voll zum Bewußtſein zu kommen. 

Zweifellos war alſo jener andere und Stärkere ein Ver⸗ 
brecher, dieſer ganz gebrochene Mann hier ſein Opfer. Aber der 
Baron vermied den Skandal. Großmütig ſtellte er nur die eine 
Bedingung, daß beide innerhalb drei Tagen Deutſchland zu ver⸗ 
laſſen hätten; eine Löſung, die auch die beiden „Bücherfreunde“ 
als die günſtigſte anſahen. — 

Dieſes merkwürdige Erlebnis erfuhren die Teilnehmer jenes 
Bibliophilenabends erft nach einer Reihe von Jahren. 


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„Auszug zum Johannisfeſt“ 


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„Heimkehr vom Johannisfeſt“ 


DAS TY POGRAPHISCHE 
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Der kürzlich verftorbene Profeſſor W. Foerffer, eine Koryphäe auf 
dem Gebiete für Maße und Gewichte, war auch hervorragend tätig 
an der Schaffung eines genauen Urmaßes für das typographifche 
Syftem. Bahnbrechend auf diefem Gebiete wirkte bis zu feinem 
Lebensende Hermann Smalian (дећогђеп 1917), der im Jahre 1878 
auf die Wichtigkeit der Schaffung eines genauen und allgemein gül- 
tigen Typometers für das Didot-Syftem, das fogenannte „franzöfijche 
Syſtem“, hinwies, das die deutfchen Schriftgießereien feitdem Jahre 1875 
eingeführt hatten, d.h. foweit die Durchführung möglich war (vorerft 
bei neu einzurichtenden Druckereien). Абег tro der Anerkennung 
und Einführung diefes Normal(yftems wies in den einzelnen Gieße- 
reien die Schrifthöhe doch noch mehr oder weniger auffällige Ab- 
weichungen auf, da es an einem ganz genauen Urmaß, an einem 
typographifchen Typometer fehlte. Im Verein mit dem Schriftgießer 
und Meffinglinienfabrikanten Hermann Berthold arbeitete nun Pro- 
feſſor Foerfter an einem Typometer, deffen Grundlage das Metermaß 
war. Auf Grund des Normalmeters der Berliner Sternwarte wurde 
feftgeftellt, daß bei 0 Grad Celfius auf ein Meter 2660 typographifche 
Punkte gehen. Auf einen Punkt Rommen genau 0,3759 Millimeter. 
Im Jahre 1879 erhielten die deutfchen Gießereien amtlich geprüfte 
Teilmaße, und zwar Typometer von 30 Zentimetern, das find 133 Non- 
pareille oder 798 Punkte. Foerfter war zu der damaligen Zeit Direk- 
tor der Normal-Aichungskommiffion. Wenige Buchdrucker und 
Schriftgießer werden beim Ableben diefes großen Gelehrten gewußt 
haben, daß er mit beteiligt war an diefer für das Buchdruck- und 
Schriftgießergewerbe fo überaus wichtigen Angelegenheit. 


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Das Siegel Gutenbergs 


Gutenbergs Inſiegel ift in einem einzigen Exemplar auf unſere Zeit über- 
kommen. Es iſt Eigentum des Börſenvereins der deutſchen Buchhändler 
und wird gemäß ſeines unſchätzbaren Wertes in einer gläſernen Kapſel 
wohl verwahrt. Dieſes bräunliche Wachsſiegel befand ſich urſprünglich 
an einer aus dem Archive des Stiftes St. Thomä zu Straßburg her— 
rührenden, lateiniſch abgefaßten Original-Urkunde, die am 17. Novem- 
ber а. d. 1442 vor dem biſchöflichen Gerichte zu Straßburg ausgefertigt 
wurde und aus der hervorgeht, daß „Johannes dictus Gensefleische 
alias Gutemberg de Maguncia“ von dem Stift „achtzig Pfund“ auf- 
genommen hat, zweifellos, um damit die von ihm erfundene Kunſt zu 
vervollkommnen und auszuüben. Der etwas verdrückte Wachsabdruck 
läßt einen auf ſeinen Stock geſtützten Bettler erkennen, der eine Schüſſel 
vorhält. Die teilweiſe unlesbare Umſchrift des Sigills ſcheint zu heißen: 


„S. Hans Gensfleisch dei. Gutemberg“ 
(Sigillum Hans Gensfleisch dicti Gutemberg). 


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| Ein Erlebnis und ein Wunſch. 


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174, 


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Von Dr. H. VON BRONSART, Heilbronn а. N. 
I. 


Auf dem Gipfel fo manchen Berges, deffen Erklimmung 
einige Anſtrengung vorausſetzt, ſteht jo eine Art kleiner Tauben- 
ſchlag. Auf einem wetterfeſten, knapp meterhohen Pfoſten ein 
Häuschen aus Blech. Nimmt man den Deckel ab, ſo findet man 
das Gipfelbuch. Es iſt in durables Leinen gebunden und an 


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--———- 


• DAS GIPFELBUCH • 


einer kleinen Kette feſtgelegt. Manchmal ijt auch ein angefette- 
ter Bleiſtift dabei. Manchmal auch nicht. 

Dies Gipfelbuch iſt eine ſegensreiche Einrichtung. Eispickel 
und Bergſtock find dagegen ganz unnützliche Gegenſtände. Leg- 
teren bekommt man, auch wenn er an ſeinem oberen Ende mit 
einem „Buketn“ aus Inntaledelweiß geſchmückt iſt, ſehr leicht 
zwiſchen die Beine, weil er ſo lang und unhandlich iſt; erſterer 
iſt verdammt ſchwer und ungeſchickt zu tragen, und im entſchei⸗ 
denden Augenblick weiß man dann doch nicht, wie man ihn an⸗ 
faſſen und einſetzen ſoll. 

Nur zu einem iſt der Eispickel gut zu gebrauchen: hat man 
tatſächlich Bergesgipfel erreicht, јо kann man mit dem ſcharfen 
Meißel ſeinen Namen ins Geſtein hauen und damit dem harten 
Fels für ewige Zeiten einprägen, daß etwa am 6. Juli 1913 
Egon Miesnickel aus Glauchau die Spitze des Demeljochs er⸗ 
klommen habe. 

And hier ſetzt nun die ſegensreiche Eigenart des Gipfel- 
buches ein. Freundlich und geduldig nimmt es derlei belang⸗ 
loſe Mitteilungen auf und verbirgt ſie ſchamhaft zwiſchen ſeinen 
ſtarken Pappdeckeln. Wenn man nicht will, ſo braucht man es 
durchaus nicht zu erfahren, wer alles vor einem ſchon auf dem 
Gipfel geweſen iſt, und was ſich die Betreffenden dabei gedacht 
haben. Denn man findet auch Gipfelbuchlyrik darin, von Ber⸗ 
gesfreiheit, weitem Blick, blauendem Himmelreich und ſich wäl⸗ 
zenden Wolkenballen, von höher klopfendem Buſen, ſinkenden 
Knien und anderen Requiſiten gut bürgerlicher Dichtkunſt. 

Wie ſchrecklich, ſtünden alle dieſe Ergüſſe ſäuberlich einge⸗ 
meißelt auf nackter Felswand! 

Immerhin ſcheint es noch Gipfel zu geben, deren Amwelt ſo 
großartig iſt, daß ſie den Dichtern die Sprache verſchlägt. 

So einer war noch vor drei Jahren der Schafreuter im Kar- 
wendel. Inzwiſchen mag ja ein Gemütsathlet gekommen ſein. 


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• DAS GIPFELBUCH + 


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Aber damals ſtanden nur ganz beſcheiden Namen und Datum 
im Gipfelbuch, und nur einmal — es war gerade die letzte Ein- 
tragung — hatte die unendliche Einſamkeit, Gewalt und Stille 
der Bergwelt das Herz eines Jünglings ſo ſchwer bedrängt, 
daß er das Bekenntnis ablegen mußte, er habe — die Ilias 
mit auf den Gipfel genommen. | 

Ja, wahrhaftig, fo ſtand es da: „N. N. 1. 9.1922, mit Ilias“. 

Ich war etwas erſtaunt. Griechiſche Verſe auf deutſchen 
Berggipfeln? Nun, meinethalben. Die Oberlehrer aller Kinder 
behaupten ja, die griechiſche Kultur habe „Weltgeltung“. Mir 
wollten die geſchwollenen Reden der antiken Heroen und das 
Waffengeklirr um Troja nicht recht zu der klaren Einſamkeit 
um mich her paſſen. Mein Vorgänger war vielleicht Oberlehrer 
oder Kandidat der Altphilologie geweſen, einer von jenen 
Leuten, die nur noch in antiken Versmaßen denken, reden und 
leben können. 

Immerhin, war nicht dieſe ſchlichte Angabe „mit Ilias“ 
viel unaufdringlicher und zugleich ausdrucksvoller, als wenn der 
Menſch das Chaos ſeiner Gefühle in gutgemeinten, tiefempfun⸗ 
denen und ungeſchickten Worten ergoſſen hätte? 

And — hatte ich nicht auch ein Buch im Ruckſack, zerleſen 
wie das Brevier des frömmſten Prieſters, das mir Rat unb 
Kraft, Freude und Beglückung ſpendete, das in geläuterter 
Sprache alles das vor mich hinſtellte, was ich verworren und 
dunkel in meinem Inneren längſt empfand? 

Als ich den Schafreuter verließ, trug ich mich auch in das 
Gipfelbuch ein: „H. v. B., 2. 9. 1922, mit Francés Kultur von 
morgen“. 

Vielleicht hat unſer Beiſpiel Schule gemacht. 

Vielleicht hat mancher Bergſteiger nach uns auch das Be- 
kenntnis in das Gipfelbuch geſchrieben, wem er ſeinen Geiſt 
auf dieſe Bergfahrt anvertraut hat. 


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DAS GIPFELBUCH + 


Für einen Pſychologen wäre es unbedingt hochintereſſant, 
den Reigen der verſchiedenen Charaktere und Geiſtesanlagen zu 
betrachten, die ſich hier manifeſtiert haben. 

Ich bin fein Pſychologe. Aber ich will trotzdem einmal 
wieder auf den Schafreuter klettern und das Gipfelbuch anſehen. 


II. 


Es könnte aber noch eine zweite Art von Gipfelbüchern geben. 

In der kleinen ſüddeutſchen Stadt, in die mein Beruf mich 
verſchlagen hatte, verkehrte ich faſt nur in einer der vier Buch⸗ 
handlungen. 

And während die Spätnachmittagsſonne grell und unerbittlich 
auf das Pflaſter ſchien, Тар ich im kühlen, dämmerigen Laden ganz 
hinten in einer Ecke mit der Buchhändlerin, die ihr Geſchäft allein 
verſorgte, und wir ſprachen über Fragen des Tages und der Zeit. 

Es war Hochſommer, Reiſezeit, die „guten Kunden“ alle in 
der Sommerfriſche — ganz ſtille Zeit fürs Geſchäft. 

Einmal nun hatte die Buchhändlerin ſich in ihre über dem 
Laden gelegene Wohnung begeben, um den obligaten Sams- 
tagsnachmittagsmokka zu brauen, und mir für dieſe Viertelſtunde 
ihren Laden anvertraut. Wo die verſchiedenen Bücher ſtanden, 
wußte ich ungefähr: „Woche“, „Berliner Illuſtrierte“ und 
„Sonntagszeitung“ hatte id) ſchon einige Male „vertretungs- 
weiſe“ ganz richtig verkauft, und viel konnte ja überhaupt in der 
Viertelſtunde nicht paſſieren. 

Eine ganze Weile kam denn auch niemand. Aber dann er⸗ 
ſchien ein hochgewachſener Jüngling, ohne Hut, mit bloßen 
Knien, ungeheure „Treter“ an den Füßen, mit einem Rudfad, 
der annähernd Dreiviertel Zentner wiegen mochte. 

Ich eilte hinter den Ladentiſch und fragte mit ſchiefgeneigtem 
Kopf, wie ich es der Beſitzerin abgeſehen hatte, nach des Kunden 


Begehr. 
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DAS GIPFELBUCH e 


„Ich möchte ein Ruckſackbuch!“ 

„Haben Sie es im Schaufenſter geſehen?“ wollte ich gerade 
fragen, ſchluckte dieſe Dummheit aber noch zur rechten Zeit 
herunter, weil mir blitzartig die Erleuchtung kam — ſah ich mich 
doch plötzlich wieder auf dem Schafreuter liegen und voll inneren 
Jauchzens in der „Kultur von morgen“ leſen. 

„Ach, Sie möchten ein Gipfelbuch?“ ſagte ich alſo, immer 
noch mit ſchief gehaltenem Kopf. 

„Nein, ein Ruckſackbuch.“ 

„Wir meinen wohl dasſelbe: ein Buch, das man in den 
Nuckſack ſtecken und auf dem Gipfel eines Berges leſen kann.“ 

Etwas verblüfft über dieſe eingehende Analyſe ſeines 
Wunſches gab der Wanderer zu: „Ganz recht, das möchte ich.“ 

Ich ließ die Bücher an meinem Geiſt vorüberziehen, die ich 
ſchon im Ruckſack auf meinen vielen Wanderungen mitgeführt 
hatte. 

„Nun, da iſt zum Beiſpiel Meiſter Ekkehard, hier, Inſel⸗ 
bücherei, bitte ſchön.“ 

Er blätterte darin: „Ach, wie ſchade, das iſt ja ins Neuhoch⸗ 
deutſche überſetzt.“ 

„Ja, mittelhochdeutſch gibt es nur dieſe große Ausgabe von 
Pfeiffer — broſchiert — hier, bitte“ — — ich klaubte den unge⸗ 
fügen Schmöker aus dem Fach der Ladenhüter hervor. Das war 
nun wieder nichts zum Einſtecken. 

„Vielleicht den Heliand?“ ſchlug ich vor. Der fand auch 
keine Gnade. Er ſei zwar gut im Format und auch leicht, aber 
doch ein bißchen „ſpeziell“, nicht wahr? Auch die Edda wurde 
abgelehnt aus „techniſchen“ Gründen: die Diederichs⸗Ausgabe 
fei zu groß und ſchwer, bie Reclam⸗Ausgabe habe zu kleinen 
Druck: „Denn man will doch auch mal des Abends in der Bleibe 
was leſen, und da iſt die эче auch nicht immer be, 


ſonders gut.“ 
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• DAS GIPFELBUCH • 


— 22 — 


Goethes Briefe an Frau von Stein, Jean Pauls Siebenkäs, 
Lichtenbergs Aphorismen und der grüne Heinrich waren damit 
ebenfalls erledigt. Alſo wieder die Inſelbücherei! 

„Hier zum Zeifpiel der Angelus Sileſius? Oder etwas von 
Ricarda Huch: Wonnebald Pück — Gedichte — — vielleicht 
Till Eulenſpiegel?“ 

Der Jüngling ſchwankte. Nein, die Inſelbücherei ſei doch 
nicht recht was für den Nudfad. Das Rückenſchildchen würde 
ſehr bald abfallen, und überhaupt der Rücken würde ſich ablöſen, 
die Büchlein ſeien alle zu leicht gebunden. And der Pappdedel 
würde knicken. 

Nietzſchebriefe in Auswahl — — zu ſchwer zu tragen (ich 
warf einen ſcheuen Blick auf den Ruckſack und glaubte es ihm). 
Morgenſtern „Stufen“ — — zu empfindlicher Einband. Aber 
jetzt: Mörikes Gedichte in der Pantheon⸗Ausgabe!? Nja, man 
kann aber doch nicht immerzu Gedichte lefen — — —! 

Heiliger Zwiebelfiſch! Das war ein ganz Schwieriger. 
Mein Herz ſchrie nach der Buchhändlerin. Aber der Kaffee war 
noch nicht durchgelaufen. 

„Francé, Kultur von morgen?“ 

„Ach, ich will ja gerade vierzehn Tage nichts von Kultur 
ſehen und hören.“ 

Dummer Eſel, hatte ich auf der Zunge, unterdrückte es aber 
aus Rückſicht auf den Ruf des Buchladens, den ich nun mal i im 
Augenblick repräſentierte. 

„Nun, hier aus der deutſchen Bibliothek, vielleicht Hölderlin? 
Oder Novalis?“ — Auch nicht, es ſei zu ſchlecht gebunden. (Die 
Erfahrung hatte ich allerdings auch ſchon gemacht.) 

„Nietzſches Zarathuſtra?“ Ja, aber die ganzen vierzehn 
Tage immer bloß Nietzſche — —? | 

Ich verſuchte nod) Verſchiedenes. Fauſt, Plato, Mark Aurel, 
Epiktet, Manfred Kyber, Paracelſus, Fechner, Keyſerling (welch 


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* DAS GIPFELBUCH = 


letzteren ich zwar nie im Ruckſack gehabt habe, aber mir war nun 
ſchon alles eins). 

Schließlich gab er es auf. Ich auch. Aber nach dieſer 
langen Konferenz, in deren Verlauf ſich ſchwankende Bücher⸗ 
türme auf dem Tiſch aufgehäuft hatten, mochte der gute Junge 
doch nicht ſo aus dem Laden laufen, ohne etwas gekauft zu 
haben. Er murmelte beſcheiden, er wolle dann alſo doch den 
Meiſter Ekkehard aus der Inſelbücherei mitnehmen. Er bekam 
das Buch, ich bekam einige Milliardenſcheinchen, und der Rud- 
ſack ſchwankte aus der Tür. 

In dieſem Moment kam die Buchhändlerin mit der dampfen⸗ 
den Kaffeekanne. Sie machte runde Augen, als ſie mich in dem 
Bücherchaos ſtehen ſah, und ſtaunte: „Was iſt denn da paſſiert? 
Wollen Sie Räumungsverkauf machen?“ 

„Nein“, fagte ich etwas verlegen, „ich habe bloß ein Gipfel- 
buch verkauft“, und erzählte den Hergang. 

Sie hörte mich geduldig an, mit ſchiefgeneigtem Kopf, und 
ſagte zuletzt nachdenklich: „Ein Gipfelbuch? Da haben Sie 
etwas verkauft, was es noch gar nicht gibt.“ 


DIE KLEINSTEN BUCHER 


uf der Parifer Welt-Aus- 
ſtellung 1882 war eine vollländige Ausgabe von Dantes 
Göttlicher Komödie ausgeftellt. Der kleine Band war 500 
Seiten Лам, bas Format etwa 12 mm im Quadrat. The 
Alarm Almanac, der im Jahre 1781 in Paris von бе» 
weglichen Buchſtaben gedrudt wurde, maß 14:18 mm. 
The Conot of Flowers, gedeudt in Holland um 1674, 
fat genau das Format von einem Viertel einer englifchen 
Briefmarke. Der berühmte Sammler diefer tupographiſchen 
Merkwürdigkeiten glaubte lange, daß dies das kleinſte vor⸗ 
handene Buch fei; er war aber im Irrtum. Zuelen Ruhm 
beansprucht ein im Jahre 1897 bei Salmin geörucktes 
Bändchen von 208 Seiten mit je neun Zeilen Text. Es ent- 
Halt einen bisher nicht veröffentlichten Brief Galileis an 
Ehriſtine von Lothringen. Die Maße dieses mikroſkopiſchen 
Büchelchens find 9%:6 mm. Man kann fih kaum vor- 
ſtellen, wie es der Lefer іп der Hand halten, geſchweige 
durchſehen oder gar darin leſen kann. 


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Deutſcher Buch⸗ und Steindruder, Juli 1921 


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Die Leihe 


Eine myfteriófe Geſchichte von BLANKENHORN, Altenburg 


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Im Setzerraume war gedrückte Stimmung, |фоп früh⸗ 
morgens, als die Arbeit beginnen ſollte. Der Faktor lief umher 
und ſagte jedem einzelnen einen Morgengruß. Derartige Grüße 
waren vor Jahren und ſind ſelbſt heutigestags noch eine eigene 
Sache. Man kann ganz ruhig an Heringe denken, an ge⸗ 
ſalzene. Hier hing es zuſammen mit dem am Tage vorher geüb- 
ten eifrigen Bemühen {ай ſämtlicher Inſaſſen des Referve- 
ſetzerſälchens, den Montag ſeiner Würde als Arbeitstag zu ent⸗ 
kleiden und ihm dieſelbe feuchte Amrahmung zu geben wie dem 
Sonntag. Der Anſicht, daß die Schriftkäſten, die am Montage 
nicht leergeſetzt werden, Speck und Vorteil für den Dienstag 
ſeien, dieſer beweiskräftigen Idee eines Setzerhirns ſchloß ſich 
der Faktor nicht an. Überhaupt der! Jetzt, bei feiner Herings- 
Polonaiſe durch das Sälchen, drohte er mit Aufſtellung von Setz ⸗ 
maſchinen, ſtellte ſogar ein Trinkverbot in Ausſicht und ſagte 
etlichen Metteuren, daß die Autoren nach Korrekturen geſchrie⸗ 
ben hätten, alſo von dem und jenem Werke heute unbedingt wie⸗ 
der ein Bogen fortmüſſe. And weg war er. 

„Ob mein Autor ebenfalls ſchrieb, Vis?“ fragte der lange 
Alfons ſein Gegenüber. „Ich ſetze Fauſt von Goethe.“ 

Vis lachte: „Der Goethe wird ſich hüten, zu ſchreiben. Mein 
noch lebender Verfaſſer mit ſeiner Stecknadelſchrift ebenfalls. 
Eine geſchriebene Zeile gibt acht gedruckte! Sapperlot! Grie⸗ 
chiſch und halbfett und gefeilte Akzente — — hat ſich was mit 


dem Bogenſchicken.“ 
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• DIE LEICHE * 


„And dann das Trinkverbot!“ fing Alfons wieder an. „Der 
Fax ſcheint wirklich nicht zu wiſſen, was das bedeutet — — für 
manch einen den Tod. And heute, da mein Geburtstag iſt, da 
gerade foll ein Trinkverbot unterwegs fein — — Junge, Junge!“ 
— Eine Flaſche kam hoch. — „Erft die noch, dann kanns Ab- 
ſtinenzeln losgehn. Was, Kinder?“ Was die Flaſche enthielt, 
war mehr Wein als Sprit. 

Sechs Mann ſagten dem Schwerenöter ſofort rundheraus, 
daß ſie nicht wieder mitmachten. So viele Geburtstage wie er 
habe, hätte nicht mal die ſtärkſte Familie aufzuweiſen. Der 
kategoriſche Imperativ laute heute: Gratuliere dir ſelbſt! und 
ſchlürfe allein! Es dauerte nicht lange, und die Setzlinien 
glühten, der Verführer war iſoliert und gezwungen, den guten 
Beiſpielen zu folgen. Alle Mann ſchienen dem Fax beweiſen 
zu wollen, daß Setzmaſchinen das überflüſſigſte Möbel von der 
Welt ſind, daß man für Dienstag, Mittwoch und Donnerstag 
eventuell ein Trinkverbot zu ſchlucken verſuchen könne und et⸗ 
welche Autoren ihre gewünſchten Bogen kriegen würden, 
vorausgeſetzt, daß nicht alles ein Schreckſchuß war und dem Trieb 
zum Textleſen entſprang. 

Standhaft bewahrten alle ihre abwehrende Haltung, und der 
Geburtstäger allein maß an leerer werdender Flaſche ſeine 
Leiſtungsfähigkeit; widerlegte die Theſe, die da behauptet, daß 
es einen leeren Raum nicht gäbe: ſeine Flaſche hatte am ſpäten 
Nachmittage nur leeren Raum. Alfons ſelber war das Gegen⸗ 
teil von leer und ließ ſich in einer Ecke nieder. Goethe konnte 
ſehen, wo er den fälligen Bogen herkriegte. 

„Der Lange ſitzt lädiert auf der Zeugkiſte“, fignaliſierte 
einer, und es echote: „Nicht auf, ſondern hinein in die Zeug⸗ 
kiſte gehört er.“ Alfons erhob ſich, ſah nach ſeinem Beleidiger 
und wollte zu ihm, faßte falſchen Tritt und kam zu Falle. Seine 
Größe ward ſein Verhängnis. Ein kleiner Kerl wäre ſchneller 


106 2229 


* DIE LEICHE + 


am Boden gewefen als unfer Held, ber hatte einen größeren 
Bogen in der Luft zu beſchreiben, ſtationierte infolgedeflen mit 
der Stirn an einer Setzkaſtenecke und kam dann unten an. Lag da. 
Ohnmacht umfing ihn. Alfons war weg. Die Schriftſetzer 
ſahen jetzt erſt, wie lang ihr Kollege eigentlich war. Arme und 
Beine ausgebreitet, füllte ſeine Geſtalt das Parkett der ganzen 
Gaſſe. And auf der Stirn, unter der ſonſt hohe Gedanken zu 
thronen pflegten, wuchs zuſehends ein Horn, kein blankes, ſon⸗ 
dern ein braunblaugrünes, das ihm auch nicht gerade übel zu 
Geſichte ſtand. 

Die bekannte außerberufliche Vielſeitigkeit der Typographen 
trat nun in die Erſcheinung: ein ehemaliger ſogenannter 
Pflaſterkaſten der deutſchen Heeresmacht taſtete neunzehn 
Stellen am Körper des Daliegenden ab und ſtellte mit Sicher⸗ 
heit feſt: der Puls ſchlägt nicht mehr, Alfonſos Herz ſteht ſtill! 
Guter Rat war teuer. Ob Betriebsunfall mit Tod oder Schein⸗ 
tod, das war nun die Frage. Auf alle Fälle mußte die Ge⸗ 
ſchäftsleitung benachrichtigt werden, ſie hatte das Hausrecht, 
hatte zu entſcheiden, was mit dem Toten oder Verunglückten 
zu geſchehen habe. Den Kollegen ging die heutige Sache nichts 
an, Alfons hatte für ſich geſpielt, was der Fax allerdings nicht 
wiſſen konnte. Der war heute nur einmal in der kleinen arbeits- 
freudigen Abteilung geweſen. Jetzt kam er, ſah, ſchnupperte nur 
und ging wieder. Hatte er etwa das ganze Reiten in Verdacht? 

Eine wie leblos am Boden liegende Geſtalt erregt ſtets Mit⸗ 
leid und Bedauern. Ohne langes Überlegen ſchickte der Druckerei - 
leiter, nachdem er das Malheur beguckte, nach dem nächſten 
Arzt und nach der polizeilichen Krankentragbahre, behufs Trans⸗ 
ports nach der Wohnung oder ſonſtwohin. Der Arzt war bald 
zur Stelle und unterſuchte, war aber furchtbar ſchnell fertig. 
Kaum gekommen, ging er bereits wieder und meinte: „Kommen 
Sie ihrem Kollegen nur ja nicht mit einem brennenden Streich⸗ 


Cy 107 22% 


• DIE LEICHE • 


holz zu nahe, fonft explodiert er nämlich.“ Das war kurz, bündig 
und vielſagend, löſte aber in etwas die Spannung, die über 
allen Anweſenden, inkluſive dem Toten, lag. Der ſogar ſchlug 
die Auglein auf — Alfons ſchielte jetzt mit dem rechten Auge 
in die linke Weſtentaſche — und verlangte mit zerbrochener 
Stimme eine — — Priſe. Sechs Schmupftabaksdoſen ſchweb⸗ 
ten ſtrahlenförmig über ſeinem Haupte. And bald ſaß er wieder 
auf der Zeugkiſte und hörte von ſeiner Himmelfahrt in den 
Hundstagen. Tot war er nicht, wie Figura zeigte, allerdings, 
geſchwächt kam er ſich vor, und hundert Brände hatte er im 
Leibe. Dieſe dämpfte der Pflaſterkaſten, der wieder den Arzt- 
Stellvertreter markierte, mit etlichen Kännchen friſchen, klaren 
Brunnenwaſſers und machte auch mit Alfons Gehverſuche, die 
erſten nach langer, banger Stunde. 

In dieſe geordnete Situation brachte die Nachricht, daß der 
Krankenkorb da ſei, neue Verwirrung. Alfons lehnte ab, ein⸗ 
zuſteigen. Wer den Korb beſtellt habe, ſolle nur ſich neinlegen, 
er tue es auf keinen Fall, gehe per pedes apoftolorum. Nie habe 
das Geſchäft ihn von der Arbeit heimtragen laſſen, warum ge⸗ 
rade heute, wo alles ſo gut gegangen?! Ein neuer Schwäche⸗ 
anfall machte ihn gefügig, und in verſchleiertem Polkatritt, eine 
Stütze hüben und eine drüben, führte man den Totgeglaubten, 
angetan mit Setzerkittel und Pantöffelchen an den Beinen, die 
Treppe hinab an die Haustüre, der Halteſtelle für Krankenkörbe. 
Zwei handfeſte Dienſtmänner als Träger boten Gewähr dafür, 
Alfons gut und ſicher zu befördern und mit ſtarken Armen der 
Schlummermutter unverſehrt an die Bruſt zu legen. 

Neugierige umſtanden den Korb, auch ein Mann in dunkelm 
Anzug, einen ſchäbigen Zylinder auf dem Kopfe. Es war die 
ſtadtbekannte Perſönlichkeit des ſtädtiſchen Leichenbitters, den 
ſein Weg zufällig vorüberführte. Er ragte hier nicht gerade an⸗ 
genehm hervor und war der einzige, den Alfonſos Blick erfaßte. 


PI 108 ~ 2875 


* DIE LEICHE + 


22—— 


Die auf den Treppenabſätzen ſpalierbildenden Druckereiangehö⸗ 
rigen hatte er mit Verachtung geſtraft, was die dachten wußte er; 
für die war und blieb er tot und verſtellte ſich jetzt nur. Alles das 
war zu ertragen, des Leichenbitters Anweſenheit weniger. Nach 
Lage der Sache konnte Alfons annehmen, daß er mit Haut und 
Haaren, wie er leibte und lebte, in die Leichenkammer kommen 
ſolle. War wirklich alles der Anfang eines regelrechten Leichen- 
begängniſſes mit ihm in der Hauptrolle? Er ward immer munte⸗ 
rer. Nefolut fuhr er auf den nichtsahnenden Mann zu, der das 
Anglück hatte Maulaffen feilzuhalten und doch Leichenbitter zu 
ſein: „Haſte Beene? Kannſte renn'n? Dann ſieh zu, wo du 
deine Leichen herkriegſt, mich erwiſchſte nich!“ und etliche Neu⸗ 
gierige zur Seite drängend, ſauſte er mit der Schnelligkeit eines 
guten Rennpferdes die Straße entlang, wie er war, im Arbeits- 
kittel, und mit Pantoffeln. Wo er die letzteren verloren hatte, 
konnte er nicht ſagen, als er auf leichten Socken ſchweißtriefend 
in ſeiner Wohnung ankam. 

Nach einem erquickenden Schlummer von 48 Stunden war 
Alfons wieder mopsfidel, haute jedoch den Sack, wie die Buch⸗ 
drucker ſagen, ließ an Goethes Fauſt einen anderen weiterſetzen 
und ſchüttelte den Staub des Städtchens von den Pantoffeln 
гејр. den Halbſchuhen; die Pantoffeln waren ja bei der Flucht 
ins Leben flöten gegangen; die Druckerei bezahlte die kalt⸗ 
geſetzten Krankenträger — alles war bon, und die Leiche ſuchte 
ſich eine neue Setzerſtelle, wo ſie nicht Gefahr lief mit 115 Pfund 
Lebendgewicht ſchlecht beſchäftigten Leichenmännern über die 
Saure-Burten-3eit hinweghelfen zu müſſen. Mit einem Wort: 
Alfons ging in Kondition, wo er ſeines Lebens ſicher war. 


C109 AN 


COS TER 
MEDAILLE 
* 


Die Niederländer laffen fich ihren großen Erfinder der 
Buchdruckerkunft, Laurens Coffer, nicht nehmen. Immer 
wieder erſcheinen in ihren Zeitſchriften Aufſätze über delen 
erſten niederländifchen Drucker, und immer neue Urkunden 
werden gefucht, um fein Erftgeburtsreht an der [diwarzen 
Kunft zu beweifen. Ein Goldfchmied in Haarlem hat nun 
eine Cofter-Erinnerungs-Medaille fertiggeftellt zum fünften 
Cofter-Jubiläum. Der Text lautet: Cofters Erfindung in Er- 
innerung gebracht 1923, und auf der anderen Seite fteht 
der hübſche Reim: 


Wanneer ge van een boek geniel, 
Vergeet dan Laurens Coffer niet, 


was man in deutſchen Reimen überjeben könnte: 


BeKommf ein Buch du zu Geficht, 
VergiB den Laurens Coffer nicht. 


Wir würden freilich in unferem Sinne den Namen Cofter 
durch Gutenberg erjeben, ohne dadurch dem níederlán- 
diſchen Erfinder irgendwie zu nahe treten zu wollen. Sh 


PIS 410 „а2% 


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„RUHE SANFT!“ 


Ғіп/ in einem fchönen Stadtel, 

Ob’s in Preußen oder Sachfen, 

Ob es liegt auf anderm Streifen, 
Etwa wo die Trauben wachfen, 

Wo die Leute Кейде greifen, 

Oder wo man Schnaps Kann pfeifen, 
17 egal. — Alfo im Orte 

ófarb ein braver Fleifchermeifter, 

So ein reicher, fchwerer, је тег, 

Wie ihn jede deutfohe Stadt 

Neben fohlanken Typograpfien 
Immer aufzuweifen hat. 

Was bei Lebzeit der nie übte 

Und unmöglich blieb bis jetzt — ` 
Durch fein Scheiden ward die Schwarze 
Kunft in Lohn und Brot gefetzt. 
Seine guten Freunde те еп 

Ihm den Kranz, der ihm gebiifirte, 
Für die Schleife man die beiden 
Worte „Рибе fanft!" erkürte, 
Aufzudrucken auf beiden Seiten 

Von der Kleinfien Druckerei, 

до am Orte dominierte. 

Hufch hufch hufch und eins zwei drei 
Lief der Auftrag die Inffanzen, 


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te Re 113 AN 


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| Fand den Weg zum „Schweizerfäbel“, 

; Der für fowas flets parat 
Und im allergrößten Ganzen 

( Meiftens niemals nich im Nebel 

d Seine fchónffen Taten tat. 

( Und: Der „Säbel“ nahm die Flinte, 
Seine fdinelle Rechte pinnte 

( Zehn Minuten ficherlich; 

1 Schrift und Xeilenfall fludierend, 
Sich ín Träumerei verlierend, 

( Selbfigefállig und zufrieden 

d Er den Henri quatre flrich. 

d Spuckte іп die zünft'gen Hände, 

d Ейбгепа fchließlich an dem Tiegel 

{ ^s gute Werk zum guten Ende. 

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Und was rückte auf der Schleife 
Ins Bereich der Möglichkeiten? 
Konnte es dem [diwarzen Künfller 
Eßrlichen Triumph bereiten? 
Beinah manufkriptgerecht, 

Groß in Blockfchrift war zu lefen, 
Fefilerfrei und farbeecht: 


Ruhe famft 
auf beide Seiten? 


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Neuen Burg vermählte JUNO lacht O LEOPOLD! mr dere Denen 
ver Freud / die Ihr ber SS weil werder lebt der Vatter in dem / 
Venus felbft betbvent Ihr Angeſicht / т tian / werd Groß unb рге m би Joby 
bic Gracien mit Jhr fi ye nicht / geht ме erreiches feb. 
die Svada fcheint vor hr (ай Sprache- loß / Lin gong femer nicht ab, 
die Fama giebt zum . & POPOMD aud) шн Lor bab/ 
in era und ruffet Der сай nach Ihn von Seinem Thron nicht weich / 
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а Qui? der kleine aco purty Ro wachs derPring Dief gico du grofferDet! 
ge па а jen t nnt 


Altes Satzkunſtſtückchen 


ALLERLEI 
ZViEBELFISCHE 


Die ältefte „Druckſchrift“ 


Bel den Ausgrabungen des alten Phaiſtos auf der Inſel Kreta, und zwar 
in den Ruinen des Palaſtes, fand man u. a. eine Tontafel, die fptralfórmig 
mit altkretiſcher Bilderſchrift bedeckt ift. Eine Entzifferung war bisher nicht 
möglich, anſcheinend behandelt fie einen religiöſen Hymnus. Nun fft es aber 
bei genauer Unterſuchung ſehr aufgefallen, daß die einzelnen Bilderzeichen in 
ihrer Form und Größe fo genau übereinſtimmen, daß ће unbedingt mit Stempeln 
in den noch weichen Ton eingedrückt worden WA müffen. Man muß Dazu 
über hundert verfdfedene , Srudtppen" gehabt haben. Es wäre das alfo das 
bisher áltefte und einzige Monument einer, Druckſchriſt“ aus vorgeſchichtlicher Zeit. 


ж 
Eine foftbare Landkarte 


Der Zar von Rußland ſchenkte fie 1907 der franzöſiſchen Republik. Ihr 
Wert wurde auf 5 Millionen Mark geſchätzt. on poliertem Jaſpisgrund 
heben ſich die 87 franzöſiſchen Departements in ebenſo vielen Edelſteinfarben 
ab, die größeren Städte ſind durch die koſtbarſten Steine markiert, wie Paris 
durch einen großen Rubin, Lille durch einen Diamanten, Havre durch einen 
Smaragd, Rouen durch einen Saphir. 


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Van Dycks Viſitenkarte 


Van Dyck тее nach Harlem, um Franz Hals, den er febr bewunderte, 
kennenzulernen. Da Gei fidh aber den ganzen Tag über in Kneipen 
herumtrieb, ſo konnte er ihn nicht zu Geſicht bekommen, ließ ihm aber ſagen, 
ein Fremder ſei nach Harlem gekommen, um ſich von ihm malen zu laſſen, 
er werde zu einer beſtimmten Stunde bei ihm erſcheinen. Zu der angegebenen 
Zeit war Hals auch wirklich zu Hauſe, und der Fremde erbat nun ſein Bildnis, 
da er aber ſofort wieder abreiſen wollte, müſſe es in 2 Stunden fertig ſein. 
Wirklich war das Porträt auch in dieſer Zeit fertig. Nun erklärte der Fremde, 
das Malen müſſe doch etwas ſehr Leichtes ſein, und er wolle nun ſeinerſeits 
Hals malen. Hals lächelte dazu verächtlich. Aber als das Bild fertig war, 
rief er ganz unwillkürlich voller Begeiſterung aus: „Ihr müßt van Dyck 
fein!” und die beiden Meiſter umarmten ſich als Freunde. 


C116 wd 


+ ALLERLEI ZWIEBELFISCHE + 


— 


Vom Baumſtamm zur Zeitung in dreieinhalb Stunden 


Um feſtzuſtellen, wieviel Zeit nötig iſt, um einen Baumſtamm in eine 
Zeitung zu verwandeln, hat der Beſitzer einer Harzer Papierfabrik einen in⸗ 
tereſſanten Verſuch ausgeführt. Wie in der Zeitſchrift „Der Papierfabrikant“ 
erzählt wird, ließ er um 7.35 Uhr früh in dem in der Nähe ſeiner Fabrik 
gelegenen Walde drei Bäume fällen, die nach Abſchälung der Rinde ſofort 
in die оо Заб gebracht wurden. Die drei Holzſtämme wurden dann 
ſo ſchnell in flüſſige Holzmaſſe verwandelt, daß bereits um 9.39 Uhr die erſte 
Rolle Drudpapter die Maſchine verlaſſen konnte. Seit dem Fällen des 
Baumes waren alfo bis zur Fertigſtellung des Papieres nur 2 Stunden 
4 Minuten verfloſſen. Die Rolle Papier wurde im Auto nach der 4 Kilo- 
meter entfernten Druckerei einer Tageszeitung geſchafft und dort ſofort mit dem 
Druck begonnen. Um 11 Uhr vormittags konnte die aus dieſem Papier her⸗ 
geſtellte Zeitung bereits auf der Straße verkauft werden. Es hatte alſo nur 
eines Zeitraumes von 3 Stunden 25 Minuten bedurft, um die neueſten Nach⸗ 
richten auf einem рене aus den Bäumen vorzulegen, auf Deren Zweigen 
nod) am Morgen die Vögel ihre Lieder geſungen hatten. 


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Die Vogelfeder als Schreibinſtrument 


Die erſten Spuren des Gebrauchs von Vogelktelen zu Schreibzwecken 
ée fi, wie wir im „Kosmos lefen, in Spanien, vielleicht auf доб фет 
oben und bei den иде афјеп, Das Па фе Altertum ſchrieb mit hartem 
Griffel in Wachs, oder es wurden, wie heute nod) im Orient, flüffige Farb⸗ 
ſtoffe durch ein Rohr auf den Untergrund aufgetragen. Um 650 n. Chr. 
werden zum erſten Male Federn von Pelikanen und Gänſen als Schreibin⸗ 
ſtrumente erwähnt, nebenbei waren auch Adler⸗, Raben⸗ und Krähenfedern im 
Gebrauch, aber über allem triumphierte ſchließlich doch die Gänſefeder, die 
auch nach dem Aufkommen der Stahlfeder nicht ſogleich verſchwand. So hat 
3. B. Alexander Dumas Sohn nie anders als mit Gänſefedern geſchrieben, 
immer hatte er ein ganzes Paket auf ſeinem 5 liegen. Auch der 
deutſche Naturforſcher Hermann Maſius, der 1893 ſtarb, konnte ſich mit der 
„glitzernden Stahlfeder“ nicht id RAE ihm war ſie nur ein an der zahmen 
Gans verübtes Plagiat, eine fabrikmäßige Kopie ohne Seele. 
ж 


Bücher als Heizmaterial 


Aus Petersburg gelangte nach Finnland eine Nachricht, wonach auf den 
Straßen Petersburgs Bücher aus Privatbibliotheken in großem Maße (ей 
geboten werden, aber nicht um das Bildungs bedürfnis der Waffen zu befriedigen, 
ſondern um als Hefgmaterfal zu dienen, da Holz nicht mehr zu haben (ft und 
Kohlen ſchon lange nicht mehr nach Petersburg gebracht werden. 


Ra 117 AN 


• ALLERLEI ZWIEBELFISCHE • 


Yunger-Briefmarten 


Die Gowfetregterung hat 1922 zur Propaganda der Sammlungen für 
die ruffifhe Hungersnot Briefmarken ausgegeben, die auf Ме. Hungersnot 
Bezug nehmen. Die Marken, die von Künſtlern entworfen ſind, zeigen ver⸗ 
ſchledene Bilder, eine шей eine Menge von hungrigen Flüchtlingen auf, die 
in den verſchledenen Zuſtänden der Ermattung an einem Fluſſe liegen, eine 
andere Marke ſtellt einen Helfer des Roten Kreuzes dar, der einen Ver⸗ 
ungernden unterſtützt. Von dieſen ruſſiſchen Hungermarken find vier verſchledene 
rten in Rot, Braun, Grün und Blau ausgegeben. Die Zeichnungen ent⸗ 
Ba aud die Initialen der Sowſetrepublik, das Datum 1921 und eine 
nſchrift in ruſſiſchen Buchſtaben, die bedeutet „Für die Verhungernden“. 
Ahnliche Hunger⸗ Briefmarken wurden in China vom Dezember 1920 bis zum 
November 1921 ausgegeben zugunſten der Sammlung für die Hungersnöte 
in Nordchina. Auch in Ungarn und Oſterreich ſind ſolche Hunger⸗Briefmarken 
im letzten Jahre gedruckt worden. 


ж 


Bücher fo viel wie Sterne am Himmel 


Die Fugger hatten unter ihren glorreichen Ahnen auch erfolgreiche Bücher⸗ 
ſammler und Bibliophilen. Zu ihnen gehört Ulrich Fugger, der 1558 zu Augsburg 
ur Förderung der Literatur eine eigene Druckerei gründete. Von ihm hieß es, 
ſeine Bibliothek habe ſo viel Bücher, wie der Himmel Sterne. Er gab ſo viel 
Geld für Bücher aus, daß ihn ſeine Familie unter Kuratel ſtellen ließ. Nach 
einem Tode wanderte ein großer Teil ſeiner Bücherſchätze in die Heidelberger 
ibliothek. Ein anderer, wahrlich nicht minder les Teil der Gamm- 
lungen des Hauſes Fugger gelangte 1656 für die febr beſcheidene Summe 
von 15000 Gulden in den Beſitz des Kaiſers Ferdinand III., der ihn auf 
dem Waſſerwege nach Wien befördern und fodann in der Hofbibliothek (jest 
Nattonalbibliothek) aufſtellen ließ. Es waren zum großen Teil Sammelbände 
von Handſchriften, die ungefähr 35000, meiſt eng beſchriebene Seiten um⸗ 
кабет und іп dem derzeitigen Kataloge unter der Bandzahl 8949 8975 
gurieren. 


* 


Eine Zeitung дес Bettler 


Das eigentümlichſte „Fachblatt“ der Welt dürfte bte Giel der Bettler” 
fein, die in Paris erſcheint. Sie bringt eine reichhaltige Lifte aller Hochzeiten, 
Kindtaufen und Beerdigungen, die im Laufe der Woche in den Kirchen der 
Stadt vor ſich gehen, wo die Bettler auf eine gute Ernte rechnen können. 
Weiter teilt das Blatt Adreſſen wohltätiger Leute, ihre Empfangszeit und 
andere zum „Fach“ gehörige Dinge mit. 


Cy 118 ~ два 


• ALLERLEI ZWIEBELFISCHE + 


Die ältefte Schreibfeder 


Unter den Funden der neueſten Ausgrabungen an der Stätte der alt⸗ 
babyloniſchen Stadt Kiſch befindet ſich ein großer Schatz: nämlich das ältefte 

uns bekannte Schreibwerkzeug. Der Leiter der Grabungen, Prof. Langdon 
hat hier, wie er in der „Times mitteilt, einen Griffel gefunden, mit dem die 
Keilſchrift niedergeſchrieben wurde. Vergeblich haben bisher die Gelehrten 
verſucht, dieſes Werkzeug zu refonftruferen, und haben dabei die 9 
artigſten Anſchauungen geäußert. Der Griffel aber hat nichts mit dieſen kom⸗ 
plfaterten Rekonſtruktionen zu tun, ſondern er ift das denkbar einfachſte Bert: 
zeug, ein 6 Zoll langes Knochenſtück mit einem dreieckigen Mittelteil und 
augefpisten Enden. Langdon war es mit Hilfe dieſes Schreibgriffels bald 
möglich, Buchſtaben der Keilſchrift ganz leicht und raſch auf Tontäfelchen zu 


ſchreiben. К 


Eine wiedergefundene alte deutſche Druckſchrift 


Die FSleifhmann- Antiqua, die ſchöne Druckſchrift, die Johann Michael 
Fleiſchmann 1738 für die eeng Drucker Enfhede geſchnitten hat, war 
bisher ein einzigartiger Ruhmestitel der berühmten Harlemer Druckerei. Nun⸗ 
mehr aber find, wie in der neuen, mit der Monatsſchrift „Fauſt“ zuſammen 
erſcheinenden Zeitſchrift „Das Sammlerkabinett“ mitgeteilt wird, in einer alten 
Druckerei zu Nürnberg, der Heimatſtadt Fleiſchmanns, kupferne Originalmatrizen 
dieſer berühmten Druckſchrift aufgefunden worden, und ſogar in einigen Graden, 
die Enſchedé nicht beſitzt. Es beſteht alfo fegt die erfreuliche Tatſache, daß 
die Fleiſchmann⸗ Antiqua nicht mehr ein Monopol von Enſchedé iſt, ſondern 
ſich auch in deutſchen Händen befindet, und zwar in einer größeren Vielſeitig⸗ 
keit von Graden, die ihre Verwendung faſt unbegrenzt machen. Als erſtes 
Werk in Мејет neuentdeckten Antiqua wird von Jakob Hegner in Hellerau 
eine Großoktav⸗Ausgabe von Hofmannsthals „Großem Salzburger Welt⸗ 
theater gedruckt. x 


Der koſtbare Kleiſtertopf 


Eines der koſtbarſten altorientaliſchen Hedwigsgläſer ſtand lange Zeit bet 
einem Hildesheimer Buchbinder als Kleiſtertopf. Prof. Pazaurek.) 


ж 


113 Neger⸗Zeitungen 


In den Vereinigten Staaten gibt еб 113 Zeitungen und 14 Zeitſchriften 
die von Negern herausgegeben und redigiert werden. Darunter befinden fid 
23 religtöfe Oe [onte der Reft ift weltlichen Charakters. 63 dieſer Vers 
lagsunternehmen haben ihre eigene Druckerei. 


As 119 ad 


• ALLERLEI ZWIEBELFISCHE • 


Die größte Buchauflage 


Die a Auflage aller Bücher der Erde hat der chineſiſche Almanach, 
der, mit illionen Exemplaren jährlich, in der chineſiſchen Staatsdruckerei 
zu Peking gedruckt wird. Alles, was in dieſem Buche ſteht, wird von den 
Einwohnern des Reiches mit Andacht als unumſtößlich wahr dahingenommen, 
und der Almanach genießt ein ſolches Anſehen, daß feine Riefenauflage ſtets 
ausverkauft iſt. 


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Die letzte Zeitung der Welt 


Eine eigenartige Zeitung, von der nur 24 Exemplare vorhanden ſind, 
wurde kürzlich der Bibliothek des Londoner Preſſeklubs einverleibt. Ein 
Miffionar in Schanghai hatte vorausgeſagt, daß am 23. September des vers 
gangenen Jahres um 12 Uhr mittags die Welt untergehen werde. Daraufhin 
brachte ein Schanghater Blatt eine beſondere Weltuntergangs⸗Ausgabe heraus, 
die den kühnen Titel „der fünfte Reiter“ führt, auf die vier apokalytiſchen 
Reiter anfpielend, und ſich als die „letzte Zeitung der Welt“ bezeichnet. Die 
Ausgabe enthält nur Nachrichten. Bilder und Karten, die ſich mit dem Ende 
der Welt beſchäftigen und verkündet in einer redaktionellen Mitteilung, daß 
die nächſte Nummer „im Himmel auf Asbeſt gedruckt werden wird“. Der 
Wetterbericht fagt „ſtarke Erwärmung“ voraus, und eine bekannte Firma, die 
fondenfierte Milch vertreibt, zeigt an, daß fie demnächſt Läden an der Milch⸗ 
ſtraße errichten werde. Nachdem 24 Stück von dieſer Sonderausgabe gedruckt 
waren, hielten die Maſchinen plötzlich an. Es bleibt dahingeſtellt, ob die 
chineſiſchen Drucker aus Furcht, daß der Weltuntergang beginne, aufhörten 
oder ein anderer Grund vorlag. Jedenfalls hat der „fünfte Reiter“ dadurch 
einen großen Seltenheitswert erlangt, und das Exemplar des Londoner Preſſe⸗ 
klubs dürfte das einzige ſein, das bisher nach Europa gekommen iſt. 


ж 


Der „Erfinder des mathematiſchen Satzes 


Der Ende der ſiebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts verſtorbene Setzer 
Bailleul wurde als Begründer des mathematiſchen Satzes von der franzöſiſchen 
Regierung durch Verleihung des Ritterordens der Ehrenleglon ausgezeichnet. 
Er zählte zu den franzöſiſchen Freunden Theodor Goebels. 


ж 


Auch eine Wertſchätzung des gedruckten Buches 


«Federigo von Urbino äußerte, als der Buchdruck bereits im Schwunge 
war, er würde ſich ſchämen, ein gedrucktes Buch zu beſitzen.“ | 


Ar 120 AA 


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„ ALLERLEI ZWIEBELFISCHE = 


— 


Eine Briefkurioſität 


Eine penal Kurioſität ftellt ein Brief dar, der bei unſerer Geſchäſts⸗ 
ſtelle einging. er Abſender hatte wahrſcheinlich nicht die zur Frankierung 
erforderlichen hohen Werte an Briefmarken zur Hand, weshalb er den Brief 
mit Tauſendmark⸗Marken beklebte. Für die 75000 einzelnen Marken reichte 
aber der Umſchlag bei weitem nicht aus und ſo half ſich der Schreiber des 
Briefes dadurch, daß er einen Markenbogen einfach an den Umſchlag anklebte. 
Der Brief muß von der Poſt ſehr pfleglich behandelt worden ſein, denn er 
traf mit dem furfofen Markenanhängſel unverſehrt ein. 


— . —2———— • 


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Belohnte Buchlektüre 


Kürzlich fand ein Engländer in einer alten Ausgabe von „Paul und 
Virginie“, unter dem Buchdeckel verſteckt, einen anſehnlichen Betrag іп Bant- 
noten mit einer Notiz, die dem Beſitzer des Buches das Geld als Geſchenk 
überwies. Ein Londoner Blatt erinnert an einen ähnlichen Fall, der ſich vor 
mehreren Jahren in Paris ereignete. Dort hatte ein junger Bücherliebhaber 
bei einem fliegenden Buchhändler an der Seine einen Band Gedichte eines 
wenig bekannten Verfaſſers erſtanden. Als er zu Hauſe das Buch durch⸗ 
blätterte, ſtieß er am Schluſſe auf zwei leicht zuſammengeklebte Seiten. Als 
er fie löſte, fand er zwei Tauſendfrancſcheine mit einem Briefchen folgenden 
Inhalts: „Freund, wer Du auch immer ſeiſt, wenn Du das Buch bis zum 
Schluſſe geleſen haſt, ſo betrachte das Geld, das ich hier beiſchließe, als Dein 
Eigentum. Es ift der Ertrag meiner fünfzigjährigen Arbeit, und ich wüͤnſche 
Dir, daß Dir die Muſen günſtiger ſein mögen, als ſie mir geweſen ſind. 


* 


Das falſche Gebetbuch 


Die ehemalige Königin von Sachſen, Madame Toselli-Montignoso, hatte 
ſich Goethes Fauſt in einen mit einem großen Goldkreuz verſehenen Einband 
binden laffen, um leichter über manche Andachtsſtunde, die die höfiſche Etikette 
forderte, hin wegzukommen. 

ж 


Was bedeutet das Wort „Gazette“? 


Im 16. Jahrhundert ſtand in Venedig das Zeitungsweſen in hoher Blüte. 
An öffentlichen Plätzen wurden jedermann gegen Zahlung einer Scheidemünze 
(„gazeta“) geſchriebene Neuigkeiten und Nachrichten der Regierung zugaͤngig 


gemacht. 
121 AN 


« ALLERLEI ZWIEBELFISCHE + 


— hg, gh, lh, N Nat 


Dichterlohn aus der Zeit der Inflation 


Der Pfaͤlzerwaldverein Gönnheim⸗Friedelsheim hat einem bekannten 
pfälziſchen Mundart⸗Poeten als Honorar für deſſen Mitwirkung an einem 
Familienabend Қай der üblichen Geldentſchädigung einen anſehnlichen Korb 
mit „Hausgemachten“, Handkäſen, „felbftgelegten” Bauerneiern und Flaſchen⸗ 
wein mit launigen Verſen feierlich überreicht. Der Dichter hatte nämlich auf 
das zn um Mitwirkung ín ſcherzhafter Weiſe u. a. geantwortet: „Natürlich 
gegen bares Geld geh' ich ſetzt nicht mehr über Feld, ich komme daher nur 
gefahren, wenn ihr mich honoriert in Waren. Vor allem würd'“ ich nicht vere 
achten im Tauſch die Pfälzer „Hausgemachten“. Dann nehme ich an Eurer 
Feier auch ſelbſtgelegte Bauernefer, und Pfälzer Handkäs „durch“ und fein, 
und ſchließlich auch noch Flaſchenwein. Bloß ganze Schinken nehm ich nicht, 
ich bin kein Freund von Schwergewicht. Warum? als Vater von acht Köpfen 
fig’ ich nicht gern vor leeren Töpfen. Bei dieſer Honorierungs form ſpart der 
Vereinskaſſier enorm.” 


ж 


Eine Bücherfabrik 


Als Cosimi Medici ek eine Bibliothek anlegen wollte, arbeiteten 
45 scrittori (Жор еп und Lohnſchreiber) für ihn und lieferten іп 22 Monaten 
200 Bände. 

ж 


Cine Zeitungsnummer von 192 Seiten 


„New Vork Times“ hat vor Jahresfriſt die umfangreichſte Nummer heraus⸗ 
gebracht, die jemals durch die Rotations maſchinen beider Hemifphären gelaufen 
iſt. Die Nummer, die eine wahre Enzyklopädie darſtellt, gliedert ſich in 
12 Abteilungen, die 192 Seiten großen amerifantiden Zeitungsformats um⸗ 
faſſen. Sie tft in einer Auflage von 565000 Exemplaren erſchienen, die ing- 
geſamt 875 Tonnen, d. h. 1754000 amerikaniſche Pfund wiegen. 561 Spalten 
find Meldungen, Berichten und Aufſätzen gewidmet, während der Reit von 
262 Spalten auf Anzeigen entfällt. 


* 
Ein Verierbud 
Im Wiener Hofmuſeum befindet fid) eine Buchbinderkurtoſität in Geſtalt 


eines auf 5=fahe Weiſe zu öffnenden Berterbuded aus dem Jahre 1582. Es 
enthält u. a. ein Tricktrackſpiel, ein Kartenſpiel, ein Notiz- und Liederbüchlein. 


PI 122 AN 


— — — — — | 


Snhaltsiberfidt 


Heinrich Quentell. Von а Profeſſor Dr. Albert Schramm, SE 
Leipzig DLE 5 
Der vertaufhte Sudeinband . . . . . . 10 
Von Büchern in Menſchenhaut gebunden und Anderen furtofen Einband- 
ftoffen. Von Rudolf Engel-Hardt, Leipzig 13 
Legende gegen das Bücher verleihen Я 8 17 
Das Buch der Wahrheit. Eine nn Geschichte von Annie ene 
дата. . . . ; д у 20 
зе фе Sharten-Sturtofitáten . бл, жой Чё ЧОЛУ Ae 33 
Bücher nach йар . . . . LESA 36 
Heinrich Vogeler. Bon P. H. Schulthes Жы 39 
„Paſſauer Zettel.“ Eine hiſtoriſche Erzählung aus der freien Reichsſtadt 
Nürnberg. Von Rudolf Engel⸗Hardt, Leipzig. . . . . . . 45 
Das Bapterdorf . . . А ——— om 61 
Ehodowtedis Totentanz. Bon Dr. 9. H. Bockwitz, Leipzig 65 
Der „brofchterte” Meiſter vom Kleiſtertoa f 72 
Die geheimnisvolle Bibliothek. Von Rudolf . Leipzig 73 
Das typographiſche Urmaß 96 
Das Gipfelbuch. Ein Erlebnis und ein Se Von Dr. 9 v. Sen 
Heilbronn a. NW. Ба $t Я . 97 
Die kleinſten Bücher . 104 
Die „Leiche. Cine mpftertófe Geſchichte. Von M. Sept. Altenburg 105 
Coſter⸗Medallle e Ж А 110 
„Ruhe ſanft!“ Von M. Blankenhorn, Altenburg 4 113 
Allerlei Zwiebelſiſche. 116 


Die ältefte „Druckſchrift“ ~ Eine koſtbare Landkarte — Dan Dede Diftentarte - 
Vom Baumſtamm zur Zeitung in dreieinhalb Stunden ~ Die Vogelfeder als 
Schreib inſtrument ~ Bücher als Helzmaterial — Hunger⸗ Briefmarken — Bader 
fovtel wie Sterne am Himmel ~ Eine Zeitung der Bettler ~ Die áltefte Schreib⸗ 
feder ~ Eine wiedergefundene alte deutſche Druckſchrift — Der koſtbare Kleiſter⸗ 
topf ~ 113 Neger⸗Zeitungen — Die größte Buchauflage — Die letzte Zeitung 
der Welt — Der „Erfinder” des mathematiſchen Satzes — Auch eine Wertſchätzung 
des gedruckten Buches — Eine VBeiefturiofitdt — Belohnte Buchlektüre — Das 
Габе Gebetbuch — Was bedeutet das Wort „Gazette“? Dichterlohn aus der 
Zeit der Inflation — Eine Bücherfabrik — Eine Zeitungsnummer von 192 Seiten — 


Ein Фересбиф. 
Cy 123 N 


ӘЛМММНҢНҢНҢЙН МФ ФМ ММРРРУМ ММ Ф PRESSE php · .* · 


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++. 


SAMMLUNG 
HARMONIE UND SCHÖNHEIT 
IM DRUCKWERK 


Die Werke diefer Sammlung bezwed:en, um mit dem Verfafler der nach- 
genannten Bücher zu reden: Erkenntnis des Schönen im Druckwerk und 
Fixierung feiner Gefebmäßigkeiten zu brauchbaren Normen 


Erfter Band: 
RUDOLF ENGEL-HARDT 


DER GOLDENE SCHNITT 
IM BUCHGEWERBE 


Eine buchgewerbliche Harmonielehre für Buchdrucker, Buchgewerbler 
und Fachlehrer. Zirka 320 Seiten Text mit etwa 300 fchwarzen und 11 far- 
bigen Abbildungen auf 50 Tafeln und einem Anhang buchgewerblicher Ar- 
beiten. Das Werk ift forgfältig ausgeftattet und auf gute Papiere gedruckt. 


Preis des gebundenen Exemplares GM. 12,—, brofch. GM. 10,— 


Zweiter Band: 


RUDOLF ENGEL-HARDT 


DER FARBENREIZ IM 
DRUCKWERK 


Zugleich Verfuch einer Syftematik der Farbenharmonie und der Werbe- 

kraft der Farben. Ein Ratgeber für Buchkünfller und Graphiker, Buh- 

drucker und Werbefadileute, Zeichner und Entwerfer, Lithographen und 

Steindrucker, Buchbinder, Fachlehrer und alle, die im graphifchen Gewerbe 

farbig {chaffen. Mit zahlreichen Abbildungen und Figuren im Text und 
19 farbenprächtigen Tafeln. 


Neue Auflage in Vorbereitung! 


JULIUS MASER, VERLAGSBUCHHANDLUNG 
LEIPZIG-R. 


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RUDOLF ENGEL-HARDT 


FARBENKLANGEUND 


FARBENHARMONIEN 


EINE 
PRAKTISCHE FARBENHARMONIELEHRE 
FUP DAS GRAPHISCHE GEWERBE 
NEBST 34 TAFELN BUCHGEWERB- 
LICHER ARBEITEN NACH ENT- 
WURFEN DES VERFASSERS 


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Preis Mark 7,50 
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Diefes Mappenwerk mit feinen prachtvollen farbigen Tafeln und 

erklärendem Textteil if? für jeden Висбагисќег, Litfograpfi, Bud- 

gewerbler und Werbefadimann eine Fundgrube der Anregung іп 

farbiger und formaler Hinfldit. Die einmalige Auflage von 500 
Exemplaren dürfte bald vergriffen fein. 


JULIUS MASER, VERLAGSBUCHHANDLUNG 
LEIPZIG-R. 


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PI 125 2025 


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Коса а а АК ЕТЕР А 


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BUCHGEWERBLICHES WISSEN 


Sammlung gewerblih-wiffenfhaftliher Abhandlungen 
VERLAG JULIUS MASER, LEIPZIG-R. 


*999099909009090000900900090000000000090000000000000000009000090000000000000000000 


BAND 1: 
Das Reichspreßgefetz 


Gemeinverftändlich dargeftellt von Dr. jur. Carl Wunderlich, Landgerichtsrat. 


Dieſer kleine Kommentar des Reichspreßgefetes ій entflanden aus einer Reihe 
von Vorträgen, die der Verfaſſer mit Genehmigung des Kgl. Sachfifchen Juftiz- 
minifteriums im Technikum für Buchdrucker in Leipzig gehalten hat. 


Preis des in biegfamen Pappband gebundenen Exemplares ОМ. 9,— 


BAND 2: 
Handbuch zur Vorbereitung auf die 
Meifterprüfung 


Ein Ratgeber für Kalkulation, Buchführung und Geſetzeskunde. Herausgegeben 
von Georg Maler, Direktor des Technikums für Buchdrucker. 

Diefes zurzeit in Neubearbeitung befindliche Werk dürfte wohl als Бейес Vor- 

bereitungsbud für die Meifterprüfung zu bezeichnen fein. Die bisherigen Auf- 

lagen dieſes Werkes waren fehr begehrt. Die neue Ausgage wird wefentlich 

vervollkommnet und [ich troß eingehender Behandlung des für die Meifter- 

prüfung in Frage kommenden Stoffes durch präzife Schreibweife auszeichnen. 


BAND 3: 
Der Initial 


Herausgegeben von Rudolf Engel-Hardt. Kurzgefaßtes Handbuch der Ent- 
wicklungsgefchichte des Initials und der Techniken feiner Herftellung. 
Mit 4 farbigen und 106 ſchwarzen Abbildungen. 


Inhaltsverzeidnis: Einleitung. 1. Worterklärung, Wefen und Zweck des 

Initials. 9. Die Gefchichte des gemalten Initials. 3. Die Technik der Initial- 

Malerei. 4. Die Geídiidite des gedruckten Initials. 5. Die Technik des Initial- 
Druckes. Schlußwort. 


Preis des in biegíamen Pappband gebundenen Exemplares GM. 4,— 
BAND 4: i 
Typographifches Tafchen-Rezeptbuch 


Erprobte und bewährte Vorſchriften, Rezepte und Hinweife für die Praxis 
des Buchdruckers. Bearbeitet von Otto Peitz. 


Nach diefem Bändchen follte jeder praktifch tätige Buchdrucker greifen; es 
wird ihm oft AuffchluB und Rat in tedinijdhen Schwierigkeiten ufw. geben. 
Neue Auflage in Vorbereitung ! 


4 r be E. x. x. x. *. K. l. l. A. . a. & c · l · K. K. · A. &. ĩ· a. a · c c d · l. l k· dededededet 


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BUCHGEWERBLICHES WISSEN 
Sammlung gewerblih-wiffenfchaftliiher Abhandlungen 


VERLAG JULIUS MASER, LEIPZIG-R. 


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BAND 5: 
Der Мајсбтептеџ тег ап der Schnellprejfe 


mit einem Anhang: Die Bogenanleger, von Kurt Peifer, Obermaſchinenmeiſter. 


In ausführlicher Weife behandelt diefes Buch die gefamte Tätigkeit des Majchinen- 

meifters an der Budidruckſchnellpreſſe. Die darin gegebenen Anregungen 

dürften nicht nur dem Lernenden, fondern auch jedem Maſchinenmeiſter fehr 
von Nuten fein. 


Preis des in biegíamen Pappband gebundenen Exemplares GM. 3,— 
BAND 6/7: 


Der Lefirgang des Buchdruckers in Fragen 


und Antworten 


Speziell für Lehrlings- und Gehilfenprüfungen im Buchdruckgewerbe einge- 
richtet, nebft einer Ordnung für die Gehilfenprüfungen. Herausgegeben unter 
Zuftimmung und Mitwirkung des Deutſchen Buchdruckervereins. 


Band 6: Der Scäriftfetzer. Band 7: Der Drucker. 
Gebunden jeder Band GM. 2,50 


BAND 8: 
Das Ausfchießen der Formen 


Technifches Hilfsbuch für Druckereileiter, Faktoren, Mafchinenmeifter und Lehr- 
linge. Von Albert Engelhardt. Neu bearbeitet von Kurt Ре ег. 


Das Werkchen enthält 100 Formen-Schemata und Beifpiele nebft zahlreichen 
techniſchen Winken und Erklärungen. Es erfceint bereits in 9. Auflage und 
ift als zweckmäßigftes Hilfsbuch in jeder Druckerei zu finden. 


Preis ОМ. 3,— 
| BAND 9: 
Der Mafchinenmeifier an der Tiegeldruckprejfe 


Mit 35 Abbildungen im Text und einem Anhang über das Gießen der Walzen. 
3. Auflage. 


Ein Speziallehrbuch über das Arbeiten an der Tiegelprefle in der gleichen vor- 
trefflichen Art wie diejes Werk gibt es nicht. Der gejamte Stoff wurde von 
Obermaſchinenmeiſter Kurt Ре ег neu bearbeitet und ergänzt. 


Preis des in biegſamen Pappband gebundenen Exemplares GM. 3,— 


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BUCHGEWERBLICHES WISSEN 


Sammlung gewerblih-wiffenfhaftliher Abhandlungen 
VERLAG JULIUS MASER, LEIPZIG-R. 


€9€9090090909090900009009000000000000909000060000000000000000900000000000000000000000000€ 


BAND 10: 
Der Korrektor und Revifor 


Eine praktifche Anleitung zum Lefen von Korrekturen und Revifionen für 
Buchdrucker und Buchhändler. Von L. Irmifch. 


Aus dem Inhalt dieſes vortrefflichen Buches ſei folgendes wiedergegeben: 

Einleitung — Perſönlichkeit des Korrektors — Die Korrektur von ARzidenzen — 

Zeitungen — Werken — Korrekturzeihen — Sprachliches — Grammatik — 

Reditídireibung — Technifhes. Dem Buche ift eine zweifarbige Korrekturen- 
tafel zur Erlernung der Korrekturzeichen beigegeben. 


Preis des in biegſamen Pappband gebundenen Exemplares GM. 3,— 
BAND 11: 
Die fchriftliche Anzeigenwerbung 


Mittel und Wege zur Gewinnung von Inferenten. Mit etwa 70 Muftern für 
Infertionsofferten aller Art in neuer Bearbeitung. Von Richard Oefler. 


Preis des in biegſamen Pappband gebundenen Exemplares GM. 3,— 
BAND 12: 


Der Schriftfetzer 


Lehrbuch über die geſammte Tätigkeit in der Seterei. Herausgegeben von 
Alexander Waldow, neu bearbeitet von Otto Peits. 


Mit vielen Abbildungen und Satbeifpielen. 


Das Buch gibt eine leichtverſtändliche Darftellung des geſamten Druckerei- 

betriebes unter befonderer Beriickfichtigung der Seterarbeiten. Die vielen An- 

regungen und nützlichen Winke, die in dem Buche enthalten find, haben 
demſelben in Seberhreifen große Verbreitung verjchafft. 


Neue Auflage in Vorbereitung. 


0100000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 0 


Porto und Verpackung wird extra berednet. 


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Die grapßifche Расфбисфегјиђе 


Julius Máfer, Leipzig 
unterhält ein reichhaltiges Lager fämtlicher graphiſchen Werke, 
Vorlagen, Zeitfchriften ufw. 
Die Beforgung von Fachliteratur wird jederzeit übernommen. 


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* A... .A. otero otto otto РФРӘМФ PPAR 


LUDWIG KOZMA 
DAS SIGNETBUCH 


Druck und Verlag von Isidor Kner 
Gyoma, Ungarn 
ж 
Auslieferung: 
Wilhelm Braumüller & Sohn 
Universitätsbuchhändler 
Wien 1. Graben 21. 
Preis geb. МЕ. 6.— 

— ... ̃ ̃ ̃ .. ̃ —ę-— eee ene 
Der Architekt Ludwig Когта, als Janena A und 
als Schö pfer schöner M ође] auch dem deutschen Publikum 
Беране. betätigt sich seit langer Zeit auch auf dem Gebiete 
der Graphik und die Versuche, welche er zur Wieder- 
erweckung der alten ungarischen typographischen Tradi- 
tıon ım Verein mut der Knerschen Druckerei und Verlags- 
anstalt in Gyoma (Ungarn) machte, erregten in typogra- 
phischen Kreisen Deutschlands grosses Interesse. In den 
langen J ahren, indenenseinunünterbröchener!. rontdienst, 
und dann die nachfolgende Stockung der Bautätigkeit sein 
eigentliches Arbeitsfeld ihm verschloss, blieb die Graphik 
das Gebiet seiner ausschliesslichen Tätigkeit und zeigt 


somit am klarsten die Wege seiner künstlerischen Ent- 
wicklung, welche durch drei mächtige Kräfte geleitet wird. 
Kozma verlebte seine Kindheit in einer Gegend, welche 
der ergiebigste Fundort ungarischer Volkskunst ist, und 
durch die Eindrücke seiner Kindheit bewahrte er ein tiefes 
Interesse und ein echtes Verständnis für diese Volkskunst, 
welche er mit seiner eigenen Kunst organisch verschmelzen 
kann. Die zweite entscheidende Kraft ist sein tiefes und 
wahres Interesse für die Kunst der Vergangenheit; er trıtt 
an sie mit dem Bestreben heran, sie völlig zu verstehen, 
und er sucht ın ihr das Element, das er ın der modernen 
Kunst am meisten vermisst, den grossen Stil, der alle Kul- 
| turerscheinungen einer Epoche einheitlich bestimmt. Die 
dritte gestaltende Kraft ist aber der moderne Geist, der 
Kozmas Persönlichkeit erfüllt. Auch diese kleinen Schöp- 
fungen tragen alle Merkmale seiner so modernen und 
durchaus individuellen Kunst, dabei sind sie aber von einem 
echten typographischen Geist erfüllt, und sie erschöpfen 
alle die Möglichkeiten, welche ihre Technik, der Holz- 
schnitt, bietet, sie entsprechen den Anforderungen, die wir 
an ein modernes Signet stellen, in solchem Masse, dass sie 


an die Seite der besten modernen Signete gestellt werden 


dürfen. Die Einleitung des Buches schrieb der Buchdrucker 
und Verleger Emerich Kner, der langjährige Mitarbeiter 


des Künstlers und die Ausstattung 184 völlig dem inneren, 
künstlerischen W ert der Signete angemessen. 


KNER I., GYOMA 


— — — 


Rudolf Engel-Hardt 


* 


Die Zeugkiſte 
1926 


| Kurtofer Almanach 
für Buchdrucker, Buchgewerbler 
und Buchfreunde 


Verlag Julius Mäſer 
Leipzig 


Alle Rechte, insbeſondere das der Uberſetzung 


Dramatifierung und Derfiímung, vorbehalten 
Copyright 1925 by JULIUS MASER, Leipzig 


4 32 


е 


Berühmte Buchdrucker, ihr Leben 
und Wirken 


IV. 
Aldus Manutius 


Von Profeſſor Dr. Schramm, Leipzig 


Der berühmteſte Buchdrucker Italiens im Ausgang des 
15. Jahrhunderts iſt unſtreitig Aldus Manutius, ja wir dürfen 
wohl ſagen, er ſteht zu ſeiner Zeit überhaupt mit an erſter Stelle 
unter den bedeutenden Buchdruckern aller Länder. 

fiber die Jugend des Aldus Manutius wiſſen wir fo gut 
wie nichts. Es genüge hier die Mitteilung, daß er in Rom latei⸗ 
niſchen Unterricht genoſſen hat, daß er in Ferrara griechiſche 
Studien trieb. Von größter Bedeutung für ſeine Ausbildung 
wurden ſeine Beziehungen zu dem reichen und angeſehenen 
Grafen Johannes Picus von Mirandola. Aus ihnen zog er als 
Lernender großen Gewinn, aber auch ſeine Lehrtätigkeit, die er 
den Söhnen der Schweſter von Picus, der verwitweten Fürſtin 
Catharina von Carpi zugute kommen ließ, hat ihn weſentlich 
gefördert. Nicht nur, daß er ſelbſt, angeregt durch ſeinen Unter⸗ 
richt, grammatiſche Schriften geſchaffen hat, der weſentlichſte 
Gewinn wurde für ihn die Unterſtützung ſeiner Schüler bei der 
Gründung einer Druckerei in Venedig, wohin er im Jahre 1490 
kam. Bald wird er bekannt, bald dringt der Ruf ſeiner hervor⸗ 
ragenden Druckerei über Venedig hinaus, und es dauert auch 
nicht lange, da iſt ſeine Offizin weltberühmt. 

Was Aldus Manutius unter ſeinen Kollegen ſo raſch hervor⸗ 
treten ließ, ſind ſeine in handlichen Größen hergeſtellten Druck⸗ 
werke, die wir heute noch als „Aldinen“ bezeichnen. Nicht nur 
die Handlichkeit dieſer Ausgaben iſt es geweſen, die ihre Be⸗ 
liebtheit erklärlich macht. Es kommt hinzu, daß der gelehrte 
Aldus alles tat, den Text fo ſorgfältig wie möglich wieder⸗ 
zugeben, damit hoben ſich ſeine Ausgaben lateiniſcher und griechi⸗ 
ſcher Klaſſiker in hervorragendem Maße vor allen andern Drucken 


ж ALDUS MANUTIUS ж 


dieſer Schriftfteller heraus. Die vielen textlichen Mängel, die 
den Ausgaben anderer Drucker anhaften, hat er in ſeinen Aus⸗ 
gaben vermieden, und dabei konnte er ſeine kleinen Bändchen 
billig auf den Markt bringen. Er nahm es in jeder Beziehung 
ernſt mit ſeinen Verlagswerken. So iſt es nicht zu verwundern, 
daß fid) bald Gelehrte von Ruf um ihn fcharten und fid) eine 
eigene Akademie bildete, die man kurz „Aldiniſche Akademie“ 
nannte, der wir unter anderem die erſte griechiſche Ariſtoteles⸗ 
Ausgabe verdanken, die in 5 Bänden im Jahre 1498 erſchien. 

Handlich, billig, textlich gut, in der Ausſtattung einfach, 
aber einwandfrei, blieb aber das Hauptſtreben von Aldus Manu⸗ 
tius, dem nicht weniger als 28 ſogenannte Erſtauflagen griechi⸗ 
ſcher und lateiniſcher Klaſſiker zu danken ſind. Für das Format 
Kleinoktav paßten die bisherigen Druckſchriften wenig. So griff 
er zu einer anderen Schrift: Zu der liegenden Kurſive oder 
Schrägſchrift, und hat damit etwas enorm Wichtiges in den 
Buchdruck der Inkunabelzeit hereingebracht. Francesco Raibo⸗ 
lini ſoll die neue Type geſchaffen haben. Sei dem, wie ihm 
wolle, Aldus gebührt das Verdienſt, dieſe außerordentlich wert⸗ 
volle Neuerung bei ſeinen kleinen Klaſſikerausgaben angewandt 
zu haben. 

Und dieſe Aldinen, ſie wurden in geſchmackvollen Einbänden, 
die in eigener Werkſtatt hergeſtellt wurden, auf den Markt ge⸗ 
bracht. So war es kein Wunder, daß ſie bald dem Bücher⸗ 
freund beſonders erſtrebenswert erſchienen. Die Aldinen waren 
bald ſehr geſucht. Beſonders in Deutſchland waren ſie außer⸗ 
ordentlich beliebt, wie wir aus den Briefen von Reuchlin, Udal⸗ 
ricus Zaſius, Mutianus Rufus und anderen wiſſen. Bücher⸗ 
ſammler wie Pirkheimer und Jean Grolier wandten ihnen ihre 
beſondere Aufmerkſamkeit zu. 

Die Tätigkeit von Aldus Manutius geht weit über die In⸗ 
kunabelzeit hinaus. Von 1502 ab tragen ſeine Werke ſein be⸗ 
kanntes Druckerzeichen: einen Anker, umſchlungen von einem 
Delphin, in der Mitte geteilt der Name: Al⸗ dus. Aldus wollte 
darin ſein Streben zum Ausdruck bringen: Schnelles, ВЕК 
Schaffen, dabei aber zögernd, zurückhaltend. 


y 


Buchdrucker іп Venedig А 


War Gebohren itt om a 27447 . 
und Start A. 2727. 


-- 


ж ALDUS MANUTIUS ж 


Wenn man [o die herrlichen Drucke, die jedes Fachmanns 
Entzücken heute noch ſind und beim Bibliophilen immer wieder 
reinſte Freude hervorrufen, überſieht, ſo fällt einem auf, daß 
ſich kein Schmuck, kein Holzſchnitt in all dieſen findet, ſo daß 
man faſt glauben möchte, daß Aldus ſich nur für typographiſch 
einwandfreie Drucke einſetzte. Das Jahr 1499 belehrt uns 
eines Beſſeren. Aldus Manutius überraſchte damals die Welt 
mit einem Werk von ſeltener Schönheit, das auch heute noch zu 
den größten Druckkoſtbarkeiten gehört, mit der „Hypneroto⸗ 
machia Poliphili“. Staunend ſtand der Bücherfreund vor die⸗ 
ſem, mit zahlreichen Holzſchnitten geſchmückten Buch, ſtaunend 
ſteht heute noch der Bibliophile vor dieſem ſelten ſchönen Druck. 

Was enthält dieſes mit Recht ſo berühmte Druckwerk? Es 
iſt, kurz geſagt, ein Liebesroman, geſchrieben von dem Domini⸗ 
kaner Francesco Colonna, der den Traum des Poliphilus be⸗ 
ſchreibt: Die Wanderung durch das Land der klaſſiſchen Kunſt. 
All ſeine Freude an den Schönheiten des Altertums hat 
Francesco Colonna hier zum Ausdruck gebracht. Faſt über⸗ 
ſchwenglich beſchreibt er alles, und Aldus hat dieſen Roman 
unerhört ſchön mit Holzſchnitten ausgeſtattet. Zarter, einfachſter 
Umrißſtil tritt uns entgegen, der mit dem Satzbild prachtvoll 
Hand in Hand geht. Die Bilder feſſeln immer und immer 
wieder den Beſchauer, ſo daß es wohl berechtigt iſt, daß dem⸗ 
nächſt eine Fakſimile⸗Ausgabe erſcheinen wird. Unſere Abbildung 
zeigt die Rückkehr des Poliphilus aus dem Palaſt der Königin 
Eleuterylida; eben iſt er vor den drei Felſentoren angekommen, 
die eine vierſprachige Inſchrift tragen, von denen die lateiniſche 
lautet: „Gloria dei, Mater amoris. Gloria mundi.“ 
Durch den mittleren Bogen tritt Poliphilus ein und findet dort 
Polia, ſeine Geliebte. Welch unendlicher Reiz liegt in dieſem 
Holzſchnitt, und dazu die vielen anderen Illuſtrationen, die in 
reichem Maße über den Text zerſtreut ſind! 

Und ſchließlich darf eins nicht vergeſſen werden: Aldus Ma⸗ 
nutius verſtand auch Hebräiſch und andere orientaliſche Sprachen. 
Auch dieſe ſeine Kenntniſſe hat er für ſeine Offizin ausnutzen 
wollen. Er begann eine dreiſprachige Bibel (Polyglotte mit la⸗ 


* E w- VU У Sy 
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Buchdeckel einer „Aldine” 


Cicero, De philosophia. 


Venedig 1541 


cum religiofo tripudio plaudendo & iubilando, Qualeerano le Nym- 
phe Amadryade,& agli redolenti ori le H ymenide,riuirente faliendo 
iocundedinanti&da qualũq; lato del orco Vertunno пао nella fron 
te de purpurante &mclinerofe cumel gremio pieno de odoriferi & (ре, 
&atiffimi fiori amanti la ſtagione del lanoſo Aricte, Sedendo ouantefo- 
pra una ucterrima Veha,da quatro cornigeri Fauni tirata, Inuinculati де 
ftrophiedenouellefonde, Cum lafua amata & Бе ва moglie Po- 
mona согопага de Тиси cum ornato defluo degli biódiffimi capigli. pa 
rea ello ſedẽte. & gli pedi dellaquale una coctilia Clepfydria Geo nel 

mane tenente una flipata co pia de fiori & maturati fructi cum imixta 
fogliatura Præcedẽte la Vehaagli trahenti Fauni propinq; due formoſe 
Nymphe añſignane, Vna cũ uno haſtile Т rophzo gerula, de Ligoni · Bi 
denti. ſarculi. & falcionetti ‚сй una pᷣpendẽte tabella abaca cũ tale titulo. 


———— -M———n 


INTEGERRIMAM COR POR. VALIT VDINEM,ET 
STABILEROBVR, CASTASQVE MEMSAR. DELI 
TIAS, ET BEATAM ANIMI SECVRITA 
TEMCVLTOR.IB.M,OFFER О, 


бейе aus „Hypnerotomachia“ 


ж ALDUS MANUTIUS ж 


teiniſchem, grichiſchem und hebraiſchem Tert), leider ijt diefe 
Arbeit nicht zur Vollendung gekommen. 

Nach dem Tode des Aldus hat zunächſt Andreas Anſulanus 
eine Zeitlang die Offizin weitergeführt und alles getan, um 
den Ruhm der Druckerei zu erhalten. Als auch er geſtorben war, 


Druckerzeichen des Aldus Manutius 


kam es leider zu Erbſtreitigkeiten, die die Offizin über drei Jahre 
lahmlegten. Schließlich konnte von den Söhnen der gelehrte 
Paulus Manutius die Offizin übernehmen, dem mancher wert⸗ 
volle Druck zu danken iſt, wie auch ſeinem Sohn Aldus II. 
Durch drei Generationen hat ſich die aldiniſche Offizin gehalten 
nach zweierlei Richtungen: ſie blieb eine hervorragende Druck⸗ 
werkſtatt, ſie erhielt ſich aber auch den Ruf einer Stätte ge⸗ 
lehrter Arbeit. 


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Др | 


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ЕРПТОТРОФОЗ- XO OAOT IAN 


| МАТЕКАКОМ GLORIAMVNDI 


Sopra qualũque delle quale. di charactere Ionico. Romano. Hebræo. 
& Arabo, uidieltitulo che la Оша Regina Eleuterilyda haueami prædi- 
¿to & pronoſticato, che io ritrouerei. La porta dextra hauea ſculpta que- 
Па parola. ТНЕОРОХТА. Зоргаде а ſiniſtra äfto dito. COSMO- 
DOXIA.Etla сета hauea notato си. ЕКОТОТК ОРНО. 

Da poſcia che nui quiuiapplicaſſimo ĩmediate, le Damigelle comite 
incominciorono ad interpretare diſertamente, & elucidaregli notandi 
tituli Et pulando alle reſonante ualue dextere occluſe, di тега о di џет» 
daceo cubigine infecte, lencia dimorare furon aperte. 


Seite aus „Hypnerotomachia Poliphili“ 


Bücher und Menschen 


Von Wilhelm Wendling 


Es gibt Bücher, die uns warm und herzlich үле Menschen 
ansprechen, es gibt Menschen, die trocken und gestelzt wie ein 
Buch zu uns reden. Leute, die im frischen, tätigen Leben 
stehen, pflegen sogleich auf Bücher und das Lesen überhaupt 
zu schimpfen, wenn ihnen solch ein Bücherwurm unerträglich 
wird. Darin gehen sie sicher zu weit. Wer richtig liest, wird 
niemals zu einem solchen Vorwurfe Anlaß geben. 

Goethe bezeichnet das Lesen als eine große Kunst, zu deren 
Erlernung sein langes Leben gerade eben ausgereicht habe. — 
Ist denn das Lesen so schwer? werden viele fragen, es genügt 
ja doch, das Abc zu beherrschen, das übrige wird sich dann 
schon finden. Nein, es findet sich nie, es muß da sein! Die 
Hälfte des Buches muß der Leser mitbringen, wenn er das 
Ganze genießen will. Ein altes Sprichwort sagt: Bücher fressen 
und nicht käuen, ist ungesund. Also lassen wir einmal die 
Bücher ungeschoren und halten uns an die Leser. Was gibt 
es unter diesen doch für seltsame Gestalten! 

Da haben wir den „Bücher protzen“. Er hat „das Lesen ganz 
aufgegeben‘ oder er liest „nur noch hin und wieder“, wie er 
sich verschleiernd ausdrückt. Einer, der sich verblüffen läßt, 
muß meinen, dieser Mann habe schon sämtliche Literaturen 
ausstudiert, und es gäbe für ihn nur noch wenig Neues unter 
der Sonne, das seiner Beachtung wert sei. Er besitzt eine 
Büchersammlung, um die ihn tausend arme Teufel beneiden. 
Reihenlang stehen die stolzen Prachtbände hinter Glas und 
Mahagoni als Schaubrote des Geistes, die niemand essen darf. 
Wenn ich vor eine solche Büchersammlung trete, glaube ich 
mich in einem Gefängnis, in dem meine besten Freunde 
schmachten. Wie Märtyrer, denen man die Zunge ausgerissen 
hat, stehen sie da, die sonst in heiliger Beredsamkeit zu mir 


ж BUCHER UND MENSCHEN ж 


sprechen. Ich kann mir nicht helfen, ich muß den Besitzer 
hassen, wie ich jeden Tyrannen hasse. Erst recht aber, wenn 
er mir protzig erzählt, was ihm seine Bibliothek schon für 
schönes Geld gekostet, und welche Summe er noch alljährlich 
für Neuanschaffungen aufwendet. Ja, das ist das Lächerliche 
bei dem Empörenden: dieser Bücherprotz, der nie ein Buch 
in die Hand nimmt, ist obendrein noch stolz auf seine ver- 
fluchte Neutralität. Untätig stehen in seinem Internierungs- 
lager alle die Helden des Geistes und wollen doch kämpfen 
und wirken für alles Hohe, Schöne und Wahre und wollen 
doch unser Dasein lebendig und mitreißend durchdringen! 

Das Gegenteil ist der ,,Zeilenfresser”. Ihm kommt es nur 
darauf an, „etwas gelesen zu haben". Wird irgendein Buch 
genannt, so ertönt automatisch sein überlegenes und weg- 
werfendes: „Kenn' ich längst!“ Er hat das Buch genascht 
wie eine Tafel Schokolade. Spricht man eingehender darüber, 
versichert er eifrig: „Ја, ја, ich erinnere mich noch!" — in 
einem Tone, der gerade das Gegenteil vermuten läßt. Er liest 
grundsätzlich nie ein Buch zweimal. Warum denn auch? 
Kann man ein Buch denn mehr als lesen? 

Unter den Zeilenfressern finden wir auch den ,,Mode- 
leser“. Er hält es für ein Zeichen unbeschreiblichen geistigen 
Tiefstandes, wenn einer nicht das ,,Allerneueste” vom Bücher- 
markte kennt. Als ob das Allerneueste auch stets das Beste 
wärel — Die Buchhändler halten sich selbstverständlich an 
diese menschliche Schwäche. Komme ich in einen Laden und 
lasse mir eine Reihe von Werken vorlegen, so erfahre ich 
unfehlbar: dieses Buch sei vorzüglich, jenes ungemein fes- 
selnd, ein anderes außerordentlich begehrt, dieses aber mit 
besonderer Betonung ,,das Allerneueste“. Der Buchhändler be- 
greift dann nicht, warum ich das Allerneueste unbeachtet lasse 
und lieber das Vorzügliche mit nach Hause nehme, Bücher 
soll man wie edle Weine lange lagern lassen. Wieviel Lärm 
wird oft um ein neues Buch gemacht! Da heißt es denn ganz 
überschwenglich in den Besprechungen: „Ein Meisterwerk! 
Das lang ersehnte Ereignis unseres Jahrhunderts! Eine Sprache 


ж BUCHER UND MENSCHEN * 


von unbeschreiblichem Klangzauber wetteifert mit abgründiger 

Gedankenfülle in dieser überwältigenden Offenbarung. Jeder- 
mann muß es gelesen haben!" -— In solchen Fällen unter- 
drücke ich gewaltsam alle Regungen menschlicher Neugierde 
und warte. Nach ein paar Monaten erkundige ich mich ver- 
gebens nach diesem einzigartigen Buche — es ist in Lethes 
Wasser aufgeweicht. 

Eine vierte Lesergruppe, wozu ich einst selbst gehórte, 
sind die „Titelleser“. Arme, köstlich unbelesene Teufel, die in 
ihrem schübigen Róckchen eine geschlagene Stunde vor jeder 
Buchauslage stehen und dort Feste der Entsagung feiern. Ве- 
láchelt sie nicht, diese Armen und doch so Reichen! Sie lesen 
nicht, nein, dazu fehlt es ihnen an vielem, aber sie schreiben 
sich jedes Buch selbst. Ein Titel genügt ihnen als Sprung- 
brett in ein Meer der wunderbarsten Vorstellungen. Wie eine 
seltsame Musik klingt es dann in ihnen, ein Strom prüchtig 
flutender Worte rauscht durch ihre Seelen, die Schauer er- 
habener Gedanken ergreifen sie, und eine überstürzende Fülle 
von Bildern strömt auf sie ein. Ob der Inhalt, den ihre Phan- 
tasie in ein Buch hineinlegt, wohl schlechter ist als der tat- 
sächliche? Ich glaube nicht. Wenn sich ihnen später ein- 
mal die heilig verehrten Bücher erschließen, sind sie oft. recht 
enttäuscht. Oft aber auch beseligt, wenn ihnen ihre geheim- 
nisvolle Ahnung recht gegeben hat. Doch diese Art, Bücher 
zu lesen, ist nur für Sonntagskinder, und ich möchte sie nicht 
jedem empfehlen. 

Ähnlich sind die ,,Reclamleser". Auch seltsame Gesellen. Da 
die Sammlungen in der Art Reclams hauptsächlich nur die 
schwere Artillerie der Klassiker auffahren und das leichte Ge- 
plänkel der Tagesliteratur ausschließen, geraten die Leser bald 
innerlich in einen Gegensatz zu ihrer Zeit und Umwelt. Sie 
vergleichen die ideale Gedankenwelt von damals mit der rea- 
listischen Gegenwart, wobei diese natürlich schlecht ab- 
schneidet. Wenn sie abends beim gedämpften Lampenschein 
mit idealen, hochdenkenden Buchmenschen verkehren, muß 
ihnen beim grellen Tageslicht die Welthäßlich und die Mensch- 


ж ВЕСНЕР UND MENSCHEN ж 


heit roh und verächtlich erscheinen. Ludwig Feuerbach ђе- 
hauptet sehr richtig: Je mehr sich unsere Bekanntschaft mit 
guten Büchern vergrößert, desto kleiner wird der Kreis von 
Menschen, an derem Umgang wir Geschmack finden. 

Auf einer wesentlich anderen Stufe stehen die ,,Groschen- 
leser“. Ihre Zahl ist weit größer, als man gemeinhin an- 
nimmt. Detektiv-, Indianer-, Piraten-, Abenteuer- und homo- 
sexuelle Geschichten bilden fast nur ihre geistige Nahrung, 
Wir wollen sie nicht um ihren Geschmack, aber um ihren be- 
harrlichen Eifer beneiden. Kein persönliches Opfer ist ihnen 
zu groß, wenn es ihnen die geliebte Lektüre verschaffen kann. 
Wenn einmal aus irgendwelchen Gründen ein allgemeiner 
Leserstreik ausbräche, so wüßte ich, wo die ersten Streik- 
brecher zu suchen wären. Mit welcher Andacht sie oft die 
elendsten Machwerke lesen, halblaut oder die Lippen bewe- 
gend! Ein Anblick, bei dem mancher vorzügliche aber um so 
weniger vorgezogene Schriftsteller vor Neid platzen möchte. 

Will man in feineren Abstufungen die Lesergemeinschaft 
sezieren, so müssen hier noch die ,,Heldenleser“ genannt wer- 
den. Sie mögen nur einen Helden im Buche leiden, der ihnen 
ähnlich sieht. Unter einem ähnlichen verstehen sie aber stets 
einen herrlichen Menschen! Ihre Antipoden, die „abfärben- 
den Leser“, bevorzugen dagegen die unähnlichen Helden, deren 
Charaktere und Eigenschaften sie auf sich abfärben lassen. So 
halten sie sich bald für verkannte Genies, bald für unschuldig 
Verfolgte, bald für vom Glück Vergessene oder Menschen- 
verächter und Gott weiß, was alles. In Wirklichkeit werden 
sie dadurch nur zu lächerlichen Figuren. 

Absonderliche Herren sind auch die ,,Delikatessenleser”. 
Sie halten nur den Marzipan der Literatur ihrer Beachtung 
wert und verschmähen das gute, kräftige Hausbrot. Für sie 
existieren nur Werke von 50— 100 Exemplaren Auflage, auf 
Büttenpapier gedruckt und vom Verfasser unterzeichnet. 
Wenn sie von ihren Büchern sprechen, so klingt das, als ob 
ein Briefmarkensammler von seiner blauen Mauritius spricht — 
falls er sie hätte. 


16 


ж BÜCHER UND MENSCHEN * 


Die letzte und gefährlichste Sorte endlich sind die „Leih- 
leser". Wehe dir, wenn einmal einer von ihnen unter deine 
Büchersammlung gerät! Wie er dann überschäumt vor Be- 
geisterung über alle deine herrlichen Sachen! Wie er dir so 
bewegt versichert, keine Nacht mehr schlafen zu kónnen, ehe 
er nicht dies und jenes gelesen! Und wie dein prinzipien- 
hartes Herz dann wie Butter in der Sonne zerfliebt, und du 
ihm von deinen Herrlichkeiten mitgibst, soviel er nur schlep- 
pen kann! — O du kindliches Gemüt, du glaubst wohl, er 
würde diese Bücher wirklich lesen? Du glaubst vielleicht auch, 
diese Bücher wieder zurückzuerhalten? In drei Tagen, so hat 
er dir auf Ehre versprochen... Gewiß — aber bist du etwa 
so naiv, darunter die drei náchsten Tage zu verstehen? 


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iger Erlaubnis der Kunſtdruckerei Jul. Manias & Co, 


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Von Hans Schoenfeld, Burgſtein bei Längenfeld i. Oetztal (Tirol) 


L Der Katalog 


Auch in das gegen Sonne und Hitze gleichermaßen abge: 
ſchloſſene Studiergemach des jungen Doktors Friedrich Kühle 
fand der neue Auktions⸗Katalog Nummer LXXXI der be: 
kannten Berliner Kunſthandlung Eingang und erregte dort, wie 
in allen Bibliophilen⸗ und Intereſſentenkreiſen, lebhafte Auf⸗ 
merkſamkeit. 

Mit Wohlgefallen nahm der Doktor, der als literariſcher 
Feinſchmecker erſt einmal den Geſamteindruck flüchtig genoß, 
die Namen der deutſchen Klaſſiker zur Kenntnis, die mit frühen 
Ausgaben ihrer Werke aufwarteten und der Verſteigerung die 
nötige Spannung, den hohen Stil und die zünftigen Preiſe 
ſicherten. 

Schon hielt es ihn bei Goethe feſt. Auch hier beſtritt der 
Olympier den Hauptanteil der nicht nur inhaltlich koſtbaren 
Werke, die ihren Herrn wechſeln ſollten. Gleich war des For: 
ſchers Anteilnahme und des Bibliophilen Leidenſchaft drauf und 
dran, ſich in Einzelheiten zu vergraben. Das Auge ſchwelgte 
in den Kolonnen, die allein einer Dichtung gewidmet waren. Da 
verlockten wohl ein Dutzend frühe Fauſt-Ausgaben zum Exkurs 
in die vertraute Goethe⸗Literatur. Schon warben die Ankündi⸗ 
gungen koſtbarer Sphigenie-Unifa um liebende Verſenkung. 


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* EIN GOETHEFUND * 


Aber jetzt! Der Blick verweilte auf der Nummer neunzehn: 
Goethes neue Schriften. 7 Bände. Mit Kurfürftl. Sächſ. Pri- 
vilegium. Berlin. Bei Johann Friedrich Unger. 1792—1800. 

Der Gelehrte lächelte. Ob man dieſe Ausgabe kannte! Ein 
zärtlicher Blick flog hinüber zu den hohen Regalen, die gemeſſen 
und im Bewußtſein ihrer Wichtigkeit die koſtbare Laſt mit Würde 
trugen. Im Mittelfach des Wandgeſtells zur Rechten prangten 
die Goethiana; verblichen zwar von Anſehn, verblaßt in den 
roſanen, grünen Rückenſchildchen und nachgedunkelt im Leder, 
aber koſtbarer als die erleſenſten Ausgaben neuzeitlicher Ver⸗ 
lage. Gegangen durch Hände, deren Träger zwar mit einem 
Goethe nicht zu vergleichen waren, aber in der großen Welt 
doch auch was galten. Oder war's nicht eine beſondere Kurioſität, 
eine Goethe⸗Reihe ſein eigen zu wiſſen, die Metternichs Name 
und Wappen zierte, Karl von Holtei als Eigentümer nannte? 

Doch man verliert ſich ins Uferloſe. Laß doch ſehen, ſinnt 
der junge Doktor Kühle, was man zur Meyer⸗Ausgabe zu 
ſagen hat! 

Da heißt es in der kritiſchen Zuſatzbemerkung: Prachtaus⸗ 
an aus Dalbergs Bibliothek, deffen Exlibris fid) in jedem Band 

efindet. 

Schau, ſchau! nickt der Gelehrte und mißt ſeine Unger⸗Reihe 
gar liebevoll. Mit ſo einem hohen Herrn wie dem hochfürſt⸗ 
lichen Herrn Erzkanzler und Fürſtbiſchof, dem wir um ſeiner Ver⸗ 
ehrung für Schiller willen vieles verzeihen wollen, was [páter 
weniger vaterländiſch und wohlgetan war, können wir nun frei⸗ 
lich nicht einherprunken. Unſerer Goethe⸗Ausgabe Eigentümer 
war nur ein ſimpler ſchleſiſcher Gutsherr, der ſich für ſeinen 
Goethe Taler um Taler zuſammenſparte und jene erſtaunliche 
Bibliothek hinterließ, die leider, leider nicht in einer Hand bei⸗ 
ſammen blieb. Nun man ſoll zufrieden ſein mit dem, was 
einem von Geſetzes wegen zufiel. 

Der Doktor ſeufzt. Dann ſchaut er wieder in den Katalog 
und murmelt im Weiterleſen: Ja, die ſchönen Kupfer und Beis 
lagen gerade dieſer Ausgabe werden in der Anmerkung mit Recht 
gerühmt. Ei, aber was iſt das? „Vollſtändig mit allen Haupt⸗ 


ж EIN GOETHEFUND ж 


und Nebentiteln bis auf das im ſechſten Bande fehlende Muſik⸗ 
ſtück, das ſich faſt in keinem Exemplar findet.“ 

Friedrich Kühle ſinnt nach. „So laßt mich ſcheinen, bis 
ich werde“, ſpricht er vor fid) hin. — Das müßt ich doch, wenn 
mein Gedächtnis recht behält, in meiner Ausgabe geſehen haben; 
eben, weil es das Lied der Mignon iſt, das mich ſchon als 
Jüngling ſo tief ergriff und mir beim Betrachten der Noten⸗ 
beilage in Kapellmeiſter Reichardts Vertonung wiederum ſo 
innig an die Seele rührte. 

Nun beſinnt er ſich vollends, ſpringt in froher Genugtuung 
auf und eilt zu den geliebten Borden hin. Richtig! ſpricht er 
mit Nachdruck laut in das weite, ſtille Gelehrtenzimmer — 
ich ſpielte es ja noch, als ich zum erſtenmal das Erbftüd in 
Händen hielt. 

Nicht ſchnell genug können die Augen den Band Sechs er⸗ 
ſpähen, die Finger ihn aus ſeiner Reihe ziehen. Nun geſchwind 
geblättert — und richtig! es iſt bis auf die zwei Blatt Verlags⸗ 
anzeigen die einzige Beigabe im ganzen Bande. 

Da ſteht es alſo ſchwarz auf weiß mit dem naiven Noten⸗ 
druck von damals: „So laß mich ſcheinen.“ 

Und all die Goethe⸗Spezialiſten von Meyer und Hirzel, 
Seuffert bis Holland und Kippenberg kennen's nicht, ſahen's 
nie. P eine Entdeckung! 

Das muß Henrici aber gleich wiſſen, geht es Kühlen durch 
den Sinn. Lächelnd, hurtig ſchreitet er zum Schreibtiſch, zieht 
eine Poſtkarte aus dem Fache und fängt ſchon an zu ſchreiben. 
Ein wenig ſpöttiſch lacht er dabei, wie er ſich des Kunſthändlers 
verdutzte Mienen beim Leſen dieſer Nachricht von hoͤchſter biblio⸗ 
philer Wichtigkeit vorſtellt, die nicht nur ihn, nein all die Goe⸗ 
theaner von Bode big Witkowſki auf die Beine bringen und 
gelehrte Federn knirſchen laſſen werden. 

Ja, wie das ſo geht: Da ſitzt weitab von den zünftigen 
Ställen, wo ſie große Literarhiſtorik machen und das Goethe⸗ 
Gebiet in⸗ und auswendig zu kennen glauben, irgend ſo ein 
kleiner Doktor, deſſen Name beſcheiden hier und da in einer 
Fachzeitſchrift auftaucht und zur großen Melodie noch ein Va⸗ 


ж EIN GOETHEFUND ж 


riantchen zu geben trachtet. Er guckt nun in feinen privilegierten 
Unger, und ſchon bringt er das Gebäude des Goethe: Kriteriums 
ins Wackeln. Nein, ſo was! Was das wohl auf der Verſteige⸗ 
rung geben mag! Man ſieht von hier aus ſchon die Köpfe 
wackeln, die Brillengläſer funkeln. Ach, wie luſtig, das ſo ruhig 
von ferne im Geiſte mit anzuſchauen. 

Plötzlich hält der verſchwärmte Goethe⸗Freund in ſeinem 
Schmunzeln inne. Er krauſt die Brauen, und das junge, freund⸗ 
liche Geſicht mit den kurzſichtigen Gelehrtenaugen verzieht ſich 
ein wenig ſäuerlich. Ein Gedanke iſt ihm in ſein Wohlbehagen 
gefahren: Sie werden doch nicht? Alle die Goethe⸗Enthuſiaſten, 
die gewerbsmäßigen Spekulanten werden ihm doch nicht auf 
die Bude rücken? Das wird der Henrici ihm doch nicht antun? 
Anderthalben auf einen Schelmen ſetzen? 

Törichter Schreck! Noch hat man ja die Fäden in Hand, 
die ſelbſtverſchuldete Unruhe in die ſchöne Stille, ohne die ein 
rechtes Forſcherleben undenkbar iſt, herbeizuziehen vermögen oder 
ihr Schutznetz um Dr. Friedrich Kühles Tusculum weiter⸗ 
ſpannen. 

So wird man denn die Karte nicht aus dem Hauſe laſſen? 
Wie ſchade doch! Gibt's keinen Mittelweg zwiſchen der Sache 
Erfordernis und dem lieben Egoismus? 

So wird's gehen! brummt der junge Stubenhocker befriedigt 
und fügt der Karte den Schlußſatz an: Doch iſt Bedingung bei 
dem Briefwechſel, der і aus dieſem Novum ergeben wird, 
daß Sie mir alle Kaufliebhaber und Bibliophilen vom Halſe 
halten. Denn der Unger iſt mir unverkäuflich. Was auch Sie 
zur perſönlichen Kenntnis nehmen wollen. 


II. Das Schickſal einer Frühausgabe. 


Bis nach der Verſteigerung, über deren zahlenmäßige Re⸗ 
kordpreiſe ſich der gute Doktor aus den Zeitungen unterrichtete, 
überging der Kunſthändler die Karte mit Stillſchweigen. Nicht 
ganz nach Friedrich Kühles Wunſch, der ſich nun um die Wir⸗ 
kung ſeiner Bombenentdeckung gebracht und nicht ernſt ge⸗ 
nommen ſah. 


ж EIN GOETHEFUND | ж 


Aber plötzlich war der vielgefuchte Mann aus Berlin da. 
Das freilich war dem Doktor nicht recht, denn ihm bangte vor 
Attacken auf ſeine Raritäten, nach denen Leute von des Kunſt⸗ 
Händlers Gattung ewig auf der Suche waren. Er wappnete 
ſeine Gutmütigkeit und die von der Mutter ererbte Luſt zum 
Plaudern mit dem Panzer der Kühle und wiſſenſchaftlichen Un⸗ 
abkömmlichkeit. 

Aber Carlernſt von Henriei war ein Menſchenkenner und 
nahm's mit dem ſchrulligſten Bibliophilen und vertrackteſten 
Bücherwurm auf. Er wußte ſchon, wie man die zugeknöpfteſten 
Gelehrten und ſteifſten Perücken alsbald in die atemloſeſten Zu⸗ 
hörer, Frager und leidenſchaftlichen Diskutierer verwandelte und 
die gelehrteſten, unnahbarſten „Häuſer“ aus ihrem Schnecken⸗ 
türmchen herauslockte. Er begann einfach vom Verlauf der Ver⸗ 
ſteigerung, von bekannten Teilnehmern zu berichten und flocht 
die eigentlichen Köder geſchickt ein: Die Schickſale jener Б 
lichen Bände, die ſich aus Joachim Göſchens, Cottas, Ungers, 
Friedrich Viewegs und Weygands Offizin durch die Jahrhun⸗ 
derte bis in das moderne Kunſthaus geſchlängelt hatten, um 
dort als Handelsobjekt ſeinen unbezahlbaren Wert in fragwür⸗ 
diges Geld einzutauſchen. 

Auch bei dem Doktor Kühle verfing das unfehlbare Mittel. 
Er bekam ſeine gewinnendſte Miene, gab ſich in Gebärden und 
Temperament ſeinem Alter entſprechend jugendlich und ward 
in ſeinem ſchönen Eifer des fauſtiſchen Lächelns nicht gewahr, 
mit dem der kluge Kunſtgeſchäftler ſeinen Weizen reifen ſah. 
Unverſehens ſtand das ungleiche Paar vor den Bücherregalen 
und der Ungerſchen Frühausgabe. Band ſechs enthüllt ſein Uni⸗ 
kum: die Notenbeilage. 

Hm, brummte ee? befriedigt und |фаше ben Band auf 
Stockflecke und Einband kritiſch durch. Die Sache ſtimmt. In 
der Familie des erſten Käufers muß entſchieden wenig muſi⸗ 
kaliſcher Sinn geherrſcht haben. Wieſo? Lieber Doktor, das iſt 
doch alles höchſt einfach und erklärt das Fehlen der Beilage 
in faſt allen noch bekannten Exemplaren dieſer Ausgabe: Die 
Frauenzimmer von Anno dazumal waren rein verſeſſen auf 


ж EIN GOETHEFUND ж 


ſolche Lieder, die man in allen Salons fang und (ріс е, wie heut- 
zutage die Schlager, Reißer und zotigen Couplets. Mamſellchen 
und Madame haben ſich die eingeklebte Notenbeilage, die nach 
unſerem Geſchmack ja auch gar nicht in einen Roman gehört, 
einfach herausgenommen und auf den Spinett⸗Notenhalter ge⸗ 
legt. Mit einem dicken Bande ſpielte ſich's gar zu ſchlecht. 
Waren die Notenblätter erſt heraus, dann kamen ſie kaum je 
wieder hinein. Ihrem Exemplar ſind muſikaliſche Finger gänz⸗ 
lich ferngeblieben, und wir haben den Vorteil davon. Eine gut⸗ 
erhaltene Ausgabe, das muß ich ſchon ſagen, falls die andern 
Bände komplett ſind, will ſagen, die drei Kupfer und acht 


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* EIN GOETHEFUND ж 


Muſikbeilagen aufweiſen, die dazu gehören. Nun jagen Sie 
aber einmal, Verehrteſter: ich zähle hier nur vier Bände. Wo 
ſind denn die anderen drei? Doch nicht etwa ausgeliehen? Derlei 
Koſtbarkeiten 

Friedrich Kühles glatte Stirn umdüſterte ſich: Ach, das iſt 
eine dumme Geſchichte. Eigentlich ſollte man ſie gar nicht er⸗ 
zählen, denn nächſte Angehörige kommen nicht gut dabei weg, 
was literariſche Kenntniſſe und äſthetiſches Empfinden anbe⸗ 
langt. Es ift eine Erbteilungs ſache ohn allen Sinn und Ver: 
ſtand. — Der junge Gelehrte brach ärgerlich den Satz ab und 
wünſchte offenbar das Geſprächsthema zu wechſeln. Aber des 
Kunſthändlers literariſches Feingefühl war ſo in Wallung ge⸗ 
bracht, daß man um eine gründliche Erörterung des Falles von 
einer bibliophil unerhörten Grauſamkeit nicht herumkam, das 
ſah der Doktor, der ſeinen Mann ſattſam kannte, ſeufzend ein. 

Der etwas ſchwerhörige Berliner fragte lauter, als es die 
Stille und Feierlichkeit des unentweihten Forſchergemaches ver⸗ 
trug: Und es beſteht keine Ausſicht, die getrennten Bände wie⸗ 
der zuſammenzukriegen? Das wär ein Jammer und eine un⸗ 
verzeihliche Sünde wider Kultur und den Geiſt Goethes. So 
ſprechen Sie doch, Doktor! 

Friedrich Kühle erzählte: 

Im vorletzten Kriegsjahre verſtarb ein alter Großonkel. Er 
war der ältere Stiefbruder meiner Mutter. Perſönlich habe ich 
ihn nie geſehen, denn es beſtand kein Verkehr zwiſchen ihm und 
uns. Ich hörte nur, daß er ein ſonderbarer Kauz und Einſiedler 
ſei. Mit Vater und mir teilte er aber die Leidenſchaft für ſchöne 
und ſeltene Bücher, ein Erbteil ſeines Vaters, der Zeitgenoſſe 
Schillers, Goethes, Kants, Jean Pauls, Schopenhauers und ein 
ſo ehrgeiziger wie glücklicher Sammler war. Er ſchaffte auch das 
Unger⸗Exemplar der frühern Goethe⸗Prachtausgabe an, und 
von ihm ſtammt noch manch andre Seltenheit wie hier Gellerts 
Gedichte in der Ausgabe vom Jahre 1773, die nur noch in 
fünf Exemplaren vorhanden ſein ſoll, oder hier: Vater Gleims 
„Kriegslieder — von einem Grenadier”, mit Melodien, Titel- 
vignette, Vorrede von Leſſing und dem Ausgabejahr 1758. 


ж EIN GOETHEFUND ж 


Ein Rariſſimum, beftätigte der Kunſthändler mit Andacht. 
Der Herr Erbonkel und fein Vorfahr kommen mir leider zu рді 
zur Kenntnis. Solcher Sammler gibt's nicht viele im Reich. 

Ich war damals an der Front. Der alte Herr mochte wohl 
Gefallen an meinem Heeresdienſt finden, denn er ſchrieb mir 
nicht lange vor ſeinem Hinſcheiden den erſten und letzten Brief, 
den ich von ihm erhielt; belobte mich ob meines kriegeriſchen 
Tuns, das ſich freilich nur auf eine Brigadeſchreibſtube und 
hernach die Kriegstagebuchführung der Heeresgruppe erſtreckte 
und ſicherte mir — was mich damals mehr erheiterte als er⸗ 
freute, da ich nicht wußte, wer ſchneller zur großen Armee ab⸗ 
berufen wurde: der junge oder der alte Freiheitskämpfer — die 
Schenkung von Stücken ſeiner Bibliothek zu, die ihm beſonders 
teuer feien... wie eben Gleim, Gellert, der furioſe Chriſtian 
Friedrich Schubart mit ſeiner kurioſen „deutſchen Chronik“. 

Mutter fuhr alſo nach dem kleinen ſchleſiſchen Neſt und 
dem landwirtſchaftlichen Betrieb, deſſen ſie ſich von einem Be⸗ 
ſuch in ihrer Mädchenzeit noch dunkel entſann. Erbinnen waren 
ſie und eine ältere richtige Schweſter des Verſtorbenen. Ihr 
fiel die Erbſchaftsmaſſe zu. Mutter erhielt einzelne Stücke und 
etwas Geld. 

Und nun begab ſich, was mich nach Rückkehr aus dem Felde 
wie ein kalter Sturzbach empfing und mich für Wochen gegen 
meine gute Mutter verſtimmte: die Teilung der Bibliothek. 

Sie müſſen nämlich wiſſen, daß Mutter im Gegenſatz zu 
meinem verſtorbenen Vater und mir von Büchern, geiſtigen 
Genüſſen und derlei Feinheiten nicht ſoviel hält, als von dem, 
was ſie: ſich im Leben umſehen und tüchtig tummeln nennt. 
Ich fühle es noch jeweils heraus, daß Mutter mich lieber als 
Offizier oder handfeſten Mediziner geſehen hätte, denn als Vaters 
Nachfolger im Archivat der Landesbibliothek. Den praktiſchen 
Dingen mehr zugewandt und Hausfrau durch und durch, war 
die erwartungsvolle Erbin wohl ziemlich enttäuſcht über das, 
was ſie vom Stiefbruder ihr vermacht ſah. Sie blickte mit 
ſcheelen Augen auf die alten Schmöker, die den Hauptteil ihres 
Erbgutes ausmachten. 


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Behälter für das Evangeliarium 
der Uota, Aebtiſſin von Niedermünſter in Regensburg 


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Nun hielt auch die Stiefſchweſter, jene Tante, die ich Pate 
nannte, aber auch nie zu ſehen bekommen habe, wenig von 
Büchern und Bücherweisheit. Sie erblickte in ihnen künſtlich 
aufbewahrte Staubfänger und Scharteken, deren Wartung mehr 
Zeit und Mühe verurſachten als billig iſt, namentlich in wirt⸗ 
ſchaftlich ſchweren Zeiten wie dieſen. Immerhin ehrte ſie des 
verſtorbenen Bruders Vorliebe, um ſo mehr, als er ein guter 
Wirtſchafter war und ihr den Hof in beſter Ordnung hinterließ. 
Aber ſie verfuhr mit den Büchern doch kurz und bündig. Da 
ſie das Anweſen mit ſeinem umfangreichen Zubehör nicht ſelbſt 
bewirtſchaften mochte, ſondern ihr geruhiges Stadtleben als 
Doktorswitwe vorzog, ſo hatte ſie das Angebot eines ihr be⸗ 
kannten Pächters gleich angenommen, und räumte bis auf we⸗ 
nige Zimmer, die der Beſitzerin als Sommerfriſche vorbehalten 


ж EIN GOETHEFUND ж 


blieben, das Haus. Die Bücher waren, als Mutter ankam, 
ſchon in große Kiſten verſtaut; und dies von eilender, nicht eben 
ſorgſamer Hand. Man einigte ſich über dieſen Teil der Hinter⸗ 
laſſenſchaft ſchnell genug: Mutter nahm die Hälfte der ſechs 
oder acht Kiſten. Unbeſehen! Als hernach die Frachtſtücke hier 
eintrafen, ſtellte ſie den Inhalt, ohne auf mehr als die Namen 
zu achten, in die Regale, getrennt von den ſchon vorhandenen 
Büchern, ein. Das Einordnen, Katalogiſieren und was derlei 
Umſtändlichkeiten mehr, von denen ſie nicht viel hält, überließ 
ſie dem Sohne nach Rückkehr von der Front. Ihr genügte es, 
die Namen Goethe und wieder Goethe, Schiller, Gellert, Gleim 
zu ſehen, um zu glauben, daß mein Glück vollkommen ſei. Mei⸗ 
nen Klagen und Vorwürfen begegnete ſie mit Ruhe, ja vielleicht 
mit heimlichem Spott. Sie konnte und kann nicht verſtehen, 
daß ich es unverzeihlich finde, die zu Onkels Lebzeiten ſicherlich 
ſtreng geordneten Werke durcheinandergebracht und holterdi⸗ 
polter in die nächſte Kiſte geworfen zu haben, wie's gerade kam. 
Meinem Hinweis, daß dieſe alten Schmöker einen beträchtlichen 
Wert darſtellten und nicht der ſchlechteſte Teil der Erbmaſſe 
ſeien, begegnete ſie mit der Bemerkung: Das iſt Zahlen⸗Sophi⸗ 
ſtik. Du verkaufſt ja doch nicht einen Band. Wenn's dich übrigens 
gar zu ſehr plagt mit den unvollſtändigen Ausgaben — ſo bleibt 
dir's unbenommen, den Umtauſch entſprechend vorzunehmen, 
wenn die Tante darauf eingeht. Und warum ſoll ſie nicht, wo 
ſie von Büchern ſo wenig hält? 

Und dazu, ſchloß der Kunſthändler mit leiſem Spott, konnten 
Sie ſich bisher nicht entſchließen? 

Übelnehmiſch war Friedrich Kühle nicht. Er belehrte fried- 
fertig: Doch habe ich's verſucht. Die Leidenſchaft und der Zorn 
waren größer als die retardierenden inneren und äußeren Mo⸗ 
mente. Bedenken Sie nur: Kann der wahre Goethe⸗Verehrer 
es wirklich ſtill hinnehmen, eine ſolche Pietätloſigkeit und biblio⸗ 
phile Unhaltbarkeit beſtehen zu laſſen? Macht er ſich dadurch 
nicht mittelbar der Unterlaſſung ſchuldig? 

Ich ſchrieb alſo und erhielt eine Abſage; nicht von der Tante, 
ſondern von der Tochter, meiner Stiefbaſe ſozuſagen. Sie be⸗ 


* EIN GOETHEFUND * 


kannte fich zu Goethe und daß ihr bie Bücher des feligen Onkels 
lieb ſeien. Nicht, daß ſie die Herausgabe förmlich verweigerte. 
Sie drückte ſich etwa ſo aus: Solange ein ſtärkeres perſönliches 
Intereſſe nicht vorliege, das zur Hergabe der Bücher triebe, 
wolle man es beim jetzigen Zuſtand belaſſen. 

Glauben Sie nicht auch, lieber Herr Henrici, fo fragte der 
Erzähler in ſchöner Naivität, daß das heißen ſoll: Erſt komme 
einmal her, du fremder Vetter, und dann werden wir feben. 
Ich wußte, offen geſtanden, ſeinerzeit mit dieſer etwas okkulten 
Gedankenweiſe wenig anzufangen; wurde aber ein leiſes Un⸗ 
behagen nicht los, als ob die fremde Verwandte ſich ein wenig 
über mich luſtig mache. 

Das ſcheint mir auch ſo, verſetzte der Kunſthändler trocken. 
Diefe Redefloskel als verblümten Heiratsantrag EE 
liegt nad) allem fein Grund vor. Oder meinen Sie doch? 

Behüte! verwahrte jid) Friedrich Kühle mit allen Zeichen 
gelinden Schreckens. Sie iſt nämlich ein halbes Mannweib, wie 
ich von Mutter hörte. Inzwiſchen iſt auch ihre Mutter ver⸗ 
ſtorben und, denken Sie nur an, was macht dieſes Herrenweib: 
Es kündigt dem Pächter und hat unlängſt das Gut mit der 
Mühle, allen Ställen und Scheuern in eigene Bewirtſchaftung 
übernommen. Nein, mit ſolch einer Tatmenſchin laſſe ich mich 
nicht weiter ein. 

Ich würde, ſprach Henrici nach kurzem Beſinnen mit Nach⸗ 
druck, trotzdem oder, beſſer geſagt, nun erſt recht hinfahren 
und mir die reſolute junge Dame einmal näher anſehen. Man 
kann nicht wiſſen. Es begeben ſich oft die ſonderbarſten Dinge. 

Wie meinen Sie das? Jetzt verſtehe ich Sie wirklich nicht, 
verſetzte der Doktor unſicher. Aber der Kunſthändler lachte nur 
und ſprach, mit liſtigem Augenzwinkern ihn auf die Schulter 
klopfend: Heiraten Sie die Baſe. Dann haben Sie den Goethe 
und alles Drum⸗ und⸗Dran komplett. 

Sie machen wirklich ſchlechte Scherze, ſprach Friedrich Kühle 
nicht ohne Schärfe. Aber dieſen unmöglichen Fall — unmöglich 
ſchon deshalb, weil ich meine Lebtage nicht heiraten werde, wo ich 
Vaters Beiſpiel vor Augen habe — angenommen: Sie kämen 


* EIN GOETHEFUND ж 


dabei doch nicht auf Ihre Rechnung. Denn Sie bekämen ben 
Goethe und alle Rara, Unika und was weiß ich noch, dann erſt 

recht nicht, ſondern es bliebe die Bibliothek ungeteilt in der Fa⸗ 
milie, wie zu des Großonkels Zeit. 

Mit dem zugehörigen Landgute will ich's ſchon glauben, 
ſprach Henrici unempfindlich. Sonſt aber — mein lieber Dok⸗ 
tor Kühle! Es kommt ſchwere Zeit für Wiſſenſchaft und die 
freien geiſtigen Berufe. Und mancher Gelehrte, mancher Samm⸗ 
ler aus dem verarmenden Mittelſtande wird noch von mancher 
Frühausgabe ſeines Schiller und Goethe ſich trennen müſſen, 
nur um des lieben Brotes willen. Schon darum wünſchte ich, 
Sie führen je eher je beſſer. 

Dieſe Worte des klugen Mannes aus Berlin gaben dem 
jungen Gelehrten fortan ſo ergiebig zu denken, daß er all ſeine 
ſchöne Forſcherruhe verlor und ſein Studiergemach, ſeine ganze 
Lebensſphäre und ſeine eigene Jugend mit anderen, ſchreckhaften 
Augen anſah. Zum Studieren, Rubrizieren und Stubenhocken 
war noch immer Zeit, wenn man ins reife Mannesalter getreten 
war und der Hang zum Sinnen, zum Alleinſein und dem ge⸗ 
machſamen Leben im ſtillen Winkel Sinn gewann und der 
Menſchennatur wirklich entſprach. Hingegen war Unnatur, wie 
er's in jungen Jahren ſchon trieb. Gewiß ſahen ihn die Leute 
in der kleinen Reſidenzſtadt ſchon als einen Sonderling und 
hoffnungsloſen Bücherwurm an. Mutter hatte wohl recht, wenn 
fie manchmal ſchalt und ihn unter die Leute, zum Stammtiſch, 
in den Kegelklub gehen hieß. Das war für den verſtorbenen 
Vater eine gern geübte Pflicht und ein wohltätiger organiſcher 
Ausgleich geweſen. Selbſt davon mochte der Sohn nichts wiſſen. 

So kam Friedrich Kühle ins Schmollen mit ſich felber. 
Seine Jugend ſtand auf. Sie zeigte ihm im Spiegel einen ſtatt⸗ 
lichen Menſchen mit angenehmen Zügen und von gar freund⸗ 
lichem Geſamteindruck. Was er nervöſe Abſpannung nannte, 
war nichts als erwachendes Lebensbegehren, das zum Aus⸗ 
ſpannen drängte und in Gottes freier Natur, im frohen, tätigen 
Landleben... auf dem Hofe der fremden Bafe... das ſchönſte 

Betätigungsfeld ſah. 


28 


* EIN GOETHEFUND ж 


Eines Tages ſchrieb er mit energifch zuſammengepreßten 
Lippen an die junge Müllerin im Schleſiſchen: Ob er wohl kom⸗ 
men dürfe, ſich den Ungerſchen Goethe⸗Torſo und all die un⸗ 
bekannten Seltenheiten von Onkels Bücherſammlung anzu⸗ 
ſehen? Vielleicht, ſo ſchloß er vorſichtig, ſeien auch zwei Fäuſte, 
die gut zufaſſen könnten, in der nahenden Erntezeit willkommen. 

Umgehend ſchrieb die Baſe: Er möge nur kommen und ſich 
alles anſehen und zuſehen, wie er mit allem fertig werde. 

Dieſer kurze und bündige Beſcheid, der Energie und wieder 
ſo etwas wie verkappten Spott atmete, mutete Friedrich Kühle 
zwar ſonderbar und vielſinnig an, wie ſchon jener Schlußſatz 
im erſten Briefe der herriſchen Verwandten. Aber etwas wie 
Trotz und Überlegenheit, ja wie Бетти regte fich in ihm. Zum 
Donner ja! Er war doch auch mal Frontſoldat geweſen und 
ein Kerl, wenn's darauf ankam. Sie ſollte es nur zu bunt 
nicht treiben, die dornige Heideroſe der Saganer Sandgründe. 
Sie irrte, wenn ſie glaubte, es ginge um ſie. Die Bücher blieben 
die Hauptſache; dann kam die Natur und das liebe Vieh, zu dem 
man ja draußen im Felde in vielerlei Beziehung getreten war. 
Der Reſt blieb Fräulein Erika. Wenn der Schlauberger, der 
Henrici, etwa an ein zartes Techtelmechtel dachte, dann hatte 
er daneben orakelt. So ein Herrenweib heiratete man nicht, 
und es wollte auch gar nicht geehelicht ſein. Wäre ſie ſonſt nicht 
längſt unter der Haube? Denn die Jüngſte konnte ſie nicht 
eben mehr ſein. 

Der Doktor rechnete nach. Dann horchte er bei ſeiner Mutter 
an. Da ergab es ſich, daß ſie doch ein wenig jünger war als 
der Vetter Archivar, der mit ſeinen neunundzwanzig Lenzen 
auch noch als junger Mann gelten konnte und wollte. 


III. Vetter und Baſe. 


Als ſich Baſe und Vetter zum Willkomm die Hand reichten, 
hatten beide die Empfindung, daß ſie ſich recht genau und un⸗ 
verhohlen muſterten, als ſuche einer des anderen Weſen nach 
Kräften zu ergründen. Aber noch eine andere Erkenntnis ging 
ihnen gleich auf: Sie hatten ſich voneinander ein ganz anderes 


ж EIN GOETHEFUND ж 


Bild ausgemalt unb ſchienen nach der erften Betroffenheit über 
dieſe Entdeckung nicht unangenehm voneinander enttäufcht. 

Friedrich Kühle hatte ſich unter der couragierten Müllerin 
eine Brünhilde vorgeſtellt: So eine dunkle oder brünette mit 
Walküren⸗Haltung und Gebaren. Statt deſſen trat ihm eine 
ſchmale, ſchlanke Blondine entgegen, deren Geſichtsſchnitt und 
Farben auf Zartheit und Sanftmut hindeuteten. Die raſchen, 
weitausholenden Bewegungen freilich, namentlich im Schreiten, 
ließen Tatkraft und raſches Hantieren der Herrin eines großen 
Hausweſens ahnen. In den hellen, blauen Augen lag was 
Kühles, ganz Unſentimentales, das dem Geſinde und auch dem 
Gaſt zu denken gab. 

Umſtände machte die Baſe Erika mit dem Gaſt gar nicht. 
Wie ſie geſchrieben hatte, ſo ließ ſich alles von Anfang an. Siehe 
nur zu, wie du dich herein⸗ und mit den Dingen hier abfindeſt. 

Zeit hatte man in dieſem Hauſe wenig, das merkte der An⸗ 
kömmling gleich. Nach ein paar freundlichen Worten ging das 
Fräulein wieder den Geſchäften nach und überließ dem Vetter 
ſich ſelber. Er zog ſich auf ſein Zimmer zurück und verſuchte 
dort, Ordnung und Ruhe in ſeine Gedanken zu bringen und ſich 
ein wenig heimiſch im Raume zu machen. Das war ein Ge⸗ 
mach von großer Einfachheit, ja ſpartaniſcher Strenge. Der 
Gaſt ſtellte mit einiger Betrübnis feſt, daß ein Schreibtiſch 
fehle. Ohne dies geliebte Arbeitsmöbel konnte er ſich einen 
Aufenthaltsort nicht denken. Er beſchloß, bei nächſter Ge⸗ 
legenheit um einen Tiſch, wenn auch gewöhnlichſter Art zur 
Ausbreitung ſeiner Schreibutenſilien beſcheiden einzukommen. 
Denn Arbeit hatte er ſich genügend mitgebracht. Eine Abhand⸗ 
lung, die ihm ſehr am Herzen lag, gedachte er hier endlich ab: 
zuſchließen. Solch eine ideale Gelegenheit fand ſich nicht gleich 
wieder. Die Studie galt Goethe und Chriſtoph Kaufmann 
jenem myſtiſchen Schelmen, der ſich als den „Spürhund Got⸗ 
tes“ gebührend feiern ließ, bis er durch Goethe ſeinen Gnaden⸗ 
ſtoß als Scharlatan und Literat erhielt. 

Dieſe kulturwichtige Abhandlung ſollte gewiſſermaßen unter 
den Augen und der Mithilfe der Baſe entſtehen, die, in ſeine 


* EIN GOETHEFUND * 
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Gedankenwelt und die Goethe⸗Literatur einzuführen, er vorge⸗ 
ſehen hatte; ein zweifelsohne reizvoller Plan, der die Partnerin 
belehrte und zu Dank verpflichtete. 

Zum Abendimbiß fanden Herrin und Gaſt ſich wieder zu⸗ 
ſammen. Es gehörten zur Tiſchgeſellſchaft noch die Mamſell 
und ein junger Wirtſchaftsgehilfe, offenbar aus gutem Hauſe. 
Es ging ganz herrſchaftlich her. Das Tiſchgeſpräch freilich ver⸗ 
lor für den willig zuhörenden 
Doktor bald ſeinen Reiz. Es 
drehte ſich nur um wirtſchaft⸗ 
liche Dinge, praktiſche Vorkomm⸗ 
niſſe und Beſprechungen für den 
kommenden Arbeitstag. Verge⸗ 
bens ſuchte Friedrich Kühle 
ſeinen wohldurchdachten Ge⸗ 
ſprächsſtoff anzubringen, der fich 
zwanglos aus dem eigentlichen 
Grund ſeines Kommens ergab. 
Denn kurios genug war ja die 
Geſchichte von der verkehrt geteil⸗ 
ten Goethe⸗Erbſchaft. Es war, 
als halte die Baſe mit Fleiß das 
Geſpräch bei den realen Alltags⸗ 
dingen und ſetze voraus, daß der 
Gaſt Intereſſe genug für dieſe 
notwendigen und wichtigen Anz | 
gelegenheiten zeige, die den Haus⸗ 
genoſſen jedenfalls über alle gei⸗ 
ſtigen und ſonſt anregenden All⸗ 
gemeinheitsfragen gingen. 

Die alte, tiefbrummende 
Standuhr hatte eben die neunte 
Stunde in feierlich hallenden 
Schlãgen verkündet, da erhob ſich 
die Runde in rechtſchaffener Müz 
digkeit und bot ſich Gutenacht. 


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ж EIN GOETHEFUND ж 


Erika rang fid) noch ein paar Fragen ohne rechte Anteilnahme ` 


von den Lippen: ob der Vetter ſich ſchon ein wenig in Haus 
und Hof umgeſehen habe? Nicht wahr, idylliſch ſei der Hof 
und die ganze Landſchaft? So ein echter Heidewinkel. Viel 
Sand, Heide, magerer Boden, ſomit Arbeit genug, ihm das 
Unerläßliche abzuringen. So, und nun angenehme Ruhe! Um 
ſechs Uhr werde die Frühkoſt gereicht, um einhalbneun das 
Frühſtück. Wenn er ſich tüchtig ausſchlafe, dann komme er ge⸗ 
rade zu dieſem zweiten Imbiß zurecht. 

Ehe Friedrich Kühle in wohlgeſetzten Worten zu all dieſen 
Fragen Stellung nehmen konnte, ſah er ſich entlaſſen. Droben 
in der Stube hockte er auf dem Bettrand nieder und ſchüttelte 
in längeren Pauſen bedenklich und gewichtig den Kopf. Dann 
ſtand er unzufrieden auf, legte ſich ins Fenſter und ſchaute den 
Mond an. Von drunten rauſchte der Gießbach, der die alte 
romantiſche Mühle trieb, wenn die Bauern ihr Korn brachten. 
Der Hof lag ſtill und ganz weiß im hellen Mondlicht, die vielen 
alten Bäume hinterm Hauſe und im nahen Buſch rauſchten ge⸗ 
dämpft und zauberiſch. 

Friedrich Kühle räuſperte ſich, ſagte hm hm und guckte noch 
einmal ſchief zum bleichen Geſellen am nächtlichen Himmel 
hinauf. Dann ſchloß er das Fenſter. Denn es wehte dem 
Städter kühl und feucht von draußen herein. 

Von den Goethe⸗Bänden und der ganzen Bibliothek hatte 
man noch nichts zu ſehen bekommen. Eine kurioſe Geſchichte das! 


IV. Wie es auf der Rabenmühle herging. 


Als der Vetter aus der Stadt auch am dritten Morgen ſeiner 
Anweſenheit auf der Rabenmühle, wie der ganze Hof genannt 
wurde, die Morgenſuppe verſchlief und nur eben recht zum zwei⸗ 
ten Frühſtück kam, ſchlug ihm das Gewiſſen. Eben weil ſie alle 
nett zu ihm waren, ihn aber nur mit einer gewiſſen Nachſicht, 
als einer anderen Sorte Menſchen zugehörig, zu betrachten und 
zu ſchonen begannen, machte es ſeinem Mannesſtolz zu ſchaffen, 
daß man ihn nicht ganz für voll nehmen könne. Er beſchloß, 


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Exlibris für einen Okonomen 
Nach einer Radierung von Rudolf Engel-Hardt, Leipzig 


ж EIN GOETHEFUND ж 


mit der Langſchläferei ein Ende zu machen. Denn ausgeruht 
und wohl bei Leibe war er nun. 

Da er nicht ganz ſicher war, ob der träge Leib dem Vorſatz 
des Geiſtes gehorchen und in aller Morgenfrühe mit den an⸗ 
deren Hausgenoſſen auf die Beine kommen würde, bat er um 
einen Wecker. 

Die Baſe ſah ihn prüfend von der Seite an. Dann lachte 
ſie freundlich ohne allen Spott und beſchied den Antragſteller: 
Einen Wecker hat's im ganzen Hauſe nicht, braucht's auch nicht. 
Dafür ſorgen unſere Hähne ſchon, die uns mit Morgengrauen 
munter krähen. Mußt du aber feſt ſchlafen, daß du dieſes Kon⸗ 
zert überhörſt! Oder ſchließeſt du etwa gar das Fenſter? Nun 
ich will daran denken und dich wecken, falls du wirklich feſt 
entſchloſſen biſt, dich nicht mehr auf die andere Seite herumzu⸗ 
drehen. Was planſt du denn, wenn man fragen darf? Eine 
Wanderung ins Queistal oder eine Beſichtigung von Sagan? 
Dort hat's eine großartige Bibliothek vom Wallenſtein und dem 
Herzog Biron von Curland her. 

Nein, nein! wehrte Vetter Friedrich eifrig und leicht er⸗ 
rötend ab. Das kommt ſchon noch dran. Arbeiten will ich mit 
euch, weiter nichts. 

So? meinte das Fräulein gedehnt und ſchaute den Gelehrten 
eigen an. Das iſt aber nett. Wirſt du feiner Stadtherr mit den 
gepflegten Schreibfingern und dem weichen Rücken es aber auch 
durchhalten? | 

Der Doktor verwahrte fih: Ziele Hände verftanden im 
Kriege Unterftánde zu bauen und Schipperdienſte zu leiten. 
Oder willſt du mich nicht bei deinen Arbeiten haben? 

Das klang empfindlich und bitter. Die Jungfer Erika ver⸗ 
ſetzte geſchwind und freundlich: Aber gern will ich dich und jede 
rüſtige Hand mit einſpannen. Der Kohl muß gehäufelt und der 
Kartoffelacker gejätet werden. Du kannſt aber, wenn dir das mehr 
behagt, auch ins Holz fahren. Unſere Braunen ſind brav. Wirſt 
du die dürren Kiefernſtämme allein auf den Wagen bekommen? 

Der Vetter entſchied ſich für die Holzfuhre und meinte, er 
werde eben nur ſchmalere Stämme aufladen. Erika lachte ihm 


ж EIN GOETHEFUND * 


Gewährung zu. Ihr blitzten die kräftigen Zähne vor Schelmerei. 
Und Friedrich Kühle freute ſich mit. Von ihm aus durfte ſie ihn 
oft ſo anlachen. Das ſtand ihr gut. 

Dieſe Frühfahrt ins Holz gefiel dem Doktor über die Maßen. 
Schon das machte ihn ſtolz, daß er der derbklopfenden Hand und 
dem kurzen, kräftigen Mahnruf der Baſe an ſeiner Kammertür 
gleich gefolgt war und pünktlich zur Morgenſuppe am Tiſche er⸗ 
ſchien. Die großen Augen von Mamſell und Wirtſchaftsgehilfen 
machten ihm beſonderen Spaß. So ging er ſehr aufgeräumt an 
die Arbeit. Es bereitete ihm ein unbändiges Vergnügen, wie der 
Bauer ſelber auf dem fchiitternden Leiterwagen breitbeinig und 
peitſchenſchwingend aufrecht zu ſtehen und den Nachſchauenden 
grinſend über die Achſeln zuzunicken. 

Im Walde ging's mit einem Feuereifer ohnegleichen ans 
Holzaufſammeln. Bald lag ein ſtattlicher Haufen dürrer Stämme 
auf dem Wagen. Der Schweiß perlte dem Fuhrmann von der 
Stirn. Er ſtrich ihn lachend mit dem Handrücken weg, ſchwang 
fic) auf den ſchwankenden, ſtachligen Föhrenſtapel und zurück 
ging es mit Hü und Hott. Nun erſt tranken die Augen und die 
zufriedenen Sinne die Herrlichkeit des frühen Waldes mit wun⸗ 
derſamem Behagen und einem nie empfundenen Dank⸗ und 
Glücksgefühl gegen Natur, Allmacht, Tier und Menſch. Zum 
erſten Male gedachte der gelehrte Roſſelenker mit einer Freund⸗ 
lichkeit, die Schon an Zärtlichkeit ftreifte, der handlichen Bafe. 
Es kam ihn ein Seufzen an mitten im wunſchloſen Hingegeben⸗ 
ſein an das Gute und Schöne, das der Anblick unberührter Natur 
und das Einsgefühl mit ihr gewährt. Eigentlich war dieſes 
Mädchen zu beneiden. Es ſtand ſo feſtgefügt und innig verwur⸗ 
zelt mit ſeiner Umgebung und ſeinem Werk, als ſei es nie ein 
Stadtmenſch geweſen. Und gar nicht verwunderlich wollte es 
ihm dünken, daß auch er unvermerkt und ſchnell hineinwüchſe 
in dies Gebiet menſchlicher Arbeit. Eins, zwei, drei wäre ein 
Bauer aus ihm geworden, als ob's nie anders geweſen ſei. Das 
mußte wohl daher kommen, daß noch die Großeltern beiderſeits 
Landleute geweſen waren und den Enkeln das Bauerntum noch 
in allen Gliedern ſteckte. 


ж EIN GOETHEFUND * 


Da rollte ber Wagen auf ben Hof. Die Gäule hielten und 
ſchwenkten die Köpfe. An беп беп есп erſchienen ſchmunzelnde 
Geſichter. Und es war eine Luſt, mitanzuſehen, wie der Holz⸗ 
fuhrmann ins Fruͤhſtück einhieb und mit blitzenden Augen in das 
Lachen der Hausgenoſſen über ſolch wölfiſchen Hunger ein⸗ 
ſtimmte. 

Hernach fragte ihn die Bäuerin: Nun, wie ſteht's? Haſt du 
genug vom Holzholen oder trauſt du dir's noch weiter zu? Da 
ſchaute er ſie herzlich und dankbar an. Er ſprach mit Inbrunſt: 
Es war herrlich und ich finde es ſo ſchön hier. Damit ging er an 
den Wagen. 

Die Baſe ſagte nichts. Aber bis unter die krauſen, eigen⸗ 
ſinnigen Stirnlöckchen kroch ihr ein feines Rot, das ſie ärgerlich 
machte und das der Vetter nicht zu ſehen brauchte. 

Zur Belohnung für die achtbare Leiſtung, an vier Morgen 
den ganzen dürren Holzbeſtand aus dem Buſch auf den Hof 
eingefahren zu haben, wurden am frühen Sonntagnachmittag 
die Kutſchpferde eingeſpannt. Vetter und Baſe fuhren ein Stück 
fa Land. Kein Kutſchknecht, feine mitfahrende Mamſell 

orte. 

Nimm nur du die Zügel! gebot Erika mit einem Schmunzeln, 
das ihr, wie Friedrich Kühle fand, beſonders reizend ſtand. Du 
haſt ja nun bewieſen, daß du's kannſt. 

So kutſchierten Gaſt und Bäuerin hinein ins fonntágliche 
Wald⸗ und Heideland Niederſchleſiens. Es ward eine Fahrt, die 
der Vetter nie vergaß. Alles trug dazu bei, einen ganz neuen 
Zuſammenklang, ein völlig geſchloſſenes Bild zu ſchaffen: 
Sonne, Stille, Waldrauſchen, Vogelklang, das Schnauben der 
munteren Pferde, die reifende Flur und das feine, roſige Mädel 
zur Seite, das ihm je verjüngter und unherber erſchien, je länger 
er mit ihr in ihrem Hauſe war. Deuchte es ihn nur ſo, oder war 
in der Tat eine Veränderung in ihrem Weſen vorgegangen? Es 
kam ihm vor, als hätte ihre Herbe und Spottſucht nachgelaſſen 
und ſie ſei umgänglicher, geſprächiger geworden. Sicherlich lag 
das auch an ihm und an der Entwicklung der Dinge: Nach der 
erſten Fremdheit und Befangenheit hatte man ſich eingelebt, 


ж EIN GOETHEFUND * 


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auf einander eingeftellt. Die Natur machte ja беп Menfchen |0 
gut. Das fühlte er an jid). Sie gab Lebensfülle und die Freude 
am eigenen Körper, ber in Sonne, Licht, Luft und bei derber 
Ausarbeitung fo dankbar und prächtig gedieh. Was bedeutete 
Friedrich Kühle, dem ſtrengen Stubengelehrten, noch vor kurzen 
Wochen der eigene Körper. Ganz ſtreng hätte der Aſthet und 
vergeiſtigte Arbeitsmenſch es abgelehnt, dem Körper gegenüber 
dem Geiſt andere als die unerläßlichſten Rechte zu gewähren. 
Wenn er jetzt an feine Studierſtube, die feierlichſtille Landes: 
bibliothek mit dem leiſemuffigen Geruch modernder Bücher und 
verſtaubten Jahrhundertekrams dachte, ſo wußte er nicht, ſollte 
er lachen, ſich darüber ärgern oder betrübt ſein. Am beſten, man 
vergaß das alles und nahm die Dinge, wie ſie lagen: je tiefer 
man Landleben und Sommerzeit genoß, je beſſer war des Ur⸗ 
laubs Zweck erfüllt. 

Während der Fahrt wurden nicht viel Worte gewechſelt; und 
doch war es dem Manne, als ſeien deſto mehr Worte herüber 
und hinüber lautlos geſagt. Dieſe heimliche Zwieſprache, das 
Gefühl gemeinſamer Verbundenheit mit der großen Natur und 
des frohen Ausruhens nach redlich getaner Arbeit an gemein: 


ж EIN GOETHEFUND ж 


ſamem Werk fchien dem träumerifchen Lauſcher unendlich reiz- 
voll und der feinſte Beſtandteil dieſes ſo überreichen Erlebens. 

Es war, als könne der ſchöne Tag ſich nicht genug tun. Der 
Abend brachte noch eine große Freude für den Wiſſenſchaftler 
und Goethe⸗Verehrer. Wohl hatte Friedrich Kühle das Supple⸗ 
ment zur willkürlich getrennten Ungerſchen Frühausgabe ein⸗ 

ehend und nicht ohne widerſtreitende Gedanken am zweiten 
ge ſeiner Anweſenheit — als die andern nach dem Frühſtück 
wieder zur Arbeit hinausgeeilt waren — kritiſch beſichtigt, aber 
ſeitdem kein Verlangen mehr nach den unbekannten Schätzen der 
Büchergeſtelle bezeigt. 

Wie gern nahm der Vetter nun die drei Bände zur Hand, als 
die Baſe nicht ohne Schelmerei, doch auch mit gewiſſer Feier⸗ 
lichkeit den Wunſch äußerte, mit Goethe den Abend zu beſchlie⸗ 
ßen. Gleich geriet er wieder in ſein geliebtes Fahrwaſſer, dozierte 
und las mit glühenden Wangen und plaſtiſchen Handbewe⸗ 
gungen. Wenn ein flüchtiger Blick von den vergilbten Blättern 
auf die Baſe fiel, dann fand er das Fräulein meiſt in einem 
Lächeln verſunken, das träumeriſch zufrieden und nicht ganz frei 
von Schelmerei war. Dem Vortragenden flog es wohl unter⸗ 
drein durch den Sinn, wie anmutig und mädchenhaft weich dies 
Frauenantlitz im warmen Schein der Tiſchlampe erſchien. 

Es ging auf Glock elfen; ungewöhnlich ſpäte Zeit im Raben⸗ 
hofe und nur durch Goethens zaubriſche Macht erklärbar. Iſt 
das nicht herrlich? ſprach Friedrich Kühle und ſchlug mit ver⸗ 
zückten, weltfernen Augen langſam, feierlich den Band Goethe⸗ 
ſcher Lyrik zu. | 

Die Bafe nickte ſtumm. Danach erhob fich das Paar, fid) 
Gutenacht zu wünſchen. Dem kommenden Tage die Gedanken 
zugewandt, ſchüttelte der junge Feuergeiſt, den das Fräulein 
öfter als wohl gut war, gemuſtert hatte, wie er ſo völlig hinge⸗ 
riſſen der herrlichen Welt Goetheſcher Sprache und Weisheit 
huldigte, von ſich den Bann der Geiſterſphäre. Er zog die Hacken 
zuſammen und nahm militäriſchen Ton an: Was befehlen die 
Frau Wirtin für morgen? Nun kommen wohl die Kartoffeln 
und der Kohl dran. 


* EIN GOETHEFUND ж 


Da ſchüttelte das Fräulein unmutig den Kopf. Das ift keine 
Herrenarbeit. Eigentlich iſt getan, was der Bauer zu ſchaffen 
hat. Aber es läßt ſich ſchon noch dies und das herausfinden, was 
etwa in der Stadt zu kaufen und abzurechnen iſt. Wenn du mir 
das abnehmen wollteſt. 

Und zögernd ſchloß die Baſe Erika: Jetzt im Juli iſt's mit 
der Arbeit nicht ſo ſchwer, bevor die Ernte anhebt. Da können 
wir abends wieder einen Band Goethe oder wen du ſonſt magſt, 
vornehmen. Ich mag das zu ſeiner Zeit wohl leiden. Und dann 
wollen wir auch vom Großonkel reden, ohne den wir beide nicht 
hier wären. Er war ein guter Mann und wir wollen nächſtens 
ſein Grab beſuchen. Friedrich Kühle ſchlug ſich vor die Stirn. 
Freilich, der Onkel! An den toten Beſitzer von Hof und Büchern 
hatte man noch kaum gedacht. Das Leben wartete dem neuen 
zu hold auf, als daß er Zeit fand, an die Toten zu denken. Aber 
mit der Erbin dieſer bedeutſamen Hinterlaſſenſchaft wäre der 
Vetter noch zu vielen anderen Gräbern des Dorfgottesackers 
getreten. 


V. Die Frühausgabe wird wieder komplett. 


In den letzten Tagen des Urlaubs ging der Doktor kopfhän⸗ 
geriſch herum und ſuchte die Einſamkeit. Es ſpielte ihm innerlich 
etwas ſchwer mit, das merkten Baſe und Hausgenoſſen. 

Friedrich Kühle mochte nicht zurück. Die bloße Vorſtellung, 
daß all dies bald nur ein ſchöner, unglaubhafter Traum ſei, 
und die Studierſtube, der Bibliothekſaal bald wieder das Allein⸗ 
gültige, brachte ihn um alle Ruhe. Aber das war es nicht allein. 
Es ging um die Baſe. Daß man ſie herzlich liebe — das ſtand 
nun feſt. An jenem Abend, als ſie über Land fuhren und Goethe 
laſen, war's ihm klar geworden und das ſchien ihm gar nicht 
verwunderlich, ſondern erfüllte ihn mit tiefer, beglückender Ruhe. 
Mochte der Mann aus Berlin ſich auch ins Fäuſtchen lachen, daß 
er mit ſeiner Vorausſage recht behielt — was machte das dem 
Stolz Friedrich Kühles aus. Mochte die Ausſicht, die Goethe⸗ 
Ausgabe nun doch zuſammenzukriegen, noch ſo locken — was 


* EIN GOETHEFUND * 


galt ihm das groß? Es ftanb ganz anderes auf bem Spiel. 
Erika, die Feine, war all fein Sinnen und Trachten. Ihr Jawort 
zu erringen, verurſachte dem Aſtheten ſo harte Pein. 

Aber die Zeit wartete nicht. Der Zauderer ſah die Tage 
rinnen, die ihm zum Handeln verblieben. Und die Baſe machte 
ſich auch ſo rar. 

An einem denkwürdigen Nachmittage raffte ſich Friedrich 
Kühle auf und trat mit fliegenden Pulſen und bleich wie die 
Unerbittlichkeit ſelber vor Fräulein Erika hin. Er hielt eine 
lange Anſprache, deren Fluß nach anfänglichem Stocken ſich zu 
feuriger Beſchwingtheit ſteigerte: Sie galt der Ausmalung des 
Lebensbildes, das der Doktor ſeiner Zukünftigen bot. Er ließ 
das alte Haus in der ſtillen Reſidenzſtadt vor ihrem geiſtigen 
Auge erſtehen. Er umkränzte das Idyll dieſes bedachtſamen 
Lebens in erleſener geiſtiger Umwelt recht liebevoll. 

Die Baſe ließ ihn reden. Auch ein wenig bleich und ſtockend 
ſprach ſie leiſe: Deine Frau will ich ſchon werden, Friedrich. 
Aber nach der Stadt und in dein Muſeum folg' ich dir nicht. 
Nicht allein um meinetwillen, ſondern weil ich nicht ſehen will, 
wie der Mann, dem ich mich angelobe, einem unnatürlichen 
Leben wieder anheim fällt, aus dem ich ihn ſchwer genug habe 
herausſchälen müſſen. Eingemottet und unter Glas und Rah⸗ 
men von dem prächtigen Leben in Arbeit und Natur abgeſperrt 
zu leben, das iſt nicht die Zukunft, die ich mir an deiner Seite 
wünſche. 

Nun höre zu, Friedrich, und überlege dir's wohl. Ich ver⸗ 
lange viel von dir; für uns beide. Wenn du mich für ſo un⸗ 
entbehrlich hältſt, daß dir die Wahl nicht zu ſchwer erſcheint, 
dann willfahre meinem Wunſch: Gib deinen Beruf auf und 
werde das, was du ſchon beinah biſt: Werde Bauer auf dem 
Rabenhofe! 

Damit ließ das Fräulein den Bewerber nach einem langen, 
bittenden Blick ſtehen. Und nun huben Friedrich Kühles 
ſchwerſte Stunden an. Er konnte zu keinem Entſchluß kommen 
und einmal ſchien es ſogar, als ſinke vor dem Zorn und Mannes⸗ 
ſtolz, daß dieſes Herrenweib ihm anzumuten wagte, was nur 


ж EIN GOETHEFUND ж 


einem Pantoffelhelden geboten werden durfte, die Liebe zu dies 
ſem hartnäckigen und eigenwilligen Mädchen kläglich zuſammen. 
Aber dann erſtand mit dem ganzen Liebreiz ihrer Perſon und 
ihres Rahmens das Bild dieſer ungewöhnlichen Jungfer. Erika! 
murmelten die Männerlippen zärtlich. Mit dem Namen ver⸗ 
band ſich, was an dem einfachen Kind der Heide blumenhaft 
und ſchön war. Und dieſe Empfindung blieb. Nun ſchien der 
Entſchluß nicht mehr ſo rieſenſchwer. Auch ſie hatte ja ihre 
Stadt und ſtädtiſches Weſen aufgegeben und war doch ein 
Menſch von Kultur geblieben. Eine Herrenbäuerin. 

So tauſchte noch am Abend der Vetter von ſeiner Baſe das 
Jawort gegen ſeinen Amtsverzicht ein und nahm ſein Glück in 
Empfang. Und im Überſchwang der Ausſprache, wie dies Un⸗ 
erhörte ſich begeben habe: wie Erika ihre Liebe entdeckte und 
der Vetter ſich unrettbar der Rabenbäuerin verfallen fühlte, 
kam ein Geſtändnis und Gegengeſtändnis heraus: Es hatte 
die Baſe von dem überſtudierten Stadtmenſchen nicht eben viel 
gehalten, aber doch bald herausgeſpürt, daß ein Kern in ihm 
ſtecke, der ihr ein Experiment zu lohnen ſchien: Dieſen Bücher⸗ 
wurm zu einem jungen, natürlichen Menſchen zu machen, ohne 
perſönliche Nebengedanken. Hinwiederum bekannte der Vetter 
ſeinen erzieheriſchen Plan: dieſes Mannweib, das ihm unnatür⸗ 
lich erſchien, durch die Gewalt Goetheſcher Ideen zum ſanften 
Weibstum zurückzuführen. | 

Es konnte nicht ausbleiben, daß ein eng verſchlungenes Paar 
vor das hohe Bücherbrett hintrat, auf dem die langen Reihen 
Goetheſcher Prachtausgaben ruhten: gleichmütig im Bewußt⸗ 
ſein der Macht, die ſie umſchloſſen. Und lächelnd ſprach Friedrich 
Kühle: Nun kriegt die ſchleſiſche Heide ihren Bauerndoktor. 
Goethe iſt wahrlich ein Zauberer, iſt wahrlich ein Rariſſimum, 
über Zeit und Raum ewig wirkſam. 

Das bräutliche Mädchen ſprach verſonnen: Müßte nicht 
Goethe ſelber ſich freuen, lange nach ſeinem irdiſchen Ableben 
ein deutſches Paar kraft ſeines Genius zuſammenzuführen und 
glücklich zu machen. Glaub' mir, Friedrich, daß ein hohes 
Mannesglück deiner harrt: Beſtelle deine Flur, wie's die Jahres⸗ 


42 


ж EIN GOETHEFUND ж 


zeit heiſcht. Wenn aber des Bauern ftille inwendige Zeit kommt, 
dann ſetz' dich hinter deine Bücher und opfere deinem Goethe, 
ſoviel du magſt. Es wird dir beſſer gelingen, ein berühmter 
Federfuchſer zu werden, als wenn du in deiner Gelehrtenſtube 
vertrocknet wäreſt. 

Der junge Gelehrte nickte. Dann holte er ſeinen Unger. Er 
legte die vier Bände zu den dreien der Baſe und lächelte ver⸗ 
gnügt. 


Kuriose Tatsachen 
„Fachtechnifches‘“ aus unserer jüngsten Vergangenheit 


Von Sepp Wundshammer, Köln-Braunsfeld 


Kuriose Tatsachen sind tatsächliche Kuriositäten! Kurios 
bedeutet Seltenheiten, die die Neugierde und Aufmerksamkeit 
erregen. Tatsachen dagegen sind im allgemeinen das Resultat 
jedes Geschehens, also jeder Begebenheit, sei sie in der Natur- 
gesetzgebung begründet oder durch die Willensbestimmung des 
Menschen herbeigeführt. Soweit die philosophische Zerlegung! 
Beide Begriffe zusammengefaßt, ergeben eine seltene Tatsache 
bzw. eine tatsächliche Seltenheit. 

Nur ein bißchen rückwärts orientiert, und wir sind wieder 
unter den seltsamsten Tatsachen und allergrößten Kuriositäten. 
Und derartig hatte sich unser gesunder Sinn verwirrt, daß wir 
gar nicht mehr erkennen konnten, wo die Tatsache begann und 
die Kuriosität aufhörte. Kein einziger Chronist hat den Blöd- 
sinn der hinter uns liegenden Inflation, Deutschlands größter 
Schreckenszeit, festzuhalten versucht. Nur einzelne Bilder, meist 
schemenhaft verzerrt, zucken hin und wieder vor unserm gei- 
stigen Auge auf. Ohne jeglichen Eindruck auszulösen. Doch 
wollen wenigstens wir einmal einen solchen Blitz bannen, der 
unser fachmännisches Interesse in etwa berühren dürfte. Denn 
es ist wahrhaftig nicht zu leugnen: wir, die von der Schwarzen 
Kunst, haben unseren Arm zu manch kurioser Tatsache ge- 
liehen. Zugegeben: leihen müssen. Der weiter unten folgenden 
Ziffernkuriosität liegt eine solche Ungeheuerlichkeit zugrunde, 
daß es unsern Nachfahren einst sicher recht schwer fallen 
dürfte, die Wahrheit von der Dichtung scheiden zu können. 
Wo wir, die wir mittenmang im Geschehen standen, hierzu 
kaum den notwendigen Spiritus des Verstehens aufzubringen 
vermögen. Das ganze Bild steht im Rahmen eines Rechenexem- 
pels, dessen Ziffernchaos eine eindringliche Sprache redet. 

Vorher aber sei dem Rechenkünstler es doch noch ver- 
stattet, freundlichst vermelden zu dürfen, wie er überhaupt 
auf diese Rechenkünste verfiel. Man höre: Kaum war ich 
seinerzeit — es mögen an die 15 Jahre her sein, an der Lino- 


ж KURIOSE TATSACHEN ж 


type als echter und rechter Maschinensetzerknecht, kam da eines 
schönen Tages mein Fax und machte mich mit dem „Tarif“ 
bekannt: 6400 Buchstaben pro Stunde. Diese hübsch durch- 
einandergewirbelt, dürften wohl einen ganz sakramentalen 
Fischhaufen ergeben, dachte ich so langsam bei mir. Und die- 
ser niedliche Haufen stand nun dauernd als warnendes Mene- 
tekel zwischen mir, dem Fax und dem Tarif, und zwar so 
lange, bis endlich zum ersten Male tatsächlich die bewußten 
6400 Buchstaben, blitzeblank іп saubere Zeilen zusammen- 
gepappt, auf dem Schiffe standen. Das gab allseits höchst zu- 
friedene Augen. Das war ein gar gewaltiges Erlebnis, das ich 
nur dadurch befreiend von mir wälzen konnte, daß ich auf 
einmal zu rechnen anfing und meinem daraufhin wonniglich 
grinsenden Fax folgende glänzende Aufstellung machen konnte. 
Ich hatte nämlich auf der Briefwage feststellen können, daß 
die 20-Cicerozeile rund 60 Gramm wog, und daß sie rund 
10 Zentimeter lang war. Ich würde ihm, dem Fax, also nun 
täglich ein Satzband (die Zeilen aneinandergesetzt) liefern, 
das rund 85 Meter lang sei, rund 100 Pfund wiege. In einem 
Jahr hätte ich ihm, dem Fax, ungefähr 300 Zentner Metall 
versetzt, und der Satzbandwurm hätte sich bereits bis 25,5 Kilo- 
meter ausgedehnt. Und bei meinem 25 jährigen Geschäfts- 
jubiláum könnte ich, aber auch er, der Fax, mit sicherlich 
allergrößter Befriedigung feststellen, daß meine erste Zeile 
rund 637 Kilometer von der letzten entfernt sei, eine Entfer- 
nung, wozu ich mindestens drei Wochen nötig haben dürfte, 
um diese Strecke abzutippeln. Denn ich hatte täglich 
91 200, jährlich 15360000 und іп den bewußten 25 Jahren 
334000000 Buchstaben versetzt. Diese Buchstáblein, die in 
unserm Tempel genau 25 Millimeter hoch sind, ebenfalls kopf- 
seits aneinandergelegt, würden eine Strecke von ungefähr 
9600 Kilometern bedecken, was gerade die Zeppelinstrecke 
Friedrichshafen—Lakehurst in Amerika bezeichnen würde. Ап 
Metall ist in den 25 Jahren auch bloß an die 7500 Zentner 
vertilgt worden, eine Menge, die nur ein 38-Waggon-Güterzug 
vom Platze schaffen kónnte. Ja, mit solch einem Quantum, 


* КОКТОЗЕ TAT SACHEN * 


so erklärte mir der nette Herr Fax, sei er wirklich zufrieden, 
wie auch dem „Tarif“ Genüge getan sei. Und versprach mir 
eine Aufbesserung in einer in Anbetracht der damaligen Zeit 
direkt fulminanten Höhe von fünfzig Pfennigen.. 

Dieses Rechenexempel gefiel mir und gefiel auch andern. 
Baute daher noch mehr solcher Dinger zusammen. Und in 
einem jammervollen Gemisch von Blódheit und Stumpfsinn, 
erzeugt und gefórdert durch die nervenzermürbenden Aus- 
strahlungen eines grauen Alltags, entstand námlich auch noch 
folgende tatsächliche Kuriosität: 

Ich wohne in einem Vorort — auf der dritten Etage. 
73 Stufen führen zu diesem Tuskulum. An meiner Arbeitsstätte 
gibt es eine ebensolche tägliche Kraxelei; wohl ein paar Stufen 
weniger, aber immerhin noch 69 Stück. Also je Gang schon 
ı42 Stufen Aufwärtsbewegung. Ganz bescheiden, diese asthma- 
fördernde Prozedur würde ich täglich fünfmal riskieren, er- 
geben einen Treppenturm von 710 Treppenstufen. Bei 20 Zen- 
timeter Höhenunterschied von Stufe zu Stufe ergibt für den 
Tag ı42 Meter. Genau so hoch, wie die Besteigungsfähigkeit 
des Kölner Domes. Alle Tage nun dieselbe Turmbesteigung. 
Bauen wir diese Höhen schön aufeinander, so sind wir im 
Laufe eines einzigen Jahres bereits 52 000 Meter hoch ge- 
klommen. In 20 Jahren wäre dieser Schmerzensberg bereits 
auf 1040000 Meter angewachsen. Volle 1040 Kilometer! Das 
bedeutet nichts anderes, als daß ich in diesen 20 Jahren den 
heißumstrittenen Mount Everest 118 mal bestiegen habe. Auf 
unserer deutschen Zugspitze wäre ich somit 385 mal, auf dem 
Mont Blanc 216mal, und auf dem Kölner Domturm gleich 
gar 6840 mal gewesen. 

Um nun aber auch täglich an meine Arbeitsstätte zu 
kommen, bin ich auf die Elektrische angewiesen. Der Fahr- 
plan weist die Strecke mit einer Länge von je 4930 Meter aus. 
Jeden Tag, jahraus, jahrein, fahre ich diese 4930 Meter viermal 
ab, was eine Tagesetappe von 19720 Meter ergibt. Im Monat 
ist diese Strecke auf nahezu 600 Kilometer angewachsen. Mul- 
tipliziere ich nun mit der Jahresleistung, so komme ich auf 


ж KURIOSE TATSACHEN ж 


rund 7200 Kilometer Fahrt, die mich einmalig über Bengalen 
bis nach Kalkutta in Vorderindien bringen würde. Eine recht 
nette, vielversprechende Reise. Und gleich gar für 20 Jahre. 
Man wird mit einem gewissen Grauen bemerken, daß es in- 
zwischen bereits an die 144 ооо Kilometer geworden sind. So 
viel, daß ich damit dreimal um den Äquator komme. Auch 
wieder geschafft, ohne zu murren und ohne zu klagen, ganz 
neben den tariflichen Buchstabenmassen. Aber der Maßstab 
des Äquators ist noch viel zu unverständlich. Es ist so viel, daß 
ich 240 mal Berlin mit meinem Besuch beehrt haben könnte, 
daß ich ebensooft eine Pilgerfahrt nach Rom machen, daß 
ich 56 mal bis in die Mitte Islands dringen könnte, daß ich 
homal das Grab Tut-anch-Amons in Ägypten besuchen oder 
gar den Nordpol 3omal erforschen könnte, 20 тај die sagen- 
hafte Lamastadt Lhassa in Tibet besuchen und 14 mal an das 
afrikanische Nadelkap reisen könnte. Alles Strecken, die ich 
bloß mit der Fahrt zu meinem Brotherrn neben der Arbeitszeit 
erledigt habe. Und weil wir schon einmal beim Fahren sind: 

Wenn man diese 144000 Phantasie-Kilometer in zwanzig 
Jahren abfährt, dann würde man in weiteren 33 Jahren be- 
reits eine Strecke zurückgelegt haben, die ausreichte, um einen 
kleinen Bummel auf dem Monde machen zu können, der be- 
kanntlich von der Mutter Erde „bloß“ 384 ооо Kilometer ent- 
fernt ist. Also drei Achtel der ganzen Mondreise habe ich in den 
zwanzig Jahren „Arbeitsfahrt“ auf der Elektrischen gemacht. 
Würde ich nun noch etwas weiter „draußen“ auf dem Lande 
wohnen, was auch schon vorkommen kann, so ап die 13 Kilo- 
meter, dann könnte ıch schon heute auf einem der neckischen 
Mondkrater tiefsinnige Betrachtungen über mein 20jähriges 
kilometerfressendes Erdenwandern anstellen. Hübscher Grund, 
um mondsüchtig zu werden. 

Da nun die einzelne 4930-Meter-Strecke rund 20 Minuten 
Fahrzeit beansprucht, so habe ich in den 20 Jahren 0 733 Stun- 
den in der Elektrischen versessen. Hintereinandergebaut, volle 
405 Tage. Und die Nächte dazu. Ein Jahr und 41 Tage. In 
Acht-Stunden-Tage umgerechnet, bloß 315 Jahre. Das Schönste 


ж KURIOSE TATSACHEN * 


dabei ist, daß die nur graue Theorie sein-wollenden Wunder- 
leistungen keine solchen sind, die sich im Zeitraum des Плеп- 
stes ewig gleichgestellter Uhr gesponnen haben; diese Mammut- 
Globetrotterei ist nur in der sagenhaften, in der „freien“, also 
außerdienstlichen Zeit vollbracht worden. Stetig, aber unbarm- 
herzig von den ach so kärglich bemessenen Freuden des Lebens 
rücksichtslos abgezwackt. 

Nach diesen reichlich kuriosen Abgleitungen vom Thema, 
kehren wir nun aber wieder zum Fach zurück. Ganz verträumt 
versetzen wir uns noch einmal in die schauerliche Zeit der In- 
flation, just an die Stelle, an der man gerade mit Billionen 
endete und mit Rentenmark wieder den „Aufbau“ begann. Wir 
wollen natürlich nichts mehr von dem Geräusch der Druckma- 
schinen hören, die damals Tag und Nacht ungeheuere Mengen 
von bunten Bildern, zur damaligen Zeit auch Geld genannt, 
herstellten. Wir wollen nichts mehr von den Papierkörben 
sehen, aus denen man die Löhne bezahlt bekam, die dann im 
Rucksack glückselig nach Hause geschleift wurden, wofür die 
geplagte Hausfrau vielleicht ein Pfund Margarine bekam. Nein, 
nein, weiche, du abscheulicher Spuk! Auch nichts von den ewig 
auf dem Gewerbe ruhenden Unkenruf des permanenten Papier- 
mangels, angesichts der alles ersäufenden Papiergeldflut. Aber 
es verlohnt sich doch, noch einmal die technische Frage aus 
jener unfaßbaren Zeit als Berufskuriosum hier aufzurollen. 
Damit wir und noch mehr, die nach uns, erkennen lernen, wie 
entsetzlich übel dem Menschen der Jahre 1922/23 die Tatsachen 
mitgespielt haben. 

Darum folge man mir: 

Vor mir liegen eine Papier- und eine Rentenmark seligen 
Angedenkens. Aber beide Produkte des graphischen Gewerbes. 
Sie ähneln einander fatal; nur ist die Papiermark etwas kleiner 
als die Rentenmark. Aber ihr innerer Wert ist sehr unter- 
schiedlich und abgrundtief verschieden. Jene ist das Zahlungs- 
mittel von ehedem, diese das Geld von heute. Der Unterschied ist 
zahlenmäßig schnell genug ausgedrückt: 1 zu 1 000 000 ООО ooo. 
Zu welchen Vergleichen diese beiden Geldscheine herausfor- 


ж KURIOSE TATSACHEN ж 


dern, sei hier mit der Frage, wieviel Rollen Rotationsmaschi- 
nenpapier sind nötig, um mit einzelnen Papiermarkscheinen 
eine einzige Rentenmark einlösen zu können, einmal fach- 
männisch dargelegt. 

Was bedeutet eine Billion einzelner Markscheine nun eigent- 
lich. Um sie einfach und möglichst schnell zu drucken, be- 
nutzen wir die leistungsfähige 64 seitige König & Bauersche 
Doppel-Rotationsmaschine. Es kann ja auch eine Vogtländische 
oder eine Augsburger sein. Ganz nach Belieben! Selbstver- 
ständlich müssen wir dann auch von Rollen drucken. Eine 
solche Papierrolle (Berliner Format) hat eine Breite von 
63 Zentimeter und eine durchschnittliche Länge von rund 
8000 Meter. Da nun der Markschein 9,3 Zentimeter breit und 
5,7 Zentimeter hoch ist, so sind aus einem Meter Rollenpapier 
etwa 112 Scheine herauszubringen, was bei der ganzen Länge 
8000 mal 112, also 896000 Scheine ergibt — eigentlich eine 
verwunderlich niedrige Zahl: noch nicht einmal eine Million! 
So wird es aber erklärlich, daß in einer Billion diese 896 ооо 
„bloß“ x 116 O00 mal enthalten sind. Also 1116000 Rollen 
Papier sind tatsächlich notwendig, um eine Billion einzelne 
Markscheine zu erhalten. Dennoch verträgt diese Ungeheuer- 
lichkeit die sorgfältigste Nachprüfung. Also die faustdicke Be- 
stätigung einer tatsächlichen Kuriosität. 70 120000 Goldmark 
sind allein für die Papierbeschaffung aufzubringen, wenn man 
für die etwa 250 Kilogramm schwere Rolle 70 Goldmark in 
Anrechnung bringt. Wir wissen weiterhin, daß die einzelne 
Rolle ungefähr 8000 Meter lang ist. Wollte man nun all diese 
Papierräder aufrollen und deren Enden aneinanderkleben, so 
würde ein weißer Teppich von der bescheidenen Länge von 
8928000 Kilometer entstehen. Damit könnte sich Mutter 
Erde ihren gewichtigen Leib 220 mal umwickeln. Eine derartige 
Bandage gäbe ihr jedenfalls das Aussehen einer mit Papyrus 
eingedrehten Mumie, so daß wir schon vorteilhafter handeln 
würden, den Erdäquator mit einem einzigen Papierbande von 
140 Meter Breite einzufassen. Die aus dieser Papierflut hervor- 
gegangenen Markscheine aber ergeben aneinandergereiht eine 


Hiftorifche erſte Druckpreſſe des Gründers der Buchdruckerei Argen-Bote 
vorm. J. Walchner G. m. b. H., Wangen i. Allgäu, aus dem Jahre 1825 


Jetzt im Altertumsmuſeum Wangen i. Allgäu 


* KURIOSE T4 TSA CHE N * 


Papierschlange von ungefähr 93 Millionen Kilometer Länge, 
was sogar eine 2 325-fache Erdumwicklung bedeutet. Die 
Scheine wieder zu 8000-Meter-Rollen aufgerollt, ergäbe die 
belustigende Tatsache, daß jeder sechste Deutsche sich mit solch 
einer Rolle vergnügen könnte. Um aber nun die großen, nor- 
malen Rollen befördert zu bekommen, dazu bedarf es eines 
Güterzuges, dessen Ende den Bahnhof in Würzburg soeben ver- 
läßt, während die Lokomotive gerade über die Kölner Dombrücke 
keucht. Wir haben anzunehmen, daß nämlich der Waggon 
ungefähr vierzig Rollen faßt, so daß also 27900 Güter- 
wagen den Riesenzug darstellen würden. Das wäre also endlich 
einmal ein zeitgemäßer Zug! Das Gewicht dieser Papiermasse 
ist 279000 Tonnen, was ungefähr die Last von 2 100 kriegs- 
starken Regimentern Soldaten oder eine solche von 4 200 ООО 
normalen Männern ausmacht, und ungefähr der Einwohner- 
zahl Sachsens entsprechen dürfte. Wollte man schließlich die 
gewaltige Zahl dieser Rollen irgendwo aufstapeln, so wählen 
wir am besten eine Stelle am Rhein, wo noch immer die meisten 
Denkmäler — Berlin natürlich ausgenommen — von Deutsch- 
lands Ruhm Kunde geben, wenn auch nicht gerade vom papier- 
nen Ruhm. An Stelle der Kölner Domtürme, die einen Raum 
von 2000 Quadratmetern einnehmen, setzen wir auf das Qua- 
dratmeter eine Rolle. 558 mal müßte man diese 2000 Qua- 
dratmeterfläche aufeinanderlegen, so daß bei 63 Zentimeter 
Papierdicke eine Höhe von 351 Meter herauskäme. Während 
die Türme nur 151 Meter hoch sind. Sicherlich ein gewichtiges 
Fundament zu dem alttestamentlichen babylonischen Himmels- 
turm. Jedenfalls ein ganz hervorragendes Kulturdenkmal vom 
papiernen Deutschland. Und nun kommt der Transport: 
186 000 zweispännige Lastfuhrwerke müßten diesen Segen nach 
dem Lagerplatz fahren. An Druckfarbe, und zwar beschei- 
denerweise nur schwarze, wären, da die große Maschine pro 
Stunde rund einen Zentner verbraucht, beiläufig 9300000 
Kilogramm nótig. Diese Farbe in ein Becken geschüttet, um 
sie dort in ein metertiefes Moorbad zu verwandeln, würde ein 
Riesenbassin von etwa 9300 Quadratmeter Grundfläche benó- 


ж КОКТОЗЕ TATSACHEN ж 


tigen. Die wertvolle Füllung dieser Negermarmelade würde 
rund 9000000 Goldmark kosten. Auch der Verbrauch von 
Schmieról ist nicht klein: etwa 40000 Fúnfliterkannen. Die 
64 seitige Rotationsmaschine aber müßte über 21 Jahre, Tag 
und Nacht lang rasen, ohne даб auch nur einmal die Rolle 
„reißen“ dürfte, um die Auflage herunterzudrucken. Wahrlich 
lange genug, um den Unterschied zwischen einer Papier- und 
einer Rentenmark begreiflich zu machen. 

Das ist wohl eine der kuriosesten Tatsachen, die jemals 
unter den tatsächlichen Kuriositäten zu verzeichnen sein dürfte, 
Grund genug, dies hier zu vermelden und der staunenden Welt 
zu verkünden. 

Dabei liegt nur ein Zeitraum von knapp drei Jahren zwi- 
schen dem Kuriosum und der Tatsache. Und weiterhin ist dabei 
die Frage, wie lange eigentlich unser Altvater Gutenberg auf 
seiner Handquetsche gebraucht hätte, oder wieviel Quadrat- 
kilometer Papierholz geschlagen werden müßte, immer noch 
offen. | | | 

Im Anschluß an diese utopische Betrachtung wollen wir die 
Wirklichkeit nicht vergessen. Eine amerikanische Zeitung gab 
nämlich Ende 1923 die umfangreichste Nummer heraus, die 
bis dahin durch eine Rotationsmaschine gelaufen ist. Diese 
Nummer gliederte sich in 12 Druckabschnitten zu је 16 Seiten. 
Die einzelne Gesamtnummer wog beinahe drei Pfund. Da sie 
in einer Auflage von 565 ооо Exemplaren hergestellt wurde, 
war der Papierverbrauch rund an die 875 Tonnen, was unge- 
fähr 3700 Papierrollen entsprechen dürfte. Finanziert scheint 
sie gut gewesen zu sein, denn ein Drittel war Text, zwei Drittel 
stellten die geldbringenden Inserate. Die einzelne Nummer war 
ungefähr zwei Zentimeter dick, was, wenn man die ganze Auf- 
lage aufeinanderbaute, einen Zeitungsturm von rund 11300 
Meter Höhe ausmachte, der den höchsten Berg der Erde noch 
um die Hälfte überragen würde. Wollte man aber beim Kölner 
Dom bleiben, so könnte man aus dieser Monstre-Auflage 
75 Domtürme machen. Im Vergleich zu obiger Billionen- 
Rechnung aber erbrächte die ganze Papiermenge trotz allem 


ж KURIOSE TATSACHEN X 


dem erst nur den dreihundertsten Teil einer Billion Mark- 
scheine. 

Wenn man nun so sieht, was so ein Buchdrucker alles ver- 
setzt, verdruckt, verführt, versteigt usw., so muß man sich das 
Eingeständnis machen, daß die Brüder der schwarzen Zunft 
ein gar kurioses Völkchen sind, und daß jeder einzelne von 
uns ein Unikum, ein richtiggehendes Kuriosum darstellt, wie 
die Zusammentragung dieser Raritäten ja auch trefflich beweist. 


Die 
Costerlegende und ihre Verfechter 


Obwohl sich gerade ein Deutscher, der bekannte Bibliothe- 
kar und Inkunabelforscher Gottfried Zedler — und nur ein 
Deutscher konnte diese Tat vollbringen — mit einer Schrift 
für die „Wahrheit“ in Sachen der Erfindung der Schriftgießer- 
und Buchdruckerkunst durch den Holländer Coster einsetzte, 
so ist es dennoch in Holland selbst, wo der Haarlemer Licht- 
gießer und Kneipwirt Laurens Jansson Coster vor mehr als 
500 Jahren diese Erfindung gemacht haben soll, und wo sie vor 
100 Jahren noch laut genug gefeiert werden konnte, heute da- 
von recht still geworden. 

Da nun die deutsche Fachpresse schon vor mehreren Jahren 
eingehend zu der Frage, ob Coster oder Gutenberg als eigent- 
licher Erfinder der „schwarzen Kunst“ anzusehen wäre, zum 
Teil ablehnend, zum Teil abwartend, Stellung genommen hat, 
könnten wir unseren Lesern es ersparen, diese Angelegenheit 
erneut zur Sprache zu bringen, wenn nicht eine soeben einge- 
gangene bedeutsame Zuschrift in dieser Sache Veranlassung 
dazu geben würde. Einer unserer Mitarbeiter schreibt zum 
Thema unserer Überschrift folgendes: 

Auch wenn wir in der Be- oder Verurteilung des Zedler- 
schen Buches und seiner Tendenz einig sind, dürfen wir doch 
keineswegs die Verdienste des bedeutsamen Forschers bestreiten. 
Ist doch ihm die erste sorgfältige Untersuchung der hollän- 
dischen Frühdrucke zu verdanken, selbst wenn man ihm eine 
irrige Ansetzung dieser Drucke in zeitlicher Hinsicht vorhalten 
muß. War er doch der Erste, der klar und deutlich die Drei- 
heit der Erfindung (Stempelschnitt, Maternprägung, Gießin- 
strument) auf die Geschichte der Erfindung selbst in Anwen- 
dung brachte. Ob er ahnend und konstruierend mit seiner Zu- 
teilung dieser Erfindungsdreiheit an Coster und an Gutenberg 
das Rechte getroffen hat, das zu bezweifeln, haben wir ja leider 
berechtigten Anlaß. 

Was ihm aber vor allem vorzuhalten ist, ist, daß er dem 
_ Druckproblem, der Verwendung der Presse und der Frage, 


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Johann Gutenbergs erſte Buchdruck⸗Preſſe 


wurde 1441 in Straßburg erbaut, 1444 mit nach Mainz überfiedelt, und dort im Jahre 1856 
aus dem Brandſchutte der ehemaligen Gutenberg (феп Druckwerkſtaͤtte im „Hof zum Jungen“ 
ftüdwelfe wieder ausgegraben 


e. BI: Jeau 


ж COSTERLEGENDE UND IHRE VERFECHTER x 


welche Art Pressen denn Coster verwendet hat, nicht die rechte 
Aufmerksamkeit geschenkt hat. Gerade in diesem Punkt hätte 
er noch Unterstützung für seine Hypothese oder, wie man rich- 
tiger sagen kann, Geschichtskonstruktion suchen müssen und 
auch finden können, denn darüber sind wir uns ja einig, daß, 
da diese Konstruktion allein beruht auf dem einen Satz der 
Kölner Chronik von 1499, wo es heißt, daß die erste Erfindung 
der Buchdruckerkunst von den holländischen Donaten ausge- 
gangen sei, er ein zu schwacher Unterbau für ein derartiges Ge- 
bäude ist. Im Sinne Zedlers aber, der ja hauptsächlich auf der 
Ausdeutung des Namens „Сочег — Küster zu bauen begann, 
móchte ich nur einen, wie mir scheint, nicht unwichtigen Bei- 
trag eben als Stütze seines Gebäudes liefern: Wenn Laurens 
Jansson Coster, wie Zedler behauptet, als Nachfahre seiner 
Voreltern, die als Küster auch Schulmeister und damit Lie- 
feranten (Erzeuger) der Unterrichtsmittel für ihre Schüler ge- 
wesen sein sollen, als Lichtzieher oder Kerzenmacher, eben zur 
Versorgung der Beleuchtung der großen Kirche zu Haarlem, 
tätig war, so fehlt uns nur noch das Bindeglied zwischen beiden 
Tätigkeiten: der des Druckens von Schulbüchern und der des 
Herstellens von Kerzen, und dieses ıst in der Presse, die die 
Bücher wie das Material für die Kerzen lieferte, zu suchen. 

Das wichtigste Instrument des Kerzenmachers war eine 
Presse, die zum Auspressen des erhitzten Talges diente, und 
ein glücklicher Zufall hat uns eine solche alte Presse über- 
liefert. Sie ist in einem französischen Werk aus dem 17. Јаћг- 
hundert, das auch in deutscher Sprache im Jahre 1762 ег- 
schien, abgebildet, und zwar ist, wie alle Geräte und Tech- 
niken in diesem französischen Werke, auch die Presse des Licht- 
ziehers ein uraltes Werkzeug, das in gleicher Form im frühen 


Mittelalter gewiß schon seine Verwendung gefunden hat. Da- 


mit ist gesichert, daß die Presse unseres Kerzenmachers Coster 
kaum eine andere Konstruktion gehabt haben kann. Diese 
Presse aber ist nun das Vorbild und der Ausgangspunkt der 
Buchdruckerpresse des ı5. Jahrhunderts gewesen. Schreiben 
doch auch die Biographen Gutenbergs, er habe sich einer höl- 


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zernen Wein- oder Fruchtpresse zum Druck seiner Bücher 
bedient, und zwischen einer solchen und der Presse eines Licht- 
ziehers ist in der Grundform wenigstens ein Unterschied nicht 
zu erkennen. Wie naheliegend war es nun für Coster, wo en 
in seinem Betriebe schon ein geeignetes Werkzeug hatte, mit 
geringen Abänderungen, d. h. unter Verwendung eines Tisches 
an Stelle des Preßbottichs aus seiner Talgpresse eine Buch- 
druckerpresse zu machen. Die nebenstehende Abbildung gibt 
eine deutliche Vorstellung von der Art der Presse, und ein 
Vergleich mit den ältesten Abbildungen von Buchdrucker- 
pressen Ende des 15. Jahrhunderts, die ja aller Welt bekannt 
sind, macht deutlich, wie klein der Schritt von der einen zur 
anderen Presse war. Wir glauben, mit diesem Hinweis nicht 
unbedeutende Stützpunkte für die Geschichtskonstruktion des 
Verfechters der Costerlegende gefunden zu haben und emp- 
fehlen ihm, dieser Sache weiter nachzugehen. 

Im Zusammenhang mit dieser Ausführung aber fühlen wir 
uns verpflichtet, auf einen anderen Punkt in der Geschichte 
der Erfindung der „schwarzen Kunst“ noch ganz kurz ein- 
zugehen. Wie männiglich bekannt, hat Gutenberg schon in 
Straßburg, wie deutlich aus den Straßburger Prozeßakten her- 
vorgeht, im Jahre 1436 mit seinen Sozien zusammen, zur Нег- 
stellung der Spiegel, wie es heißt, für die Aachener Heiltums- 
fahrt eine Presse angewandt. Zwar hat man aus den Prozeß- 
akten niemals mit deutlicher Klarheit ersehen können, ob 
diese Gesellschaft, der Gutenberg sein Ingenium zur Verfügung 
stellte, wirklich die Herstellung von Drucksachen, seien es nun 
Flugblätter, Bücher oder dergleichen, beabsichtigt oder durch- 
geführt hat. Da nun aber dieser Gesellschaft auch Besitzer 
einer Papiermühle angehörten, war es mir eigentlich nie zwei- 
felhaft, daß ein typographisches Unternehmen mit ihr verbun- 
den war. Auch die Erwähnung von Spiegeln in den Urkunden 
kann mich darin nicht wankend machen, im Gegenteil: ge- 
hört doch zu den im ı5. Jahrhundert sehr häufig verlegten 
Druckwerken volkstümlich-religiöser Zwecke, wie sie ja bei 
der Aachener Heiltumsfahrt verfolgt wurden, der Druck eines 


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Alte Kerzenpreſſe 


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x COSTERLEGENDE UND IHRE VERFECHTER x 


„Speculum humanae salvationis", des Spiegels der mensch- 
lichen Behaltnus (Errettung). Liegt es hier nicht auf der Hand, 
daß diese Gesellschaft ein solches gerade für eine Heiltums- 
fahrt passendes Druckwerk herstellen wollte: und wenn dies 
richtig ist, so ist das Drucken von Büchern durch Gutenberg 
wenigstens für seinen Straßburger Aufenthalt gesichert. (Daß 
nirgends ein Exemplar einer solchen Drucksache aus dieser 
frühen Zeit heute mehr aufzufinden ist, beweist nichts gegen 
die Annahme, daß sie überhaupt erschienen ist oder doch we- 
nigstens geplant war.) Die Verwendung oder wenigstens ge- 
plante Verwendung einer Presse zu Druckzwecken ist m.E. 
ein notwendiger Teil der Erfindung Gutenbergs: eine Presse 
war ja für den Holztafeldruck nicht nötig, wohl aber für 
den Druck mit typographischen Druckmitteln (Schriftsatz). 
Des weiteren aber sind sich alle Fachleute heute darüber einig, 
daß der Holztafeldruck keine als notwendig anzusehende Vor- 
stufe für den typographischen Druck gewesen ist, vielmehr ist 
er noch neben dem typographischen Druck im 15. Jahrhun- 
dert hergegangen. — Also ist an der Tatsache der Umkonstruk- 
tion einer Fruchtwein- oder ähnlichen Presse zu einer Buch- 
druckpresse als notwendigen Gliedes in der Erfindung der 
„schwarzen Kunst” nicht zu rütteln! Ist nun meine Schluß- 
folgerung richtig, oder widerspricht sie wenigstens den Mög- 
lichkeiten nicht, so rückt damit die Erfindung Gutenbergs, 
zeitlich genommen, sehr weit zurück, und es müßte von seiten 
der Costerfreunde etwas geschehen, um auch zeitlich die Erfin- 
dung Costers für das erste Drittel des 15. Jahrhunderts zu 
sichern. Daran fehlt es aber bisher. — Soweit die Zuschrift. 

Wir geben die vorstehenden Ausführungen unseres Mit- 
arbeiters allerdings nicht ohne einige Bedenken wieder. Nach 
wie vor sind wir der Meinung, daß es einen Buchdrucker 
Coster, der ın Haarlem пп 15. Jahrhundert vor oder während 
der Lebzeiten Gutenbergs Bücher im typographischen Ver- 
fahren gedruckt hat, nicht gegeben hat. 

Auch scheint uns die Ähnlichkeit zwischen einer Talgpresse 
und einer Buchdruckpresse keineswegs eine Stütze für Zedlers 


ж COSTERLEGENDE UND IHRE VERFECHTER ж 


Konstruktion zu sein. Das ehrsame Gewerbe eines Kerzen- 
machers ist unter keinen Umständen geeignet, die „Vorbil- 
dung" oder den Übergang zum Buchdruck nach typographi- 
schem System zu bieten. Wir bezweifeln damit aber nichk, 
daß Zedler einen solchen Gedankengang wie der Ertrinkende 
einen Strohhalm mit Freude ergreifen wird. Anders dürfte 
er sich freilich zu dem zweiten Teil der vorstehenden Mit- 
teilung stellen: der Konjektur unseres Mitarbeiters zu dem 
Worte „Spiegel“ und dem Versuch, glaublich zu machen, daß 
Gutenberg schon in Straßburg (,, Spiegel“) gedruckt habe. 

Wir haben unseren verehrten Mitarbeiter im Verdacht, daß 
es sich hier um eine ,,Eulenspiegelei" handelt. 

In Sachen der Erfindung der schwarzen Kunst selber aber 
móchten wir nur noch auf einen Beitrag hinweisen, den wir 
vor einiger Zeit in den „Schweizer Graphischen Mitteilungen“ 
fanden. Dort wurde aus einer Leipziger Chronik eine Stelle 
wiedergegeben, nach der die Erfindung der BuchdrucÉerkunst 
von einem Leipziger Goldschmied gemacht sein soll, und zwar 
war das Spaßige an dieser Geschichte, daß, genau wie die 
Coster-Freunde es von Gutenberg behaupten, auch hier ein 
Gutenberg dem Leipziger Erfinder seine Erfindung gestohlen 
haben soll. Diese Geschichte ist zu merkwürdig, als daß wir sie 
an dieser Stelle unseren Lesern vorenthalten könnten. Sie möge 
daher den Beschluß unserer heutigen Betrachtung zur Coster- 
Lüge machen. 

Es handelt sich um eine Handschrift aus dem ı6. Jahr- 
hundert, von einem Korduanmacher namens Konrad Schrötter 
geschrieben. Laut Kolophon wurde die Handschrift am ,,Erch- 
tage" nach Quasimodogeniti des Jahres 1552 beendet. Der 
Verfasser wurde nach eigener Angabe im Jahre 1500 geboren. 
Diese Chronik nun ist, wie alle deutschen Chroniken des 15. 
und 16. Jahrhunderts, aus anderen Chroniken, Historiken, Ge- 
nealogien, Zeitungen, Ratsberichten und Stadtklatsch zusam- 
mengestellt und enthält, wie gesagt, einen für die Geschichte 
des Buchdrucks nicht unwichtigen Passus, der, ins neuere 
Deutsch übertragen, etwa folgendermaßen lautet: 


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ж COSTERLEGENDE UND IHRE VERFECHTER ж 


„Anno 1444 wurde zu Deutschland die hochedle, ewig lob- 
und preiswürdige Kunst, Bücher zu drucken, gefunden, nicht 
wie ansonsten in einigen Schriften zu lesen, zuerst in Mainz, 
sondern hier zu Leipzig, und zwar ist es mein Ahn, der Vater 
meiner Großmutter selig gewesen, der sie gefunden hat: der 
Goldschmied und städtische Siegelgraber Georgius Dunker mit 
Namen, bei dem mein Großvater in jungen Jahren in der Lehre 
gewesen ist und dessen zweite Tochter mit Namen Elisabeth 
er zur Ehe gewann. Und mein Großvater, Paulus Schrötter 
genannt, der, wie oben gemeldet, mich erzogen hat, da mein 
Vater selig früh verstorben war, hat mir oft die Zettel ge- 
wiesen, die mein Ahn Anno 1444 gedruckt gehabt hat. Und 
diese Zettel waren gedruckt gewesen für die Chorherren von 
St. Thomä, die damals den Ablaß in Leipzig verkauften. Aber 
durch den Unverstand seiner Magd sind diese wenigen Zettel, 
die mein Großvater noch hatte, leider verloren gegangen, doch 
bewahre ich noch einige der silbernen Buchstaben, die mein 
Ahn zum Drucken verwandt hat. Er hat sie, wie mein Groß- 
vater, genannter Paulus Schrötter, mir sagte, selbst gemacht, 
sie sind sehr sauber gearbeitet und schön poliert. Heute aber 
gießt man die Buchstaben anders, nämlich aus Blei und Zinn, 
wie ich es oft bei dem Buchdrucker Valentin Bapst, der seine 
Werkstatt in der Sporergasse hat, gesehen habe. Mein Ahn aber 
hat, wie mir Großvater oft erzählte, Же Buchstaben zuerst in 
eine Holzplatte geschnitzt, sie aus dieser fein säuberlich heraus- 
geschnitten und rechtwinklig zugefeilt, sie dann in feuchten 
Ton eingedrückt und die Höhlung mit Silber ausgegossen. 

Die Kunst aber, die Bücher zu drucken, auf die mein Ahn 
viele Mühe und Zeit verschwendet hatte, ist ihm, bevor er sie 
recht auszunutzen begonnen hatte, von einem seiner Gesellen, 
der ihm beim Druck der sogenannten Zettel behilflich war, 
mit Namen Hans Gentzfleisch aus Mainz, den sie den „raschen 
Henne“ nannten, einen flinken, klugen, aber geckigen Bur- 
schen, gestohlen worden. In einer der letzten Novembernächte 
des Jahres 1444, als mein Ahn mit Weib und Kind zur Ad- 
ventsvesper nach der Kirche St. Thomä gegangen war, hat ge- 


ж COSTERLEGENDE UND IHRE VERFECHTER x 


nannter Gentzfleisch alles Gerät und Zeug, die hölzernen und 
die silbernen Buchstaben errafft und ist über die Stadtmauer 
und den Graben auf und davon, und mein Ahn hat den Dieb- 
stahl erst am nächsten Morgen erkannt und er ist ganz un- 
sinnig geworden vor Gram darüber, er hat suchen lassen nach 
dem Dieb und ist vorstellig geworden beim Rat. Und unsere 
Herren haben wohl auch nach Mainz geschrieben, ob sich der 
Dieb wohl dorthin gewandt. Ist aber Antwort gekommen von 
dem Rat zu Mainz, sie wüßten, er sei zu Straßburg im Elsaß, 
че könnten sein aber wohl nicht habhaft werden dort, denn er 
stehe in Gunst beim Bischof dieser Stadt, und aus Kummer 
über diesen Diebstahl ist mein Ahn bald darauf krank ge- 
worden und gestorben. Und da niemand sonst diese Kunst 
verstand, denn mein Ahn hatte sie geheim gehalten, so war 
alles verloren. Zwar führte die Witwe des Ahn mit einem 
Gesellen die Werkstatt weiter, wußte aber nichts anzufangen 
mit dem wenigen, was ihr von dieser Kunst geblieben war 
und mein Großvater, der bei meinem Ahn, wie gemeldet, zur 
Lehre ging, forschte auf seiner Wanderschaft viele Jahre später 
nach dem „raschen Henne“ und fand ihn auch zu Mainz, wo er 
іп Ansehen stand und köstliche Bücher druckte, aber er konnte 
nichts gegen ihn ausrichten. So ist denn mein Ahn und meine 
Voreltern um diese Kunst betrogen worden, und auch meiner 
Vaterstadt Leipzig ist diese Ehre geraubt worden. Ich wollte, 
Gott hätte mir die Gabe geschenkt, zu reden wie Cicero und 
Demosthenes oder die Überredungskunst des Georgias und Pra- 
tagoras gegeben, so wollte ich in Worten und Schriften gewaltig 
den Ruhm unserer Vaterstadt verkünden, daß іп ihren Mauern 
die Kunst des Buchdrucks kuerst geübt worden ist. Und dennoch 
müßte ich fürchten, daß ich tauben Ohren predigte, und so 
wird wohl das, was nur mir und wenigen meiner Freunde be- 
kannt ist, im Verborgenen bleiben und diese Kenntnis nach 
meinem Tod auslöschen.“ 

Uns macht der Bericht dieser Chronik den Eindruck, als 
sei er eine Parodie auf die von den Hollündern erdichtete 
Costerlegende. Die Schriftleitung. 


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Druckfehlerteufel 


Von Arthur Stlbergleit, Berlin⸗Zehlendorf 


Fiel da juſt und ſaprament einem unehelichen Till⸗Eulen⸗ 
ſpiegelenkel, der nach der Landſtreicherart ſeines Großvaters 
lebte, eine ganz neue Schelmenweiſ' ein! Was nutzte es ihm, 
wenn der Stadtbüttel einherſtampfte und ihn mitten auf der 
Straße für manchen Schabernack zu dem Zigeunervolk hinter 
Gitter zu ſperren drohte, zum Selbſtſchutz plötzlich unter die 
ро, muffigen, dicken Flanell- und Wollröcke auf: 
reiſchender ehrwürdiger Matronen, zimperlicher Jung fern und 
feſtverſchnürter Patrizierfrauen wie in doppeltorige offene Schil⸗ 
derhäuschen rechts hinein⸗ und links hinauszuhuſchen, was 
hatte er davon, wenn er als verkleidete Hebamme eheliche Mütter 
mit der Lüge überraſchte, ſie hätten Zwillinge geboren, während 
er in Wahrheit ein uneheliches Kind neben ein eheliches legte, 
oder wenn er auf die Hinterteile der Ochſen und Kühe die Ge⸗ 
ſichter ihrer Beſitzer mit Kreide malte; ihn gelüſtete nicht mehr 
nach ſolchem billigen Eintagsruhm, ſein Ehrgeiz war fortan 
ſtärker als bisher, da er noch über manchen kleinen Schabernack 
Freude empfand. Er wußte freilich, daß die Allongeperücken der 
Stadtſchreiber vor heimlicher Wut ihrer Träger wackelten, wenn 
er ganz unbefangen ins Rathaus kam, um ſich angeblich einen 
Gewerbeſchein ausſtellen zu laſſen, in Wirklichkeit aber ſich an 
ihren grimmigen Geſichtszügen zu weiden, da er ihnen nachts 
vorher heimlich flüſſigen Kalk in die Tintenfäſſer gegoſſen hatte. 
Und wie die Spießbürger und ſeine getreuen Anhänger verdutzt 
dareinſchauten, als er während ſeiner Beerdigung plötzlich den 
Sargdeckel von innen hob, als ſorgfältig gewaſchener Leichnam 
allen Teilnehmern an der Trauerfeier für ihr Beileid herzlichſt 
dankte und fich und ihnen noch ein recht langes Leben wünſchte! 
Solche flüchtige, kleine Scherze konnten ſeine Begierde nach 
unvergänglichem Ruhm nicht ftillen. Und er erinnerte fich plötz⸗ 


ж DRUCKFEHLERTEUFEL ж 


lich der folgenden Begebenheit: Er war als Wanderburſch eines 
Tages in ein Städtchen gekommen, hatte einen Bürger vor ver⸗ 
gitterten Fenſtern nach dem Bewohner dieſes Hauſes gefragt 
und erfahren, daß es ein Gelehrter ſei, der nur ſelten ſein Heim 
verlaſſe, weil er ſein Leben ganz den Wiſſenſchaften widme. 
Da das Haus mitten in einem Garten lag, kletterte er in einer 
mondloſen Nacht unbemerkt auf einen Baum nahe gegenüber 
der Gelehrtenklauſe, verbarg Körper und Füße in der dichten 
Laubflut des Wipfels und überſtülpte fein Antlitz mit emer 
brennend gelben Mondmaske, durch deren Mundſchlitz er tin 
kunſtvollen Bogen durchs offene Fenſter mitten auf die Glatze 
des Gelehrten ſeinen Speichelregen niederſprühen ließ. Entſetzt, 
als narrte ihn Geiſterſpuk, fuhr der alte Bücherwurm auf, 
ſuchte unter den mit verſtaubten Pergamenten und Weisheits⸗ 
rollen bis zur Decke hoch geſchichteten Regalen, ob unter ihnen 
etwa Satan hauſe und ſchaute dann hilfe⸗ und troſtſuchend zu 
ihm, dem Mond mitten im Baume, empor. Ja, wenn er wirk⸗ 
lich ſpuckte, dann ſpukte es geheimnisvoll. Dieſes Spiel 
wiederholte er, ſtieg dann vor Morgendämmerung vom Wipfel 
und ſuchte am nächſten Tage den Gelehrten auf, um ſich an⸗ 
geblich feine Bücherſchätze zeigen zu laffen. Dieſer nannte die 
Wiſſenſchaft in der Zeit allgemeiner Verwirrung und all⸗ 
gemeinen Trugs mit hochgemutem Stolz die einzige Sicherheit, 
die einzige Wahrheit, an die man ſich in allen Lebenslagen halten 
könne. Überhaupt ſeit Meiſter Gutenbergs Kunſt ſiegreich ins 
Land dringe und durch ihre Drucke die Bildungsmöglichkeiten 
erweitere, ſei es ihm eine Luſt zu leben. Solchen alten Narren⸗ 
hochmut aber wollte Tills Enkel beſtrafen und ſich ſelbſt ein 
unvergängliches Schriftdenkmal ſichern. Er fühlte ſich als 
heimlicher Satansſohn bereit, die Ordnung und Feſtigkeit der 
bürgerlichen Welt zu erfchüttern und haßte ihren durch die Die⸗ 
ner von Thron und Altar geweihten Selbſtbetrug ewiger Be⸗ 
ſtändigkeit. Bei den Worten des Gelehrten ſchoß ihm pfeil⸗ 
ſchnell der Gedanke durchs Hirn, ſich von Meiſter Gutenberg 
als Setzerlehrling dingen zu laſſen, durch vollkommene Leiſtungen 
allmählich fein Vertrauen zu gewinnen und dann, bei felbftán: 


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— — — — 


ж DRUCKFEHLERTEUFEL ж 


diger Arbeit, Druckfehler in koſtbare Bibeldrucke einzuſchmug⸗ 
geln, denn wenn erſt einmal der Geiſt Satans in die Bibel ein⸗ 
gedrungen ſei, werde auch er, der uneheliche Till⸗Eulenſpiegel⸗ 
enkel, unter dem Namen des Druckfehlerteufels unſterblich 
werden. 

Geſagt, getan. Meiſter Gutenberg muſterte ſeinen neuen 
Lehrling erſt argwöhniſch, wurde aber bald durch die Sorgfalt 
und Geſchicklichkeit des Fremden aufs angenehmſte überraſcht, 
ſo daß er ihm nach einiger Zeit den Ehrentitel eines Geſellen 
und ſelbſtändigen Setzers verlieh und ihn mit der Teilnahme 
am koſtbaren Bibeldruck betraute. Da dieſe Arbeit nur we⸗ 
nigen, erprobten Günſtlingen des Meiſters übertragen wurde, 
jeder für ſich ſeinen vorgeſchriebenen Teil erledigte und über⸗ 
dies der ſelbſt am ſtärkſten beſchäftigte und ſonſt mit Recht 
vertrauensſelige Meiſter die Überprüfung des Ganzen erſt zu⸗ 
letzt vornahm, konnte ſich Tills Enkel in der gefliſſentlichen An⸗ 
häufung von Druckfehlern unbemerkt geraume Zeit austoben. 
Ja, er beeinflußte ſogar die anderen gutwilligen Geſellen zur 
Unaufmerkſamkeit, indem er während der Arbeit ſtändig pfiff 
und auf die Vorhaltungen ſeiner Genoſſen einfach erklärte, er 
ſei verliebt wie ein Vogelpapa, und verliebte Leute ſeien nun 
einmal herzens fröhlich. Gegen ſolche Einwendungen, zumal ba 
ſie in einem treuen und gemütlichen Tonfall vorgebracht wur⸗ 
den, vermochte es kaum eine wirkſame Widerrede zu geben, 
Tills Genoſſen lachten vielmehr nur und freuten ſich in der 
Stille ihrer Werkſtatt über ihren fröhlichen Arbeitskumpan, der 
die Trockenheit und Eintönigkeit ihres Daſeins mit Munterkeit 
würzte. Da wurden aus vorgeſchriebenen Stirnen gedruckte Dir⸗ 
nen, aus Moſes eine Hoſe, aus Propheten Diäten, aus Gott 
Spott, aus einem Berg ein Zwerg, aus Altar Schaltjahr, aus 
Juden Luden, aus Ammon Mammon, aus Mädchen Wädchen, 
aus einem Enkel ein Henkel, aus einem Kind ein Rind, aus 
Siegen Ziegen, aus einem Tempel ein Krempel, Beine ver⸗ 
wandelten fih in Schweine, Gräſer in Aſer: kurz ein Teil der 
= Schrift las fid) plötzlich wie ein verruchtes, unzüchtiges 

uch. 


65 


ж DRUCKFEHLERTEUFEL ж 


Und eines Tages war Tills Enkel auf Nimmerwiederſehen 
verſchwunden. Jetzt erſt überprüfte der Meiſter die Arbeit ſeines 
Geſellen und gewahrte zu ſeinem Entſetzen alle Fehler! 

„Er hat mir den Teufel ins Haus gehetzt, darum ſollen die 
falſchgedruckten Buchſtaben fortan Druckfehlerteufel heißen!“ 
Tills Enkel aber lachte auf der Landſtraße in ſich hinein; er 
hatte ja als heimlicher Satansſohn ſein Ziel erreicht und war 
unſterblich geworden; denn ſeitdem bleibt der Druckfehlerteufel 
unausrottbar. 


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Die Linotype einft und jetzt 


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Mensch und Maschine 


Von Sepp Wundshammer, Köln-Braunsfeld 


Das Hauptrüstzeug des Buchgewerblers war schon immer 
die Maschine. Mit Riesenschritten vermechanisiert sich der Be- 
ruf immer mehr, verliert aber dadurch an Seele und Gemüt. 
Diese verflüchtende Seele zu schürfen, zu suchen und zu fin- 
den, ist zur lautern Notwendigkeit der heutigen Generation ge- 
worden. Immer mehr werden die Menschen zu Maschinen, 
eben zur Zeit, wo man Maschinen zu Menschen oder wenigstens 
zu menschenähnlichen Wesen machen wollte. Lasse es dir ge- 
sagt sein, du Jünger Gutenbergs, halte die Augen wach, daß du 
nicht selbst zum Automaten wirst. Ach, Mensch und Maschine! 

Beide stehen zueinander in einem weitaus engern verwandt- 
schaftlichen Verhältnis, als man schlechthin annimmt. Ja, die 
Maschine ist — poetisch ausgedrückt — nämlich die Rippe aus 
des Menschen Leibe. Aus ihr sollte nützliche Gesellschaft des 
Menschen erstehen. Schon der Urmensch hat diesen Formver- 


ж MENSCH UND MASCHINE * 


such gemacht: In Nachahmung des Armes mit der geballten 
Faust schuf er Steinhammer und Axt, in Nachahmung des 
Mensch und Tier von der Natur gegebenen Gebisses bildete er 
Säge und Schere, und in Nachahmung des Beispiels, das die 
Natur am Menschenleibe gab, konstruierte er die Röhre als Zu- 
leitung des Wassers, das photographische Objektiv als Nach- 
bildung des Auges, die Greifer als künstliche Finger, das Mi- 
krophon als mechanisches Ohr usw. Schon an Hand dieser 
wenigen Beispiele ersieht man, daß die Maschine ein Teil von 
uns selber ist. 

Wie jeder Mensch seine Fehler hat, so auch jede Maschine. 
Beispielsweise arbeitet ein Mann jahrelang an einer gutfunk- 
tionierenden Maschine, er kennt an ihr jeden Atemzug und 
nimmt duldsam — weil er es nach vielen Erfahrungen aber erst 
gelernt hat — auf besondere Charaktereigenschaften, die sie bei 
der Geburt mitbringt, Rücksicht. Hundert gegen eins ist zu wet- 
ten, daß nun ein anderer Mann an ihr allerlei zu mäkeln und 
zu benörgeln hat und der Maschine ein gut Teil ihrer einstigen 
Leistungsfähigkeit abspricht. Unschwer erkennt man aber bald, 
daß es in Wirklichkeit nur ein unduldsames, meist mißverstan- 
denes Zueinanderpassen ist, was einerseits die Arbeit unfreudig, 
anderseits aber auch unrentabel macht. Beispielsweise: so eine 
Setzmaschine ist ein gar viel Liebe heischendes Ding, und nur 
zartbesaitete Menschen sollen sich ihr anvertrauen, nicht aber 
solche, die bei jeder Gelegenheit nach einem großen Zuschlag- 
hammer Umschau halten, um der Widerspenstigen Zähmung 
einzuleiten. Backfischartige Schwärmerei soll es natürlich nicht 
sein, aber ein gut Teil mehr dürfte der Psychologie einer Setz- 
maschine doch nachgegangen werden. Dies könnte allen Teilen 
nichts schaden. Es kann ja einen erbarmen, wenn man oft die 
Unlust und das natürlich direkt nebenhergehende Unver- 
ständnis erblickt, mit dem das Schicksal manchmal Mensch und 
Maschine zueinander gekettet hat... 

Sowohl beim Fachmann als auch beim Laien noch viel mehr 
wird durch das Wort ,,Setzmaschine“ im Gedankengang etwas 
ausgelöst, was mit der Bezeichnung Erfindungsgenie und Ideen- 


ж MENSCH UND MASCHINE ж 


jäger eng zueinander steht. Was beispielsweise ап der Rota- 
tionsmaschine imponiert, ist die Großzügigkeit, der Schwung, 
die Wucht; was aber an der Setzmaschine nun wieder ungeteilte 
Bewunderung hervorruft, ist die raffinierte Art und Weise, 
mit der Probleme hier gelöst wurden, die manchmal geradezu 
phantasiehaft erscheinen. Es sei jetzt nur flüchtig an das Sor- 
tieren von 90 verschiedenen Matrizen an der Ablegevorrich- 
tung der Setzmaschine erinnert. Nichts imponiert mehr als 
diese von unsichtbarem Geist kommandierten 6000 Matrizen 
(vier kriegsstarke Regimenter) einer Viermagazin-Linotype, die 
alle mit einer wunderbaren Selbstverständlichkeit zu ihrem Aus- 
gangspunkt zurückkehren. Gerade dieses technische Wunder- 
spiel ist es, was den Beschauer immer wieder zu dem Ausruf 
veranlaßt: „Ein Genie, dessen Geist diese geschaffen!“ Mit 
einer gewissen Andacht gedenkt man dieses Geistes. Wenn auch 
die Linotype heute für den Buchdrucker resp. Maschinensetzer 
den Nimbus des Wunderbaren durch die Arbeit des grauen All- 
tags verloren hat, so wirkt sie auf den unbefangenen Laien stets 
von neuem fast wie ein Wunderwerk. Nur derjenige, der es 
sich angelegen sein läßt, in der Setzmaschine ein Lebewesen zu 
erblicken, wird so recht erkennen, was für ein Wunderding sie 
eigentlich ist. Er wird bald erkennen, daß es falsch sei, zu 
glauben, die Arbeit des Kopfes sei reicher an Sensation und er- 
strebenswerter als die der Hände. Jede Maschine, jedes Werk- 
zeug ist interessanter als die Bureauarbeit, immer vorausgesetzt, 
daß der Mensch an der Maschine nicht selbst zur Maschine 
wird, sondern faktisch umgekehrt. Man vergleiche die Linotype 
mit einem lebenden Organismus, und man wird bald konsta- 
tieren können, daß der Verkehr mit ihr bei weitem interessanter 
ist und vor allem unterhaltender als mit go v. H. der mensch- 
lichen Bekannten, besonders in der Jetztzeit. 

Tatsache ist, daß die Setzmaschine ein Organismus von sol- 
cher Überlegenheit und Sachlichkeit ist, daß sie den Menschen 
an Intelligenz und Zuverlässigkeit bei weitem übertrifft ... 
Das Gehirn einer Linotypesetzmaschine ist eine neunzigfach 
variierte Zahnstange, ein Apparat, der nach neunzig Rich- 


ж MENSCH UND MASCHINE * 


tungen entscheidet, neunzig und zwanzig Messingmatrizenge- 
danken sauber erfaßt und registriert und erst die einundneun- 
zigste als ihm unverständlich ablegt, ein Mechanismus, der gegen 
jeden verbogenen Punkt remonstriert und lieber zerbricht, 
als daß er einen falschen Beistrich vorbeiließe. Zeigen Sie mir 
den Menschen, dessen Gehirn gleichzeitig mehr als drei oder 
vier Ideen erfaßt, und der nicht schon bei diesen außerstande 
ist, sie in Einklang zu bringen! 

Man weiß, daß sie alle halbe Stunde mit zwei Bleibatzen ge- 
futtert werden muß, um in der Absonderung grauweißer Blei- 
zeilen fortfahren zu können, daß man ihren Kesselmagen glei- 
chermaßen vor Erkältung wie vor Überhitzung zu schützen hat, 
weil er sonst krank wird, die Darmröhren sich mit erkaltetem 
Blei verstopfen oder vor allzu heißem das Gegenteil eintritt. 
Man kennt den Herzmuskel der Maschine, die starke Stahl: 
pumpe, die das flüssige Blei in die Adern drückt, die bewegt 
lichen Muskeln der Hebel und das gedrängte Kraftzentrum des 
sammetweichen surrenden Motores, das Knochengerüst der Ver- 
steifung und Verspreizungen, die Achsengelenke und die Trans- 
imissionssehnen. Was zum Leben dieser Maschine, zu ihrem 
Körperlichen gehört, offenbart sich mit der Zeit, aber ihre 
internen, ihre geistigen Funktionen bleiben immer diskret ver- 
borgen. Nur ganz selten erhascht man einen kurzen Einblick 
in ihre Gedanken. Und man merkt dann, daß die gebogene 
Glasscheibe, die den Magazinen vorgelagert ist, die sichtbare 
Grenze zwischen dem Bewußtsein und dem Unterbewußtsein 
der Linotype bildet. Man öffne sie nur einmal, und man wird 
erstaunt sein, wie wild alle Matrizengedanken durcheinander- 
wirbeln. Sie selbst, die Linotype-Setzmaschine, ist ein Muster 
und der Gipfel einwandfreier äußerer Form. Ihre Funktionen 
sind gemessen und selbstverständlich. Und weil die Maschine 
selbst so außerordentlich pedantisch ist, darum haßt sie auch 
Unordnung und Formlosigkeit bei sich und auch bei andern. 

Aus diesem bescheidenen Material erfahrungsgemäß ge- 
wonnener Tatsachen darf man schließen, daß die maschinelle 
Arbeit geistreicher ist als die geistige und die Maschine in den 


ж MENSCH UND MASCHINE * 


meisten Fällen intelligenter als der Mensch. .., soweit dieser 
sich der Psychologie einer Maschine anpassen wird. Sonst 
natürlich wird sie seelenlos bleiben. Ein Automat! Darum 
hege und pflege jeder seine ihm anvertraute Maschine — und 
sei ihr zumindest ein verständnisvoller Gefährte der Arbeit und 
des Alltags. Nur dadurch wird man an ihr Freude und Genug- 
tuung erleben. Und man wird befriedigter und zufriedener 
durch das arbeitende Leben wandern. Und das ist schließlich 
ja der Endzweck alles Irdischen. — Immer vorausgesetzt, daß 
die Maschine menschlich wird, beileibe nicht umgekehrt! 


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Schatzgräber 


Von Rudolf Engel⸗Hardt, Leipzig 


ine Schwüle war heute, die іф 
ЧАД beflemmend auf die Bruſt 
legte. Der junge Mann, der 
eben noch fo vertieft in ein Buch 
geweſen, legte es zur Seite und 
öffnete die Fenſterflügel weit. 
Begierig ſog er den Duft ein, 
den die blühenden Linden der 
langen Allee ſo verſchwenderiſch 
ausſandten. Ob es nicht heute 
noch ein Gewitter gab nach ſol⸗ 
cher Gluthitze? Ganz da hinten 
ſchob ſich eine bleigraue Wand hoch, die nichts Gutes verhieß, 
zudem hatten die Wolken auch ſo merkwürdig helle Ränder. 
Doch er brauchte den Himmel nicht erſt zu befragen; eine ſo 
ſenſible Natur wie er fühlte Witterungswechſel Stunden vor⸗ 
aus. In ihm zitterte und wogte alles, und in ſeinen Finger⸗ 
ſpitzen hatte er jenes feine, prickelnde Gefühl, als ob ſie elek⸗ 
triſche Ströme ausſtrahlten. Aber war die Urſache dieſer Reiz⸗ 
zuſtände, die ſich gerade in den letzten Wochen ſo gehäuft hatten, 
nicht auch in Überarbeitung und in feinem Verlöbnis zu ſuchen? 
Ein ſchmerzlicher Zug huſchte über das auffällig regelmäßige, 

ja beinahe ſchöne Geſicht des jungen Mannes, und eine Falte 
grub ſich auf der Stirn als ſcharfe Linie ein. Ach, ſeine Hanna! 
Er erinnerte ſich genau, wie er ſie das erſtemal geſehen, als 
er vor drei Jahren als Erſter Akzidenzſetzer in der Grotmeier⸗ 
ſchen Druckerei antrat. Da war ein reizender Backfiſch mit einem 
Schäferhund über den Druckereihof getollt, daß die dicken blon⸗ 
den Zöpfe nur ſo flogen. Und dann, als er ſie das erſtemal 
geſprochen, da hatte ſie ihm ſo unverhohlen ihre Bewunderung 
über feine „entzückenden“ Entwürfe und Plattenſchnitte aus: 
geſprochen und ihn ſo herzlich angelacht, daß allerlei kühne Ge⸗ 
danken in ihm aufſtiegen ... Gegenſätze ziehen jid) an: er hatte 


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das Blondköpfchen bald herzlich liebgewonnen, und aus ber 
Verehrung für den intereſſanten jungen Mann mit dem edlen 
Profil und dem dunklen gewellten Haar hatte ſich ſchließlich 
auch eine leidenſchaftliche Liebe des Mädchens für ihn ent⸗ 
wickelt. Und heute war dieſes liebreizende Mädel ſeine Braut, 
und man beneidete ihn von allen Seiten um die gute Partie. 

Pah, gute Partie! Und wieder verfinſterte ſich ſein Geſicht. 
Wohl hatten durch ſeine Arbeiten die Druckaufträge der Grot⸗ 
meierſchen Druckerei auffällig zugenommen, beſonders Quali⸗ 
tätsarbeiten floſſen ihr ſelbſt aus Nachbarſtädten zu, wohl war 
er zum Faktor der neuen Akzidenzabteilung befördert, gewiſſer⸗ 
maßen künſtleriſcher Leiter des ganzen Unternehmens geworden, 
aber ſein geſtrenger Herr Schwiegervater Reinhold Grotmeier 
war ihm dennoch nicht ganz gewogen, ihm wäre einer der flotten 
Rechtsanwälte oder Arzte des Städtchens als Schwiegerſohn 
lieber geweſen als ſein junger, zweifellos ſehr befähigter Akzi⸗ 
denzfaktor. Zwar hatte dieſer in ſeiner verehrten Schwieger⸗ 
mama, nicht zuletzt auch in ſeinem jungen Schwager Karl⸗ 
Heinz, einem luſtigen Gymnaſiaſten, Anhänger, die ihm wohl 
immer beiſtehen mochten, wenn ſein Schwiegervater gegen ihn 
Stellung nahm, aber dieſes Vonobenherab ſeines Chefs, der 
Vorgeſetztenton und das Herriſche, in das immer ſo etwas wie 
Geringſchätzung einfloß, das mußte ihn entſchieden kränken. 

Mehr als einmal ſchon hatte er allen Ernſtes erwogen, in 
einem anderen Unternehmen ſein Glück zu verſuchen, und dann, 
wenn er Leiter eines Rieſenunternehmens wäre, vor ſeinen 
Schwiegervater zu treten und zu ſagen: „Das bin ich nun, aus 
eigner Kraft.“ Aber ſtets, wenn er ſolche Abſicht geäußert, 
war ihm ſein Goldköpfchen um den Hals gefallen und hatte 
ihn flehentlich gebeten, doch ja zu bleiben. Sie fühlte deutlich, 
daß der Vater dann leichteres Spiel hätte, ſie einem anderen 
zu geben. Sie bliebe dann auch nicht hier, ſie ginge als Kon⸗ 
toriſtin in die gleiche Stadt ujm.... Wie gern hatte er fic 
dann wieder überreden laſſen. 

Sein Blick fiel auf den Schreibtiſch, wo ihm ein herziges 
Geſichtchen aus einem Goldrahmen entgegenlachte. Ja, ſeine 


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liebe Braut! Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Hatte er nicht 
eben geleſen, daß das ſideriſche Pendel nicht allein auf beſtimmte 
Metalle, Mineralien, Chemikalien uſw. reagiere, ſondern daß 
ſich mit ſeiner Hilfe und mit faſt nie verſagender Zuverläſſigkeit 
Temperament, geſunde oder krankhafte Veranlagung u. a. aus 
der Handſchrift und aus der Photographie eines Menſchen 
herausleſen laſſe? Er legte das Bild flach auf den Tiſch, be⸗ 
feſtigte an einem etwa vierzig Zentimeter langen Baumwollfaden 
ſeinen Verlobungsring, ſchnitt ſorgfältig das Fadenende ab, hing 
die Schlinge des Pendelendes über das erſte Glied des rechten 
Zeigefingers und legte die übrigen Finger feſt geſchloſſen am 
Handballen an. Nun alle Metallgegenſtände aus der Nähe ent⸗ 
fernt, das Geſicht vorſchriftsmäßig nach Süden, parallel dem 
Erdmeridian, gerichtet, den Arm vorgeſtreckt und ſo weit er⸗ 
hoben, daß der Pendelring wenige Zentimeter über der Photo⸗ 
graphie zu ſtehen kam 
Der Faden hing in völliger Ruhe, aber nur wenige Sekun⸗ 

den, dann — in kleiner Spirale beginnend und mit immer 
größerem Radius ausſchwingend, beſchrieb das Pendel wunder⸗ 
voll gleichmäßige Ellipſen: es war in die radioaktive Strombahn 
der Jonenausſtrahlung eingetreten und wurde von ihr in Be⸗ 
wegung geſetzt. Immer wieder gleichmäßige Ellipſen in Nord⸗ 
Süd⸗Richtung, kein Abweichen von der normalen Linie. Dieſer 
weit ausholende Pendelſchlag deutete auf geiſtige Regſamkeit 
eines körperlich und geiſtig geſunden Menſchenkindes. Na ja, 
ſchließlich kannte er ſeinen Liebling auch ſo, ohne die Ausſagen 
des ſideriſchen Pendels. Aber einen Brief ſeiner Hanna wollte 
er noch auspendeln, es ſollte ſich da, wie er in dem Buche „Of⸗ 
fenbarungen des ſideriſchen Pendels“ geleſen, die Шын Ver⸗ 
faſſung der Schreiberin deutlich erkennen laffen. Doch kam 
da nicht eben jemand die Treppe herauf? 

Ein kurzes energiſches Pochen. 

„Herein!“ 

„Grüß Gott, lieber Erwin!“ Ein friſcher hunger Menſch 
mit geröteten Wangen reichte ihm herzlich die Hand 

„Nun, was gibt's? Du ſtrahlſt ja übers ganze Geſicht?“ 


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„Ja, alfo einen ſchönen Gruß von Mama, und ob du nicht 
mit uns zu Abend eſſen wollteſt? Hanna bittet dich, du möchteft 
recht eilen, fie freut ſich unbändig auf dein Kommen.“ 

„Ja, gern, aber — hm — und dein Vater?“ 

„Vater iſt heute nach N. abgereiſt zur Hauptverſammlung; 
wir ſind über Sonntag allein, und da ſoll eben heute abend 
noch ein Programm für morgen entworfen werden. Mach nur 
ſchnell und zieh dich um... Was haft du denn übrigens hier 
auf dem Stativ ſtehen?“ Der junge Menſch hatte ein ſchwarzes 
Tuch vorſichtig von einem Apparat hochgehoben und nun blitzte 
ihm ein aus mancherlei Spulen, Lampen und Skalen beſtehendes 
Inſtrument entgegen. „Donnerwetter, das iſt aber ein ſchmucker 
RAN ! Haft bu den auch felbft gebaut?” 

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„Welchem Zwecke dient er aber?“ 

„Nun, das iſt ein Radio⸗Emanator, gewiſſermaßen eine ver⸗ 
beſſerte Wünſchelrute; mit ſeiner Hilfe laſſen ſich Metall⸗, Koh⸗ 
len⸗ und Waſſeradern aufſuchen uſw.“ 

„Aber das iſt ja ein Phänomen, und du biſt ein wahr⸗ 
haftiger Gelehrter!“ Bewundernd hingen die Blicke des Gym⸗ 
naſiaſten an ſeinem zukünftigen Schwager. 

Lächelnd wehrte dieſer ab: „Na, du übertreibſt, Karl⸗Heinz. 
Jeder Mann hat ſchließlich ſein Steckenpferd, und ich finde 
nach des Tages Mühe eben an elektriſchen Verſuchen und Ap⸗ 
paraten Gefallen.“ 

„Aber trotzdem! Ich bewundere dich, nein, wir alle. Aber 
komm nun, Hanna wartet ſehnſüchtig auf dich.“ 

In wenigen Minuten hatte ſich der junge Faktor Erwin 
Burger in einen eleganten Herrn verwandelt, und bald ſchritten 
die beiden die Lindenallee entlang zum Marktplatz, wo das ſtolze 
Wohnhaus des Buchdruckereibeſitzers Reinhold Grotmeier mit 
ſeiner Barockfaſſade weſentlich zur Vertiefung des alten Stadt⸗ 
bildes beitrug. : " x 


„Vielen Dank für Ihre liebenswürdige Einladung, gnädige 
Frau. Mit Freude bin ich gekommen.“ Ehrerbietig küßte Erwin 


ж SCHATZGRABER ж 


Burger feiner Schwiegermutter, einer ftattlichen und noch immer 
ſchönen Dame, die Hand. 

„Aber liebſter Herr Burger, Sie ſind immer ſo aufmerkſam; 
c anm follten Sie fih aber nicht machen. Solch ſchöne 

elfen! 

„Und mir diefe herrlichen Rofen!” jubelte Hanna, сіп ent- 
zückendes, friſches Mädchen von etwa neunzehn Jahren mit 
goldblondem Haar, ſich zärtlich an ihren Bräutigam ſchmiegend. 
„Du Lieber, ich freue mich ja ſo, denn morgen wollen wir einen 
gemeinſamen Ausflug unternehmen. Oder haſt du anderes vor, 
du Böſer?“ Aber dieſes gemachte Schmollen ſtand ihr nicht, 
das herzliche Lachen kleidete ihr beſſer. 

Ganz von ſelbſt war man während des Eſſens auf das Lieb⸗ 
lingsgebiet Burgers gekommen. 

„Sie beſchäftigen fih а о mit der Wünſchelrute und Pendel⸗ 
verſuchen, lieber Herr Burger, wie mir meine Kinder erzählten? 
Sie wollen doch nicht etwa Schätze heben, etwa nachts mit 
Blendlaterne und Schaufel in düſterer Waldeinſamkeit oder bei 
verfallenem Gemäuer unter geheimnisvollen Zeichen Gold und 
Edelſteine ergraben?“ 

„Das wohl kaum, gnädige Frau. Dieſes uralte und doch 
ewig neue literariſche Motiv, das in zahlloſen Märchen und 
Volksſagen eine Rolle ſpielt, mit verborgenen Schätzen, von 
liſtigen Zwergen, grimmigen Rieſen oder feuerſpeienden Drachen 
behütet, Schätze, die nur nach gefährlichem Kampf oder mit Liſt 
gehoben werden können, will nicht mehr recht in unſere nüch⸗ 
terne Zeit paſſen, wennſchon ſicherlich noch mancher Topf voll 
Goldſtücke oder edles Geſchmeide irgendwo in der Erde ver⸗ 
graben, in Höhlen verſteckt, ja eingemauert ſein mag. Nicht erſt 
ſeit dem Dreißigjährigen Kriege hat man wertvollen Beſitz vor 
der Gier Fremder, vornehmlich vor plündernder Soldateska zu 
ſchützen geſucht: das Vergraben der Schätze reicht weiter zurück.“ 

„Ja, und wie intereſſant leſen ſich gerade ſolche Sagen, wie 
jene vom Nibelungenhort, von Rübezahls Schätzen oder vom 
Schatz im Kyffhäuſer, wo der verzauberte Kaiſer Rotbart 
Ша”, warf Hanna ein. 


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„Und welches Hochgefühl muß es erft auslöſen, wenn man 
durch Beharrlichkeit und durch Schickſalsgunſt einmal einen 
wirklichen Schatz hebt wie etwa der engliſche Forſcher Carter, 
der nach ſiebenjährigen Ausgrabungen im Tal der Könige das 
Grab Tutanchamons mit den vielen Herrlichkeiten und goldenen 
Sachen entdeckte. Ich möchte gleich einen Schatz heben!“ Mit 
glühenden Wangen hatte Karl⸗Heinz dieſe Bemerkung ins Ge⸗ 
ſpräch geworfen. 

„Aber merke wohl, mein Sohn, furchtlos und ohne Gier 
muß ein Schatz gehoben werden, Habgierigen ift das Schatz ⸗ 
heben noch nie geglückt.“ 

„Ob denn überhaupt noch Schätze vergraben liegen, viel⸗ 
leicht find fie alle fon längſt gefunden? Denkſt du nicht auch, 
lieber Erwin?“ | 

„Nein, ganz beſtimmt nicht, meine Hanna. Die Wirklich- 
keit ſtellt die romantiſchſte Erzählung mit ihren gleißenden 
Schätzen oft noch in den Schatten. Schatzfunde gibt es jedes 
Jahr, nicht jeder hatte freilich ſolches Glück wie der Nagel⸗ 
ſchmied Würl im kleinen oberpfälziſchen Städtchen Pfreimd. 
Wohl im Jahre neunzehnhundertſechs ſoll es geweſen ſein, als 
er in dem von ihm am Marktplatze erworbenen alten Haufe 
eine Schmiede einrichten ließ. Im Verlaufe der Umbauarbeiten 
ſtieß er hinter Steinen auf eine große Truhe, die mit Gold⸗ 
ſtücken, goldenen Pokalen und Goldbechern, mit Silberſachen 
und anderen Koſtbarkeiten, mit Hals⸗ und Armketten aus Gold, 
Silber und Perlen, kurz mit etwa fünfzig wahrhaft koſtbaren, 
dazu prachtvoll erhaltenen, in feinſter Augsburger Goldſchmiede⸗ 
arbeit ausgeführten Kunſtgegenſtänden gefüllt war. Die Sachen 
ſollen peinlich verpackt, teilweiſe in Leinwand eingenäht geweſen 
ſein. Den Wert des Schatzes hat man auf zweihundertfünfzig⸗ 
tauſend Goldmark beziffert. Wie mag dem Glücklichen in der 
Entdeckerfreude das Herz geklopft haben, als er mit Hilfe des 
Maurers den Schatz hob.“ 

„Nun, mit deinem neuen Apparat könnten wir doch einmal 
auf die Suche gehen. Oder kann man auch mit der Wünſchelrute 
und dem ſideriſchen Pendel Schätze finden?“ 


ж SCHATZGRABER * 


„Man muß ſideriſche Pendel und andere ſideriſche Detel- 
toren, Odoskope, Wünſchelruten und neuere radiotechniſche Bo⸗ 
denunterſuchungsapparate ſehr wohl auseinanderhalten, Karl⸗ 
Heinz. Auch ſind nur etwa fünf von hundert Menſchen befähigt, 
radioaktive Strömungen wahrzunehmen, alſo mit jener Senſi⸗ 
bilität und ſtrengſter Selbſtbeobachtung ausgerüſtet, die hierbei 
were ift, aber dies hat für die Damen wohl kaum Inter⸗ 
eſſe 

„Aber doch, doch! Bitte lieber Herr Burger, erzählen Sie 
uns doch einmal recht ausführlich, wir möchten gern die hier vor⸗ 
handene Lücke unſeres Wiſſens ausfüllen.“ 

„Wenn Sie es wünſchen, mit Vergnügen. An das Wort 
„Wünſchelrute“ knüpfen fich allerlei meift falſche Anſchauungen. 
Eine Wünſchelrute iſt eine friſch vom Baum, am beſten der 
Weide, oder vom Haſelnußſtrauch geſchnittene, etwa fingerdicke 
elaſtiſche Rute in Form einer Gabel. Der Wünſchelrutengänger, 
meiſt ein Mann von äußerft fenfibler Veranlagung, faßt mit 
beiden Händen beide Schenkel mit feſtem Untergriff, hält die 
Spitze wagerecht vom Körper ab und begeht mit feſt an den 
Körper gepreßten Armen das Gelände. Da nun die Wünſchel⸗ 
rute ähnlich den Polen eines Elektriſierapparates, Leiter elektri⸗ 
ſcher Strömungen iſt, ſo vermögen hierzu veranlagte Menſchen 
auf die einem unterirdiſchen Waſſerlauf ausſtrahlenden radio⸗ 
aktiven Wellen zu reagieren. Iſt nämlich ein Waſſerlauf in der 
Nähe, ſo empfindet der Rutengänger ein prickelndes Gefühl in 
den Armen, die Spitze der Rute hebt ſich und dreht ſich dem 
Körper zu, trotz krampfhaften Feſthaltens beider Schenkel. Es 
ſoll hierbei vorgekommen ſein, daß die Schenkel der Rute glatt 
in der Hand zerbrachen, wenn ſie von brüchigem Holze oder etwa 
von einer Pappel geſchnitten war. In der viel angezweifelten und 
myſtiſch verklärten Wünſchelrute darf man jedenfalls ein Mittel 
ſehen, um verborgene Waſſerläufe, Solen, Mineralquellen u. a. 
ausfindig zu machen. Dabei iſt eine Erklärung dieſes Phäno⸗ 
mens bis heute noch nicht geglückt, die Theoſophen glauben, es 
hier mit der Wirkung des ſtrahlenden Ods auf den Rutenkun⸗ 
digen zu tun zu haben. 


ж SCHATZGRABER x 


Ein wefentlid) anderes, dabei gleich einfaches Inftrument von 
erſtaunlicher Wirkungsweiſe ift das ſideriſche Pendel. Senfitive 
Perſonen haben ſich oft dieſes einfachen Inſtrumentes bedient, 
auch Goethe hat es genau gekannt. Ein ſideriſches Pendel beſteht 
aus einem kleinen Gewicht aus Schwefel, Siegellack, Blei oder 
einem goldenen Ring ohne Stein an einem etwa dreißig bis vierzig 
Zentimeter langen Leinen⸗ oder Seiden faden. Ueber Metallen 
gerät das Gewicht in kreis förmige, elliptiſche oder wirbelnde Be⸗ 
wegungen. So ift die Pendelbahn über Gold kreisförmig, über 
Silber elliptiſch. Immer aber müſſen die freien Fingerſpitzen in 
die Hand eingeſchlagen werden, zudem ſoll man im magnetiſchen 
Meridian ſtehen, d. h. mit dem Geſicht nach Süden gerichtet fein. 
Die häufigſten Pendeldiagramme ſind feſtgeſtellt. Man hat 
durch die Form der Pendelbahnen ſogar das Geſchlecht der 
Hühner in bebrüteten und unbebrüteten Eiern genau ermittelt. 
Ja, es mutet faſt unheimlich und überſinnlich an, wenn man 
hört, daß bei richtiger Handhabung das ſideriſche Pendel über 
Photographien, als den elektromagnetiſchen Reflexen der Weſens⸗ 
einheit des Originals, untrügliche Auskunft über Geſchlecht, 
Temperament, geſunde oder krankhafte Veranlagung uſw. gibt. 
Auf Grund von Pendelergebniſſen haben ſchon deutſche Gerichte 
Urteile gefällt. Wo Kriminaliſt und Polizeihund verſagten, konn⸗ 
ten die Täter durch das Pendel überführt werden...“ 

„Das war ja höchſt intereſſant, lieber Erwin, ich bin Feuer 
und Flamme für Wünſchelruten und ſideriſche Pendel. Aber ſage 
einmal, du haſt doch den wundervollen Apparat gebaut; diente 
dieſer nicht gleichen Zwecken?“ Damit wandte ſich Karl⸗Heinz 
ſeiner Mutter und Schweſter zu: „Erwin hat ein Wunderwerk 
der Feinmechanik fertiggeſtellt; das müßt ihr euch einmal zeigen 
laſſen. Erwin iſt ein Phyſiker, ja, noch mehr, geradezu ein Ge⸗ 
lehrter.“ 

Fragend und bewundernd blickten beide Damen auf den ein 
wenig erröteten jungen Faktor. „Möchten Sie uns nicht auch 
darüber einiges erzählen, lieber Herr Burger?“ 

„Aber ſehr gern; nur klingt's vielleicht etwas zu techniſch⸗ 
wiſſenſchaftlich. Schon vor Jahren war es einigen Ingenieuren 


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gelungen, finnreiche Erdunterſuchungsapparate zur Auffindung 
mineraliſcher Lager im Erdinnern zu konſtruieren. Durch hoch⸗ 
empfindliche Elektronenapparate wurden hierbei die verſchiedenen 
Minerale durch gerade Linien, Ellipſen, Kreiſe uſw. angegeben, 
wobei die verſchiedenſtarke Reaktion des Apparates die Tiefe und 
Mächtigkeit der Lager ergab. Wochen⸗ ja monatelange Bohrun⸗ 
gen, ferner Schürf⸗ und Sprengarbeiten wurden dadurch ver⸗ 
mieden. Ein ähnlicher Apparat, wenn vielleicht auch nicht von 
gleicher Empfindlichkeit, iſt mein Radio⸗Emanator. Er beruht 
auf der praktiſchen Anwendung der modernen Atom⸗ und Elek⸗ 
tronen⸗Theorie. Seine Wirkungsweiſe müſſen Sie ſich etwa 
folgendermaßen denken. Durch eine Batterie⸗Anordnung wird 
ein Kathodenſtrom von größerer Spannung erzeugt, durch eine 
eigenartige Vorrichtung akkumuliert und durch einen Fritter ge⸗ 
drängt. Dieſe erwähnten Kathodenſtröme gleichen den Beta⸗ 
Strahlen des Radiums bis auf die Geſchwindigkeit. 

Mein Apparat ſendet nun, ſobald ich die Batterie einſchalte, 
durch einen Strahlungskörper mittels Funkenſtreckenbildungen 
und unterbrochenen Stromleitern Energiewellen, d. h. elektro⸗ 
magnetiſche Strahlenwellen mit Lichtgeſchwindigkeit aus. Dieſe 
bombardierenden Kathodenſtröme treffen nun allenthalben auf 
Subſtanzen, auch ſolche, die im Boden ruhen, auf. Befinden ſich 
ſtrahlenausſendender Apparat und Strahlenempfänger in Über: 
einſtimmung, beſitzen beide gleiche Schwingungszahlen, ſo rea⸗ 
giert der Apparat. Mfo die in die Atmoſphäre hinausgeſchleu⸗ 
derten Radiowellen finden nur dort ihre Aufnahme, wo eine 
gleichgeartete Emanation der Bodenſubſtanzen in Erſcheinung 
tritt. Dann wird zwiſchen der Metallader etwa und bem Radio- 
Emanator” ein elektromagnetiſches Feld hergeſtellt, durch deſſen 
Kräfteentfaltung mein Apparat beeinflußt wird. Innerhalb 
weniger Minuten zeigt er Subſtanz, Richtung und Menge an. 
Er läßt ſich durch wenige Handgriffe für alle möglichen Metalle 
wirkſam machen, man kann alſo leicht feſtſtellen, ob irgendwo 
Gold, Silber oder andere Subſtanzen vergraben liegen. Frei⸗ 
lich darf die Atmoſphäre nicht durch Gewittererſcheinungen ge⸗ 
ſchwängert fein, ſonſt verfagt er...” 


ж SCHATZGRABER ж 


Als Burger geendet, war alles in Nachdenken verſunken. 
„Ja, aber — ich habe Sie gewiß gelangweilt?“ 

„Aber nein, nein!“ riefen nun alle. 

„Wir ſind alle einfach ſprachlos über das, was Sie ſoeben 
Intereſſantes erzählen.“ 

„Aber hört einmal“, fiel jetzt der Gymnaſiaſt ſeiner Mutter 
ins Wort, „ich habe eine Idee. Wie wäre es denn, wenn wir 
im Parke bei der Ruine einmal morgen Vormittag ein wenig 
Schatzgräber ſpielten? Da könnte doch auch etwas vergraben 
oder verſchüttet worden ſein, was Wert hat. Papa ſagt doch, 
das Kloſter ſei etwa um das Jahr 1500 infolge eines Blitz⸗ 
ſchlages völlig niedergebrannt und zuſammengeſtürzt, und ſeit⸗ 
dem habe ſich niemand um die Trümmer gekümmert, nur die 
Bauern hätten früher viel Steine zum Bau ihrer Häuſer ver⸗ 
wendet. Wie denkſt du darüber, Mama?“ 

„Nun, wenn Herr Burger die Liebenswürdigkeit haben 
wollte, uns ſeinen Apparat einmal vorzuführen, ſo würde dem 
morgigen Vormittag ja gleich Inhalt gegeben ſein.“ 

„Ja, ja, das machen wir; vielleicht finden wir auch eine 
Truhe mit Gold, und dann heiraten wir, denn dann würde ſich 
auch Papa rieſig freuen! Gelt, mein Erwin, du ſagſt ja?“ Und 
ehe dieſer ſichs verſah, brannte ihm ein Kuß auf den Lippen, 
daß er leicht errötete. Wer hätte wohl auf eine ſo eindringliche 
Bitte „nein“ ſagen können? 

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Das in der Nacht niedergegangene Gewitter hatte wunder⸗ 
bar erfriſchend gewirkt. Am Sonntag Morgen ſtrahlte wieder 
die liebe Sonne und die Linden dufteten. Gruppen von Wan⸗ 
dervögeln waren ſchon frühmorgens ſingend die Allee entlang 
gezogen, feſttägig geputzte Menſchen wanderten dem nahen 
Walde zu, die Glocken läuteten den Sonntag ein. Erwin ver⸗ 
ſchloß ſeinen Emanator in einem Kaſten, klappte das kräftige 
Stativ zuſammen und ſtellte die Batterie bereit. Er ſollte ſeiner 
lieben Braut und ihren Angehörigen bereits zum Morgenkaffee 
Geſellſchaft leiſten und da wollte er nicht unpünktlich ſein. 


Exlibris für einen Farbenchemiker 
Лаф einer Radierung von Rudolf Engel-Hardt, Leipzig 


ж SCHATZGRABER * 


Welch ein Genuß, ſo am Morgen zu wandern. Sein hübſches 
Geſicht rötete ſich, er befand ſich überhaupt heute, wie man gern 
ſagt, „in großer Form“. Wie immer, ſo wurde ihm auch heute 
ein herzlicher Empfang, und während des Kaffeetrinkens hatte 
er Gelegenheit, ſeinen Apparat vorzuführen. Auf eine ſilberne 
Schale reagierte der Apparat ſofort energiſch, auf einen gol⸗ 
denen Ring erſt allmählich, aber doch deutlich. Nun aber drängte 
Karl⸗Heinz, der anſcheinend von echter Abenteuerluſt erfüllt 
ſchien, zum Aufbruch. Die Mutter bat, ſie zunächſt noch zu 
entſchuldigen, da es im Haushalt noch allerlei anzuordnen gäbe. 

Hinter dem ſchönen alten Barockgebäude, dem Wohnhaus des 
Buchdruckereibeſitzers Grotmeier, ſchloſſen ſich in ſeitlichen Flü⸗ 
geln die Druckereigebäude an; dahinter begann unmittelbar der 
ausgedehnte Kloſterpark, ererbtes Beſitztum. Von der Setzerei 
aus hatte man einen herrlichen Blick nach dieſem maleriſch ver⸗ 
wilderten Park mit ſeinen von Platanen, Linden und Buchen über⸗ 
ſchatteten Wegen. Allenthalben zeigten ſich noch Spuren von der 
Größe und Pracht dieſes reichen Ziſterzienſerkloſters, das einſt, 
wohl im zwölften Jahrhundert, aus einem ärmlichen Feld⸗ 
kloſter der Benediktiner entſtanden war. Erwin liebte dieſe 
alten Bäume, wenn ſie im Frühjahr an den Zweigſpitzen zartes 
Grün anſetzten, wenn ſie im Sommer ihr tiefgrünes Blätterdach 
unter praſſelndem Regen ſchüttelten oder wenn der Nebel den 
Park geheimnisvoll in undurchdringliches Blaugrau einſpann. 
Die an den Mauern eingelaſſenen Grabplatten mit ihren alten 
Inſchriften, die die Promenadenwege ſäumenden Kapitäle und 
Gewölbeteile romaniſcher Bauart, die hie und da noch ſtehenden, 
von Jasmin⸗ und Berberitzenhecken verhüllten Mauerreſte und 
Säulen waren ihm ſtumme Zeugen der Vergänglichkeit; manch⸗ 
mal zauberten ihm dieſe kultur⸗ und Eunftgefchichtlich inter⸗ 
eſſanten Reſte Bilder von längſt vergangenen Zeiten vor Augen. 
Die geplante kleine Entdeckungstour würde ihm, dem Roman⸗ 
tiker, beſonders genußreich ſein. 

Hanna hatte ſich in den Arm ihres Bräutigams gehängt, 
mancher beſonders kräftige Armdruck verriet Erwin, wie lieb 
ihn dieſes reizende Mädchen hatte, und bei einer Wegbiegung, 


ж SCHATZGRABER ж 


als der voraufeilende Karl-Heinz ihren Blicken entſchwunden 
war, da fand ſich Mund auf Mund zu einem herzhaften Kuß. 
Nun waren ſie beide wieder einmal ganz glücklich, und die 
kleinen Unſtimmigkeiten, die ihr Glück etwas trübten, waren 
vergeſſen. 

Die Wege wurden immer verwucherter, immer neue male⸗ 
riſche Bilder feſſelten das Auge des künſtleriſch empfindenden 
jungen Mannes. Da ſtand noch die Hauptfaſſade der Abtei mit 
einigen gewölbten Fenſtern und einem impoſanten Tor; hier 
hatten wohl einſt die mächtigen Prälaten gewohnt. Verfallene 
Treppen, von Brenneſſelgeſtrüpp umrahmt, tiefdunkle Keller⸗ 
eingänge, die angeblich zu unterirdiſchen Gängen führten, ſtarke 
Mauern und anderes deutete darauf hin, daß dieſes Kloſter 
ein ausgedehnter Bau geweſen ſein mußte. Wieviel Wertvolles 
mochte bei jenem furchtbaren Brande anno fünfzehnhundert⸗ 
zwei wohl zugrunde gegangen ſein, was mochte unter Stein⸗ 
trümmern und Schutt, unter Moos und blumigem Raſen noch 
verborgen liegen? 

Nun waren ſie auch bei der impoſanten Ruine der romani⸗ 
ſchen Stiftskirche angekommen. Hoch ragten noch mächtige 
Wände mit Rundbogenfenſtern. Auf der einen Seite davon 
follten fid) die Studier⸗, Wohn: und Schlafräume der Mönche 
befunden haben. Die Mauerreſte ließen Größe und Anordnung 
der Erdgeſchoßräume deutlich erkennen. Rechts, ſo beſagte eine 
alte Urkunde der Kloſterverwaltung, habe ſich das Winterrefek⸗ 
torium, die Kloſterſchreibſtube, eine Apotheke und anderes be⸗ 

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en. | 

‚ An erhöhter Stelle hatte hier Herr Grotmeier einige Banke 
und einen Tiſch anbringen laffen. Hier pflegte er mit feiner бағ 
milie gern Sonntags der Erholung. Hier wußte er, ber febr gez 
nau über die Geſchichte ſeines Anweſens unterrichtet war, ſeinen 
Gäſten oftmals intereſſante Hiſtorien zu erzählen. An dieſer 
Stelle machten auch die jungen Leute Halt, um erſt einmal die 
Reize der ſtimmungsvollen Landſchaft zu genießen. Vor ihnen 
ragte eine mächtige Wand, die Giebelſeite des bereits erwähnten 
Winterrefektoriums hoch; die etwa einen Meter ſtarke Mauer 


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war oben von zwei kleinen Fichten bekrönt. Durch die kahlen 
Fenſterhöhlen lugte die Sonne und beſchien den mit Buchen be⸗ 
wachſenen Platz vor ihnen, den einſtigen Kloſterhof. Die Stein⸗ 
haufen waren von Brenneſſel⸗ unb Brombeergeſtrüpp übergrünt. 
Links an jener meterſtarken Kloſtermauer, die das klöſterliche 
Leben von der Außenwelt abgeſchloſſen, dort hatte ſich ein knorri⸗ 
ger Efeubaum zwiſchen den Quadern richtig verkrampft. Leiſe 
rauſchten die Bäume, Sonnenflecken huſchten hin und her, am 
blauen Himmel zogen Federwölkchen und von fernher klang der 
Geſang von Wandervögeln an ihr Ohr. Nun läuteten auch die 
Glocken der nahen Kirche den Gottesdienft ein. 

Ein lautes „An die Gewehre!“ riß das Brautpaar aus ſeinem 
Sinnen. „Nein, an die Apparate, Herrſchaften!“ Karl⸗Heinz 
war bereits dabei, das Stativ aufzuſtellen. „So, nun den 
Е angeſchraubt, mit der Batterie verbunden und 
os! 

Erwin hantierte an Schaltern und Griffen, beobachtete 
Skala und дее, ſchaltete in langſamer Folge die Fritter 
ein... Nichts! 

„So, nun wollen wir einmal ein biſſel wandern. Du trägſt 
den Akumulator, ich den Apparat. Komm, wir gehen einmal 
2. herüber, wo die Же е des Kreuzgangs ſtehen. Sol.. 

anu 
p ift denn, Erwin? Reagiert der Apparat?“ 

„Einen Augenblick! Ja, афиф! Eifen... Unter ung 
liegt Eifen und zwar nicht wenig. Die Intenfitát des Ausſchlags 
deutet auf große Mengen.“ 

„Ach, Eiſen, wenn's kein Gold iſt! Weißt du“, meinte jetzt 
Karl⸗Heinz, „hier unterhalb ſoll die Fürſtengruft ſein; da be⸗ 
finden ſich vielleicht eiſerne Grabdeckel oder ſo was Ahnliches. = 

„Mag fein.” 

„Komm aber, Erwin, wir gehen einmal dort hinüber, die 
Steintreppe hinauf, wo die Studier⸗ und Wohnräume der 
Mönche gelegen haben ſollen.“ 

Deeg war auch bert der Apparat geftellt und in Tätigkeit 
geſetzt. 


ж SCHATZGRABER ж 


„Hallo! Was war denn das?“ Erwin hatte eben feine 
Fritterſyſteme ſchnell durchgeprüft. An irgendeiner Stelle hatte 
die Nadel heftig ausgeſchlagen. Jetzt ermittelte er mit lang⸗ 
ſamem Hebelgriff die fragliche Subſtanz. „Nanu! Unter uns, 
faſt genau unter dem Apparat liegt in kaum drei Meter Ent⸗ 
fernung Blei, viel Blei, anſcheinend Zentner!“ 

Karl⸗Heinz und Hanna waren herbeigeſprungen und über⸗ 
zeugten ſich, daß tatſächlich der Apparat in geringer Tiefe Blei 
anzeigte. 

„Sollte etwa...“ 

„Was meinſt du damit, Erwin?“ Karl⸗Heinz hatte Erwins 
Arm gefaßt und ſah ihn geſpannt an. 

„Nun, ich halte es nicht für ausgeſchloſſen, daß ſich hier 
unten vielleicht noch Räume befinden. Man müßte ſich die Lage 
der Zimmer hier oben einmal genau anſehen, mit dem Torgang 
und Hof in Beziehung bringen und ſehen, ob man nicht irgend⸗ 
wie heran kann.“ | 

„Ja, das machen wir; jetzt wird's intereſſant!“ 

Nun ſchien es tatſächlich, als habe von dem Haupttor aus 
ein Torweg längs der Räume geführt. Gerade hier aber, wo 
das Torgewölbe eingeſtürzt war, lagen hunderte von Steinen 
übereinander. Wohl an die zwanzig Mal umgingen ſie den 
Schauplatz ihrer Forſchungen, immer wieder mit dem Ergebnis, 
daß, falls dieſe Räume einen Eingang gehabt, dieſer nur bei 
dem Trümmerhaufen gelegen haben könne. 

„Na, ein Stündchen können wir uns ja einmal ausarbeiten.“ 
Lachend zogen die beiden jungen Männer ihre Jacken aus 
Es war wahrhaftig keine kleine Arbeit, die mächtigen koniſchen 
Quadern des Gewölbes zur Seite zu wälzen. Mehr als einmal 
huſchte eine zierliche Eidechſe, ja ſogar eine Schlange unter 
Steinen hervor. 

Nun kam die Seitenwand des Torwegs immer mehr zum 
Vorſchein. Plötzlich hielt Erwin inne. „Da, ſeht ihr was?“ 

Verſtändnislos blickten die beiden auf Erwin. 

„Betrachtet einmal die Mauerung der Wand. Seht ihr, daß 
die Steine von hier ab anders gemauert ſind und einen Bogen 


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ergeben? Das bedeutet nämlich, daß hier febr bald ein Fenſter 
oder eine kleine Tür zum Vorſchein kommen 

Und tatſächlich, je mehr ſie Steine zur Seite räumten, deſto 
deutlicher zeigte es ſich, daß ſich eine Tür hier befand, zu der 
eine Treppe hinabführte. Noch eine halbe Stunde anſtrengender 
Arbeit, und bis auf kleines Geröll und Sand, der die unterſten 
Stufen ausfüllte, war der Eingang freigelegt. Eine anſcheinend 
ſehr ſtarke Holztüre mit ſchweren, ſtark verroſteten Beſchlägen 
und Nieten verziert, befand ſich vor ihnen. 

„Ja, Kinder, was macht ihr denn da?“ Frau Grotmeier 
hatte endlich den Schauplatz der Handlung entdeckt. In flie⸗ 
gender Haſt, mit ſich überſtürzenden Worten teilte man ihr den 
Sachverhalt mit. 

„Was nun?“ 

„Ich denke, gnädige Frau, daß man den Sand zunächſt be⸗ 
ſeitigt und dann vorſichtig in den Raum eindringt.“ 

Aber um Gotteswillen, Vorſicht! Hier überall droht die 
Gefahr des Einſturzes. Daß nicht noch ein Unglück ра егі,” 

Alſo, ich hole ſofort Spaten und Taſchenlaterne und Ham⸗ 
mer und Säge und bin gleich wieder da!“ und ſchon rannte der 
ganz beſonders aufgeregte Karl⸗Heinz den Weg zurück. 

„Na, nun bin ich aber geſpannt, was ſich hier finden wird. 
а, nur еіп leerer Gang oder ein Keller mit ein paar alten 

äffern! 

„Man weiß es nicht, gnädige Frau. Das hängt alles davon 
ab, ob der Brand ſeinerzeit [o ſchnell um fic) gegriffen hat, daß 
die Mönche alles im Stich laſſen mußten, oder ob ſie noch Zeit 
hatten, ihre Sachen in Sicherheit zu bringen. Nun, wir werden 


. ja bald ſehen.“ 


Nach wenigen Minuten war Karl⸗Heinz wieder da, und als 
man die Stufen von allem Schutt befreit hatte, zeigte es ſich, 
daß die mächtige Tür überhaupt nicht verſchloſſen, ſondern nur 
infolge des Druckes der Steinmaſſen dicht an das Tor gepreßt 
worden war. Nach kurzen Verſuchen gelang es, die in den An⸗ 
ſen kreiſchende Tür nach außen zu öffnen... Gähnende Fin: 

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„So, Karl-Heinz, nun gib mir einmal die Lampe, ich will 
zunächſt einmal vorſichtig die Decke ableuchten. Ich glaube aber 
kaum, daß mit der Gefahr des Einſtürzens zu rechnen iſt, denn 
wir ſind ja oben auch zu Dritt herumſpaziert.“ Vorſichtig vor 
ſich hinleuchtend betrat Erwin den unterirdiſchen Raum. Die 
Außenſtehenden hörten deutlich ſeine Schritte, ſahen hin und 
wieder das Aufblitzen des Lichtes und vernahmen mehrfache 
Ausrufe des Erſtaunens. Zwei, drei Minuten wurden zu Ewig⸗ 
keiten, bis endlich auf das wiederholte ängſtliche Rufen Hannas 
Erwin in der Türöffnung erſchien. Auf ſeinem Geſicht las man 
deutlich Erregung und Staunen. Er wollte ſprechen, aber die 
Stimme verſagte ihm. 

„Nun, ſo ſag doch, was haſt du geſehen?“ 

„Kommt und ſeht ſelbſt. Gnädige Frau, Sie können unbe⸗ 
ſorgt eintreten; das mächtige Gewölbe ſchließt jede Gefahr aus.“ 

Zögernd, aber in höchſter Spannung betraten nunmehr alle 
vier das düſtere Verließ. 

„Eine alte Apotheke!“ rief Hanna. Und wirklich, ein eigen⸗ 
artiger Geruch nach alten Arzneien und Deſtillaten lag in der 
Luft. Hatte denn hier geſtern noch jemand gebraut? Waren die 
vier Jahrhunderte ſpurlos an dieſem Raume vorübergegangen? 

„Nein, eine alchimiſtiſche Hexenküche, vielleicht gar eine 
Goldküche iſt's!“ warf Karl-Heinz dazwiſchen. „Seht doch hier 
oben an der Decke das ausgeſtopfte Krokodil, dort den alten 
verräucherten Kapellenherd mit dem Schmelztiegel, die Kräuter⸗ 
öfen uſw.!“ Und tatſächlich: in bizarren Retorten, Deſtillier⸗ 
blafen und Kühlſchlangen glänzten noch ſchwärzliche Flũſſigkeiten 
und grüne Reſte geheimnisvoller Tränke. Auf Wandbrettern 
und in Regalen ſtanden Hunderte von alten Glasgefäßen, Fla⸗ 
ſchen und Büchſen. An den Wänden Bündel getrockneter Kräu⸗ 
ter, auf einem breiten Arbeitstiſch alte Folianten, Tierſchädel, 
Totenkopf und eine alte Wage. In den Ecken ſchwere tönerne 
Mörſer, eine alte Holzpreſſe und anderes, kurz: ein echtes alchi⸗ 
miſtiſches Laboratorium, wo vielleicht ein in der „Chimie“ be⸗ 
ſonders erfahrener Mönch ſich um die Auffindung des Steins 
der Weiſen oder um die große Tinktur gemüht haben mochte. 


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„Am beften iſt's, man läßt zunächſt alles an Ort und Stelle 
liegen und photographiert das Ganze mehrfach, ſcheint es doch, 
als habe hier jemand bis zuletzt gearbeitet und gerade daraus 
laſſen ſich vom Kulturhiſtoriker oft ſehr wichtige Schlüſſe ziehen“ 
bemerkte Erwin. 

„Na, Papa wird ſich ſchön wundern!“ 

„Das gibt allerdings eine große Überrafchung für ihn. Aber, 
nun ſag einmal, Erwin, wo iſt denn das viele Blei, das dein 
Apparat anzeigte?“ 

„Eben, Herr Burger?“ 

„Einen Augenblick! Mein Apparat ſteht noch an Ort und 
Stelle; ich will einmal vergleichen!“ In einer Minute kam Er⸗ 
win zurück. „Mein Emanator ſteht weiter links, anſcheinend 
über einem Nebenraum.“ 

Karl⸗Heinz leuchtete mit ſeiner Taſchenlampe ſogleich die ent⸗ 
ſprechende Wand ab. „Ja, hier iſt eine Tür!“ und ſchon ſtanden 
die drei andern im Dunkeln da. 

„Aber Karl⸗Heinz!“ 

„Hurra, hurra! Ich habe auch etwas entdeckt! Bitte herein 
zu ſpazieren!“ 

Eine neue Überraſchung ... Man befand fich in einer Kloſter⸗ 
druckerei. Hoch ragte an der Seite eine mächtige, hölzerne 
Schraubenpreſſe, eine Reihe von Setzregalen füllten den Raum 
faſt aus, hundert alter Folianten barg ein großes Wandregal. 
Das war das, was ſie beim ſchwachen Schein des Lämpchens in 
dem ziemlich großen Raume zunächſt wahrnahmen. 

„Da ift ja das Blei!“ rief Karl-Heinz, „und nicht wenig! 
Hier, ſeht einmal, mit was für großen Lettern die Mönche da⸗ 
mals gedruckt haben!“ und triumphierend hob er den Verſal 
einer etwa drei Cicero großen Gotiſch hoch. 

Plötzlich rief Hanna ganz erſchrocken: „Ja, aber Erwin, 
was iſt denn mit dir? Du ſiehſt ja wie der Tod aus?“ 

Schwer lehnte ſich Erwin gegen eines der Regale. Ganz 
heißer kam es aus ſeinem Munde: „Und wann — ſoll das 
Kloſter — niedergebrannt ſein?“ 

„Um fünfzehnhundert oder fünfzehnhundertzwei“. 


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„Großer Gott — welch eine Entdeckung! Schaßgräber .. .! 
Әе ес als Gold... Aber, — laß nut, Hanna — mir ift ſchon 
wieder beffer... 

Und nun durchforſchten fie alle Winkel, zählten die Käſten, 
beluſtigten ſich über die plumpen Druckerballen, bewunderten 
das edle Büttenpapier, betrachteten die Kolumnen auf dem Fun⸗ 
dament, die merkwürdigen Winkelhaken und erwogen, wieviel 
wohl heute die alten, teilweiſe wundervoll illuminierten Bücher 
Geldeswert haben mochten. Schwer aber hatte ſich die ſtickige 
Luft auf ihre Lungen gelegt, und nun wollte man ſich erſt einmal 
draußen von der Überraſchung erholen, ehe alles bis aufs kleinſte 
unterſucht werden ſollte. 

Laut ſprachen und fragten alle durcheinander; ſelbſt die wür- 
dige alte e befand ſich in begreiflicher Aufregung. Darüber 
waren ſich aber auch alle Beteiligten im klaren, daß ſie heute 
etwas ganz Einzigartiges erlebt hatten. 

„Aber, nun ſage einmal, mein Erwin, warum wurdeſt du 
denn vorhin ſo blaß? Du konnteſt ja vor Aufregung kaum ſpre⸗ 
chen, auch ſtammelteſt du ſo merkwürdige Worte?“ 

„Ja, Liebling, wir haben einen Schatz von ungeheurem Werte 
gehoben, in kultureller, ideeller und realer Hinſicht. Hier ein 
Buchſtabe jener herrlichen Miſſaletype, prachtvoll erhalten. Solch 
ein Buchſtabe iſt Goldes wert. Denn wohl haben wir Guten⸗ 
bergs und Schöffers und der erſten Meiſterdrucker wie Kober⸗ 
gers, Zainers und anderer koſtbare Werke noch in einzelnen 
Exemplaren in den Muſeen ſtehen, aber von Gutenbergs Schrif⸗ 
ten oder Schöffers herrlichen Typen iſt auch nicht ein Buchſtabe 
auf uns überkommen. Und da unten liegen Zehntauſende.“ 

„Und ich dachte ſchon, wir könnten die alte Schrift einſchmel⸗ 
zen und neue dafür kaufen“, ſchob Hanna etwas befangen ein. 

„Oh, du unſchuldsvolles Schäfchen, das werden wir be⸗ 
ſtimmt nicht tun. Und dann, dieſe prachtvolle alte Preſſe aus 
Gutenbergs Zeit; ſie ſteht auch einzig da.“ 

„Aber ich denke, im Deutſchen Buchgewerbehaus oder un 
Kulturmuſeum zu Leipzig ſoll die echte Gutenbergpreſſe zu ſehen 
ſein?“ warf Karl⸗Heinz ein. 


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в: 2. 


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Erwin lächelte nachſichtig. „Als im „Hofe zum Jungen“ in 
Mainz i im Jahre achtzehnhundertundſechsundfünfzig beim Gra⸗ 
ben eines Kellers ein Stück Eichenholz mit einem Schraubenloche 
und der Inſchrift 


J. MCD XII с. 


gefunden wurde, da glaubte man, daß dieſer Balken von Gu⸗ 
tenbergs eigener Preſſe herrühre. Darauf ſchienen auch fünf 
kleine ſteinerne Kegel hinzuweiſen, die wohl als Farbereiber 
gedient haben mochten. Man ‚ergänzte‘ die Preſſe, d. h. alſo 
etwa ein Zehntel der Preſſe iſt günſtigſtenfalls echt, das übrige 
iſt rekonſtruiert.“ 

„Na, da können wir ja gleich ein Gutenbergmuſeum einrich⸗ 
ten oder die alte Kloſterdruckerei, wo die Mönche ihre Miſſale 
und Breviere druckten, intereſſierten Fachkreiſen zeigen.“ 

„Ja, das ginge, Karl-Heinz. Was meinft du wohl, welches 
Aufhorchen durch die Fachwelt der ganzen Erde gehen wird, 
wenn man hört, alte Originalſchriften, eine Preſſe und anderes 
aus der Frühzeit des Buchdrucks ſei aufgefunden worden. Da 
will jedes Muſeum einen Kaſten Schrift oder wenigſtens einige 
Buchſtaben haben, und die Amerikaner werden vielleicht für 
Millionen die ganze Geſchichte zuſammen aufkaufen wollen.“ 

„Iſt das Ihr Ernſt, Herr Burger?“ 

„Ja, gnädige Frau.“ 

„Na, dann können wir uns ja alle zu einem ſolchen Schwie⸗ 
gerſohn beglückwünſchen, dem wir das alles verdanken. Eigent⸗ 
lich gehört es Ihnen ja. Ihr Scharfſinn und Ihr Apparat er⸗ 
möglichte erſt dieſe Entdeckung.“ 

„Wir ſind ſchon lange auf Erwin ſtolz, gelt Hanna?“ Und 
freudig bejahte das ſchöne Mädchen die Worte des Bruders. 

„So, liebe Kinder, nun wollen wir aber erſt zu Mittag eſſen 
und heute nachmittag ſeid ihr wahrſcheinlich ſowieſo nicht für 
einen Ausflug zu haben, da kann die Erforſchung“, wie Karl- 
Heinz ſo ſchön ſagt, ſyſtematiſch weitergehen.“ 


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Am Abend diefes ereignisvollen Tages wurde Erwin Burger 
nochmals zu feinen Schwiegereltern gebeten. 

Um fieben Uhr hatte man дете јат feinen Schwiegervater 
von ber Bahn abgeholt und darauf hatte Erwin ſich ſtill ver- 
abſchiedet und war heim gegangen. Aber kaum eine Stunde 
ſpäter ſchickte man nach ihm. 

Er traf ſeinen zukünftigen Schwiegervater in einer noch nie 
bei ihm beobachteten Aufregung an. Der alte Herr ſtrahlte or⸗ 
dentlich vor Freude und Überrafchung und kam ihm mit ausge⸗ 
ſtreckten Armen entgegen. „Alſo, mein lieber Herr Burger, 
nein, mein lieber Erwin, ich beglückwünſche dich von ganzem 
Herzen zu deinem großartigen Erfolg. Ich weiß, was du meinem 
Hauſe biſt und darum will ich dich hiermit zum Teilhaber 
meines geſamten Unternehmens ernennen. Ich vertraue dir das 
Schickſal meines Kindes mit zuverſichtlichem Herzen an, und 
wenn es euch recht iſt, können wir bald Hochzeit feiern.“ 

Da floſſen linde Freudentränen, und einmal übers andere 
fiel Hanna ihrem geliebten Bräutigam und ihren lieben Eltern 
um den Hals. Erwin aber meinte in ſeiner beſcheidenen, herzge⸗ 
winnenden Art: „Heute habe ich mir meinen fchönften Schatz er- 
graben.“ 


93 


GUTENBERG-BILDNISSE 


Von Dr. Albert Giesecke, Leipzig 


Tausende, gewiß, gedenken täglich in Verehrung des Er- 
finders der Buchdruckerkunst, viele davon in Dankbarkeit, 
weil die Erfindung ihnen Brot gibt. In vergangenen Zeiten 
wurde der Erfinder wohl jährlich einmal gefeiert, Denkmale 
sind ihm errichtet worden, Denkmünzen mit seinem Bildnis 
geschlagen, Bildnisse von ihm wurden gemalt oder gestochen, 
und dennoch wissen wir von seinem Leben, wie von der äuße- 
ren Erscheinung Johann Gutenbergs nichts. Dahingegen die 
Zeitgenossen des Erfinders waren ihm gegenüber herzlich un- 


Das obige Gutenbergbild danken wir dem Entgegenkommen der Schriftgießerei 
J. G. Schelter & Giesecke, Leipzig. 


ж GUTENBERG-BILDNISSE ж 


dankbar, іп krasser Geldgier rissen sie seine Erfindung an sich 
und beuteten die Vorteile, die sie ihnen bot, aus, sie haben ge- 
wiß wenig Achtung vor seiner Person, noch auch vor seinem 
geistigen Eigentum gehabt. Kein einziger von ihnen hat uns 
von seinem Leben, seinem Wesen und seiner Figur eine Be- 
schreibung hinterlassen. Erst zu einer Zeit, als fast schon die 
Erinnerung an seinen Namen geschwunden war, als schon für 
andere Drucker wie Johann Mentelin in Straßburg, Pfister 
in Bamberg, Coster in Haarlem und andere, der Ruhm der 
Erfindung in Anspruch genommen wurde, endlich damals 
scheinen einige wieder an Gutenberg sich erinnert zu haben. 
Es war über 100 Jahre nach seinem Tode (1584), als zum 
ersten Male, von der Hand eines französischen Künstlers aus- 
gerechnet, ein Bildnis Gutenbergs im Kupferstichverfahren er- 
schien, aber dieser Stich erweckt keineswegs den Eindruck, 
nach irgendeinem heute verlorengegangenen aus der Zeit 
Gutenbergs stammenden Bildnisse geschaffen zu sein. Viel- 
mehr läßt ein Vergleich mit Holzschnitten in verschiedenen 
Ausgaben von Pantaleons Prosopographiae, eines Bildniswerkes 
aus jener Zeit, erkennen, daß ein beliebiger phantastischer 
Kopf, und zwar einer von drei Köpfen, die neben vielen an- 
deren auch einmal die Bezeichnung „Gutenberg“ führen, der 
Ausgangspunkt des Stiches des Franzosen Thevet gewesen ist. 

Ob man etwas günstiger von dem Bildnis in Ölfarbe, das bei 
dem Brande der Straßburger Bibliothek während der Beschie- 
Bung im Jahre 1870 zugrunde ging, geurteilt haben würde? 
Schwerlich! So schmerzlich dieser Verlust auch sein mag, 
durch eine vielleicht getreue Kopie in Mainz ist uns diese Re- 
liquie ja erhalten, aber sie ist auch nicht ülteren Datums oder 
wenigstens nicht viel älter, als der erwähnte Stich; aus der 
Tracht des Dargestellten, die nach der Mitte des 16. Јаћг- 
hunderts getragen wurde, zu urteilen, muf$ bezweifelt werden, 
ob auch nur einer der Züge des Dargestellten mit denen des Er- 
finders úbereingestimmt hat. Freilich: es blieb noch der Aus- 
weg anzunehmen, der Maler habe Gutenberg in das Kostüm 
seiner Zeit gekleidet. Soweit dies aber feststellbar ist, muß 


ж GUTENBERG-BILDNISSE ж 


doch gesagt werden, daß ein solches Verfahren selbst zu jener 
Zeit ganz außergewöhnlich gewesen wäre. Vor allem ist nun 
aber festzustellen: an diesem Bildnis ist nichts, wodurch wir 
uns für den Dargestellten erwärmen könnten, es ist ein ziem- 
lich unbedeutender Kopf von gewöhnlichen Formen, die noch 
dazu ganz unplastisch angeschaut sind, dessen Augen nicht be- 
sonders lebhaft blicken, dessen großer ängstlich gestrichelter 
Vollbart — einen solchen hat Gutenberg ganz gewiß nicht ge- 
tragen — für den Ausdruck männlicher Charakterzüge wich- 
tige Partien verhüllt. 

In physiognomisch-psychologischer Hinsicht ist der Stich des 
Franzosen Thevet dem Straßburg-Mainzer Bildnis beinahe 
überlegen: dieser Künstler versuchte dem Antlitz Gutenbergs 
Größe, Würde, Ernst einzuhauchen und durch tief eingegra- 
bene Falten die Spuren angespannter geistiger Arbeit auszu- 
drücken. Leider hat er aber durch die überstarke Betonung 
des etwas phantastischen Kostüms — er wünschte wohl, der Be- 
trachter möge in diesem seinem Bildnis etwas vom großen 
Zauberer sehen — sein Werk selbst beeinträchtigt. An das 
Äußere, eben an das Kostüm, haben sich nun alle seine Nach- 
folger, die in erster Linie den Stich Thevets benutzten, an- 
gelehnt, manche nur allzu stark. Auch der unbekannte Ver- 
fasser eines sehr effektvollen Gutenberg-Bildnisses aus dem 
18. Jahrhundert (im Besitze eines Herrn Paris in Frankfurt 
am Main) hat im Kostümlichen geschwelgt: Hier erscheint 
Gutenberg mehr wie ein deutscher Fürst etwa in der Tracht um 
1600, Rock und Saum seines Mantels sind mit goldenen Litzen 
besetzt, das Antlitz des Bildnisses ist aber so glatt und schön 
und unübertrefflich langweilig. 

Das Straßburger Bildnis scheint erst um 1800 herum mehr 
in den Vordergrund des Interesses gerückt worden zu sein, 
wie wohl verschiedene Stiche und Holzschnitte aus jener Zeit 
beweisen. Etwa um 1820 wurde darnach die Mainzer Kopie, 
die das verlorengegangene Straßburger nun ersetzen muß, an- 
gefertigt, und Torwaldsen legte es der Hauptfigur seines Guten- 
berg-Denkmales in Mainz zugrunde. 


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2 V ENTE LIVS, 
entoratenlıs, 
Primus t eupubhcae patric Сродна ^ 


phus , 
fn ct. PE ez. Zt-MCCCCLXXTIX, 
Collectrone Friderici Roth eege, orgs, 


» 


Johannes Mentelin 
Zu dem Beitrag „Gutenbergbildniſſe“ 


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Unsere schon oben wiedergegebenen Zweifel ап irgend- 
welchem Bildniswert des Straßburger Gemäldes erhalten aber 
noch eine stärkere Betonung durch die Feststellung folgender 
Tatsache: in der am Anfang des ı8. Jahrhunderts in Nürn- 
berg von Friedrich Roth-Scholz veranstalteten Sammlung von 
Bildnissen berühmter Buchdrucker findet sich auch das des 
Straßburgers Johann Mentelin, dem die Straßburger Überliefe- 
rung jahrhundertelang die Erfindung der Buchdruckerkunst 
zugeschrieben hat. Der Stich, den Michael Rößler für Roth- 
Scholz gefertigt hat, zeigt eine starke Übereinstimmung mit 
deın genannten Straßburger Bildnisse und wie es bei Stichen 
natürlich ist, erscheint der Kopf hier im Gegensinn, der Bart 
ist dem Zeitgeschmack entsprechend etwas abgeändert, vor 
allem ist Kopfbedeckung und Kleidung dieselbe wie auf dem 
Gemälde. Unter diesen Umständen ist der Verdacht, das Straß- 
burger Bildnis habe ursprünglich nicht Gutenberg, sondern 
Mentelin dargestellt, berechtigt, besonders da zu der Zeit, als 
der Stich entstand, die Straßburger noch an Mentelin als dem 
Erfinder der Buchdruckerkunst festgehalten haben. Natürlich 
gelten im übrigen dieselben Bedenken gegen die Authentizität 
dieses Mentelin-Bildnisses, wie sie schon oben vorgebracht wur- 
den. Trotz der Unterschrift auf dem Mainzer Bildnis mit dem 
Namen Gutenberg — die zwar in Frakturbuchstaben abgefaßt 
ist, aber nicht unter dem Straßburger Bildnis gestanden haben 
muß —, ist allem Anschein nach also in dem Dargestellten 
— Mentelin zu sehen. 

Ist es nicht grotesk, daß das angebliche Bildnis des angeb- 
lichen holländischen Erfinders der Buchdruckerkunst, das des 
Laurenz Jansson Coster, das zu Haarlem aufbewahrt wird, in 
Kleidung und Barttracht durchaus dem Kostüm der Zeit, als 
dieser Mann gelebt haben mußte, und damit dem Gutenbergs 
entspricht, somit also, wenn seine Authentizität gesichert wäre, 
ein viel „echteres Bildnis darstellen würde, als alle diejenigen 
zahlreichen, die den Namen Gutenbergs tragen: ja es ist so echt 
und alt, daß man fast den Maler, der der Haarlemer Schule, 
also der Heimatschule Costers, angehört hat, nennen könnte, so 


* GUTENBERG-BILDNISSE * 


sehr ist dieses Bildnis im Stile der Malerei des 15. Jahrhun- 
derts ausgeführt. 

Mit unserer Feststellung aber wird die letzte Verbindung, die 
das Straßburger Bildnis mit dem Namen Gutenbergs noch be- 
saß, zerschnitten und damit die Bahn für eine individuelle Er- 
schaffung von Gutenberg-Bildnissen für alle: diejenigen, die 
sich mit einer solchen Aufgabe befassen wollen, frei. Bisher. 
haben wir kein Bildnis Gutenbergs, das Anspruch auf Echtheit 
machen könnte, also kann ein jeder sich ein solches schaffen. 
Ein für allemal wird aber damit der Zwang, der in der An- 
lehnung an ein bestimmtes Vorbild lag, beseitigt. Nunmehr 
wird das falsche Kostüm und der falsche Bart, an den sich 
die Künstler bis in die jüngste Zeit hielten, fallen können., 
Aber freilich, der Bart ist so sehr mit dem traditionellen Bildnis 
Gutenbergs verbunden, daß man Künstler fragen hört: ja, 
weiß man denn gewiß, daß der Meister keinen Bart getragen 
habe? Nun sehe man sich daraufhin die Bildnisse des 15. Jahr- 
hunderts an: wo findet man bis zum Jahre 1520 Männer- 
bildnisse mit Bärten? (mit der einzigen Ausnahme etwa von 
Bildnissen von Kriegern). Selbst Kaiser Max, der letzte Ritter, 
ließ sich seinen Bart immer vollständig abschaben. Erst nach 
seinem Tode (1519) kam durch die Spanier die Barttracht 
auch in Europa wieder auf. In Zukunft verschone man uns 
also mit „haarig-bärtigen“ Gutenberg-Bildnissen. 

Von neueren Bildnissen des Meisters sei zum Schluß auf das 
Denkmal, das im Leipziger Buchgewerbehaus steht, das Adolf 
Lehnert in Marmor ausgeführt hat, hingewiesen: er hat Gu- 
tenberg nicht wie seine Vorgänger als Patrizier, sondern als 
Handwerker aufgefaßt und ihm einen energischen Kopf mit 
machtvollem Schädel — unter Verwendung der individuellen 
Züge eines Leipziger Verlegers — gegeben. Jüngst schuf Karl 
Bauer, der bekannte Zeichner von Bildnissen großer deutscher 
Männer, in Federzeichnung einen Gutenberg-Kopf, in dem er 
seine Auffassung von dem Wesen des Erfinders wirkungs- 
voll ausgedrückt hat. (Vgl. die Abb. am Kopf dieses Auf- 
satzes.) 


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Das Familienbuch 
Von Annie FrancésHarrar, Salzburg 


Als der Freihofbauer an diefem Abend nach Haufe kommt, 
ſieht er auf den erſten Blick, daß ſein Sohn wieder nicht daheim 
iſt. Er iſt zu müde, um laut zu ſchelten. Das iſt auch ſonſt ſeine 
Art nicht. Wenn's irgend geht, macht er alles mit Zureden ab, 
ohne ſeinen Vorteil dabei außer acht zu laſſen. Seine Mutter 
war aus einer ſchwäbiſchen Pietiſtenfamilie. Die hat ihm viel 
Ernſthaftigkeit vererbt und nachdenkliches Weſen. Er ſelber iſt 
aber gar nicht fromm und kümmert ſich um den Paſtor bloß 
deswegen, weil der von der Landwirtſchaft allerhand verſteht. 

Jetzt brummt der müde Mann halblaut in ſich hinein. Er 
mag nicht nach dem Engelbrecht fragen. Mag nicht die ſpötti⸗ 
ſchen Geſichte ſeiner Knechte und Mägde bis herab zum halb⸗ 
wüchſigen Hofjungen ſehen, die, jedes auf ſeine Art, ihm zu 
verſtehen geben: „Der junge Hirſchmannsbrechtle wird und 
wird kein richtiger Bauer“. 

So ſetzt er ſich vors Haus. Gleich wirds Eſſenszeit ſein. Die 
Hauſerin — die Frau ift lange tot — rumort ſchon in der Küche 
mit der Spätzlespfanne. Es lohnt nicht, noch etwas vordem zu 
beginnen. Er ſpürt auch ſeine Knochen. Den Fünfziger hat er 
ſchon geraume Zeit hinter ſich. Die Haare werden ihm ganz дег 
hörig grau. Jetzt drängt er ſeit Jahren den Sohn: „Tu hei⸗ 
raten! Ich möchte übergeben! Bald ſchaff' ich's nimmer“. 

Aber das iſt es ja. Der Engelbrecht will nicht. Wer ſollte 
das glauben? So ein ſchöner Hof, ein alter Hof, der einen 
Namen hat ringsum. Der Jahrhunderte durch laſtenlos war — 


ж DASFAMILIENBUCH ж 


darum heißt er ja auch heute noch der Freihof — und weit bes 
kannt im Fränkiſchen und ins Schwäbifche hinüber. Und den 
Hof will der Sohn nicht. 

Der alternde Mann ſchaut ein wenig mißmutig in die ſpäte 
Sonne, die ſchon ſacht unter der Himmelswand verſinkt. Der 
Abend iſt ganz ſtill und lau. Unten im Tal ſteigen bereits dünne 
Nebel. Die da drunten haben jetzt ſchon faſt finſter. Nur oben 
auf dem Freihof ift noch helles Zwielicht. Das Jahr laßt fid) 
nicht ſchlecht an. So ein ſchöner Mai war lange nicht. Und eine 
Obſtblüte hats gegeben 

Blau dämmern die Ketten der Alb herüber. Der bunte 
Himmel dunkelt nun auch hier oben. Man müßte ſchon eſſen. 
Auf was wartet denn die Hauſerin noch? 

Der Bauer ſteht ſchwerfällig auf. Irgendwo knackt es in 
ſeinen Gelenken. Früher war das Rübenauspflanzen keine ſo 
mühſame Arbeit. Alt wird er. Jetzt wäre die Reihe am Sohn. 
Wozu hat er ihn? 

Als der alte Hirſchmann in die Stube tritt, ſchlüpft gerade 
der Engelbrecht an ihm vorbei. Die zwei ſehen ſich einen Augen⸗ 
blick an. Der Junge ſcheu und unſicher, der Alte ernſthaft und 
ſchier traurig. 

„Komm eſſen!“ ſagt er dann. „Wir warten ſchon.“ 


Später ſitzen die zwei allein. Das Geſinde iſt ſchon auf 
ſchweren Füßen in ſeine Kammern gekrochen. Es wird morgen 
Arbeit genug geben. Frühling iſt harte Zeit für den Bauern. 

Die zwei ſitzen und reden nicht. Der Alte raucht aus ſeiner 
zerbiſſenen Holzpfeife. Die glüht zuweilen feurig rot durch den 
Monddämmer, der blaßgrün zum Fenſter hereinfließt. Der 
Brunnen geht mit ſanftem Rauſchen. Aus der Tiefe funkeln die 
Lichter von Stödtlen herauf, weit, wie verſunken unter einem 
Spiegel blaudunkler Luft. 

Der halbvolle Moſtkrug glänzt wie aus Silber. Und die 
weißen Hemden leuchten fahl. Von den Geſichtern iſt nur ein 
brauner Schatten da, in dem das Weiß der Augäpfel zuckt. 

„Was willſt?“ fragt endlich der Freihofbauer. 


100 


ж DAS FAMILIENBUCH ж 


Der Junge atmet wie erlöft auf. „Fort, Vater! Ich halts 
bier nit aus“ 

Und wohin folls diesmal fein?” 

Der Engelbrecht rückt unruhig. „Vater.“ 

Der zuckt gleichmütig die Achſeln. Man ſieht, wie das lichte 
Hemd ſich bewegt. 

„No ja. Bieber Daft nit gewußt, wohin. Oder, daß ichs 
richtig ſag, du hätteſt dich ES müſſe, hätteſt da überall 
hinwolle, wo du gemeint haſt.“ 

„Єз gibt ебе fo viel.“ 

„In den Ohre liegſt mir, ich weiß nit, wie lang. Laßt hier 
deine Arbeit ебе...“ 

„Ich mein, ich hab noch i immer genug geſchafft.“ 
| „Ja, aber nit mit dem Kopf dabei. Der iſt immer weiß 
Gott wo anders.“ 
„Ich bin halt fo. Sagſt ja auch fonft, es kann keiner aus 
ſeiner Haut ſchlupfe.“ 

Sie ſchweigen. Der Alte zieht geräuſchvoll an ſeiner Pfeife. 
Der Junge greift nach dem Moſtkrug. 

„Spät wirds. Ich bin müd. Wenn du was rede willſt, 
wirds Zeit. Wir ſind am obern Anger noch nicht zum Drittel 
fertig. Das muß alles morgen geſchafft werde.“ 

Der Junge würgt irgend etwas hinunter. Er könnte es auch 
ſagen. Aber was ſoll er den Vater kränken? So denkt er ſich 
nur: „Immer der Hof! Immer die Arbeit. Und wenns ihm ans 
Sterben ging’, das fiel ihm noch ein. Wie ſoll ich da reden... 
von dem andern in mir?“ 

Der Freihofbauer nimmt die Pfeife aus dem Mundwinkel. 
Er ſchaut den Sohn an, als wüßte er alles, was hinter der 
ſchmalen braunen Stirn da zuckt und fiebert und heraus will. 

„Ich will dir was ſage, Brechtle!“ Seine Stimme iſt nicht 
ungut. Er iſt einer von den Geduldigen. Sein eigenes Blut 
wundert ſich manchmal darüber, wie ſehr. „Du willſt fort. Das 
weiß ich lang. Meinſt, ich ſeh nit, wies dich herumtreibe tut? 
Du denkſt, ich könnte den Hof verkaufe, das iſt ја jetzt fo die 
neue Modi...“ 


ж DAS FAMILIENBUCH ж 


„Vater, das Maul hab ich mir nicht aufmache traue, und du 
redſt das [о heraus. Ja, ein Haus in Stuttgart wüßt іф... 
Ich denk ja ſchon fo lang dran... Oder wenn du nit willſt, du 
hängft am Hof, fo laß mich fort! Mein Mütterlichs wenn du 
mir gebe 1801... in Argentinien ift der Boden billig. Nur ein 
Geldle muß man nachweiſe könne ... So zahl mich aus... ich 
erſtick ba... iſch kanns nit aushalte, und wenn ich noch ſo wollt, 
ich könnts halt nit. 

„Und wills auch nit!“ ergänzt der Vater mit ſeiner tiefen, 
gelaſſenen Stimme. 

Des Sohnes Augen flackern. Im Mondlichte gleißen ſie 
mit dunkler Flamme. 

„Ja, Daft recht... ich will auch nit. So weit iſt die Welt, 
und ich foll bode, foll auf die Rüben paſſe, und daß in ein m 
Jahr die Erdäpfel nit verderbe, und daß im andern der Weizen 
nit verhagelt. Und da geht einer fort und verkauft fein Sach. 
und ich fig und fig... und es ſchmeckt mir [don kein Effe тебе! 
Ganj Sana ift mir, und ich barf nir јаде, denn ſonſt heißts 
nur: Schaff! Der Hirſchmannsbrechtle wird doch kein SE 
fein! Hats fo gut und da taugts ihm noch immer nit 

„Bub, du haft ſcharfe Ohre. 

„Ich weiß ſchon, Vater, alles weiß ich. Und daß ich dir e ein 
bausarofe Kummer antu, währenddem ich. 

Die Stimme bricht ihm jäh. Er iſt es nicht gewöhnt, von 
Gefühlen zu ſprechen. In dem Punkt iſt er ganz Bauer, wort⸗ 
karg, hart und verſchwiegen. 

Der Mond wirft nur noch einen dünnen Schatten ins Zim⸗ 
E Fern im Blauen geht eine ſchimmernde Wolke an ihm 
vorbei. 

„So, weißt du's alſo, Brechtle, und meinſt, es geht trotzdem 
nit anders? Ja, biſt nie einer von den Dumme geweſe. Und 
von den Nachgiebige erft recht nit. 

„Vater, das grad hab ich nit geftoble... 

„So, meinft, unb fragft nod) gar nit, A nm Nein’ fag... 

ou... Бәле... 

„Ich hab noch nir zugebe. Erſt muß ich wiſſe, daß das 


ж DAS FAMILIENBUCH ж 


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~ 


wirklich deine Haut ift, deine echte und richtige, die, aus der 
keiner ſchlüpfe kann. Denn wenns das iſt, dann kann ich dich ja 
doch nit halte...” 

„Du biſt der Allergeſcheiteſt ...“ 

„Wenn das ſchon geſcheit heiße tät, daß man nit bei allem 
und jedem den Moſchtkrug auf den Tiſch haut...” 

„Die andern tuns aber...” 

„Vielleicht bringſt mich noch dazu...” 


103 


ж DAS FAMILIENBUCH ж 


Der Engelbrecht ſchweigt und ſenkt den Kopf. Was foll 
et fagen? Ein anderer an feines Vaters Stelle — Gott behüt! 
Mord unb Totſchla ei batts geben. 
Der alternde Mann bebt ſich rechtſchaffen müde von der 
Bank auf: „Ich geh ſchlafe. Man ſoll nix übereile. Kann 
ſein, daß es ein' ſonſt reut.“ 

„Ich kann nit ſchlafe. Alleweil muß ich denke und denke...” 

Der Alte geht zur Wand neben dem Ofen und ſperrt ein Fach 
auf. Greift hinein und holt ein Buch heraus. Er findet es auch 
im Dunklen. 

„Da, das iſt beſſer, als das 8 was dich doch nur noch 
rappelköpfiſcher macht. Lies! Das Buch da, mit dem bin ich oft 
allein geſeſſe. Und immer hats geholfe.“ . 

„Die Bibel von der Mutter felig?” 

„Woher denn. Weißt doch, daß ſie ſie hat mithabe wolle 
Das da, das iſt ganz was anderes. Wirſt ſchon ſehe. Ich hab 
E wenn ich ftirb, du wirft es ſchon finde. Und vordem 

rauchſt es nit. Aber es ſcheint mir, als baut du's vordem 
nötiger. Da haft die Lamp. Schlag auf, wo das Zeiche hängt. 
Gut Nacht!“ 


ж 


So fißt der Engelbrecht über bem Buch. Das gelbe Licht der 
Petroleumlampe umrahmt fein ſchmales, braunes Geſicht mit 
den abſonderlich gebogenen Brauen, die ſich faſt über der Naſe 
treffen. Er hat die Fäuſte aufgeſtemmt. Heimlich murmelnd 
lieſt ſein Mund mit. 

Daß der Vater etwas von Büchern hält, hat er immer ge⸗ 
wußt. Der Urgroßvater ſchon brachte ein ganzes Spind zu⸗ 
ſammen. 

Es ſind da ſo ein paar Dutzend Höfe im Schwäbiſchen ver⸗ 
verſtreut, die haben von langher eine Bibliothek. Alte, ſeltene 
Sachen ſind darunter. Das, was der Engelbrecht jetzt vor ſich 
liegen hat, das hat er aber noch nie geſehen. Hat nicht einmal 
was davon gewußt. Der Vater in ſeiner nachdenklich verſchwie⸗ 
genen Art hat es wohl ganz geheim gehalten. 


104 


ж DAS КАМПЛЕМВОСН ж 


Es ift febr ſtill. Die Ofenbank knackt ein paarmal. Die Uhr 
tickt bedächtig. Draußen wird mit einmal wieder die Stimme 
des Brunnens laut, als wäre er vor den Menſchenworten ver⸗ 
ſtummt geweſen, und der Nachtwind rieſelt durch den großen 
Birnbaum. Der junge Menſch lieft — nicht immer ganz mühe- 
los, denn es ift altväteriſch geſchriebene Schrift: 

ју • • . Und fo weit war alles gut mit dem Freyhof unb bin ich 
ſchier faſt angeſehen geweſt, weil ich mein Gut hab behalten 
können vor denen marodierenden Soldaten, die wie die ausge⸗ 
hungerten Wölf zurücke kamen aus dem ruſſiſchen Heer und 
dem Napoleon ſind davon geloffen. War aber eine nicht gar 
lange Plag. Denn ſind alle bald verſtorben. Der eine da und 
der ander dort. Einen haben ſie gefunden in einem Acker zwi⸗ 
ſchen Stödtlen und Wildenſtein und die Läus haben ihn faſt 
aufgezehrt gehabt. 

Mein Sohn Gottlieb war dazumal, als ausgehoben wurde, 
noch ein blutjunges Bürſchle und ich hab ihn in die obere Kam⸗ 
mer eingeſperrt und wohl mit Eſſen verſorgt. Aber er war un⸗ 
geberdig, und Gott hat mich mit ihm geſtraft und war doch mein 
Einziger und hat alle meine väterliche Lieb gehabt. Aber das hat 
er für gering geacht und hat nit viel gefehlt, ſo hätt er die Hand 
aufhoben gegen mich, darum, weil ich ihn nit davon hab ziehen 
laſſen, wie er es trotzig und zornmütig begehrte.“ | 

„Was les ich denn?“ denkt der Engelbrecht und es fteigt 
ihm heiß in die Stirn. Er blättert nach vorn. Rauſchend fallen 
die vergilbten Seiten. Auf dem Titelblatt, das er endlich findet, 
ſteht in bunten und ſonderbar verſchnörkelten Buchſtaben: 
Hiſtoria derer Hirſchenmanns, ſo auf dem Freyhof zu Stödtlen, 
gelegen an der Rauchen Alb, ein Tagreis weſtlich von der guten 
Stadt Ellwangen, ſeit zwo Jahrhundert hauſen. Zuſammenge⸗ 
ſchrieben und aus Kirchenbüchern mit des Predigers Hilf ex⸗ 
trahieret, auch nach des Großohms ſelig Bericht von Johann 
Georg Hirſchenmann Anno 1673 und fortgeſetzt von ſeinem 
Sohn Hans Ulrich 1725. 

„Alſo ein Familienbuch! Und das hat der Vater und ſagt 
nix davon!“ 


ж DAS FAMILIENBUCH x 


Aber weil die frühen Eintragungen ganz verblaßt find unb 
in einer Kritzelſchrift, die gar nicht zu leſen iſt, ſo fährt der 
Engelbrecht nach einigem nutzloſen Blättern da fort, wo er 
ſtehen blieb. o 

„. . . Ich hab ihm fang Widerpart gehalten. Sein Schweſter⸗ 
mann, der Schulz worden iſt um die Zeit, hat ihm mit dem 
Spinnhaus droht. Aber das war ganz umſonſt. Sein un⸗ 
ruhigs Blut hat ihm nit Ruh geben. Er hat die Augenbrauen 

erad ſo über der Nas zuſammen, wie die Ahnin Margret Stein⸗ 

oferin, die noch beim großen Krieg zu meinem Urgroßvater auf 
den Freyhof geflüchtet kommen iſt und von der es heißt, ſie 
hätte ein adliges Blut gehabt. Gott habe ſie ſelig, ſie war ihm 
eine gute Frau, ſo hat ers in dem Buch da geſchrieben. Aber 
ſeither iſt immer einer unter uns, der ſich auflehnt und ſeinem 
Vater alles Herzleid antut — ſo wie mein Gottlieb. | 

Und im Heumond begfelbigen Jahres ift er dann doch fort 
und ich hab' ihn nicht halten können. Er hats mir abgetrotzt im 
Böfen, und im Böſen iff er gangen, zu der hinteren Hoftür 
hinaus und hat ſich nimmer umgeſchaut. Und ich bin an der 
Wand gelehnt, weil mir das Herz ſo geſchlagen hat. Und hab 
gewußt, daß ich ihn nimmer ſehn werd. Und hab gemeint, ich 
müßt hinſterben auf dem Fleck da, neben dem großen Ofen unten 
in der Stub, denn es war doch mein Einziger und nit anders, 
als ob er vor mir auf dem Totenſchragen gelegen wär. 

Meine Töchter und Tochtermänner, Gott ſegne ſie dafür, 
haben mir in denen ſchweren Tagen Liebs und Guts getan, ſo⸗ 
viel ſie nur vermochten. Und wurd auch das Herzleid mählich 
gelinder. Habs aber nit vergeſſen können und bin aufgeſchreckt 
in der Nacht und hat mich das Leben nimmermehr freuen wollen. 

Und iſt ſechs Jahr lang ſo hingegangen. Aber im ſiebten, 
nach meines Gottlieb Weggang, es war ſchier ſchon an Kirch⸗ 
weih und man hat 1819 geſchrieben, die groß Hungersnot war 
auch vorbei und das ewige Kriegführen hat aufgehört gehabt, 
da iſt ein armſelig Weibsbild auf den Hof kommen und hat 
nach mir gefragt. Und hat ein klein Büble an der Hand. Ich 
hab alles gewußt, wie ich das geſehn hab. Es war ganz wie 


ж DAS FAMILIENBUCH ж 


mein Sohn, nur nit die zuſammengewachſenen Augenbrauen hat 
es gehabt, dafür ganz dunkle Augen, und wir Hirſchmanns ſind 
doch Ga Sch feit bald zweihundert Jahren. | 

Ich kann nit alles herſchreiben, es wäre zu verwickelt unb 
lang und meine Hand wird jetzt fo leicht müd, es war 
meines Gottliebs Frau und Sohn. Sind herübergekommen von 
Amerika, nachdem er am Fieber verſtorben. Konnten kein rich⸗ 
tiges Wörtle deutſch, denn ſie war ganz fremd, Hiſpanierin, 
oder ſo. Iſt auch noch in dem Jahr verſtorben. 

Das Büble hab' ich eintragen laſſen neu ins Kirchbuch 
und haben wir ihm den Namen auserwählt: Engelbrecht Pere⸗ 
grinus Sie haben gemeint, das wär kein Bauernnam. Ich 
пов абет, daß das „Wanderer“ heißt und ich fürcht, ich 

rat... 

Der јипде ‚Menfch kann nimmer weiterleſen. Es iſt ein wil⸗ 
der Aufruhr in ihm, бе еп er erft Herr werden muß. Deg 
Großvaters Peregrinus kann er ſich gut entſinnen. Das war 
ein ſtiller Mann, der nie gelacht hat, finfter und arg aber? 
gläubiſch. In ſeiner Kammer hing an der Decke ein kleines, 
künſtliches Schiff, und an der Wand klebten viele bunte Bilder 
von fremden Orten und Menſchen. 

Ihm war, als ſtände die ganze Reihe ſeiner Vorvãter neben 
ihm, jeder mit ſeiner Geſchichte, ſeinem Kummer und ſeinen 
Warnungen. Scheu blickte er zu dem Ofen hinüber, an dem 
ſein Urahn lehnte, da der Sohn von ihm ging. Und da und 
dort hat ſicher der fremde kleine Peregrinus geſpielt, und noch 
früher, in den Schreckenstagen des Dreißigjährigen Krieges, 
iſt jene Frau Margret im Freihof umhergegangen, und wer 
weiß, was ſonſt noch alles geſchehen iſt. Und all das war 
lebendig und hing an ihm mit hundert Fäden, als wären es 
ſeine eigenen Erinnerungen. 

Mit einmal ſchien ihm ſein ſehnlicher Wunſch, nach Ar⸗ 
gentinien auszuwandern, unſäglich lächerlich und töricht. Was 
hatte er in Argentinien zu ſuchen? War nicht hier ſeine Heimat, 
wo er wurzelte wie ein Baum? Konnte er Merkwürdigeres 
erleben, als die Geſchichte ſeines Geſchlechtes, die den ganzen 


ж DAS FAMILIENBUCH * 


Freihofbeſitz und das ganze Land um ihn belebte und ihm fo zu 
eigen machte, als wäre er ſein König? 

Freilich, er hatte auch etwas von der Vorfahren böſem und 
wanderſüchtigem Blut. Hatte auch das Zeichen im Geſicht, aber 
ſollte er jetzt nicht gerade klüger fein? Er (а) doch ihr Schick ſal 
vor ſich. So wie dem Gottlieb konnte es ihm auch ergehen. 
Warum hatte er nie daran gedacht? 

Er ſtand auf und blies die Lampe aus. Müde und glücklich 
war er, denn endlich hatte er eingeſehen, was das Richtige für 
ihn ſei. Einer, der eine Heimat hat, ſoll ſie behalten. 

Mondlicht ſtand weiß in der Stube. Der Brunnen rauſchte 
und tropfte. Der ganze Freihof um ihn lebte und nahm teil 
an ſeinem Entſchluß. Dem jungen Menſchen war, als ſei er 
von einer weiten und gefährlichen Reiſe zurückgekehrt und die 
erſte Nacht wieder daheim. 

Er nahm das alte Familienbuch, daß ihm nichts geſchehe, 
ſorglich unter den Arm und ſtieg in ſeine Kammer hinauf. 

Schlief augenblicklich ein, traumlos und zufrieden. 


ж 


Am anderen Morgen legte er бет Vater das Buch auf ben 
Tiſch, an dem jener frühſtückte. Einen Augenblick fahen fie ſich 
an. Der Vater diesmal prüfend und fragend, der Sohn ſeiner 
ſicher und ruhig. 

„Ich bleib, ſagte der Engelbrecht. 

Der Alte nickte. Sein ganzes ſtilles Geſicht leuchtete. 
„Hab's faſt gewußt.“ 

Er reichte dem Sohn die Hände. Sie ſchloſſen fic) feft in- 
einander. Es war wie ein Verſprechen. 

Ge ſiehſt du“, ſchloß der Freihofbauer dieſes ſtumme Zwie⸗ 

präch, „ich denk mir immer: Wofür habe denn die vor uns 
ern Dummheite gemacht, wenn wir nicht davon was lerne? 
So aber iſt doch ein Sinn in dem, daß mein Vater was erlebt 
hat. Und hat er's ſchlecht getan, ſo können wir's beſſer mache, 
und war das Geinige gut, fo Пері man, wie man’s anſtelle foll. 


DAS КАМПЛЕМВОСН 
[t das Buch in Ehre, Brechtle! Heut hat's unſerm Freihof 


ein Herrn geſchenkt!“ 


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Ouchtrucker in Loblicher Stadt Durich # 


Chriſtoph Froſchauer 
Der Begründer der bekannten Schweizer Kunſtanſtalt Orell ЗАВИ, Zürich 


Der Schneeſpritzer 
Typographen-⸗Nazis erſtes Schneefhuh- Debüt 
Von Sepp Wunds hammer, Këln = Braunsfeld 


Grad hier fiel der dicke Лам auf den Kopf 
Und zerbrach ſich Gebein und Schneeſchuhſpitzen, 
Weil er, der eigenſinnig dumme Tropf, 
Blieb nicht an dem „Ippographen” figen. 
Hätt an der Kare’ er nur zünftig draufgeſtoch n, 
Wär ihm nicht der Schi und auch die Har'n broch n 
Drum, geliebter Typographen⸗Bruder, 
Bleib nur ja aus jedem Schneegepuder, 
Murkſe lieber Zeilen ſchmal und breit, 
Von nun an bis in d' Ewigkeit! Amen! 


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LUI TIZITTTTITS 
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Die mit dieſem lebhaft an ben feligen Tobias Kluiben⸗ 
ſchädel gemahnenden und tiefempfundenen Kraftpoem einge⸗ 
leitete, hier nun folgende und männiglich in Oberbayern vor 
ſich gegangene „Gſchicht“ birgt drei nachdenkliche Tatſachen: 
ſie iſt ein biſſerl wahr, ein biſſerl luſtig und ein ganz kleines 
biſſerl belehrend. Der auf Moll eingeſtellte Leſer baut ob ſolch 
trockener Atomzertrümmerung vorzeitig ab; der Dur⸗Leſer da⸗ 
gegen möge ſich nur getroſt an dieſem mummeligen Spinnfaden 
weiter entlang hanteln. 

Alſo: Der Schneeſpritzer! Hm, ja, Schneeſpritzer? Ein ſon⸗ 
derbares Gewächs! Freilich, wär' ja nicht übel: einen Blei⸗ 
ſpritzer kennt doch jeder von denen, die da mit ihren blendend 
ſchönen Augen an obigem Titel hängen geblieben ſind. (Ach, 
daß ſie ewig hängen blieben...) Schließlich auch noch einen 
Regen⸗, einen Dreck⸗, oder gar noch einen hausfrauenherzen⸗ 
zermürbenden Tintenfpriger! Es gibt auch noch andere 
Spritzer (?) (Knax, die Arretierung!) Aber einen Schnee⸗ 
ſpritzer? Höchſt ſonderbar! Und daß die Gedanken reifen möchten, 
bauen wir dieſerhalb hier einen ſauberen erſtmaligen Ausgang. 


112 


Ein phantaſtiſches Gutenberg-Bildnis 


Nach dem Originalgemälde 
aus dem Beſitz des Herrn A. Paris, Frankfurt a. M. 


«„ DER SCHNEESPRITZER ж 


Sodann ziehen wir wieder zwei fachgewaltige Geviert ein 
und fahren im ſonntäglichen Evangelium fort: Nazi — Sie 
wiſſen doch, daß dies der apoſtrophierte Igenaz iſt — war ſonſt 
wirklich ein lieber, netter Kerl. Behaftet mit all den guten 
und ſchlechten Tugenden eines zunfttüchtigen Maſchinenſetzers. 
Am Typographen ausnahmsweiſe. Wenn auch etwas kurz von 
Geſtalt, ſo doch bedenklich maſſig an Umfang und an Gewicht. 
Eigentlich der unumſtößlichſte Beweis von der Schädlichkeit der 
ungeheuer giftigen Maſchinenſetzertätigkeit. Er war ein beſon⸗ 
derer Liebhaber von hölzernen Brettl ſchon immer geweſen. 
Stand er doch auch auf einem fauſtdicken Holzbrett vor ſeiner 
Bleiſpritze — „widerliche Drahtkommode“ nannte er ſie auch, 
wenn ſie einen weidgerechten Bleiſpritzer ihm vor die Füße ge⸗ 
kotzt hatte —. Sonſt reichte er nämlich nicht bis zu den 
Taſterln! So ein Mordſtrumm⸗Mannsbild war alfo unfer Nazi. 
Aber prächtig wußte er mit ſeiner Drahtſchaukel umzugehen, 
das mußte ihm der Neid laffen. Kugel- und Fahnenſtange 
wußte er ſtets zu unterſcheiden, ebenſo kannte er den nicht leich⸗ 
ten Unterſchied (7) zwiſchen einer Arretierung und der Spatien⸗ 
ringwelle. Kannte Korb und Rechen faſt wie ſeine Taſche und 
nudelte mit weitausholender, direkt ſchwunghafter Geſte die 
Matrizenſtäbe vom „Jebirge“ herunter, daß es eine Luſt war, 
ihm bei dieſer Tätigkeit zuzuſchauen. Kurz, Nazi war wirklich 
ein patenter Typograph⸗Setzer. So, wie man ihn braucht, ſo, 
wie man ihn ſucht, aber wie ihn auch der „Tarif“ verlangt. 

War es nun die ewig ſinnreiche Funktion der Matrizen⸗ 
ftäbe, bie fo behend (manchmal aber auch nicht!) an den glatten 
Drähten bergabwärtsgleiteten, oder die malefiz ſtinkende, blei⸗ 
verpeſtete Luft im „Atelier“, oder gar die Wunder des weißen 
Sportes, die zur damaligen Zeit aus dem tagtäglichen Manu⸗ 
ſkript eine ſo eindringliche Sprache redeten und ſein faules 
Knochentum zu höhern Taten aufreizte, oder waren es die ver⸗ 
derblichen Einflüſſe ſporttüchtiger Freunde — kurz, Nazi ging 
eines ſchönen Tages unter die Wintersportler. Ausgerechnet zu 
den Schneeſchuhläufern. Er, ber Typographen⸗Nazi. Haben Sie 
ſchon jemals ſolch eine Verwegenheit gehört?? Nazi, Nazi, 


% DER SCHNEESPRITZER ж 


nimm dich ja in acht! Wie mag es dir dort mit deinem 40 jábri: 
gen höchſt umſtändlichen, nein, direkt unanſtändigen und bis⸗ 
lang ſo ſorgſam gepflegten Wamperl ergehen? Taub für alle 
Belehrungen wußte er es ſtets beſſer. Immer wieder wußte er 
ſein „welkes“ Bruſtkaſtl und ein ebenſolches Hirnkaſtl in den 
verſtehenden Vordergrund zu ſchieben. Nur einmal hinaus in 
die winterliche Luft und in die alles befreiende Natur. Denn 
gerade der Winter und der Schnee ſeien es, die immenſe Heil⸗ 

: faktoren (ob dieſe überhaupt i im Faktoren⸗ 
bund aufgenommen waren?) in fid) barz 
gen, um fo ein vertrocknetes, verkümmer⸗ 
tes Maſchinenſetzergemüt wieder auf bie 
Beene zu bringen. So ſprach Nazi, der 
Typographen⸗Bazi! Kein Teufel könne 
ihn daran hindern: er werde Schneeſchuh⸗ 
läufer. (Knax, die Arretierung!) Schließ⸗ 
lich mußten wir ihn, den miſerabligen 
Schneeſpritzer, tatſächlich ziehen laffen. 
Mit Pauken und Trompeten! Geradezu 
mit Verachtung zwängte er ſich aus 
unſerm unſportlichen, ſtrohdürren Tech⸗ 
nikerkreis, um mit Stolz und lorbeer⸗ 
bewinkten Hoffnungen in den Ring derer zu treten, die zwar 
nichts von Setzmaſchinen, geſchweige von liederlichen Manu- 
ſkripten etwas kannten und verſtanden, wohl aber haushohe 
Kenntniſſe von Ski und Schnee, von Bindung und Telemark, 
von Chriſtiania und Stemmbögen, von Papp⸗ und Pulver⸗ 
ſchnee hatten. Und ſo ward Nazi für uns nur noch der Theo⸗ 
retiker, der Schneeſpritzer. (Knax, die Arretierung) Nazi, ein 
Ski⸗Heil! 

Heimlich und verſtohlen, ganz mäuschenſtill ſetzte ſich Nazi 
nach und nach — nach jeder wöchentlichen Lohntütenvertei⸗ 
lung — in den Beſitz irgendeines nützlichen Sportungetüms. 
Zuerſt waren es die langen Hölzer, dann folgte natürlich die 
Bindung, dann die Schuhe, drei Zentner ſchwer, dann die Hand⸗ 
ſchuhe, bis zur Achſelhöhle reichend, dann die Zipfelmütze, oben⸗ 


ж DER SCHNEESPRITZER ж 


auf mit einem herzig⸗neckiſchen Quaſterl bezieret, dann der 
Schal, den er ſich gleich ein paarmal um ſeinen leiblichen Aqua⸗ 
tor ſchlingen konnte, dann — ach, weiß der Kuckuck, was noch 
alles für einen ſonderbaren Kram. Sichtlich veränderte er ſich; 
auch an der Maſchine war es zu bemerken. Seinen bislang 
vorbildlichen ruhigen Stand an der Kommode wechſelte er in 
ein nervöſel Getrippel um. Bald ſetzte er dann mal das eine 
Knie langſam zu Boden, bald das andere. Wie ein nach Mekka 
orientierter Muſelmann verharrte er oft eine ganze Weile in 
dieſer ſonderbaren Lage. Dann machte er wieder ſeltſame Kehrt⸗ 
wendungen, ſo ganz anders, wie man es ſonſt von einem nor⸗ 
malen Typographſetzer gewohnt ſein ſoll, der in Eile um das 
Bleibergwerk rennt, um einer widerborſtigen Arretierung Mores 
zu lehren. (Daß wir nicht бегде еп: тау, die Arretierung!) 
Und man denke nur: Mit zwei Beſenſtielen bewaffnet ſahen 
ihn ein paar ſo nichtsnutzige Zunftſchimpanſen höchſt verdächtig 
um die Maſchine krauchen, um mit unbeholfenen, langſchlurfen⸗ 
den Schritten nach der großen Retirade zu ſtakeln. Das gab 
bei den lieben Kollegen nette große Salzbüchſelaugen! Man 
kann ſich dies auch ganz gut vorſtellen. Kurz und gut, Nazi 
wurde allmählich „gſpaßi“ und kam in den Geruch eines ſon⸗ 
derbaren Heiligen. Und nichts ift fo fein gejponnen... die 
Satanskollegen knobelten zu allem Pech auch noch das eine 
Erlebnis heraus, wie unſer Nazi mit ſeinen ſoeben erſtandenen 
Brettern erſtmalig in ſein Wigwam einfiel. Das war ein höchſt 
merkwürdiger Einzug. Nachdem er ſchon auf der ſchmalen, un⸗ 
wendigen Treppe der lieben Frau Nachbarin mit ſeinen bock⸗ 
beinigen, in ſeinen geſchwollenen Taſtengrifferln doppelt unhand⸗ 
lichen Skihölzern höchſt unmanierlich in die Vorderfront ge⸗ 
ſtochen hatte, was dero ſo unſanft Betupften ein wütendes Ge⸗ 
plärr entlockte, derart von Kraft und Ausdauer, daß neben an: 
dern Neugierigen auch die eigene, ureigene Frau händeringend 
und zähnefletſchend (Knax, die Arretierung!) an der ſonſt ſo 
gaſtlichen Flurtür erſchien, brachte er auch dieſem ſonſt ſo nütz⸗ 
lichen Eheobjekt mit der plump gezückten Turnierſtange einen 
ganz unſportlichen, dafür aber auch um ſo kräftigern Tupf bei. 


ж DER SCHNEESPRITZER ж 


Der war von einer Güte, daß die damit Bedachte боп eine 
ganz kleine Ahnung vom Jenſeits bekommen konnte. Gackernd 
und wild jaulend verzog ſich das edle Paar in den Bau. So 
wurde erzählt! Ja, ja, aller Anfang iſt ſchwer, auch das Heim⸗ 
tragen von Schneeſchuhen! Die Már war aber leider noch nicht 
alle: in der Küche hing nämlich auch noch eine elektriſche Zug⸗ 
pendellampe. Unten daran war eine niedliche, hübſch bemalte 
(Handmalerei) Glasglocke. In ausgeſuchteſter Gegenfäglichkeit 
hing nun gerade dieſe verdammte Lampe im Verhältnis zu den 
langen Brettern viel zu tief. Wahrſcheinlich ein Konſtruktions⸗ 
fehler! Nazi, der Mann von Brüderlichkeit und Gleichheit, be⸗ 
ſeitigte dieſes Mißverhältnis kurzerhand, als er in die Küche 
mit ſeinen Brettern eindrang. (Knax, die Arretierung!) Dem 
Frauchen, durch den Bauchhaken von vorhin ſowieſo noch ſtark 
benommen, fiel die Hälfte (die beſſere) klirrend aufs Haardach. 
Eine fatale Sache natürlich! Bei dem nun folgenden häus⸗ 
lichen Wett: und Preisſpringen um die Küchen⸗Skimeiſterſchaft 
ging auch noch der ganze Morgenkaffeetiſch mit Taſſen, Topf 
und Marmelade in einem ſchröcklichen Fiſchhaufen kläglich unter. 
Geſchah ihm aber recht, warum wollte er nicht an ſeinem blecher⸗ 
nen Leiſten bleiben, der Abtrünnige, der Schneeſpritzer von Got⸗ 
tes Gnaden. Der aufgeblaſene Windbeutel! 

Wie geſagt, ſeine Trocken⸗Skikurſe in der heimatlichen guten 
Stube brachten ihm viel Leid und wenig, herzlich wenig Freude. 
Man denke nur an die diverſen Nippſachen und Täßchen, die 
er bei ſeinen Kehr⸗ und Stemmübungen mit den langen Brettern 
vom „Vertiko“ ſcherte. 

Aber Nazi, der kurz und knubbelig von Geſtalt war, was 
übrigens der Chroniſt mit Verlaub getreulich bereits vermeldet 
hatte, war in Punkto Geduld und Opferfreudigkeit zum ver⸗ 
ſöhnenden Ausgleich deſto größer und gewaltiger. Schon um 
dieſer wohllöblichen, gerade beim Maſchinenſetzer ſo ſelten vor⸗ 
kommenden Tugend verdiente er ein geiſtiges Denkmal in die 
Herzen der zünftigen Leſerſchaft geſetzt zu bekommen. Aber, 
wie alles einmal zur Reife kommt und wie endlich ein angehen⸗ 
der Typographſetzer den Korb vom Rechen und den Keſſel von 


ж DER SCHNEESPRITZER ж 
—8—ͤ— ВИНЕ ПИЦИИНИНШИШИШИШИШИШИШИШИОРИНИИИИНИЦИНННННННННО 


der Arretierung (halt: knax, die Arretierung!) endlich einmal 
unterſcheiden lernt, ſo reifte auch Nazis Schneeſchuhſport heran. 
Seine winterliche Schwärmerei wurde immer größer, feine 
Phantaſie wurde immer lebhaf⸗ — 

ter und entwickelte (id) nach und Kä 

nach zur winterlichen „Weiß⸗ M. е 

glut”. Und wenn Nazi feine # / 

Mount⸗Evereſt⸗Phantaſie | У 
ſchließlich nicht bald in eine Qili- ly e 
putpraris umwerten konnte, 
dann waren um Nazis Ver⸗ 
ſtandskaſtl Befürchtungen be⸗ 
denklichſter Art unausbleiblich. 

Und der große Tag nahte. Er 
ſelbſt blies es hinaus in alle 
Winde, daß er nun fertig ſei, 
daß er den Trocken⸗Skikurs mit 
Note eins und Berechtigung zum 
Einjährigen glücklich überſtan⸗ 
den hätte. Völlig ausgereift! 
Na, endlich die Probe aufs 
Exempel. 

Wußte er doch ſchon, daß die 
Bretter die Welt bedeuten. Wie 
groß und herrlich mußte ſie erſt 
auf Skibrettern ſein? Sein 
Geiſt war erfüllt mit ben bert: 
lichſten Bildern. Nazi ſah ſich 
im Geiſte mit eindrucksvollen 
Schleifen durch die glitzernden 
Schneefelder von den Höhen nach 
den Tiefen fliegen, während 
wild aufwirbelnde Schneewolken wie funkelnder Weihrauch ſich 
um ihn, den Sport⸗Apoll, legten. Göttliche Einbildung! Und er 
ſah ſich als Ebenbild derer, die einem der Photograph, die Sport⸗ 
illuftratoren und nicht zuletzt die eigene Phantaſie vorzugaukeln 


ж DER SCHNEESPRITZER * 


beliebte, kurz, Nazi fühlte ſich; fühlte ſich als Skifahrer raſſig⸗ 
ſter Art. Schließlich waren ihm der Telemark und der 
Chriſtiania grad wie das Rechtsgehen in der Großſtadt geläufig, 
und die platoniſchen Stemmbögen gelangen ihm mit derſelben 
Leichtigkeit wie die reizenden Gliederverrenkungen hochnotwen⸗ 
diger Geſellſchafts⸗Tanzbären männlichen und weiblichen Ge⸗ 
ſchlechtes auf dem Parkett. Ha, und wie leicht hopſte er im 
Stufen⸗ und im Fiſchgrätſchritt die ſteilſten Anhöhen hinan, um 
dann in kühnſter Schußfahrt die Gottheit wieder aufs neue 
gen Tal zu bringen. Und ſo fort. Mit Hilfe des kulturſpenden⸗ 
den Films hat ſich dann der Skikünſtler tatſächlich ſo weit ent⸗ 
wickelt, daß der Theoretiker endlich ſeinen koſtbaren Leib in die 
Berge tragen konnte. Auf Oberbayerns Bergen gab es die erſte 
Vorſtellung. (Knax, die Arretierung: ſo ganz im Vertrauen, 
aber auch die letzte.) Der heimtückiſche, motivehaſchende Chroniſt 
war auch im Gefolge. Er hat der Mitwelt noch folgendes nach⸗ 
zutragen: | m 
Schon das Einwachſen und Spannen ber Bretter ergab in 
Schneeſpritzers Skiwiſſenſchaft eine auffallend unangenehme 
Lücke. So was hatte er in der Stube nicht zu tun brauchen, 
wie er überhaupt von einem Skiwachs noch nie etwas gehört 
hatte, dös Rindvieh! Mit dem in der Kälte knochenhart ge⸗ 
wordenen braunen flachen Wachsſtück wußte er ebenſowenig 
anzufangen wie mit dem aufmunternden Wort „waxeln“ feiner 
Kameraden. Eine verſchüchterte diesbezügliche Frage, die eine 
wahre Lach⸗Staublawine auslöſte, gab ihm ſchmerzliche Kunde, 
daß man in ſeine ſchwarze Skiſeele bereits bis auf den Grund 
geſehen hatte. Daß der Sturz jetzt ſchon ſehr tief geweſen ſein 
mußte, geht ſchon daraus hervor, daß man ihm nicht mal den 
pflaumenweichen Titel Skibaby zuerkannte. Neben den Schnee⸗ 
ſpritzer ſetzte ſich auch ſataniſch der Spitzname: Brettlhopſer. 
Mit dieſen beiden hübſchen Ehrentiteln zog der kleine, dicke, 
nette, moppige Nazi hinaus in die winterliche Pracht. (Knax, 
die Arretierung!) d | 
Solange es durch bie tiefverfchneiten Dörfer mit den zuz 
ſammengeduckelten Häuschen ging, denen man die warme Ge⸗ 


ж DER SCHNEESPRITZER ж 


mütlichkeit und mummelige Behaglichkeit ohne weiteres zu⸗ 
ſprechen konnte, und durch deren Fenſter die draußen vorbei⸗ 
wankenden „narriſchen Skifexen“ bemitleidet — Nazi meinte 
natürlich bewundert — wurden, trugen ſich die zuſammen⸗ 
geſchnallten Skier und Tellerſtöcke noch ganz erträglich auf der 
Schulter. Aber als man durch den vom Schneepflug geſchaf⸗ 
fenen Kanal, deſſen ſeitliche Wände wie poliertes Glas meter⸗ 
hoch in die goldblanke Luft ſtarrten, hinter den Heuſtadeln ein 
Ende erreichte, wo die Kultur allmählich erſtarb und es ſtun⸗ 
denlang bergwärts ging, wurden die Bretter immer gewichtiger 
und drückten gar mächtig auf die entwöhnten Schultern Nazis. 
Dicke Schweißbäche wälzten ſich bereits über die rotglühenden 
Hamſterbacken, und immer öfter rückte das Gebündel über den 
eingezogenen Kopf von der einen auf die andere Schulter. Nur 
die Freunde, die Malefizgauner, ſtolperten gewiſſenlos rüſtig 
und unbekümmert fürbaß. Als ob es überhaupt keinen Typogra⸗ 
phen⸗Nazi gegeben hätte. Weit vorn im Gelände hoben ſich ihre 
in enge nordiſche Skikleider geſteckten Körper ſilhouettenartig vom 
Gelände ab. Und Nazi ſchrumpfte daher immer bedenklicher 
zur Karikatur zuſammen. Mit der vagen Entſchuldigung: „die 
wunderbare Gegend zu betrachten“, nötigte er ſeinen Freunden 
immer wieder eine kleine Pauſe ab, wenn ihm gar zu arg die 
Puſte ausgehen wollte. Der Unterſchied zwiſchen Theorie und 
Praxis, das heißt zwiſchen einer Setzmaſchine und einem 
Schneeſchuh, drängte ſich immer mehr frech und hartnäckig in 
Nazis Verſtandskaſtl. | 

„Auf ber Gundiſchalm ift erftes Halt!“ lautete bie rückwärts 
geplärrte Weiſung. Und fie ſaßen alle ſchon um den Herd, out 
dem ein luſtiges Feuer züngelte, und deſſen Rauch unbeweglich 
um die Hütte quirlte, als der marſchmüde Schneeſpritzer vulgo 
Brettlhopſer nachzügleriſch und erſchöpft, empfangen von einem 
nicht mißzuverſtehenden „Skiheil“, ſich durch die Hüttentür 
zwängte. Wild puſtend und, wie man fo zu fagen pflegt, gründ- 
lich abgeſponnen. Dabei hatte Nazi die Bretter noch nicht mal 
an den Füßen gehabt. Das konnte ja nett werden. Noch waren 
mindeſtens 1000 Meter Höhenunterſchied bis zur nächſten unb 


1119 


ж DER SCHNEESPRITZER ж 


letzten Hütte zu überwinden. Wie eine 42 er Mörſer⸗Kartoffel 
fiel Nazi auf die Ofenbank. (Knax, die Arretierung!) 

Rauh erklang nach unglaublich kurzer Zeit ſchon wieder das 
kurze „Auf geht's!“ Und nun die Skier angeſchnallt! Das Auf⸗ 
legen des Spannriemens gab ſchon gleich allerhand launige Kurz⸗ 
weil für die ſteifgefrorenen Weißwurſtfinger unſeres lieben 


Nazis. Teufel noch auch. Und daheim ging es doch ſo leicht! 
Aber überraſchenderweiſe ſchlurfte Nazi mitmang anfänglich 
ganz paſſabel mit. In ſchönen, gut aufgeſetzten klappernden 
Schlägen. Donnerwetter, ein forſcher Kerl! Auf einem ganz 
ebenen Feld im ſchönſten Tempo. Aber, aber, nur bis zur näch- 
ſten Geländeſenkung. Dort konnte unſer Nazi erſtmalig feſt⸗ 
ſtellen, daß den Brettern ganz niedliche Eſelstugenden inne⸗ 
wohnten. Ja, ſie wurden auf einmal ungemein ſtörriſch, eigen⸗ 
willig, unberechenbar und bockten nach allen Regeln der Kunſt. 
Schlimmer noch als ſeine Bleiſpritze dort weit hinten im Hori⸗ 
| aont. Bald rückte der rechte, dann wieder der linke Ski nach 
einer dem Nazi abſolut nicht genehmen Richtung aus. Dann 


ж DER SCHNEESPRITZER * 


wieder hatten ſie das unglückſelige Bedürfnis, gleicherzeiten ſich 
feitwärts zu bewegen, was nicht nur hochſt unangenehm (man 
bedenke doch Nazis kurze Dackelbeine), ſondern auch äſthetiſch 
nicht recht beſchaulich wirkte. Bei dem nun ſehr wohl verſtaͤnd⸗ 
lichen, aber beileibe nicht immer gelungenen Verſuche von ſeiten 
des wie ein Vulkan a АЕ Nazis, die ungleichen 


Brüder wieder zuſammenzubekommen, geriet dann [don mal 
der eine Ski ſcherenartig auf den andern, was natürlich zur 
Folge hatte, daß der gepeinigte Brettlinhaber wie angenagelt 
auf ſeinen Platz verwieſen ward. Dabei hüpfte er herum, als 
ſei er von einer Tarantel geſtochen. Vergeblich zuckte Nazi bald 
mit dem einen, dann mit dem andern Gebein nach oben, um 
ſich von der ſeltſamen Feſſelung zu befreien. Schier ſchien es, 
als wollte die Sache gelingen, als die bockbeinigen Dinger ganz 
überraſchend in Bewegung gerieten und ganz ordnungswidrig 
und ausgeſucht hinterliſtig nach rückwärts krebſten, um den 
widerſtrebenden Schneeſpritzer, der vergeblich, aber wild verlan⸗ 
gend nach irgendetwas Nichtvorhandenem fingerte, nach einer 


ж DER SCHNEESPRITZER * 


beftimmt unfreiwilligen Schußfahrt in faſt unnachahmlicher 
Stellung in den weichen Brei zu tunken. Gründlich und tief. 
(Und weil es gerade fo ſchön paßt: knax, die Arretierung!) 

Jetzt mochte ſich unſer betrübter Schneeſpritzer ſehr wohl 
daran erinnern, daß Hannes Schneider im Film ein weitaus 
beſſeres Beiſpiel von männlichem Mut gab. Nun mußte der 
arme Kerl aber auch wieder auf die Beine kommen. Eine 
ſchwierige Sache! Gerade der Großſtädter vermag ſich dieſen 
hübſchen Vorgang recht nett vorzuſtellen, ſofern er natürlich 
ſchon einmal Gelegenheit hatte, zu beobachten, wie man einen 
aufs Pflaſter geſtürzten Gaul, natürlich muß er dazu auch noch 
recht klapperig ſein, wieder auf die Beine bringt. Ganz genau 
ſo wurde auch unſer Nazi wieder aufgebaut. Mit vieler Mühe 
eräugte er endlich durch die ſchneeverkleiſterte Brille die liebe 
Freundſchaft, die wie die Chriſtbaumengel draußen im Gelände 
'rumſchwebte. Ein Schrei, wie eben nur ein Ski⸗Baby ſchreien 
kann, brachte die Helfer in die Nähe. Zuerſt wurde von dieſen der 
Schade gründlich beſehen, wobei unſer Schneeſpritzer ganz 
gottesläſterlich einen Fluch⸗Roſenkranz von drei Meter fünfund⸗ 
ſiebzig herunterbetete. Dann ging der Wiederaufbau vor ſich. 
Zuerſt mußten die Beine, die durch die ſtarr in die Luft peilen⸗ 
den Hölzer ihre Freiheit völlig verloren hatten, kunſtgerecht zu⸗ 
rechtgelegt werden. Fachtechniſch wird dies mit dem für Nazi 
unverſtändlichen Satz „Quer zum Hang!“ begründet. Unbe⸗ 
holfen auf der Seite liegend, ächzend und puſtend, belauerte 
Nazi ſeine Nothelfer. Mit einem energiſchen, allſeitig mit Be⸗ 
geiſterung aufgenommenen „Hoppla“, deſſen höhniſches „la, 
la“ wie Teufelsgelächter von den Wänden echote, gelang endlich 
die klappernde Aufrechtſtellung. Von dem erträumten Sport⸗ 
Apoll beileibe keine Spur mehr; ſchlotternde Knie und ein Katzen⸗ 
buckel ſo groß wie der Matrizenkorb ſeiner vielgeliebten Blei⸗ 
ſpritze, waren nicht dazu angetan, Nazi recht appetitlich erſchei⸗ 
nen zu laſſen. 

Dieſem fatalen Sturzbad folgten noch mehr, eines gründ⸗ 
licher als das andere und in immer ſchneller werdender Auf: 
einanderfolge. Wie ein Trunkener ſchwankte unſer Künſtler auf 


ж DER SCHNEESPRITZER ж 


den ihm daheim doch fo vertrauten und jetzt plötzlich fo fremd 
gewordenen Hölzern herum, während die Tellerſtöcke wie die 
Gleichtaktpendel — nur nicht ſo gleichmäßig — einer Dampf⸗ 
maſchine um den wackeligen Mittelpunkt kreiſelten. Selbſt die 
Seehundfellſtreifen unter den ſpiegelglatten Brettern erwieſen 
ſich bei Nazi gänzlich nutzlos und ſchlampten ſehr bald um die 
unſichern Füße. Und immer mehr ging es abwärts anſtatt auf⸗ 
wärts. Ade, du erträumte Hüttenraſt, ade! 

Alles Unheil ſchreitet ſchnell, auch ſolches auf Brettern, denn 
plötzlich gingen die Bretter an einem bedenklich ſteilen Abhang 
durch und leiteten das Finale einer ſo pompös erträumten 
Schneefahrt ein. Nazi, der Schneeſpritzer, pfiff bereits aus dem 
letzten Loch! Es ging dahin mit ihm. Vergeblich griffen ſeine 
Hände, denen die Stöcke bereits entglitten waren, in den Raum, 
vergeblich ſuchte der mopſige Körper Haltung zu behaupten, die 
Höhen und Tiefen verſchwammen in milchiger Unbeſtimmtheit, 
Gedanken von Hals⸗ und Beinbrüchen, ſowie grauſiges Teſta⸗ 
ment⸗in⸗der⸗Kommode mengten ſich wahrſcheinlich zu einem ent- 
ſetzlichen Etwas. Und bie Reiſe ins Jenſeits konnte wohl auch 
nicht länger dauern; kein Ende ſchien herzugehen. Da endlich 
neigte ſich Nazis Körper aus der Unglücksbahn, Schneewolken 
ſtaubten auf und verbargen, mitleidig hinten einfallend, die 
grauſige Spur; klirrend ſchlugen die Bretter wie Margarine⸗ 
Kiſtengepolter aufeinander, alles bewegte ſich in einem wirren 
Kreiſel. Dann (knax, die Arretierung), ein Splittern und Kra⸗ 
chen, drei oder vier Saltomortales, die Funken gebaren, daß man 
des Glaubens werden konnte, es handle ſich um einen Lampion⸗ 
umzug, alles übrige Licht ſchien zu erlöſchen, und in kaltklat⸗ 
ſchender und ſpitzprickelnder Dunkelheit ziſchte der zuſammenge⸗ 
wurſchtelte Körper mit ſeinem in die Kreuz und in die Quere 
ſtehenden Gemiſch von Armen und Beinen, die einſt unſerem 
Schneeſpritzer zu gehören ſchienen, in der Schneeflut unbehindert 
abwärts. Immer weiter kugelnd und rollend, bis endlich eine 
einſame Bergföhre, die eine gnädige Vorſehung gerade wegen 
unſerem unglücklichen Schneeſpritzer wachſen hat laſſen, und 
aus der klagend ein tieferſchrockenes Schneehuhn abſtreicht, das 


ж DER SCHNEESPRITZER ж 
ACA саа ааа 


mit einer ungeheuren Schneewoge heranbrauſende Wrack mit 
leidig auffängt. 

Run iſt Ruhe über allen Wipfeln. Das verlangte Opfer iſt 
gebracht; Nazi hat genug für heute, hat genug für immer. Erſt 
nach längerem Suchen wird er aus dem weißen Brei gebuddelt, 
kläglich zerbeult und zerſchunden und nur noch im Beſitz von 

| kümmerlichen Schneeſchuh⸗ 
52 CEN vz fümpfen. Ach, wie ſchmerz⸗ 
Cai A ten ihm die Knochen, wie 
brummte ihm der Kopf, zer⸗ 
ſchunden iſt ſein Gebein und 
das dazu gehörige Gehäufe, 
die Klotzmaſchine ſteckt un⸗ 
auffindbar irgendwo hoch 
oben im Schnee, während 
wie ein warnendes Menetekel 
eine der abgeſpleißten Ski⸗ 
Spitzen in weiter Entfernung 
als Schnee⸗Marterl ſchröck⸗ 
liche Kunde von des Theore⸗ 
tikers Tapferkeit gab und 
zu einem gedenkenden Vater⸗ 
unſer munterte. 
| Und gerade an biejer 
Stelle ſteht das Marterl⸗Taferl, deſſen wunderbaren Text der 
freundliche Zunftleſer ſchon eingangs dieſer Mär zu leſen Ge⸗ 
legenheit hatte. Wer's nicht glaubt, gehe ins Tegernſeer Tal, 
droben auf dem Plankenſteinſattel wird er die Wahrheit dieſer 
Erzählung erfahren, d. h. wenn der Wind dös Marterl net 
davogwaht hat. — | 

Viel ift eigentlich nicht mehr zu erzählen. Höchſt unrühmlich 
war allerdings die Abfahrt. Auf einem ſimplen Rodel bekam 
der Schneeſpritzer ſeinen ſo greulich mißhandelten Körper und 
den ſchäbigen Reſt ſeiner Bretter ins Tal gebracht. 

Es waren etliche Wochen nötig, bis unfer Schneeſpritzer fo 
zuſammengeflickt war, daß er ſeiner geliebten Typograph⸗Blei⸗ 


А 


* DER SCHNEESPRITZER * 


ſpritze wieder in die drahtliche Bruſt fallen konnte. Zu ewigem 
Gedenken hatten die braven Kollegen ihm den bekannten „Ad⸗ 
ler“ in ſeiner Typograph⸗Maſchine ſtatt aus der üblichen Fibber⸗ 
maſſe aus dem Reſt ſeiner Hickoryhölzer machen laſſen. Höchſt 
pietätvoll, nicht wahr! Jetzt ¡ft Nazi aber ſchon längſt wieder 
munter und fidel. Mit doppelter Liebe ſchwingt er den Korb, und 
mit Luſt und Schwung haut er wieder mit unnachahmlicher 
Grandezza, ganz wie früher und ganz wie ſeine Artgenoſſen, den 
berühmten Doppelſchlag auf bie Einrücktaſte. Und der Korb 
ſchaukelt klirrend ſeine alte Melodei. Nichts erinnert mehr an 
den großen Irrweg unſeres lieben Nazi. Nur eines iſt ihm ge⸗ 
blieben, geht mit ihm durch alle Fährniſſe des Alltages, weicht 
nicht von ſeiner Seite und hat ihn dabei berühmt gemacht. Es 
iſt der mit einem Glorienſchein umgebene Spitzname: 


„Der Schneeſpritzer“. 


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Druckers Erdenwallen 


Von Hermann Volgt, Magdeburg 


Heiß brannte ſchon frühmorgens die Juniſonne vom wolken⸗ 
loſen Himmel, als ſich Herr Chriſtian Leberecht Pipendeckel 
aus feiner Haustür ſtahl und in fo тег Art Seemannsgang 
ſeiner „dauernden“ Kondition zuſtrebte. Der freundliche Leſer 
geſtattet, daß ich ihm meinen Freund Pipendeckel „in Ganz⸗ 
leinwand gebunden“ vorſtelle. Nun, wenn ſeine äußere Hülle 
auch nicht gerade glänzend war — abgeſehen von dem Glanz, 
der ſich mit der Zeit auf jeder Kluft einſtellt, ſo war er doch 
bei allen Kollegen der guten alten Stadt R. als „äußerſt ge⸗ 
mütliche Schmutznaſe“ bekannt, er war ein „Mordsvieh“, eine 
„Seele von Mann“. Chriſtian hatte auch wirklich gute Züge 
an ſich, beſonders, wenn er das Bierglas an ſeine unergründ⸗ 
liche Kehle ſetzte. Das hatte er auch geſtern, Sonntag abend 
beim Stiftungsfeſt des Maſchinenmeiſter⸗Vereins „Klopfholz“ 
gründlich beſorgt, beſonders, als bekannt wurde, daß der erſte 
Vorſitzende, Kollege Batzmaier an dieſem |фбпеп Tage das 
Licht dieſer ſchnöden Welt erblickt hatte. „Kinder trinkt, die 
Brauerei braucht leere Fäſſer“, ermunterte der fürſorgliche 
Budiker, welchem freundlichen Zuſpruch die ewig durſtigen 
Druckerſeelen auch in ergiebigem Maße folgten. 

Jetzt walzte nun alſo unſer Chriſtian Pipendeckel mit recht 
gemiſchten Gefühlen ſeinem Kunſttempel zu. Ach, Pipendeckel 
war krank, wirklich todſterbenskrank, eigentlich mehr „ſeekrank“. 
Ein Arzt würde vermutlich ſeine Diagnoſe auf chroniſchen Haar⸗ 
ſpitzen⸗Katarrh einſtellen. Eine Rotte hoffnungsvoller Spröß⸗ 
linge, die ihrer Bildungsſtätte, dem heimiſchen Pantoffelgym⸗ 
naſium zuſtrebten, kreuzte ſeinen Leidensweg, ihr fröhlicher Ge⸗ 
ſang erfüllte die Morgenluft. „Wenn ich dich ſeh', dann muß 
ich weinen, wenn ich dich feb”, tut's Herz mir weh!“ Wiitend 


ж DRUCKERS ERDENWALLEN ж 


ſchaute Chriftian auf. „Verflixte Bengels”, brummte er, „die 
meinen mich doch etwa nich?“ Verärgert (еріс er feine Semmel⸗ 
beine in Bewegung, und bald öffnete ſich die geheiligte Pforte 
des Maſchinenſaales dem Druck ſeiner Hand. 

Alles „raſſelte“ ſchon. „Scheenen kuten Morchen!“ „Was 
Morgen — hat ſich was mit Morchen — Mahlzeit“ ironiſierte 
der „Ober“. Verſchnupft ſteckte Chriſtian den höflichen Gegen⸗ 
gruß ein und hüllte ſich in ſeine die Farben des Himmels 
tragende Pelle. Na, nun mal ſchnell die Walzen angeſtellt. 
Da ſeine Hand heute etwas tatterich war, nahm er ſeinen 
Hammer zu Hilfe, um den Griffen die nötige Feſtigkeit zu 
verleihen. „Doch mit des Geſchickes Mächten“ uſw., ſagt 
Schiller. Wie es geſchah, kann Pipendeckel heute nicht mehr 
ſagen, doch wie ſo manchmal im Leben — er haute daneben 
und natürlich auf ſeine linke „Vorderfloſſe“. 

„Kottverdammich, na, das fängt ja heite ſcheene an“, meinte 
Pipendeckel. „Na, man Mut, die Sache wird ſchon ſchief gehn!“ 
„Freilein Arna, na nu kleddern Se man mal ruff uff de 
Brädder, die de Wält bedeiten!“ Die Maſchine ſetzte ſich in 
Bewegung. „Doch das Unglück ſchreitet ſchnell!“ Unſer Freund 
wollte gerade die Eiſenbleche am Auslegetiſch rücken, als er mit 
ſeinen unegalen Fingern zwiſchen die Ausleger geriet und — 
knacks — ſagte es, da lagen zwei zerbrochene Stäbe daneben. 
Pipendeckel rennt, will ſchnell Erſatz ſuchen, verwickelt natür- 
lich ſeine unteren Extremitäten in ſeiner Arna ihrem Trittbrett 
und — bautz — lag er auf ſeinem Vorgebirge. Durch die 
ſchreckliche Erſchütterung verlor auch ſeine Arna das europäiſche 
Gleichgewicht und ließ ſich mit der ſchamhaften Ausbuchtung 
ihrer impoſanten Rückfront gerade auf unſeres Pipendeckels Ge⸗ 
nick nieder. Pipendeckel war verſchüttet! Wenigſtens hatte er 
eine dem ähnliche Empfindung, gerade wie einſt in Flandern. 
Ihm war's ſogar, als ob er eine Detonation hörte. Dunkel 
war's um ihn. Als man ihn von ſeiner ſüßen Laſt befreite, 
ſuchte er eilends ſeine Knochen zuſammen. „Nu laßt mich 
aberſch zufrieden“, brummte er. Es war aber auch zu ſchreck⸗ 
lich! Seine Hoſenträger waren geriſſen, zwei Knöpfe hatten, 


128 


ж DRUCKERS ERDENWALLEN * 


Gott weiß wo, das Weite gefucht. Die ſchöne himmelblaue Hofe 
war am Knie geplatzt, darunter markierte fich eine blutrünſtige 
Stelle. Na, nun ſchnell die Unfallkiſte. Nadel und Zwirn der 
Arna, die die Verſtauchung ihrer Ständer ſchon überwunden 
hatte, beſorgten die übrige Heilung. 

„Na, nu härr'n Se mal, mei Kuteſter, nu wird Se es 
aberſch Zeit, daß Se mal in Gang kommen“, platzte der „Ober“ 
dazwiſchen. Alſo los! — „Härrkott ne, was is denn das ſchon 
widder, das lágt fe ја ſaumäßig aus!“ Ein Faden der „Brücke“ 
war von der Rolle gefallen. Pipendeckel will ihn im Gange 
aufmontieren, natürlich reißt der Lauſezwirn und — „Nun 
ſchlag doch áner lang hin“, ſchimpfte Chriſtian. Da lag nám: 
lich das Luder ſchön lang geſtreckt auf der Form und war ſchon 
mit durchgegangen. Pipendeckel, der viel lieber ſeine Kehle an⸗ 
gefeuchtet hätte, mußte den Aufzug verändern und nachbeſſern. 
Kaum hatte er ſeinen Schlitten wieder in Bewegung geſetzt — 
ta — ta — ein neues Malheur! Zwei Auslegeſtäbe hatten ſich 
durch unglücklichen Zufall um eins der loſen, rechtwinkligen 
Eiſenbleche gelegt und hoben dasſelbe in innigſter Umarmung 
in die Höhe. Pipendeckel kam, ſah und ſiegte, wie weiland 
Julius Cäſar. Das heißt — eigentlich ſiegte er nicht. Als er 
das Druckereimöbel ſchnell faſſen wollte, ſchlug er ſtatt deſſen 
ſo heftig unten gegen, daß dasſelbe nach dem Geſetze der Zen⸗ 
trifugalkraft in großem Bogen weiterſauſte. Auf ſeinem Rund⸗ 
flug zertrümmerte das Projektil die elektriſche Birne über Arnas 
edlem Haupt, machte eine kurze Raſt auf der Denkerſtirne des 
Herrn Direktors — der ſich auch gerade da hinſtellen mußte — 
und landete dann glücklich auf einer Form, die ein Nachbar⸗ 
kollege dort einen Augenblick aus der Hand geſetzt hatte. Hier 
zertrümmerte das ſchreckliche Wurfgeſchoß eine funkelnagelneue 
Einfaſſung. Tableau! Pipendeckel ſuchte mühſelig die Splitter 
der Birne zuſammen. Die Schienen, die Form uſw. waren wie 
befät, Walzen mußten gewaſchen, Buchſtaben erneuert und Arna 
beruhigt werden. Die hatte nämlich einen Nervenſchock davon⸗ 
getragen. Ihr Haar funkelte wie Diamanten und Perlen. Einige 
Splitter hatten ſich ſogar neugierig in ihren „Balkon“ verirrt. 


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ж DRUCKERS ERDENWALLEN ж 


Am böfeften war der Herr Direktor weggekommen. Er hatte 
eine hölliſche Beule an ſeiner Denkſchachtel und warf unſerem 
Freund einen geradezu vernichtenden Blick zu, der ihm gewiß 
alles andere, nur keine Zulage verhieß. 

Pipendeckel ſagte gar nichts mehr. Reſigniert ließ er ſeinen 
Schlitten geraume Zeit ſpäter wieder rollen. Da bei ſeinem 
vielem Mißgeſchick ihm mittlerweile etwas Menſchliches an⸗ 
gegangen war, verſchwand er ein Weilchen vom Schauplatz 
ſeiner erſprießlichen Tätigkeit. Noch ganz in ſeiner ſegenſpenden⸗ 
den Beſchäftigung vertieft, dröhnte lautes Rufen zu ihm: 
„Hallo, Pipendeckel, wo ſteckſte denn man?“ — Na, da haben 
wir die Beſcherung. Im Farbkaſten hatte die „Tinte“ den Rück⸗ 
zug angetreten, ein 5 Konkordanz langer 4-Cicerofteg glänzte in 
ſeiner ganzen Schönheit, und ſeiner Arna hatte es mal wieder 
beliebt, einen Bogen auf die Walzen gehen zu laſſen. Pipen⸗ 
deckel ſchüttelte ſein weiſes Haupt und behob die Fehler. Beim 
Fortdrucken fehlte jedoch immer noch „Tinte“ an einer Stelle. 
Um dieſem Schönheitsmangel abzuhelfen, bewaffnete er ſich mit 
der Farbſpachtel und wollte im Gange ſo recht „eilch“ einen 
kleinen Klacks aufſtreichen. Leider ſtand die Schnelligkeit ſeiner 
Hand nicht im Einklang mit der des „Leckers“ — und ta — ta, 
da hab'n wir den Salat. Die Spachtel fand ein ehrliches Be⸗ 
gräbnis erſter Klaſſe zwiſchen Reiber und Farbzylinder, wobei 
verſchiedene Walzen den Weg allen Fleiſches gingen. Pipen⸗ 
deckel war geknickt! Am liebſten hätte er ſich mit einer ſauren 
Gurke totgeſchoſſen, aber die Pflicht rief, und Arna durfte nach 
etlicher Zeit wieder ihres Amtes walten. Doch nicht lange währte 
die Freude. Die Sonne ſtand nahe am Zenit und ſandte un⸗ 
barmherzig ihre ſengenden Strahlen durch das Glasdach auf 
Pipendeckels ſorgenvolles Haupt. Doch unruhig wie ſolche 
Sonnenſtrahlen ſind, blieben ſie da nicht haften, ſondern ver⸗ 
breiteten ihren himmliſchen Glanz ſo recht intenſiv auf ſein ſchon 
zuſammengeſtoppeltes Farbwerk. Gedankenverloren ſtarrte 
Pipendeckel auf ſeinen erſtklaſſigen Druck, er gedachte mit Weh⸗ 
mut des ſchönen, geſtrigen Abends, als ihn ein durchdringender 
Schrei in die rauhe Wirklichkeit zurückriß. 


ж DRUCKERS ERDENWALLEN * 


„Härr Pipendeckel, ach Harr Pipendeckel!“ — Kotte- 
bochen, was haben Se denn man, Arnachen?“ — „Ach, Әйт 
Pipendeckel, de Walzen ſin Se nämlich weggeloofen, un da 
habe ich mein Falzbein vor Schräck uff de Form fallen laſſen!“ 
Bis ins tiefſte Innerſte geknickt, konſtatierte Pipendeckel diefe 
neueſte Schickſalsfügung. Er hatte eigentlich mehr Feſtigkeit 
bewieſen, als ſeine Walzen. Es war ein grauenvolles Bild. Zum 
Glück konnte eine Zwillingsmaſchine Erſatzwalzen abgeben. 
Wenn nun man bloß das kottverdamichte Falzbein nicht geweſen 
wäre. Das hatte ſich ausgerechnet nicht auf Arnas Bananen, 
ſondern auf ein Kliſchee niedergelaſſen und war natürlich mit 
durchgegangen. Das Kliſchee ſtellte Hindenburgs Einzug in 
Berlin dar, und nun machte ein ſimples Falzbein einen dicken 
Strich durch die Rechnung. Bei Pipendeckel bewährte ſich das 
Sprichwort: „Ein blindes Huhn find't ooch mal 'n Korn“, 
das lädierte Galvano konnte durch ein Original ausgewechſelt 
werden. Lieber Lefer, wenn dir das alles paſſiert wäre, du wäreſt 
aus der Haut gefahren und hätteſt dich daneben geſetzt. 

Unſer Pipendeckel hatte aber ſeinen Schickſalsbecher noch 
nicht bis zur Neige geleert. Beim Ausbeſſern der Zurichtung 
hatte er Meſſer, Schere und Kleiſtertöpfchen auf dem Deckel 
des Farbkaſtens praktiziert. Dieſes Rüſtzeug unſeres wackeren 
Chriſtian führte dort ein beſchauliches Stilleben, bis ihr Herr 
plötzlich ein Farbmanko entdeckte und „eißerſt eilch“, ohne das 
„Stilleben“ zu beachten, den Farbdeckel aufriß. „Na nu härt 
Se aberſch die Kemiedlichkeit uff“, ſagte Pipendeckel bloß und 
ſtand fünf Minuten wie betöppert. Es war aber auch fürchter⸗ 
bar. Seine Mordwaffen zum Teufel, die Form an allen Ecken 
und Enden lädiert, als wenn ſie den „ſcheenen“ Krieg mitgemacht 
hätte, die Bänderſtangen verbogen, Unterband geriſſen — na, 
„es war überhaupt ſchon geriſſen“. Pipendeckel tobte, der „Ober“ 
ſchnauzte, die Arna war ſprachlos, was gewiß was ſagen wollte, 
und der Herr Direktor kämpfte einen ſchrecklichen Kampf mit 
ſeiner Herzſchwäche. Es half alles nichts, der Schaden mußte 
repariert werden und ward es auch. „Weeß Gnebbchen, das 
ſoll mich Se aberſch nich widder baſſieren“, ſagte Pipendeckel. 


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„Jetzt mach ich aberſch Tinte in den fottoerbamigten Kaften.” 
Als er ſeine Künſtlerhand mit der neuen, ſchönen Spachtel in 
die unerforſchliche Tiefe des Farbfaſſes verſenkte, hatte er den 
ganzen Armel voll Druckerſchwärze, und die Spachtel rutſchte 
ihm aus der Hand in die Farbe. Nach mühſeligen Tiefbohrungen 
erwiſchte er ſie wieder, nachdem er zu dieſer intereſſanten Arbeit 
1 Hände in Tätigkeit ſetzte, die nun natürlich von Farbe 
trieften. 

Verzweifelt wiſchte ſich Pipendeckel mit der farbetrippenden 
Linken über die ſchweißglänzende, edle Denkerſtirne, mit der 
Rechten balancierte er die Druckerſchwärze kunſtgerecht in den 
Farbkaſten. Das heißt, das wollte er — aber es kam alles 
ganz anders. Sie, die Farbe nämlich, landete im kühnen Bogen 
auf Arnas ſcheenen, neien Bluſe. — Ne ne! Armer Pipen⸗ 
deckel! Wenn die „Segenswünſche“ alle in Erfüllung gingen, 
die aus Arnas zartem Munde auf dein unſchuldiges Haupt 
ſtrömten — na, ich will weiter niſcht ſagen. Bemerken will ich 
nur, daß ſämtliche Kollegen einſtimmig beſchloſſen, der Arna 
e alte Weihnachten „Knigges Umgang mit Menſchen“ zu 

enken. 

Arna ſelbſt ſuchte ſich, ſo gut es ging, zu reinigen, wollte 
die Benzinflaſche faſſen, ergriff ſtatt deſſen Pipendeckels Bier⸗ 
pulle, die derſelbe ſich eben hatte holen laſſen und goß den In⸗ 
halt auf ihren Armel. Pipendeckel, in dem begreiflichen Wunſche, 
ſich nach all dem Schrecklichen erſt einmal zu laben, ergriff da⸗ 
gegen, weil weiter nichts daſtand, die der Bierpulle ähnelnde 
Benzinflaſche, um dieſelbe ſeinem durſtigen Innern einzuver⸗ 
leiben, als ihn ein gütiges Geſchick in Geſtalt ſeiner Arna davor 
bewahrte. Sie ließ nämlich grade in dem Augenblick eine ganze 
Serie von Liebenswürdigkeiten vom Stapel, weil ſie mit dem 
„Sauſoff“ ſich ihre Bluſe noch mehr verſaut hätte. Pipendeckel 
blieb diesmal die Antwort nicht ſchuldig. Die Milch ſeiner from⸗ 
men Denkungsart war vollſtändig verſiegt, nur ein heiliger 
Zorn blieb übrig. — „Nu lack mich aberſch de Wält ^n Armel”, 
kreiſchte er, „jetzt bin ich aber ferth‘, ferth bin ich“, frie er 
mit erhobener Stimme. — Der Unglückliche! Hätte er man 


— — — — — — 


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lieber gar nichts geſagt! Seine Arna hörte nur das {фе 
„Fertig“ und ftellte bie Maſchine an, ohne zu bemerken, daß 
Klopfholz, Hammer und Formſchlüſſel mitſamt Pipendeckels 
Schnupftabaksdoſe noch dort ihr beſchauliches Daſein friſteten. 
Es gab einen furchtbaren Krach! Es wackelte die Wand! Der 
Druckzylinder hob ſich, es knatterte und barſt wie in den letzten 
Tagen von Pompeji, und Arna febte fich zum zweitenmal auf 
ihre ſchamhafte Ausbuchtung. Da blieb fie vorläufig figen. Am 
pe erging es unſeren Freund Chriſtian Leberecht Piper: 
deckel. 

Jetzt war er wirklich „fertch“. Aufſtöhnend hatte er ſich 
neben ſeiner Arna geſetzt und barg ſein Dulderantlitz in ſeine 
ſchwieligen Hände. Es regnete, es praſſelte, ne — es hagelte! 
Nämlich alles durcheinander, Troſtworte wie Vorwürfe. Jetzt 
waren ſie alle ſchlau. Der Herr Direktor ſchwankte wie ſo 'ne 
Bumkeule im Morgenwind. Was alles dem Gehege ſeiner 
Zähne entſtrömen wollte, war ſicher nichts Gutes. Ich ſage: 
„wollte“, denn er fand keine Worte, und das iſt das Aller⸗ 
ſchlimmſte. Doch als er das Häufchen Unglück dann eingehend 
betrachtete, überwiegte das Mitleid in ihm, ſeine beſſeren In⸗ 
ſtinkte brachen durch die Weſte an die Oberfläche. Er erinnerte 
ſich, daß Pipendeckel ſonſt eigentlich ſeine „erſte Kraft“ war, 
gewiſſermaßen „das beſte Pferd aus dem Stall“. Beruhigend 
klopfte er ihn auf die Schulter: „Stehen Sie auf, mein lieber, 
guter Herr Pipendeckel, Sie ſind kränklich heute, nicht wahr? 
Na ja, natürlich, das ſieht ja ein Blinder, Sie haben ſich zu 
ſehr geopfert, haben ſich überarbeitet. Na, gehen Sie man jetzt 
nach Hauſe, erholen Sie ſich man, und kommen Sie in vier 
Wochen wieder, bis dahin haben Sie Ferien, die erſten vierzehn 
Tage doppelten Lohn!“ Sprach's und verſchwand. 


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